Welt der Gründe
 9783787322695, 9783787322701

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Deutsches Jahrbuch Philosophie Band 4: Welt der Gründe

Deutsches Jahrbuch Philosophie Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Philosophie

Band 4

FELIX ME INE R V E R LA G · H AMB URG

Welt der Gründe

Herausgegeben von julian nida-rümelin und elif özmen

FELIX ME IN ER V E RL A G · HAM BURG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-7873-2269-5

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

I N H A LT Julian Nida-Rümelin und Elif Özmen Vorwort ............................................................................................................

XVII

Kolloquium 1 Erste Philosophie heute Thomas Buchheim und Christopher Erhard Einführung .......................................................................................................

3

E. J. Lowe Neo-Aristotelian Metaphysics: An Exposition and Defence ..............................

9

Johannes Hübner Die Neoaristotelische Ontologie von E. J. Lowe ................................................

17

Christian Beyer Husserls transzendentale Phänomenologie im Lichte der (neueren) Erkenntnistheorie .............................................................................

31

Christopher Erhard Husserls moderater empirischer Fundamentalismus und das Verhältnis zwischen Phänomenologie, Ontologie und Metaphysik. Kommentar zu Christian Beyer ........................................................................

48

Benjamin Schnieder Gründe, Folgen, Fundamente – Zur Renaissance einer philosophischen Debatte ..................................................................................

63

Alexander Steinberg Der Satz vom Grunde ......................................................................................

84

Kolloquium 2 Reasons for Actions Thomas Spitzley Einführung .......................................................................................................

97

Maria Alvarez What Are Reasons? ..........................................................................................

100

VI

Inhalt

Stephen Finlay Explaining Reasons ..........................................................................................

112

Kolloquium 3 Personale Autonomie Michael Quante Einführung .......................................................................................................

129

John Martin Fischer Verantwortlichkeit und Autonomie: Das Problem des Zielwechsels ..................

133

Alfred Mele Autonomie, moralische Verantwortung und das Fortsetzungsproblem ..............

156

Kolloquium 4 Grund und Grundlosigkeit im philosophischen Denken Günter Zöller Einführung .......................................................................................................

181

Wilhelm Schmidt-Biggemann Grund und Ungrund. Zur Metaphysik des Möglichen ......................................

183

Matthias Koßler Der grundlose Grund des Satzes vom Grunde bei Schopenhauer .......................

201

Kolloquium 5 Ökonomische und außerökonomische Gründe wirtschaftlichen Handels. Die Welt der wirtschaftlichen Gründe Ingo Pies und Stefan Hielscher Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht in sechs Thesen .....................................................................................................

215

Matthias Kettner Gute Gründe für und in Konzeptionen ökonomischer Rationalität ...................

231

Alexander Brink Die Weisheit der Vielen: Unternehmensethik und dezentrale Governance ..........

246

Inhalt

VII

Kolloquium 6 Sprachen, Zeichen, Gründe Günter Abel Einführung: Das Verhältnis sprachlicher und nicht-sprachlicher Gründe ...........

269

Robert Brandom Modal Expressivism and Modal Realism: Together Again ................................

282

Michael Tomasello Von sozialer Interaktion zu sozialen Institutionen .............................................

313

Kolloquium 7 Vernunftgründe und vernünftige Gründe Rainer Enskat Einführung .......................................................................................................

335

Klaus Erich Kaehler Leibniz: Die Welt der Gründe und ihre Grenzen ...............................................

338

Marcus Willaschek Normativität und Autonomie – Über Verpflichtungen als Handlungsgründe .....

353

Claudia Bickmann Immanuel Kants ›Grundlegung‹ der Metaphysik im Horizont. Von Martin Heideggers ›ontisch-ontologischer Differenz‹ .................................

365

Walter Mesch Gründe in Hegels Handlungstheorie. Zum Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie ..................................................

380

Kolloquium 8 Psychoanalyse in der Welt der Gründe Matthias Kettner Einführung .......................................................................................................

401

Patrizia Giampieri-Deutsch Bewusste Gründe, nicht-bewusste Gründe ........................................................

406

Achim Stephan Zur Adäquatheit von Emotionen und existenziellen Gefühlen ...........................

417

VIII

Inhalt

Michael B. Buchholz Rationalität und Rationalisierung – Ansichten aus Psychoanalyse und Konversationsanalyse ................................................................................

429

Matthias Kettner Gründe und Affekte ..........................................................................................

444

Kolloquium 9 Ursachen und Gründe in der Neurophilosophie Dieter Sturma Einführung: Ursachen, Gründe und das psychophysische Problem ....................

457

Wolf Singer Neuronale und bewusste Prozesse – Eine schwierige Beziehung ........................

465

Lutz Wingert Über die Wirksamkeit des menschlichen Geistes in der wohl verstandenen Welt

478

Peter Janich Die Gedankenleser. Gründe für Grenzen neurophysiologischer Ursachenforschung ...........................................................................................

498

Kolloquium 10 Angewandte Ethik zwischen Rationalitätsanspruch und Weltanschauung Carl Friedrich Gethmann Einführung .......................................................................................................

517

Armin Grunwald Ethik im Trend – ambivalente Beobachtungen ..................................................

522

Michael Quante Biomedizinische Ethik: Zwischen Rationalität und Weltanschauung? Kritische Reflexionen zur Dialektik einer Fragestellung ....................................

540

Kolloquium 11 Die Welt der Gründe als Bildungsgegenstand Krassimir Stojanov Einführung .......................................................................................................

557

Inhalt

IX

Harvey Siegel Education as Initiation into the Space of Reasons .............................................

561

Ari Kivelä Publicity, Education and Space of Reasons. – Towards a Reconstruction of Kant’s Idea of public Use of Reason and Education ......................................

573

Claudia Schumann Deontic Scorekeeping and the Concept of Bildung ............................................

591

Kolloquium 12 Motiv und Grund Volker Gerhardt Einführung .......................................................................................................

605

Markus Gabriel Autonomie, Normativität und das Problem des Scheiterns der Subjektivität ......

607

Sebastian Rödl Motive der Vernunft .........................................................................................

625

Alessandro Pinzani Grundbedürfnisse als Handlungsgründe ...........................................................

633

Kolloquium 13 Historische Gründe Andreas Speer Einführung .......................................................................................................

655

Thomas Zwenger Das Problem des »historischen Zusammenhangs«. Geschichte als »narrative Konstruktion in praktischer Absicht« ........................

659

Georgi Kapriev Axiomatische Gründe und Geschichtlichkeit: Die byzantinische Philosophie und ihre gegenwärtige Rezeption ......................................................................

671

Costantino Esposito Die Geschichte der Metaphysik: das Problem vom doppelten Sinn eines Genitivs ....................................................................................................

681

X

Inhalt

Kolloquium 14 Grund und Abgrund Wolfram Hogrebe Einführung ........................................................................................................

693

Markus Gabriel Die Endlichkeit der Gründe und die Unvollständigkeit der Tatsachen ...............

696

Slavoj Zizek Im Zirkel Des Grundes, Or, is it still possible to be a Hegelian Today? ..............

711

Kolloquium 15 Belief Changes in Science Holger Andreas Einführung und Überblick ................................................................................

737

Kolloquium 16 Gründe ohne Grund Rolf Elberfeld Einführung .......................................................................................................

747

Inigo Bocken Die Kreativität des Grundes ohne Grund. Das Nichtandere des Nicolaus Cusanus und der Versuch einer pragmatischen Metaphysik in der Renaissance .................................................

751

Tanehisa Otabe Der »Grund der Seele«. Über Entstehung und Verlauf eines ästhetischen Diskurses im 18. Jahrhundert ...........................................................................

763

Shigeto Nuki Unheimlicher Leib – Ein Grund ohne Grund ....................................................

775

Kolloquium 17 Bilder als Gründe Jakob Steinbrenner Einführung .......................................................................................................

789

Inhalt

XI

Catrin Misselhorn Bildwahrnehmung, Imagination und das Gefühl der Präsenz. Überlegungen zum besonderen Status von Bildern als Gründen ........................

793

Søren Kjørup Snooping on Spies. Treason, Trust and Photographic Evidence .........................

811

Manfred Harth Mechanische und manuelle Bilder als Handlungsgründe ...................................

827

Kolloquium 18 Die Begründung des Politischen: Stationen der Ideengeschichte Barbara Zehnpfennig Einführung .......................................................................................................

843

Barbara Zehnpfennig Die Begründung des Politischen in der Antike: Die sokratische Suche nach Begründung ..............................................................................................

846

Peter Nitschke Die Konstruktion von Begründung Politischer Ordnungin der Prämoderne ......

861

Clemens Kauffmann Die Inversion von Politik und Vernunft in der Moderne ....................................

871

Kolloquium 19 Do animals live in the space of reason? Action and decision in non-human animals Markus Wild / Reinhard Brandt Introduction .....................................................................................................

885

Ruth Garrett Millikan What’s Inside a Thinking Animal? ....................................................................

889

Dieter Birnbacher Commentary on Ruth Millikan’s Paper .............................................................

894

Hans-Johann Glock Animals: Agency, Reasons and Reasoning ........................................................

900

Geert Keil Beyond Assimilationism and Differentialism. Comment on Glock ..........................................................................................

914

XII

Inhalt

Kolloquium 20 Eigene Gründe Monika Betzler Einführung .......................................................................................................

925

Beate Roessler Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen ..................

934

Christian Budnik Eigene Gründe und die Perspektive der ersten Person ........................................

951

Rahel Jaeggi Seine eigenen Gründe haben (können). Überlegungen zum Verhältnis von Aneignung, Fremdheit und Emanzipation ...............................................

968

Christian Seidel Eigene Gründe – wozu eigentlich? Einige Überlegungen in Richtung einer deflationären Auffassung ......................

986

Kolloquium 21 Die Logik von Gründen – Gründe in der Logik Hans Rott Einführung ....................................................................................................... 1007 Pascal Engel Wie man einer Schildkröte widersteht ............................................................... 1014 John F. Horty Gründe als Defaults .......................................................................................... 1035

Kolloquium 22 Metaphysik: Letzte Gründe – Möglichkeiten und Grenzen der Weltphilosophien? Claudia Bickmann Einführung ....................................................................................................... 1065 Wenchao Li Die »Entstehung« der chinesischen Philosophie – Eine kritische Reflexion ........ 1069 Ryosuke Ohashi Der Ungrund und die Leere .............................................................................. 1081

Inhalt

XIII

Kolloquium 23 Gott als Grund Hans Otto Seitschek Einführung ....................................................................................................... 1093 Jean-Luc Marion Die Frage nach dem Unbedingten ...................................................................... 1095 Rémi Brague Seinsgrund und Grundgebot ............................................................................. 1120 Hans Maier Gott als Grund von Verträgen und Verfassungen .............................................. 1130

Kolloquium 24 Filmästhetische Begründungen Michaela Ott Einführung ....................................................................................................... 1137 Astrid Deuber-Mankowsky Kinematografische Ästhetik als Subversion moralischer Rationalität am Beispiel von Medea ..................................................................................... 1144 Eva Schürmann Darstellen und Begründen. Narrative Bedeutungskonstitution am Beispiel von Bergmans Persona ..................................................................................... 1153 Andreas Rost Noël Carrolls filmphilosophische Position innerhalb einer kognitiven Filmtheorie ....................................................................................................... 1166 Noël Carroll Philosophy and the Moving Image .................................................................... 1168

Kolloquium 25 Wahrheit und Zeit Axel Hutter Einführung ....................................................................................................... 1179 Truls Wyller Wahrheit und raumzeitliche Größe. Zur indexikalitätstheoretischen Begründung des transzendentalen Idealismus .................................................... 1181

XIV

Inhalt

Anton Friedrich Koch Veritatives und temporales Sein ........................................................................ 1190

Kolloquium 26 Beyond Facticity: From State Reduction to Reasons Albrecht von Müller Einführung ....................................................................................................... 1205 Detlef Dürr und Dustin Lazarovici Der Dialog des Demokrit .................................................................................. 1207 A. H. Louie An Introduction to Relational Biology .............................................................. 1218 Albrecht von Müller On the Emergence and Relativity of the Local Spacetime Portrait of Reality ..... 1233

Kolloquium 27 Reason(s) in Politics Charles Larmore Political Liberalism and Public Reason: A Critique of John Rawls .................... 1249 Simone Chambers Reason, Reasons and Reasoning: Three Faces of Public Justification ................ 1263 Rainer Forst Der Kern und die Kriterien des öffentlichen Vernunftgebrauchs ........................ 1277 Stefan Gosepath Öffentliche Gründe ........................................................................................... 1283

Plenarvortrag Robert Pippin Die Form der Vernunft ..................................................................................... 1291 Seyla Benhabib Reason-Giving and Rights-Bearing: Constructing the Subject of Rights ............ 1309 Peter Gärdenfors Reasons for meanings: A theory of semantics grounded in perception, action and interaction .................................................................................................. 1327

Inhalt

XV

Abendvortrag Susan Neiman Politische Ziele, Moralische Gründe ................................................................. 1347 Franz von Kutschera Fünf Gründe, kein Materialist zu sein ............................................................... 1364 Jürgen Habermas Die symbolische Verkörperung von Gründen .................................................... 1378

V O RW O R T

Der vorliegende Band dokumentiert die öffentlichen Vorträge und die Kolloquien des XXII. Deutschen Kongresses für Philosophie, der unter dem Titel »Welt der Gründe« vom 11. bis 15. September 2011 im Hauptgebäude der Ludwig-Maximilians Universität München abgehalten wurde.1 Veranstalter des Kongresses waren die Deutsche Gesellschaft für Philosophie e.V. und der Lehrstuhl für Philosophie IV am Seminar für Philosophie der LMU bzw. Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Schirmherren des Kongresses waren der Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Dr. Wolfgang Heubisch, und der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt München, Christian Ude. Der Kongress wurde am Sonntag, den 11. September 2011, im Alten Rathaussaal der Stadt München mit Grußworten der beiden Schirmherren und einem Einführungsvortrag des Präsidenten eröffnet. Mit diesem Band wird nicht nur ein wesentlicher und überaus konstruktiver Teil des Kongresses der interessierten Leserschaft zugänglich gemacht, sondern darüber hinaus der Versuch unternommen, die ganze Vielfalt philosophischer Forschung der Gegenwart, thematisch fokussiert, zu präsentieren. Entsprechend wurde bei der Konzeption des Kongresses auf die Pluralität der Methoden und der Inhalte großer Wert gelegt. Während die knapp 350 Sektionsvorträge das gesamte Spektrum der zeitgenössischen philosophischen Forschung in historischer und systematischer Hinsicht abdeckten, befassten sich sowohl die Plenarvorträge in der Frühe, als auch die öffentlichen Vorträge am Abend sowie die Vorträge und Diskussionen in den Kolloquien mit der Thematik »Welt der Gründe«. Die Plenarvorträge richteten sich an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses – mit ihnen eröffnete jeweils das Tagesprogramm: Robert Pippin sprach über »Die Form der Vernunft«, Seyla Benhabib über »Rightsbearing and Reason-giving: Constructing the Subject of Rights«, Peter Gärdenfors über »Reasons for Meanings: A Theory of Semantics grounded in Perception, Action and Interaction« sowie Lorraine Daston über »Vernunft, Rationalität und Regeln: Von der Aufklärung zum Kalten Krieg«.2 Jeweils am Abend richtete sich ein Vortrag an ein breiteres Publikum, das über die Kongressteilnehmer hinaus auch philosophisch interessierte Bürgerinnen und Bürger umfasste: Susan Neiman sprach über politische Ziele und moralische Gründe, Franz von Kutschera erläuterte fünf Gründe, kein Materialist zu sein und Jürgen Habermas schloss den Kongress mit einem Vortrag »Die symbolische Verkörperung von Gründen« ab.

Die Sektionsbeiträge sind im OpenAccess-Portal der Universitätsbibliothek München dokumentiert und abrufbar unter http://epub.ub.uni-muenchen.de/view/subjects/1002.html 2 Dieser Beitrag konnte aus Gründen des Verlagsrechts leider nicht dokumentiert werden. 1

XVIII

Vorwort

Die Gestaltung der Kolloquien lag jeweils in der Verantwortung ihrer Leiter. Das gilt nicht nur für die Einladung der Referenten, sondern auch für die Form der Diskussion. Die Thematik »Welt der Gründe« wurde in 27 Kolloquien unter Beteiligung zahlreicher Philosophinnen und Philosophen aus dem In- und Ausland erörtert. Dabei kam eine Vielzahl von Einzelaspekten zur Sprache, von der Metaphysik über die Handlungs- und Sprachphilosophie bis zur Psychoanalyse, der Neurophilosophie und der angewandten Ethik. Auch ideengeschichtliche Aspekte wurden intensiv erörtert. Wir danken allen Autorinnen und Autoren sowie den Kolloquiumsleitern dafür, dass sie in – für die Deutsche Gesellschaft für Philosophie ungewohnt kurzer Frist – bereit waren, ihre Vorträge und Einführungen in eine publikationsreife Form zu bringen. Die Herausgeber sind sich der Schwierigkeit bewusst, eine solche Vielzahl von Beiträgen kohärent zusammenzuführen und stimmig zu präsentieren. Wenn dieses mit dem vorliegenden Band gelungen sein sollte, so ist das der Mitwirkung aller – der Vortragenden, der Kolloquiumsleitungen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls und dem Verlag – zu verdanken. Für die redaktionelle Unterstützung danken wir Herrn Nikolai Blaumer. Für die finanzielle Unterstützung der Publikation geht zudem ein Dank an die Carl Friedrich von Siemens Stiftung und ihren Leiter, Prof. Dr. Heinrich Meier. München, im August 2012

Julian Nida-Rümelin Elif Özmen

W E LT D E R G R Ü N D E – ZUM THEMA DES KONGRESSES Dieser Kongress fokussierte auf die Rolle von Gründen – theoretische für Überzeugungen und praktische für Handlungen. Damit stand die Frage der epistemischen wie praktischen Rationalität im Mittelpunkt. In einigen der geplanten Kolloquien spielte das Verhältnis von Vernunft und Emotion sowie von empirischer, ästhetischer und ethischer Erfahrung eine Rolle. Die gesamte wissenschaftliche Praxis, d. h. die unterschiedlichen disziplinären Diskurse haben eine Form des Austauschens von Gründen und Gegengründen: der Gründe, die für eine Hypothese oder gegen eine Hypothese sprechen, Gründe, die für eine spezifische Versuchsanordnung oder dagegen sprechen, Gründe, die ein etabliertes Paradigma als unzureichend erscheinen lassen, Gründe für eine spezifische Interpretation statistischer Daten etc. Für die lebensweltlichen Diskurse gilt das gleichermaßen. Wir bringen Gründe vor, die für oder gegen eine Handlung sprechen, Gründe, die für oder gegen eine Überzeugung sprechen, Gründe, die eine emotive Haltung rechtfertigen. Trotz dieser Allgegenwärtigkeit der Gründe, des Vorbringens von Begründung, der Beteiligung an Begründungspielen (hier in Analogie zu dem Wittgensteinschen »Sprachspiel« verwendet), ist notorisch unklar, was Gründe eigentlich sind. Naturalisten meinen, dass sich Gründe auf Ursachen reduzieren lassen und dass diese Ursachen grundsätzlich mit den Mitteln der Naturwissenschaften beschreibbar sind. Humanisten meinen, dass sich Gründe nicht auf naturwissenschaftlich beschreibbare Ursachen reduzieren lassen. Psychologisten meinen, dass Gründe letztlich psychische, mentale Prozesse sind. Kritiker des Psychologismus, wie Gottlob Frege oder Edmund Husserl, verneinen dies und betonen den logischen Status von Gründen. Objektivisten meinen, dass Gründe objektiv sind, auch wenn das Akzeptieren von Gründen etwas Subjektives ist. Objektivisten (oder Realisten) bezüglich Gründen halten es für (logisch) möglich, dass (objektiv) gute Gründe für eine bestimmte Handlungsweise sprechen, auch wenn niemand sich dieser Gründe bewusst ist und danach handelt. Normativisten sind davon überzeugt, dass Gründe immer normativ sind, dass sie zumindest impliziter ein Sollen enthalten. Epistemische (theoretische) Gründe rechtfertigen Meinungen, Überzeugungen, Urteile. Praktische Gründe rechtfertigen Handlungen, Handlungsweisen, Verhalten. Was unterscheidet diese beiden Kategorien von Gründen über die Tatsache hinaus, dass sie einmal Überzeugungen und einmal Handlungen rechtfertigen? In der zeitgenössischen Moralphilosophie ist die Auffassung verbreitet, dass epistemische und praktische Gründe grundverschieden sind. Im einen Fall handelt es sich um die Logik der Deskription und im anderen Fall um die Logik der Präskription. Letztere ist unauflösbar mit den Präferenzen handelnder Personen verknüpft, für erstere gilt das nicht. Insbesondere in der analytischen Philosophie ist die Verbindung von Objektivismus

XX

Vorwort

bezüglich epistemischer und Subjektivismus bezüglich praktischer Gründe verbreitet. Ist diese Verbindung wirklich plausibel? Haben nicht auch praktische Gründe die Form der Rechtfertigung einer (normativen) Überzeugung – etwa der, dass die betreffende Handlung die richtige ist? Und nach welchem Kriterium grenzen wir epistemische von praktischen Gründen ab? In moralphilosophischen Begründungen geht es nicht immer um Handlungen, sondern zum Beispiel um Fragen der Gerechtigkeit von Institutionen. In diesen Fällen ist nicht immer klar, ob und wenn ja, welche praktischen Implikationen bestehen. Die Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls enthält Argumente gegen den Utilitarismus und für das Differenzprinzip als Maß politischer Gerechtigkeit, ohne dass damit schon die Kriterien der Beurteilung politischer Handlung, sei es von Politikern oder von Bürgern, auf der Hand lägen. Dieses Phänomen macht die Gegenüberstellung von Deskription und Präskription und damit von epistemischen und praktischen Gründen fragwürdig. Begründungen haben, so scheint es, einen Anfang und ein Ende. Sie müssen irgendwo beginnen und mit der Rechtfertigung einer Überzeugung, einer Handlung oder einer emotiven Einstellung schließen. Fundamentalistische Begründungstheorien meinen, dass es einer Klasse besonderer Propositionen bedarf, die selbst nicht mehr begründungsbedürftig sind, aber Begründungen tragen können. Das, was im Englischen foundationalism heißt, ist jedoch umstritten. Offenkundig gibt es ein Gefälle subjektiver Gewissheit, und manches kann vernünftigerweise nicht bezweifelt werden. Ludwig Wittgenstein schreibt in Über Gewissheit: »Der Vernünftige hat bestimmte Zweifel nicht«. Manches lässt sich schwer bezweifeln, weil uns die Möglichkeit psychologisch nicht offensteht. Wir sind mental so verfasst, dass wir unseren Wahrnehmungen trauen, dass wir die mit bestimmten Wahrnehmungen einhergehenden Überzeugungen unter Normalbedingungen nicht in Frage stellen können. Gleiches gilt für manche logische Regeln. Wenn A, und aus A folgt B, dann B. Kann man sich einen Menschen vorstellen, der eine solche Inferenz in Frage stellt? Wie könnte ein solcher Zweifel überhaupt aussehen? Würde mit diesem Zweifel dann nicht das Gesamt der Überzeugungen kollabieren, da aus dem Gebäude gewissermaßen der logische Kitt herausgenommen wäre? Die Bezweiflung bestimmter Überzeugungen, die auf unmittelbarer Wahrnehmung beruhen, könnte ähnliche epistemische Verheerungen nach sich ziehen, denn dann wäre es naheliegend, allen vergleichbar wahrnehmungsnahen Überzeugungen Misstrauen entgegen zu bringen. Gibt es ein Kriterium der Abgrenzung dieser fundamentalen Propositionen, die selbst nicht mehr begründungsbedürftig sind, in denen die Begründungen aber ihren Anfang nehmen? Oder haben nicht doch die klassischen Pragmatisten recht, wenn sie meinen, dass die eine Überzeugung von den anderen Überzeugungen nicht zu trennen ist, dass ihre Plausibilität von der Plausibilität vieler anderer abhängt, ja, dass einzelne Überzeugungen mit unendlich vielen anderen Überzeugungen so verknüpft sind, dass eine Isolierung oder eine Unterscheidung in Typen, ja selbst die Unterscheidung in Kategorien wie »empirisch« und »normativ« nicht sinnvoll ist? Gegen fundamentalistische stehen kohärentistische Theorien der Begründung. Sind diese so zu interpretieren, dass Kohärenz Wahrheit konstituiert, oder ist eine realistische (nicht-epistemische) Wahrheitskonzeption mit einer kohärentistischen Begründungs-

Vorwort

XXI

theorie vereinbar? Welche Rolle spielt die Lebensform für epistemische wie praktische Begründungen? Haben alle Begründungen ihren Ausgangspunkt in der lebensweltlichen Praxis? Sind dann Begründungen in eine geteilte Lebensform eingebettet und insofern Lebensform-relativ? Die Begründung von Handlungen und Überzeugungen ist uns vertraut, jedoch können auch emotive Einstellungen begründungsbedürftig sein. Hass ist jedenfalls dann ungerechtfertigt, wenn die gehasste Person nichts Unrechtes getan hat. Bewunderung verlangt nach einer besonderen Leistung der Bewunderten. Begründete Angst setzt voraus, dass es eine Gefahr gibt. Begründete Hoffnung setzt voraus, dass es eine Chance gibt, Freude, dass sich etwas Positives ereignet hat, Erleichterung, dass etwas erwartetes Negatives nicht eingetreten ist. Emotionen können Gründe für sich oder gegen sich haben. Ein Gegenstand von Begründungen sind neben Überzeugungen und Handlungen emotive Einstellungen. Die Gegenstände von Begründungen können selbst zu Bestandteilen einer Begründung werden. Die Überzeugung, dass das Tiefdruckgebiet in seinen Ausläufern München erreichen wird, begründet die Erwartung, dass es regnen wird. Die Entscheidung, in zwei Wochen in den Urlaub zu fahren, begründet die Handlung heute Geld zu wechseln. Die emotive Einstellung der Liebe begründet Vertrauen.»Ich liebe sie, also vertraue ich ihr« – oder ist diese Form der Begründung einer emotiven Einstellung durch eine andere irrational? Vernunft und Gefühl sind jedenfalls, wie diese Beispiele zeigen, miteinander verbunden. Es war für die Organisatoren, aber vor allem auch für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kongresses faszinierend zu sehen, wie diese hier skizzierte Thematik der »Welt der Gründe« sich in eine Vielzahl von Teilaspekten aufgliederte, die inhaltlich und methodisch differenziert in den Kolloquien erörtert wurden. Das Ziel des Kongresses, unterschiedliche Perspektiven in der Welt der Gründe zu erschließen, einem philosophischen Pluralismus Raum zu geben, scheint im Rückblick gut gelungen zu sein. Verschiedene Strömungen der zeitgenössischen Philosophie bilden sich in den hier dokumentierten Vorträgen des Kongresses ab: phänomenologische, analytische, pragmatische, naturalistische, humanistische etc.

ZUR FORM DES KONGRESSES

Dieser Kongress realisierte einige Neuerungen, beginnend mit der Eröffnung am Sonntagabend (11. September 2011) mit den beiden Schirmherren, dem Bayerischen Wissenschaftsminister Heubisch sowie dem Münchner Oberbürgermeister Ude im Alten Rathaus. Die darauf folgenden vier Kongresstage wurden jeweils mit einem Hauptvortrag eröffnet, der sich an alle Kongressteilnehmer richtete, um dann die Diskussion in bis zu acht parallelen Kolloquien fortzuführen. An den Nachmittagen fanden die Sektionssitzungen statt, die, anders als die Kolloquien, inhaltlich nicht an das Kongressthema gebunden waren, in denen sich vielmehr die gesamte zeitgenössische philosophische Forschung mit ihren unterschiedlichen Fachgebieten von der Metaphysik bis zu angewandten Ethik abbildete. Die Sektionsvorträge konnten in diesem Band aus Gründen der Umfangsbeschränkung nicht dokumentiert werden, sie können aber im OpenAccess-Portal der Universitätsbibliothek München nachgelesen werden. Jeder Kongresstag klang abends mit einem Vortrag aus, der sich an ein breiteres, philosophisch interessiertes Publikum richtete. Eine weitere Neuerung bestand in dem Programm »Philosophie in der Stadt«. Die Anwesenheit zahlreicher Philosophinnen und Philosophen wurde genutzt, um z. B. an Schulen, Museen und Stadtteilzentren mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern zu philosophieren. Meine Idee, diese Gelegenheit geballter philosophischer Fachkompetenz in München während der Tage des Kongresses zu nutzen, um die Philosophie für alle Interessierten zugänglich zu machen, wurde begeistert aufgegriffen. Es stellte sich dabei rasch heraus, dass viele Bürgerinnen und Bürger, darunter auch viele Jugendliche, sich offenbar intensiv mit philosophischen Fragen auch außerhalb der akademischen Welt beschäftigen. Das Interesse war jedenfalls groß. Dass dieses Programm überhaupt zustande kam, ist sowohl den jeweiligen Einrichtungen der Bildung und der Kultur in München zu verdanken als auch der Bereitschaft zahlreicher Rednerinnen und Redner des Kongresses, sich auf einen solchen Gedankenaustausch einzulassen. Das Kulturund Schulreferat der Stadt hat diese Kontaktaufnahme unterstützt, meine Mitarbeiterin Dr. Mara-Daria Cojocaru hat in zeitaufwändiger Kleinarbeit die Wünsche der Veranstalter und die Möglichkeiten und Interessen der Rednerinnen und Redner abgeglichen mit dem Ergebnis, dass die zeitgenössische internationale und nationale Philosophie nicht nur für einige Tage Gast der Ludwig-Maximilians-Universität war, sondern zugleich das kulturelle Leben der gastgebenden Stadt München durchdrungen hat. Dieses spezielle Programm »Philosophie in der Stadt« wurde aus Mitteln der Körber-Stiftung und der BMW-Stiftung Herbert Quandt finanziert. Die Organisation eines solchen Kongresses ist ein Gemeinschaftswerk. Diesmal wurde besonderer Wert auf dezentrale Entscheidungsstrukturen gelegt. So waren die jeweiligen Kolloquiums- und Sektionsleitungen völlig autonom in der Auswahl der Vortragenden. Trotz dieser Dezentralität blieb die Hauptlast der organisatorischen Arbeit

Vorwort

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beim Lehrstuhl, was zu einer immensen zeitlichen Belastung nicht nur des Präsidenten, sondern auch der Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls führte. In der ersten Vorbereitungsphase hatte die Projektleitung Frau PD. Dr. Elif Özmen inne, die dann ab Mai 2011 von der frisch promovierten Mitarbeiterin Frau Dr. Christine Bratu abgelöst wurde. Auch das Sekretariat des Lehrstuhls (Frau Niina Zuber, M.A.) war streckenweise allein mit den organisatorischen Vorbereitungen des Kongresses über die Kapazitätsgrenzen hinaus ausgelastet. Diese Arbeitssituation ist für einen Lehrstuhl nicht optimal, weil damit die Hauptaufgaben in Forschung und Lehre zumindest zeitweise zurückstehen müssen. Umso beachtlicher ist das große Engagement der Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls einschließlich der Hilfskräfte, aber auch der Volunteers unter den Studierenden und der Kolleginnen und Kollegen, die die Leitung einer Sektion oder eines Kolloquiums übernommen hatten. Die Deutsche Gesellschaft für Philosophie ist ihnen allen zu großem Dank verpflichtet. Ein Kongress in dieser Größenordnung verursacht Kosten, die von der wissenschaftlichen Gesellschaft allein nicht gedeckt werden können. Ohne das Engagement folgender, in der Reihenfolge ihres jeweiligen Beitrags aufgeführten Förderer wäre der Kongress in dieser Reichhaltigkeit, Vielfalt und Größe nicht möglich gewesen: Parmenides-Stiftung (Dr. Albrecht von Müller) Deutsche Forschungsgemeinschaft Udo Keller Stiftung Körber-Stiftung Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft Robert Bosch Stiftung Munich Center for Neurosciences Carl Friedrich von Siemens Stiftung Deutsche Bank Munich Centre for Mathematical Philosophy Stadtsparkasse München C. H. Beck Verlag Münchner Kompetenzzentrum Ethik Im Namen der Deutschen Gesellschaft für Philosophie bedanke ich mich herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die an der Vorbereitung dieses Kongresses als Kolloquiums- und Sektionsleitungen mitgewirkt haben, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Lehrstuhls, bei der Verwaltung der Ludwig-Maximilians-Universität München, bei den finanziellen Förderern und den Schirmherren, dem Bayerischen Wissenschaftsminister und dem Münchner Oberbürgermeister. München, im August 2012

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2012

PHILOSOPHIE UND SCHULE

Ein Schwerpunkt der Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Philosophie im Jahr 2009 mit 2011 war das Thema Philosophie in Schulen. In enger Abstimmung mit dem Geschäftsführer (und Nachfolger im Amt des Präsidenten) Prof. Dr. Michael Quante und den Philosophie- und Ethik-Lehrern in der Mitgliedschaft wurde eine Reihe von Initiativen ergriffen, um der Philosophie an deutschen Schulen ein größeres Gewicht zu geben. Darauf hin zu wirken bleibt eine Aufgabe der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, und der neue Präsident, Prof. Dr. Michael Quante, hat angekündigt, dass dies auch in den nächsten drei Jahren ein Schwerpunkt der Deutschen Gesellschaft für Philosophie bleiben wird. Der nachstehende Text wurde von mir zu Beginn meiner Präsidentschaft formuliert und dann in einem Rundschreiben publiziert. Da er mir inhaltlich nach wie vor aktuell zu sein scheint, wird er hier abgedruckt.3 Die Rolle, die die Philosophie an deutschen Schulen spielt, stellt eine Anomalie dar, was besonders in der romanischen Welt, in Frankreich, in Italien, in Spanien, aber auch in Südamerika mit Verständnislosigkeit beobachtet wird. Während die deutschsprachigen Beiträge zur Philosophie der letzten Jahrhunderte von zentraler, ja, von überragender Bedeutung sind, spielt weder die Geschichte der Philosophie noch die Schulung zum philosophischen Denken in den Schulen in Deutschland eine nennenswerte Rolle. In Italien, in Frankreich und in anderen romanischen Ländern ist Philosophie hingegen eines der Kernfächer, in Frankreich gleichrangig neben dem Französischen und der Mathematik. In vielen Ländern der Welt, zunehmend auch in den englischsprachigen und wiederkehrend in den slawischen, aber sogar in Ostasien gilt Deutsch als Schlüssel nicht nur zu einem wichtigen europäischen Land und seiner Kultur, sondern eben auch zum internationalen philosophischen Diskurs. Kant, Hegel, Heidegger, Husserl, Wittgenstein u. v. a. prägen die intellektuellen Diskurse in den Geisteswissenschaften, den Feuilletons, den Künsten und der Literatur. Wir müssen hier nicht den Ursachen nachspüren, die zu dieser Anomalie geführt haben. Aber wir sollten das Zeitfenster nutzen, das sich möglicherweise jetzt auftut, um diesen Missstand zu beheben. Die Bildungslandschaft ist im Umbruch. Vieles deutet darauf hin, dass die Zeit der deutschen Halbtagsschule ihrem Ende entgegengeht und wir uns dem Vorbild unseres westlichen Nachbarn anschließen (müssen). Es ist eine Generation junger Frauen herangewachsen, die es aus vielen Gründen für selbstverständlich hält, dass sie in gleicher Weise am Erwerbsleben partizipieren können, wie gleichaltrige Männer. Das heißt, dass sie sich eine längere Baby-Pause oder eine KinderIn diesem Zusammenhang siehe auch die »Münsteraner Erklärung zur Philosophie in Schulen«, http://fv-philosophie.de/hp/dat/Erkl%E4rung_M%FCnster.htm 3

Vorwort

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bedingte Reduktion des beruflichen Engagements über viele Jahre hinweg nicht mehr leisten können und wollen. Die Ehen sind zudem instabiler geworden und die ökonomische Selbstständigkeit ist schon von daher ein Gebot der praktischen Vernunft. Die Statistiken in Deutschland sprechen da eine klare Sprache, was den Anteil der auf staatliche Hilfe angewiesenen alleinerziehenden Frauen angeht. Der Staat reagiert darauf mit einem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung von Kindern ab dem zweiten Lebensjahr ab 2013, und es liegt in der Logik dieser Entwicklung, dass die Schulen nachziehen werden. Zumindest wird sich der Anteil der Ganztagsschulen deutlich ausweiten. Unvorstellbar ist, dass diese Ausweitung lediglich eine quantitative Verlängerung der bisherigen Unterrichtsformen darstellen wird. Es besteht die Chance, dass mit dieser Umstellung neue Formen des Bildungserwerbs und der Bildungsvermittlung gefunden werden. Das Hupfen von Fach zu Fach im Stunden-Rhythmus, die Parzellierung des Wissens, die Vernachlässigung eigener Urteilskraft gegenüber meist nur kurzfristigem Wissenserwerb, aber auch die ethische und ästhetische, die physische und soziale Dimension jugendlicher Lebensformen kann und wird hoffentlich ein Ende haben. Es besteht die Chance, neue Formen der Bildungsvermittlung und des Bildungserwerbs zu verbinden mit neuen Inhalten, einer neuen interdisziplinären Kanonik, einer größeren Vielfalt eigener Schwerpunktsetzungen der Schulen und verbesserten Möglichkeiten, auf die Interessen der Jugendlichen einzugehen. Die Philosophie kann und sollte in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen. Das wichtigste kognitive Bildungsziel ist die Urteilskraft. Gerade in einer Welt, in der Informationen im Übermaß und so gut wie kostenlos sind, sind Menschen auf ihre Urteilskraft angewiesen, weil sie sich täglich von neuem ihr eigenes, und im günstigen Fall wohlbegründetes und stabiles Urteil, bilden können müssen. Sie müssen gute von schlechten Argumenten unterscheiden lernen. Die Philosophie als Logik und als Argumentationslehre ist daher kein Fach neben anderen, sondern für kognitive Bildung generell unverzichtbar. Die ethische Dimension der jugendlichen Lebensform bedarf einer kritischen, philosophischen Begleitung, um sich voll entfalten zu können. Dieser Bedarf lässt sich nicht auf diejenigen beschränken, die einen Religionsunterricht ablehnen und er betrifft alle Altersgruppen. Die Entwicklung der praktischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten bietet einen riesigen Fundus handlungsleitender Kriterien und Argumente. Die praktische Philosophie ist im Wortsinne praktisch geworden, das heißt sie hat sich von den Theoriestreitigkeiten weg bewegt und sich der Detail-Analyse konkreter Entscheidungssituationen zugewandt. Sie ist im Gegensatz zu früheren Zeiten empirisch gesättigt, das heißt die philosophischen Beiträge stehen in engem Austausch mit den empirischen Aspekten menschlicher Praxis. Jugendliche müssen lernen sich in einer komplexen sozialen Welt zu orientieren, die sich nicht auf das eigene Land beschränken lässt. Diese kulturelle Globalisierung, die die ökonomische zunehmend ergänzen wird, verlangt nach interkultureller Kompetenz, zu der die Philosophie einen wichtigen Beitrag leisten kann. Fragen der internationalen Gerechtigkeit und der Herausforderungen durch den Klimawandel sind von philosophischer Seite in den vergangenen Jahren hochkompetent behandelt worden (zum Beispiel von Thomas Nagel, Martha Nussbaum, Thomas Pogge).

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Vorwort

Durch das Ende des Ost-West-Konflikts hat sich die internationale Staatenwelt grundlegend gewandelt. Nach der bipolaren Ordnung schien eine Zeit der uneingeschränkten Dominanz der letzten verbliebenen Supermacht USA anzuheben. Der Irakund der Afghanistan-Krieg, die wirtschaftlichen Probleme des Westens und speziell der USA zeigen jedoch, dass die Staatenwelt multipolarer und komplexer wird. Humanitäre Interventionen, also ethisch motivierte Kriege ohne eigene Bedrohung, haben Eingang ins Völkerrecht gefunden und sind von wachsender Bedeutung. Damit ist die Ethik internationaler Beziehungen zu einem Ordnungsfaktor geworden. Nach vielen Jahrzehnten der Dominanz des Realismus in den internationalen Beziehungen sind daher philosophische Fragen nicht nur von theoretischem, sondern von eminent praktischem Interesse. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind heute mit der ökonomischen und technologischen Praxis enger verwoben, als zu früheren Zeiten. Ökonomische Interessen spielen eine größere Rolle in der Wissenschaftsentwicklung und umgekehrt. Wir leben in einer wissenschaftlich-technisch geprägten Welt, und das ist nicht mehr auf die entwickelten Länder beschränkt. Umso bedeutsamer ist es, Jugendlichen frühzeitig ein angemessenes Verständnis des wissenschaftlichen Denkens zu vermitteln und die wichtigsten Ergebnisse der Wissenschaft in ein kohärentes Bild zu integrieren. Die Philosophie als Integrationsdisziplin, als die einzige Disziplin, die zu allen anderen Disziplinen ein mehr oder weniger enges Verhältnis pflegt, kann diese Integrationsleistung erbringen. Die philosophische Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie stellt die dazu wesentlichen Begriffe und Analysemethoden bereit. Die Parzellierung des Unterrichts entspricht einer Parzellierung der Disziplinen. Es ist für die kulturelle Verfasstheit einer Gesellschaft von großer Bedeutung, dass schon in den Schulen die Anstrengung der Integration früh beginnt. Die Philosophie hat hier eine Schlüsselrolle. Die Geschichte der Philosophie birgt einen Schatz von Denkansätzen, Begriffen und Theorien, die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Die großen Klassiker sind nicht lediglich aus historischem Interesse relevant, sondern aus einem eminent praktischen. Es gibt Platoniker in der Mathematik und Physik. Es gibt Aristoteliker in den Sozialwissenschaften. Es gibt Epikureer und Stoiker in der Art der Lebensführung. Es gibt die Rationalisten der Neuzeit, die als Radikale der Vernunft gegen Konvention, gegen Tradition, Vorurteil und Unmündigkeit kämpften. Es gibt die Ethiker der Schottischen Aufklärung, die die Ökonomie als Wissenschaft begründeten und es gibt Immanuel Kant, in dem der Geist der europäischen Aufklärung seinen höchsten Ausdruck findet. Hegel, Marx, Frege, Husserl, Heidegger, Wittgenstein – nicht zufällig deutschsprachige Philosophen – prägen das kulturelle, soziale, politische, geisteswissenschaftliche Denken bis heute in hohem Maße. Philosophie in den Schulen sollte sich nicht, wie in den romanischen Ländern weithin üblich, auf die Geschichte der Philosophie beschränken. Aber die klassischen Texte und die Geschichte der Philosophie sind ein reichhaltiger Fundus, der für das Verständnis des eigenen kulturellen Herkommens und der heutigen kulturellen Diskurse unverzichtbar ist.

I N M E M O R I A M P R O F. D R . D D R . H . C . P E T E R K O S L O W S K I Am 15. Mai 2012 verstarb völlig überraschend unser Kollege Peter Koslowski, langjähriges Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, Leiter der Forschungsarbeitsgruppe für Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur, der für diesen Kongress das Kolloquium Ökonomische und außerökonomische Gründe wirtschaftlichen Handelns – Die Welt der wirtschaftlichen Gründe (in diesem Band dokumentiert) organisiert hatte. Die Forschungsarbeitsgruppe für Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur wird ihre Jahrestagung 2012 in memoriam Peter Koslowski zum Thema »Wirtschaftsethik und Wirtschaftskultur – Was sich ändern muss« am 14. und 15. Dezember 2012 an der Universität Witten/Herdecke abhalten.

KOLLOQUIUM 1

Erste Philosophie heute Kolloquiumsleitung: Thomas Buchheim

Thomas Buchheim und Christopher Erhard Einführung E. J. Lowe Neo-Aristotelian Metaphysics: An Exposition and Defence Johannes Hübner Die Neoaristotelische Ontologie von E. J. Lowe Christian Beyer Husserls transzendentale Phänomenologie im Lichte der (neueren) Erkenntnistheorie Christopher Erhard Husserls moderater empirischer Fundamentalismus und das Verhältnis zwischen Phänomenologie, Ontologie und Metaphysik. Kommentar zu Christian Beyer Benjamin Schnieder Gründe, Folgen, Fundamente – Zur Renaissance einer philosophischen Debatte Alexander Steinberg Der Satz vom Grunde

Einführung Thomas Buchheim und Christopher Erhard

Jede Wissenschaft und eigentlich jede intelligente Tätigkeit schreitet nach Aristoteles fort vom proteron kai gnôrimôteron hêmin zum proteron kai gnôrimôteron tê physei (dem Früheren und Erkennbareren für uns zum Früheren und Erkennbareren in der Sache). Die allgemeine Methode des Erkennens scheint deshalb schon so etwas wie ein ›Gefälle zum Früheren‹ vorauszusetzen, wodurch impliziert wird, dass erstens nicht alles gleich primär und wichtig ist, und zweitens wir nicht sowieso schon beim Wichtigsten angelangt sind. Erste Philosophie ist so gesehen fast etwas Unvermeidliches, es fragt sich nur, was das Entscheidende oder Wichtigste oder ›Erste‹ ist. Deshalb scheint der Satz des Aristoteles denkwürdig, dass dann, »wenn keine Substanz außer den natürlichen existiert, eben die Physik erste Wissenschaft ist« (Metaph. VI 1, 1026a27–29). Die Frage ist für Aristoteles gar nicht so sehr, ob es eine erste Philosophie gibt, sondern worin sie besteht. Auch hier ist mit Aristoteles eine signifikante Unterscheidung zu treffen. ›Erste‹ Philosophie kann nämlich diejenige genannt werden, die man zuerst zu absolvieren hat, um in Sachen Erkenntnis überhaupt voranzukommen. In diesem Sinn scheint die neuzeitlich-transzendentale Philosophie seit Descartes und Kant die Idee einer Ersten Philosophie bevorzugt aufzufassen, wie man etwa am Vorbild Edmund Husserls sehen kann, mit dem sich in unserem Kolloquium besonders Christian Beyer und Christopher Erhard befassen werden. Für Husserl stellte sich nämlich zuerst das Problem, wie der Objektivitätsanspruch jedweder Erkenntnis zu verstehen ist. Was rechtfertigt uns, über die subjektiven Gegebenheitsweisen von Objekten hinausgehend, die Transzendenz objektiver Gegenstände mitsamt ihrer Existenz und ihren Eigenschaften in Anspruch zu nehmen? Nach Husserl ist es allein die transzendentale Phänomenologie, die diese Frage beantworten kann, indem sie systematisch unter den Bedingungen der sog. Epoché (Einklammerung expliziter und impliziter Existenzannahmen) die Strukturen des »reinen Bewusstseins« erforscht, aufgrund deren Erkenntnis möglich ist (Erste Philosophie als transzendental-phänomenologische Erkenntnistheorie). Zum anderen aber stellt sich die Frage der Ersten Philosophie natürlich auch immer noch so, was denn wohl angesichts der unübersichtlichen Mannigfaltigkeit des Wirklichen, wie sie sich uns präsentiert, denn das Grundlegende oder Wichtigste sei, auf dem sich anderes Spezielleres oder Abgeleiteteres aufrichten ließe. Mit dieser eher klassisch zu nennenden Version des Problems beschäftigen sich Jonathan Lowe und Johannes Hübner. Sie stellen sich in neoaristotelischem Fahrwasser der Frage, was die grundlegenden Kategorien der Wirklichkeit sind (Erste Philosophie als neo-aristotelische kategoriale Ontologie). Auch der dritte Themenblock, in dem Benjamin Schnieder und Alexander Steinberg die strukturell angelegte Debatte um die Relation des grounding aufgreifen, kreist um das

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Kolloquium 1 · Thomas Buchheim u. Christopher Erhard

Verhältnis fundamentaler und fundierter Entitäten. Dieser Diskussion zufolge geht es in der Ersten Philosophie nicht primär darum, ein bloßes Inventar der Wirklichkeit zu erstellen, sondern vielmehr darum, die Elemente der Wirklichkeit mit Blick auf ihren fundamentalen oder fundierten Status einzuordnen. Erste Philosophie ist intrinsisch mit grounding verwoben, weil es in ihr eben um ›erste‹ oder fundamentale Größen geht, auf denen alles andere aufbaut. Historisch gesehen erweisen sich dabei Bolzanos Ideen zur Relation der Abfolge als fruchtbar. Der Zusammenhang der Diskussion über grounding und der Idee einer Ersten Philosophie ist darin zu sehen, dass die Frage nach Verhältnissen des grounding innerhalb der Gesamtheit des Seienden zwangsläufig dazuführt, die Frage nach fundamentalen Entitäten bzw. Grundwahrheiten zu stellen. Dies sind Entitäten, die nicht in anderen Entitäten gegründet sind (Erste Philosophie als Frage nach der Struktur von Fundierungsordnungen).

Überblick zu den einzelnen Beiträgen Die beiden Beiträge aus dem ersten Themenblock von E. J. Lowe und Johannes Hübner kreisen um die Frage nach den grundlegenden Kategorien der Wirklichkeit. In seinem Beitrag Neo-Aristotelian Metaphysics: An Exposition and Defence skizziert E. J. Lowe seine von Aristoteles’ Kategorien und Metaphysik inspirierte vier-kategoriale Ontologie, derzufolge alles, was existiert, entweder ein Objekt (eine Substanz), eine Art, ein Attribut oder eine Trope ist. In Lowes neo-aristotelischem Quadrat fungieren Objekte als die fundamentalen Entitäten, von denen alle anderen Kategorien abhängen. Sein System ist insofern eine Erste Philosophie, als es »conceptually and epistemologically prior to any of the empirical sciences and an intellectual prerequisite of their pursuit of truth concerning the natural world and the human mind« ist. Im ersten Teil seines Beitrags weist Lowe den aristotelischen Hylemorphismus in einer bestimmten Lesart zurück, derzufolge konkrete Substanzen als Kombinationen von zwei Bestandteilen, nämlich Materie und Form, zu verstehen sind. Nach Lowe sind individuelle Substanzen keine »Kombinationen« von Materie und Form, sondern partikuläre Instanzen von Arten und Gattungen: »What I am saying, then, is that individual objects or primary substances are nothing other than particular forms, or form-particulars – particular instances of universal forms«. Im zweiten Teil seines Beitrags versucht Lowe die Modalitäten der Möglichkeit und Notwendigkeit, die für alle Rede von Substanzen und ihren notwendigen und akzidentellen Eigenschaften zentral zu sein scheinen, auf die nicht-modale Idee einer Realdefinition zurückzuspielen. Lowe ist skeptisch gegenüber der Rede von möglichen Welten und hält Realdefinitionen für ontologisch sparsamer und ausreichend. Realdefinitionen sagen uns, was zum Wesen einer Sache gehört und was nicht. Essenzen sollten nach Lowe nicht hypostasiert werden und einen eigenen Platz in der vier-kategorialen Ontologie zugewiesen bekommen. Dadurch gerät man auch nicht in die Gefahr, die Erkenntnis von Essenzen in einem mystischen Vorgang fundieren zu müssen. Alle metaphysisch notwendigen Wahrheiten gründen in Essenzen: »Our proposal concerning metaphysically necessary truths is, then, this: a metaphy-

Einführung

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sically necessary truth is a truth which is either an essential truth or else a truth that obtains in virtue of the essences of two or more distinct things. On this account, all metaphysical necessity (and by the same token all metaphysical possibility) is grounded in essence.« Unmittelbare essentielle Wahrheiten hingegen werden in Realdefinitionen ausgedrückt. Nach Lowe gehört essentiales Wissen bereits zum Verstehen elementarer Propositionen, zu denen auch Realdefinitionen gehören: »My own account of what it is to grasp an essence appeals only to an intellectual ability that, by any account, we must already be acknowledged to possess: the ability to understand at least some propositions, including those that express real definitions.« In seinem Kommentar Die neoaristotelische Ontologie von E. J. Lowe geht es Johannes Hübner im Wesentlichen darum, die systematische Nähe zwischen Aristoteles’ und Lowes Idee einer Ontologie und Ersten Philosophie stärker zu forcieren, als Lowe dies selbst tut. So streben z. B. beide Philosophen das Ziel an, in der Ontologie Erklärungen für Existenz und So-Sein von Entitäten zu liefern und dergestalt fundamentale Entitäten ausfindig zu machen. Damit stehen Aristoteles und Lowe in Opposition zur Quine’schen Konzeption der Ontologie, die sich darauf beschränkt, eine idealerweise erschöpfende und exklusive Liste des Inventars alles Seienden zu erstellen. Sodann konzentriert sich Johannes Hübner darauf, Aristoteles von Lowes berechtigter Kritik an einer bestimmten Lesart des Hylemorphismus freizusprechen. Aristoteles zufolge darf man nämlich das Verhältnis zwischen Materie und Form einer Substanz nicht als ein Verhältnis zweier Bestandteile verstehen. Denn, so Hübner, »die Form bestimmt die Weise der Zusammensetzung von Bestandteilen und ist kein in die Zusammensetzung eingehender Bestandteil«. Schließlich geht Hübner Lowes Thesen zum Verhältnis der Modalitäten und Essenzen nach. Hübner macht darauf aufmerksam, dass bei Lowe nicht hinreichend klar ist, ob er ein reduktives Ziel verfolgt, demzufolge modales Vokabular zugunsten von essentialem Vokabular eliminiert werden soll. Dies ist nach Hübner deshalb problematisch, weil Lowes Charakterisierung einer Realdefinition, mit deren Hilfe das Wesen einer Sache eingefangen werden soll, nicht ohne modale Terme auskommt. So haben z. B. auch Entitäten, die lediglich existieren könnten (z. B. Einhörner), nach Lowe eine Essenz. Hingegen unterstützt Hübner Lowes Idee, metaphysische Notwendigkeiten in den Essenzen der Dinge zu gründen. Abschließend zeigt Hübner, dass Essenzen auf einfache Weise im Rahmen von Lowes Ontologie als Entitäten anerkannt werden können, nämlich gemäß folgendem Prinzip: »EE (Essenzen als Entitäten): Die Essenz einer Entität E ist, oder ist konstituiert durch, die Menge der essentiellen Eigenschaften, die E zukommen.« Im zweiten Themenblock, in dem die Idee einer Ersten Philosophie im Kontext der transzendentalen Phänomenologie Husserls lokalisiert wird, stellt Christian Beyer in seinem Beitrag Husserls transzendentale Phänomenologie im Lichte der (neueren) Erkenntnistheorie Husserlreife Position als eine Form der Ersten Philosophie dar, die »nichts Geringeres als ein philosophisches Verständnis unseres je eigenen Welt- und Selbstverständnisses im Ganzen« anstrebt. Ausgangspunkt dafür ist das Phänomen der Intentionalität, der Gerichtetheit allen Bewusstseins auf etwas von ihm Verschiedenes. Bei den Gründungsvätern der Phänomenologie (Beyer bezieht sich auf Husserl und Hei-

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Kolloquium 1 · Thomas Buchheim u. Christopher Ehrhard

degger) ist Intentionalität nicht als das Haben von mentalen Bildern, Zeichen oder Sinnes-Daten im Geist zu verstehen, sondern als direkte Gerichtetheit auf bewusstseinsunabhängige Objekte in der Welt. Allerdings fragt sich Husserl, wie diese ›Offenheit‹ für die Welt möglich ist. Die Frage, wie subjektive Erlebnisse Objektives zugänglich machen können, ist somit Husserls Kernfrage, es ist das Problem der Transzendenz. Um dieses Problem zu lösen, müssen wir unsere natürlichen Existenzannahmen einklammern (Epoché), um unseren Blick auf jene subjektive Leistungen richten zu können, kraft deren uns objektive Einheiten immer schon erscheinen. Beyer gibt einen Überblick über die verschiedenen Schichten, in denen sich die Welt vom Standpunkt des Subjekte intentional darstellt oder konstituiert. Da sich Husserl dabei fundamentalistischer Redeweisen bedient, untersucht Beyer mögliche Berührungspunkte zwischen Husserl und einem der prominentesten epistemologischen Fundamentalisten unserer Zeit, nämlich Laurence Bonjours. Ungeachtet einiger oberflächlicher Gemeinsamkeiten sollte Husserl in Beyers Augen eher als ein holistischer Kohärentist mit Blick auf empirische Rechtfertigung angesehen werden. Es geht Husserl Beyer zufolge um eine kohärentistische Rechtfertigung des natürlichen Realismus, der Welt und Objekte in ihr immer schon als bewusstseinstranszendente und -unabhängige Entitäten annimmt. Diese Rechtfertigung nimmt außerdem die Form einer Metarechtfertigung an, d. h. Husserl klärt jene Strukturen des Bewusstseins, kraft deren wir davon ausgehen dürfen, dass es Dinge unabhängig davon gibt, ob wir (Menschen) sie erkennen. Christopher Erhard setzt in seinem Kommentar Beyer zwei Punkte kritisch entgegen. Zunächst sei es fragwürdig, Husserls Projekt als eines der Rechtfertigung des natürlichen Realismus zu deuten, sofern damit impliziert ist, dass skeptische Positionen explizit widerlegt würden. Husserl hat aber keine (definitiven) Argumente gegen skeptische Szenarien wie den cartesischen Dämon, das Gehirn im Tank oder die Russell’sche Möglichkeit der Weltenstehung vor fünf Minuten; im Gegenteil: für Husserls Projekt einer reinen Bewusstseinsphilosophie spielt die prinzipielle Möglichkeit solcher Szenarien mitunter eine zentrale Rolle. Husserl ging es Erhard zufolge primär um das Aufklären der Möglichkeit von Erkenntnis, nicht so sehr um ihre Absicherung gegen prinzipiell mögliche Zweifel. Sodann zeigt Erhard, dass der Begriff des Fundamentalismus mehrdeutig ist, und dass die Tatsache, dass Husserl keinen Bonjour’schen Fundamentalismus vertritt, noch nicht hinreicht, jede Form des Fundamentalismus abzuweisen. Dies wird verdeutlicht, indem der Begriff eines minimalen empirischen Fundamentalismus in einer moderaten Version eingeführt und anhand von Zitaten von Husserl belegt wird. Dem empirischen Fundamentalismus zufolge fungieren einfache Wahrnehmungsurteile als Basis unseres empirischen Wissens. Solche fundamentalen, obschon falliblen Urteile werden auf nicht-inferentielle Weise durch Wahrnehmungserlebnisse gerechtfertigt; Wahrnehmungen ihrerseits sind nicht weiter zu ›rechtfertigen‹, tragen aber gemäß Husserls »Prinzip aller Prinzipien« in sich bereits ein epistemisches Gewicht, das durch Zusammenhänge der Einstimmigkeit zwar verstärkt, aber nicht erst hergestellt wird. Denn Wahrnehmungen sind nach Husserl durch »originäre« und »leibhaftige« Präsentationsweise ausgezeichnet, die ihnen intrinsisches Rechtfertigungspotential verleiht. Insgesamt scheint Husserls Phänomenologie nicht recht in das

Einführung

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Schema von Fundamentalismus versus Kohärentismus zu passen. Am ehesten ist seine Position als eine Art ›Fundhärentismus‹ zu rekonstruieren, der fundamentalistische und kohärentistische Elemente kombiniert. In einem dritten Teil wird schließlich Beyers erkenntnistheoretischer Fokus auf Husserls Phänomenologie als zu eng aufgewiesen, indem angedeutet wird, wie sich klassische Ontologie und Metaphysik – also die traditionellen Kandidaten für eine Erste Philosophie – und Phänomenologie zusammenbringen lassen. Anhand einer Reihe von Zitaten wird belegt, dass sich diese drei Disziplinen bei Husserl nicht ausschließen. Im ersten Teil des dritten Themenblocks gibt Benjamin Schnieder in seinem Beitrag Gründe, Folgen, Fundamente. Zur Renaissance einer philosophischen Debatte einen historisch-systematischen Überblick über die aktuelle Diskussion zum Thema grounding. Unter diesem Titel werden von Autoren wie Jonathan Schaffer, Kit Fine, Fabrice Correia und Benjamin Schnieder selbst objektive, aber nicht eo ipso kausale GrundFolge-Beziehungen behandelt, die sich in unterschiedlichsten Bereichen der Wirklichkeit manifestieren. Schnieder zeigt in einem ersten Schritt, dass diese aktuelle Debatte tatsächlich Wurzeln in der klassischen Philosophie seit der Antike (Platon, Aristoteles) hat. Besonders der im Rationalismus (und danach, z. B. bei Schopenhauer) intensiv diskutierte Satz vom (zureichenden) Grund verdeutlicht dies. Besondere, weil auf systematischen und detaillierten Reflexionen basierende, Verdienste kommen dabei nach Schnieder jedoch erst Bernard Bolzano (1781–1848) zu, einem bis heute relativ unbekannten Philosophen. Bolzano antizipiert das Phänomen des grounding unter dem Titel der Abfolge, die umsichtig von der rein logischen Relation der Ableitbarkeit abgegrenzt wird. Nach dieser historischen Skizze thematisiert Schnieder einige Eckpunkte, die eine Theorie des grounding behandeln muss. Dazu gehört die Frage, ob grounding eine Relation ist und, wenn ja, welchen kategorialen Status ihre Relata haben (Dinge, Tatsachen, Propositionen, Wahrheiten etc.). Ferner ist zu fragen, ob »grounding« begrifflich primitiv ist, oder nicht. Nach Schnieder spricht einiges für die Primitivität, so dass dieser Begriff nur durch Kontrastierung, Erläuterung durch Beispiele und Axiomatisierung (logische Systematisierung) weiter zu erhellen ist. Zudem kann grounding verwendet werden, um andere nah verwandte, aber gleichwohl distinkte Phänomene zu charakterisieren. Dies weist Schnieder anhand der Begriffe der ontologischen Abhängigkeit und des (Wahr-)Machens exemplarisch auf. Grounding erfordert dabei eine eigene Logik, die eng mit dem Wort »weil« zusammenhängt. Schließlich stellt sich Schnieder die Frage, was grounding und Erste Philosophie miteinander zu tun haben könnten. Ein möglicher Berührungspunkt ist die Frage nach Grundwahrheiten, d. h. Wahrheiten, die bestehen, aber keine Gründe haben. Das Projekt einer Ersten Philosophie muss hier ansetzen und prüfen, ob es solche Wahrheiten gibt oder geben kann, ob diese (vom Philosophen) entdeckt und als solche erkannt werden können, und welcher Natur diese ggf. sind. Hier muss, so Schnieder, Vorsicht und Bescheidenheit walten, da weder Existenz noch Erkennbarkeit putativer Grundwahrheiten (durch uns bzw. den Philosophen) von vornherein präsupponiert werden dürfen. Alexander Steinberg kommentiert in seinem Beitrag Der Satz vom Grunde Schnieders Ausführungen, indem er sich auf das viel diskutierte Argument des modalen Kol-

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Kolloquium 1 · Thomas Buchheim und Christopher Erhard

lapses konzentriert. Autoren (z. B. Jonathan Bennett und Peter van Inwagen), die dieses Argument vertreten, wollen mit seiner Hilfe den Satz vom zureichenden Grund widerlegen. Dies geschieht dadurch, dass gezeigt wird, dass die Wahrheit dieses Satzes zur Folge hätte, dass es keine kontingenten Wahr- und Falschheiten geben würde (Prämisse 1). Da es aber kontingente Wahr- und Falschheiten gibt (Prämisse 2), muss der Satz vom Grund falsch sein. Hier steckt der Teufel im Detail. Im Zuge der Begründung von 1 durch die Vertreter des modalen Kollapses zeigt Steinberg, dass dabei die große Konjunktion GK aller kontingenten Wahrheiten eine wichtige Rolle spielt. Während oft behauptet wird, GK könne keinen kontingenten zureichenden Grund haben, weil dieser ein Konjunkt aus GK wäre (womit GK sich selbst begründen würde), zeigt Steinberg, dass es eine durchaus natürliche Annahme ist, dass Konjunktionen durch ihre Konjunkte begründet werden können – wenn auch nur partiell. Mit der Kritik an den Voraussetzungen des Arguments des modalen Kollapses ist somit der Weg frei für eine erneute Auseinandersetzung mit dem Satz vom zureichenden Grunde. Steinberg zufolge muss dieser Satz allerdings so formuliert werden, dass er nicht zwingend zur Folge hat, jede Wahrheit habe nur eine einzige, sozusagen in sich geschlossene, Wahrheit als zureichenden Grund. Insgesamt zeichnen diese drei Blöcke zur Thematik Erste Philosophie heute? ein lebendiges Bild sowohl historischer als auch aktueller Positionen, die um verschiedene Weisen des Begründens kreisen: Während Lowe/Hübner die klassische aristotelische Frage nach fundamentalen Entitäten in der Welt aufgreifen, thematisieren Beyer/Erhard die Frage nach fundamentalen Rechtfertigungsordnungen; schließlich beschäftigen sich Schnieder/Steinberg mit den primär strukturellen Merkmalen von Fundierungs- und (Be-)Gründungsstrukturen. Insgesamt ist die Antwort auf die Frage des KolloquiumsTitels Erste Philosophie heute? somit ein emphatisches Ja!

Neo-Aristotelian Metaphysics: An Exposition and Defence E. J. Lowe

The aim of this paper is to show how, by combining a neo-Aristotelian account of essence with a neo-Aristotelian four-category ontology (of individual substances, modes, substantial universals, and property universals), a thoroughgoing metaphysical foundation for modal truths can be provided – one which avoids any appeal to ‘possible worlds’ and which renders modal truths objective, mind-independent, and yet also humanly knowable. If successful, this combination of a system of fundamental ontology with a theory of essence and metaphysical modality promises to vindicate the Aristotelian vision of metaphysics as ‘first philosophy’, a discipline that is conceptually and epistemologically prior to any of the empirical sciences and an intellectual prerequisite of their pursuit of truth concerning the natural world and the human mind.

I. Ontology In Aristotle’s mature ontological system, as presented in the Metaphysics, individual substances are taken to be combinations of matter and form, with each such substance being constituted by a particular parcel of matter embodying, or organized by, a certain form. For example, an individual house has as its immediate matter some bricks, mortar and timber, which are organized in a certain distinctive way fit to serve the functions of a human dwelling. Similarly, an individual horse has as its immediate matter some flesh, blood and bones, which are organized in a certain distinctive way fit to sustain a certain kind of life, that of a herbivorous quadruped. In each case, the ‘matter’ in question is not, or not purely, ‘prime’ matter, but is already ‘informed’ in certain distinctive ways which makes it suitable to receive the form of a house or a horse. Thus, bricks, mortar and timber would not be matter suitable to receive the form of a horse, but at best that of something like a statue of a horse. According to this view, the matter and form of an individual substance are both ‘incomplete’ entities, completed by each other in their union in that substance. But its form is essential to the substance, unlike its matter, in the following sense: an individual house, say, cannot lose the form of a house without thereby ceasing to be, whereas – while it must always have matter of an appropriate kind so long as it continues to be – it need not always have the same matter of that kind. Individual bricks and timbers in a house may be replaced without destroying the house – indeed, this may be the only way to preserve a certain house – but once its bricks and timbers cease to be organized in the form of a house, the house necessarily ceases to be. So far, I have spoken about forms, but not about features, and how they might be accommodated by the approach now under discussion. Very roughly, I think that the

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Kolloquium 1 · E. J. Lowe

answer should run somewhat as follows. The form of a substance constitutes its essence – what it is, its ‘quiddity’ – whereas its features, or ‘qualities’, are how it is. A horse is what Dobbin is, for example. If Dobbin is white, however, that is partly how he is – a way that he is. But how, then, are a substance’s features related to its form? Some of its features, it seems, are necessitated by its form – such as warm-bloodedness in the case of Dobbin – and these may be called, in the strictest sense of the term, the substance’s properties. Other of its features, however, are ‘accidental’, such as Dobbin’s whiteness, which may therefore be denominated one of his accidents. Even so, although Dobbin’s whiteness is accidental, that Dobbin has some colour is necessitated by his form and is thus essential to him. So we arrive at the following picture: an individual substance possesses a certain form, which constitutes its essence, from which ‘flow’ by necessity certain features of the substance, which are its properties in the strictest sense of the term. Some of these properties are ‘determinables’ rather than ‘determinates’, such as colour in the case of Dobbin, and then it is necessary that the substance should possess some determinate feature falling under the relevant determinable, but contingent which feature this is. Such contingent determinate features are the substance’s accidents, which can obviously change over time compatibly with the continued existence of the substance. The overall picture, even in this relatively simplified version of it, is quite complex, with an individual substance portrayed as having a rich and in some respects temporally inconstant constituent structure of form, matter, properties, and accidents, with form and properties remaining constant while matter and accidents are subject to change. Hylemorphism certainly has many attractive aspects. But its core difficulty lies in its central doctrine – that every concrete individual substance, is a ‘combination’ of matter and form. For what, really, are we to understand by ‘combination’ in this sense? Clearly, we are not supposed to think that combination in this sense just is, or is the result of, a ‘putting together’ of two mutually independent things, since matter and form are supposed to be ‘incomplete’ items which complete each other in the substance that combines them. Now, certainly, when some concrete things – such as some bricks, timbers and quantities of mortar – are put together to make a new concrete object, such as a house, those things have to put together in the right sort of way, not just haphazardly. But does this entitle us to suppose that the completed house is some sort of ‘combination’ of the things that have been put together and the way in which they have been put together? The challenge that the hylemorphist presents us with is to explain why, if we don’t say something like this, we are entitled to suppose that a new individual substance is brought into being. One presumption behind that challenge would seem to be that a substance can’t simply be a so-called mereological sum of other substances – and with this I can agree, at least if by a ‘mereological sum’ we mean an entity whose identity is determined solely by the identities of its ‘summands’, rather as the identity of a set is determined solely by the identities of its members. I agree that only when other substances have been put together in the right sort of way does a new substance of a certain kind come into being, the way in question depending on the kind in question. Moreover, I have no objection to the ‘reification’ of ‘ways’, understood as features or

Neo-Aristotelian Metaphysics: An Exposition and Defence

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forms, provided that we don’t treat ways as substances – so here too I am in agreement with the hylemorphist. Reification is not the same as hypostatization, but is merely the acknowledgement of some putative entity’s real existence. What I don’t understand is what it means to say that the completed house’s form – the way in which its ‘matter’ is organized – is an ‘incomplete’ constituent of the house which ‘combines’ together with that equally ‘incomplete’ matter to constitute the house, a complete substance. The words that particularly mystify me in this sort of account are ‘incomplete’, ‘combine’ and ‘constitute’. It’s not that I don’t understand these words perfectly well as they are commonly used in other contexts, just that I don’t understand their technical use in the hylemorphic theory and, equally importantly, why any need should be felt for this use of such terms. The hylemorphist ontology described above is inspired by Aristotle, as modified perhaps by later thinkers such as Aquinas. But the basis of another kind of ontology can also be traced to Aristotle, this time to the Aristotle of his presumed early work, the Categories. The kind of ontology that I now have in mind is one whose key notions are briefly sketched in the opening passages of that work, before the classificatory divisions commonly known as the Aristotelian ‘categories’ are set out later in the treatise. In those opening passages, Aristotle articulates a fourfold ontological scheme in terms of the two technical notions of ‘being said of a subject’ and ‘being in a subject’. Primary substances – what we have hitherto been calling ‘individual’ substances – are described as being neither said of a subject nor in a subject. Secondary substances – the species and genera to which primary substances belong – are described as being said of a subject but not in a subject. That leaves two other classes of items: those that are both said of a subject and in a subject, and those that are not said of a subject but are in a subject. Since these two classes receive no official names and have been variously denominated over the centuries, I propose to call them, respectively, attributes and modes. It seems that secondary substances and attributes are conceived to be different types of universal, while primary substances and modes are conceived to be different types of particular. Since the Aristotelian terminology of ‘being said of’ and ‘being in’ is perhaps less than fully perspicuous, with the former suggesting a linguistic relation and the latter seemingly having only a metaphorical sense, I prefer to use a different terminology: that of instantiation and characterization. Thus, I say that attributes and modes are characterizing entities, whereas primary and secondary substances are characterizable entities. And I say that secondary substances and attributes are instantiable entities, whereas primary substances and modes are instantiating entities. These terminological niceties, which though necessary are apt to prove confusing, are most conveniently laid out in diagrammatic form, using the familiar device known as the Ontological Square. I present it below. In my own version of the Ontological Square, I prefer to use the terms ‘object’ and ‘kind’ in place of the more cumbersome ‘primary substance’ and ‘secondary substance’. I also include a ‘diagonal’ relationship between objects and attributes, which is distinct from both instantiation and characterization, calling this, as seems appropriate, exemplification. Here is my version:

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Kolloquium 1 · E. J. Lowe

Kinds

characterized by

Attributes

instantiated by

exemplified by

instantiated by

Objects

characterized by

Modes

I call the four classes of entities depicted here ontological categories, albeit with a cautionary note that these are not to be confused with, even though they are not unrelated to, Aristotle’s own list of ‘categories’ later in his treatise. More precisely, I regard these four as the fundamental ontological categories, allowing that within each there may be various sub-categories, sub-sub-categories, and so on. How exactly are the two ‘Aristotelian’ systems of ontology related to one another? Unsurprisingly, they overlap in many respects, but one key respect in which they obviously differ is that the four-category ontology, as I call it1, unlike the hylemorphic ontology, does not include the category of matter. It might be thought that it also lacks the category of form, but that is not in fact so. For I believe that form, conceived as a type of universal, and more perspicuously termed substantial form, is really nothing other than secondary substance or substantial kind. We may refer to such universal forms either by using certain abstract nouns, such as ‘humanity’ and ‘equinity’, or else by using certain substantival nouns – what Locke called ‘sortal’ terms – such as ‘man’ and ‘horse’. I believe that this is a grammatical distinction which fails to reflect any real ontological difference. However, if that is so, then there is a very important ontological consequence. This is that primary substances, or individual concrete objects, ‘have’ forms only and precisely in the sense that they are particular instances of forms. Thus Dobbin is a particular instance of the substantial kind or form horse, whereas Dobbin’s whiteness is a particular instance of the colour universal or attribute whiteness. By this account, it makes no sense at all to say that Dobbin is a ‘combination’ of the form horse and some ‘matter’. He is, to repeat, just a particular instance of that form, other such instances being the various other particular horses that exist or have existed. Being an instance of this form, Dobbin must certainly have material parts, such as a head and limbs, but in no sense is he a ‘combination’ of anything material and the universal form in question. What I am saying, then, is that individual objects or primary substances are nothing other than particular forms, or form-particulars – particular instances of universal forms, in precisely the same sense in which modes (or ‘tropes’, as they are now often called) are particular instances of attributes.

Cf. E. J. Lowe: The Four-Category Ontology. A Metaphysical Foundation for Natural Science, Oxford 2006. 1

Neo-Aristotelian Metaphysics: An Exposition and Defence

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It cannot have escaped notice that, in discussing questions of fundamental ontology, I have frequently used modal notions, such as those of necessity and possibility, and also the notion of essence. In the remainder of this paper, therefore, I shall try to explain and defend my usage, which is once more inspired by the work of Aristotle.

II. Essence Currently dominant accounts of the traditional metaphysical distinction between essence and accident attempt to explain it in modal terms, and more specifically in terms of the notions of metaphysical necessity and possibility. These in turn are commonly explicated in terms of the language of ‘possible worlds’. Thus, a property F is said to be an essential property of an object a just in case, in every possible world in which a exists, a is F. And a’s essence is then said to consist in the set or sum of a’s essential properties. One difficulty of this approach, brought to our notice by the work of Kit Fine2, is that it seems grossly to over-generate essential properties. For instance, by this account, one of Socrates’s essential properties is his property of being either a man or a mouse and another is his property of being such that 2 + 2 = 4. It might be objected that these are not genuine properties anyway and so a fortiori not essential properties of Socrates. But there are other examples which cannot be objected to on these grounds, such as Socrates’s property of being the sole member of the set singleton Socrates, that is, the set {Socrates} whose sole member is Socrates. Fine urges, plausibly, that it is not part of Socrates’s essence that he belongs to this set, although it is plausibly the case that it is part of the essence of singleton Socrates that Socrates is its sole member. The modal account of essence cannot, it seems, accommodate this asymmetry. These points are too well-known for it to be necessary for me to dwell on them further. Suffice it to say that I am persuaded by Fine’s objections to the modal account of essence and accept the lesson that he draws: that it is preferable to try to explicate the notions of metaphysical necessity and possibility in terms of the notion of essence, rather than vice versa. This may also enable us to dispense with the language of possible worlds as a means of explicating modal statements. That would be a good thing, in my view, since I regard this language as being fraught with ontological difficulties, even if it can sometimes have a heuristic value. However, if we are to take this alternative line of approach, we need, of course, to provide a perspicuous account of the notion of essence which does not seek to explicate it in modal terms. Fortunately, we do have at our disposal some resources wherewith to accomplish this, drawing on the Aristotelian and Scholastic traditions in metaphysics. A key notion here, pointed out and exploited by Fine himself, is that of a real definition, understood as being a definition of a thing (a res, or entity), in contradistinction to a verbal definition, which is a definition of a word or phrase. A real definition of an Kit Fine: Essence and Modality, in: Philosophical Perspectives 8: Logic and Language (1994), 1–16. 2

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Kolloquium 1 · E. J. Lowe

entity, E, is to be understood as a proposition which tells us, in the most perspicuous fashion, what E is – or, more broadly, since we do not want to restrict ourselves solely to the essences of actually existing things, what E is or would be. This is perfectly in line with the original Aristotelian understanding of the notion of essence, for the Latinbased word ‘essence’ is just the standard translation of a phrase of Aristotle’s which is more literally translated into English as ‘the what it is to be’ or ‘the what it would be to be’. We find a similar turn of phrase in Locke’s Essay Concerning Human Understanding, where he tells us that the word ‘essence’, in what he calls its ‘proper original signification’ just means ‘the very being of any thing, whereby it is, what it is’ (III, III, 15). As I intimated earlier, the view of essence and real definition that I have just been articulating is one with a lengthy philosophical pedigree. We find it, for instance, in Spinoza’s On the Improvement of the Understanding. Now, any essential truth is ipso facto a metaphysically necessary truth, although not vice versa: there can be metaphysically necessary truths that aren’t essential truths – understanding an essential truth to be a truth concerning the essence of some entity. If we can truly affirm that it is part of the essence of some entity, E, that p is the case, then p is an essential truth and so a metaphysically necessary truth. Thus, for example, it is part of the essence of a certain ellipse, E, that its foci are a certain distance apart, whence it follows that it is metaphysically necessary that E’s foci are that distance apart. By something’s being a ‘part of the essence’ of a certain entity, I just mean that it either is the whole essence of that entity or else is properly included in its essence. Consider now a metaphysically necessary truth such as the fact that an ellipse is the closed curve of intersection between a cone and a plane cutting it at an oblique angle to its axis greater than that of the cone’s side. It is not part of the essence of any ellipse that this condition holds, nor is part of the essence of any cone that it does. What it is very plausible to contend, however, is that this metaphysically necessary truth holds in virtue of the essences of an ellipse and a cone respectively. It is because of what an ellipse is, and what a cone is, that this relationship necessarily holds between ellipses and cones. But it is not part of anything’s essence that it holds. For ellipses and cones, which are the only things whose essences have a role to play in explaining why this necessary truth holds, are quite different things. Our proposal concerning metaphysically necessary truths is, then, this: a metaphysically necessary truth is a truth which is either an essential truth or else a truth that obtains in virtue of the essences of two or more distinct things. On this account, all metaphysical necessity (and by the same token all metaphysical possibility) is grounded in essence.3 It will be recalled that, according to the currently prevailing modal account of essence, an entity’s essence consists in the set or sum of its essential properties, these being the properties that it possesses in every possible world in which it exists. Hence, according to this view, an entity’s essence is a further entity, namely, a set or sum of certain properties. According to my version of the neo-Aristotelian account of essence, E. J. Lowe: Two Notions of Being: Entity and Essence, in: Being: Developments in Contemporary Metaphysics, ed. by Robin Le Poidevin, Cambridge 2008, 23–48. 3

Neo-Aristotelian Metaphysics: An Exposition and Defence

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however, an entity’s essence is not some further entity (Lowe 2008). Rather, an entity’s essence is just what that entity is, as revealed by its real definition. But what E is is not some entity distinct from E. It is either identical with E (and some scholars think that this was Aristotle’s view) or else it is no entity at all: and the latter is my own view. On my view, we can quite properly say that it is part of the essence of a certain entity, E, that it possesses a certain property, P. But this doesn’t entitle us to say that P is a part of the essence of E. The latter would imply that E’s essence is a further entity, with P as a part, which accords with the orthodox view that E’s essence is a set or sum of certain properties. But I have rejected that view. We should not, in my opinion, reify essences. And although I speak of essences as having ‘parts’, I have already explained what I mean by this, in a way that does not require us to reify essences. Note that there is a particularly objectionable feature of the view that an entity’s essence is some further entity. This is that, since it seems proper to say that every entity has an essence, the view generates an infinite regress of essences. Neither the view that an entity is identical with its own essence, nor my preferred view that an entity’s essence is not an entity at all, has this defect. And my view, as we shall shortly see, has an additional advantage when we come to consider the epistemology of essence, that is, the proper account of our knowledge of essence. Given that all metaphysical modality is grounded in essence, we can have knowledge of metaphysical modality if we can have knowledge of essence. Can we? Most assuredly we can. We have already seen this in the case of geometrical figures, such as an ellipse. Knowing an entity’s essence is simply knowing what that entity is. And at least in the case of some entities, we must be able to know what they are, because otherwise it would be hard to see how we could know anything at all about them. How, for example, could I know that a certain ellipse had a certain eccentricity, if I did not know what an ellipse is? In order to think comprehendingly about something, I surely need to know what it is that I am thinking about. And sometimes, at least, we surely succeed in thinking comprehendingly about something – for if we don’t, then we surely never succeed in thinking at all, which is absurd. I mentioned earlier that, according to my account of essence, essences are not entities. This means that grasping an essence – knowing what something is – is not, by my account, a kind of knowledge by acquaintance of a special kind of entity, the thing in question’s essence. All that grasping an essence amounts to, on my view, is understanding a real definition, that is, understanding a special kind of proposition. To know what a circle is, for instance, I need to understand that a circle is the locus of a point moving in a plane at a fixed distance from a given point. Provided that I understand what a point and a plane are, and what motion and distance are, I can understand what a circle is, by grasping this real definition. And bear in mind that I do not insist that we need fully grasp the whole essence of a thing in order to be able to think about it to some degree adequately, so that even if I do not fully grasp what motion, say, is, I can still achieve at least a partial grasp of what a circle is by means of the foregoing real definition. If, by contrast, knowledge of essence were knowledge by acquaintance of a special kind of entity, then indeed we would have cause to be doubtful about our

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Kolloquium 1 · E. J. Lowe

ability ever to grasp the essences of things. For what mental faculty of ours could possibly be involved in this special kind of acquaintance? Surely not our faculty of sense perception. Sense perception may provide us with knowledge by acquaintance of concrete, physical things, existing in space and time, but hardly with knowledge of their essences, conceived as further entities somehow grounding modal truths about those concrete things. If appeal is instead made to some special intellectual faculty of ‘insight’ or ‘intuition’, with essences as its special objects, then one is open to the charge of antinaturalistic obscurantism. My own account of what it is to grasp an essence appeals only to an intellectual ability that, by any account, we must already be acknowledged to possess: the ability to understand at least some propositions, including those that express real definitions. We now have in place the basic ingredients for a thoroughgoing epistemology of metaphysical modality. Put simply, the theory is this. Metaphysical modalities are grounded in essence. That is, all truths about what is metaphysically necessary or possible are either straightforwardly essential truths or else obtain in virtue of the essences of things. An essence is what is expressed by a real definition. And it is part of our essence as rational, thinking beings that we can at least sometimes understand a real definition – which is just a special kind of proposition – and thereby grasp the essences of at least some things. Hence, we can know at least sometimes that something is metaphysically necessary or possible: we can have some knowledge of metaphysical modality. This itself is a modal truth, of course, and one that obtains in virtue of our essence as rational, thinking beings. And since we can, it seems clear, grasp our own essence – at least sufficiently well to know the foregoing modal truth about ourselves – we know that we can have some knowledge of metaphysical modality.

Die Neoaristotelische Ontologie von E. J. Lowe Johannes Hübner

Jonathan Lowe vertritt eine Ontologie, die mit gutem Recht ›Neoaristotelisch‹ genannt werden darf. Die folgenden Bemerkungen konzentrieren sich auf das Verhältnis der ontologischen Theorien von Lowe und Aristoteles. Teils sollen sie Lowes Nähe zur Aristotelischen Ontologie an Stellen herausarbeiten, an denen Lowe selbst eher eine Distanz sieht, teils sollen sie für eine Annäherung an Aristoteles werben. Primärer Bezugspunkt ist dabei die Präsentation, die Lowe in »Neo-Aristotelian Metaphysics: An Exposition and Defence« gibt; weitere Texte werden ergänzend hinzugezogen. Im Einzelnen gehe ich so vor: Der erste Abschnitt beschreibt das Aristotelische Konzept der Ontologie als erklärende Wissenschaft. Der Hylemorphismus ist ein wesentliches Element der Aristotelischen Ontologie. Der zweite Abschnitt soll zeigen, dass ein Vorbehalt von Lowe gegenüber dem Hylemorphismus die Aristotelische Position nicht trifft, während der dritte Abschnitt nachweisen möchte, dass Lowe die Grundannahmen des Aristotelischen Hylemorphismus teilt. Anschließend werden Lowes Auffassungen von Essenz und metaphysischer Notwendigkeit thematisiert. Der vierte Abschnitt erörtert, welches Ziel Lowe mit seiner Erklärung der metaphysischen Notwendigkeiten verfolgt. Der fünfte Abschnitt plädiert dafür, im Rahmen der Ontologie von Lowe Essenzen als Entitäten aufzufassen.

1. Ontologische Liste und erklärende Ontologie E. J. Lowe unterscheidet zwei Arten von Ontologie, die sich bei Aristoteles finden: Die reife Ontologie der Metaphysik, und die (vermutlich) frühe Ontologie der Kategorien. Er selbst schließt vorrangig an die Kategorien an. Dieser Abschnitt soll auf einen wichtigen Aspekt hinweisen, in dem die Metaphysik der bessere Anknüpfungspunkt für Lowes Ontologie wäre. Der Aspekt lässt sich verdeutlichen, indem man das Aristotelische Konzept der Ontologie mit der Quine’schen Auffassung vergleicht. Ontologie nach Quine fragt, was es gibt.1 Man beantwortet die ontologische Frage, indem man eine Liste dessen anfertigt, was es gibt. Die Aufgabe ist nicht trivial, da die Liste gewissen Ansprüchen genügen sollte. Sie sollte erschöpfend und endlich sein; die Einträge sollten nicht überlappen und einen passenden Grad an Allgemeinheit haben, um informativ zu sein; schließlich sollten die Einträge keine willkürliche Einteilung markieren. Es ist weder einfach, die Anforderungen in erhellender Weise zu formulieren, noch ist es trivial, eine Liste zu erstellen, die ihnen genügt. Aber auch eine Liste, die ihnen genügt, ist nur eine Liste. 1

Vgl. Willard van Orman Quine: From a Logical Point of View, Cambridge MA 21980, 1.

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Kolloquium 1 · Johannes Hübner

Im Gegensatz dazu beschränkt sich Ontologie im Aristotelischen Sinn nicht darauf, das Existierende zu inventarisieren. Die Metaphysik ist das Werk, in dem Aristoteles sein Konzept der Ontologie präsentiert und umsetzt. Bekanntlich ist der Ausdruck ›Ontologie‹ eine spätere Prägung; er wird hier zur Bezeichnung dessen gebraucht, was Aristoteles selbst als »Wissenschaft, die das Seiende betrachtet« bezeichnet.2 Aristotelische Ontologie ist keine Liste, sondern eine erklärende Wissenschaft, denn sie soll die Existenz des Existierenden erklären, mit den Worten des Aristoteles: Die Ontologie erforscht »die ersten Ursachen des Seienden, insofern es ist«.3 Ursachen anzugeben heißt bei Aristoteles zu erklären; erste Ursachen des Seins des Seienden zu bestimmen heißt, die Existenz des Seienden systematisch zu erklären. Wenn man sich an dem Konzept der Ontologie orientiert, das in der Metaphysik gegeben wird, fällt auf, wie beschränkt das ist, was in den Kategorien geleistet wird: Im Wesentlichen wird eine Liste des Seienden erstellt, und es werden Unterscheidungshilfen hinsichtlich der aufgelisteten Entitäten gegeben. Die Kategorien widmen sich nicht (oder fast nicht) der Erklärungsaufgabe, welche die Ontologie als eine Wissenschaft auszeichnet. Erst in der Metaphysik geht Aristoteles diesem Projekt nach. Wegen der unterschiedlichen Ansprüche sollte man die ontologische Theorie der Metaphysik nicht als Konkurrenzunternehmen zur ontologischen Einteilung der Kategorien auffassen. Die Metaphysik entwickelt wissenschaftliche Ontologie, die Kategorien nicht, und weil Ontologie im Sinn des Aristoteles wissenschaftlich sein muss, ergibt sich, dass die Metaphysik eine Ontologie im Aristotelischen Sinn präsentiert, die Kategorien dagegen nicht. Damit ist ein Maßstab dafür gewonnen, ob und in welchem Grad eine gegebene Ontologie das Prädikat ›Neoaristotelisch‹ verdient: Gibt sie systematische Existenzerklärungen für die Arten von Entitäten, die sie anerkennt, oder ist sie lediglich eine Liste? Eine genuin Neoaristotelische Ontologie wird sich, was den wissenschaftlichen Anspruch angeht, die Metaphysik und nicht die Kategorien zum Vorbild nehmen. Treue zur Metaphysik des Aristoteles in dieser Hinsicht ist zugleich ein sachlicher Vorzug. Wir treiben Philosophie, um zu verstehen. Das Ziel erreicht man auf dem Gebiet der Ontologie nicht mit einer Liste, sondern durch systematische Existenzerklärungen. Das Kriterium der Aristoteles-Nähe lässt sich präzisieren, indem man die Strategien betrachtet, die Aristoteles anwendet, um derartige Existenzerklärungen zu geben. Zwei stechen hervor. Zum einen erklärt er die Existenz (und Identität) der nicht-substantiellen Entitäten mit Rekurs auf die Substanzen. Um ein Beispiel von Aristoteles zu geben: Nicht-substantielle Zustände wie Gehen, Gesundsein und Sitzen können allenfalls deshalb als seiend gelten, weil es gehende, gesunde und sitzende Substanzen gibt.4 Die Substanzen bilden diejenige Kategorie des Seienden, von deren Existenz die Existenz des sonstigen Seienden abhängt.5 Der Begriff der Substanz ist bei Aristoteles mit Bezug

2 3 4 5

Aristoteles: Metaphysik IV 1, 1003a21. Ebd. IV 1, 1003a31; vgl. VI 1, 1025b3–4. Ebd. VII 1, 1028a20–25. Ebd. IV 2, 1003b16–19.

Die Neoaristotelische Ontologie von E. J. Lowe

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auf diese grundlegende Rolle definiert: ›Substanz‹ ist ein Ehrentitel für diejenigen Entitäten, die grundlegend für die übrigen sind. Jede ontologische Theorie, die Substanzen als in diesem Sinn fundamentale Kategorie anerkennt und damit eine Hierarchie von Entitäten vorsieht, ist in einer zentralen Hinsicht Neoaristotelisch. Die Theorie von Lowe erfüllt das Kriterium in dieser Hinsicht. Lowe akzeptiert vier fundamentale Kategorien des Seienden, nämlich 1. Objekte, 2. Arten, 3. Modi und 4. Attribute. Die Entsprechungen bei Aristoteles sind 1. individuelle Substanzen, 2. Arten und Gattungen der individuellen Substanzen, 3. individuelle Eigenschaften und 4. Arten und Gattungen der individuellen Eigenschaften. Lowe vertritt die These, dass Objekte »most fundamental« sind.6 Damit räumt er ihnen den Status von Substanzen ein, denen gegenüber die übrigen Kategorien ontologisch nachgeordnet sind, und mit Bezug auf die man die Existenz der übrigen Kategorien zu erklären hat. In dieser Hinsicht ist seine Ontologie klar Neoaristotelisch. Die zweite Weise, in der Aristoteles Existenzerklärungen gibt, betrifft die Frage, was eine individuelle Substanz zu einer Substanz macht. Lässt sich die Existenz und Identität der individuellen Substanzen erklären? Um eine Antwort zu geben, entwickelt Aristoteles in der Metaphysik seine Substanztheorie. Im ersten Schritt, welcher der ersten Erklärungsstrategie entspricht, macht er die Existenz des Nicht-Substantiellen vom substantiellen Fundament abhängig; im zweiten geht es ihm darum, die Existenz des Fundaments besser zu verstehen. Der zweite Schritt führt zu den beiden Elementen der Aristotelischen Ontologie, mit denen Lowe sich hauptsächlich beschäftigt, nämlich Hylemorphismus und Essentialismus. Die beiden Positionen sind die Säulen der Aristotelischen Substanztheorie. Hylemorphismus und Essentialismus und die zugehörigen Begriffe von Form und Essenz sollen die Existenz der individuellen Substanzen erklären. Sowohl von der Form als auch von der Essenz gilt, dass sie eine individuelle Substanz zur Substanz macht. Gemäß Aristoteles konkurrieren die Erklärungen nicht miteinander, weil er Form und Essenz gleichsetzt.7 Lowes Verhältnis zur Aristotelischen Substanztheorie lässt sich so beschreiben: Er distanziert sich vom Hylemorphismus, übernimmt aber den Essentialismus. Deshalb stellt sich die Frage, ob Lowes Ontologie auch hinsichtlich der zweiten Erklärungsstrategie Neoaristotelisch ist. Während diese Frage in dritten Abschnitt diskutiert wird, ist der nächste Abschnitt der Kritik gewidmet, die Lowe am Aristotelischen Hylemorphismus übt. Sie ist sein Hauptmotiv dafür, auf Distanz gegenüber der Metaphysik zu gehen.

Vgl. E.J. Lowe: The Four-Category Ontology. A Metaphysical Foundation for Natural Sciences, Oxford 2006, 21. 7 Vgl. Aristoteles: Metaphysik VII 7, 1032b1–2. 6

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Kolloquium 1 · Johannes Hübner

2. Kombination von Form und Materie bei Aristoteles? Lowe beschreibt und diskutiert eine bestimmte Version des Hylemorphismus. Sie besagt in ihrem Kern, dass Form und Materie für sich unvollständig sind und in Kombination miteinander eine konkrete Substanz bilden. Der Kern der Lehre, so meint Lowe mit einigem Recht, sei schwer verständlich und unmotiviert. Er lässt Vorsicht walten, was die Zuschreibung dieser Version des Hylemorphismus zu Aristoteles angeht; die Version sei durch Aristoteles inspiriert und möglicherweise durch spätere Autoren modifiziert. Man sollte Lowe folgen, was seine Vorbehalte gegen den von ihm betrachteten Hylemorphismus angeht: Diese Version ist tatsächlich fragwürdig. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Aristoteles selbst Gründe hat, einen solchen Hylemorphismus auszuschließen. Dabei konzentriere ich mich auf die Frage, wie Aristoteles dazu steht, konkrete Substanzen als Kombinationen von Form und Materie aufzufassen. Dagegen wird die (angebliche) Unvollendetheit von Form und Materie vernachlässigt. Vorläufig soll der Hinweis genügen, dass es, sofern man dem Thesaurus Linguae Graecae trauen darf, keine Stelle gibt, an der Aristoteles die Form oder die Materie als ›unvollendet‹ (atelês) bezeichnen würde. (Man könnte allerdings mit der Aussage, dass die Materie nach Aristoteles unvollendet sei, eine Eigenart des Aristotelischen Materiebegriffs ausdrücken, die im dritten Abschnitt zur Sprache kommt.) Der Aristotelische Hylemorphismus impliziert nicht, dass Form und Materie eine Kombination miteinander eingehen. Das soll dieser Abschnitt zeigen. In Aristotelischer Terminologie heißt das, dass zwischen Form und Materie keine synthesis besteht (ebenso wenig eine mixis oder ein syndesmos). Allerdings muss die These modifiziert werden, denn tatsächlich verwendet Aristoteles Formulierungen, die nahelegen, er wolle konkrete Substanzen als Kombinationen aus Form und Materie auffassen. So bezeichnet er die konkrete Substanz als »zusammengesetzte Substanz« (synthete ousia) und spricht von dem »aus beiden Bestehenden« (to ex amphoin).8 Das liegt an seinem großzügigen Verhältnis zu philosophischer Terminologie. Aristoteles unterscheidet strenge und weniger strenge Gebrauchsweisen von Ausdrücken und erlaubt sich Formulierungen, die in einem strengen Sinn falsch wären. Ein solcher Fall liegt vor, wenn von einer zusammengesetzten Substanz die Rede ist. In einem laxen Sinn besagt die Rede lediglich, dass manche Eigenschaften von konkreten Substanzen Form-Eigenschaften sind, andere dagegen materielle Eigenschaften. Z. B. zählt es zu den Form-Eigenschaften eines stählernen Messers, schneiden zu können, und zu den materiellen Eigenschaften, nicht brennbar zu sein. In einem strikten Sinn würde die Rede implizieren, dass Form und Materie Bestandteile einer konkreten Substanz sind, die in ähnlicher Weise zusammengefügt sind, wie die Klinge und der Holzgriff eines Messers. Man vergleiche die Aussage, dass Personen Kombinationen aus Geist und Körper sind. In einem laxen Sinn besagt sie, dass Personen geistige und körperliche Eigenschaften haben; in einem strikten Sinn wäre sie eine Festlegung auf den Dualismus von Geist und Körper. Daher muss die obige These eingeschränkt werden: Aristoteles lehnt die Aussage ab, dass Form und 8

Ebd. XII 3, 1070a14; VII 3, 1029a6.

Die Neoaristotelische Ontologie von E. J. Lowe

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Materie eine Kombination eingehen, sofern ›Kombination‹ im strengen Sinn gebraucht wird. Nur beim strengen Gebrauch wäre die Annahme einer Kombination von Form und Materie anstößig. Für die Anforderungen, die Aristoteles an Kombinationen im strengen Sinn von ›Kombination‹ stellt, sind seine Ausführungen über mixis und synthesis aufschlussreich; mixis entspricht in etwa der chemischen, synthesis der mechanischen Kombination.9 Was immer fähig ist, mit etwas anderem kombiniert zu werden, ist nach Aristoteles entweder ein Element (stoicheion) oder etwas, das aus Elementen besteht. Bei den Elementen hat man in erster Linie an die »einfachen Körper« (Feuer, Wasser, Erde, Luft) zu denken, bei dem aus ihnen Bestehenden an komplexere Körper (z. B. Fleisch und Mark). Buchstaben und Silben dienen Aristoteles als Beispiele für Elemente und das, was durch Kombination aus ihnen gebildet wird. Im Folgenden werden Elemente und komplexere Körper, die durch Kombination noch Komplexeres bilden können, kurz als ›Bestandteile‹ bezeichnet, unabhängig davon, ob sie wirklich oder nur der Möglichkeit nach etwas bilden. Wenn Aristoteles der Auffassung wäre, dass Form und Materie (im strengen Sinn) miteinander kombiniert werden, müsste er die Form als Bestandteil auffassen. Genau das tut er aber nicht, wie eine Passage aus der Metaphysik zeigt.10 Der Gedanke lautet kurz zusammengefasst: Die Form ist verantwortlich für die Kombination von Bestandteilen, die ein Ganzes bilden, und deshalb kein Bestandteil, der in die Kombination eingeht. Im Einzelnen argumentiert Aristoteles so: Ein komplexes Ganzes besteht aus Bestandteilen. Das Ganze ist nicht mit den Bestandteilen identisch, denn die Bestandteile können existieren, ohne dass das Ganze existiert; durch mechanische oder chemische Zerlegung könnte das Ganze zerstört werden, während die Bestandteile übrigblieben. Aristoteles folgert, dass ein weiterer Faktor (heteron ti) zu den Bestandteilen dazukommen müsse, der den Unterschied zwischen dem Ganzen und den Bestandteilen ausmache, und identifiziert den Faktor mit der Form. Aristoteles leitet weiter ab, dass die Form kein weiterer Bestandteil sein könne. Andernfalls ergäbe sich ein Regress. Materielle Bestandteile bedürfen immer eines weiteren Faktors, um ein Ganzes zu bilden. Wäre der weitere Faktor selbst wieder ein materieller Bestandteil, wäre ein neuer Faktor erforderlich, um das Ganze zu bilden, und so weiter. Um den Regress abzublocken, ist es nötig, den zusätzlichen, für die Kombination verantwortlichen Faktor nicht als Bestandteil aufzufassen. Damit ergibt sich: Da nach Aristoteles (im strengen Sinn) nur Bestandteile miteinander kombiniert werden können, und da die Form kein Bestandteil ist, geht sie nach Aristoteles (im strengen Sinn) keine Kombination mit der Materie ein. Die Form bestimmt die Weise der Zusammensetzung von Bestandteilen und ist kein in die Zusammensetzung eingehender Bestandteil. Lowe stellt in seiner Kritik die rhetorische Frage, ob es gerechtfertigt sei anzunehmen, dass z. B. ein Haus eine »Kombination« aus den zusammengefügten Baumaterialien und der Weise der Zusammenfügung sei. Damit 9 10

Vgl. Aristoteles: De Generatione et Corruptione, I 10 und II 7. Vgl. Aristoteles: Metaphysik VII 17, 1041b11–28.

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Kolloquium 1 · Johannes Hübner

hätte er bei Aristoteles offene Türen eingerannt. Der Hylemorphismus des Aristoteles ist frei von der Aussage, die Lowe für unverständlich hält – insofern besteht Übereinstimmung zwischen Aristoteles und Lowe. Im Folgenden soll geprüft werden, ob die Übereinstimmung noch weiter reicht. Stimmt Lowe mit den Grundannahmen und dem Erklärungsziel des Hylemorphismus überein?

3. Die Grundannahmen des Aristotelischen Hylemorphismus Lowe beschreibt sein Verhältnis zur Aristotelischen Ontologie so: Er besitze die Kategorie der Form, während ihm die Kategorie der Materie fehle. Lowe setzt Formen mit den Arten von individuellen Substanzen gleich und fasst individuelle Substanzen (Objekte in seiner Terminologie) als Instanzen von Formen auf. Die hylemorphistische Unterscheidung von Form und Materie scheint in diesem Bild keinen rechten Platz zu finden. Allerdings dient die Aristotelische Unterscheidung von Form und Materie einem bestimmten Erklärungsziel, für das Lowe Sympathie hegt. Daher stellt sich die Frage, ob er den Grundannahmen des Aristotelischen Hylemorphismus zustimmt. Damit wird die Frage aus dem ersten Abschnitt wieder aufgegriffen, in welchem Maß Lowes Theorie Neoaristotelisch ist. Ontologie im Sinn des Aristoteles ist erklärende Wissenschaft. Lässt sich Lowes Ontologie hinsichtlich der Erklärung der Existenz individueller Substanzen an Aristoteles anschließen? Wie zu Anfang angemerkt, ist die Substanztheorie der Metaphysik kein Konkurrenzunternehmen zur ontologischen Liste der Kategorien. Diese allgemeine Beobachtung lässt sich genauer fassen: Die Metaphysik zieht mit dem Hylemorphismus im Vergleich zu den Kategorien eine neue Ebene der Erklärung ein, indem sie Form und Materie einführt. Form und Materie sind Ergänzungen innerhalb der Kategorie der Substanz. Sie sollen erklären, was eine konkrete Substanz zu einer Substanz macht. Die Erklärung ist einfach: Eine konkrete Substanz ist das, was sie ist, weil Materie in bestimmter Weise geformt ist. Mit Bezug auf ein häufig bemühtes Beispiel: Kupfer bildet eine Statue, weil es statuenartig geformt ist. Entsprechend ist das Werden und Vergehen von Kupferstatuen zu erklären: Eine neue Statue entsteht, wenn ein Kupferklumpen in die Form einer Statue gebracht wird; die Statue vergeht, wenn die Statuenform z. B. durch Einschmelzen verloren wird. Beispiele wie das der Kupferstatue sollen das Verständnis derjenigen konkreten Substanzen anleiten, die für Aristoteles am wichtigsten sind, nämlich Lebewesen. Am Beispiel des Menschen: Die Form eines Menschen ist seine Seele. Die Seele eines Menschen besteht in bestimmten Funktionen, die er teils mit anderen Lebewesen gemeinsam hat und die teils für ihn spezifisch sind. Die Materie eines Menschen ist sein Körper. Der Körper eines Menschen bildet einen Menschen, weil er derart organisiert ist, dass er die Funktionen erbringen kann, die Menschen typischerweise erbringen. Das lässt sich verallgemeinern: Komplexe konkrete Substanzen, also Substanzen, die materielle Teile haben, verdanken ihre Existenz dem Umstand, dass Stoffquantitäten und andere, weniger komplexe materielle Dinge in gewissen Relationen zueinander stehen. Die Form einer

Die Neoaristotelische Ontologie von E. J. Lowe

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komplexen Substanz ist artspezifisch und bestimmt die Weise der materiellen Organisation, d. h. sie legt fest, in welcher Weise materielle Bestandteile arrangiert sein müssen, um eine Substanz zu bilden. Die artspezifische Bedingung der Zusammensetzung hängt von den artspezifischen Funktionen ab, denn die Bildung einer Substanz geht damit einher, dass die Substanz Leistungen erbringen kann, zu denen die Bestandteile unabhängig von ihrer Integration in die Substanz nicht fähig sind. Das ist lediglich eine Skizze der Weise, in welcher der Aristotelische Hylemorphismus eine Existenzerklärung für konkrete Substanzen ermöglicht, doch mag sie für die gegenwärtigen Zwecke reichen; es geht um die Frage, in welchem Maß Lowe den Aristotelischen Hylemorphismus teilen kann. Der Hylemorphismus des Aristoteles impliziert so weit folgende Annahmen: (1) Annahme von Formen: Für jede Art von konkreter Substanz gibt es eine spezifische Bedingung der Zusammensetzung. (2) Annahme von Materie: Es gibt materielle Dinge, die fähig sind, Bedingungen der Zusammensetzung zu erfüllen. Die Rede von ›Dingen‹ ist in einem wenig anspruchsvollen Sinn zu verstehen, der Stoffquantitäten wie einen Liter Wasser einschließt. Was immer so in Beziehung zueinander treten kann, dass es bei geeigneten Weisen des Arrangements komplexere Substanzen bilden kann, soll als ›Materie‹ gelten – gleichgültig, ob es sich um Elementarteilchen oder Kupferklumpen handelt. Der Begriff der Materie wird damit in gut Aristotelischer Weise funktional verstanden. Die Annahme von Materie entspricht in der Terminologie des zweiten Abschnitts der Annahme von möglichen und wirklichen Bestandteilen, die elementar oder aus Elementen zusammengesetzt sein können. Die beiden ersten Annahmen bilden den Kern des Aristotelischen Hylemorphismus, denn sie sind wesentlich für die erwünschte Existenzerklärung (das und das bildet eine konkrete Substanz der Art F, weil es die F-spezifische Bedingung der Zusammensetzung erfüllt). Eine weitere Annahme ist zweifellos Teil des Aristotelischen Hylemorphismus: (3) Funktionale Annahme: Die Bedingung der Zusammensetzung für Substanzen einer Art ist durch die Funktionen bestimmt, die für die Art charakteristisch sind. Die Funktionale Annahme betrifft die Natur der Formen: Die Formen von konkreten Substanzen, seien es Artefakte oder natürliche Substanzen, sind funktional durch bestimmte Leistungen definiert, welche die Substanzen erbringen können. Die Funktionale Annahme ist zwar erhellend für das Aristotelische Formverständnis, aber sie ist nicht zwingend erforderlich für die skizzierte Existenzerklärung. Der Aristotelische Hylemorphismus schließt ferner eine vierte Annahme ein, welche die Natur der Materie betrifft. Die Materie ist nach Aristoteles keine selbständige Substanz, sondern so etwas wie eine Abstraktion von einer konkreten Substanz. Diese Auffassung ist nicht leicht verständlich und nach meiner Einschätzung nicht gut motiviert.11 Aristoteles gelangt zu dieser Ansicht, weil er fordert, dass in jeder Veränderung etwas beharrt. Er identifiziert das Beharrende mit der Materie. Wenn aus einer Kupferkugel eine Statue entsteht, beharrt 11

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Auf sie zielt Lowe mit der Aussage, die Materie sei dem Hylemorphismus gemäß »unvollendet«. In dieser Hinsicht sind Lowes Vorbehalte gegenüber dem Aristotelischen Hylemorphismus gerechtfertigt. Man kann aber die vierte Annahme zurückweisen und zugleich dem Aristotelischen Hylemorphismus im Kern die Treue halten. Was die ersten drei Annahmen angeht, könnte Lowe, soweit ich sehe, jede einzelne im Rahmen seiner Theorie konsistent vertreten. Tatsächlich legt er sich auf die ersten beiden Annahmen fest. Denn erstens geht er davon aus, dass die Art eines Objekts Bedingungen seiner Zusammensetzung bestimmt, und er fasst Formen als Weisen auf, in der materielle Teile organisiert sind.12 Zweitens erkennt er die Existenz von Dingen an, die geeignet sind, Bedingungen der Zusammensetzung zu erfüllen, wie Massen13 und Stoffquantitäten oder weniger komplexe Dinge wie Elementarteilchen. Daher ist es angemessen zu sagen, dass Lowe die beiden Kernannahmen des Aristotelischen Hylemorphismus teilt. Damit kann Lowe das Erklärungsziel des Aristotelischen Hylemorphismus erreichen, denn die Annahmen von Form und Materie im angegebenen Sinn erlauben es, die Existenz von konkreten Substanzen in der Aristotelischen Weise zu erklären. Umgekehrt scheint die Festlegung auf die beiden Kernannahmen unvermeidlich, sofern das Erklärungsziel ernst genommen wird, also die Frage, was die Existenz einer konkreten Substanz erklärt, nicht für trivial gehalten wird. Was das heißt, lässt sich durch den Kontrast zu einer Theorie verdeutlichen, in der die Frage nicht ernst genommen wird. Eine Theorie, der gemäß beliebige Dinge unter beliebigen Umständen ein Ganzes bilden, würde die Frage trivialisieren, da sie für die Existenz von konkreten Substanzen lediglich die Existenz der Bestandteile für erforderlich hält. Für jede andere Theorie, die verschiedene Arten von konkreten Substanzen unterscheidet und ihre Existenz von spezifischen Bedingungen der Zusammensetzung abhängig macht, sind die ersten beiden Annahmen obligatorisch. Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die Kernannahmen des Hylemorphismus bei Lowe finden. Als Zwischenergebnis ergibt sich ein harmonisches Bild: Lowes Ontologie ist Neoaristotelisch, weil sie nicht eine bloße Kategorienliste erstellt, sondern den Erklärungsanspruch hat, der für Ontologie im Aristotelischen Sinn kennzeichnend ist. Denn im Rahmen von Lowes Ontologie kann man zum einen die Existenz verschiedener nicht die Kupferkugel, sondern das Kupfer in Abstraktion von der Kugelform. Was der Kugel und der Statue gemeinsam ist, ist eine Kupferquantität, nicht die Form und nicht das kugelförmige Kupfer. Aristoteles verallgemeinert das und beschreibt die Materie deshalb als formlos. Da seiner Ansicht nach nichts Materielles ohne eine (rudimentäre) Form selbständig existieren kann, meint er, dass die Materie nicht selbständig existiert, sondern nur in Abstraktion von einer geformten materiellen Substanz. – Eine atomistische Auffassung der Materie erlaubt, diese Position zu vermeiden: Die Kupferatome (oder jedenfalls eine große Anzahl von ihnen), welche zunächst eine Kugel zusammensetzen, setzen später eine Statue zusammen. Deshalb kann man sagen, dass die Kupferatome in der Erzeugung der Statue beharren. Die Kupferatome sind nicht formlos und geeignet, die Rolle zu spielen, durch die Aristoteles die Materie definiert. 12 Vgl. Lowe: The Four-Category Ontology, 50; The Possibility of Metaphysics. Substance, Identity, and Time, Oxford 1998, 196. 13 Vgl. Lowe: The Four-Category Ontology, 7–8.

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Entitäten mit Bezug auf die fundamentalste Kategorie der Objekte erklären, zum anderen die Existenz von (komplexen konkreten) Objekten mit Bezug auf die Erfüllung von Bedingungen der Zusammensetzung durch weniger komplexe Dinge verständlich machen. Diese Übereinstimmung scheint systematisch gesehen wichtiger als Lowes Distanzierung gegenüber dem Aristotelischen Hylemorphismus. Seine Vorbehalte gegen eine Kombination von Form und Materie treffen Aristoteles nicht, und seine Bedenken gegenüber der Aristotelischen Auffassung der Materie kann man teilen, ohne den Hylemorphismus aufzugeben.

4. Das Ziel von Lowes Erklärung der metaphysischen Notwendigkeiten Lowe benutzt seine ontologische Theorie mit ihren vier fundamentalen Kategorien von Entitäten, um eine bestimmte Erklärung der metaphysischen Notwendigkeiten zu geben. Danach gründen alle metaphysischen Notwendigkeiten auf den Essenzen von Entitäten; der Begriff der Essenz wird wiederum mit Hilfe von nicht-modalen Termen erklärt. Dieser Abschnitt konzentriert sich auf die Natur dieser Erklärung. Lowe geht von einer Diagnose aus, die Kit Fine gestellt hat. Es sei nicht befriedigend, die Essenz einer Entität E mit all den notwendigen Eigenschaften von E gleichzusetzen, d. h. mit den Eigenschaften, die E in jeder möglichen Welt hat, in der E existiert.14 Offenbar führt diese Gleichsetzung zu einer Vervielfältigung von essentiellen Eigenschaften, denn jede Entität hat viele notwendige Eigenschaften, die in einem intuitiven Sinn nichts mit ihrer Essenz zu tun haben. So ist es notwendig für Angela Merkel, das einzige Element der Menge {Angela Merkel} zu sein, ohne dass dies intuitiv etwas mit der Essenz von Angela Merkel zu tun hätte. Um Abhilfe zu schaffen, setzt Fine auf den Begriff der realen Definition. Eine reale Definition sagt, was etwas ist. Zur Essenz einer Entität zählt, was man in der vollständigen und korrekten realen Definition angibt. Wenn man, wie Lowe, die Problemdiagnose und den Lösungsvorschlag von Fine teilt, kann man unterschiedlich ambitionierte Ziele verfolgen. Eine erste Möglichkeit ist, sich auf Deflation zu beschränken: Man nimmt eine Eingrenzung unter denjenigen notwendigen Eigenschaften vor, welche die Essenz von etwas ausmachen. Die Absicht ist nicht zwingend, allein mit Hilfe des Begriffs der realen Definition den Begriff der metaphysischen Notwendigkeit zu definieren. Vielmehr kann ein Verständnis des Begriffs der metaphysischen Notwendigkeit vorausgesetzt und der zusätzliche Begriff des »was eine Sache ist« eingesetzt werden, um eine Einengung zu erreichen. Ein zweites und anspruchsvolleres Ziel ist, die Quelle der metaphysischen Notwendigkeiten anzugeben, in dem Sinn, dass erklärt wird, warum Propositionen wahr sind, die metaphysisch notwendig wahr sind. In einer gängigen Terminologie lässt sich das zweite Ziel als die Aufgabe formulieren, die Wahrmacher für metaphysisch notwendige Propositionen anzugeben. Allerdings wäre diese Formulierung nicht für die Position Vgl. Kit Fine: Essence and Modality, in: Philosophical Perspectives 8 (1994), ed. by James E. Tomberlin, 1–16. 14

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von Lowe angemessen, der dem zweiten Ziel verpflichtet ist. Er sieht das Fundament der metaphysischen Notwendigkeiten in den Essenzen der Entitäten und zieht der Rede vom Wahrmachen (truthmaking) die Rede vom Gründen (grounding) vor. Denn seiner Ansicht nach ist Wahrmachen eine Relation zwischen Entitäten. Weil er (wie im nächsten Abschnitt ausführlich diskutiert wird) Essenzen nicht als Entitäten auffasst, kann er Essenzen nicht als Wahrmacher für metaphysische Notwendigkeiten auffassen. Da Essenzen aber die Quelle der metaphysischen Notwendigkeiten sein sollen, spricht Lowe davon, dass die metaphysischen Notwendigkeiten in Essenzen gründen. Seine Position hinsichtlich des zweiten Ziels lässt sich so zusammenfassen: Jede Proposition, die metaphysisch notwendig wahr ist, ist entweder eine essentielle Wahrheit oder eine Wahrheit, die dank der Essenzen von Dingen wahr ist. Wenn eine Proposition p eine essentielle Wahrheit ist, dann deshalb, weil es eine Entität E gibt, für die gilt: es ist Teil der Essenz von E, dass p wahr ist. Wenn eine Proposition p dank der Essenzen von Dingen wahr ist, dann deshalb, weil es wenigstens zwei Entitäten gibt, für die gilt: p ist dank (»in virtue of«) der Essenzen von diesen Entitäten wahr. Ein drittes und noch ambitionierteres Ziel ist, den Begriff der metaphysischen Notwendigkeit auf den der Essenz und diesen wiederum auf den der realen Definition zurückzuführen, in dem anspruchsvollen Sinn, in dem eine begriffliche Analyse einen Begriff auf einfachere Begriffe zurückführt. Der Anspruch wäre, den Begriff der metaphysischen Notwendigkeit zirkelfrei zu analysieren. Es ist nicht ganz klar, ob Lowe auch das dritte Ziel verfolgt. Einerseits spricht er davon, dass er die Begriffe der metaphysischen Notwendigkeit und Möglichkeit durch den Begriff der Essenz »explizieren« (»explicate«) möchte; und dass er den Begriff der Essenz nicht mit Hilfe von modalen Begriffen »explizieren« möchte. (Ich nehme an, dass ›explizieren‹ hier nicht im Sinn von Carnap und Quine gemeint ist.) Das erweckt den Anschein, Lowe wolle tatsächlich eine reduktive Definition der modalen Begriffe durch den Begriff der Essenz erzielen. Andererseits möchte er auch von den Essenzen von bloß möglichen Entitäten sprechen. Eine reale Definition soll sagen, was eine Entität ist oder sein würde. Hier verwendet Lowe einen modalen Begriff – was sich nicht mit dem reduktiven Ziel zu vertragen scheint. Wie auch immer, man sollte sich meiner Ansicht nach mit den beiden ersten, bescheideneren Zielen zufriedengeben. Es scheint mir fragwürdig, ob man den engen Begriff der Essenz sowie den Begriff der realen Definition erläutern kann, ohne modale Termini zu gebrauchen. Lowe versteht unter der realen Definition einer Entität E »[...] a proposition which tells us, in the most perspicuous fashion, what E is — or, more broadly, since we do not want to restrict ourselves solely to the essences of actually existing things, what E is or would be«. Diese Erklärung scheint nicht ausreichend, denn in manchen Kontexten betrifft die klarste Weise zu sagen, was etwas ist, nicht die Essenz. Z. B. ist in Bezug auf Personen die Angabe des Berufs eine übliche und in gewissen Kontexten auch die klarste Weise zu sagen, was eine Person ist. Die Berufsangabe würde natürlich an der Frage nach der Essenz vorbeigehen. Ein anderes Beispiel: Der Staats-

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anwalt präsentiert vor Gericht eine Eisenstange. Auf die Frage »was ist das?« wäre in diesem Kontext die klarste Antwort »das Tatwerkzeug«. Natürlich kann man verständlich machen, warum derartige Auskünfte nicht die Essenzen einer bestimmten Person oder einer Eisenstange betreffen, aber es ist schwer zu sehen, wie man dabei modale Ausdrücke vermeiden soll. Man könnte z. B. sagen, dass die reale Definition nichts angeben dürfe, was für die betreffende Entität kontingent sei. Damit würde man die beiden Auskünfte aussondern, da eine Person auch einen anderen Beruf ausüben könnte und die Eisenstange nicht für die Tat hätte benutzt werden müssen. Wenn man in dieser Weise deutlich machen wollte, was als reale Definition zählt und was nicht, würde man allerdings modale Ausdrücke voraussetzen. Man könnte ferner Ausdrücke einsetzen, die manchmal im gleichen Sinn wie ›Essenz‹ gebraucht werden, insbesondere ›Identität‹. Das würde jedoch wenig nützen, sofern nicht schon sichergestellt wäre, dass diese Ausdrücke im intendierten Sinn verstanden werden. Abermals ist schwer zu sehen, wie das ohne die Verwendung der zu erklärenden Ausdrücke bewerkstelligt werden könnte. Man müsste z. B. klarmachen, dass man mit ›Identität‹ nicht den zweistelligen Begriff der Identität meint, sondern die Eigenschaften, die konstitutiv dafür sind, welche Art von Ding etwas ist, wobei die Artzugehörigkeit notwendig für das Ding sein soll. Damit wäre man bei dem Ausdruck, den man erklären wollte. Daher scheint es mir vergeblich zu sein, eine reduktive Analyse für die modalen Begriffe über den Begriff der realen Definition anzustreben. Diese skeptische Einschätzung des reduktiven Ziels spricht in keiner Weise gegen Lowes Fundierung der metaphysischen Notwendigkeiten.

5. Essenzen als Entitäten? Lowe vertritt die These, dass Essenzen keine Dinge oder Entitäten sind. Hier befindet er sich in einem starken Kontrast zu Aristoteles. Aristoteles setzt die Essenzen mit den Formen gleich und betrachtet (in der Metaphysik) die Formen als die primären Substanzen. Für Aristoteles haben die Essenzen also nicht nur den Status von Entitäten, sondern sogar den der fundamentalsten Entitäten. Die Begründung von Aristoteles erscheint stichhaltig. Bei Aristoteles hat dasjenige fundamentalen ontologischen Charakter, das es erlaubt, die Existenz und Identität von anderen Entitäten zu erklären. Die Essenzen haben nach Aristoteles in der relevanten Hinsicht Erklärungskraft, denn sie erklären, was eine konkrete Substanz zur Substanz macht. Im Rahmen von Lowes Theorie kann (wie im dritten Abschnitt gesehen) eine analoge Erklärung gegeben werden. Sofern Formen (nach Lowe die Arten der substantiellen Individuen) Essenzen oder Teilen von Essenzen entsprechen, ist das ein Motiv dafür, Essenzen in seiner Theorie als Entitäten aufzufassen. Lowe hat wenigstens zwei Einwände dagegen, Essenzen als Entitäten aufzufassen. Zum einen stützt er sich auf die Ablehnung der These, dass die Essenz von etwas die Menge oder Summe derjenigen Eigenschaften ist, die das Betreffende in allen möglichen Welten hat, in denen es existiert. (Ob man von Mengen oder Summen von Eigenschaf-

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ten spricht, macht für die gegenwärtigen Zwecke keinen Unterschied. Im Folgenden beschränke ich mich der Kürze halber auf Mengen.) Lowe lehnt also eine bestimmte Version der These ab, dass eine Essenz eine Menge von Eigenschaften ist. Das heißt aber nicht, dass eine Essenz gar keine Menge von Eigenschaften ist. Insofern trägt der erste Einwand nicht weit. Der zweite Einwand betrifft ein Regressproblem. Da nach Lowe jede Entität eine Essenz hat, ergibt sich ein Regress von Essenzen, wenn jede Essenz eine Entität ist, die nicht identisch mit der Entität ist, deren Essenz sie ist. Im Folgenden soll eine Alternative skizziert werden, die Essenzen als Entitäten auffasst, und die vom Regressproblem nicht eher als Lowes eigene Position bedroht ist. Zunächst eine terminologische Anmerkung: Der Ausdruck ›Eigenschaft‹ wird hier als Oberbegriff für die Kategorien der Arten, Attribute und Modi bei Lowe verwendet; der Ausdruck ›zukommen‹ als Oberbegriff für die formalen Relationen der Instanziierung und Charakterisierung, die bei Lowe zwischen den vier fundamentalen Kategorien bestehen (Objekte instanziieren Arten und werden durch Modi charakterisiert, Attribute werden durch Modi instanziiert und charakterisieren Arten). Der alternative Vorschlag lässt sich dann so formulieren: EE (Essenzen als Entitäten): Die Essenz einer Entität E ist, oder ist konstituiert durch, die Menge der essentiellen Eigenschaften, die E zukommen. Der Vorschlag EE ist offen dafür, in der von Lowe erwünschten Weise mit Rekurs auf reale Definitionen zu spezifizieren, welche Eigenschaften essentiell für eine Entität sind. Der Vorschlag wäre noch einfacher, wenn er nicht erlaubte, dass Essenzen durch Mengen von Eigenschaften konstituiert werden. Die Idee, dass Essenzen konstituiert werden, erscheint für sich genommen nicht problematisch. Typischerweise wird Konstitution als Verhältnis zwischen einem materiellen Objekt und einer Materiequantität angesetzt, welche das Objekt konstituiert. Konstitution muss aber nicht auf materielle Objekte beschränkt sein, sondern kann auch auf anderes bezogen werden. Z. B. nimmt Lowe selbst an, dass manche formale Relationen durch andere konstituiert werden.15 Die Beziehung der Konstitution ist eng, insofern das Konstituierte typischerweise gewisse Eigenschaften von dem Konstituierenden erbt. Der Witz an der Konstitutionsbeziehung ist, dass sie eng ist, ohne Identität zu sein. Konstitution ist wie Identität eine eins-zu-eins Beziehung, aber im Gegensatz zur Identität asymmetrisch. Der Vorschlag EE erlaubt die Konstitution der Essenzen, um die Aussichten zu erhöhen, dass er allgemeine Zustimmung (und insbesondere die Zustimmung von Lowe) findet. Für den ausschlaggebenden Punkt ist die Möglichkeit der Konstitution jedoch nicht nötig, nämlich dafür, dass Essenzen durch EE der Status von Entitäten zugesprochen wird. Sowohl dann, wenn Essenzen Mengen von Eigenschaften sind, als auch dann, wenn sie durch Mengen von Eigenschaften konstituiert werden, sind Essenzen Entitäten. Man kann EE auch mit Bezug auf einen Übergang beschreiben, den Lowe ablehnt, nämlich den Übergang von

15

Vgl. Lowe: The Four-Category Ontology, 51.

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»it is part of the essence of a certain entity, E, that it possesses a certain property, P.« zu »P is a part of the essence of E.« Dagegen unterstützt EE den Übergang. Wann immer es essentiell für eine Entität ist, eine Eigenschaft P zu haben, ist P Teil der Essenz dieser Entität. Für den Vorschlag spricht, dass es künstlich erscheint, zwischen den folgenden Sätzen einen Bedeutungsunterschied zu machen: Es ist Teil der Essenz von Entität E, Eigenschaft P zu haben. Es ist essentiell für Entität E, Eigenschaft P zu haben. Eigenschaft P ist eine essentielle Eigenschaft von Entität E. Eigenschaft P ist Teil der Essenz von Entität E. Nach meinem Sprachverständnis sind diese Sätze synonym. Wenn das so ist, sollte man den genannten Übergang und damit EE akzeptieren. Nun soll geprüft werden, wie sich EE auf die Ontologie von Lowe auswirken würde, und zwar mit Bezug auf Lowes vier grundlegende Kategorien, nämlich Objekte, Arten, Attribute und Modi. Zunächst zu den Essenzen von Objekten, d. h. von individuellen Substanzen in Aristotelischer Terminologie. Die Essenz von Sokrates ist es (wenigstens teilweise), ein Mensch zu sein; die Essenz eines Elektrons ist es (wenigstens teilweise), ein Elektron zu sein. Die Arten Mensch und Elektron sind mit weiteren essentiellen Attributen verbunden. Menschen sind – unter anderem – rationale, warmblütige Lebewesen; Elektronen sind Elementarteilchen mit negativer Ladung und Spin ½. Sowohl die Arten Mensch und Elektron als auch die weiteren Attribute gehören nach EE zu den Essenzen von Menschen und Elektronen. Lowe ist ohnehin darauf festgelegt, sowohl die Art eines Objekts als auch die Attribute, welche die Art charakterisieren, als essentielle Eigenschaften des Objekts aufzufassen. EE geht über diese Festlegung lediglich insofern hinaus, als er die essentiellen Eigenschaften eines Objekts mit der Essenz des Objekts gleichsetzt (oder die essentiellen Eigenschaften die Essenz konstituieren lässt). Nun zu den Essenzen von Arten und Attributen, also zu den Essenzen der Universalien in Lowes Ontologie. Gemäß EE gilt: Wenn es Teil der Essenz eines Universale ist, Instanz eines übergeordneten Universale zu sein oder weitere essentielle Attribute zu haben, sind sowohl das übergeordnete Universale als auch die weiteren Attribute Teile der Essenz des Universale. Z. B. ist es Teil der Essenz der Art Säugetier, eine Instanz der übergeordneten Art Lebewesen zu sein; es ist Teil der Essenz des Attributs Reizbarkeit, eine Verhaltensdisposition zu sein. Abermals gilt, dass EE nicht neue Entitäten einführt, sondern die im Rahmen von Lowes Theorie anerkannten Entitäten zu Essenzen (oder Konstituenten von Essenzen) erklärt. Schließlich zu den Essenzen der Modi. Ein Modus, z. B. die Klugheit von Sokrates, ist ein Hybrid, da er in zwei Hinsichten durch essentielle Abhängigkeit bestimmt ist. Für die Klugheit von Sokrates ist es sowohl essentiell, Klugheit zu sein, als auch ein Modus von Sokrates zu sein. Grundsätzlich instanziiert jeder Modus übergeordnete Attribute,

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in Analogie zur Instanziierung von Arten durch Objekte. Diese Instanziierung besteht essentiell. Außerdem kommt jeder Modus essentiell dem Objekt zu, das er charakterisiert. So kommen alle Modi des Sokrates essentiell dem Sokrates zu. Man könnte sagen, dass sie Instanzen des relationalen Attributs Modus von Sokrates sind. Allgemein kann man die Essenzen von Modi als Kombinationen von wenigstens zwei Attributen auffassen. Das eine klassifiziert den Modus in der Weise, in der Arten Objekte klassifizieren, das andere ordnet den Modus dem Objekt zu, das er charakterisiert. Auch wenn diese Bemerkungen skizzenhaft sind, zeigen sie an, dass es im Rahmen von Lowes Ontologie möglich ist, Essenzen als Entitäten aufzufassen, ohne neue Entitäten einzuführen. Wenn EE in diesem Rahmen akzeptiert wird, haben gewisse, schon anerkannte Entitäten als Essenzen zu gelten (oder als Konstituenten von Essenzen). Damit erhalten Essenzen den Status von Entitäten ohne Vermehrung von Existenzannahmen. Aus diesem Grund scheint es mir nicht der Fall zu sein, dass die Aufnahme von EE in Lowes Ontologie zu einem besonderen Regressproblem führen würde. Lowe ist ohnehin auf die Thesen festgelegt, dass jede Entität eine Essenz hat, dass Eigenschaften (also Arten, Attribute und Modi) Entitäten sind, und dass in der Konsequenz alle Eigenschaften Essenzen besitzen. Gemäß EE gilt, dass manche Eigenschaften Essenzen von anderen Dingen sind (oder konstituieren), entweder für sich allein oder im Verbund mit anderen Eigenschaften. Es gibt, wenn EE im Rahmen von Lowes Ontologie gilt, keine Essenzen über die Eigenschaften hinaus, die bereits als Entitäten anerkannt sind. Ob man manche dieser Eigenschaften mit Essenzen (oder Konstituenten von Essenzen) identifiziert oder nicht, macht für einen möglichen Regress keinen Unterschied. Wenn Lowe EE akzeptieren würde, würde er sich der Aristotelischen Ontologie noch stärker annähern, mit der ihn, wie in den ersten drei Abschnitten gezeigt, ein gemeinsamer Erklärungsanspruch verbindet.

Husserls transzendentale Phänomenologie im Lichte der (neueren) Erkenntnistheorie Christian Beyer

Der Ausdruck »Erste Philosophie« bezeichnet in Husserls Munde ein grundlegendes erkenntnistheoretisches Projekt, die transzendentale Phänomenologie. Er spricht auch von Cartesianischen Meditationen, davon, daß die »erste[…] philosophische[…] Tat« der »universelle[…] Umsturz aller vorangegangenen und wie immer gewonnenen Überzeugungen« sein muß, also »jene[r] Umsturz, den Descartes ›einmal im Leben‹ von allen forderte«, die zu »absoluter« philosophischer »Selbstrechtfertigung« gelangen wollen (Hua VIII, 23).1 Dabei zielt die Erste Philosophie auf nichts Geringeres als ein philosophisches Verständnis unseres je eigenen Welt- und Selbstverständnisses im Ganzen. Im Folgenden möchte ich dieses Projekt hinsichtlich seines Sachgehalts und seiner Methodik unter die Lupe nehmen, soweit dies im vorliegenden Rahmen möglich ist. An einigen Stellen erscheint es mir hilfreich und interessant, dazu auf Konzeptionen aus der neueren Erkenntnistheorie zurückzugreifen. Ziel der Ersten Philosophie ist für Husserl die philosophische Aufklärung unseres Zugangs zur bzw. unseres Seins in der Welt, der Intentionalität des Bewußtseins. Unter einem intentionalen Bewußtseinszustand, einem intentionalen Erlebnis, ist ein Zustand des Bewußtseins zu verstehen, der gleichsam ein Thema hat, auf das er (der Wortbedeutung von lat. intendere entsprechend) gerichtet ist. Husserls Lehrer Franz Brentano hatte diesen Begriff ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Psychologie und Philosophie gerückt. In seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt heißt es: »Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt usw.«2 Intentionalität ist »die Richtung auf ein Objekt«, »worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist«, fügt Brenano hinzu, sondern »die immanente Gegenständlichkeit«. Heißt das, daß die psychischen Phänomene einen Innenbereich bilden, der von der objektiven Husserls Schriften werden zitiert nach: Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke, Den Haag/Dordrecht 1950 ff. [=Hua]. 2 Franz Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, Leipzig 1924, 124 f. 1

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Realität »an sich«, »da draußen« abgekapselt ist? »Ich habe mein Leben lang die Realität gesucht«, sagte Husserl gegen Ende seiner Göttinger Zeit einmal zu seinem Schüler Helmuth Plessner, »und dabei«, so berichtet Plessner, »zückte er seinen dünnen Spazierstock mit silberner Krücke und stemmte ihn vorgebeugt gegen den [P]fosten« seiner Gartentür.3 Husserl ist Realist; er ist mit anderen Worten von der Existenz von Gegenständen überzeugt, die das eigene Bewußtsein transzendieren, das im intentionalen Bewußtsein Gegebene überschreiten; Gegenständen, an denen prinzipiell mehr ist, und die mehr sind, als sich im gegenwärtigen Bewußtsein zeigt; und Bewußtsein ist stets gegenwärtig (ich komme darauf zurück). Aber Husserl ist kein naiver Realist, das ist eine der Pointen der Anekdote, die Plessner erzählt. Husserl stemmt seinen Spazierstock nicht mit jener Attitüde gegen den Türpfosten, mit der G. E. Moore seine Hände erhebt und ausruft: »Hier ist eine Hand, und hier eine zweite!«, um so den Skeptizismus bezüglich der objektiven Realität zu »widerlegen«. Husserl ist aber auch kein Anhänger des sogenannten kritischen Realismus, einer Theorie, die den Tatsachen des Bewußtseins in den Augen Husserls Gewalt antut – und damit gegen die grundlegende methodische Forderung der Phänomenologie verstößt, nämlich »die Augen aufzumachen und die Phänomene gegen alle festgewurzelte Theorie und zum Trotz gegen sie so zu nehmen, wie sie sich geben«.4 Diese Formulierung stammt aus Martin Heideggers Vorlesungen über Die Grundprobleme der Phänomenologie, die durchaus von einem guten Verständnis der Husserlschen Phänomenologie zeugen. Die zentrale Problemstellung des kritischen Realismus formuliert Heidegger darin wie folgt: »An sich, sagt man, beziehen sich die intentionalen Erlebnisse als zur subjektiven Sphäre gehörig nur auf das dieser Sphäre Immanente. Die Wahrnehmungen als etwas Psychisches richten sich auf Empfindungen, Vorstellungsbilder, Gedächtnisresiduen und Bestimmungen, die das gleichfalls dem Subjekt immanente Denken dem zunächst subjektiv Gegebenen hinzufügt. Damit muß vor allem das vermeintlich zentrale philosophische Problem gestellt werden: Wie beziehen sich die Erlebnisse und das, worauf sie sich als intentionale richten, das Subjektive der Empfindungen, Vorstellungen, auf das Objektive? […] Wie beziehen [die Erlebnisse] sich […] auf die transzendenten Objekte?«5 Heidegger nennt dies »ein verkehrtes Problem der Transzendenz«.6 Von der Falschheit der zugrundeliegenden theoretischen Voraussetzung, dem sogenannten Repräsentationalismus oder indirekten Realismus oder, wie Husserl sagt, der »Bildertheorie« der Intentionalität, hatte sich Husserl schon 1894 in seinem Traktat über »Intentionale Gegenstände« überzeugt, einer Abhandlung, in der es um das »Paradox der gegenstand[…]losen Vorstellungen« geht. Das Paradox besteht darin, daß einerseits (These 1) jede Vorstellung einen Gegenstand vorstellt, andererseits aber (These 2) nicht jede Vor-

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Helmuth Plessner: Husserl in Göttingen, Göttingen 1959, 18. Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt/M 1975, 87. Ebd. Ebd., 89.

Husserls transzendentale Phänomenologie im Lichte …

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stellung einen Gegenstand hat, den sie vorstellt – es gibt, mit Bolzano zu reden, »gegenstandlose Vorstellungen«, etwa die Vorstellung eines geflügelten Pferdes. Der Repräsentationalismus besagt, daß in These 1 von anderen vorgestellten Gegenständen die Rede ist als in These 2. In These 1 gehe es um »geistige Abbilder« derjenigen Gegenstände, von denen in These 2 die Rede ist (um Inskriptionen auf der tabula rasa); und diese Abbilder oder »Phantasmen« existierten auch dann, wenn die darin abgebildeten Gegenstände (wie etwa bei der bildlichen Darstellung einer griechischen Gottheit) nicht existierten. Husserl erhebt in »Intentionale Gegenstände« im wesentlichen drei Einwände gegen diese Theorie, die man als Ausbuchstabierung von Brentanos eingangs zitierter, in Husserls Augen unklaren Rede von der »immanenten Gegenständlichkeit« betrachten kann (und die heute in der Kognitionwissenschaft wieder ernsthaft vertreten zu werden scheint). Erstens tue die Theorie »den Tatsachen« des Bewußtseins, so Husserl, »Gewalt an«7: »Ich möchte die ›geistigen Abbilder‹ kennenlernen, welche den Begriffen Kunst, Literatur, Wissenschaft u.dgl. einwohnen sollen. […] Ich möchte auch die geistigen Abbilder in absurden Vorstellungen gedachter Gegenstände kennenlernen und wieder diejenigen, welche dem Mathematiker bei der Lektüre einer von komplizierten Formelsystemen erfüllten Abhandlung vorschweben. Wahre Wirbelstürme von Phantasmen müßten sich in seinem Bewußtsein abspielen […].«8 Zweitens wendet Husserl ein, daß die »Bildertheorie« das Problem der intentionalen Gegenstände, welches sie lösen soll, bloß verschiebt: Sie führt zu einer »Verdoppelung« vorgestellter Gegenstände, derart daß eine nicht-gegenstandlose Vorstellung wie »Berlin« sowohl ein geistiges Abbild eines Gegenstandes als auch den abgebildeten Gegenstand repräsentiert. Er schreibt: »Aber wie, ist in dem Sinne der […] scheinbar oder wirklich kontradiktorischen Sätze [des ›Paradoxes der gegenstandslosen Vorstellungen‹] nicht gelegen, daß jeweils derselbe Gegenstand, der vorgestellt ist, existiert bzw. nicht existiert? Dasselbe Berlin, das ich vorstelle, existiert auch, und dasselbe würde nicht mehr existieren, bräche ein Strafgericht aus wie bei Sodom und Gomorrah.«9 Drittens wendet Husserl ein, daß die »Bildertheorie« bereits voraussetzt, was eine Theorie der Repräsentation allererst zu leisten hat: »Man übersieht, daß der Phantasieinhalt zum repräsentierenden Bild von irgend etwas erst werden muß und daß dieses Über-sich-Hinausweisen des Bildes, welches es zum Bild erst macht, […] ein Plus ist, das wesentlich beachtet werden muß.«10 Was wir benötigen, ist eine theoretisch unvoreingenomme Aufklärung der Intentionalität des Bewußtseins. Dabei gilt es, das aufzuklärende Phänomen nicht zu »vergewal-

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Hua XXII, 305. Ebd. Ebd., 305 f. Ebd., 306.

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tigen« (Heidegger), sondern es unvoreingenommen in den Blick zu nehmen. Wie läßt sich das Paradox der gegenstandlosen Vorstellungen unter dieser Vorgabe überhaupt auflösen? Die Aussage, daß jede Vorstellung einen Gegenstand vorstellt (These 1), ist Husserl zufolge, wörtlich genommen, falsch. Richtig ist, daß es für jede Vorstellung eine implizit mitgedachte hypothetische Annahme gibt, für die gilt: Wäre diese Annahme gültig, dann hätte die Vorstellung einen Gegenstand. Beispiel: Wäre das im griechischen Mythos Erzählte wahr, dann hätte die Vorstellung »Pegasus« einen Gegenstand. So denken wir, bei Lichte besehen, über Nichtexistentes. Dementsprechend betont Husserl in seinem ersten Hauptwerk, den Logischen Untersuchungen (LU), »… daß der intentionale Gegenstand der Vorstellung derselbe ist wie ihr wirklicher und gegebenenfalls ihr äußerer Gegenstand und daß es widersinnig ist, zwischen beiden zu unterscheiden.«11 Das ist die Sichtweise des Realismus. Husserl betrachtet sie als eine »Trivialität« – und gerade deshalb als philosophisch problematisch. Wie läßt sich diese naive Sichtweise verständlich machen, ohne dem Phänomen der Intentionalität durch theoretische Vorannahmen wie dem Repräsentationalismus Gewalt anzutun? Diese Frage bezeichnet das recht verstandene Problem der Transzendenz. Es ist, wie Heidegger zu Recht hervorhebt, identisch mit dem Problem der philosophischen Aufklärung der Intentionalität. Denn die sogenannte Transzendenz der objektiven Realität besteht in nichts anderem als der Intentionalität des darauf gerichteten Bewußtseins.12 Das Dasein, das Bewußtsein, transzendiert, übersteigt das Gegebene, und dem verdankt sich die sogenannte Transzendenz der objektiven Realität. Husserl sieht das genauso, aber anders als Heidegger formuliert er das »Problem der Transzendenz« ausdrücklich als ein erkennntnistheoretisches: als »[…] das Problem, wie das erkennende Bewußtsein in seinem Fluß mannigfach gestalteter und ineinander gewobener Erkenntnisakte sich selbst transzendieren und eine Gegenständlichkeit setzen und bestimmen kann, die in ihm nach keinem Bestandstück reell zu finden ist, in ihm nie und nirgends zu absolut zweifelloser Selbstgegebenheit kommt, während sie doch dem Sinn der Naturerkenntnis gemäß an sich existieren soll, ob sie zufällig erkannt wird oder nicht«13. Husserl fragt, welche zunächst und zumeist unbemerkten Strukturen und Eigenschaften des erkennenden Bewußtseins es uns im naiven Leben mit seinen Trivialitäten immer schon erlauben, vernünftigerweise Realisten zu sein. Zugleich geht es ihm um eine »gegen allen vernünftigen Zweifel gesichert[e]«14 sog. Letztbegründung der Annahme objektiv existierender, und damit die »Selbstgegebenheit« eigenen Bewußtseins transzendierender, Gegenstände. Sämtliche Voraussetzungen, die auf dieser realistischen An-

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Hua XIX/1, 439 f. Vgl. Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Frankfurt/M 1975, 89. Hua X, 345. Ebd, 344.

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nahme beruhen, werden in einer »phänomenologischen Epoché« systematisch eingeklammert. Dahinter steht folgender Gedanke: »Das die Weltgeltung des natürlichen Weltlebens leistende Leben läßt sich nicht in der Einstellung des natürlichen Weltlebens studieren.«15 Denn, so Husserl: »Wir merken gemeinhin von all dem Subjektiven der Darstellungsweisen ›von‹ den Dingen nichts […].«16 Wir leben naiv in die Welt hinein. Um aus dieser Naivität auszubrechen, sind dem philosophischen »Anfänger« zunächst nur Konstatierungen »absolut zweifelloser Selbstgegebenheiten« des eigenen Bewußtseins erlaubt; Husserl fordert hier »apodiktische Rechtfertigung«.17 »Absolut zweifellos«, »apodiktisch« – das besagt: zweifellos unzweifelhaft, in dem Sinne, daß »jeder mögliche Zweifel ausgeschlossen« ist, »und zwar in der Art, daß dieser Ausschluß selbst adäquat erfaßbar ist«,18 nämlich im Rahmen einer vorurteilslosen und maximal anschaulichen Rechtfertigung, die der »Forderung der phänomenologischen Reduktion« untersteht, welche schlicht darin besteht, die Intentionalität des Bewußtseins unter den Bedingungen der Epoché am Leitfaden des (recht verstandenen) Problems der Transzendenz aufzuklären.19 Daß Husserl diese methodische Forderung dezidiert mit einer erkenntnistheoretischen Absicht verbindet, geht u. a. aus dem Manuskript seiner Vorlesung Einführung in die Phänomenologie der Erkenntnis aus dem Sommersemester 1909 hervor, dem die obige Formulierung dieses Problems entstammt.20 Husserl sagt dort in aller wünschenswerten Klarheit, daß diese Forderung sowohl die Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis transzendenter Objekte betrifft als auch der begründeten Zurückweisung des Skeptizismus dient, eine Zielstellung, die in dem Manuskript durch Formulierungen wie »gegen allen vernünftigen Zweifel gesichert«, »unbestritten«, »nicht immer vernünftig zweifelhaft«, »triftig« etc. immer wieder hervorgehoben wird. Husserl schreibt: »Das Leitproblem […] war das »Problem der Transzendenz«, und zunächst das der Transzendenz der Natur. […] Von da aus schien sich das Problem […] zu erweitern: Wie ist Erkenntnis von irgendeinem in ähnlichem Sinn [sc. wie im Falle der objektiHua VI, 141. Ebd., 162. 17 Hua VIII, 69. 18 Ebd., 68. 19 Hua X, 346. 20 Der vorliegende Absatz ist eine Reaktion auf Christopher Erhards Einwand (in seinem Kommentar), es sei Husserl nicht so sehr darum zu tun gewesen, den Realismus der natürlichen Einstellung gegen vernünftigen Zweifel abzusichern, »als vielmehr darum, zu verstehen, wie eine solche realistische Einstellung überhaupt möglich ist«. Nach meiner Interpretation geht es Husserl um das eine sowohl als das andere; die von ihm intendierte philosophische Aufklärung der Möglichkeit objektiver Erkenntnis in natürlicher Einstellung fällt zusammen mit der phänomenologisch fundierten Zurückweisung des Skeptizismus. 15 16

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ven Natur; C.B.] an sich Seienden möglich, wie ist ihr objektiver Geltungsanspruch zu verstehen und vor der widersinnigen Skepsis, zu der die Reflexion immer wieder zu drängen scheint, zu schützen?«21 Die philosophische Lösung des Problems der Transzendenz, sprich: die phänomenologische Reduktion, und die rationale Zurückweisung des erkenntnistheoretischen Skeptizismus sind für Husserl zwei Seiten desselben Vorhabens. Wie noch hinreichend deutlich werden wird, geschieht diese Zurückweisung durch eine phänomenologische Metarechtfertigung des Realismus der natürlichen Einstellung, die ihn gegen »vernünftigen Zweifel« absichert, indem sie ihn in methodisch kontrollierter Weise als gerechtfertigt erweist (derart daß es vernünftiger ist, von realistischen Annahmen auszugehen, als es nicht zu tun). Ich sagte eben, dem anfangenden Philosophen seien »zunächst« nur apodiktische Feststellungen erlaubt. Ehe ich mich der Frage zuwende, welche Feststellungen diese Forderung denn laut Husserl erfüllen, möchte ich einen Schritt zurücktreten und dieses »zunächst« erläutern. Husserl beginnt typischerweise mit einer Beschreibung der naiven, vulgären oder, wie Husserl sagt, »natürlichen Einstellung« des Nichtphänomenologen. Er sagt in aller wünschenswerten Klarheit, daß diese Einstellung keinerlei sinnvollen Zweifel an der Existenz der (empirisch erfahrbaren) Welt zuläßt: »Nichts spricht dafür, daß die Welt nicht sei, und alles dafür, daß sie sei.«22 Wer innerhalb der natürlichen Einstellung, durch skeptische Argumente »verwirrt«, »urteilt und glaubt, die Welt sei in Wahrheit nicht, oder auch nur urteilt, man müsse dessen ständig gewärtig sein«, der »sieht nicht hin auf den Sinnesgehalt der Welterfahrung und den trotz all solcher Argumente in ihr liegenden unzerbrechlichen Weltglauben«.23 In der natürlichen Einstellung ist der Glaube an die Existenz der Welt vollständig gerechtfertigt; wer das in dieser Einstellung bestreitet, ist »verrückt«. Die Rechtfertigung ist dabei holistischer Natur, es wird unterstellt, daß Einstimmigkeit, Kohärenz tendenziell Erkenntnis generiert (und somit der Rechtfertigung dient): »[Daß die Welt nicht sei, nie gewesen sei,] ist eine absolut leere Möglichkeit, gegen die die gesamte Empirie, mit der vollen Kraft ihrer Einstimmigkeit, spricht, und für die schlechthin nichts spricht.«24 »[Die universale Weltwahrnehmung trägt] in jedem Augenblick, und bewußtseinsmäßig, die Antizipation eines künftig einstimmigen oder durch eventuelle Korrekturen zur Einstimmigkeit zu bringenden Verlaufes in sich […].«25

21 22 23 24 25

Hua X, 345 f. Letzte Hervorhebung von mir. Hua VIII, 54. Ebd. Hua VIII, 67. Ebd., 51.

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In der phänomenologischen Einstellung des philosophischen Anfängers ist es hingegen laut Husserl nicht verrückt, die Möglichkeit der Nichtexistenz der Welt ernst zu nehmen und den Weltglauben angesichts dieser Möglichkeit zu suspendieren; der Begriff der Verrücktheit sei hier zunächst gar nicht anwendbar, weil er den allererst zu begründenden universalen Weltglauben voraussetze.26 Der universale Weltglaube verdankt sich empirischer Evidenz, die in der natürlichen Einstellung als (holistisch) gerechtfertigt, aber in der radikalen Einstellung des Phänomenologen fürs Erste nicht als gerechtfertigt gilt: »Der Weltglaube […] läßt es beständig offen, daß der jetzt wirklich verlaufende Wahrnehmungsstil der Einstimmigkeit zum sinnlosen Gewühl führt […]; und korrelativ besagt das […]: Diese Welt, die ich jetzt im zweifellos und kontinuierlich sich bestätigenden Wahrnehmungsglauben als gegenwärtige erfahre […], sie braucht nicht mehr zu sein als ein transzendentaler Schein.«27 Dennoch setzt Husserl, wie gesehen, voraus, daß der universale Weltglaube in der natürlichen Einstellung vollständig gerechtfertigt ist. Wie paßt das zusammen? Nimmt Husserl vielleicht eine (im Sinne Keith DeRoses) kontextualistische Sicht auf epistemische Rechtfertigung ein? »What we fail to realize, according to the contextualist solution, is that the denials that we know various things that are governed by the standards that the skeptic at least threatens to install are perfectly compatible with our ordinary claims to know those very propositions. Once we realize this, we can see how both skeptical denials of knowledge and our ordinary attributions of knowledge can be correct.«28 Zählt man in der phänomenologischen Einstellung, die freilich keine skeptische ist, unter anderen Bedingungen als gerechtfertigt als in der natürlichen? Drückt »gerechtfertigt« in diesem Kontext einen anderen Gehalt (mit anderen semantischen Erfüllungsbedingungen) aus, der mit höheren Wissensstandards einhergeht? Dies würde erklären, weshalb wir die Wissensansprüche der natürlichen Einstellung in der phänomenologischen Einstellung, wie Husserl betont, »nicht wegwerfen«.29 Nun geht es ihm nach meiner Interpretation in der Tat darum, den Realismus der natürlichen Einstellung phänomenologisch zurückzugewinnen. Er will die zugrundeliegenden Begründungsstrukturen des erkennenden Bewußtseins freilegen (wohlgemerkt: freilegen, nicht generieren). Das spricht am Ende nun aber dagegen, Husserls Sicht auf Rechtfertigung kontextualistisch im Sinne DeRoses zu interpretieren. Denn die Besonderheit der phänomenologischen Einstellung ist hiernach, daß sie konsequent auf Metarechtfertigung zielt, auf die möglichst vorurteilslose und an den Tatsachen – auch ein-

Vgl. Hua VIII, 65. Ebd., 67. 28 Keith DeRose: The Case for Contextualism. Knowledge, Skepticism and Context, Vol. 1, Oxford 2009, 42. 29 Hua III/1, 209. 26 27

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sichtigen Wesenstatsachen – des Bewußtseins orientierte Rechtfertigung der Annahme, daß der Realismus der natürlichen Einstellung gerechtfertigt ist. Dazu müssen diese Annahme und die darauf beruhenden Wissensansprüche der natürlichen Einstellung eingeklammert, suspendiert werden. Allenfalls vertritt Husserl hier einen Kontextualismus im ganz anderen Sinne, den Michael Williams mit diesem Terminus verbindet. Danach ist eine »Auffassung von Wissen und Rechtfertigung« kontextualistisch, wenn »ihr zufolge alle epistemischen Fragen innerhalb eines bestimmten Informations- und Methodenkontextes entstehen, in dem […] nicht alles infrage steht«.30 »In bestimmten Kontexten einer Untersuchung oder epistemischen Einschätzung«, so erläutert Williams, bleiben hiernach »manche Dinge vom Zweifel ausgenommen, weil wir das Thema wechseln würden, wenn wir auch sie in Zweifel zögen«.31 Husserl scheint die gleiche Auffassung zu vertreten, wenn er den Einwand, es sei doch »verrückt«, die Existenz der raumzeitlichen Welt zu bezweifeln, folgendermaßen beantwortet: »Somit darf mit der realen Wirklichkeit und Möglichkeit fremder Subjekte in einer Kritik der Erfahrung nur solange operiert werden, solange diese Kritik gewöhnliche empirische Kritik ist, wie etwa historische Kritik oder Kritik von Zeugenaussagen u.dgl.; so auch mit der Möglichkeit, daß Menschen verrückt werden. Sie ist eine Form der realen Möglichkeiten, die schon die Weltexistenz voraussetzen. […] Aus solchen Betrachtungen erkenne ich also, daß eine universale Kritik der Erfahrungen überhaupt, die mir als anfangendem Philosophen obliegt, nur eine in gutem Sinne solipsistische sein kann, daß sie nur als eine Kritik meiner Erfahrungen möglich ist, die andere Subjekte und ihre Erfahrungen nur als erfahrene meiner Erfahrungen kennt und, als kritisch in Frage stehend, nicht als seiend voraussetzt.«32 Williams bestreitet freilich, daß sich Wissen sinnvoll unter eine »Totalitätsbedingung« stellen läßt, wonach wir unser empirisches Wissen insgesamt dank einer problematischen Wissensquelle namens »Erfahrung« – »Erfahrung verstanden als generische, im Informationsgehalt beschränkte und autonome Erkenntnisquelle« – kritisch infrage stellen können.33 Erfahrung wäre unter dieser Totalitätsbedingung durch globale skeptische Szenarien leicht zu unterminieren, mit der Konsequenz, daß dadurch »gleich riesige Bereiche des Wissens« unterminiert würden.34 Ich komme auf diesen Einwand zurück. Jetzt kommt es mir nur darauf an festzuhalten, daß Husserl für das Projekt einer Ersten Philosophie einen eigenen Informations- und Methodenkontext in Anspruch nimmt, den eines methodischen Solipsismus, der die Existenz der eigenen »Erfahrung« als apodiktischer Bewußtseintatsache voraussetzt.35 Michael Williams: Skeptizismus und der Kontext der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 6 (2003), 973–991, hier 985. 31 Ebd.; vgl. Hua VIII, 101 ff. 32 Hua VIII, 65 f. 33 Williams: Skeptizismus und der Kontext der Philosophie, 981, 985. 34 Ebd., 989. 35 Vgl. Hua VIII, 74 f. 30

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Doch auch diese Voraussetzung – die Apodiktizität des solipsistisch konzipierten »ich erfahre das-und-das« – läßt sich Husserl zufolge noch einmal problematisieren, indem wir uns überlegen, mit welchem Recht wir diese Bewußtseinstatsache als »archimedischen Punkt«36 betrachten, von dem wir als anfangende Philosophen ausgehen dürfen.37 Diese »absolute Selbstvergewisserung« läuft auf die Frage hinaus, was überhaupt eine Bewußtseinstatsache als solche ausmacht und deren apodiktische Feststellung im Modus des Selbstbewußtseins ermöglicht. Husserls Antwort rekurriert auf die Gegebenheiten des Zeitbewußtseins. Mein Bewußtsein fließt gleichsam in einem Strom – dieser Flußcharakter ist ihm eigentümlich. Aus dem, was ich »jetzt« erlebe, wird blitzschnell das »soeben« Erlebte; vorher, nachher, zugleich, so ist mein Bewußtsein strukturiert. Daran kann der Außenweltskeptiker nicht rütteln, denn die Zeit, von der hier die Rede ist, ist nicht die objektive, physikalisch meßbare Weltzeit. Es ist die dem Bewußtsein immanente Zeit, das »innere Zeitbewußtsein«. Ich erwähnte es bereits: Bewußtsein ist stets gegenwärtig; diese lebendige Gegenwart ist aber, so Husserl, immer schon ausgedehnt: sie besitzt ihrem Wesen nach einen zeitlichen Horizont. Aus dem »jetzt« Erlebten wird notwendig das »soeben« Erlebte, das durch das »jetzt« Erlebte abgelöst wird, usw. Das gegenwärtige Erlebnis enthält als solches eine »Urimpression«, d. h. ein Bewußtsein des »jetzt«, zu dem wiederum – als eine Art »Kometenschweif«38 – »Retentionen« gehören. Eine Retention ist eine unmittelbare Erinnerung, in der das »soeben« Erlebte als solches lebendig bleibt, und an die sich wiederum eine Retention anschließt usw. Man denke z. B. daran, wie die schon gehörten Töne einer gerade erklingenden Melodie im Bewußtsein noch präsent sind, wenn sie auch allmählich ins Unbewußte absinken. (Das Beispiel stammt von Husserl. Ein anderes Beispiel, das er in diesem Zusammenhang gibt, ist die Wahrnehmung einer Bewegung.) Das »innere Zeitbewußtsein« sorgt dafür, daß das Erlebnis im Strom des Bewußtseins fließt, und macht es zugleich für das »reflektive Selbstbewußtsein« zugänglich, also für das Cartesische »cogito« – z. B. das im Sinne des methodischen Solipsismus verstandene Metaurteil »Ich betrachte das Haus« –, dessen Apodiktizität hier infrage steht. Das Erlebnis ist, so Husserl, im normalen, selbstvergessenen Vollzug »latent« und wird erst »patent« durch »Auftritt eines darauf reflektierenden Ich«, das seinerseits latent ist,39 d. h. das reflektive Selbstbewußtsein ist, wenn es auftritt, seinerseits für höherstufige Urteile zugänglich, erfordert aber ebenfalls nicht deren Vollzug. Husserl vertritt demnach keine aktualistische higher order thought-Theorie des Bewußtseins und Selbstbewußtseins, wonach dieses stets von einem reflektiven Selbstbewußtsein begleitet sein muß. Er ist allerdings überzeugt, daß Bewußtsein dank des ihm eingebauten inneren Zeitbewußtseins im Prinzip jederzeit reflektiv erfaßbar ist, im Sinne einer mentalen Disposition. In diesem Sinne kann man das innere Zeitbewußtsein (mit einem Terminus von Sartre) als »vor-reflektives Selbstbewußtsein« bezeichnen.40 36 37 38 39 40

Hua VIII, 69. Vgl. ebd., 70 f. Hua X, 295. Hua VIII, 90. Vgl. Christian Beyer: Husserls Konzeption des Bewußtseins, in: Edmund Husserl 1859–2009

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Das reflektive Selbstbewußtein, sprich: das introspektive Urteil, ist, wenn es auftritt, in »Wahrnehmung höherer Stufe«,41 also innerer Wahrnehmung des reflektiv erfaßten Erlebnisses fundiert. Diese innere Wahrnehmung involviert eine Retention, die ihr ein »zurückgreifendes Nachgewahren« der unmittelbar vorangegangenen Phase des wahrgenommenen Erlebnisses ermöglicht, und eine Urimpression, welche die jetzige Erlebnisphase zur Gegebenheit bringt. Die innere Wahrnehmung ist ihrerseits in diesem inneren Zeitbewußtsein (Urimpression plus Retention) fundiert, kann also nicht ohne es existieren. Anders als bei der äußeren Wahrnehmung »schattet sich« der wahrgenommene Gegenstand in der inneren Wahrnehmung nicht perspektivisch »ab«,42 sondern ist so gegeben, wie er qua Erlebnis intrinsisch betrachtet ist – nämlich in seinem essentiellen Erlebnischarakter, der lebendigen Gegenwart. Dieses innere Zeitbewußtsein bildet zugleich so etwas wie das Empfindungsmaterial der inneren Wahrnehmung.43 Das in der inneren Wahrnehmung fundierte »cogito« kann die in ihm bewußte cogitatio, das reflektiv bewußte Erlebnis, daher in seinem Erlebnischarakter, d. h. in seinem lebendigen Dahinströmen im Bewußtseinsfluß, überhaupt nicht verfehlen. Wir haben hier eine phänomenologische Metarechtfertigung – und gleichzeitig eine Präzisierung – der These von der Apodiktizität introspektiver Urteile. Diese Überlegungen ähneln prima facie Laurence Bonjours jüngstem Versuch, dem rechtfertigungstheoretischen Fundamentalismus neues Leben einzuhauchen. Laut Fundamentalismus ist epistemische Rechtfertigung nicht holistischer Natur, verdankt sich also nicht dem doxastischen Gesamtsystem und seiner Kohärenz, sondern ist linear; und das linear verzweigte System rechtfertigender Gründe endet bei unmittelbar, nämlich (so Bonjour)44 dank so etwas wie inneren Bewußtseins gerechtfertigten Urteilen über eigene gegenwärtige Erfahrungen und deren sensorische Gehalte (Beispiel: »Mir

(Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Neue Folge XIV), hg. von K. Cramer und C. Beyer, Berlin/New York 2011, 43–54. 41 Hua VIII, 88. 42 Vgl. Hua III/1, 295 f. 43 Hua X, 295 f. 44 Christopher Erhard hat in seinem Kommentar betont, daß man erkenntnistheoretischer Fundamentalist sein kann, ohne wie Bonjour auf dergleichen wie inneres Bewußtsein zu rekurrieren. Ich kenne freilich keine andere hinreichend ausgearbeitete Spielart des Fundamentalismus. Erhard schlägt vor, Wahrnehmungsurteile der Form »Dies ist P« als Rechtfertigungsfundament anzusetzen, und beruft sich dabei auf den Verfasser von Erfahrung und Urteil. Aber die Rechtfertigung solcher Urteile aufgrund »vorprädikativer Erfahrung« (nicht-propositionaler Wahrnehmung) ist meines Erachtens holistischer Natur, besteht also nicht linear durch inferentielle Beziehungen zu einzelnen propositionalen Einstellungen, sondern vielmehr kraft der Kohärenz des Gesamtsystems der »Habitualitäten« (speziell der »unbewußten« Überzeugungen), dem diese Urteile (bzw. okkurenten Überzeugungen) angehören und ihren intentionalen Gehalt verdanken. Der Sache nach vertritt der Verfasser von Erfahrung und Urteil keinen Fundamentalismus im hier relevanten Sinne (lineare Rechfertigung, wobei sämtliche Rechtfertigungsketten bei unmittelbar – nicht-inferentiell und nicht-holistisch – gerechtfertigten Urteilen bzw. Überzeugungen enden). – Nach meiner Interpretation korreliert solchen Urteilen Husserl zufolge zudem eine höhere »Konstitutionsstufe« als introspektiven Urteilen, wobei Konstitutionsverhältnisse (für deren Erforschung die transzendentale Phänomenologie zuständig ist) jedoch nicht mit etwaigen linearen Rechtfertigungsbeziehungen zu verwechseln sind.

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ist jetzt gerade so, als sähe ich etwas Rotes«), also bei introspektiven Urteilen. Damit steht der Fundamentalist aber vor einem Dilemma, auf das Wilfried Sellars in seiner Kritik am »Mythos des Gegebenen« aufmerksam gemacht hat: 1. Entweder das innere Bewußtsein besitzt selber propositionalen Gehalt; in diesem Falle handelt es sich bei ihm um so etwas wie ein Urteil, das seinerseits rechtfertigungsbedürftig ist, so daß (erneut) ein infiniter Begründungsregreß droht. (Dies ist das erste Horn des Dilemmas.) 2. Oder das innere Bewußtsein besitzt keinen propositionalen Gehalt; in diesem Fall ist nicht einzusehen, wie sich der Fundamentalist zur Erklärung der Rechtfertigung einer angeblich fundamentalen Überzeugung auf dieses Bewußtsein berufen kann. (Dies ist das zweite Horn.) Bonjour meint nun, zwischen die Hörner des Dilemmas stoßen zu können, indem er behauptet, das Bewußtsein des sensorischen Gehalts (und des psychischen Modus) einer eigenen gegenwärtigen Erfahrung sei ein Wesenszug dieses Erlebnisses.45 Dank dieses inneren Bewußtseins sei das introspektive Urteil unmittelbar gerechtfertigt, da es kein separates Urteil, sondern ein konstitutives Moment des Erlebnisses darstelle, von dem das introspektive Urteil handle – ein Moment, das es dem Urteilenden ermögliche, durch »direkten Vergleich« die Richtigkeit des Urteils zu erkennen.46 Bonjour behauptet, das innere Bewußtsein rechtfertige das introspektive Urteil.47 Damit scheint er nolens volens das erste Horn des Dilemmas zu wählen. Bonjour erwidert, dies sei eben der eine Ausnahmefall, in dem keine weitere Beschreibung nötig sei48 und sich die Rechtfertigungsfrage nicht erneut stelle.49 Diese Erwiderung ist ad hoc und daher wenig überzeugend. Nehmen wir dennoch mit Bonjour einmal an, es gebe ein inneres Bewußtsein des sensorischen Gehalts einer Erfahrung, das in keiner Weise »begrifflich durchdrungen« ist. Dann stellt sich, wie Ernest Sosa herausgestellt hat, für Bonjour das Problem mit Chisholms »gesprenkelter Henne«. Angenommen, mir erscheint eine Henne mit 48 Flecken auf ihrem Federkleid, die sich auch alle in meinem sensorischen Wahrnehmungsbild abheben, ohne daß ich die Henne darum als eine mit 48 Flecken wahrnehmen würde – schließlich soll es sich bei diesem Wahrnehmungsbild um rein sensorischen Gehalt handeln: Das Bild ist (mit Fred Dretske gesprochen) analog, nicht digital, sprich: nicht begrifflich strukturiert (die Informationen, die das Bild tragen mag, sind nicht kalibriert).50 Nehmen wir an, ich urteile, während ich besagte Erfahrung habe: »Mir ist jetzt gerade so, als sähe ich eine Henne mit 48 Flecken«. Dann ist dieses Metaurteil wohl kaum gerechtfertigt, obwohl es die Erfahrung, von der es handelt, hinsichtlich ihres inVgl. Laurence Bonjour: A Version of Internalist Foundationalism, in: Epistemic Justification, Oxford 2003, 3–96, hier 64. 46 Ebd., 73. 47 Ebd., 78. 48 Ebd., 73. 49 Ebd., 74. 50 Vgl. Fred Dretske: Naturalisierung des Geistes, Paderborn 1998, 32. 45

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nerlich bewußten sensorischen Gehalts korrekt beschreibt. Also sind solche Metaurteile per se auch nicht unmittelbar gerechtfertigt, und Bonjours Versuch, den Fundamentalismus im Rekurs auf ein der bewußten Erfahrung »›eingebautes‹ nicht-apperzeptives« und nicht-begriffliches Bewußtsein zu verteidigen, scheitert.51 Bonjours Replik auf diesen Einwand lautet, der Gehalt des reflektiven Urteils sei in dem Beispiel mit der Henne zu »komplex«, als daß durch direkten Vergleich seine Übereinstimmung mit dem innerlich bewußten sensorischen Gehalt der Erfahrung erkennbar wäre, von der das Urteil handelt.52 Er räumt also ein, daß das innere Bewußtsein des sensorischen Gehalts einer Erfahrung nicht in jedem Falle die unmittelbare Rechtfertigung eines darauf bezogenen reflektiven Urteils erklärt. Die Erklärungslast liegt auf dem schwer verständlichen Begriff der direkten Vergleichbarkeit, den Bonjour leider weitgehend unerläutert läßt (er sagt lediglich, ein solcher Vergleich sei kein Vergleichsurteil)53. Manchmal liege direkte Vergleichbarkeit eben vor und manchmal – etwa im Fall der gesprenkelten Henne – halt nicht.54 Husserl ist nicht mit solchen Problemen konfrontiert. Er schaltet zwischen das innere Bewußtsein, das auch ihm zufolge für den Bewußtseinscharakter des introspektiv bewußten Erlebnisses sorgt, und das introspektive Urteil noch die innere Wahrnehmung, die (solange das »Ich« bloß latent ist) keinen propositionalen, aber doch begrifflichen Gehalt hat. Nicht das innere Bewußtsein, sondern die darin fundierte innere Wahrnehmung motiviert das introspektive Urteil, genau wie die »nominale« Wahrnehmung eines Hauses als solchen das Wahrnehmungsurteil »Dies ist ein Haus« motiviert (»Warum urteile ich so?« – »Weil ich ein Haus sehe«). Um das reflektive Urteil »Mir ist jetzt gerade so, als sähe ich eine Henne mit 48 Flecken« so als gerechtfertigt auszuweisen (seine Rechtfertigung zu erklären), müßte die innere Wahrnehmung die wahrgenommene Erfahrung als eine präsentieren, deren sensorischer Gehalt 48 fleckige Stellen aufweist, und das ist wenig wahrscheinlich. Im Unterschied zu Bonjour ist Husserl kein Fundamentalist. Die innere Wahrnehmung ist Husserl zufolge »begrifflich durchdrungen«, sie besitzt intentionalen Gehalt. Darin liegt: sie zeichnet einen Horizont von Erlebnissen vor, die vernünftig aufeinander abgestimmt sind, und sie ist auch ansonsten in ein kohärentes intentionales Gesamtsystem (einschließlich Überzeugungen, die für den Besitz der relevanten mentalen Begriffe erforderlich sein mögen) eingebettet, dem sie ihren Gehalt und dem das in ihr fundierte introspektive Urteil ggf. seine Rechtfertigung verdankt. Im Rahmen seiner »absoluten Selbstvergewisserung« strebt der anfangende Philosoph eine einsichtige Metarechtfertigung dieser holistischen Rechtfertigung der inneren Wahrnehmung (und des darin fundierten reflektiven Selbstbewußtseins) an. Der Gehalt der Wahrnehmung wird auf diese Weise nicht angetastet, die Wahrnehmung wird aber erkenntniskritisch problema-

51 Vgl Ernest Sosa: Beyond Internal Foundations to External Virtues, in: Epistemic Justification, Oxford 2003, 97–170, hier 121. 52 Vgl. Laurence Bonjour, Reply to Sosa, in: Epistemic Justification, Oxford 2003, 192. 53 Vgl. Bonjour, A Version of Internalist Foundationalism, 65. 54 Vgl. Bonjour, Reply to Sosa, 194.

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tisiert, wozu, wie überhaupt in der phänomenologischen Einstellung, so Husserl, eine Art »Ich-Spaltung«55 oder »Spaltung der Stellungnahmen«56 erforderlich ist. Denn der Phänomenologe muß die Wahrnehmung einerseits vollziehen und deren Geltungsanspruch in seinem Untersuchungskontext andererseits einklammern.57 In der Metaeinstellung des Phänomenologen wird er zum »uninteressierten Zuschauer«, so Husserl,58 des interessierten Betrachters, der er auf niederer Stufe weiterhin – in absoluter Gleichzeitigkeit mit der phänomenologischen Reflexion – ist; ebenso, wie der philosophische Skeptiker noch in der Abgeschiedenheit seiner Studierstube, so Husserl, »als einstimmig wahrnehmendes Ich gar nicht anders kann, als [die] Welt« weiterhin »als Wirklichkeit gegeben zu haben«.59 Die »absolute Selbstvergewisserung« des anfangenden Philosophen lehrt, wie gesehen, daß die innere Wahrnehmung und ihr Gegenstand dank des beiderseits zugrundeliegenden inneren Zeitbewußtseins wesensgesetzlich in eine temporal klar strukturierte Ordnung eingebettet sind, die etwa dafür sorgt, daß die innere Wahrnehmung ein Nachgewahren vorangegangener Erlebnisphasen einschließt. Es gibt demnach unbezweifelbar einen übergreifenden Bewußtseinsfluß, der kein ganz »sinnloses Gewühl« ist. Bereits auf der Ebene der inneren Wahrnehmung zeigt sich somit eine holistische Struktur. Es ergibt freilich keinen Sinn, der inneren Wahrnehmung selbst die Eigenschaft zuzuschreiben, holistisch gerechtfertigt zu sein. Rechtfertigung verlangt schließlich propositionalen Gehalt, und der Gehalt der inneren (wie der äußeren) Wahrnehmung ist nicht propositional, sondern nominal (sprich: sub-propositional). So will es jedenfalls Husserls Konzeption der Wahrnehmung. Wie ist es in phänomenologischer Einstellung um die – vom absolut selbstgegebenen retentionalen Bewußtsein zu unterscheidende – »Wiedererinnerung« an vergangene Erlebnisse bestellt? Husserl argumentiert, daß die Wiedererinnerung »nicht immer vernünftig zweifelhaft ist«: »[…] nämlich wenn wir durch einen kontinuierlichen Weg der Erinnerung von ihr [der Wiedererinnerung; C.B.] zum Jetzt und vom Jetzt durch Retention hindurch und durch stetig wiederauflebende Retention hindurch wieder zurückgelangen zu dem in der Wiedererinnerung Gesetzen.«60 Auf diese Weise kann ich mir in phänomenologischer Einstellung klarmachen, daß eine Bewußtseinskette dezent zu dem durch Wiedererinnerung abgerufenen Erlebnis zurückführt. Nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit des eigenen Bewußtseinsflusses ist so gegen vernünftigen Zweifel gesichert.61

55 56 57 58 59 60 61

Hua VIII, 89. Ebd., 93. Vgl. ebd., 87. Ebd., 97. Ebd., 93. Hua X, 345. Husserl spricht hier von »doppelter Reduktion« (vgl. Hua VIII, 85).

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Wie läßt sich nun aber der Realismus der natürlichen Einstellung gegen vernünftigen Zweifel absichern, wie lösen wir mit anderen Worten das Problem der Transzendenz? Dieses Problem stellt sich auf metaepistemologischer Ebene generell für holistische Begründungen empirischer Wissensansprüche, und Bonjour sieht darin ein schwerwiegendes Problem für die von ihm kritisierte Rechtfertigungsauffassung: Wie läßt sich aus holistischer Sicht die Annahme rechtfertigen, daß unsere Erfahrung tatsächlich, wie Bonjour es ausdrückt, einen »Input« durch beobachtbare Gegenstände der Außenwelt erfährt?62 Husserls phänomenologischen Lösungsansatz möchte ich nun kurz skizzieren. Wir haben gesehen: Das intentionale Bewußtsein existiert, und es ist temporal strukturiert. Es liegt deshalb nahe, das Problem der Transzendenz unter dem (so Husserl) »funktionellen« Gesichtspunkt zu betrachten, welche rationalen Strukturen und wesentlichen Eigenschaften des Bewußtseins es uns ermöglichen, einen intentionalen Gegenstand zeitübergreifend »im Sinn« zu behalten.63 Dann wird alsbald deutlich: Nicht nur das innere Zeitbewußtsein, auch das darin fundierte intentionale Bewußtsein besitzt generell einen zeitlichen Horizont. Husserl spricht von der »Horizontstruktur« des Bewußtseins und stellt fest, daß Intentionalität stets »Horizontintentionalität« ist. Intentionales Erleben hat einen Vergangenheitshorizont – es fällt nicht vom Himmel. Es hat einen Zukunftshorizont, es sorgt automatisch dafür, daß ich zukünftige Erlebnisse antizipiere. (Man denke z. B. erneut an die Wahrnehmung einer Bewegung. Ein anderes Beispiel wäre die Beobachtung eines Hauses.) Einige dieser vergangenen und zukünftigen Erlebnisse bestimmen meinen Begriff eines einzelnen Gegenstandes: »Ich sehe einen Gegenstand ohne einen ›historischen‹ Horizont [Fn.: ohne Bekanntheitshorizont und Wissenshorizont], und nun bekommt er ihn. Ich habe den Gegenstand vielfältig erfahren, ›vielfältige‹ Urteile habe ich über ihn gefällt, vielfältige Kenntnis von ihm in verschiedenen Zeiten gewonnen und habe sie verknüpft. Nun habe ich durch diese Verknüpfung einen ›Begriff‹ von dem Gegenstand, einen Eigenbegriff. […] [D]as in [der Erinnerung] mit einem gewissen Sinn Gesetzte erfährt eine erkenntnismäßige Sinnbereicherung, das heißt, das x des Sinnes bestimmt sich näher erfahrungsmäßig.«64 Dieser »historische« Horizont und die Gegenstände der genannten Antizipationen bilden den »Innenhorizont« des Erlebnisses. All diese Erlebnisse gehören zum selben »x des Sinnes« (auch: bestimmbares X). Andere vergangene und antizipierte Erlebnisse sorgen dafür, daß mein »›Begriff‹ von dem Gegenstand« des Erlebnisses mit anderen Gegenstandsbegriffen vernetzt ist. Sie bilden den »Außenhorizont« des Erlebnisses, meinen gegenwärtigen Welthorizont. In diesem Sinne ist Intentionalität, wie Heidegger sagt, je schon »In-der-Welt-sein«, und darum ist die radikale Trennung zwischen dem subjektiven »Innen« und dem objektiven »Außen«, wie der kritische Realismus sie vor62 63 64

Vgl. Bonjour: A Version of Internalist Foundationalism, 57. Vgl. Hua III/1, 196 f. Hua XX/2, 358.

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sieht, grundsätzlich verfehlt. Innen- und Außenhorizont sind gleichermaßen Aspekte der einheitlichen Struktur des In-der-Welt-seins. Aber mit welchem Recht, und in welchem Sinne, ist diese Welt, die sich in meinem Erlebnishorizont befindet, als objektive Realität auffaßbar? Bislang haben wir doch lediglich einen solipsistischen Begriff von Welt und innerweltlichen Gegenständen gewonnen, einen, der nichts als die Existenz des eigenen Bewußtseins voraussetzt (wir bewegen uns noch ganz in dem, was Husserl die »Eigenheitssphäre« des Subjekts nennt); damit haben wir schwerlich den Realismus philosophisch begründet. So kommen wir intellektuell nicht an den Pfosten von Husserls Gartentür heran. An dieser entscheidenden Stelle rekurriert Husserl auf die Bewußtseinstatsache der Einfühlung in fremdes Bewußtseinsleben,65 um herauszufinden, mit welchem Recht wir mit einen reichhaltigeren Gegenstandsbegriff operieren, dem zufolge der Gegenstand die (»primordiale«) Welt des einsamen Solipsisten transzendiert. Zu diesem Zweck wählt Husserl zunächst den solipsistischen Begriff eines »Anderen«, eines alter ego, als Ausgangspunkt. Als Bewußtseinssubjekt ist mir der Andere, ähnlich wie zum Beispiel die Rückseite eines frontal (als Haus) wahrgenommenen Hauses, »appräsentativ« gegeben: Um ihn so aufzufassen, muß ich mit anderen Worten keine induktive oder sonstige Schlußfolgerung (etwa einen Analogieschluß) ziehen; und doch ist mir sein Bewußtsein nicht wahrnehmungsmäßig oder introspektiv gegeben, es transzendiert das in meinem Bewußtsein anschaulich Gegebene.66 Vielmehr assoziiere ich den wahrgenommenen Körper des Anderen automatisch mit dem Bewußtsein, das ich mit meinem eigenen Leib, den ich gleichsam von innen kenne, verbinde.67 Meine diesbezüglichen Antizipationen lassen sich dadurch verständlich machen, daß ich mir durch bewußte Einfühlung anschaulich vor Augen führe, daß der Andere, genau wie ich, eine um den eigenen Leib zentrierte Perspektive auf seine Umgebung einnimmt. Nun könnte ich mich aber unmöglich derart in den Anderen einfühlen, wenn mein Welthorizont nicht wenigstens teilweise dieselben Gegenstände involvierte wie der des Anderen: Es ist der Einfühlung als Bewußtseinstatsache wesentlich, daß der Körper des Anderen darin analog dem eigenen Leibe »appräsentativ« aufgefaßt ist als Orientierungszentrum mit weitgehend denselben Möglichkeiten des Wahrnehmungsbewußtseins wie ich sie hätte, wenn ich die Perspektive des Anderen einnähme.68 Ich benötige also einen intersubjektiven, auf die Erfahrungen verschiedener Bewußtseinssubjekte zugeschnittenen Gegenstandsbegriff. So gewinne ich eine einsichtige Begründung dafür, daß es vernünftiger ist, von der Annahme einer unabhängig von meiner eigenen Perspektive und meinem eigenen Bewußtsein existierenden raumzeitlichen Wirklichkeit auszugehen, als es nicht zu tun. Damit wäre der Realismus der natürlichen Einstellung gegen vernünftigen Zweifel grundsätzlich abgesichert; wir sind berechtigt, ihn als gerechtfertigt zu betrachten.

65 66 67 68

Vgl. Hua VII, 435. Vgl. Hua VIII, 62 f. Vgl. ebd. Vgl. Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, Hamburg 1995, 126.

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Kolloquium 1 · Christian Beyer

Das nachfolgende Exzerpt aus Erste Philosophie bestätigt, daß die vorstehende Überlegung den Intentionen der phänomenologischen Reduktion entspricht, Husserl also im Zusammenhang mit der Analyse der intersubjektiven Konstitution raumzeitlicher Objekte tatsächlich auf eine Metarechtfertigung der skizzierten Art abzielt: »[W]enn ich […] in transzendentaler Einstellung mein gesamtes Erkenntnisleben überschaue und das Erkennen, das ich von fremden Subjekten habe, in seiner Leistung erwäge, so ist und bleibt es doch sich bewährendes Erkennen. […] Mit demselben Recht, dem allgemeinen nach, mit dem Dinge für mich da sind, nämlich dem aus fortgehender empirischer Bewährung, sind auch die fremden Leiber als Dinge, aber dann auch die fremden Seelen für mich da. In transzendentaler Aufklärung sind alle Dinge zu meinem Leben gehörige, in ihm konstituierte Einheiten möglicher einstimmiger Wahrnehmung (als originaler Realisierung). Andererseits ist das fremde Menschensubjekt in transzendentaler Aufklärung eben ein zweites transzendentales Subjekt, es ist nicht wie ein Ding ein in meinem Leben im Original realisierter und realisierbarer Gegenstand, also nicht bloß eine Einheit meiner möglichen Wahrnehmungen, aber wohl ein durch gewisse Einheiten meiner Erfahrung rechtmäßig indiziertes, und indiziert als fremdes Ich. Diese Indikation, betone ich, hat ihr natürliches Recht, das Recht empirischer Bewährung. […] So führt also die phänomenologische Reduktion auf zwei ineinander fundierte universale Strukturen des Lebens: 1) mein Leben […] konstituiert sich für sich selbst ursprünglich erfahrungsmäßig. […] 2) Durch die in meiner eigenleiblichen Erfahrung verwurzelte Erfahrung von fremden Leibern, die aber nur sekundären Charakter hat hinsichtlich der psychischen Seite, habe ich im Rahmen meiner Subjektivität fremde Subjektivität miterfahren. […] Gerade weil fremde Subjektivität nicht in den Kreis meiner originalen Wahrnehmungsmöglichkeiten gehört, löst sie sich nicht in intentionale Korrelate meines eigenen Lebens und seiner Regelstrukturen auf. Im übrigen gibt es sich mit empirischem Recht seinem eigenen Sinne nach als ein Seiendes, das in sich und für sich ist und nur für mich die Gegebenheitsweise des ›Anderen‹ hat. […] Ziehen wir das fremde transzendentale Leben in seiner Gemeinschaft mit dem eigenen in Betracht, so ergibt sich dann die weitere Erkenntnis, daß vermöge solcher Gemeinschaft die intentionale Konstitution meiner Dingwelt ebenfalls Gemeinschaft gewinnt mit der intentionalen Konstitution, die der Andere vollzieht, und zwar als Konstitution derselben Dingwelt. [Ich kann] durch Einfühlung in den Anderen eine ihm eingefühlte und von ihm vollzogene Wahrnehmung zu synthetischer Einheit bringen mit meiner eigenen Wahrnehmung, im Bewußtsein, es sei dasselbe von uns beiden wahrgenommene Ding. Und so vice versa. […] Alle wahre Objektivität für mich ist wahr für jedermann […].«69 Daß der Realismus der natürlichen Einstellung (wie man vernünftigerweise annehmen kann) zutrifft, bedeutet Husserl zufolge nicht, daß die Elemente der raumzeitlichen Wirklichkeit und die reale Welt insgesamt vollkommen subjektunabhängig sind. Eine 69

Hua VIII, 187 ff.

Husserls transzendentale Phänomenologie im Lichte …

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weitere Wesensbedingung intersubjektiver Erfahrung (alias Einfühlung) besteht nämlich seines Erachtens darin, daß ich die Welt im großen und ganzen im selben Stile strukturiere wie die anderen: Wir teilen eine gemeinsame Lebenswelt, die sich in allgemein anerkannten Gewißheiten (»festen Wahrheiten«) manifestiert, welche unserer Erfahrungswelt ihr spezifisches Gepräge geben. Allgemein kann man sagen, daß Husserl die Gegebenheiten der Lebenswelt als unthematisierte (unbemerkte), »präjudikativ« vorgegebene (d. h. allem bewußten Urteilen vorausliegende), subjektiv-relative (perspektivische) und intersubjektiv erfahrbare Selbstverständlichkeiten konzipiert, die den unhintergehbaren, wenngleich revidierbaren Hintergrund bilden, vor dem sich Erkenntnisansprüche holistisch rechtfertigen lassen.70 Die Untersuchung der Kompatibilität und des internen Zusammenhangs dieser Merkmale des Lebensweltlichen bildet ein Desiderat der systematisch orientierten Husserl-Forschung. Husserls Rekurs auf die so konzipierte Lebenswelt zeigt jedenfalls, daß er keine generischen Wissensquellen voraussetzt, die sich infolge ihrer epistemischen Autonomie und ihres beschränkten Informationsgehalts innerhalb der natürlichen Einstellung als Ganzes infrage stellen ließen. Auch die von Husserl »letztbegründete« These von der Transzendenz und, damit zusammenhängend, dem essentiellen Horizontcharakter der Erfahrung paßt nicht zu einer Sicht auf Erfahrung, wonach diese durch globale skeptische Szenarien ohne weiteres unterminierbar ist. Sein Projekt entgeht damit Williams’ Einwand gegen das »traditionelle erkenntnistheoretische Projekt«, welches auf ein »vollständig allgemeines Verständnis unseres Wissens über die Welt« abziele und dabei just solche autonomen, skeptisch unterminierbaren Wissensquellen unterstelle.71 Es fragt sich indes, ob dies für alle Phasen des transzendentalphänomenologischen Projekts gilt. Ich habe versucht zu verdeutlichen, daß es sich dabei in keiner Phase um ein fundamentalistisches Projekt à la Bonjour handelt. Wenn ich recht habe, unterstellt Husserl an keiner Stelle autonome generische Wissensquellen im Sinne Williams’. Statt Husserl einen problematischen Fundamentalismus zu unterstellen, sollten wir lieber seine Konzeption der Lebenswelt untersuchen und der Frage nachgehen, wieweit sie sich tatsächlich in das Projekt einer Ersten Philosophie im von Husserl intendierten Sinne einpassen läßt.72

Vgl. dazu Dagfinn Føllesdal: The Lebenswelt in Husserl, in: Acta Philosophica Fennica 49 (1990), 123–149; vgl. auch Christian Beyer: Contextualism and the Background of (Philosophical) Justifica-tion, in: Grazer Philosophische Studien 74 (2007), 291–305, §§ II f. 71 Williams: Skeptizismus und der Kontext der Philosophie, 979, 985. 72 Für die effektive Unterstützung bei der Herstellung der Endfassung dieses Beitrags danke ich Eike Düvel. 70

Husserls moderater empirischer Fundamentalismus und das Verhältnis zwischen Phänomenologie, Ontologie und Metaphysik. Kommentar zu Christian Beyer Christopher Erhard

Einleitung Christian Beyer bringt in seinem Vortrag nahezu alle für Husserls transzendentale Phänomenologie relevanten Begriffe ins Spiel und beleuchtet diese im Lichte von drei prominenten zeitgenössischen Theorien der Rechtfertigung – nämlich Kohärentismus, Fundamentalismus und Kontextualismus. Als Leitfaden dient ihm dabei der wichtigste Grundbegriff der phänomenologischen Tradition, nämlich die Intentionalität des Bewusstseins. In einem kreisförmigen Argumentationsgang, der mit Husserls realistischer und anti-repräsentationalistischer Auffassung von Intentionalität beginnt und endet, wird vorgeführt, wie sich die Evidenz der je eigenen gegenwärtigen Erlebnisse im inneren Zeitbewusstsein Schritt für Schritt ausdehnt: zunächst auf die retinierten und (nah und stetig) erinnerten Erlebnisse, dann auf die »zeitübergreifenden« Objekte der Eigenheitssphäre, sodann auf die Welt um mich herum und, schlussendlich, via Einfühlung, auf andere Egos und eine intersubjektiv geteilte objektive Lebenswelt. Indem der »naive« Realismus dergestalt rehabilitiert wird, erweist er sich als gerechtfertigt, oder, wie es auch bei Husserl heißt, »gegen jeden vernünftigen Zweifel« abgesichert. Insgesamt vertritt Beyer somit die Leitthese, dass transzendentale Phänomenologie bei Husserl au fond ein erkenntnistheoretisches Projekt sei, das auf Rechtfertigung des Realismus der natürlichen Einstellung abziele. Die dabei relevante Art der Rechtfertigung sei primär kohärentistisch bzw. holistisch, während fundamentalistische Lesarten in die Irre führten. Durch folgendes kleine Argument, das bei Beyer (und Husserl) eher zwischen den Zeilen steht, lässt sich ferner begründen, dass die so verstandene Phänomenologie Erste Philosophie sein muss: (1) Um den natürlichen Realismus zu rechtfertigen, muss das »Problem der Transzendenz« gelöst werden. (2) Dieses Problem ist das philosophische Problem schlechthin − Husserl spricht vom »Urrätsel« bzw. »Rätsel aller Rätsel«1. (3) Dieses Rätsel ist nur im Rahmen der transzendentalen Phänomenologie zu lösen. Ergo (4) ist Husserls Phänomenologie eo ipso Erste Philosophie.

1

Hua XXX, 341

Husserls moderater empirischer Fundamentalismus …

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In meinem Kommentar beschränke ich mich auf drei Punkte. Zunächst kommentiere ich Beyers Leitthese. Dann gehe ich auf die Frage nach fundamentalistischen Elementen bei Husserl ein, wobei es mir wichtig erscheint, verschiedene Lesarten des Fundamentalismus zu unterscheiden. Schließlich untersuche ich, was Husserls Phänomenologie mit Ontologie und Metaphysik zu tun hat, also mit den traditionellen Kandidaten für eine Erste Philosophie. Die ersten beiden Teile sind als (kritische) Kommentare zu Beyer zu verstehen; der dritte Teil hingegen soll Beyers Ausführungen ergänzen.

I. Klärung versus Rechtfertigung des natürlichen Realismus Ich bin mit Beyers Leitthese bedingt einverstanden. Denn Husserl geht es m. E. nicht so sehr darum, den Realismus der natürlichen Einstellung gegen »jeden vernünftigen Zweifel« abzusichern, sondern vielmehr darum, zu verstehen, wie eine solche realistische Einstellung überhaupt möglich ist. Husserl ist primär an einer präzisen phänomenologischen Deskription, nicht an der Rechtfertigung des natürlichen Realismus interessiert: »Es gilt nicht, Objektivität zu sichern, sondern sie zu verstehen. Man muß endlich einsehen, daß keine noch so exakte objektive Wissenschaft irgend etwas ernstlich erklärt oder je erklären kann. […] Das einzig wirkliche Erklären ist: transzendental verständlich machen. Alles Objektive steht unter der Forderung der Verständlichkeit.«2 Unverständlich ist für Husserl – anders als für das Subjekt der natürlichen und auch der wissenschaftlichen Einstellung – bereits das Phänomen und der Begriff von Objektivität, wo doch alle Erkenntnis in dem Sinne ›subjektiv‹ ist, dass sie Erlebnis eines Subjekts ist und dessen je eigene wechselnde Perspektive auf die Welt inkorporiert. Wie kann im heraklitischen Strom des Erlebens Objektivität repräsentiert werden? »Wir verstehen nicht, wie Gegenstände als solche den Anspruch erheben können, für sich zu sein, und wie Erkenntnis als solche den Anspruch erheben kann, in ihrer Subjektivität ein Für-sich-Sein zu einem Für-mich-Sein zu machen, den Gegenstand erkennend zu treffen. Wir verstehen nicht, wie der Bedeutungsgehalt des Erkenntnisaktes als Satz eine ideale Einheit sein soll (und den Anspruch, ideale Einheit zu sein, erhebt doch der Satz als solcher) und wie eine solche ideale Einheit dem subjektiven Akt immanent sein soll.«3 Diese Fragen sind begrifflicher Natur und dem antiskeptischen Projekt vorgeordnet. Husserl will den Realismus bzw. jede Form von Objektivitätsannahmen zunächst einmal »klären« und »verstehen«. Wenn Husserl dabei kantianisch fragt, wie die Objektivität des Erkennens möglich sei, so geht es ihm primär darum, zu verstehen, wie und

Hua VI, 193. Vgl. Hua XXIV, 190: »Sie [die Erkenntniskritik] will ›aufklären‹, sie will nichts deduzieren, nichts auf Gesetze als erklärende Gründe zurückführen, sondern einfach verstehen, was im Sinn der Erkenntnis und ihrer Objektivität liegt.« 3 Hua XXIV, 196 f. 2

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Kolloquium 1 · Christopher Erhard

nicht ob diese möglich ist.4 Husserls Antwort auf diese Frage ist seine Phänomenologie, die durch konkrete Analysen Wesensstrukturen aufweist, die zu jedem intentionalen und erkennenden Subjekt bzw. Bewusstsein als solchen gehören, das Objektivität intentional repräsentieren kann. Ferner: Falls zur Rechtfertigung des natürlichen Realismus eine definitive Widerlegung skeptischer Szenarien (cartesischer Dämon, Gehirn im Tank etc.) gehört, dann strebt Husserl keine solche Rechtfertigung an. Ich sehe nicht, dass Husserl explizite Argumente entwickelt, um solche Szenarien als unmöglich oder undenkbar auszuweisen – im Gegenteil: mitunter macht Husserl von der prinzipiellen Möglichkeit der NichtExistenz der Welt Gebrauch, um das reine Bewusstsein als eigenständige Seinsregion aufzuweisen. Das spricht dafür, dass Husserl skeptische Szenarien für konsistent denkbar und somit auch für möglich gehalten hat. In dieser Hinsicht findet man also keine Widerlegung des Skeptizismus bei Husserl.5 Gleichwohl beansprucht Husserl zu zeigen, dass es keine guten Gründe gibt, solche Szenarien gegen die Möglichkeit objektiver Erkenntnis ins Feld zu führen. Dass es diese unsere Welt gibt, dass sie cum grano salis so ist, wie sie uns erscheint – diese Überzeugungen sind durch unsere en gros einstimmigen Erfahrungen auf eine Weise motiviert, die kaum zu überbieten ist. Die Generalthesis der natürlichen Einstellung ist durch die Erfahrung bestens gerechtfertigt, allerdings so, dass niemals ausgeschlossen werden kann, dass sich die Welt in ein »sinnloses Gewühl« von Empfindungen auflöst bzw. als ein cartesischer Traum enthüllt. Beyers von Husserl übernommene Rede, dass der natürliche Realismus »gegen jeden vernünftigen Zweifel« zu sichern ist, ist also mit Vorsicht zu genießen, wie folgende Passage aus den Ideen I abschließend belegt: Es sei »klar, daß keine aus der Erfahrungsbetrachtung der Welt geschöpften Beweise erdenklich sind, die uns mit absoluter Sicherheit der Weltexistenz vergewisserten. Die Welt ist nicht zweifelhaft in dem Sinne, als ob Vernunftmotive vorlägen, die gegen die ungeheure Kraft der einstimmigen Erfahrungen in Betracht kämen, aber in dem Sinne, daß ein Zweifel denkbar ist, und das ist er, weil die Möglichkeit des Nichtseins, als prinzipielle, niemals ausgeschlossen ist. Jede noch so große Erfahrungskraft Vgl. Dallas Willard: Logic and the Objectivity of Knowledge. A Study in Husserl’s Philosophy, Athens 1984, 5: »When he asks how a certain type of knowledge is possible, the ›how‹ is not skeptical ›how‹, and does not mean ›whether‹. Rather, he is inquiring only about the means, or the nature of the specific structures and processes, through which subjective experiences succeed in cognitively grasping independent and publicly accessible objects.« 5 Die Möglichkeit der Nicht-Existenz der Welt spielt für den sog. cartesianischen Weg in die phänomenologische Einstellung eine wichtige Rolle. Husserl macht davon vor allem im mittleren Werk, z. B. in den Ideen I (1913), aber auch noch im Spätwerk, z. B. in den Cartesianischen Meditationen (1931), Gebrauch. Explizite Widerlegungsversuche des Skeptizismus finden sich in den Prolegomena zur reinen Logik (1900, v. a. Kap. 7). Dort weist Husserl nach, dass universelle skeptische Positionen, z. B. von der Form »Für jede Proposition p gilt: niemand kann wissen, dass p«, formal inkonsistent sind. Universelle skeptische Positionen, die mit behauptendem Charakter auftreten, sind nach Husserl widersinnig, weil formal inkonsistent. Gegen schwächere skeptische Versionen, welche z. B. die prinzipielle Möglichkeit der Nicht-Existenz der Welt implizieren, liefert Husserl keine Widerlegungen, hält sie aber für phänomenologisch unmotiviert. 4

Husserls moderater empirischer Fundamentalismus …

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kann allmählich aufgewogen und überwogen werden. Am absoluten Sein der Erlebnisse ist dadurch nichts geändert, ja sie bleiben immer zu all dem vorausgesetzt.«6

II. Husserls minimal-moderater empirischer Fundamentalismus Nun möchte ich auf fundamentalistische Elemente bei Husserl eingehen. Beyer ist fundamentalistischen Lesarten Husserls skeptisch gegenüber, was er durch eine detaillierte Kritik der Bonjour’schen Variante und durch Herausarbeitung der einschlägigen Unterschiede zu Husserl nachweist. Allerdings folgt daraus, dass Husserl den Fundamentalismus à la Bonjour nicht teilt, nicht, dass Husserl überhaupt kein Fundamentalist ist, insbesondere mit Blick auf die Rechtfertigung empirischer Urteile.7 Meines Erachtens vertritt Husserl einen solchen empirischen Fundamentalismus, allerdings in einer moderaten Version, bei der auch kohärentistische Elemente eine Rolle spielen. Gewissermaßen vertritt Husserl somit einen empirischen »Fundhärentismus«. Dies gilt es nun zu zeigen. Dazu scheint es angebracht, zu klären, was »Fundamentalismus« in diesem Kontext alles bedeuten kann. Denn offenbar kursieren diverse, paarweise nicht-äquivalente Version des Fundamentalismus. Anknüpfend an aktuelle Diskussionen, verstehe ich im Folgenden unter einer fundamentalistischen Position eine Konjunktion von zwei Thesen:8 (i) Es gibt basale Urteile, d. h. Urteile, deren Rechtfertigung nicht auf weiteren Urteilen basiert und die somit nicht-inferentiell gerechtfertigt sind. & (ii) Jedes gerechtfertigte Urteil p ist entweder ein basales Urteil, oder es gibt ein basales Urteil q, aus dem p − auf kurz oder lang − inferentiell (deduktiv, induktiv, abduktiv, analogisch etc.) folgt. (i) und (ii) bilden den Kern fundamentalistischer Positionen in einem minimalen Sinne. Beide Thesen induzieren eine hierarchische und ›nach unten‹ hin abgeschlossene Struktur der Rechtfertigung von Urteilen, wie sie für fundamentalistische Positionen charakteristisch ist: Jede Erkenntnis steht direkt oder indirekt mit der Basis des Wissens in inferentiellem Kontakt.9 Für den »minimalen Fundamentalisten« ist insbesondere Hua III/1, 98 f. Ähnlich wie Beyer gehe ich nicht näher auf Husserls wissenschaftstheoretischen Fundamentalismus ein, demzufolge die transzendentale Phänomenologie eine »strenge Wissenschaft« ist, die allen anderen philosophischen und nicht-philosophischen Disziplinen auf eine bestimmte Weise zugrunde liegt. 8 Vgl. die instruktiven Ausführungen bei Walter Hopp: Husserl, Phenomenology, and Foundationalism, in: Inquiry 51 (2008), 194–216. Dabei muss streng genommen immer ergänzt werden, mit Blick auf welchen Bezirk von Entitäten (Regionen à la Husserl) jemand Fundamentalist ist. Im Folgenden beschränke ich mich auf den Fundamentalismus mit Blick auf empirische (synthetisch-aposteriorische) Urteile über reale (naturale) nicht-mentale Objekte, wozu z. B. Urteile wie »Äpfel sind rundlich« oder »Dieser Apfel ist rot« gehören. 9 Fasst man »x rechtfertigt y« als dyadische Relation auf (xRy), so vertritt der minimale Fundamentalist die Thesen (i) ∃x (x ist ein gerechtfertigtes Urteil & ∼∃y. y ist ein Urteil & yRx) und (ii) ∀x (x ist ein Urteil → x ist ein basales Urteil oder ∃y. y ist ein Urteil & yRx). Damit ist noch keine lineare Struk6 7

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Kolloquium 1 · Christopher Erhard

entscheidend, dass es basale Urteile gibt, deren Rechtfertigung in einem nicht-urteilsartigen mentalen Zustand auf nicht-inferentielle Weise gründet, während der »minimale Kohärentist« nur inter-propositionale und inferentielle Rechtfertigung anerkennt. Kein Urteil ist für den Kohärentisten für sich allein zu rechtfertigen – immer müssen andere Urteile herangezogen werden, aus denen fragliches Urteil inferentiell zu begründen ist. Auch die Wahrnehmung kann dies nicht von sich aus leisten, sondern muss durch Urteile ergänzt werden. Auf die Frage etwa, was jemanden rechtfertigt, mit Blick auf einen vor ihm liegenden Apfel zu urteilen, dieser Apfel sei rot, genügt es also nicht, zu sagen: »weil ich es sehe«. Es ist in meinen Augen unbezweifelbar, dass Husserl kein solcher Kohärentist ist, demzufolge jedes Urteil nur aufgrund seiner inferentiellen Vernetzung mit anderen Urteilen gerechtfertigt werden kann. Husserl ist ein vehementer Verfechter der Idee nicht-inferentieller Rechtfertigung von Urteilen; darin besteht eine Pointe seines epistemologischen Intuitionismus, der neben sinnlichen (»S sieht x«) bekanntlich auch kategoriale (»S sieht, dass p«) und eidetische Anschauungen (»S sieht das Gemeinsame in x, y …«) zulässt. Urteile sind für Husserl derivative und fundierte Phänomene, die »vorprädikativen« Erfahrungsstrukturen entspringen, was minutiös in den genetischen Werken Formale und transzendentale Logik, Erfahrung und Urteil und Analysen zur passiven Synthesis beschrieben wird. Wichtig ist zudem, dass der minimale Fundamentalismus neutral ist mit Blick auf den intentionalen Gehalt und den epistemischen Status der basalen Urteile. Mit anderen Worten: wovon basale Urteile handeln und ob sie unbezweifelbar, apodiktisch gewiss etc. sind oder nicht, bleibt bei obiger Version offen. Moderate Versionen des minimalen Fundamentalismus implizieren z. B. nicht, dass basale Urteile infallibel sein müssen. Darauf weist Walter Hopp hin, der den minimalen Fundamentalismus im obigen Sinne als »epistemological foundationalism« bezeichnet: »And although most classical versions of Epistemological Foundationalism have historically been wielded against the specter of skepticism, and have therefore maintained that the epistemically basic beliefs must be certain, incorrigible, or infallible, this is not an essential component of Epistemological Foundationalism. The Epistemological Foundationalist is not, qua foundationalist, committed to any claims concerning (a) the content of the foundational mental states, (b) the precise epistemic status of those states […].«10 tur der Rechtfertigung induziert, sondern lediglich eine hierarchische. Da R offenbar irreflexiv (es gibt keine sich selbst rechtfertigenden Urteile) und transitiv (rechtfertigt x y und y z, so rechtfertigt x auch z) ist, wird aus so einer hierarchischen Struktur erst dann eine lineare Struktur, wenn man annimmt, dass R konnex ist, d. h. für alle Urteile x und y gilt entweder xRy oder yRx. Dass R konnex ist, ist extrem unplausibel, denn nicht alle (empirischen) Urteile hängen bezüglich ihrer Rechtfertigung miteinander zusammen. Ein minimaler empirischer Fundamentalismus ähnelt strukturell also eher einem Baum mit Verzweigungen als einer Kette mit Anfangsglied. Die lose Rede von »linearer Rechtfertigung« ist also mit Vorsicht zu genießen. 10 Walter Hopp: Husserl, Phenomenology, and Foundationalism, a. a.O., 196. Hopp lässt es letztlich offen, ob Husserl epistemologischer Fundamentalist ist oder nicht. Føllesdal unterstellt, wie Hopp treffend kritisiert, dass jeder Fundamentalist die basalen Urteile als infallibel auffassen müsse. Vgl. Dagfinn Føllesdal: Husserl on Evidence and Justification, in: Edmund Husserl and the Phenomenological Tradition, ed. by Robert Sokolowski, Washington 1988, 107–129. Nach Føllesdal, ebd., 107, besteht

Husserls moderater empirischer Fundamentalismus …

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Für den »epistemological foundationalist« sind nur die beiden Thesen (i) und (ii) konstitutiv. Meine These ist nun, dass Husserl in der Tat eine solche minimal-moderate Variante eines empirischen Fundamentalismus vertritt und zwar in folgender Form: (I)

Es gibt basale empirische Urteile. Sie haben die Form »Dies ist p« und beziehen sich auf raumzeitliche Dinge in der Welt. (II) Basale empirische Urteile sind fallibel. (III) Basale empirische Urteile werden nicht-inferentiell durch (nicht-propositionale) »vorprädikative« und evidente Wahrnehmung gerechtfertigt. (IV) Jedes gerechtfertigte empirische Urteil ist entweder ein basales empirisches Urteil oder in einem solchen epistemisch fundiert. Diese vier Thesen sollen nun der Reihe nach belegt werden. Ad (I) Was basale empirische Urteile betrifft, so spricht Husserl von »letzten« oder »unmittelbaren« Erfahrungs- und Wahrnehmungsurteilen. Er gewinnt sie durch eine regressive epistemische Analyse, die von indirekt und mittelbar zu direkt und unmittelbar durch Wahrnehmung zu rechtfertigenden Urteilen schreitet.11 Sie sind negativ dadurch charakterisiert, dass ihr »urteilender Glaube« den »urteilenden Glauben« anderer Urteile nicht voraussetzt; sie sind in gewissem Sinn »direkter« Ausdruck »gegenständlicher (nicht-urteilsartiger) Evidenz«. Mittelbare Urteile hingegen haben eine »Sinnbezogenheit auf andere Urteile«12. Letzte Urteile beziehen sich ferner intentional auf »Individuen als letzte Gegenstände-worüber (letzte Substrate)«13. Formal lässt sich nach Husserl über letzte Substrate nicht mehr sagen, als dass es sich bei ihnen um ein »kategorial noch gänzlich ungeformtes Etwas«14 handelt. Inhaltlich lässt sich erst durch Erfahrung, durch eine »sachliche[] Evidenz«15 bestimmen, was ein letztes Substrat eigentlich ist; für Husserl sind letzte Substrate raumzeitliche Einzeldinge. Letzte Urteile haben somit typischerweise die Form »S ist p«, wobei sich »S« demonstrativ auf ein Ding und »p« auf ein unselbständiges Moment an S bezieht, z. B. »Dies ist rot«. Interessanterweise beziehen sich basale Wahrnehmungsurteile bei Husserl weder auf Sinnesdaten noch auf eigene sensorische Erlebnisse (wie bei Bonjour), sondern auf Dinge in der Welt. Husserl hat die Dingwahrnehmung in diesem Sinn für etwas phänomenoder Fundamentalismus darin, »[that] one can reach absolute certainty, at least concerning some matters, and also that […] it [is] a main task of philosophy to attain such certainty«. Vgl. ebd., 114 f., 121 ff. Die Idee eines infalliblen Fundaments des Wissens ist aber zu unterscheiden von der Idee fundamentaler Überzeugungen, die auf nicht-inferentielle Weise zu rechtfertigen sind. 11 Vgl. Hua XVII, §§ 82–86; Hua I, §§ 4–5. Vgl. auch Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, red. und hg. von Ludwig Landgrebe, Prag 11938/Hamburg 71999, §§ 4–6. Dieser Text wird im Folgenden mit »EU« mitsamt Seiten- oder Paragraphenangabe zitiert. Die Authentizität von EU hat inzwischen Dieter Lohmar nachgewiesen; vgl. Dieter Lohmar: Zu der Entstehung und den Ausgangsmaterialien von Edmund Husserls Werk Erfahrung und Urteil, in: Husserl Studies 13 (1996), 31–71. 12 Hua I, 51. 13 EU, 18. 14 Ebd., 20. 15 Hua XVII, 211.

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logisch Erstes und Irreduzibles gehalten. Für Husserl ist klar, »dass das Erste nicht ist: ›Ich sehe Empfindungsdaten‹, sondern: ›Ich sehe Häuser, Bäume‹ usw.«16 Zum Sinn der alltäglichen und unreflektierten Wahrnehmung gehört es, Dingliches zu meinen: »das Ding ist das erste, das affiziert, und erst in einer reflektiven Ablenkung davon, sekundär, die Perspektive oder weiter zurück die Empfindungsfarbe, also von der Fundierung der Evidenzfunktionen her bestimmt«17. In diesem Sinne hält Husserl auch die ›Dingsprache‹ für unreduzierbar auf eine ›Empfindungssprache‹.18 Auf Dinge gerichtete Wahrnehmung ist mithin auch keine Inferenz von einem unmittelbar und immanent gegebenen Empfindungsdatum auf ein transzendentes Ding. Ad (II) Basale empirische Urteile sind deshalb fallibel, weil sie sich auf transzendente Dinge beziehen und diese uns immer nur räumlich (und zeitlich) einseitig zugänglich sind. Sie präsentieren sich einem Subjekt notwendigerweise in Abschattungen, Profilen und Erscheinungen. Dinge lassen immer etwas an ihnen offen (Rückseite, Innenleben etc.), so dass es eine prinzipielle und einsehbare Möglichkeit ist, dass sie entweder anders sind, als sie erscheinen (Illusion), oder dass sie gar nicht existieren (Halluzination). Das heißt nicht, dass es gar keine Evidenz mit Blick auf Dinge gäbe – im Gegenteil, jede schlichte Wahrnehmung ist eine solche Evidenz, da sie sich – im Kontrast zum bloßen (leeren) Denken, Meinen oder zur Phantasie – intrinsisch durch ihren »selbstgebenden« Charakter auszeichnet. Aber dabei handelt es sich um inadäquate Evidenz, die wesentlich fallibel, »präsumtiv« ist.19 Für Husserl ist es absolut zentral, zwischen verschiedenen Arten von Evidenz zu unterscheiden. Husserl ist, anders als Descartes, sein Lehrer Brentano et alii, Evidenz-Pluralist. Jeder Art von Entität entspricht bei Husserl eine spezifisch zugehörige intentionale Struktur mitsamt einer eigenen Art von Evidenz – und Evidenz ist für Husserl letztlich nur ein anderes Wort für Rechtfertigung. Ad (III) Ein anschaulich vollzogenes basales Urteil setzt voraus, dass simultan eine ›passende‹ Wahrnehmung vollzogen wird.20 Diese Wahrnehmung erfüllt das Urteil, dient ihm als Fundament und rechtfertigt es auf nicht-inferentielle Weise. Bei Wahrnehmungen selbst endet der inferentielle Begründungsanspruch: »Wahrnehmung ist selbst nichts zu Begründendes, sie ist dafür selbst Grund gebend.«21 Dabei handelt es sich um eine nicht-propositionale und vorprädikative Wahrnehmung, eine »einstrahlige« Hua XXXV, 83. Hua XVII, 294. 18 Vgl. Hua XX/1, 284: »Wenn uns jemand durch noch so eindrucksvolle philosophische Argumente beweisen wollte, dass alle unseren empirischen Urteile über Dinge vermöge einer […] Täuschung nur scheinbar auf Dinge gehen – nur Bewußtseinsimmanentes könne eigentlich wahrgenommen […] werden […], so würden wir uns sofort besinnen und antworten: Jetzt urteile ich über diesen Tisch da; das ist offenbar keine Empfindung, kein Aktcharakter usw.; er ist allen ›immanenten‹ Daten gegenüber ein ›Transzendentes‹. Das Ur te il mag falsch sein, aber dass das hier ›Wahrgenommene‹ und ›Beurteilte‹ eben ein Tisch, ein Transzendentes ist, ist a bs olut sicher.« 19 Vgl. Hua III/1, §§ 137 f. 20 Nach Husserl kann jedes anschauliche Urteil auch unanschaulich vollzogen werden. Ganz allgemein entspricht »jeder Weise der Anschauung […] eine mögliche Weise der Leervorstellung« (Hua XI, 71). 21 Hua XXIV, 8. 16 17

Husserls moderater empirischer Fundamentalismus …

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Erfahrung und »gegenständliche Evidenz«, in der mir das Ding als p erscheint, d. h. unter dem p-Aspekt. Die Weise, wie eine einstrahlige Wahrnehmung ein basales Urteil rechtfertigt – ein keineswegs einfacher Vorgang! −, beschreibt Husserl en détail in Erfahrung und Urteil (§§ 22–57). Es handelt sich dabei um einen mehrstufig-fundierten Prozess, in dem auf eine attentionale Erfassung von S eine Explikation oder selektive Aufmerksamkeit auf das p-Moment an S erfolgt, die ihrerseits in eine vorprädikative Synthesis mündet, in der p als etwas an S Befindliches erfahren wird. Dies alles soll Husserl zufolge innerhalb der vorprädikativen Wahrnehmung stattfinden können. Offenbar ist Husserl ein expliziter Opponent des ›Mythos des Propositionalen‹, d. h. der These, dass nur Zustände mit propositionalem Gehalt eine rechtfertigende Rolle spielen können.22 Besonders eindringlich hat Husserl das Verhältnis zwischen gerechtfertigtem Wahrnehmungsurteil und rechtfertigender Wahrnehmung in folgender Passage beschrieben: »Die schlichte Wahrnehmung begründet ein Wahrnehmungsurteil. Ich sehe es, so ist es. Warum? Ich sehe es. Nun, zum Wesen der Wahrnehmung gehört eine Stellungnahme in welcher Art? Wir haben es schon einmal angedeutet. Zum Wesen der Wahrnehmung gehört es, entweder widerstreitlose Wahrnehmung zu sein oder durch Widerstreit ›aufgehobene‹. Sie hat notwendig ihre Glaubenstendenz: Ist die Glaubenstendenz nicht durch Widerstreit gebrochen, so ist sie ›unaufgehobene‹ Tendenz, das ist, sie ist schlichter Glaube. Bringt der Fluß der Wahrnehmung einen Widerstreit herein, so streitet Glaube mit Glaube, siegt der eine, so bleibt er ungebrochener Glaube, so bricht der mit ihm streitende zusammen, er sinkt zur Glaubenstendenz, und zwar zur nichtigen, aufgehobenen ab. Sie trägt den Charakter der Nichtigkeit. […] Widerstreitlose Wahrnehmung trägt notwendig den schlichten Glaubenscharakter, und doch ist damit das Seiende nicht endgültig gegeben. Die Möglichkeit hereinkommenden Widerstreits im Fortgang der Wahrnehmung bleibt offen. Es ist aber evident, daß die Wahrnehmung berechtigt, daß die auf Wahrnehmung gegründete Aussage ihr Recht hat, ihre Evidenz hat, obschon nur die empirische Evidenz, die, wie wir auch sagen können, die Wahrnehmungsaussage, daß dies Seiende hic et nunc ist und so ist, wie es da wahrgenommen ist, evident motiviert. Aber freilich, so ist das Seiende: vorbehaltlich der Bestätigung durch weitere Erfahrung.«23 Hier vertritt Husserl folgende Thesen: Wenn x ein basales Urteil der Form S ist p ist (hier: ein »Wahrnehmungsurteil«), dann wird x direkt durch eine widerstreitlose (einstimmige) Wahrnehmung von S als p gerechtfertigt (hier: »begründet«). Dieser intrinsisch rechtfertigende Charakter der (einstimmigen) Wahrnehmung gründet darin, dass diese einen doxischen Charakter hat. (Widerstreitlose) Wahrnehmung hat nach Husserl vorprädika22 Hopp spricht von »Epistemic Conceptualism«, demzufolge nur begrifflicher Gehalt eine rechtfertigende Rolle spielen könne. (Propositionaler Gehalt ist immer auch begrifflicher Gehalt.) Vgl. Walter Hopp: Conceptualism and the Myth of the Given, in: European Journal of Philosophy 17 (2009), 363–385. 23 Hua XXIV, 345 f. Vgl. ebd., 7–9.

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tiven Glaubenscharakter: Wahrnehmung setzt etwas, ohne eo ipso zu urteilen.24 Die Fallibilität einer einstimmigen Wahrnehmung hebt nach Husserl ihr rechtfertigendes Potential nicht einfach auf, sondern weist sie als eine inadäquate oder präsumtive Evidenz aus. Rechtfertigung ist eben nicht automatisch apodiktische/adäquate Rechtfertigung. Ad (IV) These (IV) ergibt sich aus Husserls Disjunktion, jedes Urteil sei bezüglich seiner Rechtfertigbarkeit entweder ein unmittelbares oder mittelbares Urteil, und aus der zitierten Definition unmittelbarer und mittelbarer Urteile sub (I). Wenn nun Husserl in diesem Sinne einen minimal-moderaten Fundamentalismus vertritt, so ist dieser doch ein ganz eigentümlicher gegenüber heutigen Versionen.25 Zweierlei ist dabei zu betonen: Erstens kommt dieser Fundamentalismus ohne die These aus, empirische Urteile müssten durch infallible Urteile über je eigene mentale Erlebnisse, Empfindungen oder Sinnesdaten gerechtfertigt werden. Empirische Urteile handeln von Dingen in der Welt und werden dementsprechend durch darauf gerichtete Wahrnehmungen gerechtfertigt. In diesem Sinne weicht Husserls Fundamentalismus von empiristischen und phänomenalistischen Varianten ab. Zweitens fungiert bei Husserl zwar die sinnliche Wahrnehmung, in der uns eine Lebenswelt anschaulich präsent ist, als das »letztlich Begründende« (Hua VI, 129), aber Wahrnehmung selber wird gewissermaßen kohärentistisch gedacht, oder besser: proto-kohärentistisch, sofern »Kohärenz« als Prädikat für propositionale Gehalte von Urteilen und Überzeugungen reserviert ist. Husserls ubiquitäre Termini für diesen Proto-Kohärentismus sind Synthesen der Identifikation und Einstimmigkeit. Husserl vertritt einen perzeptiven Proto-Kohärentismus. So ist z. B. ein basales Urteil nur solange gerechtfertigt, wie sich die rechtfertigende Wahrnehmung ohne »Widerstreit« einstimmig durchhält. Allerdings hat jede Wahrnehmung in sich bereits ein rechtfertigendes Potential, das sie nicht erst ihrem weiteren einstimmigen Verlauf verdankt. Denn Wahrnehmungen sind in sich selbst durch, wie Husserl sagt, »originäre« und »leibhaftige« Gegebenheit ihres Objekts charakterisiert. Diesen intrinsisch rechtfertigenden Charakter der Wahrnehmung bringt Husserls »Prinzip aller Prinzipien« (PP) zum Ausdruck, das ganz allgemein besagt, »daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt«.26

Mitunter spricht Husserl explizit von einem »perzeptiven Glauben«; vgl. z. B. Hua XVI, 15 f. Zum Verhältnis Wahrnehmung und Glauben vgl. A. D. Smith: Perception and Belief, in: Philosophy and Phenomenological Research 62 (2001), 283-309. 25 Thomas Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, Berlin 2008, 335 ff., vertritt ebenfalls einen moderaten empirischen Fundamentalismus. Allerdings stützt er sich dabei auf einen externalistisch konzipierten Reliabilismus, demzufolge unsere Sinnesorgane auf zuverlässige Weise korrekte Wahrnehmungen in uns hervorrufen. Dies ist für Husserl ein No Go, weil transzendental naiv. Für Husserl sind Wahrnehmungen nicht deshalb eine Quelle von Wissen über die Welt, weil sie verlässlich von der Welt in uns verursacht sind, sondern weil sie originären, die Sachen selbst gebenden Charakter haben. Diese Originarität ist nicht mit externalistisch verstandener Verlässlichkeit zu verwechseln, sondern eine intrinsische Eigenschaft perzeptiver Episoden. 26 Hua III/1, 51. Vgl. ebd., 316: »Zu jedem Leibhaft-Erscheinen eines Dinges [d. i. zu jeder Wahr24

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Auf die Frage, wieso ich einen (einfachen) empirischen Sachverhalt glaube, ist es nach (PP) immer eine gehaltvolle Antwort, zu sagen: »weil ich es sehe (wahrnehme)«. Erscheint mir S in »originärer Anschaulichkeit« als p, so bin ich eo ipso gerechtfertigt, zu urteilen, dass S p sei – zumindest hat meine Wahrnehmung dann einen positiven epistemischen Status, eine Art ›epistemisches Gewicht‹, das es beim Urteilen zu berücksichtigen gilt. In den seltensten Fällen ist damit eine Wahrheitsgarantie verbunden, aber in keinem Fall hat eine »originär gebende Anschauung« gar kein epistemisches Gewicht. Sie kann nur durch andere Anschauungen entkräftet werden, indem sie überboten, aber nicht vollends aufgehoben wird. Verstärkt, geschwächt und entkräftet werden kann aber nur, was in sich bereits eine Kraft hat.27 Ein Beispiel möge das erläutern.28 Angenommen ich gehe, nichts Ungewöhnliches ahnend, durch die Münchner Innenstadt; plötzlich taucht vor mir eine knallrote Maus von der Größe einer Katze auf, deren Ohren im Takt von 0.5 Sekunden in hellgelbem Licht blinken. Die Erscheinung dieser ›Maus‹, die von rechts nach links einige Meter vor mir vorbeihuschen möge, ist nach wenigen Sekunden spurlos verschwunden. Bin ich nun gerechtfertigt, zu glauben bzw. zu urteilen, dass gerade eine knallrote Maus mit besagten Eigenschaften vorübergelaufen ist? Man kann (PP) auf zweifache Weise auf dieses Beispiel beziehen: Erstens kann man unterstellen, dass wir es gar nicht mir einer »originären Anschauung« zu tun haben, sondern eher mit einer Phantasie, einem Trugbild etc. Deshalb sind wir nicht gerechtfertigt, zu urteilen, eine knallrote Maus sei vorübergelaufen. Dies scheint mir aber unplausibel, da Husserl streng zwischen Phantasien und Perzeptionen unterscheidet, die sich nicht, wie etwa bei Hume, lediglich dem Grade, sondern der Art nach unterscheiden. Zudem sind Halluzinationen und Wahrnehmungen für den »Konjunktivisten« Husserl Erlebnisse derselben Art, so dass offenbar auch Halluzinationen »originäre Anschauungen« sein können.29 Plausibler scheint es also, zweitens, dass ich auch im obigen Beispiel eine »originäre Anschauung« hatte, die gemäß (PP) rechtfertigendes Potential hat; dieses Erlebnis, wie flüchtig, abrupt, isoliert, inkohärent und untypisch es auch sein mag, hat ein Gewicht, das es zur Rechtfertigung geeignet macht. Darin unterscheidet sich die originäre Anschauung von nicht-originärer Anschauung (Phantasie) und vom bloßen (leeren) Denken. Das Phantasieren von und Denken an X als p sind nicht eo ipso epistemisch relevant für das Urteil X ist p. Würde ich eine knallrote Maus vor mir phantasieren, wäre ich nicht eo ipso gerechtfertigt, zu glauben, dass hier nehmung] g eh ö rt die Setzung, sie ist nicht nur überhaupt mit diesem Erscheinen eins (etwa gar als bloßes allgemeines Faktum – das hier außer Frage ist), sie ist mit ihm eigenartig eins, sie ist durch es ›m otivier t‹, und doch wieder nicht bloß überhaupt, sondern ›vernünf tig m ot ivi ert‹ . Dasselbe besagt: Die Setzung hat in der originären Gegebenheit ihren urs prü ng lichen R echtsg rund.« 27 Das »E r fahr ungs gew ic ht [ is t] um so g röße r, je um fa ssender der E rf ahrun gszusam m en h an g is t, in den sich die betreffende Einzelerfahrung einordnet« (Hua XXIV, 347). Es ist also nicht der einstimmige Zusammenhang, der einer Wahrnehmung überhaupt erst epistemisches Gewicht verleiht. 28 Vgl. zu ähnlichen Beispielen Walter Hopp, Conceptualism and the Myth of the Given, a. a.O., Abs. I. Nach Hopp sind es insbesondere Fälle perzeptiver Isolation, die gegen die These in Anschlag gebracht werden können, dass Wahrnehmungen in sich ein rechtfertigendes Potential bergen. 29 Vgl. Hua XVI, 15.

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eine solche Maus sei. Wenngleich das kurze visuelle Erlebnis von der Maus epistemisch relevant ist, so wird es doch sogleich durch andere Wahrnehmungen »übertrumpft« und trägt in sich Widerstreit; denn normale (typische) Wahrnehmungen von materiellen Dingen sind mit antizipierenden Intentionen versehen, die mit zum Horizont des Erlebnisses gehören. Diese Antizipationen speisen sich einerseits aus der (assoziativen) Vorgeschichte des Subjektes und andererseits aus gewissen wesentlichen Strukturen. Jedes Ding wird nach Husserl z. B. notwendigerweise als ein Ding mit Rückseite wahrgenommen, obgleich die Rückseite selbst nicht wahrgenommen, sondern durch Leerintentionen des Horizonts auf eine mehr oder weniger unbestimmte Weise mitintendiert ist. Im Fall mit der Maus werden solche Erwartungen frustriert, denn die Maus hält sich z. B. nicht daran, nach ihrem Auftauchen weiterhin wahrnehmbar zu sein; ferner sind bisher noch keine knallroten Mäuse mit blinkenden Ohren gesichtet worden etc. Wegen dieses Bruchs mit bisherigen Wahrnehmungen erscheint die Wahrnehmung der Maus sofort als untypisch und führt zu einem gewissen Bruch im perzeptiven Verlauf des Bewusstseinsstroms. Diese atypische, flüchtige und gleichsam »einphasige« Wahrnehmung ist dennoch epistemisch nicht völlig irrelevant; sie rechtfertigt sozusagen uno momento, um sogleich durch andere Wahrnehmungen übertrumpft zu werden. Wahrnehmungen haben also für Husserl intrinsisches epistemisches Gewicht, das sie nicht allein ihrem Zusammenhang mit anderen Wahrnehmungen verdanken; allerdings können sie nur kraft einstimmiger Zusammenhänge basale empirische Urteile auf stabile Weise rechtfertigen. Fazit: Husserls minimal-moderater Fundamentalismus tritt gepaart mit einer heutzutage ungewöhnlichen, weil proto-kohärentistischen, Konzeption von Wahrnehmung auf.30 In diesem Sinne ist Beyers Betonung der kohärentistischen Aspekte bei Husserl vollauf Recht zu geben. Letzte Urteile im obigen Sinne haben ein epistemisches Fundament in einstimmigen, proto-kohärentistischen und auf Dinge gerichteten Wahrnehmungssynthesen. Um ein basales Urteil zu rechtfertigen, muss man nicht auf andere Urteile in einem Netz von Überzeugungen rekurrieren, sondern auf gewisse Synthesen innerhalb der Wahrnehmung.31 An der genuin fundamentalistischen Idee, gewisse Urteile könnten direkt und nicht-inferentiell durch Wahrnehmungen gerechtfertigt werden, hält Husserl jedenfalls eisern fest. Wenn diese Lesart zustimmt, vertritt Husserl eine eigentümliche, fundamentalistisch-cum-kohärentistische Position, eine Art »Fundhärentismus«, mit Blick auf die Rechtfertigung empirischer Urteile.

Es ist charakteristisch für Husserls genetische Phänomenologie, Phänomenen, die traditionellerweise erst auf der Ebene prädikativer Urteile angesiedelt wurden, bereits eine Proto-Ausprägung auf der Ebene vorprädikativer Erfahrung zuzuweisen. Vgl. Hua XVII, § 87. 31 Dass jedes Urteil aufgrund seiner begrifflichen Struktur mit anderen Urteilen logisch (inferentiell) verwoben ist, ist nicht mit der kohärentistischen These zu verwechseln, jedes Urteil verdanke seine Rechtfertigung der Rechtfertigung solcher anderen Urteile, mit denen es inferentiell vernetzt ist. Vgl. dazu Walter Hopp: Husserl, Phenomenology, and Foundationalism, a. a.O., der zwischen epistemischer (rechtfertigender) und ontologischer Fundierung unterscheidet. Urteile können ontologisch in anderen Urteilen fundiert sein, wie z. B. »dieser Fleck ist rot« in »dieser Fleck ist farbig«, ohne in diesen epistemisch fundiert zu sein. 30

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III. Phänomenologie, Ontologie und Metaphysik: Fünf Thesen Der Fokus auf erkenntnistheoretische Fragestellungen könnte dazu verleiten, zu glauben, Husserls Phänomenologie stünde in einem expliziten Gegensatz zu Ontologie und Metaphysik – und damit zur klassischen Form der »Ersten Philosophie«. Das ist nur insofern richtig, als Husserl sich methodisch gegen eine bestimmte Art, nämlich eine konstruktiv32 verfahrende Metaphysik/Ontologie richtet, die uns zu »›metaphysischen Abenteuern‹« und »spekulativen Überschwenglichkeiten«33 verleitet. Husserl scheut sich hingegen nicht, explizit von »metaphysischen Ergebnissen« seiner Analysen zu sprechen, die »letzte Seinserkenntnisse«34 betreffen. Ferner werden Fragen nach ›Sein oder Nicht-sein‹ ausdrücklich im Kontext der phänomenologischen Einstellung behandelt, nämlich immer dann, wenn Husserl die Themen Vernunft, Evidenz, Wahrheit und Erfüllung anschneidet. Während Konstitution im weiteren Sinne Intentionalität als solche behandelt und dabei auch über nicht-existente intentionale Objekte spricht (Pegasus, goldener Berg, rundes Quadrat etc.), zielt Konstitution im engeren Sinne auf veridische Intentionalität ab.35 Es ist also nicht so, dass Husserl sich nur für die ›bloßen Phänomene‹ und nicht für deren ›Sein oder Nicht-sein‹ interessiert. Entgegen kolportierten Ansichten versteht Husserl das Verhältnis zwischen Phänomenologie und Metaphysik/Ontologie eher als inklusives und komplementäres, denn als konträres und exklusives. Phänomenologie ist ein integratives Projekt, das klassische ontologische Fragen in sich aufnehmen kann.36 Abschließend möchte ich fünf plakative Thesen dazu aufstellen: (I) Ontologie ist eine essentiale (synthetisch-apriorische) Disziplin. In einer Ontologie geht es um Fragen nach der Natur eines bestimmten Typs von Entitäten. Die Ontologie realer (raumzeitlicher) Objekte ist z. B. »die Wissenschaft vom Wesen des realen Seins, und zwar vom Apriori, das zum Wesen von Ding, Raum, Zeit gehört. Hier findet sich also das Apriori der Geometrie, der Phoronomie, der reinen

Vgl. Hua I, § 62. Hua I, 166. 34 Hua I, § 60. Solche »letzten Seinserkenntnisse« sind z. B., dass es nur eine reale Welt bzw. RaumZeit gibt und geben kann, oder dass zwei Subjekte immer in Einfühlungsrelationen zueinander stehen können müssen. 35 Vgl. Hua III/1, §§ 135 ff. 36 Zu dieser Lesart von Husserls Phänomenologie vgl. auch Dallas Willard: Phenomenology and Metaphysics, online unter http://www.dwillard.org/articles/artview.asp?artID=77 (zuletzt abgerufen am 31. 12. 2011). Zum Verhältnis zwischen Husserls Erster Philosophie und historischen Vorgängern vgl. Robert Sokolowski: Husserl on First Philosophy, in: Philosophy, Phenomenology, Sciences. Essays in Commemoration of Edmund Husserl, ed. by Carlo Ierna, Hanne Jacobs, Philip Mattens, Heidelberg/ London/New York 2010, 3–23; Nam In-Lee: Phenomenological Reflections on the Possibility of First Philosophy, in: Husserl Studies 26 (2010), 131–145; Sebastian Luft: Phenomenology as First Philosophy: A Prehistory, in: Philosophy, Phenomenology, Sciences. Essays in Commemoration of Edmund Husserl, ed. by Carlo Ierna, Hanne Jacobs, Philip Mattens, a. a.O., 107–133. 32 33

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Zeitlehre seine Stelle und daneben das damit innig zusammenhängende Apriori von Ding, Eigenschaft, Veränderung«37. Ontologien zielen auf synthetisch-apriorische Urteile ab, die für alle nur denkbaren Entitäten einer bestimmten »Region«, also intraregional gelten. Regionen sind die summa genera, die einander ausschließen, aber gleichwohl zueinander in Fundierungsrelationen stehen können. Eine Person ist z. B. in einem materiellen Ding (ihrem Körper) fundiert, aber nicht damit identisch. Regionale Ontologien zielen darauf ab, die Grundbegriffe empirischer Wissenschaften zu klären. Die Methode, Wesenswahrheiten zu erkennen, ist Husserls eidetische Methode, zu der zwei Schritte gehören: zum einen eine Variation wahrgenommener oder fingierter Einzelfälle, zum anderen ein Fixieren derjenigen Züge, die sich dabei als invariante Momente durchhalten. Das Wesen (»Eidos«) soll sich dabei als das allen Varianten Gemeinsame, obgleich nicht mereologisch in ihnen enthaltene herauskristallisieren. Nach Husserl ist es eine, im heutigen Sinne, abstrakte Entität – in seiner Terminologie ein idealer oder irrealer Gegenstand. Von der materialen Ontologie unterscheidet Husserl die formale Ontologie, in der es um analytische Wahrheiten geht, die transregional gelten. Dorthin gehören z. B. Urteile wie »Jedes Einzelding hat Eigenschaften« oder »Sachverhalte sind in Einzeldingen fundiert«. Auch Husserls berühmte Mereologie der III. Logischen Untersuchung ist eine formale Ontologie, in der die Logik von Teil und Ganzes und die Natur von Fundierungsrelationen untersucht wird. (II) Ontologien dienen dem Phänomenologen als Leitfäden (»Indizes«) für seine konstitutiven Analysen. Per se haben transzendente Ontologien nicht direkt mit der Phänomenologie zu tun. Sie verfahren »dogmatisch« und »naiv«, weil sie nicht die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnisse thematisieren. Der Phänomenologe kann sie aber als »Leitfäden« oder »Indizes« verwenden, wie Husserl sagt, um sie auf ihre zugehörigen konstitutiven Strukturen im Bewusstsein hin zu untersuchen. Der Schlüssel ist dafür wiederum die Intentionalität, kraft deren jeder mögliche und unmögliche intentionale Gegenstand »für uns« sein kann. Jeder ontologischen Wahrheit entspricht somit eine phänomenologische Aufgabe: »Materielles Objekt bezeichnet ihm [dem Phänomenologen] einen Typus von vermeinten und eventuell selbstgegebenen Gegenständlichkeiten, die er rein in dieser Korrelation und in phänomenologischer Reduktion behandelt. Die ontologischen Grundbegriffe, die prinzipiell das Wesen eines Raumes, einer objektiven Zeit, einer Materialität auseinanderlegen, dienen ihm als Indices für gewisse Systeme der Bewährung; die systematischen Reihen der Selbstgebung, die im wahren Sein terminieren, bergen dieses ja als einen sich noematisch auszeichnenden terminus ad quem.«38

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Hua XXIV, 334. Hua XI, 221.

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In gewissem Sinn gibt es dabei sogar einen sachlichen Primat der Ontologie, denn die regionalen Wesen, z. B. das Wesen materielles Ding, schreibt den zugehörigen Bewusstseinsmannigfaltigkeiten »Regeln vor«39. Solange aber die Korrelation zwischen Bewusstsein und Ding nicht geklärt ist, bleibt der Ontologe »naiv« und »blind«. (III) Ontologie und Phänomenologie nehmen grundsätzlich unterschiedliche kognitiv-intentionale Einstellungen ein. Dies liegt daran, dass der Ontologe im Unterschied zum Phänomenologen keine konsequent reflexive Einstellung auf seine Erlebnisse einnimmt, sondern »verschossen« auf die Objekte bleibt. So ist z. B. in der »Phänomenologie des Dingbewußtseins […] die Frage nicht, wie Dinge überhaupt sind, was ihnen als solchen in Wahrheit zukommt; sondern wie beschaffen das Bewußtsein von Dingen ist, welche Arten von Dingbewußtsein zu unterscheiden sind, in welcher Art und mit welchen Korrelaten sich ein Ding als solches bewußtseinsmäßig darstellt und bekundet«40. Husserl spricht trotz dieser methodischen Differenz von einer »Bundesgenossenschaft« zwischen Phänomenologie und Ontologie: »So stehen also Phänomenologie und Ontologie in einer Art Bundesgenossenschaft. Der prinzipielle Unterschied der Methode nicht nur, sondern schon hinsichtlich des Arbeitsbodens besteht darin, daß der Ontologe die Idee der Natur als eine Art ideale Wirklichkeit nimmt, daß er sich auf den Boden dieser Idee stellt, um sie nach ihren Eigentümlichkeiten zu erforschen […]; während der Transzendentalphänomenologe nicht in einem seienden idealen Raum sein Thema hat, sondern in der Idee eines Bewußtseins überhaupt, in dem eine Gegenständlichkeit in der Form der Räumlichkeit zur Gegebenheit kommen kann.«41 (IV) Phänomenologie ist selber eine Ontologie und operiert mit ontologischem, v. a. mereologischem, Vokabular. Da Husserl Ontologien als eidetische Disziplinen versteht und Phänomenologie eine »rein deskriptive Wesenslehre der immanenten Bewußtseinsgestaltungen, der im Rahmen der phänomenologischen Ausschaltung im Erlebnisstrom erfaßbaren Vorkommnisse«42 ist, folgt formal, dass Phänomenologie selbst eine Ontologie ist, nämlich diejenige regionale Ontologie, die sich mit dem Wesen von (intentionalen) Erlebnissen befasst. Anders als alle anderen Ontologien behandelt die Phänomenologie als Ontologie keine transzendenten, sondern immanente Gegenstände (Erlebnisse + deren Gehalte). Deshalb ist sie nicht in gleicher Weise vom Rätsel der Transzendenz betroffen. Dass dabei auch Mereologie ins Spiel kommt, ist eine Pointe von Husserls Bewusstseinskonzeption. Denn Husserl hat einen gleichsam ›dicken‹, einen ontologischen Be-

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Vgl. Hua III/1, § 150. Hua V, 84. Vgl. Hua XI, 222; Herv. CE. Hua III/1, 128.

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griff von Bewusstsein, demzufolge auch Erlebnisse Teile haben, insbesondere unselbständige Teile (sog. Momente).43 Erlebnisse existieren und sind Ereignisse, die zu einer besonderen Region gehören, der Region des Bewusstseins. Ein intentionales Erlebnis besteht aus zeitlichen Phasen und hat immer eine sog. »Qualität« und eine »Materie«, beides Momente. Die Qualität bestimmt die Art des Erlebnisses (z. B. Wahrnehmung), während die Materie den intentionalen Gehalt festlegt. Husserl setzt also nicht nur Mereologie voraus, sondern formuliert seine Phänomenologie der Erlebnisse explizit in mereologischem Vokabular. Dass Husserls Phänomenologie ontologische Implikationen hat, zeigt sich auch daran, dass Husserl Zeit seines Lebens zwischen partikulären (individuellen, raumzeitlichen) und universellen Entitäten unterschieden hat; seine Phänomenologie impliziert mithin mindestens eine dual-kategoriale Ontologie. (V) Metaphysik ist nicht dasselbe wie Ontologie. In der Metaphysik geht es um die faktische Struktur der Wirklichkeit (als ganzer) und ihren »Sinn«. Anders als in der Ontologie geht es in der Metaphysik nicht um essentiale Sachverhalte, sondern um die faktische Struktur der Wirklichkeit (als ganzer). Husserls Aussagen zur Metaphysik in seinen offiziellen und zu Lebzeiten publizierten Texten sind rar und kryptisch. In jedem Fall obliegt es der Metaphysik, zu bestimmen, welche Regionen auf welche Weise in dieser unserer Welt realisiert sind. Sie fragt z. B.: Welche materiellen Dinge gibt es? Was sind ihre letzten Komponenten? Zur Metaphysik gehören auch Fragen nach »Grund« und »Sinn«: Warum gelten überhaupt Naturgesetze? Warum gerade diese und nicht andere? Gibt es ein Ziel der Geschichte, ein Schicksal? etc.44 Husserl war offenbar der Ansicht, dass seine Phänomenologie zumindest zu solchen Fragen hinführt und für deren Beantwortung vorausgesetzt ist.45 Alle »vernunfttheoretischen und metaphysischen Rätsel[ ]«46 sind auf die »wunderbare Eigenheit« der Intentionalität zurückzuführen. Aus diesen fünf Thesen ergibt sich ein recht verwickeltes, mit Sicherheit jedoch kein exklusives oder konträres Verhältnis zwischen Phänomenologie, Ontologie und Metaphysik. Offenbar lassen sich von hier aus direkte Linien zu klassischen Formen der Ersten Philosophie ziehen.

Vgl. Hua XIX/1, 412: »Wenn irgendetwas, so ist ja dies evident, daß intentionale Erlebnisse Teile und Seiten unterscheidbar enthalten, und darauf allein kommt es hier an.« 44 Vgl. Hua I, § 64. 45 Vgl. Hua II, 32: »Von dem Glücken dieser Wissenschaft [der Phänomenologie] hängt offenbar die Möglichkeit einer Metaphysik ab, einer Seinswissenschaft im absoluten und letzten Sinn.« 46 Hua III/1, 188. 43

Gründe, Folgen, Fundamente – Zur Renaissance einer philosophischen Debatte Benjamin Schnieder

1. Einleitung In der Debatte zur analytischen Metaphysik nehmen seit einigen Jahren Überlegungen zu Begriffen der objektiven Priorität eine zentrale Stellung ein; insbesondere geht in der vor allem auf Englisch geführten Diskussion das Schlagwort »grounding« von Munde zu Munde.1 Das Phänomen, um das es sich dabei dreht, ist allgegenwärtig und entsprechend leicht beschrieben: Wir begegnen der Wirklichkeit nicht als ein bloß amorphes Aggregat von Tatsachen. Vielmehr verstehen wir sie als ein strukturiertes Ganzes, in dem einige Tatsachen Vorrang vor anderen haben, wodurch zwischen den Tatsachen vielfältige Abhängigkeitsbeziehungen bestehen. Einige Tatsachen verdanken sich anderen Tatsachen bzw. basieren auf ihnen. Die letzteren sind (objektive) Gründe der ersteren, diese wiederum (objektive) Konsequenzen von jenen. Solche Abhängigkeitsbeziehungen finden sich in der Tat zuhauf, und dies in philosophischen Gegenstandsbereichen unterschiedlichster Provenienz. Beispielsweise in der Handlungstheorie, wo Tatsachen über komplexe Handlungen auf Tatsachen über einfachere Handlungen basieren – wie etwa die Tatsache, dass Anna den Madison tanzt, auf der Tatsache basiert, dass Anna ihre Gliedmaßen in einer bestimmten Weise bewegt. Sie finden sich auch in der Ontologie, wo Tatsachen über die Existenz bestimmter Entitäten auf Tatsachen über andere Entitäten basieren; beispielsweise verdankt sich die Tatsache, dass ein bestimmter Banküberfall stattfindet bzw. existiert, der Tatsache, dass die an ihm beteiligten Schurken eine Bank überfallen. Auch viele (womöglich sogar alle) evaluative Tatsachen verdanken sich anderen Tatsachen – dass Paris die richtige Wahl getroffen hat, mag eine Tatsache sein; nehmen wir der Einfachheit halber an, es sei eine. Dann besteht sie nicht unabhängig von anderen Tatsachen, sondern gründet sich darin, dass Aphrodite die Schönste war. Um ein letztes Beispiel zu geben, finden sich besagte Abhängigkeitsbeziehungen auch in der rein formalen Disziplin der Logik, wo beispielsweise disjunktive Tatsachen – wie die, dass Sokrates ein Philosoph oder ein Panzernashorn ist – in ihren zutreffenden Disjunkten gegründet sind – im Beispiel: dass Sokrates ein Philosoph ist. Insofern diese vielfältigen Abhängigkeitsbeziehungen eine wesentliche Rolle für philosophische Fragestellungen unterschiedlichster Couleur spielen, ist ein Verständnis Repräsentativ zur Debatte siehe z. B. J. Schaffer: On What Grounds What, in: Metametaphysics, ed. by D. Chalmers et al., Oxford 2009, 347–83; G. Rosen: Metaphysical Dependence: Grounding and Reduction, in: Modality, ed. by B. Hale & A. Hoffman, Oxford 2010, 109–36; sowie K. Fine: Guide to Ground, erscheint in: Metaphysical Grounding, ed. by F. Correia & B. Schnieder, Cambridge. 1

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davon, was eine solche Abhängigkeit ausmacht, unabdingbar für die Philosophie. Die jüngere Debatte zu solchen Abhängigkeiten, also zu Grund-Folgebeziehungen bzw. zum grounding, ist von daher rückhaltlos begrüßenswert.2 Einzig eine Kritik könnte man an ihr äußern: Die Debatte präsentiert sich oft in einer, wenn nicht geschichtsblinden, so zumindest doch geschichtsignoranten Weise. Sie präsentiert sich als jung und neu, wobei sie mitunter verkennt, dass es sich bei ihr tatsächlich um eine philosophische Renaissance mit weit zurückreichenden Wurzeln in der Philosophiegeschichte handelt. Dieser Aufsatz ist zwar systematisch angelegt, soll aber zugleich der Geschichtsvergessenheit der Diskussion vorbeugen. Zwar wird in die gegenwärtige Debatte eingeführt, allerdings geschieht dies unter Rückgriff auf einige der geschichtlichen Quellen, die als ihre rechtmäßigen Vorläufer angesehen werden können. Insbesondere wird eine Konzeption von Gründen vorgestellt, die sich stark an die wegweisenden Arbeiten Bernard Bolzanos anlehnt. Diese Konzeption wird dann, im letzten Abschnitt des Aufsatzes, auf das Unterfangen der Ersten Philosophie bezogen; insofern die Debatte über Gründe ihre Berechtigung hat, so das Schlussplädoyer des Aufsatzes, hat es auch die Erste Philosophie, richtig verstanden. Es sei noch angemerkt, dass dieser Aufsatz programmatisch angelegt ist und an vielen zentralen Stellen summarisch bleiben muss. Es soll bestenfalls die Skizze zu einer Theorie der Grund-Folgebeziehung gezeichnet werden, ohne weit ins einzelne Detail vorzudringen. Auch sollen lediglich Hinweise für eine noch zu verfassende Ideengeschichte der Begrifflichkeit gegeben werden, nicht aber soll eine solche Geschichte proper entwickelt werden. Und schließlich, wenn die Sprache auf die Erste Philosophie kommt, soll das Programm einer solchen Philosophie lediglich abgesteckt, mitnichten aber durchgeführt werden.

2. Eine Stippvisite in die Philosophiegeschichte 2.1. Voraussetzungen. Um eine historische Zuordnung überhaupt im Ansatz vornehmen zu können, muss ein gewisses Verständnis vom Begriff des Grundes vorausgesetzt werden. Die Eingangsworte dieses Aufsatzes sollten dafür einen Rahmen abgesteckt haben. Es geht um eine objektive Grund-Folgebeziehung, welche unsere Wirklichkeit durchzieht und welche die Tatsachen in eine Ordnung der Abhängigkeit und Priorität bringt. Dabei sollte zunächst ein möglichst weites Verständnis von Tatsachen veranschlagt werden, das beispielsweise auch Raum für die fregesche Ansicht lässt, Tatsachen seien einfach Wahrheiten (wahre Propositionen). 2.2. Platon und Aristoteles. Der Begriff des Grundes spielt bereits in der antiken Philosophie eine wichtige Rolle und tritt sowohl bei Platon wie auch bei Aristoteles deutlich in Erscheinung. Dies kann hier zwar nur in groben und wenigen Zügen umrissen werDa die wörtliche Übersetzung von »grounding« doch gar zu sehr nach Heimwerkerbedarf klingt, wird hier bis auf Weiteres das etwas umständliche »Grund-Folgebeziehung« verwendet. 2

Gründe, Folgen, Fundamente

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den, doch schon damit sollte hinreichend deutlich werden, dass bei Platon und Aristoteles für die gegenwärtige systematische Debatte höchst relevante (und m. E. nicht etwa bloß für den Philosophiehistoriker interessante) Quellen vorliegen. Im Euthyphron-Dialog entwickelt Platon ein Gespräch zwischen Sokrates und dem Namensgeber der Schrift. Euthyphron versteht sich selber als ein Kenner des Göttlichen und damit als ein Experte in Sachen Frömmigkeit. Sokrates greift dies auf und verwickelt ihn in eine Diskussion der Frage, was das Fromme eigentlich sei; eine Diskussion, die wie so oft aporetisch endet und Euthyphrons vermeintliches Wissen als trügerisch entlarven soll. Dabei macht Sokrates unter anderem auch Sinn und Absicht seiner Leitfrage – »Was ist das Fromme?« – klarer. Zunächst verkennt Euthyphron die Sokrates interessierende Dimension frappant, da er lediglich mit einer exemplarischen Antwort aufwartet und erklärt, fromm sei, was er gerade tue (einen Mörder verfolgen, selbst wenn es sich bei ihm um den eigenen Vater handelt). Sokrates weist die Antwort nicht als falsch, sondern als das Ziel der Frage verfehlend zurück. Denn er möchte wissen, was Dinge zu frommen Dingen macht, bzw. worin es besteht, fromm zu sein. In Sokrates’ eigenen Worten: »[…] ich habe nicht von Dir verlangt, mir eine oder zwei von den vielen frommen Handlungen anzugeben, sondern eben das eine Merkmal, durch das alles Fromme fromm ist. Denn Du hast doch gesagt, dass durch ein einzelnes Merkmal alles Unfromme unfromm ist, und das Fromme fromm.« (Stephanus Paginierung 6d–e)3 Diese Reformulierung seines Anliegens zeigt, dass Sokrates’ ursprüngliche Frage eine explanatorische Pointe hat. Es geht darum, zu wissen, wodurch oder warum etwas Frommes fromm ist, bzw. zu wissen, aus welchem Grund eine fromme Sache fromm ist.4 Bei dem erfragten Grund geht es dabei nicht um eine kausale Beziehung im modernen Sinne des Wortes, also nicht um eine Ursache-Wirkungsbeziehung zwischen aufeinanderfolgenden Ereignissen. Und zugleich geht es Platon nicht um eine bloß erkenntnistheoretische Frage; es geht um einen Grund der Sache nach, nicht einen Grund für eine Meinung. Platon macht mit dieser Passage einen höchst wichtigen und weitreichenden Punkt zur philosophischen Methodologie. Sokratische Fragen der Bauart »Was ist F-heit?« zielen, in ihrer anspruchsvollen und philosophisch interessantesten Lesart, nicht bloß auf die Angabe hinreichender und notwendiger Bedingungen dafür ab, ein F zu sein. Vielmehr zielen sie auf den objektiven Grund ab, aus dem etwas ein F ist. Angemes-

Zwei Bemerkungen zur Übersetzung: (i) Es wurde bewusst »Merkmal« anstelle des wörtlicheren »Idee« gewählt, da die Passage nicht ohne Weiteres an die spätere Ideenlehre Platons zu assimilieren ist, wozu die Verwendung von »Idee« Anlass geben könnte. (ii) Die kursivierten Phrasen übersetzen Ausdrücke im instrumentalen Dativ; vgl. R. E. Allen: Plato’s ›Euthyphro‹ and the Earlier Theory of Forms. London 1970, auf S. 123, sowie T. E. Blackson: Plato and the Senses of Words, in: Journal of the History of Philosophy 29 (1991), 169–82, auf S. 172. 4 Vgl. z. B. Allen: ebd., 120–25, und Blackson: ebd., 172 f., sowie R. Sharvy: Euthyphro 9d–11b: Analysis and Definition in Plato and Others, in: Noûs 6 (1972), 119–37. Alle drei betonen, dass Sokrates’ Suche nach einer Definition von F-heit mit der Frage einhergeht, was etwas zu einem F macht bzw. wieso ein F ein F ist. 3

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sene Antworten auf Sokratische Fragen sollten objektive Prioritäten oder Gründe offenlegen. Da Sokratische Fragen aber in jeder philosophischen Subdisziplin eine zentrale Stellung einnehmen, ist ein Verständnis der Grund-Folgebeziehung essentiell für die Methodik der Philosophie im Allgemeinen.5 Auch Aristoteles hat die Zentralstellung des hier einschlägigen Begriffs vom Grund erkannt. Er schlägt sich in Aristoteles’ einflussreicher Unterscheidung der vier Arten von aitiai (in klassischer, aber irreführender Übersetzung: Ursachen) nieder, wo Aristoteles neben Ursachen im heutigen Wortsinn andere, nicht-kausale, aber dennoch objektive Formen von Gründen spezifiziert. Angesichts der Omnipräsenz, die Aristoteles Grund-Folgebeziehungen zuschreibt, und angesichts des wesentlichen Ranges, den er der Erforschung der aitiai zuweist, kann man das Bild einer durch Gründe strukturierten Wirklichkeit mit Fug und Recht als ein durch Aristoteles geprägtes bezeichnen.6 Freilich füllt die Literatur zu Aristoteles’ Distinktion ganze Bücher, weshalb Abstand davon genommen sei, sich in der gebotenen Kürze näher zu der komplexen Diskussionslage zu äußern. Hier sei daher nur noch auf ein bestimmtes aristotelisches Beispiel eines Grund-Folgeverhältnisses hingewiesen, das in der zeitgenössischen Debatte über den Wahrheitsbegriff große Prominenz erlangt hat. Aristoteles stellte zur Wahrheit das Folgende fest: »Du bist nicht deshalb blass, weil wir das wahre Urteil fällen, dass Du es bist. Im Gegenteil: Weil Du blass bist, sagen wir, die es behaupten, die Wahrheit«.7 Der philosophische Kerngehalt des Beispiels lässt sich offenbar verallgemeinern. Er kann durch ein Schema ausgedrückt werden; für wahre Einsetzungen von »p« gilt: (1) Dass p, ist wahr, weil p. (2) Nicht aber: p, weil es wahr ist, dass p. Aristoteles bringt hier, so die fast einhellige Meinung in der Wahrheitsdebatte, eine wichtige Einsicht über die Wahrheit zum Ausdruck.8 In einem Slogan: Die Welt bestimmt die Wahrheit (und nicht umgekehrt).

Bernard Bolzano geht in seinem Aufsatz »Was ist Philosophie?« (1838, in: Bernard Bolzano Gesamtausgabe, Stuttgart 1969 ff., Band II A 12/3, 13–33) sogar noch weiter, indem er das Philosophieren selbst als die Beschäftigung mit Gründen definiert. Die Philosophie bestimmt er entsprechend nicht über eine Thematik, sondern über eine Herangehensweise, über das erkenntnistheoretische Interesse an den Gründen der Dinge. – Auch als Bewunderer Bolzanos kann man sich freilich fragen, ob er nicht über das Ziel hinausschießt, wenn er im Endeffekt jede Beschäftigung, die nicht auf die Erkenntnis von Grund-Folgebeziehungen gerichtet ist, aus der Sphäre der Philosophie hinausdefiniert. (Ebenso schoss Aristoteles über das Ziel hinaus, wenn er anscheinend in seiner Physik II 3 vertrat, es liege nur dort Wissen über einen Sachverhalt vor, wo man Gründe desselben kennt. Dies bemerkt Bolzano zurecht in § 14 der Einleitung zur Größenlehre. Freilich sind Aristoteles’ entsprechende Worte durchaus auslegungsbedürftig.) 6 Vgl. hier auch das klassische Wissenschaftsmodell, das W. de Jong und A. Betti Aristoteles zuschreiben; siehe ihr: The Classical Model of Science: a millennia-old model of scientific rationality, in: Synthese 174 (2010), 185–203. 7 Metaphysik 1051b6–8. 8 Wobei umstritten ist, ob und wie man für diese Einsicht argumentieren kann. Siehe hierzu z. B. W. Künne: Conceptions of Truth, Oxford 2003, 150–57; J. Hornsby: Truth Without Truthmaking Entities, 5

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Auf Aristoteles’ Einsicht zur Wahrheit werde ich später in diesem Aufsatz noch einmal zu sprechen kommen. An dieser Stelle sei zunächst nur noch eine einfache, aber wichtige Beobachtung angestellt: Aristoteles gibt in seinem eigenen Beispiel einen Grund für etwas an, nämlich den Grund für die Wahrheit einer bestimmten Aussage bzw. Proposition. Einen solchen Grund kann man, dies veranschaulicht die Übersetzung von Aristoteles’ Worten, durch die Verwendung eines »weil«-Satzes angeben. Ebenso wie in Aristoteles’ Beispiel trägt der Satzverknüpfer »weil« auch in Sokrates’ Argument gegen Euthyphrons Definition des Frommen die zentrale Last; denn Euthyphron gesteht Sokrates eine Reihe von »weil«-Aussagen zu (insbesondere die, dass die frommen Dinge deshalb von den Göttern geliebt werden, weil sie fromm sind), die zusammengenommen mit seiner Definition unvereinbar sind.9 Diese Verbindung vom Begriff des Grundes und dem natürlichsprachlichen Junktor »weil« ist beachtenswert; sie stellt eine wichtige Quelle an Intuitionen und Überlegungen für systematische Untersuchungen zur Theorie von Grund und Folge dar. Eine solche Theorie kann (m.E. sollte sie es sogar) mindestens in Teilen eine Theorie zur Bedeutung und Funktion des »weil« sein. 2.3. Der Satz vom zureichenden Grunde. Ein Sprung durch etliche Jahrhunderte führt uns zum sogenannten Satz vom zureichenden Grunde, einem philosophischen Prinzip, über das in der Tradition des Rationalismus eine reichhaltige Diskussion stattfand. Überwiegend wurde das Prinzip für wahr gehalten und sogar oft als eines der höchsten Denkgesetze angesehen. Es sei freilich gleich hinzugefügt, dass keine wirkliche Einigkeit bestand, was der Satz vom Grunde eigentlich genau behauptet. Genau genommen sollte man angesichts der Diskussionslage wohl besser sagen, dass es eine Familie von häufig nicht sauber unterschiedenen Prinzipien gibt, die, gekleidet in verschiedene Formulierungen, unter dem Titel des Satzes vom Grunde verhandelt wurden.10 Insofern der Satz in seiner knappsten Form »Alles hat einen zureichenden Grund« lautet, betreffen die Unterschiede tatsächlich jede wesentliche Komponente von ihm: Erstens die Reichweite des Satzes (bezieht sich das »alles« tatsächlich auf restlos alles?), zweitens den einschlägigen Begriff eines Grundes, sowie drittens den einschlägigen Begriff des Zureichens. Insbesondere die Diskussion um verschiedene Bedeutungen von »Grund« kann für ein Verständnis des zentralen Begriffs in der zeitgenössischen metaphysischen Debatte um Gründe und Folgen lehrreich sein. In der Tat scheint sich unter den verschiedenen Deutungen, die dem Terminus »Grund« im Rationalismus verliehen wurden, auch eine zu finden, die sich mit dem Begriff aus der zeitgenössischen Debatte mindestens

in: Truthmakers: The Contemporary Debate, ed. by H. Beebee & J. Dodd, Oxford 2005, 33–47; G. Rodriguez-Pereyra: Why Truthmakers, ebd., 17–31. 9 Das wesentliche Argument findet sich auf den Stephanus-Seiten 10d12–11a6. Eine überzeugende Rekonstruktion liefert Sharvy: Euthyphro 9d–11b. 10 So auch eine der zentralen Thesen von C. Crusius: De usu et limitibus principii rationis determinantis vulgo sufficientis, Leipzig 1743, sowie von A. Schopenhauer: Über die vierfache Wurzel das Satzes vom zureichenden Grunde, Rudolstadt 1813.

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partiell deckt. Dann aber sind auch die entsprechend gedeuteten Versionen des Satzes vom Grunde für die Debatte relevant; sie sind Prinzipien über ihren Grundbegriff. Betrachten wir einmal zwei Distinktionen, die im rationalistischen Diskurs halbwegs Standard waren. Die erste teilt zwei Sorten von Gründen nach der Art der Dinge ein, denen ein Grund zugesprochen wird. Einerseits gibt es Gründe von Wahrheiten, anderseits Gründe von konkreten Dingen (also solchen, die sich im raumzeitlichen und kausalen Gefüge aufhalten, wie es Substanzen und Ereignisse tun). Diese letzteren sind entweder Ursachen, oder stehen zu Ursachen zumindest in einem innigsten Verhältnis. Die zweite Distinktion benutzt einen anderen Aspekt zur Unterscheidung; es geht um den Status, den die Gründe haben: Einerseits gibt es bloße Erkenntnisgründe (Gründe unserer Erkenntnis der Sache), andererseits objektive Gründe (Gründe der Sache selbst). Bisweilen wurden die beiden Distinktionen weitgehend gleichgesetzt und als bloß eine Unterscheidung mit zwei Titeln behandelt; so dass dann Gründe von Wahrheiten mit Erkenntnisgründen identifiziert wurden, objektive Gründe hingegen mit Gründen von konkreten Dingen. Doch hier erhoben einige Philosophen berechtigte Einwände. So betonten Christian Crusius und Arthur Schopenhauer, dass auch im Felde der Mathematik die Existenz von objektiven Gründen anzuerkennen sei.11 Solche objektiven Gründe können keine Gründe konkreter Dinge sein, da die Mathematik keine Wissenschaft von konkreten Dingen, sondern von abstrakten Formen und Strukturen ist. Gegen die Gleichsetzung von Gründen einer Wahrheit mit Erkenntnisgründen hingegen machte sich der junge Immanuel Kant stark.12 In seiner Frühschrift Nova dilucidatio betont er, dass wir auch Wahrheitsgründe in dem Sinne anerkennen müssen, dass sie eine Wahrheit erst hervorbringen. Die Erkenntnisgründe einer Wahrheit aber bringen diese in der Regel nicht hervor, sondern setzen sie vielmehr als ihren Erkenntnisgegenstand bereits voraus. Vereint man die Überlegungen von Crusius, Schopenhauer und Kant, so ergibt sich ein Plädoyer für eine Art von Gründen (oder vielleicht für Gründe in einer Bedeutung des Wortes), die zwar objektiv und also von unserem Erkennen unabhängig sind, die aber nicht die kausale Struktur der raumzeitlichen Welt betreffen. Diese Charakterisierung scheint wie gemacht für den Begriff des Grundes in der zeitgenössischen Debatte. Wie steht es nun um den Satz vom Grunde? Beschränken wir uns auf dessen Anwendung auf Wahrheiten (wahre Propositionen), so besagt er, dass jede wahre Proposition einen objektiven Grund ihrer Wahrheit hat. Allerdings ist diese These auf zwei substantiell verschiedene Weisen auslegbar, weil nämlich die Rede vom Grund der Wahrheit einer Proposition mehrdeutig ist. Es kann entweder ein Grund dafür gemeint sein, dass eine gegebene Proposition die Eigenschaft der Wahrheit hat, oder es kann ein Grund dafür gemeint sein, dass es sich so verhält, wie es die wahre Proposition besagt. Betrachten wir zur Verdeutlichung die wahre Proposition, dass Schnee weiß ist. Mit einem Grund ihrer Wahrheit kann etwas gemeint sein, das in einem Satz der Form »Es ist wahr, dass Schnee weiß ist, weil …« angegeben wird. Es handelt sich dann um einen 11 12

Ebd. Siehe I. Kant: Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio, 1755.

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Grund dafür, dass die besagte Proposition eine bestimmte Eigenschaft hat, nämlich wahr zu sein. Oder es kann etwas gemeint sein, das in einem Satz der Form »Schnee ist weiß, weil …« angegeben wird. Hierbei handelt es sich um einen Grund dafür, dass Schnee eine bestimmte Eigenschaft hat, nämlich weiß zu sein. Je nach Lesart werden somit Gründe für unterschiedliche Sachverhalte spezifiziert. Diese hängen eingestandenermaßen zusammen (die Proposition, dass Schnee weiß ist, ist repräsentational und handelt vom Schnee). Aber nicht alles, was Grund für den einen ist, ist auch Grund für den anderen. Dass Schnee weiß ist, ist Grund dafür, dass die Proposition, dass Schnee weiß ist, wahr ist. Doch dass Schnee weiß ist, ist kein Grund dafür, dass Schnee weiß ist. Es handelt sich bei der Weißheit des Schnees nicht um einen mysteriösen Grund ihrer selbst. Wer Aristoteles’ Einsicht zur Wahrheit akzeptiert, sollte somit den Satz vom Grunde in einer Lesart unterstützen: Zu jeder wahren Proposition gibt es einen Grund dafür, dass sie wahr ist. Doch gemeint ist der Satz in der Tradition für gewöhnlich in der zweiten, weitergehenden Lesart, in der es zu jeder Eigenschaft eines beliebigen Gegenstandes einen Grund dafür geben soll, dass er sie hat. Dafür, dass der Satz in dieser Lesart gilt, wurden im Rationalismus vielerlei Argumente entsonnen, die allerdings (soweit dem Autor dieses Aufsatzes bekannt) allesamt wenig überzeugend sind. Und auch wenn Rationalisten den Satz bisweilen für unmittelbar einsichtig erklärten, scheint man durchaus sinnvoll daran zweifeln zu können, dass er zutrifft. Die Sache kann nicht ohne Weiteres entschieden werden. Doch genug an dieser Stelle vom Satz des Grundes; ich komme später auf ihn noch einmal kurz zu sprechen (und Alexander Steinberg wird ihn ausführlicher in seinem Koreferat zu diesem Aufsatz thematisieren). Für den derzeitigen Zweck sollte die erfolgte kurze Diskussion bereits genügen. Denn sie macht deutlich, dass die rationalistische Tradition durchaus als Vorläufer der gegenwärtigen Debatte um Gründe und Folgen zur Kenntnis genommen werden sollte; eine ideengeschichtliche Aufarbeitung der zeitgenössischen Diskussion muss diese materialreiche Tradition und ihre Folgen entsprechend unter die Lupe nehmen. 2.4. Bernard Bolzano. In § 162 seines Hauptwerks, der Wissenschaftslehre, bemerkt Bolzano: »Unter Wahrheiten herrscht […] ein sehr merkwürdiges Verhältnis, vermöge dessen sich einige derselben zu andern als Gründe zu ihren Folgen verhalten. […] Da sich die Benennung Abfolge für das Verhältnis einer Folge zu ihrem Grunde gleichsam von selbst darbietet: so erlaube ich mir zu sagen, daß Wahrheiten, die sich zu andern, wie die Folge zu ihrem Grunde verhalten, in dem Verhältnisse einer Abfolge zu denselben stehen.«13 Dem so eingeführten Begriff der Abfolge widmet Bolzano etwas später den Großteil vom Dritten Hauptstück seiner Untersuchung (WL II, §§ 198–222). Dort präsentiert er eine Vielzahl von Überlegungen, Beobachtungen und Distinktionen. Auch wenn seine Ausführungen seiner eigenen Einschätzung nach viele Fragen offen lassen und ein weiter zu verfolgendes Programm abgeben, so stellt Bolzanos Auseinanderset13

B. Bolzano: Wissenschaftslehre (4 Bände), Sulzbach 1837. Fortan: WL.

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zung doch in Sachen Detailgenauigkeit, Umsichtigkeit und Einsicht alle mir bekannten vorhergehenden Versuche in den Schatten. Tatsächlich ist sie überdies trotz ihres Alters keinesfalls angestaubt. Vielmehr kann die gegenwärtige Debatte leicht den Eindruck machen, sie setze just dort an, wo Bolzano aufgehört hat, und führe das von ihm angelegte Programm direkt weiter. Im Anschluss an diesen historischen Abschnitt des Aufsatzes sollen daher wesentliche Züge von Bolzanos Theorie des Grundes sowie einige sinnvolle Ergänzungen präsentiert werden. Freilich sind Bolzanos Werke von seinen Zeitgenossen kaum zur Kenntnis genommen worden und auch heute nur einer eher überschaubaren philosophischen Gemeinde bekannt. Dass Bolzanos Arbeiten zum Grund in der heutigen Debatte abgebildet zu sein scheinen, mag von daher überraschen. Zwar könnte es sich um einen echten philosophischen Zufall handeln, doch das ist eine sicherlich unwahrscheinliche Hypothese. Eher noch könnten die Übereinstimmungen, wenn sich tatsächlich keine Linie von Bolzanos Werken zur gegenwärtigen Diskussion verfolgen ließe, für die starke Plausibilität der Inhalte sprechen. Doch ist die m.E. beste Erklärung für die stille Renaissance von Bolzanos Ansätzen, dass diese sich auf indirekten Pfaden ihren Weg in zeitgenössische Debatte gebahnt haben.14 2.5. Eine Latenzperiode. Wie dem auch sei, Bolzanos Konzeption blieb für lange Zeit ungewürdigt, und auch ansonsten ebbte die Forschung zum Begriff des Grundes ab – dadurch erst kann ja die gegenwärtige Debatte neuartig wirken. Für mehr als hundert Jahre war der Begriff bestenfalls im Hintergrund verschiedener Diskussionen präsent oder kam nur vermengt mit anderen Begrifflichkeiten zur Sprache. Die Ursachen hierfür waren vielfältig. Vermuten lässt sich beispielsweise, dass der Begriff gerade in der analytischen Philosophie, wo derzeit die Auseinandersetzung mit ihm fruchtbar stattfindet, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts auf Ablehnung stieß. Er konnte Metaphysikkritikern allzu leicht als Produkt eines dunklen metaphysischen Zeitalters erscheinen, gleichviel, ob diese im Einflussbereich des Wiener Kreises oder der ordinary language Philosophie Cambridge-Oxfordscher Ausprägung standen. Andererseits wurde die Analyse von »weil«-Aussagen (wie erwähnt ein Standardmittel, um den Begriff des Grundes ins Spiel zu bringen) zusammen mit dem Begriff der Erklärung an die Wissenschaftstheorie delegiert. Dort übte dann Hempels und Oppenheims

Dies kann vermittelt durch die Bolzano-Forschung geschehen sein, in der die Abfolgekonzeption naturgemäß zur Kenntnis genommen wurde. Ein naheliegendes Bindeglied zur aktuellen groundingDebatte wäre etwa das um die österreichische Philosophie bemühte philosophische Gespann um Kevin Mulligan, Peter Simons und Barry Smith. Konkrete Bedeutung könnte dabei Armin Tatzel zukommen, der in einem Projekt von Kevin Mulligan mit Arbeiten zu Bolzanos Abfolgekonzeption beschäftigt war. Material aus seinen Arbeiten stellte Tatzel in den Jahren 2000–2002 auf mehreren Konferenzen vor, unter anderem in Anwesenheit von Kit Fine, Jonathan Lowe, Fabrice Correia und dem Autor dieses Aufsatzes, die sich alle stark an der gegenwärtigen Debatte beteiligen. Siehe A. Tatzel: Bolzano’s Theory of Ground and Consequence, in: Notre Dame Journal of Symbolic Logic 43 (2002), 1–25, sowie: Proving and Grounding – Bolzano’s Theory of Grounding and Gentzen’s Normal Proofs, erscheint in: History and Philosophy of Logic. 14

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DN-Modell einen langanhaltenden Einfluss aus, von dem heute doch einige Philosophen, ohne die Leistungen Hempels schmälern zu wollen, sagen würden, er sei einem echten Verständnis des Begriffs womöglich eher entgegengestanden. Und als die Metaphysik schließlich unter anderem durch den Siegeszug der Modallogik wieder salonfähig wurde, war es gang und gäbe, metaphysische Begriffe wie den der Essenz oder den der Supervenienz rein modal aufzufassen, was diesen Begriffen letztlich nicht gerecht wird und den klaren Blick auf sie verstellte. Dies sind Andeutungen, die verfolgt werden müssten, um die gegenwärtige Debatte angemessen historisch zu positionieren und die Entwicklung der philosophischen Beschäftigung mit dem Begriff des Grundes nachzuzeichnen. Doch dieses Programm kann hier nicht ausgeführt werden. Es ist neben ihrer Entwicklung ja auch noch die Sache selbst zu besprechen; sie soll nun in den Mittelpunkt treten.

3. Ansätze einer Theorie 3.1. Gründe und Folgen. Wie angekündigt, soll nun skizzenhaft eine Theorie der Abfolge (also der Grund-Folgebeziehung) vorgestellt werden, die sich vor allem an Bolzanos Arbeiten orientiert, aber diese teilweise auch ergänzt. Zugunsten eines breiter angelegten Bildes wird über viele Feinheiten hinweggegangen. Auch wird zur Skizze gehören, einige wichtige Fragen bloß zu markieren, zu denen eine Theorie Stellung nehmen sollte, ohne sie aber hier zu beantworten. Ein erster Schritt in der Theoriebildung kann sinnvollerweise darin bestehen, die Relata der Abfolgebeziehung kategorial zu bestimmen.15 Bei Bolzano spielen Wahrheiten an sich, also wahre Propositionen, diese Rolle – und zwar nur diese.16 Der Zusatz macht einen Unterschied zwischen Bolzano und den Rationalisten deutlich. Letztere sprachen zwar auch von Wahrheiten als Gründen, aber nicht nur; bisweilen bezeichneten sie auch gänzlich andere Dinge (die keine satzartige Struktur aufweisen) als Gründe, wie etwa Ereignisse oder Substanzen. Bolzano steht damit der zeitgenössischen Debatte deutlich näher als die Rationalisten.17 Mit gutem Grund: Zwar können z. B. Substanzen und Ereignisse durchaus in Prioritätsbeziehungen zueinander stehen, die mit der Abfolgebeziehung zusammenhängen. Doch können sie im selben Sinne Grund von etwas sein, wie eine Wahrheit Grund von etwas sein kann? Bolzano würde hier eine Trennung zweier verschiedener Prioritätsbeziehungen vorschlagen, die sich in ihren Relata unterscheiden, und deren ZusammenVorausgesetzt, wir haben es tatsächlich mit einer Beziehung zu tun; Fine z. B. spricht zwar (in: Guide to Ground) von einer Abfolgebeziehung, betrachtet dies aber potentiell als bloß bequeme Redeweise. Denn er rechnet damit, dass das zugrundeliegende Phänomen nicht-relational ist. Obgleich diese Position m. E. sehr ernst zu nehmen ist, kann sie hier aus Platzgründen nicht weiter diskutiert werden. 16 Vgl. WL II, § 203. 17 Einzig Schaffer (in: On What Grounds What) steht in dieser Frage auf Seiten der Rationalisten und konzipiert die grounding-Relation kategorieneutral, so dass sie ebenso Tatsachen wie auch Dinge beliebiger Kategorien verbinden kann. 15

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hang noch zu klären wäre (einige entsprechende Vorschläge finden sich weiter unten in Abschnitt 3.5). Nun weicht die gegenwärtige Standardmeinung aber zumindest verbatim von Bolzanos Position ab, indem sie Tatsachen, nicht Wahrheiten, als die Relata der Abfolgebeziehung hinstellt. Je nachdem, was mit »Tatsache« hier gemeint ist, mag dieser Dissens substantiell oder nur eine Sache der Nomenklatur sein; denn weiter oben wurde ja bereits die fregesche Auffassung erwähnt, dass Tatsachen einfach wahre Propositionen sind. Viele Philosophen sehen allerdings einen Unterschied zwischen wahren Propositionen und Tatsachen darin, dass die ersteren die Welt bloß repräsentieren, während die letzteren zur Welt gehören. Häufig (wenn auch nicht zwangsläufig) geht diese Unterscheidung damit einher, dass Tatsachen gröber als Propositionen individuiert werden, so dass zwei verschiedene Propositionen dieselbe Tatsache repräsentieren können. Zwischen Bolzano und jemandem, der die Relata der Abfolgebeziehung als grob individuierte Tatsachen ansieht, besteht nun in der Tat ein Dissens. Freilich könnte er salomonisch behoben werden. Wenn man sowohl fein individuierte Wahrheiten als auch gröber individuierte Tatsachen anerkennt, so könnte man auch zwei eng verwandte Abfolgebeziehungen anerkennen, welche die Gebiete der Wahrheiten und der Tatsachen in paralleler Weise strukturieren, sich aber aufgrund der verschiedenen Individuation ihrer Relata an gewissen Stellen unterscheiden. Der genaue Zusammenhang der beiden Beziehungen wäre dann selber erforschenswert; insbesondere bliebe zu klären, ob zwischen den beiden Abfolgebeziehungen selbst eine Abhängigkeit besteht, ob eine der Beziehungen objektive Priorität vor der anderen hat. Doch da es zur befriedigenden Behandlung dieser Fragen einer eigenen Abhandlung bedürfte, werde ich für den weiteren Verlauf dieses Aufsatzes die Grund-Folgerelation wie bisher unterschiedslos auf wahre Propositionen und Tatsachen beziehen (wobei ich Tatsachen stillschweigend als eher fein individuiert begreife). 3.2. Analysierbarkeit? Bei den für ihre Anliegen zentralen Begriffe versuchen sich Philosophen bekanntlich gerne an einer Begriffsanalyse. So auch Bolzano im Falle des Begriffs der Abfolge. Im Ergebnis kommt er dabei allerdings zur Vermutung, dass es sich bei dem Begriff um einen basalen oder einfachen handelt – also einen, der nicht aus einfacheren Begriffen zusammengesetzt ist und der daher auch nicht weiter analysiert werden kann.18 Freilich bekennt Bolzano offen, dass es sich hierbei um eine Vermutung seinerseits handelt. In der Tat scheint es schwierig, streng nachzuweisen, dass ein Begriff nicht analysierbar sei. Denn wie anders als bloß induktiv sollten wir einen solchen Nachweis führen? Wir können in gewöhnlichen Fällen, so scheint es, nichts anderes tun, als nach plausiblen Kandidaten für eine Analyse zu sinnen und diese fallweise auszuschließen. Doch selbst, wenn die fallweisen Argumente überzeugen, verbleibt ja stets die Möglichkeit, dass man ausgerechnet die tatsächlich gültige Analyse schlicht übersehen und

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Siehe WL II, § 202, und vgl. aber auch § 221, Anm.

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daher gar nicht in Betracht gezogen hat. Diese Möglichkeit räumt Bolzano im Falle des Abfolgebegriffs ein. Freilich teilen heutzutage diverse Autoren Bolzanos Vermutung zur Unanalysierbarkeit des Abfolgebegriffs;19 und der Autor dieses Aufsatzes sieht sich jedenfalls außer Stande, einen passablen Analyseversuch vorzuschlagen, der dieser Vermutung entgegenstehen könnte. Aber was, wenn Bolzano mit seiner Vermutung recht hat? Würde dies in irgendeiner Weise dafür sprechen, den Begriff zu meiden und ihn aus philosophischen Kontexten zu verbannen? Nein. Dass ein Begriff nicht analysierbar ist, bedeutet nicht, dass er geheimnisvoll oder dunkel ist, oder gar, dass wir nicht über ihn verfügen können. Eher schiene die Behauptung mysteriös, dass wir lediglich über analysierbare Begriffe verfügen. Denn das würde ja bedeuten, dass es zu jedem Begriff einfachere gibt, aus denen er sich zusammensetzt. Insofern würde ein Begriff sich endlos in andere Begriffe zergliedern lassen, und wir müssten zugestehen, dass sobald wir einen komplexen Begriff beherrschen, wir gleich unendlich viele Begriffe beherrschen: diejenigen Begriffe, in die der fragliche Begriff im ersten Schritt einer Analyse zerfällt; sodann diejenigen, in welche die Begriffe aus dem ersten Analyseschritt zerfallen; sodann diejenigen … (und so weiter, ad nauseam). Aber auch, wenn man zugibt, dass es unanalysierbare Begriffe gibt, könnte man meinen, diese hätten in philosophischen Auseinandersetzungen wenig verloren. Denn beim Versuch der Kommunikation beabsichtigt man doch, seinem Gegenüber mitzuteilen, welche Begriffe oder begriffliche Verbindungen (Propositionen) man gerade im Sinn hat. Und hindert einen nicht die Unanalysierbarkeit eines Begriffs daran? Wiederum lautet die Antwort: Nein. Dass ein Begriff einfach ist, bedeutet nicht, dass keinerlei Verständigung über ihn möglich ist.20 Man kann ihn für eine solche beispielsweise von Begriffen abgrenzen, mit denen er leicht verwechselbar ist, man kann ihn positiv mit anderen Begriffen in Zusammenhang setzen, oder man kann ihn durch ein System von Prinzipien systematisieren. All dies erweist sich im Fall des Abfolgebegriffs als fruchtbar. 3.3. Abgrenzung von verwandten Begriffe. Ein wichtiger Schritt in der Verständigung besteht sicherlich darin, den Begriff des objektiven Grundes von dem Begriff eines bloßen Erkenntnisgrunds zu unterscheiden. Diese schon in der Rationalismus-Debatte gängige Abgrenzung nimmt auch Bolzano vor.21 Doch darüber hinaus kontrastiert er den Begriff des Grundes vor allem auch mit dem der Ableitbarkeit.22 Unter »Ableitbarkeit« versteht Bolzano einen Begriff, dem man sich grob annähern kann, indem man an den üblichen Begriff der logischen Folge denkt: Eine Proposition folgt aus anderen, wenn sie unter allen Umständen wahr ist,

Siehe z. B. die Aufsätze von Fine, Rosen und Schaffer, auf die in Fußnote 1 verwiesen wurde. Weshalb Bolzano zwischen der Erklärung eines Begriffs (verstanden als seiner Analyse) und einer bloßen Verständigung über ihn unterscheidet; siehe etwa WL IV, § 668. 21 Siehe z. B. WL II, § 198. 22 Siehe z. B. WL II, § 162, § 198. 19 20

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unter denen jene wahr sind. Freilich ist dies wirklich nur eine Annäherung an Bolzanos Begriff.23 Doch für die gegenwärtigen Zwecke sollte sie ausreichen. Bei der Ableitbarkeit handelt es sich somit um eine Beziehung zwischen Propositionen. Sie ist in dem Sinne objektiv, dass sie unabhängig davon besteht, ob jemand sie erkennt, und ob jemand bestimmte kognitive Prozesse durchmacht (also aktiv etwas aus etwas anderem folgert). Und wenn eine Proposition aus einer anderen ableitbar ist, dann ist es in den meisten Fällen passend zu sagen, sie folge aus ihnen; die Rede von einer Folge aber ist das Kehrstück zur Rede von einem Grund. Zusammengenommen ist Ableitbarkeit also, ebenso wie das Abfolge-Verhältnis, eine objektive Beziehung zwischen Propositionen, für die der Titel »Folgebeziehung« passt. Diese Beobachtung könnte Anlass zur Vermutung geben, dass es sich bei Abfolge und Ableitbarkeit nicht bloß um ähnliche, sondern gar um dieselbe Beziehung in verschiedenem sprachlichen Gewande handelt. Doch die Vermutung geht fehl, wie Bolzano mit eingängigen Beispielen deutlich macht. Ein relevantes Beispiel ist Aristoteles’ weiter oben besprochene Einsicht zur Wahrheit. Nach Aristoteles gilt: (1) Dass Schnee weiß ist, ist wahr, weil Schnee weiß ist. (2) Schnee ist nicht deshalb weiß, weil es wahr ist, dass Schnee weiß ist. Mit anderen Worten ist die Proposition, dass Schnee weiß ist (kurz: P.1), Grund von der Proposition, dass es wahr ist, dass Schnee weiß ist (kurz: P.2). Umgekehrt allerdings liegt keine Grund-Folgebeziehung vor. Während also eine nicht-umkehrbare Abfolgebeziehung zwischen P.1 und P.2 besteht, besteht aber zugleich eine wechselseitige Ableitbarkeitsbeziehung: Unter allen Umständen, unter denen P.1 wahr ist, ist es auch P.2, und umgekehrt. Das Beispiel verdeutlicht somit, dass Abfolge und Ableitbarkeit nicht einerlei sind. Und es weist zugleich auf einen wichtigen generellen Punkt hin. Nicht nur liegt im gegebenen Beispiel keine wechselseitige Abfolge vor, eine solche scheint generell ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Dass etwas objektiver Grund von etwas anderem ist, heißt, dass jenes vor diesem einen objektiven Vorrang hat. Aber die Beziehung der Vorrangigkeit ist asymmetrisch; niemals hat x Vorrang vor y und zugleich y Vorrang vor x. Ableitbarkeit hingegen kann wechselseitig vorliegen (auch wenn sie das oft freilich nicht tut). Wenn Abfolge tatsächlich asymmetrisch ist, so ist sie auch irreflexiv: Nichts ist dann Grund von sich selber. Wiederum ist dies einleuchtend, wenn man die Rede vom Grund mit der vom Vorrang korreliert. Dass nichts einen objektiven Vorrang vor sich selber hat, scheint kaum von der Hand zu weisen; dem zu widersprechen würde ein mangelndes Verständnis des Wortes »Vorrang« offenbaren. (Schon deshalb hält der Autor die klassischen Versuche für verfehlt, Gott im wortwörtlichen Sinne als einen Grund seiner selbst zu etablieren. Doch gewiss kann auch hierüber gestritten werden.) Für Bolzanos Definition des Begriff siehe WL II, § 155. Für eine hilfreiche Diskussion siehe z. B. M. Siebel: Bolzano’s Concept of Consequence, in: The Monist 85 (2002), 580–99. 23

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Abfolge und Ableitbarkeit sind also zu unterscheiden. Vergegenwärtigt man sich, dass Abfolge eine Form der Priorität darstellt, so wird klar, dass nicht überall, wo eine Ableitbarkeitsbeziehung vorliegt, auch eine Abfolge vorliegt. Umgekehrt aber mag es plausibel erscheinen, dass Abfolge (zumindest, wenn vollständige Gründe einer Folge gegeben sind) immer Ableitbarkeit mit sich bringt.24 Dann würde die Beziehung der Abfolge sozusagen ein feineres begriffliches Netz aufspannen als die Beziehung der Ableitbarkeit. 3.4. Logische Systematisierung. Ein weiter vertieftes Verständnis der Abfolge lässt sich aus der Systematisierung ihrer formalen Eigenschaften gewinnen. In der Tat lässt sich eine Logik der Abfolge entwickeln, die sowohl die bereits bestehende Einsicht in die Abfolgebeziehung festigen kann, als auch dabei helfen kann, allgemeine Regelmäßigkeiten hinter konkreten Intuitionen über Einzelfälle festzustellen. Ein erster Ansatz einer solchen Logik der Abfolge kann in der reinen Logik der Abfolge bestehen. Sie untersucht, in welchen Implikationsverhältnissen Aussagen der Abfolge zueinander stehen, ohne dass sie die besondere Beschaffenheit der Aussagen in Betracht zieht, die als Grund und Folge genannt werden. Zur reinen Logik der Abfolge in diesem Sinne können die folgenden, teils bereits angesprochenen strukturellen Prinzipien gerechnet werden:25 Faktivität Asymmetrie Transitivität

Ist x ein Grund von y, so sind x und y Wahrheiten (und/oder Tatsachen). Ist x ein Grund von y, so ist y kein Grund von x. Ist x ein Grund von y, und y ein Grund von z, so ist auch x ein Grund von z.

Auch wenn die reine Logik der Abfolge bereits fruchtbar untersucht werden kann,26 so lässt sie aufgrund ihrer selbst gesetzten Grenzen – eben ihrer Reinheit – doch in ihrer Anwendbarkeit zu wünschen übrig. Insbesondere enthält sie keine Schlussregeln, welche erlauben, Abfolge-Aussagen zu erschließen, sofern man nicht bereits von solchen Aussagen ausgeht. Genau das aber erwartet man üblicherweise von der Logik eines gegebenen Operators, also dass sie unter anderem eine Einführungsregel für ihn enthält, so wie die Regeln der Konjunktor-Einführung oder der Konditionalisierung im Kalkül des natürlichen Schließens. Doch wie könnten Einführungsregeln für Abfolge-Aussagen aussehen? Zur Illustration der Situation denke man an die Formulierung von Abfolge-Aussagen durch »weil«Sätze. Kann man »weil«-Sätze aus anderen Sätzen ableiten, die kein »weil« enthalten? Das scheint problematisch zu sein. Wenn man über zwei Sätze x und y nicht mehr weiß, als dass sie wahr sind, so könnte doch ebenso gut gelten, dass x wahr ist, weil es

Bolzano allerdings meint, dass es Abfolge ohne Ableitbarkeit gibt (siehe WL II, § 200). Diese Prinzipien finden sich bereits bei Bolzano; siehe WL II, § 203, § 209, § 213 (wobei Bolzano zwischen unmittelbarer und mittelbarer Abfolge unterscheidet; nur die letztere ist transitiv). 26 Siehe K. Fine: The Pure Logic of Ground, erscheint in: Review of Symbolic Logic. 24

25

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y ist, wie eben auch, dass y wahr ist, weil x wahr ist. Und schließlich könnte, als dritte Möglichkeit, keine dieser »weil«-Aussagen gelten; denn x und y könnten ja beispielsweise thematisch schlicht gar nichts miteinander gemein haben und daher in keinerlei explanatorischer Abhängigkeitsbeziehung zueinander stehen. Plausible Kandidaten für Einführungsregeln für den Junktor »weil« – bzw. für den Begriff der Abfolge – sind mithin zunächst kaum auszumachen. Dann aber, so könnte man meinen, kommt das Projekt einer anspruchsvollen und weitreichenden Logik der Abfolge an just dieser Stelle bereits zu einem frühzeitigen Ende. Doch glücklicherweise ist dem nicht so. Denn bei genauerer Überlegung lässt sich eine ganze Familie von Einführungsregeln für den Junktor »weil« finden – Regeln, die einen systematischen Zusammenhang vom »weil« und den wahrheitswertfunktionalen Junktoren der klassischen Logik ausleuchten. Die Grundidee, auf denen die Regeln beruhen, lautet wie folgt:27 Komplexe Sätze mit klassischen wahrheitswertfunktionalen Junktoren haben ihren Wahrheitswert aufgrund der Wahrheitswerte ihrer Teilsätze. Diese Feststellung geht über den Umstand hinaus, dass der Wahrheitswert eines wahrheitswertfunktionalen Satzes feststeht, wenn die Werte seiner Teilsätze feststehen. Diese konditionale Feststellung gehört zum Repertoire jedes zeitgenössischen Logiklehrbuchs. Eine Disjunktion beispielsweise ist wahr, wenn (und sogar nur wenn) mindestens eines ihrer Disjunkte wahr ist. Doch die oben vorgestellte Grundidee für die Logik der Abfolge stützt sich auf einen stärkeren Zusammenhang: Wenn ein Disjunkt einer Disjunktion wahr ist, so ist deshalb auch die Disjunktion wahr. Um ein anderes Beispiel zu betrachten, welches die Grundidee veranschaulicht: Ist eine beliebige Aussage wahr, so ist auch ihre doppelte Negation wahr – und zwar weil die Aussage wahr ist, deren doppelte Negation sie ist. Basierend auf der geschilderten Grundidee lassen sich nun sehr einfach Einführungsregeln für »weil«-Aussagen formulieren, die das Zusammenspiel von »weil« und den klassischen Junktoren beleuchten. Beispielsweise ergibt die Anwendung der Idee auf Disjunktionen die folgenden Einfühungsregeln:

Disjunktion I

p (p ∨ q) weil p

Disjunktion II

q (p ∨ q) weil q

Analoge Regeln lassen sich für alle klassischen Junktoren formulieren. Kombiniert man sie mit den oben angegebenen Prinzipien der reinen Logik der Abfolge (also mit strukturellen Ableitungsregeln zur Faktivität, Asymmetrie und Transitivität), so entsteht eine propositionale Logik des »weil«. Sie ist eine konservative Erweiterung der klassischen Junktorenlogik und fängt wichtige formale Züge der Abfolge-Relation ein.28 Damit hilft sie, unser Verständnis des Abfolge-Begriffs zu vertiefen und zu festigen. 27 28

Siehe B. Schnieder: Truth-functionality, in: Review of Symbolic Logic 1 (2008), 64–72. Siehe B. Schnieder: A Logic for ›Because‹, in: Review of Symbolic Logic 4 (2011), 445–65, und

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Man sollte an eine Logik der Abfolge allerdings keine überzogenen Ansprüche stellen. Beispielsweise kann man begründet bezweifeln, dass sich aus ihr eine strikte (vielleicht implizite) Definition des Abfolgebegriffs ergibt. Aber auch, wenn die Logik dies nicht leistet, kann sie noch immer unser Verständnis des Abfolgebegriffs wesentlich befördern. Man vergleiche hierzu etwa die modalen Begriffe von Möglichkeit und Notwendigkeit. Auch, wenn diese durch ein modallogisches System nicht definiert und eindeutig von anderen Begriffen abgegrenzt werden (da es beispielsweise auch als Logik der Zeit interpretiert werden kann), und auch wenn, wie einige Philosophen meinen, sie überhaupt keine echte Analyse zulassen, so steht doch außer Frage, dass unser Verständnis der Modalitäten durch die Entwicklung der Modallogik entscheidend befördert wurde. 3.5. Fruchtbarkeit: Erklärung verwandter Begrifflichkeiten. Eine letzte Weise, unser Verständnis vom Begriff eines Grundes zu verbessern, besteht darin, ihn positiv mit anderen Begriffen in Verbindung zu setzen. Tatsächlich kann er gewinnbringend zum Einsatz gebracht werden, um eine Reihe von Begriffen zu explizieren, die in der Philosophie (besonders, gewiss, in der Metaphysik) von großer Bedeutung sind. Diese Fruchtbarkeit des Begriffs unterstützt einerseits die Behauptung, dass er tatsächlich eine fundamentale Rolle für unsere Wirklichkeitskonzeption spielt. Andererseits öffnet sie eben auch einen zusätzlichen Weg der Annäherung an den Begriff; denn insofern jemand zugesteht, die durch ihn definierbaren Begriffe bereits zu beherrschen, so kann er durch Abstraktion von ihnen den Begriff des Grundes angemessener erfassen. Ein hier einschlägiger Begriff ist derjenige der ontologischen Abhängigkeit. In der Ontologie lautet eine traditionelle, auf Aristoteles zurückgehende Idee, dass sich die Existenz gewisser Sorten von Entitäten systematisch der Existenz anderer Entitäten verdankt. Nicht alles, was existiert, ist eine selbstständige Entität; vielmehr bedarf so manche Entität für ihre Existenz einer anderen. So sind beispielsweise Ereignisse (etwa Karrers Spaziergang) und partikularisierte Eigenschaften (etwa Belmondos Charme) ontologisch unselbständig. Sie hängen von anderen Entitäten ab, ihren Trägern oder Konstituenten, mit denen sie vor sich gehen (im Beispiel: Karrer) oder an denen sie sich befinden (im Beispiel: Belmondo). Ontologische Abhängigkeit wird nun manchmal als eine rein modale Eigenschaft begriffen, die darin besteht, dass die Existenz einer bestimmten Entität notwendigerweise die einer anderen Entität begleitet.29 In einem solchen Verständnis können zwei Entitäten wechselweise voneinander abhängen, weil sie notwendigerweise nur als Paar existieren. Dies gilt beispielsweise, unter plausiblen Annahmen zum Wesen mathematischer Mengen, für eine Einermenge und ihr Element; ihre Existenzen gibt es nur im Doppelpack. Doch in einem anspruchsvolleren Sinn sollte ontologische Abhängigkeit die Kehrseite zu einer Form des ontologischen Vorrangs sein. In diesem stärkeren Sinn, vgl. F. Correia: Grounding and Truth-Functions, in: Logique et Analyse 53 (2010), 251–79, sowie Fine: Guide to Ground. 29 Siehe beispielsweise P. Simons: Parts, Oxford 1987, Kap. 8.

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so eine von vielen Philosophen geteilte Intuition, hängt die Einermenge {Belmondo} von ihrem Element Belmondo ab, während Belmondo nicht von ihr abhängt.30 Seine Existenz sorgt vielmehr unter allen Umständen erst für die Existenz der Menge. Einen solchen anspruchsvollen Begriff ontologischer Abhängigkeit kann man über den Begriff des Grundes, und damit unter Zuhilfenahme des Junktors »weil«, definieren.31 Die Grundidee ist, dass Abhängigkeit dann besteht, wenn die Existenz einer Entität in Aspekten einer anderen Entität gegründet ist. Dabei können auch andere Aspekte als die Existenz der vorrangigen Entität für die Existenz der abhängigen Entität sorgen. Diese Idee kann wie folgt präzise gefasst werden: x hängt ontologisch von y ab ↔Df. ∃F (x existiert, weil y F ist) Ausgehend von dieser Definition kann man dann Variationen betrachten, die beispielsweise zeitliche oder modale Aspekte mit einbeziehen. Doch dafür ist hier nicht der Ort. Stattdessen möchte ich einen weiteren Begriff betrachten, der den Begriff des Grundes involviert, nämlich den seit den achtziger Jahren in der Metaphysik florierenden Begriff eines Wahrmachers.32 Manch eine wahre Proposition, so die Idee hinter dem Begriff, verdankt ihre Wahrheit einer Entität, die sie überhaupt erst wahr macht (einigen theoretischen Auffassungen zufolge gilt dies sogar für alle wahren Propositionen). Die Proposition, dass Belmondo existiert, beispielsweise, verdankt ihre Wahrheit Belmondo; indem er existiert, macht er die Proposition wahr. Und die Proposition, dass Belmondo charmant ist, so würden viele Freunde von Wahrmachern sagen, verdankt ihre Wahrheit ebenso einer sie wahrmachenden Entität; nur ist es in diesem Fall nicht Belmondo, der dies leistet, sondern sein Charme. Indem dieser existiert, sorgt er für die Wahrheit der Proposition, dass Belmondo charmant ist. Die Idee von Wahrmachern hat in den letzten Jahrzehnten einen kleinen Siegeszug durch die Metaphysik angetreten und wurde zu einem der vielleicht meistdiskutierten Topoi. Es wurden Argumente dafür gesucht, dass Wahrheiten tatsächlich Wahrmacher benötigen, es wurde bei Wahrheiten spezieller Arten nach ihren Wahrmachern gesucht, für Theorien wurde als Prüfstein aufgestellt, ob sie es schaffen, ihre Wahrheiten mit Wahrmachern zu versehen, etc. Und es wurde der Begriff des Wahrmachens diskutiert. Denn man merkte schnell, dass seine zunächst gängige Explikation problematisch war. Sie fasste den Begriff rein modal auf, so dass eine Entität x ein Wahrmacher einer Proposition y ist, wenn die Existenz von x notwendigerweise mit der Wahrheit von y einhergeht. Doch ein solches notwendiges Beisammen garantiert noch keinerlei substantielle Verbundenheit; es garantiert nicht, dass sich die Wahrheit der Proposition tatsächlich der fraglichen Entität verdankt, dass letztere für erstere sorgt. Das ist aber gerade der intuitive Anspruch, der mit der Rede von Wahrmachern verbunden ist. Vgl. K. Fine: Ontological Dependence, in: Proceedings of the Aristotelian Society 95 (1995), 269–90. 31 Vgl. F. Correia: Existential Dependence and Cognate Notions, München 2005, und B. Schnieder: Substanzen und (ihre) Eigenschaften, Berlin 2004, Kap. 6. 32 Vgl. K. Mulligan, P. Simons & B. Smith: Truth-makers, in: Philosophy and Phenomenological Research 44 (1984), 287–320. 30

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Dieser Anspruch kann über eine Definition des Wahrmachens in modalen Begriffen nicht eingelöst werden – wohl aber über eine Definition durch den Begriff des Grundes. Ein Wahrmacher einer Proposition soll etwas sein, kraft dessen oder weswegen die Proposition wahr ist. Der Grund dafür, dass sie wahr ist, soll also bei dem Gegenstand liegen, und genauer bei seiner Existenz. Mithin bietet sich folgende Definition für den zentralen Begriff der Wahrmacherdebatte an:33 x ist ein Wahrmacher von y ↔Df. y ist wahr, weil x existiert Übrigens kann man sich leicht klarmachen, dass es sich beim einschlägigen Begriff des Wahrmachens nur um ein etwas exotisches Mitglied einer ganzen Familie von Begriffen des Machens handelt. Nicht nur machen Dinge manchmal Propositionen wahr; Dinge (im weiten Sinne, Personen eingeschlossen) können andere Dinge berühmt oder obsolet machen, wütend, kaputt, bemitleidenswert, etc. Die Rede des Machens findet dabei generell auch in nicht-kausalen Kontexten Verwendung; die Russellsche Paradoxie macht Freges Grundgesetze der Arithmetik hinfällig, die Rechtwinkligkeit eines Vierecks macht es zu einem Rechteck und die Konsequenzen einer Handlung können sie (in den Augen einiger Moraltheoretiker) zu einer guten Handlung machen. Generell gesprochen führt man mit der Rede davon, dass ein Ding zu etwas gemacht wird, einen Grund ein; einen Grund dafür, dass das Ding so ist wie angesprochen. Dem allgemeinen Begriff des zu-etwas-Machens, von dem der des Wahrmachens nur ein Spezialfall ist, kommt philosophische Bedeutung zu und er kann über den Begriff des Grundes wie folgt gefasst werden:34 x macht y F (zu einem F) ↔Df. ∃G (y ist F, weil x G ist) In engem Zusammenhang mit dieser Explikation vom Begriff des Machens steht die bereits angesprochene Erkenntnisabsicht sokratischer Fragen. Die Frage danach, was Weisheit ist (oder Tugend, Wahrheit etc.), kann verschieden intendiert sein. Gerade in philosophischen Kontexten zielt sie oft, wie Platon deutlich zu machen versuchte, auf einen Grund ab; philosophisch interessant ist, was jemanden weise macht oder worin es besteht, weise zu sein. Ein Verständnis solcher Fragen lässt dann ein Verständnis des Begriffs eines Grundes erkennen.

4. Erste Philosophie Im vorangegangenen Abschnitt wurden die Umrisse einer Theorie vom Grunde gezeichnet. Nun, zum Abschluss, soll es zurück an den Ursprung gehen: Zumindest in einer Bedeutung des Worts »Erste Philosophie« wird damit ein intellektuelles Unterfangen bezeichnet, dessen Verständnis den bisher explizierten Begriff eines Grundes wesentVgl. F. Correia: Existential Dependence, § 3.2, und B. Schnieder: Truth-Making Without TruthMakers, in: Synthese 152 (2006), 21–46. 34 Vgl. Schnieder: ebd. 33

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lich voraussetzt. Wer nämlich Erste Philosophie (im hier fortan einzig einschlägigen Sinne) betreibt, der versucht sich daran, die ursprüngliche, fundamentale Ebene der Wirklichkeit zu bestimmen. Er versucht, der Wirklichkeit auf ihren letzten Grund zu gehen. Was das genau heißt, lässt sich tatsächlich durch den Begriff des Grundes ausbuchstabieren. Denn die ursprünglichen oder fundamentalen Tatsachen sind diejenigen, die zwar bestehen, die aber nicht ob irgendeines objektiven Grundes bestehen. Wenn man Tatsachen mit Wahrheiten identifizieren möchte, so sind die ursprünglichen Tatsachen das, was Bolzano Grundwahrheiten nannte.35 Präzise lässt sich der Begriff wie folgt fassen: x ist eine Grundwahrheit ↔Df. ∃p ((x ist die Proposition, dass p) & x ist wahr & ¬∃q (p weil q)) Insofern die Erste Philosophie der Wirklichkeit auf ihren letzten Grund zu gehen sucht, gibt sie uns den folgenden Imperativ vor: Finde die Grundwahrheiten heraus! Das Geschäft der Ersten Philosophie mag heutzutage eher barock anmuten. Das allerdings ist, für sich genommen, zunächst kein Argument dagegen, die Erste Philosophie als wissenschaftliches Anliegen ernst zu nehmen. Nicht alles, was aus der philosophischen Mode gekommen ist, verdient unsere Aufmerksamkeit nicht mehr. Doch es gibt mindestens zwei substantiellere Bedenken gegen die Erste Philosophie. Das erste ist metaphysischer Natur: In der obigen Beschreibung ist die Erste Philosophie mit einer metaphysischen Hypothek belastet. Ihr charakteristischer Imperativ präsupponiert, dass es überhaupt Grundwahrheiten zum Herausfinden gibt. Doch was, wenn die Präsupposition fehlgeht? Was, wenn der Satz vom Grunde gilt, und jede Wahrheit ihren Grund hat? Das Geschäft der Ersten Philosophie schiene leer. Das zweite Bedenken ist hingegen erkenntnistheoretischer Natur: Was, wenn es zwar Grundwahrheiten gibt, diese sich aber unserem Erkenntnisvermögen prinzipiell entziehen? Was, wenn die Grenzen unserer Vernunft zu eng gefasst sind, als dass sich die fundamentalen Tatsachen ihr jemals erschließen könnten? Das Geschäft der Ersten Philosophie schiene eitel. Ein Vertreter der Ersten Philosophie könnte versuchen, die beiden Bedenken frontal anzugehen und zu argumentieren, dass es erstens Grundwahrheiten gibt, und dass wir diese zweitens tatsächlich auch ermitteln können. Doch eine solche Argumentation ist eine echte Herausforderung, an der man allzu leicht scheitern könnte. Oder nicht? Ebenso, wie es klassische Argumente für die Wahrheit des Satzes vom Grunde gibt, so auch für die Existenz von Grundwahrheiten. Ein traditionelles Exemplar ist das Folgende:36

Vgl. WL II, § 214. Ein mindestens ähnliches Argument findet sich in J. Schaffer: Monism: The Priority of the Whole, in: Philosophical Review 119 (2010), 31–76, S. 37 und 62. 35 36

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P.1 P.2 P.3 P.4 P.5 K

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Es gibt überhaupt irgendwelche Wahrheiten. Sei nun W irgendeine beliebige Wahrheit; dann hat W entweder einen Grund, oder W hat keinen Grund. Wenn W keinen Grund hat, gibt es Grundwahrheiten. Wenn W einen Grund hat, so ist dieser Grund entweder eine Grundwahrheit, oder er hat selbst einen Grund und es gibt eine Kette von Gründen von W. Jede Kette von Gründen muss zu einem Ende kommen. Mithin gibt es Grundwahrheiten.

Anders als einige der traditionellen Argumente für den Satz vom Grunde, wie etwa die berüchtigten aus der Wolffschen Schule, involviert dieses Argument keinen mehr oder minder offensichtlichen Fehlschluss. Doch es hat ein anderes gravierendes Problem: Seine fünfte Prämisse ist alles andere als eine evidente Wahrheit. Bolzano beispielsweise hatte einen guten Grund, sie nicht zu akzeptieren: Seines Erachtens gibt es dort, wo Ursache-Wirkungsbeziehungen vorliegen, auch eine Grund-Folgebeziehung zwischen denjenigen Propositionen, welche das Vorliegen der Ursachen und Wirkungen behaupten.37 Wenn etwa ein Auffahrunfall ein Feuer verursacht, dann ist die Proposition, dass der Unfall stattfindet, (partieller) Grund der Proposition, dass das Feuer entflammt. Nun hält Bolzano dafür, dass die Zeit keinen Anfang nimmt, sondern sich unendlich in die Vergangenheit hinaus ausdehnt, so dass es auch unendlich weit zurückreichende Ursache-Wirkungsketten geben könnte. Da solche Ketten mit Grund-Folge-Ketten einhergehen, kann Bolzano die Existenz von unendlichen Grund-Folge-Ketten nicht ohne Weiteres ausschließen (vgl. WL II, § 216). Mithin kann er auch dem obigen Argument nicht beipflichten; durch die fünfte Prämisse arbeitet es mit einem ungedeckten Scheck. Zwar glaubt Bolzano dennoch, dass es Grundwahrheiten gibt, weiß aber kein zwingendes Argument dafür anzuführen.38 Nun kann man wohl versuchen, die Prämisse direkt oder indirekt zu stützen; indirekt beispielsweise, indem man Bolzanos Gründe, sie nicht zu akzeptieren, problematisiert. Direkt vielleicht, indem man sie, wenn auch nicht als unmittelbar einleuchtend, so doch als gewiss nach begrifflicher Reflektion deklariert. Können wir uns eine unendliche Kette von Gründen wirklich vorstellen? Doch tatsächlich kann man solchen Versuchen skeptisch gegenüberstehen. Was die Existenz von Grundwahrheiten anbelangt, scheint mir angesichts der vorliegenden Argumentlage zumindest bis auf Weiteres eigentlich eine agnostische Position die epistemisch gebotene zu sein, so dass wir die Existenz von Grundwahrheiten weder – wie die Rationalisten mit ihrem Satz vom Grunde – verwerfen, noch – wie beispielsweise Bolzano – annehmen sollten. Es handelt sich um eine der vielen Fragen, deren Beantwortung uns mindestens momentan nicht möglich ist.

Bolzanos Konzeption wird detailliert aufgearbeitet in B. Schnieder: Bolzano on Causation and Grounding, erscheint in: Journal of the History of Philosophy. 38 Siehe WL II, § 214. In WL II, § 221.3 präsentiert Bolzano ein Argument, das allerdings recht substantielle Annahmen voraussetzt. 37

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Würde diese agnostische Haltung nun das Ende der Ersten Philosophie bedeuten? Nur, wenn sie wie oben gefasst wird. Aber statt zu versuchen, sie in eben der Fassung vor dem metaphysischen Einwand zu bewahren, kann ein Agnostiker bezüglich der Existenz von Grundwahrheiten dafür halten, dass man das Anliegen der Ersten Philosophie eben bescheidener fassen sollte. So nämlich, dass mit ihm keine substantielle metaphysische Präsupposition mehr einhergeht. Eine solche Fassung liest sich wie folgt: Finde heraus, ob es Grundwahrheiten gibt oder nicht; falls ja, so finde heraus, welche! Dieser Imperativ der Ersten Philosophie ist frei von metaphysischen Präsuppositionen hinsichtlich der Existenz oder Nichtexistenz von Grundwahrheiten. Wie steht es aber um das zweite oben angesprochene Bedenken, das epistemologische? In der gegenwärtigen Fassung ist der Imperativ der Ersten Philosophie gleich mit einer doppelten epistemologischen Hypothek belastet: Einerseits kann er nur befolgt werden, wenn die Frage nach der Existenz von Grundwahrheiten für uns prinzipiell entscheidbar ist. Ansonsten scheitert man an seinem ersten Halbsatz. Andererseits wird eben auch vorausgesetzt, dass wir die Grundwahrheiten ermitteln können, wenn es sie denn gibt. Falls die Gewichtigkeit dieser Voraussetzung nicht unmittelbar erfasst wird, sollte man bedenken, dass der diskutierte Imperativ eben ein philosophischer sein soll, also einer, der einem philosophischen Unterfangen die Richtung vorgibt. Doch selbst, wenn die Grundwahrheiten von uns erkennbar sind, so könnten zumindest einige von ihnen nur mit hochspezialisierten empirischen Methoden, nicht aber mit dem typischen Instrumentarium der Philosophie bestimmbar sein. Immerhin kommen als Anwärter auf den Status von Grundwahrheiten beispielsweise gewisse Wahrheiten über die Eigenschaften elementarer Partikel in Frage; Wahrheiten also, die nur im Rahmen physikalischer Theoriebildung ermittelbar wären. Beiden epistemischen Bedenken kann man begegnen, indem man den Anspruch der Ersten Philosophie noch einmal weicher fasst. Was wir brauchen, ist das Programm einer Ersten Philosophie für einen Fundamentalagnostiker. Hier mein Vorschlag: (i) Versuche herauszufinden, ob die Frage nach der Existenz von Grundwahrheiten für uns entscheidbar ist, und falls sie es ist, ob es Grundwahrheiten gibt oder nicht; und (ii) versuche die Grundwahrheiten (unter der Annahme, dass es sie gibt) so genau wie möglich zu bestimmen. Richtig verstanden spannen die beiden genannten Imperative ein Programm auf, das kaum substantielle Voraussetzungen an seine Befolgbarkeit stellt. Dem ersten Imperativ kann man sich widmen, gleichviel ob man an Grundwahrheiten glaubt, sie ablehnt, oder die Frage ihrer Existenz für unentscheidbar hält; man kann es selbst dann, wenn man ein höherstufiger Agnostiker ist und den bisher geschilderten Agnostizismus selbst wieder in agnostizistischen Zweifel ziehen möchte (also meint, wir können nicht wissen, ob wir wissen können, ob es Grundwahrheiten gibt). Dem zweiten Imperativ kann man Folge leisten, wenn man das »so genau wie möglich bestimmen« ernst nimmt und mit der Möglichkeit rechnet, dass eine solche Bestimmung vielleicht nicht allzu genau ausfallen würde. Zu ihr mag eben auch die Bestimmung der Grenzen philosophischer Möglichkeiten gehören, also derjenigen Grenzen, an denen die weitere Bestimmung der Grundwahrheiten an andere Wissenschaften wie die Physik delegiert werden muss. So

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könnte beispielsweise das letzte philosophische Wort darin bestehen, eine Klasse von Tatsachen auszuzeichnen, innerhalb deren die Physik nach den fundamentalen suchen muss (wobei für diese Suche vielleicht noch begriffliche Kriterien an die Hand gegeben werden können, nach denen die Tatsachen einer physikalischen Theorie in fundamentale und derivative eingeteilt werden können). Die Erste Philosophie, im entwickelten Verständnis des Wortes, ist keine obsolete Angelegenheit der Philosophiegeschichte. Sie ist ein ernst zu nehmendes philosophisches Forschungsprogramm. Für die Durchführung dieses Programms ist ein Verständnis der Grund-Folgebeziehung erforderlich und eine entsprechende Theoriebildung ein Desiderat. Die aktuelle Diskussion zum grounding kann somit der Ersten Philosophie zu einem sicheren Stand verhelfen.39

Dieser Aufsatz fasst wesentliche Ergebnisse meiner Forschungstätigkeit als Leiter der EmmyNoether-Gruppe Phlox zusammen. Der DFG bin ich für die Finanzierung der Gruppe zu tiefem Dank verpflichtet. Die Reihe derjenigen, denen ich für ideelle Unterstützung zu danken habe, ist zu lang, um sie aufzuzählen; sie reicht von den Mitgliedern von Phlox über Kollegen, die mir Rückmeldung zu meinen Texten gegeben haben, bis zum Publikum zahlreicher Vorträge, die ich zum Thema gehalten habe. Namentlich möchte ich hier nur noch Christopher Erhard und Yannic Kappes für Anmerkungen zu meinem aktuellen Manuskript danken. 39

Der Satz vom Grunde Alexander Steinberg

In der Philosophie erlebt das aristotelische Bild einer durch Grund-Folge-Beziehungen strukturierten Welt derzeit eine Renaissance.1 Hatte noch Willard Van Orman Quine die Frage »Was gibt es?« zur Leitfrage der Ontologie erklärt,2 so stellt die Ontologie heute die Anschlußfrage in den Mittelpunkt, warum es die Dinge gibt, die es gibt, und warum sie so sind, wie sie sind.3 Hatte noch David Lewis die Frage danach, was es für mögliche Welten gibt, für zentral für die Philosophie der Modalität erachtet (also für die Philosophie der Möglichkeit und Notwendigkeit),4 so macht eine neuere Strömung stattdessen den Begriff des Wesens und, letztlich, den des Grundes stark.5 Aber auch über die Metaphysik hinaus spielt die Frage nach den Gründen in vielen Bereichen der theoretischen Philosophie eine zentrale Rolle. So ist eine Kernfrage der Erkenntnistheorie, ob die Rechtfertigung eines gegebenen Systems von Meinungen letztlich auf der Rechtfertigung der Einzelmeinungen basiert, wie der epistemische Fundamentalist behauptet, oder ob, dem epistemischen Kohärentismus gemäß, vielmehr die epistemischen Auszeichnungen des Meinungssystems die Rechtfertigung der Einzelmeinungen begründen.6 Auch in der Sprachphilosophie wird eine analoge Fundierungsdebatte geführt: Basiert die Bedeutung komplexer Ausdrücke letztlich auf den Bedeutungen ihrer atomaren Komponenten, wie es der semantische Atomismus besagt, oder hat der semantische Holist recht, der behauptet, es gäbe bestimmte komplexe Ausdrücke (z. B. Sätze oder Texte), die die Bedeutung der in ihnen vorkommenden atomaren Ausdrücke bestimmen?7 Die Natürlichkeit, mit der sich die Frage nach dem Warum einer Frage nach dem Ob anschließt, läßt uns leicht übersehen, daß solche »Warum«-Fragen substantielle

1

Vgl. auch den Aufsatz von Benjamin Schnieder in diesem Band. Siehe Willard V. O. Quine: On What There Is, in: Review of Metaphysics 2 (1948), 21–38. 3 Vertreter dieser neuen metaphysischen Schule sind z. B. Jonathan Schaffer und Gideon Rosen. Siehe Jonathan Schaffer: On What Grounds What, in: Metametaphysics. New Essays on the Foundations of Ontology, ed. by David Chalmers, David Manley & Ryan Wasserman, Oxford 2009, 347–383, und Gideon Rosen: Metaphysical Dependence – Grounding and Reduction, in: Modality. Metaphysics, Logic, and Epistemology, ed. by Bob Hale & Aviv Hoffmann, Oxford 2010, 109–135. 4 Siehe David Lewis: On the Plurality of Worlds, Oxford 1986. 5 Kit Fine ist der Pionier dieser Strömung. Siehe seinen Aufsatz »Essence and Modality«, in: Philosophical Perspectives 8 (1994), 1–16. 6 Laurence Bonjour ist dafür bekannt, sich auf beiden Seiten dieser Debatte bestens auszukennen. Siehe The Structure of Empirical Knowledge, Cambridge, MA 1985, einerseits und In Defense of Pure Reason, Cambridge 1998, andererseits. 7 Wegen seines berühmt berüchtigten Kontextprinzips mag man geneigt sein, Gottlob Frege einen solchen semantischen Holismus zuzuschreiben. Siehe Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau 1884, X und 71. 2

Der Satz vom Grunde

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Voraussetzungen oder, im Philosophenjargon: Präsuppositionen, haben.8 Eine Frage danach, warum das-und-das der Fall ist, setzt zum einen voraus, daß das-und-das der Fall ist (Faktizität). Sie setzt aber auch voraus, daß es einen Grund dafür gibt, daß es der Fall ist (Fundierung). Das heißt: wenn es entweder gar nicht der Fall ist, daß p, oder wenn es bloß grundlos der Fall ist, daß p, dann stellt sich die Frage, warum p, nicht.9 Wir stellen »Warum«-Fragen häufig im Anschluß an die Beantwortung einer »Ob«Frage. Die richtige Beantwortung der »Ob«-Frage stellt sicher, daß die Faktizitätsvoraussetzung für die Anschlußfrage erfüllt ist. Aber ist auch die Fundierungsvoraussetzung erfüllt? Daß wir nach dem Warum fragen, zeigt, daß wir davon ausgehen, daß dies so ist. Aber gehen wir zu recht davon aus? Oder gibt es Wahrheiten, die grundlos sind? Machen wir immer, wenn wir nach dem Warum fragen, eine stillschweigende Annahme, die sich als falsch herausstellen könnte? Oder ist dies aus prinzipiellen Gründen unmöglich? Dieser Aufsatz soll einen Beitrag zur Beantwortung der genannten Fragen leisten, indem er ein Prinzip thematisiert, das zu den Eckpfeilern des klassischen Rationalismus gehört: den Satz vom zureichenden Grunde. Der Satz impliziert, daß die Fundierungsvoraussetzung immer erfüllt ist. Damit ist er nicht bloß von historischem Interesse. Er hat vielmehr (a) direkte Konsequenzen für derzeitig kontrovers diskutierte Fragen (z. B. ob die Realität eine fundamentale Ebene hat, oder ob es für jede Wahrheit etwas gibt, was sie wahr macht),10 und er macht (b) eine interessante Behauptung über die explanatorische Struktur der Welt und unseren verständigen Umgang mit ihr. Dennoch wird er von der gegenwärtigen analytischen Philosophie nur stiefmütterlich behandelt. Einer der Hauptgründe hierfür ist, daß beinahe alle gegenwärtigen analytischen Philosophen, die sich überhaupt mit ihm beschäftigen, davon überzeugt sind, daß der Satz vom Grund beweisbar falsch ist. In diesem Aufsatz werde ich (1) eine kurze historische Einführung des Satzes vom Grunde geben, (2) das Argument gegen ihn, das von Jonathan Bennett und Peter van Inwagen populär gemacht wurde, vorstellen und (3) zeigen, daß es – entgegen verbreiteter Ansicht – nicht beweiskräftig ist. Ziel des Aufsatzes ist es, durch die Entkräftung eines einflußreichen Argumentes gegen den Satz vom Grunde der analytischen Debatte die Beschäftigung mit einem zentralen Prinzip über die explanatorische Struktur der Welt wieder zu ermöglichen.

8

Dies bemerkt bereits Arthur Schopenhauer (in seiner Abhandlung Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, hg. von Michael Landmann und Elfriede Tielsch, Hamburg 1957, §4). Zum Begriff der Voraussetzung vgl. Peter F. Strawson: On Referring, in: Mind 59 (1950), 320–344. 9 Ich benutze »p« und »q« als Variablen, die die Position vollständiger Aussagesätze einnehmen. Kommen sie im Fließtext ungebunden vor, können sie als Platzhalter für einen beliebigen Aussagesatz verstanden werden. 10 Zur Fundamentalitätsdebatte siehe z. B. Jonathan Schaffer: Is There a Fundamental Level?, in: Nôus 37 (2003), 498–517, und Ross Cameron: Turtles All the Way Down: Regress, Priority and Fundamentality, in: Philosophical Quarterly 58 (2008), 1–14. Zur Wahrmacherdebatte siehe z. B. Fabrice Correia: Existential Dependence and Cognate Notions, München 2005, § 3.2, und Benjamin Schnieder: Truth-making without Truth-Makers, in: Synthese 152 (2006), 21–47.

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Kolloquium 1 · Alexander Steinberg

1. Der Satz vom Grunde: eine Einführung Der Satz vom zureichenden Grunde spielte eine quasi-definitorische Rolle in der philosophischen Schule des Rationalismus. Ohne ihn zu benennen, formuliert ihn Spinoza in seiner Ethik unter anderem wie folgt: »Cujuscunque rei assignari debet causa seu ratio, tam cur existit quam cur non existit. Ex. gr. si triangulus existit, ratio seu causa dari debet cur existit; si autem non existit, ratio etiam seu causa dari debet, quae impedit quominus existat, sive quae ejus existentiam tollat. Von jedem Ding muß sich eine Ursache oder ein Grund angeben lassen, weshalb es existiert, wie auch, weshalb es nicht existiert. Wenn z. B. ein Dreieck existiert, muß es einen Grund oder eine Ursache geben, weshalb es existiert; und wenn es nicht existiert, muß es ebenfalls einen Grund oder eine Ursache geben, die seine Existenz verhindert oder die seine Existenz aufhebt.«11 Anerkanntermaßen hat der Satz eine argumentative Zentralstellung in Spinozas Werk inne. Spinoza beruft sich auf ihn unter anderem, wenn er die Existenz Gottes (im zitierten Lehrs. 11 der Ethik) zu beweisen versucht, wie auch die Identität des Ununterscheidbaren (in Lehrs. 4 f.) und seinen ontologischen Monismus (Lehrs. 14). Auch Leibniz wies dem Satz vom Grunde eine zentrale Bedeutung in seinem philosophischen System zu, was er an mehreren Stellen explizit machte. So schrieb er in der Monadologie (§§ 31f.): »Nos raisonnemens sont fondés sur deux grands principes, celuy de la contradiction […] et celui de la raison suffisante, en vertu duquel nous considerons qu’aucun fait ne sçauroit se trouver vrai, ou existent, aucune Enonciation veritable, sans qu’il y ait une raison suffisante pour quoi il en soit ainsi et non pas autrement. Unsere Vernunfterkenntnis beruht auf zwei großen Prinzipien: dem des Widerspruchs […] und dem des zureichenden Grundes, kraft dessen wir annehmen, daß sich keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann, ohne daß es einen zureichenden Grund dafür gäbe, weshalb es eben so und nicht anders ist.«12

11

Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, neu übersetzt, herausgegeben, mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 1999, Lehrsatz 11. Der erste Teil des Zitats ist etwas verkürzt und lädt daher zu einem Mißverständnis ein, das freilich im zweiten Teil des Zitats ausgeräumt wird. Hätte Spinoza etwas tiefer Luft geholt, hätte er die implizite Konditionalisierung z. B. wie folgt augenfällig machen können: »Von jedem Ding muß sich eine Ursache oder ein Grund angeben lassen, sowohl, wenn es existiert, weshalb es existiert, wie auch, wenn es nicht existiert, weshalb es nicht existiert«. 12 Gottfried Wilhelm Leibniz: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, Monadologie, hg. von Herbert Herring, Hamburg 1956.

Der Satz vom Grunde

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Es ist daher wenig erstaunlich, daß der Satz bei Leibniz an prominenter Stelle Verwendung findet, z. B. in seinem Argument für die Existenz Gottes (u. a. in der Monadologie, § 38), in seinem Argument, daß unsere Welt die beste aller möglichen Welten ist und in seinem Argument gegen die absolute Konzeption von Raum und Zeit (u. a. im 3. Brief an Clarke13). In den angeführten Formulierungen (sowie in weiteren, die sich bei den beiden Autoren finden lassen) gibt es recht augenfällige Variationen. Um exegetischen Schwierigkeiten und Unklarheiten aus dem Weg zu gehen, lege ich mich für die Zwecke dieses Aufsatzes auf folgende Formulierung fest: Wenn etwas wahr ist, so gibt es einen zureichenden Grund dafür, daß es wahr ist. Oder, semi-formal: SvG ∀p (p → (es gibt einen zureichenden Grund dafür, daß p)) Instanzen von (SvG) sind Sätze wie: I1 Wenn »snow is white« bedeutet, daß Schnee weiß ist, so gibt es einen zureichenden Grund dafür, daß »snow is white« bedeutet, daß Schnee weiß ist; und I2 Wenn Gott nicht existiert, so gibt es einen zureichenden Grund dafür, daß Gott nicht existiert.14 »∀p« ist hier also ein Quantor, der Variablen in Satzposition bindet.15 Man sieht leicht, daß das Prinzip (SvG) Spinozas Formulierung impliziert, denn alle Sätze der Form »x existiert« und »es ist nicht der Fall, daß x existiert« sind mögliche Einsetzungen der Satzvariable »p«. Auch ist es durchaus plausibel, daß Leibniz mit der Angabe scheinbar nicht äquivalenter Alternativformulierungen – er spricht in der angeführten Textpassage von wahren oder existierenden Tatsachen und richtigen Aussagen – genau nach der Art von Allgemeinheit sucht, die uns die Quantifikation in Satzposition zur Verfügung stellt und die freilich mit den Mitteln der natürlichen Sprache nur schwer univok auszudrücken ist. Wie ist nun die Phrase »es gibt einen zureichenden Grund dafür, daß p« genauer zu verstehen? In erster Annäherung können wir uns erneut einer Satzquantifikation bedienen, nämlich wie folgt: ZG Es gibt einen zureichenden Grund dafür, daß p ↔ ∃q (daß q, ist ein zureichender Grund dafür, daß p).16

13

Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften, Bd. V, herausgegeben und übersetzt von Werner Wiater, Darmstadt 1989. 14 Diese These steht im Mittelpunkt des spinozistischen Gottesbeweises. 15 Die Satzquantifikation gehört, anders als die nominale Quantifikation, (noch) nicht zum Standardrepertoire der Philosophie. Für eine klassische Darstellung siehe Arthur N. Prior: Objects of Thought, Oxford 1971, und vgl. Philip Hugly & Charles Sayward: Intensionality and Truth. An Essay on the Philosophy of A.N. Prior, Dordrecht 1996. 16 Auch wenn (ZG) auf den ersten Blick vollkommen unproblematisch erscheint, wird sich in der Diskussion des Gegenargumentes gegen (SvG) herausstellen, daß wir das Prinzip aufgeben sollten.

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Die Phrase »daß q, ist ein zureichender Grund dafür, daß p« läßt sich nun in zwei Hinsichten weiter erhellen, nämlich durch Ausbuchstabierung der in ihr vorkommenden Begriffe (a) des Zureichens und (b) des Grundes. Zu (a) »Zureichen« wird in der Diskussion des Satzes vom Grunde gemeinhin rein modal verstanden.17 Nach diesem Verständnis ist x genau dann zureichend für y, wenn x y strikt impliziert: wenn also jeder mögliche Weltverlauf, nach dem x gilt, ein solcher ist, nach dem y gilt. Mit Hilfe metaphysischer Notwendigkeit und des Konditionals können wir dies wie folgt formulieren: Zureichen

∀p,q (daß q, ist zureichend dafür, daß p ↔df. □ (q → p))

Zu (b) Die Rede von Gründen in (SvG) läßt sich ebenfalls durch einen natürlichsprachlichen Junktor erhellen, nämlich durch »weil«. Daß es einen engen Zusammenhang gibt, erschließt sich bereits daraus, daß wir nach dem Grund eines Sachverhalts mit Hilfe von »Warum«-Sätzen fragen und »weil«-Sätze paradigmatische Antworten auf solche »Warum«-Fragen geben. Schematisch: Mit der Frage »Warum p?« fragen wir nach einem Grund dafür, daß p. Mit einer korrespondierenden Antwort »p, weil q« geben wir eben einen solchen Grund an. Das bedeutet, daß es einen systematischen Zusammenhang zwischen der Rede von Gründen und »weil«-Aussagen gibt, der sich wie folgt fassen läßt: Grund

∀p, q (daß q, ist ein Grund dafür, daß p ↔df. p, weil q)

Basierend auf diesen Klärungen können wir nun folgende vorläufige Ausbuchstabierung von (SvG) festhalten: SvG*

∀p (p → ∃q (i) □ (q → p) & (ii) p, weil q).

Im weiteren Verlauf werde ich mich sowohl der in (SvG) als auch der in (SvG*) verwendeten Redeweisen bedienen. Ebenfalls werde ich von Zeit zu Zeit statt von Gründen von Erklärungen sprechen und nenne die Relata der Grund-Folge Beziehung Explananda einerseits und Explanantia andererseits. Dies ist durch den in (Grund) explizierten Zusammenhang der Rede von Gründen und dem explanatorischen Junktor »weil« gedeckt und spiegelt den Gebrauch in der Literatur.18 Kommen wir nun zum einflußreichen Argument gegen den Satz vom Grunde, das in der heutigen Debatte zumeist Jonathan Bennett und Peter van Inwagen zugeschrieben wird.19 Unabhängig von der Korrektheit dieser Zuschreibung haben die Diskussionen

17

Vgl. z. B. Peter van Inwagen: An Essay on Free Will, Oxford 1983, 203, und William Rowe: Circular Explanations, Cosmological Arguments, and Sufficient Reasons, in: Midwest Studies in Philosophy 21 (1997), 190. 18 Man vergleiche beispielsweise das weiter unten angeführte Zitat von Jonathan Bennett. 19 Die Werke, auf die in diesem Zusammenhang zumeist verwiesen wird, sind van Inwagen a. a.O. und Jonathan Bennett: A Study of Spinoza’s Ethics, Indianapolis 1984.

Der Satz vom Grunde

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Bennetts und van Inwagens wohl am wirkungsvollsten dazu beigetragen, viele gegenwärtige analytische Philosophen von der Falschheit des Satzes vom Grunde zu überzeugen.20 2. Modaler Kollaps Das Argument vom modalen Kollaps versucht eine vermeintliche Konsequenz des Satzes vom Grunde gegen ihn ins Feld zu führen. Laut Argument wäre jede beliebige Wahrheit (metaphysisch) notwendig und jede beliebige Falschheit (metaphysisch) unmöglich, sofern der Satz gilt. Die modalen Distinktionen der Notwendigkeit und der Möglichkeit würden schlicht in die der Wahrheit kollabieren: es bliebe kein Raum für Kontingenz. Da dies inakzeptabel ist, so das Argument, müssen wir den Satz aufgeben. Der Rahmen des Argumentes ist ein simpler modus tollens, den wir folgendermaßen wiedergeben können: Argument vom modalen Kollaps 1 Wenn der Satz vom Grunde wahr ist, gibt es keine kontingenten Wahrheiten. 2 Es gibt kontingente Wahrheiten. Also, K Der Satz vom Grunde ist nicht wahr. Die Schlankheit des Arguments vom modalen Kollaps läßt keinen Zweifel an seiner formalen Schlüssigkeit. Es bleiben daher nur drei Reaktionsmöglichkeiten: (a) wir akzeptieren die Konklusion (K) und verwerfen den Satz vom Grunde;21 (b) wir verwerfen Prämisse (2) und gestehen zu, daß alles, was wahr ist, notwendigerweise wahr ist;22 oder (c) wir versuchen Prämisse (1) zu entkräften. Da der epistemische Status dessen, daß ich meinen Arm auch hätte heben können, obwohl ich ihn nicht gehoben habe, um einiges sicherer erscheint als der des Satzes vom Grunde, halte ich nur Option (c) für eine ernsthafte Alternative zur Aufgabe des Satzes.23 Um ihre Chancen soll es im folgenden

20

Die Zuschreibung ist höchst zweifelhaft. Varianten des Arguments finden sich mindestens schon bei William Rowe (in The Cosmological Argument, Princeton 1975) und James Ross (in Philosophical Theology, Indianapolis 1969). Die einschlägigen Diskussionen Bennetts und van Inwagens erfreuen sich allerdings ungleich größerer Aufmerksamkeit. 21 Wie bereits erwähnt, ist dies die präferierte Option der meisten gegenwärtigen Philosophen, die mit dem Argument vertraut sind. 22 In der Geschichte der Philosophie ist insbesondere Spinoza für seinen Nezessitarismus bekannt. Heutzutage scheint allerdings nur mehr der standhafte Rationalist Michael Della Rocca diesen Ausweg zu wählen. Siehe Michael Della Rocca: PSR, in: Philosopher’s Imprint 10 (2010), 9 f. 23 Dies ist vielleicht ein wenig rasch. Das Argument vom modalen Kollaps soll zeigen, daß genau die Art von modalen Distinktionen kollabiert, die in der Ausbuchstabierung des Begriffs des Zureichens Verwendung findet. An dieser Stelle gibt es daher etwas Spielraum. Man könnte beispielsweise versuchen, zu argumentieren, daß (a) der einschlägige Begriff der Notwendigkeit ein sehr besonderer ist, so daß insbesondere (b) der Kollaps der für den Begriff des Zureichens einschlägigen modalen Distinktionen gar nicht so dramatisch ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Man könnte argumentieren, daß

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Kolloquium 1 · Alexander Steinberg

gehen. Um sie beurteilen zu können, ist eine genaue Analyse der Stützung, die Prämisse (1) erfährt, notwendig. Betrachten wir hierzu Jonathan Bennetts Rechtfertigung von Prämisse (1) des Arguments vom modalen Kollaps.24 Bennett schreibt: »Let P be the great proposition stating the whole contingent truth about the actual world, down to its finest detail, in respect of all times. Then the question ‘Why is it the case that P?’ cannot be answered in a satisfying way. Any purported answer must have the form ‘P is the case because Q is the case’; but if Q is only contingently the case then it is a conjunct in P, and the offered explanation doesn’t explain; and if Q is necessarily the case then the explanation, if it is cogent, implies that P is necessary also.«25 Bennetts Argument kann folgendermaßen wiedergegeben werden: P1 P2 P3

P4

Wenn es überhaupt kontingente Wahrheiten gibt, dann gibt es die Große Konjunktion aller dieser Wahrheiten, kurz: GK. Jede Konjunktion kontingenter Wahrheiten ist selbst kontingent wahr. Wenn GK kontingent wahr ist, dann hat GK keine kontingente Wahrheit zum zureichenden Grund (denn solch eine Wahrheit wäre ein Konjunkt von GK und könnte GK nicht erklären). Wenn GK kontingent wahr ist, dann hat GK keine notwendige Wahrheit zum zureichenden Grund.

Also, K1

Wenn GK kontingent wahr ist, dann hat GK keinen zureichenden Grund.

Also, K2

Wenn es überhaupt kontingente Wahrheiten gibt, dann ist der Satz vom Grunde falsch.

Da (K2) die Kontraposition von (1) ist und das Unterargument schlüssig ist, ist die erste Prämisse des Arguments vom modalen Kollaps erwiesen, sofern die Prämissen des Unterarguments gesichert sind. Hier muß also eine Kritik des Arguments vom modalen Kollaps ansetzen.

Leibniz mit der Unterscheidung von Notwendigkeit per se und per accidens eine solche Strategie verfolgt. Vgl. Martin Lin: Rationalism and Necessitarianism, in: Nôus 46 (2012), § 2. 24 Van Inwagen a. a.O., 203, versucht eine andere Variante. Da diese darauf angewiesen ist, daß die Erklärungsbeziehung unplausibel grob individuierte Relata hat, konzentriere ich mich hier auf die plausiblere Diskussion Bennetts. 25 Bennett a. a.O., 115.

Der Satz vom Grunde

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3. Eine Evaluation Die Prämissen (P2) und (P4) des Unterarguments sind jenseits berechtigter Zweifel: (P2) ist ein Theorem selbst äußerst schwacher Modallogiken, nämlich aller solchen, die das Distributionsprinzip – □ (p & q) ⊨ □p & □q – wahr machen. (P4) ist eine offensichtliche Konsequenz unseres definitorischen Prinzips (Zureichen), denn wenn etwas von einer Notwendigkeit strikt impliziert wird, ist es selbst notwendig (□p, □(p → q) ⊨ □q). An (P1) mag man hingegen durchaus begründete Zweifel anmelden. Z. B. könnte man der Meinung sein, daß (i) es unendlich viele kontingente Wahrheiten gibt, aber (ii) keine unendlich langen Konjunktionen.26 Ebenfalls könnte man bezweifeln, daß eine Konjunktion sich selbst zum Konjunkt haben kann. Genau dies müßte aber der Fall sein, wenn es eine Konjunktion aller kontingenten Wahrheiten gäbe, denn diese Konjunktion wäre selbst kontingent (nach P2).27 Es gibt also mindestens Grund zur dezenten Modifikation von (P1).28 Für gegenwärtige Zwecke gehe ich schlicht davon aus, daß es eine Variante der ersten Prämisse gibt, die stark genug ist, um das Argument zu unterstützen, und gleichzeitig schwach genug, um die angesprochenen Probleme zu vermeiden. Das Argument scheitert aus interessanteren und einschlägigeren Gründen, Gründen, die explanatorische Strukturen und nicht bloß propositionale Kombinatorik betreffen. Die zentrale Prämisse des Unterarguments ist demnach (P3). Warum sollten wir (P3) akzeptieren? Während sich Bennet selbst zu dieser Frage ausschweigt, können wir eine mögliche Antwort einem Text William Rowes entnehmen, der ein analoges Argument bespricht:29 »[If a truth] q explains [GK], then q cannot be contingent; otherwise it would be a part of [GK] and [GK] (a contingent state of affais) would be self-accounting, which is impossible.«30 Indem sie auf eine vermeintliche Selbst-Erklärung abhebt, legt die Passage nahe, daß Rowe ein gemeinhin akzeptiertes Prinzip über Gründe in Anschlag bringen will, nämlich die Irreflexivität der Erklärungsbeziehung. Eine Beziehung R ist irreflexiv, wenn gilt, daß nichts in R zu sich selbst steht. Die Erklärungsbeziehung ist demnach genau dann irreflexiv, wenn nichts sich selbst erklärt. Sollte Rowe allerdings auf das Prinzip der Irreflexivität der Erklärung anspielen, so handelt es sich im gegenwärtigen Fall um eine Fehlanwendung. Denn die Frage ist ja nicht, ob GK GK erklärt – dies wird tatsächlich durch Irreflexivität ausgeschlossen –, 26

Beispielsweise könnten Philosophen, die meinen, daß Propositionen mögliche Gehalte des Denkens oder mögliche Satzbedeutungen sind, aufgrund plausibler kognitiver bzw. kompositionaler Limitationsprinzipien Zweifel an der Existenz unendlich langer Konjunktionen anmelden. Vgl. z. B. Wolfgang Künne: Conceptions of Truth, Oxford 2003, § 5.1. 27 Das weiter unten besprochene Konjunktionsprinzip liefert einen weiteren Grund, die Möglichkeit der Existenz einer Konjunktion zu bezweifeln, die sich selbst zum Konjunkt hat. 28 Einen Versuch unternimmt Rowe in The Cosmological Argument im Anschluss an Ross. 29 Rowe selbst gibt in der Passage ein Argument von Ross a. a.O. wieder. 30 Rowe: The Cosmological Argument, 107.

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Kolloquium 1 · Alexander Steinberg

sondern, ob GK auch durch eines seiner Konjunkte erklärt werden kann. Da GK nicht nur sich selbst zum Konjunkt hat, gibt Irreflexivität hierüber schlicht keine Auskunft.31 (P3) ist demnach nicht wohlbegründet. Aber handelt es sich hier vielleicht um ein bloßes Defizit der einschlägigen Literatur (oder meiner Präsentation derselben)? Nein. Reflexion über themenneutrale Erklärungsprinzipien läßt erkennen, daß (P3) nicht nur unbegründet ist, sondern schlicht falsch. In der jüngeren Erklärungsdebatte spielen solche Prinzipien eine zentrale Rolle. So unterscheidet Kit Fine zwischen einer reinen und einer unreinen Logik der Erklärung.32 Zu den Prinzipien der reinen Logik der Erklärung gehören strukturelle Prinzipien, wie das der Irreflexivität, die unabhängig davon sind, wie die jeweiligen Relata beschaffen sind. Prinzipien der unreinen Logik ergeben sich aus dem Zusammenspiel des Erklärungsbegriffes mit anderen Begriffen, die in Explanans und Explanandum vorkommen mögen. Handelt es sich bei diesen Begriffen um rein-logische Begriffe (wie sie z. B. von den Quantoren oder den logischen Satzoperatoren ausgedrückt werden), können wir die Prinzipien formal-logische Erklärungsprinzipien nennen. Eine fundamentale Intuition bezüglich wahrheitswertfunktionaler Operatoren ist, daß ein komplexer Satz, dessen Hauptoperator ein wahrheitswertfunktionaler Junktor ist, seinen Wahrheitswert allein kraft der Wahrheitswerte seiner Teilsätze hat.33 Ein spezifisches Prinzip für den Junktor »&« ist das Konjunktionsprinzip, das besagt, daß wahre Konjunktionen (zumindest partiell) durch ihre Konjunkte erklärt werden:34 31

Philosophen vertreten gemeinhin nicht nur die Irreflexivität vollständiger, sondern auch die Irreflexivität partieller Erklärung (siehe z. B. Correia: Existential Dependence, § 3.3). Könnte man nicht meinen, daß der gegenwärtige Fall von diesem Prinzip abgedeckt ist, denn immerhin sind die Konjunkte Teile der Konjunktion? Man sollte es jedenfalls nicht! Der einschlägige Begriff der partiellen Erklärung wird nicht – wie vom Einwand suggeriert – über die Struktur der Relata der Erklärungsbeziehung ausbuchstabiert, sondern über die Struktur der Erklärung selbst. Es kommt nämlich manchmal vor, daß ein Explanandum von mehreren Explanantia im Verbund erklärt wird. Ist dies der Fall, so liefern nur die Explanantia zusammengenommen eine vollständige Erklärung des Explanandum, aber jedes einzelne Explanans trägt zu dieser Erklärung bei. Die Irreflexivität partieller Erklärung besagt demnach, daß kein Sachverhalt etwas zu seiner eigenen Erklärung beiträgt. Auch dieses Prinzip ist hier also nicht direkt einschlägig, denn die Frage ist ja nicht, ob GK etwas zur Erklärung von GK beiträgt – dies wird tatsächlich durch die Irreflexivität partieller Erklärung ausgeschlossen –, sondern, ob dies irgendeinem der Konjunkte von GK möglich ist. 32 Siehe Kit Fine: Guide to Ground, in: Grounding and Non-Causal Explanation, ed. by Fabrice Correia & Benjamin Schnieder, Cambridge, im Erscheinen. 33 Schnieder argumentiert sogar, daß dies ein definitorisches Merkmal von Wahrheitswertfunktionalität in einem Verständnis des Wortes ist (in Benjamin Schnieder: Truth-functionality, in: Review of Symbolic Logic 1 (2008), 64–72). 34 Siehe beispielsweise Kit Fine, a.a.O., und Benjamin Schnieder: A Logic for »Because«, in: Review of Symbolic Logic 4 (2011), 445–465. Man beachte, daß die angegebene Formulierung des Konjunktionsprinzips darauf angewiesen ist, daß wir mit »weil«-Sätzen partielle Erklärungen geben können, denn es soll nicht behauptet werden, daß jedes der Konjunkte seine Konjunktion vollständig erklärt. Ein kurzer Blick in unsere explanatorische Praxis bestätigt diese stillschweigende Annahme. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das »weil« der natürlichen Sprache von der philosophischen Erfindung »weil«, die weiter unten in Fußnote 37 zur Sprache kommen wird.

Der Satz vom Grunde

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Konjunktionsprinzip ∀p,q ((p&q) → ((p&q), weil p)), ∀p,q ((p&q) → ((p&q), weil q)). Da das Konjunktionsprinzip eine direkte Folge einer theoretisch fruchtbaren und in der gegenwärtigen Diskussion beinahe einstimmig akzeptierten Intuition zur unreinen Logik der Erklärung ist, erscheint (P3) in einem denkbar schlechten Licht. Denn das Konjunktionsprinzip impliziert, daß jedes der Konjunkte von GK etwas zu GKs Erklärung beiträgt. Die Anhänger von (P3) liegen demnach so falsch, wie man nur falsch liegen kann. Nicht nur ist es nicht so, daß es es keine kontingente Wahrheit gibt, die GK erklärt; – vielmehr erklären sogar alle Konjunkte von GK die große kontingente Konjunktion.35, 36 Ohne (P3) kollabiert das Argument vom modalen Kollaps. Der Weg ist frei für eine Re-evaluation des Satzes vom Grunde.

4. Der Satz vom Grunde nach dem Kollaps Auch wenn das Argument vom modalen Kollaps scheitert, da es an zentraler Stelle die explanatorische Beziehung zwischen wahren Konjunktionen und ihren Konjunkten verkennt, lenkt es unseren Blick auf einen Aspekt dieser Beziehung, der für ein besseres Verständnis des Satzes vom Grunde entscheidend ist. Das im vorigen Abschnitt Gesagte impliziert nämlich, daß es zwar für jede wahre Konjunktion einen zureichenden Grund gibt (nämlich ihre Konjunkte zusammengenommen), es aber Konjunktionen geben könnte, die nicht eine einzige Wahrheit allein als zureichenden Grund haben. Im Fall einer wahren Konjunktion K mit modal unabhängigen Konjunkten K1 und K2 ist es z. B. so, daß keines der Konjunkte die Konjunktion impliziert. Daher ist weder K1 noch K2 allein ein zureichender Grund von K. Wenn es nun aber keine einzelne Wahrheit gibt, die sowohl für K1 als auch für K2 ein hinreichender Grund ist, gibt es auch keine einzelne Wahrheit, die ein zureichender Grund von K ist. Diese Überlegung zeigt, daß wir ein Prinzip, das wir anfangs als durchaus plausibel angeführt haben, nämlich (ZG), und den darauf aufbauenden Ausbuchstabierungsversuch des Satzes vom Grunde (SvG*) nicht akzeptieren sollten. Das Prinzip (ZG), und damit (SvG*), übersieht schlicht die Möglichkeit, daß die Wahrheit, daß p, nur von einigen Wahrheiten zusammen (daß q1, daß q2, daß q3, …) zureichend erklärt werden

35

Hierauf verweist auch William Vallicella: On an Insufficient Argument against Sufficient Reason, in: Ratio 10 (1997), 76–81, ohne jedoch eine allgemeine Begründung für die Gültigkeit des Konjunktionsprinzips zu liefern. 36 An dieser Stelle wird deutlich, warum Fußnote 27 ankündigt, das Konjunktionsprinzip bilde die Grundlage, die Existenz einer Konjunktion, die sich selbst zum Konjunkt hat, zu bezweifeln. Gäbe es nämlich eine solche Konjunktion, müsste sie sich laut Konjunktionsprinzip (partiell) selbst erklären. Dies ist aber laut des Irreflexivitätsprinzips unmöglich. Folglich gibt es keine Konjunktion, die sich selbst zum Konjunkt hat.

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Kolloquium 1 · Alexander Steinberg

kann, statt von einer Wahrheit allein.37 Insofern trägt das vermeintliche Gegenargument zumindest zu einem besseren Verständnis des Satzes vom Grunde bei. Ich komme nun zum Schluß: In diesem Aufsatz habe ich ein einflußreiches Gegenargument gegen die allgemeine Gültigkeit des Satz vom Grunde aus dem Weg zu räumen versucht. Das Scheitern des Arguments zeigt, daß die Abkehr der Mehrzahl der analytischen Philosophen ebenso verfrüht war, wie die rationalistische Standhaftigkeit eines Michael Della Rocca unnötig: weder gehört der Satz vom zureichenden Grunde in die Mottenkiste der Philosophiegeschichte, noch ist es obligatorisch, seine Akzeptanz mit der eines spinozistischen Nezessitarismus zu verbinden. Die Wahrheit des Satzes vom Grunde führt nicht zum modalen Kollaps. Dies sind nicht nur gute Neuigkeiten für seine angestammten Vertreter. Auch die Teilnehmer an den neueren Debatten, in denen die Beziehung des Grundes eine wesentliche Rolle spielt (z. B. die Fundamentalitätsund Wahrmacherdebatten), können von diesem Ergebnis profitieren, denn es eröffnet ihnen die Möglichkeit, die Argumente und Einsichten einer über Jahrhunderte geführten philosophischen Diskussion für ihre Zwecke fruchtbar zu machen. 38

37

Hierauf weist bereits Bernard Bolzano in seiner Wissenschaftslehre, Sulzbach 1837, § 205 hin. Insbesondere dieser Möglichkeit ist es geschuldet, daß in der neueren Erklärungsdebatte ein etwas merkwürdiger Junktor in den philosophischen Sprachgebrauch eingeführt wurde, der beinahe wie das natürlichsprachliche »weil« funktioniert, nur daß er (a) vollständige Erklärungen verlangt und (b) variabel viele Sätze als Explanantia akzeptiert. Mit seiner Hilfe läßt sich das Konjunktionsprinzip einfach formulieren: ∀p,q ((p&q) → ((p&q) weil p,q)). Vgl. z. B. Fine: Guide to Ground. 38 Dieser Aufsatz hat von Diskussionen mit Teilnehmern des Kolloquiums Erste Philosophie heute? beim Deutschen Kongress für Philosophie in München 2011 und den Teilnehmern des Ontologiekurses an der Universität Hamburg im Wintersemester 2011/12, sowie von Gesprächen mit und scharfen Blicken von Christopher Erhard, Katharina Felka und Benjamin Schnieder profitiert. Bei allen Genannten bedanke ich mich recht herzlich.

KOLLOQUIUM 2

Reasons for Actions Kolloquiumsleitung: Thomas Spitzley

Thomas Spitzley Einführung Maria Alvarez What Are Reasons? Stephen Finlay Explaining Reasons

Einführung Thomas Spitzley

We do a lot of different things: we eat, sleep, talk, stumble, sneeze, write an e-mail, walk a dog etc. Some of the things we do are actions, others are not. When what we do is an action, i. e. when we act, there are reasons for what we do, reasons for action. However, what are reasons for action? Almost half a century ago, Donald Davidson claimed “Whenever someone does something for a reason […] he can be characterized as (a) having some sort of pro attitude toward actions of a certain kind, and (b) believing (or knowing, perceiving, noticing, remembering) that his action is of that kind.”1 Pro attitudes include “desires, wantings, urges, promptings, and a great variety of moral views, aesthetic principles, economic prejudices, social conventions, and public and private goals and values in so far as these can be interpreted as attitudes of an agent directed toward actions of a certain kind.”2 The pair of the pro attitude and the related belief is “the primary reason why the agent performed the action”.3 Since in later years it became customary to speak – pars pro toto – of desires instead of pro attitudes, the account became known as “belief-desire theory” of intentional action. Here is an example: When John boards the 9 o’clock train, the reason why he performed this action is that he had the desire to go to Munich and believed that boarding the 9 o’clock train would be an appropriate means of fulfilling his desire. According to Davidson to have a primary reason for one’s action means two different things: first, the primary reason makes appear reasonable what the agent does; it rationalizes the agent’s action and in doing this it explains it. From the pro attitude which is part of the primary reason it becomes clear in which respect the agent takes the action to be worth performing, and the belief which is part of the primary reason shows that the agent takes her action to be an appropriate means to fulfil one of her pro attitudes. In the light of her primary reason it is consequently rational for an agent to act accordingly. To have a primary reason for one’s action means, second, that the action is caused by the primary reason. So a rationalization in the sense which is relevant here, i. e. an explanation of an action by the agent’s reasons, is a species of causal explanations.4

1 Donald Davidson: Actions, Reasons, Causes, 3 f., in: Donald Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 2001, 3–19. 2 ibid., 3 f. 3 ibid., 4. 4 ibid., 3.

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Kolloquium 2 · Thomas Spitzley

With this view Davidson took a clear stance against the then prominent position of Wittgenstein and Anscombe that reasons for actions should be distinguished from the causes of these actions.5 The account of reasons and actions which he developed in his seminal article was for a long time widely accepted as the so-called standard model of human agency and can well be taken as the background for the discussion in modern philosophy of action. Apart from the debate over whether reasons are, indeed, causes there are at least two different strands which can be distinguished in this discussion. The first concerns the ontological status of reasons: are reasons mental entities like desires or beliefs (or a combination of both, as Davidson had claimed), or are they extramental entities like, e. g. objects, propositions, or facts? The second concerns the realm of reasons. Especially during the last decades it has been divided in multiple ways: philosophers have argued that one should distinguish, e. g., internal from external reasons,6 motivating from normative reasons,7 explanatory from justifying reasons, and subjective from objective reasons, yet it is not always clear whether these terms really always mark different kinds of reasons.8 Taking up the above example, one could suppose that John, desiring to go to Munich and believing that boarding the 9 o’clock train would be an appropriate means of fulfilling his desire, indeed had a motivating reason for what he did; yet since, say, his belief was false and the 9 o’clock train did not go to Munich but to Hamburg, he had no normative or justifying reason for what acting in the way he did. In addition, that John had the desire to go to Munich could well explain why he bought a ticket for the right train. In the Davidsonian account the primary reason is a motivating reason insofar as it rationalizes what the agent does in the light of the agent’s own beliefs and desires; it is an explanatory reason insofar as it causes what the agent does;9 and it is a normative reason if the belief which is part of the primary reason is true. The two papers which were given in this symposium can be understood as contributions to these two strands of the discussion in modern philosophy of action. Maria Alvarez’ paper is a contribution to the question concerning the ontology of reasons, and Stephen Finlay’s paper can be taken as a contribution to the question concerning the putative multiplicity of kinds of reasons. In her paper “What are Reasons?” Maria Alvarez commits herself to the view that there are no different kinds of reasons in the sense that a) the term “reason” is ambiguous or that b) there is a variety of reasons which have different ontological status, yet 5 Cf. Ludwig Wittgenstein: The Blue and Brown Books, Oxford 21969, 15, and Gertrude Elisabeth Margret Anscombe: Intention, Oxford 21963. 6 Cf. Bernard Williams: Internal and External Reasons, in: Bernard Williams: Moral Luck, Cambridge 1981, 101–113. 7 Cf. Michael Smith: The Moral Problem, Oxford 1994, 92–98. 8 If one should, indeed, make such distinctions between kinds of reasons, the ontological question obviously has to be somewhat reformulated; it should then be asked whether all kinds of reasons have the same ontological status. 9 This is not to say that every explanatory reason is a cause.

Einführung

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that one and the same reason can play different roles, e. g. a normative, a motivational or an explanatory role. She forcefully argues for the thesis that reasons are facts and defends it against a number of alleged counterexamples like error cases, i. e. cases, in which the agent’s action is based on a false belief like John’s belief that the 9 o’clock train is headed to Munich, and objections like too strict a conception of facts. That reasons are facts does not only hold true of reasons for action, so Maria Alvarez finally argues, but of reasons in general, i.e. of reasons for wanting or believing something as well as for having certain emotions etc. Stephen Finlay’s paper “Explaining Reasons” can be understood as a contribution to the semantics of “reason”. His starting point is an argument for the thesis that the term “reason” is basically semantically unambiguous – a possible exception being when the term is used to refer to a mental faculty. With this we find him being in agreement with Maria Alvarez. Searching for a unifying semantics for “reason”, he carefully investigates usages of that term in different contexts, e. g., when we talk about reasons for facts or for attitudes (like beliefs, desires, hopes, fears etc.), or when we talk about normative or motivational reasons. Stephen Finlay argues that reasons are explanations why, and he claims that talk about normative reasons can be analyzed with recourse to the more basic concept of goodness. So in his analysis, e. g., a normative reason is an explanation why it would be good for (some salient end) e, for s to ψ.10

I am grateful to the DGPhil for the opportunity to realize this symposium and to Maria Alvarez and Stephen Finlay for contributing to that symposium by presenting a paper. 10

What Are Reasons? Maria Alvarez

1. Introduction In this paper, I’ll offer an answer to the question in my title relating to the ontology of reasons in general. It may, then, seem that my paper is not on the advertised subject of this symposium, which is ‘Reasons for Action’, since I’ll be talking about reasons in general. But let me say why I believe that conclusion would be misguided. The phrase ‘reasons for action’ can be used to refer to different kinds of reasons: (i) to the reasons there are for someone to act, what are often called ‘normative’ or ‘justifying’; (ii) to the reasons for which someone acts when she acts for a reason: what are sometimes called ‘motivating reasons’; and, finally, (iii) to the reasons that explain why someone did something, what we may call ‘explanatory’ reasons. Some people think of these as different kinds of reasons, meaning by this, for example, that the word ‘reason’ has a different sense in the expressions ‘normative reason’ and ‘motivating’ or ‘explanatory reason’, and that reasons of those various kinds are entities of different kinds, with different features on account of which they are normative, motivating or explanatory reasons – perhaps even that they are reasons with a different ontology, for instance, that normative reasons are facts while motivating reasons are mental states. Contrary to this view, I think that there is some continuity or common thread linking the use of the term ‘reason’ in these different uses. At the very least, it seems that, whenever reasons are used in any of the ways outlined above, it is possible to construct an argument (whether deductive or inductive, whether theoretical or practical) that underpins that use. To this extent, we might say that all reasons are at least in principle capable of being deployed in reasoning (I return to this point in section 2). Moreover, the claim that there are reasons of the various kinds just mentioned (normative, motivating, etc.) is to be construed, not in terms of differences in the sense of the word ‘reason’, nor of differences in ontology, but rather in terms of the different roles that reasons can play; and it is only on account of the role that a reason plays in any particular context that it makes sense to think of it as ‘justifying’, ‘motivating’ or ‘explanatory’. Just as a person is described as ‘a teacher’, ‘a runner’, or ‘a voter’ on account of the various roles and identities she has and the activities she engages in. Consider an example. Suppose that John insults Mary gratuitously. So, the fact that John insulted Mary gratuitously is a reason for John to apologize to Mary. But it can also be the reason that motivated Francis to slap John, and it may also be the reason that explains why Mary ran out of the room. Here, one and the same reason has been mentioned as playing three different roles for three different agents: a normative role, a mo-

What Are Reasons?

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tivational role and an explanatory role.1 But despite these different roles, we are dealing with one and the same reason: the fact that John was gratuitously rude to Mary. Now, since one and the same reason can play these different roles, that is, one and the same reason can be a normative reason, a motivating reason and an explanatory reason, it seems implausible to think that the reason becomes a different thing, or changes ontology, depending on which role we think of it as playing. Thus, regardless of whether one is talking about reasons of any of these kinds – i. e. about reasons in so far as they play any one of these roles –, it would seem that one is talking about things in the same ontological category. Furthermore this is true not just of reasons for action, whether these are normative, motivating or explanatory, but of all reasons: reasons for (not) acting, for (not) believing), for (not) wanting, for (not) feeling emotions, and so on; and also as of the reasons that explain phenomena that in no way involve humans and their rational, volitional and emotive powers, such as the reasons that explain the movements of the planets, or the behaviour of subatomic particles. So, in talking about reasons in general, and about the ontology of reasons in general, I shall be talking about reasons for action, as what is true of the ontology of reasons in general is also true of the ontology of reasons for action. So, what is the ontology of reasons?

2. The ontology of reasons By the ‘ontology of reasons’ I mean no more than a characterisation of the conceptual category or categories to which reasons belong. The range of categories to be considered as possible candidates here is very wide. It includes, for example objects, properties, relations, states (of things), events, processes, states of affairs, facts, truths, propositions, etc. And, as I understand it, talk about the ‘ontology’ of reasons does not commit one to any substantial conception of reasons as ‘entities’ – that is, it does not commit one to the idea that reasons are to be found among the things that constitute the world understood, to use Strawson’s words, ‘as “heavens and earth”’ (1950: 198). I shall explain and defend the view that reasons are facts – or, what I take to be equivalent, what is the case, or true propositions; in Strawson’s words ‘what statements (when true) state’ (1950: 196). Another way of putting my view is to say that the operator ‘the reason is that –’ is ‘factive’; i. e. that it implies the truth of the proposition that the that-clause can be used to express, so that when that true proposition is asserted, a These roles are not unrelated, of course. A normative reason for A to do something is a reason that explains why A ought to, or may, or must do something. And if A is motivated by a reason that there is for her to do something, that is because A recognizes that that reason explain why she ought to (etc.) do that thing (even though more than this may be required for A to be motivated to act by any particular reason). Finally, if A was motivated by a reason to do something, then that reason (perhaps together with other reasons) can explain why A did that thing. This strengthens my claim that the different contexts in which the word ‘reason(s)’ is used do not indicate a difference in the meaning of the word, nor a difference in ontology. 1

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Kolloquium 2 · Maria Alvarez

fact is stated. I shall first canvass some considerations in favour of this view and then consider objections to it. It is undeniable that things of many different kinds are said to be reasons, e. g. things, states of things (including states of minds), features or aspects of the world, absences, events, facts, propositions, considerations (moral, aesthetic, legal, etc.), states of affairs, etc. For example, we may say that the reason why it’s feels so cold is the chilled wind, or that the reason for her anger is his failure to turn up, or that the intense redness of the rose is the reason that explains its salience in the garden, or that the fact that she’s not too demanding is the reason why she’s so popular, etc. On examination, we see that despite this disparity, reasons are actually given either in propositional form (as ‘that’-clauses) or by using nominal expressions, either a noun or a gerundial nominal phrase. To return to our example about John and Mary, we might say that the reason that there is for John to apologize to Mary is:2 T (That clause): That he insulted her gratuitously; N (Noun): His gratuitous insult; G (Gerundive nominal): His insulting her gratuitously. This might lead one to think that reasons can be, variously, propositions (or facts) (T), events or objects (N), or states of affairs (G), etc. But I think there is reason to think that although, of course we can think of some of these things as reasons – or, as I prefer, as what underlies reasons (more on this below) – reasons themselves are facts. In my view, there are two initial considerations that support the idea that reasons are facts (in the sense of ‘fact’ outlined above). One is that reasons must be capable of being premises, i. e. what we reason, or draw conclusions, from, whether in theoretical or in practical reasoning – otherwise, the connection between reasons and reasoning mentioned above would be lost. But even if it is true that not every use of reason involves a piece of reasoning (whether implicit or explicit), it is nonetheless the case that every reason must be capable of being used in reasoning. And that means that every reason must be capable of being given in propositional form – for that is the form that premises have. If this is right, then reasons must be propositional in form. Second, and relatedly, reason statements are ‘factive’. That is, whatever form we give a reason in, there must always be a corresponding fact or truth. Thus, for example, if the statement ‘the reason that explains its salience in the garden is the intense redness of the rose’ is true, then it must be true that the rose is of an intense red colour. Thus, whether one says that the reason why John ought to apologize to Mary is his gratuitous insult, or his gratuitously insulting her, it must be true that John insulted Mary gratuitously because if he did not, then there is no ‘gratuitous insult’ from John to Mary and hence, after all, no reason for him to apologize to her (assuming there was no other reason for him to do so).

The reason may be thought to be more complex: that he insulted her and that insulting someone is a breach of etiquette/ is unkind, etc. But that does not affect my point here. 2

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These considerations seem to support the view that reasons are (true) propositions, and hence facts.3 Let me now survey a range of worries about the suggestion that reasons are true propositions, or facts, or both. I shall start with a very brief discussion (because I have discussed this in detail elsewhere) of a couple of objections to my suggestion that reasons are facts – objections that concern motivating and explanatory reasons respectively.4

3. Error cases and Motivating and Explanatory reasons First, motivating reasons. Sometimes people act motivated by things they take to be the case but which are not; for example, Jim might make a decision to sell his house based on the consideration that house prices are falling only to find out, after the sale, that in fact they have been rising. When someone acts based on a mistaken consideration as Jim does, what motivates him to act is not a fact, for if things are not as he thought they were, then there is no fact. And these cases show, the objection goes, that some reasons are not facts. But this objection is based on the assumption that in error cases of this kind, the grounds on which an agent acts, the consideration which leads him to act, is a reason. But that assumption is questionable. For it seems plausible to argue that in such cases, the consideration on which the agent acts is not a reason – or perhaps I should say, is not a real or actual reason: it is only what I shall call ‘an apparent reason’. That is, in error cases the agent acts in the light of something that he takes to be the case and to be a reason for him to act. But since what he takes to be the case is not the case, it is not a fact but only an apparent fact, and hence, it is only an apparent reason: just as facts can be reasons for which we act, apparent facts can be apparent reasons for which we act. And so, in error cases of the kind described above,5 agents do not act for real reasons; rather they act for apparent reasons. An apparent reason is not a kind of reason, it is rather something that appears to be so; just as an apparent fact is not a kind of fact, rather it is something that appears to be so, in a way analogous to the way in which a mirage is not a kind of pool of water but rather something that appears to be one (or perhaps just the appearance that there is a pool of water).

A question that arises in connection to this claim is whether facts are timeless or whether they come into existence. This is not something I need decide here for my claim is simply that, if something is a fact, then it is a reason – what it is a reason for, or what that reason explains for instance depends on a huge variety of things, such as logical and causal relations, conventions, occurrences, etc. 4 See Alvarez 2010, esp. chapters 5 and 6. 5 I say ‘error cases of the kind described’ because there are other kinds of error in relation to reasons. So someone might think that the fact that this spray can is empty is a reason to dispose of it by putting it in the bonfire. The spray can may indeed be empty, and thus the fact that it is may be a reason to dispose of it – but not a reason to dispose of it by putting it in the bonfire as doing so is rather dangerous. 3

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It has been argued that in cases when one acts on a consideration that seemed to one to state what is the case but does not, this consideration is a reason that is a fact, but a non-existent fact. An analogy that might help here is to think that the reasons which motivate one to act are intensional objects which may or may not exist, just like the objects of our desires, hopes, fears, etc., are intensional objects that may or may not exist. So I may hope to find the goose that lay the golden egg – if so, what I hope to find is an object – a goose (in particular, the goose that lay the golden egg) but one that does not exist. As articulated, I do not find this suggestion about facts plausible, as I do not think that we have a clear idea of what it is for something to be a fact that does not exist (I leave aside the issue about non-existent objects). A fact is, I take it, what is the case: if it is a fact that p, then it is the case that p, and vice-versa. And the only understanding I have of what it is for a fact not to exist is for it to be a way things could have been when they are not that way. And this suggest that for the fact that p not to exist is for it not to be the case that p. If so, a non-existent fact seems to be something that is the case that is not the case – which is, at best, a confusing way of saying that there is no such fact, i. e. that is it not a fact that p. No doubt defenders of the view that there are non-existing facts could say a range of things to make their view more appealing.6 Perhaps they could say that non-existent facts are possible but non-obtaining states of affairs, while existent facts are possible and actual states of affairs (merely possible facts, as one might put it). In that case, they may say, the reasons that motivate agents in error cases are non-existent facts (possible but non-actual states of affairs), while those that motivate in veridical cases are existent facts (possible and actual sates of affairs). For reasons I have given elsewhere (Alvarez, 2010), I do not think that this is a right way of describing this error cases because it goes against the fact that reason claims are retracted when the alleged reason is shown to be a falsehood (or even something doubtful). Thus, I do not insist that my reason for taking the coat was that it is my coat once I know that it is not my coat. I can still say that that’s what I thought, and that I took it because I thought that it was my coat, and even that my reason for taking it was that I thought it was my coat (more on this below) – but I cannot say, at least not without a definite air of paradox, that my reason was that it is my coat even though it is not my coat. And that is surely because ‘my reason was that p’ and similar idioms are factive: they imply the truth of p.7 It is sometimes countered against this that the view I am defending involves too much stipulation because there is a use of ‘his reason’ which is non-factive: where what is being asked for is the answer he would have given when asked for his reason, and the fact that what he would have said is not true does not impugn its status as his reason –

For a discussion of this, see Armstrong (1997). Note that the view I am defending does not imply that in such a case I did not know what my reason was for taking the coat. Rather, what it implies is that in such a case I did not know that I had no reason to do something, namely to take that coat, and that I mistakenly believed that I had such a reason. This is all consistent with saying that I knew what consideration motivated me to take it – but not all considerations are reasons, just as not all answers are the solution to a riddle. 6 7

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for that is what the expression ‘possessive + reason’ means. So some reasons, e. g. those that people would give as their reasons, need not be (actual, existent) facts. But this seems analogous to saying that not all alibis need be true, since some times people give false alibis, e. g. that they were at home watching TV when they were not. Admittedly, someone might add, the best alibis are true ones but that does not disqualify false alibis from being alibis. But this is surely wrong: a person who has only a false alibi has no alibi, even though they might do their best to appear to have one. A false alibi is not a bad alibi: it is no alibi. I cannot pretend to have given a decisive argument against this non-factive view of motivating reasons. But I shall finish this discussion noting that in fact how this particular point is decided has less dramatic consequences for the ontology of reasons than it might seem. For those who say that falsehoods that motivate are reasons agree with the view I am defending in that they agree that reasons are propositional. And those who claim that some reasons are non-existent facts agree also that all reason are facts – they just think that some are non-existent facts. But holders of both these views would seem to agree that these reasons are not mental states. To explore the force of that suggestion, we need to turn to the second objection I mentioned above. This second objection concerns explanatory reasons. There is a view, made popular by Davidson, that explanations of action in terms of the agent’s reason must cite a belief and a desire, so they are typically of the form, roughly: ‘He did A because he wanted x and believed that p’, And many people hold that that these explanatory reasons are mental states. If that is right, then some reasons are not facts but mental states, viz., the ones that figure in explanations of actions performed for reasons. Now, whether all explanations of action must have that form is doubtful but I shall not assess the claim here, because it seems true that it is always possible to give explanations that have that or a similar form, which involves reference to an agent’s believing and wanting something. But is this enough to show that some reasons are mental states? The claim that the kinds of reasons that explain actions just mentioned are mental states depends on the general claim that my believing that p, or my wanting something are mental states. But although the claim is popular it is, at best, misleading. Expressions such as ‘my believing that p’ are nominalization of the corresponding sentences ‘I believe that p’ (the same goes, mutatis mutandis, for ‘my knowing that p’). One may think that believing something is being in a mental state and may also think (a view that seems to me less plausible) that when I believe that p there is some thing, a mental state, that the nominalization ‘my believing that p’ refers to. And this may suggest that in the explanations just mentioned the nominalizations denote mental states – which seems to imply that some reasons are mental states. But even if one accepted the existence of mental states that can be referred to using these nominalizations, it does not follow at all that some reasons (namely, those that figure in these psychological explanations) are mental states. For the nominal expres-

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sions just mentioned are also used to refer to the corresponding facts. And in ‘Her believing that p explains her φ-ing’, the nominalisation ‘her believing that p’ refers, not to a mental state, but to the fact that she believed that p.8 This can be seen from the fact that, whenever we use the nominalised form ‘his believing that p’ to talk about reasons in explanations, it is possible, and appropriate given the nature of explanations, to replace it with the expression ‘the fact that she believed that p’. This is surely implicit in the claim that explanations such as ‘Her believing that p explains her φ-ing’ are factive – that is, although what she believed need not be true, it must be true that she believed it – and it is the fact that she believed it that explains her φ-ing’. So the nominalizations that are employed in explanations of the kind just mentioned refer to facts: the fact that the agent believes that p, the fact that she knows that q, etc. These may be though of as ‘mental’ or ‘psychological’ facts but what this means is simply that these are facts that concern an agent’s ‘mental states’, that is, a fact about how things are, psychologically speaking, with the agent. But since they are still facts, they have the same ontology as facts of any other kind – that is, as facts about things of any other kind (about physics, biology, love or theatre). And this is all consistent with the widely held view that these ‘psychological’ facts explain actions only because there is a causal connection between the agent’s mental states and his action. So we have seen that neither of these objections has undermined the claim that reasons are propositional and that they are facts. Let my now turn to more general worries about the view I am defending. Some of these worries suggest that reasons may be propositions, but not facts. Others suggest the reverse, that they may be facts but not propositions. I’ll start with the first.

4. Reasons cannot be facts, even if they are true propositions Reluctance to accept the view that reasons are facts stems from an austere or restrictive conception of facts. For instance, at least at some points in his life, Russell thought that a sober ontology cannot contain negative facts: “There is implanted in the human breast an almost unquenchable desire to find some way of avoiding the admission that negative facts are as ultimate as those that are positive’ (1956: 287).” Others have questioned whether there are moral or aesthetic facts. Again, facts are sometimes contrasted with values – or statements of fact with statements of value – and with logical, conceptual, or mathematical truths. And statements of facts are also contrasted with

Here I draw on Alvarez, 2010, § 5.4, where I make use of Strawson’s discussion of this point in his paper ‘Causation and Explanation’ (1992), in which he says that in the sentence ‘His death’s coming when it did was responsible for the breakdown of the negotiations’, the expression ‘his death’s coming when it did’ does not refer to an event in nature, i. e. to his death. Rather, it refers to the fact that his death came when it did. For his death coming when it did, unlike his death, ‘did not come at any time. It is not an event in nature. It is the fact that a certain event occurred in nature at a certain time’ (Strawson, 1992, 110). 8

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statements of possibility.9 On the other hand, statements that express negative truths, value judgements, moral claims, conceptual truths, possibilities, etc., are cited as reasons and such statements are often said to express true propositions. So the plausibility of the view that such reasons are facts depends on the plausibility of ‘the minimalist conception’ of facts endorsed by Strawson and mentioned above, according to which a fact is a true proposition, or what a statement, when true, states (so not, for example, conceptions of facts, like that which Russell held at some points, according to which a fact has concrete objects as constituents). Since this is all that I take the claim that reasons are facts to amount to, someone who accepts that there are truths of the kind just mentioned and that these can be reasons can object to the claim that such reasons are also facts only if they think that the suggestion that facts are just what statements, when true, state, that is, true propositions, is untenable. Here are some reasons why they might think that. 4.1 One such reason is this. Propositions are more finely individuated than facts so facts cannot be true propositions (even if true propositions are reasons). But this view depends on the assumption that, say, the proposition expressed by ‘I’m meeting Jim on Tuesday’ and that expressed by ‘I’m meeting Jim on Tuesday’ are different, whereas there is only one fact here which is that I am meeting Jim on Tuesday. But these is an assumption that someone who endorses the conception of facts I am advocating will simply reject, and hence it is and assumption that requires argument. Against this assumption, however, it could be argued that facts are as finely individuated as propositions for, to take the example above, the claim is that ‘I’m meeting Jim on Tuesday’ and ‘I’m meeting Jim on Tuesday’ can be used to express different propositions. Presumably, the different propositions expressed are the propositions that on Tuesday, I am meeting Jim and not someone else, and the proposition that I am meeting Jim on Tuesday and not on some other day, respectively. But then, these seems to be different facts – as different as the corresponding true propositions are. So this objections fails. 4.2 Another reason against the idea that facts are reasons is that facts are the ‘truthmakers’ of true propositions and so, even if true propositions are reasons, facts cannot themselves be reasons (or vice-versa: if facts are reasons, then true propositions are not reasons). But I find this objection unconvincing. First, the notion of ‘making’ involved in the idea that facts make propositions true need not (and I think should not) be taken to be a causal one. It need simply involve the idea that a proposition being true depends on there being a corresponding fact – in the sense that if there is no fact then there is no truth. But this notion of correspondence is just one of correlation and it does not require that a true proposition and the As White notes, though, facts are also contrasted with ‘what is only fiction, hypothesis, speculation, opinion, attitude, or a matter of taste’ (White, 1970: 79), which suggests that here what is contrasted is what is true with what is not, or not known to be so, or such where truth is not relevant. 9

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corresponding fact should be two distinct existences. As Prior puts it, propositions and facts are both logical constructs and to distinguish between them is to have too many logical constructs.10 Second, the truth of the proposition that p, like its being a fact that p seem to both depend on the existence of certain objects and the occurrence of certain events, processes, etc, involving those things in the sense that, unless such things exist and such events occur those propositions will not be true, nor there will be a corresponding fact. Thus, one might say that what makes the proposition that Brutus killed Caesar true, and makes it a fact that Brutus killed Caesar, is the man Brutus, the man Caesar and some happenings and events that they were involved in. It is this, I think, that explains why things of so many different kinds are sometimes referred to as reasons. Thus, we may say that the reason why Caesar died was Brutus’s treason, or his stubbing Caesar, or simply Brutus, etc. precisely because the fact that Brutus killed Caesar depends on, among other things, the existence of Brutus, on there being the event of Caesar’s death and its being caused by Brutus, etc. 4.3 Another reason against my suggestion, is the thought that facts and propositions cannot be identified for they are different concepts as is shown by the fact that the terms ‘fact’ and ‘proposition’ have different meanings, so it is a sign of confusion to think that reasons can be both true propositions and facts. However, it seems undeniable that we can talk about ‘the proposition that p’, and ‘the fact that p’ and it seems implausible to suggest that what we are talking about, namely, that p, changes ontological category according to the locution we use to talk about it. So it seems that the same thing is being talked about: that is, something that is specified with a ‘that’-clause, for example, ‘that Andrew has absconded’.11 This, however, does not imply that the term ‘proposition’ has the same meaning as the term ‘fact’: it only implies that the same thing can be both a proposition and a fact. As Strawson says: “It would indeed be wrong […] to identify ‘fact’ and ‘true statement’; for these expressions have different roles in our language, as can be seen by the experiment of trying to interchange them in context. Nevertheless, their roles – or those of related expressions – overlap. There is no nuance, except of style, between ‘That’s true’ and ‘That’s a fact’; nor between ‘Is it true that … ?’ and ‘Is it a fact that … ?” (1950: 196) The terms ‘proposition’ and ‘fact’, etc., have, as Strawson says, different roles in our language, they express different concepts. Nonetheless, the same thing can be intro-

Prior, ch.1 The sentence ‘I truly believe that p’ seems ambiguous in that it could be used to express the claim that I do indeed believe that p, or the claim that I believe something that is true, namely, that p; while the sentence ‘I falsely believe that p’ does not seem ambiguous in this way: it says that I believe something that is false. 10 11

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duced with the operator ‘the proposition that’, ‘the statement that’ and ‘the fact that’.12 Thus, in talking about the fact that London is an expensive City, the statement that London is an expensive city, and the proposition that London is an expensive city, the same thing is being talked about in every case: namely, that London is an expensive city.13 4.4 Against the answer suggested above, it is said that it cannot be the same thing that is being specified using those labels. For there are things that can be predicated of a proposition and a statement, such as that it is true or false, that cannot be predicated of a fact. Moreover, a fact can be said to be shocking or reassuring but propositions cannot be. And so on. But this point is also accommodated by Strawson’s observation that the terms ‘proposition’, ‘statement’, or ‘fact’ cannot be interchanged in all contexts because they express different concepts that play different roles. Nonetheless, I can assert what I believe by asserting the proposition that p, and what I thus assert may be a reassuring fact. And, if it is a fact that p and I believe that p, then what I believe is true and is a true proposition. Consider an analogy. A particular object, for instance, a particular bicycle, may be given as a present. Now, presents, but not bicycles, can be generous. But if Amy’s bicycle was a generous present, the fact that bicycles cannot be generous does not show that Amy’s bicycle was not a present, or that bicycles cannot, after all, be presents. So the fact that there are things that it makes sense to say of a proposition, for example, that it is true or false, but not, say, of the corresponding fact, and vice versa, does not show that when we talk about ‘the (true) proposition that p’ and about ‘the fact that p’, we are not talking about the same thing, namely that p: ‘the fact that p’ specifies a fact; and what is so specified is the same as what is specified by ‘the proposition that p’, namely, that p. I now turn to the objection that perhaps facts may be reasons, but propositions cannot be.

12 And which operator is appropriate depends on the context. For example, we tend to use ‘the belief that’ or ‘the supposition that’ when we’re concerned with (possible or actual) things that people may believe; ‘the statement that’ is used typically when the concern is (possible or actual) assertions or utterances; ‘the proposition that’ is often used in logic where issues such as truth and implication are at the fore, in abstraction from what anyone might believe or assert; and ‘the fact that’ is typically used in ordinary talk when the focus is the assessment of truths concerning situations, people, etc. (It now seems to me preferable to call these ‘operators’ rather than ‘labels’, as I did in Alvarez 2010.) 13 I use ‘thing’ in its widest possible sense, as a dummy for what is being talked about, without implications of concreteness, particularity, etc.

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5. Propositions cannot be reasons, even if facts (what is the case) can be This objection is motivated by the thought that reasons must be ‘real’, ‘things in the world’. But, it is argued, propositions are not ‘in the world’ – they are abstract things. The thought behind this is that facts, unlike say, propositions or possible but non-actual states of affairs, are ‘out there in the world’ or are ‘concrete’. For example, Dancy, who holds and has persuasively defended the view that reasons must be ‘what is the case’, rejected the view that reasons can be propositions in his 2000 book precisely on the grounds that what is believed and motivates must be ‘part of the world’. He says: ‘It is her being ill that gives me reason to send for the doctor, and this is a state of affairs, something that is part of the world, not a proposition’ (2000: 114). And “Reasons for action are things like his self-satisfaction, her distress, yesterday’s bad weather, and the current state of the dollar. They cannot be abstract objects of the sort that propositions are generally supposed to be.” (2000: 115) But it is unclear that the suggestion is cogent, and hence that it lends any force to the objection. If the idea amounts to the thought that facts have spatial location, then the objection is lame, because facts do not seem to have spatial location: where is one to locate the facts that many people admire Barak Obama, or that John is taller than James, or say, the fact that there isn’t a pink elephant in this room? As Strawson says: “Situations and states of affairs so talked about are (like facts so talked about), abstractions that a logician, if not a grammarian, should be able to see through. Being alarmed by a fact is not like being alarmed by a shadow. It is being alarmed because …” (1950: 197) (A way of completing Strawson’s sentence might be: ‘the housing market has collapsed’.) And “Events can be dated and things can be located. But the facts which statements (when true) state can neither be dated nor located. (Nor can the statements, though the making of them can be). Are they included in the world?” (1950:199) So to the extent that the objection depends on this doubtful conception of facts as having spatial or temporal location in the world, the objection can be put aside. Facts are no more concrete or ‘out there’ than statements (what is stated), or than what is believed, or propositions, whether these be true or false. We might say that reasons must be ‘real’ but here, real is to be contrasted not with spatially locatable but rather with false, with what is not the case. And again, we may say, as I suggested above, that the fact that she is ill depends on the world including (in the sense in which Strawson says it does not include facts) her, a virus that causes a certain state of her organism, etc. and these are real: i. e. to be found in the world. But the fact itself is no more real in that sense, than the propositions that she is ill. So this is no reason to reject the view I am defending.

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Conclusion So the answer to the question that gives the title to my paper: ‘What are reasons?’ is, I submit, that reasons are facts, and this is so regardless of whether we are talking about the reasons that there are for doing, believing, wanting things, or having certain emotions (or for not doing any of those things), or the reasons for which we actually do (or do not do) those things, or whether we are dealing with the reasons that explain the whole variety of things, which includes our actions, beliefs, attitudes, as well as the wide range of phenomena involving animate and inanimate things that constitute this immensely complex and fascinating world that we inhabit.14

References Alvarez, M.: Kinds of Reasons, Oxford 2010. Armstrong, D.M.: A World of States of Affairs, Cambridge 1997. Dancy, J.: Practical Reality, Oxford 2000. Davidson, D.: ‘Actions, Reasons, and Causes’, 1963. Reprinted in: Davidson, D.: Essays on Actions and Events, Oxford 1980, 3–19. Prior, A.N.: Objects of Thought, ed. by P.T. Geach and A.J.P. Kenny, Oxford 1971. Strawson, P.F.: ‘Truth’, 1950; Reprinted in: Strawson, P. F.: Logico-Linguistic Papers, London 1971. –: ‘Causation and Explanation’, 1987. Reprinted in: Strawson, P.F.: Analysis and Metaphysics, Oxford 1992, 109–31.

I am grateful to the audience for their comments and especially grateful to Thomas Spitzley and the DGPhil for the opportunity to present this paper. 14

Explaining Reasons Stephen Finlay

What does it mean to call something a “reason”? Here I offer a unifying semantics for the English word ‘reason’ which purports to account for the range of different ways we ordinarily use it (and, I hope, extends to counterparts in other languages, like ‘grund’ in German). This account challenges three ideas that are popular in contemporary philosophy. The first is the idea that ‘reason’ is semantically ambiguous, having several distinct meanings. The second is the idea that our concept of a normative reason is the basic normative concept in terms of which all other normative concepts must be analyzed. I argue instead that we can analyze talk about normative reasons by appeal to a more basic normative concept of goodness. The third idea is that the basic normative concepts are primitive, and cannot be reductively analyzed into entirely nonnormative components. I show how a number of apparent obstacles for the proposed analysis can be overcome if we adopt a reductive, end-relational analysis of the meaning of ‘good’, which I have championed elsewhere.1

1. Reasons as Explanations Why Philosophers often take talk about “reasons for action” as their object of study, which is to focus narrowly on a subset of the ordinary ways we use the word ‘reason’. The word could just be semantically ambiguous. But before concluding this we should investigate the simpler unifying hypothesis that these are all different uses of the same word with a single meaning. I shall argue that this hypothesis can be vindicated, casting light on the nature of normative reasons. (However, I set aside ‘reason’ in its uses referring to mental faculty.) A first expansion of the data comes from noticing that talk about “reasons for action” is only part of our talk about normative reasons. We also talk about reasons to want things, reasons to hope for things, reasons to regret things, reasons for anger, guilt, fear, etc. These are just a few examples of reasons for attitudes, among which we can also count the important case of reasons for belief. A unifying semantics for ‘reason’ must account for all these cases. (Some philosophers claim that reasons for action

1 This paper is based on a draft chapter of my manuscript on normative language, Confusion of Tongues, and develops some ideas in Finlay 2001, 2006. Constraints of space and time force my references and acknowledgments here to be thin. Among many to whom I owe thanks are audiences at the XXII. Deutscher Kongress für Philosophie, UC-Davis, and Reed College. I am especially grateful to Thomas Spitzley and the DGPhil for the opportunity to present this paper in Munich.

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are properly analyzed also as reasons for attitudes: by ‘a reason to φ’ we really mean a reason to intend to φ. This theoretically motivated view finds no support in linguistic practice or the analysis offered here.) A second expansion of the data arises from distinguishing between two different kinds of “reason for action”. In addition to talking about (“objective”) normative reasons, which are facts that favor actions or attitudes (‘reasons to φ’), we talk about the reasons that motivate agents to φ, the ‘reasons for which s φ’s’, and ‘s’s reasons for φ-ing’. Philosophers have drawn a sharp distinction between a normative and a motivating sense of ‘reason for action’, and relatedly, between an “objective” and a “subjective” sense. This presents a challenge for a unifying semantics. Our data expands in a third, more dramatic way when we notice that ‘reason’ is commonly used to talk about (nonnormative) reasons for ordinary facts; for example (1) ‘The reason the light isn’t turning green is that the car didn’t cross the sensor.’ (2) ‘The reason this escape plan won’t work is that the prison fence is electrified.’ As this use of ‘reason’ is plausibly the most common and transparent, I start my search for a unified meaning here, and will then examine how far this sense of ‘reason’ can be extended. In these cases, by “a reason” we refer to a fact that r (e. g. that the car didn’t cross the sensor) that stands in a relation R to another fact that p (e. g. that the light isn’t turning green). In looking for what we mean by ‘reason’ in these uses, the answer seems obvious: an explanation why. The relation R is just the relation of being explanatory of why, and for r to be a reason for p is simply for r to be the explanans to p’s explanandum. Or as we may say, a reason is an answer to a ‘why?’ question; ‘Because…’. The sentences above seem to be equivalent in meaning to (1’) ‘The explanation why the light isn’t turning green is that the car didn’t cross the sensor.’ (2’) ‘The explanation why this escape plan won’t work is that the prison fence is electrified.’ While the concept of explanation itself raises philosophical puzzles, here I’ll assume the view that ‘explanation’ means something that makes clear (or reveals), and ‘why’ means what makes it true that. Saying that r is the reason that p is therefore saying that r is something that reveals what makes it true that p. So (e. g.) the fact that the car didn’t cross the sensor is something that reveals what makes it true that the light isn’t turning green. 2. Reasons to φ Can our talk about normative reasons to φ be analyzed in terms of explanations why? There is nothing novel about this idea, which has been endorsed by many philosophers. But it has proved difficult to implement, and in this section I propose a new strategy.

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One challenge is to reconcile the grammar of normative reasons sentences with the logical form R(r, p). A simple report of a normative reason may take the form, ‘That r is a reason to φ,’ as in (3) ‘That plaque decays teeth is a reason to brush your teeth every day.’ (4) ‘That the subsequent train isn’t until 11:30am is a reason to catch the 8:30am train.’ Here, ‘reason’ grammatically takes a ‘to φ’ complement, prompting some to claim that normative reasons involve relations to actions rather than to propositions. We can of course ask, ‘A reason for whom to φ?’, and we can further explicate these sentences as elliptical for sentences of the form, ‘That r is a reason for s to φ.’ (3) can naturally be interpreted as ‘That plaque decays teeth is a reason [for you] to brush your teeth every day.’ Accordingly, philosophers sometimes claim that the property of being a normative reason has argument-places for both an action φ and an agent s, hence with approximately the logical form R(r, s, φ).2 A distinction is often drawn between “agent-relative” reasons and “agent-neutral” reasons, and a natural thought is that an agent-neutral reason is just a reason for anyone to φ. In seeking a unified logical form for reasons-talk, we may notice that ‘for s to ψ’ provides all the components of a proposition. So we may try reading ‘a reason for s to ψ’ as meaning a reason that s ψ’s, just as (e. g.) ‘I hope for s to ψ’ seems equivalent to ‘I hope that s ψ’s’. A consideration in favor is that we do seem to ascribe normative reasons for the obtaining of propositions. Consider, (5) ‘The brutality of war is a reason for hostilities to cease.’ This has the grammatical form of an agent-relative reasons sentence, but it would be absurd to understand it as ascribing a normative reason to the agent, hostilities, to perform the action ceasing, rather than as reporting a normative reason favoring the state of affairs that hostilities cease; i.e. as equivalent to the sentence, ‘The fact that war is brutal is a reason for its being the case that hostilities cease.’ Can we understand ‘a reason for s to ψ’ as an explanation why s ψ’s? This seems impossible. First a grammatical difficulty: we can’t simply substitute ‘explanation why’ for ‘reason’ in ‘a reason for s to φ’. ‘The brutality of war is an explanation why for hostilities to cease’ is badly ungrammatical. More seriously, ‘a reason for s to φ’ seems to mean something quite different. A reason for hostilities to cease is not the same thing as an explanation why hostilities cease. One feature of talk about normative reasons is that it is in one way nonfactive: the existence of a normative reason for s to φ doesn’t guarantee that s actually φ’s. Yet ‘explanation why’ is factive: r is only an explanation why p if it is true that p (and r). Being explanatory of why s φ’s is neither necessary nor sufficient for being a normative reason for s to φ. Counting in favor of something is evidently totally different from explaining it.

2

E. g. Schroeder 2007.

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There is a natural way of translating normative reasons claims into explanatory claims, however. Plausibly, ‘a reason to φ’ is equivalent to ‘an explanation why to φ’. The fact that plaque decays teeth is an explanation why to brush your teeth daily. If the fact that the subsequent train isn’t until 11:30am is a reason to catch the 8:30am train, then it will be an explanation why to catch the 8:30am train. But although ‘Why φ?’ is a familiar kind of question, it requires interpretation, as ‘φ’ (e. g. ‘Catch the 8:30am train’) is not a valid explanandum. ‘Why φ?’ seems to be elliptical for some more complete question. But what? We can presume an implicit agent of the action; Why: I catch the 8:30 train? Why: you brush your teeth daily? This provides the essential ingredients of a proposition, but we’ve already seen that the question cannot be ‘Why does s φ?’ A natural alternative is to explicate ‘Why φ?’ as ‘Why ought s to φ?’. ‘A reason to brush your teeth’ would thereby mean an explanation why you ought to brush your teeth. By ‘a reason for s to φ’, might we mean an explanation why s ought to φ, as some have proposed?3 Instead of assigning ‘reason’ an essentially normative meaning, we thereby interpret it as meaning explanation in the ordinary sense, and locate the normativity in the explanandum. Since we are talking about normative reasons it makes sense that if they are answers to ‘why?’ questions then these will be normative ‘why?’ questions. Although progressing from ‘the reason to φ’ to ‘the reason s ought to φ’ to ‘the explanation why s ought to φ’ may initially seem to preserve meaning, it can’t be exactly right. The problem is that normative reasons often have merely pro tanto (contributory) rather than decisive “weight”; i. e. we can have reasons in favor of φ-ing without it being true that we ought to φ, if we have stronger reasons for not-φ-ing. Since ‘explanation’ is factive there can only be an explanation why s ought to φ if it is true that s ought to φ. So ‘a reason for s to φ’ cannot (always) mean ‘an explanation why s ought to φ.’ John Broome (2004) proposes that ‘a reason for s to φ’ is ambiguous between this and a pro tanto sense as something that plays a role in a weighting explanation of why s ought or ought not to φ. This solution is neither unifying nor compositional,4 but there is an alternative which is. In cases involving a defeated pro-tanto reason, calling it ‘a reason s ought to φ’ is no less unacceptable than calling it ‘an explanation why s ought to φ’. So the difficulty here seems not to be that ‘explanation why’ is factive while ‘reason’ is not, but simply that we’ve identified the wrong kind of normative explanandum. If normative reasons only contribute a degree of weight toward what ought to be done, then a unifying analysis would have to identify a kind of explanandum that involves a normative concept which is contributory in this way. Here we may consider the widely accepted platitude that what ought to be done is whatever it would be best to do (which need not mean: whatever would yield the best consequences). Since to be “best” is just to be most good, goodness is a pro tanto normative concept that fits our needs. This suggests the hypothesis that ‘a reason for s to φ’ can be understood as elliptical for ‘a reason [it 3 4

Toulmin 1950: ch. 11, Finlay 2001: 104, Broome 2004: 34. See also discussion in Schroeder 2007: 36n, Brunero ms.

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would be good,] for s to φ’, and means an explanation why it would be good, for s to φ.’ The relation of counting in favor would therefore be the relation of being explanatory of the goodness of. This is to reverse the popular “buck-passing” view that to be good is just to be favored by some reason. This analysis overcomes our previous problems. First, while the construction ‘an explanation why for s to φ’ isn’t grammatical, ‘an explanation why [it would be good] for s to φ’ is fine. Second, since the existence of a normative reason for φ-ing is plausibly sufficient for φ-ing’s being good in some way, the analysis respects the factiveness of ‘explanation’: normative reasons explain facts by other facts. It also captures a relationship between reasons and value that many have thought correct. Appealing to goodness also introduces some difficulties, as we shall see, but I will argue that these can be resolved by exploring two areas of vagueness or relativity in the analysis: in the notions (i) of being good, and (ii) of explanation. In particular, I will argue that they can be resolved by adopting an end-relational semantics for ‘good’. On this theory (which I have championed elsewhere)5 to say that p is ‘good’ is always to say that p is good for some particular end e, usually salient in the context. This is analyzed reductively as meaning that p promotes, or raises the probability, of e. This theory faces some obvious objections that I will not attempt to address here. The suggestion is then that to say ‘r is a reason for s to ψ’ is to say that r is an explanation why it would be good for (some salient end) e, for s to ψ. This yields intuitively plausible results in mundane cases. The fact that plaque decays teeth is an explanation why it is good for preserving your health that you brush your teeth daily, just because it explains why brushing your teeth daily raises the probability that you preserve your health. Plausibly, the fact that the next train isn’t until 11:30am may be an explanation why it is (e. g.) good for getting to work on time if you catch the 8:30am train, just because it may explain why catching the 8:30am train raises the probability that you make it to work on time. 3. Reasons for whom? We commonly relativize reasons to agents with phrases of the forms, ‘a reason for s to φ’, ‘s has a reason to φ’, ‘s’s reason to φ’. I have proposed reading ‘a reason for s to φ’ as elliptical for ‘a reason [why it would be good] for s to φ’. This may suggest that a normative reason is relative to an agent s just in case it favors a proposition p in which s is the “agent”. But that can’t be right. We cannot (e. g.) infer from (5) that hostilities “have a reason” to cease. Or suppose we say, (6) ‘The need to deter others from killing is a reason for murderers to be punished.’ Accepting this sentence doesn’t incline us towards saying that murderers have a reason to be punished, or that the need to deter others from killing is the murderer’s Finlay 2006, ms. Analyses of normative reasons as promoting the agent’s desired ends are rejected by Darwall 1983: 38, and defended by Schroeder 2007. 5

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reason to be punished. “Having” a reason seems to involve having some special normative relationship to that reason. Instead, we might say that the need to deter others from killing is a reason for us (or for society, or judges, etc.), for murderers to be punished. Similarly, the brutality of war may be a reason for statesmen, for hostilities to cease. So it seems that accommodating the agent-relativity of reasons requires that ‘a reason for s to φ’ is semantically incomplete, and elliptical for ‘a reason for s1, for s2 to φ’. It follows that ‘a reason for s to φ’ would be syntactically and logically ambiguous, between ‘a reason [for s1], for s2 to φ’ (e. g. ‘a reason for hostilities to cease’) and ‘a reason for s1, [for s2] to φ’ (e. g. ‘a reason for you to catch the 8:30am train’). Plausibly, exactly the same kind of logical ambiguity is found in ‘good for s to ψ’ (compare ‘It is good for murderers to be punished’ with ‘It is good for murderers to escape punishment’). So we can speculate that ‘a reason for s1, for s2 to φ,’ is elliptical for ‘a reason [it would be good] for s1, for s2 to φ’. This may suggest that for an agent to have a reason to φ is for there to be an explanation why it would be good for the agent if she φ’s. (On an end-relational theory of ‘good’, we can understand the qualifier ‘for s’ as indicating an end salient as being in s’s interest, so that ‘good for s’ is roughly equivalent to ‘good for the obtaining of s’s interests’.) But that doesn’t seem right, and we should reject this interpretation of ‘a reason for s’. The first problem is that it tells us that our talk and thought about an agent’s reasons to act always concern what is beneficial for him, or in his own interest. While ethical egoists maintain the controversial and fairly implausible thesis that all genuine reasons are from selfinterest, it is totally implausible that this is what we ordinarily mean by ‘a reason for s’. We contrast reasons of self-interest with reasons of altruism and self-sacrifice, for example. Second, while ‘good for s’ is plausibly equivalent to ‘good for advancing s’s interests, [if p]’, ‘a reason for s’ is not plausibly equivalent to ‘a reason for advancing s’s interests’, which can only mean ‘a reason to promote s’s interests’. Finally, observe that in ‘good for s, if p’, s can be any object that can sensibly be ascribed an interest, including inanimate objects like trees and cars. But while ‘good for the car’ is fine, ‘a reason for the car’ is not. Some cognitive powers seem required for “having reasons”. Equating reasons with explanations suggests an alternative account of the agentrelativity of reasons. If by ‘a reason’ we mean ‘an explanation’, then by ‘a reason for s’ we may mean ‘an explanation for s’, and by ‘s has a reason’ we may simply mean ‘s has an explanation’. We do often relativize talk about explanations to subjects in this way – some fact r that is an explanation of p for one person s1 may fail to be an explanation of p for another person s2 – and so we might reasonably expect ‘reasons’ to be relativized in the same way. This avoids all three problems just observed for the analysis in terms of ‘good for s’: (i) r can be an explanation for s of why it would be good in some way if p, without being an explanation why it would be good for s; (ii) an ‘explanation for s’ is not plausibly understood as meaning an explanation for some end e; explanations are for subjects, not for states of affairs; hence (iii) some cognitive powers are required for “having an explanation”.

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This predicts an ambiguity in ‘r is a reason for s to φ’, between (a) ‘r is an explanation for s1, why [it would be good, for s2] to φ,’ (b) ‘r is an explanation [for s1, why it would be good,] for s2 to φ’. On the natural interpretation of (a), deletion of ‘for s2’ suggests that s2 is identical to s1. So ‘a reason for you, to catch the 8:30am train’ is naturally read as ‘an explanation for you, [of why it would be good, for you] to catch the 8:30am train.’ On the natural interpretation of (b), the deletion of ‘for s1’ suggests reference back to subjects salient in the context. So (e. g.) ‘The need to deter others from killing is a reason for murderers to be punished’ can be naturally read as (e. g.) ‘The need to deter others from killing is an explanation [for us, of why it would be good,] for murderers to be punished.’ In order to determine whether the agent-relativity of reasons is properly analyzed in terms of the subject-relativity of explanations, we need to investigate exactly how explanations can be relative to subjects.

4. The Relativity of Explanations In ordinary explanatory sentences like (1)-(2), the given explanans does not explain all by itself, but only in combination with other facts or information. With (1), the fact that the car didn’t cross the sensor does not by itself reveal what makes it true that the light isn’t turning green, but only against the background of information about the design of traffic signals, the weight of cars, etc. With (2), the fact that the prison fence is electrified does not by itself reveal what makes it true that the escape plan won’t work, but only against the background of information that (e. g.) the plan calls for scaling the fence with bare hands, etc. Some therefore claim that (e. g.) the fact that the prison fence is electrified is not really the explanation why the escape plan won’t work, but merely part of the explanation. The same issues arise for talk about normative reasons. The fact that (e. g.) the subsequent train isn’t until 11:30am doesn’t count in favor of catching the 8:30am train all by itself, but only against the background of other facts, such as that it takes you to your office and that you need to be in your office by 9:30am. This is the “holism of reasons”: what counts as a reason to φ in one context might not do so in other contexts (e. g. in which the train doesn’t take you to your office), just like what counts as an explanation of p in one context might not in other contexts. Some therefore argue similarly that the fact that (e. g.) the next train isn’t until 11:30am is not really the reason for catching the 8:30am train, but merely part of the reason. I don’t need to rule either way on this debate, but will continue in the ordinary way of speaking. What we report as reasons or explanations why are the facts which, against a body of assumed information B, are decisive in revealing what makes something the case. Hence, explanations are relative to bodies of background information B. In one clear sense, to be an explanation for s is to be an explanation relative to the information B that s possesses. The fact that the prison fence is electrified may be an explanation why

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the escape plan won’t work for a person who knows the content of the plan, but it is not an explanation why the escape plan won’t work for someone who doesn’t have that information.6 The fact that the subsequent train isn’t until 11:30am is an explanation for you why it would be good (for your getting to work on time) for you to catch the 8:30am train, if you already know that the train takes you to the office, but not otherwise. We can therefore try analyzing ‘a reason for s to φ’ as meaning an explanation, relative to s’s information B, why it would be good, for s to φ. This suggests identifying a covert argument-place in the logical form of reasons-statements for an informationbase B: we have the form R(r, p, B), meaning that r explains p relative to B. While this information-relativity accounts for some behavior of ‘a reason for s’, it does not seem the principal way normative reasons are agent-relative. We need a kind of normative rather than epistemic connection between agents and their reasons. That the next train isn’t until 11:30am may also be an explanation for me, of why it would be good for your getting to work on time, for you to catch the 8:30am train. But this wouldn’t automatically make it a reason for me, as well as a reason for you, [for you] to catch the 8:30am train. (I might lack any reason favoring your getting to work on time). Neither is this difference explained merely by the fact that it is a reason why it would be good if you φ, and not if I φ, as the following case shows. Let r be the fact that Terry has stolen Victor’s wallet. Relative to Terry’s and Victor’s information, that r is an explanation why it would be good (for Victor’s recovering his wallet), for Terry to be apprehended. But while we can say that r is a reason for Victor, for Terry to be apprehended, we would not say that r is a reason for Terry, to be apprehended. So ‘a reason for s, to φ’ cannot simply mean ‘an explanation for s, [why it would be good (in some way), for s] to φ’. A better solution emerges when we return our attention to the relativity in ‘good’. According to an end-relational account of ‘good’, ‘a reason for s to φ’ will be ambiguous between ‘an explanation why it would be good for e1, for s to φ’ and ‘an explanation why it would be good for e2, for s to φ’, etc. So we may speculate that qualifying a normative reason as being ‘for s’ functions to indicate the intended kind of end-relative goodness in the explanandum. By ‘a reason for Terry’ we would thereby talk about an explanation why something would be good for an end e made salient somehow by reference to Terry. Since the agent-relativity of reasons is a normative connection it makes sense that it would arise from the normative part of the analysis. How does reference to an agent make a particular end e salient, if not by directing us to the agent’s welfare/ what is good for s? The following account is a natural alternative. If a reason or explanation is an answer to a potential “why?” question, then we might understand talk of ‘an explanation for s’ as meaning an answer to a “why?” question made salient by reference to s. Plausibly, this would be a question ‘Why would it be good to ψ?’ that s might himself ask in deliberating about what to do: a question framed by ends that matter to s. We can naturally say (e. g.) that the fact that Terry has just stolen Victor’s wallet is an explanation for Victor of why it would be good, 6

Although having it presented as an explanation may enable her to deduce the plan’s contents.

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for Terry to be apprehended, but it is not an explanation for Terry of why it would be good, for him to be apprehended. Here the agent-relativity of explanations is explained not by sensitivity to information, but by the different readings of ‘good’ made salient by the difference in Victor’s and Terry’s concerns; that is, ‘That r is an explanation for Victori, of why it would be good [for hisi ends], for Terry to be apprehended.’ ‘That r is an explanation for Terryi, of why it would be good [for hisi ends], for Terry to be apprehended.’ This leads us towards a Humean theory of an agent’s reasons, as those considerations relevant to the satisfaction of his desires. But while a Humean theory seems to account for many ordinary uses of ‘a reason for s’, the analysis allows that it may be too narrow, and that we may ascribe normative reasons for an agent s to φ that are explanations why s’s φ-ing would be good relative to ends that are salient in other ways, e. g. for being of interest to other agents. This is just as well, since ordinary talk about normative reasons does not always respect the limits imposed by Humeanism.

5. Reasons for Attitudes A difficulty arises when we try to extend this analysis of talk about normative reasons as explanations why to accommodate also our talk about normative reasons for attitudes, such as belief, intention, desire, fear, remorse, etc. Consider (7) ‘Rosemary’s performance tonight is a reason for her to be ashamed.’ Can we analyze this sentence in the way suggested above, as equivalent to ‘Rosemary’s performance tonight is an explanation for why it would be good, for her to be ashamed.’? Having certain attitudes can be beneficial. Emotions are effective motivators, and often dispose agents in desirable ways. Shame might motivate Rosemary not to inflict her talentless act on any future victims, or to practice more. Intentions dispose people to act, so if φ-ing would be a good thing, then in general intending to φ would also be good—hence a reason to φ will in general be also a reason to intend to φ. The analysis thus easily accommodates “state-given” reasons for attitudes, based on the benefits of having those attitudes. But ordinary talk about reasons for attitudes is concerned with “object-given” reasons, based not on any benefits of those attitudes but on the nature of those attitudes’ objects. For example, (7) is naturally read as meaning that Rosemary’s performance is a reason for her to be ashamed of her performance, where this reason exists because shame is an appropriate or “fitting” attitude for Rosemary to have towards her performance, because it was shameful. The fittingness of an attitude is typically independent of the attitude’s consequences. The quality of Rosemary’s performance may give her a reason to be ashamed even if being ashamed promotes no positive outcomes, only negative ones like losing all self-esteem, abandoning her art, and the grief of her friends. This

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presents a challenge to analyzing these normative reasons as explanations of goodness. If our semantics for ‘reason’ is to be unifying, it must also provide a plausible analysis of claims about reasons for belief. Since reasons for belief are a kind of normative reason, the analysis suggests that by ‘a reason to believe that p’ we mean an explanation why it would be good, for s to believe that p. But instrumentalist theories in epistemology don’t seem plausible. Even if there are “pragmatic” reasons for belief (e. g. that believing will make you happy), this is not how we ordinarily understand ‘a reason to believe that p’. Epistemic reasons for s to believe that p consist in s’s evidence that p, and hence are object-, not state-given. Evidence that p makes belief that p fitting, but doesn’t require that it would be good for any end s desires. However, the theory doesn’t require us to give ‘a reason for s to φ’ a narrowly instrumentalist interpretation, as an explanation why s’s φ-ing would be good for some end desired by s; it requires only that there be some salient way of being good. Might ‘a reason to believe that p’ mean an explanation why believing that p would be epistemically good? What we need is that ‘a reason to believe that p’ makes salient some kind of epistemic end. Plausibly it does, since belief is widely considered an attitude with its own “constitutive aim”: an end at which an attitude must aim in order to be a belief. (Insofar as talk of reasons is intended to influence people, our inability to believe for any other kind of reason will force the salience of the constitutive end). In a slogan, belief aims at truth. Without trying to settle disputes about to develop this idea, we can now show that a standard kind of model of the aim of belief supports a plausible solution. Cognitive activity of forming a belief that p aims, roughly, at thereby believing that p if and only if p is true. So we can speculate that ‘a reason for s to believe that p’ is elliptical for ‘a reason for s, [why it would be good for thereby believing that p iff p is true, for s] to believe that p’, and is reductively analyzable as an explanation for s, of why it would increase the probability that s thereby believes that p iff p is true, if s believes that p.7 So if I say ‘The fact that the prison fence is electrified is a reason for Arthur to believe that the escape plan will fail,’ I mean that this fact is an explanation for Arthur of why his believing that the plan will fail would increase the probability that he thereby believes that it will fail iff it is true. Applying the analysis of ‘an explanation for s’, this is to say that the fact that the prison fence is electrified is something that reveals to Arthur, in light of his other information B, what makes it true that his believing that the escape plan will fail would increase the probability that he thereby believes the plan will fail iff that is true. If I am right that this yields a fair approximation to the truth-conditions for ‘r is a reason to believe that p’, then this semantics for ‘reason’ can be extended to talk about epistemic reasons too.8

7 “Thereby believes” because the fact that by falsely believing that p one can make it so that in the future one correctly disbelieves that p is not an epistemic reason to believe that p: the salient epistemic end in believing that p is concerned only with that very token of belief. A parallel solution applies for deontological side-constraints in morality: e. g. you may not kill even to prevent more killings. 8 See Chrisman 2008 for an end-relational account of ‘ought to believe’.

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We can treat this as a template for analyzing talk about reasons for other kinds of attitudes. Here’s a quick sketch of the idea. Plausibly, any kind of attitude which is made fitting by the nature of its objects is one that has a characteristic kind of constitutive aim. In the same way that belief aims at the true, shame aims at the shameful and fear aims at the fearsome. This suggests analyzing Rosemary’s reason to be ashamed, for example, as an explanation why it would good for Rosemary’s thereby being ashamed of her performance iff it was shameful, for her to be ashamed of her performance. A reason to be afraid of x would be an explanation why it would be good for thereby being afraid of x iff x is fearsome, to be afraid of x. These analyses seem defensible, even if not very informative. I speculate that these emotions can be reductively analyzed as a complex of cognitive and conative elements, so that (e. g.) to be ashamed of x is to be averse to attention to x as being to one’s discredit. Hence, Rosemary’s reason is an explanation why it would be good for Rosemary’s thereby being averse to attention to her performance as being to her discredit iff her performance was to her discredit, for her to be ashamed of her performance. More work is needed here, but if I am right that these analyses are promising then the analysis of ‘reason’ as meaning explanation why can be extended in a systematic way to our talk about reasons for attitudes, by taking the reference to an attitude as making salient a constitutive end e. 6. The Reasons for Which We Act Superficially, talk about “motivating” reasons for action wouldn’t seem to present any obstacle, since attributing a motivating reason to an agent is a way of explaining action. We might try viewing this simply as a case of explanatory reasons where the explanandum is that s φ-ed. On an orthodox theory, motivating reasons for action are explanations why s φ-ed that cite the psychological attitudes (beliefs and desires) that caused s’s φ-ing;9 for example, (8)

‘The reason why Cleopatra had herself rolled up in a carpet was that she wanted an audience with Caesar and believed that this would get her one.’

However, this simple strategy encounters difficulties, and I believe it is confused.10 Consider these ordinary motivating reasons sentences; (9)

‘The reason for which Cleopatra had herself rolled up in a carpet was that it would get her an audience with Caesar.’ (10) ‘Cleopatra’s reason for having herself rolled up in a carpet was that it would get her an audience with Caesar.’ These sentences seem to identify Cleopatra’s reason as the fact that r: having herself rolled up in a carpet would get her an audience with Caesar – and not any facts about 9 10

Views of roughly this kind are advanced in Davidson 1963, Smith 1994. My objections here largely follow Darwall 1983, Dancy 2000, Alvarez 2010.

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her beliefs and desires. We should also observe the difference between ‘the reason why s φ-ed’ and ‘the reason for which s φ-ed’;11 we don’t find the latter locution in other nonnormative ‘reason’ sentences – e. g. we wouldn’t say that the fact that the prison fence is electrified is the reason for which the escape plan isn’t going to work. It would also be peculiar to say that the reason “for which” Cleopatra had herself rolled up in a carpet was that she wanted an audience with Caesar and believed this would get her one. It seems, therefore, that the causal-psychological reasons why an agent acts cannot be what we mean by ‘the reasons for which she acts’. Notice however that the fact that r which (9) and (10) report as Cleopatra’s motivating reason is itself a candidate for being a normative reason for her to φ. The fact that having herself rolled up in a carpet would get her an audience with Caesar was an explanation, for Cleopatra, of why doing so would be good for some further end of hers (like winning Caesar’s favor). This suggests a different solution: by ‘s’s reason for φ-ing’ and ‘the reason for which s φ-ed’, we mean the reason to φ for which s φ-ed. To be a motivating reason is to be a (normative) reason that motivates, not simply a reason why the agent is motivated. We could then understand (9) as elliptical for (9’) ‘The reason [it would be good (for some end of hers), for her to have herself rolled up in a carpet,] for which Cleopatra had herself rolled up in a carpet, was that it would get her an audience with Caesar.’ Normative reasons are things agents are supposed to take into consideration in deliberating about what to do. Surely then, when all is going well agents are motivated as a result of their awareness of their normative reasons. Plausibly, this is what we mean in saying that r is the reason “for which” s φ-ed: r is what s accepted as a reason to φ, leading her to φ. By contrast, the rival analysis of motivating reasons – as facts about an agent’s psychological attitudes (or as those attitudes themselves) that causally explain her actions – results in mismatch between normative and motivating reasons, because facts about her psychological states are not typically among the normative reasons to which an agent attends and responds in deliberation. Although claims about the reasons that motivate s to φ do explain why s φ’s, confusingly this is not what we mean in calling them ‘reasons’. Rather, these claims explain actions by revealing what the agent accepts as her normative reason, or explanation why it would be good for her to φ, which motivates her to φ. This reduction of motivating reasons to normative reasons for which agents act also encounters an obstacle, however. Arguably, whenever agents act, they act for reasons. It’s natural to say, ‘She must have had a reason,’ and we would be suspicious of anyone who claimed to have intentionally done something for no reason at all. But sometimes people do things which we would not say there was any (normative) reason to do, things we would deny were “good” in any salient way. We can distinguish between two different kinds of case. The first case is where an agent is motivated to φ by a fact that r that isn’t really a normative reason to φ, because it doesn’t count in favor of φ-ing. Suppose Sarah drives 11

Williams 1979.

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to her daughter’s school (φ) for the “reason” that the time is 3:30pm (p), which she takes to explain why φ-ing would be good for picking up her daughter on time (e) – but has momentarily overlooked that her daughter is going home with a friend that day. There isn’t any reason for Sarah to φ; in this case s is mistaken in taking that r to explain why her φ-ing would be good for e. But while here we rightly deny that there is any reason for s to φ, it is still right to say that s φ’s “for a reason”; Sarah’s reason for driving to school is that the time is 3:30pm. It seems a fact can be a motivating reason for φ-ing without being a normative reason for φ-ing. The second case is where an agent is motivated to φ by taking that r to explain why φ-ing would be good for e, but is mistaken in believing that r. Consider Bernard Williams’ agent s who drinks from a bottle (φ) containing petrol, because he mistakenly believes that it contains gin (r). If you were to ask s for the reason for which he is about to drink from the bottle, he may respond, ‘I’m going to drink from the bottle for the reason that it contains gin’; i.e. he may identify his own motivating reason as the fact that the bottle contains gin. But this “fact” that r does not exist. While there is no reason for s to φ, we would still say that s φ’s “for a reason”. It seems we can have motivating reasons for φ-ing when there are no facts that are candidates to be normative reasons for φ-ing. One response is to say that agents are sometimes motivated by normative reasons that don’t exist. This is not as absurd as it may sound, given that we understand being motivated to φ by a normative reason that r as a matter of being motivated to φ through accepting that r as a normative reason to φ. Since in this explanation that r occurs in an intensional context, it doesn’t require that r obtains, just as our being scared by Count Dracula and saddened by the death of Bambi’s mother don’t require those things to be actual. A problem remains for this solution, however; we still say (e. g.) ‘There is a reason for which Sarah drove to school’, which is apparently an existential claim. How can there be a reason when there isn’t a reason? How could that r be s’s reason, when there is no such reason as that r? A problematic piece of data here is that in the second case, when a speaker realizes that r does not actually obtain it is natural for her to describe the motivating reason differently; after taking a sip from the bottle, Williams’ agent would rather say, ‘I drank from the bottle for the reason that I believed it contained gin’, or ‘My reason was that I believed it contained gin’. These are answers that point us back towards the first analysis of motivating reasons as the psychological facts or attitudes that causally explain the action. There is thus an asymmetry in how speakers describe motivating reasons depending on whether they accept or reject the agent’s belief. Unless we say that agents are motivated differently between the illusory and veridical cases, it seems that one or other way of describing motivating reasons must be misleading. But which? Michael Smith argues that it is the description in the veridical case that is misleading; strictly, an agent’s belief is always part of her motivating reason. But the philosophical considerations above seem to me decisive: the reasons for which agents act must be the considerations to which they attend and respond in their deliberations, and these do not typically include facts about their attitudes. Furthermore, we can ex-

Explaining Reasons

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plain the interposition of ‘s believed’ in the illusory case: saying ‘s’s reason for φ-ing was that r’ suggests that the speaker accepts that r, a suggestion that can be blocked by the interposition of ‘s believed’ – or more transparently, as Dancy proposes, by ‘as s believed’. Williams’ agent seems more accurately to say, ‘I drank from the bottle for the reason that, as I believed, it contained gin.’ I therefore suggest that saying ‘I drank from the bottle for the reason that it contained gin’ is indeed not to say something false, but merely misleading. The need to include such a disclaimer in order not to mislead is however a piece of data that leads us back to the main problem for the proposed analysis: that it interprets these sentences as claiming the existence of normative reasons that the speakers know do not actually exist. One solution here is to give up on a unifying semantics, and distinguish between objective and subjective normative senses of ‘reason’, where an agent s’s subjective reason to φ is defined as a proposition that s takes to be an objective reason for her to φ.12 We can then disambiguate, and say that whenever an agent φ’s there must be a subjective reason, or proposition that she takes to be a reason to φ, for which she φ’s, even if she is mistaken and there is no such objective reason to φ. But we should want to say, of the veridical case in which s recognizes the fact that r as a reason to φ, that she is motivated through her awareness of the objective reason she has to φ, and that the reason for which she φ’s is her objective normative reason, the fact that r. So if we are to avoid treating motivation in the veridical and illusory cases differently, we should say in the illusory case that she takes as her (objective) reason to φ the supposed but nonexistent fact that r, and that she is motivated through her acceptance of this supposed reason that r. The hypothesis that by ‘reason’ we always mean explanation why enables us to sweeten this pill. Notice that while ‘the explanation why’ is factive, ‘s’s explanation why’ behaves differently. If I say (e. g.) ‘Arthur’s explanation for why the escape plan won’t work is that the prison fence is electrified’, I haven’t necessarily implied that the escape plan indeed won’t work, or that the prison fence is indeed electrified, or even that the one would indeed explain the other. ‘s’s explanation why…’ is therefore distinct in meaning from ‘the explanation for s why…’ Rather, by ‘Arthur’s explanation’ I seem to mean approximately ‘that which Arthur takes to be the explanation’. Here scare-quotes seem appropriate to flag the spuriousness of this supposed explanation (and, I suggest, perform the same function as ‘s believes’)13: ‘Arthur’s “explanation” for why the escape plan won’t work is that the prison fence is electrified.’ This matches what we’ve found in the case of motivation by supposed reasons; ‘The “explanation” [s accepted for why φ-ing would be good,] for which s φ-ed, was that r.’ E. g. Darwall 1983: 32, Schroeder 2007. Inserting ‘s believes’ may result from an understandable confusion about these sentences. Because we know (i) that ‘reason’ means explanation why, (ii) that these sentences purport to explain actions, and (iii) that explanations are factive, we are reluctant to say that the reason was that r when we don’t believe that r, and we turn to the fact that s believes that r as an acceptable substitute, being also an explanation why s φ’s. This involves failing to recognize that in using these sentences we are explaining s’s φ-ing by reporting what s took to explain why φ-ing would be good. 12 13

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This enables us to evade the apparent contradiction to which our reasoning had led us. s can have an “explanation” why φ-ing would be good, and be motivated by that “explanation”, even though there is no actual explanation why φ-ing would be good, either because that r doesn’t genuinely explain this, or because there is actually no fact that r. Does this solution preserve the semantic unity of ‘reason’, however, or does it merely disguise an ambiguity by employing another word concealing the same ambiguity? We might avoid that conclusion by understanding these inverted commas sentences as follows: ‘The [supposed fact s took to be a] reason [why drinking from the bottle would be good,] for which s drank from the bottle, was that it contained gin.’ Or merely, ‘The [supposed] reason for which s φ-ed, was that r’. This extends my unifying semantics to accommodate talk about the ‘reasons for which s φ’s’.

7. Conclusion I have argued that a semantic theory of ‘reason’ as meaning explanation why can give unifying and reductive analyses of our talk about explanatory reasons, normative reasons for actions and attitudes, and motivating reasons. On this analysis, by a normative ‘reason to act’ we mean an explanation why it would be good, in some salient way, to act. This analysis of normative reasons sentences seems to yield correct truth conditions for ordinary cases if we adopt a reductive analysis of ‘good’ as end-relational.

References Alvarez, M.: Kinds of Reasons, Oxford 2010. Broome, J.: ‘Reasons’, in: Reason and Value, ed. by R. J. Wallace et al., Oxford 2004, 28–55. Brunero, J.: ‘Reasons as Explanations’, (ms). Chrisman, M.: ‘Ought to Believe’, Journal of Philosophy 105 (2008), 346–70. Dancy, J.: Practical Reality, Oxford 2000. Darwall, S.: Impartial Reason, Ithaca, NY 1983. Davidson, D.: ‘Actions, Reasons, and Causes’, 1963. Reprinted in: Davidson, D.: Essays on Actions and Events. Oxford 1980: 3–19. Finlay, S.: What Does Value Matter? University of Illinois Ph.D. Dissertation, 2001. ‘The Reasons that Matter’, Australasian Journal of Philosophy 84 (2006), 1–20. Confusion of Tongues, (ms). Schroeder, M.: Slaves of the Passions, Oxford 2007. Smith, M.: The Moral Problem, Malden 1994. Toulmin, S.: Reason in Ethics. Cambridge 1950. Williams, B.: ‘Internal and External Reasons’, in: Rational Action, ed. by R. Harrison, Cambridge 1979.

KOLLOQUIUM 3

Personale Autonomie Kolloquiumsleitung: Michael Quante

Michael Quante Einführung John Martin Fischer Verantwortlichkeit und Autonomie: Das Problem des Zielwechsels Alfred Mele Autonomie, moralische Verantwortung und das Fortsetzungsproblem

Einführung Michael Quante

In den letzten Jahren hat es eine intensive Debatte um die Konzeptionen der personalen Autonomie gegeben, die zu einer Vielzahl viel beachteter Publikationen geführt hat.1 Diese gegenwärtige Diskussion hat aber eine lange Vorgeschichte, die bis in das 18. Jahrhundert zurückreicht. Seitdem Kant ihn aus dem Bereich der Politischen Philosophie in die Ethik übertragen und zum Fundament seiner Moralkonzeption gemacht hat, steht der Begriff der Autonomie im Zentrum der gesamten Praktischen Philosophie. Aufgrund seiner historischen und systematischen Nähe zur Frage nach dem Zusammenhang von Willensfreiheit und Verantwortung reicht er auch in zentrale Problemfelder der theoretischen Philosophie hinein. Auf der Grundlage der bahnbrechenden Arbeiten, die Gerald Dworkin und Harry G. Frankfurt Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts vorgelegt haben, gehen derzeit viele Autoren von der Annahme aus, dass sich ein Autonomiekonzept, welches ein plausibles Fundament der Praktischen Philosophie bereitstellen kann, nur im unauflöslichen Bezug auf den Begriff der Person wird entfalten lassen. Die Vorstellung der Selbstbestimmung oder Selbstgesetzgebung lässt sich, wenn man sie von politischen Gebilden auf individuelle Subjekte überträgt, nur verständlich machen, wenn man diese Subjekte nicht lediglich als im metaphysischen Sinne freie Auslöser singulärer Handlungen begreift, sondern als Personen, die über eine zeitliche Ausdehnung und ein Bewusstsein ihrer zeitlichen Verfasstheit verfügen. Die Rede von personaler Autonomie ist im Sinne dieser basalen Annahme gemeint. Eine der strittigen Fragen ist in diesem Kontext, ob man »ist autonom« von Handlungen (inklusive Entscheidungen) aussagt, Personen mit Bezug auf einzelne Aspekte ihres mentalen Gesamtsystems (zumeist als einzelne Wünsche oder Werthaltungen charakterisiert) »als autonom« charakterisiert, oder ob man Personen insgesamt die Fähigkeit zu einer autonomen Lebensführung und zur autonomen Entwicklung einer je eigenen Persönlichkeit zuspricht. Es liegt auf der Hand, dass die Anforderungsbedingungen an und die Adäquatheitsbedingungen für eine Konzeption von Autonomie voneinander abweichen können, je nachdem, welche Extension man bei der philosophischen Explikation vor Augen hat. »Personale Autonomie« liegt im Schnittpunkt von fünf weiteren Themenfeldern, die systematisch eng miteinander zusammenhängen; die anderen fünf Problembereiche sind die Handlungstheorie, die Fragen nach der Willensfreiheit und der personalen Identität, die in der Ethik und der Politischen Philosophie geführte Debatte um Liberalismus und Kommunitarismus sowie der Begriff der personalen Verantwortung in der Ethik und in Vgl. für einen Überblick Michael Quante: Personale Autonomie, in: Philosophischer Literaturanzeiger 63 (2010), 257–285 (Teil I) und 385–417 (Teil II). 1

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Kolloquium 3 · Michael Quante

der Rechtsphilosophie. Bedeutende Autoren haben zu mehreren dieser Problembereiche Beiträge geleistet; und manche klassischen Aufsätze der angloamerikanischen Philosophie der letzten Jahrzehnte ist in mehreren dieser Themenfelder rezipiert worden. Dabei herrscht nicht immer Konsens darüber, zu welcher der Fragestellungen der jeweilige Aufsatz überhaupt beitragen sollte. Zwischen diesen sechs Themenfeldern gibt es vielfältige Überlappungen und Interdependenzen, sodass die Entwicklung einer philosophischen Konzeption im einen Themenfeld von Vorentscheidungen in den anderen Themenfeldern abhängen und Auswirkungen auf philosophische Lösungsvorschläge für die dort zu verhandelnden Probleme haben kann. John Martin Fischer und Alfred R. Mele, die das hier dokumentierte Kolloquium zu diesem Themenkomplex bestritten haben, sind zwei der zentralen Autoren, die in den letzten Jahrzehnten systematisch bedeutsame und vielfach rezipierte Beiträge zu verschiedensten Aspekten des gesamten Problembereichs beigesteuert haben. Beiden ist gemeinsam, dass sie ihre eigenen philosophischen Theorien in Auseinandersetzung mit der klassischen philosophischen Debatte um die Vereinbarkeit von Willensfreiheit und Determinismus entwickelt haben, eine metaphysisch grundlegende Fragestellung, die viele Beiträge und Problemstellungen auch innerhalb der Diskussion um personale Autonomie nachhaltig geprägt hat und weiterhin prägt.2 Selbstverständlich ist es weder in einem einzelnen Aufsatz noch in einem einzelnen Kolloquium möglich, alle Facetten des Problems personaler Autonomie und allen Themenbereichen, mit denen es philosophisch verwoben ist, nachzugehen. Die Beiträge von Fischer und Mele liefern dennoch nicht nur einen Spezialbeitrag zu einem Detailproblem der vielfach verästelten Debatte, obwohl sie auch dieses leisten. So arbeitet beispielsweise Mele das Problem des Zusammenhangs von Autonomie, Verantwortung und Zufall weiter aus, das sich in inkompatibilistischen Theorien zwangsläufig dann einstellt, wenn diese eine libertarianische Konzeption der Willensfreiheit entwickeln und nicht etwa die skeptische oder nihilistische Position beziehen, dass »Willensfreiheit« ein inkonsistentes Konzept oder aber Willensfreiheit ein faktisch nicht realisierbares Phänomen darstellt. Und Fischer klärt die Bedingungen für moralische Verantwortung, über deren Explikation es ebenfalls eine umfangreiche Literatur gibt, weiter auf, indem der Begriff der »Identifikation«, der im Kontext personaler Autonomie und personaler Verantwortung eine bedeutende Rolle spielt, einer neuen und systematisch weiterführenden Analyse unterzogen wird.3 Doch darüber hinaus zeichnen sich beide Beiträge dadurch aus, dass sie auf ganz fundamentale Weise Probleme der gesamten Debatte benennen, die – soweit ich sehe – zumeist wenig beachtet werden oder nicht einmal klar zu Bewusstsein gekommen sind. Diese Prägung ist aus meiner Sicht für die Entwicklung philosophischer Konzeptionen personaler Autonomie oder personaler Verantwortung nicht von Vorteil; vgl. dazu Michael Quante: Autonomy for real people, in: Intentionality, Deliberation and Autonomy – The Action-Theoretic Basis of Practical Philosophy, ed. by Christoph Lumer & Sandro Nannini, Aldershot 2007, 209–226. 3 Vgl. hierzu auch Michael Quante: Identifikation in Relation: Anmerkungen zum evaluativen Selbstverhältnis menschlicher Personen, in: Lebenswelt und Wissenschaft, hg. von Carl Friedrich Gethmann, Hamburg 2011, 603–620. 2

Einführung

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Donald Davidson hat im Rahmen der Diskussion, wie eine angemessene Theorie der Bedeutung natürlicher Sprachen aussehen muss, einmal darauf hingewiesen, dass jede Konzeption die Bedingung erfüllen muss, nicht die Möglichkeit auszuschließen, dass Menschen im Prinzip eine Sprache erlernen können. Parallel kann man für personale Autonomie, sofern angestrebt wird, sie als Normalfall menschlicher Existenz zu explizieren, formuliert werden, dass eine Konzeption personaler Autonomie die Möglichkeit des Erwerbs derselben durch Sozialisation und innerhalb einer normalen menschlichen Entwicklung nicht ausschließen darf. Meles Überlegungen gewinnen aus der Tatsache, dass menschliche Individuen im Laufe ihrer individuellen Entwicklung, vermittelt durch soziale Praxen, die für personale Autonomie notwendigen Fähigkeiten erwerben und ausüben, wichtige Argumente zugunsten einer gradualistischen, die biografische Dimension einer Person mit einbeziehende Konzeption personaler Autonomie. Damit, so seine zentrale These, lasse sich eine plausible Antwort auf das Problem, den Zufall als essentiellen Bestandteil in eine libertarianische Konzeption personaler Autonomie zu integrieren und zugleich einzudämmen, gewinnen. Ob dies erfolgreich sein wird, muss die weitere Diskussion zeigen. Unabhängig davon aber bleibt festzuhalten, dass die Möglichkeit der prinzipiellen Erwerbbarkeit personaler Autonomie eine Adäquatheitsbedingung für jede Konzeption darstellt, die personale Autonomie Menschen als Normalbedingung offen halten will. Fischers Aufsatz zielt, obwohl seine Überlegungen auch wichtige Weiterentwicklungen innerhalb der Debatten um personale Autonomie und personale Verantwortung enthalten, direkt auf eine grundlegende Schwierigkeit. Diese besteht darin, dass in manchen Beiträgen nicht klar wird, ob das Phänomen der Autonomie oder aber das der moralischen Verantwortung Gegenstand der Analyse ist. Wenn man aber, wofür Fischer wichtige Argumente präsentiert, davon ausgehen muss, dass die Anforderungen an moralische Verantwortung und an Autonomie nicht identisch sind, dann unterliegen Konzeptionen personaler Autonomie und Konzeptionen moralischer Verantwortung unterschiedlichen Adäquatheitsbedingungen. Wir können hier offen lassen, ob man Fischer in seinem spezifischen Beweisziel folgen sollte, dass diese Adäquatheitsbedingungen möglicherweise zu unterschiedlichen Antworten hinsichtlich der Vereinbarkeit von Autonomie und Verantwortung mit dem Determinismus führen werden. Unabhängig davon liegt die systematische Bedeutung seines Beitrags zum einen darin, auf einige fundamentale Unklarheiten der gegenwärtigen Debatten hinzuweisen, die sich aus der fehlenden Transparenz des Untersuchungsgegenstands ergeben. Und zum anderen bleibt festzuhalten, dass die Adäquatheitsbedingungen für personale Autonomie und moralische Verantwortung nicht identisch sein müssen, sodass beides getrennt zu analysieren ist. Dies bleibt auch dann gültig, wenn man – anders als John Martin Fischer selbst – nicht zu dem Ergebnis gelangt, dass sich diese beiden Konzeptionen hinsichtlich der Frage nach der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit dem Determinismus unterscheiden.

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Kolloquium 3 · Michael Quante

Literatur Michael Quante: Autonomy for real people, in: Intentionality, Deliberation and Autonomy – The Action-Theoretic Basis of Practical Philosophy, ed. by Christoph Lumer & SandroNannini, Aldershot 2007, 209–226. –: Personale Autonomie, in: Philosophischer Literaturanzeiger 63 (2010), 257–285 (Teil I) und 385–417 (Teil II). –: Identifikation in Relation: Anmerkungen zum evaluativen Selbstverhältnis menschlicher Personen, in: Lebenswelt und Wissenschaft, hg. von Carl Friedrich Gethmann, Hamburg 2011, 603–620.

Verantwortlichkeit und Autonomie: Das Problem des Zielwechsels John Martin Fischer

I. Einleitung In der gegenwärtigen Handlungstheorie wurden einige beeindruckende Fortschritte bezüglich des Verständnisses zentraler Merkmale der Akteurschaft erzielt, Merkmalen wie: Handlung, Absicht, Willensfreiheit, moralische Verantwortlichkeit und Autonomie. An dieser Stelle möchte ich innehalten, um über einige dieser zentralen Begriffe zu reflektieren, insbesondere über freies Handeln, moralische Verantwortlichkeit und Autonomie. Ich werde vorschlagen, dass wir, obgleich große Fortschritte erzielt wurden, gut daran tun, einige vielleicht subtile – aber entscheidende – Unterscheidungen zu beachten. Es besteht die Gefahr, dass diese Unterscheidungen durch die ähnlichen Terminologien verunklart werden, mittels derer wir uns auf Phänomene beziehen, die in entscheidenden Punkten voneinander abweichen.1

II. Frankfurts frühes Verständnis freien Handelns In seinem klassischen Aufsatz Freedom of the Will and the Concept of a Person entwickelt Harry Frankfurt ein Verständnis freien Handelns. Es ist ein Verständnis der Freiheit, die er für notwendig und hinreichend für moralische Verantwortlichkeit hält.2 Bekanntermaßen unterscheidet er hierbei zwischen Wünschen erster Ordnung (Wünschen zu Handeln) und Wünschen zweiter Ordnung (Wünschen, die sich auf Wünsche erster Ordnung beziehen); unter die Wünsche zweiter Ordnung fallen »Volitionen zweiter Ordnung« – Wünsche, die sich darauf beziehen, dass ein spezifischer Wunsch erster Ordnung einen Akteur die ganze Strecke bis zum Handlungsvollzug bewegt (und somit den »Willen« konstituiert). Wenn jemand in Übereinstimmung mit einer Volition

Einen vorläufigen Versuch, die Ideen, die ich in dem vorliegenden Aufsatz in vollerem Umfang entwickele, zu umreißen, findet man in: John Martin Fischer: Responsibility and Autonomy, in: A Companion to the Philosophy of Action (2010), 309–316. 2 Harry G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 68 (1971), 5–20; wiederabgedruckt in: Moral Responsibility, ed. by John Martin Fischer Ithaca 1986, 65–80. Alle Literaturhinweise werden sich auf die nachgedruckte Fassung beziehen. In einem vorhergehenden Aufsatz hat Frankfurt dafür argumentiert, dass die Freiheit anders zu handeln nicht für moralische Verantwortlichkeit notwendig sei: Harry G. Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility, in: Journal of Philosophy 66 (1969), 828–39; wiederabgedruckt in: Moral Responsibility, ed. by John Martin Fischer, Ithaca 1986, 143–52. 1

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zweiter Ordnung handelt, so handelt er nach Frankfurt frei: Es findet eine Verzahnung zwischen der Volition zweiter Ordnung, die einen die ganze Strecke bis zum Handlungsvollzug bewegt und den Wünschen erster Ordnung statt. Dies bedeutet, dass der Akteur eine Übereinstimmung zwischen seiner Volition zweiter Ordnung und seinem Willen sichergestellt hat. Frankfurt stellt fest: “There is a very close relationship between the capacity for forming second-order volitions and another capacity that is essential to persons--one that has often been considered a distinguishing mark of the human condition. It is only because a person has volitions of the second-order that he is capable both of enjoying and of lacking freedom of the will. The concept of a person is not only, then, the concept of a type of entity that has both first-order desires and volitions of the second order. It can also be construed as the concept of a type of entity for whom the freedom of its will may be a problem[…]”3 Für Frankfurt ist es wichtig, dass eine Person sich um ihren Willen sorgt, das heißt, dass sie sich darum sorgt welche Wünsche erster Ordnung sie tatsächlich zum Handeln bewegen. Genauer gesagt identifiziert eine Person (in Frankfurts Ansatz) sich zumindest mit einigen ihrer Wünsche erster Ordnung dadurch, dass sie Volitionen zweiter Ordnung ausprägt. Er schreibt: “Now it is having second-order volitions, and not having second-order desires generally, that I regard as essential to being a person. It is logically possible, however unlikely, that there should be an agent with second-order desires but with no volitions of the second order. Such a creature, in my view, would not be a person. I shall use the term ‘wanton’ to refer to agents who have first-order desires but who are not persons because, whether or not they have desires of the second order, they have no second-order volitions. […] The essential characteristic of a wanton is that he does not care about his will.”4 Nun ist es klar, dass ein Hauptziel Frankfurts darin besteht, bei der Darstellung seines Ansatzes zum freien Handeln denjenigen Begriff der Freiheit zu spezifizieren, der notwendig und hinreichend für moralische Verantwortlichkeit ist. Möglicherweise hat er noch andere Ziele, aber dies scheint mir das primäre Ziel von Frankfurts Aufsatz zu sein. Allerdings betont Frankfurt in dem letzten Abschnitt seines Aufsatzes, dass sein Begriff der Freiheit eine wichtige Rolle dabei spielen könne, einen Ansatz für moralische Verantwortlichkeit zu entwickeln. Er argumentiert zunächst dafür, dass seine Theorie der Willensfreiheit zwei Bedingungen erfüllen kann, die diverse andere Ansätze nicht erfüllen: sie kann unsere Abneigung erfassen, eine solche Freiheit auf Mitglieder ande-

Harry G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Moral Responsibility (1986), 74. 4 Ebd., 70–71. 3

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rer Spezies anzuwenden und kann zeigen, warum Willensfreiheit wünschenswert ist. Frankfurt fährt fort: “It is generally supposed that, in addition to satisfying the two conditions I have mentioned, a satisfactory theory of the freedom of the will necessarily provides an analysis of one of the conditions of moral responsibility. The most common recent approach to the problem of understanding the freedom of the will has been, indeed, to inquire what is entailed by the assumption that someone is morally responsible for what he has done. In my view, however, the relation between moral responsibility and the freedom of the will has been very widely misunderstood. It is not true that a person is morally responsible for what he has done only if his will was free when he did it. [Nach Frankfurts Meinung ist der Wille einer Person nur dann als frei anzusehen, falls diese einen anderen Willen hätten haben können, falls sie anders hätte handeln können] [… ]This assumption does entail that the person did what he did freely[…]. It is a mistake, however, to believe that someone acts freely only when he is free to do whatever he wants[…]”5 Frankfurt verdeutlicht in dem Schlusskapitel seines Aufsatzes, dass die Art von Freiheit, die den Zugang zu alternativen Möglichkeiten (die Freiheit anders zu wollen oder zu können) einbezieht, für moralische Verantwortlichkeit nicht benötigt werde.6 Laut Frankfurt ist es vielmehr so, dass die freiheitsrelevante Voraussetzung für moralische Verantwortlichkeit in freiem Handeln besteht, – nach der Ansicht, die in »Freedom of the Will and the Concept of a Person« vorgestellt wird –, und hinreichend für freies Handeln ist, dass sich jemand mit einem bestimmten Wunsch erster Ordnung identifiziert, der ihn mittels der Bildung einer Volition zweiter Ordnung zum Handeln bewegt. An diesem Punkt »identifiziert« sich jemand aufgrund der Volition zweiter Ordnung mit einem relevanten Wunsch erster Ordnung, und zwar in dem Sinne von »Identifikation«, der für moralische Verantwortlichkeit eine Rolle spielt. Wir können festhalten, dass Frankfurt an dieser Stelle die Frage beantwortet, was zu reinem Handeln hinzugefügt werden muss, um einen Begriff von Freiheit zu erhalten, der mit der moralischer Verantwortlichkeit verknüpft ist; seine Antwort lautet, dass jemand sich in einer spezifischen Weise mit seinem Wunsch »identifizieren« muss, wobei diese Identifikation in der Ausprägung einer angemessenen Volition zweiter Ordnung besteht. Frankfurt beschließt seinen Aufsatz mit einer Überlegung über die Beziehung zwischen seinem Begriff von Willensfreiheit und den traditionellen metaphysischen Schwierigkeiten bezüglich der Beziehung zwischen einer solchen Freiheit und dem kausalen Determinismus:

Ebd., 78–79. Natürlich hat er für diese Behauptung auch in Harry G. Frankfurt: Alternate Possibilities and Moral Responsibility, in: Journal of Philosophy 66 (1969), 828–39; wiederabgedruckt in: Moral Responsibility, ed. by John Martin Fischer, Ithaca 1986, 143–52 argumentiert. 5 6

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“My conception of the freedom of the will appears to be neutral with regard to the problem of determinism. It seems conceivable that it should be causally determined that a person is free to want what he wants to want. If this is conceivable, then it might be causally determined that a person enjoys a free will[…]”7 Es ist daher unbestreitbar, dass Frankfurt sein Verständnis freien Handelns als hilfreich für Fortschritte in den traditionellen Debatten über kausalen Determinismus, Willensfreiheit und moralische Verantwortlichkeit erachtet. Unabhängig von anderen Zielen, die Frankfurt bei der Entwicklung seines »hierarchischen« Ansatzes freien Handelns vorgeschwebt haben mögen, scheint es sicher, dass er versuchte einen Beitrag zu den metaphysischen Debatten um Determinismus, Willensfreiheit und moralischer Verantwortlichkeit zu leisten.8

III. Zwei frühe Kritiken an Frankfurts Ansatz freien Handelns III.1. Thalbergs Kritik: Schichten des Wollens und stratosphärisches Begehren Irving Thalberg forderte in seinem Aufsatz Hierarchical Analyses of Unfree Action die führenden hierarchischen Ansätze, die zu jener Zeit kursierten, auf verschiedenen Ebenen heraus.9 Er stellt fest: “Frankfurt attributes great ontological significance to planes of conation within the agent. On his view, ‘one essential difference between persons and other creatures’ is that persons ‘are able to form what I shall call “second-order desires”’. [Hier bezieht sich Thalberg auf: Harry G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 68 (1971), 6] Actually, Frankfurt goes on to distinguish between our second-floor desire that we should merely have, or experience, a certain ground-floor desire to act, and our upper-story desire that the ground-level desire ‘be the desire that moves [us] effectively to act’. [Harry G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 68 (1971), 10] The latter kind of stratospheric yearning Frankfurt dubs a ‘second-order volition’.”10 Harry G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Moral Responsibility (1986), 80. 8 In seinem »Reply to John Martin Fischer« hat Frankfurt seine Ansicht des traditionellen Problems der Beziehung zwischen dem kausalen Determinismus und der moralischen Verantwortlichkeit weiter ausgearbeitet und expliziert: Harry G. Frankfurt: Reply to John Martin Fischer, in: Contours of Agency (2002), 27–31. Dort erklärt er, dass sein Ziel darin bestand, bestimmte Herausforderungen des Kompatibilismus anzugehen, obwohl er offiziell neutral in der Streitfrage um die Kompatibilität von kausalem Determinismus und moralischer Verantwortlichkeit geblieben ist, da er nicht hinreichend sicher ist, ob der kausale Determinismus eher mit aktivem als mit passivem Verhalten konsistent ist: vgl. S. 29. 9 Irving Thalberg: Hierarchical Analyses of Unfree Action, in: Canadian Journal of Philosophy 8 (1978), 211–226. 10 Ebd., 214. 7

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Frankfurts Diskussion des »unwilligen Süchtigen« stellt Thalberg wie folgt dar: “Frankfurt supposes that the addict has a ground-floor disinclination to use narcotics, as well as a craving for them. But from his second-order balcony the fellow ‘identifies himself… with one… of his conflicting desires [the desire not to take his anodyne]… makes [it] … more truly his own and … withdraws himself from the other’; consequently, the ‘force moving him to take the drug’ must be ‘a force other than his own’. [Harry G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 68 (1971), 13]”11 Nach der Darstellung einer ähnlich gelagerten Diskussion bei Gerald Dworkin, über jemanden der mit dem Rauchen aufhören möchte, erläutert Thalberg die problematischen Aspekte wie folgt: “Why is the drug user’s, and the smoker’s, craving not really ‘his’? Frankfurt and Dworkin seem to be telling us that he does not really want to drug himself, or to smoke, because the real he--his ‘true self---on its second-order pedestal, abhors these first-order longings. This picture is attractive, but is it cogent? […] Both Frankfurt and Dworkin assume that when you ascend to the second level, you discover the real person and what she or he really wants. I shall pack my misgivings into a couple of challenges: Why not go on to third-story or higher desires and volitions? And if that is somehow impossible, why grant that a second-order attitude must always be more genuinely his, more representative of what he genuinely wants, than those you run into at ground level?”12 Thalberg hebt in seinem Aufsatz hervor, dass völlig unklar sei, ob es sich bei dem »wirklichen Selbst« um das Selbst der »höheren Ordnung« handele; in einem damit verknüpften (obgleich davon unterschiedenen) Punkt, behauptet er, dass es strittig sei, ob das »wirkliche Selbst« mit dem »rationalen Selbst« gleichgesetzt werden könne. Tatsächlich haben auch Theoretiker wie Freud dies in Frage gestellt; Thalberg hätte ebenso gut Ergebnisse der Sozialpsychologie (zuzüglich der »Automatizitäts«-Literatur sowie der Literatur des »Situationismus«) heranziehen können und auf dieser Basis gleichfalls die Vorstellung in Frage stellen können, dass das wirkliche Selbst das rationale Selbst ist. In Thalbergs Worten: »In commonsense terms, I do not think it is impossible for someone to be a fundamentally irrational person, and to really desire such-and-such while he is in one of his bull-headed moods.«13 Er behauptet darüber hinaus, dass die Gleichsetzung des wirklichen Selbst mit dem rationalen Selbst Freuds grundlegender Hypothese ausweiche: »that other, darker, savage, and non rational aspects are equally – if not more – important.«14 Ebd., 219. Ebd., 219–220. Dworkin’s Diskussion findet sich in: Gerald Dworkin: Acting Freely in: Nous 4 (1970), 367–383. 13 Irving Thalberg: Hierarchical Analyses of Unfree Action, in: Canadian Journal of Philosophy 8 (1978), 223. 14 Ebd., 224. 11 12

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III.2 Watson’s Kritik: Die normative Konzeption der Akteurschaft In seinem klassischen Aufsatz Free Agency wirft Watson einige Probleme auf, die denjenigen ähneln, die Thalberg dargestellt hat.15 Watson teilt Thalbergs Einschätzung, dass der Aufstieg zu einer zweiten Ordnung nichts zur Bestimmung des relevanten Begriffes der Identifikation beitrage. Thalberg möchte wissen, warum die zweite Ordnung mit dem wirklichen Selbst gleichgesetzt werden sollte. Ebenso Watson: “In a case of conflict, Frankfurt would have us believe that what it is to identify with some desire rather than another is to have a volition concerning the former which is of higher order than any concerning the latter. That the first desire is given a special status over the second is due to its having an n-order volition concerning it, whereas the second desire has at most an (n-1)-order volition concerning it. But why does one necessarily care about one’s higher-order volitions? Since second-order volitions are themselves simply desires, to add them to the context of conflict is just to increase the number of contenders; it is not to give a special place to any of those in contention. The agent may not care which of the second-order desires win out. The same arises at each higher order.”16 Der zentrale Punkt Watsons lautet hier, dass eine Volition zweiter Ordnung schlichtweg ein Wunsch ist, und als ein solcher habe er keine besondere Autorität oder Macht, um »für den Akteur zu sprechen« oder gewissermaßen anzuzeigen, wo der Akteur wirklich stehe. Nach Watson sind bloße Wünsche, sogar Wünsche höherer Ordnungen, lediglich »Kandidaten« desselben Typs, denen wie auch anderen Wünschen und Wünschen zweiter Ordnung kein besonderer Status zukommt, bloß weil sie von höherer Ordnung sind. Watson behauptet, dass wir – sofern wir den zur Debatte stehenden Begriff der Identifikation einfangen wollen – genötigt sind, nicht bloße Wünsche sondern »Werte« ins Feld zu führen. In Watsons »platonischer« Sichtweise stammen manche Wünsche von Wertungen ab; diese Wünsche sind nicht »bloße Wünsche«. Insofern sie von den Überlegungen eines Akteurs über Werte abstammen sind sie von einer besonderen Art – einer Art, die plausibler Weise das leisten kann, was für den Begriff der Identifikation nötig ist. Hierbei besteht Watsons Kerngedanke darin, dass wir den Begriff dessen, was der Akteur »wirklich will«, nicht dadurch präzisieren können, dass wir einfach weitere Wünsche anführen. Um in einem relevanten Sinne offenzulegen, was ein Akteur »wirklich will«, muss stattdessen etwas eingeführt werden, das mit der platonischen Seelenteilung verwandt ist. Aus dieser Perspektive fließt – metaphorisch gesprochen – das, was ein Akteur wirklich vorzieht, auf eine bestimmte Weise aus dem rationalen Teil der Seele. Das bedeutet, was ein Akteur wirklich vorzieht, ergibt sich aus den Überlegungen

Gary Watson: Free Agency, in:Journal of Philosophy 72 (1975), 205–220; wiederabgedruckt in: Moral Responsibility, ed. by John Martin Fischer, Ithaca 1986, 96 ff. 16 Ebd., 93–94. 15

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über das, was normativ begründbar ist (in einer Weise, die unbestimmt bleibt) und das Leben von jemandem im Ganzen betrifft.17 Watson weist darauf hin, dass es nicht hilft, eine Hierarchie von (bloßen) Wünschen einfach zu postulieren, wenn man fassen will, was ein Akteur wirklich (im zur Debatte stehenden Sinne) bevorzugt. Letztlich mag der Akteur ein Triebhafter [wanton] auf der Ebene der zweiten oder höherer Ordnungen sein. Diesbezüglich bemerkt Watson: “When a person identifies himself decisively with one of his first-order desires, this commitment ‘resounds’ throughout the potentially endless array of higher orders…”18 Dazu führt Watson aus: “But either this reply is lame or it reveals that the notion of a higher-order volition is not the fundamental one. We wanted to know what prevents wantonness with regard to one’s higher-order volitions. What gives these volitions any special relation to ‘oneself’? It is unhelpful to answer that one makes a ‘decisive commitment,’ where this just means that an interminable ascent to higher orders is not going to be permitted. This is arbitrary.”19

IV. Frankfurt’s Erwiderung: Ernsthaftigkeit IV.1. Die ausschlaggebende Bindung In seinen Arbeiten nach Freedom of the Will and the Concept of a Person hat Frankfurt nach einer Erklärung für dasjenige gesucht, was er den »resonanceeffect« nennt, um dadurch zumindest einigen Einwänden von Philosophen wie Watson und Thalberg zu begegnen. In Identification and Wholeheartedness führt er folgende Analogie ein: man denke sich jemanden, der eine Antwort auf ein mathematisches Problem sucht und seine Antwort nur solange kritisch prüft, bis er davon überzeugt ist, dass eine weitere Prüfung keine Änderung seiner Antwort herbeiführen wird.20 Frankfurt schreibt: “The fact that a commitment resounds endlessly is simply the fact that the commitment is decisive. For a commitment is decisive if and only if it is made without reservation. And making a commitment without reservation means that the person who makes it does so in the belief that no further accurate inquiry would require him to Watson schreibt: »We might say that an agent’s values consist in those principles and ends which he--in a cool and non-self-deceptive moment--articulates as definitive of the good, fulfilling, and defensible life.« (Ebd., 91). 18 Das Zitat findet sich in: Harry G. Frankfurt: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Moral Responsibility (1986), 76. 19 Gary Watson: Free Agency, in: Moral Responsibility (1986), 94. 20 Harry G. Frankfurt: Identification and Wholeheartedness, in: Responsibility, Character and the Emotions (1987), 27–45; wiederabgedruckt in: Perspectives on Moral Responsibility, ed. by John Martin Fischer and Mark Ravizza, Ithaca 1993, 170–87. (Alle Referenzen beziehen sich auf den wiederabgedruckten Aufsatz) 17

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change his mind. It is therefore pointless to pursue the inquiry any further. This is, precisely, the resonanceeffect.”21 Frankfurt überträgt in der Folge die Mathematik-Problem-Analogie auf den Kontext des praktischen Überlegens und seinen hierarchischen Ansatz: “Now what leads people to form desires of higher orders is similar to what leads them to go over their arithmetic. Someone checks his calculations because he thinks he may have done them wrong. It may be that there is a conflict between the answer he has obtained and a different answer which, for one reason or another, he believes may be correct; or perhaps he has merely a more generalized suspicion, to the effect that he may have made some kind of error. Similarly, a person may be led to reflect upon his own desires either because they conflict with each other, or because a more general lack of confidence moves him to consider whether to be satisfied with his motives as they are. Both in the case of desires and in the case of arithmetic a person can without arbitrariness terminate a potentially endless sequence of evaluations when he finds that there is no disturbing conflict, either between results already obtained or between a result already obtained and one he might reasonably expect to obtain if the sequence were to continue.”22 Der Ansatz für den relevanten Begriff von »Identifikation«, der aus Identity and Wholeheartedness hervorgeht, lässt sich grob wie folgt bestimmen: Ein Akteur handelt nur in den Fällen frei, in denen er (a) in Übereinstimmung mit einer offensichtlich unwidersprochenen Volition der Ordnungsstufe »n« (mit n höher als 1) handelt und (b) er davon überzeugt ist, dass jede weitere Überlegung (inklusive eines Aufstiegs zu noch höheren Ordnungen) keine irgendwie geartete Änderung in der Konfiguration seiner Präferenzen herbeiführen oder aber einen Konflikt auf einer Ebene höher als n offenlegen würde. Wenn die Bedingung (b) erfüllt ist (zusammen mit [a]), hat der Akteur eine »auschlaggebende Festlegung« vorgenommen, und, laut Frankfurt, erklärt diese Art von Festlegung den »resonanceeffect« in einer nicht willkürlichen Weise.

IV.2 Eine Verbesserung: Zufriedenheit In seiner Ansprache als Präsident der American Philosophical Association: The Faintest Passion bringt Frankfurt einige wesentliche Bedenken über die Bedingung (b) seines oben angeführten Ansatzes zum Ausdruck.23 Dort scheint Frankfurt ein wenig von Ebd., 180. Ebd., 180. 23 Harry G. Frankfurt: The Faintest Passion, in: Proceedings of the American Philosophical Association 66 (1992), 5–16; wiederabgedruckt in Free Will: Critical Concepts in Philosophy Volume IV, ed. by John Martin Fischer, London 2005, 54–67. (Alle Referenzen beziehen sich auf den wiederabgedruckten Aufsatz) 21 22

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der Vorstellung abzurücken, dass Identifikation ein »positives Element«, wie zum Beispiel ein Urteil oder eine Überzeugung von der Art, wie sie in der Klausel (b) bestimmt werden, enthalte. Er sorgt sich darum, dass der Akteur unbefriedigt mit dem in Frage stehenden Element sein mag und dass das Angehen des Problems, welches durch eine solche Art von Situation gegeben ist, problematischer Weise eine unendliche Zahl von deliberativen Elementen (Urteile, Entscheidungen usw.) enthalten könnte.24 Frankfurt schreibt: “Being genuinely satisfied is not a matter, then, of choosing to leave things as they are or of making some judgment or decision concerning the desirability of change. It is a matter if simply having no interest in making changes. What it requires is that psychic elements of certain kinds do not occur. But while the absence of such elements does not require either deliberate action or deliberate restraint, their absence must nonetheless be reflective. In other words, the fact that the person is not moved to change things must derive from his understanding and evaluation of how things are with him. Thus, the essential non-occurrence is neither deliberately contrived nor want only unselfconscious. It develops and prevails as an unmanaged consequence of the person’s appreciation of his psychic condition.”25 Frankfurt nennt die Verfassung eines Akteurs, der kein Interesse daran hat, Änderungen der relevanten Art herbeizuführen, »Zufriedenheit«. Er macht folgende Randbemerkung zu diesem wichtigen Begriff: “What satisfaction [entails] is an absence of restless nessor resistance. A satisfied person might willingly accept a change in his condition, but he has no active interest in bringing about a change. […] [A]s a sheer matter of fact, he has no ambition for improvement; he accepts the state of things as it is, without reservation and without any practical interest in how it compares with other possibilities.”26 Dies scheint sodann nahezulegen, dass Frankfurt den folgenden Ansatz freien Handelns akzeptieren würde: Ein Akteur handelt nur in den Fällen frei, in denen (a) er in Übereinstimmung mit seinen offensichtlich unhinterfragten Volitionen der Ordnung »n« (mit n höher als 1) handelt, und (b*) er zur Gänze mit seinem psychischen Haushalt zufrieden ist.27 Für Frankfurt ist es an dieser Stelle wichtig, dass Zufriedenheit kein irgendwie geartetes »deliberatives psychisches Element« (mutmaßlich so etwas, wie eine »ausschlaggebende Bindung«) voraussetzt. Frankfurt wendet seinen Ansatz auf jemanden an, der versucht mit dem Rauchen aufzuhören.28 Frankfurt konzipiert eine solche Situation so, dass das Individuum einen Wunsch erster Ordnung hat zu rauchen und einen Wunsch erster Ordnung das Ebd., 63. Ebd., 63. 26 Ebd., 62. 27 Aus diesem Grunde kann Zufriedenheit (für Frankfurt) die Präsenz eines entgegenstehenden Wunsches niederer Ordnung beinhalten, den der Akteur eher nicht zu haben wünscht. 28 Ebd., 64. 24 25

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Rauchen aufzugeben. Man nehme an, das Individuum bilde eine Volition zweiter Ordnung in Übereinstimmung mit seinem Wunsch nicht zu rauchen; was würde nun darauf schließen lassen, dass das Individuum irgendwie enger verbunden ist mit – bzw. sich identifiziert mit – seiner Volition zweiter Ordnung (und dem damit assoziierten Wunsch erster Ordnung)? Frankfurt versteht dies, wobei hier Watson nachklingt, folgendermaßen: »Considered in itself, after all, his desire to defeat the desire to smoke is just another desire. How can it claim to be constitutive of what he really wants?”29 Frankfurts Antwort auf diese Frage besteht darin, dass sein Ansatz nicht zur Folge habe, dass sich ein Individuum nur aufgrund der Existenz einer Volition zweiter Ordnung mit dem relevanten Wunsch erster Ordnung identifiziere. Auch setze eine solche Identifikation keinen unendlichen Regress von positiven psychischen Elementen voraus. Vielmehr ist es nach Frankfurt so: »Identification is constituted neatly by an endorsing higher-order desire with which the person is satisfied.«30 Möglicherweise würde Frankfurt die folgende kleinere Klarstellung akzeptieren: Die Identifikation wird angemessen durch einen unwidersprochenen Wunsch höherer Ordnung, der von einem Individuum befürwortet wird, das mit seinem psychischen Zustand zufrieden ist, konstituiert.31

V. Bratmans Kritik Michael Bratman hat eine Kritik an Frankfurts Vorstellung, dass ein positives mentales Element – wie zum Beispiel eine Entscheidung – unnötig wäre, formuliert: Es sei lediglich eine »negative« Anforderung – wie zum Beispiel eine reflexive Zufriedenheit vonnöten.32 Bratman stellt sich vor, dass ich über einen bestimmten Wunsch höherer Ordnung reflektiere und mir Gedanken darüber mache, ob ich meinen Wunsch ändern solle. Solange ich dies erwäge, sind meine Überlegungen unvollständig und zu keiner abschließenden Lösung gekommen. Bratman zeigt auf, dass meine Situation dann noch nicht als Identifikation mit einem Wunsch höherer Ordnung (oder mit dem relevanten Wunsch erster Ordnung, der dadurch ausgewählt wird) zählen kann, obwohl ich (noch) nicht geneigt bin, irgendetwas im Lichte meines Verständnisses der Situation zu ändern (und hiermit scheinen Frankfurts Bedingungen für Zufriedenheit erfüllt zu sein). Ebd., 64. Ebd., 64. 31 Durch »befürworten« möchte ich an dieser Stelle keinerlei positive Bewertung implizieren; eher meint befürworten im hier relevanten Sinne einfach »sich hinter etwas zu stellen« (um etwas anzubieten, was, zugegebenermaßen, eine wenig hilfreiche Metapher sein mag). Man könnte sagen, ein Wunsch befürwortet insofern, als er eine angemessene funktionale Rolle für den Akteur spielt, der befürwortet. Für hilfreiche Anmerkungen an dieser Stelle stehe ich in der Schuld von Justin Coates. Gleichfalls hat Benjamin Mitchel-Yelling mir gegenüber (in persönlicher Korrespondenz) betont, dass es unklar ist, ob es für Frankfurt nötig sei, dass das relevante Element höherer Ordnung keine »Entgegensetzung« aufweist. An keiner Stelle hängt meine Diskussion in diesem Aufsatz davon ab, diese exegetische Frage aufzuklären. 32 Michael E. Bratman: Identification, Decision, and Treating as a Reason, in: Philosophical Topics 24 (1996), 1–18. 29 30

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Bisher sind wir noch nicht im Besitze derjenigen Bedingungen, die intuitiv hinreichend wären für den entsprechenden Begriff der Identifikation. Wie Bratman sich ausdrückt: “[…] the mere absence of […] a rejection of my desire is not yet enough for identification. Identification seems to require that I somehow settle the question of the status of my desire. To settle that question, my reflections need to reach closure--they need to reach a conclusion. But that seems to mean that my reflections need to reach some sort of decision about whether to challenge that higher-order desire or to ‘leave things as they are’: the mere absence of motivation to ‘change things’ seems not to suffice.”33 Bratman fährt damit fort, zu erklären, warum eine bloß negative Bedingung, wie etwa Frankfurts »Zufriedenheit«, nicht genug ist, um »Identifikation« wirklich sicherzustellen: “[…] one may leave things as they are because of some sort of enervation or exhaustion or depression or the like. If in such a case one has not actually decided to leave things as they are, one has not, I think, identified with how things are with one.”34 Bratman hat hier sicherlich ein Problem aufgedeckt. Wie kann ein psychisches Element wirklich das eigene sein – wie kann jemand sich damit (im relevanten Sinne) identifizieren – wenn das entsprechende Element aufgrund von bloßer Langeweile, Erschöpfung, Anomie oder Depression vorhanden ist? Wie kann dieses Element ernsthaft »für den Akteur sprechen«? In dem Versuch einen problematischen Regress zu vermeiden, scheint es, dass Frankfurt seine Voraussetzungen für die Identifikation übermäßig abgeschwächt hat.

VI. Zwei Arten von Identifikation VI. 1. Einige Unterscheidungen Ich glaube, dass die Literatur, die von Frankfurts bahnbrechendem Aufsatz Freedom of the Will and the Concept of a Person ausgeht, an dem Versäumnis leidet, einige bestimmte Unterscheidungen zu treffen – oder, wenn diese Unterscheidungen getroffen wurden, sie klar im Hinterkopf zu behalten. Vorsichtiger ausgedrückt, obgleich diejenigen, die zur Literatur beigetragen haben, sich zumindest in einigen Fällen dieser UnterEbd., 7. Ebd., 7. Er wiederholt diese Kritik an Frankfurt in: Michael E. Bratman: Planning Agency, Autonomous Agency, in: Personal Autonomy 2004, S. 33–57; wiederabgedruckt in: Free Will: Critical Concepts in Philosophy Volume IV, ed. by John Martin Fischer, London 2005, 68–89. (Alle Hinweise beziehen sich auf den Wiederabdruck.) In den zuvor genannten Aufsätzen (und anderen) entwickelt Bratman seinen eigenen Begriff von »Identifikation«, der, wie er meint, die Probleme umgeht, die er an Frankfurts Ansatz hervorhebt. 33 34

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scheidungen bewusst gewesen sind, scheinen sogar sie diese Unterscheidungen manchmal zu übersehen. In diesem Aufsatz ist es jedoch nicht mein Ziel, irgend jemanden, der zu der Literatur beigetragen hat, zu kritisieren; letztlich haben sie alle entscheidend zum Fortschritt bezüglich des Verständnisses zentraler Eigenschaften unserer Akteurschaft beigetragen. Ich möchte diese Unterscheidungen eher explizit machen und aufzeigen, wie das Scheitern daran, sich ihrer zu erinnern, zu Konfusionen führen kann; sogar dann, wenn bestimmte Autoren die relevanten Unterscheidungen gewiss anerkennen, ist es möglicherweise leicht für den Leser, den Überblick über diese zu verlieren. Darüber hinaus ist es für jedermann leicht möglich, ein Verständnis der relevanten Phänomene unter Nichtbeachtung dieser Unterscheidungen anzustreben und daher entscheidende Fehler zu begehen – zumindest behaupte ich das. Zuerst möchte ich zwischen moralischer Verantwortlichkeit und Autonomie unterscheiden. Ich nehme an, dass Frankfurt in seinem 1971er Aufsatz darauf abzielte, einen Ansatz zu dem zu liefern, von dem er glaubte, dass es eine freiheitsrelevante Komponente der moralischen Verantwortlichkeit darstelle: frei zu handeln. Wenn jemand moralisch verantwortlich ist, dann ist er selbstverständlich ein gerechtfertigter Adressat für bestimmte Einstellungen, wie z. B. Empörung, Übelnehmen, Dankbarkeit und Respekt, und er ist gleichfalls ein Adressat für moralisches Lob und Tadel. Dies ist es, worin, grob gesprochen, moralische Verantwortlichkeit besteht. Weiterhin nehme ich an, dass echte Willensschwäche möglich ist; das heißt, ich nehme an, dass jemand frei gegen die Forderungen seines »wahren Selbst« oder »wirklichen Selbstes« handeln kann. (Weiter unten werde ich mehr über das wahre oder wirkliche Selbst sagen). Wenn jemand Willensschwäche aufweist, dann handelt dieser jemand frei und ist moralisch verantwortlich; jemand ist aufgrund seines willensschwachen Verhaltens in der Tat als irrational kritisierbar. Daher ist die Tatsache, dass ein Akteur für einen Teil seines Verhaltens moralisch verantwortlich ist, vollständig konsistent mit der Möglichkeit, dass er dabei versagt, in seinem Verhalten bestimmte Normen der Rationalität (und auch von Moralität) zu erfüllen; es ist offensichtlich, dass unser Verständnis moralischer Verantwortlichkeit moralische Verantwortlichkeit für moralisch falsche Handlungen zulassen muss. Ich nehme an, dass ein robusterer Begriff von Autonomie mit Willensschwäche unvereinbar ist (und aus diesem Grund unvereinbar mit dem Verfehlen, in Übereinstimmung mit den relevanten Normen der Rationalität zu handeln). Autonomie zieht moralische Verantwortlichkeit nach sich, aber dafür muss eine zusätzliche Bedingung erfüllt sein; Autonomie ist »Selbstgesetzgebung«, und daher benötigt sie (in einem schwierig zu spezifizierenden Sinne) eine Gesetzgebung durch das Selbst. Wie auch immer man die relevante Selbstgesetzgebung genau charakterisiert, ich nehme an, dass sie Willensschwäche ausschließt. Daher werde ich den Ausdruck »Autonomie« gebrauchen, um einen Begriff zu haben, der mehr fordert als bloße moralische Verantwortlichkeit, die mit Willensschwäche kompatibel ist. Genauer gesagt, benötigt sie eine Art von Regierung oder Lenkung durch das »Selbst«, wobei unter dem Selbst hier das »wirkliche Selbst« (zu praktischen Zwecken) verstanden wird oder auch die »praktische Identität« des Akteurs. Der angemessene Begriff des »wirklichen Selbst« oder der »Identität

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des Akteurs« ist nicht so zu verstehen, dass er schwerwiegenden ontologischen Ballast mit sich führen würde; er zielt eher darauf ab den »designierten« Teil des psychischen Haushaltes des Akteurs hervorzuheben, der auf irgendeine Weise am wahrsten und tiefsten anzeigt, wofür das Individuum einsteht (in praktischen Absichten). Ich behaupte, dass ein Akteur im vollen Sinne moralisch verantwortlich für eine Handlung sein kann, die man als nicht autonom bezeichnen kann. Verschiedene Philosophen verwenden verschiedene Ausdrücke für die Eigenschaften der autonomen Akteurschaft. Um ein Beispiel zu nennen: David Velleman verwendet den Ausdruck »agency [oraction] par excellence.«35 Michael Bratman spricht über »Autorität des Akteurs«. Wenn einem Wunsch höherer Ordnung die »Autorität des Akteurs« zukommt, dann gilt nach Bratman, dass: »[it] has the authority to speak for the agent, to constitute where the agent stands.«36 Für Bratmann gilt, dass ein Akteur dann autonom handelt, wenn er in Übereinstimmung mit einem Wunsch höherer Ordnung handelt, der die »Autorität des Akteurs« gewährleistet – ein Wunsch der zeigt oder konstituiert, wofür der Akteur (wirklich) steht. Bratman ist dabei ziemlich klar, dass es eine Unterscheidung zwischen Autonomie und moralischer Verantwortlichkeit gibt und dass sein Fokus auf der Autonomie liegt: “[…] I understand self-governance of action to be a distinctive form of self-direction or self-determination (I do not distinguish these last two) of action. Autonomy-that is, personal autonomy--is self-direction that is, in particular, self-governance. Or anyway, that is the phenomenon that is my concern here. [Bratman bezieht sich hier auf seinen Aufsatz: Autonomy and Hierarchy, in: Autonomy New York 2003, 156–176, insbesondere: 156–157 und 168.] Autonomy is related in complex ways to moral responsibility and accountability, but I do not consider these further issues here.”37 Aus Gründen der Vereinfachung werde ich den Ausdruck »Autonomie« gebrauchen, um alle die Vorstellungen abzudecken, nach denen Handlungen in Übereinstimmung mit dem »wahren« oder »wirklichen« Selbst verstanden werden – das Selbst, das auf irgendeine Weise für den Akteur, für seine Perspektive, für seinen Ort oder seinen Standpunkt, zu Zwecken der praktischen Vernunft steht. Während viele Philosophen sich der Unterscheidung zwischen moralischer Verantwortlichkeit und Autonomie (so wie oben verstanden) bewusst sind, sehen vermutlich nicht ganz so viele eine korrespondierende Unterscheidung zwischen zwei Arten 35 Man beachte etwa: J. David Velleman: What Happens When Someone Acts?, in: Mind 101 (1992), 461–481; wiederabgedruckt in Fischer and Ravizza, Hrsg., Perspectives on Moral Responsibility, ed. by John Martin Fischer and Mark Ravizza Ithaca 1993, 188–210. 36 Michael E. Bratman: Planning Agency, Autonomous Agency, in: Free Will: Critical Concepts in Philosophy Volume IV (2005), 72. Für den Begriff der »agential authority« siehe auch Michael E. Bratman: Two Problems About Human Agency, in: Proceedings of the Aristotelian Society 101 (2001), 309–326. 37 Michael E. Bratman: Planning Agency, Autonomous Agency, in: Free Will: Critical Concepts in Philosophy Volume IV (2005), 85, fn. 1.

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von »Internalität« oder »Identifikation«. Ich behaupte allerdings, dass es zwei Arten von »Internalität« oder »Identifikation« gibt, die den beiden unterschiedenen Begriffen von moralischer Verantwortlichkeit und Autonomie korrespondieren. Ich werde die Unterscheidung in den Begriffen der Identifikation ausbuchstabieren. Man nenne den Begriff der Identifikation, der für moralische Verantwortlichkeit relevant ist, »Verantwortungs-Identifikation«, und den Begriff der Identifikation, der relevant für die Autonomie ist, »Autonomie-Identifikation«. Ich unterstelle, dass hiermit zwei distinkte Begriffe von Identifikation getroffen sind. Darüber hinaus unterstelle ich, dass während die Autonomie-Identifikation üblicherweise in den Begrifflichkeiten des »wahren« oder »wirklichen« Selbst bestimmt wird – die Elemente oder Strukturen, die irgendwie zeigen, wofür der Akteur wirklich steht, wie oben ausgeführt – die Frage, was die Verantwortlichkeits-Identifikation konstituiert, offen ist. Zumindest ist es nicht offensichtlich, dass die Verantwortlichkeits-Identifikation die Autonomie-Identifikation voraussetzt, expliziert als eine Verbindung mit dem »wahren Selbst« des Akteurs (das wie oben verstanden wird). Letztlich kann man moralisch verantwortlich für willensschwaches Verhalten sein und gleichfalls für unreflektiertes Verhalten und sogar für Verhalten, das völlig aus der Rolle fällt.

VI. 2. Anwendungen Ich behaupte, dass eine Analyse der angezielten Phänomene entscheidend dadurch verfälscht werden kann, dass man es versäumt, die eben unterschiedenen Begriffe der Identifikation zu unterscheiden (genauso wie das Begriffspaar der moralischen Verantwortlichkeit und der Autonomie). Ich beginne mit Thalbergs Kritik. Ich räume ein, dass es berechtigt ist, sich zu fragen, ob die relevante Präferenz höherer Ordnung mit dem »wirklichen« Selbst korrespondiert, wenn man es entweder in einem robusten metaphysischen Sinne versteht oder bescheidener als das wahre Selbst der praktischen Vernunft. Gleichfalls ist es strittig, ob die »Vernunft« oder die »Rationalität« dem wirklichen Selbst korrespondiert (im robusten oder bescheidenen Sinne). Frankfurt selbst ist bemüht hervorzuheben, dass die relevante Präferenz höherer Ordnung nicht auf die »Vernunft« in irgendeinem Sinne zurückzuführen ist, um die erforderliche Rolle in seinem Ansatz zu spielen; die in Frage stehende Präferenz höherer Ordnung kann – laut Frankfurt – ausgeprägt werden, ohne überhaupt auf Reflexion zurückzugreifen. Es ist also klar, dass es nicht in Frankfurts Sinne wäre, das wahre Selbst dem rationalen Selbst zuzuschlagen. Darüber hinaus ist kein Vertreter des hierarchischen Modells freien Handelns auf die Behauptung festgelegt, dass die relevante Präferenz höherer Ordnung mit dem wirklichen Selbst (verstanden als der Ort an dem der Akteur wirklich steht, hinsichtlich seiner praktischen Erwägungen) zu korrespondieren habe. Der Vertreter eines solchen Ansatzes zum freien Handeln würde wohl eher behaupten, dass die relevante Präferenz höherer Ordnung einen Teil der Analyse der Verantwortlichkeits-Identifikation darstellt, nicht der Autonomie-Identifikation. Falls dies richtig ist, dann verfehlt Thalbergs Kritik an Frankfurts hierarchischem Ansatz –

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und an allen hierarchischen Ansätzen vom freien Handeln – ihr Ziel. Das heißt, seine Kritik schießt insofern vorbei, als dass die angezielten Phänomene eher die Verantwortlichkeits-Identifikation und moralische Verantwortlichkeit sind, als die Phänomene der Autonomie-Identifikation und der Autonomie. Bestenfalls zeigt die Kritik, dass hierarchische Ansätze zu kurz greifen für eine Analyse der Autonomie-Identifikation und der Autonomie. Man ziehe auch Watsons Kritik in Erwägung. Obgleich sie verschiedene Elemente enthält, ist ein fundamentaler Punkt, den Watson anbringt, derjenige, dass Präferenzen höherer Ordnung »bloße Wünsche« sind und als solche nicht geeigneter sind, für das Selbst zu sprechen, als andere Wünsche, wie z. B. Präferenzen erster Ordnung. Nach Watsons platonischer Ansicht der »Seele« oder des Selbst gibt es fundamental verschiedene »Teile« oder Quellen der Motivation, und der rationale Teil oder die Quelle der Motivation hat die Hegemonie zu spezifizieren, wer wir als Akteure sind – wo wir gewissermaßen stehen. Watson behauptet, dass bloße Motivationen – Wünsche, die nicht in einem adäquaten Sinne aus bestimmten Arten von rationaler Überlegung stammen – aufgrund ihrer Natur unfähig sind, zu konstituieren, was wir wirklich wollen. Watsons Kritikpunkt mag hinsichtlich des wahren Selbst, grob verstanden als der Standpunkt des Handelnden in Bezug auf praktisches Überlegen, richtig sein. Nach seiner Ansicht kann ein reiner Wunsch nicht im relevanten Sinne »für den Akteur sprechen«. Daher würde dies, falls Watson hier tatsächlich richtig liegt, für die AutonomieIdentifikation und die Autonomie relevant sein. Aber, genauso wie bei meiner Analyse von Thalbergs Kritik weiter oben, ist es völlig unklar, ob Watsons Punkt auf die Verantwortlichkeits-Identifikation und moralische Verantwortlichkeit angewandt werden kann. Wenigstens würde ich behaupten, dass aus der Anwendbarkeit auf Autonomiephänomene nicht folgt, dass sie gleichfalls auch auf Verantwortlichkeitsphänomene angewandt werden kann.38 Man beachte darüber hinaus, dass eine notorische Schwierigkeit für die Art von Ansätzen zum freien Handeln, wie sie Watson verfolgt, darin besteht, das Phänomen der Willensschwäche zu integrieren. Wie ich oben gesagt habe, nehme ich an, dass es echte Fälle von Willensschwäche gibt – Fälle, in denen ein Akteur frei gegen das handelt, was

Da Frankfurt Watsons Kritik so Ernst nimmt, ist es interessant zu prüfen ob Frankfurt selbst die Unterscheidung zwischen moralischer Verantwortlichkeit und Autonomie so klar sieht, wie er sollte (oder ob er sie in ausreichendem Maße beachtet). Darüber hinaus ist es unklar, was Watson genau unter der Beziehung zwischen moralischer Verantwortlichkeit und Autonomie (oder Selbstgesetzgebung) versteht. In Gary Watson: Free Action and Free Will, in: Mind 96 (1987), 145–72; (wiederabgedruckt in: Agency and Answerability, ed. by Gary Watson, Oxford 2004, 161–98) behauptet er, dass ein Ansatz zur Willensfreiheit zwei Komponenten haben sollte: Einen Ansatz zur Autonomie (oder Selbst-Lenkung) und einen Ansatz für alternative Möglichkeiten. Er behauptet, dass Kompatibilisten und Inkompatibilisten von verschiedenen Ausgangspunkten ausgehen und so unterschiedliche Betonungen auf die jeweiligen Komponenten legen. Dies legt nahe, dass Watson denkt, dass die Autonomie auf entscheidende Weise mit der moralischer Verantwortlichkeit (vielleicht auf komplexen Wegen) verknüpft ist. An dieser Stelle stehe ich in der Schuld für Kommentare sowie eine unveröffentlichte Arbeit von Benjamin Mitchell-Yellin. 38

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er für das (insgesamt) Beste in einer Situation hält. Für Watsons Ansatz ist es schwierig, Willensschwäche zuzulassen, denn nach seinem Ansatz handelt jemand nur in den Fällen frei (in einem vage gehaltenen Sinne), in denen er in Übereinstimmung mit der Vernunft handelt. Allerdings ist Watson sich dieser Schwierigkeiten durchaus bewusst, und vielleicht gibt es Wege, seine Art von »normativem Ansatz« zum freien Handeln so zu explizieren, dass sie mit der Möglichkeit der Willensschwäche zusammenpasst.39 Hier genügt es jedoch, die Beobachtung festzuhalten, dass, sofern man das Phänomen der Willensschwäche zugesteht, Watsons Ansatz eine höhere Plausibilität als Entwurf für das Phänomen der Autonomie und die Autonomie-Identifikation aufweist, denn als Ansatz für die Verantwortlichkeits-Identifikation und das Phänomen der Verantwortung. Ein willensschwacher Akteur ist vielleicht nicht autonom; er weist nämlich nicht die »agency par excellence« auf und seine Handlungen zeigen nicht auf, wo er wirklich steht. Aber nichtsdestotrotz handelt er frei in dem Sinne, der relevant für moralische Verantwortlichkeit ist. Man bedenke diese interessante Passage von Watson: “One’s evaluational system may be said to constitute one’s standpoint, the point of view from which one judges the world. The important feature of one’s evaluational system is that one cannot coherently dissociate oneself from it in its entirety. For to dissociate oneself from the ends and principles that constitute one’s evaluational system is to disclaim or repudiate them, and any ends and principles so disclaimed (self-deception aside) cease to be constitutive of one’s valuational system. One can dissociate oneself from one set of ends and principles only from the standpoint of another such set that one does not disclaim. In short, one cannot dissociate oneself from all normative judgments without forfeiting all standpoints and therewith one’s identity as an agent.”40 Ich kann hier der Diskussion zuliebe Watsons Überzeugung annehmen, dass das evaluative System eines Akteurs seine »Identität als Akteur« konstituiert, und gleichfalls Watsons weiteren Punkt, dass sich jemand nicht von allen seinen evaluativen Urteilen lossagen kann, ohne seinen Status als Akteur aufzugeben. Doch daraus folgt nicht, dass ein so verstandener Akteur im Hinblick auf jede einzelne Handlung in Übereinstimmung mit seinem evaluativen Urteil, was das in einer Situation Beste wäre, handeln müsse. Er könnte ebenso gut eine willensschwache Handlung ausführen. Er könnte gleichfalls einfach spontan oder aus einer Laune heraus handeln, ohne überhaupt von seinem evaluativen System informiert oder geleitet zu sein. So wie ich die Situation interpretieren würde, kann der Akteur gewiss als verantwortlich für eine solche Handlung verstanden werden; er kann daher moralisch verantwortlich gemacht werden für seine willensschwachen, unreflektierten oder launischen Handlungen. Die Tatsache, dass jemand als

Gary Watson: Skepticism About Weakness of the Will, in: Philosophical Review 86 (1977), 316– 339; wiederabgedruckt in: Agency and Answerability, ed. by Gary Watson, Oxford 2004, 33–58; und Gary Watson: Free Action and Free Will, in: Mind 96 (1987), 145–72. 40 Gary Watson: Free Agency, in: Moral Responsibility (1986), 91–92. 39

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Akteur so verstanden werden muss, dass er letztlich einen evaluativen Standpunkt hat, hat nicht zur Folge, dass in einem bestimmten Fall seine Handlung auch auf diese Art von Standpunkt zurückgeführt werden kann. Man kann mit Watson über die Unmöglichkeit, sich vollständig von seinen normativen, evaluativen oder praktischen Festlegungen loszusagen, gleicher Meinung sein, und gleichzeitig an der Unterscheidung zwischen Phänomenen der Verantwortlichkeit und der Autonomie festhalten. Man denke an Autonomie als Selbstgesetzgebung in dem Sinne der Lenkung durch das »wahre« Selbst – die »inner citadel«41 oder den »designierten Teil des Selbst«, für die Zwecke praktischen Überlegens. Watson und andere haben Vernunft (auf verschiedenen Wegen) als die innere Zitadelle oder als designierten Teil des Selbst ausbuchstabiert. Also lässt sich Autonomie als Regierung durch die Vernunft begreifen. Dies nehme ich erneut um der Diskussion willen an. Aber wiederum bestehe ich darauf, dass daraus nicht folgt, dass die Verantwortlichkeits-Identifikation und die moralische Verantwortlichkeit als Regierung durch die Vernunft begriffen werden sollten; insofern die Phänomene der Verantwortlichkeit von denen der Autonomie geschieden sind, bleibt dies eine offene Frage.42 Wir mögen die Autonomie als Selbstgesetzgebung im Sinne einer Lenkung durch das »wahre Selbst« denken, aber das wahre Selbst nicht in den Begriffen der Rationalität und Normativität erfassen. Bratman zum Beispiel begreift das wahre Selbst als spezi-

41 John Christman beginnt seine hilfreiche Einführung in seinem Sammelband The Inner Citadel mit diesem Zitat von Isaiah Berlin: “I wish my life and decisions to depend on myself, not on external forces of whatever kind. I wish to be the instrument of my own, not other[s’] acts of will. I wish to be a subject, not an object […] I wish to be somebody, not nobody. It is as if I had performed a strategic retreat into an inner citadel--my reason, my soul, my ‘noumenal’ self--which, do what they may, neither external blind force, nor human malice, can touch. I have withdrawn into myself; there, and there alone, I am secure.” Das Zitat stammt aus Isaiah Berlin: Two Concepts of Liberty, in: Four Essays on Liberty Oxford 1969, 118–192, insbesondere 131 und 135. Christman zitiert diesen Auszug auf S. 3 von The InnerCitadel. Essays on Individual Autonomy, ed. by. John Christman New York 1989. In einer Aussage, die mit dem ersten Teil des Auszugs von Berlin verbunden ist, hat die Kabarettistin Lily Tomlin einmal gesagt: »When I was young I just wanted to be somebody. Now I wish I had been more specific.« 42 In Eleonore Stump: Sanctification, Hardening of the Heart and Frankfurt’s Concept of Free Will, in: Journal of Philosophy 85 (1988), 395–420 (wiederabgedruckt in: Perspectives on Moral Responsibility, ed. by John Martin Fischer and Mark Ravizza, Ithaca 1993, 211–234. Alle Hinweise beziehen sich auf den wiederabgedruckten Aufsatz.) ergänzt Eleonore Stump Frankfurts Ansatz zum freien Handeln dadurch, dass sie verlangt, dass die entscheidende Volition zweiter Ordnung auf der Vorstellung des Akteurs von der einschlägigen Richtung des Handlungsgutes basieren sollte. Stump kombiniert dort Frankfurts hierarchisches Modell mit einem Element, das Watsons Begriff des Wertes ähnelt. Sie meint, dass die Ergänzung eines solchen Elements es leisten würde, dass Frankfurt weitaus besser in der Lage wäre, Kritiken zurückzuweisen, dass sein Ansatz das Phänomen der Regierung durch ein wahres Selbst nicht angemessen einfangen könne. (S. 223–26) Aber wie bei meiner Diskussion von Watson im Haupttext würde, selbst wenn Stump über das wahre Selbst und somit über die Autonomie richtig liegt, nicht folgen, dass Frankfurts Ansatz, als ein Ansatz für moralische Verantwortlichkeit verstanden, inadäquat wäre.

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Kolloquium 3 · John Martin Fischer

fiziert (sehr grob gesprochen) durch die langfristigen Pläne eines Akteurs.43 Bratman argumentiert dafür, dass seine Ansicht – die Plan-Theorie – in wichtigen Punkten von Watsons Vernunftansicht zu unterscheiden sei. Aber, wie schon gesagt, da moralische Verantwortlichkeit von Autonomie unterschieden werden muss, würde nicht folgen, dass die Verantwortlichkeits-Identifikation und die moralische Verantwortlichkeit als Regierung in Übereinstimmung mit langfristigen Handlungsplänen begriffen werden sollten.44 Man erinnere sich nochmals an Bratmans Kritik an Frankfurts Begriff der Zufriedenheit. Bratman zeigt auf, dass wir mit unserer psychischen Verfassung in Frankfurts Sinne zufrieden sein können, einfach weil wir müde (oder sogar erschöpft) oder auch deprimiert sind. Für Bratman ist es schwer zu sehen, wie in diesem Sinne zufrieden zu sein dabei helfen könnte, die »Autorität des Akteurs« oder das, was wirklich für den Akteur spricht, zu explizieren. Man kann Bratman zustimmen, insofern die angezielten Phänomene die Autonomie-Identifikation und die Autonomie sind; und man erinnere sich, dass Bratman selbst sich der Unterscheidung zwischen Autonomie und Verantwortung bewusst ist und als sein Erklärungsziel das Phänomen der Autonomie darstellt. An dieser Stelle möchte ich nur hervorheben, dass Bratmans Kritiken an Frankfurt sich nicht auf dessen Ansatz anwenden lassen würden, insofern das Ziel im Phänomen der Verantwortlichkeit liegt, statt im Phänomen der Autonomie. Vielleicht ist es offensichtlich, dass wir nicht wissen wo ein Akteur wirklich steht, in dem Sinne, der relevant ist für die Autonomie, wenn er mit den relevanten psychologischen Strukturen höherer Ordnung zufrieden ist, weil er (etwa) müde, gelangweilt oder deprimiert ist. Aber daraus folgt gewiss nicht, dass wir keinen angemessenen Ansatz für die Verantwortlichkeits-Identifikation hätten, in dem sie die freiheitsrelevante Bedingung der moralischen Verantwortlichkeit konstituiert. Aus der bloßen Tatsache, dass ein Akteur in einem (sogar in einem signifikanten) Grade deprimiert ist, sowie aus der Tatsache, dass seine Depression eine Rolle bei seinem fehlenden Interesse spielt, seine Präferenzstruktur zu ändern, folgt nicht, dass der Akteur nicht für seine betreffenden Handlungen moralisch verantwortlich gemacht werden könnte. Gleichfalls beseitigt die reine Tatsache der Erschöpfung oder Langeweile sowie der Anomie oder der Entfremdung nicht von selbst die moralische Verantwortlichkeit. Man mag fragen, warum genau der Akteur entfremdet ist. Warum ist er müde? Warum kümmert er sich nicht? Ein Akteur kann sicherlich dafür zur Verantwortung gezogen werden, müde zu sein, unaufmerksam, oder dafür, sich nicht genug zu kümmern, und darum bleibt es eine offene Frage, ob die Zufriedenheit, die von solchen Bedingungen stammt, Teil eines angemessenen Ansatzes der moralischen Verantwortlichkeit sein sollte. Es wäre ein Fehler – obgleich kein Fehler, den Bratman selbst begeht –, aus einer Kritik an Frankfurt, verstanden als der Versuch, ei-

43 Michael E. Bratman: Planning Agency, Autonomous Agency, in: Free Will: Critical Concepts in Philosophy Volume IV (2005). Man beachte auch seine Einführung in: Structures of Agency, ed. by. Michael E. Bratman, Oxford 2006, 3–20. 44 Ich weise erneut daraufhin, dass Bratman selbst Verantwortlichkeit und Autonomie nicht vermengt.

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nen Ansatz für Phänomene der Autonomie zu liefern, eine Kritik an Frankfurt, verstanden als der Versuch, Aufschluss über die Phänomene der Verantwortlichkeit zu liefern, zu ziehen. Und wie ich oben betont habe, nimmt Frankfurt selbst an, dass er mindestens einen Beitrag zu traditionellen Debatten über kausalen Determinismus, Willensfreiheit und moralische Verantwortlichkeit geleistet hat; ob er auch wünschte, eine Analyse der Autonomie anzubieten, ist unklar.

VII. Konklusion: Zielwechsel In seinem berühmten Aufsatz Freedom of the Will and the Concept of a Person, von 1971, hat Harry Frankfurt einen detaillierteren Ansatz zum freien Handeln angeboten als die kompatibilistischen Standard-Ansätze, die es zu dieser Zeit gab. Frankfurt wünschte (neben anderem) einen kompatibilismusfreundlichen Ansatz des freien Handelns anzubieten, der ausbuchstabieren sollte, was zu einer reinen Handlung, die von einem Wunsch erster Ordnung ausgeht, hinzukommen müsse, um einen Begriff von »freiem Handeln« zu erhalten, in dem Sinne, dass er moralische Verantwortlichkeit impliziert. Laut Frankfurt wird dafür die Präsenz bestimmter psychologischer Strukturen höherer Ordnung benötigt. Frankfurts Projekt ähnelte in diesem Punkt sehr dem Projekt Gary Watsons in seinem beachtenswerten 1975er Aufsatz Free Agency. Watson schreibt dort: “Now, though compatibilists from Hobbes to J. J.C. Smart have given the relevant moral and psychological concepts an exceedingly crude treatment, this crudity is not inherent in compatibilism[…] In the subsequent pages, I want to develop a distinction between wanting and valuing which will enable the familiar view of freedom [as the ability to get what one wants] to make sense of the notion of an unfree action. The contention will be that, in the case of actions that are unfree, the agent is unable to get what he most wants, or values and this inability is due to his own ‘motivational system.’ […] I do not conceive my remarks to be a defense of compatibilism. This point of view may be unacceptable for various reasons, some of which call into question the coherence of the concept of responsibility. But these reasons do not include the fact that compatibilism relies upon the conception of freedom in terms of the ability to get what one wants[…]”45 In ihren frühen Aufsätzen scheinen Frankfurt und Watson also auf derselben Seite zu stehen: sie zielen darauf ab, präzisere Freiheitskonzeptionen zu entwickeln, die über die »gewöhnliche« Vorstellung, dass jemand in dem Maße frei ist, in dem er die Fähigkeit hat zu tun, was er will, hinausgehen. Obwohl keiner der beiden Philosophen ausdrücklich den Kompatibilismus befürwortet, verstehen sie beide ihre Projekte in Teilen als eine Verteidigung desselben gegen bestimmte Einwände. 45

GaryWatson: Free Agency, in: Moral Responsibility (1986), 82–83.

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Diverse Philosophen sprechen ebenfalls von einer »Akteurschaft par excellence«, »Autonomie« und einem Handeln, das regiert oder gelenkt wird durch das »wirkliche« oder »wahre« Selbst des Akteurs, oder etwaig durch die psychologischen Elemente oder Strukturen, die irgendwie den wahren Standpunkt des Akteurs anzeigen oder konstituieren, oder die die »Autorität des Akteurs« haben. An diesem Punkt haben die fraglichen Philosophen offensichtlich irgendetwas Robusteres im Kopf als dasjenige, was für moralische Verantwortlichkeit benötigt wird. Oben habe ich um der Einfachheit willen gesagt, dass ich annehme, dass »Autonomie« (und autonome Handlungen) die Lenkung durch das »wirkliche« oder »wahre« Selbst des Akteurs voraussetzen, wohingegen die moralische Verantwortlichkeit keine Lenkung durch solche »designierten« Elemente voraussetzt. Ich habe behauptet, dass es bestimmte, unterschiedene Arten der Identifikation gibt, die jeweils mit Autonomie und moralischer Verantwortung verknüpft sind: die Autonomie-Identifikation und die Verantwortlichkeits-Identifikation. Ein anderer Weg, die entsprechende Reichweite der Phänomene anzuordnen, bestünde darin, zu behaupten, dass es ein »wahres Selbst« oder ein »designiertes Element oder eine designierte Struktur« für jedes der Phänomene gibt – Autonomie und moralische Verantwortlichkeit. Nach dieser Ansicht beinhaltet die Autonomie-Identifikation im Hinblick auf Autonomie das wahre oder designierte Selbst. Im Gegensatz dazu wird die Verantwortlichkeits-Identifikation in den Begrifflichkeiten des wahren oder designierten Selbst ausbuchstabiert, und zwar im Hinblick auf moralische Verantwortlichkeit. Weiterhin behaupte ich, dass diese wahren oder designierten ›Selbste‹ nicht dieselben sein müssen; es wäre zu erwarten, dass das Autonomie-Selbst (verstanden als ein designiertes Element oder eine designierte Struktur) robuster ist oder stringentere Voraussetzungen erforderlich macht als das Verantwortlichkeits-Selbst (ebenfalls verstanden als designierte Elemente oder Strukturen). Verantwortlichkeits-Identifikation setzt hierbei voraus, dass es eine Vorstellung des Handelns gibt, das in einer Weise »für mich spricht«, die »reaktive Einstellungen« zulässt, wie z. B. Empörung, Übelnehmen, Dankbarkeit und Respekt, die mit Willensschwäche vereinbar sind; dies steht ersichtlich im Kontrast zu dem Autonomie-Sinn des »Für mich-Sprechens«, der unvereinbar mit Willensschwäche ist. Demnach führt ein Weg, die Phänomene zu begreifen, zu zwei Arten der Identifikation, in dem nur die Autonomie-Identifikation das wahre oder designierte Selbst einbezieht; der andere Weg fasst zwei Arten von Identifikation ins Auge, in denen zwei Arten von wahren oder designierten ›Selbsten‹ eine entscheidende Rolle spielen. Wie dem auch sei, hat man einmal die Autonomie von der moralischen Verantwortlichkeit getrennt – und die jeweiligen Begriffe von Identifikation – kann man sehen, dass Bedenken gegen einen bestimmten Ansatz der Identifikation, der mit der Autonomie verknüpft ist, nicht eo ipso Bedenken gegen einen Ansatz der Identifikation darstellen, der mit moralischer Verantwortlichkeit verknüpft ist. Aufgrund der engen Beziehung zwischen den relevanten Begriffen der Identifikation und ebenso aufgrund der Ähnlichkeit der Sprache, die wir gebrauchen um die relevanten Phänomene zu beschreiben, passiert es leicht, dass man von dem einen Begriff zum anderen übergeht ohne dies zu registrieren.46 46

Einen ähnlichen Punkt macht Pamela Hieronymi in: dies.: Making a Difference, in: Social The-

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Mit dem Risiko, diejenige akademische Reputation, die ich habe, zu schwächen, würde ich gerne den Anfang des »Wikipedia« Eintrags zu Zielwechseln, oder »missioncreep«, anführen: “Mission creep is the expansion of a project or mission beyond its original goals, often after initial successes. The term often implies a certain disapproval of newly adopted goals by the user of the term. Mission creep is usually considered undesirable due to the dangerous path of each success breeding more ambitious attempts, only stopping when a final, often catastrophic, failure occurs. The term was originally applied exclusively to military operations, but has recently been applied to many different fields. The phrase first appeared in articles concerning the UN Peacekeeping mission during the Somali Civil War in the Washington Post on April 15, 1993 and in the New York Times on October 10, 1993.”47 Ich denke, dass es eine bestimmte Ausweitung des Projektes von Frankfurt und Watson über deren ursprüngliche Ziele hinaus gegeben hat. In diesem Aufsatz habe ich versucht, auf die unterschiedlichen Ziele beim Bereitstellen von Ansätzen der verschiedenen – aber leicht zu vermengenden – angezielten Phänomene aufmerksam zu machen: nämlich Verantwortlichkeit und Autonomie. Sicherlich glaube ich nicht, dass es gefährlich oder potentiell katastrophal wäre zu versuchen, ein erhellendes, robusteres Konzept von Autonomie zu liefern. Aber ich glaube, dass es philosophisch gefährlich sein kann – wenn auch nicht völlig katastrophal – wenn man es versäumt, dieses Projekt von dem damit verbundenen, aber verschiedenen Projekt eines Ansatzes für moralische Verantwortlichkeit zu entwickeln und dabei von dem einen philosophischen Ziel (möglicherweise unbemerkt) zu dem anderen zu ›schlittern‹.48 Übersetzt von Tim Rojek ory and Practice 37 (2011), 81–94. Es ist in der Tat verblüffend, wie sich eine parallele und maßgeblich isomorphe Literatur in der gegenwärtigen Philosophie, die Probleme der Autonomie und moralischen Verantwortlichkeit betreffend, entwickelt hat. In vielen Fällen findet sich in der Literatur dieselbe Ausdrucksweise. Etwa, nur als Beispiel, ist ein wichtiger früher Aufsatz über Autonomie von Gerald Dworkin betitelt mit »Acting Freely« (Gerald Dworkin: Acting Freely, in: Nous 4 [1970], 367–383). Die Tatsache, dass die parallel laufende Literatur über Autonomie und Verantwortlichkeit die gleiche Ausdrucksweise verwendet, kann es schwer machen, die Unterschiede zwischen den Phänomenen nicht außer Acht zu lassen. Darüber hinaus ist es nicht nur die Ausdruckweise, die gleich ist; die parallel laufende Literatur ist stark isomorph im Hinblick auf solche Streitpunkte, wie diejenigen, ob Akteurschaft in einem hierarchischen Modell verstanden werden sollte, wie man mit dem Problem manipulativer Induktion durch geistige Vorläufer der Handlung umgehen soll, und ob Akteurschaft (der entsprechenden Art) ein wesentlich historischer Begriff ist (um nur zwei herausstechende Beispiel zu erwähnen). Als einige klassische und wichtige Arbeiten in der Autonomie Literatur seien genannt: Gerald Dworkin: The Theory and Practice of Autonomy, Cambridge 1988; Marina Oshana: Personal Autonomy in Society, Aldershot, U.K 2006; und James Stacy Taylor: Personal Autonomy: New Essays on Personal Autonomy and Its Role in Contemporary Moral Philosophy, New York 2005. 47 http://en.wikipedia.org/wiki/Mission_creep, letzter Zugriff 1. Juni 2011. 48 Ich bin sehr dankbar für Kommentare von Agnieszka Jaworska, Benjamin Mitchell-Yellin, Christopher Franklin und Justin Coates. Außerdem habe ich von der Lektüre der folgenden (bis dato) unver-

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Literatur Berlin, Isaiah: Two Concepts of Liberty, in: Four Essays on Liberty Oxford 1969, 118– 192. Bratman, Michael E.: Identification, Decision, and Treating as a Reason, in: Philosophical Topics 24 (1996), 1–18. –: Two Problems About Human Agency, in: Proceedings of the Aristotelian Society 101 (2001), 309–326. –: Planning Agency, Autonomous Agency, in: Personal Autonomy, Cambridge 2004, 33–57. – (ed.): Structures of Agency, Oxford 2006. Christman, John (ed.): The Inner Citadel. Essays on Individual Autonomy, New York 1989. Dworkin, Gerald: Acting Freely in: Nous 4 (1970), 367–383. –: The Theory and Practice of Autonomy, Cambridge 1988. – (ed.): Moral Responsibility, Ithaca 1986. – and Mark Ravizza (ed.): Perspectives on Moral Responsibility, Ithaca 1993. – (ed.): Free Will: Critical Concepts in Philosophy Volume IV, London 2005. –: Responsibility and Autonomy, in: A Companion to the Philosophy of Action. Oxford (2010), 309–316. Frankfurt, Harry G.: Alternate Possibilities and Moral Responsibility, in: Journal of Philosophy 66 (1969). –: Freedom of the Will and the Concept of a Person, in: Journal of Philosophy 68 (1971), 5–20. –: Identification and Wholeheartedness, in: Responsibility, Character and the Emotions. Cambridge (1987), 27–45. –: The Faintest Passion, in: Proceedings of the American Philosophical Association 66 (1992), 5–16. –: Reply to John Martin Fischer, in: Contours of Agency. Cambridge, MA. (2002), 27– 31. Hieronymi, Pamela: Making a Difference, in: Social Theory and Practice 37 (2011), 81–94. Oshana, Marina: Personal Autonomy in Society, Aldershot, U. K 2006. Stump, Eleonore: Sanctification, Hardening of the Heart and Frankfurt’s Concept of Free Will, in: Journal of Philosophy 85 (1988), 395–420. James Stacy Taylor: Personal Autonomy: New Essays on Personal Autonomy and Its Role in Contemporary Moral Philosophy, New York 2005.

öffentlichten Arbeiten profitiert: Justin Coates: Nietzsche’s Theory of Freedom of the Will in Beyond Good and Evil (Manuskript, Department of Philosophy, University of California, Riverside); und Benjamin Mitchell-Yellin: Self-Governance, Moral Responsibility, and Weakness of Will: In Defense of the Platonic Model (Department of Philosophy, University of California, Riverside).

Verantwortlichkeit und Autonomie: Das Problem des Zielwechsels

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Thalberg, Irving: Hierarchical Analyses of Unfree Action, in: Canadian Journal of Philosophy 8 (1978), 211–226. Velleman, David J.: What Happens When Someone Acts?, in: Mind 101 (1992), 461– 481. Watson, Gary: Free Agency, in: Journal of Philosophy 72 (1975), 205–220. –: Skepticism About Weakness of the Will, in: Philosophical Review 86 (1977), 316– 339. –: Free Action and Free Will, in: Mind 96 (1987), 145–172. – (ed.): Agency and Answerability, Oxford 2004.

Autonomie, moralische Verantwortung und das Fortsetzungsproblem Alfred Mele

Viele Philosophen haben behauptet, dass der Determinismus mit moralischer Verantwortung unvereinbar ist – dass in einem deterministischen Universum niemand für irgendetwas moralisch verantwortlich ist. Mein Thema ist eine eng damit zusammenhängende Behauptung über moralische Verantwortung. Diese Behauptung wird am Ende von Abschnitt 1 identifiziert. In den Abschnitten 2 bis 4 skizziere ich ein Problem für eine typisch libertarianische Position im Hinblick auf moralische Verantwortung und entwickle zwei Versionen dieses Problems. Im Abschnitt 5 greife ich eine Erwiderung auf dieses Problem (oder ein sehr ähnliches Problem) wieder auf, die in Free Will and Luck vorgeschlagen wurde.1 Die Diskussion konzentriert sich darauf, wie moralische Verantwortung und autonome Handlungsfähigkeit in jungen menschlichen Wesen entstehen können. 1. Zielbestimmung Ein Weg zu der Hauptthese, die hier betrachtet werden soll, beginnt mit personaler Autonomie oder dem freien Willen.2 Die Behauptung, dass nur Wesen, die über eine gewisse personale Autonomie verfügen (oder die einen freien Willen haben), für irgendetwas moralisch verantwortlich sein können, ist äußerst weit verbreitet. Die Verbindung dieser Behauptung mit der These, dass personale Autonomie mit dem Determinismus unvereinbar ist, impliziert, dass moralische Verantwortung mit dem Determinismus inkompatibel ist. Nun, wenn personale Autonomie mit dem Determinismus unvereinbar ist, warum ist dies so? Eine geläufige Antwort lautet, dass notwendig gilt: Ein Wesen A-t nur dann autonom, wenn es zum Zeitpunkt der Handlung etwas anderes als A hätte tun können, und dies in einem Sinne von »hätte anders können«, der die Falschheit des Determinismus verlangt. In den Begriffen möglicher Welten ausgedrückt, lautet diese geläufige Antwort: (PA) Es gilt notwendig, dass ein Wesen, das zu t A-t, nur dann autonom A-t, wenn es eine andere mögliche Welt mit derselben Vergangenheit bis hin Vgl. Alfred Mele 2006: Free Will and Luck, New York 2006. Die Grundidee der Autonomie – von »autos« (selbst) und »nomos« (Herrschaft oder Gesetz) – ist die Selbstbestimmung (self-rule) oder Selbstbeherrschung (self-government). Mein Versuch, in früheren Werken (besonders Mele 1995) ein Verständnis von autonomer Handlungsfähigkeit zu entwickeln, ist der Versuch, diejenige Handlungsfähigkeit zu verstehen, die für selbstbestimmte oder selbstbeherrschte Individuen kennzeichnend ist. »Autonomie« gehört, so wie ich den Begriff dort wie auch in diesem Artikel verwende, in die Familie der metaphysischen Freiheitsbegriffe: »freier Wille«, »freie Entscheidung«, »freie Handlung«, und so weiter. 1 2

Autonomie, moralische Verantwortung und das Fortsetzungsproblem

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zu t und denselben Naturgesetzen gibt, in der es zu t nicht A-t und stattdessen etwas anderes tut.3 Eine parallele Behauptung über moralische Verantwortung lautet: (MV1) Es gilt notwendig, dass ein Wesen, das zu t A-t, für A nur dann moralisch verantwortlich ist, wenn es eine andere mögliche Welt mit derselben Vergangenheit bis hin zu t und denselben Naturgesetzen gibt, in der es zu t nicht A-t und stattdessen etwas anderes tut. Diese Behauptung ist unplausibel. Während t näher rückt, wird es für einen bestimmten betrunkenen Fahrer allmählich zu spät, um zu vermeiden, einen bestimmten Fußgänger zu überfahren – zu spät für ihn, um noch etwas anderes zu tun als den Fußgänger zu überfahren und ihn zu töten. (Reaktionszeiten sind kein Mythos.) Dennoch: wenn moralische Verantwortung alltäglich ist und wenn dies ein Allerweltsfall eines betrunkenen Fahrers ist, der versehentlich jemanden überfährt und ihn tötet, ist es plausibel, dass der Fahrer für die Tötung und den Tod moralisch verantwortlich ist. Selbst wenn (MV1) falsch ist, könnten andere Behauptungen wahr sein, die moralische Verantwortung von der Falschheit des Determinismus abhängig machen. Wenn der betrunkene Fahrer für die versehentliche Tötung moralisch verantwortlich ist, so zum Teil deshalb, weil er für eine andere Handlung oder Handlungen moralisch verantwortlich ist – etliche Getränke getrunken zu haben, betrunken zu fahren oder dergleichen. Und es könnte behauptet werden, dass er für keine anscheinend relevante Handlung, die er vollzogen hat, moralisch verantwortlich ist, solange er nicht irgendeine derartige Handlung autonom ausgeführt hat. Selbst wenn (MV1) durch das Szenario des betrunkenen Fahrers widerlegt wird, wird es die folgende These nicht: (MV2) Es gilt notwendig, dass ein Wesen, das niemals autonom handelt, niemals für irgendetwas moralisch verantwortlich ist. Eine verwandte These lautet: (MV3) Es gilt notwendig, dass ein Wesen niemals für irgendetwas moralisch verantwortlich ist, wenn es nicht für wenigstens eine seiner Handlungen grundsätzlich moralisch verantwortlich (basically morally responsible) ist; und ein Wesen, das zu t A-t, ist – per definitionem – nur dann grundsätzlich moralisch verantwortlich für A, wenn es eine andere mögliche Welt mit derselben Vergangenheit bis hin zu t und denselben Naturgesetzen gibt, in der es zu t nicht A-t und stattdessen etwas anderes tut. Diese Behauptung ist ein Hauptthema des vorliegenden Aufsatzes.4

Zur Frage, wie man »t« in Aussagen wie diesen zu verstehen hat, siehe Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006, 15–16. 4 Frankfurt-Fälle werfen ein vermeintliches Problem für (MV3) auf. Ich lasse derartige Fälle bis zum Abschnitt 4 außer Acht. 3

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Kolloquium 3 · Alfred Mele

2. Skizze eines offensichtlichen Problems Betrachten wir eine Geschichte aus Free Will and Luck.5 Bob lebt in einem Ort, in dem die Leute nicht nur auf Football-Spiele wetten, sondern zum Beispiel auch darauf, ob der eröffnende Münzwurf rechtzeitig stattfinden wird. Nachdem Bob eingewilligt hatte, um zwölf Uhr mittags eine Münze zu werfen, um ein Highschool Football-Spiel zu eröffnen, bot Carl, ein notorischer Spieler, ihm 50 € dafür, mit dem Münzwurf bis um 12:02 Uhr zu warten. Unschlüssig, was er tun sollte, rang Bob noch immer mit seinem Dilemma, während der Mittag näher rückte. Die 50 € reizten ihn, doch er hatte ebenfalls moralische Bedenken dabei, Carl dabei behilflich zu sein, Leute um ihr Geld zu betrügen. Insgesamt hielt er es für das Beste, zu tun, was er zugesichert hatte. Dennoch entschloss er sich um zwölf, die Münze um 12:02 Uhr zu werfen und in der Zwischenzeit so zu tun, als ob er in seinen Taschen danach suche. Könnte Bob grundsätzlich moralisch verantwortlich dafür sein, sich auf diese Weise entschieden zu haben? Setzt man voraus, was (MV3) über moralische Verantwortung sagt, lautet die Antwort nur dann »Ja«, wenn es eine andere mögliche Welt mit derselben Vergangenheit bis zum Mittag und denselben Naturgesetzen gibt, in der sich Bob um zwölf Uhr nicht dafür entscheidet, die Münze um 12:02 Uhr zu werfen und stattdessen etwas anderes tut. In einigen dieser Welten entschließt sich Bob um zwölf dazu, die Münze sofort zu werfen. In anderen denkt er um zwölf Uhr noch darüber nach, was er tun soll. Es gibt eine ganze Menge anderer Kandidaten offensichtlicher Möglichkeiten: um zwölf beschließt Bob, die Münze festzuhalten und augenblicklich damit zu beginnen, »Invictus« zu rezitieren; um zwölf entscheidet Bob, sogleich Kniebeugen zu machen und die Münze festzuhalten; und so weiter. Die »Kandidaten offensichtlicher Möglichkeiten« sind genuine Möglichkeiten, sofern es mit der Vergangenheit der tatsächlichen Welt bis hin zu t und mit deren Naturgesetzen vereinbar ist, dass Bob diese Dinge tut. Die genuinen Möglichkeiten sind, so werde ich sagen, verschiedene mögliche Fortsetzungen eines (normalerweise sehr langen) Weltabschnitts. Stellen wir uns einen genuin indeterminierten Zahlengenerator vor. In Intervallen von fünf Minuten kann er, in Übereinstimmung mit der Vergangenheit bis hin zum einschlägigen Zeitpunkt und den Naturgesetzen, jede Beliebige unter vielen Zahlen oder überhaupt keine generieren. Dass er zu t die Nummer »17« generiert, ist eine mögliche Fortsetzung der Dinge, und das Gleiche gilt von vielen anderen Zahlen. Heute Mittag um zwölf hat die Maschine die Zahl »31« generiert. Nachdem ich dies überprüft hatte, hatte ich folgende Überzeugung: Dass die Maschine die Nummer »31« generiert, war eine mögliche Fortsetzung der Vergangenheit bis hin zum Mittag, und diese Fortsetzung ist um zwölf Uhr tatsächlich eingetreten. Wollte ich irgendwie nachweisen, dass Bob sich um zwölf Uhr entschlossen hat, die Münze um 12:02 Uhr zu werfen und in der Zwischenzeit so zu tun, als ob er in seinen Taschen danach suche (dass er sich, kurz gesagt, entschlossen hat zu C-en), hätte ich eine entsprechende Überzeugung: Bobs Entschluss zu C-en war eine mögliche Fort5

Vgl. Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006, 73–74.

Autonomie, moralische Verantwortung und das Fortsetzungsproblem

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setzung der Vergangenheit bis hin zum Mittag, und diese Fortsetzung ist um zwölf Uhr tatsächlich eingetreten. Vertreter von (MV3) behaupten, dass Bobs grundsätzliche moralische Verantwortung für den Entschluss zu C-en verlangt, dass um zwölf Uhr wenigstens eine alternative Fortsetzung möglich war, eine Fortsetzung, in der Bob um zwölf Uhr etwas anderes tut. Nehmen wir an, dass eine andere mögliche Fortsetzung darin besteht, dass Bob um zwölf beschließt, die Münze auf der Stelle zu werfen; in einer anderen Welt mit derselben Vergangenheit wie der tatsächlichen Welt bis hin zu t und denselben Naturgesetzen, ist dies, was geschieht. Blaine, ein Freund von mir, der ungerechte Schuldzuweisungen äußerst beunruhigend findet, hält diese Annahme für ein zweischneidiges Schwert. Er glaubt, dass die Kontrolle darüber, ob man A-t oder stattdessen etwas anderes tut, dafür erforderlich ist, dass man für A grundsätzlich moralisch verantwortlich ist; und er ist davon überzeugt, dass eine derartige Kontrolle verlangt, dass es für den Handelnden mögliche Fortsetzungen der Vergangenheit bis hin zu t sind, zu t entweder zu A-en oder stattdessen etwas anderes zu tun. Allerdings ist er ebenfalls geneigt zu glauben, dass diese möglichen Fortsetzungen den möglichen Fortsetzungen des indeterminierten Zahlengenerators soweit ähneln, dass jedwede Kontrolle, die der Handelnde darüber haben könnte, ob er A-t oder etwas anderes tut, hinter dem zurückbleibt, was für die grundsätzliche moralische Verantwortung für A erforderlich ist. Blaine lädt uns dazu ein, uns eine elaborierte Version von Bobs Geschichte vorzustellen, in welcher Bob sich um zwölf Uhr dafür entscheidet zu C-en, obwohl er sein Bestes gibt, um sich selbst dazu zu bringen, das Richtige zu tun und sich nicht der Versuchung hinzugeben. Er fordert uns außerdem auf, uns vorzustellen, dass Bobs Anstrengungen in einer anderen möglichen Welt mit derselben Vergangenheit bis hin zum Mittag und denselben Naturgesetzen ausreichend waren: Bob entschließt sich um zwölf Uhr, die Münze auf der Stelle zu werfen. Dass die Dinge zu t dermaßen anders ausgehen könnten (moralisch oder evaluativ gesprochen), obwohl die beiden Welten die gleiche Vergangenheit bis hin zu t und dieselben Naturgesetze teilen, legt in Blaines Augen die Vermutung nahe, dass Bob keine hinreichende Kontrolle darüber besitzt, ob er die schlechte Entscheidung oder eine andere trifft, um für diejenige Entscheidung, die er tatsächlich trifft, grundsätzlich moralisch verantwortlich sein zu können. Schließlich hat Bob, indem er sein Bestes gegeben hat, sein Möglichstes getan, um (vor t) die Wahrscheinlichkeit dafür zu maximieren, dass er sich für die richtige Sache entscheiden würde, und sich dennoch dafür entschieden zu betrügen. Gelegentlich formuliert Blaine seine Bedenken über die Kontrolle als die Sorge darüber, dass Bobs Entscheidung nicht ausreichend »in seiner Hand« liegt, als dass Bob für die Entscheidung, die er trifft, grundsätzlich moralisch verantwortlich sein könnte. Blaine pflegte zu sagen, dass der Unterschied der beiden beschriebenen Welten zu t nur eine Sache des Zufalls sei und dass Bobs Entschluss zu C-en folglich zum Teil eine Sache des Zufalls sei.6 In diesem Zusammenhang würde er zum Beispiel solche Dinge sagen wie, dass etwas für einen Akteur dann als Zufall gilt, wenn die Frage, weshalb er sich zu t dazu entschlossen hat zu A-en, anstatt zu tun, was auch immer er zu t in 6

Vgl. Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006, 8–9, 54–55, 114.

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anderen möglichen Welten mit derselben Vergangenheit bis hin zu t und denselben Naturgesetzen tut, prinzipiell nicht beantwortbar ist – weil es keine Tatsache oder Wahrheit gibt, die in einer korrekten Antwort vorgebracht werden könnte, und dies nicht aufgrund irgendwelcher Beschränkungen derjenigen, an die die Frage gestellt wird, oder der Zuhörerschaft – und seine Entscheidung zu A-en Auswirkungen darauf hat, wie sein Leben weitergeht.7 Allerdings hatten diese Bemerkungen einige Auswirkungen, die Blaine für unglücklich hielt. Einige seiner Freunde haben sie dazu veranlasst, sich darum zu streiten, was sie »den Begriff des Zufalls (luck)« nannten, oder darüber, ob vergleichende Tatsachen (comparative facts) über mögliche Welten eine Frage des Zufalls sein können. Andere Freunde haben begonnen, die Literatur über kontrastive Erklärungen (contrastive explanation) zu studieren, in der Hoffnung, darin ein Argument dafür zu finden, dass Blaines Ausgangsfrage über grundsätzliche moralische Verantwortung überhaupt nicht beantwortet zu werden braucht. Da Blaine der Meinung war, dass diese aufgeregte Betriebsamkeit seine Freunde von derjenigen Frage ablenkte, die ihn eigentlich beunruhigte, hat er beschlossen, den Ausdruck »Zufall« bei der Formulierung der Frage nicht länger zu verwenden. Heute formuliert er seine Frage über Bob so: Wie kann Bob angesichts der Einzelheiten seiner Geschichte genügend Kontrolle darüber haben, ob er sich dazu entschließt, um zwölf Uhr zu C-en oder etwas anderes zu tun, um für seinen Entschluss zu C-en grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein?

3. Eine besorgniserregende Unterhaltung und das Fortsetzungsproblem Blaine und ich haben eine gemeinsame Freundin, Libby, die überzeugt war, dass sich Blaine über nichts beunruhigen müsse. Gestern hatten die beiden eine Unterhaltung, die Libby selbst dazu veranlasst hat, sich um grundsätzliche moralische Verantwortung Sorgen zu machen. Ein Rückblick auf einige der Höhepunkte wird sich als nützlich erweisen. Libby hat sich durch Blaines elaborierte Fassung von Bobs Geschichte nicht aus der Ruhe bringen lassen und Blaine hegte den Verdacht, dass sie nicht eindeutig zwischen grundlegender moralischer Verantwortung und uneingeschränkter moralischer Verantwortung unterschied. Also hat er, nachdem der Rahmen geklärt war, eine andere Version von Bobs Geschichte erzählt. »Stellen wir uns vor«, sagte Blaine, »dass Bob die 50 €, die ihm für den Betrug angeboten wurden, nicht bitter nötig hat. Dann lassen seine Unentschlossenheit und der Umstand, dass er mit der Angelegenheit zu ringen hat, vermuten, dass sein moralischer Charakter weit davon entfernt ist, bewundernswert zu sein.« Blaine signalisierte die Bereitschaft (um des Arguments willen) anzunehmen, dass diese Vermutung in einer Variante der Geschichte wahr ist und Bobs moralischer Charakter zu einem beträchtlichen Teil ein Ergebnis früheren schlechten Verhaltens ist, für das er moralisch verantwortlich war. Allerdings bat er Libby, noch eine weitere Variante der Geschichte zu betrachten. In der neuen Fassung hat Bob, der 7

Vgl. ebd., 70.

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Mitte fünfzig ist, seit seiner Kindheit nicht mehr geschwindelt und war seit über vierzig Jahren nicht einmal mehr dazu geneigt zu betrügen. Gemäß diesen Annahmen besitzt Bob einen vorbildlichen moralischen Charakter, der zu einem bedeutsamen Teil das Ergebnis vergangenen guten Verhaltens ist, für das er moralisch verantwortlich war. Blaine fragte: »Warum ist Bob plötzlich dazu verleitet zu betrügen? Wurde er unter Drogen gesetzt oder hypnotisiert? Hat er einen Gehirntumor?« Und er gab die Antwort auf seine eigenen Fragen: »Nein. Wie sich herausstellt, gibt es in Bobs indeterminierter Welt einige ziemlich unwahrscheinliche Phänomene, und die Versuchung, die er verspürt, ist eines davon. Dass er damit ringt, anstatt sie einfach zu unterdrücken, ist ein weiteres. Und sein Entschluss, zu betrügen, ist ein drittes.« Blaine äußerte die Hoffnung, dass Bobs Entscheidung, zu betrügen, dem Produkt des wahllosen Zahlengenerators in Libbys Augen zu sehr ähneln würde, als dass Bob dafür grundsätzlich moralisch verantwortlich sein könnte. Libby sagte, dass sie über diese Geschichte später nachdenken würde, sobald Blaine ihr eine Frage beantwortet habe. Daraufhin fragte sie ihn, wie er sich darüber den Kopf zerbrechen könne, dass etwas, das er als notwendige Bedingung für grundlegende moralische Verantwortung betrachtet, moralische Verantwortung in Wirklichkeit ausschließt. »Stell dir vor, dass ein Akteur zu t A-t«, sagte Libby. »Wir beide sind uns einig, dass es eine notwendige Bedingung seiner grundsätzlichen moralischen Verantwortung für A ist, dass es eine andere mögliche Welt mit derselben Vergangenheit bis hin zu t und denselben Naturgesetzen gibt, in welcher er zu t etwas anderes tut. Dass dies eine mögliche Welt ist, ist der Ursprung deiner Bedenken. Aber weil du glaubst, eine solche alternative Möglichkeit sei dafür erforderlich, dass der Handelnde für A grundsätzlich moralisch verantwortlich ist, ergibt es keinen Sinn, dir Sorgen darum zu machen, dass dies mit grundsätzlicher moralischer Verantwortung unvereinbar ist.« Blaines Erwiderung fiel kurz aus. Er wies darauf hin, dass eine Aussage p nicht einmal möglicherweise wahr ist, wenn eine begrifflich notwendige Bedingung für die Wahrheit von p zugleich eine begrifflich hinreichende Bedingung für die Falschheit von p ist. Besorgt ist er darüber, dass eine begrifflich notwendige Bedingung für grundsätzliche moralische Verantwortung von keinem möglichen Akteur erfüllt werden könnte; und er bezweifelt, dass seine Besorgnis verschwinden wird, bevor er verstanden hat, weshalb diese Bedingung erfüllbar ist – wenn sie es denn tatsächlich ist. Libby fragte, ob Blaine einen Beweis dafür habe, dass die fragliche Bedingung notwendigerweise unerfüllbar ist. Blaine gab zu verstehen, dass dies nicht der Fall war. Er sagte, dass es sein Ziel sei, auch andere seine Beunruhigung verspüren zu lassen, damit sie möglicherweise dazu veranlasst würden, Lösungen für dieses Problem zu entwickeln, von denen er etwas lernen konnte. »Wenn ich ein Argument – einen Beweisversuch – dafür vorlegen würde, dass die fragliche Bedingung notwendigerweise unerfüllbar ist«, sagte er, »dann würden zu viele meiner Freunde ihre Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, ob dieses Argument selbst zwingend ist. Der Nachweis, dass dieses Argument nicht zwingend ist, stellt aber möglicherweise überhaupt keine Erklärung dafür bereit, wie die Bedingung erfüllbar ist; und es ist diese Erklärung, auf die ich es abgesehen habe.« Blaine rief Libby die Unterscheidung zwischen Theodizeen und Ver-

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teidigungen in Erinnerung, die ihnen einst in einem Seminar begegnet war. Er sagte: »Verteidigungen sind, du erinnerst dich, eine Kritik von Argumenten, die zeigen sollen, dass der Schmerz und das Leiden in der Welt mit der Existenz eines vollkommenen Gottes unvereinbar sind. Theodizeen sind der Versuch zu erklären, weshalb ein vollkommener Gott all diese schlechten Dinge erlauben würde. Was meine Bedenken über moralische Verantwortung angeht, so wünsche ich mir ein Analogon einer Theodizee – nicht eine bloße Verteidigung. Denkst du etwa nicht, dass wir, die wir an grundsätzliche moralische Verantwortung glauben, nach all diesen Jahren mehr leisten sollten, als bloß die Argumente für die Unmöglichkeit solcher Verantwortung zu kritisieren? Sollten wir nicht zu erklären versuchen, wie grundlegende moralische Verantwortung möglich ist?« Libby verstand Blaines Punkt, doch sie hatte Schwierigkeiten, seine Beunruhigung nachzuempfinden. Sie erklärte, dass sich die grundsätzliche moralische Verantwortung für den Entschluss zu A-en ihrer Meinung nach darin erschöpft, dass diesem mentalen Akt eine gewisse moralische Signifikanz zukommt und der Handelnde, der sich zurechnungsfähig dafür entschieden hat zu A-en, ebenso zurechnungsfähig auch etwas anderes hätte tun können, in jenem bereits angesprochenen inkompatibilistischen Sinne von »hätte können«. (Libby hat ihre Zweifel daran, ob Handelnde für Entscheidungen moralisch verantwortlich sein können, die ihre Unzurechnungsfähigkeit offenbaren.) »Sollte das die ganze Geschichte sein«, so Libby, »dann gibt es nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.« »Jetzt kommen wir voran«, rief Blaine. Er setzte hinzu, dass er Libby davon überzeugen werde, dass dies nicht die ganze Geschichte über moralische Verantwortung sein könne. Und er prophezeite, dass er ihre Zuversicht, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche, mit nur ein wenig mehr Aufwand erheblich schmälern würde. Blaine forderte Libby auf, sich folgendes Szenario vorzustellen. Jane und John sind, wie ihre Nachbarn Kathy und Ken, seit dreißig Jahren miteinander verheiratet. Jane ist eine außerordentlich tugendhafte Person, mit Wertüberzeugungen, die Aristoteles mit Vergnügen gutheißen würde. Kathy ist ganz anders; sexuelle Eroberungen stehen sehr weit oben auf ihrer mentalen Liste der guten Dinge. Sie führt sogar eine nummerierte, verschlüsselte Liste ihrer Eroberungen auf ihrem Computer, in der sich mehrere hundert Einträge finden. Ken ähnelt Kathy stark und genießt es, mit Jane zu flirten – mitunter weil er merkt, dass es sie aus der Fassung bringt. Letzte Nacht haben, während Jane schlief, mächtige Manipulanten Janes Wertesystem gelöscht und durch Kathys ersetzt. Außerdem haben sie ihr eine starke sexuelle Anziehung zu Ken implantiert. Die Manipulanten schätzten – korrekterweise –, dass ihre Anstrengungen zur Folge haben würden, dass Jane sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit dafür entscheiden würde, Kens nächsten Annäherungsversuch zu erwidern und diese Entscheidung in die Tat umzusetzen, und dass sie sich mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa .00001 dafür entscheiden könnte, den Vorschlag abzulehnen. Kurz nachdem Jane aufgewacht war, bemerkte sie die Veränderung an sich. Warum, so fragte sie sich, hatte sie nicht den Wunsch danach, im Obdachlosenheim zu arbeiten, wie sie es jeden Samstagmorgen tat? Und weshalb verspürte sie jetzt eine so heftige Anziehung zu Ken, den sie stets für gutaussehend, aber

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lästig gehalten hatte? Kurz nachdem Jane zu der Einschätzung gelangt war, dass sie auf irgendeinem Wege plötzlich erkannt hatte, was im Leben wirklich gut ist, klopfte Ken an ihre Tür. Sie beschloss, seine vorhersehbaren Annäherungsversuche anzunehmen und zog diese Entscheidung bis zum Ende durch. Jane hätte sich zu diesem Zeitpunkt anders entscheiden können; aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies tun würde, war natürlich verschwindend gering. Es gab sogar eine winzige Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie zu diesem Zeitpunkt keine von beiden Entscheidungen treffen würde. Libby stellte fest, dass sie in keinster Weise geneigt war, Jane als moralisch verantwortlich für ihre Entscheidung zu betrachten, obwohl Jane, ihrer Einschätzung nach, die Bedingungen erfüllte, die sie für grundlegende moralische Verantwortung eingefordert hatte. Angesichts der Einzelheiten ihres Falls fand Libby, dass Jane aus dem Schneider war. Und sie machte sich Gedanken darüber, wie sehr ihre Einschätzung davon beeinflusst war, dass Janes Chance, anders zu handeln, derart winzig war. Libby zog es in Betracht, die Formulierung »hätte stattdessen etwas anderes tun können« in ihrer zuvor vorgeschlagenen Analyse grundsätzlicher moralischer Verantwortung durch die Formulierung »hatte zum fraglichen Zeitpunkt eine substantielle Chance, stattdessen etwas anderes zu tun« zu ersetzen. Allerdings kam ihr der Gedanke, dass eine substantielle Chance, dasjenige zu tun, was man tatsächlich getan hat, ebenfalls wichtig sein könnte. Sollte Jane sich dazu entschließen, Ken abzuweisen, könnte ihre Entscheidung, so Libbys Verdacht, selbst in Anbetracht der enormen manipulationsbedingten Widrigkeiten gegen diese Entscheidung, nur ein glücklicher Zufall sein und nichts, für das sie moralisch verantwortlich war oder moralische Anerkennung verdient. Schließlich hat Libby die folgende, verbesserte Version ihrer Analyse vorgeschlagen: Um für den Entschluss zu A-en grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein, kommt es lediglich darauf an, dass diesem mentalen Akt eine gewisse moralische Signifikanz zukommt und dass es zum einschlägigen Zeitpunkt sowohl eine substantielle Chance dafür gab, dass sich der Handelnde zurechnungsfähig dafür entscheidet zu A-en (wie er es getan hat), als auch dafür, dass er stattdessen zurechnungsfähig etwas anderes tut. Blaine sagte, dass er erläutern werde, weshalb dieser überarbeitete Vorschlag scheitert, aber machte zuallererst deutlich, dass sein Ziel nicht darin bestehe, spezifische Vorschläge anzugreifen, sondern allgemein aufzuzeigen, dass grundsätzliche moralische Verantwortung kein einfacher Gegenstand ist. Dann ging er dazu über, eine einfache Abwandlung an Janes Geschichte vorzunehmen. In der neuen Variante des Fallbeispiels implantieren die Manipulanten Jane zugleich eine heftige sexuelle Anziehung zu einem zweiten Nachbarn, Larry. Mit dem Vorschlag, in zehn Minuten mit dem Liebesspiel zu beginnen, rufen beide Männer sie am nächsten Morgen nur wenige Minuten nacheinander an. Sie entschließt sich – wofür eine substantielle Chance bestand – dazu, Larrys Antrag anzunehmen und lehnt Kens Vorschlag ab. Zugleich aber bestand zum fraglichen Zeitpunkt ebenfalls eine substantielle Chance dafür, dass sie stattdessen Kens Plan akzeptieren würde. Die Chancen, dass sie irgendetwas anderes tun würde, waren winzig. Vor dem Hintergrund, dass die ursprüngliche Fassung der Geschichte Libby davon überzeugt hatte, ihren ersten Vorschlag aufzugeben, sagte Blaine voraus, dass diese Variante sie dazu veranlassen würde, ihren revidierten Vorschlag fallen zu lassen. Er

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lag richtig. Dass Jane über die substantielle Chance verfügt, sich auf zwei verschiedene Affären einzulassen, hielt Libby in dieser Angelegenheit nicht für hilfreich. Blaine kam die Idee, dass Libby möglicherweise mit einem abgewandelten Analysevorschlag für grundsätzliche moralische Verantwortung arbeiten könnte, welcher verlangt, dass ein Akteur, der etwas Schlechtes tut, über eine substantielle Chance verfügen muss, stattdessen etwas Gutes zu tun. Er entschloss sich zu dem Versuch, diesen Weg abzuschneiden, und gab Libby eine Geschichte über einen bösen Mann namens Chuck zu Bedenken.8 Chuck ist ein indeterminierter Akteur, der es genießt, Leute umzubringen. Als er noch wesentlich jünger war, hatte Chuck seine Freude daran, Tiere zu quälen, aber stand nicht mit ganzem Herzen dahinter. Manchmal veranlassten seine Taten ihn dazu, sich schuldig zu fühlen, er empfand Anfälle von Zimperlichkeit, und zog es gelegentlich in Erwägung, die Tierquälerei aufzugeben. Allerdings schätzte Chuck es, zu dem Menschenschlag zu gehören, der ganz nach eigenem Belieben handelt und die gewöhnliche Moral mit aller Entschlossenheit als ein System verwirft, das von Schwächlingen für Schwächlinge entworfen wurde. Aus freien Stücken hat er sich vorgenommen, dafür zu sorgen, dass er rückhaltlos hinter seiner Tierquälerei und ähnlichen Beschäftigungen, einschließlich des gnadenlosen Schikanierens schwächerer Personen, stehen würde; und er war moralisch verantwortlich dafür. Ein Teil seiner Strategie war es, grausame Handlungen in gesteigerter Häufigkeit auszuführen, um sich selbst gegen Schuldgefühle und Zimperlichkeiten abzuhärten und die Ursprünge dieser Empfindungen im Endeffekt auszulöschen. Chuck bemühte sich sicherzugehen, dass seine Psyche keinen Raum für Gnade lassen würde. Beinahe wäre seine Strategie aufgegangen. Bisweilen hatte er die winzige Gelegenheit, sich dafür zu entscheiden, Gnade zu zeigen. Eine solche Gelegenheit hatte er, als er sich dazu entschlossen hat, sein nächstes Opfer, Don, zu töten. Er hat diesen Entschluss heute um zwölf Uhr mittags gefasst, und er hat ihn in die Tat umgesetzt. In dieser Geschichte ist es falsch zu behaupten, dass Chuck kurz vor t eine substantielle Chance hatte, zu t etwas Gutes zu tun. Nichtsdestotrotz scheint er, wenn man davon ausgeht, dass moralische Verantwortung in seiner Welt allgemein üblich ist, für seinen Entschluss, Don zu töten, moralisch verantwortlich zu sein. Libby gestand dies zu, deutete jedoch an, dass Chuck, obwohl er für den Entschluss, Don zu töten, (sowie für die Tötung) moralisch verantwortlich ist, hierfür nicht grundsätzlich moralisch verantwortlich ist. Blaine schien verwirrt, deshalb erläuterte sie: »Stell dir vor, dass Chuck mit seinem Abhärtungsprojekt Erfolg gehabt hätte und keinerlei Chance hatte, zu t etwas anderes zu tun als sich dazu zu entschließen, Don umzubringen. Ich würde auch weiterhin behaupten, dass er für diese Entscheidung moralisch verantwortlich ist. Doch vor dem Hintergrund, dass ich die in (MV3) aufgestellte notwendige Bedingung für grundsätzliche moralische Verantwortung akzeptiere, würde ich offensichtlich nicht behaupten, dass er dafür grundsätzlich moralisch verantwortlich ist. Eine ähnliche Meinung habe ich zu deiner Geschichte. In dieser Geschichte ist Chuck für seine Entscheidung 8

Vgl. Alfred Mele: Autonomous Agents, New York 1995, 162–63.

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moralisch verantwortlich; weil seine moralische Verantwortung jedoch nicht von seiner Chance abhängt, zu diesem Zeitpunkt etwas anderes zu tun, ist er dafür nicht grundsätzlich moralisch verantwortlich. Der Chuck, den ich dir präsentiere, und dein Chuck ähneln in einer wichtigen Hinsicht beide dem betrunkenen Fahrer, über den wir zuvor diskutiert haben. In allen drei Fällen ist die Person moralisch verantwortlich für etwas, für das sie nicht grundsätzlich moralisch verantwortlich ist.« Blaine fand dies interessant. Er fragte: »Bist du der Meinung, dass ein Akteur für eine Handlung nur dann grundsätzlich moralisch verantwortlich ist, wenn seine moralische Verantwortung hierfür insgesamt davon abhängt, dass er für die Handlung grundsätzlich moralisch verantwortlich ist?« Libby meinte, dass sie etwas zurückhaltender als das sein wolle und auch Fälle zulassen möchte, in denen die von Blaine aufgestellte Bedingung nicht erfüllt ist, aber die grundsätzliche moralische Verantwortung des Akteurs für eine Handlung positiv zu dem Grad beiträgt, zu dem er dafür moralisch verantwortlich ist. Außerdem hatte sie weiter oben ihre Akzeptanz von (MV3) bekundet. Noch einmal: (MV3) behauptet, dass – notwendigerweise – ein Wesen, das für nichts grundsätzlich moralisch verantwortlich ist, auch für nichts moralisch verantwortlich ist und dass – per definitionem – ein Wesen, das zu t A-t für A nur dann grundsätzlich moralisch verantwortlich ist, wenn es eine andere mögliche Welt mit derselben Vergangenheit bis hin zu t und denselben Naturgesetzen gibt, in welcher es zu t nicht A-t, sondern stattdessen etwas anderes tut. Libby machte deutlich, dass es in ihren Augen zu einem inakzeptablen Ergebnis führt, wenn man die Formulierung »dann und nur dann« in der vorigen Aussage durch ein »nur dann« ersetzt. Blaine beschloss, die Diskussion wieder auf Libbys Übergang von »hätte können« zu »substantielle Chance zu« zurückzubringen. Er bat Libby, sich nochmals ihre Andeutung in Erinnerung zu rufen, dass die getroffene Entscheidung eines Akteurs in einem bestimmten, unwahrscheinlichen Szenario nur ein glücklicher Zufall gewesen sein könnte und nichts, für das er moralisch verantwortlich war; und er deutete an, dass dies nach einer anderen Formulierung dafür aussah, dass der Handelnde in diesem Szenario möglicherweise nicht genügend Kontrolle darüber hat, ob er sich dafür entscheidet, zu A-en oder stattdessen etwas anderes zu tun, um für seinen Entschluss zu A-en moralisch verantwortlich zu sein. »Wenn dies eine ernstzunehmende Sorge für dich ist«, fragte Blaine, »machst du dir dann nicht wenigstens geringfügig Sorgen darüber, dass die Kontrolle eines Handelnden darüber, A oder etwas anderes zu tun, in solchen Fällen, in denen er über die substantielle Chancen, zu A-en oder etwas anderes zu tun, verfügt, hinter dem zurückbleibt, was für grundsätzliche moralische Verantwortung nötig ist? In dem Geringe-Chancen-Szenario ähnelt die tatsächliche, unwahrscheinliche Fortsetzung zu sehr dem Ergebnis des indeterminierten Zahlengenerators, als dass der Handelnde für die unwahrscheinliche Entscheidung, die er trifft, moralisch verantwortlich sein könnte. Doch stell dir einen indeterminierten Zahlengenerator vor, der – mit annähernd gleicher Wahrscheinlichkeit für alle drei möglichen Fortsetzungen – nur eine von zwei Zahlen (sagen wir 7 und 11) oder gar keine Zahl generiert. Weshalb sollte ich nicht auf den Gedanken kommen, dass die tatsächliche substantielle Chancen-Fortsetzung in den »substantielle Chancen«-Handlungsszenarien einer Fortsetzung, die dieser

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Mechanismus erzeugt, zu sehr ähnelt, als dass der Akteur dafür grundsätzlich moralisch verantwortlich sein könnte?« Nachdem Blaine dies gesagt hatte, hätte er sich beinahe selbst geohrfeigt. Ihm wurde klar, dass er Libby sozusagen dazu eingeladen hatte, ihn über die vielen Arten und Weisen zu belehren, in denen sich Menschen von geistlosen Zahlengeneratoren unterscheiden, sowie über die Fähigkeiten, über die Menschen verfügen und die geistlose Maschinen entbehren. Dennoch glaubte er, dass seine Frage über die Grade der Kontrolle – ungeachtet der Wahrscheinlichkeit, dass seine Bezugnahme auf indeterminierte Zahlengeneratoren verwirrend sein könnte – wichtig war. Wenn ein Akteur, der sich zu t dazu entschlossen hat zu A-en, nicht genügend Kontrolle darüber hatte, ob er sich damals dazu entschließen würde zu A-en oder etwas anderes zu tun, um für die getroffene Entscheidung grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein – weil er entweder eine geringe Chance hatte, sich um t zum A-en zu entschließen, oder eine geringe Chance hatte, zu t etwas anderes zu tun – weshalb sollten wir dann annehmen, dass eine leichte Anhebung der relevanten Chancen hin zu »substantiellen« zur Folge haben würde, dass er über ausreichend Kontrolle für grundlegende moralische Verantwortung verfügt? Weshalb sollte man, wenn in Szenarien des ersten Typs aufgrund eines Kontrollproblems keine grundsätzliche moralische Verantwortung für die Entscheidung vorliegt, glauben, dass das Problem dadurch gelöst wird und grundsätzliche moralische Verantwortung dadurch sichergestellt wird, dass die Chance von einer geringen zu einer substantiellen gesteigert wird? Warum ist eine substantielle Chance gut genug, wenn eine geringe Chance es nicht ist? So wie Blaine die Sache einschätzte, konnte es, ebenso wie es prinzipiell indeterminierte Zahlengeneratoren geben mochte, auch indeterminierte handlungserzeugende Prozesse geben, die für solche Dinge wie den Stellenwert, den der Handelnde bestimmten Gründen zuschreibt, und die Stärke der jeweiligen Wünsche und Gewohnheiten empfänglich sind und die sowohl in »geringe Chancen«-Szenarien als auch in »substantielle Chancen«-Szenarien auf die gleiche Art und Weise funktionieren. Warum, so fragte er sich, sollte er glauben, dass es in »substantielle Chancen«Szenarien keinerlei Grund zur Beunruhigung über grundsätzliche moralische Verantwortung gibt, obwohl die Handlungen, die durch derartige Prozesse hervorgebracht werden, in »geringe Chancen«-Szenarien zu sehr durch den Zufall bestimmt sind, als dass der Handelnde hierfür grundsätzlich moralisch verantwortlich sein könnte? Als Blaine Libby diese Fragen stellte, fragte sie, ob ihm ein überzeugendes Argument für die folgende Aussage bekannt sei: Es gilt notwendig: Wenn ein Handelnder, der sich zu t dafür entscheidet zu A-en, nicht genügend Kontrolle darüber hat, ob er sich zu diesem Zeitpunkt für A entscheidet oder stattdessen etwas anderes tut, um für diese Entscheidung grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein – weil er entweder eine geringe Chance hatte, sich zu t zum A-en zu entscheiden, oder weil er eine geringe Chance hatte, zu t etwas anderes zu tun –, dann hat ein Anheben der relevanten Chancen hin zu »substantiellen« nicht zur Folge, dass er über ausreichend Kontrolle für grundsätzliche moralische Verantwortung verfügt. Blaine gab zu verstehen, dass ihm kein Argument hierfür bekannt sei, doch er erinnerte sie daran, dass er nach einem Analogon einer Theodizee suche – nicht nach einer Verteidigung. Blaine wünscht sich interessante Ant-

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worten auf die Frage, die im vorangegangenen Paragraphen aufgeworfen wurde, und keine Widerlegungen – oder Belobigungen – für ein Argument, das er zugunsten der genannten Aussage entwickeln könnte. Libby gestand, dass sie nicht wusste, wie sie Blaines Fragen beantworten sollte. Sie fügte hinzu, dass sie trotzdem geneigt war, folgendes zu sagen: (GMV) Alles, was erforderlich ist, um für den Entschluss zu A-en grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein, ist, (1) dass dieser mentale Akt eine gewisse moralische Signifikanz besitzt, (2) dass es zum einschlägigen Zeitpunkt eine substantielle Chance dafür gab, dass der Handelnde sich zurechnungsfähig dafür entscheidet zu A-en (wie er es getan hat) und eine gewisse Chance dafür, zurechnungsfähig etwas anderes zu tun, und (3) dass entweder seine Entscheidung zu A-en eine gute Sache war, oder er, sofern sie es nicht war, eine substantielle Chance hatte, stattdessen zurechnungsfähig etwas Gutes zu tun. Blaine sagte, dass er nicht auf die Einzelheiten eingehen wolle. Stattdessen wollte er einer Frage Nachdruck verleihen: Weshalb sollten wir glauben, dass dies alles ist, was es über die grundsätzliche moralische Verantwortung für eine Entscheidung zu sagen gibt? Weshalb sollten wir insbesondere glauben, dass das Verfügen über die spezifizierten substantiellen Chancen grundsätzliche moralische Verantwortung sicherstellt (insoweit die übrigen Bestandteile von (GMV) erfüllt sind), obwohl das Verfügen über eine relevante geringe Chance grundsätzliche moralische Verantwortung ausschließt? »Was ist so Besonderes an substantiellen Chancen?«, fragte Blaine. Welche Eigenart haben substantielle Chancen an sich, die (GMV) angeblich plausibel macht? Dann warf Blaine eine etwas allgemeinere Frage auf. Er fragte: »Wenn – per definitionem – ein Wesen, das zu t A-t, für sein A-en nur dann grundsätzlich moralisch verantwortlich ist, wenn es eine andere mögliche Welt mit derselben Vergangenheit bis hin zu t und denselben Naturgesetzen gibt, in der es zu t nicht A-t und stattdessen etwas anderes tut, wie ist grundsätzliche moralische Verantwortung dann möglich? Warum ist nicht der Umstand, dass dem Handelnden unter diesen Bedingungen unterschiedliche Fortsetzungen der Vergangenheit offenstehen, unvereinbar damit, dass er ausreichende Kontrolle darüber besitzt, ob er zu t A-t oder zu diesem Zeitpunkt etwas anderes tut, um für sein A-en grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein?« Libby fiel hierauf keine gute Antwort ein, und das gab ihr zu denken. Ihr Freund Def riet ihr, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, solange ihr nicht jemand einen Beweis dafür liefert, dass grundsätzliche moralische Verantwortung unmöglich ist; aber Libby konnte sich nicht davon abbringen. »Kannst du dem Problem, das mich bedrückt, einen Namen geben?«, fragte sie Blaine. »Ja«, antwortete er, »ich nenne es das Fortsetzungsproblem.« Blaine fügte hinzu: »Ich habe Bekannte, die die Unterschiede zwischen Problemen und Fragen erforschen und möchte sie natürlich nicht durcheinander bringen. Die beiden Fragen, die ich jetzt gerade das ›Fortsetzungsproblem‹ getauft habe, nenne ich gern die Fortsetzungsfrage.« »Lass Blaine noch nicht fortfahren«, mahnte Def. Er ermutigte Libby, auf Blaines Manipulationsgeschichten zu reagieren, indem sie schlicht hinreichende Bedingungen für grundsätzliche moralische Verantwortung vorschlägt, die die Abwesenheit von Manipulation einschließen; und er äußerte die Vermutung, dass sie sich nicht mehr um das

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Fortsetzungsproblem (oder die Fortsetzungsfrage) zu sorgen brauche, wenn sie das täte. Als Blaine entgegnete, dass das Fortsetzungsproblem keineswegs von der Manipulation abhänge, fragte Def ihn nach seinen Motiven dafür, sich bei der Entwicklung des Problems solcher Manipulationsgeschichten zu bedienen. Blaines Erwiderung war direkt: »Libby davon zu überzeugen, dass grundsätzliche moralische Verantwortung nicht die einfache Sache ist, für die sie sie gehalten hatte, ist nur ein Schritt auf dem Weg dahin, sie auf das Fortsetzungsproblem hinzustoßen. Wenn es, wie sie anfangs behauptet hatte, für die grundsätzliche moralische Verantwortung für den Entschluss zu A-en bloß erforderlich ist, dass dieser mentale Akt eine gewisse moralische Signifikanz besitzt und dass der Handelnde, der sich zurechnungsfähig dafür entschieden hat A zu tun, zurechnungsfähig auch etwas anderes hätte tun können …, dann gäbe es überhaupt keinen Grund zur Beunruhigung über das, was mir Kopfzerbrechen bereitet.« Def war noch nicht fertig. »In deiner letzten Version von Bobs Geschichte«, so rief Def nochmals in Erinnerung, »kommt seine Neigung zu betrügen scheinbar aus dem Nichts; und dass er sie nicht einfach zurückweist, scheint ebenso sehr ein bloßer Zufall zu sein, wie, dass er der Versuchung erliegt. Deshalb hoffst du, dass Bobs Entschluss, zu betrügen, dem Produkt des wahllosen Zahlengenerators in Libbys Augen zu sehr ähneln wird, als dass Bob dafür grundsätzlich moralisch verantwortlich sein könnte. Aber gibt es denn nicht einen Unterschied zwischen indeterministischen Geschichten, in denen die Versuchung zu betrügen aus dem Nichts kommt, und indeterministischen Geschichten, in denen die Neigungen, die aufkommen, in Anbetracht des Charakters des Akteurs keineswegs überraschend sind? Vielleicht ist der Handelnde für seine Entscheidung zu betrügen in einigen Fällen des ersten Typs nicht grundsätzlich moralisch verantwortlich, während er es in Fällen des zweiten Typs ist. Vielleicht ist Bob nicht der Einzige, der betrügt, sondern auch du tust es!« Blaine kannte Def gut genug, um hiervon nicht völlig unvorbereitet getroffen zu werden. Er entgegnete: »In der Art von Fällen, die du mir vor Augen hältst, hat der Akteur entweder eine gewisse moralische Verantwortung für seinen Charakter, für die Chance, dass er versucht sein wird zu betrügen, und für die Wahrscheinlichkeit, dass er sich für die verlockende Option entscheiden wird, oder er hat keine. Wenn er für keines dieser Dinge die moralische Verantwortung trägt, dann scheint er nicht mehr als Bob dafür verantwortlich zu sein, dass er geneigt ist zu betrügen. Und das Gleiche gilt für den Umstand, dass er sich dazu entschließt zu betrügen. Wieso sollte es, wenn es um grundsätzliche moralische Verantwortung geht, darauf ankommen, dass die Neigung deines Akteurs, im Unterschied zu Bob, mit seinem Charakter in Einklang steht, wenn er für seinen Charakter keine moralische Verantwortung trägt? Sollte dieser Akteur nun aber andererseits eine gewisse moralische Verantwortung für die Dinge, die ich erwähnt habe, besitzen – seinen Charakter und die Chancen, dass er versucht sein wird zu betrügen und sich dafür entscheidet zu betrügen –, wie hat er sie erworben? Deiner Meinung nach vermutlich wenigstens zu einem Teil durch Entscheidungen und andere Handlungen, für die er grundsätzlich moralisch verantwortlich war. Kannst du mir also verraten, wie indeterminierte Entscheider für ihre Entscheidungen grundsätzlich moralisch verantwortlich sein können? Liebend gern hätte ich eine gute Antwort auf

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diese Frage. Eine solche Antwort würde eine Lösung des Fortsetzungsproblems einschließen.« Def tat so, als hätte er Blaines Frage überhört. Sie verabschiedeten sich voneinander und gingen, ebenso wie Libby, ihrer eigenen Wege. Derk Pereboom, ein Inkompatibilist, behauptet, dass »der Ereignis-VerursachungsLibertarianismus (event-causal-libertarianism) im Vergleich zum Kompatibilismus keinerlei signifikanten Vorteil bietet, um moralische Verantwortung sicherzustellen«9. Dem Ereignis-Verursachungs-Libertarianismus zufolge sind, so argumentiert Pereboom, vermeintlich freie Entscheidungen »teilweise willkürliche« Ereignisse, in dem Sinne, dass »Faktoren, die jenseits der Kontrolle des Handelnden liegen, [nicht-deterministisch] zu deren Erzeugung beitragen [und] es nichts gibt, was den Beitrag dieser Faktoren beim Hervorbringen der Ereignisse ergänzt«10. In ähnlicher Weise verweist Timothy O’Connor in einer repräsentativen Auffassung des Ereignis-Verursachungs-Libertarianismus auf »ein zufälliges Element von Entscheidungen, das nicht der Person zugeschrieben werden kann« und hält »die Kontrolle, die ausgeübt wird«, für »zu schwach, um die Verantwortung [des Handelnden] dafür, welche der kausalen Möglichkeiten realisiert wird, zu begründen«11. Für eine Lösung des Problems, das ihnen vor Augen steht, wenden sich sowohl Pereboom als auch O’Connor der Akteurs-Verursachung (agent-causation) zu. Ich habe an anderer Stelle dafür argumentiert, dass die AkteursVerursachung das Problem nicht löst;12 und ich lasse die Akteurs-Verursachung hier außer Acht. An dieser Stelle lautet meine These, dass sich manche Philosophen, wenigstens im Falle libertarianischer Positionen, die nicht von der Akteurs-Verursachung ausgehen, der Dringlichkeit dessen, was Blaine das Fortsetzungsproblem nennt, (oder etwas ganz Ähnlichem) bewusst sind und nach einer Lösung dieses Problems suchen. Auch Blaine sucht nach einer Lösung.

4. Eine Variante des Fortsetzungsproblems für Freunde der Frankfurt-Szenarien Bisher habe ich die Diskussion vereinfacht, indem ich die Frankfurt-Szenarien unberücksichtigt gelassen habe. Jetzt ist es an der Zeit, sie einzubeziehen. In einem FrankfurtSzenario ist – sofern es sein Angriffsziel trifft – ein Akteur zum Beispiel dafür verantwortlich, sich für den Diebstahl eines bestimmten Auto entschieden zu haben, obwohl er zu jenem Zeitpunkt nichts anderes hätte tun können. Zu t entschließt sich der Handelnde selbstständig dazu, das Auto zu stehlen; doch wäre dies nicht geschehen, so wäre Derk Pereboom: Living without Free Will, Cambridge 2001, 55. Siehe auch: Randolph Clarke: On the possibility of Rational Free Action, in: Philosophical Studies 88 (1997), 45–46; Randolph Clarke: Libertarian Accounts of Free Will, Oxford 2003, 133; Gary Watson: Free Action and Free Will, in: Mind 96 (1987), 165. 10 Derk Pereboom: Living without Free Will, Cambridge 2001, 54. 11 Timothy O’Connor: Persons and Causes, New York 2000, 40. 12 Vgl. Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006, Kap. 3. 9

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er dazu gezwungen worden, sich zu t für den Diebstahl zu entscheiden. Wie ich in Free Will and Luck erläutert habe, steht es einem Libertarianer frei, zuzugestehen, dass einige indeterministische Frankfurt-Fälle ihr Ziel, sogar im Hinblick auf grundsätzliche moralische Verantwortung, erreichen.13 Ein solcher Libertarianer könnte (MV3) ablehnen und eine Variante davon akzeptieren, welche für die grundsätzliche moralische Verantwortung für A nicht verlangt, dass der Handelnde zu jener Zeit etwas anderes als A hätte tun können, sondern dass stattdessen die naheliegenden Ursachen (proximal causes) seines A-ens die Handlung nicht deterministisch verursachen.14 In einem indeterministischen Frankfurt-Szenario gibt es, wenn sich ein Handelnder zu t selbstständig dafür entscheidet, mein Auto zu stehlen, eine andere mögliche Welt mit denselben Gesetzen und derselben Vergangenheit bis hin zu t, in der er sich zu t entschließt, mein Auto zu stehlen, aber dies nicht selbst entscheidet. Angesichts der Divergenz beider Welten zum Zeitpunkt t, verursachen die naheliegenden Ursachen der Entscheidung des Akteurs seine Entscheidung in der tatsächlichen Welt nicht deterministisch. Manche Philosophen – einschließlich einiger Libertarianer – glauben, dass die Frankfurt-Fälle funktionieren, andere glauben dies nicht. Diejenigen, die nicht daran glauben, können (MV3) anerkennen und sehen sich in diesem Falle dem Fortsetzungsproblem, so wie es in den vorangegangenen Abschnitten beschrieben wurde, ausgesetzt. Diejenigen, die sich durch die Frankfurt-Style Fälle davon überzeugen lassen, dass (MV3) zu anspruchsvoll ist, könnten eine Variante von (MV3) akzeptieren, welche den FrankfurtFällen Rechnung trägt. Erinnern wir uns an Blaines elaborierte Variante der Geschichte über Bob und die Münze. Obwohl Bob sein Bestes gibt, um sich selbst dazu zu bringen, das Richtige zu tun, und um zu erreichen, dass er sich nicht der Versuchung hingibt, entschließt er sich um zwölf Uhr zu betrügen. In einer anderen möglichen Welt, in der bis zum Zeitpunkt t alles gleich ist, tut Bob zu t die richtige Sache: sein Bestes war gut genug. In Anbetracht dieser Einzelheiten fragte sich Blaine, wie Bob genügend Kontrolle darüber haben kann, ob er sich um zwölf Uhr dafür entscheidet zu betrügen oder etwas anderes tut, um für den Entschluss zu betrügen grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein. Wenn Bobs Geschichte in eine erfolgreiche Frankfurt-Geschichte umgeschrieben würde, würde sich ein Detail verändern. Es gäbe keine mögliche Welt mit derselben Vergangenheit bis hin zu t und denselben Gesetzen, in der Bob zu t etwas anderes tut als sich zum Betrügen zu entschließen, doch es gäbe eine Welt mit derselben Vergangenheit bis hin zu t und denselben Gesetzen, in der er, obwohl er sich zu t dafür entscheidet zu betrügen, diese Entscheidung nicht selbstständig trifft. Und in Anbetracht dieses Details würde Blaine sich die Frage stellen, wie Bob genügend Kontrolle darüber haben kann, ob er sich selbstständig dazu entschließt zu betrügen oder nicht, um für den Entschluss zu betrügen grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein. Dies ist eine Spielart des Fortsetzungsproblems: Wenn sowohl die Möglichkeit, dass er sich zu t selbstständig dafür entscheidet zu betrügen, als auch die Option, dass er zu t beschließt zu 13 14

Vgl. ebd., Kap. 4. Vgl. ebd., 115.

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betrügen, aber diese Entscheidung nicht selbst trifft, für Bob mögliche Fortsetzungen der Vergangenheit bis hin zu t sind, hat er dann wirklich genügend Kontrolle darüber, welche Fortsetzung tatsächlich vorliegt, um für den Entschluss zu betrügen grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein?

5. Eine Lösung für Ereignis-Verursachungs-Libertarianer Wo sollten Ereignis-Verursachungs-Libertarianer nach einer Lösung für das Fortsetzungsproblem suchen? Danach ausschließlich in den Fähigkeiten zu suchen, die Akteure ausüben, wenn sie Entscheidungen treffen, für die sie grundsätzlich moralisch verantwortlich sind, ist ein Weg vom Ereignis-Verursachungs-Libertarianismus zu einer Position der Akteurs-Verursachung. Einige Philosophen argumentieren dementsprechend, dass nur eine Verursachungskraft des Handelnden, die zum Zeitpunkt der Entscheidung (oder einer anderen Handlung) ausgeübt wird, das Problem lösen kann.15 Wie bereits erwähnt wurde, lasse ich die Akteurs-Verursachung in diesem Aufsatz außer Acht, weil ich an anderer Stelle argumentiert habe, dass sie das Fortsetzungsproblem (oder ein sehr ähnliches Problem) nicht löst.16 Meine Frage bezieht sich jedenfalls auf den EreignisVerursachungs-Libertarianismus. Bei der Entwicklung des Fortsetzungsproblems habe ich mich eines Vergleichs mit einem genuin wahllosen Zahlengenerator bedient und eingeräumt, wie natürlich es ist, auf die Unterschiede zwischen geistlosen Zahlengeneratoren und indeterminierten menschlichen Entscheidern hinzuweisen – einschließlich der Unterschiede an Fähigkeiten. Hier ist ein Unterschied: Während die beliebige Zahl, die ein genuin wahlloser Zahlengenerator als nächstes hervorbringt, von der vorangegangenen Erzeugung zufälliger Zahlen kausal unabhängig ist, scheinen unsere Entscheidungen oftmals von früheren Entscheidungen, die wir getroffen haben, kausal beeinflusst zu sein (und ein derartiger Einfluss scheint nicht begrifflich davon abzuhängen, ob wir deterministische Entscheider sind). Zum Beispiel scheint die Reflexion über eine schlechte Entscheidung, die man getroffen hat, die Wahrscheinlichkeit dafür, dass man in Zukunft eine ähnliche Entscheidung treffen wird, manchmal erheblich zu senken. Anders als wahllose Zahlengeneratoren besitzen viele Menschen offensichtlich die Fähigkeit, aus ihren Fehlern zu lernen. Dies ist eine Tatsache über uns, die wir uns bei der Erarbeitung einer Erwiderung auf das Fortsetzungsproblem zu Nutze machen können. Darauf werde ich später zurückkommen. Erinnern wir uns an Libbys Unterscheidung zweier unterschiedlicher Arten, auf die die grundsätzliche moralische Verantwortung für eine Handlung damit zusammenhängen könnte, für die Handlung moralisch verantwortlich zu sein. In einigen Fällen, so

Vgl. Randolph Clarke: On the Possibility of Rational Free Action, in: Philosophical Studies 88 (1997), 37–57; Randolph Clarke: Libertarian Accounts of Free Will, Oxford 2003; Timothy O’Connor: Persons and Causes, New York 2000; Derk Pereboom: Living without Free Will, Cambridge 2001. 16 Vgl. Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006, Kap. 3. 15

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lautete ihre Vermutung, könnte es sein, dass ein Akteur für sein A-en nur dann moralisch verantwortlich ist, wenn er für sein A-en grundsätzlich moralisch verantwortlich ist. Außerdem deutete sie an, dass es Fälle geben könne, in denen ein Akteur moralisch verantwortlich dafür wäre zu A-en, selbst wenn er hierfür nicht grundsätzlich moralisch verantwortlich wäre, aber seine grundsätzliche moralische Verantwortung für A positiv zu dem Grad beiträgt, zu dem er moralisch verantwortlich dafür ist zu A-en. Wo könnten wir nach einem Fall des ersten Typs Ausschau halten? Ein offensichtlicher Kandidat ist die erste Handlung, für die ein bestimmter Akteur moralisch verantwortlich ist. Wenn ein Akteur für keine von ihm ausgeführte Handlung moralisch verantwortlich sein kann, solange er nicht für mindestens eine seiner Handlungen grundsätzlich moralisch verantwortlich ist (und wenn moralische Verantwortung niemals rückwirkend gilt), dann ist die erste Handlung, für die er moralisch verantwortlich ist (wenn es eine solche gibt), eine, für die er grundsätzlich moralisch verantwortlich ist; und es ist nicht der Fall, dass er eine gewisse moralische Verantwortung für diese Handlung gehabt hätte, wenn er dafür nicht grundsätzlich moralisch verantwortlich gewesen wäre.17 Der Frage, wie wir uns von Neugeborenen, denen keine moralische Verantwortung für irgendetwas zukommt, zu moralisch verantwortlichen Akteuren entwickeln können, kommt schon für sich genommen eine eigene Wichtigkeit zu. Mit Sicherheit hat sie mehr philosophische Aufmerksamkeit verdient, als ihr zuteil geworden ist, und das Nachdenken über sie könnte unsere Aussichten darauf, eine ansprechende Antwort auf das Fortsetzungsproblem zu finden, verbessern. Die Frage weist enge Verbindungen zu einer Frage über personale Autonomie auf: Wie können wir uns von nicht-autonomen Neugeborenen zu autonomen Akteuren entwickeln? In Free Will and Luck habe ich eine Erwiderung auf das Fortsetzungsproblem (oder ein eng verwandtes Problem mit einem anderen Namen) entwickelt, die sozusagen vom Fundament her beginnt.18 Vielleicht haben viele Philosophen, die glauben, dass zahlreiche Menschen für manches, was sie tun, grundsätzlich moralisch verantwortlich sind, nicht viel darüber nachgedacht, wie gewöhnliche menschliche Wesen die Fähigkeit erwerben, auf eine solche Art und Weise zu handeln, dass sie für einige ihrer Handlungen grundsätzlich moralisch verantwortlich sind. Nichtsdestotrotz bemerken sie, dass Neugeborene für nichts moralisch verantwortlich sind und dass sie selbst sich schrittweise von Neugeborenen zu hochentwickelten Akteuren entwickelt haben. Wie geht dies vonstatten? Und an welchem Punkt dieser Strecke beginnen wir damit, Handlungen auszuführen, für die wir grundsätzlich moralisch verantwortlich sind (angenommen, dass diese Philosophen richtig gehen in der Annahme, dass wir gelegentlich derartige HandDie Vorstellung einer ersten Handlung, für die eine Person moralisch verantwortlich ist, scheint vage zu sein, in der Art und Weise wie auch die Vorstellungen des ersten Schrittes oder des ersten Wortes eines Babys vage sind. Doch ebenso wenig wie uns die Vagheit erster Schritte oder erster Worte zu dem Schluss zwingt, dass Menschen niemals Schritte machen oder Worte äußern, zwingt uns die Vagheit einer ersten Handlung, für die eine Person moralisch verantwortlich ist, nicht zu der Schlussfolgerung, dass Menschen für Handlungen niemals moralisch verantwortlich sind. 18 Vgl. Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006. 17

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lungen vollziehen)? Wenn du und ich intern indeterminierte Handelnde sind, hatten wir diese Eigenschaft möglicherweise schon von dem Augenblick an, als wir zu handeln begonnen haben. Allerdings beginnen Menschen eine ganze Weile bevor sie für irgendeine ihrer Handlungen moralisch verantwortlich sind damit, zu handeln. Wie ist es möglich, dass wir uns von winzigen indeterminierten Akteuren zu Akteuren entwickeln, die für einiges von dem, was sie tun, moralisch verantwortlich sind? Zweifellos behandeln viele Eltern selbst ihre vierjährigen Kinder so, als ob sie sie für einige der Dinge, die sie tun, für moralisch verantwortlich hielten. Offensichtlich impliziert dies nicht, dass einige Vierjährige für manche ihrer Handlungen tatsächlich eine gewisse moralische Verantwortung tragen. Doch es legt nahe, dass es lohnenswert sein könnte darüber nachzudenken, ob durchschnittliche Kinder etwa um dieses Alter herum für einige ihrer Handlungen moralisch verantwortlich sein könnten. In Free Will and Luck habe ich einige relevante Beeinträchtigungen normaler Vierjähriger – im Vergleich zu normalen Achtjährigen (ganz zu schweigen von Vierzigjährigen) – beschrieben und angedeutet, dass eine gewisse Art von indeterministischer Handlungsfähigkeit möglicherweise keine größere Hürde dafür darstellt, dass sie für das, was sie tun, eine gewisse moralische Verantwortung tragen, als es diese Beeinträchtigungen tun.19 Die Beeinträchtigungen, die ich hervorgehoben habe, betrafen die Impulskontrolle (impulse control) sowie die Fähigkeiten, die Auswirkungen der eigenen Handlungen vorauszusehen und verstehen zu können. Ein Teilziel meiner Diskussion kleiner Akteure in Free Will and Luck ist es, diejenigen, die an moralische Verantwortung glauben, dazu zu bewegen, den Sinn der weitverbreiteten Vorstellung, dass sich moralische Verantwortung graduell entwickelt, einzusehen und insbesondere zu erkennen, dass die Maßstäbe für moralische Verantwortung bei jungen Kindern im Vergleich zu den Maßstäben für normale Erwachsene plausiblerweise als sehr bescheiden betrachtet werden. Sollte dies plausibel sein, dann ist es möglicherweise nicht abwegig zu behaupten, dass einige junge Kinder für manche ihrer Handlungen grundsätzlich moralisch verantwortlich sind. Und wenn es erforderlich ist, dass man eine Handlung autonom ausführt, um für diese Handlung grundsätzlich moralisch verantwortlich zu sein, dann ist es möglicherweise ebensowenig abwegig zu behaupten, dass einige junge Kinder über ein gewisses Maß an personaler Autonomie verfügen. Stellen wir uns ein Universum vor, in dem man weiß, dass die Vorgänge im Gehirn, die einen direkten Einfluss auf Entscheidungen haben – einschließlich der Entscheidungen darüber, ob einer Versuchung widerstanden wird oder nicht – indeterministisch verfasst sind. Man weiß außerdem, dass einige dieser Hirnvorgänge bei Kindern, die dazu in der Lage sind, Entscheidungen zu fällen, mit Beeinträchtigungen der Impulskontrolle in Verbindung stehen. Weil diese Vorgänge indeterministisch verfasst sind, ist ihre Existenz unvereinbar damit, dass das vorgestellte Universum deterministisch verfasst ist. Sollte der Inkompatibilismus im Hinblick auf moralische Verantwortung wahr sein, ist ihre Existenz also hinreichend dafür, dass eine notwendige Bedingung für moralische Verantwortung erfüllt ist. In dem gedachten Universum weiß man darüber hinaus, dass 19

Vgl. Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006, 129–32.

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Kolloquium 3 · Alfred Mele

die indeterministischen Vorgänge, die die Aufmerksamkeit beeinträchtigen, einen Einfluss darauf haben, wie gut Kinder die Folgen ihrer Handlungen voraussehen können. Glücklicherweise haben Entwicklungspsychologen in diesem Universum herausgefunden, dass eine gute Erziehung – eine Erziehung, in der Kinder dazu zu ermuntert werden, sich gut zu benehmen, über die voraussichtlichen Folgen ihrer Handlungen nachzudenken, wenn sie versucht sind, etwas zu tun, das sie für falsch halten, die Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen, und dergleichen – die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kinder ihre Impulskontrolle sowie das Antizipieren und Verstehen der Auswirkungen ihrer Handlungen im Laufe der Zeit erheblich verbessern, signifikant steigert. In dem vorgestellten Universum neigen normale Kinder, die auf diese Weise erzogen wurden, dazu, ernsthafte Anstrengungen zur Verbesserung ihres Verhaltens zu unternehmen und verzeichnen hierbei in den allermeisten Fällen beträchtliche Erfolge. Wenn diese Kinder das Erwachsenenalter erreichen, haben sie einen wichtigen Einfluss auf ihre Neigungen, die Art von Entscheidungen, die sie als Erwachsene vermutlich treffen werden, die Wahrscheinlichkeit, dass sie vielfältigen Versuchungen widerstehen werden usw., genommen. Selbst wenn indeterministische Prozesse innerhalb ihres erwachsenen Gehirns ihre Entscheidungen nach wie vor beeinflussen, wurden diese Prozesse selbst stark von ihrem früheren Verhalten beeinflusst. Die vorangegangene Skizze stellt uns einen gewissen Kontext für das bereit, was uns nun bevorsteht. Denkt man darüber nach, ob ein indeterministischer Entscheider eine erste Entscheidung treffen kann, für die er moralisch verantwortlich ist, dann stellt sich die Frage, welche Art von Optionen dem Akteur in dieser Vorstellung angemessener Weise zugeschrieben werden sollten? Wenn ein intern indeterminierter, erwachsener Akteur, der – weil er niemals autonom gehandelt hat – weder für die zu t gegebene Wahrscheinlichkeit, dass er sich in Kürze dazu entschließen wird, alsbald eine Bank auszurauben und dementsprechend zu handeln, noch für die zu t gegebene Wahrscheinlichkeit, dass er sich stattdessen effektiv dazu entschließt, der Versuchung, jenes Verbrechen zu begehen, zu widerstehen, irgendeine Verantwortung trägt, sich dazu entschließen würde, die Bank auszurauben, dann würde das Fortsetzungsproblem in aller Deutlichkeit heraufziehen. In meiner Diskussion kleiner Akteure in Free Will and Luck rege ich den Gedanken an, dass das Problem als wesentlich bescheidener und leichter zu bewältigen betrachtet werden sollte, wenn es um die relativ triviale erste Entscheidung geht, für die ein normales Kind eine gewisse moralische Verantwortung besitzen könnte. Zum Beispiel mache ich folgende Beobachtung (nachdem ich Galen Strawson20 über Himmel-und-Hölle-Verantwortung [heaven-and-hell responsibility] zitiere): »Offensichtlich würde keine geistig gesunde Person glauben, dass Tony [ein normaler Vierjähriger] für seine schlechten Taten – ewige oder anderweitige – Peinigung in der Hölle oder dass er für die Guten himmlische Glückseligkeit verdient. Doch Tony könnte gelegentlich einige unerfreuliche Worte oder angenehmes Lob verdienen; und

Vgl. Galen Strawson: The Bounds of Freedom, in: The Oxford Handbook of Free Will, ed. by Robert Kane, New York 2002, 451. 20

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»es macht«, um Strawsons Ausdruck zu gebrauchen, »Sinn zu behaupten«, dass Tony für einige seiner Entscheidungen einen Grad an moralischer Verantwortung besitzt, der zur Rechtfertigung dieser milden Bestrafungen und Belohnungen beiträgt – selbst wenn diese Entscheidungen zu einer Zeit getroffen wurden, in der die Vergangenheit und die Gesetze alternative Handlungsverläufe offen ließen, da Tony ein indeterministischer Entscheider ist.«21 Wenn die Schwelle für grundsätzliche moralische Verantwortung bei jungen Kindern ziemlich niedrig ist, und sie niedrig genug ist, um nicht auszuschließen, dass Kinder eine indeterministisch verursachte Entscheidung fällen, für die sie einen gewissen Grad an moralischer Verantwortung tragen, dann kann die grundsätzliche moralische Verantwortung eines Akteurs möglicherweise im Laufe der Zeit zu etwas deutlich Robusterem heranwachsen. In Free Will and Luck habe ich eine libertarianische Ansicht dazu entwickelt, wie dies geschehen könnte. Eines ihrer Kernelemente war eine Auffassung darüber, wie indeterministische Handlungssubjekte aus ihren Fehlern und Erfolgen lernen und die Wahrscheinlichkeiten für zukünftige Handlungen gestalten können. Ich habe geschrieben: »Für Akteure sind die Wahrscheinlichkeiten für Handlungen – praktische Wahrscheinlichkeiten (practical probabilities) – einem Handelnden nicht immer aufgezwungen. Durch ihr vergangenes Verhalten formen Akteure ihre gegenwärtigen praktischen Wahrscheinlichkeiten, und durch ihr gegenwärtiges Verhalten gestalten sie zukünftige praktische Wahrscheinlichkeiten. Die Beziehung zwischen Akteuren und den Wahrscheinlichkeiten ihrer Handlungen unterscheidet sich erheblich von der Beziehung zwischen einem Würfel und den Wahrscheinlichkeiten für die Ergebnisse eines Wurfes. Im Falle des Würfels sind die Wahrscheinlichkeiten bei zukünftigen Würfen von den Ergebnissen vergangener Würfe selbstverständlich unabhängig. Für Akteure hingegen sind die Wahrscheinlichkeiten zukünftiger Handlungen durch ihre gegenwärtigen und vergangenen Handlungen beeinflusst.«22 Meine generelle Strategie war es, einen Weg zu finden, um plausibel zu machen, dass ein junger, indeterministischer Akteur eine gewisse, sehr bescheidene grundsätzliche moralische Verantwortung für einige seiner Handlungen haben könnte, und anschließend zu erklären, wie moralische Verantwortung im Laufe der Zeit weiter gestärkt werden kann und warum das Fortsetzungsproblem (bzw. was ich damals das Problem gegenwärtigen Zufalls [present luck] genannt habe) angesichts dessen für die grundlegende moralische Verantwortung gewöhnlicher Erwachsener weniger bedrohlich ist, als es anfänglich den Anschein hatte. Kommen wir auf den indeterminierten Akteur zurück, der es in Erwägung zog, eine Bank auszurauben. In der ursprünglichen Geschichte hat er überhaupt keine moralische Verantwortung für die einschlägigen praktischen Wahrscheinlichkeiten, weil er niemals

21 22

Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006, 131. Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006, 122.

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Kolloquium 3 · Alfred Mele

autonom gehandelt hat. In einem Gegenstück zu dieser Geschichte hat eine lange Vorgeschichte an Handlungen, für die er moralisch verantwortlich ist, erheblich dazu beigetragen, die fraglichen Wahrscheinlichkeiten zu gestalten (Wahrscheinlichkeiten, die in beiden Fällen, den gleichen numerischen Wert haben). Nehmen wir an, der Akteur entscheidet sich in beiden Varianten der Geschichte dazu, die Bank auszurauben, und setzt diese Entscheidung in die Tat um. Vielleicht sind Sie, lieber Leser, ganz und gar nicht geneigt zu bestreiten, dass der Akteur im zweiten Fall für seine Entscheidung moralisch verantwortlich ist; aber wenn sie dies sind, so möchte ich wetten, dass ihre Neigung in diesem Fall wesentlich schwächer ist als im ersten Fall.23 Sollte ich meine Wette gewinnen, scheint es für Sie – wenigstens in einigen Fällen – einen Unterschied zu machen, wie die relevanten praktischen Wahrscheinlichkeiten eines Akteurs entstanden sind. Dies würde Ihnen auch dann relevant erscheinen, wenn Sie den zweiten, nicht aber den ersten Räuber, als moralisch verantwortlich für seine Entscheidung betrachten. Könnte es sein, dass, obwohl der erste Räuber für seine Entscheidung nicht moralisch verantwortlich ist, dem Zweiten eine gewisse grundsätzliche moralische Verantwortung für seine Entscheidung zukommt, die zu dem Grad beiträgt, zu dem er dafür moralisch verantwortlich ist? Sollten die Dinge so liegen, dann wäre es ein Fehler, wenn wir, während wir darüber nachdenken, ob ein erwachsener Akteur für eine getroffene Entscheidung grundsätzlich moralisch verantwortlich ist, außer Acht ließen, wie seine relevanten praktischen Wahrscheinlichkeiten zu diesem Zeitpunkt entstanden sind. Wenn dies ein Fehler ist, erscheint es wenig aussichtsreich, eine Lösung des Fortsetzungsproblems allein in den nicht-historischen Eigenschaften zu suchen, die einem Handelnden zum Zeitpunkt der Entscheidung (oder einer anderen Handlung) zukommen. Es ist vorstellbar, dass die beiden Räuber zum Zeitpunkt der Entscheidung alle relevanten nicht-historischen Eigenschaften teilen, obwohl ihre relevanten praktischen Wahrscheinlichkeiten auf ganz unterschiedlichem Wege entstanden sind. Es könnte jemand behaupten, dass, wenn junge Kinder für indeterministisch verursachte Entscheidungen grundsätzlich moralisch verantwortlich sein können, auch Erwachsene dies können und das Fortsetzungsproblem zunächst einmal überhaupt kein Problem darstellt. Wer […] diese Behauptung aufstellt, könnte glauben, dass, wie auch immer angemessen erklärt wird, weshalb normale junge Kinder für eine Entscheidung grundsätzlich moralisch verantwortlich sein können, ebenfalls angemessen erklären wird, weshalb das Gleiche auf normale Erwachsene zutrifft. Natürlich ist es Teil meines Erklärungsversuchs für die Möglichkeit grundsätzlicher moralischer Verantwortung in dem ersten Beispiel, dass die Schwelle für moralische Verantwortung bei normalen jungen Kindern deutlich niedriger liegt als diejenige für normale Erwachsene; und offensichtlich ist es falsch, dass die Schwelle für moralische Verantwortung bei normalen Erwachsenen niedriger liegt als die für normale Erwachsene. Ich stimme zu, dass, wenn gewöhnliche junge Kinder für einige Entscheidungen, die sie treffen, grundsätzlich Nicht alle Leser sollten […] diese Wette persönlich nehmen. Zum Beispiel würde ich diese Wette nicht mit Lesern abschließen, die ihre Überzeugung bekunden, dass moralische Verantwortung nur in Welten möglich ist, in denen der Determinismus wahr ist. 23

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moralisch verantwortlich sein können, auch normale Erwachsene dies können; und ich habe die Vermutung geäußert, dass uns eine genauere Betrachtung der Merkmale einer normalen Entwicklung eines normalen jungen Akteurs hin zu einem normalen erwachsenen Akteur zu verstehen hilft, warum. Sollte sich nun herausstellen, dass, wann immer wir geneigt sind, wider unser besseres Urteil zu handeln, die praktischen Wahrscheinlichkeiten dafür, in Übereinstimmung mit diesem Urteil zu handeln oder stattdessen der Versuchung zu erliegen, von unserem früheren Verhalten vollständig unabhängig sind (einschließlich der Entscheidungen sowie der Reflexion auf ihre Folgen), würde ich mich in diesem Bereich geschlagen geben. Und sollte man entdecken, dass unsere praktischen Wahrscheinlichkeiten zum Zeitpunkt einer jeden Entscheidung wahllos durch einen Mechanismus erzeugt werden, der nur die Daten darüber, welche Optionen uns zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehen, als Input aufnimmt, so würde ich eine grundsätzliche Niederlage eingestehen. Allerdings sehe ich keinerlei Grund zu glauben, dass derartige Entdeckungen gemacht werden dürften. Es mag sein, dass die moralische Verantwortung für eine relevante praktische Wahrscheinlichkeit und die grundsätzliche moralische Verantwortung für eine bestimmte Entscheidung bei normalen erwachsenen Akteuren gemeinsam zu einem Maß an moralischer Verantwortung für diese Entscheidung beitragen, das bei weitem über das hinausreicht, was bei normalen jungen Kindern vorzufinden ist.24 Offensichtlich ist es nicht das Alter – etwa ob jemand vier Jahre und nicht vierzig Jahre alt ist –, auf das es bei meiner Diskussion des Verhaltens, der Fähigkeiten, und der praktischen Wahrscheinlichkeiten bei Kindern und Erwachsenen unmittelbar ankommt. Das Thema ist die psychologische Entwicklung und die ist lose mit dem Alter verbunden. Es gibt intellektuelle und emotionale Wunderkinder, erwachsene Akteure nahe des gegenüberliegenden Endes des Spektrums, und so weiter. Meine Diskussion kleiner Akteure in Free Will and Luck bezog sich ausdrücklich auf normale Kinder in normalen Umständen. Einige wenige Leser suchen möglicherweise nach einer Verteidigung der Behauptung, dass moralische Verantwortung von der Falschheit des Determinismus abhängt. Sie werden hier keine solche finden. Ich bleibe agnostisch im Hinblick darauf, ob der Inkompatibilismus wahr ist (in den Sphären der moralischen Verantwortung, personalen Autonomie und des freien Willens).25 Manche Leser wünschen sich möglicherweise, dass ich etwas darüber sage, wie der Indeterminismus dabei helfen soll, moralische Verantwortung sicherzustellen. Hier ist ein augenfälliger Punkt: Wenn, wie Inkompatibilisten in Bezug auf Determinismus und moralische Verantwortung argumentieren, der Erstere die Letztere begrifflich aus-

Angesichts der hier verwendeten Definition grundsätzlicher moralischer Verantwortung, hängt dies offenbar von der Falschheit der folgenden Aussage ab: alle unsere Entscheidungen sind durch ihre naheliegenden Ursachen deterministisch verursacht. Eine Beurteilung dieser Aussage liegt jenseits des Fokus des vorliegenden Artikels. 25 Vgl. Alfred Mele: Autonomous Agents, New York 1995; Alfred Mele: Free Will and Luck, New York 2006. 24

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Kolloquium 3 · Alfred Mele

schließt, dann ist der Indeterminismus hinreichend dafür, dass eine begrifflich notwendige Bedingung für moralische Verantwortung erfüllt ist. An dieser Stelle galt meine Aufmerksamkeit einem spezifischen Problem der indeterministischen Handlungsfähigkeit und nicht dem ganzen Programm. In diesem Artikel hatte ich zwei Hauptanliegen. Das erste war es, ein Problem für eine typisch libertarianische Position zu moralischer Verantwortung aufzuzeigen. Dieses Problem ist demjenigen sehr ähnlich, das ich an anderer Stelle als das Problem des gegenwärtigen Zufalls bezeichnet habe, doch wurde hier auf eine Art und Weise vorgetragen, die keine Bedenken über die Bedeutung von »Zufall« oder das Wesen kontrastiver Erklärungen aufwerfen sollte – Bedenken, die ich im Hinblick auf das Problem des gegenwärtigen Zufalls für den typischen Libertarianer für weitestgehend irrelevant halte. Das zweite betraf eine Lösung des Problems des gegenwärtigen Zufalls, die in Free Will and Luck vorgeschlagen wurde: Mein Ziel war es, gewisse Aspekte davon in einer Weise darzustellen, die Fehlinterpretationen erschwert, einige Vorbehalte gegen diesen Lösungsvorschlag anzusprechen, und ihn speziell auf das Fortsetzungsproblem, wie es hier formuliert wurde, anzuwenden.26 Übersetzt von Konstantin Schnieder

Literatur Randolph Clarke: On the Possibility of Rational Free Action, in: Philosophical Studies 88 (1997), 37–57. –: Libertarian Accounts of Free Will. Oxford 2003. Alfred Mele: Autonomous Agents. New York 1995. –: Free Will and Luck. New York 2006. –: Moral Responsibility and the Continuation Problem, in: Philosophical Studies (forthcoming). Timothy O’Connor: Persons and Causes. New York 2000. Derk Pereboom: Living Without Free Will. Cambridge 2001. Galen Strawson: The Bounds of Freedom, in: The Oxford Handbook of Free Will, ed. by Robert Kane, New York 2002, 441–460. Gary Watson: Free Action and Free Will, in: Mind 96 (1987), 145–172.

26 Dieser Artikel, der auf Alfred Mele: Moral Responsibility and the Continuation Problem, in: Philosophical Studies (forthcoming) basiert, wurde durch die Unterstützung durch einen Zuschuss der John Templeton Foundation ermöglicht. Die Auffassungen, die in diesem Artikel vertreten werden, sind meine eigenen und spiegeln nicht notwendigerweise die Ansichten der John Templeton Foundation wider.

KOLLOQUIUM 4

Grund und Grundlosigkeit im philosophischen Denken Kolloquiumsleitung: Günter Zöller

Günter Zöller Einführung Wilhelm Schmidt-Biggemann Grund und Ungrund. Zur Metaphysik des Möglichen Matthias Koßler Der grundlose Grund des Satzes vom Grunde bei Schopenhauer

Einführung Günter Zöller

Im Rahmen des Generalthemas des XXII. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, »Welt der Gründe«, nahm das Kolloquium über den Satz vom Grund im Ausgang von Leibniz und im Doppelfokus auf Schelling und Schopenhauer eine historisch-systematische Sonderstellung ein. In systematischer Hinsicht erweiterte das Kolloquium die Erörterung des »space of reasons«, die in jüngerer Zeit im Anschluss an Wilfred Sellars bei John McDowell und Robert Brandom im gezielten Rückbezug auf Kant und Hegel zu einer Reorientierung britisch-neoaristotelischen und amerikanischneopragmatischen Philosophierens geführt hat, um die Reflexion auf das Prinzip allen Gründens und Gründegebens, das seit Platon (logon didonai) im Mittelpunkt oder doch im Hintergrund philosophischer Bemühungen gestanden hat. In historischer Hinsicht überschritt das Kolloquium den Referenzrahmen von Kant und Hegel um vorund nachkantische Positionen, die das Generalprinzip gründender und begründender Verhältnisse auf seinen Ursprung, seine Möglichkeiten und seine Grenzen hin untersuchten. Die Vorträge des Kolloquiums, von denen zwei im vorliegenden Band in überarbeiteter Form zum Abdruck gelangen konnten, erörterten den Satz vom Grund im Rückgriff auf typische und charakteristische Positionen zu Art und Ausmaß des Grundprinzips rationaler Verhältnishaftigkeit: beginnend mit Leibniz, bei dem der Satz vom Grund logisch-ontologisch neben das Widerspruchsprinzip trat, daran anschließend mit Schelling, der den Satz vom Grund in differentielle Beziehung zur Freiheit setzte, und abschließend mit Schopenhauer, der dem Satz vom Grund schon seine Dissertation gewidmet hatte und der seine Doppellehre von der Welt als Wille und als Vorstellung aus dem Alternieren zwischen der Abhängigkeit und der Unabhängigkeit des Selbst wie der Welt vom Satz vom Grund entwickelte. Als Nach- und Spätfolge der Sequenz Leibniz – Schelling – Schopenhauer war ein Beschluss mit Heidegger vorgesehen, der den Satz vom Grund retrospektiv als Grundgestalt des an sein Ende gelangten okzidentalen Denkens auffasste. Der Kolloquiumsbeitrag von Wilhelm Schmidt-Biggemann (Freie Universität Berlin) erörtert das Verhältnis von Grund und Ungrund im Rückgriff auf die metaphysische Tradition von Aristoteles und dem Neuplatonismus (Plotin, Proklus) über das Hochund Spätmittelalter (Avicenna, Duns Scotus, Nikolaus von Kues) bis zu Leibniz und Wolff, um mit Hegel zu schließen. Im Mittelpunkt des ebenso rapiden wie fokussierten Parcours steht die modale Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit, speziell von Denkmöglichkeit und Realexistenz, im Hinblick auf das Wesen und das Wirken Gottes. Schmidt-Biggemann verfolgt die logisch-ontologische Spaltung des Möglichkeitsbegriffs in die konkurrierenden und tendenziell konfligierenden Konzepte von Kompossibilität

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Kolloquium 4 · Günter Zöller

und Kontingenz. Dabei wird die Ordnungsgestalt logisch geregelter, begründeter Möglichkeit mit der durch Wille, Willkür oder eine sonstige Zutat gekennzeichneten Grundlosigkeit des Eintritts von Existenz kontrastiert. Als Nachfolgegestalt des logisch-ontologischen Prinzips vom (zureichenden) Grund macht Schmidt-Biggemann die reziproke Identifikation von Vernünftigkeit und Wirklichkeit bei Hegel aus. Der Kolloquiumsbeitrag von Matthias Koßler (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) untersucht das Mit-, Gegen- und Durcheinander von Grund und Grundlosigkeit und damit von Rationalität und Präterrationalität bei Schopenhauer. An die Stelle der üblichen doxographischen Einschätzung von Schopenhauers Willensmetaphysik als blankem Irrationalismus tritt bei Koßler die limitative Auffassung von Grund-FolgeVerhältnissen und rationalen Strukturen durch Schopenhauer, die geprägt sind durch eine nicht mehr gründlich-rational ausweisbare Instanz, den Willen, der sich in Selbst wie Welt als deren konstanter Charakter manifestiert, ohne selber dem Satz vom Grund zu unterliegen. Koßler behandelt zunächst die einschlägige Dissertation Schopenhauers von der vierfachen Form des Satzes vom zureichenden Grund, unter besonderer Berücksichtigung der Veränderungen in der Lehre von Wille und Charakter in der späten zweiten Auflage des Frühwerks, um dann Schopenhauers reife Auslegung der Wirklichkeit in der Doppelperspektive von rationaler Vorstellungswelt und präterrationaler Willenswelt darzulegen. Im Zentrum steht dabei der historisch-systematische Übergang der philosophischen Reflexion bei Schopenhauer von der Frage »Warum?« zu der Frage »Was?«, die ihre Beantwortung nicht im theoretisch-wissenschaftlichen Ergründen sondern im ästhetischen und ethischen Erschauen finden soll. Insgesamt betrachtet belegen beide Beträge die historisch-systematische Doppelfunktion des Satzes vom Grund für die Begründung wie für die Begrenzung von Vernunftansprüchen an Denken und Sein.

Grund und Ungrund. Zur Metaphysik des Möglichen Wilhelm Schmidt-Biggemann

Plotin: Das Eine als Ungrund und erster Grund Plotins entscheidende Neuerung in der Philosophie ist seine Lehre vom Einen1. Das unbestimmte Eine, fand er heraus, ist, was durch keine Differenz bestimmt ist. Das unbestimmte Eine ist ein Nicht-Begriff; er kann nur durch die Negation aller Begrifflichkeit gewonnen werden, dergestalt also, dass sich alle Negation selbst negiert. Es ist das Weder-Noch, das weder eine Grenze nach außen noch eine Bestimmung nach innen hat; es ist ein Unwesen. Wenn das unbestimmte Eine – Schelling wird es später präzise das »Indifferente« nennen – vor jeder Unterscheidung ist, dann ist es auch vor der Unterscheidung von Sein und Nichts. Das »vor« in »vor der Unterscheidung« ist passend: Denn mit dem »vor« wird deutlich, dass die Unterscheidung von Sein und Nichts bereits sekundär ist; schließlich handelt es sich um eine Unterscheidung. Diese Unterscheidung ist deshalb sekundär, weil sie die Semantik des Einen bedient; denn sobald das Eine vom Andern unterschieden wird, ist es durchs Zweite definiert. Dann ist es nicht mehr unbestimmt, sondern bestimmt. Im Prozess dieser Bestimmung des Einen wird folgende Dialektik sichtbar: Nur durch die Trennung des Einen vom Andern ist das unbestimmte Eine als das fassbar, was die Trennung negiert, sie aber zugleich ermöglicht. Ohne das Eine gibt es keine Trennung; die Trennung ist in diesem Sinne Folge des Einen, dessen Unbestimmtheit sich in Bestimmtheit wandelt. Indem die Trennung Folge ist, wird das unbestimmte Eine zum Grund der Trennung. Es teilt sich dialektisch in Ungrund2, sofern es unbestimmt war, und Grund, sofern es als Anfang einer Kausalität bestimmt ist. Der Grund, wenn er einmal aus dem Ungrund geworden ist, generiert die Folge und unterscheidet sich zugleich von ihr, er ermöglicht und negiert sie, weil die Folge nicht ohne den Grund sein kann. Unter dieser Voraussetzung wird das unbestimmte Eine zum Grund der Bestimmung, zum Grund seiner Negation, Distinktion, Definition. Indem das Eine Grund wird, ist das Erste seine Folge, denn das Erste ist eine Ordinalzahl, und Ordnung verlangt drei Positionen: Eines und anderes und beides im Verhältnis.

1 2

Enneaden V, 4. Der deutsche Terminus kommt zuerst bei Jakob Böhme, und dort an vielen Stellen, vor.

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Das metaphysische Dispositiv von Kausalität bei Aristoteles Diese Erwägungen zur Kausalität verändern das aristotelische Dispositiv der Metaphysik entscheidend, und zwar in folgenden Hinsichten. 1. Nicht mehr ist Sein das allgemeinste Prädikat, sondern das Eine wird zur Bedingung des Seins. Aber dieses Eine entzieht sich der Prädikation, denn durch die Prädikation verlöre es seinen Status als Eines. Diese Semantik impliziert, dass dieses Eine auch nicht dem Satz des Widerspruchs unterliegt. Es entzieht sich den aristotelischen Wahrheitskriterien, die dadurch bestimmt sind, dass sie ein Etwas als etwas prädizieren und so Subjekt und Objekt auseinanderhalten müssen, damit sie überhaupt prädizieren können. Ein Urteil kann nur dann wahr sein, wenn Subjekt und Objekt zueinander passen. Wenn zwei Prädikate eines Subjekts sich gegenseitig widersprechen und ausschließen, ist das ein Kriterium der Unwahrheit für eines der beiden Urteile3. Wenn aber das Eine ungeschieden ist, ist ein affirmatives Urteil ausgeschlossen. Man kann über das ungeschiedene Eine nicht urteilen, denn indem man urteilt, setzt man die Scheidung. Das gilt auch für ein negatives Urteil, denn auch ein negatives Urteil besteht noch aus Subjekt und Prädikat. Wenn es das Sein und das Nichts umfasst, ist nicht das Sein der allgemeinste Begriff4, sondern das Eine. Sein Insistieren darauf, dass »nur Etwas aus Etwas wird« – die spätere schulphilosophische Tradition macht daraus: »a nihilo nihil fit«5 – ist unter der Bedingung der Metaphysik des Einen, der Henologie, die Stipulation der Geltung des Satzes vom Widerspruch6. 2. Es verändert sich mit dieser Theorie des Einen die aristotelische Kausalitätstheorie. Die Lehre von den vier Ursachen, die eher analytischen Charakter hatte, wird substituiert. Das Verhältnis des Einen als Bedingung der Möglichkeit (um Kants Formulierung zu benutzen) des Anderen ist weder Causa efficiens, noch Causa finalis, noch Causa formalis oder materialis. Vielmehr wird das Eine als erste Ursache so gefasst, dass ohne es Existenz überhaupt nicht denkbar ist. Die Kausalität des ersten Grundes ist modal: Sie umfasst Wirklichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit und deren Gegenteil. Das Eine wird erste Ursache von Sein, indem es das Nichtsein zugleich definiert. Damit »Der also denkt wahr, der das Getrennte für getrennt und das Zusammengesetzte für zusammengesetzt hält; der aber falsch, dessen Gedanken sich entgegengesetzt verhalten« Met. IX, 10, 1051 b 3. 4 Met. VI, 1026 a 30: »Gibt es aber eine unbewegte Wesenheit (ousia akinetos), so ist diese die frühere (scil. als die Gegenstände der Physik) und die sie behandelnde Philosophie die erste und allgemeine, insofern als sie die erste ist, und ihr würde es zukommen das Seiende, insofern es Seiendes ist (on he on), zu betrachten, sowohl sein Was als auch das ihm als Seiendes Zukommende.« (Übers. Bonitz) 5 Met.VII, 1032 a 12: »Das Werdende (tà gignómena) wird teils durch Natur, teils durch die Kunst, teils von ungefähr. Alles Werdende aber wird durch etwas und aus etwas und etwas.« Vgl. Lukrez, de rerum natura II, 287: »De nihilo quoniam fieri nihil posse videmus«. In der philosophischen Diskussion der frühen Neuzeit ist der Topos »a nihilo nihil fit« durch Henry More wichtig geworden, der ihn in seinen Thesen zur christlichen Kabbala benutzte. Henry More: Opera omnia, London 1679, Neudruck: Hildesheim 1966, Bd. 2,1, S. 523. 6 Ob das Insistieren auf der Geltung des Satzes vom Widerspruch schon eine Reaktion auf Platos »ungeschriebene Lehre« ist, muss hier nicht untersucht werden. 3

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wird der Grund, die Kausalität, zur Bedingung der Existenz überhaupt, die ihrerseits als ständige Trennung von Sein und Nichts gefasst wird. 3. Der erste Grund ist auch nicht identisch mit der Arche bzw. der Aitia, dem Prinzip, das im ersten Buch der aristotelischen Metaphysik verhandelt wird. Diese Prinzipien sind bei Aristoteles Referat seiner eleatischen Vorgänger und von eher materialer Natur. Sie haben mit den Modalerwägungen der Henologie nichts gemeinsam. Freilich verändert sich unter dem Einfluss der Henologie die Konnotation des Begriffs Prinzip in Richtung auf das Eine. 4. Auch die Lehre vom unbewegten Beweger aus Metaphysik XII ist nicht mit dem ersten Grund der Henologie identisch. Der unbewegte Beweger ist das Ziel aller Bewegung der Natur; er ist selbst die Pointe der Natur und ihres Lebens; aber der erste Grund, der sich in der Definition, der ursprünglichen Trennung von Sein und Nichts, manifestiert, ist er gewiss nicht. 5. Allerdings wird die Theorie von Dynamis und Energeia, die in Metaphysik IX behandelt wird, für die weitere Entwicklung der Kausaltheorie wichtig – freilich ist auch hier evident, dass Dynamis und unbestimmtes Eines nicht identisch sind.

Die Unerkennbarkeit des ersten Grundes: Dionysius Areopagita, Liber de Causis Die Metaphysik des Einen ist, auch ohne dass die Texte Plotins und Proklos’ verbatim zur Verfügung standen, im Abendland durchgehend bekannt geblieben; die wichtigsten Quellen waren das Corpus Dionysiacum, durch das die Metaphysik des Einen als »Mystik« gefasst wurde, und der »Liber de Causis«, eine arabische Neubearbeitung unter anderem von Proklos’ »Stoicheiosis theologike«, die von Gerhard von Cremona nach 1167 ins Lateinische übersetzt wurde und in dieser Übersetzung eine schwer überschätzbare Wirkung entfaltete. In beiden Fassungen, im Corpus Dionysiacum und im Liber de Causis, geht es darum, dass der Erste Grund unerkennbar ist. Dionysius Areopagita beschreibt diese Unfasslichkeit des ersten Grundes als Selbstauflösung der Seele im Einen. In einem Aufstieg lässt die Seele zunächst die materiellen Äußerlichkeiten, dann ihre eigenen Gedanken, schließlich den Gedanken an sich selbst, ihr eigenes Bewusstsein, hinter sich, um sich im indefiniten Einen zu verlieren, aber auch zu finden, denn jetzt weiß sie sich als von ihm verursacht und ständig in ihrer Existenz getragen.7 Der Liber de Causis hat die Frage nach der Unerkennbarkeit des Ersten Grundes in seinem § 5 formuliert: Derjenige, der den ersten Grund erfassen wolle, müsse in seiner Existenz und seiner Fassungskraft vor diesem Ersten sein; dann aber wäre das Erste

7 Ps. Dionysius Areopagita: De Theologia Mystica, Krit. Ausgabe von Adolf Martin Ritter. Corpus Dionysiacum II. Berlin New York 1991. S. 133–150. Die Wirkung dieses Textes ist unüberschaubar. Einen Eindruck liefert die Editionsgeschichte. S. dazu: Dionysiaca. Recueil donnant l’ensemble des traductions latines des ouvrages attribués au Denys de l’Aréopage, Brügge 1937. ND in vier Bänden mit einem Nachwort von Martin Bauer. Stuttgart –Bad Cannstatt 1989.

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nicht das Erste; und alle Folge – das ist die Semantik des Ersten – beginnt mit dem Zweiten, setzt aber das Erste voraus8. In beiden Fällen wird der Erste Grund als Causa essendi des Seins und des Erkennens bestimmt; als Grund des Seins ist er der Grund, der Sein und Nichts unterscheidbar macht, als Grund des Erkennens bewirkt er Differenz überhaupt und ist damit die Bedingung der Möglichkeit von Erkennendem und Erkanntem sowie des Einzelnen und seiner Prädikation. Avicenna: Das Reich des Möglichen und die Vehementia essendi Die Frage nach Einheit und Vielheit stellt sich mit der Entfaltung der Dialektik des Einen in durchaus distinguiert neuer Weise. Zwar war diese Frage seit dem platonischen Parmenides virulent, zwar hatte Aristoteles das Moment des Einen als des Ganzen9 in seiner Metaphysik angesprochen, aber die Frage danach, wie denn das Verhältnis des Einen und des Vielen gedacht werden könne, war nur in Bezug auf das logische Urteil entfaltet worden, in dem das Individuum als ein Allgemeines bestimmt wurde. Die Frage danach, wie es logisch möglich wurde, dass Eines Vieles sei, war unbeantwortet geblieben. Die Frage nach der Möglichkeit hatte Aristoteles in ähnlicher Weise entspannt – oder vergleichgültigt – wie die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Nichts. Er hatte Möglichkeit als das Noch-nicht der Wirklichkeit gefasst10 und damit klar gemacht, dass die Wirklichkeit und ihre Prädikation das für ihn Wesentliche sei, nicht eine »irreale« Anders-Welt. Diese Frage nach der Möglichkeit änderte sich mit der Entfaltung der Schöpfungstheologie, die mit dem Einfluss der monotheistischen Offenbarungsreligionen virulent wurde. Die Theologie der Schöpfung, also ihre Beschreibung als Wissenschaft, wurde seit Philo von Alexandrien mit platonischen Mustern versucht11. Diese Platonisierung geschah so, dass Gott einen Schöpfungsplan gedacht habe, der mit den platonischen Ideen identifiziert wurde; nach diesem Idealplan habe er die Welt dann als extramentale Existenz durch Information der Materie verwirklicht. In dieser Weise wurde das Mögliche, der Plan Gottes, wirklich – das war das »Fiat« der Schöpfung. Mit dieser Theorie Liber de Causis § 5: »Causa prima superior est omni narratione: et non deficiunt linguae a narratione eius nisi propter narrationem eius ipsius, quoniam ipsa est supra omnem causam, et non narratur nisi pro causas secundas quae inluminantur a lumine causae primae.« (Die pseudo-aristotelische Schrift Über das reine Gute, bekannt unter dem Namen Liber de causis. Ed. Otto Bardenhewer. Freiburg: Herder 1882, ND Frankfurt o. J.). Dieser Text entspricht ungefähr dem § 20 der Stoicheiosis Theologike des Proklos (Proclus: The Elements of Theology. Ed. und Übers. E.R. Dodds, Oxford 1992, S. 22). Aber es gibt nicht unerhebliche Differenzen: Es ist nämlich bei Proklos nicht von Causa die Rede, sondern vom Einen, dem Hen. Es heißt dort, dass der Nous dem Hen nachgeordnet sei und dass der Nous, obwohl unbewegt, nicht das Eine sei; und indem es sich erkenne, sei es Objekt seiner eigenen Aktivität, das es damit ins Werk setze: noei gar heauton kai energei heauton. 9 Met. V, 26, 1023 b 27–1024 a 10. 10 Metaphysik IX behandelt die Modaltheorie. 11 Philo von Alexandrien. De Opificio mundi. Ed. Leopold Cohn. Berlin 1896. 8

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wurde die Frage danach interessant, wie denn dieser Weltenplan aussehe, der in der Schöpfung verwirklicht wurde. Es ging also um das Problem, wie die Gedanken Gottes in ihrer Möglichkeit gefasst werden könnten; der Möglichkeit, die dann in der geschaffenen Natur verwirklicht wurde. Hier wurde der Begriff Möglichkeit nun neu gefasst – die entscheidende Figur war Avicenna. Er wies darauf hin, dass die Modalbegriffe Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit zirkulär sind und sich untereinander definieren. Nach ihm wurde Möglichkeit nicht mehr nur in Bezug auf die Wirklichkeit gedacht, sondern als logischer Begriff. Der Gegenbegriff war jetzt nicht mehr Wirklichkeit, sondern Unmöglichkeit.12 Avicenna unterschied die metaphysische Notwendigkeit des Seins von dieser logischen »Manier«. Für diesen metaphysischen Sachverhalt fand er eine Formulierung, die im Lateinischen als »Vehementia essendi«, Drang zur Existenz, wiedergegeben wurde. Die »Vehementia essendi« bezeichnete die Möglichkeit, die sich ihrer Realisierung nicht entziehen kann. Diese durch die »Vehementia essendi« verwirklichte Möglichkeit bestimmte das Verhältnis von Sein und Nicht-Sein; und das, was real war, war erkennbarer als das, was nicht da war13. Damit unterschied Avicenna das Reich des Möglichen als das, was nicht da war, von dem, was durch die Vehementia essendi real geworden war. Diese Vehementia war als Notwendigkeit bestimmt, nicht als Kontingenz. Wenn in diesem Verwirklichungsprozess irgendetwas als Kausalität beschrieben werden konnte, dann die Vehementia essendi. Man konnte diesen Sachverhalt als die Trennung eines Reichs des Möglichen von einem des Wirklichen interpretieren. Mit der Formulierung der Vehementia essendi gab es einen doppelten Begriff von Möglichkeit: Der erste war der der Kontingenz. Er war dadurch definiert, dass etwas sein kann oder auch nicht, und dass es einen Drang, eben die Vehementia, geben müsse, das Mögliche wirklich zu machen. Der andere Möglichkeitsbegriff war der der Kompossibilität: Das, was gedacht wird, darf in sich nicht dergestalt widersprüchlich sein, dass ein affirmatives Prädikat eines grammatisch-logischen Subjekts zugleich negiert wird. Der Satz vom Widerspruch wurde als Bedin-

Avicenna Latinus: Liber de Philosophia Prima Sive Scientia Divina I–IV. Édition critique de la traduction latine médiéval par S. van Riet. Louvain/Leiden 1977, S. 40: »Difficile autem est declarare dispositionem necessarii et possibilis, et impossibilis certissima cognitione, nisi per signa. Quicquid enim dictum est ab antiquis de ostensione istorum, in plerisque reducitur ad circularem, eo quod ipsi, sicut nosti in logicis, cum volunt definire possibile, assumunt in eius definitione necessarium vel impossibile, nec habent alium modum nisi hunc. Cum autem volunt definire necessarium, assumunt in eius definitione possibile vel impossibile, et cum volunt definire impossibile, assumunt in eius definitione necessarium vel possibile. Verbi gratia, cum definiunt possibile, dicunt aliquando quod est non necessarium vel quod ipsum est quod non est in praesenti, cuius tamen esse, in quacumque posueris hora futura, non est impossibile. [Das ist jetzt der Sprung von der logischen zur metaphysischen Möglichkeit, zur Kontingenz.] Deinde cum volunt definire necessarium, dicunt quod necessarium est quod non est possibile poni non esse, vel quod est id quod, si aliter ponitur quam est, est impossibile.« 13 Ebd. S. 41: »Sed detectio huius maneriae in hoc est haec quia iam nosti in Analyticis quod, ex his tribus [scil. necessarium, possibile, impossibile, W. S.-B.] id quod dignius est intelligi est necesse, quoniam necesse significat vehementiam essendi; esse vero notius est quam non esse, esse, enim cognoscitur per se, non esse vero cognoscitur per esse aliquo modo.« 12

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gung der Denkbarkeit gefasst, und diese Denkbarkeit wurde als formales Kriterium von Möglichkeit interpretiert. Die logische Möglichkeit war die Bedingung dafür, dass eine Welt formal unabhängig von der wirklichen denkbar war – und dieser Gedanke war auf das Konzept des göttlichen Weltenplanes ebenso wie auf das menschliche Denken anwendbar. Damit war die Idee der möglichen Welt geboren. Mit diesem Konzept gab es zwei unterschiedliche Begriffe von Welt, die von Gott konzipierte Idealwelt des Möglichen und die erfahrbare reale Welt, die durch die Vehementia essendi zustande gekommen war. Die von Gott präkonzipierte Welt konnte vom Menschen zwar nicht inhaltlich, aber sie konnte formal gedacht werden, indem die menschliche Vernunft der göttlichen strukturanalog war. Da die menschliche Vernunft aber von der göttlichen abhing, war es sinnlos, die göttliche und die menschliche Vernunft unabhängig voneinander zu denken, zumal der entscheidende Grundsatz der propositional bestimmten Sprach-Vernunft, der Satz vom Widerspruch, für dieses Konzept der Kompossibilitätsstruktur einer möglichen Welt galt. Neben dieser logischen Weltkonzeption gab es die reale Welt; diese unterschied sich durch die Vehementia essendi von der möglichen. In ihrer Erkennbarkeit unterlag auch sie den logischen Kompossibilitätskriterien. Es war eine in sich selbst widersprüchliche Realität unerkennbar, denn erkennbar war nur das, was propositional war und wessen Propositionen dem Satz des Widerspruchs unterlagen. Aber sie war entscheidend mehr, denn sie war real. Logisch gesehen war die reale Welt freilich nur ein Spezialfall der möglichen Welten, denn in sich selbst Widersprüchliches war auch als Realität nicht erkennbar. Der Unterschied zwischen der möglichen und der wirklichen Welt war allein modalmetaphysischer Natur. Duns Scotus: Die Verwirklichung des Rationalen als irrationaler Willensakt Bei der Bestimmung des Möglichen und Wirklichen wurde nun das Verhältnis von Dynamis und Energeia, mit dem Aristoteles (Metaphysik IX) die Realität des individuell Realen gefasst hatte, wichtig. Bei Aristoteles dienten diese beiden Begriffe zur Analyse der Realität: Das Mögliche verwirklichte sich im Realen und bestimmte die Realität in ihrer weiteren Entfaltung. Die Dynamis war deshalb nicht als eigene logische Welt des Möglichen gefasst, sondern nur in Bezug auf die Frage danach, wie denn das natürliche Sein so geworden war, wie es war. Den Begriff Existenz hatte Aristoteles noch nicht. Mit der Bestimmung der möglichen Welt wurde eine eigene Welt der Essenzen gedacht, die Welt logisch möglicher Wesen, die zur Existenz kommen konnten oder nicht. So, wie Avicenna im Abendland gelesen wurde, lehrte er, dass der Schritt aus der möglichen Welt der Essenzen in die wirklich existierende Welt als Vehementia essendi geschehe, und dieser Schritt definierte bei Avicenna die Notwendigkeit. Mit der Vehementia essendi wurden das Reich der Möglichkeit und die Wirklichkeit als metaphysische Notwendigkeit verschränkt. Diese Engführung von möglicher Essenz und realer Existenz hatte Konsequenzen für die Schöpfungstheologie, die unerwünscht waren. Denn wenn der Übergang von der

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Möglichkeit in die Wirklichkeit mit Notwendigkeit erfolgte, dann konnte theologisch nicht unterschieden werden, ob Gottes primordialer Schöpfungsgedanke notwendig Realität werden müsse oder ob Gott auch Mögliches denken könne, das möglich blieb, aber nicht real wurde. Im Fall der ersten Alternative war die Konsequenz unvermeidbar, dass Gott, wenn er denn überhaupt als denkend konzipiert wurde, notwendig die Welt schaffen musste; und das war für alle monotheistischen Religionen inakzeptabel, weil der Pantheismusverdacht unabweislich war. Es blieb also für die schöpfungstheologische Explikation der Modalphilosophie nur die zweite Alternative akzeptabel. Deshalb musste das Verhältnis vom Reich des Möglichen, der Essenz, und dem Reich des Wirklichen, der Existenz, anders als mit der Konzeption der Vehementia essendi gefasst werden. Wenn die primordiale Welt der göttlichen Gedanken und der extramentalen Verwirklichung dieser Gedanken als Schöpfung und nicht als Emanation interpretiert werden sollte, dann durfte dieser Akt nicht notwendig sein, denn Gott wäre sonst zur Schöpfung gezwungen gewesen, und das war mit dem Gottesbegriff unvereinbar. Aus diesem Grunde wurde der Schöpfungsakt, sofern er für die Menschen überhaupt verständlich war, von Duns Scotus in drei Schritten beschrieben: Zunächst entschließt sich Gott aus freiem Willen zur Schöpfung der Welt14, dann konzipiert er sie in ihrer logischen Möglichkeit als notwendige, ewige Wahrheiten,15 und schließlich realisiert er sie – voluit, potuit, fecit. Die beiden ersten Schritte wurden als »duplex ratitudo entis«16 beschrieben, für den letzten Schritt hat Scotus das Lehrstück der Potentia absoluta und Potentia ordinata17, nach dem Gott aus freien Willen die logisch konzipierte Welt verwirklichen kann, die nach ihrer Verwirklichung in ihrer Ordnung existiert. Dieser Akt ist unumkehrbar: Wenn die Welt geschaffen wurde, ist mit dem Schöpfungsakt die Welt in ihrer Ordnung bestimmt.

Duns Scotus on Will and Morality, ed. by Allan B. Wolter, Washington 1986, S. 15 (Sentenzen I, qu. 44): »Dico quod cum necessitate ad volendum stat libertas in voluntate. … Probatur idem ›propter quid‹ Et primo sic: Actio circa finem ultimum est actio perfectissima; in tali actione firmitas in agendo est perfectionis; igitur necessitas in ea non tollit sed magis ponit illud quod est perfectionis; sic est libertas.« 15 Duns Scotus: Philosophical Writings, ed. by Allan B. Wolter, Indianapolis 1987, 2. Aufl. 1993, S. 123: »Ad intellectum primi, dico quod omnia intelligibilia actu intellectus divini habent esse intelligibile, et in eis omnes veritates de eis relucent, ita quod intellectus intelligens ea, et veritates de eis relucent, ita quod intellectus intelligens eas, et virtutem eorum intelligens necessaria veritates de eis, videt in eis sicut in obiectis istas veritates necessarias. Illa autem inquantum sunt obiecta secundaria intellectus divini, sunt veritates quia conformes suo exemplari; et sunt immutabiles et necessariae.« 16 Vgl. Ludger Honnefelder: Die Lehre von der doppelten Ratitudo Entis und ihre Bedeutung für die Metaphysik des Johannes Duns Scotus. in: Deus et Homo ad mentem I. Duns Scoti, Acta Tertii Scotistici Internationalis Vindenonae 1970, Studia Scholastico-Scotistica 5, Romae 1972, S. 661–671. 17 Duns Scotus on Will and Morality, ed. by Allan B. Wolter, Washington 1986, S. 256 (Ord. I, dist. 44): »Deus ergo, agere potens secundum illas rectas leges ut praefixae sunt ab eo, dicitur agere secundum potentiam ordinatam; ut autem potest multa agere quae non sunt secundum illas leges iam praefixas, sed praeter illas, dicitur eius potentia absoluta: quia enim Deus quodlibet potest agere quod non includit contradictionem, et omni modo potest agere quod non includit contradictionem (et tales sunt multi alii), ideo dicitur tunc agere secundum potentiam absolutam.« 14

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Wenn Gott bei Scotus in dieser Weise durch den Willen bestimmt war und der Wille der Grund der Schöpfung war, dann war auch diese Schöpfungstheologie theologisch alles andere als risikolos. Indem die möglichen Welten als die Bedingungen der wirklichen gefasst wurden, war deutlich, dass die Welt insgesamt, die mögliche und die wirkliche Welt, als logisch konzipiert begriffen werden mussten – das bedeutete, dass die Welt insgesamt als kausal determiniert galt, weil Ursache und Wirkung als logische Implikationen begriffen werden mussten. Da Gott alles als Möglichkeit und ewige Wahrheit dachte – eine andere Rationalität als diese war für Menschen undenkbar – und weil er alles gleichzeitig konzipierte, konnte Kausalität nur als die äußere, raumzeitliche Erscheinung der göttlichen Präkonzeption verstanden werden. Die Kausalität war deshalb nur der äußere Ausdruck der inneren Kompossibilität der Welt in Raum und Zeit. In dieser Welt war ein Raum der Freiheit für den Menschen kaum zu finden; diese aber war erforderlich, wenn Schuld und Verdienst dem Menschen zugerechnet werden sollten. Auf der anderen Seite wurde der Übergang von der möglichen in die wirkliche Welt dadurch, dass der Schöpfungsakt aus freiem Entschluss Gottes geschah, zu einem Willkürakt. Der skotistische Gott war merkwürdig doppeldeutig: Er war zugleich hochrational, weil er die mögliche Welt durchkalkulierte, und er war zugleich irrational in seinem freien Entschluss zur Verwirklichung der extramentalen Welt. Die Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit war einerseits nahezu unüberwindbar, auf der andern Seite war die geschaffene Realität kausal durchdefiniert.

Nikolaus von Kues: Modaltheologie des ersten Prinzips Bei Duns Scotus war die Dialektik des ersten Grundes offensichtlich nicht berücksichtigt. Das lag wesentlich auch daran, dass die negative Theologie, die seit Dionysius Areopagita Teil auch der christlichen Tradition war, zu Schwierigkeiten in der Trinitätstheologie führte. Denn wenn das unbestimmte Eine, das Göttliche, sich erst zum Sein dadurch bestimmte, dass es sich vom Nichts als seinem Definiens trennte und wenn es sich, sobald es sich als getrennt vom Nichts begriff, selbst zum Objekt seiner selbst machte und sich dadurch zum höchsten Gut wurde, dann wurde in diesem Prozess das Negative des höchsten Gutes, und das war das Böse, freigesetzt. Die Objektwerdung seiner selbst war der erste Schritt zur trinitarischen Fassung Gottes. Gott wurde sich selbst zum Logos, der nach dem Prolog des Johannesevangeliums im Anfang bei Gott war. Das entsprach dem Verhältnis des Vaters zum Sohn, die sich gegenseitig definierten; die Liebesbeziehung beider zueinander als je höchstes Gut war die Rolle des Heiligen Geistes, der vom Vater und vom Sohne ausging. Die dogmatischen Schwierigkeiten lagen auf der Hand: Wie konnte das Verhältnis des unbestimmten Einen zum sich konstituierende dreifaltigen Gott, vor allem zum Vater, beschrieben werden? Wurde der trinitarische Gott, der sich in diesem theogonischen Selbstwerdungsprozess verstehen ließ, zur Ursache des Nichts und, schlimmer noch, des Bösen? Da diese Probleme schon 1215 auf dem vierten Laterankonzil eine Rolle

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gespielt zu haben scheinen, als »Peri Physeos«, das Hauptwerk Eriugenas, des ersten Übersetzers des Corpus Dionysiacum, anathematisiert wurde, galt die negative Theologie als dogmatisch risikoträchtig. Nikolaus von Kues knüpfte sehr wirkungsvoll an diese Tradition an; er verstand die dogmatischen Risiken als Chancen zu produktiven theologischen Spekulationen über die Selbstwerdung Gottes, den absoluten Anfang und die mathematische Repräsentation dieses Prozesses.

Theogonie und Ursprung der Kraft Nikolaus behandelt die Theorie des Einen in ihrer Dialektik in vielen Variationen. Die weitestgehende Fassung ist die Logik der Theogonie, die als sich selbst mitteilende Wahrheit verstanden wird, in deren Ursprünglichkeit die Opposita eines Urteils aufgehoben sind. Das ist ein Angriff auf die aristotelisch-scholastische Urteilslehre. Nikolaus macht mit diesem Argument deutlich, dass Gott »weder ist noch nicht ist«, höher als jede Frage, einfach, absolut, eine unaussprechliche Einheit (»ineffabilis entitas«)18. Aber er ist in dieser Unnahbarkeit der Grund für jedes Etwas; in diesem Sinne ist er der letzte Grund. »Gott ist«, schreibt Nikolaus, »oberhalb von Nichts und Etwas, denn ihm gehorcht das Nichts, damit Etwas wird. Und darin besteht seine Allmacht, dass durch seine Macht alles, was ist oder nicht ist, hervorgerufen wird, dass es ihm so gehorcht, dass es nicht anders ist, als es ist«.19 Diese Macht, zwischen Nichts und Etwas zu vermitteln, die dem unbenennbaren Gott zukommt, ist das Moment der Kausalität, das hier aber nicht, wie bei Avicenna und Scotus, auf das Verhältnis Gottes zur Schöpfung, sondern auf Gott selbst angewandt wird. Er wird sich selbst ständig wirklich: Er ist die Vehementia essendi, die Kraft zum Realwerden. So ist er Causa sui. Die Dialektik des Ersten Grundes macht es, dass er allein negativ, als ineffabel, vor jedem Anfang, als Ungrund bezeichnet werden muss; denn der Grund zeigt sich als Grund erst, wenn er eine Folge hervorbringt. Wie sollte er sonst Grund sein? Er geht, selbst grundlos, aus sich selbst hervor. Die Frage nach dem Anfang ist die prozessuale Variante der Frage nach dem Verhältnis des Unbestimmten zum bestimmten Einen. Wenn sich das unbestimmte zum bestimmten Einen wandelt, dann wird es dadurch zum ersten Grund. Der Grund hat eine Folge – folglich ist er der erste Anfang. Jetzt gibt es eine Richtung, ein Vorher und Nachher. Mit dem Begriff des Ersten wird Ordnung in18 De coniecturis I, VII. Philosophisch-theologische Schriften. Ed. Gabriel/Dupré, Wien 1966. Bd. 2, S. 22: »Absolutior igitur veritatis extitit conceptus, qui ambo abiicit opposite, disiunctive simul et copulative. Non poterit enim infinitius responderi an Deus sit, quam quod ipse nec est nec non est atque quod ipse est et non est. Haec est una ad omnem quaestionem altior, simplicior, absolutior conformiorque responsio ad primam ipsam simplicissimam, ineffabilem entitatem.« 19 De Deo abscondito. Philosophisch theologische Schriften. Ed. Gabriel/Dupré, Wien 1964, Bd. 1, S. 304: » Deus est nihil et aliquid, quia ipsi oboedit nihil, ut fiat aliquid. Et haec est omnipotentia eius, qua quidem potentia omne id, quod est et non est, excedit, ut ita sibi oboediat id, quod non est sicut id, quod est.«

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stalliert, es muss ein Nächstes, Zweites, Anderes geben, das die ein Zweites heischende Semantik des Ersten bedient und diesen Prozess dadurch zur neuen, triadischen Einheit macht. Für die spekulative Theologie hat Nikolaus diese Frage logostheologisch verhandelt, indem er das sich selbst verstehende Eine zum Musterbild jeder Verursachung macht: Die höchste definite Einheit sei die, die sich selbst verstehe und die deshalb ihre Definition oder ihren Logos aus sich selbst hervorbringe.20 Diese Hervorbringung des innertrinitarischen Logos sei der Sohn, der das Leben der väterlichen Substanz ausmache21. Dieser Prozess sei der ewige Ursprung, »non est aliud dicere principium principiati quam aeternitas aeterni seu aeternitas principiati.«22 Dieser Prozess verbinde den Vater und den Sohn in der Liebe, das sei die Trinität, an die die Christen glaubten, die aber auch die Platoniker kennten. In dieser Bewegung zeige sich die unhintergehbare triadische ewige Anfänglichkeit des ersten Prinzips, das das Prinzip seiner selbst und der Schöpfung sei. Nikolaus fasst seine Erwägungen zusammen: »Resumendo itaque, quae tacta sunt, principium esse unitrinum et ipsum aeternum manifestum. Dico hunc mundum ab unitrino principio id esse, quod est.«23 Die Trinität ist die prozessuale Einheit der Selbstverwirklichung Gottes, die als »Possest« in sich die Kraft enthält, das Moment des Nichts, das im »noch-nicht-Sein« des Könnens liegt, zu überwinden und das Mögliche ins Sein, in die Existenz zu vermitteln. Diese Kraft ist selbst nicht fassbar, sie zeigt sich nur im Übergang von der Möglichkeit in die Wirklichkeit, indem sie das Mögliche zum Wirklichen macht. Wenn man diese Kraft Gottes beschreiben will, dann besteht sie darin, Possibilitas und Actualitas miteinander zu verbinden. Beide sind gleichewig; und sie sind eines »in Principio«. Wenn in Gott als im ersten Prinzip das Mögliche und Wirkliche vereinigt sind, dann ist er der, auf den das Prädikat »possest« zutrifft. Welchen Status hat in diesem »possest« das »posse«? Posse ist das, dem gemäß alles sein kann. Außer dem Posse ist also nichts. Nikolaus unterscheidet den Status des Könnens vom Sein und vom Nichts. Das, was nicht sein kann, ist Nichts. Was sein kann, ist verschieden vom Nichts, aber es existiert auch noch nicht; es umfasst also schlechterdings alles, was ist und sein kann, denn das, was ist, kann logischerweise auch sein. Das ist keine rein modalphilosophische Festlegung, sondern hier werden der logische und der metaphysische Möglichkeitsbegriff als eine besondere Form von Sein begriffen, das in zwei Klassen zerfällt: Das Sein der Möglichkeit und das Sein der Realität. Es ist Gott allein, dessen Kraft beide umfasst, ihm kommen Sein-Können und Sein gleichermaßen zu. Gott umfasst als Possest alles Mögliche und Wirkliche; dieses Possest expliziert philosophisch die Selbstprädikation Gottes »Ich bin der ich bin« (Ex. 3,14). Wer Gott so nenne, erläutert Nikolaus, könne viele Schwierigkeiten mit dem Gottesbegriff schneller lösen24. De Principio. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 218. De Principio. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 220: »Est igitur filius vita vivificans sicut pater eiusdem scilicet naturae et essentiae.« 22 De Principio. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 220. 23 De Principio. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 250. 24 De Possest. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 296 »Qui sibi de Deo conceptum facit quasi significati huius concepti vocabuli possest multa sibi prius difficilia citius capit.« 20 21

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Der Begriff »Possest« fasst nicht nur das Modalverhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit, sondern auch den Begriff Kraft; denn Possest ist die Kraft, die das Mögliche dazu bringt, sich zu verwirklichen. In Gott, der das Mögliche und Wirkliche und damit alles zugleich umfasst, weil er sich ständig verwirklicht, sind Wirklichkeit und Möglichkeit vereinigt. Durch diese Allumfassendheit unterscheidet sich Gott von den Geschöpfen: Die allmächtige Kraft des Principiums geht über jedes Geschöpf hinaus: »Ideo nulla creatura est possest«25. Im Prozess der Schöpfung, die eine von Gott unterschiedene Realität ist, kann deshalb zwischen Möglichkeit (Possibilitas) und Wirklichkeit (Realitas) unterschieden werden; die Schöpfung ist wirklich, weil sie möglich war; und diese Kraft verwirklicht und offenbart sich allein in der Schöpfung durch das wirkende Wort: »qui dicit et facta sunt« (Ps. 32,9)26. Das ist die Kraft des Grundes, der sich nur in Verbindung von Möglichkeit und Wirklichkeit zeigt.

Spekulative Mathematik Die unprädizierbare Prädikation Gottes (»ineffabilis entitas«) hat ihre symbolische Variante in der mathematischen Lehre vom Einen. Nikolaus behandelt sie arithmetisch und geometrisch. Das unbestimmte Eine fasst sich zunächst als Zahl. Schon dieser Prozess zeigt, dass es sich bei der Mathematik darum handelt, »symbolice ac rationabiliter«27 zu reden. Dieser Prozess ist durchaus ein »sich-fassen« und zwar so, dass das Infinitum principium, das infinite simplex ist, sich als Primum principiatum fasst: Das erste aus dem Ursprung Zusammengesetze kann nicht unendlich einfach sein, es kann auch nicht aus anderem zusammengesetzt sein, also muss es aus sich selbst zusammengesetzt sein. Das ist das Prinzip der Zahlen: sie bestehen aus sich selbst. »Numerus est compositus et ex seipso compositus«28; jede Zahl ist durch die Differenz definierbar und fassbar, aber die Zahlen sind in sich selbst gleich: deshalb sind sie einzeln, different und gemeinsam. Es braucht also drei Prinzipien, um die Zahlen zu begreifen. In diesem triadischen Begreifen zeigt sich die Seele als Abbild der göttlichen Trinität. Sie ist selbst triadisch spekulativ: Weil sich die Einheit der Vernunft in der Seele entfaltet, widerstrahlt sie in ihr als in ihrem eigenen Abbild. Wie in der göttlichen Trinität entfaltet sich in ihr die begriffliche Dynamik von Unitas, Aequalitas und Nexus: »Diejenigen aber«, schreibt Nikolaus in De non aliu, »die die Dreieinigkeit als Vater, Sohn und Geist bezeichnen, kommen zwar weniger genau an sie heran, verwenden aber wegen der Entsprechung zur Schrift diesen Namen zu Recht.«29 Diese Entfaltung des göttlichen Lebens ist das Urbild aller De possest. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 301. De possest. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 310. 27 Idiota de mente. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 522. 28 Idiota de mente. Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 522. 29 De non Aliud V, Philosophisch theologische Schriften, Bd. II, S. 464: »Qui vero unitatem, aequalitatem et nexum Trinitatem nuncupant propius accederent, si termini illi sacris in literis reperirentur inserti.« 25 26

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Entfaltung überhaupt, es erschließt das Leben, das in Unitas, Aequalitas und Nexus besteht, und es ist auch der Ursprung der Räumlichkeit. Die Räumlichkeit ist die geometrische Variante der Trinität. Zugrunde liegt die Idee, die Dimensionen des Raumes seien die Entfaltung (explicatio) des unbestimmten Einen30, das sich zunächst geometrisch als Punkt bestimmt31 (complicatio) und sich dann in Zehnerpotenzen in die Dimensionen des Raumes entfaltet (explicatio)32: Die 10 bedeutet die Linie, die 100 die Fläche, die 1000 den Raum; und damit erfüllt sich die Zahlenordnung der Weltwerdung.

Leibniz: Cur potius aliquid quam nihil Monotheismus ist für Leibniz ein ganz zentrales, nicht nur theologisches, sondern metaphysisches Problem Es lässt sich bei der Rede von Gott das Verknäueln von metaphysischen, logischen und theologischen Fragen gar nicht vermeiden. Leibniz ist, wie überhaupt, so auch in diesem Punkt ein radikaler Idealist. Er geht davon aus, dass die wesentliche Realität die der Ideen ist. Was also bedeutet Ratio? Für Leibniz ist Ratio dasselbe wie Denkmöglichkeit, bzw. die Möglichkeit, gedacht werden zu können. Diese Denkmöglichkeit kann beschrieben werden als Kompossibilität von Prädikaten eines Dings. Das heißt: ein Ding ist dann möglich, wenn bei einem Denkgegenstand die vorkommenden Prädikate a b c etc. nicht zugleich negiert werden. Unmöglich ist mithin ein Ding, das die Prädikate a b c – c hätte33. Diesen logischen Möglichkeitsbegriff unterscheidet Leibniz vom metaphysischen, der Kontingenz. Kontingent ist das, was sowohl existieren als auch nicht existieren kann. Auch diese Definition, die ursprünglich von Avicenna stammt, ist ein Topos der skotistischen Schulmetaphysik. Das Argument lautet: Dasjenige ist möglich, dem es nicht widerspricht, nicht zu sein (cui non repugnat non esse).34 Mit diesem zweiten, metaphysischen Möglichkeitsbegriff wird zugleich das Verhältnis von Sein und Nichts (oder nicht-Sein) umfasst; und insofern ist dieser Begriff von Möglichkeit der umfassendste metaphysische Begriff, denn er umfasst Sein und Nichts. Sein und Nichts stehen in einem logischen und zugleich metaphysischen Zusammenhang: beide negieren einander. Leibniz hat eine ähnliche Logikkonzeption wie Avicenna und ordnet die Modalbegriffe wie folgt35: Möglich ist, was keinen Widerspruch impliziert. (Das ist der logische Möglichkeitsbegriff.) Siehe De coniecturis I, VII, De Prima unitate. Idiota de mente IX: »Quomodo mens mensurat faciendo punctum, lineam et superficiem.« 32 De coniecturis I, XVI. 33 Siehe Akademieausgabe (AA) Bd. I, 4, Nr. 314, S. 1634 f. 34 S. o. das Kapitel zu Scotus. 35 AA VI, 4, Nr. 182, 2, S. 865: »Possibile est quod non implicat contradictionem, contingens quod esse non implicat contradictionem. Impossibile quod implicat. Necessarium quod non esse implicat contradictionem.« 30 31

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Kontingent ist, dessen Nicht-Sein keinen Widerspruch impliziert. (Das ist der metaphysische Möglichkeitsbegriff.) Unmöglich ist, was einen Widerspruch impliziert. (Der logische Möglichkeitsbegriff, negiert.) Notwendig ist, dessen Nicht-Sein einen Widerspruch impliziert. (Der metaphysische Möglichkeitsbegriff, negiert.) Es gab nun zwei Wege, die Möglichkeitsbegriffe aufeinander zu beziehen. Der eine bestand darin, danach zu fragen, welchen metaphysischen Status denn der logische Möglichkeitsbegriff hatte – und dann konnte die Antwort nur sein: Der Begriff Möglichkeit ist denknotwendig. In diesem Sinne hatte die Rationalität eine notwendige Existenz, denn die logischen Gesetze kennen keinen Anfang und kein Ende, sie sind ohne Zeitindex. Zum Zweiten bleibt aber die Frage nach dem Begriff der Existenz. Scotus kennt den Unterschied zwischen dem Ens rationis und dem Ens reale, zwischen Gedankending und Realding. Beide haben eine – wenngleich verschiedene – Existenz. Es ist evident, dass die notwendige Existenz der Logik eine Denk-Existenz ist. Dieses Ens rationis – »quod non esse implicat contradictionem« – ist keine Chimäre, sondern verbindliche, notwendige Existenz, durch die das Denken und die Realität gleichermaßen grundgelegt werden. Diesen Prozeß beschreibt Leibniz knapp so: »Ens necessarium est existificans«; und er kommt allein dem Gottesbegriff zu. Dieser Begriff erinnert sehr an das »possest« bei Nikolaus von Kues. Die Ratio, weshalb eher etwas als nichts ist, muss also, stellt Leibniz fest, in einem realen Seienden als in seinem Grunde (causa) liegen. Dieses reale Seiende hat eine begriffliche Existenz, die notwendig ist, weil das, was möglich war, sich in ihm realisiert hat. Diese Realisierung des Möglichen muss über den logischen Möglichkeitsbegriff hinaus die Wirklichkeit des Möglichen bewirken – also die Kausalität für die Verwirklichung ausmachen. Diese Fähigkeit zur Selbstverwirklichung schreibt Leibniz Gott zu: »Est scilicet ens illud ultima ratio rerum, et uno vocabulo solet appellari Deus.« Gott wird hier nicht in seiner Selbstkonstitution beschrieben, sondern als existierender erster Grund. »Est ergo causa cur Existentia praevaleat non-Existentiae, seu Ens necessarium est existificans.«36 Wenn dieser erste Grund selbst möglich sein soll, muss er widerspruchsfrei sein. Das ist für Leibniz kein Problem der Metaphysik des Einen und seiner henologischen Dialektik, die der Liber de Causis aufgezeigt hatte, sondern der Frage nach der Möglichkeit der Kompossibilität göttlicher Prädikate. Leibniz legt deshalb das »cur« des »cur potius aliquid quam nihil« zunächst nach dem Satz des Widerspruchs aus. Es geht nicht um die Einheit und Denkbarkeit des Ersten als Prozess, sondern dieses Erste wird als ein Gedankending, als Ens rationis aufgefasst. Vorausgesetzt wird ein Begriff des Ganzen, das die Einheit seiner Teile ist, nicht eine unbestimmte Einheit als Bedingung der bestimmten.

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Philos. Schriften. Ed. Gerhard (im Folgenden GP) VII, S. 289, Nr. 3,4.

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Die wesentlichen Gottesprädikate sind Perfektion, Allwissen, Allmacht, Weisheit, Gerechtigkeit, Güte, Liebe. Damit sind kategoriale Begriffe eingeführt, die über die Modallogik und Modalmetaphysik weit hinausgehen. Sie werden dem Gottesbegriff zugesprochen; und es geht nun darum, ob ihre Widerspruchsfreiheit bewiesen werden kann. Wenn ein solcher Beweis möglich ist, hat Gott die logische Existenzform des Möglichen. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, einen Begriff zu finden, der die Bedeutungen Allwissen, Allmacht, Güte und Liebe als kompossibel vereinigt. Leibniz’ Lösung ist sein Begriff der göttlichen Gerechtigkeit, den er als »Caritas sapientis« definiert. Diese Definition von Gerechtigkeit ermögliche es, alle göttlichen Prädikate widerspruchsfrei zu vereinigen. Wenn aber Gott möglich sei, stellt er fest, dann sei er auch notwendig. Dieses Argument gilt, weil die göttlichen Prädikate selbst keinen Raum- und Zeitindex haben und folglich ewig sind. Dann ist Gott die widerspruchsfreie Einheit seiner Prädikate. Die Frage danach, worin seine Dynamik besteht, stellt sich nicht; es geht nicht um sein Werden, sondern um sein Sein. Gott ist also ein notwendiges, widerspruchsloses Ens rationis. Allerdings ergibt sich nun die Schwierigkeit, wie Gottes Sein zur Handlung komme; wie also die Schöpfung begründet werden könne, denn dass Gott der Existenzgrund der extramentalen Welt sei, war für Leibniz ausgemacht. Wie muss man sich also die Schöpfung vorstellen? Diese »Gott« genannte Substanz stellt sich nun etwas vor, das gilt im genauen Sinn des Wortes: Sie stellt etwas vor sich selbst, was sie nicht ist. Damit kommt ein neuer, systematisch nicht abgeleiteter Begriff auf, nämlich der der göttlichen Tätigkeit. Diese Tätigkeit produziert zunächst eine geistige Schöpfung, einen Plan. Hier denkt sich Gott nicht selbst, aber dennoch ist der Plan seiner und darf von ihm nicht völlig verschieden sein. Die Inhalte des Plans haben am Göttlichen Anteil, weil Gott ihn denkt. Diese Teilhabe nun macht es aus, dass der Plan die göttlichen Prädikate enthalten muss. Er muss also perfekt im Sinne von moralisch gut und widerspruchsfrei sein. Die Perfektion der Welt hat Leibniz mit seiner genialen Formel »beste aller möglichen Welten« gefasst. Dieses Konzept setzt voraus, dass die möglichen, präkonzipierten Welten zahlreicher sind als die wirklichen; und dass aus den logisch möglichen – d. h. widerspruchsfrei denkbaren – Welten die beste realisiert wird. Das ist die Ratio sufficiens der Existenz der Welt. Wenn Gott die Welt schaffen will, dann schafft er die beste aller möglichen Welten. In diesem Sinne ist Gott dann die Ursache der Welt und eines jeden Wesens, das in seiner Möglichkeit gedacht war und als perfektes selbst zur Existenz drängt – denn Gott, dessen Prädikate Allmacht, Allwissen und Güte sind, ist wegen dieser Prädikation geradezu gezwungen, das beste Mögliche wirklich zu machen. Diesen Drang zur Existenz, der Avicennas »Vehementia essendi« neu fasst, nennt Leibniz »existiturire«.37

37 GP VII, S. 289: »(4) Est ergo causa cur Existentia praevaleat non-Existentiae, seu Ens necessarium est existificans. (5) Sed quae causa facit ut aliquid existat, seu ut possibilitas exigat existentiam, facit etiam ut omne possibile habet conatum ad Existentiam, cum ratio restrictionis ad certa possibilia in universali reperiri non possit. (6) Itaque dici potest Omne possibile Existiturire, prout scilicet fundatur in Ente necessario actu existente, sine quo nulla est via qua possibile perveniret ad actum.«

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Mit der Formel der »besten aller möglichen Welten« wird dieser Drang des existiturire genauer qualifiziert: Nicht die Möglichkeit als solche, sondern die beste aller Möglichkeiten drängt zur Existenz. Diese Spekulation ist freilich theologisch auch wieder nicht ohne Risiko: Auch wenn er Avicennas Möglichkeitsbegriff korrigiert und die realisierte Welt als die beste mögliche fasst, ist Leibniz die Schwierigkeit nicht los, die schon Duns Scotus mit Avicenna hatte: Die Teilhabe der Welt an den göttlichen Prädikaten, d. h. die Univozität der geschöpflichen und der göttlichen Begriffe macht es unausweichlich, dass der gute Gott die beste mögliche Welt aus sich entlässt. Er hat als liebender Gott (»Liebe ist die Freude am Glück des andern«38) auch gar keine Chance, etwas anderes zu machen. Er muss die beste Welt schaffen, weil er ein liebender Gott ist; und der muss die beste Welt schaffen, weil er ein guter Gott ist. Die Rede von der »Wahl« der besten aller möglichen Welten ist deshalb eher erbaulicher Natur.

Von Wolff zu Hegel: Complementum possibilitatis und Grund der Existenz Leibniz hat mit seiner Version der göttlich rationalen Kausalität zumindest erreicht, dass die Schöpfung dergestalt durchrationalisiert ist, dass alle Prozesse vorhergesehen und folglich unausweichlich sind. Die Probleme mit dem Freiheitsbegriff, die daraus folgen, hat er in seiner Theodicée verhandelt. Er hatte den Schritt von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, die Frage nach Kontingenz und Notwendigkeit, zwar bedacht und terminologisch als »existiturire« bestimmt, aber die Frage nach der Freiheit des Menschen, die er in der Theodicée gestellt hatte, überlagerte die Diskussion danach, wie denn der garstig breite Graben zwischen logischer Möglichkeit mit ihren ewigen Wahrheiten und metaphysischer Verwirklichung zu Tatsachen, zwischen Possibilität und Kontingenz übersprungen werden könnte. Die Notizen, in denen er über das »existiturire« nachgedacht hatte, fanden in der Theodicée keinen Ort, sie blieben unveröffentlicht. In der Theodicée war allein, durchaus doppeldeutig und missverständlich, die Rede von der göttlichen »Wahl« der besten aller möglichen Welten. Aber auch in dieser weichen Formulierung blieb das Problem des Sprungs von der möglichen zur wirklichen Welt virulent. Diese »Wahl« musste zur Denkmöglichkeit der besten Welt hinzukommen; es konnte nicht nur die Wahl sein, sondern es musste der göttliche Entschluss zur Verwirklichung des Möglichen erfolgen – und vor diesem Entschluss scheute Leibniz zurück. Ein Entschluss hatte ein unausweichlich letztes irrationales Moment. Aber er musste sich doch ereignen, er musste zur besten aller möglichen Welten hinzukommen, damit sie wirklich wurde. Dieses ineffable Moment des Willens, dessen Ort Leibniz ja in seiner Konstruktion der besten aller möglichen Welten präzise bestimmt hatte, wurde bei Christian Wolff als »Complementum possibilitatis« beschrieDefinition aus Leibniz’ Confessio philosophi: AA VI, 3, S. 116,12: »Amare … felicitate alterius delectari.« 38

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ben. Wolff hatte in seiner lateinischen Ontologie im Zusammenhang der Diskussion um Possibilitas auch den Begriff der Essenz, des Wesens, behandelt. Er unterschied im Sinne der thomanischen scholastischen Tradition zwischen Essentia und Existentia und definierte die Essenz, das Wesen, als widerspruchsfrei und damit als innere Möglichkeit der Dinge. Ein Wesen, eine Essenz, war also das göttlich vorbedachte Ding, dessen Prädikate sich nicht widersprachen. Damit war freilich der Sprung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit noch nicht vollzogen. Aus der Widerspruchsfreiheit der Wesen war nur auf deren Möglichkeit zu schließen. »Über die Möglichkeit des Seins hinaus ist hier etwas erforderlich, damit ein Ding existiert«,39 postulierte Wolff deshalb: Das war das »Complementum possibilitatis«. »So definiere ich«, schrieb Wolff, »die Existenz durch das Complementum possibilitatis«. Und er fuhr fort: »Es heißt die Existenz auch Actualitas.«40 Mit dem »Complementum possibilitatis« war aber der Sprung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, den Leibniz mit dem Konzept der besten aller möglichen Welten und dem »existiturire« rational überbrücken wollte, wieder unbegründbar geworden. Das »Complementum possibilitatis« beschrieb die Kluft zwischen Wesen und Existenz. Es ersetzte das »zureichend« des Satzes vom zureichenden Grunde. Die Struktur war nun folgende: Es gab einen Bereich des Möglichen, der in sich moralisch geordnet war – d. h. die logischen möglichen Welten waren nach dem Prinzip des Besten, das auch moralisch interpretiert wurde, gereiht. Dieser Bereich des Möglichen war der des Erkennbaren, das Reich der Wesen, die für Leibniz Monaden waren; Einheiten, die alle ihre Prädikate in sich enthielten. Worin nun die Realität dieser Einheit der Prädikate bestand, war nicht deutlich. Sie waren zwar als mögliche Wesen erkennbar, aber ihre Realität konnte aus ihrer Erkennbarkeit nicht abgeleitet werden; schließlich waren alle ihre Prädikate nur dadurch bestimmt, dass sie aussagbar und kompossibel waren. Es war also ein Complementum possibilitatis erforderlich. Hegel hat auf diesem Dilemma der Schulphilosophie, das er aus Wolffs Ontologie kannte, seine Lehre vom Wesen als dem Grund der Existenz aufgebaut. Vor dem Hintergrund des Auseinanderfallens von Wesen und Existenz in der Schulphilosophie hat er das Wesen nicht nur als mögliches, sondern als reales Ganzes gefasst. Sollte das Wesen als reales einzelnes Ding erscheinen, dann musste dieses Moment der Realisierung auch Teil des Wesens sein – andernfalls wäre es eben nicht das wirkliche Wesen, sondern nur ein gedachtes. Es gab aber, wie der Begriff Complementum possibilitatis belegt, die Kenntnis des Unterschiedes zwischen möglichen und wirklichen Wesen. Deshalb legt Hegel das Complementum possibilitatis in den Begriff des Wesens hinein, er fasst »Das Wesen als Grund der Existenz«.41 Die Verbindung von Possibilität und Realität ist auch für Hegel ursprünglich der Begriff der Kraft. Die reale Einheit von logischer Möglichkeit und wirklicher Existenz 39 40 41

Wolff: Philosophia Prima, sive Ontologia , Methodo scientifica pertracta, Halle 1728. § 173. Wolff: Ontologie § 174. Enzyklopädie 1830, § 115.

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wird als Wirken des Grundes gefasst. In der Nürnberger Vorfassung der Enzyklopädie hat er diese Wirkung des Grundes als Kraft beschreiben: »Die Teile sind aber nur Teile als gesetzt durch das Ganze. Diese ihre Beziehung ist die Bestimmtheit durch die Einheit des Grundes. Oder die Qualität des Daseins wird durch die Tätigkeit des Grundes als der Form gesetzt, und die Materie der Erscheinung ist sein eigener Inhalt. Er ist somit die Kraft, die sie äußert.«42 Hegel konzipiert die Realität des Wesens hier ganz aristotelisch-scholastisch, als selbständige Verbindung von Materie und lebendiger Form, als Individuum, das durch Materie individuiert wird: »Der Grund ist als dieses Verhältnis das unbedingte, das Innere, die Einheit der Materie als der ruhenden Sichselbstgleichheit und der Form als der Einheit des Gegensatzes. Er stellt sich dar in seinem Dasein als Materie, in der ihre Kräfte ruhen, und als Gegensatz und Spiel der sich erregenden und gegeneinander tätigen Kräfte. Das Wesen ist somit Wirklichkeit geworden«43 In der großen Logik verzichtet er auf den Begriff Kraft und bestimmt das Wesen in drei Schritten: »Das Wesen ist erstens Reflexion. Die Reflexion bestimmt sich, ihre Bestimmungen sind ein Gesetztsein, das zugleich Reflexion in sich ist«44. Das bedeutet in den Termini der Schulphilosophie: Das Wesen ist eine Einheit von kompossiblen Begriffen, die ihm selbst zugehören, die verschiedene Begriffe sind für die Definition des Wesens nötig. Es sind »zweitens diese Reflexions-Bestimmungen oder die Wesenheiten zu betrachten«. Das meint, verschiedene Einheiten einander zugehöriger Bestimmungen machen verschieden Wesen in ihrer je unterschiedlichen Gänze aus. »Drittens macht sich das Wesen, als die Reflexion des Bestimmens in sich selbst, zum Grunde und geht in die Existenz und Erscheinung über.« Das ist das Moment des »existiturire« und der »Vehementia essendi«, nach der ein Wesen erst dann wirklich existiert, wenn es den Grund seiner Existenz in sich hat. Der Begriff Kraft kommt nicht mehr vor. Ein Wesen kann nur dann wirklich eines sein, wenn es kein Gedankending bleibt, sondern sich realisiert, indem es sich in der Materie individualisiert. Es kann aber nur dann ein existierendes Wesen sein, wenn seine Existenz sich als eine fasst, die unterschiedliche Attribute in sich wirkend und wirklich vereinigt. Hegels formuliert die Possibilität eines Wesens als Reflexion und reine Vermittlung mit sich und er verschränkt dieses logische Wesen mit seiner metaphysischen Wirklichkeit. »Die Reflexion ist die reine Vermittlung überhaupt, der Grund ist die reale Vermittlung des Wesens mit sich.«45 Mit der Rede vom »Grund der Existenz« fasst Hegel auch den Gedanken der Selbstverwirklichung des Möglichen neu, den Leibniz als seine Version des ontologischen Gottesbeweises gefunden hatte. Leibniz hatte gejubelt: Wenn Gott möglich ist, dann ist er notwendig. Hegel überträgt diese göttliche Selbstverwirklichung auf die Realität: Für ihn ist das Reale dasjenige vernünftige Wesen, das seine Verwirklichung in sich enthält – es ist vernünftig, weil es seine Attribute als Einheit je auf sich bezieht; es ist wirklich,

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Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse (1808 ff) § 43. Werke 4. Frankfurt 1970, S. 19. Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse (1808 ff) § 47. Werke 4. Frankfurt 1970, S. 20. Wissenschaft der Logik, Hamburg 1963, Bd. II, S. 7. Wissenschaft der Logik, Hamburg 1963, Bd. II, S. 64.

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weil die Realisierung der Prozess seiner Selbstkonstitution als Individualität ist, indem logisch Mögliches und Wirkliches sich als identisch erweisen. Deshalb gilt für alle Realität: Was vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich ist, ist vernünftig. Das ist Hegels Fassung des Satzes vom Grund.

Der grundlose Grund des Satzes vom Grunde bei Schopenhauer Matthias Koßler

Der Ausdruck »grundloser Grund des Satzes vom Grunde« läßt sich fast wörtlich in »irrationales Fundament der Rationalität« übersetzen; und wer ein wenig mit der Rezeptionsgeschichte der Philosophie Schopenhauers vertraut ist, wird sogleich an dessen Einordnung als Hauptvertreter des Irrationalismus erinnert: Der Wille als dumpfer, ziel- und bewußtloser Trieb macht das Wesen der Welt aus, und die Vernunft ist nur ein Produkt seines Treibens, machtlos angesichts seiner Abgründigkeit. Ohne diese Charakterisierung nun als völlig verfehlt zu bezeichnen, möchte ich in meinem Beitrag aber zeigen, daß sich die Sache bei Schopenhauer weitaus komplizierter verhält und die Etikettierung als Irrationalist unpassend ist1. Schon hinsichtlich des Titels dieses Beitrags ist auf eine Schwierigkeit hinzuweisen: Es gibt nämlich laut Schopenhauer keinen grundlosen Grund in dem Sinne, daß etwas Grund für etwas anderes sein könnte, ohne selbst wiederum Folge eines Grundes zu sein. Die Rede von Gründen hat für ihn Gültigkeit nur innerhalb des Geltungsbereichs des Satzes vom Grunde, der ja eben besagt, daß nichts ohne Grund sei. Daher ist Schopenhauer gegen die Wortbildungen »Urgrund« oder »Ungrund«, wie er sie bei Böhme und Schelling findet, allergisch2. Für ihn sind das Versuche, die Formen des Satzes vom Grunde »als einen Springstock« zu gebrauchen, »um damit die allein ihnen Bedeutung gebende Erscheinung selbst zu überfliegen und im gränzenlosen Gebiet leerer Fiktionen zu landen.«3 In diesem Sinne kann also von einem Grund des Satzes vom Grunde bei Schopenhauers Werke werden zitiert nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, hg. von Arthur Hübscher, Wiesbaden 21946–1950. Für die einzelnen Werke werden die im Schopenhauer-Jahrbuch angegebenen Abkürzungen verwendet: G = Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (Bd. 1); W, I/II = Die Welt als Wille und Vorstellung (Bd. 2/3); N = Ueber den Willen in der Natur (Bd. 4); E = Die beiden Grundprobleme der Ethik (Bd. 4); P, I/II = Parerga und Paralipomena (Bd. 5/6); Diss. = Dissertation, Gestrichenes, Zitate, Register (Bd. 7). Schopenhauers nachgelassene Schriften werden zitiert nach der Ausgabe: Arthur Schopenhauer: Der Handschriftliche Nachlaß, hg. von Arthur Hübscher, 5 Bde. München 1985 (HN, I–V). 2 G, 16: »[…] so ließ Hr. von Schelling (in seiner Abhandlung von der menschlichen Freiheit) in Gott selbst den Grund und die Folge auseinandertreten, konsolidirte also die Sache noch viel besser dadurch, daß er sie zu einer realen und leibhaften Hypostase des Grundes und seiner Folge erhob, indem er uns mit etwas bekannt machte, das in Gott nicht Er selbst sey, sondern sein Grund, als ein Urgrund, oder vielmehr Ungrund.’ Hoc quidem vere palmarium est«; HN I, 160: »Jakob Böhm hascht beständig nach den Ideen der Dinge und möchte sie fassen und darstellen: aber überall ergreift ihn wieder der Satz vom Grund und zwingt ihn statt dessen Mährchen zu erzählen.« Vgl. W I, 322, HN IV,2, 10. 3 W I, 321. An der Stelle setzt Schopenhauer seine eigenes Verfahren entgegen: »Unser philosophisches Bestreben kann bloß dahin gehn, das Handeln des Menschen, die so verschiedenen, ja entgegengesetzten Maximen, deren lebendiger Ausdruck es ist, zu deuten und zu erklären, ihrem innersten Wesen und Gehalt nach, im Zusammenhang mit unserer bisherigen Betrachtung und gerade so, wie wir bisher 1

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Schopenhauer nicht gesprochen werden, schlicht, weil er selbst nicht unter das Verhältnis fallen kann, das er als Prinzip ausspricht: Der Satz vom Grunde ist »schlechthin unerklärlich […] weil er das Princip aller Erklärung ist.«4 Wenn dennoch im folgenden vom Willen als »grundlosem Grund« des Satzes vom Grunde gehandelt werden soll, dann muß ein anderes Verständnis von »Grund« vorausgesetzt werden, als das von Schopenhauer allein zugelassene, wie er es in den vier Gestalten des Satzes vom Grunde expliziert hat. Anlaß zu einer solchen Überlegung gibt Schopenhauer selbst, indem er bei aller Unerklärlichkeit des Satzes vom Grunde dessen Gültigkeit als »bedingt« und »relativ« bezeichnet5. Zunächst scheint sich die Bedingtheit des Satzes vom Grunde auf die transzendentalidealistisch begründete Abhängigkeit der durch ihn verknüpften Objekte vom erkennenden Subjekt zu beziehen: er ist »wie diese Objekte selbst, immer nur in Beziehung auf das Subjekt, also bedingterweise da«6. Da Schopenhauer aber von der aller Erkenntnis vorausgesetzten Korrelativität von Subjekt und Objekt ausgeht, kann diese Bedingtheit nicht als Grund-Folgeverhältnis gefaßt werden. So betont er, daß zwischen Subjekt und Objekt als Korrelaten der Vorstellung kein Verhältnis von Grund und Folge statt hat7. Zu einem Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis kommt es jedoch dadurch, daß das erkennende Subjekt mit dem Subjekt des Wollens identisch ist – eine Identität, die Schopenhauer den »Weltknoten und daher unerklärlich« genannt hat8. Das Gegebensein der Subjekt-Objekt-Korrelation stellt sich als bedingt durch den Willen heraus. Dieser Gedanke führt dazu, daß Schopenhauer oft genug selbst die von ihm gezogenen Grenzen der Gültigkeit des Satzes vom Grunde ignoriert, wenn er etwa den Intellekt, dessen Gesetzmäßigkeiten im Satz vom Grunde zusammengefaßt sind, als »Produkt, oder vielmehr Aktion« des Gehirns und dieses wiederum als »Produkt oder Erscheinung« des Willens betrachtet9; oder wenn er von dem im »Dienst des Willens« stehenden Intellekt spricht10. Die Zusätze »oder vielmehr Aktion« bzw. »oder Erscheinung«, die er hier bei der Rede vom »Produkt« anfügt, deuten darauf hin, daß er sich der Problematik bewußt war. Es handelt sich um einen Aspekt der übergreifenden Problematik,

die übrigen Erscheinungen der Welt zu deuten, ihr innerstes Wesen zur deutlichen, abstrakten Erkenntniß zu bringen gesucht haben.« 4 W I, 96; vgl. G, 23 f., 156. 5 W I, 38, 497; vgl. P II, 37. 6 W I, 137. Insofern Schopenhauer an anderer Stelle (P I, 247) den Satz vom Grund als das »ausnahmslose Princip der Abhängigkeit und Bedingtheit« bezeichnet, dürfte allerdings bei der Korrelation zwischen Subjekt und Objekt nicht von Bedingtheit gesprochen werden. 7 W I, 15 f.: »[…] so gehn Objekt und Subjekt, schon als erste Bedingung aller Erkenntniß, daher auch dem Satz vom Grunde überhaupt, vorher, da dieser nur die Form alles Objekts, die durchgängige Art und Weise seiner Erscheinung ist; das Objekt aber immer schon das Subjekt voraussetzt: zwischen Beiden also kann kein Verhältniß von Grund und Folge seyn.« 8 G, 143. 9 W II, 224. 10 Z. B. P II, 72. Im ersten Fall wird der Satz vom Grunde des Werdens, das Gesetz der Kausalität, gleich zweimal unzulässig angewandt, im zweiten Fall der Satz vom Grunde des Handelns, das Gesetz der Motivation.

Der grundlose Grund des Satzes vom Grunde bei Schopenhauer

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die mit einer »immanenten Metaphysik«11, wie sie Schopenhauer anstrebte, notwendig verknüpft ist, nämlich um die Frage, wie ich von dem Verhältnis der Erfahrungswelt zu dem über sie Hinausgehenden sprechen kann, wenn alle Verhältnisbestimmung nur innerhalb des durch den Satz vom Grunde bestimmten Bereichs der Erfahrung möglich ist. Schon von seinen frühesten philosophischen Aufzeichnungen an hatte Schopenhauer, angeregt durch seinen Lehrer Gottlob Ernst Schulze, an Kant kritisiert, er habe unzulässigerweise das Ding an sich zur Ursache der Erscheinung gemacht12, hat aber selbst große Schwierigkeiten, vor allem bei der zentralen Lehre vom Primat des Willens vor dem Intellekt, derartige Formulierungen zu vermeiden. Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, daß es sich um eine Problematik handelt, die auch gegenwärtig in der neurophilosophischen Debatte um das Verhältnis zwischen physiologischen und mentalen Zuständen eine Rolle spielt.

I. Wenn nun der Ausdruck »grundloser Grund« eher ein Problem als dessen Lösung bei Schopenhauer anspricht, dann ist es angebracht, die Entwicklung dieser Problematik von der ersten publizierten Schrift, der Dissertation von 1813 ausgehend zu verfolgen. Denn hier geht Schopenhauer in der Tat noch – im Gegensatz zur zweite Auflage – von der Möglichkeit eines grundlosen Grundes aus, und zwar in bezug auf das Wollen, das erst später zum Fundament einer Metaphysik gemacht wird. Hier ist es für ihn Tatsache, »daß das Wollen a parte posteriori unter dem Gesetz der Kausalität stehe, indem es tatsächlich auf die realen Objekte wirkt, unter denen das unmittelbare Objekt des Erkennens, der Leib, auch unmittelbares Objekt des Wollens ist.« Hingegen a parte priori gilt »für den Willen das Gesetz der Kausalität nicht«13. Der Punkt, an dem die Akausalität a parte priori des Wollens bemerkbar wird, ist der Entschluß, der zur wirklichen Handlung führt; denn er läßt sich, anders als das Vorhandensein von Objekten oder Vorstellungen, die Motive werden können, nicht auf Real- oder Erkenntnisgründe zurückführen. »Wir müssen daher den Entschluß entweder als etwas ganz Unbedingtes, keiner Regel Unterworfenes ansehn, oder einen Zustand des Subjekts des Wollens als notwendige Bedingung zum Entschluß voraussetzen [Hervorh. M.K.].«14 Im ersten Fall wäre jede menschliche Handlung etwas ganz und gar Unerklärliches, wir könnten nicht fragen, ›warum‹ sie stattfand, und das heißt auch: sie könnte nicht Gegenstand einer moralischen Beurteilung oder auch nur Zurechnung zum Handelnden und seiner Verantwortung sein. Um also die Frage nach einem Grund des Handelns zu ermögli-

W II, 203. Zur Problematik vgl. John E. Atwell: Schopenhauer on the Character of the World: The Metaphysics of Will, Berkeley u. a. 1995, S. 106 ff. 12 Zum Beispiel HN II, 266 f., 421. W I, 516. Vgl. Martin Booms: Aporie und Subjekt. Die erkenntnistheoretische Entfaltungslogik der Philosophie Schopenhauers, Würzburg 2003, S. 68 f. 13 Diss., 74. 14 Diss., 75. 11

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chen, nimmt Schopenhauer einen unmittelbar »gar nicht erkennbaren außer der Zeit liegenden gleichsam permanenten Zustand« des Subjekts des Wollens an und verbindet diese Annahme mit Kants Lehre vom intelligiblen und empirischen Charakter. Der intelligible Charakter kann gemäß dem empirischen Charakter, der aus Beobachtung zu erschließenden Handlungsweise eines Menschen, als die »nothwendige Bedingung zum Entschluß« gedacht werden.15 Es läge nun nahe, den Charakter, indem er Bedingung des Entschlusses, der zur Handlung führt, ist, als »Grund« der Handlung zu bezeichnen und damit zugleich eine Unterscheidung zwischen »Grund« und »Ursache« einzuführen, insofern ja das Wollen a parte priori einerseits als akausal bezeichnet aber doch als im Charakter »gegründet« angesehen wird. »Grund« wäre dann nicht kausal im Sinne des Grund-Folgeverhältnisses zu verstehen, sondern eher topologisch, als der Boden, auf dem Objekte oder Vorstellungen als Motive Wirkung entfalten können16. Der Charakter oder Wille könnte in diesem Sinne als grundloser Grund bezeichnet werden, da es für ihn weder eine Ursache noch einen tiefer liegenden Grund gibt. Aber merkwürdigerweise reserviert Schopenhauer den Begriff ›Grund‹ allein für das Motiv: »Das Motiv ist also dem empirischen Karakter zureichender Grund des Handelns. Doch sind die Umstände, welche eben Motive zum Handelns werden nicht Ursache dieses als ihrer Wirkung, weil die Handlung nicht aus ihnen, sondern aus dem von ihnen sollicitirten empirischen Karakter erfolgt […].«17 Obwohl hier zuletzt sogar gesagt wird, daß die Handlung aus dem Charakter erfolgt, wird der Begriff »Grund« dem Motiv zugesprochen. Der Anteil des Charakters, der ja die »Umstände« erst zu Motiven macht, wird dabei heruntergespielt mit dem Effekt, daß das Motiv, in dem so der Charakter gleichsam aufgehoben ist, wie eine Wirkursache erscheint. Der Unterschied zwischen dem Gesetz der Kausalität und dem Gesetz der Motivation besteht nicht mehr in einer unterschiedlichen Gesetzmäßigkeit18, sondern nur darin, daß das Gesetz der Motivation bedingt ist durch den Charakter. Daß schließlich auch noch dieser Unterschied verschwindet, wird erst in der zweiten Auflage der Schrift über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde deutlich, in der Schopenhauer zwei für die Entwicklung seiner Philosophie entscheidende Konsequenzen zieht.

Diss., 76. Die topologische Bedeutung von ›Grund‹ ist bekanntlich die ursprüngliche, die sich im Sinne von ›Tiefe‹ und ›unterste Fläche‹ bis in die Mystik des 14. / 15. Jh. durchgehalten hatte. Für Schopenhauer wäre es interessant, daß die Bedeutungsverschiebung in Richtung von ›Ursache‹ mit der Bestimmung des Willens als Grund bei Johannes Tauler angesetzt wird. Zu seiner Zeit war jedoch die kausale Bedeutung so dominant, daß er aufgrund der im folgenden dargelegten Überlegungen die Verwendung des Begriffs ›Grund‹ in bezug auf den Willen radikal ablehnte. 17 Diss., 78. 18 Vgl. E, 44: S. 44: »Es ist durchaus weder Metapher noch Hyperbel, sondern ganz trockene und buchstäbliche Wahrheit, daß, so wenig eine Kugel auf dem Billard in Bewegung gerathen kann, ehe sie einen Stoß erhält, eben so wenig ein Mensch von seinem Stuhle aufstehn kann, ehe ein Motiv ihn weg zieht oder treibt: dann aber ist sein Aufstehn so nothwendig und unausbleiblich, wie das Rollen der Kugel nach dem Stoß.« 15 16

Der grundlose Grund des Satzes vom Grunde bei Schopenhauer

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Zum einen wird die Motivation als eine Form der Kausalität unter den Satz vom Grunde des Werdens subsumiert (also das Gesetz der Motivation als eine bestimmte Form des Gesetzes der Kausalität betrachtet). Damit wird der Satz vom Grunde des Handelns als eigenständige Gestalt de facto abgeschafft, auch wenn er als Kapitelüberschrift in der zweiten Auflage noch beibehalten wird. Zugleich wird innerhalb des Satzes vom Grunde des Werdens eine Differenzierung in mehrere Formen der Kausalität vorgenommen, je nachdem ob die Ursache als Ursache im engeren Sinne (oder mechanische Ursache) – im Bereich der anorganischen Natur – , als Reiz – im Bereich der vegetativen Natur – oder als Motiv – bei den erkennenden Lebewesen: Tier und Mensch – auftritt. Diese verschiedenen »Wirkungsweisen« der Ursache werden sodann analog zum Handeln menschlicher Charaktere auf Beschaffenheiten als Bedingungen zurückgeführt, die zunächst ebenfalls »Charaktere« oder Qualitäten genannt werden, später im Rahmen der entwickelten Willensmetaphysik auch »Ideen«.19 Es ist also nicht nur so, daß das menschliche Handeln unter das streng determinierende Kausalgesetz gebracht wird, sondern umgekehrt werden auch zugleich Fälle des Kausalitätsgesetzes nach dem Vorbild der Motivation als bedingte aufgefaßt: »Die Motivation ist die Kausalität von innen gesehn«20; auf diese Feststellung beschränkt sich der Inhalt des Kapitels über den Satz vom Grunde des Handelns in der zweiten Auflage der Dissertation. Zum anderen spricht Schopenhauer, als zweite Konsequenz aus der frühen Charakterlehre, dem Wollen die Kausalität auf das Handeln (also auch die Kausalität a parte posteriori) ab. Da der intelligible Charakter als außer der Zeit liegender bestimmt wurde und die Zeit der »Urtyp« des Satzes vom Grunde ist21, auf dem alle anderen Gestalten aufbauen, kann der Wille nirgends in die Reihe der Gründe und Folgen eintreten. Hinzu kommt, daß im Anschluß an die Dissertation die Lehre vom Willen als Ding an sich entwickelt wird, das gegen die Formen der Erscheinung: Raum. Zeit und Kausalität definiert ist. An die Stelle der Kausalrelation zwischen dem Subjekt des Willens und seinen Handlungen tritt ein von der Zeit unabhängiges Verhältnis, das von Schopenhauer als »Sichtbarkeit« oder »Spiegeln« umschrieben22 und im Hauptwerk schließlich durch den künstlichen Terminus »Objektivation« bzw. »Objektität« ausge-

Vgl. W I, 185 f.: »Der intelligible Charakter fällt also mit der Idee, oder noch eigentlicher mit dem ursprünglichen Willenskat, der sich in ihr offenbart, zusammen: insofern ist also nicht nur der empirische Charakter jedes Menschen, sondern auch der jeder Thierspecies, ja jeder Pflanzenspecies und sogar jeder ursprünglichen Kraft der unorganischen Natur, als Erscheinung eines intelligibeln Charakters, d. h. eines außerzeitlichen untheilbaren Willensaktes anzusehn.« 20 G, 145. Die Subsumtion der menschlichen Handlungen unter die Naturkausalität und die Willensmetaphysik bedingen sich gegenseitig. Daher muß Schopenhauer die naturgesetzliche Determination des Handelns aus systematischen Gründen immer betonen, gerade um seine Metaphysik zu konzipieren, die »schon selbst ursprünglich ethisch ist, aus dem Stoffe der Ethik, dem Willen, konstruirt ist« (N, 141). 21 G, 150. 22 Zum Beispiel HN I, 91, 106. Zur Entwicklung vom Kausalitäts- zum Spiegelverhältnis und zu ihrer Bedeutung für Schopenhauers Philosophie vgl. Matthias Koßler: Life is but a Mirror: On the Connection between Ethics, Metaphysics and Character in Schopenhauer, in: European Journal of Philosophy 16/2 (2008), S. 230–250. 19

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drückt wird23. Das Subjekt des Willens ist dann nicht mehr Ursache seiner Handlungen, sondern die Handlungen sind der Spiegel des Charakters des Subjekts. Nimmt man diese beiden Entwicklungen zusammen, so steht die Welt als Wille und Vorstellung in ihren Grundzügen da, und es ist durchaus ernst zu nehmen, wenn Schopenhauer in der zweiten Auflage der Schrift über den Satz vom Grunde schreibt, daß die Einsicht »Die Motivation ist die Kausalität von innen gesehn« der »Grundstein meiner ganzen Metaphysik« ist24. Von innen gesehen ist alles zeitloser, grundloser, zielloser und erkenntnisloser Wille, was von außen gesehen die durch den Satz vom Grunde gestaltete Welt der Vorstellung ist. Mit der Konzeption der Objektivation des Willens glaubt Schopenhauer das Problem des grundlosen Grundes gelöst zu haben: Der Wille ist Bedingung der Welt als Vorstellung unter dem Satz vom Grunde nicht als deren Grund oder Ursache (was für ihn zumindest im Bereich des Empirischen dasselbe ist), sondern so, wie das Sichtbare Bedingung für sein Gesehenwerden ist. Das Modell für das Verhältnis von Wille und Welt ist die Charakterlehre in der Dissertation. Dort war der intelligible Charakter eine »Annahme«, etwas, was »gedacht« werden mußte, um ein Gesetz der Motivation behaupten und die Frage nach dem »Warum« von Handlungen stellen zu können. Allerdings handelt es sich bei dieser Annahme nicht um eine bloße Hypothese, denn sie ist auf der inneren Erfahrung einzelner Willensakte gegründet; lediglich die Einheit des sich jeweils in den Willensakten kundtuenden Inneren, die die Handlungen in einen Zusammenhang bringt, wird hinzugedacht. Übertragen auf die Welt als Wille und Vorstellung bedeutet das, daß der Wille als Ding an sich eine auf innerer Erfahrung gründende Annahme ist, die Erklärungen in der Natur nach dem durchgängig gültigen Gesetz der Kausalität möglich macht, selbst aber außerhalb dieses Gesetzes steht und somit keine Erklärung darstellt. Im Hauptwerk wird dieses Verfahren der Philosophie als die »Deutung« und »Auslegung« des »Ganzen der Erfahrung« bestimmt: »Das Ganze der Erfahrung gleicht einer Geheimschrift, und die Philosophie der Entzifferung derselben, deren Richtigkeit sich durch den überall hervortretenden Zusammenhang bewährt. Wenn dieses Ganze nur tief genug gefaßt und an die äußere die innere Erfahrung geknüpft wird; so muß es aus sich selbst gedeutet, ausgelegt werden können.«25 Das »Ganze der Erfahrung« umfaßt dabei die innere und äußere Erfahrung, die materiellen und die mentalen Gegebenheiten, deren Kausalerklärungen nur dann ihre Aufgabe der Beantwortung der Frage »warum?« erfüllen, wenn das »Was«, auf das sich die Frage bezieht, durch kohärente Deutung erschlossen ist. Mit dieser für seine Zeit neuartigen Bestimmung der Philosophie als Hermeneutik der Erfahrung, die keine Erklärung dafür sucht, »warum« die Welt ist, sondern das »wahre Verständniß«26 davon, »was« die Welt ist, reagiert Schopenhauer auch auf das Z. B. W I, 119 f., 152. G, 145. 25 W II, 202 f. 26 W II, 204. Zur Diskussion um Schopenhauers Bedeutung für die Entwicklung der philosophischen Hermeneutik vgl. Daniel Schubbe: Philosophie des Zwischen. Hermeneutik und Aporetik bei Schopenhauer, Würzburg 2010. 23 24

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Problem einer »immanenten Metaphysik«, wie es vorhin angesprochen wurde, nämlich wie man von dem Verhältnis der Erfahrungswelt zu dem über sie Hinausgehenden sprechen kann, wenn alle Verhältnisbestimmung nur innerhalb des durch den Satz vom Grunde bestimmten Bereichs der Erfahrung möglich ist. So ist es nicht zu vermeiden, Formulierungen zu benutzen, die Grund-Folge-Verhältnisse in einem weiteren Sinne enthalten. Schopenhauer spricht davon, daß der Wille »wirkt«, daß er »sich offenbart«, oder daß der Intellekt aus dem Willen »hervorgeht«27, andere Beispiele sind oben schon genannt worden. Bisweilen versucht Schopenhauer, der Schwierigkeit dadurch zu begegnen, daß er derartige Formulierungen mit dem Vorbehalt der uneigentlichen oder bloß bildlichen Rede vorbringt28. Im allgemeinen bleibt aber nur die immer wieder eingeflochtene Versicherung: »der Wille ist nie Ursache: sein Verhältniß zur Erscheinung ist durchaus nicht nach dem Satz vom Grunde, sondern was an sich Wille ist, ist andererseits als Vorstellung da, d. h. ist Erscheinung: als solche befolgt es die Gesetze, welche die Form der Erscheinung ausmachen […]«29 Diese noch etwas hilflose Art, den Status philosophisch-hermeneutischer Rede von der der Wissenschaft abzugrenzen, leistet natürlich dem Mißverständnis einer kausalen und substantialistischen Willensauffassung Vorschub. Bezeichnend ist allerdings, daß Schopenhauer auch bei der uneigentlichen Redeweise die Ausdrücke »Grund« und »Ursache« konsequent vermeidet. Beide Begriffe stehen bei ihm für die erklärende Wissenschaft, von der es sich abzugrenzen gilt. Eine Differenzierung zwischen einer kausalen und einer topologischen Bedeutung der Rede vom Grund ist, wie zu sehen war, bei ihm nicht zu finden. Wenn Schopenhauer zwischen »Grund« und »Ursache« differenziert, dann nur in dem Sinne, daß »Grund« im engeren Sinne für Erkenntnisgrund und »Ursache« für Realgrund steht30. Aber gerade diese Zuordnung hätte ihn durchaus auf eine weiterreichende Differenzierung bringen können. Denn beim Satze vom Grunde des Erkennens gibt es nun doch grundlose Gründe, ganz im Widerspruch zu der allgemeinen Definitionen der »Wurzel« des Satzes vom

W I, 136, 170, 181. Z. B. W II 225; vgl. a. die einschränkenden Bemerkungen über die Grenzen der Darstellbarkeit in der Naturphilosophie W I, 172, 173, 193. Besonders interessant in unserem Zusammenhang ist ein später gestrichener Zusatz in der ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung von 1819: An die Stelle in W I 601: »Wenn von Ursache und Wirkung geredet wird, darf das Verhältniß des Willens zu seiner Erscheinung (oder des intelligibeln Charakters zum empirischen) nie herbeigezogen werden …«, hatte Schopenhauer ursprünglich angefügt: »ja es kann eigentlich nur gleichnißweise ein Verhältniß genannt werden« (vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Faksimiledruck der ersten Auflage von 1819 [1818]. Frankfurt /M 1987, S. 692). Vgl. a. HN I, 347 f.: »Das Verhältniß des Willens zur Vorstellung aber ist toto genere verschieden von allen Verhältnissen der Vorstellungen zu einander, d. h. ist nicht gemäß dem Satz vom Grunde. Es kann daher auch nur metaphorisch ein Verhältniß genannt werden. Hier liegt das eine große Mysterium der Objektität des Willens.« 29 W I, 166. 30 Diss., 9, 13 f., 16. Diese Differenzierung kommt fast nur in der Dissertation im Rahmen des historischen Überblicks vor, an Stellen, die aus der ersten Auflage auch in die zweite übernommen wurden. Lediglich in E 7 f. findet sich noch ein Anklang, doch wird hier schon deutlicher der Begriff Ursache dem des Grundes untergeordnet. 27 28

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Grunde, nach der »nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann«31. Grundlose Erkenntnisgründe sind die transzendentalen und metalogischen Wahrheiten, die als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung oder des Erkennens überhaupt nicht erklärbar sind – unter ihnen eben der Satz vom Grunde selbst, der wie gezeigt notwendig unerklärlich ist, aber zugleich doch Urteile begründet32. Berücksichtigt man die hermeneutische Funktion des Willensbegriffs als eine auf Erfahrung gestützte Annahme, aufgrund derer Kausalerklärungen erst möglich werden, so ist es durchaus nicht abwegig, ihn als eine besondere Art von Erkenntnisgrund zu fassen, der entsprechend als grundloser Grund zu bezeichnen wäre. Freilich müßte Schopenhauer den Unterschied zwischen Real- und Erkenntnisgrund neu bestimmen, da er ja erst im Anschluß an die Dissertation den Gedanken sowohl einer hermeneutischen philosophischen Methode als auch einer »veränderten«, nicht nach dem Satz vom Grunde verfahrenden Erkenntnisweise33 entwickelt hatte. In der reifen Philosophie fällt einerseits das Erkennen mit dem Vorstellung-sein, d. h. mit der empirischen Realität zusammen: Der Verstand konstituiert die Welt als Vorstellung durch seine Grundform, die Kategorie der Kausalität, während die Vernunft ein von ihm abgeleitetes Vermögen zur Bildung von »Vorstellungen von Vorstellungen«34 sein soll. Da die Kausalität nichts anderes ist als die »Vereinigung von Raum und Zeit«35 durch den Verstand, werden schließlich nicht nur die Motivation, sondern auch das Erkennen und die Wahrnehmung von Raum und Zeit auf das Kausalverhältnis reduziert, so daß im Hauptwerk der Satz vom Grunde schlicht mit Kausalität gleichgesetzt wird36. Andererseits gibt es dann aber auch ein Erkennen »unabhängig vom Satze des Grundes«, die Kontemplation37. Schopenhauer hat jedoch aus verschiedenen Gründen, die hier nicht erörtert werden können, bei seiner Überarbeitung der Schrift über den Satz vom Grund auf eine fällige Neufassung verzichtet und es bei einer bloß rudimentären Bestimmung seines hermeneutischen Ansatzes belassen. Im folgenden soll versucht werden, das Verhältnis von Wille und Satz vom Grund anhand von Hinweisen aus der Welt als Wille und Vorstellung genauer zu bestimmen.

G, 27. Vgl. G, 108 f., 156. Zur Kritik an Schopenhauers Aletheiologie vgl. Rudolf Malter: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad-Cannstatt 1991, S. 138 ff. 33 Vgl. W I, 477. 34 Diss., 49; G, 98. 35 W I, 560 f. 36 Schon in einer Anmerkung zu Kants Kritik der Urteilskraft, die den Keim zur Abhandlung über den Satz vom Grund enthält (vgl. HN I 63) vermutet Schopenhauer, daß die gemeinschaftliche Wurzel der »4 rationes« die Kategorie der Kausalität ist (HN II 293). 37 W I, 197. 31 32

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II. Ausgangspunkt ist die zur Abgrenzung gegen eine wie immer geartete Grund-FolgeBeziehung verwendete Formulierung »… was an sich Wille ist, ist andererseits als Vorstellung da …« (s. o.). Die Vorstellung ist dem Satz vom Grunde unterworfen, also ist das Verhältnis zunächst das der Identität: was an sich Wille ist, ist andererseits GrundFolge-Beziehung. Es ist aber auch zugleich ein Unterschied, der sich in der Gegenüberstellung von Innen und Außen, Wesen und Objektivation, Ding an sich und Erscheinung ausdrückt. Diese Einheit von Identität und Unterschied führt nach Hegel auf den Begriff des Grundes als der Wahrheit des Wesens, das erscheinen muß38. Der springende Punkt bei Schopenhauer ist nun aber, daß mit der Bestimmung des Wesens als Wille das Wesen nicht, wie bei Hegel, erscheinen muß. Der freie Wille kann nicht Grund sein, aus dem die Erscheinung als Folge hervorgeht, weil er sich verneinen, nichtwollen kann und damit Grund und Folge nicht vorhanden sind. Anders ausgedrückt: Der Wille ist keine logische Kategorie wie der Grund bei Hegel; er liegt jedem kategorialen Rahmen als Bedingung voraus wie die Transzendentalien. Auch um den mißverständlichen Ausdruck »Bedingung« zu vermeiden, könnte man in dem Zusammenhang besser von einer »Prägung« sprechen, die die Welt als Vorstellung durch den Willen erhält39. Diese Bezeichnung nimmt auch die Herkunft der Verhältnisbestimmung aus der Charakterlehre mit auf: So, wie der Charakter den Handlungen ein bestimmtes Gepräge gibt, so der Wille der Welt der Erscheinungen durch die Form des Satzes vom Grunde.. Bei den jeweiligen Einzelfällen hängt daher nach Schopenhauer die Kette der Gründe und Folgen an der Beziehung auf das wollende Subjekt, an dessen Interesse, denn nur durch die Beziehungen des Satzes vom Grunde »ist das Objekt dem Individuo interessant«40. Das Erkennen unter dem Satz vom Grunde erweist sich so als »Medium der Motive«. Daher gehen in der Dissertation die Kausalreihen »in indefinitum«41, nämlich so weit das Interesse und die Ausdauer des Intellekts reichen; erst nach seiner Kritik am Begriff eines aktual Unendlichen im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Kants dritter Antinomie ersetzt er »indefinitum« durch »infinitum«42 in dem Sinne bloß potentieller Unendlichkeit. Ergänzend könnte man aus der Fundierung der Kausalität im Willen auch ein Kriterium für die bei Schopenhauer unklare Unterscheidung zwischen bloßer Sukzession und Ursache-Wirkungsverhältis43 gewinnen: Aus den un-

Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II, (Theorie Werkausgabe, Bd. 6), Frankfurt / M 1969, S. 84, wo der Grund bestimmt wird als »das Wesen, das in seiner Negativität mit sich identisch ist«; ebd., S. 124: »Das Wesen muß erscheinen.« 39 Vgl. John E. Atwell, a. a.O., S. 173 ff. 40 W I, 208. 41 Diss., 88 f. 42 G, 155. 43 Obwohl Schopenhauer bemüht ist, das auf einander Folgen, also die bloße Sukzession in der Zeit, und das aus einander Folgen, das Ursache-Wirkungsverhältnis, auseinanderzuhalten (G, 87 f.), entsteht die Unklarheit im Zuge der Gleichsetzung des Satzes vom Grunde mit der Kausalität. In seiner »Bestreitung des von Kant aufgestellten Beweises der Apriorität des Kausalitätsbegriffes« in der Schrift über 38

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absehbar vielen und mannigfaltigen Veränderungen, die in der Zeit einem Geschehen vorangehen, werden diejenigen zu Ursachen, die das Bedürfnis der Frage »warum?« betreffen. Die Beziehung der Kausalität auf das individuelle Interesse im einzelnen Fall genügt jedoch nicht, um ein Prinzip, den Satz vom zureichenden Grunde zu erklären. Er zielt auf die Existenz einer Welt, die durchgängig durch Gründe und Folgen bestimmt ist. Nur wenn diese gegeben ist, sind Gründe zureichend und haben die Geschehnisse den Charakter der Zuverlässigkeit für das interessierte Individuum44. So wie im Einzelfall ein Wille da ist, der sich in der Frage nach Gründen ausdrückt, so muß ein Wille angenommen werden, der in der Welt als Vorstellung unter dem Satz vom Grunde sichtbar wird. Daß der Welt ein Wille zugrunde liegt, daß die causae efficientes erst durch causae voluntariae wirksam werden, ist ein traditioneller Gedanke der christlich geprägten Philosophie bis hin zu Spinoza und Leibniz, bei dem der Satz vom Grunde dadurch eine notwendige und ewige Wahrheit ist, daß Gottes Wille und Verstand der letzte Grund außerhalb der zufälligen Folge-Reihen ist45. Gerade gegen diese Auffassung von einem zweckgerichteten Wollen als Grund der Welt wendet sich Schopenhauer46. Zum einen, indem er den Willensbegriff von jeglicher Kausalität – insbesondere der Finalursächlichkeit – separiert; zum anderen, indem der Wille den ontologischen Status verliert und in Abhängigkeit von der Erscheinung gesetzt wird. Nur insofern er die Lücken der kausalen Erklärungen in der Welt füllt, ist seine Annahme berechtigt. Als Bedingung des Satzes vom Grunde ist er aber unbegründbar und unerklärlich; er ist frei, unter den Formen des Satzes vom Grunde zu erscheinen oder nicht. So endet für Schopenhauer alle Kausalerklärung bei Kräften, die unerklärlich bleiben. Da sie somit keinen Grund haben zu sein, sind sie nicht notwendig, sondern kontingent. Darin erschöpft sich letztlich formal Schopenhauers Begriff der Freiheit des Willens, der allerdings durch die Erfahrung des Charakters inhaltlich gestützt wird. Als Bedingung, die ohne Grund ist dazusein, könnte man den Willen

den Satz vom Grunde unterscheidet er zwischen der anschaulich erkannten Wirklichkeit der Sukzession in der Zeit und der durch die Tätigkeit des Verstandes bedingten Notwendigkeit des Verhältnisses von Ursache und Wirkung (G, 90 ff.). Da aber schon die empirische Anschauung nach Schopenhauer eine »intellektuale« (G, 53) ist bzw. mit dem Satz vom Grunde des Seins auch der bloßen Sukzession in der Zeit Notwendigkeit zukommt, wird diese Differenzierung fragwürdig. Vgl. a. den in der zweiten Auflage gestrichenen Versuch in Diss., 40 f., diesem Problem zu begegnen. 44 Vgl. E, 60 f.: »Was würde aus dieser Welt werden, wenn nicht die Nothwendigkeit alle Dinge durchzöge und zusammenhielte […]? Ein Monstrum, ein Schutthaufen, eine Fratze ohne Sinn und Bedeutung, – nämlich das Werk des wahren und eigentlichen Zufalls.«; vgl. a. W I, 417, wo Schopenhauer von dem unvertilgbaren und allen Menschen eigenen »Grausen« spricht, »das sie plötzlich ergreift, wenn sie, durch irgendeinen Zufall, irre werden am principio individuationis, indem der Satz vom Grunde, in irgendeiner seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint […].« 45 Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, in: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade / Monadologie (franz. / dt.), Hamburg 21982, S. 26–69, hier S. 42 (Nr. 37): »[…] il faut que la raison suffisante ou dernière soit hors de la suite ou series de ce detail des contingences […]«; vgl. a. S.42 ff. (Nr. 38 ff.). 46 Zu Leibniz vgl. a. W I, 603 f.

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»grundlosen Grund« nennen, aber es ist mit Schopenhauer zu fragen, ob man dabei überhaupt berechtigt ist, in irgendeinem Sinne von »Grund« zu sprechen. Die Leibnizsche Frage: »warum es eher Etwas als Nichts gibt«47 ist für Schopenhauer schon unzulässig, weil sie von der Notwendigkeit der Existenz der Welt ausgeht; noch mehr ihre Beantwortung durch die Annahme eines »notwendigen Wesens (Etre necessaire)«48; letztere ist darüber hinaus anrüchig, weil sie einen ›guten Grund‹ für den Weltlauf mit all seinen Leiden und Ungerechtigkeiten anbietet49. Das Wesen (als ›Bedingung‹ des Satzes vom Grunde) kommt nur wahrhaft in den Blick, wenn nicht gefragt wird ›warum‹ Etwas ist, sondern ›was‹ es ist, und kann nur durch eine Erkenntnisweise erfaßt werden, die nicht nach dem Satz vom Grunde verfährt und für die daher auch der Begriff der Notwendigkeit keine Bedeutung hat. Diese Erkenntnisweise wird von Schopenhauer als Schauen – als Kontemplation in der Kunst und als Durchschauung des Individuationsprinzips in der Ethik – scharf von Verstand und Vernunft, die unter dem Satz vom Grunde stehen, getrennt. Die Problematik des grundlosen Grundes, daß hier der Grund nur erfaßt werden kann, wo der Satz vom Grunde nicht gilt, kehrt in dem Paradox wieder, daß der Wille nur dann erkannt wird, wenn er nicht da ist: wenn er in der Kunst »vergessen« oder in der Ethik »verneint« wird. Die Philosophie ist nicht dieser Sprung ins Arationale, in den Ab-Grund der Rationalität. Sie hat die Aufgabe, zwischen beidem zu vermitteln, das Verhältnis des Arationalen zur Rationalität in einer der Rationalität angemessenen Weise zu fassen. Das kann nur dadurch geschehen, daß die Rationalität selbst zum Gegenstand rationaler Kritik wird, indem der Satz vom Grunde als bloß relativ, bedingt und begrenzt erkannt wird. Die Philosophie ist insofern keine Wissenschaft. als »sie nicht ohne Weiteres der Betrachtung, die der Satz vom Grunde heischt, nachgeht, sondern zuvörderst diesen selbst zum Gegenstande hat.«50 Sie ist deshalb nicht arationales Schauen, aber doch »der Kunst fast so sehr als der Wissenschaft verwandt«51. Diese vermittelnde Funktion der Philosophie sieht Schopenhauer in seiner Methode der Auslegung oder Entzifferung der Welt erfüllt. Zumindest dem Anspruch nach – um auf die eingangs aufgestellte These und Absicht der vorliegenden Untersuchung zurückzukommen – ist seine Philosophie

Gottfried Wilhelm Leibniz: Principes de la Nature et de la Grace fondés en Raison, in: Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade / Monadologie, a. a.O., S. 2–25, hier S. 12 (Nr. 7): »[…] la premiére question qu’on a droit de faire, sera pourqoi il y a plus tôt quelque chose que rien.« 48 Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, a. a.O., S. 44 (Nr. 44) und S. 46 (Nr. 45): »Ainsi Dieu seul (ou l’Etre Necessaire) a ce privilege, qu’il faut qu’il existe s’il est possible.« Für Schopenhauer dagegen ergibt sich aus der Möglichkeit des Nichtseins der Welt, daß die Welt aufgefaßt wird »als Etwas, dessen Nichtseyn nicht nur denkbar, sondern sogar ihrem Daseyn vorzuziehn wäre«, weil der Anblick des Übels und des Bösen in der Welt etwas sind, »was ganz und gar und überhaupt nicht seyn sollte.« (W II, 189 f.) 49 Vgl. dazu Rudolf Malter: »Eine wahrhaft ruchlose Denkungsart«. Schopenhauers Kritik der Leibnizschen Theodizee, in: Studia Leibnitiana Bd. 18 /2, (1986), S.152–82. 50 W II, 140. 51 Ebd. 47

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daher keinesfalls einem Irrationalismus zuzurechnen, sondern steht in der Tradition der Philosophie, die im Grenzbereich der Vernunft auf die Erfordernis einer Erweiterung des Begriffs von Rationalität stößt. Schopenhauer selbst spricht von seiner Philosophie als dem »Gipfel der Aufklärung«52. Seine Methode setzt im gebräuchlichen Sinne rational an, indem der Satz vom Grund auf sich selbst angewendet wird. Die konsequente Anwendung des Prinzips führt aber zu dessen Aufhebung oder zur Erweiterung des rationalen Verfahrens, indem eine nicht unter dem Satz vom Grunde stehende hermeneutische Methode entwickelt wird, um die Geltung des Prinzips ›verständlich‹ zu machen. Die Philosophie ist auf diese Weise zwar keine Wissenschaft, aber der »Grundbaß der Wissenschaften«53, und es ist für Schopenhauers Fassung eines weiteren Rationalitätsbegriffs bemerkenswert, daß er, der sonst der Geschichte jegliche Bedeutung abspricht, die Philosophie historisch begreift: »Wie in der Musik jede einzelne Periode dem Ton entsprechen muß, zu welchem der Grundbaß eben fortgeschritten ist; so wird jeder Schriftsteller, nach Maaßgabe seines Faches, das Gepräge der zu seiner Zeit herrschenden Philosophie tragen.«54 »Grundloser Grund des Satzes vom Grunde« wäre demnach nicht als »irrationales Fundament der Rationalität« zu übersetzen, sondern in seiner abgemilderten Form in »geschichtlich sich wandelnder Grundbaß wissenschaftlicher Rationalität« zu übertragen55.

HN I, 479. W II, 140. 54 Ebd. Auf die Verwendung des Begriffs »Gepräge« sei hier im Hinblick auf die oben vorgeschlagene terminologische Verbesserung von »Bedingung« zu »Prägung« aufmerksam gemacht. 55 Zeitgemäßer könnte an die Stelle von »Grundbaß« der Begriff des »Ethos« wissenschaftlicher Rationalität gesetzt werden. Vgl. dazu Matthias Koßler: Philosophie und Methode, in: Von der Perspektive der Philosophie. Beiträge zur Bestimmung eines philosophischen Standpunkts in einer von den Naturwissenschaften geprägten Zeit, hg. von Matthias Koßler und Reinhard Zecher, Hamburg 2002, S. 17–37, bes. S. 24, Anm. 17. 52 53

KOLLOQUIUM 5

Ökonomische und außerökonomische Gründe wirtschaftlichen Handels. Die Welt der wirtschaftlichen Gründe Kolloquiumsleitung: Peter Koslowski (†)

Ingo Pies u. Stefan Hielscher Gründe versus Anreize? Ein ordonomischer Werkstattbericht in sechs Thesen Matthias Kettner Gute Gründe für und in Konzeptionen ökonomischer Rationalität Alexander Brink Die Weisheit der Vielen: Unternehmensethik und dezentrale Governance

Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht in sechs Thesen Ingo Pies und Stefan Hielscher1

Das Motto des Philosophiekongresses 2011 lautete: »Die Welt der Gründe«. Diese Formulierung lässt die Erwartung aufkommen, dass es noch (mindestens) eine andere Welt geben dürfte, die zu intensiver Reflexion einlädt. Welche könnte das sein? Für uns als ausgebildete Ökonomen liegt folgende Antwort auf der Hand: »Die Welt der Anreize«. In den letzten Jahren ist aus dem an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Ökonomik angesiedelten Bereich der Wirtschafts- und Unternehmensethik heraus ein als »Ordonomik« bezeichnetes Forschungsprogramm entstanden, das sich systematisch mit der Frage beschäftigt, wie die Welt der Gründe und die Welt der Anreize miteinander vermittelt werden können. Wir wollen in diesem Aufsatz versuchen, einige ausgewählte Ergebnisse dieses Forschungsprogramms vorzustellen, von denen wir hoffen, dass sie insbesondere für Philosophen von Interesse sein könnten. Hierzu wählen wir die Form eines Werkstattberichts. Wir verzichten also auf eine breit angelegte Literaturdiskussion und skizzieren stattdessen kurz und knapp in Thesenform, welche Vermittlungsprobleme und welche Vermittlungslösungen in den Blick geraten, sofern man eine »ordonomische Brille« aufsetzt, um die Welt der Gründe und die Welt der Anreize zu betrachten – sowie vor allem: die konzeptionell zu stiftende Vermittlung dieser beiden Welten mit dem Fluchtpunkt einer Kongruenz guter Gründe und guter Anreize. Hierbei kommt es uns nicht nur auf die Antworten, sondern in besonderer Weise auch auf die Fragen an, die zu stellen das ordonomische Forschungsprogramm heuristisch anleitet. Wir bitten vorab um Nachsicht dafür, dass wir nur ganz wenige und zudem höchst selektive Literaturhinweise aus der eigenen Forschungswerkstatt anfügen und dass wir diesen Aufsatz in einer Sprache abgefasst haben, die sicherlich nicht leicht zugänglich ist und trotz unserer ernsthaften Bemühungen um Allgemeinverständlichkeit wohl immer noch Zeugnis davon ablegt, in welch hochgradig spezialisierten – und terminologisch idiosynkratischen – Theoriediskursen unsere Überlegungen ursprünglich entstanden sind. Nun aber in medias res: Es sind insgesamt sechs Thesen, die wir hier vorstellen wollen. 1. Die Ordonomik interessiert sich insbesondere für jene Fälle, in denen es zunächst den Anschein hat, als wollten die Welt der Anreize und die Welt der Gründe nicht recht zueinander passen.

Wir danken Karl Homann und Tatjana Schönwälder-Kuntze für hilfreiche Diskussionen und kritische Anmerkungen. 1

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Kolloquium 5 · Ingo Pies u. Stefan Hielscher

2. Die Ordonomik identifiziert mit Zynismus und Moralismus zwei defiziente Argumentationsweisen moralischer Diskurse. 3. Die Ordonomik führt beide Argumentationsweisen als Zwillingsphänomene auf die gleiche Denkfigur eines Werte-Tradeoffs zurück. 4. Die Ordonomik transzendiert den Denkrahmen eines Werte-Tradeoffs mit Hilfe einer orthogonalen Positionierung. 5. Die Ordonomik setzt auf eine differenzierte Vermittlung von Gründen und Anreizen. Aus ihrer Perspektive sind Diskrepanzen zwischen Gründen und Anreizen ambivalent: Solche Diskrepanzen müssen nicht unbedingt dysfunktional sein. Sie können sich vielmehr auch als ausgesprochen funktional erweisen, wenn es darum geht, gesellschaftliche Lernprozesse konstruktiv zur Entfaltung zu bringen. 6. Die Ordonomik kann Individualethik und Institutionenethik als miteinander kompatibel denken. Insbesondere vermag sie, diese beiden Formen von Ethik so zueinander ins Verhältnis zu setzen, dass Zynismus und Moralismus als das Ergebnis von Kompetenzüberschreitungen individualethischer Argumentationsweisen diagnostiziert und institutionenethisch therapiert werden können.

I. Die ordonomische Perspektive Das Forschungsprogramm der Ordonomik interessiert sich für Interdependenzen – und insbesondere für Diskrepanzen – zwischen Sozialstruktur und Semantik, also zwischen Institutionen und Ideen oder – in der Sprache von Karl Marx – zwischen Sein und Bewusstsein.2 Im ordonomischen Forschungsprogramm bezeichnet der Begriff»Sozialstruktur« die formalen und informalen Institutionen einer Gesellschaft sowie ihre handlungskanalisierenden Wirkungen, während als »Semantik« die Termini und die ihnen zugrunde liegenden Denkkategorien bezeichnet werden, mit deren Hilfe sich die Bürger in der demokratischen Öffentlichkeit über ihre Probleme und Lösungsoptionen zu verständigen versuchen. Man kann es auch so ausdrücken: »Sozialstruktur« steht für die Welt der Anreize, den institutionellen Handlungs-Rahmen; und »Semantik« steht für die Welt der Gründe, den ideellen Denk-Rahmen. Die Ordonomik ist nicht nur philosophisch, sondern auch sozialwissenschaftlich inspiriert. Sie arbeitet mit einem Rational-Choice-Ansatz, der auf die nicht-intendierten Folgen intentionalen Handelns fokussiert und hierbei der Situationslogik sozialer Dilemmata einen systematischen Stellenwert zuweist: Als soziales Dilemma wird eine Situation bezeichnet, in der es rationalen Akteuren anreizbedingt nicht gelingt, ein gemeinsames Ziel zu verwirklichen. Für die Ordonomik sind soziale Dilemmata normativ ambivalent. Sie können aus gesellschaftlicher Sicht unerwünscht sein. Dies ist etwa dort der Fall, wo sie durch den Anreiz zum Trittbrettfahren die Bereitstellung öffentlicher Vgl. Pies (2009a). Für umfangreiche Materialsammlungen zum ordonomischen Forschungsprogramm vgl. Pies (2008), (2009b), (2009c) und (2012). Für englischsprachige Journal-Publikationen vgl. Pies, Beckmann und Hielscher (2010) sowie Pies, Hielscher und Beckmann (2009). 2

Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht

217

Güter be- oder gar verhindern. Soziale Dilemmata können aus gesellschaftlicher Sicht aber auch erwünscht sein. Dies ist etwa dort der Fall, wo einer Kartellbildung durch Leistungswettbewerb entgegengesteuert wird oder wo ein gesundes Misstrauen zwischen potentiellen Kooperationspartnern kriminelle Aktivitäten verhindert. Im Hinblick auf die Situationslogik sozialer Dilemmata lautet eine zentrale Erkenntnis der Ordonomik, dass es mit Hilfe einer klugen Institutionalisierung gelingen kann, Konkurrenz als Instrument für gesellschaftliche Kooperation in Dienst zu nehmen. In dieser Hinsicht geht die Ordonomik einer ausgesprochen differenzierten Fragestellung nach. Sie untersucht zum einen, wie sich gesellschaftlich erwünschte Interaktionen – Tausch, Innovation etc. – institutionell stabilisieren lassen; und sie untersucht zum anderen – spiegelbildlich! –, wie sich gesellschaftlich un-erwünschte Interaktionen – Umweltverschmutzung, Korruption etc. – institutionell de-stabilisieren lassen. Diese Fragestellung zielt auf ein differenziertes Ordnungsmanagement der Anreizwirkungen sozialer Dilemmata. Dynamisch formuliert: Wie kann man gesellschaftlichen Abwärtsspiralen entgegenwirken, in denen ruinöser Wettbewerb ein »race to the bottom« auslöst? Und spiegelbildlich: Wie lassen sich gesellschaftliche Aufwärtsspiralen institutionalisieren, in denen ein funktionaler Leistungswettbewerb ein »race to the top« in Gang setzt? Dieser auf soziale Dilemmata eingestellte Scheinwerfer der ordonomischen RationalChoice-Perspektive wirft nicht nur ein besonderes Licht auf die gesellschaftliche Sozialstruktur. Mit seiner Hilfe lässt sich auch die gesellschaftliche Semantik beleuchten. Im Lichtkegel der Betrachtung steht das Phänomen rationaler Ignoranz und das daraus resultierende Folgephänomen einer Komplexitätsreduktion mittels normativer (Kurz-) Schlüsse: Rationale Ignoranz liegt dort vor, wo Fehlanreize – in Form eines gravierenden Auseinanderklaffens individueller Kosten und Nutzen – dem Bemühen um eine Informationsbeschaffung und -verarbeitung als Hindernis im Wege stehen. So lässt sich empirisch immer wieder beobachten, dass Bürger über die für sie relevanten privaten Güter sehr viel besser informiert sind als über die für sie relevanten öffentlichen Güter. Hieraus folgt, dass Bürger gerade dort, wo die Sachverhalte besonders komplex sind, eine Abkürzungsstrategie wählen, um das konsequentialistische Durchdenken langer Kausalitätsketten zu vermeiden. Sie setzen stattdessen auf verkürzte (Vor-)Urteile, die dann bisweilen in normativen Kategorien vorgetragen werden. Einerseits ist dies – im Sinne rationaler Ignoranz – ein durchaus vernünftiger Umgang mit der Knappheit kognitiver Kompetenzen. Andererseits aber birgt dieses Abkürzen auch die Gefahr von Fehlurteilen, also die Gefahr einer normativen Kurzschlüssigkeit. Vor diesem Hintergrund zielt das Forschungsprogramm der Ordonomik auf wissenschaftliche Beiträge zur gesellschaftlichen Selbst-Aufklärung und Selbst-Steuerung und ist in diesem Sinne eine doppelte Ordnungstheorie: eine Theorie zur Re-Formierung der semantischen Denk-Ordnung, d. h. der Ideen, und zugleich eine Theorie zur Re-Formierung der sozialstrukturellen Handlungs-Ordnung, d. h. der Institutionen.

218

Kolloquium 5 · Ingo Pies u. Stefan Hielscher

II. Zynismus versus Moralismus: Zwei defiziente Argumentationsweisen moralischer Diskurse Gründe können ebenso wie Anreize für oder gegen eine Handlung sprechen. Kombinatorisch sind mithin vier Fälle zu unterscheiden (Abb. 1).

Gründe



+ I

IV

+

Zynismus: Kolonialisierung der Lebenswelt

Argumentation pro Tugend (stabil)

Anreize

III



Argumentation contra Laster (instabil)

II Moralismus: Kolonialisierung des Systems

Abbildung 1: Die Ordonomik identifiziert zwei Pathologien der Moderne3

Zwei dieser Fälle sind für die Gesellschaft eher unproblematisch. Es handelt sich um die Quadranten I und III. Hier gehen Sozialstruktur und Semantik Hand in Hand. Potentiell problematisch hingegen – und deshalb von besonderem Interesse – sind die Quadranten II und IV. Hier kann es zu gesellschaftlich dysfunktionalen Diskrepanzen zwischen Sozialstruktur und Semantik kommen. • Quadrant I ist durch eine Konstellation gekennzeichnet, in der semantisch als gesellschaftlich erwünscht geltende – in moralischer Sprache: tugendhafte – Handlungen durch die Anreize formaler oder informaler Regeln sozialstrukturell stabilisiert werden. Die gesellschaftliche Denk-Ordnung und Handlungs-Ordnung passen zusammen: Tugendhafte Verhaltensweisen werden institutionell ermutigt. • Quadrant II ist durch eine Konstellation gekennzeichnet, in der semantisch als gesellschaftlich erwünscht geltende – in moralischer Sprache: tugendhafte – Handlungen durch die Anreize formaler oder informaler Regeln sozialstrukturell destabilisiert werden. Die gesellschaftliche Denk-Ordnung und Handlungs-Ordnung passen nicht zusammen; sie fallen auseinander: Tugendhafte Verhaltensweisen werden institutionell entmutigt. Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Abb. 3 bei Pies (2011a; S. 4). Zur These von den zwei Pathologien der Moderne vgl. ausführlich Pies (2011b). Zur ordonomischen Diagnose der Moderne vgl. Pies (2011a). 3

Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht

219

• Quadrant III ist durch eine Konstellation gekennzeichnet, in der semantisch als gesellschaftlich un-erwünscht geltende – in moralischer Sprache: lasterhafte – Handlungen durch die Anreize formaler oder informaler Regeln sozialstrukturell destabilisiert werden. Die gesellschaftliche Denk-Ordnung und Handlungs-Ordnung passen zusammen: Lasterhafte Verhaltensweisen werden institutionell entmutigt. • Quadrant IV ist durch eine Konstellation gekennzeichnet, in der semantisch als gesellschaftlich un-erwünscht geltende – in moralischer Sprache: lasterhafte – Handlungen durch die Anreize formaler oder informaler Regeln sozialstrukturell stabilisiert werden. Die gesellschaftliche Denk-Ordnung und Handlungs-Ordnung passen nicht zusammen; sie fallen auseinander: Lasterhafte Verhaltensweisen werden institutionell ermutigt. Der moralische Diskurs, der den Quadranten I und III zugeordnet werden kann, ist aus Sicht der Gesellschaft weitgehend unproblematisch und sogar produktiv, weil er für das einzelne Individuum durchaus interessant und potentiell (in-)formativ ist: Vor allem während der eigenen Sozialisationsphase muss man ja allererst lernen, Tugendhaftigkeit anzustreben und Lasterhaftigkeit zu vermeiden. Dies erfordert eine – implizit oder explizit – durch Diskurs vermittelte Denkorientierung im Hinblick auf die eigenen Ziele sowie eine Ausbildung der Kompetenz zur Selbstbeherrschung – anders ausgedrückt: der Fähigkeit zum Selbstmanagement – im Hinblick auf den Gebrauch der individuell verfügbaren Mittel. Anders verhält es sich mit dem moralischen Diskurs, der den Quadranten II und IV zugeordnet werden kann. Die Ordonomik identifiziert hier ein Entfremdungsphänomen, das in zwei unterschiedlichen Ausprägungen auftritt: entweder als eine zynische oder als eine moralisierende Argumentation. Der erste Fall ist dem zugehörig, was Jürgen Habermas als systemische Kolonialisierung der Lebenswelt bezeichnet hat (Quadrant IV). Hier wird mit einem Verweis auf vermeintliche Sachzwänge argumentiert und geltend gemacht, dass es nicht möglich sei, den guten Gründen im eigenen Handeln zu folgen. Dieser Argumentationsmodus nimmt die Situation als gegeben und endet im Zynismus, der sich über die guten Gründe hinwegsetzt und den Anreizen den für das (eigene) Handeln ausschlaggebenden Vorzug gibt. Zynismus bedeutet, im Moraldiskurs einem Primat der Sozialstruktur das Wort zu reden und diesen Primat für sich selbst im Modus der Exkulpation zu reklamieren. Das zynische Motto lautet: Vorfahrt für den Sachzwang! Der zweite Fall stand bislang sehr viel weniger im Aufmerksamkeitsfokus der Philosophie, obwohl er exakt spiegelbildlich angelegt ist und als lebensweltliche Kolonialisierung des Systems bezeichnet werden kann. Hier wird mit einem Verweis auf normative Pflichten argumentiert und geltend gemacht, dass der einzelne aufgefordert sei, sich über die Anreize für das eigene Handeln hinwegzusetzen. Dieser Argumentationsmodus nimmt die Situation als gegeben und endet im Moralismus, der sich über die bestehenden Anreize hinwegsetzt und per Appell den Gründen den für das Handeln (anderer) ausschlaggebenden Vorzug gibt. Moralismus bedeutet, im Moraldiskurs einem Primat der »Semantik«(in der oben definierten Bedeutung dieses Wortes) das Wort zu reden

220

Kolloquium 5 · Ingo Pies u. Stefan Hielscher

und diesen Primat für andere Akteure im Modus des Postulierens zu reklamieren. Das moralistische Motto lautet: Vorfahrt für den guten Willen!

III. Zwei Entfremdungsphänomene und die Denkfigur eines Werte-Tradeoffs Die Ordonomik macht darauf aufmerksam, dass die beiden Entfremdungsphänomene eine wichtige Gemeinsamkeit aufweisen. Moralismus und Zynismus lassen sich gleichsam als die zwei Seiten einer Medaille rekonstruieren. Es handelt sich gewissermaßen um Zwillingsphänomene. Beide teilen nämlich den gleichen Ursprung: Ihnen liegt die Vorstellung eines Werte-Tradeoffs zugrunde. Der Unterschied besteht lediglich darin, auf welcher Seite sie innerhalb dieses eindimensional wahrgenommenen Tradeoffs Stellung beziehen (Abb. 2).

Fremdinteressen

M 1

2

S Zynismus

6

5

3

Z 4

Eigeninteresse

Moralismus Abbildung 2: Beiden Entfremdungsphänomen liegt ein Werte-Tradeoff zugrunde4

Der gedankliche Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung eines Interessen- bzw. Wertekonflikts, graphisch repräsentiert durch die negativ geneigte Tradeoff-Linie. Hier dominiert eine Situationsauffassung, derzufolge das Eigeninteresse eines Akteurs zur Interessenlage seines sozialen Umfelds – aus seiner eigenen Sicht: zu den Fremdinteressen anderer Akteure – in Widerspruch gerät und er sich entscheiden muss, wie er sich in dieser für

4

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Abb. 7 bei Pies (2011a; S. 10).

Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht

221

ihn gegebenen Konfliktsituation verhalten will. Ausgehend von einem Status quo (S) sieht der Akteur für sich prinzipiell zwei Möglichkeiten: Konfrontiert mit dem moralischen Appell, Rücksicht auf andere zu nehmen, kann er sich entscheiden, Punkt M anzustreben. Alternativ kann er darauf verweisen, dass er sich umständehalber gezwungen sehe, seinem eigenen Interesse einen Vorrang vor den Interessen anderer einzuräumen. In diesem Fall kann er versuchen, Punkt Z anzustreben. Die individuell wahrgenommene Handlungslogik lautet also Entweder-Oder: • Entweder erfolgt eine Rücksichtnahme auf die Interessen anderer (Pfeil 1). Bedingt durch den Interessenkonflikt – graphisch repräsentiert durch Pfeil 2 entlang der Tradeoff-Linie – zieht dies dann jedoch denknotwendig die Konsequenz nach sich, das eigene Interesse opfern zu müssen (Pfeil 3), wie es vom Moralismus gefordert wird. • Oder aber dem eigenen Interesse wird ein Vorrang eingeräumt (Pfeil 4). Bedingt durch den Interessenkonflikt – graphisch repräsentiert durch Pfeil 5 entlang der Tradeoff-Linie – zieht dies dann jedoch denknotwendig die Konsequenz nach sich, die Fremdinteressen opfern zu müssen (Pfeil 6), wie es vom Zynismus gebilligt wird. Für die Ordonomik ist es wichtig, kritisch darauf aufmerksam zu machen, dass dem Werte-Tradeoff eine Situationswahrnehmung zugrunde liegt, welche die folgenreiche Eigenschaft aufweist, den Denkhorizont für mögliche Problemlösungsoptionen von vornherein auf die eine Dimension eines Entweder-Oder zu limitieren.

IV. Die Transzendierung des Werte-Tradeoffs mittels orthogonaler Positionierung Aus ordonomischer Sicht handelt es sich bei Moralismus und Zynismus um Zwillingsphänomene des moralischen Diskurses. Die Diagnose lautet, dass beiden Phänomenen dieselbe Situationswahrnehmung zugrunde liegt und dass sie deshalb in gleicher Weise unter einer eindimensional verengten Problemlösungsperspektive leiden. Hieraus folgt die Therapie-Option, nach einer Korrektur der Situationswahrnehmung zu suchen. Sie sollte idealerweise so beschaffen sein, dass sie es erlaubt, das Paradigma des Entweder-Oder kategorial zu erweitern zu einem Paradigma des Sowohl-als-Auch, das den zugrunde liegenden Interessenkonflikt nicht leugnet, ihn aber doch so uminterpretiert, dass neben den konfligierenden Interessen auch gemeinsame Interessen ins Blickfeld gerückt werden, deren Wahrnehmung ein Win-Win-Potential wechselseitiger Besserstellung konstituiert. Um zu illustrieren, wie dies möglich sein könnte, kombiniert Abb. 3 ein sozialstrukturelles Modell mit dem semantischen Schema einer orthogonalen Positionierung zum Werte-Tradeoff.

222

Kolloquium 5 · Ingo Pies u. Stefan Hielscher

Abbildung 3: Zur Vermittlung von Sozialstruktur und Semantik5

In Abb. 3a ist die sozialstrukturelle Anreizkonstellation des aus der Spieltheorie bekannten Prisoners’ Dilemma wiedergegeben: Zwei Akteure A und B stehen vor der Wahl, ob sie miteinander kooperieren wollen. Im Prinzip hätten sie ein gemeinsames Interesse daran, Quadrant I zu erreichen. Anreizbedingt verfehlen sie jedoch diese für beide vorteilhafte Lösung und realisieren stattdessen nur Quadrant III. Die Situationslogik lautet: Jeder verhält sich so, wie er es vom anderen befürchtet. Die individuellen Vorteils-Nachteils-Kalküle sind durch vertikale Pfeile (für Akteur A) und durch horizontale Pfeile (für Akteur B) wiedergegeben. Das Gleichgewicht ist eingerahmt (Quadrant III). In Abb. 3b wurde die Tradeoff-Linie aus Abb. 2 übernommen. Neu hinzugefügt wurde der in nord-östliche Richtung weisende Pfeil, der eine orthogonale Positionierung markiert: einen Wechsel der Blickrichtung um 90°. Die orthogonale Positionierung erweitert die zuvor eindimensionale Wahrnehmung des Interessenkonflikts um die zweite Dimension einer möglichen Interessenharmonie. Dass es für diese Korrektur der Semantik eine sozialstrukturelle Grundlage gibt, erschließt sich leicht, wenn man die Abbildungen 3a und 3b im Zusammenhang betrachtet. Der Punkt S entspricht als Status quo der Gleichgewichtslösung in Quadrant III. Von hier ausgehend, würde ein Wechsel zu Quadrant IV bedeuten, dass Akteur A sein eigenes Interesse opfert, um Akteur B besserzustellen. Dies entspricht Pfeil 1 in Abb. 3b. Umgekehrt würde ein Wechsel von Quadrant III zu Quadrant II bedeuten, dass Akteur A das Fremdinteresse – also das Eigeninteresse von Akteur B – missachtet, um sich auf Kosten von B selbst besserzustellen. Dies entspricht Pfeil 4 in Abb. 3b. Betrachtet man die Quadranten II und IV in Abb. 3a, so sieht man einen strikten Interessenkonflikt zwischen beiden Akteuren: Was für den einen den »best case« dar5

Quelle: Eigene Darstellung.

Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht

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stellt, empfindet der andere als »worst case«– und vice versa. Es ist genau dieses Konfliktelement, das durch die negativ geneigte Tradeoff-Linie in Abb. 3b repräsentiert wird: Die eigene Besserstellung erfordert eine Schlechterstellung des anderen – und umgekehrt. Betrachtet man jedoch die Quadranten I und III in Abb. 3a, dann sieht man, dass im Konflikt latent auch eine Interessenharmonie angelegt ist: Im Prisoners’ Dilemma gibt es die Option einer wechselseitigen Besserstellung. Diese Option wird durch die orthogonale Positionierung in Abb. 3b ins Blickfeld gerückt. Sie macht geltend, dass es ein Win-Win-Potential gibt. Damit bricht die orthogonale Positionierung aus der (Handlungs-)Logik des Entweder-Oder aus und erweitert diese zu einer (Situations-) Logik des Sowohl-als-Auch. Insofern findet hier ein semantischer Paradigmawechsel statt: ein Wechsel des Denkrahmens. Anstatt die Situation als invariant wahrzunehmen und dann zu fragen, wie man sich als einzelner Akteur innerhalb dieser vorgegebenen Situation verhalten kann, wird die Situation als veränderbar wahrgenommen und dann gefragt, mittels welcher institutionellen Änderungen eine Reform der Fehlanreize bewerkstelligt werden kann, die es den involvierten Akteuren erlaubt, jenes gemeinsame Interesse (Punkt W) tatsächlich zu realisieren, das sie im Status quo (Punkt S) anreizbedingt verfehlen. Die orthogonale Positionierung verändert folglich die Fragestellung und damit das semantische Kategoriensystem, das Wahrnehmungsmuster, das »mental model«: Sie fragt nicht – im Modus einer Handlungstheorie – nach den individuell zu wählenden Spielzügen innerhalb eines als vorgegeben akzeptierten Spiels, sondern sie fragt stattdessen – im Modus einer Situationstheorie – nach den gesellschaftlich zu gestaltenden Spielregeln, um bessere Spiele hervorzubringen. Diese Methode entfaltet ihre besondere Leistungsfähigkeit dort, wo Positivsummenspiele kurzschlüssig als Nullsummenspiele wahrgenommen werden.

V. Zur ordonomischen Vermittlung von Gründen und Anreizen Die bisherigen Überlegungen haben zu zeigen versucht, wie die Ordonomik gestützt auf sozialstrukturelle Erkenntnisse eine semantische Korrektur von Fehlwahrnehmungen vornimmt, die für gesellschaftliche Moraldiskurse folgenreich sein können. Diese Diagnose und Therapie der Zwillingsphänomene Moralismus und Zynismus ist freilich nur eine Variante zur Vermittlung von Gründen und Anreizen, der andere Varianten an die Seite zu stellen sind. Abb. 4 erleichtert einen Überblick über die Differenzierungen, die aus ordonomischer Sicht möglich und nötig sind. Insgesamt sind vier Fälle zu unterscheiden. Auf der einen Seite können Diskrepanzen zwischen Sozialstruktur und Semantik funktional oder dysfunktional sein, je nachdem, ob sie gesellschaftliche Lernprozesse konstruktiv anleiten oder destruktiv blockieren bzw. in die Irre führen. Und auf der anderen Seite sind Diskrepanzen – im Sinne einer Nicht-Kongruenz der Welt der Gründe und der Welt der Anreize – darauf zurückzuführen, dass entweder die Semantik der

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Sozialstruktur vorauseilt oder umgekehrt die Sozialstruktur der Semantik vorauseilt. Mithin sind insgesamt vier Fälle zu unterscheiden. • Fall I: Die Welt der Gründe kann der Welt der Anreize heuristisch den Weg weisen. Die Semantik fungiert dann gewissermaßen als »Leitstern« für die Entwicklung der Sozialstruktur. Sie gibt dem Denken und dann schließlich auch dem institutionalisierten Handeln eine nachhaltige Orientierung. Dies ist dort der Fall, wo innovative Ideen generiert werden, die gesellschaftliche Lernprozesse auslösen und anleiten, welche letztlich ihren Niederschlag in einer Weiterentwicklung des Institutionensystems finden. Beispiele hierfür sind die Toleranzidee zur Befriedung der Religionskriege und ihr Niederschlag in der Trennung von Kirche und Staat oder die Idee der Menschenrechte und die faktisch immer noch voranschreitende Gleichstellung von Mann und Frau.

Abbildung 4: Zur Verhältnisbestimmung von Sozialstruktur und Semantik6

• Fall II: Die Welt der Gründe kann für die Welt der Anreize als »Kanalisierungshilfe« dienen. Dies ist dort der Fall, wo eine dynamische Sozialstruktur vorauseilt und gesellschaftliche Fehlentwicklungen provoziert, deren Korrektur voraussetzt, dass durch die Orientierung an einer bewährten Semantik gelernt wird, mit den durch technologischen oder organisatorischen Fortschritt bereitgestellten neuen Möglichkeiten kompetent(er) umzugehen. Dies sorgt für gesellschaftliche Kohärenz. Ein Beispiel hierfür ist die Erfindung des Autos und die nachträgliche Errichtung einer Verkehrsordnung, die insbesondere schwache Verkehrsteilnehmer schützt, sowie die umfangreichen Regulierungen der Automobilproduktion, angefangen von Sicherheitsvorkehrungen bis hin zur Kontrolle einzuhaltender Abgasnormen, von denen neben Autofahrern auch solche Bürger profitieren, die selbst 6

Quelle: Eigene Darstellung.

Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht

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gar nicht beabsichtigen, ein Automobil zu nutzen. Weitere Beispiele liefert das gegenwärtige Ringen um die Neugestaltung von Eigentumsrechten – und um die Sicherung der Privatsphäre – im Internet. • Fall III: Eine gegenüber der Sozialstruktur nachlaufende Semantik kann sich aber auch als »Hemmschuh«für die gesellschaftliche Entwicklung erweisen. Dies ist dort der Fall, wo moralische Vorurteile einer neuen gesellschaftlichen Praxis und der zugehörigen Sozialstruktur im Wege stehen. Ein historisches Beispiel hierfür bietet das kanonische Zinsverbot der christlichen Kirchen, das erst mühsam und langwierig uminterpretiert werden musste, um die Kreditgeschäfte der Kaufleute zu legalisieren und dann auch institutionell zu unterstützen. Ein demgegenüber bisweilen immer noch aktuelles Beispiel sind die in manchen Kreisen gepflegten moralischen Vorbehalte gegenüber homosexuellen Lebensgemeinschaften und den ihnen sozialstrukturell eröffneten – bzw. zu eröffnenden – Optionen, ihre Partnerschaften legal und ohne Stigmatisierung zu leben, steuerrechtlicher Diskriminierung zu entgehen, zu heiraten und Kinder zu adoptieren. • Fall IV: Eine gegenüber der Sozialstruktur vorlaufende Semantik kann als schlechte Utopie in gesellschaftliche Sackgassen führen. Gewissermaßen als »Irrlicht« sorgt sie dann nicht für Orientierung, sondern für Desorientierung. Sie blendet und trübt den Blick für Entwicklungen, die nicht nur wünschenswert, sondern auch möglich wären. Die knappe Ressource bürgerlichen Engagements wird so verschwendet. Auf diese Weise werden gesellschaftliche Lernprozesse nicht gefördert, sondern be- oder gar verhindert. Ein Beispiel hierfür ist die strikt egalitäre Vorstellung der Einkommensgleichheit, die für marktwirtschaftliche Strukturen dysfunktional ist, weil diese konstitutiv auf Leistungsanreize angewiesen sind. Ein weiteres Beispiel besteht darin, dass es nicht zu gelingen scheint, den modernen Menschheitstraum von einem Recht auf Arbeit so zu institutionalisieren, dass die daran geknüpften Emanzipationshoffnungen auch wirklich realisiert werden können. In eine ähnliche Richtung weist auch das Beispiel der normativen Extremforderung, ein sofortiges und absolutes Verbot von Kinderarbeit in Entwicklungsländern durchzusetzen: Unter den auf absehbare Zeit noch herrschenden Bedingungen würde dies viele Kinder schädigen und insbesondere arme Familien zu unerwünschten Ausweichreaktionen in Richtung Prostitution und Kriminalität veranlassen.

VI. Zur ordonomischen Vermittlung von Individualethik und Institutionenethik Die ordonomische Reflexion auf eine differenzierte Vermittlung von Gründen und Anreizen führt zu zwei Erkenntnissen, denen aus unserer Sicht im Hinblick auf die Disziplin der Praktischen Philosophie der Stellenwert eines systematischen Grundlagenbeitrags zukommt. ((1)) Der erste Grundlagenbeitrag besteht darin, dass sich aus ordonomischer Sicht eine Verhältnisbestimmung von Individualethik und Institutionenethik vornehmen

226

Kolloquium 5 · Ingo Pies u. Stefan Hielscher

lässt, die beiden Formen von Ethik einen systematischen Ort zuweist und sie folglich als miteinander kompatibel denkt (Abb. 5). Gründe



+ I

IV

+

Institutionenethik

Individualethik

Anreize

III



Individualethik

II Institutionenethik

Abbildung 5: Zur Verhältnisbestimmung von Individualethik versus Institutionenethik7

Individualethik und Institutionenethik sind nicht nur im Sinne einer friedlichen KoExistenz miteinander kompatibel, sondern im Sinne einer wechselseitigen Stützung sogar komplementär zueinander, sofern man davon ausgeht, dass sie auf unterschiedliche Probleme referentialisiert sind, im Hinblick auf die sie ihre je unterschiedliche Leistungsfähigkeit bestmöglich entfalten. • Die Individualethik hat ihren systematischen Ort dort, wo Gründe und Anreize konvergieren und es darauf ankommt, einem Adressaten argumentativ zu vermitteln, warum gute Gründe dafür sprechen, sich an eine gegebene Anreizsituation anzupassen. Der typische Fall ist, dass der Adressat sich über seine eigenen Ziele nicht recht im Klaren ist. Hier liegt offenbar ein Informationsengpass vor, so dass Argumente helfen können, die ihm vor Augen führen, was für tugendhaftes Verhalten spricht (Quadrant I) und spiegelbildlich was gegen lasterhaftes Verhalten spricht (Quadrant III). Der modus operandi der Individualethik ist das Paradigma der Handlungslogik.8 • Die Institutionenethik hat ihren systematischen Ort dort, wo Gründe und Anreize divergieren. Hier kommt es darauf an, die Situation und damit die individuellen Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Abb. 6 bei Pies (2011a; S. 8). Unserer Lesart nach haben reflektierte Tugendethiken immer ein Bewusstsein davon, dass sie eine (grosso modo) intakte Ordnung – und mithin die unterstützende Wirkung materieller sowie immaterieller Anreize – voraussetzen, weil sie wissen, dass die Ausbildung von Tugenden auf eine gelingende Praxis angewiesen ist. Dies gilt jedenfalls für Aristoteles. Vgl. hierzu Pies, Beckmann und Hielscher (2012). Wir arbeiten dort die Idee aus, dass die Institutionenethik von der Individualethik lernen kann, wenn es darum geht, den Charakter von Organisationen auszubilden und sie als Organisationsbürger (»Corporate Citizens«) zu einem tugendhaften Verhalten anzuleiten. 7 8

Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht

227

Handlungsoptionen gerade nicht als gegeben aufzufassen, sondern als gestaltbar. Für eine solche Gestaltung gibt es insgesamt vier Varianten, weil Gründe und Anreize wechselseitig aneinander angepasst werden können: Korrekturen der Semantik – im Sinne einer Revision etablierter Gründe – führen zu horizontalen Bewegungen: von Quadrant II zu III bzw. von Quadrant IV zu I, während umgekehrt Korrekturen der Sozialstruktur – im Sinne einer Revision etablierter Anreize – zu vertikalen Bewegungen führen: von Quadrant II zu I bzw. von Quadrant IV zu III. Der modus operandi der Institutionenethik ist das Paradigma der Situationslogik. Man kann es auch so ausdrücken: Die Individualethik zielt darauf ab, dem Individuum eine argumentative Hilfestellung zu geben, Quadrant III zu vermeiden und in Quadrant I heimisch zu werden. Demgegenüber zielt die Institutionenethik stets darauf ab, den Bürgern eine argumentative Hilfestellung zu geben, um die Quadranten II und IV zu verlassen, sei es mit Hilfe einer Reformierung der Denk-Ordnung, bei der die Semantik an die Sozialstruktur angepasst wird, oder sei es umgekehrt durch eine Reformierung der Handlungs-Ordnung, bei der die Sozialstruktur an die Semantik angepasst wird. ((2)) Der zweite Grundlagenbeitrag besteht darin, dass die Ordonomik mit ihrer Verhältnisbestimmung von Individualethik und Institutionenethik dysfunktionale Argumentationsweisen im moralischen Diskurs diagnostizieren und therapieren kann. Die Diagnose lautet, dass die Zwillingsphänomene Moralismus und Zynismus dort auftreten, wo eine institutionenethische Problemstellung mit einer individualethischen Argumentation zu bearbeiten versucht wird. Hieraus folgt als Therapie, dass man Moralismus und Zynismus entgegentreten kann, indem man einen Paradigmawechsel vornimmt und von einer handlungslogischen Argumentation auf eine situationslogische Argumentation umschaltet. Die hierbei zugrunde liegenden Differenzierungen der Ordonomik lassen sich mit Hilfe von Abbildung 6 anschaulich machen. Gesellschaftliche Folgen

Gesellschaftliche Folgen

– IV

+

1



3

I

+

5 III

II 2

Individuelles Wohlwollen

II



(a) Individualethik

6

(b) Institutionenethik

Abbildung 6: Zur ordonomischen Diagnose und Therapie dysfunktionaler Argumentationsweisen9 9

Quelle: Eigene Darstellung.

+

IV

I

4

III Individuelles Wohlwollen



+

228

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Aus ordonomischer Sicht lassen sich insgesamt sechs Stoßrichtungen moralischer Argumentationen unterscheiden, von denen drei als dysfunktional – symbolisiert durch gestrichelte Pfeile – und drei andere als funktional eingestuft werden können. • Fall 1: Konfrontiert mit einem gesellschaftlichen Missstand, kann man appellativ fordern, ein Akteur möge sich zu einem größeren Wohlwollen seinen Mitbürgern gegenüber durchringen. Dort, wo dies am eigentlichen Missstand nichts ändert, weil dysfunktionale Anreize verhindern, dass sich die Situation ändert, lässt sich die Argumentation als purer Moralismus qualifizieren. Dies entspricht Pfeil 1 in Abb. 6a. • Fall 2: Konfrontiert mit einem gesellschaftlichen Missstand, kann man das Ansinnen persönlicher Rücksichtnahme auf andere – resigniert und resignierend – zurückweisen. Dort, wo dies am eigentlichen Missstand nichts ändert, lässt sich die Argumentation als Zynismus qualifizieren. Dies entspricht Pfeil 2 in Abb. 6a.Ein historisches Beispiel hierfür liefern die Armutsdiskurse, in denen argumentiert wurde, man solle arme Familien nicht unterstützen und müsse sich hier sogar eine gewisse Hartherzigkeit antrainieren, weil ansonsten die Gefahr drohe, dass immer mehr Menschen in Armut geboren werden. • Fall 3: Konfrontiert mit einem gesellschaftlichen Missstand, kann man versuchen, das Problem dadurch in den Griff zu bekommen, dass man für weniger Wohlwollen plädiert. In vormodernen Sozialstrukturen ist dies immer wieder versucht worden. Man denke nur an die weite Verbreitung des Freund-Feind-Schemas, das zur Abgrenzung und Ausgrenzung von Fremden als Barbaren verwendet wurde. Demgegenüber sind moderne Sozialstrukturen durch eine immer weiter um sich greifende Inklusion gekennzeichnet, die darauf hinausläuft, tradierte Diskriminierungen nach Alter und Geschlecht, nach Hautfarbe usw. zu überwinden. Insofern ist auch Pfeil 3 in Abb. 6a gestrichelt gezeichnet, um deutlich zu machen, dass eine Moralkommunikation etwa in Form von Hasspredigten oder Stigmatisierungsaufrufen oder Appellen zum Solidaritätsentzug aus ethischer – d. h. moraltheoretischer – Sicht als gesellschaftlich dysfunktional einzustufen und mithin zu kritisieren ist. Unter den Bedingungen einer modernen (Welt-)Gesellschaft werden soziale Probleme so nicht gelöst, sondern allenfalls verschärft. • Fall 4: Konfrontiert mit einem gesellschaftlichen Missstand, kann man versuchen, das Problem dadurch in den Griff zu bekommen, dass man für mehr Wohlwollen plädiert. Dies ist ein – in Grenzen – durchaus leistungsfähiger Problemlösungsmodus, was sich beispielsweise an so wichtigen Phänomenen wie der Familiensolidarität oder der Nachbarschaftshilfe ablesen lässt. Dies entspricht Pfeil 4 in Abb. 6a. Dass dieser individualethische Problemlösungsmodus aber auch an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit stoßen kann, zeigt sich an den Schwierigkeiten, die der Übergang von der Kleingruppensolidarität zur Großgruppensolidarität – in christlicher Diktion: der Übergang von der Nächstenliebe zur Fernstenliebe – bereitet. • Fall 5: Ein gesellschaftlicher Missstand kann auch dann zustande kommen, wenn die relevanten Akteure bereits ein großes Maß individuellen Wohlwollens ihren

Gründe versus Anreize? – Ein ordonomischer Werkstattbericht

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Mitbürgern gegenüber an den Tag legen. Anstatt hierauf zynisch zu reagieren, kann man auch institutionenethisch argumentieren und sich um neue Anreizkonstellationen bemühen, die zu systematisch besseren Ergebnissen führen. Dies entspricht Pfeil 5 in Abb. 6b. Ein wichtiges Beispiel hierfür ist das im Zuge moderner Inklusionsbewegungen beobachtbare Umschalten auf eine institutionalisierte Großgruppensolidarität in Form von Versicherungsmärkten und sozialstaatlichen Versicherungsarrangements.Zu denken ist hier etwa an die in Deutschland weitgehend staatlich organisierte Unfall-, Kranken-, Pflege- oder Rentenversicherung, aber auch an privatwirtschaftliche Lebensversicherungen und an die Aktienmärkte, mit deren Hilfe viele Menschen vitale Risiken abdecken und beträchtliche Teile ihre Altersversorgung bestreiten. Weitere Beispiele liefern institutionelle Vorkehrungen gegen dysfunktionale Solidaritäten in Form von Nepotismus oder Korruption. • Fall 6: Moraltheoretisch ebenfalls interessant – und für die moderne (Welt-)Gesellschaft geradezu konstitutiv – ist der Umstand, dass ein besonders großes Wohlwollen den Mitbürgern gegenüber nicht hinreichend (siehe Fall 5), aber auch nicht notwendig ist, um gesellschaftliche Missstände abzustellen. Dies symbolisiert Pfeil 6 in Abb. 6b. Als Beispiel hierfür können all jene Fälle angeführt werden, in denen – angefangen vom Sport über die Wirtschaft und die Wissenschaft bis hin zur Politik – soziale Dilemmata institutionell eingerichtet werden, um einen Leistungswettbewerb in Gang zu setzen und in Gang zu halten, von dem auch große (anonyme) Gruppen von Menschen profitieren, die den leistungserbringenden Konkurrenten individuell gar nicht bekannt sind (und ihnen auch nicht in einem motivationalen Sinne am Herzen liegen müssen). Abschließend lässt sich die ordonomische Bestimmung des Verhältnisses von Individualethik und Institutionenethik auch so auf den Punkt bringen: Abgesehen von den klassischen Aufgaben der Individualethik – also den Aufgaben individueller »Selbstvergewisserung« in jenen Fällen, in denen die Welt der Gründe und die Welt der Anreize zwar prinzipiell übereinstimmen, dieses Potential individuell aber (noch) nicht hinreichend erkannt wird – lassen sich die individualethisch erzeugten Ambitionen zur Verwirklichung moralischer Impulse vielfach besser institutionenethisch – durch innovative Regelarrangements – zur Geltung bringen, während andererseits die Institutionenethik immer wieder konstitutiv darauf angewiesen ist, dass ein individualethisch generiertes Wohlwollen das Auffinden und Einrichten innovativer institutioneller Arrangements anleitet. Man kann es auch so ausdrücken: Oft können moralische Handlungsbedingungen (institutionell) leisten, was moralische Handlungsgesinnungen allein (motivational) nicht sicherstellen können. Insofern können Individualethik und Institutionenethik Hand in Hand gehen. Aber auch umgekehrt gilt: Moralische Handlungsgesinnungen – als ethisch reflektierte Ideen – sind unverzichtbar, um moralische Handlungsbedingungen zu schaffen, die der Verwirklichung moralischer Anliegen durch funktionale Anreizarrangements den Weg bereiten.

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Kolloquium 5 · Ingo Pies u. Stefan Hielscher

Literatur Ingo Pies: Wie bekämpft man Korruption? Lektionen der Wirtschafts- und Unternehmensethik für eine ›Ordnungspolitik zweiter Ordnung‹, Berlin 2008. –: Das ordonomische Forschungsprogramm, in: ders.: Moral als Heuristik. Ordonomische Schriften zur Wirtschaftsethik, Berlin 2009a, 2–32. –: Moral als Heuristik. Ordonomische Schriften zur Wirtschaftsethik, Berlin 2009b. –: Moral als Produktionsfaktor. Ordonomische Schriften zur Unternehmensethik, Berlin 2009c. –: Die zwei Pathologien der Moderne – Eine ordonomische Argumentationsskizze, Diskussionspapier Nr. 2011–14 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 2011a. –: System und Lebenswelt können sich wechselseitig »kolonisieren«! – Eine ordonomische Diagnose der Moderne, in: Lino Klevesath und Holger Zapf (Hrsg.): Demokratie – Kultur – Moderne. Perspektiven der Politischen Theorie, München 2011b, 281–298. –: Der wirtschaftsethische Imperativ lautet: Denkfehler vermeiden! – Sieben Lektionen des ordonomischen Forschungsprogramms, Diskussionspapier Nr. 2011–7 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle 2011c. –: Regelkonsens statt Wertekonsens. Ordonomische Schriften zum politischen Liberalismus, Berlin 2012. Ingo Pies, Markus Beckmann und Stefan Hielscher: Value Creation, Management Competencies, and Global Corporate Citizenship: An Ordonomic Approach to Business Ethics in the Age of Globalization, in: Journal of Business Ethics, vol. 94, 2010, 265–278. –: The Political Role of the Business Firm: An Ordonomic Concept of Corporate Citizenship Developed in Comparison with the Aristotelian Idea of Individual Citizenship, in: Business & Society, 2012 (im Erscheinen). –: Moral Commitments and the Societal Role of Business: An Ordonomic Approach to Corporate Citizenship, in: Business Ethics Quarterly, vol. 19(3) 2009, S. 375–401.

Gute Gründe für und in Konzeptionen ökonomischer Rationalität Matthias Kettner

Wirtschaftliches Handeln lässt sich unter den formalen Gesichtspunkten der MittelZweck-Rationalität beurteilen.1 Das erscheint selbstverständlich. Bis heute kontrovers geblieben sind aber, auch und gerade innerhalb der Ökonomik, Besonderheiten einer spezifisch »ökonomischen« Rationalität. Im ersten Abschnitt führe ich David Humes unspezifisches instrumentelles Rationalitätsmodell als Folie ein, im zweiten Abschnitt skizziere ich den Zusammenhang von Rationalitätsmodellen und Gründen, wie er sich diskurspragmatisch darstellt. Der dritte Abschnitt rekonstruiert sechs Prämissen des spezifisch ökonomischen Akteurmodells homo oeconomicus. Im vierten Abschnitt wird die modelltheoretische Überlegenheit von Max Webers Modellierung der Mittel-ZweckRationalität aufgezeigt. Dabei wird gleichwohl eine Lücke im Modell aufgedeckt, die im fünften Abschnitt mit Hilfe von diskurspragmatischen Überlegungen geschlossen wird. Das Ergebnis ist die Destruktion der scheinbaren Natürlichkeit des Postulats der Eigennutzenmaximierung, sowie ein Vorschlag, rationale Autonomie als Eigensinnmaximierung zu begreifen. Dieser Vorschlag könnte den Weg der Wirtschaftstheorie in die Welt der Gründe erleichtern.

I. Ökonomisch unspezifische instrumentelle Rationalität Aus dem Blickpunkt einer diskurspragmatischen Rationalitätstheorie betrachtet gehört es zur menschentypischen Lebensform, dass wir unsere Gründe haben und vernünftig mit Gründen umgehen können. Was sind Gründe? Pragmatisten, auch transzendentale, finden es ratsam, von handlungsrelevanten Gründen auszugehen. Ein solcher Grund kann alles sein, was eine Person so in ihr Denken einbeziehen kann, dass für sie selbst ein Bewertungsgesichtspunkt entsteht, unter dem etwas für oder gegen eine (eigene oder fremde) Handlungsmöglichkeit spricht. »Besser ihr macht einen Backup – denn sonst droht Datenverlust.« Dass Datenverlust droht, ist eine Tatsachenüberzeugung. Dass die Angesprochenen, denen hier einer klarmacht, dass sie einen guten Grund zum Sichern ihrer Daten haben, Datenverlust zu vermeiden wünschen, ist ein angenommener Wunsch. Setzen Handlungsgründe sich folglich aus Tatsachen und Wünschen zusammen, derart, dass Gründe wie Rezepte sind, Erwünschtes zu erlangen und Unerwünschtes zu vermeiden? David Hume über reason and the passions lässt sich ungefähr in diesem Sinne verstehen: Der korrekte GeIch danke meinem Kollegen Dirk Sauerland und den Teilnehmern von vier gemeinsamen Seminaren über Schnittstellen von Philosophie und Ökonomik für viele wertvolle Diskussionsanregungen. 1

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brauch des Verstandesvermögens liefert diejenigen Gründe, aus denen zu handeln uns so ins Ziel bringt, wie wir es begehren. Im Rahmen bestimmter Annahmen darüber, was in rational zu nennenden Verhaltensweisen deren Rationalität eigentlich ausmacht – hier also: im Rahmen von Humes Modell »instrumenteller Rationalität« – könnte man sagen, dass gute Gründe Korrelate der erfolgreichen Ausübung der betreffenden, im Modell modellierten Rationalitätsform sind – hier also: Korrelate des realistischen Nachdenkens über zielereichungstaugliche Handlungen, also Mittel. Humes instrumentelles Rationalitätsmodell2 stellt nicht auf spezifisch ökonomisches, also mit Praktiken des Wirtschaftens befasstes Handeln ab, sondern auf die Rationalität im menschlichen Handeln überhaupt. Bemerkenswerterweise spielt das Maximieren hier keine privilegierte Rolle. Wer die üblichen Explikate ökonomischer Rationalität kennt, den muss auch mit Grausen erfüllen, dass wir Hume zufolge keinerlei Rationalitätsfehler machen, wenn uns Nutzenentgang besser gefällt als soviel Nutzen wie möglich herauszuholen zu wollen. Humes Rationalitätsmodell heißt »instrumentell«, nicht um ihm einen schlechten Ruf zu geben – das abfällige reason is a gun for hire wäre sicher keine brauchbare Pointierung des Modells, denn instrumentelle Rationalität braucht man für moralisch lobenswerte wie für verwerfliche Ziele gleichermaßen –, sondern »instrumentell« handelt, wer allein aufgrund seiner Absicht, bestimmte Ergebnisse herbeizuführen, so handelt wie er handelt: Die gewählte Handlungsweise ist mehr oder weniger wert je nach dem, was der Akteur sich von ihr für die Verwirklichung seiner Zwecke verspricht. Allein die Handlungskonsequenz, nämlich seine verwirklichten Zwecke, sind im Licht der Überzeugungen und Wertungen des Akteurs unmittelbar wertvoll. Die Handlungsweise selbst hingegen ist nur mittelbar wertvoll – eben »instrumentell«, das heißt ein allein durch ihren Beitrag zum Erreichen des wertvollen Handlungszwecks wertvolles, an sich aber wertneutrales Mittel. Den lediglich mit instrumenteller Rationalität ausgerüsteten Akteur hätte man sich als einen Menschen vorzustellen, der seinen Neigungen und Wünschen freimütig folgt und sie realitätsprüfend verwirklicht, wobei für diese Realitätsprüfung allerdings nur

»’Tis not contrary to reason to prefer the destruction of the whole world to the scratching of my finger. ’Tis not contrary to reason for me to chuse my total ruin, to prevent the least uneasiness of an Indian or person wholly unknown to me. ’Tis as little contrary to reason to prefer even my own acknowledg’d lesser good to my greater, and have a more ardent affection for the former than the latter. A trivial good may, from certain circumstances, produce a desire superior to what arises from the greatest and most valuable enjoyment; […] a passion can never, in any sense, be call’d unreasonable, but when founded on a false supposition, or when it chuses means insufficient for the design’d end […]«, David Hume, A Treatise of Human Nature [1739], Book II, Part III, Section III (»On the Influencing Motives of the Will«), diverse Ausgaben, auch online in The Online Library of Liberty. Eine brauchbare Erläuterung von Humes Rationalitätsmodell gibt Michael Smith: Humean Rationality, in: The Oxford Handbook of Rationality, hg. von Alfred R. Mele und Piers Rawling, Oxford 2004, 75–92. Eine hervorragende Exegese und Analyse, wie Hume im Zusammenhang über Kausalitätsdenken, das Natürliche der menschlichen Natur und die Rolle des Verstands denkt, gibt Jonathan Bennett: Learning from Six Philosophers, Volume 2, Oxford 2001, 221–319. 2

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das Selektionsschema von Mitteln, die mehr oder minder tauglich zum Erreichen eines Zwecks sind, zu Verfügung steht. Um David Humes Modell des rationalen Akteurs akronymisch auf den Punkt zu bringen: Es ist der instrumentally rational passion-driven man, IRPM. Dass die Rationalität des IRPM der einzige robust zu sichernde Sinn von Rationalität sei, wird man kaum im Ernst behaupten wollen. Die Rationalität des IRPM ist primitiver und gewissermaßen nur eine Teilinterpretation von Max Webers Konzept der Mittel-Zweck-Rationalität, wie ich in Abschnitt IV zeigen werde. Humesche IRPM-rationale Personen, die überlegen wollten, was sie in einer gegebenen Situation am besten tun sollten, könnten nicht einmal rational überlegen, ob es in ihrer Handlungssituation überhaupt gut wäre, sich einen Zweck vorzusetzen und mit geeigneten Mitteln zu verfolgen, oder sich anders als absichtsvoll zwecktätig zu verhalten. Sie könnten in den beiden Fragen, welche Mittel die besten wären, und der, was sie am besten tun sollen, nicht zwei distinkte und doch gleichermaßen ein rationales Überlegen verlangende Fragen erkennen.

II. Rationalitätsmodelle in der Welt der Gründe Wo wir Rationalität überhaupt in einer bestimmten Form modellieren können, münzt sich diese Rationalitätsform (reason) in Gründen aus (reasons), die dem betreffenden Rationalitätsmodell entsprechen, und auch entsprechen müssen, da sie nur im Rahmen eines Rationalitätsmodells als bessere oder schlechtere Gründe bewertet werden können. Das Modell gibt vor, zumindest ansatzweise, wie sie zu bewerten sind. Es enthält zumindest ansatzweise die einschlägigen Standards für die rationale Bewertung von Gründen und bildet dadurch das Maß, des Vernünftigen, dass es als vernünftig, und des Unvernünftigen, dass es als unvernünftig gilt. Um weiter ausholen zu können – wie wir müssen, da wir in Humes instrumenteller Rationalität noch kein Spezifikum des Ökonomischen angetroffen haben – benötigen wir einen viel offeneren Grundbegriff für die Modellierung von Rationalität und Handlungsfähigkeit. Diesen gewinnen wir, indem wir einen Grund durch seine Rolle innerhalb der Praxis des Infragestellens und Begründens von Urteilen jeglicher Art definieren. Urteile sind Behauptungen jeglicher Art mit rechtfertigungsbedürftigen Geltungsansprüchen jeglicher Art. Diese Praxis operiert an und mit Gründen und hat wiederum Gründe (zur Rechtfertigung von Geltungsansprüchen) zum Ergebnis. Sie ist deshalb, wie man sagen könnte, »diskursiv geschlossen«. Über ihre Diskursrolle können wir Handlungsgründe jeder Art als Weil-Korrelate definieren: X ist ein Grund G genau dann, wenn man durch Anführen von X ernsthaft auf die Warum-Frage antworten kann, warum Akteure so handeln, wie sie handeln. Natürlich sind Gründe nicht identisch mit den Weil-Antworten als Sprachformen, Gründe sind ja keine Sprechakte, vielmehr ist ein Grund dasjenige, was in einer ernsthaften Weil-Antwort zur Sprache und zur Geltung gebracht wird und diese ernsthafte Weil-Antwort erst zu einer solchen macht. Natürlich interessieren uns ernsthafte Wa-

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rum-Fragen auch diesseits und jenseits unserer Handlungsmächtigkeit, etwa Fragen nach den kausalen Prozessen, an denen es liegt, dass wir so handlungsmächtig (oder ohnmächtig) sind, wie wir sind. Letztlich interessieren uns nicht nur praktische Gründe, sondern alle möglichen Gründe. 3 In der durch allseitige Beteiligung an diesem Spiel entstehenden und sich reproduzierenden Welt von Gründen ist es uns möglich, zwei offensichtlich gemeinschaftsexistenziell wichtige Zwecke zu verfolgen. 1. Gründe orientieren orientierungsbedürftige Absichten und Ansichten. Sie machen nämlich anderen, aber auch uns selbst gegebenenfalls transparent, was wir tun, indem wir etwas tun, und warum wir es so tun, wie wir es tun, und nicht anders, wenngleich wir auch anders könnten. 2. Gründe rechtfertigen rechtfertigungsbedürftige Absichten und Ansichten. Wenn die positiven und negativen Konsequenzen, die die Handlungsmächtigkeit Einiger für die Anderer hat, allen bewusst wird, entsteht Rechtfertigungsbedarf,4 und dieser kann – idealiter und normativ betrachtet – durch adäquate Gründe gedeckt werden, die zeigen, was für oder gegen die betreffende Handlungsweise spricht; dass sie nicht in Ordnung ist und somit bestimmte Einwände auf sich zieht oder eben in Ordnung ist und bestimmten Einwänden entgeht. Metaphorisch gesprochen, sind Gründe gleichsam die Universalwährung, die allen Bewohner der Welt von Gründen zu Verfügung steht, um sich ihr Tun und Erleben als sinnhaftes Tun und Erleben intelligibel zu machen, d. h. einsichtig, einsehbar, nachvollziehbar, evident, wie für sich selbst so auch für andere. Und Diskurse sind etablierte kommunikativen Praktiken, um zu prüfen, ob anscheinend gute Gründe im Vergleich zu anderen Gründen, und ob die von den Einen für gut gehaltene Gründe im Vergleich zu den von den Andern für gut gehaltenen Gründen, wirklich halten, was sie versprechen. Die Diskursrollendefinition sagt zwar, was ein Grund ist, sagt aber weder, wodurch ein Grund besser als ein anderer sein kann, noch woran wir dies erkennen könnten. Sie lässt auch offen, ob es Gründe von verschiedener, womöglich grundverschiedener Art gibt, nicht nur jenseits des weiten Felds praktischer Gründe,5 sondern auch innerhalb Praktische Gründe überhaupt, nicht nur Handlungsgründe, sind Weil-Antworten jeder Art auf normative Warum-Fragen jeder Art im Rahmen unserer diskursiven Praktiken des Nachfragens nach Gründen und des Befragens ihrer Güte, ihres rationalen Werts. Z. B.: »Dieser Tage kaufen in Deutschland tatsächlich viel mehr Menschen Glühbirnen als je zuvor. Warum sollten sie?« Hier ist der Grund: Weil die altgewohnten Glühbirnen bald nur noch zu viel höheren Schwarzmarktpreisen zu haben sein werden. Mehr zur transzendentalpragmatischen Analyse von Gründen s. Matthias Kettner: Noch einmal: Wozu sind gute Gründe gut?, in: Filosofia trascendentalpragmatica – Transzendentalpragmatische Philosophie, hg. von Michele Borrelli und Matthias Kettner, Cosenza 2007, 255–277; ders.: Was macht gute Gründe zu guten Gründen?, in: Naturalismus und Menschenbild. Deutsches Jahrbuch Philosophie, Bd. 1, hg. von Peter Janich, Hamburg: 2009, 257–275. 4 Die Entstehung von Rechtfertigungsbedarf lässt sich mit Deweys pragmatischem Konzept von Öffentlichkeit gut erklären, s. Matthias Kettner: John Deweys demokratische Experimentiergemeinschaft, in: Demokratischer Experimentalismus, hg. von Hauke Brunkhorst, Frankfurt 1998, S. 44–66. 5 Wir können als ontische Gründe solche abgrenzen, aus denen es kommt dass… Sie sind Korrela3

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desselben. (Ob man Gründe des Fürwahrhaltens, »epistemische« Gründe, ebenfalls zu den praktischen Gründen rechnen sollte, ist eine offene Frage.) Die Polylogik praktischer Gründe differenziert sich unter der Frage »warum tut einer dies (oder unterlässt es, oder lässt es bleiben)?« mindestens dreifach nach (1) Intelligibilitätsgründen, (2) Rechtfertigungsgründen und (3) Erklärungsgründen für das, was jemand tut.6 Bleiben wir innerhalb des in sich inhaltlich unüberschaubar vielfältigen Felds praktischer Gründe. Bedenkenswert erscheint mir die Null-Hypothese, dass wir überhaupt nicht annehmen müssen, es gebe spezifisch ökonomische Handlungsgründe. Angenommen, die Grundprozesse allen Wirtschaftens sind Kreation, Produktion, Konsumption, Distribution und Zirkulation von Gütern und Dienstleistungen als Waren. Der Nullhypothese zufolge würden wir uneingeschränkt alle möglichen Gründe verwenden, um uns innerhalb der komplexen Praxis zu orientieren, in der die genannten Grundprozesse aller Ökonomie Gestalt annehmen, aber keine spezifisch ökonomischen Gründe. Wir können der Nullhypothese etwas entgegensetzen, wenn wir von der bereits festgestellten Rolle von Rationalitätsmodellen im Verbund mit der diskursiven Rolle von Gründen ausgehen. Rationalitätsmodelle setzen einschlägige und geeignete Standards, wie rationale Bewerter von Gründen Gründe zu bewerten hätten d. h. rationaliter bewerten sollten, daher sind Grundbewertungen stets relativ zu Rationalitätsmodellen. Angenommen, es gelingt uns, eine spezifisch ökonomische Form der Rationalität auszuzeichnen und zu modellieren (innerhalb von Akteurmodellen, die als solche stets mehr als bloß Rationalitätsannahmen enthalten). Dann können wir diese Form als einen Standardgrund behandeln, mit dem wir an Handlungsgründen, welcher Art auch immer, bewerten können, wie gut oder schlecht sie relativ zu diesem Standard sind. Das geht, solange die fraglichen Handlungsgründe überhaupt etwas repräsentieren, das sich zumindest auch nach den Standards des betreffenden Rationalitätsmodells bewerten lässt, egal nach welchen sonstigen Standardgründen es sich auch noch bewerten lässt. Handlungsgründe mögen inhaltlich unendlich variieren, aber gut oder schlecht sind sie nicht simpliciter, sondern immer nur relativ zu mindestens einem Rationalitätsmodell, das als Standard für das Gründebewerten fungiert bzw. einschlägige und geeignete Standards setzt. Soweit die Handlungssituation von Akteuren in ihrer jeweiligen Problematik (die sich in die Gründe übersetzt, die Situation den in ihr Überlegenden gibt) zumindest eine »ökonomische Seite« aufweisen, werden die betreffenden Gründe zumindest auch diese Seite manifestieren, wenn wir die Gründe im Licht von Standards ökonomischer Rationalität bewerten. Der Grund, aus dem ich im Jahr 2011 schnell noch Vorräte an Glühbirnen meinte kaufen zu sollen, ist: »weil sie mich demnächst wegen des baldigen europaweiten Glühbirnenverbots viel mehr kosten werden als jetzt«. Mein Handlungsgrund erscheint mir

te von nichtnormativen Antworten auf Warum-Fragen des Typs »Warum geschieht (oder unterbleibt) dies?«. 6 In eine ähnliche Richtung denkt Alan Millar: Reasons for Action and Instrumental Rationality, in: Reason and Nature. Essays in the Theory of Rationality, hg. von José Luis Bermúdez und Alan Millar, Oxford 2002, 113–132.

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gut im Licht von anderen Gründen, die klarmachen, inwiefern meine Handlungsweise rationalem Verhalten entspricht. Ein solcher Grund könnte sein: »Es ist im allgemeinen gutes rationales Verhalten, vermeidbare Mehrausgaben zu vermeiden.« Ich kann meinen Handlungsgrund aber auch auf andere einschlägige und geeignete Gründe beziehen und es ist möglich, dass er mir relativ zu diesen schlecht erscheint. Im Licht des Grundes, »es ist nachhaltig rationales Verhalten, Energieressourcen möglichst effizient einzusetzen«, sollte man meinen Handlungsgrund als einen schlechten Grund beurteilen. Wir können diese verwickelten Verhältnisse terminologisch eleganter so fassen: Handlungsgründe bewerten wir mit Hilfe anderer Gründe, und die Gründe in dieser Rolle von Standards des Gründebewertens können wir als Bewertungsgründe bezeichnen, oder einfach als Standardgründe, wenn sie von sehr allgemeiner Form sind. Kurz gesagt: Ob ein bestimmter Handlungsgrund gut oder schlecht ist, bewerten wir (nicht nur an, aber immer auch) an einschlägigen und geeigneten Standardgründen. Woher nehmen wir diese? Diese Frage führt in weitläufige Untersuchungen über die vielfältigen kulturellen Verkörperungsmöglichkeiten von Gründen. Aber gewiss liegt zumindest ein Teil der Antwort im Hinweis auf Rationalitätsmodelle, denn innerhalb ihres jeweiligen Anerkennungsbereichs setzen sie einschlägige und geeignete Standardgründe. Aber was macht Standardgründe zu »einschlägigen«? Wie unterscheiden wir –anders gefragt: wie und woher kommt es, dass wir unterscheiden können – welche Standardgründe in einem fraglichen Fall rationaler Gründebewertung einschlägig sind und welche nicht? Hume meinte, sein Modell instrumenteller Rationalität, sei immer einschlägig. Denn Hume hielt IRPM für eine anthropologische Tatsache. Wie konnte Hume so denken? Diese Frage verweist offenbar auf die Art der Modellkonstruktion oder überspitzt gesagt, auf die »Theorie der Modellierung« im Hintergrund. Diese zielt nämlich auf die Erfassung von Naturwüchsigkeit oder Natürlichkeit in den zu modellierenden Verhältnissen – auf human nature, the nature of rationality und dergleichen, sozusagen auf eine rationalitas des animal rationale, die dieses immer und wesensmäßig schon hat. Die zu bestimmende menschliche Rationalität erscheint vorweg schon als eine ebenso ahistorische Bestimmung wie die des Menschen selbst. In der langen Reihe von Versuchen, eine spezifisch ökonomische Rationalität zu modellieren, lässt sich, wie mir scheint, etwas Ähnliches beobachten: Für das Explikandum wird vorweg schon eine Naturwüchsigkeit oder Natürlichkeit reklamiert, die die ökonomischen Rationalität zu einer für alle Akteure und Situationen relevanten macht.7 Die zu bestimmende ökonomische Rationalität erscheint vorweg schon als eine ebenso ahistorische Bestimmung wie die des Wirtschaftens selbst, das mit zur Bestimmung des Menschen gehört. Nach Auskunft maßgeblicher Ökonomen ist dessen Fun-

7 Pars pro toto: »What is the content of ›rational economic man‹? To the means-end explanation of practical rationality […], economists add two further assumptions: first, that all economic agents will and should be driven by self-interest (i. e., they will set ends that maximize their own utility), and that the success of those actions is to be measured in results or outcomes or consequences«, Mark A. Young: Rational Games, Westport 2001, 18.

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damentalkonstante die Knappheit. Wie der Mensch der philosophischen Anthropologie als ein Mängelwesen erscheinen konnte, so konnte zuvor schon der Ökonomik das in menschliche Verhältnisse von Anfang an eingelassene Wirtschaften als die Bestimmung erscheinen, aus Knappheit das Beste zu machen. Unter diesen Voraussetzungen gilt: Mit jedem Modell des ökonomisch rationalen Akteurs stellen wir ein Modell dafür auf, wie Akteure mit Knappheitssituationen umgehen würden, wenn und soweit sie rational mit ihnen umgehen könnten und wollten. Eigentlich kann ein solches Modell nur dort einschlägig sein, wo sich eine autonome Handlungspraxis als Bewältigung von Knappheitsproblemen durch rationale Entscheidungen deuten oder in eine solche umdeuten lässt. Wer ein solches Modell für ein allgemeines Modell rationalen Handelns halten will, muss folglich alle Handlungsprobleme von willensfreien entscheidungsfähigen Akteuren in solche Knappheitsprobleme umdeuten. III. Zwischen IPRM und MERM: Die sechs Prämissen des homo oeconomicus Die im vorigen Abschnitt ausgesprochene Vermutung des qua Modellierung erzeugten Anscheins alternativloser Natürlichkeit von Rationalität – man könnte dies in Anlehnung an Wilfrid Sellars den »Mythos des Gegebenen« in der Theorie der Vernunft nennen – lässt sich an der Modellbaugeschichte des homo oeconomicus belegen. Wir können dieses Rationalitätsmodell in eine Modellreihe einordnen. Die Reihe beginnt mit dem bereits beschriebenen Humeschen Modell des instrumentell rationalen Akteurs. Mit Anreicherungen durch Adam Smith, deutlicher dann bei John Stewart Mill, wird aus dem IRPM der homo oeconomicus (HOEC) konstruiert. Der prägnanteste Zug hierbei ist wohl die Verengung der Semantik von Neigungen und Leidenschaften (passions) auf die Semantik des Eigeninteresses (self-interest), verstanden als das Interesse an soviel eigenem Nutzen wie möglich. 8 Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich »das« HOEC-Modell in der Literatur dargestellt wird. Konsens besteht eher über die anhaltende grundsätzliche Bedeutsamkeit des HOEC-Modells für die Theoriekonstruktion in der Ökonomik, als über die begriffliche Infrastruktur des Modells (und deren Elastizität), über seine Charakteristika und logische Ordnung (und deren Spielraum).9 Lediglich darüber scheint man sich einig zu sein,

Vgl. Mark A. Young: Rational Games, Westport 2001, 62 f.: »The model in question is John Stuart Mill’s homo oeconomicus: rational economic man. This is a creature who is primarily guided by self-interest, who judges actions by their consequences and who uses his reason not to set goals, but rather to find and evaluate means to reach pre-existing objectives.« Siehe auch Paul Weirich: Economic Rationality, in: The Oxford Handbook of Rationality, hg. von Alfred R. Mele und Piers Rawling, Oxford 2004, 380–398. Weirich reinterpretiert alle Transformationen des HOEC-Modells so, dass das Nutzenmaximierungsprinzip zentral bleibt: »An option’s utility responds to any reason to adopt that option« (ebd. 393). 9 Der Status des HOEC-Modells rationaler Akteure wird sehr unterschiedlich interpretiert. Manche Kritiker geben dem Modell den Status einer empirischen Theorie über die menschliche Natur und bekla8

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dass Variationen über die Grundannahme, dass es rational ist, den eigenen Nutzen zu mehren, der Modellierung die prägende Form geben.10 Trägt man Modellierungen namens homo oeconomicus zusammen und versucht sie in Form einer Prämissenmenge zu rekonstruieren, dann decken die folgenden sechs Prämissen jedenfalls einen großen Teil der in der Literatur vorfindlichen Konstruktvarianz ab. 1.a. Die erste Prämisse, manchmal auch »Individualprinzip« genannt, schreibt die Sozialontologie des Präferentialismus11 in das Modell ein und setzt außerdem einen prinzipiellen Vorrang aktorrelativer Präferenzen vor nicht aktorrelativen: Jeder einzelne Akteur hat seine Präferenzen und handelt nur aus unmittelbarem Interesse an der Erfüllung der eigenen Präferenzen, nicht aber aus Interesse an (oder irgendeiner nicht eigeninteresse- sondern verpflichtungsbasierten12 Anforderung) der Erfüllung der Präferenzen Anderer.13 gen ein reduktionistisches Menschenbild, manche (z. B. Karl Homann und Ingo Pies) weisen solchen Realismus als ein methodologisches Missverständnis zurück, nehmen das Modell gegen diesen Vorwurf in Schutz und geben ihm den Status eines bloßen Analyseinstruments, nämlich für dilemmageprägte Interaktionsstrukturen. Zu diesen Kontroversen s. Ulrich Thielemann: Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept. Kritik des Neoliberalismus, Marburg 2010, 64–68, bes. die lange Fußnote 29 auf 60. Natürlich haben diese wissenschaftstheoretischen Kontroversen auch eine wirtschaftsethische Seite, vgl. zum Beispiel Eckhard Burkatzki mit vorsichtig positivem empirischem Befund: Verdrängt der Homo oeconomicus den Homo communis? Normbezogene Orientierungsmuster bei Akteuren mit unterschiedlicher Markteinbindung, Wiesbaden 2010; prinzipiell abwiegelnd hingegen Andreas Suchanek und Klaus-Jürgen Kerscher: Verdirbt der Homo oeconomicus die Moral?, in: Homo oeconomicus. Ein neues Leitbild in der globalisierten Welt?, hg. von Verena von Nell und Klaus Kufeld, Berlin 2006, 59–80. 10 Gebhard Kirchgässner: Homo oeconomicus. Das ökonomische Modell und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Tübingen 22000, 10. 11 Zu dieser Sozialontologie s. Christoph Fehige: Preferences – an Introduction, in: ders. und Ulla Wessels: Preferences, Berlin 1998, XX–XXIX. 12 Einige der Schwierigkeiten, die sich für die Wirtschaftstheorie aus dieser völlig kontraintuitiven Verengung der Begründungsbasis des Handelns ergeben, hat Martin Hollis einleuchtend analysiert, s. Rationalität und soziales Verstehen, Frankfurt 1991, Kapitel 3, »Handeln in einem normativen Kontext«, 65–90. 13 Zur Frage des modelleigenen »Egoismus« im HOEC-Modell siehe Ulrich Thielemann: Das Prinzip Markt. Kritik der ökonomischen Tauschlogik, Bern 1996, 132–144, bes. die Unterscheidung von drei methodologischen Bedeutungsvarianten des HOEC-Modells, Abbildung 9 auf S. 142. Die moralisch konnotierte Frage des Egoismus (Selbstsucht) hängt zusammen mit, ist aber zu unterscheiden von der Frage des »methodologischen Individualismus«, der ein Dogma der heutigen Wirtschaftstheorie ist. Was das HOEC-Modell betrifft, macht Joseph A. Schumpeter (Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, München 51980, 259) eine interessante Bemerkung zur Geschichtsvergessenheit der heutigen Ökonomen, die unter Individuen gewissermaßen Singles verstehen und vergessen, dass im 18. und 19. Jdt. »die Familie und ihr Haus die hauptsächliche Triebfeder, die typisch bürgerliche Art des Gewinnmotivs zu sein pflegten. Die Ökonomen haben dieser Tatsache nicht immer genügend Gewicht beigelegt. Wenn wir uns ihre Vorstellung vom Selbstinteresse des Unternehmers und Kapitalisten näher betrachten, so kann es uns nicht entgehen, dass die Ergebnisse, die es hervorbringen soll, durchaus nicht dem entsprechen, was man vom rationalen Selbstinteresse des unabhängigen Individuums oder des kinderlosen Ehepaars erwarten würde, welche die Welt nicht mehr durch das Fenster eines Familienhauses betrachten. Bewusst oder unbewusst haben sie das Verhalten eines Mannes analysiert, dessen Ansichten und Motive durch ein solches Haus geformt sind und der in erster Linie für seine Frau und seine Kinder

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1.b. Zudem gilt: Die Präferenzen des Einzelnen sind konsistent geordnet, konstant, atomar – das ist eine anspruchsvolle idealisierende Zuschreibung rationaler Wohlgeordnetheit – und als Gesamtmenge endlos, enthalten also stets unerfüllte und untererfüllte. Die letztgenannte Stipulation wird meistens als »Nicht-Sättigung« und »Unersättlichkeit« bezeichnet und spiegelt einmal mehr die Intuition wieder, dass unter Knappheit handeln zu müssen dasjenige ist, was den wirtschaftenden Menschen als einen solchen am meisten ausmacht und bestimmt.14 2. Die Prämisse des problemfokussierten Handelns. Diese Prämisse deutet alles Handeln von wirtschaftenden Menschen als Versuche der Problembewältigung. Ihr Handeln dient primär oder letztlich dem Zweck, Knappheitsprobleme durch rationale Entscheidungen des Einzelnen zu bewältigen. Jeder Einzelne berücksichtigt alle und nur die mit Bezug auf das zu bewältigende Knappheitsproblem relevanten Präferenzen und Restriktionen und verfügt über alle nötigen Informationen. Die Genese der Präferenzen und der Restriktionen interessiert dabei nicht.15 3. Die Prämisse der Wohlunterschiedenheit von Präferenzen und Restriktionen setzt, dass rational wirtschaftende Akteure stets ihre eigenen Präferenzen von den Beschränkungen (Restriktionen) unterscheiden können, unter denen sie sie zu erfüllen suchen, und dass sie über alle entscheidungsrelevanten Präferenzen und Restriktionen vollständig informiert sind. Restriktionen sind, aus der Binnensicht von Akteuren, als Grenzen von Spielräumen von Handlungsentscheidungen zu begreifen. Der Restriktionsbegriff selbst enthält keine Beschränkungen für das Woher solcher Grenzen: In die Rolle von Begrenzern können z. B. rechtliche oder moralische Vorgaben ebenso kommen wie z. B. Ressourcen- und Budgetgrenzen, Bestrafungsängste und Geiz. 4. Die Prämisse der vorteilmaximierenden Abwägung setzt, dass ein homo-oeconomicus-rationaler Akteur »unter Anwendung des Kosten-Nutzen-Kalküls seine Handlungsmöglichkeiten bewertet, um sich gemäß dem relativen Vorteil zu entscheiden«.16 Ob die Abwägung unter sicheren Alternativen oder unter solchen, für die nur mehr oder minder unsichere Abschätzungen (vor allem: Abschätzungen ihrer Realisierungswahrscheinlichkeit) zu Verfügung stehen – Entscheidungen unter Untersicherheit(en) – spielt demgegenüber nur eine zweitrangige Rolle. arbeiten und sparen will. Sobald diese Motive aus dem moralischen Aspekt des Geschäftsmannes weichen, haben wir eine andere Art des homo oeconomicus vor uns, der sich für anderes interessiert und anders handelt. Für ihn und vom Standpunkt seines individualistischen Utilitarismus aus wäre das Verhalten jenes alten Typus de facto völlig irrational. Er geht […] auch der kapitalistischen Ethik verlustig, welche für die Zukunft zu arbeiten einschärft, unabhängig davon, ob man die Ernte selbst einbringen wird oder nicht.« 14 Der locus classicus für die Kanonisierung dieser Intuition ist Lionel Robbins Definition der Ökonomik als der »Wissenschaft, die menschliches Verhalten untersucht als eine Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln, die unterschiedlich verwendet werden können« (On the Nature and Significance of Economic Science, London 21935, 102 f.). 15 Vgl. Elisabeth Göbel: Neue Institutionenökonomik – Konzeption und betriebswirtschaftliche Anwendungen, Stuttgart 2002, 23 ff. 16 Mathias Erlei, Martin Leschke, Dirk Sauerland: Neue Institutionenökonomik, Stuttgart 22007, 4.

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Diese zentrale, alle in das HOEC-Modell investierten Rationalitätszuschreibungen erfassende Prämisse taucht auch unter Namen wie »Prinzip der Nutzenmaximierung«, »ökonomisches Prinzip«, »Wirtschaftlichkeitsprinzip« auf. 5. Die Prämisse bloß der durchschnittlichen Betrachtung: Rationales Verhalten ist eine Verhaltenstendenz von Mengen von Akteuren. Diese Prämisse wird in der Literatur kaum begründet und meistens defensiv und ad hoc gegen Kritiker angeführt, die die Aufschlusskraft des HOEC-Modells für Einzelfallentscheidungen bezweifeln. Ich finde die Prämisse weder klar noch überzeugend. Bedenken wir Folgendes: Das HOEC-Modell soll rational orientiertes Entscheidungsverhalten autonomer Akteure modellieren. Hierfür enthält das Modell sozusagen symbolische Landkarten von Präferenzen und von Restriktionen (gemäß Prämisse 3) und zudem ein einfaches Rationalitätsprinzip (gemäß Prämisse 4). Das HOEC-Modell diente wirtschaftstheoretisch ursprünglich dazu, das durchschnittliche Entscheidungsverhalten von Marktteilnehmern zu modellieren. Es wäre aber wertlos, wenn solches Verhalten nicht tatsächlich in aller Regel ein rational orientiertes Entscheidungsverhalten autonomer Akteure wäre. Der Wert des ökonomisch spezifischen HOEC-Modells liegt u. a. darin, dass es anderen Modellen, die in der Mikro-Ökonomik in Gebrauch sind, eine gewisse handlungstheoretische Fundierung gibt. Vor allem lässt sich mit Hilfe des HOEC-Modells innerhalb des Stammkontexts des Modells – den durch nichts weiter als den Markt koordinierten Handlungen von unbestimmt vielen Marktteilnehmern – die Preisbildung erklären, nämlich als der idealiter erwartbare Schnittpunkt einer Nachfrage- und einer Angebotskurve. So fundiert das HOEC-Modell das Modell der markt-räumenden Preisbildung. Aber: Wenn man nun die Landkarten von Präferenzen und Restriktionen auf einen einzelnen Akteur, z. B. eine einzelne natürliche Person anpasst und indexikalisiert, warum sollte sich der Zweck des Modells dann nicht erweitern lassen? Der Bewertungs-, Erklärungs- und Vorhersageanspruch des Modells erstreckt sich dann auch auf das Wahlverhalten im Einzelfall, auf Entscheidungsverhalten von Individuen. Setzt das ökonomisch spezifische HOEC-Modell in seinem Stammkontext, dem durchschnittlichen Wahlverhalten einer großen Zahl von Anbietern und Nachfragern in einem Konkurrenzmarkt für Waren, als allgemeine Orientierungsgröße für die Rationalität des Wahlverhaltens den Preis (= Anbieter orientieren sich am Preis, um ihren erwarteten Gewinn zu maximieren, und ebenso die Nachfrager, um ihren von den Angeboten erwarteten Nutzen zu maximieren), so setzt das entspezifizierte HOEC-Modell17 als die allgemeine Orientierungsgröße den Eigennutzen (alle Entscheider orientieren sich im

Entspezifziert, wird aus dem HOEC-Modell unter der Hand ein Modell für »natürlich« rationales menschliches Verhalten überhaupt. Exemplarisch für diesen Überstieg s. den berühmten Artikel von Michael C. Jensen, William H. Meckling: The Nature of Man, Journal of Applied Corporate Finance, Bd. 7 (1994) Nr. 2, 4–19. Die Autoren argumentieren, dass eine realistischere Variante des HOEC-Modells (REMM, s. u. Fußnote 20) »that REMM best describes the systematically rational part of human behavior« (ebd., 4), und selbstverständlich legen sie das Modell nicht als eines von Schwarmverhalten sondern als ein Modell des Verhaltens von Individuen im Einzelfall aus (ebd., 7 f.). 17

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Licht ihrer Präferenzen und ihrer Restriktionen an dem aus ihren verfügbaren Verhaltensoptionen erwartbaren Eigennutzen und versuchen diesen zu maximieren). 6. Die Prämisse der im Entscheidungsverhalten sich manifestierenden Präferenzen (revealed preferences). Wer sich angesichts der Optionen x und y für x entscheidet, »offenbart« damit seine relative Präferenz für x. Wobei dem Entscheider vom Beobachter zugeschrieben wird, dass er die Alternative, die er bevorzugt, deshalb bevorzugt, weil er ihr einen höheren Nutzen für sich selbst zuschreibt. An dieser Stelle ist eine weitere kritische Seitenbemerkung angebracht. Unter der Prämisse der revealed preferences, die methodologisch tief behavioristisch ist, wird nicht nur aus jeder Entscheidungshandlung die Manifestation der Präferenzen des Akteurs, sondern überdies die Manifestation der Superpräferenz des Akteurs für die Erzielung des je größeren Eigennutzens. Also müssen allein schon aufgrund der Methode die Akteure a priori als solche erscheinen, die ihren Eigennutzen nicht nicht maximieren können, es sei denn durch Inkonsistenz, nämlich Änderung ihrer Präferenzen. Die Methode erzeugt als ein Methodenartefakt den falschen Schein der Natürlichkeit von selbstsüchtigem Egoismus.18 Soviel zum »klassischen« HOEC-Modell. Wenn man einige der steilen Idealisierungen im HOEC-Modell aufweicht, z. B. in der Prämisse 1b,19 und durch lebensweltlich realistischere Prämissen ersetzt, erhält man das REMM-Modell.20 REMM-Akteure sind Allesbewerter und Alles-in-allem-Bewerter, aber anders als im HOEC-Modell sind ihre Informationen nie vollständig und ihre Transaktionen nie kostenlos. REMM-Modellgetreue Akteure sind und bleiben Gratifikations- bzw. Nutzenmaximierer, aber gerade weil sie an Informationsmangel leiden und in soziale Beziehungen und Institutionen eingebettet sind und mit allen hieraus resultierenden »Restriktionen« aktiv zurecht kommen müssen, erscheinen sie klüger, erfindungsreicher und damit realistischer als die HOEC-Modell-getreuen Akteure.

Als diesen Vorwurf verstehe ich Amartya Sens klassisch gewordene Kritik am rational fool Menschenbild der Ökonomik, s. Rationale Trottel: Eine Kritik der behavioristischen Grundlagen der Wirtschaftstheorie, in: Motive, Gründe, Zwecke. Theorien praktischer Rationalität, hg. von Stefan Gosepath, Frankfurt 1999, 76–103. 19 Realistische Abstriche aufgrund menschentypischer kognitiver Beschränkungen trägt das Konzept der bounded rationality in das HOEC-Modell ein, s. Herbert Simon: Rational Decision-Making in Business Organizations. Lecture to the memory of Alfred Nobel, vom 8.12.1978, http://nobelprize.org/ nobel_prizes/economics/laureates/1978/simon-lecture.pdf (Stand 1.1.2012). 20 Die Konkretisierung des homo oeconomicus als resourceful, evaluating, maximising man geht maßgeblich zurück auf Karl Brunner: The Perception of Man and the Conception of Society: Two Approaches to Understanding Society, in: Economic Inquiry 25 (1987) 367–388. Zur Genealogie s. bereits Manfred Tietzel: Die Rationalitätsannahme in den Wirtschaftswissenschaften oder der homo oeconomicus und seine Verwandten, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft, Bd. 32 (1981) Heft 2, 115– 138, bes. 136 f. 18

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IV. Zurück zu Max Weber Vergleich man die Metamorphosen des HOEC-Modells mit derjenigen idealtypischen Modellierung der Fähigkeit, rational zu handeln, die wir Max Weber verdanken, dann überrascht der Befund, dass die HOEC-Modelle über den Explikationsstand Max Webers nicht hinauskommen oder ihn sogar unterbieten. Geben wir auch Webers klassischer Formulierung der Mittel-Zweck-Rationalität ein Akronym: MERM, means-endsrational man. MERM konstruiert Weber als »konstruktiven Grenzfall« innerhalb eines Gefüges von prägnant verschiedenartigen Bestimmungsgründen sozialen Handelns. MERM besagt: »Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mittel und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt. Die Entscheidung zwischen konkurrierenden und kollidierenden Zwecken und Folgen kann dabei ihrerseits wertrational orientiert sein: dann ist das Handeln nur in seinen Mitteln zweckrational. Oder es kann der Handelnde die konkurrierenden und kollidierenden Zwecke ohne wertrationale Orientierung an »Geboten« und »Forderungen« einfach als gegebene subjektive Bedürfnisregungen in eine Skala ihrer von ihm bewusst abgewogenen Dringlichkeit bringen und darnach sein Handeln so orientieren, dass sie in dieser Reihenfolge nach Möglichkeit befriedigt werden (Prinzip des »Grenznutzens«). Die wertrationale Orientierung des Handelns kann also zur zweckrationalen in verschiedenartigen Beziehungen stehen.«21 Wie das erste betrachtete Modell in unserer Reihe, Humes IRPM, so ist auch Webers Modell wieder allgemein und nicht spezifisch ökonomisch. Aber anders als IRPM, bietet MERM den spezifisch ökonomischen Modellen begrifflich Raum. MERM begreift auch IRPM ein: IRPM ergibt sich aus MERM durch die Besetzung von reiner MittelZweckrationalität mit solchen Standardgründen, die ihre letzte Quelle in den Gefühlsregungen und -lagen (passions) der einzelnen Akteure haben. Im Licht von MERM wird das HOEC-Modell als eine selektive Ausschöpfung der ökonomisch unspezifischen Mittel-Zweck-Rationalität kenntlich: HOEC ergibt sich aus MERM durch die Besetzung von reiner Mittel-Zweck-Rationalität mit solchen Standardgründen, die ihre letzte Quelle in den Werten finden, die spezifisch in Praktiken des Wirtschaftshandelns einer konkreten Gestalt der Ökonomie verkörpert sind. Alle spezifisch ökonomischen Werte im HOEC-Modell – Werte wie Sparsamkeit im Mittelverbrauch oder Maximierung der Rendite von Investitionen, die sich in die Prämissen 1b, 2 und 4 einfügen, Werte also, die in allen marktwirtschaftlich geprägten Lebensbereichen durch entsprechende kulturelle Deutungsmuster in eine tonangebende Position gebracht werden –, erscheinen in Webers Modell erfrischend kontingent und künstlich. Max Weber, Soziologische Grundbegriffe, in: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 41956, 1–30, darin § 2, »Bestimmungsgründe sozialen Handelns«, S. 20 f., online unter http://www.textlog. de/7295.html (Stand 1.1.2012). 21

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Weder sind solche Werte der Ausdruck allgemeiner Attraktoren innerhalb der menschlichen Natur (wie diejenigen meinen, die sich auf die Suche nach hirnwissenschaftlichen und/oder sozialevolutionären Fundierungen von Prämissen des HOEC-Modells begeben oder umgekehrt, wie neuerdings Neuroökonomik und Verhaltensökonomik, die Prämissen kritisieren), noch sind sie von einer gattungsallgemeinen und daher alle kulturellen Unterschiede transzendierenden Menschenvernunft vorgezeichnet. Nüchtern kulturreflexiv betrachtet,22 müssen wir kulturelle Deutungsmuster, die Werten wie Sparsamkeit im Mittelverbrauch und Maximierung des Ertrags von Investitionen überragende Bedeutsamkeit geben, für nicht mehr und nicht weniger als systemische Rationalitätseffekte halten, oder wenn man so will, für kulturspezifische »Rationalitätsumgebungen«,23 die wir geschichtlich so kultiviert haben und auch wieder verändern, loswerden oder wieder verlieren können. Die ökonomische Rationalität ist eine kulturelle Ressource in der Kultur einer Commercial Society.24

V. Eine diskurspragmatische Alternative: Maximierung von Eigensinn Max Webers MERM Modellierung hebt die HOEC-Modelle in sich auf, hat aber an entscheidender Stelle eine interessante, von der soziologischen Weber-Orthodoxie nicht bemerkte Lücke: Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander »rational abwägt.« Der Rationalitätsanteil in Bestimmungsgründen sozialen Handelns ist offenbar von rationalem Abwägen abhängig. Und die Rationalität, die dem Abwägen seinerseits zukommen muss, kann nicht wiederum die Mittel-ZweckRationalität sein. Welche aber dann? Als Diskurspragmatiker werden wir hier auf eine für die Praxis der umgangssprachlichen Verständigung typische und auf eine für die Praxis des Argumentierens spezifische Rationalität verweisen.25 So verweist Webers Rationalitätsmodell zurück auf die

Materialreich zur kulturgeschichtlichen Genealogie des HOEC-Modells s. Laurenz Volkmann: Homo oeconomicus: Studien zur Modellierung eines neuen Menschenbilds in der englischen Literatur vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Heidelberg 2003. 23 Vgl. Friedrich Kambartel, Bemerkungen zur politischen Ökonomie, in: ders.: Philosophie und politische Ökonomie, Essen 1998, 12–39. 24 Genauer hierzu s. Peter Koslowski: Ökonomisierung, Kommerzialisierung und Commercial Society, sowie Matthias Kettner: Ein Vorschlag zur Unterscheidung von Ökonomisierung und Kommerzialisierung, beide in: Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Wirtschaftsphilosophische Unterscheidungen, hg. von Matthias Kettner und Peter Koslowski, München 2011, 255–275 und 3–20. 25 Zur »kommunikativen Rationalität« s. Jürgen Habermas: Rationalität der Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriff der kommunikativen Rationalität, in: ders.: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt 1999, 102–136. Zur »Diskursrationalität« s. KarlOtto Apel: Rationalitätskriterien und Rationalitätstypen. Versuch einer transzendentalpragmatischen Rekonstruktion des Unterschiedes zwischen Verstand und Vernunft, in: Pragmatische Rationalitätsthe22

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diskurspragmatische Rationalitätstheorie, die ich anfangs einleitend eingeführt hatte. Es gehört zur menschentypischen Lebensform, dass wir unsere Gründe haben und vernünftig mit Gründen umgehen können. Max Weber nannte das: »rationales Abwägen«. Im Raum der Gründe aber ist die Auffangstellung jeglichen rationalen Abwägens das Abwägen der Güte von Gründen – und an diesem Punkt geht der Raum der Gründe über in die Praxis des argumentativen Diskurses unter kommunikativ vergemeinschafteten Menschen. Wo innerhalb der Ökonomik philosophische Theoriebildung betrieben wird, herrscht eine Orientierung an Präferenzen (= aktorrelativen Wünschen und Neigungen) und Utilität (=Nutzen für ein Individuum oder alternativ für eine größere Teilmenge aller Menschen) vor. Hier wäre eine Umstellung auf diskurstheoretisch begriffene »gute Gründe« zu versuchen. Diesen Vorschlag kann ich an dieser Stelle nicht mehr ausarbeiten, möchte aber zumindest die Ausgangspunkte benennen. 1. Der Idealtypus der unspezifischen Rationalität: Wirtschaftssubjekten, also in das von unseren etablierten Wirtschaftspraktiken gerahmte und geformte soziale Handeln eingelassenen Akteuren, stehen zunächst einmal alle Gründe (Handlungsgründe) und Rationalitätsmodelle (Standardgründe) zu Verfügung, wie Nichtwirtschaftssubjekten auch, sobald sie sich in Situationen begreifen, in denen sie sich vor Handlungsalternativen gestellt finden. 2. Das Eigensinn-Postulat. Soweit Akteure autonom handeln – das heißt: sich innerhalb eines im Kontext der Handlungssituation von ihnen wahrgenommenen Spielraums von Freiheit zur Selbstbestimmung und in Anerkennung von allem, was sie für richtig, wichtig und wahr halten, auf Handlungsabsichten festlegen – und soweit ihr autonomes Handeln begründungsbedürftig (orientierungsbedürftig, rechtfertigungsbedürftig oder beides) ist, handeln sie aus Gründen (oder zumindest: konform mit Gründen), in deren Licht die Handlungsabsichten, auf die sie sich festlegen, für sie selbst mehr Sinn machen als all diejenigen anderen, auf die sie sich alternativ festlegen könnten, ohne irrational26 zu sein. Kurz gesagt: Sie handeln dann eigensinnmaximierend. Wo sie eigennutzenmaximierend handeln, ist dies nur eine besondere und kontextrelative Ausfüllung des Postulats der Eigensinnmaximierung. Wir ersetzen also die massiv kontraintuitive und zudem dogmatische Annahme, dass rationale Menschen immer dann, wenn sie frei handeln können, idealiter eigennutzenmaximierend handeln sollten, durch die viel plausiblere und erfahrungsoffene Annahme, dass rationale Menschen immer dann, wenn sie frei handeln können, so handeln wollen, dass ihr Tun guten Sinn macht in ihrer eigenen Perspektive. Statt aus angeblich sich in ihren Entscheidungen manifestierenden Präferenzen, erklären wir orien, hg. von Axel Wüstehube, Würzburg 1995, 29–64, sowie ders.: Lässt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden? Zum Problem der Rationalität sozialer Kommunikation und Interaktion, in: Rationales Handeln und Gesellschaftstheorie, hg. von Karl-Otto Apel und Willem van Reijen, Bochum 1984, 23–80. Kritisch zu beidem s. Uwe Steinhoff: Kritik der kommunikativen Rationalität, Paderborn 2006. 26 Irrational wäre die völlig grundlose Nichtvermeidung massiver Selbstschädigungen, vgl. Bernard Gert: Morality. Its Nature and Justification, Oxford 1998, 29–55.

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Handeln zuerst und soweit wie möglich aus den nachvollziehbaren Gründen, die die Handenden selbst mit ihrem Handeln verbinden, wenn sie sich (oder wir sie) nach dessen Sinn fragen. 2. Die Besonderung der Rationalität folgt der Besonderung von Praxis: Wer eine besondere Gründebeurteilungsperspektive bzw. ein besonderes Rationalitätsmodell einführt, z. B. »die ökonomische Rationalität«, hat die Begründungslast, zu zeigen, dass und wie sie spezifisch auf die Bewältigung von Problemen zugeschnitten ist, die sich innerhalb von bestimmten Praktiken, z. B. Wirtschaftspraktiken stellen. Gezeigt werden muss, welche hegemonialen Rationalitätsumgebungen durch diese bestimmten Praktiken geschaffen werden – für die Wirtschaftspraxis sind das heute vor allem Wettbewerbsmärkte – und wie sich der Raum der Gründe, den man durchschnittlichen Akteuren zuschreiben darf (Idealtypus der unspezifischen Rationalität) in Resonanz mit diesen Rationalitätsumgebungen verformt – so verformt, dass man hier von Anpassungsleistungen sprechen kann, die die Akteure erbringen müssen, damit sie sich in diesen bestimmten Praktiken distanzlos engagiert und korrekt bewegen können. 3. Soweit es eine spezifisch ökonomische Rationalität »gibt«, wäre diese als das Ergebnis von Resonanzen mit, und Anpassungsleistungen an, systemische Rationalitätseffekte zu begreifen, die von den maßgeblichen institutionellen Strukturen der jeweils historisch ausgeprägten Wirtschaftspraktiken (z. B. Wettbewerbsmärkte in modernen Marktwirtschaftsgesellschaften) erzeugt werden. Was wäre in Verfolg dieses Vorschlags zu gewinnen? Die methodologische Umstellung von revealed preferences hin zu validated reasons bietet Aussicht, die handlungstheoretischen Grundlagen der Ökonomik glaubwürdiger und die Mikroökonomik realistischer zu machen. Mit einer diskurspragmatischen Wende käme die Ökonomik vielleicht in der Welt der Gründe an, in der die Ökonomie selbst immer schon ist.

Die Weisheit der Vielen: Unternehmensethik und dezentrale Governance Alexander Brink

1. Einleitung Prototyp der Gruppen- bzw. Schwarmintelligenz ist die Ameise, genauer: die Ameisenkolonie. Ideal aufeinander abgestimmte und dezentrale Koordination findet sich aber nicht nur bei den fleißigen Insekten:1 So formieren sich Stare zu einer »Eins«, Heringe orientieren sich schwarmartig und Wanderheuschrecken fressen im Kollektiv ganze Gebiete kahl. Solche so genannten Aggregationen schlagen manchmal wie eine Art »Superorganismus« eine gemeinsame Richtung ein, können diese aber auch blitzschnell gemeinsam wieder ändern. Dass sich dabei Vorteile bei der Nahrungssuche ergeben und der Einzelne besser vor Feinden geschützt werden kann, liegt auf der Hand. Forscher haben herausgefunden, dass Schwärme nach ähnlichen Mechanismen funktionieren. Die beobachtbare Synchronizität wird auf Spiegelneuronen zurückgeführt. Die jüngere Organisationsforschung hat sich die Ergebnisse aus der Biologie zunutze gemacht. Die Idee dahinter: Dezentrale Steuerung führt in Organisationen zu besseren Entscheidungen. Und zwar dort, wo das Individuum als rationaler Akteur mit der Lösung komplexer Entscheidungsprobleme überfordert ist. In der Tat belegen Studien:2 Geben mehrere Individuen eine Meinung, eine Schätzung oder ein Urteil ab, so ist das Ergebnis in der Regel genauer und damit »weiser« als wenn der einzelne Fachkundige handelt. Einschlägig und erstmals dokumentiert wurde die »Weisheit der Vielen« in den Aufzeichnungen des britischen Gelehrten Francis Galton. Auf einem Markt sollten Marktbesucher das Gewicht eines Ochsen schätzen. Trotz einer vermeintlich geringen Intelligenz des durchschnittlichen Besuchers ergab der Mittelwert der Schätzung vieler eine sehr genaue Berechnung des tatsächlichen Gewichts des Ochsen. Der Durchschnittswert war sogar genauer als die Expertise von regionalen Metzgern. Galton selbst veröffentlichte seine Ergebnisse später in der hoch renommierten Zeitschrift Nature.3 Während man sich bislang vorrangig den Tatsachenfragen widmete, ist die Vermutung nicht unbegründet, dass eine Managemententscheidung durch kollektive Entscheidungen nicht nur näher an der Wahrheit liegt als das Urteil eines einzigen vermeintlichen Experten, sondern dass durch Kollektivität auch die Legitimation eines Urteils gestärkt wird. 1 2 3

Vgl. Fisher 2009 und Wilson 1971. Vgl. Surowiecki 2007. Vgl. ebd., 7 ff.

Die Weisheit der Vielen: Unternehmensethik und dezentrale Governance

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Ich werde mich in meiner Argumentation zur Stützung meiner These weniger auf jüngste ökonomische Forschungserfolge beziehen wie etwa auf die Studien von Elinor Ostrom, die im Jahre 2009 als erste Frau den Wirtschaftsnobelpreis für ihre Annahme erhielt, dass Gemeinschaften jenseits von Staat und Markt dezentral kooperieren. Auch nicht auf die Leistungen von Oliver E. Williamsons, der einen Beitrag zu Kooperationsnetzwerken und ökonomische Effizienz lieferte und sich die höchste wissenschaftliche Ehrung mit Elinor Ostrom teilte. Ich teile die Positionen beider Autoren, dass ökonomische Effizienz und gesellschaftliche Koordination v. a. über dezentrale Steuerung sehr gut »funktionierten«. Mir geht es in dem vorliegenden Beitrag aber insbesondere um die Legitimität der dezentralen Steuerung. Im Ergebnis steht eine Neubestimmung der Unternehmensethik vor dem Hintergrund schwarmintelligenter Organisationen. Die unternehmensethische These, die ich in dem vorliegenden Beitrag zur Diskussion stelle, lautet: Durch dezentrale Koordination gewinnen Managemententscheidungen demokratische und moralische Legitimität. Ich möchte in vier Schritten vorgehen. Zunächst werde ich die wissenschaftliche Ausgangslage im Fach Unternehmensethik beschreiben und dabei drei neuere Entwicklungen kritisch herausarbeiten (Kapitel 2). In einem nächsten Schritt werde ich das Unternehmen in zwei Stufen als Netzwerk von Verträgen und Versprechen rekonstruieren (Kapitel 3). Sodann werde ich die sich daraus ergebene Unternehmenstheorie des Versprechens auf die Governanceethik von Josef Wieland beziehen (Kapitel 4). Am Beispiel der Kommunikation mit Stakeholdern lässt sich die Entwicklung vom klassischen Unternehmens-Dialog, über StakeholderDialoge und Multi-Stakeholder-Dialoge hin zu Echtzeit-Dialogen sehr gut nachzeichnen. Im Ergebnis werde ich zeigen, wie sich diese governanceethische Rekonstruktion mit Blick auf die Kommunikation mit Stakeholdern in Richtung dezentraler Governance bewegt. Als moralisches Regime zur Koordination ökonomischer Transaktionen in Organisationen erhält der Schwarm den Status eines moralischen Akteurs (Kapitel 5). Entscheidungstheoretisch verlagert sich die Entscheidung eines rationalen Akteurs damit zu einer Rationalität, die sich durch Echtzeit-Feedback als regelmäßige Äußerung Vieler darstellen lässt.

2. Entwicklungen in der Unternehmensethik 2.1 Grundlegende Vorbemerkungen Neuere Entwicklungen in der Unternehmensethik kann man in drei Lagern zusammenfassen, die jeweils einer anderen Begründungsstrategie folgen. Während die einen Vertreter einen eher normativen Standpunkt vertreten, sehen andere in der Unternehmensethik einen karitativen Ansatz und wieder andere orientieren sich an einem strategisch ökonomischen Kalkül (vgl. Abb. 1).

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Abbildung 1: Entwicklungen in der Unternehmensethik [eigene Darstellung]

Allesamt weisen diese Ansätze Schwächen auf. Der Kritik ist gemeinsam, dass ihnen die hinreichende Vermittlung zwischen den entscheidenden Polen Ethik versus Ökonomik, Normativität versus Empirie, Normenbegründung versus Normenimplementierung sowie Individuum versus Institution nicht gelingt. Im Folgenden möchte ich diese drei Entwicklungslinien zunächst im Einzelnen erläutern. 2.2 Unternehmensethik als normative Theorie Anhänger einer normativen Unternehmensethik fordern ein Primat der Ethik über die Ökonomik. Im internationalen Raum ist der kantianische Ansatz von Norman E. Bowie sicherlich eine der prominentesten Positionen.4 Ausgehend von dem kategorischen Imperativ, wird der landläufigen ökonomischen Meinung widersprochen, Mitarbeiter seien lediglich als Produktionsfaktor bzw. als Humanressource zur Erzielung von Gewinnen einzusetzen. Im Gegenteil, so fordert Bowie, habe die Arbeit selbst einen Wert an sich – er nennt das meaningful work – und es bestehe eine moralische Verpflichtung der Unternehmungsführung, den Mitarbeiter bei seiner persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Die Stärkung von Autonomie und Unabhängigkeit sind in diesem Zusammenhang zwei wesentliche Prinzipien der Anerkennung und menschlichen Würde. Bowie nimmt dabei auf die kantianische Trennung von vollständigen und unvollständigen Pflichten Bezug.5 Eine zweite normative Position wird von Robert C. Solomon vertreten.6 Sein Ansatz ist der neoaristotelischen Denkrichtung zuzuordnen: Wirtschaft(en) wird im aristotelischen 4 5 6

Vgl. Bowie 1998; 1999. Vgl. Bowie 1998, 1087. Vgl. Solomon 1999; 2004.

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Sinne als Haushalt(en) verstanden, nicht als Profitstreben (Chrematistik). Das Unternehmen wird nicht mehr als juristische Entität gesehen,7 sondern als Gemeinschaft (corporation as community), die selbst wiederum Teil einer übergeordneten Gemeinschaft (citizenship) ist: Als eine Art polis bildet das Unternehmen eine Ansammlung von Individuen, deren primäre Aufgabe nach Solomon nun darin liegt, die Tugendhaftigkeit des einzelnen Mitarbeiters zu entwickeln. Im deutschsprachigen Raum schließlich kann die integrative Unternehmensethik von Peter Ulrich den normativen Ansätzen zugeordnet werden.8 In Anlehnung an die Diskursethik von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas strebt Ulrich eine ideale Kommunikationsgemeinschaft als eine entschränkt politisch-ökonomische Verständigungsgemeinschaft an. Dazu wird die verkürzt-ökonomische Rationalität durch die ethische Vernunft in eine unverkürzt-ökonomische Rationalität bzw. eine kommunikativ-ethische Rationalität überführt. Das Unternehmen trägt als quasi-öffentliche Institution denjenigen Ansprüchen Rechnung, die in einem vernunftorientierten unternehmenspolitischen Dialog unter legitimen Betroffenen mit guten Gründen akzeptiert werden können. Die strukturellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, ist eine der zentralen unternehmerischen Aufgaben. Die Vorteile der normativen Theorien liegen in ihrer philosophischen Legitimationskraft, die je nach Ansatz allgemeines Prinzip (Bowie), Tugend (Solomon) oder Diskurs (Ulrich) sein kann. Aufgrund ihrer fehlenden ökonomischen Anschlussfähigkeit wirken normative Theorien allerdings oftmals appellativ und moralisierend. Außerdem können sie kontextspezifische Komplexität kaum berücksichtigen. Mit den Worten von John Hendry kann man die Lage zutreffend umschreiben: »Unfortunately for the proponents of normative stakeholder theory, most of these advances have been more than matched by their critics.«9

2.3 Unternehmensethik als karitativer Ausgleich Eine zweite Gruppe angloamerikanischer Autoren orientiert sich an einem eher karitativen Verständnis, nach dem das Unternehmen zunächst den Marktgesetzen folgt und am Ende des Wertschöpfungsprozesses einen Teil der Wertschöpfung an die Gesellschaft zurückgibt. In den USA ist diese Position eines giving back weit verbreitet. Unter Philanthropie versteht man in diesem Zusammenhang Spenden in Form von Geld, Sachgütern oder Arbeitskraft, die für hilfebedürftige Menschen und für soziale Zwecke aufgebracht werden. Mindestens zwei Ansätze lassen sich unter diesen Trend subsumieren. Das Konzept der Corporate Philanthropy wird unter anderem von Craig W. Smith vertreten und kann den karitativen Konzepten zugeordnet werden.10 Der Autor unter-

7 8 9 10

So z. B. bei Jensen/Meckling 1976, 311. Vgl. Ulrich 1993; 2008. Hendry 2001, 162. Vgl. Smith 1994.

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scheidet die korporative von der traditionellen, der privaten Philanthropie. Während in den USA des 17. Jahrhunderts die Unternehmensführer die größte Gruppe der Stifter bildeten, führte die im 18. und frühen 19. Jahrhundert zunehmend ablehnende Haltung gegenüber der Ökonomie dazu, dass philanthropisches Engagement – sozusagen ex post und damit karitativ – den ökonomischen Erfolg legitimierte und zugleich das Bild des Stifters in der Öffentlichkeit verbesserte. Archie B. Carrolls Konzept der Corporate Social Responsibility soll hier ebenfalls den karitativen Ansätzen zugeordnet werden.11 Unternehmen übernehmen zunächst ökonomische Verantwortung und orientieren sich am geltenden Recht. Normen, die nicht durch das Gesetz geregelt werden (können), bestimmen die ethische Verantwortung. Schließlich wird die philanthropische Verantwortung freiwillig und vorrangig gegenüber Gemeinden und der Umwelt übernommen, weniger gegenüber primären Stakeholdergruppen wie Aktionären oder Mitarbeitern. Philanthropisches Engagement unterscheidet sich von ethischem Handeln also dadurch, dass es nicht von der Gesellschaft eingefordert werden kann. Trotz der grundsätzlich positiven Wirkung von karitativen oder philanthropischen Ansätzen liegt ihre Schwäche – gerade aus der Sicht der Neoklassiker – darin, dass die ökonomische bzw. soziale Wirkung des freiwillig übernommenen Engagements letztlich ohne nachvollziehbare Begründung erfolgt. Auch ein zufälliges und ökonomisch wie normativ unbegründetes philanthropisches Engagement ist möglich. Außerdem sind aus ihrer Sicht die Aktionäre Eigentümer des Unternehmens und damit der Manager nicht autorisiert, Geld für karitative oder philanthropische Zwecke auszugeben.

2.4 Wirtschafts- und Unternehmensethik als Business Case Aus der Kritik an dem zweiten Lager entwickelte im Fortgang eine Gruppe von Forschern Ansätze, die eher an der strategischen Dimension der Unternehmensethik interessiert waren. Unternehmensethik – so das Argument – könne als ein besonderer Business Case rekonstruiert werden. Unter einem Business Case versteht man – im Gegensatz zum Social Case – eine Unternehmensstrategie, bei der durch soziales Engagement – zum Beispiel die Investition in den Umweltschutz – der ökonomische Erfolg des Unternehmens positiv beeinflusst wird. Der Ansatz des Cause-Related Marketing von P. Rajan Varadarajan und Anil Menon ist eine Variante des strategischen Marketings, die die Autoren selbst als »new form of corporate philanthropy based on the rationale of profit-motivated giving«12 bezeichnen. Die Entwicklung, die in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts begann, erreichte Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt. Neben positiven Reputationseffekten konnte eine vertrauensvollere Beziehung zwischen Konsumenten und Unternehmen festgestellt werden, zum Beispiel durch eine Verbesserung des Produktmarketings. 11 12

Vgl. Carroll 1979; 1999. Varadarajan/Menon 1988, 58.

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Das Konzept der Context Focused Philanthropy von Michael E. Porter und Mark R. Kramer steht ebenfalls in der Tradition strategischer Philanthropie.13 Unternehmen sollten nicht defensiv auf gesellschaftliche Ansprüche reagieren, sondern eine »proactive integration of social initiatives into business competitive strategy«14 anstreben. Die Idee der Autoren ist es, philanthropisches Engagement strategisch zur Verbesserung des Wettbewerbsumfeldes einzusetzen und damit einen Verbundeffekt der vermeintlichen Differenz zwischen ökonomischem und sozialem Ziel zu nutzen.15 Im deutschsprachigen Raum lässt sich der ordnungsethische Ansatz von Karl Homann den strategischen Konzepten zuordnen.16 Er befasst sich mit der Implementierung von unternehmensethischen Normen unter den Bedingungen der modernen Wettbewerbswirtschaft, die sich durch soziale Dilemmata auszeichnet. Im zweistufigen Modell werden Moral und Effizienz bzw. Ethik und Ökonomik paradigmatisch auf unterschiedlichen Ebenen als wechselseitige Heuristik simultan umgesetzt und damit das Gefangenendilemma überwunden. Die Rahmenordnung ist der systematische – aber nicht der einzige – Ort der Moral. Sie legt die Spielregeln des wirtschaftlichen Handelns fest und wird in der Verfassung und den Gesetzen bestimmt. Innerhalb der Rahmenordnung vollziehen sich die Spielzüge – Wettbewerbshandlungen – moralfrei. Spielregeln haben begründenden, Spielzüge begründeten Charakter. Durch die Implementierung der Normen auf der Ebene der Rahmenordnung bekommen Normen gleichzeitig Gültigkeit auf der Ebene der Spielzüge, die Normenimplementierung schlägt also auf die Normengeltung durch. Die Vorteile der strategischen Ansätze liegen in der ökonomischen Anschlussfähigkeit der Konzepte und der breiten Akzeptanz in der ökonomischen Praxis.17 Ferner wird die kontextspezifische Komplexität berücksichtigt. Da die Anhänger soziale Probleme mit einer ökonomischen Methode lösen, immunisieren sie sich zu einem großen Teil gegen Kritiker aus dem normativen Lager. Einige werfen den strategischen Ansätzen dennoch cheap talk vor, da wirklich spannende Normenkollisionen nicht behandelt werden, eine Normenbegründung ausbleibt und die Integration von Ethik in das ökonomische Paradigma letztlich dazu führen kann, dass die Unternehmensethik als eigenständige Disziplin überflüssig wird. Während die Anhänger der normativen Theorie ein Primat der Ethik über der Ökonomik fordern, plädieren Befürworter des Business Case umgekehrt für ein Primat der Ökonomik über der Ethik.

Vgl. Porter/Kramer 2002; 2003; 2006. Porter/Kramer 2003, 42. 15 Weitere Beispiele strategischer Ansätze sind Bottom-of-the-Pyramid-Konzepte, Social Business, Social Entrepreneur, Venture Philanthropy u. a. Diese Ansätze verfolgen grundsätzlich die Strategie, den gesellschaftlichen Nutzen wie zum Beispiel Armutsbekämpfung, Bildung, Gesundheitsvorsorge oder Umweltschutz durch unternehmerische Aktivität zu steigern. 16 Vgl. Homann/Blome-Drees 1992; Homann 1994. 17 Vgl. Saiia et al. 2003. 13 14

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3. Rekonstruktion einer versprechensbasierten Theorie der Unternehmung 3.1 From Choice to Contract: Unternehmen als ungesichertes Vertragsbündel Ich habe an anderer Stelle das Versprechen als allgemeine Form des Vertrags zum zentralen Governancemechanismus für eine versprechensbasierte Theorie der Unternehmung vorgestellt und deren Wirksamkeit als moralisches Regime untersucht.18 Ich möchte zunächst den Weg von der Entscheidung zum Vertrag kurz nachzeichnen, sodann den Weg vom Vertrag zum Versprechen. In seinem viel beachteten Aufsatz The Theory of the Firm as Governance Structure: From Choice to Contract fordert Williamson, den entscheidungstheoretisch ausgerichteten Rational-Choice-Ansatz durch ein vertragstheoretisches Verständnis von Ökonomie zu ergänzen.19 Williamson drückt das folgendermaßen aus: »But the science of choice is not the only lens for studying complex economic phenomena, nor is it always the most instructive lens.«20 In der ökonomischen Theorie hat man die Bedeutung des Vertrages maßgeblich unterschätzt: »(T)he parallel development of a science of contract was neglected.«21 Im Rahmen der Rational-Choice-Theorie stand bislang die Entscheidung des Einzelnen im Mittelpunkt ökonomischer Transaktionen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die Position von Jensen/Meckling,22 die in Anlehnung an Alchian/Demsetz23 das Unternehmen als Netzwerk bilateraler Verträge rekonstruieren. Im Fokus steht der Vertrag, »under which one or more persons (the principal[s]) engage another person (the agent) to perform some service on their behalf«24. Das Management schließt mit verschiedenen Stakeholdern – beispielsweise Kunden, Lieferanten oder Mitarbeitern – explizite Verträge. Hill und Jones zufolge schließt das Management als Agent mit seinen verschiedenen Anspruchsgruppen wechselseitig Verträge ab, die sowohl explizit als auch implizit sein können: »[E]ach stakeholder is a part of the nexus of implicit and explicit contracts that constitutes the firm.«25 Durch die vertragliche Verpflichtung zwischen dem Management und dessen verschiedenen Stakeholdergruppen gelingt die Ausbalancierung von Interessen. Allerdings sind implizite Verträge immer dann besonders riskant, wenn sie auf spezifischen Investitionen basieren, da sie vom Prinzipal, v. a. aber vom Agenten ausgebeutet werden können und der Investor kaum alternative und kostenadäquate Verwendungsmöglichkeiten hat. Das ist damit ein ungesichertes Vertragsbündel spezifischer Investitio-

18 19 20 21 22 23 24 25

Vgl. Brink 2011a/b/c. Vgl. Williamson 2002. Ebd., 172. Ebd., 172. Vgl. Jensen/Meckling 1976. Vgl. Alchian/Demsetz 1972. Jensen/Meckling 1976, 308. Hill/Jones 1992, 134.

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nen. Um die Einhaltung eines solchen impliziten Vertragsbündels zu gewährleisten, sind Governancestrukturen notwendig, deren motivationale und anreizsetzende Funktion die Einhaltung der impliziten Verträge über das schriftlich und juristisch einklagbare Recht hinaus stabilisieren.26

3.2 From Contract to Promise: Unternehmen als Netzwerk von Versprechen Während wir auf einer ersten Stufe den Vertrag ins Licht gerückt haben, soll nunmehr das Versprechen als allgemeine Grundlage eines Vertrags betrachtet werden. Der ehemalige Harvard Professor Charles Fried bringt es auf den Punkt: »The moralist of duty thus posits a general obligation to keep promises, of which the obligation of contract will be only a special case – that special case in which certain promises have attained legal as well as moral force. But since a contract is first of all a promise, the contract must be kept because a promise must be kept.«27 Zwischen dem Vertrag und dem Versprechen gibt es Ähnlichkeiten, die eine solche »contract as promise«-Sichtweise ermöglicht. Erstens sind beide Institutionen relational bzw. implizit und freiwillig akzeptiert,28 zweitens hybride Koordinationsformen,29 drittens riskant30 und viertens sowohl empirisch als auch normativ fundiert.31 Der hier grob skizzierte Weg von der Entscheidung über den Vertrag hin zum Versprechen wird von Fried in seinem Buch Contracas Promise verstärkt: »By promising we transform a choice that was morally neutral into one that is morally compelled.«32 Das Unternehmen ist also ein Vertragsbündel ungesicherter spezifischer Investitionen oder allgemeiner formuliert: ein Netzwerk von Versprechen.33 Ungesicherte spezifische Investitionen stellen damit eine Legitimationsgrundlage für Residualansprüche dar. Folglich erhalten nicht mehr nur Shareholder allein das Residualeinkommen, sondern zum Beispiel auch Mitarbeiter, die bislang lediglich das Kontrakteinkommen erhielten. Ein Anstieg der spezifischen Investitionen bewirkt eine Zunahme der impliziten Verträge, die sich ex ante vertraglich kaum absichern lassen. Mit zunehmender »Implizität« der Verträge verstärkt sich die Anspruchsgrundlage des Stakeholders. Die klassischen beiden Absicherungsmechanismen, Eigentum und Kontrolle,34 werden durch eine dritte Variante ergänzt: das sich aus den treuhänderischen Pflichten ableitende Versprechen des Boards. Daraus ergibt sich eine neue Form der Unternehmung: die Promised Based Theory of the Firm (vgl. Abb. 2).

26 27 28 29 30 31 32 33 34

Vgl. Zingales 1998; Brink 2010; Tirole 1999. Fried 1981, 17. Vgl. Kimel 2003, 80 ff.; MacNeil 1985; Fried 1981. Vgl. Coase 1937. Vgl. Fried 1981; Searle 1971; Brink 2011a. Vgl. Searle 1964; van Oosterhout et al. 2006. Fried 1981, 8. Vgl. Brink 2011a/b. Vgl. Berle/Means 1932.

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Abbildung 2: Das Versprechen als Grundlage einer neuen Theorie der Unternehmung [eigene Darstellung]

Unternehmensethik wird damit zu einem Versprechen gegenüber den verschiedenen Anspruchsgruppen zur Absicherung residualer Ansprüche auf der Basis spezifischer ungesicherter Investitionen. Dieses Versprechen wird gegenüber unterschiedlichen Stakeholdergruppen gegeben. Ein Ethik-Kodex zum Beispiel ist ein Versprechen, das die Unternehmung gegenüber der Gesellschaft gibt, mit gut funktionierenden Mitsprachemöglichkeiten wird ein Versprechen gegenüber dem Mitarbeiter formuliert. Compliancemaßnahmen entlang der Wertschöpfungskette sind ein Versprechen gegenüber dem Kunden und nicht zu letzt übernimmt das Management auch gegenüber dem Aktionär treuhänderische Pflichten (vgl. Abb.3).

Abbildung 3: Unternehmensethik wird damit als Versprechen zu einem Absicherungsmechanismus legitimer Stakeholderansprüche [eigene Darstellung]

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4. Der Schwarm als impliziter Vertrag und Versprechen 4.1 Grundlagen der Schwarmorganisation Craig W. Reynolds konnte durch Computersimulationen zeigen, dass individuelle Agenten sich in Schwärmen an folgenden drei grundlegenden Entscheidungsregeln orientieren, denen Kohäsion, Separation und Alignment zugrunde liegen:35 1. Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts derer, die du in deinem Umfeld siehst (Kohäsion). 2. Bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt (Separation). 3. Bewege dich in etwa in dieselbe Richtung wie deine Nachbarn (Alignment). Aus der Aggregation der individuellen Befolgungen dieser Regeln ergibt sich die Gesamtorganisation des Schwarms. Man spricht von Emergenz: Aus der Koordination der Individuen entsteht in der Organisation oder im Verhalten des Schwarmes etwas Neues, beispielsweise eine plötzliche Richtungsänderung, die prima facie nicht individuell zuschreibbar ist. Als Ganzes betrachtet, ergibt dann vieles einen Sinn und evoziert den Eindruck einer zielgerichteten Bewegung des Kollektivs. Diese selbstorganisierte Ausrichtung wird dem Beobachter als Muster bewusst oder tritt, wie Rupert Sheldrake es formuliert, als formgebende Verursachung zutage.36 Schwärme unterliegen einem konstanten Evolutionsdruck, welcher eine hohe Adaptionsfähigkeit des Schwarms durch Regeln sowie eine Anpassungsfähigkeit der Regeln selber nach sich zieht.37 Diese Metaoder Musterebene der Regeln bestimmt die Governance eines Schwarms und besteht aus folgenden vier Mechanismen: Feedback, Transparenz, Diversität und Befähigung. Feedback Schwärmen fehlt eine zentrale Entscheidungsinstanz: Sie agieren und reagieren ohne Führung. Stattdessen folgen sie einer effektiven Selbstorganisation, welche vor allem auf Regelkreisen basiert, sogenannte Feedbackschleifen. Negatives Feedback kommt zum Einsatz, wenn eine unerwünschte situative Diskrepanz verringert werden soll. Es dient immer der Abschwächung. Negative Feedbackschleifen (weg von Schlechtem) sorgen für Kohärenz, Stabilität und laufen auf ein Equilibrium zu. Positives Feedback hingegen fördert Veränderung, indem es Impulse in eine bestimmte Richtung in genau diese Richtung verstärkt (hin zu Gutem). Positive Feedbackschleifen haben daher immer den Effekt der Verstärkung. Sind positive und negative Feedbackmechanismen intelligent gekoppelt, kann ein System in hohem Maße selbstorganisiert – also ohne fremdes Korrektiv – funktionieren.

35 36 37

Vgl. hier und im folgenden Brink/Rohrmann 2012. Vgl. Sheldrake 1981. Vgl. Camazine et al. 2001, 13.

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Transparenz Feedbacksysteme funktionieren immer dann gut, wenn Schwärme eine möglichst schnelle und relevante Informationsverarbeitung vornehmen. Durch transparente Zielsetzungen und Rückkopplungen, die nahezu in Echtzeit ablaufen, sind die faszinierenden Synchronizitäten in der operativen Bewegung, aber auch in der taktischen Formation und strategischen Ausrichtung erst möglich. So kann ein Schwarm nicht nur blitzschnell von links nach rechts abdrehen; er kann auch von Verteidigung auf Angriff umschalten oder von Nahrungssuche zu reiner Fortbewegung wechseln. Das macht Schwärme extrem flexibel und schlagkräftig, wenn es darum geht, sich schnell und effektiv an die Umgebung anzupassen. Eine hohe Transparenz und schnelle Informationsverarbeitung sind damit als adaptive Kapazität direkt überlebenswichtig für den Schwarm. Diversität Die Vielfältigkeit von Individuen innerhalb eines Schwarms ist Voraussetzung dafür, dass bestehende Organisationsfelder und die dazugehörigen Verhaltensmuster in konstanter Evolution bleiben. Die Weisheit der Vielen ist die kreativ-schöpferische Kraft, welche dem Schwarm das notwendige Innovationspotential sichert, um sich im Selektionsdruck behaupten zu können. Eine zu strenge Normierung von Verhaltensweisen über die notwendigen Grundregeln hinaus lässt jede kollektive Intelligenz kollabieren. So wirken faschistische Systeme einem pluralistischen Schwarm diametral entgegen. Wenn in einem menschlichen Schwarm alle exakt das Gleiche denken, dann ist die Masse genauso schlau oder dumm wie der Einzelne. Es muss Raum für Vielfalt in der Haltung und im Verhalten geben, damit ein Schwarm, wie es schon Amöben tun, Unzweckmäßiges vernachlässigen und Neues verstärken kann. Befähigung Um das Überleben und die Entwicklung eines Schwarms zu sichern, sind Schwärme nicht nur diversifiziert, sondern auch hochgradig redundant. Das ist eine wichtige Eigenschaft von komplexen gegenüber komplizierten Systemen. Wenn man ein einziges Rädchen aus einer Schweizer Präzisionsuhr entfernt, ist sie nicht mehr funktionsfähig. Wenn eine Ameise oder ein Star stirbt, lebt der Schwarm weiter. Die Gratwanderung besteht darin, Individuen mit genug Befähigung auszustatten, um globale Defizite bei Bedarf lokal kompensieren zu können und gleichzeitig den latenten Einfluss Einzelner möglichst gering zu halten, damit sie ersetzbar sind. Dann sind Schwärme robust gegenüber dem Ausfall einzelner Individuen und in der Konsequenz extrem widerstandsfähig bei internen oder externen Schocks. Viele Organisationen folgen den Mechanismen kollektive Intelligenz. Das Internet zeigt die Dynamisierung von Wissen über Blogs, Wikis und Social Networks wie Facebook oder Twitter. Schwarmartige Verhaltensweisen sieht man auch an den komplexen Kapitalmärkten. Generell gilt für große Gruppen: Je brisanter die Situation ist, umso

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geringer ist der Individualabstand und umso stärker ist die Anpassungsfähigkeit des Einzelnen. Neuere Trends in der Organisationsforschung machen sich Erkenntnisse aus dem Schwarmverhalten bzw. der kollektiven Intelligenz zunutze. Ziel ist es, komplexe Probleme im organisationalen Gruppenverbund zu lösen, der über traditionelle Hierarchien hinausgeht. Es ist genau diese Verlässlichkeit, die wechselseitige Erwartungsstabilität in Schwärmen, die eine frappierende Ähnlichkeit zur Institution Versprechen aufweist. Vor allem die ersten beiden Mechanismen – Feedback und Transparenz – sind für den Erfolg eines Versprechens (also zum Beispiel kein Versprechens- bzw. Vertragsbruch38) zentral. Im Grunde genommen gibt es innerhalb des Schwarms eine Art psychologischen Vertrag (zwischen jeweils zwei individuellen Akteuren) bzw. eine Art sozialen Vertrag (als übergreifendes implizites Einvernehmen unter den Akteuren).

4.2 Der moralische Status von Schwärmen Die unternehmensethische Theoriebildung hat sich bislang nicht mit dem moralischen Status von Schwärmen befasst. Im deutschsprachigen Raum stellt sich aufgrund der fraktalen Struktur und Emergenz von Schwärmen die Problematik des Schulenstreits zwischen Homann und Ulrich um den systematischen Ort der Moral – Individuum oder Institution – für den Schwarm nicht mehr. Aber auch die angloamerikanischen normativen Unternehmensethikansätze, etwa von Bowie oder Solomon, liefern in dieser Sache kaum Erklärungsansätze. Dabei wurde der moralische Status von Organisationen in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts intensiv in der Philosophie diskutiert. Es ging um die Frage, ob Organisationen Gruppen oder künstliche Entitäten sind und welche Form der Verantwortung – also kollektiv oder korporativ – möglich und geboten erscheint. Von den aktuellen Unternehmensethikern sieht lediglich Peter French in der Organisation eine Art Superorganismus mit einer eigenen personalen Entscheidungsstruktur, die er als corporate internal decision structure bezeichnet.39 Die Governancestruktur eines Schwarms ist per se dynamisch, da der Evolutionsdruck hier die entscheidenden Vorteile gegenüber anderen Organisationsformen hervorgebracht hat. Das gilt gerade auch für die situative Gewichtung und Substitutionskraft der einzelnen Schwarmmechanismen Feedback, Transparenz, Diversität und Befähigung. Die Frage ist, welche Governanceform in einer dynamischen ökonomischen und politischen Umwelt normativen Ansprüchen eher gerecht wird. Dabei nehmen die zuvor diskutierten Schwarmmechanismen im Rahmen von Swarm Governance zahlreiche aktuelle Fragestellungen der Unternehmensethik auf.40 Individuelles und organisationales Lernen durch Vernetzung wird durch Feedback gefördert. Eine ausgeprägte Feedbackkultur ist die Voraussetzung für eine konstante Entwicklung von Mit38 39 40

Vgl. etwa zu den violations of psychological contract Rousseau 1995. Vgl. French 1996; 1998, 2005 Vgl. im Folgenden Brink/Rohrmann 2012.

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arbeitern, welche über die reine Prozess- und Wissensebene hinausgeht und kognitives und soziales Erleben einbezieht. Lokale Transparenz geht mit höherem Vertrauen einher und hat einen direkten Einfluss auf die Compliance einer Organisation. Korruption, Mobbing und Verschleierung wird dadurch unwahrscheinlicher. Fragen der Corporate Governance wurden durch mangelhafte Transparenz ausgelöst. Über eine globale Transparenz und das Verständnis von der Unternehmung und ihrem Ökosystem lassen sich – über die gesteigerte Innovationskraft – Nachhaltigkeitspotentiale realisieren, da Bedarfe ganzheitlich erfasst und Konsequenzen umfassend bewertet werden. Diversität wird als treibendes Element in einer globalen, multikulturellen Umwelt zunehmend erfolgskritisch und daher aktiv gefördert. Die polylinguale Spannung macht nicht nur das Kollektiv kreativer, sie wird auch jedem Einzelnen stärker gerecht als eine korporative Uniformierung im Geiste. Diversität ist Grundlage für den Diskurs, ermöglicht schnelles Feedback innerhalb des Schwarms und nach außen hin und erhöht seine Responsiveness. Gleichzeitig vereinfacht Diversität die individuelle und kollektive Adaption an kulturelle, moralische Rahmenbedingungen (single looplearning) bei gleichzeitiger permanenter kritischer Revision des systemischen Rahmens (double looplearning).41 Schließlich wird in der individuellen Befähigung ein wichtiges, aber nicht unersetzliches Merkmal einer sozialen Gemeinschaft gewürdigt. Verantwortung und Empowerment, Empathie und Hilfsbereitschaft, Anerkennung und Sinnstiftung sind Ausprägungen dieser Art von Befähigung. Swarm Governance basiert auf impliziten, relationalen und psychologischen Beziehungen. Implizites Schwarmvertrauen basiert auf Ähnlichkeit, Reziprozität, Symmetrie, Zustimmung, Synchronizität, Erfahrung, Anerkennung und letztlich auf der Wertschätzung des Anderen mit seiner Andersartigkeit, aber zugleich mit seiner Ähnlichkeit.

5. Swarm Governance und Promised Based Theory of the Firm im Lichte der Governanceethik Die Governanceethik beschreibt die Analyse bzw. Reflexion der moralischen Eigenschaften von Governancestrukturen.42 Wieland versteht darunter die »Lehre von der komparativen Analyse der moralsensitiven Gestaltung und Kommunikation der Governancestrukturen spezifischer wirtschaftlicher Transaktionen mittels Kooperationen«43. Die Governanceethik nimmt als lokaler Gerechtigkeitsansatz und in der Kombination aus moralischer und wirtschaftlicher Codierung immer schon Bezug auf kontextspezifische Komplexität: »Die moralische Codierung kann globale Dimensionen aufweisen, während die wirtschaftliche Codierung immer lokalen Bezug hat«44. Unternehmen werden als polylinguale und polykontextuale Organisationen aufgefasst, welche lokale, d. h. auf konkrete

41 42 43 44

Vgl. Argyris/Schön 1974. Vgl. Wieland 1999, 46 ff. Wieland 1999, 69. Wieland 1993, 21.

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Transaktionen bezogene Entscheidungen treffen. Wielands Konzeption ist revisionsoffen, flexibel und anpassungsfähig, eben nicht dogmatisch. Im Zentrum steht die Schaffung von Kooperationschancen.45 Ziel ist die ständige Verbesserung der Kooperationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft in einer Kooperationsökonomie, in der Wettbewerb und Kooperation systematisch vereint werden. Wieland nennt dieses Phänomen co-opetition. Formal lässt sich die Governanceethik als nachfolgende Funktion mit vier Argumenten abbilden:

Abbildung 4: Architektur der moralischen Dimension einer wirtschaftlichen Transaktion (eigene Darstellung in Anlehnung an Wieland 2001, 9)

Tm bezeichnet die moralische Dimension einer distinkten wirtschaftlichen Transaktion, die aus den nachfolgenden vier Argumenten besteht: Unter IS versteht Wieland das Regime individueller Selbstbindung oder Selbstgovernance, das in der Regel durch Tugenden, deontologische Überzeugungen oder Ähnliches bestimmt wird. FI bezeichnet formale Institutionen wie zum Beispiel Gesetze oder Umweltbestimmungen, IF die informalen Institutionen einer Gesellschaft oder einer Organisation wie zum Beispiel moralische oder kulturelle Überzeugungen. Die Koordinations- und Kooperationsmechanismen einer bestimmten Organisation (OKK) bilden das »Kernstück der Governanceethik«46. Hierunter fallen zum Beispiel Verhaltens- oder Ethik-Kodizes. Die Koeffizienten a, b, c und d verweisen auf die entsprechende Wirksamkeit: Eine positive Wirksamkeit des Moralregimes IS wird mit 1 zum Ausdruck gebracht, eine negative Wirksamkeit mit -1. Der Wert 0 deutet darauf hin, dass IS keinerlei Wirkung entfaltet. Die einzelnen Argumente werden auf eine distinkte Transaktion (i) und auf einen distinkten Kontext (j) bezogen. Vor diesem Hintergrund sind in Anlehnung an Wieland verschiedene Fälle zu unterscheiden. Die Minimalforderung »an eine realistisch durchhaltbare Managementethik im Sinne einer Führungsethik«47 verlangt eine Wirksamkeit von IS und OKK, während FI und IF den Wert 0 bzw. -1 annehmen können (erste Zeile in Abbildung 5). Individu45 46 47

Vgl. Wieland 1999, 34. Wieland 2001, 17. Ebd., 17.

260

Kolloquium 5 · Alexander Brink

elle moralische Ressourcen und Kompetenzen können nur aktiviert, also individuelle Akteure moralisch handlungsfähig werden, wenn diese die Möglichkeit einer handlungsbeschränkenden Selbstbindung erhalten.48 Bei der Unternehmensethik als normative Theorie ist das Argument IS als Regime der Selfgovernance wirksam, nicht aber FI, IF und OKK – sie bleiben unwirksam oder zeigen sogar einen negativen Effekt (zweite Zeile in Abbildung 5). Eine karitative Ethik ist hinsichtlich der vier Argumente unbestimmt (dritte Zeile in Abbildung 5). Bei einer Unternehmensethik als Business Case wird Moral alleinig und systematisch durch das Rahmensystem wirksam (FI), IS, IF und OKK bleiben indifferent bzw. negativ wirksam (vierte Zeile in Abbildung 5). Die Promised Based Theorie of the Firm wird hinsichtlich aller Faktoren positiv (fünfte Zeile in Abbildung 5). Im Schwarm kommen vor allem die OKK als Swarm Governance zum Tragen. Die Schwarmmechanismen funktionieren jedoch nur, wenn sich jedes Mitglied als Teil des Schwarms verhält (IS) und sich an entsprechende Regeln bindet (sechste Zeile in Abbildung 5).

Abbildung 5: Koeffizientenmatrix der Governanceethik und der Swarm Governance (Ideal-Schemata) (eigene Darstellung in Anlehnung an Wieland 2001, 16 f.)

OKK und IS fallen zusammen, weil die DNA des Schwarms sowohl in der Struktur als

auch in den Agenten liegt. Ein Schwarm kann aus einer Gruppe mit einer starken individuell disponiblen Schwarm-IS entstehen – so geschehen im Arabischen Frühling, der nicht zentral geplant, sondern sich aus der Gruppe heraus manifestiert hat. Oder es gibt schon einen attraktiven Schwarm mit ausgeprägter OKK, der weitere Mitglieder assimiliert. Die rasante Ausbreitung von Facebook ist ein gutes Beispiel, da sich selbst ursprüngliche Gegner des sozialen Netzwerkes zunehmend auf diese Plattform einlassen und ob der überzeugenden OKK ihre IS anpassen. 48

Vgl. Ebd., 13.

Die Weisheit der Vielen: Unternehmensethik und dezentrale Governance

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6. Swarm Governance und Stakeholderkommunikation Während Wieland neuerdings auf deliberative Prozesse zurückgreift und darin die »bisher vermisste Verbindung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen«49 sozusagen nachliefert, wird im Folgenden die Swarm Governance als ein solcher Mechanismus betrachtet. Die Legitimität der Governance – um die begründungstheoretische Erweiterung einzubeziehen – erfolgt über die »Integration polylingualer Sprachspiele«50, hier zu ergänzen um die drei Entscheidungsregeln Kohäsion, Separation und Alignment und um die vier Schwarmmechanismen Feedback, Transparenz, Diversität und Befähigung. In einer Organisation schließen sich Individuen zusammen, die über eine gewisse Ähnlichkeit, Reziprozität, Symmetrie, Erfahrung, Anerkennung etc. verfügen. Der systematische Ort der Gerechtigkeit ist bei Wieland der lokale Governancemechanismus selbst (nicht allein das Individuum bzw. allein die Institution). Damit wird Swarm Governance zum lokalen Governancemechanismus mit höherer Adaptivität und Flexibilität. Für die interne und externe Unternehmenskommunikation mit Stakeholdern hat dies weitreichende Implikationen. Ausgehend von einer Theorie der Unternehmen, die auf der einzelnen Entscheidung basiert, ist Unternehmenskommunikationen im engeren Sinne eigentlich ausgeschlossen. Der Einzelne trifft seine rationale Entscheidung aufgrund von mehr oder weniger vollständigen Informationen ohne auf das Gespräch mit dem anderen angewiesen zu sein. Übertragen wir das Unternehmensverständnis nunmehr auf den Vertrag, so treten relationale, zunächst jedoch bilaterale Beziehungen ans Licht. Der Unternehmens-Dialog (bilaterale Kommunikation mit einer Stakeholdergruppe) und der Stakeholder-Dialog (bilaterale Kommunikation mit mehreren Stakeholdergruppen) sind die entsprechenden Kommunikationsmaßnahmen. Der Multistakeholder-Dialog nimmt nun mehrere Stakeholdergruppen gleichzeitig in den Blick (multilaterale Kommunikation mit mehreren Stakeholdergruppen). Dabei wird der Vertrag weiter als Versprechen gefasst, da mit einigen Stakeholdergruppen keine expliziten Verträge bestehen: Die Global Reporting Initiative und die Entstehung der ISO 26.000 sind zwei gelungene Beispiele. Während man den Unternehmens-Dialog noch unter die Corporate Governance fasst, der damit die privaten Unternehmensinteressen betrifft, gehören die Multistakeholder-Dialoge zu den Instrumenten der Global Governance, die im Rahmen einer zunehmenden Bedeutung öffentlicher Interessen virulent wird. Folglich verlagert sich auch die Steuerung von privat und zentral hin zu öffentlich und dezentral. Die im vorliegenden Beitrag vorgestellte Swarm Governance ist eine Weiterentwicklung dieses Trends. Unternehmenskommunikation wird entwickelt: weg von der zeitpunktbezogenen Kommunikation hin zu einem kontinuierlichen Echtzeit-Dialog. Die nachfolgende Abbildung 6 verdeutlicht den Zusammenhang.

49 50

Wieland 2007, 13 Ebd., 36.

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Kolloquium 5 · Alexander Brink

Abbildung 6: Mit zunehmender Öffentlichkeit werden die ethischen und ökonomischen Governancemechanismen weiter dezentralisiert [eigene Darstellung]

Der Schwarm repräsentiert eine spezifische Governancestruktur. Swarm Governance befasst sich in diesem Sinne mit der Lehre von der komparativen Analyse der moralsensitiven Gestaltung und Kommunikation von Schwarmstrukturen als bestimmte Governancestrukturen spezifischer wirtschaftlicher Transaktionen mittels Kooperationen. Dabei wird die Anwendungsebene (Wie funktioniert ein Schwarm?) von der Begründungsebene (Wie sollte ein Schwarm funktionieren?) und der Metaebene (Was ist der moralische Status eines Schwarms?) zunächst strukturell entkoppelt. Die Governancethik von Schwärmen wird also nicht aus dem Begründungs-, sondern aus dem Anwendungsdiskurs abgeleitet. Individual- und Institutionenethik werden zusammengeführt, Ökonomie und Ethik unterliegen keinem Primat des einen über den anderen: Es geht um so genannte rekursive Schleifen. Damit wird die Theorie zu einem lokalen Gerechtigkeitsansatz, der die kontextspezifische Komplexität des Schwarms berücksichtigt. Der systematische Ort der Gerechtigkeit sind die lokalen Governancemechanismen selbst: hier also die Schwarmmechanismen. Diese ermöglichen einzigartige Kooperationschancen und stellen einen idealen OKK im Rahmen einer Kooperationsökonomie dar, unter der Bedingung, dass sich das Individuum als Teil des Schwarms versteht (IS). Der Schwarm wird zu einem moralischen Regime, das über individuelle Selbstbindung bzw. Selbstgovernance (IS) und seine entsprechenden Koordinations- und Kooperationsmechanismen (OKK) ökonomische Transaktionen koordiniert. Er erfüllt damit als dezentrale Organisationsform die Minimalbedingungen einer funktionsfähigen Unternehmensethik.

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KOLLOQUIUM 6

Sprachen, Zeichen, Gründe Kolloquiumsleitung: Günter Abel

Günter Abel Einführung: Das Verhältnis sprachlicher und nicht-sprachlicher Gründe Robert Brandom Modal Expressivism and Modal Realism: Together Again Michael Tomasello Von sozialer Interaktion zu sozialen Institutionen

Einführung: Das Verhältnis sprachlicher und nicht-sprachlicher Gründe Günter Abel

Der Raum der Gründe lebt von Begründungen und Rechtfertigungen, die in ihm gegeben werden. So weit so gut. Schaut man näher hin, werden die Fragen dringlich, was eigentlich wie in diesem Raum passiert und warum die dort eingesetzten prozeduralen Verfahren und deren Ergebnisse als überzeugend angesehen werden und als vernünftig gelten? Der Titel des Kolloquiums – »Sprache, Zeichen, Gründe« – mag bereits signalisieren, dass es sich beim Raum der Gründe um ein komplexes Geflecht mit unterschiedlichen Komponenten handelt, dessen innere Mechanismen wir bislang noch nicht wirklich verstehen.1 Eine offene Frage ist das Verhältnis und Wechselspiel sprachlich-begrifflicher Gründe (die kraft Propositionen gegeben werden) und nicht-sprachlicher Gründe (wie diese sich z. B. kraft nicht-sprachlicher Zeichen- und Symbolsysteme, etwa in kooperativen Handlungen oder in visueller bzw. sinnlicher Kommunikation manifestieren). In Analogie zu dem berühmten Slogan aus der Wahrnehmungspsychologie (»There is more to vision than meets the eye«) könnte man sagen: There is more to reason than meets the language. Vor diesem Hintergrund ist unser Kolloquium zunächst von den folgenden beiden Fragen inspiriert: (a) Welcher Art ist das Verhältnis zwischen theoretischen Gründen (die unsere Überzeugungen und Urteile rechtfertigen) und praktischen Gründen (die unser Handeln, Verhalten und unsere Weise rechtfertigen, bestimmte Dinge so-und-so zu tun)? (b) Spielen neben den sprachlich-propositionalen sowie konzeptionellen Komponenten auch andere Komponenten im Geben und Nehmen von Gründen, das heißt im Ablegen von Rechenschaft, eine wichtige Rolle (wie etwa visuelle Kognitionen, vorsprachliche Praktiken, Emotionen)? Und welche Rolle genau spielen diese anderen Komponenten in Begründungen und Rechtfertigungen? Betrachten wir den Raum der Gründe näher, stoßen wir in der Tat zunächst und vor allem auf sprachlich artikulierte, propositionale und begriffliche Gründe. Doch zeigt sich bei näherem Hinsehen schnell, dass im Raum der Begründungen und Rechtfertigungen mehr involviert und relevant ist als in der semantischen Logik sowie im Der Ausdruck »logischer Raum der Gründe (logical space of reasons)« wurde von Wilfrid Sellars prominent in die Diskussion eingeführt, in Abgrenzung zum Raum der empirischen Beschreibungen. Siehe Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, 1956, hg. und eingeleitet von Richard Rorty und Robert Brandom, Cambridge (Mass.) 1997, § 36. Der Raum der Gründe ist Sellars zufolge durch Relationen des Begründens strukturiert. Aufnahme und Weiterführung hat der Ausdruck bei Robert Brandom und John McDowell gefunden. Siehe John McDowell: Mind and World, Cambridge (Mass.) 1994, Lecture I; und Robert Brandom: Making It Explicit, Cambridge (Mass.) 1994, 5. 1

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prämissen-folgernden formalen Schließen eingefangen wird. Bislang nicht angemessen analysiert und geklärt ist meines Erachtens die Rolle, die andere zeichen- und interpretations-funktionale sowie handlungs- und kooperations-basierte Komponenten im Raum der Gründe, mithin in dem spielen, was wir seit alters Rechenschaftgeben (logon didonai) nennen. Zu denken wäre hier in einem erweiterten Sinn der Rede von Gründen und Rechtfertigungen an Gründe nicht-sprachlicher (z. B. diagrammatischer), nicht-propositionaler (z. B. praktisch-prozeduraler), nicht-epistemischer (z. B. direkt visueller) und nicht-begrifflicher (z. B. praktisch-prozeduraler) Art. Begründungen und Rechtfertigungen2 fallen zudem nicht einfach vom Himmel und sie finden nicht im luftleeren Raum statt. Sie leben von Prämissen, aus denen sich ihre Ansprüche speisen, bewegen sich in Lebens-, Kultur-, Wissens- und Rechtsordnungen, stehen in Kontexten und unter Rahmenbedingungen ihrer Geltung, ohne welche Situiertheiten sie nicht einmal als bestimmte Gründe, Begründungen und Rechtfertigungen von anderen unterschieden und in ihren jeweiligen Mitteln spezifiziert werden könnten. Begründungen und Rechtfertigungen haben darüber hinaus auch einen Anfang (das heißt: wir beginnen an jeweils einer bestimmten Stelle mit dem Begründen und Rechtfertigen) und sie haben ein Ende (das heißt: wir kommen, je nach verfolgtem Zweck und Ziel, an einer bestimmten Stelle zum Ende, – letzteres allein schon deshalb, weil wir anderenfalls das flüssige Funktionieren unseres Sprechens, Denkens und Handelns nicht fortsetzen bzw. nicht wiederherstellen könnten). Weder jedoch der Anfang noch das Ende eines Rechenschaftgebens können fundamentalistisch als ein metaphysisch schlechthin erstinstanzlicher Anfang und/oder als ein metaphysisch schlechthin letztinstanzlicher Abschluss angesehen werden. Anfang und Ende der Praxis des GründeGebens und Gründe-Nehmens ebenso wie deren Resultate sind pragmatischer Natur. Begründungen und Rechtfertigungen stehen daher unter strengen praxis-, sinn- und kohärenz-logischen Restriktionen, bleiben aber stets Begründungen und Rechtfertigungen nach Menschenmaß, nicht nach Gottesmaß. Von der Idee einer metaphysischen Letztbegründung sind wir als endliche Geister aufgrund unserer epistemischen Situation nicht nur kontingenterweise, sondern systematisch abgeschnitten. Im Folgenden möchte ich den Fokus der Aufmerksamkeit auf vier Bezirke und Konstituenten lenken, deren genauere Rolle im Raum der Gründe zu klären ein Desiderat philosophischer Forschung ist: (1) sinnliche/visuelle Gründe; (2) Knowing-HowGründe; (3) Erfahrungsgründe; und (4) emotionale Gründe. 2 Im Folgenden meint die Rede von ›Begründungen‹ vor allem die Angabe von Gründen im Sinne sowohl des Verfahrens schlussfolgernden Schließens als auch diejenigen Argumente, die eine Behauptung beweiskräftig machen. Die Rede von ›Rechtfertigungen‹ meint vor allem die Legitimierung von subjektiven Einstellungen, Handlungen und Normen im Zuge von deren Einordnung in jeweils bestehende Ordnungen (vor allem in Sprach-, Denk-, Lebens-, Kultur- und Rechtswelten). Begründungen und Rechtfertigungen sind intern miteinander verschränkt. Für die mit der vorliegenden Einführung in die Thematik des Kolloquiums verfolgten Zwecke ist es nicht erforderlich, in jedem einzelnen Fall die Rede von ›Begründungen‹ und ›Rechtfertigungen‹ in ihrer Unterschiedenheit ebenso wie in ihrer Komplementarität hervorzuheben.

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(1) Sinnliche/visuelle Gründe Der Slogan »proofs without words« ist bestens vertraut in der Mathematik und, mutatis mutandis, auch weit darüber hinaus in Alltag, Wissenschaften, Philosophie und Künsten. In der Mathematik spielen die bildnerisch dargestellten geometrischen und topologischen Objekte eine ebenso wichtige Rolle wie etwa Diagramme und computer-generierte Visualisierungen.3 Visuelles, bildnerisches und diagrammatisches Denken sind, wie kontrovers auch immer diskutiert, an vielen Stellen der Mathematik anzutreffen. Wichtig ist hervorzuheben, dass die bildnerischen sowie visuellen Elemente und die kognitiven Elemente im visuellen Denken der Mathematik intern und primär (nicht extern und nicht sekundär) verschmolzen sind. Der Grund, das Argument, der Beweis und die Rechtfertigung liegen im Visuellen selbst, – und werden nicht bloß durch dieses illustriert und veranschaulicht. Man denke hier etwa auch an die berühmten Venn-Diagramme. Sie dienen bekanntlich nicht nur zur nachträglichen graphischen Veranschaulichung von Relationen in der Mengenlehre, sondern werden als visuelle Diagramme, als Beweismittel eingesetzt und verkörpern in sich den Beweis visuell. Erinnert sei auch an die konstitutive Rolle, welche die diagrammatische Darstellung im Rahmen der Topologie, des näheren etwa in der mathematischen Knotentheorie spielt. Als ein Beispiel für die Relevanz des visuellen (und überhaupt des sinnlichen) Denkens in unserer Lebenswelt mag folgendes Szenario dienen. Ich sehe, dass Peter im See zu ertrinken droht, springe daraufhin ins Wasser und rette ihn. Das, was ich sehe, ist dabei nicht lediglich die Ursache im Sinne der physisch auslösenden Naturkausalität. Der visuelle Gehalt ist vielmehr zugleich der Grund für mich, zu springen und Hilfe zu leisten, das heißt: in die Handlung einzutreten und diese erforderlichenfalls nachträglich im Raum der Gründe auch anderen Personen sowie mir selbst gegenüber zu rechtfertigen. Der nicht-sprachliche und nicht-inferentielle visuelle Gehalt spielt im Gründe-Geben und in der Rechtfertigung des moralischen Gehalts der Handlung, Peter zu retten, eine wichtige, eine unentbehrliche Rolle. Auch in den Naturwissenschaften sind Beispiele für visuelle Gründe und visuelle Kognition (und generell für sinnliche Kognition) leicht zu finden. Man denke etwa nur an die Situation, in der in einem Physik-Labor ein Experiment durchgeführt wird. Der Experimentator sieht mit seinen Augen, was während des Experimentes wie passiert und er liest mit seinen Augen die korrelierten Messanzeigen ab und weiß, wie er zum Beispiel bestimmte diagrammatische Zeichen zu interpretieren hat. Beides vermag er offenkundig kraft auch (freilich nicht nur) seines visuellen Denkens. Jeder Experimentator betreibt in diesem Sinne mit der kognitiven ineins auch ein Stück visueller bzw. sinnlicher Epistemologie. 3 Siehe Marcus Giaquinto: Visual Thinking in Mathematics. An epistemological study, Oxford 2007. Eine Fülle praktischer Beispiele liefert in zwei Bänden Roger B. Nelsen: Proofs Without Words, Washington 1993 und 2000. – Im Folgenden konzentriere ich mich auf die visuellen Gründe, mithin auf das Sehen. Die Überlegungen sind jedoch, mutatis mutandis, auch in Bezug auf die anderen Sinne gültig, das heißt hinsichtlich des Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens.

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Bestens vertraut mit visuellem (sinnlichem) Denken sind natürlich auch die Künstler. Der Künstler sieht und weiß zum Beispiel kraft seines »anschaulichen Denkens (visual thinking)«4 (R. Arnheim) und sinnlich prägnant, dass diese Lokalfarbe und diese Anordnung der Farbflächen hier und jetzt genau die richtigen sind. Auf die Nachfrage, welche Gründe ihn zu gerade dieser Farb- oder Gestaltgebung bewogen haben, antwortet der Künstler möglicherweise: »Na, das sehen Sie doch, oder?« Sicherlich aber wird er uns nicht dazu auffordern, über ein metaphysisches Call-Center im sprachlich-propositional verfassten Reich der Farbbegriffe und deren Anwendungsregeln anzurufen, um von dort in der Sache definitiv und allgemein verbindlich zu erfahren, warum was wie gemacht werden musste, wie es zu verstehen sei und ob das, was gemacht wurde, auch richtig und metaphysisch seriös sei. Die Gründe und Rechtfertigungen sind vielmehr ganz im künstlerisch-prozeduralen Verfahren sowie im sinnlichen Phänomen und in dessen Prägnanz selbst gegeben und präsent. Grundsätzlich gilt, dass jedes erfolgreiche Verwenden und Verstehen von Zeichen Aspekte visueller Kognition bereits vorausaussetzt und in Anspruch nimmt. Die epistemische wie die epistemologische Pointe dabei ist, dass visuelle Kognitionen sowie die ihnen intern zugehörigen Weisen des visuellen und anschaulichen Denkens keineswegs bloß sekundäre Illustrationen sind, die im Prinzip auch entfallen könnten. Unter visuellen Kognitionen möchte ich hier (und im weiten Sinne des Ausdrucks ›Kognition‹) diejenigen nicht-sprachlichen und nicht-begrifflichen Prozesse verstehen, in denen es um Prozesse geht wie zum Beispiel: das visuell gestaltbildende und sinnlichphänomenale Diskriminieren, Individuieren, Organisieren, Anordnen, Gruppieren, Einordnen, Ergänzen, Vervollständigen, Komplettieren, Präferenzieren, Hierarchisieren, Vergleichen und nicht zuletzt um das Bilden von sinnlichen Invarianten. Der Rekurs auf visuelle Kognitionen (und generell auf sinnliches Denken) und deren nicht-propositionale und nicht-inferentielle Gehalte spielt in Begründungen und Rechtfertigungen eine überaus wichtige, obzwar bislang noch kaum eigens beachtete und verstandene Rolle. Visuelle Kognitionen sind jedenfalls immer dann relevant, wenn das Rechenschaftgeben, das Begründen und Rechtfertigen, mehr umfasst als nur das inferentiell korrekte Schließen, verstanden als logische Konsistenz, Gültigkeit über Zeiten und Situationen hinweg und sprachlich-begrifflicher und diskursiver Wohlbegründetheit im engeren rationalistischen Sinne. Doch wie genau – so lautet die Herausforderung – sind diese unterschiedlichen Rollen visueller Kognitionen zu denken, sofern visuelles Denken und Wahrnehmungsgehalte über weite Strecken nicht-sprachlich, nicht-propositional und nicht-inferentiell verfasst sind? Hier wird eine der gegenwärtig großen Aufgaben in Sachen Epistemologie deutlich. Sie besteht meines Erachtens darin, dass es – sofern die visuellen Gründe (ebenso wie die unten noch zu erörternden Knowing-How-Gründe, die Erfahrungsgründe und die emotionalen Gründe) die soeben skizzierte wichtige Rolle spielen – zu einer ErweiSo der treffliche Titel des Buches des Kunstpsychologen Rudolf Arnheim: Visual Thinking, Berkeley / Los Angeles 1969; Deutsche Übersetzung: Anschauliches Denken, Köln 1972. 4

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terung ebenso wie zu einer Revision der Epistemologie kommen muss. Wir müssen uns dann nämlich in Sachen Wissen, Begründen und Rechtfertigen vornehmlich von der bisherigen Monopolstellung desjenigen Modells verabschieden, demzufolge Wissen und Gründe als gerechtfertigte wahre Überzeugungen (»knowledge and reasons as justified true belief«) verstanden werden. Erfordert ist ein Neu- und Umdenken der Epistemologie.5 Nicht also nur geht es um die von den klassischen Pragmatisten bereits gut begründete Auffassung, dass eine Überzeugung stets in einem Geflecht mit anderen Überzeugungen steht und von diesen nicht abgetrennt werden kann, – was bereits eine signifikante Erweiterung eines zu enggeführten Sinns der Rede vom Raum der Gründe zur Folge hat. Jetzt dagegen geht es darüber hinaus um den radikaleren Punkt, dass Überzeugungen ihrerseits stets bereits andere praktische sowie zeichen- und interpretations-gebundene kognitive Fähigkeiten und Vermögen voraussetzen und in Anspruch nehmen, unter denen sich auch die visuellen Kognitionen befinden. Überzeugungen verlieren damit keineswegs ihre epistemische Relevanz. Aber indem deutlich wird, dass ihnen stets bereits eine pragmatische Genealogie aus Zeichen, Interpretationen, Fähigkeiten und Praktiken nicht-propositionaler Art konditional im Rücken liegt, können sie nicht mehr diejenige Fundamental- und Monopolstellung in Sachen Epistemologie – und eben auch nicht in Sachen Epistemologie der Gründe – einnehmen, die ihnen traditionellerweise zugesprochen wird. Überzugehen ist meines Erachtens in ein erweitertes Modell des Begründens und Rechtfertigens, in dem Gründe (im engen logisch-semantischen ebenso wie im weiten lebensweltlichen Sinne) als Zeichen- und Interpretationsgründe bzw. als interpretative Gründe und Kognition als zeichen- und interpretations-bestimmte Kognition adressiert und modelliert werden. In solcher Rede gehe ich von der (hier aus Platzgründen im Einzelnen nicht darzulegenden) Annahme aus, dass visuelle (und generell: sinnliche) Gründe ebenso wie Knowing-How-Gründe und dass Handlungs- und Erfahrungsgründe ebenso wie emotionale Gründe als Zeichen- und Interpretationskonstrukte konzipiert werden können.6 Vor diesem Hintergrund stellen sich eine Reihe von Desideraten ein, die es näher zu bearbeiten gilt. Gibt es nicht-sprachliche und senso-perzeptive Zeichen- und Interpretationsgründe? Was genau sind sie? Wie genau funktionieren sie? Wieso sind sie lebensweltlich für uns so wertvoll? In welchem Sinne muss das enge Verständnis von Gründen

Zu einigen der in diesem Zusammenhang relevanten Aspekte siehe programmatisch Günter Abel: Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology, in: Rethinking Epistemology, Vol. 1 (Berlin Studies in Knowledge Research, Band 1), hg. von Günter Abel / James Conant, Berlin / Boston 2012, 1–52. 6 Mit diesen Formulierungen ist ein wichtiger Teil des Programms bezeichnet, das unter dem Titel einer ›Allgemeinen Zeichen- und Interpretationsphilosophie‹ verfolgt wird. Siehe im Einzelnen Günter Abel: Interpretationswelten. Gegenwartsphilosophie jenseits von Essentialismus und Relativismus, Frankfurt a.M. 1993, 2. Aufl. 1995; Günter Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a.M. 1999; Günter Abel: Zeichen der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 2004; und die in Anm. 5 genannte Arbeit zur Wissensforschung. 5

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(als sprachlich artikulierte, propositionale und begrifflich-rationale Gründe) erweitert werden um nicht-sprachliche, zeichen-, interpretations-, fähigkeiten-, emotionen- und handlungs-basierte Gründe? Ist nicht genau diese Erweiterung geboten, sobald wir die tatsächliche lebensweltliche ebenso wie die wissenschaftliche und künstlerische Praxis in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken? Diese Fragen markieren grundlegende Herausforderungen für eine umfängliche und integrierte Sprach-, Zeichen- und Handlungsphilosophie ebenso wie für ein integriertes Verständnis dessen, was, wie und warum im Geben und Nehmen von (lebensweltlichen, wissenschaftlichen und/oder künstlerischen) Gründen als akzeptabel oder unakzeptabel, mithin als vernünftig oder unvernünftig gilt. (2) Knowing-How-Gründe Es besteht ein wichtiger Unterschied zwischen theoretischen Gründen im Zuge des Wissen-dass (das sprachlich-propositional formuliert werden kann) und prozedural-praktischen Gründen im Zuge des Wissen-wie bzw. des Könnens (das ein »learning by doing« mit genuin eigenem Regelfolgen ist). Knowing-How ist praxis-interne Kompetenz und Fähigkeit, ist Praxis-Wissen/Können.7 Wer zum Beispiel Sprechen, Schwimmen, Cello-Spielen, einen Beweis führen oder andere derartige Handlungen ausführen kann, der wurde zuvor in die Praxis des Sprechens, Schwimmens, Cello-Spielens, Beweisens und Kooperierens eingeübt, – etwa durch Vormachen, Beispielgeben, Imitieren, wiederholtes Training. Wer die praktische Fähigkeit des Radfahrens erwerben oder eine Sprache erlernen will, der muss in die Praxis des Radfahrens und des Sprechens dieser Sprache eingeübt werden. Er muss nicht (wie propositionalistische Intellektualisten gerne behaupten) zunächst eine kognitive Relation zu einem Reich der theoretischen Knowing-That-Propositionen (etwa der Russellschen Propositionen, den Fregeschen Gedanken oder dem Set möglicher Welten) etablieren, um dann in einem zweiten Schritt die dort gewonnenen theoretischen Einsichten auch in die Praxis zu übertragen und damit überhaupt erst eine gelingende Praxis etwa des Radfahrens oder des Sprechens einer Sprache zustande bringen zu können. Wer auf diese Weise vorzugehen gedenkt, wird durch die Praxis schnell eines Besseren belehrt, wird weder Radfahren noch eine Sprache sprechen lernen, ganz zu schweigen vom flüssigen und expressiven Cello-Spiel. Solches Knowing-How liegt in jeder Sprach-, Zeichen-, Handlungs- und Kooperations-Kompetenz vor. Und genau diese Kompetenz ist auch in jedem Geben und Nehmen von Gründen bereits mit vorausgesetzt und in Anspruch genommen. Ohne diese praktisch-prozedurale Kompetenz wäre ein Rechenschaftgeben nicht möglich. So fußt, aufschlussreicherweise, die menschliche Sprachfähigkeit – die als Fähigkeit begriffliches Wissen und sprachlich-propositionale Gründe erst ermöglicht – auf dem speZum Folgenden siehe detailliert Günter Abel: Knowing-How: Indispensable but Inscrutable, in: Conceptions of Knowledge, hg. von S. Tolksdorf (Berlin Studies in Knowledge Research, hg. von Günter Abel / James Conant, Vol. 4), Berlin / Boston 2012, 245–267. 7

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zifischen Knowing-How der Sprach-, Zeichen- und Interpretationskompetenz, mithin auf einem nicht-sprachlichen und nicht-propositionalen Boden. Damit aber wird exakt dieser Boden konditional relevant auch für die sprachlich-propositionalen und begrifflichen Gründe im engeren Sinne. Das ist ein überaus wichtiger Befund. Seine Analyse und Untersuchung stellt ein herausragendes Desiderat der philosophischen Forschung dar. Offenkundig müssen wir bereits über ein Applikations-Wissen bzw. ApplikationsKönnen verfügen, um das Geschäft des Gründe-Gebens und Gründe-Nehmens überhaupt durchführen zu können. Diese Voraussetzung erstreckt sich auf das gesamte Spektrum von den ersten erworbenen Fähigkeiten kommunikativen Verstehens sowie kooperativen Handelns bei Kleinkindern bis hin zu den höheren kognitiven Leistungen wie z.B. der Fähigkeit, die Bedeutungen und Intentionen von Wörtern und Handlungen anderer Personen erfassen, einen Beweis in der Mathematik führen oder eine Begründung in der Ethik liefern zu können. Meines Erachtens ist unter Einschluss dieser (und weiterer) Aspekte eine sprach-, zeichen-, interpretations- und handlungs-pragmatische Erweiterung des enggeführten Sinns der Rede vom Raum der Gründe geboten.8 In dieser Erweiterung kommt es zugleich zu einer internen Pluralisierung des Raums bzw. der Welt der Gründe. Die Welt der Gründe ist umfänglicher und vielgestaltiger als dies in der logischen Semantik und in der inferentiellen Logik vorgesehen war. Offenkundig spielen Knowing-How-Gründe in lebensweltlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Begründungen und Rechtfertigungen eine überaus wichtige Rolle. So wird etwa Martin auf die Frage, wie er seinen Umgang mit den beiden Freunden Peter und Paul rechtfertige, auch auf die gewohnte lebensweltliche Praxis des Umgangs mit Freunden und das dieser Praxis innewohnende Knowing-How als Grund seines Verhaltens rekurrieren. Analoges gilt auch im Blick auf wissenschaftliche Experimente (z. B. in der Physik) oder einen chirurgischen Eingriff in der Medizin. Im gelingenden ebenso wie im misslingenden Falle erfolgen Rechtfertigung und Begründung auch mit Rekurs auf das der jeweiligen Praxis eigene Knowing-How als Grund. Die Rolle der Knowing-How-Gründe wurde in der philosophischen Epistemologie bislang kaum eigens beachtet, geschweige denn explizit fokussiert. Knowing-How war in der traditionellen Epistemologie kein eigenständiges Mitglied der Epistemologie-Familie. Dieses Schicksal teilte das Knowing-How mit dem oben unter Punkt (1) skizzierten visuellen (und generell dem sinnlichen) Denken, – beide Male unbeschadet der Tatsache, dass sie in der Praxis, und das heißt: in den tatsächlichen Vollzügen unseres Wahrnehmens, Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns ebenso konditional sind wie in der Reflexion auf diese Prozesse und dem darauf bezogen Geben und Nehmen von Gründen. In puncto sinnlich-anschauliches Denken ebenso wie hinsichtlich des

Dass in diesem Zusammenhang auch der Begriff der Rationalität einer kritischen Überprüfung bedarf, wird entwickelt in Günter Abel: Rethinking Rationality: The Use of Signs and the Rationality of Interpretations, in: Rationality and its Limits, (Proceedings of the Institut International de Philosophie (I.I.P.), Konferenz Moskau 2011), hg. von V. A. Lektorskiy, Moskau 2012. 8

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Knowing-How beginnt sich, glücklicherweise, die Situation in jüngster Zeit allmählich zu ändern. Mit solchen Überlegungen plädiere ich hier jedoch keineswegs für eine Fundamental- und Monopolstellung des Knowing-How und der Knowing-How-Gründe gegenüber anderen Formen des Wissens, des Gründe-Gebens und des Rechtfertigens. Eine solche Sicht stünde noch im Würgegriff der älteren Dichotomie von Knowing-That und Knowing-How, die es als ganze gerade zurückzulassen gilt. Ich möchte daher eigens hervorheben, dass es angesichts der im Rahmen der Frage nach Gründen zu analysierenden Phänomene, Zustände und Prozesse nicht darum gehen kann, eine Reduktion der einen Form des Wissens sowie der dieser zugehörigen Form der Gründe (der Knowing-How- oder der Knowing-That-Gründe) auf die jeweils andere zu propagieren. Eine solche Absicht würde nach wie vor in der älteren und irreführenden Hoffnung leben, eine Form von Wissen und Gründen kausal, logisch oder wie auch immer determiniert aus der jeweils anderen ableiten bzw. diese auf jene zurückführen zu können. Vielmehr gilt es, die ganze Dichotomie von Knowing-That und Knowing-How zurückzulassen, – und zwar zugunsten der Figur des Wechselspiels und des drehtürartigen Ineinander-Greifens beider (und weiterer) Formen des Wissens und der Gründe. Es ist ein Desiderat der philosophischen Forschung, die inneren Mechanismen solcher Wechselspiele und Interaktionen unterschiedlicher Wissensformen und Gründe zu beschreiben, zu analysieren und zu modellieren. Dies sollte nicht zuletzt auch unter der Zielsetzung erfolgen, die im Zuge solcher Forschungen zutage geförderten Mechanismen der Wechselspiele sowohl der Wissensformen als auch der Begründungen und Rechtfertigungen den Menschen als Instrumente der Krisen- und Konfliktbewältigung, das heißt für diejenigen Situationen bereitzustellen, in denen es darum geht, eine nicht mehr flüssig funktionierende Praxis des Wahrnehmens, Erlebens, Sprechens, Denkens und Handelns in ein erneut flüssiges Funktionieren überführen zu können. Spätestens an dieser Stelle dürfte der humane Charakter deutlich werden, der mit der hier vorgeschlagenen Erweiterung und Revision des Raumes der Gründe verbunden ist. Denn es geht um nichts Geringeres als zu unserer flüssig funktionierenden Orientierung in der Welt, uns selbst und anderen Personen gegenüber beizutragen. Teil dieses Unternehmens ist die Klärung von Fragen wie etwa: Was genau zeichnet Knowing-How-Gründe aus? Wie funktionieren sie? Welche Rolle spielen sie in den Geflechten eines erweiterten Raums der Begründungen und Rechtfertigungen? Und was macht sie lebensweltlich, wissenschaftlich und künstlerisch für uns so wertvoll?

(3) Erfahrungsgründe Der Rekurs auf Erfahrungen spielt eine wichtige Rolle in Begründungen und Rechtfertigungen. So weiß und tut man etwas unter anderem auch aufgrund und mittels von Erfahrung. Einfache Beispiele wären der Sternekoch und seine Zubereitung eines leckeren Mango-Desserts oder der Neurochirurg und seine Operation am offenen Gehirn. Beide

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berufen sich erforderlichenfalls auf ihre Erfahrung als eines Erklärungs- ebenso wie als eines Rechtfertigungsgrundes für ihr So-und-so-Handeln, einschließlich des Scheiterns der Handlung. Diese Zusammenhänge sind nicht nur für das Handeln von Sterneköchen und Neurochirurgen charakteristisch. Sie sind generell für die Organisation und die Orientierung unseres personalen und intersubjektiven In-der-Welt-seins von grundlegender Bedeutung. Ohne Erfahrungswissen und ohne Erfahrungsgründe würden wir, salopp gesagt, nicht durch den Tag kommen. Beide funktionieren in der Regel und bis auf weiteres (das heißt: bis ein Störfall eintritt) problemlos, – im Alltag ebenso wie in den Wissenschaften und in den Künsten. Bleiben wir einen Moment bei unserem Neurochirurgen. Auf die Frage, worauf er sich vor allem verlässt, wenn er einen Eingriff am offenen Gehirn durchführt, wird er wohl ohne Zögern antworten: auf meine Augen und den Blick auf den Monitor (also auf visuelles Wissen und visuelle Gründe); auf die Geschicklichkeit meiner Hände beim Führen des Laserskalpells (also auf praktisches Wissen und Knowing-How-Gründe); auf meine Erfahrung (also auf Erfahrungswissen und Erfahrungsgründe); und auf eine ganze Reihe anderer Dinge und Personen mehr. Unser Neurochirurg verlässt sich mithin grundlegend auf unsere drei bislang angeführten Formen von Wissen und Gründen: visuelles Wissen; Knowing-How-Wissen; und Erfahrungswissen sowie die diesen Wissensformen jeweils zugeordneten Formen von Gründen. Stellen wir uns unseren Neurochirurgen vor Gericht vor, wo er sich für die Art seines Eingriffs und gegenüber dem Verdacht auf einen Kunstfehler verantworten, das heißt: die Weise seines Eingriffs begründen und rechtfertigen muss. Mit gutem Grund wird er auch seine Erfahrung, sein Erfahrungswissen (das sich von einem bloß theoretischen Lehrbuchwissen deutlich unterscheidet) und in diesem Sinne seine Erfahrungsgründe ins Feld führen. Doch wie genau ist die skizzierte Rolle des Erfahrungswissens und der Erfahrungsgründe angesichts der Tatsache zu denken, dass Erfahrungen haben und Erfahrungen machen doch offenkundig von anderem Profil und Charakter sind als diskursiv Gründe zu geben und zu akzeptieren oder nicht zu akzeptieren? Auch hier kommt letztlich alles darauf an, den Raum der Begründungen und Rechtfertigungen im engen Sinne sprachlich artikulierter, propositionaler und begrifflicher Gründe zu erweitern, – in diesem Falle um den Bereich der Erfahrungsgründe, der Gründe kraft Erfahrung. Erfahrungsgründe und der Rekurs auf sie sind oftmals allein schon deshalb so wichtig für uns, weil wir als endliche Geister im Zuge der für uns kennzeichnenden epistemischen Situation von einem Reich – sollte es so etwas denn überhaupt geben – reiner und metaphysisch einzig seriöser letzter Wahrheiten und Gründe systematisch abgeschnitten sind. Begründungen und Rechtfertigungen können, es sei wiederholt, für uns stets nur Begründungen und Rechtfertigungen nach Menschenmaß, nicht nach Gottesmaß sein. Daher auch können wir die Vielzahl gleichermaßen legitimer Erklärungen und Gründe für ein bestimmtes Handeln nicht durch das Schütteln eines logischen Siebs nach metaphysisch-letztinstanzlich guten und schlechten Gründen sortieren (oder gar auf den einen und einzig seriösen Grund zurückführen). Das Beibringen ebenso wie das

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Akzeptieren von Gründen, überhaupt das Rechenschaftgeben, ist letztlich so kompliziert wie der Mensch selbst. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass (nach dem Zusammenbruch sowohl des Logischen Empirismus als auch der Monopolstellung des Wissenschaftlichen Realismus) das Phänomen und der Begriff der Erfahrung heute zu den erneut klärungsbedürftigsten Phänomenen und Begriffen zählt. Evidenterweise ist eine solche Klärung überaus relevant auch im Blick auf das, was im erweiterten und revidierten Raum des Begründens und Rechtfertigens passiert und dort als relevant zählt. Was also genau ist Erfahrung? Und was genau sind dann Erfahrungsgründe? Wie funktionieren sie? Was macht sie warum für uns lebensweltlich, wissenschaftlich und künstlerisch so überaus wertvoll?

(4) Emotionale Gründe Offenkundig können Emotionen (wie z. B. Angst, Freude, Abscheu, Traurigkeit, Ekstase, Wut, Eifersucht) kraft ihrer naturalistischen, des näheren ihrer neuro-physiologischen Korrelate als Ursachen im Sinne der Naturkausalität bestimmtes Verhalten und unwillkürliche Körperbewegungen hervorrufen. Peter wird (um ein einfaches Beispiel zu geben) wütend und zerschlägt ein Fenster. Ebenso offenkundig jedoch können Emotionen auch als Gründe sowohl für das Eintreten in als auch für die Deutung und die Rechtfertigung von expliziten Handlungen und Gedanken fungieren, – und tun dies faktisch auch in vielen Fällen sowie mit oftmals hohem Wirkungsgrad. Nicht etwa nur ein Wunsch (als ein Beispiel aus dem Bereich propositionaler Einstellungen), sondern auch eine Emotion kann Vater eines Gedankens oder einer Handlung sowie Grund im Raum von deren Rechtfertigung sein.9 Emotionen können (wie im Alltag ebenso wie in der psychologischen Forschung vielfältig belegt) organische Veränderungen auslösen und bewirken (z. B. Verkrampfung, Zittern, Erweiterung der Pupillen, Veränderungen in Atmung und Herzfrequenz). Und offenkundig sind Emotionen relevant für menschliches unwillkürliches Verhalten (wie dieses sich etwa in Körperbewegungen manifestieren kann). Emotionale Zustände und Erfahrungen führen zu unterschiedlichen Bedeutungen, machen einen Unterschied, einen Unterschied im Erleben ebenso wie im Verhalten. Wie aber sollten Emotionen dann nicht auch explizite Handlungen (im engeren Sinne dieses Ausdrucks verstanden, das heißt verbunden mit Absichtlichkeit und Freiwilligkeit) auslösen, erklären und im Raum der Gründe rechtfertigen können?! Emotionen sind für menschliche Personen nicht nur körperlich, nicht nur im psychischen Erleben und nicht nur verhaltenssteuernd relevant. Sofern sie zur Organisation unseres Welt-, Fremd- und Selbstverhältnisses beitragen, sind sie in sich (und nicht erst in nachträglichen Deutungen) kognitiv relevant und können daher auch als Gründe Für die in dieser Einleitung verfolgten Zwecke ist es nicht erforderlich, den Unterschied zwischen bewussten (bzw. ins Bewusstsein tretenden) und unbewussten Emotionen sowie beider Verhältnis in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. 9

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eine wichtige Rolle für und in Handlungen und Gedanken sowie in deren Rechtfertigungen spielen. Emotionen sind nicht nur passivische Ergebnisse der Verarbeitung äußerer und innerer Reize, die dann zum Beispiel als emotionale Erregungszustände auftreten und beschrieben werden können. Emotionen sind zugleich auch überaus aktive Größen in der auslösenden Bewirkung, dem prozessualen Verlauf und bis hinein in die diskursiven und moralischen Begründungen und Rechtfertigungen unseres Handelns und Denkens. Im erweiterten und revidierten Raum der Gründe spielen Emotionen offenkundig eine wichtige Rolle. Nur im engen Bild der Rede von diskursiv-rationalistischer und inferentieller Begründung und Konklusion sollen Emotionen gleichsam »außen vor gelassen« werden. Eine derartige (und im buchstäblichen Sinne zu verstehende) Ex-Kommunikation der Emotionen aus dem Raum der Gründe fordert jedoch einen bei weitem zu hohen Preis: diskursiv-inferentielle Begründung droht zu einem in sich leerlaufenden intellektuellen Exerzitium inferentieller Operationen zu werden, – ohne Sitz im Leben, ohne lebensweltliche Verankerung, ohne Bodenhaftung. Emotionen können nicht-inferentielle Rechtfertigungen für Handlungen liefern und in vielen Fällen tun sie dies auch. Nach dem Grund seines Handelns befragt, gibt der Mörder vor Gericht etwa seine Wut und Eifersucht an, die ihn dazu geführt habe, Claudia zu töten. Hier einfach auf der Feststellung beharren zu wollen, dass diese Auskunft und Beschreibung offenkundig nicht als eine diskursiv-rationalistische Begründung zählen könne, signalisierte im Blick auf das fragliche Phänomen offenkundig eine intellektualistische Realitäts- und Lebensferne, die lebensweltlich nicht ungefährlich ist. Wohlgemerkt: der entscheidende Punkt ist hier nicht, ob sich emotionale Gründe in einem erweiterten Raum der Begründungen und Rechtfertigungen halten und durchsetzen können oder nicht. Ob sie es können, wird sich letztlich jeweils in der prozeduralen Praxis und im Zuge der Präferenzierungen im Geben und Nehmen von Gründen selbst entscheiden. Der entscheidende Punkt ist vielmehr, dass Emotionen nicht bloß naturkausale Auslöser von Verhalten, sondern Gründe für das Eintreten in eine Handlung ebenso wie für deren Erklärung und Rechtfertigung sein können. Emotionen spielen in jeder umfänglichen Erklärung ebenso wie in jeder umfänglichen Rechtfertigung eine nicht-eliminierbar wichtige Rolle. Die Frage, ob sich Gründe auf naturalistische Ursachen zurückführen lassen, läuft im Falle der Emotionen in den gegenwärtigen Debatten vor allem auf die Frage hinaus, ob Emotionen nichts anderes als neuro-physiologische Ereignisse oder ob sie darüber hinaus auch intentionale Ereignisse sind. Erklärtermaßen plädiere ich für letztere These. Als mentale Zustände, Prozesse und Ereignisse entziehen sich Emotionen einer rein kausalen Erklärung und sind (auf eine zugegebenermaßen erst noch auszubuchstabierende Weise) intern mit Gründen verschränkt. Daher auch können sie eine wichtige Rolle im Leben ebenso wie im Raum der Begründungen und Rechtfertigungen spielen. Wären Emotionen lediglich naturalistische Wirkungen und Ursachen im Sinne der Naturkausalität, würden wir nicht verständlich machen können, dass sie eine so wichtige

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Rolle in unserem existentiellen und lebensweltlichen Dasein und damit dann eben auch im erweiterten Raum der Gründe und Rechtfertigungen spielen. Wie genau das Verhältnis von Gründen und Ursachen (auch im Verbund mit der Frage nach dem Verhältnis von Emotion und Argumentation) zu denken ist, ist eine nach wie vor offene Frage. Die Mechanismen der Interaktion von Emotion, Begründung und Rechtfertigung zu klären, ist ein weiteres Desiderat gegenwärtiger philosophischer Forschung. Bei der Bearbeitung dieses Desiderats ist auch zu beachten, dass die Emotionen und die Rolle der emotionalen Gründe in einer engen Verbindung gesehen werden müssen mit: (a) dem oben unter Punkt (3) beschriebenen Komplex des Erfahrungswissens und der Erfahrungsgründe; (b) dem unter Punkt (1) beschriebenen nicht-inferentiellen und visuellen bzw. sinnlichen Denken sowie den visuellen Kognitionen und Gründen; und (c) dem unter Punkt (3) beschriebenen Knowing-How und den knowing-how-basierten prozedural-praktischen Gründen. Was den Titel und die Organisation unseres Kolloquiums (»Sprache, Zeichen, Gründe«) angeht, so ist dem Auditorium natürlich längst schon deutlich geworden, wie sich die Rollen verteilen und entlang welcher Schnittstellen die Referenten einen Dialog anzuzetteln versuchen. Ich habe in meiner Einführung die Aufmerksamkeit vor allem auf einige nicht-sprachliche Bewohner des erweiterten und revidierten Hauses der Epistemologie gelenkt und von dort aus für eine Erweiterung und Pluralisierung des Raums der Gründe plädiert. Auf der Agenda steht damit auch das Desiderat einer Klärung des Verhältnisses von sprachlichen und nicht-sprachlichen Gründen. Robert B. Brandom wird in seinem Vortrag die Seite der Sprache und einige der damit verbundenen modaltheoretischen Herausforderungen in den Vordergrund stellen. Er tut dies im Rahmen der von ihm entwickelten Philosophie der Sprache und der Intentionalität, die in der Tradition des Pragmatismus steht und entlang der Frage operiert, wie Bedeutung aus Gebrauch entsteht. Brandom trifft mit seinem auf die Modalitäten im Sprechen und Denken fokussierten Vortrag einen der spezifischen Kerne der Thematik unseres Kolloquiums, die Frage nämlich, was unter modal-theoretischen Gesichtspunkten im Raum der Gründe passiert, wenn Gründe gegeben und als normativ verbindlich akzeptiert werden. Es geht Brandom darum, die besondere Rolle der Modalitäten in unserem explanatorischen und rechtfertigenden Gebrauch empirischdeskriptiver Konzepte zu explizieren. Michael Tomasello gehört in den kleinen Kreis derjenigen Wissenschaftler, die zwar außerhalb der Philosophie arbeiten, aber für die Philosophie überaus relevante Arbeiten vorgelegt haben. Tomasello hat mit seinen Forschungen im Bereich der evolutionären Anthropologie die Schnittstelle zwischen Wissenschaften und Philosophie nachdrücklich bereichert. Bezogen auf das Thema unseres Kolloquiums geht durch seine Schriften die Frage nach den evolutionär-anthropologischen Mechanismen der Verhältnisse zwischen Kommunikation, Kooperation, Kognition und Intentionalität. Eine der für die Fragen unseres Kolloquiums relevanten Thesen von Tomasello betrifft den Zusammenhang von Zeichen, Kooperation und Kognition. Die These kann wie folgt gefasst werden: Die menschliche sprachliche Kommunikation und Kognition [und ich füge hinzu: die wir benötigen, um im engeren Sinne des Ausdrucks ›Gründe

Einführung

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geben‹ und ›Gründe nehmen‹ zu können] ist aus der gestischen Kommunikation sowie der kooperativen Einstellung zwischen Menschen [und ich füge hinzu: mithin aus dem Gebrauch nicht-sprachlicher Zeichen und Gründe] hervorgegangen und beide (sprachlicher und nicht-sprachlicher Zeichengebrauch und zugehörige Zeichen- und Interpretationsgründe) sind intern miteinander verschränkt.

Modal Expressivism and Modal Realism: Together Again1 Robert Brandom

I. A Modal Expressivism 1. Kant saw that in addition to concepts whose principal use is to make it possible for us to describe how things are, there are concepts that make explicit features of the framework that makes such description possible. An important class of the framework-explicating concepts (arguably the one that motivated this entire line of thought) comprises alethic modal concepts, such as necessity and possibility. These express lawful relations between ground-level descriptive concepts, and mark the special status of Newton’s laws, their lawfulness, by contrast to the status of merely contingent matters of fact, the role played by statements of initial and boundary conditions for particular applications of those laws. But it is not only in understanding the use of technical scientific concepts that the modal concepts find application. The use of ordinary empirical descriptive concepts such as gold, and cat, and house, no less than the Newtonian concepts of mass, force, and acceleration, is essentially, and not just accidentally, articulated by the modality these modal concepts express. It is because he believes all this that Kant calls modal concepts (among others) ‘pure’ concepts: categories. Pure concepts are a species of a priori concepts.2 The sense in which we can think of them as available a priori that I want to focus on comprises three claims. First, what they express are structural features of the framework within which alone it is possible to apply any concepts, make any judgments, including ordinary empirical descriptive ones. Second, in being able to apply any ground-level empirical concepts, one already knows how to do everything one needs to know how to do in order to apply the categorial concepts. Finally, there are no particular empirical descriptive concepts one must be able to apply in order to have implicit mastery of what is expressed by categorial concepts such as the modal ones (though perhaps one must have some descriptive concepts or other).

Copyright 2012 Robert B. Brandom. That is, concepts available a priori. I take it that Kant’s standard usage of “a priori” is adverbial, though this is not obvious since the Latin phrase is not grammatically marked as it would be in German. Exactly what Kant means by the term ‘pure’ [rein], as it applies generically to reason, knowledge, understanding, principles, concepts, and intuition is a complex and challenging question. There seems to be some terminological drift across the species, and some wavering on how to classify particular examples. (The status of the crucial a priori principle that every alteration must have a cause, for instance, is apparently variously characterized at [B3] and [B5].) Being available a priori is necessary, but not sufficient [B3]. 1 2

Modal Expressivism and Modal Realism: Together Again

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The alethic modality that has this categorial status is something like physical necessitation. It is the modality involved in the “pure principle” that “every alteration must have a cause.” But the use of these modal concepts to formulate particular laws of nature results neither in a priori principles nor in analytic judgments. Lawlike claims assert modal relations between noncategorial descriptive concepts. They are synthetic, and must be discovered and justified empirically. The crux of Kant’s challenge in the first Critique, culminating in the B Deduction, is to show how it is intelligible that categorial concepts, paradigmatically the modal ones, can both articulate structural relations intrinsic and essential to the use of descriptive concepts and express causal laws of nature that combine the features of being on the one hand universal and necessary, and on the other hand, empirical. 2. A further development of what I want to claim will be retrospectively recognizable as the same line of thought can be found in Frege.3 His use of Latin letters and his logical sign of generality (used in conjunction with the notation for hypotheticals) express relations between concepts. It has always been an embarrassment for the anachronistic extensional quantificational reading of this notation (due originally to Russell) that Frege says of it, when he first introduces it in the Begriffsschrift, that it is the right way to express causal relations of necessitation.4 For it is a commonplace of the later logistical tradition that merely quantificational relations between concepts cannot distinguish between contingent regularities and lawlike, necessary ones. For that, explicit modal operators must be applied to the quantified conditionals. But Frege deploys his notation so that the relations between concepts expressed by generalized conditionals already have modal force. Relations between concepts of the sort logic lets us express have consequences for relations between their extensions, of the sort our quantificational notation expresses, but his generality locutions (the use of Latin letters and the concavity with German ones) codify relations we think of as intensional. Fregean logical concepts are indeed second- and higher-order concepts, but more than that, the universality they express is rulish. They are in the first instance principles in accordance with which to reason, and only derivatively premises from which to reason.5 In addition to permitting the formulation of purely logical relations among logical concepts, Frege’s logical vocabulary permits us to assert necessary connections among empirical concepts that themselves can only be discovered empirically:

The characterization of Frege’s Begriffsschrift that follows is one that I had my eyes opened to by Danielle Macbeth’s pathbreaking book Frege’s Logic. Danielle Macbeth: Frege’s Logic, Cambridge 2005. 4 “This is the way in which causal connections are expressed.” [Italics in the original.] Begriffsschrift §§ 12 , foreshadowed at § 5. From Frege to Gödel: A Source Book in Mathematical Logic,1879– 1931, ed. by Jean van Heijenoort, Cambridge 1967, 27. 5 Following Mill, this is Sellars’s way of putting the point. Wilfrid Sellars: Counterfactuals, Dispositions, and the Causal Modalities, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science Volume II: Concepts, Theories, and the Mind-Body Problem, ed. by H. Feigl, M. Scriven, and G. Maxwel, Minneapolis, MN 1957, 225–308. Henceforth “CDCM.” 3

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Kolloquium 6 · Robert Brandom

physically or causally necessary connections. In the Preface to the Begriffsschrift, Frege says: It seems to me to be easier still to extend the domain of this concept-script [Begriffsschrift] to include geometry. We would only have to add a few signs for the intuitive relations that occur there…The transition to the pure theory of motion and then to mechanics and physics could follow at this point. The latter two fields, in which besides rational necessity [Denknotwendigkeit] natural necessity [Naturnotwendigkeit] asserts itself, are the first for which we can predict a further development of the notation as knowledge progresses.6 The additional signs that such an extension requires do not include modal operators. The necessity (whether natural or rational) of the connections between empirical concepts is already contained as part of what is expressed by the logical vocabulary, even when it is used to make claims that are not logically, but only empirically true. The capacity to express modal connections of necessitation between concepts is essential to Frege’s overall purpose in constructing his Begriffsschrift. Its aim is to make explicit the contents of concepts. Frege understands that content as articulated by the inferential relations between concepts, and so crafted his notation to make those inferential connections explicit. Introducing his project in the third section of the Begriffsschrift, he says: The contents of two judgments may differ in two ways: either the consequences derivable from the first, when it is combined with certain other judgments, always follow also from the second, when it is combined with the same judgments, or this is not the case. The two propositions “The Greeks defeated the Persians at Plataea,” and “The Persians were defeated by the Greeks at Plataea,” differ in the first way…I call that part of the content that is the same in both the conceptual content [begrifflicher Inhalt]…[I]t alone is of significance for my concept-script [Begriffsschrift]. The principal technical innovation that makes it possible for the Begriffsschrift to express the inferential relations that articulate conceptual content, Frege takes it, is his notation for generality, when used in connection with his conditional (used to express hypothetical judgeable contents). An essential element of that expressive power is the capacity of this notation to express rulish, modally robust, inferential relations of necessitation, including, importantly, the natural necessity characteristic of inferences underwritten by causal connections. Though he doesn’t himself think of it this way, Frege is continuing and developing Kant’s line of thought concerning the role that modality (including centrally the kind of necessity involved in causation) plays in distinguishing the expressive role of certain concepts that relate ground-level empirical descriptive concepts to one another from the expressive role of those descriptive concepts themselves. From Frege to Gödel: A Source Book in Mathematical Logic, 1879–1931, ed. by Jean van Heijenoort, Cambridge 1967, 7. I have emended the translation slightly, where I have noted the original German terms. 6

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3. Nearer to our own time, this line of thought has been further developed and clarified by Wilfrid Sellars. He lucidly compressed his endorsement of the fundamental Kantian idea that modal concepts make explicit something implicit in the use of ordinary empirical descriptive concepts into the title of one of his essays: Concepts as Involving Laws, and Inconceivable without Them. But he also offers the outline of a more articulated argument for the claim. We can reconstruct it as follows: 1. “It is only because the expressions in terms of which we describe objects… locate these objects in a space of implications, that they describe at all, rather than merely label.” 7 2. It is an essential feature of the inferential relations in which, according to claim (1), descriptive concepts must stand that they can be appealed to in explanations and justifications of further descriptions. 3. So: “although describing and explaining (predicting, retrodicting, understanding) are distinguishable, they are also, in an important sense, inseparable… The descriptive and explanatory resources of language advance hand in hand…”8 4. The expressive role distinctive of modal vocabulary is to make explicit these explanatory and justificatory relations. This line of thought is a way of filling in ideas that Sellars had had since his student days. In an autobiographical sketch, he tells us that he was to begin with concerned to understand the sort of content expressed by concepts of the “logical, causal, and deontological modalities.” (Here only what he calls the “causal” modalities are at issue – a point to which I shall return.) His big idea, he tells us, was that what was needed was a functional theory of concepts which would make their role in reasoning, rather than supposed origin in experience, their primary feature.9 The idea he got from Kant was that the “role in reasoning” distinctive of a key class of alethic modal concepts is to articulate the “role in reasoning” of ordinary empirical descriptive concepts. The two key moves in an argument of this form are, first, an account of the descriptive use of empirical concepts that exhibits as essential their articulation by inferences that can support explanations and justifications, and second, an account of the central function of at least some alethic modal vocabulary as expressing explanatory and justificatory inferential relations among descriptive concepts. The conclusion of the argument is what I call the “Kant-Sellars thesis about modality”: in knowing how to use ordinary empirical descriptive vocabulary, one already knows how to do everything one needs to know how to do in order to be able (in principle) to use alethic modal

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CDCM, § 08. CDCM, § 08. Wilfrid Sellars: Action, Knowledge, and Reality, ed. by H. N. Castañeda, Indianapolis 1975,

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vocabulary.10 According to this thesis, one cannot be in the semantic predicament that empiricists such as Hume and Quine envisaged: understanding ordinary empirical descriptive vocabulary perfectly well, but having thereby no grip at all on what is expressed by modal vocabulary. How does Sellars understand the distinction between “merely labeling”, on the one hand, and describing, in the sense he then wants to argue “advances hand in hand” with explaining and justifying, on the other hand? Labeling is attaching signs to, or associating them with, items in the nonlinguistic world. The paradigm of this semantic relation is that between an arbitrary name and its bearer, or a sign and what it signifies – what Sellars elsewhere calls “the ‘Fido’-Fido model.” Now it is one of the founding insights of analytic philosophy of language that the results of a Procrustean assimilation all semantic relations to this nominalistic model are disastrous. That is a lesson taught originally by Frege, and again by both the Wittgenstein of the Tractatus and the Wittgenstein of the Investigations, each in his own way. (The mistake lives on in semiotics and in the structuralist heirs of de Saussure. Derrida was sufficiently in the grip of this traditional picture that the only alternative to it he could conceive was that signs should be understood to stand exclusively for…other signs.) What one will not understand on this model, in the first instance, is what is special about sentences, and what they express: claimables, judgeable contents, Fregean thoughts as thinkables. In particular, using the ‘Fido’-Fido model to think about the relation between declarative sentences and true Fregean thinkables, facts, is fraught with difficulties. Indeed, even the more promising strategy that avoids the nominalistic mistake of modeling the semantics of sentences on that of names while crafting a technical notion of representation to be generic across its disparate name-bearer and (true) sentence-fact species requires more subtlety, craft, and guile than is generally appreciated. Of course, one need not make the nominalistic mistake of assimilating all semantic relations to labeling in order to claim that the model applies to some uses of linguistic expressions, that is, to claim that there are, after all, labels – even if sentences are not to be counted among them. Sellars is claiming that describing should also not be assimilated to applying a “mere label.” Here the relevant grammatical category is not terms or sentences, but predicates. Predicate labels in Sellars’s sense can have more content than proper names like ‘Fido’. The use of predicates to make observation reports requires the user to exercise a reliable differential responsive disposition. It is tempting to think that reliably responding in a distinctive way to some things and not others is a way of classifying them as being of some kind, or as having something in common. What more besides dividing things into groups could be required to count as describing them as being of different kinds? The difference between classifying in the sense of labeling and describing emerges when we ask what the things grouped together by their elicitation of a common response are supposed to be described as. If the dog reliably barks at some things, and not others (cats, dogs, and squirrels, but not horses, I discuss this claim at greater length in Robert Brandom: Between Saying and Doing: Towards an Analytic Pragmatism, Oxford 2008, Chapter Four. 10

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men but not women, motorcycles but not cars, helicopters but not airplanes, church bells but not the neighbor’s stereo, and so on) it is grouping things, sorting them into two classes. But there need be nothing it is describing them as. When the metal strip expands in some environments and contracts in others, it is not yet describing them as warm or cold. Sellars’s idea is that what one is describing something as is a matter of what follows from the classification – what consequences falling in one group or another has. It is insofar as being grouped one way rather than another can serve as a premise in an inference that the grouping is intelligible as a description and not merely a label. Even in the primitive, noninferential case of the three vervet cries appropriately elicited (as the young ones are trained by their elders) by snakes, eagles, and leopards, it is insofar as they are appropriately responded to (as the young ones are trained by their elders) by jumping, covering, and climbing respectively that they begin to be intelligible as describing threats-from-below, threats-from-above, and so on. Reliably differentially elicited responses are intelligible as observation reports, as empirical descriptions, just insofar as they are available to justify further claims. It is essential, and not just accidental, to descriptive predicates that they can be used to make claims, which would be expressed by declarative sentences. And it is essential, and not accidental to those claimings that they can serve as reasons for further claims. (Of course, this Sellarsian inferentialist way of developing Frege’s claims about how we must think of the contents of predicates and sentences as related to one another once we see the inadequacy of nominalistic construals is controversial. I have elaborated and defended it elsewhere, and am merely expounding it here.) In the same spirit, Michael Dummett argues that the content of a descriptive concept cannot be identified with its circumstances of appropriate application alone. In order to avoid the defects and inadequacies of one-sided theories of meaning, one must consider both those circumstances of application and the appropriate consequences of such application – which is to say also its role as a premise in inferences (both theoretical and practical). It is possible to construct descriptive concepts that share circumstances or consequences of application, but differ in the other component. In such cases, they differ also in their content or meaning. Thinking of the application of substantive nonlogical descriptive concepts as involving a commitment to the propriety of the material inference from their circumstances to their consequences of application is a way of insisting that descriptive concepts count as locating the objects they are applied to “in a space of implications.” Sellars sees modal locutions as tools used in the enterprise of …making explicit the rules we have adopted for thought and action…I shall be interpreting our judgments to the effect that A causally necessitates B as the expression of a rule governing our use of the terms ‘A’ and ‘B’.11

Wilfrid Sellars: Language, Rules, and Behavior, in: Pure Pragmatics and Possible Worlds: The Early Essays of Wilfrid Sellars, ed. by Jeffrey F. Sicha, Reseda, CA 1980, footnote 2 to p. 136/296. 11

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The rules they express are rules of inference. Modal expressions are inference licenses or inference “tickets,” in Ryle’s terminology.12 These are what Sellars calls “material,” that is, non-logical inferences. In fact, what these modal locutions make explicit, according to Sellars, are just the implications, situation in a space of which is what distinguishes descriptive concepts from mere labels. Inferences such as that from “Pittsburgh is to the West of Princeton, so Princeton is to the East of Pittsburgh,” articulate the content of the descriptive concepts West and East. Further, it is the inferential commitments acknowledging such material implicational relations that are appealed to in explanation and justification. To make first hand use of these [modal] expressions is to be about the business of explaining a state of affairs, or justifying an assertion.13 That is, what one is doing in using modal expressions (“As are necessarily Bs”) is endorsing an inference (from anything’s being A to its being B) that can be appealed to in justifying one description on the basis of another, or explaining the applicability of one description by the appealing to the applicability of another: “The raspberries are red because they are ripe.” This is why the expressive resources of description, on the one hand, and justification and explanation, on the other hand, “advance hand in hand,” as Sellars says. Because he understands the expressive function characteristic of the modal vocabulary he is addressing to be that of making explicit the inferential relations appealed to in justifications and explanations, Sellars takes it that the central use of that vocabulary is in qualifying conditionals, paradigmatically quantified conditionals, rather than their use as operators applying to nonconditional descriptive sentences. What the modal vocabulary expresses is the element of generality that Ryle had insisted was present in all endorsements of inferences: …some kind of openness, variableness, or satisfiability characterizes all hypothetical statements alike, whether they are recognized “variable hypotheticals” like “For all x, if x is a man, x is mortal” or are highly determinate hypotheticals like “If today is Monday, tomorrow is Tuesday.14 That element of generality would naturally be made explicit in this last example by applying a necessity operator to the conditional. Another way of putting this same point is that the inferential relations among descriptive concepts in virtue of which they can be used to describe, and not just label, which are appealed to in justifications and explanations of the applicability of one description on the basis of the applicability of another,

Gilbert Ryle: ‘If’, ‘So’, and ‘Because’, in: Philosophical Analysis, ed. by Max Black, Upper Saddle River, NJ 1950, 302–318. Sellars does not discuss whether “A causally necessitates B” should be understood as expressing a committive, or merely a permissive inference. 13 CDCM, § 80. 14 Gilbert Ryle: ‘If’, ‘So’, and ‘Because’, in: Philosophical Analysis, ed. by Max Black, Upper Saddle River, NJ 1950, 311. 12

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and which are made explicit by the use of modally qualified conditionals are subjunctive and counterfactual supporting inferences. They make explicit the laws that Sellars says concepts involve and are inconceivable without. This constellation of claims to which Sellars aspires to entitle himself articulates what he makes of the tradition of thinking about modality that Kant initiates and Frege develops in an inferentialist key. It is a story that construes (at least one kind of) modal vocabulary as distinguished by the role it plays in expressing explicitly essential aspects that it makes visible as implicit already in the use of ordinary empirical descriptive vocabulary. Having a (“first hand”) use in explicating the framework within which vocabulary use can have the significance of describing – a framework we come to see as necessarily a unified package comprising not only description, but justification and explanation, a framework articulated by subjunctively robust inferential relations among descriptive concepts – sets modal vocabulary off from the descriptive vocabulary, precisely in virtue of the distinctive expressive role it plays with respect to the use of such descriptive vocabulary. This, then, is Sellars’s modal expressivism. 4. It is, it should be acknowledged, largely programmatic. Turning the program into a full-blooded account of the use of modal vocabulary would require satisfactory responses to a number of challenges. I remarked above that Sellars’s approach focuses on modally qualified conditionals. So, at a minimum, we would need to understand how it might be developed or extended to deal with other uses of modal operators.15 A second issue concerns the kind of modality Sellars is telling us about. His topic patently is not logical necessity and possibility. Nor is it the sort of metaphysical necessity and possibility Kripke introduces us to in “Naming and Necessity.” In the principal essay in which he develops his expressivism, Sellars specifies what he is interested in as “causal” modalities.16 There and elsewhere he talks about them as “physical” modalities. It is clear that he means to be discussing the sort of alethic necessity and possibility that characterizes laws of nature – not only laws of fundamental physics, but also laws promulgated in the special sciences. He seems to think that this is generically the same modality as that involved in ordinary informal explanations of empirical phenomena: of why the car wouldn’t start, why the beans burned, why the squirrel couldn’t get to the bird-feeder, and so on. It is clearly some such notion of necessity and possibility that Kant was addressing. It is the kind of necessity that is the target of Hume ’s skeptical epistemological doubts about the possibility of establishing on inductive grounds, and of his consequent semantic doubts about its ultimate intelligibility. Frege’s few, gnomic remarks about the modal force of his generality locutions (the concavity and the use of latin letters) suggest he was thinking about something like this same notion of necessity.

15 Semantic inferentialists think that the use of any concept involves commitment to the propriety of all the inferences from the circumstances of appropriate application to the appropriate consequences of application of that concept. Cf. Robert Brandom: Articulating Reasons, Cambridge 1997, Chapter One. So in that context, a strategy for addressing this challenge might not be far to seek. 16 CDCM.

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Sellars also clearly thinks that it is a kind of conceptual necessity. The modality he is analyzing characterizes the subjunctively robust inferential connections among empirical concepts in virtue of which (at least in part) they have the descriptive contents that they do. The laws, exhibiting that modality, which such concepts involve (without which, we are told, they are inconceivable) articulate the contents of those concepts, or at least the framework within which they are intelligible as having those contents. This aspect of Sellars’s thought is what he makes of Kant’s treatment of alethic modality as a category, a pure concept. For those, Sellars thinks, are the concepts that make explicit what something implicit in the use of any empirical descriptive concepts. This is the semantic sense in which they are always available a priori: apart from the applicability of any particular noncategorial, empirical concepts. But it is not easy to see how to reconcile these two characterizations of the modality in question: as causal, physical necessity and possibility, and as some sort of conceptual necessity and possibility. In particular, these two conceptions of a kind of alethic modality seem to pull in different directions epistemologically. For laws of nature, or statements about what causally or physically necessitates what (or makes what else causally or physically possible or impossible) must in general be established empirically. But questions of what is conceptually necessary or possible, of what other concepts must or can be applied if some concept were to be applied, just in virtue of the contents of the concepts involved, seems to be something one can discover a priori. One does not need to know how the world is, only what one means – not what descriptive concepts actually apply to a situation, but only what the contents of those concepts are. We are faced with an inconsistent triad of a form that is familiar to readers of Empiricism and the Philosophy of Mind17: 1. Physical or causal necessity and possibility are a kind of conceptual necessity and possibility. 2. Physical or causal necessities and possibilities must be established empirically. 3. Conceptual necessities and possibilities can be established a priori. Sellars is fully aware of this difficulty, and has a straightforward, if radical, response. He rejects the third element of the triad. A semantic externalist avant la letter, he takes it that we cannot discover the contents of our concepts or the meanings of our words just by introspecting. He follows Kant in understanding concepts as rules (norms) we bind ourselves by, without knowing everything about what we are committing ourselves to by applying those concepts. Finding out what applications of descriptive concepts are correct and finding out what inferences connecting those descriptive concepts are correct are two sides of one coin, two aspects of one process of empirical inquiry. Though Quine would not put the point this way, Sellars is at one with him in denying

Empiricism and the Philosophy of Mind, ed. by Robert Brandom, Cambridge 1997, § 6. Notice that insofar as there is any go to Sellars’s reading of Kant on this point, a corresponding issue arises for Kant’s view. How is it, exactly, that we can know a priori that nature is lawful, but can only know empirically what the laws are? I say something about this issue in Section IV. 17

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the Carnapian two-phase story (appropriate for formal languages, but not for natural languages) according to which first, by one sort of procedure one has privileged, nonempirical access to, one fixes meanings (concepts, the language) and then subsequently, by another sort of procedure, which is empirical, determines the facts (what to believe, one’s theory) as expressed in those meanings (concepts, language). To find out what the contents of the concepts we apply in describing the world really are, we have to find out what the laws of nature are. And that is an empirical matter. Another challenge to working out Sellars’s version of modal expressivism concerns extent to which, and the sense in which, it should be understood as taking the expressive role characteristic of modal vocabulary to be a metalinguistic one. On the one hand, when Sellars says he wants to understand a paradigmatic kind of modal judgment as “the expression of a rule governing our use of the terms ‘A’ and ‘B’,” this sounds straightforwardly metalinguistic in a classical sense. (This formulation is from an early paper, and is not appealed to in the later 1959 paper that contains his official account.) On the other hand, it cannot be right to say that modal claims should be understood as covertly made in a metalanguage whose mastery requires mastery of terms that refer to terms (here, descriptive ones) in an object language – which is the classical Tarski-Carnap sense. For someone (perhaps a monolingual German) could claim, believe, or judge that A causally necessitates B without ever having heard of the English expressions that ‘A’ and ‘B’ stand for in the example. Further, the claim could be true even if there had never been such expressions, because there had never been any language users. (There would still have been laws of nature, even if there had never been language.) So is the view he is after a metalinguistic expressivism, or not? In light of the considerations just mentioned, Sellars’s characteristically nuanced-but-unhelpful assessment is this: Shall we say that modal expressions are metalinguistic? Neither a simple ‘yes’ nor a simple ‘no’ will do.18 He wants to say that while modal statements are not metalinguistic in a narrow sense, there is a wider sense in which they are. It is sometimes thought that modal statements do not describe states of affairs in the world, because they are really metalinguistic. This won’t do at all if it is meant that instead of describing states of affairs in the world, they describe linguistic habits. It is more plausible if it is meant that statements involving modal terms have the force of prescriptive statements about the use of certain expressions in the object language. Yet there is more than one way of to ‘have the force of ’ a statement, and failure to distinguish between them may snowball into a serious confusion as wider implications are drawn.19

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CDCM, § 82. CDCM, § 81.

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What distinction does he have in mind? We must here, as elsewhere, draw a distinction between what we are committed to concerning the world by virtue of the fact that we have reason to make a certain assertion, and the force, in a narrower sense, of the assertion itself.20 Sellars acknowledges that modal statements do not say that some entailment holds, but distinguishes between what is said by using a bit of vocabulary and what is ‘contextually implied’ by doing so. Sellars says very little about this latter notion, even though it bears the full weight of his proposed emendation of the rationalist account. This is really all he says about the matter in the only essay he devotes to the exposition of his views about the “causal modalities.” Elsewhere he had put what I think is recognizably the same point in terms of a distinction between what one says by making a statement and what (else) one conveys by doing so.21 There his example is that in asserting “The weather is fine today,” I say that the weather is fine today, but convey that I believe that it is fine. This is suggestive, but won’t help us out in detail in the modal case. For, first, he doesn’t give us any idea what, if anything, is said by making a modal claim. Second, assertions are in general expressions of belief, regardless of what their content is. But the case we care about depends on the application of specifically modal concepts in what is said doing something specific that one is not doing in making assertions generally. I think Sellars never really figures out how to work out the line of thought he suggests here. After 1959 he never repudiates the views he sketched in “Counterfactuals, Dispositions, and the Causal Modalities,” and seems to continue to endorse them. But he never revisits the topic substantially – never says how he thinks one might go on to fill in the expressivist idea he had gestured at there. Doing that is, in effect, left as an exercise to the reader. I conjecture that one reason for this failure is that he labored under the restriction of a further systematic constraint consequent upon other views near and dear to his heart. For he also thought that discourse about properties, universals, and even facts was metalinguistic in a broad, nonclassical sense. The problem for him, I think, is that he thought he not only needed to find a specific sense in which modal vocabulary could be understood to be ‘metalinguistic’, but also a sense of that term that was generic between that case and the case of ontological-categorial vocabulary such as ‘property’ and ‘universal’. He did work hard, and make significant progress, on delineating the sense in which he thought of that latter sort of vocabulary as metalinguistic, avoiding the pitfalls (mentioned above) involved in understanding it as metalinguistic in the orthodox sense that requires reference to the expressions of an object language. His response turns on the discursive functional roles that dot-quoted expressions refer to, the notion of distributive singular terms, and of the formation of a kind of such

CDCM, § 101. Wilfrid Sellars: Inference and Meaning, in: Pure Pragmatics and Possible Worlds: The Early Essays of Wilfrid Sellars, Reseda, ed. by Jeffrey F. Sicha, CA 1980, 280/332. This is also an earlier piece (1953), and he does not in CDCM advert to this way of making the distinction. 20 21

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terms by instantiating-categorizing quotation to refer to those roles.22 This is a very sophisticated response to the corresponding difficulties that arise for calling ontologicalcategorial expressions ‘metalinguistic’. But that solution does not immediately apply to modal expressions. (Whether some variant of it would work is another question.) And he could not figure out how to specify either the genus that comprises both, or the modal species. 5. Sellars is working with Kant’s idea that the expressive role distinctive of alethic modal vocabulary is to make explicit something that is implicit already in the use of ordinary empirical descriptive vocabulary. He picks up Frege’s hint that what matters is the specifically inferential articulation essential to the conceptual contentfulness of descriptive vocabulary. He develops those thoughts by adding the ideas that that expressive role is in some broad but noncanonical sense metalinguistic – a matter of the role such vocabulary plays in endorsing rules of inference governing descriptive vocabulary. And equally importantly, he focuses our attention on the pragmatic dimension of that expressive role. That is, he counsels us to look to what we are doing when we endorse a modal claim. (Compare: expressivism about normative vocabulary – paradigmatically deontic vocabulary.) I want to make a couple of suggestions for how one might move forward with what Sellars made of Kant’s thought about how the expressive role characteristic of alethic modal vocabulary is related to that of ordinary empirical descriptive vocabulary. One lesson I think we can learn from Sellars’s difficulties is that the notion of being ‘metalinguistic’ or (“about language”) is too crude an expressive tool, too undifferentiated a concept to be helpful in this context. There are, as Sellars intimates, many ways in which the use of one vocabulary can depend on that of another besides any terms of the one vocabulary referring to those of the other. Putting together Sellars’s metalinguistic idea with his pragmatic idea, we could consider the possibility that the place to begin thinking about the expressive role of modal vocabulary is with what in Between Saying and Doing I call a “pragmatic metavocabulary.” This concept takes its place alongside that of a syntactic metavocabulary, which enables one to talk about linguistic expressions themselves (both what Sellars calls “sign designs” and grammatical categories), and a semantic metavocabulary, which enables one to talk about what linguistic expressions refer to or what descriptive concepts let one say. A pragmatic metavocabulary enables one to talk about what one is doing in using linguistic expressions, the speech acts one is performing, the pragmatic force one is investing them with or exercising, the commitments one is undertaking by making claims, the norms that govern linguistic performances, and so on. (This list is something of a motley, meant to correspond to the capaciousness of ‘do’ and ‘use’, a reminder that the concept is picked out is still generic.) Sellars’s model is that modal vocabulary says something that would

His views are developed in three seminal essays: “Naming and Saying,” “Grammar and Existence: A Preface to Ontology,” and “Abstract Entities.” They are reprinted as Chapters Five, Six, and Seven of In the Space of Reasons: Selected Essays of Wilfrid Sellars, ed. by K. Scharp and R. Brandom, Cambridge 2007. 22

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be said more explicitly in a semantic metavocabulary. But by the time his commentary has taken back everything that it turns out needs to be taken back, not much is left of that model. What seems right about the commentary, however, is Sellars’s observations about what one is doing in “making first-hand use” of modal vocabulary: endorsing inferences. Insofar as there is anything to that idea, the more natural strategy would seem to be to take one’s model from pragmatic metavocabularies. After all, Sellars ends up saying nothing at all about what one says in making first-hand use of modal vocabulary. Properly understood, I think, his is not a semantic expressivism about alethic modal vocabulary, but a kind of pragmatic expressivism about it. As a first try at expressing the thought that would result from transposition from a semantic into a pragmatic key, we might try this: In making first-hand use of (the relevant kind of) alethic modal vocabulary one is doing something distinctive that could be specified explicitly in the right kind of pragmatic metavocabulary, namely endorsing a class of inferences. The pragmatic metavocabulary enables one to say what modal vocabulary enables one to do. Such a claim does not in itself involve any commitment concerning the relations between the content of talk about endorsing inferences and talk about necessity and possibility, never mind commitment to their equivalence. Notice, further, that counterfactuals that suppose the absence of concept users are irrelevant to the assessment of this claim. For in that case there would be neither endorsers of inferences nor users of modal vocabulary. The claim that is on the table so far is evidently too weak to be interesting, though. It does not carve out an expressive role that is distinctive of modal vocabulary. For in making an ordinary descriptive claim one is also doing something that could be specified in a pragmatic metavocabulary, namely applying descriptive concepts, making a claim, undertaking a doxastic or assertional commitment. And those, the Frege-Sellars inferentialist line goes, essentially involve commitments to the proprieties of inferences. My second suggestion for developing Sellars’s modal expressivism is that what is special about (a certain kind of) modal vocabulary is that it stands in a special relation to descriptive vocabulary – a relation that invited its characterization as ‘metalinguistic’ (with respect to that descriptive vocabulary) in the first place. This relation is that anyone who knows how to use ordinary empirical descriptive vocabulary (e. g. ‘red’, ‘square’, ‘moving’, ‘alive’, ‘electron’) already knows how to do everything she needs to know how to do to deploy modal vocabulary. A variant formulation (closely related, but not equivalent) would be that the norms governing the use of ordinary empirical descriptive vocabulary determine the norms governing the use of modal vocabulary. In this sense, modal vocabulary makes explicit (in the form of a new kind of claimable content) something that is implicit already in the use of descriptive vocabulary. This claim about the expressive role characteristic of modal vocabulary is vocabulary-specific. For not all vocabularies stand in this relation to some other kind of vocabulary. In particular, there is in general nothing that ordinary empirical descriptive (OED) vocabulary stands to in this expressive relation. An instructive parallel is with a particular bit of logical vocabulary: the conditional. If Sellars is right that an essential element distinguishing describing from mere labeling

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keyed to differential responsiveness is the inferential involvements of the locutions applied (their “situation in a space of implications”) then anyone who knows how to use descriptive vocabulary already knows how to do everything he needs to know how to do to use conditionals whose antecedents are formed from those descriptive claimables. For to be able to use the descriptive vocabulary, one must make some distinction (however partial and fallible) between materially good and materially bad inferences involving that vocabulary. And that is sufficient to introduce conditionals as having the circumstances of appropriate application that if one is committed to the propriety of the inference from p to q, then one is committed to the conditional claim “if p then q,” and the consequences of application that if one is committed to the conditional claim “if p then q,” then one is committed to the material propriety of the inference from p to q. The capacity to use the underlying descriptive vocabulary can be straightforwardly (indeed, algorithmically) transformed into the capacity to use conditionals involving that vocabulary. What aspect of inference is it that modal vocabulary is supposed to express? My third suggestion for developing the Kant-Sellars approach to modality is an answer to this question. The key fact to appreciate, I think, is that outside of logic and mathematics (and possibly fundamental physics, though I doubt it23), in ordinary language and the special sciences, material inference is massively nonmonotonic. That is, the fact that the inference from p to q is a materially good one in some situation does not mean that the inference from p and r to q must also be a good one, in the same situation. If I strike this dry, well-made match, it will light – but not if in addition all the oxygen is removed from the room, or a sufficiently strong magnetic field is applied, or…. If I let loose of the leash, the dog will chase the cat – but not if either one is struck by lightning, a bear suddenly blocks the way, or…. This phenomenon is ubiquitous and unavoidable, even in less informal contexts: differential medical diagnosis, the application of common or case law, or philosophical argumentation. One cannot secure material inferences from all possible defeasors by explicitly building their denial into the premises, for the class of defeasors is in general open-ended and not antecedently surveyable. Nor can one achieve the same effect wholesale by the use of ceteris paribus clauses. As I have argued elsewhere, the expressive role of such clauses is explicitly to acknowledge the non-monotonicity, hence defeasibility of the qualified inference, not magically to remove it. 24 (The technical term for a Latin phrase whose application can do that is ‘spell’). The defeasibility or nonmonotonicity of the material inferences essential to the conceptual contentfulness of descriptive vocabulary means that the use of such vocabulary requires not only making a distinction (however fallibly) between those inferences one endorses and those one does not, but also (as part of that capacity, and also fallibly) between the collateral premises or auxiliary hypotheses whose additions one takes it

For reasons Mark Wilson elaborates in his original and important book Wandering Significance. Mark Wilson: Wandering Significance, Oxford 2006. 24 Robert Brandom: Articulating Reasons: An Introduction to Inferentialism, Cambridge 2000, Chapter Two. 23

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would, and those that would not, infirm the inference, in the sense that the conclusion would no longer follow. That is, in order to use OED vocabulary, one must associate some range of subjunctive and counterfactual robustness with the material inferences that (at least partially) articulate the contents of the descriptive concepts. So, for instance, I might endorse the inference that would be made explicit in a conditional by “If I release my grip on the book, then it will fall to the floor.” But for the attribution of such an inferential commitment to me to be sustainable, I must make some distinction between collateral circumstances that would defeat the inference (a table is moved under it, someone else catches it, it dissolves in a puff of smoke, it is snatched up by a passing hawk…) and those that would not (it is Tuesday, it is slightly cooler today than it was yesterday, my car has been moved slightly further away…). Of course I might be wrong about whether any of these particular auxiliary hypotheses actually would or would not defeat the inference to the conclusion. But if I make no distinction of this sort at all I should be convicted of not understanding the concepts (book, falling) that I am attempting to apply. The principal vocabulary we use to make these distinctions explicit is subjunctive and counterfactual conditionals: “If the lioness were to be struck by a spear…,” “If the book had been attached to a large helium-filled balloon….” Subjunctives let us express, explore, and communicate the ranges of counterfactual robustness of the inferences we endorse, our commitments concerning what would and would not defeat or infirm those inferences. The subjunctive mood is a principal alethic modal construction. Talk of what is and isn’t possible or necessary if… also lets us mark out regions of monotonicity within the field of material inferences relating applications of descriptive concepts. “If the patient has a positive muscle-contracture test, it does not necessarly follow that he has malignant hyperthermia. It is possible that he has Duchesne’s dystrophy. If he has [genetic variant], then it is necessary that he has malignant hyperthermia.” “If the wood had been pressure-treated, it would not have split over the winter, but it is possible its color would have faded.” On this account, subjunctive robustness is the generality or “openness” Ryle found in the inferences made explicit by conditionals, and which is made explicit by modal vocabulary, including the subjunctive mood. It involves a kind of quantification over auxiliary hypotheses that would not, according to the modal claim, infirm the inference or its conclusion.25 (Frege’s account of the significance of his Latin letters indicates that he agrees with Ryle.) The kind of generalization implicit in the use of subjunctive or modal vocabulary is what is invoked in explanation, which exhibits some conclusion as the resulting from an inference that is good as an instance of a kind, or in virtue of a pattern of good inferences. This is what was intuitively right about the deductive-nomological understanding of explanation. What was wrong about it is that subjunctive robustness need not be underwritten by laws: modally qualified conditionMany everyday uses of modal vocabulary to qualify claims suppress the premises from which the claim implicitly is taken to follow, and so court the danger of countenancing the modal fallacy that would infer from p and †(p†q) to †q. Thereon hangs a tale. 25

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als whose quantifiers are wide open. That is, there need not be inferences guaranteed to be globally monotonic no matter what collateral premises are thrown in, standing behind every local region of monotonicity – every set of collateral premises with respect to which the inference is subjunctively robust. Thus singular explanations, for instance, singular causal explanations, need not fall under covering laws to be good explanations. But they do need to involve some range of subjunctive (including counterfactual) robustness in order to count as explanations, rather than just descriptions of some event. It is because the use of descriptive vocabulary requires commitment to inferences with some range of subjunctive robustness that, as I earlier quoted Sellars as saying: Although describing and explaining (predicting, retrodicting, understanding) are distinguishable, they are also, in an important sense, inseparable… The descriptive and explanatory resources of language advance hand in hand….”26 The expressive job characteristic of modal vocabulary is to make explicit this implicit dimension of the use of ordinary empirical descriptive vocabulary.

II. A Modal Realism 6. This sketch of a program for extending the Kant-Sellars tradition of modal expressivism raises a myriad of questions, some of detail, others more substantial. Rather than beginning to fill in that sketch by addressing some of those questions, I want to confront the ideas that motivate it with a different set of intuitions: those that motivate a robust modal realism. By “modal realism” I mean the conjunction of the claims that: MR1) Some modally qualified claims are true. MR2) Those that are state facts. MR3) Some of those facts are objective, in the sense that they are independent of the activities of concept-users: they would be facts even if there never were or never had been concept-users.27 There are strong reasons to endorse all three of these claims. As to the first, physics tells us things such as: “Two bodies acted upon only by gravitational forces necessarily attract one another in direct proportion to the product of their masses and inversely proportionally to the square of the distance between their centers of mass.” I take it this claim, for instance, is true. Even if it is not, I take it that some claims of this form, purporting to state laws of nature, do, in fact, state laws of nature. For denying this brings one into direct contradiction with the empirical sciences themselves. Supporting such a position would require a strong argument indeed. For the empirical sciences

CDCM, § 108. Of course, this is itself a modal claim, expressed counterfactually in the subjunctive mood. That fact is not problematic in the current context. One upshot of the previous discussion is that any description of how things objectively are implicitly involves modal commitments. 26 27

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are in the business of making subjunctive and counterfactual-supporting claims. That is, they offer not only descriptions, but explanations. Indeed, the descriptions they offer are essentially, and not just accidentally, available to figure in explanations of other descriptions. The second claim is, I think, true in virtue of the definition of ‘fact’. A fact, Frege says, is a thought that is true.28 He means ‘thought’ in the sense of something thinkable, not in the sense of a thinking of course. For there can be unthought facts. On this usage, it is alright to say that facts make thoughts or claims true only in the sense that facts make acts of thinking and claiming true. For the facts just are the true thinkables and claimables. Wittgenstein is appealing to this way of using ‘fact’ when he says: “When we say, and mean, that such-and-such is the case, we – and our meaning – do not stop anywhere short of the fact; but we mean: this – is – so.”29 On this usage, if there are true modal claims – in the sense of true modal claimables, or modal claimings that are true in that they are claimings of true claimables – then there are modal facts. Modal facts are just facts statable using modal vocabulary, as physical facts are facts statable using physical vocabulary, nautical facts are facts statable using nautical vocabulary, and so on. The third claim is perhaps the most controversial of these three platitudes. But I think the same principle I implicitly invoked in talking about the first claim underwrites it. Physics tells us that the current laws of nature were already laws of nature before there were human concept-users. And, although it does not specifically address the issue, it is clearly committed to the claim that the laws would have been the same even if there never had been concept-users. Indeed, many of the laws of nature (including all the Newtonian ones) exhibit a temporal symmetry: they hold indifferently at all times. So they are independent of the advent, at some particular time, of concept-users. And one of the mainstays of physics over the last century – substantially contributing to its distinctive conceptual shape – is the result of the Noether theorem that tells us (entails) that that this fundamental temporal symmetry is mathematically equivalent to the physical principle of conservation of energy.30 Denying MR3 is denying the temporal symmetry of laws of nature. And the theorem tells us that that means denying the conservation of energy. While there are reasons from the bleeding edge of physics to worry about the universal truth of that principle, those considerations are irrelevant in the current context (they do not stem from the presence or absence of concept-users in our world). I conclude that one cannot deny MR3 without taking issue with substantial, indeed fundamental, empirical issues in physics.31

In Gottlob Frege: The Thought: A Logical Inquiry, in: Mind 65 (1956), 307. Ludwig Wittgenstein: Philosophical Investigations, Oxford 1953, § 95. 30 Cf. for instance Nina Byers: E. Noether’s Discovery of the Deep Connection Between Symmetries and Conservation Laws, in: Israel Mathematical Conference Proceedings 12 (1999). 31 I offer a different argument for this same conclusion (not specifically for the modal case, but for a more generic one that comprises it) in Robert Brandom: Perspectives on Pragmatism: Classical, Recent, and Contemporary, forthcoming, Section V of Chapter Five: 28

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I am claiming that one ought to endorse MR1 and MR3 unless one takes issue with the principle that philosophers thinking metalinguistically about semantics and concept-use ought not, in general, to be in the business of denying claims made by physicists, when the latter are speaker ex cathedra on matters that fall within their professional purview. There are some philosophers (Huw Price is one) who are both competent and willing to do so – indeed, in his case, specifically on the matter of the physicists’ uncritical use of modal vocabulary. But I am not one of them. I take it that: 1) If some crucible were heated to a temperature high enough to melt copper, then it would be hot enough to melt aluminum. Is a chemical necessity: a chemical law of nature. It is a modal fact. It is modally, subjunctively, counterfactually independent of the existence of concept-users. If that is right, then descriptions of how things objectively are stand in modally robust material (non-logical) consequential relations to one another. Another such is: 2) If the sample were (had been) pure copper, then it would be (would have been) denser than water.

There were no true claimings before there were vocabularies, because there were no claimings at all. But it does not follow that there were no true claimables. In fact, we can show that we ought not to say that. Here is an argument that turns on the grammatical transformations that “It is true that…” takes. Physics tells us that there were photons before there were humans (I read a lot about them in Stephen Weinberg’s account of the early history of the universe, The First Three Minutes, New York 1988, for instance). So if before time V there were no humans, so no vocabularies, we do not want to deny that 1. There were (at time pre-V) photons. We can move the tense operator out front, and paraphrase this as: 2. It was the case (at time pre-V) that [there are photons]. By the basic redundancy property of ‘true’, we can preface this with “It is true that…”: 3. It is true that [It was the case (at time pre-V) that [there are photons]]. Now we can move the tense operator out to modify the verb in “It is true that…”: 4. Was[ It is true (at time pre-V) that [there are photons]] This is the key move. It is justified by the observation that all sentential operators can be treated this way, as a result of deep features of the redundancy of ‘true’. Thus one can transform “It is true that Not[p],” into Not[It is true that p], “It is true that Possibly[p],” into “Possibly[It is true that p],” and “It is true that Will-be[p],” into “Will-be[It is true that p].” But now, given how the tense operators work, it is straightforward to derive: 5. It was true (at time pre-V) that [there are photons]. And again invoking the features that make ‘true’ redundant, we get: 6. It was the case (at time pre-V) that [It is true that [there are photons]]. These uniformities involving the interaction of ‘true’ with other sentential operators tell us we are committed by our use of those expressions to either deny that there were photons before there were people – which is to deny well-entrenched deliverances of physics – or to admit that there were truths about photons before there were people to formulate them. [Putting these two arguments together seems to result in a grammatical argument that ordinary language is (whether it knows it or not, de re, not de dicto) committed to the conservation of energy. Ought that to be worrisome?]

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Besides relations of material consequence, descriptive facts we can state can also stand in relations of material incompatibility. 3) A sample’s being pure copper is incompatible with its being an electrical insulator. (It is not possible that a sample be both pure copper and an electrical insulator.) Ways the world can be empirically described as being stand to one another in objective, modally robust relations of material consequence and incompatibility. 7. The modalities this sort of realism addresses are those invoked by the natural sciences, and their analogs in less systematic ordinary language. What the kind of modal vocabulary in question expresses is not logical possibility and necessity, for the truth of claims such as (1), (2) and (3) depends essentially on their use of the non-logical empirical descriptive concepts copper, aluminum, temperature, water, density, and so on. Nor is it metaphysical necessity, which abstracts from actual laws of nature and other subjunctive- and counterfactual-supporting dependencies that turn on particular properties things can be described as having. The modal revolution in late twentieth-century Anglophone philosophy had three principal phases. First was Kripke’s revolution in the semantics of modal logical vocabulary. Second was the generalization, by Lewis, Stalnaker, Montague, and Kaplan, among others, of his algebraic possible-worlds apparatus to an intensional semantics for non-logical expressions. Third was the introduction of the conceptual apparatus that led to the recognition of the possibility of necessities knowable only a posteriori, and contingencies knowable a priori, in Kripke’s Naming and Necessity. It was this third phase that gave rise to contemporary analytic metaphysics. The kind of modality to which both the modal expressivism of the previous section and the modal realism of this one are addressed is relevant at most to the second phase: the one in which modal notions such as possibility are used to explicate the contents of nonlogical concepts. There is another line of argument to the conclusion that commitment to modal realism is implicit in commitment to a corresponding realism about claims expressed using ordinary empirical descriptive vocabulary. It will make clearer the relation between one kind of alethic modality and conceptual content. We can begin with a platitude: there is some way the world objectively is. How it objectively is must be discovered by empirical inquiry, and sets a semantic and epistemic standard for assessment of the correctness of our descriptive claimings as potential expressions of knowledge. The question is how to understand the relation of modal facts (if any) to how the world objectively is as describable (at least sometimes) in non-modal empirical descriptive vocabulary. One might ask a supervenience question here, but the line of thought I am concerned with goes a different way. It asks what modal commitments are implicit already in the idea of an empirically describable world. It focuses on the determinateness of the way things objectively are. To talk about how things objectively are as determinate is to invoke a contrast with how they are not. This idea is summed up in the Spinozist (and scholastic) principle omnis determinatio est negatio. This thought is incorporated in the twentieth-century con-

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cept of information (due to Shannon32), which understands it in terms of the partition each bit establishes between how things are (according to the information) and how they are not. But there are different ways we might follow out this idea, depending on how we think about the sort of negation involved. What I’ll call the “Hegelian” model of determinateness insists that it must be understood as what he calls “exclusive” [ausschließend] difference, and not mere or “indifferent” [gleichgültig] difference.33 Square and circular are exclusively different properties, since possession by a plane figure of the one excludes, rules out, or is materially incompatible with possession of the other. Square and green are merely or indifferently different, in that though they are distinct properties, possession of the one does not preclude possession of the other. An essential part of the determinate content of a property – what makes it the property it is, and not some other one – is the relations of material (non-logical) incompatibility it stands in to other determinate properties (for instance, shapes to other shapes, and colors to other colors). In fact, Hegel’s view is that determinateness is a matter of standing in relations of material incompatibility (his “determinate negation”) and material consequence (his “mediation”) to other determinates. We might think of these as related by the principle that one property, say metallic is a consequence of another, copper, in case everything incompatible with being metallic (say, being a mammal) is incompatible with being copper. A property possession of which rules out possession of no other properties, and has as a consequence possession of no others, is in so far such indeterminate. One observation we can make about this distinction between exclusive difference and mere difference is that one can define mere difference solely in terms of exclusive difference, but not vice versa. For one can say that two properties are merely different just in case they are not incompatible with each other, but are materially incompatible with different properties. Square and green are different because they are incompatible with different properties: square is incompatible with circular, and green is not.34 One reason to endorse this Hegelian conception of determinateness is that it is required to underwrite what might be taken to be an essential aspect of the structural difference between the fundamental ontological categories of object and property. Aristotle had already pointed out a fundamental asymmetry between these categories. It makes sense to think of each property as coming with a converse, in the sense of a Claude E. Shannon and Warren Weaver: The Mathematical Theory of Communication, Urbana, IL 1949. 33 The rubric ‘Hegelian’ here is tendentious, and liable to be alarming. More seriously, it is liable to be unhelpful. For now, treat it as a mere label. I will say what I mean by it – give it some content – as we go along. 34 This definition sounds circular, because of its invocation of the notion of sameness of the properties incompatible with a property. But we can avoid this. Suppose we have labeled properties (say, by real numbers). If an oracle then tells us for each label the set of all labels of incompatible properties, we can sort the labels into equivalence classes, accordingly as the set of incompatible labels they are associated with is the same. These will all be labels of the same property. Two labels that are not in the same incompatibility-equivalence class, are then labels of different properties. Some pairs of properties that are different in this sense will then also be exclusively different, if one is a member of the incompatibility set of (a label of) the other. 32

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property that is exhibited by all and only the objects that do not exhibit the index property. Has a mass greater than 5 grams is a property that has a converse in this sense. But it does not make sense to think of objects as coming with converses, in the analogous sense of an object that exhibits all and only the properties that are not exhibited by the index object. This is precisely because some of those properties will be incompatible with one another. Thus my left leg has the properties of not being identical to Bach’s second Brandenberg concerto and not being identical to Gottlob Frege. Its converse would have to have the properties of being identical to both. Now one might deny that this categorial asymmetry is essential to the concepts of object and property. A Tractarian conception of (elementary) objects and properties makes do with mere difference. Elementary properties and relations do not stand in relations of material incompatibility or consequence. They are independent, in that the fact that an object exhibits one property or stands in one relation has no consequences for any others it might exhibit or stand in.35 (All the relations of incompatibility and consequence holding between states of affairs in the Tractatus hold between non-elementary states of affairs, and are due solely to the logical complexity of those states of affairs. There are no material, that is, nonlogical, relations of consequence and incompatibility in that picture.) In this context it is coherent to associate with each elementary object a converse, which exhibits all and only the properties (stands in all and only the relations) that the index object does not. I am not concerned here to argue that the Tractarian conception of object is incoherent or otherwise inadequate just because it has no room for the Aristotelian categorial asymmetry. For my purposes it is sufficient to point out that the Hegelian notion of determinateness, which requires acknowledging the distinction between mere difference and exclusive difference, does underwrite (is necessary and sufficient for) the Aristotelian point about the difference between objects and properties (or relations). A Tractarian conception of determinateness is one according to which it is sufficient for properties to be determinate that they are merely different from one another, and sufficient for objects to be determinate that they exhibit some merely different properties. Tractarian properties do not stand to one another in relations of determinable properties (e. g. polygonal, colored) and more determinate properties falling under them (circular, green). For the more determinate properties would stand in relations of material consequence to their determinables, and in relations of material incompatibility to other determinates falling under the same determinable. So nothing like the structure – characteristic of shapes and colors, and of biological taxonomies – of properties as falling into determinable families of exclusively different determinates which are merely different from determinates falling under other determinables is available in a Tractarian world.

There are both textual and conceptual difficulties concerning the status of monadic elementary properties in the Tractatus. But the points I am concerned to make go through just as well if we restrict ourselves to relations, so I will ignore both these kinds of difficulty. 35

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The Hegelian conception of determinateness as a matter of standing in relations of exclusive difference (material incompatibility, and – so – material consequence) to other determinates, then, has at least these three consequences in its favor: • The mere difference that articulates the Tractarian world can be defined in terms of exclusive difference, but there is no backwards route; • Objects and properties that are determinate in this sense exhibit the Aristotelian categorial asymmetry; • Properties will exhibit the standard structure of compatible determinable families of incompatible determinate properties. It should be clear that to take the objective world to be determinate in the Hegelian sense – so, to consist of objects and their properties and relations in the Aristotelian sense, and for those properties and relations to exhibit the structure of determinable families of determinates – is to be committed to modal realism. For Hegelian determinateness requires that there be facts about what properties and states of affairs are materially incompatible with which others, and about what material consequential relations they stand in to which others. The determinateness of the fact that this coin is copper consists in part in its being incompatible with the coin being silver and its having as a consequence that it conducts electricity – that is, with its being necessary that it is not silver, possible that it is green, and necessary that it conducts electricity.36 Metallurgists discover these modal facts as part of the same kind of empirical inquiry through which they discover that this coin is in fact copper. A world without modal facts would be an indeterminate world: a world without objects in the Aristotelian sense, and without properties in the sense that admits a determinate-determinable structure. The kind of modality in question is that expressed in ordinary conversational language, and in a more systematic and controlled way in the special sciences, both empirical and exact. It is the modality involved in claims such as “No monochromatic patch can be both red and green,” “It is impossible for a square plane figure to be circular,” “Pure copper at sea-level pressure necessarily melts at 1083.4 °C,” and “A mammal placed in an evacuated bell-jar would die of oxygen deprivation.” These are not either logical modalities, except in an extremely extended sense – though one not without precedent in Anglophone philosophy of the ‘40s and ‘50s), nor are they oomphier metaphysical modalities in a Kripkean sense. In laying out Sellars’s views I registered that he thinks of what he called the “causal modalities” as characterizing the inferential relations that articulate the contents of empirical descriptive concepts. If we go back to what Hegel made of Kant’s views of modality and conceptual content, we find a notion of conceptual content that can help us better understand how this kind of modality can be understood as a conceptual modality. On this conception, to be conceptually contentful just is to stand in modally robust Of course there are various provisos that would have to be added to make these claims strictly true, since copper can be alloyed with silver, and so on. I ignore these complications, as beside the point I am after. 36

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relations of material consequence and incompatibility (what Hegel calls relations of “mediation” and “determinate negation”). This is a resolutely non-psychological sense of ‘conceptual’. For it makes no reference to concept-use – to the application of concepts by anyone at all. So if there are laws of nature according to which some properties are incompatible with others (cannot be exemplified by the same object at the same time) or have others as their consequences (if one is exhibited by an object, the other must be) then the world as it is objectively, independently of the activity of any knowing and acting subjects, is conceptually articulated. Empirical inquiry is at once the job of determining what judgments are true and what concepts are correct – that is, what really follows from what and what really precludes what. Linguistic terms can express concepts, by being used so as to undertake commitments as to what follows from what and what precludes what. But the concepts they express are in no sense products of that concept-applying activity. As we saw, Sellars insists that it is standing in such relations that makes empirical descriptive vocabulary genuinely descriptive, that is, expressive of descriptive concepts, rather than merely functioning as reliably differentially responsively elicited labels. And we have seen that the sort of modal realism I have been sketching has as one of its consequences that empirical descriptive properties and states of affairs stand to one another in relations of material consequence and incompatibility. So Hegel offers us definitions of what it is to be determinate and to be conceptually articulated, according to which to take the objective world to be determinate is to take it to be modally articulated and to be conceptually articulated. That is, it commits one both to modal realism and to conceptual realism: the view that the objective world is modally, and so conceptually structured, quite apart from its relations to us.

III. Together 8. The core of the modal realism I have just sketched consists of some claims that express philosophical common sense: there are laws of nature, events sometimes causally necessitate others, there is a determinate way the world objectively is, and its being that way rules out (excludes the possibility) of its being some other ways. These are commitments to which any philosopher ought to want to be entitled. They should be contested only under theoretical duress by exceptionally weighty and compelling arguments. I have elaborated those core claims in the context of others that are not commonsensical, most notably that modal realism in this sense entails conceptual realism about the objective world. The link between the two classes of claim is forged by the Hegelian non-psychological definition of the conceptual, as what is articulated by relations of material (that is, in general nonlogical) consequence or necessitation and incompatibility. I think this is a good thing to mean by “conceptual,” not the least because of the space it opens up to understand how the sort of causal modalities investigated by the sciences can be thought of as articulating the contents of concepts. That is a deservedly controversial claim. Whatever stance one takes on it,

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the sense in which I am using the term “conceptual” is, I trust, at least reasonably clear. But what is the relation between this kind of modal realism and the modal expressivism I talked about in the first part of this essay? There the expressive role characteristic of modal vocabulary was identified as making explicit the material inferential and incompatibility relations in virtue of which ordinary empirical descriptive (OED) vocabulary expresses the content that it does. This expressive role was distinguished from that of the ground-level empirical descriptive vocabulary, whose principal job it is to say how things objectively are. There is no further vocabulary to which OED vocabulary stands in the same semantically explicative relation as alethic modal vocabulary stands to it.37 The core of this version of modal expressivism lies precisely in the distinction it insists on between the expressive role of modal vocabulary and that of describing the world, at least in the narrow, paradigmatic sense in which OED vocabulary describes the world. Modal realism says that modal vocabulary does describe the world, does say how things are. So are these two lines of thought simply incompatible? Are we obliged to choose between them? I think that the modal expressivism of Part I and the modal realism of Part II are not only compatible, but that that account of the expressive role distinctive of modal vocabulary is just what is needed to understand the central claims of modal realism. The expressivism complements, rather than conflicting with, the realism about the use of modal concepts. How is such a reconciliation to be understood? The first step is to see that modal expressivism (ME) makes claims about what one is doing in using modal concepts, while modal realism (MR) makes claims about what one is saying by using modal concepts. ME says that what one is doing when one makes a modal claim is endorsing an inference relating descriptive concepts as subjunctively (including counterfactually) robust, or treating two descriptive concepts as incompatible. MR says that when one does that, one is claiming that possession or exhibition of one empirical property is a consequence of, or is incompatible with, possession or exhibition of another. The claim that ME and MR are compatible is the claim that one can both be doing what ME says one is doing in applying modal vocabulary and be saying what MR says one is saying by doing that. The claim that they are complementary is the claim that an important way to understand what one is saying by making modal claims is to think about what one is doing by making them. According to this way of understanding the relations between ME and MR, the claims of modal expressivism are made in a pragmatic metavocabulary for modal vocabulary: that is, a vocabulary suitable for specifying the practices, abilities, and performances that make up the use of modal vocabulary. And the claims of modal realism are made in a semantic metavocabulary for modal vocabulary: that is, a vocabulary suitable for specifying the meanings or conceptual contents expressed by modal vocabulary. What we have here is an instance of the general question of how to understand This is the expressive role of being elaborated from and explicative of the use of OED vocabulary. It is what in Between Saying and Doing I call “being LX” for that vocabulary. 37

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the relations between two complementary aspects of concept application in claims: the use of the concepts and their meaning or content, what one is doing by applying them and what one is saying by applying them. I don’t think we have a good general theory of how these dimensions of discourse are related to one another. (I’ve made a first try at an analytic framework in which such a theory might be embedded, in Between Saying and Doing.) Looking more closely at the special case of modal vocabulary – a vocabulary-kind of particular philosophical interest and importance – provides a potentially valuable case study or test bench for approaching the more general question of how to understand the relations between what is said in pragmatic metavocabularies and what is said in semantic metavocabularies addressing the same base vocabulary. Of special interest in this case is the relation between the use and meaning of modal vocabulary in relation to that of ordinary empirical descriptive vocabulary. Modal expressivism says that what one is doing in making modal claims is not the same thing one is doing in making claims using ordinary empirical descriptive vocabulary. For in the former case, but not the latter, one is (perhaps inter alia) committing oneself to subjunctively robust inferential-and-incompatibility relations among descriptive concepts one is not in general thereby applying. Modal realism says that in making modal claims one is saying how things objectively are, describing the objective world. Reconciling these claims requires specifying a sense of “describing” or “empirical factstating” that is broader than that applicable to the primary use of OED vocabulary, but still sufficiently akin to it that the broader sense applicable to modal claims and the narrower sense applicable show up as species of a recognizably descriptive genus. One broader sense that is available is that provided by declarativism about factstating or description. This is the view that identifies facts with whatever is stated by declarative sentences that can be used both free-standing, to make assertions, and in embedded contexts, paradigmatically as the antecedent of conditionals and in the context of propositional attitude ascribing locutions. I think this is a perfectly good way to use “fact” and “fact-stating.” But in this context, it buys modal realism too cheaply, and hence buys too cheap a version of modal realism. For in this sense “One ought not to be cruel,” “Raspberries are preferable to strawberries,” and “The value of Picasso’s Guernica does not lie in its beauty,” are all straightforwardly fact-stating (if they were true, they would state facts), and hence descriptive in the declarativists very broad sense. So this usage loses the contrast between description and evaluation (which perhaps is no bad thing, but should be a position reached for more specific reasons than the broad charter of declarativism offers) and between objective description and subjective expression of preference or other attitude. A modal realism worthy of the name should be held to a more demanding standard for what counts as empirical fact-stating or description. I conclude that a proper reconciliation of ME and MR requires crafting a sense of “empirical description” or “empirical fact-stating” that is wider than the narrow senses applicable only to OED vocabulary such as “cat”, “red”, and “mass of five grams”, but not as broad as the declarativist’s.38 38

Here I’ve run back and forth indiscriminately between description (or fact-stating) and empirical

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9. Before indicating how that might be done, I want to consider one way in which the modal expressivist line of thought can be seen to be essential to understanding the modal realist line of thought. Modal realism claims that there are objective modal facts. One important species of modal facts is laws of nature. Modal realism makes essential use of the concepts of fact and law, but does not by itself explain those concepts. Modal expressivism does. As I indicated at the beginning of Part II, facts are (at least) true claimables. (The problem with declarativism is not its acknowledgement of this as a necessary condition on facts, but with its insouciant commitment to this being also a sufficient condition. We’ll see in (10) what more might be demanded, at least for objective empirical facts.) Does this mean that there are no facts that cannot be stated, that is, expressed in some language or vocabulary? I think we adequately acknowledge the intuitive language-transcendence of fact by affirming that for any vocabulary, there are facts that cannot be stated in that vocabulary. I think of this claim as a commitment, should you specify a vocabulary, to being able to find some facts not statable in it. (I don’t think, for instance, that one can express in the language of physics facts such as that the stock market dropped yesterday, or that the Republicans’ unwillingness to allow a vote on the judicial nominee was a strategic political blunder.) But I don’t know how to understand a claim that reverses the quantifiers and asserts that there are facts such that no vocabulary can state them. It might well be possible to give some sense to this sort of wide open quantification over all possible vocabularies, but it does not already come with one. More deeply, though, the claim is that key concepts of the semantic metavocabulary in which modal realism is stated are sense-dependent on concepts drawn from the pragmatic metavocabulary for modality offered by modal expressivism. One cannot understand the concepts fact and law except in a context that includes the concepts asserting and inferring. For facts are essentially, and not just accidentally, something that can be asserted. If one does not know that it is at least sometimes true to that facts can be stated, one does not know what facts are. And laws are essentially, and not just accidentally, something that support subjunctively and counterfactually robust inferences. If one does not understand that Newton’s second law of motion implies that if a force were (had been) applied to this moving body, it would accelerate (have accelerated), one does not grasp “F = ma” as having the force of a law.39 One concept is sense-dependent on another if one cannot grasp or understand the first without grasping or understanding the second. This sense-dependence relation description as the concept being considered. I think it is the combination that matters for modal realism. These issues will be taken up separately in sections (9) and (10). 39 In articles such as “Abstract Entities” and “Grammar and Existence: A Preface to Ontology” (reprinted as Chapters 7 and 6 of In the Space of Reasons: Selected Papers of Wilfrid Sellars, ed. by Kevin Scharp and Robert Brandom, Cambridge 2008) Sellars develops what he calls a “metalinguistic” approach to ontological-categorial concepts such as fact and property, which is much better workedout than his corresponding views on modality. Here, too, I think his basically Carnapian concept of the metalinguistic is far too undifferentiated to do the work he needs it to do in order to express the insights by which he is motivated.

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must not be confused with that of reference-dependence of one concept on another, which holds when the first cannot be true of something unless the second is true of something. The concepts parent and child are both reciprocally sense-dependent and reciprocally reference-dependent. One cannot understand one in isolation from an understanding of the other, and nothing can be a parent unless something is a child (indeed, it’s child), and vice versa. But there can be sense-dependence relations without corresponding reference-dependence relations. This is true of response-dependent properties. Suppose we define something as hedonically beautiful for humans just in case a human observer would respond to its perceptible presence with a feeling of pleasure. One cannot understand this dispositional property without also understanding the concept of pleasure (and, indeed, of human). But the exhibition of this property by an object does not require that there actually be feelings of pleasure. We can make perfect sense of the claim that there were sunsets that were hedonically beautiful for humans before there were humans. For to say that is just to say that if there had been humans to perceive them, those sunsets would have produced feelings of pleasure. And that can be true in a world without humans or pleasure. Similarly, if we define a planet as supraterrestrial just in case it has a mass larger than that of the Earth, that concept is sense-dependent on that of the Earth, but we can use it to describe a possible world in which all planets are supraterrestrial, and the Earth does not exist. To claim that the concepts fact and law were reference-dependent on the concepts of asserting and inferring would be to assert an objectionable and obviously false sort of language- or mind-dependence of crucial categorial features of the objective world. But to claim the corresponding sense-dependence claim is not in the same way objectionable. For it is compatible with the truth of the counterfactual that there would have been facts and laws even if there had never been asserters and inferrers – indeed that in our world there were facts and laws before there were asserters and inferrers. The claim is just that one cannot understand what one is saying when one talks about an objective world characterized by facts and laws (which is to say just a determinate world) unless one understands facts as the kind of thing that can be stated and laws as the kind of thing that can support subjunctively and counterfactually robust reasoning. Modal expressivism helps explain what the claims of modal realism mean. 10. Modal realism asserts that modal vocabulary is used to form empirical descriptions of objective facts. Modal expressivism asserts that modal vocabulary plays a content-explicating expressive role that distinguishes it sharply from that of ordinary empirical descriptive vocabulary. Saying something about the broader sense in which modal vocabulary can nonetheless be understood as descriptive will further illuminate the complex complementary relations between what MR says about modal vocabulary in a semantic metavocabulary and what ME says about it in a pragmatic one. Here is a suggestion: A broader sense of “fact-stating” and “description” that is not yet so promiscuous as the declarativist candidate is defined by the dual requirements of semantic government of claimings by facts and epistemic tracking of facts by claimings. By “semantic government” I mean that descriptive claims are subject to a distinctive kind of ought-to-be (related only in complicated ways to the ought-to-dos that Sellars

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contrasted them with). It ought to be the case that the content of a descriptive claiming stands in a special relation, which we might as well call “correspondence,” to a modal fact, which it accordingly purports to state (and in case there is such a fact, succeeds in stating). In virtue of that semantic norm, claimings are answerable for their correctness (accord with that norm) to facts. The underlying thought here is that what one is talking about is what exercises a certain kind of authority over what one says; what one says is responsible to what one is talking about, in a way that is characteristic of this relation as semantic. What one is talking about provides a standard for the assessment of what one says. What is the nature of the correspondence that the norm enjoins? The contents of possible claimings are articulated by relations of material consequence and incompatibility to the contents of other potential claimings. These notions are themselves specifiable in a deontic normative pragmatic metavocabulary: committing (or entitling) oneself to one claim can commit (or entitle) one to others, and can preclude entitlement to still others. The contents of facts and possible facts are also articulated by relations of material consequence and incompatibility to the contents of other possible facts. In this case, these notions are specifiable in an alethic modal semantic metavocabulary: the obtaining of one fact has the obtaining of others as a necessary (that is, subjunctively, including counterfactually, robust) consequence, makes others possible, and rules out still others as not possible. Normative semantic government of claimings by facts says that it ought to be the case that there is a fact whose content is articulated by objective modal relations of material consequence and incompatibility that line up with the subjective (in the sense of pertaining to knowing and acting discursive subjects) normative relations of material consequence and incompatibility that articulate the content of a claiming. If that norm is not satisfied, the claiming does not live up to the standard provided by the fact it purports to state.40 Where semantic government of claiming by facts is a normative matter, epistemic tracking of facts by claimings is a modal one. It is a matter of the subjunctive and counterfactual robustness of the conceptual content correspondence between facts and claims. The tracking condition holds just insofar as the subjunctive conditional “If the fact were (or had been) different, the claiming would be (or would have been) correspondingly different,” is true. Insofar as this condition holds, there is a reliable correspondence between the contents of facts and the contents of claimings. That is to say that the inference from a claim about the content of a claiming to the content of the corresponding fact is in general a good one. 11. I think it is a fundamental mistake to try to do all the work of done by the concept of semantic government with that of epistemic tracking, as for instance Fodor and Dretske do. What goes missing is the fine structure of the crucial interaction between

The concept of propositional content as what is articulated by relations of material consequence and incompatibility is a development of the Fregean metaconceptual semantic dimension of Sinn, while the normative relation of aboutness between objective facts and subjective commitments is a development of his metaconceptual semantic dimension of Bedeutung. 40

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activities on the part of the claiming subject, expressed in a deontic normative pragmatic metavocabulary, and how it is with the objects and facts those claims are about, expressed in an alethic modal semantic metavocabulary, and how the two sides stand in both normative relations of semantic government and modal relations of epistemic tracking. It is precisely in these intricate relations that the complementary character of modal expressivism and modal realism becomes visible. When the two requirements of semantic government and epistemic tracking are satisfied, it makes good sense to think of the claimings in question as fact-stating and descriptive. They purport to say how things are with what they in the normative sense of semantic government about. The actual applications of the vocabulary in question, no less than their normative status as correct or not, are responsive to and controlled by the corresponding facts. The notions of correspondence, semantic government, and epistemic tracking do not invoke causal connection – only subjunctively robust reliable covariation. For this reason, they define a notion of description or fact-stating that applies equally well to mathematical vocabulary as to empirical. This is also evidently true also of modal vocabulary, supposing we grant the dual claims of modal realism and modal expressivism. For modal expressivism tells us that modal vocabulary makes explicit normatively significant relations of subjunctively robust material consequence and incompatibility among claimable (hence propositional) contents in virtue of which ordinary empirical descriptive vocabulary describes and does not merely label, discriminate, or classify. And modal realism tells us that there are modal facts, concerning the subjunctively robust relations of material consequence and incompatibility in virtue of which ordinary empirical descriptive properties and facts are determinate. Together, these two claims give a definite sense to the possibility of the correspondence of modal claimings with modal facts. If we can then say what it is for a norm of semantic governance to be instituted and the fact of epistemic tracking to be achieved, the descriptive, fact-stating character of modal vocabulary according to ME and MR will have been made intelligible. It is a consequence of the version of Kant-Sellars modal expressivism that I outlined in Part I that instituting semantic government of modal claims by modal facts, and of achieving epistemic tracking of modal facts by modal claims must be an aspect of the process of instituting semantic government of ordinary empirical descriptive claims by the facts they state, and of achieving epistemic tracking of those facts by ordinary empirical descriptive claims. For the essence of that view is that what is expressed explicitly (that is, put in claimable, propositional form) by the use of modal vocabulary is already implicit in the use of OED vocabulary. Empiricism, in both its traditional and its twentieth century logical forms, offered a three-stage layercake picture of empirical inquiry that is particularly clear in Carnap’s version. The task of the first stage is semantic: to determine the empirical concepts to be used, to fix the meanings to be expressed by OED vocabulary. The task of the second stage is epistemic: to settle, on the basis of the meanings fixed at the first stage, the claims expressed using that vocabulary that are taken to be true. The task of the third stage is explanatory: to identify, on the basis of regularities exhibited by the claims made at the second stage, laws governing

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the facts stated at the second stage. The first stage is a matter of convenient conventions, the last two of the assessment of empirical evidence – fraught at the second stage by the potentially problematic transition from applying observational descriptive vocabulary to applying theoretical descriptive vocabulary, and at the second stage by the potentially problematic transition from observed regularity to conjectured law. Quine sees that separating the first two stages, which makes good sense when one’s model is artificial languages, is not possible when one addresses natural languages. There is just one thing discursive practitioners do: use vocabulary to make claims. Doing that must be understood as at once fixing meanings and beliefs, language and theory. Like Hume, Quine doesn’t think the third stage can be rationally warranted – though this empiricist conclusion sits ill with his avowed scientific naturalism. But modal expressivism is motivated by the same pragmatic considerations about the use of vocabularies that motivate Quine’s recognition of the semantic and epistemic enterprises as aspects of one process of empirical inquiry. As Sellars puts the point (in a passage I quote at the end of section 3): “although describing and explaining…are distinguishable, they are also, in an important sense, inseparable… the descriptive and explanatory resources of the language advance hand in hand.” Determining and applying descriptive concepts inevitably involves committing oneself as to the subjunctively robust inferential and incompatibility relations they stand in to one another. Rectifying concepts, determining facts, and establishing laws are all projects that must be pursued together. Empirical evidence bears on all of the semantic, epistemic, and explanatory tasks at once, or it bears on none of them. Of course, there is a lot more that needs to be said about how this actually works and should work. The multifarious ways in which commitments of one sort – semantic, doxastic, subjunctive – bear on and can be traded off for commitments of other sorts needs to be investigated and explicated in detail. (I’ve sketched a story about the next level of gross structure in the first three chapters of Reason in Philosophy.) And I certainly would not claim that seeing how modal expressivism and modal realism complement and illuminate one another clears up at a stroke all the vexing problems in the epistemology of modality – even when pursued outside the confines of the straitjacket of empiricism. But all I need here is the general conclusion – which gives us confidence that there must be solutions to those problems. If that is right, then modal claims (and the concepts that articulate them) exhibit semantic government by and epistemic tracking of facts no less than ordinary empirical descriptive ones. Far from being incompatible with this fundamental modally realistic claim, modal expressivism is just what is needed to make it intelligible. By showing how the use of modal concepts and the use of ordinary empirical descriptive concepts are inextricably bound up with one another, modal expressivism also shows itself and modal realism as two sides of one coin.

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IV. Again 12. I have argued that modal realism and the right kind of modal expressivism belong together. The tendency to understand views of this kind as incompatible alternatives – to take the sense in which modal vocabulary plays, as Sellars put it a “metalinguistic” expressive role relative to ordinary empirical descriptive vocabulary to rule out the possibility of its being also fact-stating and descriptive of something other than language use – is the result of failing to attend to the distinction beween pragmatic and semantic metavocabularies. I think we don’t know very much about the various ways in which what is said in these two sorts of metavocabulary are related for various vocabularies they might address. In Between Saying and Doing, I explore the expressive roles of various kinds of pragmatically mediated semantic relations between vocabularies, a genus that includes pragmatic metavocabularies, without saying much at all about the relations between what they make explicit and what is made explicit by traditional semantic metavocabularies of the Tarski-Carnap variety. (This was the only model Sellars had available, Procrustean though it made his efforts to formulate what I take to be his pragmatic expressivist insights.) One of my aspirations in the present piece has been to begin the process of investigating those crucial relations by looking as a test-case at a vocabulary of particular philosophical interest and importance: alethic modal vocabulary. I hope the results will be of interest to those moved by expressivist intuitions concerning other vocabularies: some kinds of normative vocabulary, moral or aesthetic, for instance, or even (were we to follow Sellars in his metalinguistic nominalism about universals) ontological-categorial or metaphysical vocabularies. I have finished my argument, but I want to close with a lagniappe, indicated in the final word of my title. Why claim, as that title does, that the result of this story is to put modal expressivism and modal realism together again. Why should the story be thought of as recounting a reunion? The answer I want to leave you with is this: It is because we’ve seen something very like this constellation of metaconceptual commitments before. I started my story with Kant, and that is where I want to end it. Claiming that one should be a pragmatic modal expressivist (an expressivist about what one is doing in applying modal vocabulary) but a semantic modal realist (a realist about what one is saying in applying modal vocabulary) is, I think, recognizably a development and a descendant, for this special but central case, of Kant’s claim that one should be a transcendental idealist, but an empirical realist. That is what I mean by saying that the view I have been presenting puts modal expressivism and modal realism together again.

Von sozialer Interaktion zu sozialen Institutionen Michael Tomasello1

»Die Urszene der Moralität [ … ] ist nicht eine Situation, in der ich eine Handlung auf dich richte oder du eine auf mich, sondern eine Situation, in der wir gemeinsam handeln.«2 Christine Korsgaard

Wenn es um die Evolution des menschlichen Verhaltens geht, ist Altruismus, vor allem seine Entstehung, ein zentrales Thema der aktuellen Forschung. Eine allgemein akzeptierte Erklärung dafür gibt es bislang nicht, es mangelt jedoch auch nicht an Lösungsvorschlägen. Die Herausforderung besteht darin, dass sich ein Individuum nicht so weit aufopfern darf, dass es das eigene Überleben oder das seiner Art aufs Spiel setzt – sein Einsatz muss zum Ausgleich vielmehr einen evolutionären Vorteil bringen. Die Bestrafung von unkooperativem Verhalten (einschließlich negativer Kommentare mit Auswirkungen auf den persönlichen Ruf) trägt nachweislich zur Stabilisierung der Kooperation bei – wiederum im Sinne des Altruismus. Bestrafung ist aber ein kollektives Gut, für das der Bestrafte einen Preis zahlt und von dem alle anderen profitieren – hier tritt das sogenannte Altruismusproblem zweiter Ordnung zutage. Und Bestrafung kann nur funktionieren, wenn die Bestraften dazu tendieren, als Reaktion darauf »das Richtige zu tun« – die Androhung von Strafe allein kann den Ursprung des Altruismus also nicht erklären. Ich werde die Frage nach der Evolution des Altruismus an dieser Stelle ganz sicher nicht vollständig beantworten können. Aber das ist auch nicht so wichtig, weil ich die Entwicklung des Altruismus nicht für den zentralen Prozess halte. Ich glaube nicht, dass Altruismus die Grundlage für die Fähigkeit und Tendenz der Menschen ist, gemeinsam zu leben und in institutionell definierten kulturellen Gruppen zu funktionieren. Der Altruismus spielt hierbei nur eine Nebenrolle. Viel entscheidender ist der Mutualismus, durch den wir alle von unseren gemeinsamen Handlungen profitieren. Zwar gibt es dabei auch immer wieder Nutznießer. In den meisten Fällen – wenn wir zum Beispiel zu zweit einen schweren Baumstamm bewegen wollen – ist Trittbrettfahren aber nicht wirklich möglich, da nur gemeinsame Anstrengungen zum Erfolg führen und Versuche, sich den eigenen Pflichten zu entziehen, sofort offensichtlich werden.

1 Der vorliegende Text entspricht Kapitel 2 aus: M. Tomasello: Warum wir kooperieren, Berlin 2010, 49–81. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp-Verlags. 2 Originalzitat: »The primal scene of morality […] is not one in which I do something to you or you do something to me, but one in which we do something together.« (C. Korsgaard: Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, 275).

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Altruismus hat an dieser Stelle noch einen positiven Nebeneffekt: Wenn ich meinen Partner auf ein Werkzeug aufmerksam mache, mit dem er seine Aufgabe besser erfüllen kann, profitiere letztlich auch ich selbst davon, da wir dadurch unserem gemeinsamen Ziel näherkommen. Mutualismus ist also möglicherweise der Ausgangspunkt für den menschlichen Altruismus und die Entstehung einer Art geschützten Raums, in dem die Menschen beginnen konnten, sich in diese Richtung zu entwickeln. Wenn wir die heutigen Menschenaffen als Beispiel für den letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und anderen Primaten betrachten, scheint ein langer Weg zwischen ihren Lebensformen und den kulturellen Institutionen sowie den für moderne menschliche Gesellschaften typischen Kooperationsformen im großen Maßstab zu liegen. Wir wollen diesen Ansatz hier trotzdem skizzieren – wenn auch nur in groben Zügen. Ausgehend von der Arbeit Joan Silks und anderer, wissen wir, dass nichtmenschliche Primatengesellschaften größtenteils auf verwandtschaftlichen Beziehungen und Nepotismus basieren, meist begleitet von einer reichlichen Dosis Dominanzverhalten. Deshalb ist es sehr wahrscheinlich, dass in diesen Fällen jede Art der Kooperation auf Verwandtschaft oder direkter Reziprozität basiert. Wie Bryan Skyrms gezeigt hat, spielt das Gefangenendilemma, bei dem Individuen ihren eigenen Vorteil ins Verhältnis zum Gewinn für die Gruppe setzen müssen, keine Rolle für den Aufbau der für Menschen typischen Kooperation von dieser Grundlage aus. Unser Szenario ähnelt eher dem Gedankenbeispiel der Hirschjagd (stag bunt), in dem die Beteiligten die Kooperation bevorzugen, weil sie von größerem Vorteil für alle ist. Was aber bringt uns dazu, unsere Kräfte zu bündeln? Dass diese Art der Kooperation gelingen kann, ist keineswegs selbstverständlich. Schließlich hängen solche Formen menschlichen Handelns davon ab, was der eine glaubt, dass der jeweils andere tun wird, müssen beide Partner ausreichend miteinander kommunizieren und sich vertrauen können. Ich werde meinen Ansatz daher die »Silk für Affen, Skyrms für Menschen«-Hypothese nennen. Um von den Gruppenaktivitäten der Affen zu menschlicher Kooperation zu gelangen, sind drei grundlegende Arten von Prozessen notwendig. Der erste und wichtigste Prozess in der frühen Menschheitsentwicklung war dabei die Herausbildung substantieller sozialkognitiver Fähigkeiten und Motivationen, um mit anderen auf komplexe Art kommunizieren und Handlungen koordinieren zu können – und dabei gemeinsame Ziele zu verfolgen sowie die Arbeit bestimmten Rollen gemäß zu verteilen –, kurz: die Schaffung von Fähigkeiten und Motivationen für geteilte Intentionalität. Bevor diese komplexen Gemeinschaftsaktivitäten tatsächlich beginnen konnten, mussten die Menschen zunächst noch mehr Toleranz und Vertrauen zueinander entwickeln, als das bei Menschenaffen der Fall ist – besonders im Hinblick auf Nahrung. Und zu guter Letzt mussten diese toleranten und kooperationsbereiten Menschen innerhalb ihrer Gruppe institutionelle Praktiken entwickeln, wobei sie öffentliche soziale Normen schaffen und institutionellen Rollen einen deontischen Status zuweisen mussten. Aber bevor wir uns diesen drei Prozessen im einzelnen zuwenden, sollten wir den Ausgangs- und den Endpunkt unserer hypothetischen evolutionären Bahn etwas konkreter beschreiben.

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Die beiden Begrenzungspunkte dieser evolutionären Geschichte lassen sich an einem konkreten Beispiel festmachen: dem Vergleich von Nahrungssuche und Einkaufen. Wenn Menschen im Wald nach Nüssen suchen, läuft dies fast genauso ab wie bei Schimpansen. Sowohl Menschen als auch Menschenaffen kennen die räumliche Struktur des Waldes, verstehen die notwendigen Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, um Werkzeuge zur Nahrungsgewinnung einzusetzen, und wissen um das zielorientierte Handeln ihrer Mitstreiter. Was aber passiert, wenn Menschen im Supermarkt auf Nahrungssuche gehen? Hier geschehen bestimmte Dinge, die bei den Nahrung suchenden Schimpansen nicht vorkommen – und dort auch nicht vorkommen können, weil sie auf bestimmten Prozessen basieren, die über rein individuelle Kognition und Motivation hinausgehen. Stellen wir uns das folgende Szenario vor. Wir betreten das Geschäft, wählen einige Artikel aus, stellen uns an der Kasse an, geben dem Kassierer unsere Kreditkarte zum Bezahlen, nehmen unsere Waren und gehen. Aus Schimpansensicht könnte man dies recht einfach so beschreiben: Man geht irgendwohin, nimmt sich Dinge und kehrt an den Ausgangspunkt zurück. Menschen jedoch verstehen das Einkaufen mehr oder weniger explizit auf einer vollkommen anderen Ebene – der Ebene der institutionellen Realität. Das Betreten des Ladens bringt eine ganze Reihe von Rechten und Pflichten mit sich: So habe ich das Recht, Waren zum angegebenen Preis zu erwerben und die Verpflichtung, keine Dinge zu stehlen oder kaputtzumachen, da sie dem Geschäftsinhaber gehören. Zweitens kann ich erwarten, dass ich die Ware ohne Bedenken essen kann, weil es ein Ministerium gibt, das dies garantiert; und wenn es zu Problemen kommt, kann ich jemanden verklagen. Drittens wird das Geld als Zahlungsmittel durch eine komplette institutionelle Struktur gestützt, der jeder so weit vertraut, dass er Waren gegen dieses spezielle Papier oder sogar gegen die elektronischen Spuren meiner Kreditkarte tausche Viertens folge ich weithin anerkannten Regeln, indem ich mich an der Kasse anstelle. Wer sich vordrängelt, wird zurechtgewiesen, fühlt sich schuldig und schadet seinem Ruf als netter Mensch. Die Liste der institutionellen Realitäten, die den öffentlichen Raum füllen, ist praktisch unendlich lang – und die meisten davon würden von Schimpansen vermutlich gar nicht wahrgenommen. Was all diese institutionellen Phänomene eint, ist das einzigartige »Wir«-Gefühl der Menschen, der Sinn für geteilte Intentionalität. Und dieser Sinn stammt nicht nur aus der kollektiven, institutionellen Welt der Supermärkte oder Verbraucherschutzministerien, sondern tritt auch – vielleicht sogar noch deutlicher – in einfacheren sozialen Interaktionen zutage. Angenommen, wir gehen gemeinsam zum Einkaufen. Auf dem Weg dorthin biege ich plötzlich ab und lasse Sie zurück. Sie sind nicht nur überrascht, sondern verärgert (oder vielleicht besorgt um mich), und werden nach Ihrer Rückkehr zu Hause über den Zwischenfall berichten. »Wir« waren gemeinsam auf dem Weg zum Supermarkt, und ich habe dieses »Wir« durch mein egoistisches oder irrationales Handeln gebrochen. Interessanterweise hätte ich das Problem durch einfaches »Abmelden« verhindern können – indem ich Ihnen gesagt hätte, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe und so quasi um Erlaubnis gebeten hätte, unsere gemeinsame Handlung zu beenden.

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Dieses Gefühl, etwas gemeinsam zu tun – wodurch gemeinsame Erwartungen und sogar Rechte und Pflichten entstehen –, kommt wahrscheinlich selbst in diesem einfachen Fall nur bei Menschen vor. Searle hat neben anderen gezeigt, dass sich dieses Gefühl des gemeinsamen Handelns zu der Art kollektiver Intentionalität weiterentwickeln kann, die für so komplexe Dinge wie das Einkaufen in einem Supermarkt eine Rolle spielt. Die Basis hierfür bilden Rechte, Pflichten, Geld und Regierungen – die wiederum alle nur existieren, weil »wir« alle daran glauben und entsprechend handeln.3 Das Fazit ist, dass Menschen nicht nur das physikalische und soziale Umfeld der Affen teilen, sondern zusätzlich in einer von ihnen selbst geschaffenen institutionellen oder kulturellen Welt leben, in der es eine Fülle von Gebilden mit deontischer Autorität gibt. Im Detail finden sich dabei große Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen, aber alle Menschen leben in irgendeiner so gearteten Umgebung. Obwohl sich die beobachtbaren Eigenschaften der menschlichen Kultur deutlich von der sozialen Welt anderer Primaten unterscheiden, ist es alles andere als einfach, die zugrundeliegenden psychologischen Prozesse zu identifizieren. Unser Forschungsansatz besteht darin, die Unterschiede zwischen Kindern und Menschenaffen in ihrem sozialen Miteinander und ihrer Kommunikation in relativ überschaubaren Situationen auszumachen. Ich werde mich an dieser Stelle auf die drei oben genannten Prozesse konzentrieren: (1) Koordination und Kommunikation, (2) Toleranz und Vertrauen, (3) Normen und Institutionen. Um sie einfacher zu halten, werde ich meine evolutionäre Geschichte hauptsächlich im Kontext der Nahrungssuche erzählen, da ich glaube, dass viele entscheidende Schritte in der Entwicklung der menschlichen Kooperation mit dem täglichen Broterwerb zu tun hatten.4 Koordination und Kommunikation Alle sozialen Lebewesen sind per definitionem kooperativ, da sie gemeinsam relativ friedvoll in Gruppen leben. Die meisten von ihnen gehen gemeinsam auf Futtersuche, hauptsächlich zum besseren Schutz vor Raubfeinden. Die Individuen vieler Säugetierarten entwickeln auch spezielle Beziehungen untereinander, was zu Koalitionen und Allianzen in ihrem gruppeninternen Wettstreit um Nahrung und Partner führt. Das Verteidigen von Ressourcen gegen Raubfeinde und andere Gruppen kommt ebenfalls bei vielen Säugetierarten vor. Bei Schimpansen und anderen Menschenaffen lassen sich all diese Gruppenaktivitäten mehr oder weniger beobachten. Wie also ähneln

J. R. Searle: The Construction of Social Reality, New York 1995. Siehe zu einer überzeugenden Argumentation in diese Richtung: K. Sterelny: The fate of the third chimpanzee. Jean-Nicod-Lectures 2008. Online verfügbar unter: www.institutnicod.org/lectures2008_ outline.htm (Stand April 2012). 3 4

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oder unterscheiden sich ihre kooperativen Handlungen im Vergleich zu denen der Menschen? Bei »gemeinsamen kollektiven Aktivitäten«5 müssen die Partner zuallererst empfänglich für den intentionalen Zustand des jeweils anderen sein. Darüber hinaus gibt es zwei weitere zentrale Merkmale: (1) Die Partner haben ein gemeinsames Ziel, wissen also beide, dass sie gemeinsam X tun; und (2) koordinieren die Partner ihre Rollen – ihre Handlungspläne und Teilschritte, einschließlich der Möglichkeit, dem anderen wenn nötig in seiner Rolle zu helfen –, wobei beide voneinander abhängig sind. Dabei stellt schon das Festlegen eines gemeinsamen Ziels an sich ein Koordinationsproblem dar, das spezifische Formen der Kommunikation erfordert.6 Die komplexeste kooperative Aktivität freilebender Schimpansen ist die Jagd auf Rote Stummelaffen in den Bäumen des Tal-Nationalparks im Südwesten der Elfenbeinküste. Die Schimpansen haben dabei ein gemeinsames Ziel und nehmen komplementäre Rollen ein. Einer von ihnen, der sogenannte »Treiber«, jagt die Beute in eine bestimmte Richtung, während die sogenannten »Blockierer« auf die Bäume klettern und verhindern, dass das Beutetier seine Richtung ändert. Schließlich taucht ein weiterer Schimpanse aus dem Hinterhalt auf und verhindert die Flucht des Opfers.7 Beschreibt man das Jagdverhalten mit diesem Vokabular, wirkt es wie eine echte kollektive Handlung: Das Vorhandensein verteilter Rollen impliziert, dass es ein gemeinsames Ziel gibt. Ob eine solche Beschreibung angemessen ist, scheint jedoch fraglich. Meiner Meinung nach gibt es eine plausiblere Darstellung dieses Jagdverhaltens. Die Jagd beginnt, wenn ein Schimpansenmännchen die Verfolgung eines Affen aufnimmt, wobei er weiß, dass andere, für den Erfolg unverzichtbare Artgenossen in der Nähe sind. Jeder der Schimpansen übernimmt dann die in diesem Moment für ihn räumlich günstigste noch verfügbare Rolle bei der Jagd. Der zweite Schimpanse blockiert den flüchtenden Affen, der dritte versperrt einen anderen möglichen Fluchtweg, und wieder andere bleiben am Boden, bis der Affe herunterfällt. In diesem Prozess versucht jeder der Beteiligten, seine Beutechancen zu maximieren, ohne dass es zuvor einen gemeinsamen Plan oder eine Rollenverteilung gegeben hätte. Ein solches Jagdereignis ist eindeutig eine recht komplexe Gruppenaktivität, in der einzelne Tiere beim Einkreisen des Opfers die räumliche Position der jeweils anderen erfassen. Sowohl Wölfe als auch Löwen jagen auf ähnliche Weise, trotzdem gehen die meisten Forscher hierbei nicht von gemeinsamen Zielen oder Plänen aus. Die Gruppenaktivitäten der Menschenaffen finden im »Ich-Modus, nicht im »Wir«-Modus statt.8 Im Gegensatz zu Schimpansen funktionieren kollektive Handlungen bei Kindern im Wir-Modus. Schon kurz nach ihrem ersten Geburtstag sind sie in der Lage, individuelle Ziele mit denen eines Partners zu einem gemeinsamen Ziel zu verschmelzen. Besonders M. Bratman: Shared co-operative activity, in: Philosophical Review 101/2, 327–341. M. Gilbert: On Social Facts, Princeton 1992. 6 H. Clark: Uses of Language, Cambridge 1996. 7 C. Boesch: Joint cooperative hunting among wild chimpanzees: Taking natural observations seriously, in: Behavioral and Brain Seiences 28 (2005), 692–693. 8 R. Toumela: The Philosophy of Sociality: The Shared Point of View, Oxford 2007. 5

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deutlich wurde dieser Unterschied in einer vergleichenden Studie, in der Felix Warneken und seine Kollegen 14 bis 24 Monate alte Kinder und drei von Menschenhand aufgezogene junge Schimpansen vor vier Kooperationsaufgaben stellten: zwei instrumentelle Aufgaben, bei denen es ein konkretes Ziel gab, und zwei gemeinsame Spiele, bei denen die Spielhandlung an sich das einzige Ziel war. Die Probanden sollten dabei wissen, dass das Ganze als gemeinsames Spiel geplant war. Der erwachsene Spielpartner wurde daher instruiert, das Spiel an einer bestimmten Stelle zu unterbrechen. Die Ergebnisse waren eindeutig und konsistent: Die Schimpansen zeigten kein Interesse an den gemeinsamen Spielen, weigerten sich im Grunde sogar, daran teilzunehmen. Wenn es jedoch darum ging, Probleme zu lösen, koordinierten sie ihre Handlungen recht geschickt mit denen ihres menschlichen Partners und konnten so in vielen Fällen das gewünschte Ergebnis erzielen. Wenn der Partner jedoch seine Mitarbeit einstellte, versuchte keiner der Schimpansen – selbst dann, wenn sie offensichtlich hochmotiviert waren, das Ziel zu erreichen –, ihn zum Weitermachen zu bewegen, was darauf hindeutet, dass sie kein gemeinsames Ziel gebildet hatten. Im Gegensatz dazu kooperierten die Kinder sowohl in den Spielsituationen als auch bei der Lösung der instrumentellen Aufgaben. Oft verwandelten sie die Aufgaben sogar in Spiele, indem sie die erhaltene Belohnung wieder in den speziell dafür konstruierten Apparat steckten, um die Handlung von neuem beginnen zu lassen – die kollektive Tätigkeit an sich war für sie lohnenswerter als das instrumentelle Ziel. Das wichtigste Ergebnis war jedoch, dass die Kinder den Erwachsenen aktiv zum Weitermachen ermunterten, wenn dieser seine Handlung unterbrach. Dies lässt vermuten, dass die Kinder ein gemeinsames Ziel mit ihrem Partner geformt hatten und nun die Fortsetzung seines Engagements einforderten.9 Zwei andere Studien aus unserer Forschungsgruppe liefern weitere Beweise dafür, dass Kinder in der Lage sind, sich einem gemeinsamen Ziel zu verpflichten. In der ersten Studie testeten wir die Hypothese, dass keiner der Partner im Zuge einer gemeinsamen Handlung zufrieden ist, solange der andere seine Belohnung nicht bekommen hat: Das gemeinsame Ziel wird also nur erreicht, wenn beide Partner profitieren. Dazu ließen die Forscher zwei dreijährige Kinder gemeinsam eine Holzlatte über mehrere Stufen nach oben bewegen, wobei jedes der Kinder ein Ende der Latte festhielt. Auf beiden Seiten der Latte war ein Gegenstand angebracht, mit dem man in einer wenige Meter entfernten »Pling-Maschine« ein lustiges Geräusch erzeugen konnte. Der Trick dabei war, dass die Treppe so konstruiert war, dass eines der Kinder schon auf einer niedrigeren Stufe durch eine Öffnung in der Plexiglasabdeckung an seine Belohnung gelangen konnte, während die Belohnung des anderen Kindes erst weiter oben erreicht wurde. Wenn sie an dieser unteren Stelle angelangt waren, nahmen sich die Kinder ihren Anteil, bemerkten dann aber, dass sie noch über eine weitere Stufe hinweg zusammenarbeiten mussten, damit auch das jeweils andere Kind seinen Lohn bekommen konnte.

E. Warneken & M. Tomasello: Altruistic helping in human infants and young chimpanzees, in: Science 31 (2006), 1301–1303. E. Warneken, B. Hare, A. Melis, D. Hanus & M. Tomasello: Spontaneous altruism by chimpanzees and young children, in: PLOS Biology 5/7 (2007), e184. Videos zu diesen Studien sind online verfügbar unter: www.bostonreview.net/whywecooperate (Stand Juli 2010). 9

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Einige der in dieser Anordnung bevorzugten Kinder gingen zunächst schnell zur »Pling-Maschine«, kehrten dann aber zurück, um gemeinsam die letzte Treppenstufe zu überwinden und so dafür zu sorgen, dass auch der zunächst benachteiligte Partner seinen Anteil bekam. Andere Kinder warteten sogar und halfen zunächst dem anderen, bevor sie ihre Belohnung einlösten. Insgesamt schienen sich die meisten der Kinder ihrem gemeinsamen Ziel – dem Beenden der Aufgabe mit einer Belohnung für beide; verpflichtet zu fühlen, und zwar viel stärker als in einem Kontrollszenario, in dem sie dem anderen in einer ähnlichen Situation lediglich helfen sollten, wobei jedoch kein gemeinsames Handeln nötig war.10 In der zweiten Studie ließen die Forscher einen Erwachsenen und ein Kind eine kollektive Aktivität mit einer expliziten gemeinsamen Verpflichtung beginnen. Der Erwachsene sagte dabei etwas wie: »Komm, lass uns was zusammen spielen, ja?« Nur wenn das Kind ausdrücklich zustimmte, begannen die beiden, gemeinsam zu spielen. In einem anderen Szenario begann das Kind alleine zu spielen, und der Erwachsene schloss sich ihm später unaufgefordert an. In beiden Situationen stellte der Erwachsene seine Aktivität dann ohne erkennbaren Grund ein. Dreijährige Kinder reagierten (im Gegensatz zu zweijährigen) unterschiedlich – je nachdem, ob sie zuvor eine explizite Verpflichtung mit dem Erwachsenen eingegangen waren oder nicht. Wenn der Erwachsene seine Beteiligung zuvor ausdrücklich angekündigt hatte, verlangten die Kinder mit mehr Nachdruck, der Erwachsene solle zum Spiel zurückkehren. Mehr noch: Wenn die Forscher das Kind von der gemeinsamen Aktivität weglockten (mit einem spannenderen Spiel in einer anderen Ecke des Zimmers), meldeten sich diejenigen Kinder, die zuvor eine gemeinsame Verpflichtung mit dem Erwachsenen eingegangen waren, häufiger ab als die anderen – zum Beispiel, indem sie dem Erwachsenen etwas sagten, ihm das Spielzeug gaben oder ihn ansahen, ehe sie weggingen.11 Sie wussten, dass sie eine gemeinsame Verpflichtung brachen, und versuchten, den Verstoß durch ihre Erklärung abzumildern. Zu den Voraussetzungen einer echten kollektiven Aktivität gehören neben einem gemeinsamen Ziel auch eine Verteilung der Aufgaben und das Verständnis für die jeweilige Rolle des Partners. Hierzu bezogen Forscher in einer weiteren Studie Kleinkinder im Alter von ungefähr 18 Monaten in ein gemeinsames Spiel ein und tauschten in der nächsten Runde mit ihnen die Rollen, so dass die Kinder einen völlig neuen Part übernehmen mussten. Selbst diese noch sehr kleinen Kinder passten sich bereitwillig an die neue Rolle an, was vermuten lässt, dass sie die Perspektive und Funktion des Erwachsenen in der Ausgangssituation erkannt hatten.12 Bei drei von Menschenhand aufgezogenen jungen Schimpansen funktionierte dieser Rollentausch dagegen nicht.13 Unserer Interpretation zufolge zeigt der Rollentausch bei Kindern an, dass sie die gemeinsame K. Hamann et al. (in Vorbereitung). M. Gräfenhain, T. Behne, M. Carpenter & M. Tomasello: Young children’s understanding of joint commitments, in: Developmental Psychology 45 (2009), 1430–1443. 12 M. Carpenter, M. Tomasello & T. Striano: Role reversal imitation in 12 and 18 month olds and children with autism, in: Infancy 8 (2005), 253–278. 13 M. Tomasello & M. Carpenter: The emergence of social cognition in three young chimpanzees, in: Monographs of the Society for Research in Child Development (2005), 70/279. 10 11

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Handlung »aus der Vogelperspektive« betrachtet haben, wobei das gemeinsame Ziel und die komplementären Rollen aus Sicht der Kinder offenkundig zu ein und demselben mentalen Rahmen gehörten (wie bei Nagels »Blick aus dem Nirgendwo«). Im Gegensatz dazu verstehen Schimpansen ihre Handlung aus der Perspektive der ersten und die Handlung ihres Partners aus der Sicht der dritten Person, besitzen aber keine unabhängige Sichtweise auf die Handlung und die beteiligten Rollen. Kollektive Aktivitäten bei Menschen basieren dagegen aus der Sicht beider Partner auf generalisierten Rollen, die potentiell von jedem – einschließlich des beobachtenden Individuums selbst – übernommen werden können. Diese Rollen werden daher von einigen Philosophen »akteur-neutral« genannt. So wie Individuen ihre Handlungen bei kollektiven Aktivitäten abstimmen, koordinieren sie auch ihre Aufmerksamkeit. In der entwicklungspsychologischen Literatur findet sich dafür häufig der Begriff der »gemeinsamen Aufmerksamkeit«. Im Alter von ungefähr neun Monaten beginnen Kinder, mit Erwachsenen zu spielen, zum Beispiel einen Ball hin und her zu rollen oder Bauklötze zu stapeln. Aktivitäten also, für die ein ganz einfaches gemeinsames Ziel nötig ist. Während des Spiels beobachten die Kinder den Erwachsenen und verfolgen seine Aufmerksamkeit, die Erwachsenen wiederum beobachten die Kinder und verfolgen deren Aufmerksamkeit. Noch ist unklar, wie dieses potentiell unendliche Wechselspiel gegenseitiger Beobachtungen am besten charakterisiert werden kann, aber es scheint noch vor dem ersten Geburtstag einzusetzen und einen Teil der kindlichen Erfahrungen auszumachen. Unabhängig von einer genauen Beschreibung scheint klar, dass diese Aufmerksamkeitsschleife mit einem gemeinsamen Ziel beginnt. Wenn wir beide wissen, dass es unser Ziel ist, gemeinsam ein Werkzeug herzustellen, dann ist es für jeden von uns relativ einfach nachzuvollziehen, worauf sich die Aufmerksamkeit des anderen richtet, da sie bei beiden auf den gleichen Kontext zielt. Wir konzentrieren uns auf das, was zum Erreichen unseres Zieles relevant ist. Später im Leben sind Kinder in der Lage, gemeinsame Aufmerksamkeit auch ohne ein gemeinsames Ziel herzustellen. Wenn beispielsweise ein lautes Geräusch zu hören ist, können Kinder und Erwachsene ihre Aufmerksamkeit gemeinsam darauf richten, da diese durch ein gemeinsames Schlüsselereignis geweckt wird – hier kommt der sogenannte »Bottom-up«-Prozess der Aufmerksamkeit zum Tragen. Aber sowohl in der Phylogenese als auch in der Ontogenese entsteht gemeinsame Aufmerksamkeit zunächst im Kontext eines gemeinsamen Ziels – von uns »Top-down«Prozess genannt –, da die Aufmerksamkeit von den Zielen der Akteure bestimmt wird. Im Rahmen kollektiver Aktivitäten richten die Teilnehmer nicht nur ihre Aufmerksamkeit auf Dinge, die für das Erreichen eines gemeinsamen Zieles relevant sind, sondern sie verfügen jeweils auch über eine eigene Perspektive. Das Konzept der Perspektive selbst basiert darauf, dass die gemeinsame Aufmerksamkeit auf ein Ziel fokussiert wird, das dann unterschiedlich betrachtet werden kann (ohne diese Fokussierung sehen wir einfach komplett andere Dinge). Diese zweistufige Aufmerksamkeitsstruktur – die gemeinsame Fokussierung der Aufmerksamkeit auf einer höheren und die Aufspaltung in verschiedene Perspektiven auf einer niedrigeren Stufe – verläuft parallel zur zweistu-

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figen Struktur der kollektiven Aktivität selbst (ein gemeinsames Ziel und individuelle Rollen) und geht letztlich aus ihr hervor.14 Die in der gemeinsamen Aufmerksamkeit eingenommene Perspektive spielt eine grundlegende Rolle für die menschliche Kommunikation. Lassen Sie mich dies am Beispiel einer Studie mit einjährigen Kindern demonstrieren: Ein Erwachsener betritt den Raum, schaut aus einiger Entfernung auf eine Seite eines komplexen Spielzeugs und ruft: »Oh’ Toll! Schau Dir das mal an!« Für einige der Kinder war dies die erste Begegnung mit dem Erwachsenen, und sie nahmen an, dass er auf dieses tolle Spielzeug reagierte, das er zum erstenmal sah. Andere Kinder wiederum hatten das Spielzeug vorher bereits ausgiebig mit dem Erwachsenen erforscht, so dass es nichts Neues mehr war und zum gemeinsamen Hintergrundwissen gehörte. In diesem Fall nahmen die Kinder an, dass sich der Erwachsene nicht auf das Spielzeug an sich beziehen könne (man weist schließlich nicht aufgeregt auf Dinge hin, die beiden Partnern bereits vertraut sind) und glaubten, der Erwachsene meine ein anderes Objekt oder einen bestimmten Aspekt des Spielzeugs.15 Allen bisherigen Studien zufolge – einschließlich solcher, in denen sehr sorgfältig danach gesucht wurde16 – gibt es bei Menschenaffen keine Anzeichen für gemeinsame Aufmerksamkeit. Verschiedene Daten belegen, dass ein Schimpanse es realisiert, wenn ein Artgenosse einen anderen Affen sieht;17 es gibt jedoch keinen Beweis dafür, dass dem beobachteten Schimpansen bewusst ist, dass ein Artgenosse wahrnimmt, dass er diesen anderen Affen mit seinen Blicken erfasst hat. Es gibt also keinen Beleg, dass Menschenaffen auch nur zur ersten Stufe des rekursiven »MindReading« (wenn diese Bezeichnung gestattet ist) fähig sind, was jedoch die Grundlage für alle Formen eines gemeinsamen konzeptuellen Hintergrunds darstellt. Wenn wir also mit unserer Hypothese richtigliegen und der erste Schritt auf dem Weg zu gemeinsamem Wissen, gemeinsamer Aufmerksamkeit, zu einem gemeinsamen kognitiven Kontext, zur Intersubjektivität und so weiter durch kollektive Handlungen mit einem gemeinsamen Ziel getan wird, dann scheint das Fehlen der gemeinsamen Aufmerksamkeit bei Menschenaffen zuallererst darauf zurückzuführen zu sein, dass sie gar keine Aktivitäten mit gemeinsamen Zielen verfolgen.18 In unseren vielen Kooperationsstudien mit Menschenaffen haben diese nie versucht, offen die Bildung eines gemeinsamen Ziels oder die Schaffung gemeinsamer Aufmerksamkeit zu kommunizieren, während Kinder alle möglichen ver-

H. Moll & M. Tomasello: Cooperation and human cognition: The Vygotskian intelligence hypothesis, in: Philosophical Transactions of the Royal Society 362 (2007), 639–648 15 H. Moll, C. Koring, M. Carpenter & M. Tomasello: Infants determine others’ focus of attention by pragmatics and exclusion, in: Journal of Cognition and Development 7 (2006), 411–430. 16 M. Tomasello & M. Carpenter: The emergence of social cognition in three young chimpanzees, in: Monographs of the Society for Research in Child Development (2005), 70/279. 17 J. Call & M. Tomasello: Does the Chimpanzee Have a Theory of Mind: 30 Years Later, in: Trends in Cognitive Science 12 (2008), 87–92. 18 M. Tomasello: Origins of Human Communication, Cambridge 2008. Deutsch: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt am Main 2009. 14

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balen und nichtverbalen Kommunikationsformen heranziehen, um genau dies zu tun und ihre jeweils unterschiedlichen Rollen zu koordinieren. Die kooperative Form der menschlichen Kommunikation entwickelte sich demzufolge zunächst im Rahmen kollektiver Handlungen, welche den entsprechenden Hintergrund für die Entstehung gemeinsamer Themen bildeten und gleichzeitig die kooperativen Motive lieferten, die Grice zufolge für korrektes Schlussfolgern notwendig sind.19 Betrachten wir noch einmal die einfachste Form der menschlichen Kommunikation: die Zeigegeste. Außerhalb eines gemeinsamen Kontexts hat das Zeigen keinerlei Bedeutung. Wenn wir uns jedoch gerade einer gemeinsamen Tätigkeit widmen (zum Beispiel Nüsse sammeln), dann bekommt die Zeigegeste in den meisten Fällen sofort eine unmissverständliche Bedeutung (»Dort ist eine Nuss«), Wie Wittgenstein als erster bemerkte, kann ich auf ein Stück Papier zeigen und damit seine Farbe, seine Form oder irgendeine andere Eigenschaft meinen – je nach der Lebensform20, in die der kommunikative Akt eingebettet ist.21 Durch den Kontakt mit einer solchen Lebensform – vielleicht typischerweise einer kollektiven Handlung – wird die Zeigegeste in einer gemeinsamen Sozialpraktik verankert und erhält somit ihre Bedeutung. Ohne diese Verankerung wäre die konventionelle Kommunikation mit »willkürlichen« linguistischen Symbolen nichts als Lärm. Erst nachdem sie Mittel zur kooperativen Kommunikation im Rahmen kollektiver Tätigkeiten entwickelt hatten, begannen die Menschen, auch außerhalb solcher gemeinsamer Aktivitäten zu kommunizieren. Die einmalige Struktur der kollektiven Handlungen bei Menschen zeichnet sich also dadurch aus, dass es ein gemeinsames Ziel und individuelle Rollen gibt, die durch gemeinsame Aufmerksamkeit und individuelle Perspektiven koordiniert werden. Durch die von Skyrms beschriebenen stag hunts22 entwickelten die Menschen die Fähigkeit und Motivation, gemeinsam auf ein für alle gewinnbringendes Ziel hinzuarbeiten. Im Rahmen dieser gemeinsamen Handlungen entstanden die Voraussetzungen für eine kooperative Kommunikation. Diese trug ihrerseits zu einer Weiterentwicklung kollektiver Aktivitäten bei, indem sie die für die Schaffung eines gemeinsamen Ziels und differenzierter Rollen notwendige Koordination ermöglichte. Meine Hypothese lautet, dass die heute bei Kindern sichtbaren Kooperationsformen zu einem großen Teil die frühesten kollektiven Aktivitäten der Menschheitsgeschichte reflektieren. Sie besitzen dieselbe Grundstruktur wie das gemeinsame Jagen von Großwild oder das Sammeln von Früchten, bei dem ein Individuum dem anderen hilft, auf einen Baum zu klettern, um an die Nahrung zu gelangen, die sie später teilen werden. Meiner Meinung nach war es tatsächlich die gemeinsame Nahrungssuche, die den Kontext für die Entwicklung dieser Fähigkeiten und Motivationen bildete. Die Menschen wurden einem selektiven P. Grice: Logic and Conversation, in: P. Cole & J. Morgan (Hg.): Syntax and Semantics: Bd. 3. Speech Acts, 43–58. New York 1975. 20 Im Original deutsch. 21 L. Wittgenstein: Philosophical lnvestigations, Oxford 1953. Deutsch: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 1953. 22 B. Skyrms: The Stag Hunt and the Evolution of Sociality, Cambridge 2004. 19

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Druck ausgesetzt, der sie zwang, gemeinsam nach Nahrung zu suchen – sie waren nun quasi zur Zusammenarbeit verpflichtet –, und zwar auf ganz andere Weise als die ihnen am nächsten verwandten Primaten.23 Es gibt dafür noch konkretere Hinweise als die Beobachtung und Analyse von Verhalten und Kognition: eine physiologische Eigenheit der Menschen, die äußerst selten ist und möglicherweise mit unserer Kooperativität zusammenhängt. Alle der mehr als 200 Arten nichtmenschlicher Primaten haben relativ dunkle Augen, wobei die Sklera (der weiße Teil des Auges) kaum zu erkennen ist. Der sichtbare Teil der menschlichen Sklera ist dagegen rund dreimal größer, wodurch die Blickrichtung deutlich besser zu erkennen ist. In einer Studie konnte gezeigt werden, dass sich Schimpansen größtenteils auf die Kopfrichtung verlassen, um den Blick ihres Gegenübers zu verfolgen. So orientierten sie sich an der Kopfbewegung des Forschers, auch wenn seine Augen geschlossen waren, während sich Kinder hauptsächlich auf die Bewegung der Augen verließen und dem Blick auch dann folgten, wenn der Kopf nicht bewegt wurde.24 Es ist leicht vorstellbar, warum es im Laufe der Evolution von Vorteil war, der Blickrichtung anderer folgen zu können – zum Beispiel, um Feinde oder Futter zu entdecken. Die Natur würde jedoch die weiße Augenhaut nicht selektiv bevorzugen, wenn sie nur den anderen nützen würde, sie muss also auch Vorteile (oder wenigstens keine Nachteile) für das Individuum selbst bringen. Mein Forschungsteam argumentiert daher, dass sich dieses Anzeigen der Blickrichtung nur in einem kooperativen Umfeld entwickeln konnte, in dem andere diese Information nicht zum Nachteil des jeweiligen Individuums ausnutzen. Und so könnte es sein, dass die Möglichkeit zur Blickverfolgung in kooperativen Gruppen entstand, in denen es für alle von Vorteil war, den Aufmerksamkeitsfokus der anderen zur Lösung gemeinsamer Aufgaben im wahrsten Sinne des Wortes im Auge zu behalten.

Toleranz und Vertrauen Im Mittelpunkt dieses Abschnittes stehen kollektive Handlungen, die von grundlegender Bedeutung für eine Vielzahl der einzigartigen Eigenschaften der Menschen sind. Aus evolutionärer Sicht stellen solche gemeinsamen Aktivitäten eher eine Art Zwischenschritt dar. Zuvor gab es noch eine andere Entwicklung, die den Weg für die Entstehung der komplexen Kooperation geebnet hat. Bei Tieren, die ständig miteinander konkurrieren, hätten sich kollektive Handlungen gar nicht erst entfalten können. An irgendeiner Stelle müssen also zunächst Toleranz und Vertrauen entstanden sein – in unserer Darstellung im Kontext der Nahrungssuche –, um die Selektion komplexer Fähigkeiten zur Kooperation bei unseren Vorfahren zu ermöglichen.

23 Siehe auch K. Sterelny: The Fate of the Third Chimpanzee. Jean-Nicod-Lectures 2008, online verfügbar unter: www.institutnicod.org/lectures2008_en.htm (Stand April 2012). 24 M. Tomasello, B. Hare, H. Lehmann & J. Call: Reliance on Head Versus Eyes in the Gaze Following of Great Apes and Human Infants: The Cooperative Eye Hypothesis, in: Journal of Human Evolution 52 (2007), 314–320.

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Die Entwicklung des Gruppenlebens bei Tieren wird meistens mit dem besseren Schutz vor Raubfeinden erklärt. In der Gruppe kann man sich in der Regel besser verteidigen. Wenn kein Schutz benötigt wird, ist es für den einzelnen dagegen vorteilhaft, allein auf Nahrungssuche zu gehen, da er so nicht ständig mit anderen um Futter konkurrieren muss. Bei einer breiten Verteilung der Nahrung gibt es in der Regel keine Probleme: Antilopen grasen auf weiten Gebieten friedlich nebeneinander und bleiben zum gegenseitigen Schutz zusammen. Wenn das Futter jedoch auf eine Stelle konzentriert ist, tritt hässliches Dominanzverhalten zum Vorschein. Wenn eine Gruppe von Primaten einen Baum voller Früchte findet, kommt es zu Gerangel und Konkurrenz um das Futter, und die einzelnen Tiere entfernen sich mehrere Meter voneinander, um zu fressen. Im übertragenen Sinn stellen auch Beutetiere eine räumlich konzentrierte Nahrungsquelle dar. Für Einzeljäger gibt es dabei natürlich keine Konkurrenzprobleme. Bei in Gruppen lebenden Raubtieren wie Löwen oder Wölfen wirft das gemeinsame Erlegen der Beute jedoch ein Verteilungsproblem auf. Ist das Beutetier groß genug, bekommt jeder ausreichend davon ab, auch wenn einige mehr bekommen als andere. Wenn die Beute von einem einzelnen Tier erlegt wurde, muss dieses mit hinzukommenden Gruppenmitgliedern teilen, da es beim Versuch, einen Konkurrenten zu verjagen, den gesamten Fang an die Gruppe verlieren würde (das sogenannte Modell des tolerierten Diebstahls beim Teilen von Nahrung). Schimpansen ernähren sich größtenteils von Früchten und anderen Pflanzenteilen. Früchte sind dabei eine wertvolle Ressource, deren Vorkommen oft auf einen sehr engen Raum begrenzt ist und damit Konkurrenz auslöst. Wie bereits erwähnt, jagen einige Schimpansen jedoch gelegentlich in Gruppen Rote Stummelaffen, was den Anschein einer echten kollektiven Handlung mit gemeinsamen Zielen und Arbeitsteilung erweckt. Nachdem der Affe gefangen worden ist, bekommen die Jäger mehr Fleisch als andere Tiere, die nicht an der Jagd beteiligt waren. Dies unterstützt die Vorstellung eines gemeinsamen Ziels und einer gerechten Verteilung der Beute.25 In neueren Studien konnte jedoch das Gegenteil bewiesen werden. So versucht der Schimpanse, der die Beute letztlich erlegt hat, sofort, die anderen Gruppenmitglieder zu meiden und sich unauffällig vom Ort des Geschehens zu entfernen, indem er beispielsweise auf einen für die anderen schwer zugänglichen Ast klettert. In den meisten Fällen scheitert jedoch der Versuch, den Fang zu horten, und der erfolgreiche Jäger wird von bettelnden Artgenossen umringt, die an seiner Beute zerren. Der Besitzer erlaubt den Bettlern „typischerweise, sich Fleischstücke zu nehmen, und Forscher konnten dokumentieren, dass diese Großzügigkeit eine direkte Reaktion auf Betteln und Belästigungen ist: Je aufdringlicher ein Tier ist und je mehr es bettelt, um so mehr Futter bekommt es ab. Das Ausmaß der Aufdringlichkeit wird dabei als Hinweis darauf gesehen, wie hart der Angreifer um einen Anteil an der Nahrung kämpfen würde, und diese Kampfbereitschaft könnte – wenigstens partiell – ein Resultat der mit der Jagd verbundenen Aufregung sein. Außerdem bekommen möglicherweise selbst erfolglose Jäger einen größeren C. Boesch: Joint Cooperative Hunting Among Wild Chimpanzees: Taking Natural Observations Seriously, in: Behavioral and Brain Siences 28 (2005), 692–693. 25

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Teil der Beute ab als Nachzügler, da sie unmittelbar vor Ort sind und mit dem Betteln beginnen können, während die anderen in die zweite Reihe verwiesen werden.26 Diese Sicht auf das Jagdverhalten der Schimpansen wird von den im ersten Kapitel beschriebenen Studien meiner Kollegin Alida Melis gestützt. Dort präsentierte man zwei Schimpansen Futter, das sich außerhalb ihrer Reichweite befand und an das sie nur gelangen konnten, wenn beide gleichzeitig an jeweils einem der beiden Seile zogen (die mit dem Futtertablett verbunden waren). Wenn es zwei Portionen mit Futter gab – eine für jeden der Teilnehmer – synchronisierten die Tiere ihre Handlungen recht gut und waren somit in vielen Fällen erfolgreich. Befand sich das Futter jedoch in einer Portion in der Mitte des Tabletts, so dass es am Ende Verteilungsprobleme gegeben hätte, brach die Kooperation fast völlig zusammen. Die Futterkonkurrenz ist bei Schimpansen im allgemeinen also so groß, dass sie ihre Handlungen nur dann koordinieren können, wenn das Problem der Beuteverteilung in irgendeiner Form abgemildert wird. Bonobos – die andere der uns am nächsten verwandten Primatenarten, die im Ruf steht, kooperativer zu sein als Schimpansen – waren in einer ähnlichen Studie etwas toleranter bei der Aufteilung des gemeinsamen Futters, wobei der Unterschied jedoch gering ausfiel.27 Kinder hingegen – bei denen wir dieselbe Methode anwandten – zeigten sich unbeeindruckt von der Tatsache, dass die Belohnung aufgeteilt werden musste, sondern fanden verschiedene Wege, sich fast ohne Streitereien zu einigen (für alle, die mehrere Kinder haben, sollte hier vielleicht erwähnt sein, dass keine Geschwisterpaare darunter waren). Interessanterweise ermahnen sich Kinder in solchen Situationen oft gegenseitig zu Fairness. In einem Fall hatte sich ein Kind alle Süßigkeiten genommen, die es gemeinsam mit seinem Partner an Land gezogen hatte. Das benachteiligte Kind forderte daraufhin seinen Anteil ein, und sein gieriger Mitspieler gab sofort nach. Wenn der Anteil für beide gleich war, forderten die Kinder den anderen nicht zum Abgeben auf. Derzeit laufen verschiedene Varianten dieser Studie, mit denen diverse Kooperationsaufgaben näher beleuchtet werden sollen. So ziehen die Probanden beispielsweise ein Tablett mit zwei getrennten Belohnungen heran, wobei die Verteilung in einigen Fällen sehr ungleich ist: fünf Stück für das eine Kind und eins für das andere oder sechs auf einer Seite und nichts auf der anderen. Wenn die gerechte Aufteilung der Belohnung nicht geregelt wird, bricht die Kooperation nach einer Weile zusammen. Und genau dies trat auch bei Schimpansen ein. Nachdem sie ein- oder zweimal geholfen hatten und dabei leer ausgingen, weigerten sich die Schimpansen, auch weiterhin zu helfen, und die Aufgabe blieb ungelöst. Der Schimpanse, welcher das Futter eingeheimst hatte, weigerte sich typischerweise zu teilen und führte damit das Ende der Kooperation herbei. Wir vermuten daher, dass Kinder sich um eine faire Aufteilung der Belohnung bemühen, um die Kooperation langfristig aufrechtzuerhalten. Diesen Studien zufolge scheint

I.C. Gilby: Meat Sharing Among the Gombe Chimpanzees: Harassment and Reciprocal Exchange, in: Animal Behaviour (2006), 953–936. 27 B. Hare, A. Melis, V. Woods, S. Hastings, R. Wrangham: Tolerance Allows Bonobos to Outperform Chimpanzees in a Cooperative Task, in: Current Biology 17 (2007), 619–623. 26

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die Nahrungskonkurrenz bei Menschen deutlich weniger ausgeprägt zu sein als bei Schimpansen. Um die Entwicklung unserer komplexen Fähigkeiten und Motivationen zur Zusammenarbeit überhaupt zu ermöglichen, muss es einen ersten Schritt gegeben haben, der die Menschen aus primatentypischen Verhaltensmustern wie starker Futterkonkurrenz, wenig Toleranz bei der Nahrungsteilung und keinerlei aktivem Anbieten von Futter herausführte. Wenn der Ertrag groß genug ist und jeder der Beteiligten eine Chance hat, das Beutetier zu erlegen, ist es für Schimpansen recht einfach zu kooperieren, und selbst erfolglose Jäger können etwas abbekommen, indem sie sich aufdrängen und um Futter betteln. Aber wie kann es ein im menschlichen Sinne gemeinsames Ziel geben, wenn die Jäger wissen, dass sie im Erfolgsfall um die Beute ringen müssen? Es gibt eine Reihe evolutionärer Hypothesen darüber, wie es dazu kommen konnte, dass die Menschen toleranter wurden und der Futterneid vermindert wurde. Eine der Hypothesen kann man im Prinzip komplett im Szenario der Nahrungssuche erläutern bzw. durchspielen. Als die Kooperation für alle verpflichtend wurde, hatten diejenigen Individuen, welche schon vorher weniger konkurrenzorientiert und toleranter waren, einen Anpassungsvorteil (vorausgesetzt, das hat Brian Skyrms gezeigt, sie waren in der Lage, einander zu finden). Ausgehend von der meist egalitären Struktur der Jäger- und Sammlergemeinschaften, in denen streitsüchtige Gruppenmitglieder oft ausgeschlossen oder sogar umgebracht wurden, könnte man also spekulieren, dass die Menschen eine Art Selbstzähmungsprozess durchliefen, in dem aggressive und habgierige Individuen von der Gruppe ausgesondert wurden.28 Zu guter Letzt gibt es auch Argumente, die für die Bedeutung des cooperative breeding (der gemeinsamen Aufzucht des Nachwuchses) sprechen. Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass bei allen Menschenaffenarten mit Ausnahme des Menschen die Mutter ihren Nachwuchs fast vollständig allein großzieht. Bei den Menschen liegt der Anteil der Mütter an der Erziehung ihrer Kinder über traditionelle und moderne Gesellschaften hinweg eher bei 50 Prozent. In einem solchen Gemeinschaftsszenario wird die Mutter oft durch Dritte unterstützt, die eine Reihe prosozialer Aufgaben wie die aktive Versorgung mit Nahrung und einfache Kinderbetreuung übernehmen. In ihrem Buch Mothers and Others argumentiert Sarah Hrdy, dass dieser neue soziale Kontext, der durch die unterschiedlichen Formen der Nahrungssuche und die monogamen Partnerschaftsbeziehungen der Menschen entstanden sein könnte, zu unserem einzigartigen prosozialen Verhalten geführt hat.29 Natürlich ist es auch möglich, dass alle der erwähnten Szenarien eine Rolle gespielt haben. Der wichtigste Punkt ist einfach, dass die unterschiedliche Entwicklung von Menschen und Menschenaffen mit neuen emotionalen und motivierenden Erfahrungen begann, welche die Menschen in eine adaptive Dimension katapultierten, in der kom-

B. Hare & M. Tomasello: Human-like Social Skills in Dogs?, in: Trends in Cognitive Science 9 (2005), 439–444. 29 S. Hrdy: Mothers and Others, Cambridge 2009. 28

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plexe Fähigkeiten und Motivationen für kollektive Tätigkeiten und geteilte Intentionalität selektiert werden konnten. Wenn wir gemeinsam zu unserem gegenseitigen Nutzen handeln; wenn ein Mensch dem anderen hilft, seine Rolle auszufüllen, indem er ihn physisch unterstützt oder ihm nützliche Informationen gibt, hilft er sich dabei selbst, da der gemeinsame Erfolg vom Erfolg des anderen abhängt. Mutualistische Handlungen schaffen somit einen geschützten Raum, in dem die Entwicklung altruistischer Motive ihren Anfang nehmen kann. Anschließend müssen Bedingungen entstehen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Hilfsbereitschaft auf Bereiche außerhalb dieses geschützten Raumes zu erweitern. Um diesen Entwicklungsschritt erklären zu können, müssen wir uns auf die üblichen Verdächtigen berufen: reziprokes Verhalten und Reputation an erster Stelle, gefolgt von Bestrafung und gesellschaftlichen Normen. Derart außergewöhnliche altruistische Motive außerhalb mutualistischer Handlungen entstehen zu lassen – und ohne den Einfluss der Verwandtenselektion, welche den geschützten Raum für andere Primaten gebildet haben könnte – wäre äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Bereits bestehende Motive auf neue Individuen und Kontexte zu übertragen ist aus evolutionärer Sicht weit weniger problematisch. Wenn dann irgendwann die passenden Bedingungen auftauchen, ist die kognitive und motivationale Ausstattung bereits vorhanden.

Normen und Institutionen Aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive wären wir damit bei Hominiden angekommen, die sich mehr vertrauen und toleranter sind als die heutigen Menschenaffen und überausgeprägte Fähigkeiten und Motivationen zu geteilter Intentionalität und Kooperation verfügen. Um das Bild zu vervollständigen – um also von der Nahrungssuche zum Einkaufen zu gelangen –, sind zwei gruppenbasierte Prozesse notwendig: die Entwicklung gesellschaftlicher Normen und die Schaffung sozialer Institutionen. Wie schon im ersten Kapitel dargestellt, verfügen Menschenaffen meiner Meinung nach nicht über soziale Normen – wenn wir darunter gesellschaftlich vereinbarte, beiderseitig bekannte Erwartungen verstehen, die Regelcharakter besitzen und von Dritten beobachtet und durchgesetzt werden. In unseren Studien haben meine Kollegen und ich jedoch kürzlich zwei verwandte Verhaltensweisen bei unseren nichtmenschlichen Vorfahren dokumentiert. In einer weiteren Version des gemeinsamen Heranziehens eines Brettes konnten die Schimpansen zwischen zwei Partnern wählen: einem, von dem die Forscher aus früheren Studien wussten, dass er ein guter Kooperationspartner war, und einem, der nur sehr schlecht kooperiert hatte. Die Tiere lernten sehr schnell, die beiden zu unterscheiden, und mieden den schlechten Kooperationspartner.30 Natürlich versuchten sie dabei einfach, ihren eigenen Gewinn zu maximieren, und dachten nicht daran, den anderen für seine mangelnde Unterstützung zu bestrafen. Derartige EntscheiA. Melis, B. Hare & M. Tomasello: Chimpanzees Recruit the Best Collaborators, in: Science 31 (2006), 1297–1300. 30

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dungen dienen auf dem sogenannten »biologischen Markt« dennoch dazu, schlechte Kooperationspartner abzuschrecken, da sie von günstigen Gelegenheiten ausgeschlossen werden. Ein solcher Ausschluss könnte der Vorläufer von Bestrafungen gewesen sein. In einer anderen Studie konnten unsere Forscher zeigen, dass Schimpansen, denen ein anderer Futter gestohlen hatte, die Tat vergelten, indem sie verhindern, dass der Dieb das Futter behalten und fressen kann. Bei Unbeteiligten konnte ein solches Verhalten jedoch bislang nicht beobachtet werden. Die Tiere versuchten nicht, den Dieb am Verzehr seiner Beute zu hindern (oder ihn anderweitig zu sanktionieren), wenn er einem anderen das Futter entwendet hatte. All unseren Bemühungen zum Trotz konnten wir bisher keine Bestrafung Dritter entdecken. Während sowohl der Ausschluss Kooperationsunwilliger als auch Revancheakte bei Menschenaffen dazu dienen, antisoziales Verhalten in der Gruppe zu unterbinden, kommt in keinem der beiden Fälle eine soziale Norm zum Tragen – jedenfalls nicht in einem akteurneutralen Sinn aus der Sicht Dritter.31 Im Gegensatz dazu wenden Menschen zwei Grundformen gesellschaftlicher Normen an, wobei viele davon Hybridformen sind: Kooperationsnormen (einschließlich moralischer Normen) und Konformitätsnormen (einschließlich konstitutiver Regeln). Kooperationsnormen entstanden vermutlich in Situationen, in denen Individuen im Alltagsgeschehen im Rahmen gemeinsamer oder aber individueller Handlungen aufeinander trafen. Durch bislang noch kaum erforschte Prozesse bilden sich gegenseitige Erwartungen heraus, und möglicherweise versuchen Individuen, ihr Gegenüber zu einer Verhaltensänderung zu bewegen32 – oder beide einigen sich auf ein bestimmtes Verhalten, so dass es zu einer Art Gleichgewicht kommt. Wenn dieses Gleichgewicht durch gegenseitig anerkannte Erwartungen an bestimmte Verhaltensweisen gesteuert wird, zu deren Durchsetzung alle Individuen beitragen, können wir beginnen, von sozialen Normen oder Regeln zu sprechen. Ich will nicht den Anschein erwecken, völlig neue Antworten auf die grundlegendste Frage der Sozialwissenschaften – die Suche nach dem Ursprung und der Funktionsweise dieser Kooperationsnormen – zu haben. Mein Vorschlag lautet lediglich, dass die heute bei Kindern zu beobachtenden kollektiven Handlungen die natürliche Wiege gesellschaftlicher Kooperationsnormen sein könnten, da sie die Grundelemente der beiden Hauptbestandteile solcher Normen enthalten. Zum einen geht von sozialen Normen Druck aus. Dieser kann in der Androhung einer Bestrafung von Normverstößen bestehen. Normen haben jedoch auch eine rationale Dimension. Bei auf Gegenseitigkeit basierenden Handlungen wissen wir beide, dass wir unser gemeinsames Ziel nur erreichen können, wenn wir kooperieren. Dadurch wird die individuelle Normativität einer rationalen Handlung, »Um dieses Ziel zu erreichen, sollte ich X tun« (was charakteristisch für alle kognitiv gesteuerten Organismen ist), zu einer Art sozialer Normativität K. Jensen, J. Call & M. Tomasello: Chimpanzees are Vengeful but not Spiteful, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 104 (2007), 13046–13050. 32 J. Knight: Institutions and Social Conflict, Cambridge 2009. 31

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gemeinsamer rationaler Handlungen: »Um unser gemeinsames Ziel zu erreichen, sollte ich X tun und Sie Y.« Wenn Sie Ihren Part nicht spielen, ist Ihr Verhalten die Ursache für unseren Misserfolg, und ich ärgere mich über Sie. Wenn der Misserfolg auf mein eigenes Verhalten zurückzuführen ist, kann ich Ihren Ärger nachvollziehen (und ärgere mich vielleicht über mich selbst). Die Macht sozialer Normen stammt daher aus unserer gegenseitig anerkannten Abhängigkeit und den natürlichen Reaktionen auf unser eigenes Versagen und das anderer. Gesellschaftliche Missbilligung ist jedoch keine soziale Kooperationsnorm, da ihr der zweite Grundbestandteil fehlt: Allgemeingültigkeit. Normative Urteile verlangen per definitionem allgemeine Standards, an denen die spezifischen Handlungen eines Individuums gemessen werden können. Einige kollektive Aktivitäten werden innerhalb einer Gemeinschaft wieder und wieder von verschiedenen Gruppenmitgliedern ausgeführt, wobei die Rollen der einzelnen je nach Anlass variieren. Dadurch entstehen kulturelle Praktiken, deren Strukturen – im Sinne gemeinsamer Ziele und der jeweils beteiligten Rollen – allen bekannt sind. Um beispielsweise Honig aus einem Bienenstock an einem Baum zu sammeln, stellt sich ein Gruppenmitglied neben den Stamm, ein zweites klettert auf seine Schultern, sammelt den Honig ein und reicht ihn hinunter, und ein drittes füllt den Honig in ein Gefäß. Wenn sich Neulinge dazugesellen und lernen, was in den verschiedenen Phasen dieser Aktivität zu tun ist, werden die Rollen allgemein definiert, so dass innerhalb der Gruppe gemeinsame Erwartungen entstehen, denen zufolge jeder, der die Rolle X spielt, bestimmte Dinge tun muss, um den Gruppenerfolg zu garantieren. Lob und Tadel für einzelne Rolleninhaber werden vor dem Hintergrund der allen gleichermaßen bekannten Standards erteilt. Auf diese Weise generieren soziale Praktiken, in denen »wir« in gegenseitiger Abhängigkeit und in austauschbaren Rollen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten mit der Zeit gegenseitige Erwartungen, die ihrerseits zu generalisierten, akteur-neutralen normativen Urteilen führen. Um die Entstehung sozialer Praktiken und ihrer normativen Dimensionen kurz zu illustrieren, lassen Sie mich eine typische Szene aus einer unserer Studien zum Helfen beschreiben. Am Anfang schaut ein Kind passiv zu, wie ein Erwachsener Zeitschriften in einen Schrank räumt. In der zweiten Runde kann der Erwachsene die Schranktür nicht öffnen, da er einen Stapel Zeitschriften in den Händen hält, und das Kind hilft ihm, die Tür zu öffnen. Nachdem das Kind den Ablauf verstanden hat, antizipiert es in der dritten Runde bereits den weiteren Verlauf und öffnet die Schranktür im voraus – wodurch das Wegräumen der Zeitschriften zu einer gemeinsamen Aktivität wird. In einigen Fällen weist das Kind den Erwachsenen sogar auf die Stelle hin, an die er die Zeitschriften bringen soll (indem es darauf zeigt). Im Laufe dieser drei Handlungsstufen entwickeln Kind und Erwachsener gemeinsame Erwartungen an das Verhalten des anderen. Letztlich beginnt das Kind sogar, die Handlung zu strukturieren und dem Erwachsenen mitzuteilen, dass »die [Zeitschriften] dorthin gehören«, was bedeutet, dass in dieser Aktivität bestimmte Tätigkeiten normativen Anforderungen genügen müssen. Für unsere entwicklungsgeschichtliche Perspektive ist es bemerkenswert, dass diese Kinder erst 18 Monate alt sind, kaum sprechen können und keine normativen Äußerungen im eigentlichen Sinne verwenden (und tatsächlich ist meine normative Interpretation

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ihrer Zeigegeste auch nicht die einzig mögliche Lesart). Und doch scheinen all unsere Studien klar zu zeigen, dass Kinder schon nach einer kurzen gemeinsamen Aktivität mit einem Erwachsenen bereitwillig schlussfolgern, dass dies die richtige Art ist, etwas zu tun – dass »wir« es so tun. Das menschliche Verhalten orientiert sich jedoch nicht nur an Kooperationsnormen, sondern auch an Konformitätsregeln und Konventionalität. An irgendeinem Punkt der menschlichen Entwicklungsgeschichte wurde es für die Mitglieder einer Gruppe wichtig, sich gleich zu verhalten, und es entstand Anpassungsdruck. Das nächstliegende Motiv ist dabei, wie die anderen sein zu wollen, von der Gruppe akzeptiert zu werden, Teil des »Wir«-Gefühls der Gruppe zu sein, die mit anderen Gruppen konkurriert. Um als Gruppe zu funktionieren, müssen wir Verhaltensmustern folgen, die sich in der Vergangenheit als effektiv erwiesen haben, und wir müssen uns von anderen abgrenzen, die sich mit unseren Angelegenheiten nicht auskennen. Imitation und Konformitätsbestrebungen könnten in vielerlei Hinsicht eine zentrale Rolle für den Richtungswechsel in der menschlichen Evolution gespielt haben,33 da beide gleichzeitig zu Homogenität innerhalb der Gruppe und zu großen Unterschieden zwischen einzelnen Gruppen führen können – und das in wesentlich kürzerer Zeit als durch biologische Evolution. Diese besondere Tatsache – die vermutlich bei keiner anderen Spezies zu finden ist – ermöglichte einen neuen Prozess der kulturellen Gruppenselektion. Zwischen den sozialen Gruppen der Menschen entwickelten sich extreme Unterschiede hinsichtlich ihrer Sprache, Kleidung und Bräuche, und sie begannen, miteinander zu konkurrieren. Gruppen mit effektiveren sozialen Praktiken florierten im Vergleich zu anderen. Hierin liegt möglicherweise der Ursprung unserer »Ingroup/Outgroup«-Mentalität, die nachweislich schon bei Kleinkindern vorhanden ist (so interagieren sie zum Beispiel vorzugsweise mit Menschen, die ihre eigene Sprache sprechen – und das, bevor sie selbst sprechen können).34 Sowohl Kooperations- als auch Konformitätsnormen werden durch Schuld- und Schamgefühle untermauert, welche wiederum soziale Normen (oder zumindest gesellschaftliche Urteile) und somit eine Koevolution von Biologie und Kultur voraussetzen.35 Der an der University of California forschende Biologe Robert Boyd hat äußerst erkenntnisreich argumentiert, dass Konkurrenzprobleme (wie sie in Spielsituationen mit unterschiedlichen Motiven wie beispielsweise dem Gefangenen-Dilemma auftauchen) durch Bestrafung und Normen zu Koordinationsaufgaben werden. Ohne diese beiden Faktoren sorgt sich ein einzelner Akteur hauptsächlich darum, wie er (und vielleicht sogar auch ein anderer) an Futter gelangen kann. Wenn Bestrafung und Normen ins Spiel kommen, muss er jedoch auch bedenken, dass er seinen Gewinn teilen sollte und seine Handlungen an die Erwartungen der anderen anpassen muss, um Bestrafung

33 P. Richerson & R. Boyd: Not by Genes Alone: How Culture Transformed Human Evolution, Chicago 2006. 34 K. D. Kinzler, E. Dupoux & E. S. Spelke: The Native Language of Social Cognition, in: Proceedings of the National Academy of Sciences 104/30 (2007), 12577–12580. 35 W. Durham: Coevolution: Genes, Culture and Human Diversity, Palo Alto 1992.

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oder eine Beschädigung seines Rufs zu vermeiden. Somit garantieren verinnerlichte gesellschaftliche Normen, begleitet von Schuld- und Schamgefühlen, dass die Koordination der eigenen Handlungen mit den Erwartungen der Gruppe auch ohne offen gezeigtes Verhalten funktioniert. Normen schaffen die Vertrauensgrundlage, auf der soziale Institutionen durch akteur-neutrale Rollen und gemeinsame kooperative Aktivitäten mit gemeinsamen Zielen und gemeinsamer Aufmerksamkeit entstehen können. Damit die für soziale Institutionen typische Art der durch Konventionen geschaffenen Realität entstehen kann, bedarf es jedoch einer weiteren Zutat: einer besonderen Vorstellungskraft und symbolischen Kommunikation. Über deren Ursprung ließe sich noch viel schreiben.36 Den wichtigsten Anteil an ihrer Entstehung hatte das gemeinsame Lösen von Problemen, und am Anfang standen Zeigegesten, die bei Aktivitäten im Rahmen gemeinsamer Aufmerksamkeit verwendet wurden. Dann aber wurde es notwendig, über Dinge außerhalb des Hier und Jetzt zu kommunizieren, wodurch ikonische (noch nicht konventionalisierte) Gesten entstanden, mit deren Hilfe Szenen pantomimisch durch ein »So-tun-als-ob« dargestellt wurden. Ikonische Gesten können »natürlich« interpretiert werden (das heißt, solange man die Gricesche kommunikative Absicht versteht, die in Zusammenhang mit der Zeigegeste entstanden ist), wobei die Aktivitäten anderer als absichtsvolle, zielgerichtete Handlungen gesehen werden. Bei Kindern finden sich erste Anzeichen hierfür in Als-ob-Spielen. Im Gegensatz zu seinem Ruf als Einzelaktivität – was es bei älteren Kindern sein mag – hat das Spielen soziale Wurzeln. Kinder einigen sich mit anderen darauf, dass ein Stock zum Pferd erklärt wird. Hiermit haben sie eine Statusfunktion geschaffen. Solche Statusfunktionen, die im gemeinsamen Als-ob-Spiel entstehen, sind die ontogenetischen und vielleicht auch phylogenetischen Vorläufer kollektiver Vereinbarungen wie der, dass ein Papierstreifen als Geld zählt oder dass eine bestimmte Person Präsident ist – einschließlich aller Rechte und Pflichten, die eine solche Übereinkunft mit sich bringt.37 Eine wichtige Studie hat kürzlich gezeigt, dass diese gemeinsam erteilten Statusfunktionen schon bei sehr kleinen Kindern normative Kraft haben. Die Probanden hatten dabei mit dem Erwachsenen vereinbart, dass ein bestimmter Gegenstand Brot zum Essen und ein anderer Seife zum Waschen sein sollte – der Zusammenhang zwischen den tatsächlichen Gegenständen und ihrem mutmaßlichen Zweck war in beiden Fällen rein imaginär. Als eine Handpuppe die vereinbarten Zuordnungen verwechselte und versuchte, die Seife zu essen, protestierten die Kinder heftig:38 »Wir haben vereinbart, dass dieses Objekt das

In meinem letzten Buch habe ich versucht, dies darzustellen (M. Tomasello: Origins of Human Communication, Cambridge 2008. Deutsch: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt am Main 2009. 37 H. Rakoczy & M. Tomasello: The Ontogeny of Social Ontology: Steps to Shared Intentionality and Status Functions, in: S. Tsohatzidis (Hg.): John Searle and the Construction of Social Reality, Berlin 2008. 38 E. Wyman, H. Rakoczy & M. Tomasello: Young Children Understand Multiple Pretend Identities in Their Object Play, in: British Journal of Developmental Psychology 27/2 (2009), 385–404. 36

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Kolloquium 6 · Michael Tomasello

Brot ist und das andere die Seife«; und jeder Verstoß gegen diese Vereinbarung muss korrigiert werden. Wenn Kinder vereinbaren, dass ein Holzblock ein Stück Seife sein soll, so ist dies ein Schritt in Richtung einer gemeinsamen institutionellen Realität, in der Objekte und Verhaltensweisen durch kollektive Vereinbarungen und Praktiken einen speziellen deontischen Status erhalten. Diese Vereinbarungen unterscheiden sich von den typischen, unser offenes Verhalten bestimmenden sozialen Normen dadurch, dass sie mit einer durch Konventionen geschaffenen symbolischen Realität beginnen – dem angenommenen oder symbolischen Szenario – und dann den relevanten Rollen und Einheiten innerhalb dieses Szenarios deontische Macht erteilen. Meiner »Silk für Affen, Skyrms für Menschen«-Hypothese zufolge muss die Schaffung der für den Homo sapiens typischen Lebensform mit kollektiven Handlungen begonnen haben, für die andere Primaten weder emotional noch kognitiv ausgestattet sind. Diese Handlungen sind durch ein gemeinsames Ziel und verschiedene, allgemein anerkannte Rollen gekennzeichnet. Gleichzeitig ist den Beteiligten bewusst, dass ihr Erfolg von ihrem gegenseitigen Einsatz abhängt. Hierin liegt sowohl der Ansatz für die akteur-neutrale, normative Beurteilung von Rechten und Pflichten, als auch die Grundlage für die vielfältigen Formen der Arbeitsteilung und Statuszuordnung, wie sie in sozialen Institutionen zu finden sind. Auch Altruismus und die spezifisch menschliche Form der kooperativen Kommunikation haben hier ihren Ursprung. Die menschliche Kultur entstand somit, indem sich Menschen zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenschlossen. Noch ist unbekannt, wie und warum es in der menschlichen Evolution dazu kam. Man könnte jedoch spekulieren, dass die Menschen im Zuge der gemeinsamen Nahrungssuche (sowohl beim Sammeln als auch beim Jagen) zunehmend zur Zusammenarbeit gezwungen waren – anders als alle anderen Primaten. Natürlich sind die Menschen keine engelsgleichen Kooperateure – oft verbünden sie sich auch, um schreckliche Dinge zu tun. Solche Taten richten sich jedoch gewöhnlich nicht gegen Mitglieder der eigenen Gruppe. Evolutionsmodelle haben kürzlich gezeigt, was Politiker längst wissen: Man kann eine Menschenmenge am besten hinter sich bringen, indem man einen Feind identifiziert und behauptet, dass »die anderen« »uns« bedrohen. Die bemerkenswerte Kooperationsfähigkeit der Menschen scheint sich demzufolge hauptsächlich für Aktivitäten innerhalb der eigenen Gruppe entwickelt zu haben. Ironischerweise ist es ebendieses Gruppendenken, das heutzutage oftmals zu Unfrieden und Leid auf der Welt führt. Eine Lösung könnte in solchen Fällen darin bestehen, die Gruppe neu zu definieren – aber das ist leichter gesagt als getan.

KOLLOQUIUM 7

Vernunftgründe und vernünftige Gründe Kolloquiumsleitung: Rainer Enskat

Rainer Enskat Einführung Klaus Erich Kaehler Leibniz: Die Welt der Gründe und ihre Grenzen Marcus Willaschek Normativität und Autonomie – Über Verpflichtungen als Handlungsgründe Claudia Bickmann Immanuel Kants ›Grundlegung‹ der Metaphysik im Horizont. Von Martin Heideggers ›ontisch-ontologischer Differenz‹ Walter Mesch Gründe in Hegels Handlungstheorie. Zum Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie

Einführung Rainer Enskat

Die Welt der Gründe umfasst nicht nur und noch nicht einmal vorwiegend die Sorten von Gründen, die in der gegenwärtigen Philosophie konzipiert, erörtert und analysiert werden. Sie umfasst ebenso alle Sorten von Gründen, die in der bisherigen Geschichte der Philosophie konzipiert, erörtert und analysiert worden sind. Die Welt der Gründe, auf die sich unser Kongreß konzentriert, ist alleine schon insofern eine geschichtliche Welt. Doch auch alle Sorten von Gründen, die überhaupt irgendwann einmal von irgendjemand in Anspruch genommen werden, gehören der geschichtlichen Dimension des menschlichen Denkens an – sowohl seiner Gegenwart wie seiner Vergangenheit und seiner Zukunft, weil es keine vom menschlichen Denken unabhängigen Gründe gibt. Vernunftgründe und vernünftige Gründe bilden von alters her ein klassisches Thema der philosophischen Tätigkeit. Die Erbschaft der gegenwärtigen Philosophie reicht von den (verünftigen) Gründen, die Platon durch den literarischen Mund seines Sokrates dem zu Recht klassisch gewordenen λόγον διδόναι abverlangt, bis hin zu dem Grund, nach dessen Wesen Heidegger fragt. Die gegenwärtige Philosophie profitiert von dieser Erbschaft in einem Maß, so daß sie ohne sie vermutlich chronisch unter einer lebensbedrohlichen Unterernährung leiden würde. In der deutschen Sprache haben wir in der Zeit zwischen 1700 und 1850 ein für alle Mal gelernt, wie man Vernunftgründe und vernünftige Gründe ausdrücklich thematisieren und problematisieren kann. Die klassischen Lehrer dieser ausdrücklichen thematischen Problematisierung sind in Deutschland Leibniz, Kant und Hegel. Unter den überlieferten philosophischen Erbteilen konzentriert sich das Kolloquium daher auf Sorten von Gründen, wie sie vom 18. bis ins 19. Jahrhundert vor allem von diesen drei Philosophen mit einer präzedenzlosen Emphase an die kognitive und die praktische Autorität der Vernunft gebunden worden sind. Wie eng Konzeptionen von Gründen und Konzeptionen der Vernunft miteinander verflochten sind, zeigt sich in geradezu suggestiver Weise, wenn man den Titel des Kolloquiums in die lateinische Schulsprache der Vergangenheit und in die lingua franca der Gegenwart übersetzt: Wir können dann von Rationes rationales et rationes rationis bzw. von Reasonable Reasons and Reasons of Reason sprechen. In Leibniz’ Philosophie ergibt sich die Differenz zwischen den beiden Sorten von Gründen vor allem aus der von ihm konzipierten theistischen Verankerung aller Realität in den Vernunftgründen fulgurativer schöpferischer Urakte göttlichen Erkennens, Wollens und Vollbringens. Zwar ist der geschaffene menschliche Geist dank seiner Auseinandersetzung mit dieser vernunftbestimmten Realität auch selbst vernünftiger Erkenntnisgründe fähig. Indessen bleiben diese menschlichen Erkenntnisgründe durch die kognitive Begrenztheit des Menschen zu einem Maß von Unbestimmtheit verurteilt,

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Kolloquium 7 · Rainer Enskat

durch das sie stets hinter der durchgängigen Bestimmtheit zurückbleiben, mit der diese Realität durch die Vernunftgründe der göttlichen Schöpfungsakte an sich ausgestattet worden ist. In Kants kritischer Philosophie wird die Vernunft als eine ausschließlich unter den menschlichen oder menschenähnlichen Erkenntnisvermögen beheimatete Instanz konzipiert. Vernunftgründe und vernünftige Gründe haben an dieser Instanz in unterschiedlichen Formen Anteil. Einerseits ist die Vernunft ›in ihrem praktischen Gebrauch‹ gleichsam der unmittelbare Sitz von nicht weiter hinterfragbaren, also unbedingten Gründen, und zwar von praktischen Erkenntnisgründen (rationes cognoscendi) sowohl des Moralischen wie des Rechtlichen und – wenn auch in einem minimalistischen Sinne – sogar des Politischen. Unabhängig von diesen praktischen Vernunftgründen steuert dieselbe Vernunft ›in ihrem theoretischen Gebrauch‹ andererseits die Bemühungen um Erfahrungserkenntnisse in regulativen Formen mit Hilfe von theoretischen Vernunftgründen. Im Licht dieser Gründe lenkt sie den Blick der erkenntnisbeflissenen Menschen auf ein formales Ganzes der uns möglichen Erfahrung und übt auf diese Weise einen bedingtnormativen Zwang zur Bemühung um Kohärenz unter unseren schrittweise komplexer werdenden Erfahrungserkenntnissen aus. Mit Blick auf die gegenwärtigen handlungstheoretisch orientierten Auseinandersetzungen um vernünftige Gründe und um Rationalität erweist sich Hegels außerordentlich komplexe Vernunft-Konzeption, wie er sie nicht nur in der Phänomenologie des Geistes entwickelt, dann als besonders aufschlussreich, wenn man den SittlichkeitsEntwurf seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts zu Rate zieht und gezielt nach seiner Auffassung von vernünftigen Handlungsgründen fragt. In diesem Schlußteil seiner Rechtsphilosophie wird der in der Philosophie der Neuzeit einzigartige Versuch unternommen, die inneren Beziehungen zwischen der rechtlichen, der moralischen, der politischen und der sozialen Dimension der menschlichen Praxis in einer kohärenten Theorie zu durchschauen. Sie macht daher mehr als jede andere Theorie auf die menschliches Maß eigentlich übersteigende Komplexität der Gründe aufmerksam, deren eine Praxis bedarf, die in allen diesen Dimensionen nicht nur von vernünftigen, sondern auch von Vernunftgründen gesteuert und getragen sein sollte. Die Thematisierung der Beziehungen zwischen einer kognitiven und praktischen Instanz namens Vernunft und den beiden von ihr abhängigen Sorten von Gründen scheint aber noch aus anderen Gründen angezeigt zu sein. Die Emphase, mit der die bedeutendsten Vernunfttheoretiker den kognitiven und den praktischen Status sowie die entsprechenden Funktionen der Instanz namens Vernunft in ihren Schriften erörtert haben, haben immer wieder einmal zu mehr oder weniger gravierenden Mißverständnissen geführt. Das gilt mit Blick auf die Einzugsbereiche insbesondere von Kants, vor allem aber von Hegels Philosophie. Nicht nur außerhalb der Philosophie wird die Instanz namens Vernunft in diesen Einzugsbereichen mit einer Instanz identifiziert, deren Status und deren Möglichkeiten, Gebrauchsformen und Wirkungsformen nur allzu oft mehr oder weniger grotesk verzerrenden Charakterisierungen ausgesetzt sind – bis hin zur Beschwörung einer Instanz der angeblichen Unterjochung von allem und jedem. Doch auch innerhalb der Philosophie werden ihrem Status und ihren Funktionen nicht

Einführung

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selten Gebrauchsformen und Wirkungsformen zugetraut und zugemutet, mit denen sie heillos überfordert ist. Vor allem Formeln mit so strikt theorieabhängigen Bedeutungen wie die von der Autonomie oder der Gesetzgebung der Vernunft oder von der Vernünftigkeit alles Wirklichen beginnen in diesen von ihren Theorien losgelösten Einzugsbereichen ein nur schwer kontrollierbares Eigenleben zu führen. Doch die bedeutendsten Theoretiker der Vernunft waren auch dann, wenn sie – wie Platon und Aristoteles – den Status und die Funktionen der Vernunft noch nicht in den romanischen und in den anderen Sprachtraditionen der Neuzeit thematisiert haben, gleichzeitig die bedeutendsten Skeptiker, wenn es darum ging, die Möglichkeiten der Gebrauchs- und Wirkungsformen der Vernunft im wirklichen Leben der Menschen einzuschätzen. Die wohl trefflichsten Gründe dieser Skepsis finden sich in dem schönen Bild, das John Locke von der Vernunft entworfen hat, ohne sie bei ihrem traditionell gewordenen Namen zu nennen. Er entwirft dies Bild in der Einleitung zum Ersten Kapitel seines Werks An Essay Concerning Human Understanding: »The candle that is set up in us shines bright enough for all our purposes«. Doch analog wie das Licht, das vom Flämmchen einer Kerze ausgeht, von der Vielzahl der Lichtsorten gleichsam in den Schatten gestellt wird, denen es durch die anderen Lichtquellen seiner nächsten und aller seiner ferneren Umgebungen ausgesetzt ist, so werden auch die Orientierungshilfen der Vernunft durch die Unmenge der ›lichtspendenden‹ kognitiven Erfolge gleichsam in den Schatten gestellt, die die Menschen tagaus-tagein nicht nur de facto erzielen, sondern auch erzielen müssen, wenn sie überleben wollen. Was Vernunftgründe und was vernünftige Gründe sind, wird man daher nicht so leicht klären können, wenn man nicht beachtet, daß die Vernunft, von der sie abhängen, – entgegen aller inflationären Vernunft- und Rationalitäts-Rhetorik – nicht nur die unscheinbarste und daher auch die am schwersten zugängliche unter allen ›lichtspendenen‹ kognitiven Vermögen des Menschen ist. Es könnte sein, daß sie selbst mitsamt ihren Orientierungshilfen – analog wie das Licht des Kerzenflämmchen in Lockes Bild – nur dann ganz ungestört in Erscheinung tritt, wenn sie optimalen Formen und maximalen Graden methodischer Behutsamkeit ausgesetzt ist. Es wäre dann nicht weiter verwunderlich, wenn es unseren entsprechenden Bemühungen nur sehr selten einmal und unter ungewöhnlich günstigen Umständen gelingt, eine solche Behutsamkeit zu üben – und zwar sowohl unseren theoretischen Bemühungen um die Analyse solcher Gründe wie unseren kognitiven Bemühungen um ihre angemessene praktische Berücksichtigung durch das Handeln wie unseren legitimatorischen Bemühungen um solche Gründe zugunsten unserer Praxis.

Leibniz: Die Welt der Gründe und ihre Grenzen Klaus Erich Kaehler

Die Formel »Welt der Gründe« lässt sich an der Philosophie von Leibniz in besonders prägnanter Weise mit Gehalt füllen, insofern nämlich Leibniz die Welt ihrem Wesen und ihrer Wahrheit nach als einen in sich unendlichen, hierarchisch gestuften Begründungszusammenhang begreift, der zugleich real und intelligibel ist. So lässt sich an dieser Philosophie paradigmatisch erkennen, was es heißen kann, auf eine »Welt der Gründe« zu setzen, hier allerdings so, dass diese Welt selber und als ganze noch ein Begründetes ist, da sie einen letzten, unbedingten Grund außer sich hat. Dessen seingebende Macht aber ist keine blinde, unerkennbare Macht, sondern sie ist aus dem Prinzip des Grundes, der ursprünglich-vollkommene Vernunft ist, begreifbar als unbeschränkte Vernunfttätigkeit, eine rein-rationale Aktuosität, als welche die Metaphysik hier den christlichen Schöpfergott begreift (»reformuliert«) – das göttliche Einsehen, Wollen und Vollbringen. So hängt von dieser Aktuosität alles ab, was außer ihr existiert – auch die Existenz des selber geschaffenen, deshalb endlichen Vernunft-Subjekts, welches der Mensch ist. Deshalb ist für diesen, das philosophierende Subjekt, die Welt der Gründe nicht durchgängig erreichbar in der Form der Vernunft-Gründe, in die sich jener Urakt der ultima ratio entfaltet zum Ganzen des Seienden, sondern nur in den jeweils defizienten Formen abstrakter vernünftiger Gründe einerseits und konkreter, aber verworrener Perzeptionsinhalte andererseits, die unter jene, als abstrakte Begriffe, zwar subsumiert, damit jedoch nicht vollständig begriffen werden können gemäß ihrem an sich rationalen Stellenwert in der Verkettung aller Ereignisse des Universums. Die Grenze aber des rationalen Wissens, die in dieser Differenz des Zugangs zur ursprünglichen Rationalität des Seins sich zeigt, wird sich erweisen als Folge der real-metaphysischen Auffassung von Grund und Begründetem, wenn das Subjekt dieses Auffassens sich selbst ontologisch verortet als radikal Begründetes in prinzipieller, doch zugleich unaufhebbar abstrakter Identität mit ihrem Grund. Zu bedenken bleibt dann, was das für die ontologische und epistemische Bewertung jener Bereiche bedeutet, die sich dem endlichen Subjekt zunächst nur in nicht-rationalen Formen und ohne Begründungszusammenhänge zeigen und erschließen. – Nach diesem kurzen Vorblick ist nun die Reichweite des Begriffs und vor allem des Prinzips des Grundes darzulegen, im ersten Teil zunächst nur seine formale Bedeutung, die auf die logische Form aller wahrheitsfähigen Gebilde bezogen ist, im zweiten Teil darüber hinaus seine ontologische, theologische und moralische Bedeutung und deren Rechtfertigung in der erwähnten Dreiheit der göttlichen VernunftAktuosität. Im dritten Teil folgt der Abstieg von dieser ultima ratio in das Begründete, die Differenz als Differenz der Ausübung der ursprünglichen allumfassenden Vernunft im endlichen Bewusstsein und seinem Verhältnis zur an sich immer schon geschehenden Rationalität des Seienden. Hier haben die Überlegungen zu verschiedenen Arten oder

Leibniz: Die Welt der Gründe und ihre Grenzen

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Modi der »Rationalität« ihren Ort und erhalten ihre relativierende Erklärung. Schließlich (im vierten Teil) wird sich daraus die Grenze dieser objektiven Metaphysik des Gründens und der Rationalität als philosophischer Konzeption ergeben.

1. Die logische Bedeutung des Prinzips des Grundes Das Prinzip des Grundes verselbständigt eine Reflexionsbestimmung zur universalen Struktur des Seienden, um zugleich dessen Intelligibilität zu sichern. Was das Prinzip inhaltlich besagt, ist eigentlich auszuschöpfen nur durch die Darstellung der gesamten sowohl objektiven als auch subjektiven Architektonik des leibnizschen Universums. Die logische Bedeutung der Grundbeziehung ist die rein formale Relation zwischen Enthaltendem und Enthaltenem. Sie ergibt sich zunächst als Reflexion solcher Enthaltensbeziehungen zwischen Termini, die in der Logik für Begriffe bzw. ihre mehr oder weniger komplexen Sachgehalte stehen. Voraussetzung dafür ist also eine »kombinatorische« Begriffstheorie; und hier ist das Prinzip des Grundes verwiesen auf das Prinzip des Widerspruchs, denn dieses herrscht über die möglichen Zusammensetzungen von Begriffen überhaupt, als den Elementen der Enthaltensbeziehung. Allerdings kann die Konsistenz, das Zusammenbestehen von Begriffen in einem anderen Begriff, d. h. innerhalb einer gemeinsamen Einheit, nicht rein formal-logisch eingesehen werden. Formal kann nur die Negation eines Begriffs A seine Inkonsistenz mit einem anderen Begriff, in der Form Non-A, darstellen. Ob aber A mit einem bestimmten anderen Begriff B kompatibel ist, ob also die Verbindung AB einen konsistenten Begriff ergibt, kann nur aus dem Inhalt dieser Begriffe eingesehen werden.1 Das Prinzip des Widerspruchs beruht also reflexiv auf den zwischen vorausgesetzten Begriffen bestehenden Inkompatibilitätsbeziehungen, und legt fest, dass Begriffe, die in solcher Beziehung stehen, nicht zugleich in einem und demselben Begriff enthalten sein können. Insofern fungiert das Prinzip des Widerspruchs als Kriterium für das Prinzip des Grundes, während dieses die übergreifende Gesamtstruktur aller »Denkbarkeiten« (cogitabilitates) bestimmt. Von dieser Struktur aber hängt nach Leibniz die Wahrheitsfähigkeit von Aussagen ab: Die kombinatorische Begriffsstruktur artikuliert bereits die Verhältnisse von Begriffen als möglichen Subjekten oder Prädikaten von Aussagen. So kann der Subjektbegriff einer Aussage als Grund seiner Prädikate verstanden und analysiert werden, da Enthaltendes

Deshalb ist die Verschiedenheit der Begriffe zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für den »Ursprung der Negation«, der in den absolut einfachen Begriffen liegen muss, die Leibniz zumindest für den ursprünglich-vollkommenen Verstand (Gottes) voraussetzt. Deren Differenz und eine damit möglicherweise eintretende Inkompatibilität wäre nur noch intuitiv ihrer inhaltlichen Bestimmtheit anzusehen, da sie ihrer Form nach unanalysierbar sind. Die Verschiedenheit allein ist jedoch nicht hinreichend für einen wechselseitigen Ausschluss. Vielmehr erwägt Leibniz sogar umgekehrt, ob nicht alle absolut Einfachen miteinander kompatibel sein könnten. Implizit verneint er jedoch diese Frage, denn eine teilweise Inkompatibilität zwischen absolut Einfachen ist notwendige Bedingung für die Lehre von den vollständigen oder Individuen-Begriffen als maximal konsistenten Begriffen, die nicht alle derart kompossibel sind, dass sie zusammen eine einzige Welt bilden können. 1

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und Enthaltenes in der Relation von Grund und Begründetem zueinander stehen. Aus dieser Struktur hat Leibniz die gesamte traditionelle Urteils- und Schlusslehre entwickelt bzw. rekonstruiert.2 Damit sind zwar die Grundformen rationaler Verknüpfung erstellt, doch sie sind nur Abstraktionen von den inhaltlichen Gedanken, welche die Sache der ursprünglich-vollkommenen Vernunft ist. Dass die ursprünglichen Formen der Rationalität zugleich die universalen Formen des Seienden sind, diese ontologische Bedeutung des principii rations ist hier keine unmittelbare Behauptung oder Voraussetzung, sondern ist gerechtfertigt durch die metaphysische Erfüllung der ratio, von der nun zu sprechen ist, da ohne sie der philosophische Begründungszusammenhang bei Leibniz nicht angemessen erfasst werden kann.

2. Die metaphysische Erfüllung des Prinzips des Grundes Ein Subjekt des Denkens aller widerspruchsfreien Begriffe bzw. Ideen mit allen ihren möglichen Verbindungen und Relationen, das subjektive Korrelat dieses Alls objektiver Realität – möglicher wie wirklicher –, ein solches Subjekt kann allerdings von »uns«, der selber endlichen Vernunft, nur so gedacht werden, dass wir das, »was in uns beschränkt ist«, in jenem »ohne Schranken« (sans bornes en lui, Mon. § 30, GP VI, 612)3 denken. In der Tat konzipiert Leibniz auf diese Weise die Idee des traditionellen Entis perfectissimi, und er reiht diese Idee ebenso unter die rein intellektuellen Ideen wie die der Substanz, Ursache, Ähnlichkeit, des Einfachen und Zusammengesetzten etc. Anders als bei diesen kategorialen, logischen und reflexiven Bestimmungen handelt es sich für Leibniz bei dem Begriff des vollkommensten Wesens jedoch nicht um ein mögliches qualitatives oder rationales Prädikat für etwas Existierendes, sondern um den Begriff eines Einzelwesens, das nur als reines Vernunft-Subjekt existiert und so immerhin prinzipiell gleichen Wesens ist mit dem Subjekt, das, insofern es sich auf seine Vernunftpotenz zusammenzieht, eben die Idee dieses anderen, höchstvollkommenen Subjekts in sich findet. Um diese Idee zu denken, muss es somit sich selbst denken, aber mit der Modifikation, dass es seine Schranken an diesem anderen Subjekt als aufgehoben denkt. Das Affirmative, das aus dieser Entschränkung, der Negation seiner eigenen Grenze, resultiert, ist der spekulative Kern der idea Dei im Rahmen der leibnizschen Metaphysik der Vernunft. Deshalb ist das Resultat der Negation die vollkommene Affirmation des ursprünglichen, integren Ganzen, welches Maximum und Urbild alles dessen ist, was das endliche Subjekt in defizienter Weise in sich findet und vollziehen kann. Dieser rein positive Charakter und Gehalt der Gottesidee, die Leibniz durch die Entschränkung des

2 Dazu sei der Hinweis erlaubt auf die immanent-systematische Rekonstruktion des Verf.: Leibniz’ Position der Rationalität. Die Logik im metaphysischen Wissen der »natürlichen Vernunft«, Freiburg/ München 1989, Kapitel II und III (78–358). 3 Mon. = Monadologie (GP VI, 607–623); GP = Leibniz: Die philosophischen Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde. Berlin 1875–1890, ND Hildesheim 1973

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endlichen Vernunft-Bewusstseins gewinnt, wird vor allem durch den Begriff der »wahren Unendlichkeit« ausgedrückt: »Das wahre Unendliche à la rigeur ist nur im Absoluten« (GP V 144); und dieses ist die »positive Idee des Unendlichen, die früher ist als die des Endlichen« (s. GP V 17). Dieses wahrhaft Erste zu Allem ist zugleich allumfassend, absolute Totalität; denn darin besteht der »höchste Grad des Unendlichen«, dass »es selbst Alles ist, wie das Unendliche in Gott ist; dieser nämlich ist als Einer Alles [unus omnia]« (C 523)4. – Doch diese abstrakt metaphysische Grundbestimmung des göttlichen Subjekts erhält ihre volle philosophische Bedeutung erst in der genauen Auslegung desselben als Subjekt – der höchste Grad an Vollkommenheit kann vom endlichen Subjekt gerade nur an denjenigen Qualitäten erkannt werden, die ihm durch sich selbst zugänglich sind, nämlich Einsicht und Wille. So wie diese in der selbstbewussten Wirklichkeit des endlichen Geistes, der vernünftigen Seele, zusammenhängen, so wird auch die Vollendungsform von Einsicht und Wille als Gesamtwirklichkeit eine innere Untrennbarkeit beider Seiten aufweisen. Gerade in der Weise, wie Einsicht und Wille hier zusammenwirken, als ein absoluter Akt des höchstvollkommenen Vernunft-Subjekts, muss sich die wahre, positive Unendlichkeit manifestieren als die absolut uneingeschränkte, höchstmögliche Vollkommenheit Gottes. Erkenntnis und Wille, wo immer es derlei geben mag, haben an ihrem Vollzug im göttlichen Vernunft-Subjekt die absolute, insgesamt unwandelbare Urform, deren Gehalt das Wahre und das Gute sind. Näher ist der Vollzug der göttlichen Simplex Intelligentia die intuitiv adäquate Erkenntnis alles widerspruchsfrei Denkbaren mit allen Interrelationen dieser »Möglichen«, d. h. aller possibilia und compossibilia. Dieses Reich des Möglichen, gegliedert in die durchbestimmte Allheit der möglichen Welten, besteht, d. h. hat sein Sein als Möglich-Sein genau nur darin, dass es gedacht wird. Es ist das All der »inneren Objekte« des göttlichen Verstandes, und es sind Entia, die hier durch ihre denkende Objektivierung ihr Sein als Mögliche erhalten,5 so dass Leibniz diese hinsichtlich ihrer Seinsverfassung als intelligible Entia auch als Ideen bezeichnen kann. Andererseits aber vollzieht dieses Erkennen einen Inhalt, der durch das göttliche Denken nicht willkürlich gesetzt wird, sondern von sich her feststeht. Gott hat diesen Inhalt nicht aus einer vorgängigen Machtvollkommenheit geschaffen, so wenig wie er seinen eigenen Verstand geschaffen hat.6 Damit sind nicht nur alle notwendigen Wahrheiten und formalen Gesetze des logos, die in allen möglichen Welten gelten, sondern auch alle möglichen, weil in sich widerspruchsfreien vollständigen Begriffe, also die Begriffe

4 C = Opuscules et fragments inédits de Leibniz, publ. par Louis Couturat, Paris 1903, ND Hildesheim 1961 5 Dieses Möglich-Sein ist ihre »Realität«, die nur in der Wirklichkeit Gottes und nur durch diese, sie denkend, entsteht. So sagt Leibniz z. B. in § 8 der Causa Dei…(s. Anm.8) : »Ipsa rerum possibilitas, cum actu non existunt, realitatem habet fundatam in divina existentia: nisi enim Deus existeret, nihil possibile foret, et possibilia ab aeterno sunt in ideis Divini Intellectus.« (GP VI, 440). Das bedeutet, kurz gesagt: alles Mögliche gründet in der Wirklichkeit – nämlich dem aktuosen Vollzug – des göttlichen Intellekts. Ebenso Théod. § 184 (GP VI, 226 f.). 6 Vgl. Théod. § 380 (GP VI, 341).

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aller möglichen Monaden in ihrer vollständigen Bestimmtheit als an sich feststehend erkannt. Das vollständige Erkennen dieses Inhalts der göttlichen Simplex Intelligentia – der Vernunft, sofern sie als erkennende die ihr gemäßen Sachgehalte erstellt – vollzieht aber als ganzes auch eo ipso einen Vergleich aller möglichen Welten hinsichtlich ihrer jeweiligen Mannigfaltigkeit an Sachgehalten und ihrer je immanenten Ordnungsbeziehungen; und in diesem Vergleich zeigt sich ein Unterschied der Welten hinsichtlich ihres je verschiedenen Reichtums an Sachgehalt einerseits und der Einfachheit in der Ordnung und gesetzmäßigen Verknüpfung aller die Welt jeweils konstituierenden möglichen Monaden andererseits. In der vergleichenden Beurteilung der Welten hinsichtlich dieser Unterschiede aber kommt außer dem rein logischen Prinzip des Widerspruchs ein Wert-Kriterium zur Geltung, unter dem sich ein Optimum erkennen lässt – jedenfalls aufgrund der ursprünglich-vollkommenen Einsicht des göttlichen Vernunft-Subjekts, von dem bis jetzt die Rede ist. Der eine ursprünglich-vollkommene Gesamtakt, welcher das göttliche Vernunft-Subjekt ist, vollzieht sich nicht nur im modus cogitandi des Einsehens, sondern zugleich auch des Wollens. Damit erhält der Gesamtakt eine neue Qualität, in der die Vollständigkeit und Vollkommenheit des Einsehens selbst kulminiert: ultima cogitationum est voluntas, wie Leibniz einmal lakonisch notiert.7 In der Vollzugsqualität des Willens ist die volle Einsicht aufgehoben. Sie bietet dem wertenden, weil das Beste intendierenden Willen den Sachgehalt, aus dem er sein Objekt wählen kann, an den aber zugleich diese Wahl gebunden ist, da darüber hinaus überhaupt nichts vernunftgemäß gewollt werden kann, erschöpft er doch bereits alles Mögliche. Anderes zu wollen, wäre chimärisch und würde eine Unvollkommenheit des Willens und damit seines Subjekts bezeugen. Dies ist die Divina Bonitas, in welcher die perfectio voluntatis besteht: aus allem Möglichen das wahrhaft Beste wählen zu wollen, aber, aufgrund der vollkommenen Einsicht, es auch unfehlbar wählen zu können. Dieses Können ist deshalb in Gott auch unmittelbar das Vollbringen des Gewollten: die eine als beste der möglichen Welten erkannte Welt wird aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit versetzt. Mit dieser Gesamtbestimmung des göttlichen Uraktes, der ursprünglich-vollkommenen Wirklichkeit der Vernunft, haben wir die metaphysische Erfüllung des Prinzips des Grundes erreicht. Jener Akt als solcher kann zusammengefasst werden als »Schöpfung«, gliedert sich aber genauer gesagt in die drei Stufen der Verwirklichung von Vernunft, nämlich 1. die vollkommene Einsicht in alles an sich Mögliche, d. h. die theoretische Vernunft, 2. die deliberierende Vernunft, die das erkannte Mögliche vergleicht und bewertet, und 3. die praktische Vernunft, die das dadurch bestimmte Beste aufgrund des unabhängigen Wollens überführt in eine eigene, obgleich von diesem Urakt insgesamt abhängige Wirklichkeit – die geschaffene Welt der Monaden und ihrer Erscheinungen für einander, d. h. der körperlichen Natur. Dieser Gesamtakt ist frei, im eigentlichen und eminenten Sinne. Auf der ersten Stufe für sich wird die Freiheit jedoch nur Textes inédits d’après des manuscrits de la Bibliothèque provinciale de Hannovre, publiés et annotés par Gaston Grua, Paris 1948, 544. 7

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erst statisch vollzogen. Das Erkennen ist zwar von nichts außer sich abhängig, aber es bleibt genau nur beim Erkannten als solchem. Auf der zweiten Stufe dagegen wird das Erkannte, also die gesamte regio possibilitatis, einer Überlegung unterworfen, die ihren Anfang und Grund in der Tätigkeit des Subjekts selber hat, wenngleich ihr Objekt unmittelbar das Mögliche als solches ist. Es ist der Wille, der die spontaneitas intelligentis ausübt, als welche Leibniz auch allgemein die Freiheit bezeichnet; und so kann er sagen: »Ad Voluntatis Natura requiritur Libertas« (CD8 § 20, GP VI 441). Als Willenstätigkeit vollzieht das Subjekt eine Actio Voluntaria, welche »spontan und überlegt (deliberata)« (ebd.) ist. In dieser Deliberation geschieht jene Unterwerfung des gesamten Reichs des Möglichen unter einen Wertmaßstab, der aus dem Prinzip der Möglichkeit allein nicht gewonnen werden kann. Gleichwohl bildet dieses Prinzip auch für die deliberierende und wertende Vernunft die Grenze, die dem Willen und damit auch der Freiheit vorgegeben ist – die Grenze aber nur hinsichtlich des Objekts oder des Inhalts, der zu bewerten ist. Der bewertende Akt selber und sein »Prinzip des Besten« entspringen ganz und gar der absoluten Spontaneität, doch alles, was aus Freiheit gewollt und vollbracht werden kann, ist ihm immer schon vorgegeben. Es ist gerade diese Bindung des freien Willens an die möglichen Inhalte der Vernunft, die diesen Willen von der blinden Willkür unterscheidet – blind nämlich wäre eine Willkür, die sich auch gegenüber der Vernunft frei wähnt, der aber gerade diejenige Einsicht mangelt, durch die allein der vernünftige Wille fähig ist, seiner perfectio, also der appetitio boni (CD § 18) gemäß zu agieren. Was das Gute ist, wird dabei nicht durch den Willen entschieden, ebenso wenig wie das, was möglich ist. Gottes Schöpfungswille ist also nicht an eine wählbare Welt gebunden, weil ihm durch seinen eigenen Verstand per se viele solche Welten zur Verfügung stehen. Da er jedoch einen Wertmaßstab auf diese Möglichkeiten anwendet, demzufolge genau eine Welt mit unfehlbarer Sicherheit als die »beste« identifizierbar ist, wird die gegeneinander gleiche Gültigkeit der logischen Möglichkeiten aufgehoben und diese werden in eine Werthierarchie gegliedert, an deren Spitze die zur Schöpfung auserwählte Welt steht. Weil Gottes Wille zum wahrhaft Besten genau nur diese eine Welt will und weil er sie unfehlbar aus allen möglichen erkennt, erfolgt seine Wahl mit »moralischer Notwendigkeit«. Deren Gegenteil erzeugt keinen logischen Widerspruch, sondern eine »moralische Absurdität« oder auch »Inkonvenienz« (CD § 21), d. h. es würde dem Gewollten nicht angemessen sein, mit ihm nicht »konvenieren«. Diese moralische Notwendigkeit ist also keine »absolute« (logische, metaphysische), da das Gewählte als möglicher Sachgehalt kontingent ist und bleibt. Die Kontingenz ist jedoch eine ontologische, keine moralische Modalität. Deshalb ist es auch streng genommen unangemessen, zu fragen, ob der Willensakt, mit dem Gott die beste Welt wählt, selber kontingent oder nicht doch notwendig – und dann auch nicht frei – sei. Ihn unter die Modalkategorie ›kontingent‹ zu subsumieren, heißt, ihn nur als Vorkommnis im Ganzen des Seienden, aber nicht als Akt, nicht in seiner Qualität als deliberierenden und entscheidenden Vollzug von Einsehen in alles Mögliche und Wollen des eingesehenen Bestmöglichen zu beurtei8

CD = Causa Dei Asserta per justitiam ejus [etc.], in: GP VI, 437–462

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len – also ihn gar nicht als den Urakt zu begreifen, durch den überhaupt etwas ist und nicht nichts. Dieser Urakt kann auf ontologischer Ebene prinzipiell nicht zureichend begriffen werden, da er die Vollzugswirklichkeit absoluter Subjektivität ist, die höchst entwickelte Form, in welcher hier das Prinzip der neuzeitlichen Philosophie vor Kant, darum noch in objektivierter Vollendungsgestalt, vorausgesetzt wird.9 – Betrachten wir nun die andere Seite des letzten Grundes, nämlich das durch ihn insgesamt Begründete – das ist die Welt der in Existenz gesetzten und gehaltenen Monaden.

3. Vom Grund zum Begründeten: die geschaffene Welt der Monaden Mit der Aussetzung derjenigen logisch möglichen vollständigen oder Monadenbegriffe, deren Ensemble die beste der möglichen Welten ist, in die Existenz verändert sich ihre Seinsweise von Grund auf, entsprechend dem Unterschied des Möglichen zum Wirklichen. Als bloß mögliche ist jede Monade eine vollständige Idee, deren Sachgehalt in den Formen der Logik vollkommen bestimmt ist, einschließlich seiner Relationen zu allen anderen Ideen, vollständigen und unvollständigen, d. h. abstrakten. Seine relative Selbständigkeit hat jeder maximal konsistente oder Individuenbegriff durch seine Einheit, die zugleich das Ordnungsprinzip aller seiner Teilbegriffe ist. Durch den Umschlag in die Existenz aber erhält das Mögliche mit seiner statischen Struktur der logischen Ordnung eine eigene Wirklichkeit und damit eine ganz neue dynamische Qualität. Grundlegend für alles Existierende ist zunächst der Eintritt in eine Zeitordnung, als existenziellem Pendant der logischen Ordnung. Dadurch reihen sich die Momente jedes vollständigen Begriffs in Präsenzbestimmungen des Ganzen, die aufeinander folgen,10 und worin jedes Mal das Ganze innerlich bezogen ist auf alle übrigen Bestimmungen seiner Einheit und äußerlich auf alles, was nicht in ihrem vollständigen Begriff, also der jeweiligen monadischen Einheit, enthalten ist. Diese Präsenzbestimmungen sind die ›Perzeptionen‹, in denen die Monade nach Maßgabe ihrer inneren, je eigenen Einheit und deren Entwicklungsgesetz den positiven Sachgehalt ihres vollständigen Begriffs selbsttätig entfaltet, zugleich damit aber eo ipso durchgängig in irgendeiner Weise auf alles bezogen ist, was in ihrem vollständigen Begriff nicht enthalten ist, so dass dieses ihr als ihre Außenwelt erscheint. An sich, dem rein denkbaren Sachgehalt nach, sind das also die übrigen mit ihr in Existenz gesetzten vollständigen Begriffe; und für Gott sind

9 Darum ist auch die Scientia simplicis Intelligentia bereits als solche, d. h. als aktuales Denken des göttlichen Vernunft-Subjekts, eine Ontologie des Möglichen. Nur indem ein jedes Mögliche gedacht und sein Wert im Blick auf die bestmögliche Welt erwogen wird, kann ihm auch ein nisus ad existendum zugesprochen werden, dessen Stärke je nach dem Grad seiner Tauglichkeit für die Güte einer möglichen Welt bestimmt ist (vgl. Théod. § 201, GP VI, 236). Dazu ausführlich vom Verf.: Leibniz’ Position… (s. Anm. 2) , 411 f. (und Anm. 417). 10 Nur für das ursprünglich-vollkommene Vernunft-Subjekt ist alles logisch Unterschiedene als eine intelligible Bestimmungstotalität präsent, so dass deren subjektive Vollzugsform nur die intuitio sein kann.

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sie auch in dieser intelligiblen Form adäquat erkennbar (in der Scientia Actualium). Da keine geschaffene Monade jedoch zu dieser Erkenntnis fähig ist – sie müsste dann wie Gott schon alles Mögliche als Bestimmungstotalität erkennen und wäre damit selbst ratio und radix possibilium –, bedeutet dieses unwillkürliche Bezogensein auf andere Realität, deren positiver Grund sie nicht ist, dass sie immer zugleich mit ihrer vis activa – der in dynamische Existenz gesetzten Einheit ihres vollständigen Begriffs – auch als vis passiva existiert. Diese resultiert also aus ihrer ursprünglichen Beschränktheit und ist der metaphysische Grund der zum reinen Verstand anderen Zugangsweisen zum Seienden, im Extrem also der Sinnlichkeit, damit der Grund der dunklen und der sog. unmerklichen Perzeptionen, aber auch aller gemischten Vollzugsweisen, in denen die in der Urwirklichkeit erzeugte und gehaltene rein intelligible Realität und Ordnung dem endlichen Subjekt als bewegte und wandelbare Erscheinung zugänglich wird. Denn wie die mögliche Realität der Vernunft in den in Existenz gesetzten Monaden auf unendlich mannigfache Weisen verwirklicht wird – außer ihrem bloßen Gedachtwerden – , so wiederum erscheinen diese sich verwirklichenden Realitäten der Monaden gegenseitig in ihren Phänomenen. Deren empirisch-wissenschaftlich rekonstruierbare Ordnung aber ist die der raumzeitlich-materiellen Welt. Dass sie erscheint als vorgegebene Realität, ist mit der Beschränkung der Spontaneität der Monaden auf die Sachgehalte ihres je eigenen vollständigen Begriffs unvermeidlich. Ihr Bezug auf Realität überhaupt ist so nur zu einem sehr geringen Teil in der Form der Vernunft möglich ist, er besteht vielmehr überwiegend in unmerklichen, dunklen oder wenn klaren, dann meist verworrenen Perzeptionen. Diese Bindung alles Bewusstseins an sinnliche Elemente erklärt, warum es auch im Denken nicht des Zeichens entbehren kann. Sowohl den je unmittelbaren Perzeptionen als auch allen darin repräsentierten Phänomenen liegt also eine und dieselbe an sich vollkommen rationale Realität und Ordnung zugrunde. Deren Seinsweisen aber legen sich, im Unterschied zu ihrer Urpräsenz im göttlichen intuitus, in der Existenz der Monaden auseinander in die korrelativen Vollzugsweisen der endlichen monadischen Subjektivität. Damit pluralisiert sich die heuristische Ausübung der Rationalität in verschiedene Verfahrensweisen, Methoden und Modelle, Techniken und Strategien. Dies gilt sogar für die Logik und Mathematik, in denen Leibniz auf verschiedenen Abstraktionsebenen jeweils mit Voraussetzungen bzw. »Begründungen« arbeitet, die nicht anders als durch eine gewisse Fruchtbarkeit in der Anwendung gerechtfertigt werden können (so, als herausragendes Beispiel, das Verfahren des Differentialkalküls). Erst recht gelten auf der inhaltlichen und semantischen Ebene nicht nur die deduktiven Verfahren der Analyse und Synthese, die der kombinatorischen Begriffstheorie entsprechen, sondern vor allem die Analogie11 und die Metapher als Explikationsmittel an sich rationaler Sachverhalte, vor allem als Mittel der exoterischen Darstellung, die im Stande der Endlichkeit, in der sich die geschaffenen Monaden existenziell vorfinden, unverzichtbar ist für den Weg zur Erkenntnis. Wenngleich die ursprüngliche Einheit von Intuition und rationaler Explikation im GeSo ist die »unendliche« Analyse der kontingenten oder »Tatsachen«-Wahrheiten als eine Analogie zu entsprechenden mathematischen Verfahren zu verstehen. 11

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samtakt der ultima ratio nun uneinholbar ist, so bilden die mannigfaltigen Formen der sukzessiven Aneignung der Welt der Gründe doch kleine, bereichsspezifische specimina jener Urform, indem in ihnen intuitive und diskursive Vollzugs- und Darstellungsweisen zumindest komplementär fungieren können. Auch die praktische Vernunft bzw. Rationalität differenziert sich in ihrer Ausübung durch endliche Subjekte im Hinblick auf die vorgegebenen Anwendungs- und Tätigkeitsbereiche. So hat Leibniz in seinen frühen Arbeiten zum Naturrecht eine ganze Hierarchie von Erklärungstypen entwickelt, wo die Ergänzung des deduktiven Verfahrens (basierend auf Axiomen und Definitionen) durch konkrete, partikulare Abwägungen nötig und gerechtfertigt erscheinen, wenngleich nur als Folge eines bis dahin unüberwundenen Mangels an allgemeinerer Begründung. Die Bedeutung von Empirie und Pragmatik reicht aber für Leibniz auch in die Moralphilosophie hinein, da hier die Vorstellung des Guten und dessen, was als das Beste erscheint, wodurch moralische Praxis motiviert wird, oft angemessener durch Gefühle als durch intellektuelle Argumente geleitet wird. Darauf beruhende Gründe entstammen dann zwar subjektiv nicht der Vernunfteinsicht, sind aber objektiv dennoch als vernünftige Gründe zu werten, soweit sie Ausdruck der rationalen Ordnung der Dinge im endlichen Bewusstsein sind. Durch die Aufmerksamkeit auf Qualität und Genesis solcher moralischen Gefühle wird der Wille zur Angemessenheit gebildet, der zwar im Grunde conatus intelligentis ist, aber für Motivationslagen empfänglich sein muss, da das objektiv Gute im endlichen Bewusstsein nie adäquat repräsentiert werden kann. Leibniz hat für dieses subjektiv nicht-rationale Verhältnis zum an sich rationalen Guten eine Lehre vom Instinkt entwickelt, worauf hier nur hingewiesen werden kann.12 Ferner entwickelt Leibniz auch für Fragen der praktischen Wahl und Entscheidungsfindung, also dem Gebiet, das mit Kant als »technisch-praktisch« zu bezeichnen ist, verschiedene Modelle, Methoden und Techniken, die als zwar nie endgültiger, aber doch tentativ vernünftiger Ausdruck der objektiven Vernunft zu gebrauchen seien. Und schließlich verfolgt Leibniz sogar für die vernünftige Erörterung theologischer Streitfragen und insgesamt auch für eine pluralistische Sicht auf Religionen und Kulturen, verschiedene Strategien, die zwar mit den universalen Regeln und Formen der reinen Vernunft nicht in Widerspruch geraten dürfen, aber aus ihnen nicht abgeleitet werden können.13

12 Vgl. José Maria Ripalda: Instinkt und Vernunft bei G.W. Leibniz, in: Studia Leibnitiana 4 (1972), 19–47; Antonio Lamarra: Notes on Reason and Instinct in the Nouveaux Essais, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongress, Vorträge II, Hannover 1995, 198–205; Hans Poser: Zwischen Instinkt und Vernunft. Leibniz’ Konzeption der Willensfreiheit in den Nouveaux Essais, in: Einheit in der Vielheit. VIII. Internationaler Leibniz-Kongress 2006, Nachtragsband, 154–168; ders.: Innate Ideas as the Corner Stone of Rationalism: The problem of moral principles, in: Leibniz: What Kind of Rationalist?, ed. by Marcelo Dascal, Berlin/New York 2009, 479–493, bes. 484–488 13 S. dazu die Kapitel 24–26 in: Leibniz: What Kind of Rationalist? ed. by Marcelo Dascal, Berlin/ New York 2009.

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4. Die unüberwindliche Differenz von Grund und Begründetem im Wissen des endlichen Subjekts Allen diesen Formen, in denen die geschaffenen Subjekte zu vernünftiger, aber begrenzter Einsicht gelangen können, liegt zugrunde die Differenz zwischen der einen ursprünglich-vollkommenen Form, in der Gott als das absolut-aktuose Vernunft-Subjekt die Bestimmungstotalität alles Möglichen und Wirklichen vollzieht, und den unbestimmt vielen verschiedenen Formen, in denen diese Realität für das Bewusstsein und die Reflexion der geschaffenen Subjekte sich zeigt, d. h. erscheint, ohne dass diese endlichen Formen und die partikular-vernünftigen Gründe, die dadurch gegeben werden können, aus jener abgeleitet oder in irgendeiner Weise als ihre Selbstentfaltung dargestellt werden können. Darin zeigt sich die Grenze dieser von Grund auf metaphysischen Konzeption von Rationalität. Sie kann nicht konkret und adäquat hinter das Faktum zurückgehen, dass die allumfassende Begründungsinstanz, welche die Vernunft ist, in Gott und im geschaffenen Geist trotz prinzipieller Gleichartigkeit nur in unendlicher quantitativer Differenz ausgeübt werden kann.14 Dies ist in der Tat eine unüberwindliche Konsequenz aus der real-metaphysischen Selbstverortung des Subjekts dieser Grund-Konzeption im Ganzen des Seienden. In dieser Begrenzung liegt zugleich das Problem der methodischen Diskontinuität des philosophischen Erkennens. Reflektieren wir das Ganze aus Grund und Begründetem, so erweist sich beides als gleich notwendig, trotz der Abhängigkeit des zweiten Gliedes vom ersten, kurz: Gott ist nicht ohne seine Schöpfung. Das Erste zu Allem als Grund zu bestimmen, impliziert bereits die Setzung einer Differenz, auf die bezogen der Grund erst als Grund gesetzt, und das heißt in der leibnizschen Real-Metaphysik zugleich: als Grund verwirklicht ist. Dies ist ein spekulatives Gesamtverhältnis. Der absolute Vernunftakt ist Grund erst dadurch, dass er über sich hinaus, aus sich heraus geht – aber nicht zu etwas, das schon da wäre. Vielmehr setzt er außer sich, was schon in ihm ist und für ihn das höchste, konkreteste Objekt seines Einsehens, Wollens und Vollbringens ausmacht, nämlich die »beste aller möglichen Welten«. Diesem »inneren Objekt« eine Seinsweise zu geben, die über das Möglichsein, d. h. das bloße Gedachtwerden durch das absolute Subjekt, hinausgeht zu eigener Existenz, ist das, was für die Religion die Schöpfung ist. Dieser Übergang der gesamten Realität der besten möglichen Welt in die Existenz, von Leibniz auch gelegentlich das miracle primigène15 genannt, bleibt für alles geschaffene Bewusstsein und seine »natürliche Vernunft« uneinholbar. Dieses findet sich immer schon inmitten des Geschaffenen, in dem, als dem Begründeten, der Grund sich zwar noch einmal setzt, realisiert, jedoch in Differenz zu sich selbst, also als ein anderer, in der Tat: als beschränkt. Die existierende Welt ist diese Beschränkung, welche sich zeigt in den Seins- und Bewusstseinsweisen der Monade, wie im Folgenden kurz zusammengefasst sei: Metaphorisch ausgedrückt: die menschliche Vernunft ist »ein Tropfen des göttlichen Ozeans« (Théod.). 15 GP VII, 412 (§ 89) 14

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• Die Monaden sind vollständige Begriffe, aber sie erkennen sich im Existieren nicht durch diesen Begriff. Sie erscheinen einander entsprechend ihren vorübergehenden, weil wechselnden Zuständen in nicht-rationaler, vor allem nicht-begrifflicher Form, als unwillkürlich gegebene Realitäten, deren je unmittelbare Erfassung die Sinnlichkeit ausmacht. Damit sind alle Monaden an Körperlichkeit gebunden – sie können nicht sein ohne ihre Phänomene. Dass diese in den immateriellen Monaden »fundiert« sind, ist nur eine abstrakte Begründung, deren Bestimmtheit nur im Sein-für-die-Monaden gefunden und erschlossen, nicht durch begriffliche Analyse, dem rein rationalen Verfahren, gewonnen werden kann. Dasselbe gilt, wie schon ausgeführt, für die Urbestimmung aller Monaden im Verstande Gottes, der regio possibilium. Nur der abstrakt allgemeine Begriff der Monade, kein einziger konkret vollständiger Begriff kann daraus abgeleitet werden. Somit sind die drei Ebenen der leibnizschen Metaphysik: Gott, geschaffene Monaden und deren Phänomene im Wissen des endlichen Subjekts dieser ganzen Philosophie gegeneinander irreduzibel, trotz der objektiv-metaphysisch vorausgesetzten hierarchischen Begründungsbeziehungen von Gott über die Monaden zu den Phänomenen. Daraus ergeben sich als wichtigste Folgen für die Art und Reichweite der Erkenntnis: • Sie ist gebunden an Zeichen (sinnlich Wahrnehmbares); • sie ist, soweit sie Erkenntnis der Vernunft als Vernunft ist, insoweit sie also koinzidiert mit der Urform des Vollzugs der absolut konkreten Vernunft, beschränkt auf das Formal-Rationale, das inhaltlich abstrakt bleibt, keinen Vernunft-Grund gibt, sondern vernünftige Gründe nur in der Anwendung auf jene Realitäten, die in nicht-rationaler Form als gegeben erscheinen. • Das bedeutet negativ: Uneinholbarkeit der Urform und ihres adäquaten Inhalts, der Totalität aller Denkbarkeiten; und ferner • Gradualität der Einsicht in alle an sich bestehenden Kombinationen und Relationen aller widerspruchsfreien Sachgehalte. Diese verschiedenen Grade werden von den Subjekten, die in verschiedenen Graden der Vollkommenheit, d. h. der Realität, existieren, als verschiedene Formen des Bewusstseins und verschiedene Seinsqualitäten vollzogen und erfahren. Damit kommt schließlich das tiefste Problem in den Blick, das auch im Hintergrund der Theodizee-Frage steht, nämlich das Problem, welche Bedeutung dieser relativen Verselbständigung der endlichen Zugangsweisen und Formen der Realitätserschließung zukommt, letztlich der Qualität des Endlichen überhaupt in der Innerlichkeit seiner je individuellen Erfahrung. Damit ist die ontologische und insgesamt metaphysische Grenze des Subjekts benannt, welche zugleich die Grenze seines ihm überhaupt möglichen Wissens ist. Wenn die erkennende Zurückführung alles dessen, was eine Monade an sich ist und was ihr geschieht, auf die rationale Urform für sie selbst nicht adäquat zugänglich ist, so gewinnen die Bestimmtheiten der Erscheinung in ihren besonderen Formen eine eigentümliche, sich immer wieder unmittelbar neu zeigende Qualität, die zunächst jeweils nur in einem immer schon individuierten Erlebenszusammenhang auftritt und aus diesem heraus reflexiv in ihrer überindividuellen Bedeutung erschlossen

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werden muss. Der spekulativ-metaphysischen Grundauffassung von Leibniz zufolge kommt allerdings in all den Formen und Qualitäten der Endlichkeit, deren vorausgesetzter rationaler Grund für das erfahrende Bewusstsein niemals adäquat erkennbar ist, immer nur die bis in die äußerste Individuierung hineinreichende universale und alternativenlose Vernunft-Ordnung zur Erscheinung. Sind jedoch alle Formen und Qualitäten der Endlichkeit gegenüber der göttlichen, d. h. rein rationalen Urform aller wahren Realität immer defizient, so stellt sich die Frage, in welchem Sinne und in welcher Weise dennoch auch dieses in unabsehbares Anderssein sich entfaltende Erscheinen der absoluten Vernunft zu ihr selbst gehört? Wie kommt es überhaupt zu solchen defizienten Seinsweisen des absoluten Vernunftinhalts, in denen die Macht der Vernunft ex negativo nur umso stärker waltet? Ist das Erscheinende etwas, das gegen die Vernunft keinen eigenen Stand und Sinn behält? Dann lässt sich kein empirisches Leben führen – kein Leben, das von einem endlichen, weil geschaffenen Subjekt gelebt werden muss. Die Religion dieses Subjekts und seiner verliehenen (»natürlichen«) Vernunft sagt zwar: Gott – das »Absolute« – ist unabhängig von seiner Schöpfung: er ist, was er ist, auch ohne sie, und durch sie wird der göttlichen Vollkommenheit nichts hinzugefügt. Doch die reflektierende Vernunft begreift dieses ihr Urbild nicht nur rein positiv – so würde sie gar nichts begreifen, weil nichts in ihm zu unterscheiden wäre –, sondern als letzten, höchsten und aktuosen Grund, nämlich von allem, was in und außer ihm zu unterscheiden ist. Dadurch wird er so konzipiert, dass er alles Begründete als Seiendes durch sein eigenes Sein hervorbringt und im Sein erhält, sei es als mögliches, sei es als wirkliches; und umgekehrt bestimmt er sich auch dadurch erst vollständig als Grund in seinem Begründeten. Damit aber teilt er auch sein Wesen, die Vernunft, allem mit, was durch ihn begründet ist;16 und so ist in der Welt der Gründe, die Leibniz zu denken gibt, das endliche, aber vernunftbegabte Subjekt bereits in seinem Ursprung durch das Band der Gott als ultima ratio realitatis tam essentiarum quam existentiarum in uno (GP VII, 305) zu fassen, impliziert bereits das Reflexionsverhältnis, in dem Gott als Grund zu seinem Begründeten steht, doch als unum alles darin Unterschiedenen behält er die Priorität in ontologischer wie epistemischer Hinsicht. Als diese in sich konkrete Einheit, die der Sache nach All-Einheit ist, ist er jedoch nicht deshalb unabhängig von seiner Schöpfung, weil er auch ohne sie sein könnte, sondern weil er darin gar nicht außer sich kommt, vielmehr sich nur auf sich bezieht. Die darin bewahrte Differenz ist für Leibniz – im Unterschied zu Spinoza – die von Schöpfer und Geschaffenem, der Ursprung dafür, dass diese Differenz überhaupt hervortritt, gesetzt wird, liegt jedoch nach Leibniz in der Güte Gottes, d. h. seinem Willen zum Besten, der sich auf den Vernunftinhalt bezieht: »[…] c’est la bonté qui porte Dieu à créer, afin de se communiquer: et cette mème bonté jointe à la sagesse le porte à créer le meilleur: cela comprend toute la suite, l’effect et les voyes.« (Théod. § 228, GP VI, 253 u.) Dass Gott »sich mitteilt«, so dass das Geschaffene da ist, um an seiner Vollkommenheit zumindest teilzuhaben, ist somit für Leibniz in der Tat noch Steigerung der Vollkommenheit, die Existenz des Geschaffenen ist ein Surplus gegenüber der reinen Rationalität in der ihr eigenen und adäquaten Form der Vernunft. Die Unendlichkeit der Vernunft potenziert sich in der Unendlichkeit ihrer Erscheinung. Doch ist diese Steigerung nur moralisch notwendig, nicht aber metaphysisch oder logisch (s. ob.). Leibniz entwickelt also den Gedanken der spekulativen oder absoluten Einheit des Absoluten mit seiner Erscheinung nicht wie Spinoza und Hegel (ansatzweise, aber nicht eindeutig auch Schelling) als Grundgedanken seiner Metaphysik, sondern als Folge aus der Idee Gottes als aktuose höchst vollkommene Vernunft, deren Gesamtvollzug in adäquater Einsicht und vollbringender Güte zumal besteht. 16

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Vernunft unauflöslich mit Gott verknüpft – es wird in allem Sein und Denken ein und dieselbe Vernunft finden, wenn und insoweit es die ihm zu eigen gegebene Vernunft mit allen seinen Kräften richtig und aufmerksam, also kritisch entwickelt und ausübt. Da es jedoch die Grenzen seiner Endlichkeit nicht aus eigener Kraft überschreiten kann, wird es auch immer wieder an die Grenzen seiner Vernunftausübung stoßen. So wie das endliche Vernunftwissen über die Vernunft hinaus durch die Offenbarung ergänzt wird17, so der Glaube und der Wille zum Guten – auch wenn dieses nur ein bonum apparens ist – durch die Gnade. Damit aber ist dieses Sich-Vervielfätigen und Variieren der höchsten, in sich vollendeten Vollkommenheit in einem unbestimmbar unendlichen Reich der Erscheinung doch nicht nur ein Abstieg und ein Verlust der vollen Wahrheit – es ist vielmehr gerade das Optimum und Maximum der Vernunft, dass diese erst in und mit ihrer äußersten, an sich nichtigen Erscheinung – als der Differenz ihrer von sich selbst – die erfüllte, und zwar sich erfüllende absolute Identität ist. Allerdings, erst nachdem die Selbstentfaltung der Vernunft von der objektivierten Vollendungsgestalt, die Leibniz erreicht hat, ganz zurückgenommen ist in die Immanenz ihres Selbstbewusstseins, kann in dieser absoluten Reflexion der Totalität des Absoluten und seiner Erscheinung die Erscheinung auch als notwendiger Weg der Vernunft und der Selbstvollendung ihres Subjekts im Wissen der Philosophie zur Darstellung gelangen.18 Erst damit aber kann sich auch entscheiden, inwieweit die Selbstunterscheidung des absoluten Vernunftsubjekts eine nur interne oder auch eine externe Negativität ist, d. h. inwieweit das Unterschiedene in seiner durchgängigen Bestimmtheit und Relationalität als immanente, also Selbst-Bestimmung des Absoluten einsehbar und darstellbar ist. Jede endliche Bestimmtheit, Qualität oder Relation der Erscheinung, soweit sie nicht als ein Resultat dieser Selbstbestimmung einsehbar und erweisbar ist, muss als wesenloser Schein und Nichtigkeit von der Wahrheit ausgeschlossen werden. Dies aber wird erst erkennbar und damit auch entscheidbar, wenn der Maßstab der Wahrheit dem Gesamtsubjekt des Seins als reinem Gedachtwerden immanent ist.19 Das würde innerhalb der leibnizschen Metaphysik bedeuten, dass nur Gott über die Einsicht in den rationalen Ursprung der unmittelbar und für jedes endliche Bewusstsein nicht rational einsehbaren Erscheinungsmannigfaltigkeiten und -qualitäten verfügt – und erst recht über die Einsicht in die Möglichkeit (bzw. bei Leibniz die Unmöglichkeit), dass darunter auch solches vorkommt, was auch für

Leibniz notiert (in einem seiner wenigen deutschen Texte) zu Locke’s Essay Concerning Human Understanding, IV., XIX.Kap.: »Die Vernunfft ist nichts anders als eine natürliche Offenbahrung, wodurch Gott den Menschen denjenigen Theil der Wahrheit, welchen er der Fähigkeit ihrer natürlichen Kräfte eingegossen, mittheilet. Die Offenbahrung ist die natürliche Vernunfft, die durch einen neuen Grund solcher Entdeckungen vermehret ist, welche da unmittelbar aus Gott fließen, und deren raison die Wahrheit durch Zeugniß und Proben, welche sie zubeweisen, dass dieselben würcklich von Gott kommen, gebrauchet. Wer dahero die Vernunfft deswegen vernichtet, dass er der Offenbahrung Raum mache, löschet beide Lichter zugleich aus.« (GP V, 31) 18 Dazu sei verwiesen auf Klaus Erich Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung. Freiburg/München 2010, Abschnitte A. – C. 19 S. dazu ebd. (Anm. 18), Abschnitt D. 17

Leibniz: Die Welt der Gründe und ihre Grenzen

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Gott nicht in eine restlos vernunftgemäß bestimmbare Form aufgelöst, also auch einen nicht restlos vernünftig begründbaren Gehalt haben könnte. Aufgrund der rationalen, näher begriffstheoretischen Voraussetzungen der Monadenlehre muss zwar en général ausgeschlossen werden, dass irgend etwas zur Existenz gelangen könnte, das keinen solchen Gehalt und damit keinen Ort in der rationalen Ordnung und der Verknüpfung von allem mit allem hätte. Doch darüber gibt es für den geschaffenen Geist, das Subjekt der Philosophie, kein Wissen, sondern diese Unmöglichkeit folgt nur aus der absoluten Voraussetzung, dass ›Gott‹ der Name ist für die ursprüngliche Wirklichkeit der Vernunft als Erkennen, Wollen und Vollbringen von allem.

5. Ausblick auf die Folgen für die Philosophie nach Leibniz Mit dieser Voraussetzung ist also noch einmal die Grenze dieser Metaphysik der »Welt der Gründe« markiert: Das diese Metaphysik konzipierende und denkende Subjekt findet und weiß sich selbst als abkünftig von jener vorausgesetzten Urwirklichkeit; und deshalb ist für es die Differenz zwischen der rationalen und der nicht-rationalen Form der Realität unaufhebbar. Die letztere ist im Wissen der »natürlichen Vernunft« nicht erkennbar aus dem absoluten Grund, d. h. nicht erkennbar in ihrer vollen Wahrheit, in der sie in der Notwendigkeit ihres bestimmten Erscheinens als Sein für das endliche Vernunft-Subjekt erfasst wäre. Deshalb sind für das Erscheinende, wenn es überhaupt gegenständlich werden soll, eigene Formen und Qualitäten unverzichtbar. An dieser Grenze des objektiven Rationalismus als Wissen eröffnet sich der Philosophie eine veränderte Grundstellung und eine neue Aufgabe: Wird jene für das Subjekt der Erkenntnis bestehende Differenz durch das Subjekt selbst als unhintergehbar reflektiert und anerkannt, so wird auch die als objektiv intendierte Begründung aller Erscheinung in der göttlichen Vernunft als transzendent reflektiert; das heißt, diese verliert ihre objektive Gültigkeit und wird neu bestimmt als Idee der endlichen Vernunft selber, die sich in immanenter Reflexion ihrer Reichweite und Grenzen versichert. Sie wird ihrer als subjektiv bewusst, damit gerade als unhintergehbar selbsttätig, so dass sie die Verkettung der Gründe, den Zusammenhang aller ihrer möglichen Gegenstände je in sich und untereinander, als ihre eigene Leistung erkennt und sich selbst zuschreiben muss. Zugleich aber tritt mit dem nunmehr grundlegenden Unterschied von rationaler und nicht-rationaler Form der Realität im Wissen eine Dimension hinzu, in der nicht antizipierbare Bestimmtheiten erscheinen, die zwar unter die Begriffe der Vernunft, welche nun in der Beziehung auf das Andere als Verstand zu unterscheiden ist, subsumiert, doch dadurch niemals vollständig bestimmt werden können. An dieser immanenten Differenz zwischen der Vernunft mit ihrem Netzwerk der Gründe und dem, was dadurch eingefangen wird, aber immer zunächst als unableitbar aus der Vernunft zu konstatieren ist, arbeiten sich die nachkantischen Philosophien ab. Solange jedoch die Idee der Vernunft im Sinne der gesamten Tradition der Metaphysik als in sich geschlossen, vollendet und dem Denken und Tun endlicher Subjekte vorgegeben in Geltung bleibt, wird die darauf beruhende Erste Philosophie nicht erschüttert

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durch das Andere der Vernunft, die Differenz, an der sie ihre Identität immer erst herstellt und bewährt – solange nämlich steht ihr die Andersheit bloß immanent entgegen und bleibt als Moment der Vernunft bzw. ihres Subjekts selbst an dieses gebunden. Doch genau die absolute Vollendung in und für sich selbst – die der logischen Idee in Hegels Wissenschaft der Logik – eröffnet eo ipso gleichursprünglich eine absolute Andersheit in der am Ende erreichten absoluten Unmittelbarkeit seiner selbst, die vermittelbar ist mit dem sich wissenden Ganzen nicht als solche, sondern nur durch die transformierenden Zugriffe und Übergriffe, mit denen die logische Idee ihre Entäußerung zu sich zurückzwingt. Damit wird alles, was durch den Begriff nicht bestimmt ist, also gegen ihn indifferent bleibt und insoweit auch ihm unangemessen ist, für nichtig und wahrheitsuntauglich erklärt. Zugleich aber ist all dies dem Begriff Unangemessene, Indifferente, also spekulativ bewertet: Nichtige permanent da, weil miterzeugt mit dem suisuffizienten unendlichen Prozess der absoluten Idee.20 War also bei Leibniz durch die absolute Voraussetzung einer alles durchdringenden ursprünglichen ratio noch ex hypothesi ausgeschlossen, dass nicht alles, was ist, rein rational begründbar sein könnte, so wird, wenn diese Voraussetzung in das Wissen eingeholt werden soll, so dass ihre Explikation nicht mehr einem transzendent verobjektivierten Vernunft-Subjekt zugeschrieben werden kann, die umgekehrte Voraussetzung eines solchen vernunft-indifferenten Seienden unvermeidlich. Erst mit der Vollendungsgestalt des Prinzips der neuzeitlichen Philosophie ist unabweislich geworden, dass die immer auch subjektiv zu realisierende Vernunft ihre volle Wirklichkeit nur in der unterscheidenden Beziehung auf ein irreduzibles Anderssein hat. Die genannte ontologische Ambivalenz des Prozesses der absoluten Idee, der im Sinne der Metaphysik der einzige Ort der Wahrheit ist, ist ebenso der Ort einer permanenten Krisis des Subjekt-Prinzips. Doch diese Krisis wird durch die spekulative Reduktion aller Wahrheitsfähigkeit auf die begriffliche Bestimmung ex principio immer schon entschieden. Sie erhält ihre volle Schärfe für das philosophische Denken erst, wenn sie als Resultat des gesamten Verhältnisses reflektiert wird, ohne Präjudiz für eine Seite. Dann aber kann die Krisis des absoluten Subjekts und seiner Vernunft nur durch deren prinzipielle Neuorientierung und damit Neubestimmung gelöst werden. In der Ausführung dieser Aufgabe konstituiert sich die philosophische Moderne.21 Darin ist die Grenze der Welt der Gründe im Sinnzusammenhang der leibnizschen Metaphysik zur Grenze der Vernunft überhaupt und ihres Subjekts geworden.

Dazu ausführlich ebd. (Anm. 18), Abschnitt D.I (659–746). Einen knappen Grundriss dieser Neubestimmung, als Resultat der nicht-metaphysischen Entscheidung der Krisis des absoluten Subjekts, gibt der Schlussteil (Abschnitt D.II) von: Ebd. (Anm. 18). 20 21

Normativität und Autonomie – Über Verpflichtungen als Handlungsgründe1 Marcus Willaschek

»Wie kan aber die Willkühr ein Grund eines Gesetzes werden. Was der Grund einer nothwendigen Einstimung eines willens mit dem willen eines andern ist, bringt ein Gesetz hervor. Denn niemand ist obligirt ausser durch seine Einstimmung.« (Kant, Reflexion 6645, ca. 1770; AA 19:123; kursiv MW).

1. Einleitung Als Staatsbürger bin ich verpflichtet, meine Steuern zu bezahlen; als Vater bin ich verpflichtet, für meine Kinder zu sorgen; und als Mann bin ich verpflichtet, die Rechte von Frauen zu respektieren. In allen drei Fällen hat das Verpflichtetsein eine soziale Dimension, die für das Phänomen der Verpflichtung insgesamt wesentlich zu sein scheint: (1) Die jeweilige Verpflichtung beruht auf der Geltung einer Norm, die von den Mitgliedern meiner sozialen Gemeinschaft weithin eingehalten wird; (2) die Akzeptanz und weitgehende Befolgung dieser Norm gilt als Ziel und Ergebnis einer gelungenen Erziehung; (3) die Verletzung der Norm wird sozial sanktioniert; (4) die Norm ist Grundlage für die Kritik normwidrigen und die Begründung bzw. Rechtfertigung normkonformen Verhaltens. Wir können sagen, dass eine Norm bzw. die darauf beruhende Verpflichtung soziale Geltung hat, wenn diese vier Bedingungen erfüllt sind. Soziale Geltung ist insofern bereits ein genuin normatives Phänomen, als hier Normen einen Handlungsdruck erzeugen, der auch dort besteht, wo die Normadressaten ihn ausnahmsweise nicht berücksichtigen. Wenn eine Norm sozial in Geltung ist, kann man sagen, dass ihre Adressaten sie befolgen sollen (selbst wenn sie es nicht immer tun). Wenn wir zwischen Sein und Sollen, Faktizität und Geltung unterscheiden wollen, dann fällt die soziale Geltung von Normen insofern auf die Seite von Sollen und Geltung. Andererseits fällt sie aber auch auf die Seite des Seins und der Faktizität, denn es handelt sich bei den sozial geltenden Normen um diejenigen, die in einer bestimmten sozialen Gemeinschaft faktisch gelten, wobei zumindest denkbar ist, dass es auch andere Normen hätten sein können, die in dieser Gemeinschaft gelten.

1 Ich danke Michel de Araujo Kurth, Andreas Maier, Hannes Matthiessen und Marion Seiche für wertvolle Hinweise zu früheren Versionen dieses Textes. Für Hinweise zu einer formalen Darstellung des Arguments, die in der vorliegenden Fassung aus Platzgründen nicht enthalten ist, danke ich außerdem André Fuhrmann und Oliver Schütze. (Eine ausführliche Version dieses Textes ist in Vorbereitung.)

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Es ist dieses Moment von Faktizität und Kontingenz, das die Frage sinnvoll werden lässt, ob eine Norm, die in einer Gesellschaft gilt, auch richtig (gerecht, gut) ist. Sollte die Norm vielleicht besser nicht in Geltung sein und statt ihrer eine andere Norm gelten? Fragen dieser Art möchte ich als Fragen nach der »normativen Richtigkeit« einer Norm bezeichnen. Dass eine Norm normativ richtig ist, besagt also, dass es in einem Sinn, der auf ihre soziale Geltung nicht reduzierbar ist, gut und richtig ist, dass sie sozial gilt (oder schlecht und falsch, dass sie nicht gilt). Die Unterscheidung zwischen sozialer Geltung und normativer Richtigkeit lässt sich am leichtesten an negativen Beispielen verdeutlichen: So hatte zum Beispiel die Norm, dass Frauen nicht studieren dürfen, lange Zeit soziale Geltung, ohne aber normativ richtig zu sein. Dasselbe gilt für die Norm, dass Eltern ihre Kinder aus Erziehungsgründen schlagen dürfen, oder für das Verbot von gleichgeschlechtlichem Sex. Es ist jedoch nicht leicht, vielleicht sogar unmöglich, allgemeine positive Bedingungen für die normative Richtigkeit von Normen anzugeben. Das ist jedoch für unsere Zwecke auch gar nicht nötig, denn eine negative Formulierung scheint völlig auszureichen: Normen, die über soziale Geltung verfügen, sind normativ richtig, es sei denn, sie können mit guten und nicht ausräumbaren Gründen kritisiert werden. So ist die Norm, dass Frauen nicht studieren dürfen, deshalb nicht normativ richtig, weil sie ungerecht ist (d. h. in diesem Fall, dass sie eine normative Unterscheidung macht, die auf keiner relevanten faktischen Unterscheidung beruht). Andere Gründe gegen die normative Richtigkeit von Normen könnten darin bestehen, dass die Norm für die betroffenen Menschen schädlich ist (die Erlaubnis, Kinder zu schlagen), dass sie deren Rechte verletzt (das Verbot von Homosexualität) oder dass sie zu unmoralischem Handeln auffordert. Normative Richtigkeit, so möchte ich vorschlagen, muss nicht eigens begründet oder nachgewiesen werden, sondern geht im Normalfall mit sozialer Geltung einher und muss nur im Ausnahmefall gegen Kritik verteidigt werden. Nur dort, wo eine solche Kritik berechtigt ist, fehlt der sozial geltenden Norm die normative Richtigkeit. Natürlich stellt sich hier die Frage, wann die Kritik an einer Norm berechtigt ist. Ohne auf diesen Punkt hier näher eingehen zu können, möchte ich vorschlagen, dass sie nur dann berechtigt ist, wenn sie sich auf andere Normen berufen kann, die über soziale Geltung verfügen (also weitgehend akzeptiert sind). Der Grund dafür ist, dass die Kritik an einer Norm ansonsten gleichsam über die Köpfe derjenigen hinweg ginge, an die sie sich richtet (nämlich diejenigen, die diese Norm als richtig akzeptieren). Die Unterscheidung von sozialer Geltung und normativer Richtigkeit eröffnet die Möglichkeit von Konflikten zwischen einer gesellschaftlichen Mehrheitsperspektive und der Perspektive abweichender Minderheiten oder Einzelner: Während die Norm, dass Frauen nicht studieren dürfen, im 19. Jhd. soziale Geltung beanspruchen konnte, war sie bereits nach Meinung der damaligen Frauenrechtlerinnen ungerecht und daher normativ falsch. Doch diese Kritik war für die meisten Menschen des 19. Jhd. nicht nachvollziehbar. Sie durften davon ausgehen, dass die fragliche Norm richtig ist, solange keine Gründe gegen sie vorgebracht wurden, die sie nachvollziehen konnten. Dennoch müssen wir aus heutiger Sicht feststellen, dass diese Menschen sich irrten: Die

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Norm, dass Frauen nicht studieren dürfen, ist nicht erst heute falsch, sondern war dies bereits im 19. Jhd. Im Folgenden werde ich ein Argument vortragen, das zeigen soll, dass Konflikte dieser Art insofern unauflösbar sind, als eine sozial geltende Verpflichtung, die die verpflichtete Person prinzipiell nicht als normativ richtig akzeptieren kann, für diese Person auch keine normative Richtigkeit haben kann. Meine Absicht lässt sich auch so beschreiben, dass ich gegen eine von Hegel beeinflusste Konzeption von Normativität als eines wesentlich sozialen Phänomens das Recht eines an Kant orientierten Autonomiebegriffs verteidigen möchte. Dabei wird der Begriff des Grundes insofern eine zentrale Rolle spielen, als meine These lauten wird, dass normative Verpflichtungen nur dann richtig sind, wenn sie für die verpflichtete Person einen rationalen Grund bereitstellen, aus dem diese handeln kann.

2. Das Prinzip normativer Autonomie In einer Reflexion aus den frühen 1770er Jahren schreibt Kant: »niemand ist obligirt ausser durch seine Einstimmung« (R 6645). In erster Annäherung können wir Kants Äußerung vielleicht so paraphrasieren: Verpflichtungen sind nur dann normativ richtig, wenn man sie selbst als richtig akzeptiert. Dies werde ich das Prinzip der normativen Autonomie nennen. So einfach dieser Gedanke ist, so schwer ist er zu explizieren und verständlich zu machen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass seine beiden Elemente, Verpflichtung und Autonomie, einander zu widersprechen scheinen: Verpflichtungen sind insofern Einschränkungen meiner Handlungsfreiheit, als sie einige der mir offenstehenden Handlungsmöglichkeiten normativ ausschließen und andere normativ notwendig machen. Autonomie besteht aber gerade darin, dass die Entscheidung über mein Tun bei mir liegt, so dass jede Verpflichtung meine Selbstbestimmung einzuschränken scheint. Der kantische Gedanke der normativen Autonomie besagt nun im Kern, dass dieser Widerspruch nur dadurch aufgehoben werden kann, dass die Verpflichtungen von mir selbst ausgehen und daher Ausdruck meiner Selbstbestimmung sind. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, hat dieser Gedanke weitaus radikalere Konsequenzen als Kant selbst und viele seiner Nachfolger gesehen haben. Zunächst zum Begriff der Obligation oder Verpflichtung – wobei ich mich hier auf ultima-facie-Verpflichtungen beschränken möchte, also solche, die darin bestehen, dass man alles in allem (nach Abwägung aller Umstände) verpflichtet ist, eine bestimmte Handlung auszuführen. Verpflichtungen in diesem Sinn zeichnen sich zum einen durch ein kontrafaktisches Element aus: Zu sagen, dass etwas geschehen soll, bedeutet, dass es gut und richtig wäre, wenn es geschehen würde, unabhängig davon, ob es wirklich geschieht oder nicht. Zum anderen hat das Sollen aber einen Bezug zur Realität insofern, als es sich an handelnde Wesen richtet und von ihnen verlangt, das, was sie tun sollen, auch wirklich zu tun. Das werde ich den handlungsleitenden Charakter von Verpflichtungen nennen; Kant spricht hier etwas drastischer von »Nötigung«. Diese Nötigung unterscheidet sich von einer faktischen Notwendigkeit durch das Moment

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des Kontrafaktischen einerseits, durch ihren rationalen Charakter andererseits. Dass jemand etwas tun soll, gibt dieser Person einen Grund, das Gesollte zu tun, ohne dass damit schon sichergestellt wäre, dass die Person tatsächlich auch aus diesem Grund handelt. Soviel also zum Begriff der »Obligation«. Die zitierte Reflexion besagt nun, dass eine Verpflichtungen für eine bestimmte Person nur dann normativ richtig ist, wenn diese Person »einstimmt«, was in erster Annäherung offenbar bedeutet, dass diese Person die Verpflichtung als für sich richtig akzeptiert. Aber was bedeutet es, eine Verpflichtung zu akzeptieren? Ich werde im Folgenden annehmen, dass jemand eine Verpflichtung, F zu tun, akzeptiert, indem er sie sich erstens in einem Urteil der Form »Ich soll F tun« selbst zuschreibt und darin zweitens einen prima facie-Grund sieht, der Verpflichtung entsprechend zu handeln. Letzteres wiederum bedeutet, dass er die Verpflichtung nicht nur strategisch, sondern als Verpflichtung in seiner praktischen Deliberation berücksichtigt. Sofern die Person rational ist, bedeutet dies, dass sie disponiert ist, der Verpflichtung entsprechend zu handeln, sofern aus ihrer Sicht keine gewichtigeren Gründe dagegen sprechen. Nachdem wir so die Begriffe der Obligation und der Einstimmung kurz umrissen haben, stellt sich nun die Frage nach ihrem Zusammenhang. Soll es sich bei der Einstimmung nur um eine notwendige oder auch um eine hinreichende Bedingung des Verpflichtetseins handeln? Kant selbst dürfte in der (näher zu qualifizierenden, nämlich rational notwendigen) Einstimmung auch eine hinreichende Bedingung für die normative Richtigkeit von Verpflichtungen gesehen haben. Wenn Verpflichtungen jedoch, wie ich behauptet habe, stets an bestimmten Formen sozialen Akzeptanz und Durchsetzung gebunden sind, kann das nicht stimmen. Im Folgenden werde ich daher nur die schwächere Lesart weiter untersuchen, wonach Einstimmung eine notwendige Bedingung für normative Richtigkeit ist. Kants Reflexion ist in einer weiteren Hinsicht interpretationsbedürftig. Soll die Bedingung darin bestehen, dass die verpflichtete Person die Verpflichtung tatsächlich akzeptiert oder nur darin, dass sie sie rationalerweise akzeptieren müsste? Die erste Lesart scheint eindeutig zu stark zu sein: Ein Kind sollte sich abends die Zähne putzen, auch wenn es diese Verpflichtung nicht akzeptiert. Ein Bürger sollte seine Steuern zahlen, auch wenn er aus bloßem Egoismus das geltende Steuerrecht ablehnt. Der Lügner sollte die Wahrheit sagen, auch wenn er meint, um seines eigenen Vorteils willen lügen zu dürfen. Kurz gesagt: Normative Verpflichtungen hängen nicht von der faktischen Akzeptanz seitens der verpflichteten Person ab. In diesem Sinne unterscheidet Kant in der zitierten Reflexion zwischen »notwendiger« und »zufälliger« Einstimmung: »Was der Grund einer nothwendigen Einstimung eines willens mit dem willen eines andern ist, bringt ein Gesetz hervor. Denn niemand ist obligirt ausser durch seine Einstimmung. Diese ist nun entweder nothwendig oder zufellig.« Kants Reflexion bricht an dieser Stelle ab. Der erste Satz des Zitats legt es aber nahe, die Kantische Reflexion so zu verstehen, dass sie die Verpflichtung nicht von der faktischen oder zufälligen Akzeptanz, sondern von der notwendigen Akzeptanz abhängig macht, wobei »notwendig« hier so viel wie rationalerweise notwendig bedeutet. Wir gelangen so zu

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der folgenden, noch vorläufigen Formulierung des Prinzips der normativen Autonomie (PNA): (PNA-1) Wenn eine Person P in einer normativ richtigen Weise verpflichtet ist, F zu tun, und Ps Einstellung zu dieser Verpflichtung ist rational, dann akzeptiert P die Verpflichtung, F zu tun. Die Frage, was es heißt, dass P zu einer Verpflichtung eine rationale Einstellung einnimmt, möchte ich zunächst zurückstellen. Auch wenn wir diese Frage offenlassen, lässt sich ein Argument für das Prinzip normativer Autonomie formulieren, das sich primär aus der Tatsache ergibt, dass Verpflichtungen handlungsleitenden Charakter haben, genauer: dass normativ richtige Verpflichtungen das Handeln des Adressaten nicht nur durch sozialen Zwang beeinflussen können, sondern auch einen Grund bereitstellen, aus dem die Person rationalerweise handeln kann. Dass Verpflichtungen in diesem Sinn für rationale Personen handlungsleitenden Charakter haben, bedeutet zunächst, dass sie sich an eine Person richten und ihr vorschreiben, wie sie handeln soll. Dabei gehört es zum Sinn einer solchen Verpflichtung, dass sie für die verpflichtete Person ein hinreichender Grund sein kann, F zu tun. Andernfalls wären Situationen möglich, in denen eine Person zu einer bestimmten Handlung verpflichtet ist, sie aber trotzdem keinen hinreichenden Grund hat, der Verpflichtung nachzukommen. In diesem Fall hätte die Verpflichtung also auch keinen handlungsleitenden Charakter. Wenn eine Person verpflichtet ist, muss es, mit anderen Worten, möglich sein, dass die Person deshalb so handelt, weil sie dazu verpflichtet ist. Doch dazu muss die Person sich die Verpflichtung in einem Urteil der Form »Ich soll F tun« selbst zuschreiben, denn andernfalls kann die Verpflichtung für sie kein Grund sein, F zu tun. Würde die Verpflichtung, F zu tun, zum Beispiel nur von einem Dritten an die Person herangetragen, ohne dass diese Person sich die Verpflichtung selbst zuschreibt, so wäre es nicht möglich, dass sie F deshalb tut, weil sie dazu verpflichtet ist. Natürlich ist es möglich, dass sie F dennoch tut – zum Beispiel deshalb, weil sie Sanktionen fürchtet oder den Erwartung anderer entsprechen will. Aber das ist nicht dasselbe, wie F deshalb zu tun, weil man dazu verpflichtet ist. Dies zeigt sich daran, dass es möglich ist, F zu tun, um Sanktionen zu vermeiden oder Erwartungen zu entsprechen, obwohl man glaubt, nicht zu F verpflichtet zu sein. In einem solchen Fall wäre es offenbar falsch zu sagen, man habe F deshalb getan, weil man dazu verpflichtet war. Wir können also festhalten, dass eine Verpflichtung F zu tun, sofern sie handlungsleitend sein soll, als solche (d. h. nicht nur strategisch) ein Grund sein muss, aus dem die Person handeln kann, und dass sie sich dazu diese Verpflichtung in einem Urteil der Form »Ich soll F tun« selbst zuschreiben können muss. Doch sich eine Verpflichtung selbst zuzuschreiben und sie nicht nur strategisch im praktischen Überlegen zu berücksichtigen bedeutete gerade, die Verpflichtung als normativ richtig zu akzeptieren. Wenn eine richtige Verpflichtung also handlungsleitenden Charakter für rationale Handelnde haben kann, und sie das Handeln einer Person nur leiten kann, wenn ihr Adressat sie als richtig akzeptiert, dann kann eine Verpflichtung nur dann normativ richtig sein, wenn die verpflichtete Person, sofern sie rational ist, die Verpflichtung akzeptiert. Genau das besagt das Prinzip der normativen Autonomie. Ich komme damit zu dem Er-

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gebnis, dass eine Verpflichtung für eine bestimmte Person nur dann normativ richtig ist, wenn diese sie, sofern sie rational ist, akzeptiert. Hier das Argument für das Prinzip normativer Autonomie noch einmal im Überblick: (1) Eine normativ richtige Verpflichtung hat handlungsleitenden Charakter. (2) Eine Verpflichtung kann nur dann handlungsleitenden Charakter haben, wenn sie für die verpflichtete Person ein Grund sein kann, aus dem sie handelt. (3) Eine Verpflichtung kann für eine Person nur dann ein (rationaler) Grund sein, aus dem sie handelt, wenn die Person, sofern sie rational ist, die Verpflichtung akzeptiert. (K) Eine Verpflichtung ist nur dann normativ gültig, wenn die verpflichtete Person, sofern sie rational ist, die Verpflichtung akzeptiert.

3. Substantielle oder formale Rationalität? Ich hatte die Frage zurückgestellt, in welchem Sinn von »rational« es dem PNA zufolge rational notwendig ist, die Verpflichtung zu akzeptieren. Hier sehe ich zwei prinzipielle Möglichkeiten, nämlich entweder einen prozedural-formalen oder einen inhaltlichsubstantiellen Rationalitätsbegriff, aus denen sich jeweils unterschiedliche Lesarten des Prinzips normativer Autonomie ergeben. Nach der ersten, »formalen« Lesart ist man nur dann zu etwas verpflichtet, wenn man die Konsistenz der eigenen handlungsrelevanten Einstellungen nur dann aufrechterhalten kann, wenn man die entsprechende Verpflichtung akzeptiert – wenn man also aus Konsistenzgründen durch anderes, was man wünscht, glaubt und akzeptiert, auf diese Verpflichtung festgelegt ist. Nach der zweiten, »substantiellen« Lesart wäre man nur dann zu etwas verpflichtet, wenn es ein auf inhaltlich bestimmte Verpflichtungen festgelegtes und für die verpflichtete Person verbindliches Konzept von Rationalität gibt, wonach die Person die Verpflichtung rationalerweise akzeptieren muss. Dabei verstehe ich hier unter substantiellen Konzeptionen von Rationalität nicht nur solche, die zum Beispiel auf inhaltlich bestimmte Vorstellungen vom guten Leben oder auf moralische Kriterien wie das des größten Glücks der größten Zahl rekurrieren, sondern auch das Kantische Sittengesetz und den darauf beruhenden Kategorischen Imperativ, die Kant selbst als rein formal betrachtet. Es handelt sich insofern um substantielle Konzeptionen, als sie über die interne synchrone Konsistenz der Einstellungen einer Person hinausgehen und bestimmte Einstellungen und Handlungen als rational auszeichnen – unabhängig davon, welche Einstellungen der Handelnde tatsächlich hat. Wenn man rationale Akzeptierbarkeit in dieser Weise substantiell auflädt, dann gibt es zwar ultima facie-Verpflichtungen, die in diesem Sinn nicht rationalerweise zurückgewiesen werden können, doch widerspricht dieses Kriterium, so meine These, dann gerade dem Gedanken der normativen Autonomie, den Kants Reflexion ausdrücken sollte. Eine substantielle Lesart des Ausdrucks »rational« im Prinzip normativer Autonomie kommt daher, so meine These, nicht in Betracht.

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Um dies zu zeigen, möchte ich zunächst als Beispiel eine im weitesten Sinne aristotelische Konzeption von Rationalität betrachten, die rationale Akzeptierbarkeit an die Übereinstimmung mit einer dem Menschen als vernünftigen Wesen angemessene Lebensweise knüpft. Eine solche Lebensweise, so wollen wir mit Aristoteles annehmen, umfasst die aktive Teilnahme am politischen Leben. Insofern gilt, dass man die Aussage, dass man sich nach Möglichkeit am politischen Leben des eigenen Staates oder der eigenen Kommune beteiligen sollte, rational nicht zurückweisen kann. Dabei kann es sich natürlich zunächst nur um eine prima facie-Verpflichtung handeln, die im konkreten Fall gegen andere Verpflichtungen, etwa die, seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder sich um seine Familie zu kümmern, abgewogen werden kann und muss. Doch wollen wir weiterhin annehmen, dass sich für einen bisher politisch nur wenig aktiven Menschen gerade jetzt die Gelegenheit zu einem begrenzten politischen Engagement ergibt, vielleicht als Ortsbeirat oder Stadtverordneter, und diesem Engagement keine anderen Verpflichtungen entgegenstehen. In diesem Fall würde die aristotelische Konzeption von Rationalität, so wollen wir annhmen, eine ultima facie-Pflicht generieren, diese Gelegenheit zum politischen Engagement wahrzunehmen. Dass man dazu vielleicht einfach keine Lust hat, wäre kein zulässiger Einwand, denn es gehört nicht zum aristotelischen Begriff des vernunftgemäßen Lebens, seinen politischen Pflichten nur dann nachzukommen, wenn man Lust dazu hat. Ist ein Mensch in dieser Situation also ultima facie verpflichtet, Ortsbeirat zu werden? Wie man diese Frage beantwortet, scheint davon abzuhängen, ob man die aristotelische Konzeption von Rationalität akzeptiert, das heißt in diesem Fall vor allem, ob man meint, dass politisches Engagement zu einem gelingenden Leben hinzu gehört. Für eine solche Auffassung gibt es sicherlich gute Gründe. Aber sind diese Gründe von der Art, dass man sie rationalerweise akzeptieren muss? Der Vertreter einer aristotelischen Konzeption von Rationalität wird diese Frage natürlich bejahen, doch damit drehen wir uns im Kreis: Wenn wir die aristotelische Konzeption von Rationalität als korrekt voraussetzen, dann kann man die Gründe, die für sie und damit für die fragliche Verpflichtung sprechen, nicht rationalerweise bestreiten. Etwas Analoges lässt sich aber auch für eine »epikureische« Konzeption der Rationalität sagen, der zufolge es zulässig oder sogar rational geboten ist, im Sinne der Empfehlung Epikurs »im Verborgenen zu leben«, also das öffentliche Leben zu meiden. Setzen wir diese Auffassung voraus, dann kann man die Verpflichtung zum politischen Engagement sehr wohl rationalerweise zurückweisen. Das muss den Vertreter einer solchen substantiellen Konzeption von Rationalität allerdings nicht unbedingt beunruhigen, denn daraus, dass es Alternativen zu seiner Auffassung gibt, folgt ja nicht, dass sie falsch oder unbegründet ist. Es folgt nur, dass er diejenigen, die eine andere Auffassung vertreten, solange nicht überzeugen kann, wie sie an ihrer irrigen Auffassung festhalten. Die Tatsache, dass sie eine Verpflichtung, die sich aus der »richtigen« Konzeption von Rationalität ergibt, nicht akzeptieren, bedeutet nicht, dass sie sie nicht rationalerweise akzeptieren müssten. Doch damit macht es sich der Vertreter eines solchen Rationalitätsbegriffs zu leicht. Der Grund dafür liegt wiederum im handlungsleitenden Charakter von Verpflichtun-

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gen. Wie wir gesehen haben, muss die Verpflichtung für die Person ein Grund sein können, die Handlung auszuführen. Aber dazu muss die verpflichtete Person sich die Verpflichtung in einem Urteil der Form »Ich soll F tun« selbst zuschreiben können, denn andernfalls könnte sie nicht aus diesem Grund handeln. Zu urteilen, dass man F tun soll (und diese Verpflichtung nicht nur strategisch in seinen praktischen Überlegungen zu berücksichtigen), ist aber nichts anderes, als die Verpflichtung zu akzeptieren, dass man F tun soll. Und da es sich bei dem Urteil »Ich soll F tun« um einen (»vernünftigen«) Grund handeln soll, aus dem die Person F tut, kann hier nur ein Akzeptieren der Verpflichtung in Frage kommen, das zumindest formalen Rationalitätsstandards wie dem der internen Konsistenz genügt. Das Akzeptieren einer Verpflichtung, das gegen die Anforderungen eines solchen formalen Rationalitätsbegriffs verstößt, kann nicht rationalerweise notwendig sein. Aus dem Prinzip der normativen Autonomie ergibt sich somit die Konsequenz, dass jemand nur dann verpflichtet ist, etwas zu tun, wenn er diese Verpflichtung akzeptieren kann, ohne sich damit in Inkonsistenzen zu verwickeln. Eine Verpflichtung, die einen substantiellen Rationalitätsbegriff voraussetzt, den man selbst nicht teilt, erfüllt diese Bedingung jedoch nicht. Wenn jemand der epikureischen Auffassung ist, dass Rationalität sich in der effektiven Verfolgung der eigenen Zwecke erschöpft, wobei es letztlich darum geht, für die eigene Person körperliches und seelisches Leid zu vermeiden, dann kann eine solche Person die aristotelische Forderung nach politischem Engagement nicht ohne Selbstwiderspruch akzeptieren, sofern ihre Befolgung für sie mit seelischem Leid (in Form von Unruhe, Stress, Angst usw.) verbunden wäre. Die Verpflichtung zum politischen Engagement könnte für sie kein Grund sein, sich politisch zu engagieren, weil die Person sie sich nicht konsistenterweise zu eigen machen kann. Natürlich ist es denkbar, dass diese Person nach gründlichem Nachdenken und unter Einbeziehung aller relevanten Umstände zu einem anderen Ergebnis gelangen und die aristotelische Auffassung akzeptieren würde. Aber was, wenn die Person ernsthaft und mit aller gebotenen Gründlichkeit über die Frage des politischen Engagements nachgedacht und dabei alle Gründe, die von Seiten der aristotelischen Position vorgebracht wurden, berücksichtigt hat, und dennoch zu dem Ergebnis kommt, dass es keine Verpflichtung zu politischem Engagement gibt? In diesem Fall hat die Person alles Denkbare getan, um diese Verpflichtung rationalerweise zu akzeptieren. Wenn sie sie dennoch nicht akzeptiert, dann bedeutet das, dass sie sie (zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt) rationalerweise nicht akzeptieren kann. Doch dann kann sie auch nicht rationalerweise urteilen, dass sie sich politisch engagieren sollte, was wiederum bedeutet, dass die angebliche Verpflichtung für sie keine handlungsleitende Funktion haben kann. Aus dem Prinzip der normativen Autonomie folgt dann, dass für diese Person eine entsprechende Verpflichtung nicht besteht. Der Sinn von »rational«, in dem rationales Akzeptierenmüssen dem PNA zufolge eine hinreichende Bedingung für das Vorliegen einer Verpflichtung ist, kann daher nicht durch eine substantielle und deshalb notwendigerweise strittige Konzeption von Rationalität ausgefüllt werden. – Hier wiederum das Argument im Überblick:

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(1) Eine Verpflichtung ist für eine Person P nur dann normativ richtig, wenn P die Verpflichtung konsitenterweise akzeptieren kann. (2) Eine Person, die eine Verpflichtung auch nach gründlichem informiertem Nachdenken nicht akzeptiert, kann diese Verpflichtung nicht konsistenterweise akzeptieren. (3) Eine Verpflichtung, die auf einer von P nicht geteilten substantiellen Konzeption von Rationalität beruht, kann P auch nach gründlichem informiertem Nachdenken nicht akzeptieren. (K) Eine Verpflichtung, die auf einer von P nicht geteilten substantiellen Konzeption von Rationalität beruht, ist für P nicht normativ richtig.

4. The (Normative) Importance of What We Care About Der für das Prinzip der normativen Autonomie einschlägige Begriff der Rationalität kann also nur ein rein formaler Rationalitätsbegriff sein, der nicht mehr als die interne Konsistenz der Wünsche, Überzeugungen und anderen Einstellungen der betreffenden Person verlangt und daher von keiner Person rationalerweise zurückgewiesen werden kann. Grundlage für die normative Richtigkeit von Verpflichtungen wäre demnach, dass man sie relativ zu den eigenen Einstellungen nicht konsistenterweise zurückweisen kann. Doch daraus ergibt sich das grundsätzliche Problem, dass es demnach möglich zu sein scheint, jede angebliche Verpflichtung rationalerweise zurückzuweisen – nämlich einfach dadurch, dass man diejenigen Einstellungen, die einen auf das Akzeptieren der Verpflichtung festlegen würden, aufgibt. Betrachten wir ein Beispiel: Ich liege abends im Bett und möchte vor dem Einschlafen das angefangene Buch weiterlesen; ich glaube, dass ich dazu aufstehen und es aus dem Wohnzimmer holen muss; also sollte ich aufstehen und das Buch holen. Aber indem ich mir diese Konsequenz klarmache, bemerke ich, dass ich noch lieber als das Buch zu lesen im Bett liegen bleiben möchte. Und offenbar ist es nicht irrational, wenn ich in dieser Situation einfach liegen bleibe und doch nicht lese oder ein anderes Buch lese, das auf meinem Nachttisch liegt. Vielleicht möchte man hier erwidern, dass in diesem Fall eben gelte, dass ich ultima facie nicht aufstehen, sondern liegen bleiben sollte. Das mag richtig sein, doch wiederum hindert mich nichts daran – zumindest kein Maßstab interner Konsistenz und pragmatischer Effizienz, sondern allenfalls meine Müdigkeit – es mir noch einmal anders zu überlegen und doch aufzustehen und das Buch zu holen. Wenn es stimmt, dass Verpflichtungen sich stets auf zukünftige Handlungen beziehen und ultima facie-Verpflichtungen ohne Wenn und Aber vorschreiben, eine Handlung auszuführen, dann scheint es, als könnten sich aus den faktischen Wünschen und Einstellungen einer Person keine ultima facieVerpflichtungen für sie ergeben, die dem PNA genügen, da es der Person prinzipiell stets möglich ist, die angebliche ultima facie-Verpflichtung dadurch als bloße prima facieVerpflichtung zu entlarven, dass sie ihre Einstellungen – vielleicht gerade in Reaktion auf die sonst drohende Verpflichtung – ändert. Das PNA hätte somit die absurde Konsequenz, dass es gar keine ultima facie-Verpflichtungen geben würde.

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Kolloquium 7 · Marcus Willaschek

Doch dieser Einwand übersieht, dass es für jede Person zahlreiche Wünsche, Ziele, Überzeugungen und andere Einstellungen gibt, die sie vielleicht in einem abstrakten Sinn rationalerweise aufgeben könnte, aber de facto nicht aufgeben kann. Diese Einstellungen machen sie zu der Person, die sie ist. Es ist vielleicht in irgendeinem Sinn rationalerweise möglich, dass ich aufhöre, mich um meine Kinder zu sorgen, aber de facto steht dies für mich fest, weil es einen Teil meiner Persönlichkeit ausmacht. Das schließt nicht aus, dass sich diese Einstellungen im Laufe der Zeit ändern können, aber es schließt aus, dass ich sie aufgrund rationaler Deliberation kurzfristig ändere. Manche dieser Dinge, die für mich zu jedem gegebenen Zeitpunkt feststehen, sind Verpflichtungen, die ich akzeptiere (ohne mich deshalb notwendigerweise immer an sie zu halten): mich um meine Kinder zu kümmern oder die Wahrheit zu sagen. Solche Verpflichtungen erfüllen im Normalfall das Kriterium des rationalen Akzeptierenmüssens, wenn wir dieses so verstehen, dass das »rational« nicht unbedingt den Grund des Akzeptierenmüssens angibt, sondern nur ein spezifisches Merkmal, das es von irrationalen (z. B. zwanghaften) Fällen des Akzeptierenmüssens unterscheidet. Dass ich die Verpflichtung akzeptieren muss, liegt daran, dass ich als der, der ich bin, keine Alternative dazu habe. Dass dieses Akzeptierenmüssen rational ist, bedeutet, dass ich durch das Akzeptieren der Verpflichtung in keine internen Inkonsistenzen und Widersprüche gerate. Aus diesen Verpflichtungen und anderen momentan unverrückbaren Einstellungen können sich dann andere Verpflichtungen ergeben, die man dann insofern rationalerweise akzeptieren muss, als man sie nicht konsistenterweise zurückweisen kann, ohne anderes, das man de facto nicht zurückweisen kann, aufzugeben. Es ergibt sich somit aus dem Prinzip der normativen Autonomie, dass jede Verpflichtung auf Einstellungen der verpflichteten Person zurückgeht, die insofern kontingent sind, als andere rationale Personen sie möglicherweise nicht teilen und die Person selbst sie im Prinzip aufgeben könnte, die aber insofern unverrückbar sind, als sie konstitutiv für den Charakter oder die Persönlichkeit der jeweiligen Person sind und es ihr deshalb de facto nicht möglich ist, sie kurzfristig aufzugeben. Das Prinzip der normativen Autonomie besagt demnach, dass wir nur solchen Verpflichtungen unterworfen sind, die wir de facto in einer kurzfristig nicht aufgebbaren Weise akzeptieren oder auf die wir dadurch rationalerweise festgelegt sind, dass wir andere Einstellungen nicht kurzfristig aufgeben können. Prinzip der normativen Autonomie (PNA-2) Wenn P ultima-facie verpflichtet ist, F zu tun, dann gilt, dass P über kurzfristig nicht aufgebbare Einstellungen verfügt, relativ zu denen P die Verpflichtung, F zu tun, nicht konsistenterweise zurückweisen kann.

Normativität und Autonomie – Über Verpflichtungen als Handlungsgründe

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5. Schluss Ich kehre zum Abschluss ganz kurz zur Ausgangsfrage nach dem Verhältnis einer sozialen und einer individuellen Perspektive auf soziale Verpflichtungen zurück. Das Prinzip normativer Autonomie besagt, dass dem verpflichteten Individuum gleichsam ein Vetorecht zukommt, das darin besteht, dass es Verpflichtungen, die von der Gesellschaft an es herangetragen werden, dann berechtigterweise zurückweisen kann, wenn es diese nicht akzeptiert und auch durch keine seiner faktischen Einstellungen konsistenterweise darauf festgelegt ist, sie zu akzeptieren. Andererseits hatte ich oben behauptet, dass Normen und Verpflichtungen, die über soziale Geltung verfügen, auch normativ richtig sind – es sei denn, es gibt berechtigte Kritik an ihnen. Welche Kritik als berechtigt gilt, so hatte ich vorgeschlagen, hängt selbst wiederum von Normen ab, die sozial in Geltung sein müssen (also weithin akzeptiert werden), um normativ richtig zu sein. Wie wir jetzt sehen können, ist diese Bedingung selbst eine Folge des Prinzips der normativen Autonomie, denn eine Kritik an einer sozial geltenden Norm, die sich nicht auf andere sozial geltende Normen berufen kann, muss von den Adressaten dieser Kritik (denjenigen, die die Norm als richtig akzeptieren) nicht rationalerweise akzeptiert werden (da die Kritik sich auf Standards beruft, die die Adressaten der Kritik nicht akzeptieren). Doch dann ergibt sich ein Widerspruch, denn es ist möglich, dass eine sozial geltende Norm, die nicht mit sozial akzeptierten Gründen kritisiert werden kann und daher normativ richtig ist, zu einer Verpflichtung führt, die die verpflichtete Person nicht akzeptiert und auch rationalerweise nicht akzeptieren muss. Die Verpflichtung wäre dann zugleich normativ richtig (weil sozial in Geltung und nicht berechtigterweise kritisierbar) und nicht normativ richtig (gemäß dem Prinzip normativer Autonomie). Nun ist ein Widerspruch normalerweise ein eindeutiges Indiz dafür, dass in einer philosophischen Argumentation etwas schiefgegangen ist. Ich glaube jedoch, dass es gute Gründe für die Annahme gibt, dass dies in diesem Fall nicht so ist, denn der Widerspruch in der Theorie bildet in diesem Fall einen Widerspruch in unserer Praxis ab, der tatsächlich besteht. Es ist der Widerspruch zwischen der Perspektive einer sozialen Gemeinschaft, die ein berechtigtes Interesse daran hat, dass ihre Normen auch von denjenigen eingehalten werden, die sie nicht akzeptieren, und der Perspektive eines dissidenten Individuums, dass diese Normen rationalerweise nicht akzeptieren kann. Wenn meine Überlegungen berechtigt sind, dann ist dieser Widerspruch aus prinzipiellen Gründen niemals vollständig auflösbar. Zwar können die Mitglieder der gesellschaftlichen Mehrheit, die mit den Normen ihrer Gesellschaft weitestgehend übereinstimmen, sich prinzipiell klarmachen, dass diese Normen sich prinzipiell als falsch oder ungültig herausstellen könnten und dass ihre Übereinstimmung mit ihnen auf einem Fundament von kontingenten Einstellungen beruht, das prinzipiell wegbrechen und sie zu Dissidenten machen könnte. Diese Überlegung sollte sie zu größtmöglicher Toleranz gegenüber normativen Dissidenten motivieren. Wo immer es ihnen vertretbar erscheint, sollten sie die Dissidenten von ansonsten sozial geltenden Normen ausnehmen, auch wenn diese Normen von der Mehrheit für normativ richtig gehalten werden. So tolerieren zum Beispiel viele islamische

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Kolloquium 7 · Marcus Willaschek

Gesellschaften den Alkoholkonsum Ungläubiger. Ein anderes Beispiel für eine solche Ausnahme ist das Recht auf Wehrdienstverweigerung in der Bundesrepublik Deutschland; hier wurde von der Wehrpflicht eine Ausnahme für diejenigen gemacht, die diese Verpflichtung aus Gewissensgründen nicht akzeptieren können. Doch diese Toleranz stößt an mindestens zwei Stellen an Grenzen. Erstens dort, wo die von den Dissidenten angeführten Gründe (anders als das Gewissen und das Tötungsverbot im Fall der Wehrpflicht) in keiner Weise an die gesellschaftlich akzeptierten Gründe für die Ablehnung einer Norm anknüpfen können, etwa wenn Anarchisten jede Form von staatlicher Herrschaft als bloße Gewalt ablehnen. Und zweitens dort, wo die Verletzung der fraglichen Norm aus Sicht der gesellschaftlichen Mehrheit Werte missachtet, die schwerer wiegen als das Recht des Individuums auf normative Selbstbestimmung, das sich aus dem Prinzip normativer Autonomie ergibt. Sollte es zum Beispiel konsistente Verteidiger der Pädophilie geben, die ein grundsätzliches Verbot sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern ablehnen, so wären sie dem Prinzip der normativen Autonomie zufolge nicht verpflichtet, solche Handlungen zu unterlassen. Doch hier ist aus Sicht der gesellschaftlichen Mehrheit (also aus unserer Sicht) Toleranz unmöglich, weil das Recht von Kindern auf sexuelle Selbstbestimmung schwerer wiegt als das Recht der Pädophilen auf normative Autonomie. In diesen Fällen ist der Konflikt also unauflösbar. Die Vertreter des gesellschaftlich geltenden Normensystems haben in diesen Fällen keine andere (für sie normativ akzeptable) Wahl, als die von den Dissidenten abgelehnten Normen zwangsweise durchzusetzen, sofern dies möglich ist. Doch dass dies für sie die einzige akzeptable Vorgehensweise ist, ändert nichts daran, dass derartige Zwangsgesetze sich gegen Menschen richten, die diese Gesetze nicht akzeptieren und sie nicht rationalerweise akzeptieren müssen.

Immanuel Kants ›Grundlegung‹ der Metaphysik im Horizont Von Martin Heideggers ›ontisch-ontologischer Differenz‹ Claudia Bickmann

I. Einführung Heidegger: Die Grenze des Satzes vom zureichenden Grunde – Kant und Schelling als Bezugsfiguren auf dem Wege zum Wesen des Grundes In seiner frühen Schrift »Vom Wesen des Grundes«1, gibt Martin Heidegger zu bedenken, dass die Frage nach dem Problem des Grundes, insofern es sich dabei um eine Kernfrage der Metaphysik überhaupt handele, auch dort lebendig sein müsse, wo sie nicht ausdrücklich in der bekannten Gestalt des Satzes vom Grunde thematisiert werde – wie etwa in Kants Idee der Einheit der Apperzeption oder Schellings Rede vom ›Ungrund‹ in seiner Freiheitsschrift.2 Werde dieses Prinzip jedoch explizit zur Sprache gebracht, wie bei Crusius und Leibniz, so sei es mitnichten jedoch bereits hinreichend bedacht, sondern viel mehr verstellt als gelöst, wenn es uns in der Aussage-Satzgestalt eines Grundsatzes entgegentrete. Denn durch den nexus der Identität in der Verbindung von Subjekt und Prädikat in einem Satze könne gar nicht hinreichend geklärt werden, aufgrund wovon das Subjekt mit dem Prädikat der Rede in Übereinstimmung stehen, d. h. einstimmig genannt werden soll. Vielmehr verweise ihre wahrheitsstiftende Verknüpfung auf ein Prä-prädikatives, aufgrund dessen allein ihr nexus begreiflich gemacht werden könne. Die Frage nach dem Grund ihrer Einstimmigkeit sei darum nur mit Bezug auf ein Etwas, bezogen auf das die urteilende Verknüpfung zwischen beiden, d. h. ihre Zusammenstimmung, allererst möglich werde, zu beantworten.3 Doch sei die prä-prädikative Dimension, auf die in der urteilenden Verknüpfung der Vorstellungen verwiesen werde, nicht allein durch ein sogenanntes Etwas – ein anschaulich Gegebenes, erschöpfend bedacht; vielmehr gelte es, »die Wahr-heit von Vorhandenem (z. B. der materiellen Dinge) als Entdecktheit spezifisch von der Wahrheit des Seienden, das wir selbst sind, der Erschlossenheit des existierenden Daseins«4, deutlich zu unterschieden, so dass zugleich gelten könne, dass »das verbindungsfreie, schlichte Vorstellen von Etwas«5 zwar für die Vergegenständlichung seine Funktion haben mag, »die prä-prä-

Vgl. Martin Heidegger: Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken, Gesamtausgabe Abt. 1, veröffentlichte Schriften Bd. 9, Frankfurt/M., 2004, 123–177. 2 Ebd., 125 ff. 3 Ebd., 129. 4 Ebd., 130 f. 5 Ebd., 131. 1

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dikative Offenbarkeit der Phänomene aber zuvor durch ein Verständnis des Seins des Seienden geführt sein müsse«6, das nur in einem »Sichbefinden inmitten von Seiendem und in den hierin mitgegründeten strebensmäßigen und willentlichen Verhaltungen zum Seienden«7 geschehe. So sei »der Satz vom Grunde« darum allenfalls ein Wegweiser in die Richtung der Analyse des Wesens des Grundes, nicht aber könne er selber bereits die Antwort auf die Frage nach seinem Wesen sein.8 Kant wie nach ihm Schelling seien zwar auf dem rechten Wege, das Wesen des Grundes am rechten Ort zu bedenken, nicht aber sei ihre Analyse tief genug in den Bezirk vorgedrungen, in dem allein das Wesen des Grundes beheimatet sei: Im Bezirk der Transzendenz.9 Schellings Rede vom Ungrund oder Ab-grund der menschlichen Vernunft, den er in seiner »Freiheitsschrift« als den Orte der Indifferenz jenseits aller Polaritäten zum Ausdruck bringt, mag als ein vorsichtiger Anklang an Heideggers eigene Topographie der Rede vom Wesen des Grundes im Bezirk der Transzendenz wie des »notwendig ontisch-ontologisch gegabelte(n) Wesen(s) der Wahrheit«10 nachvollziehbar sein. Doch was kann der Bezirk der Transzendenz als Ort des Wesens der Wahrheit bezogen auf die kantische Analyse des Grundes bedeuten? Hatte Kants Transzendentalphilosophie nicht eine jede Erkundung im Bezirke der Transzendenz als dialektischen Schein zurückgewiesen und darum das Problem des zureichenden Grundes im Rahmen seines kosmologischen Weltbegriffs nur mehr als regulative Idee der Vernunft zur Sprache gebracht? Und kann sein ›oberster Grundsatz der synthetischen Urteile a priori‹ – als Grund der Einheit aller Erfahrungserkenntnisse jenen Ort anzeigen, den Heidegger mit den Bezirk der Transzendenz im Auge hat und durch den das ›ontisch-ontologisch gegabelte Wesen der Wahrheit‹ auch in der kantischen Philosophie, – wenn auch nur indirekt, – ihren Niederschlag finden könnte? Doch so wie Martin Heidegger Kants obersten Grundsatz der Einheit der Apperzeption in die Nähe zu seiner eigenen Analyse des Wesens des Grundes rückt, insofern das Prinzip der Einheit, das einfache Ich, gegenüber den verknüpften Vorstellungen transzendent sei11, so wird die Spur der Kantischen Philosophie in die Richtung der Analyse des Wesens vom Grunde im Bezirk von Transzendenz neu zu bedenken sein. Welches nun ist die eigentliche Stellung des Wesens des Grundes in der kantischen Philosophie? Reicht der Bezug auf die dritte Antinomie bzw. den »obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile«12, um den Ort des Problems des Grundes in der kantischen Philosophie zu beschreiben? Ist Martin Heideggers Verankerung des Wesens des Grundes im Bezirk der Transzendenz der kantischen Perspektive vergleichbar, in der ein gegenüber seinen Prädikaten transzendentes einfaches Ich zugleich Grund der Prädikate, die seine Gedanken sind, genannt werden kann? Oder müssen wir mit Blick auf Kants 6 7 8 9 10 11 12

Ebd. Ebd. Ebd., 136. Ebd., 137. Ebd., 134 Ebd., 135/136. Vgl. Immanuel Kant: KrV B 131 ff.

Immanuel Kants ›Grundlegung‹ der Metaphysik im Horizont von Martin Heidegger

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Analyse des Wesens des Grundes einen anderen systematischen Ort ausfindig machen, der nicht allein die Funktionen des Denkens, sondern auch der Gegenstände des Denkens – wie Kants Idee einer Welt unter moralischen Gesetzen – in einer transzendentalen Reflexion auf einen zureichenden Grund zu stellen vermag? Dieser systematische Ort hätte dann zwar einen dem Ich als höchstem Orte der Logik und Transzendentalphilosophie13 vergleichbaren Status, wonach »durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket«, »nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorgestellt (werden kann, C.B.) = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind (kursiv, C.B.), erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können«14, welches aber als ein vergleichbares ›übersinnliches Substrat‹15 nicht bloß Prinzip des Denkens, sondern ebenso der Gegenstände des Denkens – wie der Idee des Seinsganzen, der Idee einer Welt unter moralischen Gesetzen – genannt werden müsste. Denn es bedarf, so Kant, etwa für die Möglichkeit, unseren eigenen Willen mit dem aller anderen ineinszusetzen, – wie dies im kategorischen Imperativ voraussetzt ist – eines Grundes, der die Möglichkeit dieses transzendentalen Prinzips auch begreiflich machen kann. Die These der folgenden Ausführungen lautet nun: Kants Prinzip der Einheit der Apperzeption, das er als Grund für die Rechtfertigung der Annahme der regelgeleiteten Verstandeshandlungen in Anschlag bringt, fungiert allein als Prinzip der Logik und Transzendentalphilosophie16, nicht aber zugleich als Prinzip der Rechtfertigung der Vernunfteinheit der Zwecke (in einer Welt unter moralischen Gesetzen) bzw. der Zweckeinheit der Vernunft (der Vernunft als eines mit sich einigen Organs). Der Vernunftbegriff muss, so Kant, in einer der transzendentalen Deduktion vergleichbaren ›Quasi-Deduktion‹17 der reinen Vernunftbegriffe durch ein Prinzip gerechtfertigt werden, das die Übereinstimmung aller Vernunftzwecke in einer systematischen Einheit begreiflich machen kann. Die These der folgenden Ausführungen lautet: Kants Analyse des »Wesen des Grundes«, ist nicht allein auf Teilbereiche seiner Philosophie beschränkt, sondern sie betrifft die Grundlegung seiner Philosophie insgesamt, die Analyse der Vernunft und ihrer Vermögen wie der Idee einer aus vernünftigen Gründen möglichen moralischen Welt.18 Beide Vernunfteinheiten, die zweckmäßige Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst, so wie die Idee der vernünftigen Einheit aller Zwecke in diesem durchgängig bestimmten Ganzen, müssen ihrerseits auf den Grund ihrer Möglichkeit hin durchsichtig gemacht werden können und aus einem einfachen Prinzip begreiflich sein. Dies zu verdeutlichen, werden wir in einem ersten Schritt Kants Rede von der »Vernunft als einem Organ, in dem alle Teile in ihren Funktionen zusammenstimmen müs-

13 14 15 16 17 18

Ebd., B 134. Ebd., B 404 A 346. Vgl. Immanuel Kant: KU 196. Vgl., KrV B 134. Ebd., B 697. Ebd., B 843.

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sen und keines fehlen kann, ohne das Ganze zu stören«19, in den Kontext der vierfachen Ursache rücken, die bereits Aristoteles in seiner Metaphysik und Physik als die Quelle des Wesens des Grundes zur Sprache gebracht hat und auf die Heideggers eigene Analyse vom Wesen des Grundes selber zurückgeführt werden kann. Die These lautet: So wie Heidegger die aristotelische Analyse der materialen, der formalen, der Wirk- und der Zieleinheit des Einzelnen wie der Ordnung insgesamt als Heuristik auf dem Wege der zureichenden Bestimmung des Wesens des Grundes dient20, was hier nicht näher gezeigt werden kann, finden wir auch in der Grundlegung der Systemanlage der kantischen Vernunftkritik jene Heuristik der aristotelischen vierfachen Ursachenlehre, durch die ähnlich wie in Heideggers Daseinsanalyse der Weg in den Bezirk der Transzendenz vorbereitet wird. In diesem aber Kants Analyse des »Wesens des Grundes« zu finden, bedarf einiger vorbereitender Schritte.

1. Kants Topographie des Wesens des Grundes: vierfache Wurzel des Wesens vom Grunde? »… Die Zweckmäßigkeit der Natur auf Gründe (bringen, C.B.), die priori mit der inneren Möglichkeit der Dinge unzertrennlich verknüpft sein müssen…«21 Beginnen wir mit der Idee der Finalität der kantischen Philosophie: der Idee einer mit sich einigen Vernunft, die nur im systematischen Ganzen einer Analyse aller Vernunftzwecke hinreichend zu begreifen sei. Eine Erläuterung der These vom Charakter der Vernunft als einer in sich selbst finalisierten zweckmäßigen Einheit lässt es in der gebotenen Kürze sinnvoll erscheinen, zunächst Kants Ausführungen zum »letzten Zweck des reinen Gebrauchs seiner Vernunft«22 ins Auge zu fassen. Um der systematischen Einheit aller Zwecke in einem durchgängig bestimmten Ganzen willen23 klingt hier das Prinzip an, durch das die natürlichen Erscheinungen der Sinnenwelt mit unseren freien moralischen und intelligiblen Zwecken durchgängig zusammenstimmen können soll. Die Rede ist von demjenigen Prinzip, das Kant sowohl in seiner Dialektik der reinen Vernunft wie auch im Methodenteil seiner teleologischen Urteilskraft als Fluchtpunkt der gesamten Seins- und Sollensordnung wie auch als Endzweck der sich selbst bestimmenden Vernunft begreift24: die Idee der systematischen Einheit der Zwecke. Denn die erstrebte Übereinstimmung aller Zwecke in der moralischen Welt macht, so Kant, den Gedanken einer zweckmäßigen Einheit aller Dinge erforderlich, die »dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen«25, so 19 20 21 22 23 24 25

Ebd., B XXII. Martin Heidegger: Wesen des Grundes, a. a.O., 124. KrV, B 845 B 817 Ebd., 825 A 797. Ebd., B 601 A 573. Ebd., B 825 A 797 und KU 434 ff. (§ 84 ff.) Ebd., B 843 A 815.

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wie eben die sittliche Welt nach allgemeinen und notwendigen Sittengesetzen – und es sei eben kraft jener »Idee der systematischen Einheit der Zwecke«, dass die praktische Vernunft mit der spekulativen auf einen gemeinsamen Grund ihrer Möglichkeit zurückgeführt werden könne.26 Darum müsse die Welt »als aus einer Idee entsprungen« vorgestellt werden, wenn sie nämlich mit »demjenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, (…) dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammen stimmen soll«.27 Was soll dies heißen, die Welt als aus einer Idee entsprungen vorzustellen? Indem Kant die Zweckeinheit der Vernunft, wonach die Vernunft so vorgestellt werden muss, dass sie als ein Ganzes aus miteinander wohl abgestimmten Vermögensleistungen aufgefasst werden kann, zugleich als Quelle wie auch als Prinzip der Vernunfteinheit aus Zwecken begreift, nach welcher die Welt unter moralischen Gesetzen als Fluchtpunkt der Selbstbestimmung vernünftiger Wesen erstrebt werden kann, wird die Vernunft und ihre Zwecke zunächst näher zu betrachten sein: Im Begriffe der Vernunft lassen sich die vernünftigen Gründe von erfahrungs- oder verstandesbezogenen und diese wiederum von sinnlichkeits- und sinnbezüglichen Gründen in einem hier nur angedeuteten Sinne wie folgt unterscheiden: So wie der Verstandesbezug der Erfahrungen zu den epistemischen Funktionen der Vernunft gehört, so wird die Vernunft im engeren Sinne jedoch als ein Vermögen zu charakterisieren sein, das zugleich der Integration all dieser Vermögensleistungen, – der sinnes-, der verstandes- wie der urteilskraftbezüglichen Funktionen dient, – Funktionen, die ihrerseits in einem besonderen Verhältnis zueinander stehen müssen, wenn denn die sinnesbezüglichen Fundamente unseres Erfahrungswissens von den analysierenden und synthetisierenden Verstandes- wie Urteilsfunktionen und diese wiederum von den integrierenden Vernunftfunktionen dahingehend zu unterscheiden sind, dass die den Sinnen gegebenen Phänomene durch den Verstand interpretiert und schließlich durch die Vernunft begriffen, d. h. aus Gesetzen abgeleitet oder auf diese zurückgeführt werden können. Die Vernunftgründe haben dann ihrerseits gegenüber der Rede von vernünftigen Gründen, in denen das Vernünftige bloß als Attribut zu möglichen Gründen fungiert, in der Vernunft selbst ihren Sitz: Und während vernünftige Gründe von allem nur denkbaren Wissen und Handeln erkundet werden können, sucht sich die Vernunft in der Analyse ihrer Vermögen, sich die Gründe ihrer eigenen Möglichkeit zu nehmen. Indem die Selbsterhellung der Vernunft dann in ihre eigenen Bedingungen hineinzufragen sucht, folgt sie einer transzendentalphilosophischen Fährte, d. h. sie sucht in reflektierender Abstraktion in solche Funktionen hineinzufragen, die wir je schon in Gebrauch genommen haben. Und während dann die Analyse vernünftiger Gründe in einer intentio recta selbstverloren im Objektbezug auf die Rechtfertigung des Wissens und Handelns aus möglichen Prinzipien bezogen ist, ohne auf Struktur und Genese der Tätigkeit selbst das Augenmerk zu lenken, so wendet die Analyse der Vernunftgründe den Blick zurück 26 27

Ebd. Ebd.

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auf die Vernunft selbst und ihre Vermögensleistungen und sucht in die Gründe möglicher Gegenstandsbeziehung wie der freien Selbstgesetzgebung hineinzufragen.

Materiale und formale Funktionen der Vernunft Betrachten wir nun den zugrundeliegenden Vernunftbegriff in einem engeren Sinne, so werden wir bezogen auf die Vernunft ähnlich wie bezogen auf die Verstandesfunktionen die formale Seite von der materialen Seite, und beide wiederum ihrer Wirk- und Finalursache nach unterscheiden können. Hatte Kant den Versuch unternommen, aus den formalen Funktionen des Verstandes, den Urteilsformen, diejenige funktionalen Begriffe zu gewinnen, durch die den Formen des Urteilens zugleich transzendentale Inhalte, d. h. die Kategorien, zukommen sollten28, – so sollte die Einheit des einfachen Ich zugleich als Grund und Quelle aller synthetischen Verknüpfungsleistungen wie als Grund der Übereinstimmung unserer Gedanken bezogen auf die Gegenstände möglicher Erfahrung unseren Objektbezug derart garantieren, dass gesagt werden kann: die Übereinstimmung unserer Gedanken unter einander sind ebenso viele Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung.29 Diese Zielsetzung der Analytik der reinen Verstandesbegriffe, welche die formale und die materiale Analyse im einheitsstiftenden Prinzip, der transzendentalen Einheit der Apperzeption, verklammert und auf einen gemeinsamen Grund zu stellen sucht, findet nun ihr Pendant in der Genese und Rechtfertigung der Vernunftbegriffe, der Ideen, aus den formalen Operationen der Vernunft. Und während die Verstandesfunktionen dann allein bezogen auf einen formalen Begriff von einem möglichen Gegenstand überhaupt untereinander übereinstimmen sollen, kann die Vernunft mit ihren Begriffen, den Ideen, mögliche Gegenstandsbegriffe auch in einem materialen Sinne aus transzendentalen Prinzipien begreiflich machen.30 Denn die Idee eines in all seinen Momenten durchgängig bestimmten Einzelnen wie der Ordnung insgesamt gehört in den Bereich der materialen Prinzipien, die Kant Ideen nennt.31 Und so wie dann die Übereinstimmung der Verstandesfunktionen untereinander bezogen auf den Gedanken eines möglichen Gegenstandes überhaupt ein Prinzip erforderlich macht, das die Übereinstimmung bezogen auf ein zugrundeliegendes X auch rechtfertigen kann, so bedarf auch die Vernunft eines Prinzips, das die Integration der materialen Gegenstandsbegriffe, d. h. der Ideen, auf den Grund ihrer Möglichkeit zurückzuführen vermag. Auch wenn es dann keine vergleichbare ›objektive Deduktion‹ der Vernunftbegriffe geben kann, da die Vernunft nicht direkt auf Gegenstände möglicher Erfahrung, sondern allein auf den Verstand und seine Funktionen bezogen ist32, so

28 29 30 31 32

Ebd., B 106 A 80. Ebd., A 111. Ebd., B 600 A 572. Ebd., B 604 A 576. Ebd., B 359 A 302.

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hat Kant doch, der Einsicht in die Notwendigkeit der Übereinstimmung der Vernunftbegriffe bezogen auf das ihnen apriori zugewiesene Objekt willen, es für entscheidend gehalten, auch die Vernunftfunktionen unter einander aus einem Prinzip begreiflich zu machen, das er eine ›Quasi-deduktion der reinen Vernunftbegriffe‹ nannte.33 Welches aber ist das Prinzip der reinen Vernunft, das analog zur transzendentalen Einheit der Apperzeption die Übereinstimmung aller Vernunftideen untereinander regeln kann, indem es nicht – wie die Apperzeptionseinheit – die Gegenstandserkenntnis allein in einem formalen Sinne begreiflich machen, sondern zugleich auch den Gedanken eines in all seinen Seiten durchgängig bestimmten Gegenstandes apriori antizipieren sowie die Bedingungen der Vernunfteinheit der Zwecke »auf Gründe« bringen kann?

Gegenstand und Funktion der Vernunft in einem engeren Sinne Wenn nach den vorherigen Überlegungen die Vernunftfunktionen zum Verstande wie Ideen zu den Begriffen sich verhalten, so erfüllen die Ideen der reinen Vernunft – durch die in den relationalen Urteilen greifbaren Horizonte möglicher »materialer Gegenstandsbegriffe« – für unseren Verstand die Funktion der Lesbarkeit und Interpretierbarkeit der Welt der gegebenen Erscheinungen gemäß den durch die drei Relationskategorien vorgestellten transzendentalen Gegenstände: der Idee der Einheit des Ich oder der Seele, der Idee einer durchgängig bestimmten phänomenalen Welt, in die Freiheit integrierbar sein soll, wie auch des Prinzip der Einheit beider. Denn so wie unsere Verstandesfunktionen leer bleiben ohne das gegebene anschauliche Material, auf das sie in synthetisierender und analysierender Weise bezogen sind, so bleibt der Verstand zugleich blind, wenn seine Begriffe nicht im Horizont der Ideen auch gemäß der transzendentalen Materie zu allem Gedachten, mithin also als ›transzendentale Sachheit‹, interpretiert werden. Durch die Ideen nämlich wird es allererst bestimmt, dass die gegebenen Erscheinungen in Raum und Zeit auch dem Inhalte nach als Gegenstände einer empirischen Erfahrung lesbar werden können. Denn das gegebene Sinnesmaterial einer empirischen Anschauung setzt aus sich selbst heraus weder Kategorien frei, durch die es analysiert und verstanden werden könnte, noch ist mit den Kategorien bereits die Idee vom jeweiligen Gehalte gesetzt, durch die das kategorial Bestimmte auch als ein durchgängig bestimmter singulärer Gegenstand interpretierbar und begreifbar wäre. So hat die reine Vernunft mit ihren Ideen analog dem Verstande mit seinen Kategorien eine irreduzieble Funktion für die Erkenntnis möglicher Gegenstände einer empirischen Erfahrung. Denn erst durch die Ideen der Vernunft kann unsere Erfahrungserkenntnis auch im Begriffe von einem durchgängig bestimmten Gegenstand die »Vernunfteinheit der Erscheinungen«34 hervorbringen.

33 34

Ebd., B 393 A 363. Ebd., B 383 A 326.

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Suchen wir im folgenden nun, indem wir uns auf ein mögliches Beispiel – auf den Wahrheitsanspruch eines einfachen Urteils beziehen, – nach dem systematischen Ort der formalen und materialen Vernunftfunktionen in diesem engeren Sinne, d. h. insofern die Vernunft in erkennender Absicht auf sich selbst und ihre Funktionen bezogen ist, um die Verstandesleistungen zu einer systematischen Einheit im Vernunftbegriff der Erscheinungen zu führen. Fragen wir auf transzendentalen Fährten in die Prämissen eines gegebenen Urteils hinein und suchen die Bedingungen, durch die etwa ein Satz der Art: »Alle Körper sind veränderlich« a priori möglich ist, so können wir leicht ersehen, so Kant, dass »die Wahrheit des vorliegende Satzes von Prämissen abhängig ist, die wir als entferntere Erkenntnis mit den umliegenden Urteil immer schon vorausgesetzt haben. So geht etwa der vorliegende Satz auf Prämissen der Art zurück, nach denen erstens etwa gelten muss: ›alles Zusammengesetzte ist veränderlich‹ und zweitens ›alle Körper sind zusammengesetzt.‹«35 Die Wahrheit des vorgegebenen Urteils ist dann zugleich nur unter der Voraussetzung möglich, dass nicht allein einige, sondern zugleich »alle Glieder der Reihe auf der Seite der Bedingungen« gegeben sind. 36 Wir müssen darum mit einem jeden Urteil, wenn dies wahr sein soll, zugleich »die Totalität in der Reihe der Prämissen mit voraussetzen.«37 Während auf der Seite des Bedingten, oder der Folgerungen, in einer episyllogistischen Weise nur ein potentieller Fortgang gedacht wird, der für die Betrachtung des Wahrheitsgehaltes des gegebenen Urteils der Vernunft gleichgültig ist, betrifft die präsupponierte Vollständigkeit auf Seiten der Prämissen zu einem gegebenen Urteil nicht die absteigende Reihe vom Bedingten zu weiteren Folgerungen, sondern allein die aufsteigende Reihe zu einem letzten, d. h. zureichenden Grunde, bezogen auf den die pro-syllogistische Reihe der Idee nach als vollständig unterstellt werden muss, da ansonsten das gegebene Urteil gar nicht möglich wäre.38 Und es ist diese Idee der Vollständigkeit der jeweiligen Reihe, durch die zugleich auch der formalen Begriff der Materie des Gedachten, die Idee, gewonnen werden kann. Wie ist dies vorzustellen? Blicken wir erneut auf die formale Funktion der Vernunft: Indem die Vernunft in den sog. Vernunftschlüssen, wonach »außer der zu Grunde gelegten Erkenntnis, noch ein anderes Urteil nötig (ist), um die Folge zu bewirken«39, Allgemeines und Einzelnes nach Regeln zusammenschließt, kann sie – als integrierendes Organ und »als das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln«40 unter Prinzipien – Einstimmigkeit unter den Verstandeshandlungen bezogen auf die durchgängige Bestimmung der Gegenstände der Erfahrung bewirken. Doch welches sind jene Prinzipien, die es möglich machen, die Verstandesfunktionen zur systematischen Einheit ihrer Operationen unter einander bezogen auf die Objekte zu führen? Diese Prinzipien lassen 35 36 37 38 39 40

Ebd., B 387 A 330. Ebd., B 389 A 332. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., B 359 A 302.

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sich – formal aus dem jeweiligen Verhältnis gewinnen, »welches der Obersatz, als die Regel zwischen einer Erkenntnis und ihrer Bedingung vorstellt«41. Dieses Verhältnis nämlich bildet – wie oben genannt – drei Arten von Schlüssen aus je nachdem, ob sich der Prosyllogismus 1. im Rückgang auf die zureichenden Bedingungen auf das Subjekt des Satzes bezieht, und welcher als kategorischer Vernunftschluss nach demjenigen Subjekt sucht, das nicht mehr Prädikat eines anderen genannt werden kann42; oder ob sich der Prosyllogismus 2. auf die Reihe der hypothetisch aufeinander bezogenen Urteile im Rückgang einer Bedingung auf die zureichende Bedingung einer gegebenen Erscheinung bezieht und im hypothetischen Vernunftschluss nach dem Unbedingten in der Reihe des Bedingten – d. h. nach dem zureichenden Grunde fragt. 43 Nach der zweiten Relationskategorie ist der Prosyllogismus zugleich der Ort für das »Prinzip des zureichenden Grundes« im Rahmen der Kosmologie. Schließlich kann 3. der disjunktive Vernunftschluss als derjenige Schluss aufgefasst werden, der in der Reihe der Totalität der Prämissen, die Einheit der Bedingungen »aller Gegenstände des Denkens überhaupt«44, mithin also die Idee eines Seinsganzen enthält. Die Idee der Totalität aller Bedingungen, d. h. »der gefolgerten Kenntnisse auf der Seite der Gründe«45 ist mit diesen drei Arten der Verhältnisse zugleich mitgegeben, d. h. sie ist mit den Funktionen unserer Erkenntnisse einzelner Gegenstände oder der Idee der Ordnung unweigerlich verbunden, wenn wir denn gegebene Erkenntnisse auch als zureichend gegründet ansehen wollen. Und es sind eben diese Ideen der Totalität der Bedingungen zugleich auch die Quelle für die drei möglichen Objekte des Unbedingten, insofern in den jeweiligen Schlussformen die Reihe der Bedingungen als vollständig angenommen werden. Und es kann, so Kant, nur drei und nur diese drei geben, durch die die Idee der vollständigen Reihe drei Verhältnisse in unseren Urteilen ausbildet, die am Leitfaden der drei relationalen Urteile zugleich drei Ideen des Unbedingten freisetzen, die als ein Unbedingtes bezogen auf uns selbst, auf die Welt der Erscheinungen außer uns wie auf das Prinzip der Verbindbarkeit zwischen Ich und Welt, Freiheit und Notwendigkeit bezogen sind. Und so führt 1. das absolut gesetzte Verhältnis zum Subjekt des Satzes auf dem Wege des Prosyllogismus in einem kategorischen Vernunftschluss zur Idee des Unbedingten in uns, d. h. der Idee eines Subjekts, das nicht mehr Prädikat eines anderen genannt werden kann. Auf diese Weise gewinnt Kant somit den systematischen Ort der Idee der menschlichen Seele oder des einfachen Ich als dem möglichen Gegenstand einer rationalen Psychologie. Das Verhältnis zum Prädikat des Urteils, das die Verhältnisse der Erscheinungen untereinander regelt, führt 2. in der Gestalt des hypothetischen Vernunftschlusses zur Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Am Leitfaden der Vernunftidee des zureichenden Grundes gerät dieser Prosyllogismus in den Widerstreit

41 42 43 44 45

Ebd., B 380 A 323. Ebd. Ebd. Ebd., B 392 A 335. Ebd., B 389 A 332.

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der Vernunft mit sich selbst: Die Kausalkette der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten ist in raum-zeitlichen Verhältnissen stets unabgeschlossen; doch verlangt das Prinzip des zureichenden Grundes, die Vernunftidee eines Unbedingten, die Kette der Bedingungen als vollendet zu setzen, um bezogen auf die äußeren Erscheinungen in der Reihe des Bedingten den zureichenden Grund für eine gegebene Erscheinung zu finden. Diese Idee eines zureichenden Grundes gilt Kant als Voraussetzung für seinen kosmologischen Weltbegriff. Schließlich führt 3. das Verhältnis der Urteile zueinander in einem disjunktiven Vernunftschluss zur Idee der Einheit in der Wechselwirkung aller Erscheinungen untereinander, d. h. zur Idee der gesamten Sphäre aller nur denkbaren Prädikate, durch die der Bereich aller Gegenstände des Denkens überhaupt als vollständig angenommen werden kann. Diese Idee der Totalität aller nur denkbaren Prädikate bezogen auf die gesamte Sphäre alles nur Denkbaren überhaupt ist zugleich die Idee von einem allseits durchgängig bestimmten Ganzen, die Idee einer ›omnitudo realitatis. In ihrer höchsten Steigerung vorgestellt führt sie den »transzendentalen Schein« der Idee eines Wesens aller Wesen herbei, das als Grund und Quelle alles nur Denkbaren überhaupt hypostatisch als für sich bestimmte Wesenheit aufgefaßt werden kann. Doch beruht diese Idee des Alls der Realität allein auf der formalen Struktur des disjunktiven Vernunftschluses, in welchem der Obersatz eine logische Einteilung (die Teilung der Sphäre eines allgemeinen Begriffs) enthält, der Untersatz dieser Sphäre bis auf einen Teil eingeschränkt und der Schlusssatz den Begriff durch diesen bestimmt.46 Auch wenn die drei Vernunftschlüsse zugleich Quelle dreier Objektbegriffe, der sog. Transzendentalen Ideen, Quelle auch der Materie zu aller Erkenntnis sind, – deren unkritischer Gebrauch diejenigen Fehlschlüsse nach sich zieht, die im Paralogismus der reinen Seelenlehre zur Idee einer einfachen Seelensubstanz, bezogen auf die Antinomien der reinen Vernunft zum Gedanken eines erkennbaren zureichenden Grundes der phänomenalen Welt sowie bezogen auf das transzendentale Ideal zur Annahme eines hypostatisch gedachten göttlichen Wesens führen sollte, so gehört es jedoch zum positiven Ertrag solcher Prinzipien, dass sie neben dem Formalbegriff eines ›Gegenstandes überhaupt‹ auch den Begriff eines der Materie nach durchgängig bestimmten Gegenstandes auf ein transzendentales Prinzip bringen können. Eine stufenweise Erhebung vom Bedingten zum Unbedingten ist dann zwar mit der Idee von einem zureichenden Begriff unserer Erfahrungserkenntnisse verbunden, doch strebt die Vernunft bei ihrer Erhebung vom Bedingten zum Unbedingten allein nach Vollendung der Bedingungen des Denkens, nicht jedoch der Denkbarkeit eines Unbedingten als eines möglichen Objektes der Analyse. Denn durch die Ideen des Unbedingten sind bloß die Ideen zu möglichen Begriffen, nicht Begriffe möglicher Objekte selbst, die durch diese notwendigen Vernunftprinzipien gedacht werden könnten, gewonnen. Denn auch für Kant sollte gelten: Vom Bedingten zum Unbedingten – kein Übergang!! Darum haben die Ideen der reinen Vernunft auch nur heuristische Funktionen für die systematische Einheit unserer Erkenntnisse untereinander. Als letzte Horizonte un46

Ebd., B 380 A 323.

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terstellen sie entweder das jeweils zugrundeliegende Subjekt in einem Urteil als zureichend bestimmt, den Gedanken von einem zureichenden Grund als Ort des Unbedingten in der Reihe der gegebenen Erscheinungen oder aber den Begriff eines durchgängig bestimmten Ganzen als Leithorizont in der Bestimmung der Teile einer Ordnung insgesamt. Und indem die reine Vernunft sich allein »die absolute Totalität im Gebrauche der Verstandesbegriffe« vorhält, um die »synthetische Einheit, welche in der Kategorie gedacht wird, bis zum Schlechthinunbedingten hinauszuführen«47, kann man diese ›Vernunfterscheinungen‹ nennen, wie jene, »welche in Kategorien ausdrückt Verstandeseinheit«48 genannt werden können; und es ist die Vernunfteinheit der Erscheinungen, die darauf hinausgeht, alle Verstandeshandlungen »in Ansehung eines jeden Gegenstandes in ein absolutes Ganzes zusammenzufassen.« 49 (359)

Das Ideal der reinen Vernunft im Horizont von Martin Heideggers Idee des »Wesens des Grundes« Indem nun die dritte Idee, das Ideal der reinen Vernunft, zugleich den Raum eröffnet, in Ansehung eines jeden Gegenstandes ein absolutes Ganzes denkbar zu machen, d. h. einen einzelnen in all seinen Seiten durchgängig bestimmten Gegenstand wie auch die Idee des durchgängig bestimmten Seinsganzen, so ist der systematische Ort gefunden, Martin Heideggers beanspruchte Nähe seiner Zuordnung des Wesens des Grundes erneut zum Bezirk der Transzendenz zu Kants Analyse des höchsten Prinzips seiner Philosophie zu befragen. Heideggers Kritik an der abendländischen Philosophie, nach der sie die Differenz von Sein und Seiendem grundlegend verkannt habe und in ihren Annäherungen an die jeweiligen grundlegenden Prinzipien mal die oberste Substanz, mal das höchste Gute mal die absolute Vernunft hypostatisch als ein letztbegründendes Seiendes ausgezeichnet habe50, soll nun mit Blick auf Kants eigene Lösung kurz näher bedacht werden. Im Ideal der reinen Vernunft öffnet Kant der Idee der Erkenntnis einer durchgängig bestimmten Seinsordnung den Weg in einen Transzendenzgedanken, der nicht nur den systematischen Ort des zureichenden Grundes bezogen auf die zweckmäßige Einheit der Vernunft, mithin also das höchste Prinzip einer Quasi-Deduktion der reinen Vernunftbegriffe zum Ausdruck zu bringen vermag, sondern durch welchen ebenso der Gedanken einer durch Freiheit möglichen Zweckordnung auf ein unbedingtes Fundaments zurückgeführt werden kann, das die durchgängig bestimmte natürliche Ordnung auf Gründe zu bringen vermag.

47 48 49 50

Ebd., B 383 A 326. Ebd. Ebd. Martin Heidegger: Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1956, 8 ff.

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Denn diese erst macht die Idee einer systematischen Einheit aller Zwecke in diesem durchgängig bestimmten Ganzen begreiflich, das durch den Gedanken von einem obersten übersinnlichen Substrat auf einen zureichenden Grund gestellt werden kann, der weder Natur noch Freiheit genannt werden kann und der damit aller Polarität und Dualität, aller Disjunktion voraus als Ort der Indifferenz beiden Sphären zugrundeliegt. Hier erst findet sich darum die wahre Stelle der Kantischen Idee des Wesens des Grundes, der nicht, wie Heidegger vermutet, durch die Apperzeptionseinheit des erkennenden Bewusstseins, sondern vielmehr durch das Prinzip begreiflich zu machen ist, das die gesamte Seins- und Sollensordnung »auf Gründe« zu bringen vermag. Wie können wir in Kants kritischer Philosophie eine solche Rede von einem übersinnlichen Fundament als dem zureichenden Grund der gesamten Seins- und Sollensordnung begreifen? Während ein jeder Begriff bloß unter den Grundsatze der Bestimmbarkeit steht, wonach ihm stets von zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzten Prädikaten nach dem Grundsatze des Widerspruches eines zugesprochen werden können, so steht, wie Kant in B 600 näher erläutert, ein jedes Ding, ein jeder Gegenstand, zudem noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung.51 Und es ist die Frage, wie denn ein durchgängig bestimmtes Einzelnes in all seinen Attributen von jedem nur anderen denkbaren Gegenstand hinreichend unterschieden werden kann, auf das die epistemische Funktion des Ideals der reinen Vernunft bezogen ist. Und so wie Platon am Ende seines Theaitetos die gemeinsame Stupsnasigkeit von Sokrates und Theaitetos noch immer nicht für einen hinreichenden Individualisierungsgrund d. h. Unterscheidungsgrund zwischen beiden Individuen hielt, so musste der Dialog ohne zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis enden: Denn eine »Vorstellung verbunden mit Erklärung«52 reiche nicht hin, so Platon/ Sokrates, einzelne Objekte hinreichend von einander zu unterscheiden: für eine zureichende Unterscheidung zwischen individuellen Objekten wird vielmehr wie Kant in Anlehnung an Platon ausführt, prässupponiert, dass, um ein Einzelnes zu bestimmen, die Idee eines Inbegriffs aller Möglichkeiten urbildlich vorausgesetzt ist, aus dem zugleich all die Prädikate gewonnen werden, die einem Einzelnen zugesprochen werden können, während alle anderen von ihm zu verneinen sind.53 Die Verneinung drückt dann etwas aus, was das Nichtsein an einem Gegenstande betrifft und ist darum nicht nur logische Verneinung. Der durchgängigen Bestimmung eines Gegenstandes muss vielmehr ein »transzendentales Substratum« zum Grunde gelegt werden, »welches gleichsam den ganzen Vorrat des Stoffes, (da hier alle möglichen Prädikate der Dinge genommen werden), enthält«, und dieses Substratum, so Kant, »ist nichts anderes als die Idee von einem All der Realität (Omnitudo realitatis)«.54 Darum sind »alle wahren Verneinun-

51 52 53 54

Vgl. Kant: Krv B 600 A 572. Platon: Theaitetos 210 a. Kant: KrV, B 603 A 575. Ebd., B 604 A 576.

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gen«, die zur Unterscheidung zwischen singulären Objekten führen sollen, nichts als »Schranken, welches sie nicht genannt werden könnten, wenn nicht das Unbeschränkte (das All) zu Grunde läge«.55 Es ist hier somit der systematische Ort innerhalb der kantischen Philosophie, an dem die Vernunft nicht nur bezogen auf ihre formalen Funktionen näher qualifiziert werden konnte, sondern ebenso durch die Idee eines auch der Materie nach durchgängig bestimmten Dinges an sich selbst transzendental näher zu charakterisieren ist.56 Das Ideal der reinen Vernunft ist darum im kantischen Sinne auch nicht bloß eine konkretisierte Idee, sondern eine »Idee in individuo«57, das heißt dasjenige Ideal, welches der »durchgängigen Bestimmung, die notwendig bei allem, was existiert angetroffen wird, zum Grunde gelegt werden muss, und die oberste vollständige materiale Bedingung seiner Möglichkeit ausmacht, auf welcher alles Denken der Gegenstände überhaupt ihrem Inhalte nach zurück geführt werden kann.«58

Grund und Inbegriff: eine notwendige Unterscheidung An dieser Stelle kann nun abschließend auch deutlich werden, in welcher Weise es im kantischen Sinne ähnlich wie in Heideggers Analyse des Wesens des Grundes auf die Unterscheidung zwischen Grund und Inbegriff nicht verzichtet werden kann, wenn denn die Rede vom Grunde nicht in einem Regress, einem Zirkel oder in einer dogmatischen Setzung münden soll: Kant gewinnt die Unterscheidung zwischen Grund und Inbegriff, die dem Verhältnis von Transzendenz und Immanenz wesensverwandt ist, wie folgt: Da der allgemeine Begriff der Realität, der in einer transzendentalen Analyse mit dem auch der Materie nach zureichenden Grunde verbunden ist, nicht Apriori eingeteilt und eingesehen werden kann, weil man ohne Erfahrung keine bestimmten Arten von Realitäten kennt, die unter einer Gattung enthalten wären, so muss »der transzendentale Obersatz der durchgängigen Bestimmung aller Dinge nichts anderes als die Vorstellung eines Inbegriffs aller Realität mithin also ein Begriff, der nicht bloß alle Prädikate unter sich, sondern sie vielmehr in sich begreift,« 59 aufgefasst werden, so dass gesagt werden kann: »Die durchgängige Bestimmung eines jeden Dinges beruht dann auf der Einschränkung dieses All der Realität, in der nämlich einiges derselben dem Dinge beigelegt wird, das übrige aber ausgeschlossen wird, welches (…) mit dem Entweder Oder des disjunktiven Obersatzes und der Bestimmung des Gegenstandes durch eines der Glieder dieser Teilung im Untersatze übereinkommt«60.

55 56 57 58 59 60

Ebd., B 601 A 573. Ebd., B 604 A 576. Ebd., B 595 A 565. Ebd., B 604 A 576. Ebd., B 606 A 578. Ebd., B 607 A 579.

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Die Mannigfaltigkeit aller Dinge kann dabei als eben so viele Arten aufgefasst werden, den Begriff der höchsten Realität, nämlich ihr gemeinschaftliches Substratum, einzuschränken, so wie alle Figuren nur verschiedene Arten sind, den unendlichen Raum einzuschränken. So nimmt das Ideal der reinen Vernunft nach dieser Idee des durchgängig bestimmten Ganzen die Stelle eines Urbildes (prototypon ideale) aller Dinge an, welche insgesamt nur als seine mangelhaften Kopien (Ecypta) den Stoff zu ihrer Möglichkeit daher nehmen und dem Urbilde mehr oder weniger nachkommen.61 Doch sieht Kant deutlich die Schwierigkeit, die mit dieser die Idee eines solchen Inbegriffs alles nur Denkbaren überhaupt, d. h. mit dem Gedanken des Alls der Realität verbunden ist: Werden nämlich Idee und Begriff identifiziert, indem die Idee von einem der Erkenntnis zugrundeliegenden Substrat aller Prädikate, mit der aus ihm abgeleiteten Begriffssphäre identifiziert wird, so würde das Ideal aus seiner Funktion als transzendentales Substratum und Prädikationsgrund für alle Prädikation im Einzelnen, herausgelöst und mit dem empirischen Begriff einer sinnlich-sittlichen Ordnung identifiziert. Die Konsequenz wäre, so Kant, eine Ineinssetzung des Grundes mit seiner Folge. Eine solche Identifikation von Grund und Inbegriff würde dann entweder eine zirkuläre, regressive oder dogmatische Begründung nach sich ziehen. Darum kann, so Kant, die Ableitung aller anderen Möglichkeit von diesen einigen Urwesen, in dem wir alle Prädikate wie in einer höchsten Realität vereint voraussetzen, – genauer betrachtet, – auch nicht als eine Einschränkung seiner höchsten Realität und gleichsam als eine Teilung desselben angesehen62 werden, weil dann das übersinnliche Substrat nur als ein Aggregat von abgeleiteten Wesen angesehen würde, – sondern es kann die Möglichkeit der Ableitung aller Dinge von diesem Urwesen, als höchste Realität, nur begreiflich machen, wenn wir es nicht als Inbegriff aller Erkenntnis zum Grunde legen und die Mannigfaltigkeit der Ersteren somit nicht auf der Einschränkung des Urwesens beruht, sondern seiner vollständigen Folge, zu welcher eben dann auch die ganze Sinnlichkeit samt der Realität in der Erscheinung gehören würde, die natürlich der Idee des höchsten Wesens als Ingredienz nicht zukommen kann.63 So gilt auch im kantischen Sinne absolute Transzendenz als Grund der Möglichkeit, den Gedanken des Einzelnen wie der Idee einer durchgängig bestimmten Seinsordnung begreiflich zu machen; denn das höchste Prinzip muss als Grund und Substrat, als ein Fundament aufgefasst wird, in dessen Lichte oder Horizonte allererst die Idee der Ordnung aus Zwecken wie der Zweckeinheit der Vernunft greifbar werden kann; als Horizont, dem gegenüber die begrifflichen Struktur einer Omnitudo realitatis bloß ein Abgeleitetes ist, das im übersinnlichen Substrat die Idee zu ihren Begriffen gewinnt, um in ihrem Endzweck die Ordnung durch freie Selbstgesetzgebung auf einen zureichenden Grund zu stellen. Als ein solches übersinnliches wie über-begriffliches Fundament kann darum auch im kantischen Sinne das Prinzip und Wesen des Grundes vorgestellt wer61 62 63

Ebd. Ebd. Ebd.

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den, wenn es nicht nur die Vernunfteinheit der Zwecke, sondern auch die Zweckeinheit der Vernunft noch auf Gründe bringen will. So finden wir auf recht subtile Weise an versteckter Stelle in Kants kritischem Hauptwerk die Frage nach dem Problem des Grundes lebendig, – eben dort, wo auch Martin Heidegger sie zu finden sucht und wo sie nicht ausdrücklich in der bekannten Gestalt des Satzes vom Grunde thematisiert wird. Denn der Grund und das Substrat der Seinswie der Erkenntnisordnung wird auch im Sinne Kants nur im Lichte eines Horizontes, einer Idee greifbar, »aus der selbst die Welt als entsprungen vorgestellt werden muss«, wenn sie nämlich mit »demjenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, (…) dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammen stimmen soll«.64 An dieser Stelle kann dann auch deutlich werden, inwiefern Kant mit der notwendigen Unterscheidung von Grund und Inbegriff eine der ontisch-ontologischen Differenz vergleichbare Unterscheidung eingeführt hat: eine Differenz zwischen der begrifflichen Analyse der Gegenstände der Erfahrung, den Seienden, und den vorbegrifflichen leitenden Ideen als derjenigen transzendentalen Horizonte, durch die eine begriffliche Analyse allererst ihren leitenden Fluchtpunkt – d. h. die Idee eines vollständig bestimmten Ganzen – gewinnt. Und so wie Martin Heidegger in seiner Technikphilosophie eine Neubesinnung auf Platons Ideengedanken versucht, indem er sie als einen bloß vorgängigen Horizont um die Idee des Selbstverhältnisses im Weltbezug zu erweitern sucht, rückt sie – ihrem logischen Status nach – in die Nähe zu Kants Idee einer Welt unter moralischen Absichten. Sowie in Heideggers Sinne Sein und Seiendes deutlich zu unterscheiden sind, ist somit im kantischen Sinne Idee und Begriff korreliert: denn so wie im kantischen Sinne etwa bezogen auf das Ideal der reinen Vernunft als ein übersinnliches Substrat nichts von alle dem sein konnte, was aus ihm begreiflich gemacht werden soll, auch wenn es allem Einzelseienden als transzendentaler Horizont zugrunde liegt, soll auch im Sinne Heideggers das Sein alles Seienden nicht selbst mehr unter die Seienden fallen können, sondern allein jene Horizonthaftigkeit zum Ausdruck bringen, innerhalb derer sich ein jeweiliges Seiendes allererst lichten und offenbaren kann – eben dies ist für Heidegger wie für Kant der Ort oder Bezirk der Transzendenz, der unser ›In-der-Weltsein‹ allererst begreiflich und unsere freie Selbstverhältnis möglich machen kann.

64

Ebd., B 843 A 815.

Gründe in Hegels Handlungstheorie. Zum Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie Walter Mesch

Wer nach Hegels Verständnis von vernünftigen Gründen oder Vernunftgründen fragt, kann auf verschiedene Texte und Themen blicken. Dies gilt sowohl für eine Untersuchung, die sich am Begriff der Vernunft orientiert, als auch für eine Untersuchung, die vom Begriff des Grundes ausgeht. Im ersten Fall dürfte primär auf die Vernunftkapitel in der Phänomenologie und die Kapitel zum subjektiven Geist in der Enzyklopädie, im zweiten Fall primär auf das Kapitel zum Grund in der Wesenslogik zu blicken sein. Außerdem sind Handlungsgründe zu berücksichtigen, die nicht nur, aber vor allem in der Philosophie des objektiven Geistes diskutiert werden, sei es nun in der Enzyklopädie oder in der Rechtsphilosophie. Ein isolierender Zugriff ist problematisch, weil Hegel weder strikt zwischen Erklärungs- und Handlungsgründen unterscheidet, noch die Vernunft als ein eigenständiges Vermögen neben Verstand und Geist betrachtet. Aber natürlich lassen sich auch in einer einheitsphilosophischen Konzeption, die letztlich den sich selbst begreifenden Begriff zur Darstellung zu bringen versucht, Schwerpunkte setzen. Mir geht es in meinem Beitrag vor allem um Hegels Verständnis von Handlungsgründen, wie es im Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie entwickelt wird. Das Kapitel ist hierfür schon deshalb einschlägig, weil es den Begriff des Subjekts in radikaler Weise auf den Begriff der Handlung bezieht. Im Zentrum steht dabei eine prägnante These: »Was das Subjekt ist, ist die Reihe seiner Handlungen.« (§ 124)1 Als Grundlage dient die Auffassung, dass Handlungen im Wesentlichen nichts anderes sind als Äußerungen des subjektiven oder moralischen Willens. Um diese Auffassung zu erläutern, entwickelt Hegel bekanntlich keine Ethik, sondern eine Handlungstheorie, die sich einerseits kritisch mit Kant auseinandersetzt und andererseits von der Theorie des abstrakten Rechts zum Sittlichkeitskapitel überleitet.2 Über weite Strecken tritt die Kritik an einer bloß formellen Moralität so stark in den Vordergrund, dass man häufig gemeint hat, dem Kapitel seien überhaupt keine greifbaren Resultate zu entnehmen.3

Hegel zielt dabei vor allem auf eine qualitative Differenz: »Sind diese [Handlungen] eine Reihe wertloser Produktionen, so ist die Subjektivität des Wollens ebenso eine wertlose; ist dagegen die Reihe seiner Taten substantieller Natur, so ist es auch der innere Wille des Individuums.« (§ 124) 2 Zu den handlungstheoretischen Aspekten des Moralitätskapitels vgl. vor allem Josef Derbolav: Hegels Theorie der Handlung, in: Hegel-Studien 3 (1965), 209–223; Michael Inwood: Hegel on Action, in: Idealism – Past and Present, hg. von Godfrey Vesey, Cambridge 1982, 141–154; Miguel Giusti: Bemerkungen zu Hegels Begriff der Handlung, in: Hegel-Studien 22 (1987), 51–71; Francesca Menegoni: Soggetto e struttura dell´agire in Hegel, Trento 1993 und Michael Quante: Hegels Begriff der Handlung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993. 3 Im Hintergrund steht meist die Auffassung, dass sowohl Hegels Kant-Kritik als auch die von ihm 1

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Demgegenüber ist immer wieder zu Recht darauf hingewiesen worden, dass es Hegel hier nicht nur darum gehen kann, seine umstrittene Kantkritik zu entwickeln. Das Kapitel muss vielmehr auch einen konstruktiven Beitrag zu seiner Philosophie des objektiven Geistes leisten, und zwar vor allem in seinen ersten beiden Abschnitten.4 Ich möchte im Folgenden erläutern, inwiefern dies nicht zuletzt für Hegels Verständnis von Handlungsgründen gilt. Als Ausgangspunkt bieten sich die verschiedenen Dimensionen der Allgemeinheit an, die Hegel praktischen Zwecken zuschreibt. Dabei interessiert mich weniger das Zurechnungsproblem als das »Recht des Subjekts, in der Handlung seine Befriedigung zu finden«, das nach Hegel zwar auf das Wohl als den subjektiven Wert einer Handlung zielt, aber objektive Zwecke keineswegs ausschließt, und der problematische Status eines Guten, das Wohl und Recht vereinen soll, ohne in Sittlichkeit fundiert zu sein. Ich konzentriere mich allerdings nicht so sehr auf die kritischen Aspekten des dritten Abschnitts »Das Gute und das Gewissen« als auf die affirmativen Aspekte der ersten beiden Abschnitte »Der Vorsatz und die Schuld« und »Die Absicht und das Wohl«. Im Zentrum meiner Überlegungen steht also Hegels Konzeption des Wohls bzw. des Glücks und ihre Verbindung mit seinem Verständnis von Handlungsgründen. Hegel spricht in Bezug hierauf vom »Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe« (§ 132, Anm.). Wie ist diese Bedingung zu verstehen? Einerseits betont Hegel, es sei das höchste Recht des Subjekts, eine »Verpflichtung aus guten Gründen [einzusehen]«. Andererseits tut dieses subjektive Recht, wie er sagt, dem »Rechte der Objektivität keinen Eintrag«, weil es bloß formell ist und in seiner Verwirklichung von der individuellen Bildung abhängt. Es ist nicht leicht, diese spannungsgeladene Dopplung einzuschätzen. Aber offensichtlich verweist sie nach Hegel auf einen Konflikt im Handelnden selbst, der nur durch eine erfolgreiche Bildung im sittlichen Kontext zu bewältigen ist und deshalb die kontroverse Aufhebung von Moralität in Sittlichkeit verlangt.

angestrebte Aufhebung von Moralität in Sittlichkeit als verfehlt betrachtet werden muss. Vgl. etwa Ernst Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt/M. 1979, 349 ff. und Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/M. 2000, 219 ff. Schnädelbach geht nicht so weit wie Tugendhat, der in Verstärkung der alten Kritik Hayms bei Hegel eine »moralische Perversion« ausmacht, weil dieser »die Möglichkeit eines selbstverantwortlichen, kritischen Verhältnisses zum Gemeinwesen« nicht zulasse (349). Aber auch Schnädelbach sieht in der Rechtsphilosophie eine »unübersehbare Reduktion des Individuums auf einen Funktionsträger des sittlich Allgemeinen« (346), einen »Theoretizismus«, der Normen nur in der »Beobachterperspektive« zu thematisieren erlaube (350), und eine »Geschichtsfrömmigkeit als säkularisierte Form christlicher Frömmigkeit« (352). Dabei wird Hegel so durchgängig an Kant gemessen, dass es nicht überraschen kann, wenn Schnädelbach am Ende seines Kommentars auch ausdrücklich von Hegel zu Kant zurückkehren möchte (353). 4 Vgl. Ludwig Siep: Was heißt »Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit« in Hegels Rechtsphilosophie? In: Ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992, 217–239, bes. 218 und Wolfgang Bartuschat: Die Glückseligkeit und das Gute in Hegels Rechtsphilosophie, in: Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus, hg. von Vittorio Hösle, Hamburg 1989, 77–100, bes. 83 und 99.

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I. Ursachen, Gründe und Motive Um den Zugriff auf Hegels Verständnis von Handlungsgründen zu erleichtern, beginne ich mit einer Vorbemerkung zu begrifflichen und theoretischen Voraussetzungen. Besonders wichtig ist dabei das umstrittene Verhältnis von Ursachen, Gründen und Motiven. Wie man ihren Zusammenhang auffasst, hängt nicht nur von handlungstheoretischen Voraussetzungen ab, sondern auch davon, welche Ethik, Philosophie des Geistes, Wissenschaftstheorie und Ontologie man zugrundelegt, und sei es auch nur ansatzweise und unausdrücklich. Vor diesem breiten Hintergrund ist schon die Differenz von Ursachen und Gründen keineswegs leicht zu fassen. Jedenfalls erschließt sie sich schwerer, als eine einfache Zuordnung zu physikalischen Ereignissen einerseits und menschlichen Handlungen andererseits suggerieren könnte. Und erst recht gilt dies für Motive, die, zumindest äußerlich betrachtet, zwischen Handlungsursachen und Handlungsgründen stehen, was jene einfache Zuordnung ebenfalls zu unterlaufen droht. Die Schwierigkeit liegt nicht nur darin, dass die Vielfalt möglicher Gründe unabsehbar groß zu sein scheint. Sie liegt auch darin, dass diese Gründe aus recht unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden können. Geht man etwa davon aus, dass Handlungen Ereignisse sind, liegt es nahe, ihre Besonderheit darin zu sehen, dass es sich um Ereignisse handelt, die aus Gründen geschehen oder doch aus ihnen geschehen können, und dass diese Gründe ihr Eintreten nicht nur verständlich machen, sondern auch erklären. Und wenn dies so ist, müssen Gründe auch Ursachen sein.5 Eine streng disjunktive Unterscheidung von Ursachen und Gründen lässt sich so nicht mehr erzielen. Ähnlich uneindeutig erscheint das Verhältnis von Gründen und Motiven, wenn man auf die Differenz zwischen guten und faktischen Gründen achtet. Denn Gründe, die gemessen an normativen Standards oder kognitiven Präferenzen als gut erscheinen, müssen nicht unbedingt zum Handeln bewegen, und zwar auch dann nicht, wenn der Betreffende sie selbst für gut hält, und Motive, die tatsächlich zum Handeln bewegen, müssen weder von ihm noch von anderen als gut betrachtet werden. Aber dies dürfte nichts daran ändern, dass ihre motivierende »Kraft« erklärt, woraus die Handlung hervorgeht. Und zumindest im Blick hierauf dürften sie als Handlungsgründe bzw. -ursachen zu verstehen sein. In der neueren Diskussion ist deshalb vorgeschlagen worden, normative und motivierende Gründe zu unterscheiden.6 Eine strenge Disjunktion von Gründen und Motiven scheint damit ebenfalls ausgeschlossen zu sein. Ich kann die Schwierigkeiten, die sich bei diesen Unterscheidungen und Verbindungen ergeben, hier natürlich nicht ausführlich diskutieren. Stattdessen wähle ich eine Dies ist bekanntlich die einflussreiche, wenn auch keineswegs unkontroverse Auffassung von Donald Davidson: Actions, Reasons, and Causes, in: Ders.: Essays on Actions and Events, Oxford ²2001, 3–19. 6 Ich orientiere mich hier an Christoph Halbig: Motivierende Gründe. Neuere Beiträge zur Theorie praktischer Vernunft (I), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50 (2002) 6, 961–972. Halbig verweist seinerseits auf Jonathan Dancy, Practical Reality, Oxford 2000, der bereits dieselbe Unterscheidung zugrunde legt (chap. 1,1). 5

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Abkürzung, die auf den ersten Blick wie ein Umweg erscheinen mag, indem ich von der historischen Dimension dieser Schwierigkeiten ausgehe und zunächst auf Aristoteles blicke. Dies empfiehlt sich nicht nur deshalb, weil sich so ein Zugang zum Thema ergibt, der nicht von vornherein auf zeitgenössische Perspektiven festgelegt ist, sondern auch deshalb, weil sich die skizzierten Aspekte so leichter mit Hegel verbinden lassen. Außerdem lässt sich die handlungstheoretische Dimension des Problems damit geschickt auf ihre moralphilosophische Dimension beziehen. Und diese spielt in der Rechtsphilosophie, wie vor allem die angestrebte Aufhebung von Moralität in Sittlichkeit zeigt, zweifellos eine wichtige Rolle. Der historische Rückgriff erfüllt also gewissermaßen eine Doppelfunktion: Ich gehe etwas ausführlicher auf Aristoteles ein, als dies bloß für eine begriffliche Annäherung an das Verhältnis von Ursachen, Gründen und Motiven erforderlich wäre, weil eine Erläuterung der aristotelischen Konzeption zugleich erlaubt, an die traditionellen Perspektiven, die Hegels kantkritischer Rückgriff auf das Wohl und die Glückseligkeit beansprucht, zu erinnern. Auch die kantische Konzeption muss im Gegenzug zumindest ganz knapp erläutert werden.

II. Zur historischen Dimension der Problematik Geht man vom breiten Ursachenbegriff des Aristoteles aus, ist eine entscheidende Differenz zu Gründen zunächst gar nicht zu erkennen. Denn offensichtlich bezieht sich der aristotelische Begriff der aitia nicht nur auf effiziente, sondern auch auf materiale, formale und finale Ursachen.7 Und finale Ursachen, Zwecke oder Ziele spielen natürlich nicht nur in der aristotelischen Naturphilosophie und Metaphysik, sondern auch in seiner Ethik und Handlungstheorie eine wichtige Rolle. Umgekehrt versteht er Prinzipien als ein Erstes, woraus entweder etwas ist oder entsteht oder erkannt wird.8 Er fasst den Begriff des Prinzips (arche) also so weit, dass darunter sowohl Seins- und Bewegungsgründe als auch Erkenntnis- oder Erklärungsgründe fallen. Man wird »arche« sicher nicht einfach mit Grund übersetzen dürfen. Wohl aber wird im aristotelischen Begriff ein Vorläufer verschiedener Arten von rationes greifbar, mit denen die Tradition später gerechnet hat. Und diese in verschiedenen Hinsichten begründenden Prinzipien stehen für Aristoteles den Ursachen so nahe, dass er häufig einfach undifferenziert von »Prinzipen und Ursachen« spricht.9 Dies bedeutet wohlgemerkt nicht, dass er keine weiteren Differenzierungen für möglich hält. So betont er etwa, dass alle Ursachen Prinzipien, nicht aber alle Prinzipien Ursachen sind, und zwar vermutlich deshalb, weil sie dazu gleichzeitig – also nicht nur alternativ – Seins-, Bewegungs- und Erkenntnisgründe sein müssen. Doch von derartigen Differenzierungsmöglichkeiten wird bei Aristoteles so selten wirklich Gebrauch gemacht, dass aus heutiger Sicht vor allem die Nähe der beiden Begriffe ins Auge fällt. Vgl. Aristoteles: Phys. II 3. Vgl. Aristoteles: Met. V 1. 9 Besonders häufig geschieht dies in der Metaphysik, wo Aristoteles im Blick auf die gesuchte höchste Wissenschaft immer wieder nach »ersten Prinzipen und Ursachen« fragt (Vgl. vor allem Met. I 2, aber auch IV 1). 7 8

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Nun hat sich die Lage mit der modernen Einengung des Ursachenbegriffs auf effiziente Ursachen natürlich einschneidend geändert. Als Ursachen im strengen Sinne kommen nur noch beobachtbare Ereignisse infrage, auf die andere Ereignisse mit Notwendigkeit folgen. Vorausgesetzt ist dabei der methodische Zugriff der empirischen Naturwissenschaften, für die man meist die Physik als paradigmatisch betrachtet. Trotzdem hat der physikalische Ursachenbegriff nicht nur Konsequenzen für die Wissenschaften – wie etwa die weitgehende Zurückweisung teleologischer Erklärungen, die trotz gelegentlicher Reformulierungsversuche in den modernen Wissenschaften einen schweren Stand haben –, sondern auch Konsequenzen für das Verständnis unserer Handlungen. Für die Frage nach Handlungsgründen ist vor allem wichtig, dass auch praktische Zwecke nicht mehr ohne Weiteres als Ursachen betrachtet werden dürfen, wenn man sich an diesem engeren Ursachenbegriff orientiert. Wie wir bereits gesehen haben, lässt sich zwar auch im zeitgenössischen Kontext geltend machen, dass Gründe insofern Ursachen sein müssen, als sie das Eintreten bestimmter Ereignisse zu erklären vermögen. Anders als bei Aristoteles ist hier aber eine Kluft zwischen praktischen Ereignissen, die zumindest auch teleologisch bestimmt sind, und bloß physikalischen Ereignissen, die ausschließlich kausal bestimmt sind, zu überbrücken. Dies führt dazu, dass ein kausalistisches Handlungsverständnis keineswegs unproblematisch erscheint. Sind Gründe tatsächlich im selben Sinne Ursachen wie physikalische Ereignisse? Wie ist die Forderung, dass Gründe Handlungen kausal erklären müssen, mit der Forderung, dass sie Handlungen verständlich oder nachvollziehbar machen müssen, zu vereinbaren? Die anhaltende Debatte zeigt, dass diese und ähnliche Fragen nicht leicht zu beantworten sind.10 Allerdings droht auch ein nicht-kausalistisches Handlungsverständnis an derselben Klippe zu scheitern. Es dürfte richtig sein, dass es keine strikten psychologischen Gesetze gibt, die Gründe und Handlungen in einer kausalen Erklärung zu verbinden erlauben. Und es dürfte ebenfalls richtig sein, dass wir unsere Handlungen üblicherweise anders erklären als physikalische Ereignisse.11 Dies ändert aber nichts daran, dass Handlungen zumindest auch als physikalische Ereignisse zu betrachten sind, die damit auch in den Kontext einer physikalischen Kausalerklärung gehören. Und schon dies bereitet einem nicht-kausalistischen Handlungsverständnis Probleme. So fragt sich etwa, wie die Vernunft im Rückgriff auf Gründe, die keine Ursachen sind, überhaupt noch bestimmend wirken kann, wenn Handlungen Ereignisse sind, und alle Ereignisse durch vorausgehende Ursachen kausal bestimmt sind. Ist nicht alles Entscheidende schon passiert, bevor die Vernunft überhaupt einzugreifen vermag? Auch unabhängig von der Zuspitzung in der zeitgenössischen Determinismus-Debatte, ist dieses Problem alles andere als marginal. Es besitzt auch eine wichtige moralphilosophische Dimension, die sich bereits bei Aristoteles zeigt. Wie dieser geltend

Vgl. dazu etwa die Kritik kausalistischer Handlungstheorien bei Geert Keil: Handeln und Verursachen, Frankfurt/M. 2000. 11 Vgl. dazu etwa Georg Henrik von Wright: Explanation and Understanding of Actions, in: Revue Internationale de Philosophie 35 (1981), 127–142. 10

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macht, können praktische Zwecke nur insofern als Handlungsgründe betrachtet werden, als sie durch Meinungen und Überzeugungen kognitiv vermittelt sind. Dabei geht es vor allem um die Auffassung, dass bestimmte Zwecke für den Handelnden (in relevanten Hinsichten) gut sind. Die Ausbildung einer solchen Auffassung erfordert schon deshalb Überlegung (bouleusis), weil sich der Handelnde auf verschiedenen Ebenen mit Alternativen konfrontiert sieht. Zum einen sind praktische Mittel im Blick auf vorausgesetzte Zwecke zu wählen, zum anderen können die meisten Zwecke selbst als Mittel zur Realisierung höherer Zwecke betrachtet werden. Anders ist dies nur beim höchsten Handlungsziel der eudaimonia, also beim Glück im Sinne eines guten Lebens im Ganzen, das sich freilich umgekehrt durch die Wahl untergeordneter Ziele artikuliert und insofern ebenfalls auf Alternativen bezieht. Was ein Handlungsgrund ist, lässt sich in diesem Zusammenhang – zumindest grundsätzlich – recht leicht angeben. Die Begründung von Handlungen erfolgt hier nämlich einfach als vernünftige Rechtfertigung im Rückgriff auf gute Ziele. Und als letzter Bezugspunkt dient die eudaimonia bzw. ihre Realisierung durch eine Tugend (arete), in der die besten Handlungsformen für das beste Handlungsziel bereitgestellt werden. Fragt man sich, wie die Rolle der Vernunft in diesem Zusammenhang einzuschätzen ist, stößt man auf eine auffällige Begrenzung ihres Einflusses. Aristoteles sagt nämlich, dass das Denken allein nichts bewegt,12 und zwar vermutlich deshalb, weil es nur überlegend und bewertend einzugreifen vermag, wenn bereits Ziele angestrebt werden. Auf derselben Voraussetzung beruht sein Begriff der Entscheidung (prohairesis), der sie als überlegtes Streben (orexis bouleutike) nach dem, was in unserer Macht liegt, bestimmt.13 Das unterstellte Schema ist recht einfach. Erst müssen Ziele angestrebt werden. Dann kann unsere Vernunft im Blick auf sie bestimmen, welche Mittel Erfolg versprechen. Dies erinnert an empiristische Konzeption, die in der modernen Diskussion prominent werden. Allerdings sind hier wichtige Unterschiede zu berücksichtigen. Denn im Zentrum der aristotelischen Ethik steht eine ethische Tugend, die als erworbene Entscheidungshaltung (hexis prohairetike) zu betrachten ist.14 Diese verlängert nicht einfach ein naturales Streben, sondern ergibt sich aus einer Gewöhnung (ethos), die als charakterliche Selbstprägung im sozialen Kontext zu betrachten ist.15 Und durch den kognitiven Anteil, den die Überlegung in diesem Prozess wiederholter Entscheidungen besitzt, wirkt sich die Vernunft zumindest dann indirekt als charakterlich prägend aus, wenn die Gewöhnung an ethische Tugend erfolgreich verläuft. Außerdem rechnet Aristoteles schon in seiner Naturphilosophie, anders als dies in neueren Interpretationen gelegentlich behauptet wird, nicht mit einem Determinismus effizienter Ursachen, sondern mit jenem Modell irreduzibler Ursachenarten, das bereits angesprochen wurde. Auch aus diesem Grund folgt für ihn daraus, dass Denken allein nichts bewegt, keine Festlegung unserer Ziele durch ein naturales Streben, sei es nun

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Aristoteles: EN VI 2. Aristoteles: EN III 5. Aristoteles: EN II 6. Aristoteles: EN II 1–3.

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in Bezug auf eine notwendig angestrebte Selbsterhaltung oder auf empirisch festgelegte Wünsche. Die Nähe seiner Ethik zu empiristischen Konzeptionen ist somit deutlich geringer, als man auf Anhieb vermuten könnte, und zwar sowohl wegen seines ethischen Sozialisierungsmodells als auch wegen seiner teleologischen Naturphilosophie. Dagegen ändert sich die Lage deutlich, wenn man vom modernen Ursachenbegriff ausgeht. Hält man unter dieser Voraussetzung an der aristotelischen Ansicht fest, dass Denken allein nichts bewegt, scheint man tatsächlich bei einer Motivationstheorie nach dem Vorbild Humes zu landen. Jedenfalls geht Hume tatsächlich davon aus, dass motivierende Gründe aus Wünschen und Überzeugungen bestehen, und zwar derart, dass angestrebte Wünsche das kausal bestimmende Moment darstellen.16 Moral lässt sich auf dieser Grundlage nur noch so auffassen, dass man eine im weitesten Sinne utilitaristische Konzeption formuliert. Wenn all unsere Motive durch subjektive Wünsche, die letztlich auf unser Wohl, unser Glück oder unsere Lust zielen, bestimmt sind, muss dies auch für moralische Motive gelten. Und das Moralische dieser Motive kann dann nur noch darin liegen, dass hier nicht nur unser je eigenes Wohl, sondern das Allgemeinwohl befördert wird. Moral wäre damit lediglich eine normative Verallgemeinerung von Handlungsmotiven, die in einen letztlich durch empirische Ursachen bestimmten Zusammenhang gehören.17 Wer Moral dagegen wie Kant als ein apriorisches Sittengesetz versteht, muss umgekehrt davon ausgehen, dass reine Vernunft praktisch zu werden vermag. Schlechthin objektive Moralität kann es demnach nur geben, wenn wir unabhängig von empirisch bestimmten Neigungen vernünftig handeln können. Denn Neigungen ergeben sich aus Erfahrungen von Lust, die nicht nur vom Inhalt dieser Erfahrung, sondern auch von der jeweiligen empirischen Beschaffenheit des Subjekts abhängen. Dabei gehören diese zu einem Streben nach Glück, das insgesamt empirisch bestimmt ist, weil Glück nach Kant nichts anderes bedeutet als auf Dauer gestellte Lust oder umfassend verwirklichte Neigung.18 Wenn ein objektives Sittengesetz möglich sein soll, muss es also eine apriorische Kausalität aus transzendentaler Freiheit geben. In dieser muss reine Vernunft als solche der objektive Bestimmungsgrund des Willens sein.19 Und diesem objektiven Bestimmungsgrund muss ein subjektiver Bestimmungsgrund, also ein Handlungsmotiv, oder, wie Kant sagt, eine »Triebfeder« entsprechen, die ebenfalls nicht durch empirische Ursachen bestimmt ist. Kant spricht hier bekanntlich von Achtung vor dem Gesetz, und erläutert sie als ein Gefühl, das nicht empirisch, sondern intellektuell bewirkt wird. Wie nicht nur die moraltheologisch argumentierende Postulatenlehre, sondern auch die wesentlich überzeugendere Tugendlehre zeigen, gibt sich Kant mit der schemaDavid Hume: Enquiry Concering the Principles of Morals, ed. by Peter H. Nidditch, Oxford ³1975, 293 f. 17 Mit dieser sehr summarischen Darstellung soll natürlich nicht bestritten werden, dass die Bandbreite der dabei möglichen Konzeptionen auch im Blick auf grundlegende Fragen, wie etwa die Bejahung oder Bestreitung qualitativer Differenzen der Lust, sehr groß ist. Dies zeigt schon ein Vergleich der wichtigsten Konzeptionen des klassischen Utilitarismus bei Bentham, Mill und Sidgwick. 18 Kant: KpV, A 225 und KrV, A 806. 19 Kant: KpV, §§ 4–8. 16

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tischen Differenzierung von Glück und Moral keineswegs zufrieden, sondern sucht auf ihrer Grundlage auch nach verschiedenen Vermittlungsperspektiven.20 Allerdings sind diese Perspektiven in der enormen Wirkungsgeschichte seiner Moralphilosophie meist nur sehr wenig berücksichtigt worden. Als Erinnerung an die historische Konstellation, mit der Hegel im Moralitätskapitel arbeitet, müssen diese Hinweise genügen. Ich fasse lediglich noch kurz zusammen, mit welcher Differenz von Ursachen, Motiven und Gründen in diesem Zusammenhang zu rechnen ist. Von Ursachen kann man für Handlungen nur insofern sprechen, als diese zumindest auch physikalische Ereignisse darstellen und mit ihren Folgen in einen auch empirisch bestimmten Kontext gehören. Wer Handlungen in ihrer Eigenart verstehen will, wird deshalb nicht umhin kommen, auf Motive und Gründe zurückzugreifen. Dabei unterscheidet man Motive und Gründe meist so, dass Motive eher auf die faktische Bewegung zur Handlung und Gründe eher auf ihre instrumentelle, prudentielle oder normative Bestimmung bezogen werden, sei es nun aus der Innenperspektive des Handelnden oder aus der Außenperspektive.21 Motive müssen faktisch zwar nicht zum Handeln bewegen, weil es reicht, dass sie zum Handeln bewegen können. Schon deshalb können sie nicht einfach mit Ursachen identifiziert werden. Aber auch darin liefert die Auslösung der Handlung den entscheidenden Gesichtspunkt. Weniger wichtig ist dagegen die kognitive Dimension. Es wird nämlich meist durchaus für möglich gehalten, dass man von Motiven bewegt wird, die sich lediglich affektiv geltend machen, ohne dass man sie wirklich durchschaut. Gründe sind dagegen Bezugspunkt von artikulierten oder doch artikulierbaren Überzeugungen, durch die Handlungen kognitiv gerechtfertigt werden können. Dabei müssen sie nicht notwendig zugleich zu den entsprechenden Handlungen motivieren. Wohl aber lassen sie sich mit Motiven verbinden, sei es dadurch, dass sie selbst zu motivieren vermögen,22 sei es dadurch, dass ihnen die affektive Unterstützung durch Motive entgegenkommt.

In der Postulatenlehre geht es vor allem um die Glückswürdigkeit des Tugendhaften, die aus der Sicht eines höchsten Wesens nach einem Ausgleich für dessen Lustverzicht verlangt (vgl. KpV, A 198 ff.), in der Tugendlehre vor allem um die Zwecke der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit, von denen Kant zu zeigen versucht, dass sie als Pflichten an sich zu betrachten sind (vgl. MdS, A 24 ff.). 21 Aus der umfangreichen Literatur verweise ich dazu nur auf die konzentrierte Diskussion des Forschungsstandes, die Christoph Halbig in zwei Teilen vorgelegt hat: Motivierende Gründe. Neuere Beiträge zur Theorie praktischer Vernunft (I), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002), 6, 961–972 und Normative Gründe. Neuere Beiträge zur Theorie praktischer Vernunft (II), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003) 1, 133–149. 22 Dass Überzeugungen selbst zu motivieren vermögen, wird in einer neohumeanischen Tradition oft bestritten. Obwohl ich dies hier nicht näher erläutern kann, möchte ich doch betonen, dass mir die Gründe hierfür recht zweifelhaft erscheinen. Vgl. dazu erneut Christoph Halbig 2002, ebd., 964 ff. und Ludwig Siep: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik, Frankfurt/M. 2004, 87–95. 20

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III. Das Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie Damit ist natürlich nur eine ganz grobe Struktur gezeichnet, auf die man sehr unterschiedlich reagieren kann. Schon mit den erwähnten Namen Hume und Kant verbinden sich zwei gegenläufige Strategien, nämliche eine affekttheoretisch-instrumentalistische und eine intellektualistisch-kognitivistische, die in verschiedenen Abwandlungen auch in der gegenwärtigen Debatte prominent sind. Aber wie hat sich Hegel hier positioniert? Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst die grundsätzliche Ausrichtung des Moralitätskapitels berücksichtigen. Was Hegel hier bietet, ist, anders als der Titel suggeriert, keine moralphilosophische Konzeption, sondern eher eine Handlungstheorie.23 Es geht hier zwar um den sogenannten »moralischen Standpunkt«, aber dieser besteht zunächst nur darin, dass der Wille hier – anders als im abstrakten Recht –, nicht mehr nur »an sich«, sondern »für sich unendlich ist«. Und dies wiederum meint noch keineswegs den Gegensatz von Moralischem und Unmoralischem, sondern bedeutet zunächst nur, dass der grundlegende Wille hier nicht mehr bloß als Person, sondern als Subjekt betrachtet werden muss (§ 105).24 Dabei ist das Subjekt einerseits ein für sich seiendes Einzelnes, das als solches Dasein besitzt, andererseits ist seine Subjektivität als eine Selbstbestimmung aufzufassen, die Freiheit im Dasein des Einzelnen auf einer höheren Stufe zu realisieren erlaubt (§§ 106– 107). Es ist diese – im Blick auf Moralität und Unmoralität noch offene – Selbstbestimmung des subjektiven Willens, die seine Unendlichkeit ausmacht, und zwar derart, dass der Einzelne um sie weiß. Der Einzelne weiß, dass sein Wille sich grundsätzlich zu allem bestimmen kann, was er will, und ist insofern nicht nur an sich, sondern für sich unendlich. Doch dabei weiß der Einzelne auch, dass diese Selbstbestimmung erst noch vorzunehmen ist, dass er also nur die Möglichkeit zu einer Selbstbestimmung hat, die ihm als Aufgabe noch bevorsteht. Wie Hegel sagt, geht es darum, »den zunächst nur für sich seienden Willen, der unmittelbar nur an sich identisch ist mit dem an sich seienden oder allgemeinen Willen, nach diesem Unterschiede, in welchem er sich in sich vertieft, aufzuheben, und ihn für sich als identisch mit dem an sich seienden Willen zu setzen.« (§ 106, Anm.) Was Hegel in seiner Begriffssprache recht kompliziert ausdrückt, ist im Kern ein einfacher Befund. Der subjektive Wille des Einzelnen ist einerseits dadurch gekennzeichnet, dass er in seiner Selbstbestimmung durch keine äußeren Inhalte, Vorgaben oder Normen beschränkt ist. Er kann alles wollen, wozu er sich selbst bestimmt, weiß um diese 23 Dies ist häufig richtig gesehen worden. Vgl. Josef Derbolav: Hegels Theorie der Handlung, in: Hegel-Studien 3 (1965), 209–223, bes. 209 f., Francesca Menegoni: Elemente zu einer Handlungstheorie in der »Moralität« (§§ 104–128), in: G.W.F. Hegel. Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Ludwig Siep, Berlin 1997, 125–146, bes. 129 ff. und Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/M. 2000, 219–225. 24 In der Anmerkung zum § 108 macht Hegel dies selbst unmissverständlich deutlich: »Das Moralische ist zunächst nicht schon als das dem Unmoralischen Entgegengesetzte bestimmt, wie das Recht nicht unmittelbar das dem Unrecht Entgegengesetzte, sondern es ist der allgemeine Standpunkt des Moralischen sowohl als des Unmoralischen, der auf der Subjektivität des Willens beruht.«

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Unbeschränktheit oder Unendlichkeit und betrachtet sich selbst deshalb auch als einzig maßgebliches Allgemeines. Wenn es nichts gibt, von dem das Wollen des einzelnen Subjekts abhängig zu machen ist, muss es alles, worauf es in seinem Wollen ankommt, in sich selbst finden, und insofern auch das einzig maßgebliche Allgemeine, oder, wie Hegel in verschiedenen Wendungen sagt, der »an sich seiende Wille«, der »allgemeine Wille«, »der Begriff des Willens« sein. Doch diese Allgemeinheit ist zunächst nur eine Forderung, die es im Prozess der Selbstbestimmung erst zu erfüllen gilt, ein Sollen, dem erst noch zu entsprechen ist. Denn auch eine Selbstbestimmung benötigt Inhalte, durch die sich der Wille zu bestimmen vermag. Eine schlechthin leere Selbstbestimmung kann es nicht geben. Für den subjektiven Willen kommt es deshalb darauf an, »dass er das, was er als das Seinige in seinem Gegenstande erkennt, dazu fortbestimmt, sein wahrhafter Begriff, das Objektive im Sinne seiner Allgemeinheit zu sein.« (§ 107, Anm.) Und dabei fragt es sich natürlich, durch welche Inhalte und durch welche Form, sie zu setzen, der Wille seiner beanspruchten Allgemeinheit gerecht werden kann. Blickt man auf das Ende des Moralitätskapitels, ist das Ergebnis ernüchternd. Der subjektive Wille kann die Forderung, die er an sich selbst richtet, nach Hegel grundsätzlich nicht erfüllen. Das Sollen, das er in seinem Selbstverhältnis vorfindet, bleibt auf dem Standpunkt der Moralität unrealisierbar. Dies liegt daran, dass der subjektive Wille als solcher »abstrakt, beschränkt und formell« ist (§ 108), und zwar durch die Form des Selbstverhältnisses, das ihn kennzeichnet.25 Er ist zwar nicht durch bestimmte vorgegebene Inhalte beschränkt, wohl aber durch die Form, sich erst durch Inhalte, woher sie auch immer kommen mögen, bestimmen zu müssen. Seine Beschränkung kommt also nicht von außen, sondern von innen. Und diese innere Beschränkung macht seine Endlichkeit aus. Wie Hegel nachzuweisen versucht, führt dies für die Moralität zu einem fatalen Ergebnis. Denn das Gute, das Wohl und Recht in einem umfassenden Sinne verbindet, und zwar derart, dass es einerseits das Wesentliche des subjektiven Willens ist, und andererseits in seiner Realisierung nur von diesem abhängt, lässt sich wegen seiner Formalität weder konkret bestimmen noch verwirklichen (§§ 129–131). Als Wesentliches gefasst, ist das Gute Pflicht, und zwar eine Pflicht, die um der Pflicht willen getan Dass Hegel schon mit diesem bloß formalen Sollen, das als solches grundsätzlich nicht erfüllbar ist, Kants Moralphilosophie im Blick hat, ist offenkundig. Ebenso offenkundig ist, dass er die deontologische Dimension dieses Sollens im Rahmen eines dialektischen Modells rekonstruiert, das schon im Ansatz von der kantischen Subjektivitätstheorie abweicht. Dabei wird die Handlung insgesamt zu einer Sphäre gerechnet, die zum »Standpunkt der Differenz, Endlichkeit und Erscheinung des Willens« gehört, weil die Subjektivität, wie es dem »Bewusstsein« des Einzelnen entspricht, hier noch gegen die »Objektivität als äußerliches Dasein« bestimmt ist (§ 108). Das Sollen, mit dem sich der Einzelne konfrontiert sieht, besitzt damit auch die teleologische Dimension, dem eigenen Begriff erst noch genügen zu müssen, die man sicher nicht mit Kants Verständnis der Pflicht verwechseln darf. Trotzdem erscheint es mir überzogen, Hegel vorzuwerfen, er habe das teleologische vom deontologischen Sollen nicht unterschieden, wie Schnädelbach dies tut: Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/M. 2000, 228 u. 348. Richtig ist allenfalls, dass er Kants Pflichtbegriff als eine besonders problematische Zuspitzung des »moralischen Standpunkts« und seines unerfüllbaren Sollens zu rekonstruieren versucht. Ein erfüllbares Sollen im Sinne der Pflicht findet sich demnach erst in der Sittlichkeit. 25

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werden muss (§ 133). Aber, was diese Pflicht konkret gebietet, lässt sich nach Hegel nur im Rückgriff auf vorgegebene Inhalte fassen. Eben daran scheitert eine Moralität, die das Gute auf dem Standpunkt des subjektiven Willens zu realisieren versucht, und zwar gemessen an ihrem eigenen Selbstverständnis. Dies gilt nicht nur, aber auch und sogar in radikalisierter Form für den Versuch, diese Bestimmung im Rückgang auf die Innerlichkeit des Gewissens zu geben.26 Denn ohne ein stabilisierendes Verständnis konkreter Pflichten, das nur in einem sittlichen Zusammenhang und seinen das Gute bereits verwirklichenden Institutionen zu erzielen ist, bleibt der Rückgang auf das Gewissen durch Zufälligkeit, Willkür, Anmaßung und Heuchelei gefährdet. Ich kann den einzelnen Aspekten dieser Moralkritik, zu der auch die besonders umstrittene Kritik an der Formalität der kantischen Moralphilosophie (§ 135) gehört, hier nicht nachgehen, sondern verweise nur auf das bekannte Ergebnis, dass Moralität angesichts der angedeuteten Defizite in Sittlichkeit aufgehoben werden muss (§ 141). Wie immer man zu Hegels Moralkritik steht und seinen Versuch beurteilt, deren Defizite durch die sittlichen Institutionen von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat zu beheben –, es ist jedenfalls wichtig zu sehen, dass im Moralitätskapitel selbst bereits mehr Konstruktives geleistet wird, als die Moralkritik am Ende erwarten lässt. Dies gilt auch und gerade für sein Verständnis von Handlungsgründen. Zu berücksichtigen ist dabei, dass das geforderte Allgemeine, mit dem das Moralitätskapitel rechnet, keineswegs von Anfang an in einem moralischen Sinne verstanden wird. Seine einfachste Stufe liegt vielmehr in der moralneutralen Identität des subjektiv oder innerlich gesetzten Inhalts mit seiner äußerlichen Objektivität. Diese Identität wird, wie Hegel ausführt, im traditionellen Begriff des Zwecks beansprucht. Denn ein Zweck ist gegen die »Unterschiede der Form«, erst nur innerlich gesetzt und dann äußerlich ausgeführt zu werden, »gleichgültig«. Es gehört zum Wesen von Zwecken, derart aus der Innerlichkeit in die äußere Objektivität übersetzt zu werden, ohne die Bestimmtheit des eigenen Inhalts zu verlieren (§ 109). Auf dieser Grundlage formuliert Hegel seine berühmte Bestimmung der Handlung: »Die Äußerung des Willens als subjektiven oder moralischen ist Handlung. Die Handlung enthält die aufgezeigten Bestimmungen, α) von mir in ihrer Äußerlichkeit als meinige gewußt zu werden, β) die wesentliche Beziehung auf den Begriff als ein Sollen und γ) auf den Willen anderer zu sein.« (§ 113) Inwiefern es zur äußerlichen Seite der Handlung gehört, von mir als meinige gewusst zu werden, ergibt sich unmittelbar aus der vorangestellten Bestimmung des Zwecks. Wenn es in der Realisierung eines Zwecks darum geht, dass sich ein zunächst innerlich gesetzter Inhalt in die äußere Objektivität übersetzt, darf sich dieser Inhalt in der Übersetzung natürlich nicht derart verlieren, dass ich ihn nicht mehr als meinen erkennen kann. Schwerer einzuschätzen ist, wie sich bereits gezeigt hat, die Beziehung auf ein Sollen. Denn offenkundig ist die gemeinte

Von diesem kritikwürdigen Gewissen ist nach Hegel das »wahrhafte Gewissen«, das zur sittlichen Gesinnung gehört, zu unterscheiden (§ 137, Anm.). Auch dies ist oft richtig gesehen worden. Vgl. Wolfgang Bartuschat: Die Glückseligkeit und das Gute in Hegels Rechtsphilosophie, in: Die Rechtsphilosophie des deutschen Idealismus, hg. von Vittorio Hösle, Hamburg 1989, 77–100, 100. 26

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Forderung auf ganz unterschiedlichen Ebenen anzusiedeln, und zwar von der bloßen Identität des äußeren und inneren Zwecks bis hin zur moralischen Problematik des Guten und der Pflicht. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass schon auf der ersten Stufe etwas schief gehen kann, nämlich dann, wenn sich in der Übersetzung des Zwecks äußere Ursachen derart auswirken, dass mein Vorsatz nicht oder nicht gänzlich realisiert werden kann. Auch in der Bezugnahme auf den Willen anderer steckt wohl ein anspruchsvollerer Gedanke, als man auf Anhieb meinen könnte. Es geht nämlich nicht einfach darum, dass äußerlich realisierte Zwecke in eine gemeinsame Sphäre gehören, in der auch andere Subjekte handeln. Gemeint ist vielmehr, dass in der äußeren Realisierung eigener Zwecke ihre unmittelbare Innerlichkeit negiert ist. Mein Wille erscheint mir insofern wesentlich als Wille anderer. Es geht hier, wie Hegel betont, um eine positive Beziehung auf den Willen anderer, die für das Subjekt im Unterschied zur bloß rechtlich agierenden Person konstitutiv ist (§ 112). Blickt man auf diese Bestimmung der Handlung aus Sicht der zeitgenössischen Handlungstheorie, erscheint sie nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sie die konstitutive Bedeutung der subjektiven Handlungsbeschreibung ernst nimmt.27 Handlungen sind keine Ereignisse, die unabhängig von der Perspektive eines Handelnden beschrieben werden könnten. Was Handlungen als Äußerungen des subjektiven Willens sind, zeigt sich vielmehr gerade in der Perspektive des handelnden Subjekts, und zwar während der Willensäußerung selbst. Alternative Beschreibungen, seien sie nun extern oder retrospektiv, fassen das Ereignis deshalb nicht als dieselbe Handlung, sondern höchstens als eine andere. Geht man von diesem Ansatz aus, liegt es nahe, die geforderte Identität von innerem und äußerem Zweck als Identität einer Proposition, die in zwei Beschreibungen ausgedrückt wird, zu erläutern. Die ebenfalls geforderte Vernünftigkeit oder Allgemeinheit lässt sich einerseits auf die propositionale Form der Zwecksetzung und andererseits auf die Verallgemeinerbarkeit ihres Inhalts beziehen.28 Wer verstehen möchte, was Hegel mit diesem letztlich natürlich auf Kant zielenden Gesichtspunkt im Auge hat, wird im Rahmen der einleitenden Bestimmung der Handlung wohl primär die Beziehung auf den Willen anderer verstehen müssen. Dabei ist schwer zu bestreiten, dass gerade dieser Aspekt von Hegel nicht sehr ausführlich erläutert wird. Manche Interpreten meinen sogar, dass er jede echte Erläuterung schuldig bliebe. Es dürfte aber davon auszugehen sein, dass Hegel hier an zweierlei denkt: Zum einen an die theoretische Forderung, von anderen verstanden und akzeptiert zu werden, zum anderen an die praktische Forderung, von anderen positiv bewertet zu werden. In beiden Fällen resultiert die Schwierigkeit letztlich daraus, dass jede Beschreibung mit anderen Beschreibungen desselben Ereignisses konkurriert. Während die erste Forderung aber relativ leicht nachzuvollziehen ist, weil konkurrierende Beschreibungen nur sinnvoll sind, wenn sie auch von anderen Subjekten verstanden werden können, setzt die zweite Forderung eine zusätzliche Annahme voraus. Sie gilt nämlich erst dann, wenn auch angeIch orientiere mich hier an der überzeugenden Darstellung von Michael Quante: Hegels Begriff der Handlung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, 127–133. 28 Ebd., 129. 27

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nommen werden darf, dass Subjekte mit ihren Zwecken tatsächlich verallgemeinerbare Inhalte beanspruchen. Und dass dies so ist, leuchtet auf Anhieb kaum ein. Außerdem führt Hegel den erforderlichen Nachweis in der Einleitung des Moralitätskapitels nicht wirklich aus.29 Es ist aber durchaus möglich, dass er der Auffassung ist, dies in seiner Untersuchung des Verbrechens bereits gezeigt zu haben.30 Andernfalls hätte man hier mit einer Antizipation der späteren Entwicklung im Moralitätskapitel zu rechnen.

IV. Handlungsgründe bei Hegel Aber wie versteht Hegel in diesem Zusammenhang Handlungsgründe? Blicken wir zunächst einmal kurz auf den Beitrag von Ursachen. Wie Hegel sich diesen denkt, zeigt sich schon im ersten Abschnitt des Kapitels, der das Verhältnis von Vorsatz und Schuld thematisiert. Denn dabei wird vor allem betont, dass es das Recht des Willens sei, nur das in seiner Tat als Handlung anzuerkennen und als Schuld zugerechnet zu bekommen, was in seinem Vorsatz lag (§ 117). Grundlage ist die Endlichkeit des subjektiven Willens, die sich im Handeln darin zeigt, dass er »einen vorausgesetzten äußerlichen Gegenstand mit mannigfaltigen Umständen hat«. Die Tat hat Schuld daran, sofern sie eine »Veränderung an diesem vorliegenden Dasein [setzt]« und im »veränderten Dasein das abstrakte Prädikat des Meinigen liegt«. Da die konkrete äußerliche Wirklichkeit aber viele Umstände aufweist, gilt dies auch von allem anderen, was sich als »Bedingung, Grund, Ursache eines solchen Umstandes zeigt« (§ 115). Es erweist sich deshalb als unabdingbar, je nach Grad des Beitrags, Grade der Haftung zu unterscheiden. Im äußerlichsten Sinne gilt dies sogar für den Schaden, der durch das eigene Eigentum angerichtet wird, und zwar abhängig davon, inwiefern hier eine Aufsichtspflicht oder dergleichen vorliegt (§ 116). Problematisch ist dabei nicht nur, dass Handelnde aufgrund ihrer Endlichkeit die Umstände, unter denen sie handeln, häufig falsch beurteilen (§ 117), sondern auch, dass selbst bei richtiger Beurteilung der Einfluss der Handlung auf ihre Folgen nur schwer einzuschätzen ist (§ 118). Da der Zweck sich immer in einem äußerlichen Zusammenhang realisiert, sind zufällige und notwendige Folgen grundsätzlich nicht trennscharf zu unterscheiden.

Auch hier sind die Interpreten deshalb häufig sehr kritisch. Vgl. Herbert Schnädelbach: Hegels praktische Philosophie, Frankfurt/M. 2000, 230 f. 30 Michael Quante: ebd., 131 führt auch dies einleuchtend aus. Wie er zu Recht betont, liegt in der Handlung des Verbrechers nach Hegel, »daß sie etwas Allgemeines, daß durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also, als unter sein Recht subsumiert werden darf.« (§ 100) Ausschlaggebend ist dabei für Hegel, dass es sich hier um die Äußerung eines »Vernünftigen« handelt. Was damit genau gemeint ist, liegt sicher nicht auf der Hand. Reformuliert man Hegels Gedanken kantisch, meint er aber vermutlich, aus der Vernünftigkeit des Handelnden würde folgen, dass seine Maximen implizit Geltung für alle Subjekte besäßen, und sei es auch nur im Sinne der Erlaubnis. Selbst der Verbrecher würde demnach durch seine Tat beanspruchen, dass vernünftige Subjekte so handeln dürfen. 29

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Im Blick auf diese Ausführungen scheint es mir schwer zu bestreiten, dass Hegel die Handlung selbst als eine Ursache von Veränderungen in einer auch durch physikalische Kausalität bestimmten Welt betrachtet.31 Anders ließe sich kaum verstehen, wie der kausale Beitrag der Handlung bzw. ihres leitenden Zwecks im Verhältnis zu anderen kausalen Faktoren eingeschätzt werden soll, wenn es um die Folgen einer Handlung geht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Handlung selbst eine Ursache benötigt, um sich als Äußerung eines subjektiven Willens ereignen zu können. Und es bedeutet erst recht nicht, dass der subjektive Wille, der sich auf den ersten Blick als eine solche Ursache für die Handlung anzubieten scheint, seinerseits aus vorausliegenden Ursachen bewirkt sein müsste, um überhaupt einen Zweck setzen und dann von innen nach außen übertragen werden zu können. Man mag der Auffassung sein, dass eine derartige Kausalität erforderlich ist, weil sich sonst nicht verstehen ließe, wie der Wille die Maschinerie des Körpers überhaupt in Bewegung setzen kann. Dies gilt natürlich besonders dann, wenn man davon ausgeht, dass die physikalische Welt ein kausal determinierter Zusammenhang von Ereignissen ist. Denn andernfalls droht unverständlich zu bleiben, wie Zwecksetzungen überhaupt in den Zusammenhang dieser Welt gehören können. Geht man dagegen wie Kant davon aus, dass zumindest bei moralischen Willensbestimmungen eine reine Vernunft praktisch wird, die nicht in die empirische Welt von Erscheinungen gehört, muss man eine besondere überempirische Kausalität aus Freiheit in Anspruch nehmen. Denn nur eine solche absolut spontane Kausalität scheint verständlich zu machen, wie reine Vernunft unabhängig von empirischen Ursachen in einen durch diese Ursachen bestimmten Zusammenhang hineinwirken kann.32 Trotzdem taucht im Moralitätskapitel nichts dergleichen auf. Hegel schließt sich hier weder einem apriorischen noch einem empiristischen Standpunkt an. Stattdessen beschränkt er sich konsequent auf die Innenperspektive des Handelnden und geht auf metaphysische Probleme – wie die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Determinismus und Freiheit – nicht ein. Schon deshalb kann ich die damit verbundenen Schwierigkeiten hier ebenfalls nicht diskutieren. Ich verweise lediglich darauf, dass Hegel dieses Thema auch andernorts nicht nach dem bekannten Schema der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit behandelt, sondern eine begriffliche Aufhebung des Kausalitätsverhältnisses in den Begriff als das Reich der Freiheit versucht.33 Wie unschwer zu sehen ist, vertritt Hegel insgesamt eine monistische Konzeption, die vor allem eine naturalistische Reduktion des Geistes verweigert. Vor diesem Hintergrund versucht er einsichtig zu machen, dass das viel diskutierte Leib-Seele-Problem auf einem Missverständnis beruht. Wer Materie bzw. Körper einerseits und Seele bzw. Geist andererseits als »absolut Selb-

Dies ist der Ansatzpunkt für die häufig diskutierte Integration technischer oder poietischer Aspekte in Hegels Handlungsbegriff, die seine weit über Aristoteles hinausgehende Konzeption der Arbeit ermöglicht. Vgl. dazu Guy Planty-Bonjour: Hegel´s Concept of Action as Unitity of Poiesis and Praxis, in: Hegel´s Philosophy of Action, ed. by Lawrence S. Stepelevich and David Lamb, Atlantic Highlands N.J. 1983, 19–29, der auf die wichtigsten Perspektiven hinweist. 32 Vgl. Kant: KpV, § 5. 33 Es geht hier also um den Übergang der Wesenslogik in die Begriffslogik. 31

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ständige gegeneinander [voraussetzt]«, für den wird ihre zu erklärende Gemeinschaft ein »unbegreifliches Geheimnis« bleiben.34 Hegel bemüht sich deshalb schon in seiner Anthropologie und Psychologie darum, die Seele als ein stufenweises Zu-sich-Kommen des Bewusstseins zu erläutern, das in der »natürlichen Seele« bereits auf einer einfachen Einheit von Leib und Seele beruht.35 Erst das Bewusstsein ist dadurch charakterisiert, dass es sich vom unwesentlichen Körper ausdrücklich unterscheidet, ohne damit freilich eine vollständige Unabhängigkeit vom Körper zu erzielen. Auch in den »späteren« Reflexionsstufen des objektiven Geistes bleibt eine körperliche Seite geistiger Äußerungen durchgängig erhalten. Und schon deshalb, weil dies so ist, kann mit guten Gründen danach gefragt werden, ob Hegels Handlungstheorie mit einer kausalistischen Handlungserklärung vereinbar sein könnte.36 Wie Hegel Handlungsgründe im eigentlichen Sinne auffasst, zeigt vor allem der zweite Abschnitt des Moralitätskapitels, in dem er die Absicht und das Wohl thematisiert. Dabei wird auch das Verhältnis von Motiven und Gründen bzw. von motivierenden Gründen und normativen Gründen deutlich. Hegel spricht in diesem Zusammenhang vom Unterschied subjektiver und objektiver Zwecke, und zwar derart, dass er die Absicht einerseits als subjektiven Zweck bezeichnet und andererseits ihre Vereinbarkeit mit objektiven Zwecken betont (§ 124). Als subjektiver Zweck ist die Absicht zunächst so aufzufassen, dass sie formal betrachtet die allgemeine Seite der Handlung darstellt, während der Vorsatz zunächst nur bestimmte Einzelheiten als vom Subjekt gewollt anerkennt (§ 119). Die Absicht liegt als der allgemeine Inhalt der Handlung im Vorsatz des Handelnden. Und es ist dieser allgemeine Inhalt, den der Handelnde bei den Einzelheiten der Handlung im Auge hat, um ihn in seinem eigenen Interesse zu gestalten. Insofern ist die Absicht eine antizipierende Erfassung desjenigen, worauf es ihm bei diesen Einzelheiten ankommt. In der Absicht liegt also auch der eigentliche Zweck der Handlung, der ihre Einzelheiten zu bloßen Mitteln herabsetzt. Sofern dieser Zweck ein besonderer und endlicher Zweck ist, kann er natürlich seinerseits wieder zu einem Mittel herabgesetzt werden. Welcher Zweck inhaltlich als maßgeblich betrachtet wird, ist dabei so offen wie die Interessen der Handelnden, die sich nach ihrer subjektiven Besonderheit unterscheiden. Wie Hegel sagt, tritt hier der zufällige »Inhalt des natürlichen Willens« ein. Festzuhalten ist insofern nur, dass die Einzelnen dafür tätig sein wollen, wofür sie sich »als für das Ihrige interessieren oder interessieren sollen« (§ 123). Die subjektiven Unterschiede dieses natürlichen Willens liefern trotzdem nicht den letzten Bezugspunkt. So sehr Hegel betont, dass sich die Handelnden in ihren »Bedürfnissen, Neigungen, Leidenschaften, Meinungen, Einfällen u. s. f.« unterscheiden, so sehr betont

Ich beziehe mich hier auf den zentralen § 389 in der Enzyklopädie. Vgl. dazu Ludwig Siep: Leiblichkeit, Selbstgefühl und Personalität in Hegels Philosophie des Geistes, in: Ders.: Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 1992, 195–216. 36 So vertritt Michael Quante: Hegels Begriff der Handlung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, 236– 246 gegen Taylor und Hoffman die Auffassung, dass sich Hegels Theorie mit »Davidsons Befunden vollständig vereinbaren [lässt], da auch Hegel Ereignischarakter und Beschreibungsaspekte klar auseinanderhält« (241). 34 35

Gründe in Hegels Handlungstheorie. Zum Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie

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er nämlich auch, dass es dabei letztlich immer um das »Wohl oder die Glückseligkeit« geht.37 Der Status dieses höchsten Zwecks ist zwar prekär, es ist aber trotzdem wichtig, ihn zu berücksichtigen. Denn diese Bezugnahme auf das Glück zeigt besonders deutlich, worin sich seine Auffassung von der kantischen unterscheidet, inwiefern er auf Aristoteles zurückgreift und sich darin doch nicht einfach an das antike Vorbild anschließt. Prekär ist der Status des Glücks nach Hegel vor allem deshalb, weil es sich hier nur um eine Reflexionsallgemeinheit inhaltlicher Absichten handelt. In ihr zeigt sich nur, worin der Einzelne die »Befriedigung dieses Inhalts«, also das letzte Motiv seiner verfolgten Zwecke, sieht. Anders als bei Aristoteles gibt es bei Hegel also keinen moralisch verbindlichen Begriff des guten Lebens, an dem sich der Handelnde – unabhängig von seinen individuellen Präferenzen – orientieren könnte. Schon deshalb ist die für Aristoteles zentrale Verbindung von eudaimonia und arete mit Hegel nicht moralphilosophisch nachzuvollziehen. Nur im Ausgriff auf die Sittlichkeit und die dort realisierbaren Pflichten und Tugenden ist eine gewisse Entsprechung für die aristotelische Konzeption zu finden, weil das Gute dort nicht nur Forderung bleibt, sondern als »Idee der Freiheit« realisiert ist (§ 142). Aber auch dort bleibt ein Rest der modernen Brechung zwischen einem Glück, das wesentlich als Privatwohl aufgefasst wird, und einer Moral, die sich nicht mehr als Ermöglichungsbedingung eines solchen Glücks aufweisen lässt. Denn die Sittlichkeit setzt zwar Individuen voraus, die sich nicht nur mit sittlichen Institutionen identifizieren, sondern auch ihr Privatwohl anstreben. Besonders deutlich wird dies im »System der Bedürfnisse« aus Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (§§ 189–208). Aber dabei zeigt sich auch, dass die Substanz der Sittlichkeit nach Hegel gerade nicht in der Befriedigung subjektiver Bedürfnisse oder im Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit zu sehen ist. Die höchste Pflicht der Individuen ist für ihn vielmehr, »Mitglieder des Staates zu sein«, in welchem »die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt« (§ 258). Es gilt also festzuhalten, dass Hegel Glück und Tugend schon deshalb stärker trennen muss als Aristoteles, weil er eine moderne Privatisierung des Glücksbegriffs voraussetzt, die sich mit einer objektiven Theorie des guten Lebens nur schwer vereinbaren lässt.38 Trotzdem kommt er Aristoteles gegen Kant sehr weit entgegen. Anders als Wolfgang Bartuschat: Die Glückseligkeit und das Gute in Hegels Rechtsphilosophie, in: Die Rechtphilosophie des deutschen Idealismus, hg. von Vittorio Hösle, Hamburg 1989, 77–100, spricht in diesem Zusammenhang zu Recht sogar von einer »Brechung der Unmittelbarkeit«, die als Voraussetzung für die Integration von Begierden, Neigungen und Trieben in das Ganze der Glückseligkeit anzusehen sei (85). 38 Aus diesem Grund zielen aktuelle Theorien des guten Lebens, die gegen den Subjektivismus von präferenztheoretischen und hedonistischen Ansätzen einen objektiven Ansatz vertreten, meist nur auf allgemeinste Bedingungen des Lebens, wie sie etwa in Menschenrechten greifbar werden. Vgl. z. B. Martha Nussbaum: Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit. Zur Verteidigung des aristotelischen Essentialismus, in: Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen, hg. von Holmer Steinfath, Frankfurt/M. 1998, 196–234, bes. 207 ff. Zur inzwischen verbreiteten Unterscheidung von objektiven, präferenztheoretischen und hedonistischen Ansätzen, die auf Derek Parfit zurückgeht, vgl. die Einleitung von Holmer Steinfath: ebd. 5 ff. 37

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Kolloquium 7 · Walter Mesch

Kant betrachtet er das Glück nämlich nicht als eine auf Dauer gestellte Lust, sondern als eine Befriedigung von Bedürfnissen oder Wünschen, deren inhaltliche Ausrichtung von subjektiven Besonderheiten abhängt. Damit steht er aktuellen Präferenztheorien wesentlich näher als dem Hedonismus. Vor allem aber betont er, dass es das Recht des Subjekts sei, »in der Handlung seine Befriedigung zu finden« (§ 121). Es kann also für Hegel gar keine Rede davon sein, dass das Glücksstreben zu beschneiden wäre, um Moralität fördern zu können. Denn sonst müsste Moralität als notwendige Verletzung eines subjektiven Rechts verstanden werden.39 Es ist aber auch gar nicht erforderlich, dass das Glücksstreben beschnitten werden müsste, um objektive Zwecke zu realisieren. Denn objektive und subjektive Zwecke schließen einander im Wollen nicht aus: »Indem auch die subjektive Befriedigung des Individuums selbst (darunter die Anerkennung seiner in Ehre und Ruhm) in der Ausführung an und für sich geltender Zwecke enthalten ist, so ist beides, die Forderung, daß nur ein solcher als gewollt und erreicht erscheine, wie die Ansicht, als ob die objektiven und die subjektiven Zwecke einander im Wollen ausschließen, eine leere Behauptung des abstrakten Verstandes.« (§ 124) Dass objektive und subjektive Zwecke bzw. normative und motivierende Gründe einander im Wollen nicht ausschließen, bedeutet natürlich nicht, dass sie nicht gegeneinander ausgespielt werden könnten. Vielmehr trägt Hegel dieser Möglichkeit unmittelbar im Anschluss an die zitierte Stelle Rechnung. Dabei wehrt sich Hegel vor allem gegen eine Instrumentalisierung objektiver Zwecke durch die »subjektive Befriedigung«, in der jene leere Behauptung des Verstandes zu etwas Schlechtem werde. Die Anmerkung betont aber erneut das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, und bezieht diese auf die historische Differenz von Antike und Moderne. Anders als das antike Denken rechnet demnach das moderne im Anschluss an das Christentum mit einem unverzichtbaren »Prinzip der Besonderheit«, das unbestreitbar das »Recht einer subjektiven Freiheit« begründet. Dieselbe Epochenschwelle ist einschlägig, wenn es um die Unterscheidung von Motiven und Gründen geht: »In den neueren Zeiten ist es vornehmlich eingetreten, dass man nach den Beweggründen fragt, während man sonst bloß fragte: Ist dieser Mann rechtschaffen? Tut er seine Pflicht? Man will jetzt auf das Herz sehen und setzt dabei einen Bruch des Objektiven der Handlungen und des Subjektiven der Beweggründe voraus.« (§ 121, Zusatz) Hegels Verhältnis zu dieser Neuerung ist offenkundig ambivalent, weil er einerseits einräumt, dass sie für die moderne Praxis konstitutiv ist, und andererseits den diagnostizierten Bruch zwischen Subjektivität und Objektivität für problematisch hält. Auf der einen Seite ist für ihn nicht zu bestreiten, dass es legitim ist, nach subjektiven Beweggründen oder Motiven zu fragen. Das moderne Subjekt will zu Recht etwas,

Dies betont auch Bartuschat: ebd., 100: »Das System der Sittlichkeit ist keine Erneuerung antiker Lebensverhältnisse. Der Standpunkt des Privatwohls […] ist unaufgebbar. Er allein aus dem ganzen Moralitätskapitel taucht in dem Sittlichkeitskapitel wieder auf, nicht nur in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch im Staat, dessen Glied, ohne das der Staat selbst nicht wäre, ich nur bin, sofern meine Verbindlichkeit gegen das Substantielle zugleich das Dasein meiner besonderen Freiheit (§ 261 A) ist.« 39

Gründe in Hegels Handlungstheorie. Zum Moralitätskapitel der Rechtsphilosophie

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»das in ihm begründet ist; es will seine Lust befriedigen, seiner Leidenschaft Genüge tun« (ebd.). Auf der anderen Seite wird beansprucht, dass das »Gute und Rechte« nicht nur ein natürlicher, sondern ein vernünftiger Inhalt ist. Und deshalb ist es nach Hegel der höhere moralische Standpunkt, »in der Handlung die Befriedigung zu finden und nicht bei dem Bruch zwischen dem Selbstbewußtsein des Menschen und der Objektivität der Tat stehenzubleiben« (ebd.). Hegel zielt insofern auf eine möglichst weit gehende Konvergenz von Motiven und Gründen, wo immer objektive Gründe überhaupt ins Spiel kommen. Entscheidend ist dabei die Selbsteinschätzung des Einzelnen im Bezug zu jenem Allgemeinen, das als wahrhaft objektiv gelten kann, also im Bezug zu den sittlichen Institutionen. Wenn sich der Einzelne in seiner Bildung zu einem objektiven Standpunkt emporgearbeitet hat, sich also in den sittlichen Institutionen wiedererkennt, ist die angesprochene Verbindung erfolgreich vollzogen. Wie objektive Zwecke nicht nur beansprucht, sondern auch realisiert werden können, zeigt demnach erst das Sittlichkeitskapitel.40 Aber schon im Moralitätskapitel wird greifbar, wie ihre Verbindung grundsätzlich gedacht werden kann. Man sollte diese konstitutiven Aspekte im häufig kritisierten Moralitätskapitel nicht übersehen.

Hegel betont hier ausdrücklich, dass die sittlichen Institutionen dem Subjekt »nicht ein Fremdes« sind (§ 147). Vielmehr kann es sich in diesen als in »seinem eigenen Wesen« wiedererkennen. Dabei ist die unterste Stufe ein bloßes »Selbstgefühl«, das »unmittelbar noch identischer als selbst Glaube und Zutrauen ist.« Man sollte allerdings nicht übersehen, dass Hegel hier auch mit höheren Reflexionsstufen rechnet, die »eine Einsicht durch Gründe« voraussetzen, und die »adäquate Erkenntnis« dem »denkenden Begriffe« vorbehält. 40

KOLLOQUIUM 8

Psychoanalyse in der Welt der Gründe Kolloquiumsleitung: Matthias Kettner

Matthias Kettner Einführung Patrizia Giampieri-Deutsch Bewusste Gründe, nicht-bewusste Gründe Achim Stephan Zur Adäquatheit von Emotionen und existenziellen Gefühlen Michael B. Buchholz Rationalität und Rationalisierung – Ansichten aus Psychoanalyse und Konversationsanalyse Matthias Kettner Gründe und Affekte

Einführung Matthias Kettner

Zu unserem Selbstverständnis als Personen gehört die Gewissheit, in der Regel aus guten Gründen zu glauben, was man glaubt, zu handeln, wie man handelt, und zu erleben, wie man erlebt. Die Psychoanalyse hat erheblich zur Verunsicherung dieser »Gewissheit« beigetragen, dadurch aber das naturwüchsige Selbstverständnis von Personen bereichert und erweitert, nicht reduziert oder eliminiert. Abwehr und Übertragung benennen zwei für diese komplexere Sichtweise maßgebliche Formen von Personintentionalität, in denen wir – und das ist das Merkwürdige – mehr oder weniger bewusstseinsfern produktiv tätig sind. Nach Auskunft der Psychoanalyse sind Formen bewusstseinsferner Intentionalität für die menschliche Motivation in deren ganzer Breite, Tiefe und Vielfalt genau so bedeutsam, wie die bewusste Orientierung an Prinzipien und anderen guten Gründen es nach Auskunft aller rationalistischen Anthropologie seit Sokrates für die menschliche Vernunft in deren ganzer Breite, Tiefe und Vielfalt sein soll. Was hindert uns, als Philosophen beide Auskünfte zu würdigen und das Beste daraus zu machen? Gewiss, wir rühren an neuralgische Punkte, nämlich bestimmte diskursprägende Dichotomisierungen, allemal die von Normativität versus Faktizität, Geltung versus Genesis, rationale Gründe versus psychologische Motive, und weitere. Sie sind sicher sinnvoll, werfen aber vielleicht blockierende Aporien auf für das Nachdenken über Vernunft und Motivation. Konnte es für David Hume evident sein, dass Vernunft und Motivation ganz unabhängig voneinander fungieren, fand Kant es zwingend, zwischen beiden eine interne Beziehung zu behaupten, zumindest innerhalb der Moral. Die Unvereinbarkeit beider Positionen, bei gleichzeitiger unbestreitbarer Plausibilität einer jeden, verweist auf einen Hintergrund von unausgetragenen Spannungen in Vorannahmen darüber, was Menschen in ihrer Gattungsallgemeinheit als Naturwesen mit anderen Naturwesen gemein haben und was sie andererseits von anderen Naturwesen eigenartig abhebt, Vorannahmen also letztlich der philosophischen Anthropologie. Unausgetragene Spannungen zwischen den Vorannahmen der jeweiligen Anthropologie haben auch methodologische und theoriearchitektonische Konsequenzen, denn sie führen zu unterschiedlichen Ideen und Programmen, wie Theoriebildung über den Menschen und die menschlichen Verhältnisse möglichst vollständig und auf angemessen Weise zu bewerkstelligen sei. Die Wissenschaft vom Menschen, ein Desiderat der europäischen Aufklärung mit ihrer »anthropologischen Wende« – der Enttheologisierung, Naturalisierung und Historisierung des Menschen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts – bildet heute ein bloß noch nominelles Dach über naturwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen, kulturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Theoriebildungen über homo sapiens

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Kolloquium 8 · Matthias Kettner

typische Phänomene. Diese verschiedenartigen Theoriebildungen sind teils in Konflikt, teils in Kooperation, sie bilden Allianzen (gerne mit derjenigen Wissenschaft, die gerade vom Zeitgeist modisch bevorzugt wird) und Mesalliancen (für eine solche halte ich derzeit die Werbung der Psychoanalyse um die Gunst der Hirnforschung) und manchmal auch Fehden, Feindschaften, Fronten – man denke an die science wars der postmodernen Neunziger Jahre, wir denken aber vor allem und aktueller an die philosophisch interessanten Konfrontationen zwischen »Naturalisten« und »Nichtnaturalisten«. An dieser Front werden sogar die alten Kampfgeister von »Materialismus versus Idealismus« und die uralten von »Empirismus versus Rationalismus« kräftig reanimiert. Der diesjährige Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie hat die harmonische Vereinheitlichungsmetapher von der »Welt der Gründe« als Leitthema. Doch dabei ist klar, dass die Frage, wie die Welt der Gründe – also jedenfalls die Welt, die wir als rationale Personen bevölkern – überhaupt zu verorten sei innerhalb derjenigen Welt, welche die Physiker, obwohl auch sie rationale Personen sind, für die ganze natürliche Welt halten, auf scharfe Konfrontationen verweist. Unser heutiges Kolloquium will mit seinem Titel »Psychoanalyse in der Welt der Gründe« das Ziel andeuten, die Diskurshoheit in der Welt der Gründe nicht den Rationalisten unter den Philosophen zu überlassen, sondern für die Erschließung und Kartierung dieser Welt die Erfahrung derjenigen zu Rate zu ziehen, die als Psychoanalytiker einer Disziplin angehören, die zurecht als eine radikal rationalismuskritische Bewegung in der Moderne gelten darf. Die psychoanalytische Aufklärung sollte m. E. massive Folgen für die anthropologischen Prämissen in allen Humanwissenschaften haben – Konsequenzen, die im Rang den Konsequenzen nicht nachstehen, die der gleichfalls rationalismuskritische philosophische Pragmatismus von Dewey bis Rorty für unser überlegtes Selbst- und Weltbild hat. Gewiss kann man Freud und die Konsequenzen, zumal unter Philosophen, auf eine bloß therapeutische Disziplin, eine Heilkunde und Kunstlehre herunterdefinieren. Aber durch solche Depotenzierungsmanöver, davon bin ich überzeugt, würden wir für wichtige Problemstellungen der praktischen Philosophie so viel verlieren, wie wenn wir uns Darwin und die Konsequenzen damit vom Halse halten wollten, dass die Theorie der natürlichen Evolution ja bloß auf die Welt der Biologie zugeschnitten sei. Ich meine: Soweit Philosophieren ein Nachdenken ist, das sich so radikal wie möglich und so wenig borniert wie möglich für die relative Vernünftigkeit von etwas interessiert, was immer dies sei, soweit darf praktisches Philosophieren über die Realitäten der menschentypischen Lebensform nicht vornehm tun gegen das reichhaltige, über mehr als hundert Jahren akkumulierte Erfahrungswissen der Psychoanalyse. Wer z. B. über die kapitalistische Marktwirtschaft philosophisch nachdenken will, aber nur die Rationalitätsfiktionen der Märkte oder die Normativität von Rahmenordnungen thematisiert, das psychoanalytische Wissen über Gier, Neid, Rivalität und Fetischismus aber ignoriert, kann nur wirklichkeitsunterbietend philosophieren. Wer über Demokratie, Inklusion und Multikulturalismus nachdenkt, über die Emergenz normativer Ordnungen von Völker- und Menschenrechten aber das psychoanalytische Wissen über die Störbarkeit der Entwicklung von Wir-Identität und Ich-Identität, Verachtung, Frem-

Einführung

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denhass und Selbsthass ignoriert, kann nur wirklichkeitsunterbietend philosophieren. Wer schließlich über Emotionen philosophiert, aber das psychoanalytische Wissen über das menschliche Gefühlsleben ignoriert, wird nur alten Wein in neuen Schläuchen produzieren oder womöglich, weil unsere philosophische Professionalität uns unweigerlich zu sophisticated technicalities treibt, gestelzten Unsinn. Die Psychoanalyse Sigmund Freuds stand für die Idee und das Programm einer allgemeinen wissenschaftlichen Psychologie, die alle bewussten und unbewussten seelischen Prozesse und Strukturenbildungen der Person, und zwar der psychisch gesunden wie der psychisch gestörten Person, empirisch erforschen sollte. Was aus diesem Programm bis heute geworden ist, ist eine vielschichtige Frage, mit deren Beantwortung man es sich nicht zu leicht machen sollte. Sicher zu leicht wäre die Antwort, die Psychoanalyse selbst sei gestelzter Unsinn. Leider haben sich außer Popper, der einst die schrille Warnung vor der angeblich unfalsizifierbaren »Pseudowissenschaft« Psychoanalyse ausgab,1 nur wenige gute Philosophen mit Psychoanalyse beschäftigt, und noch weniger haben dies gründlich getan.2 Alasdair Mactintyres 1957 erschienene Studie The Unconscious: A Conceptual Analysis verharrt zu sehr im engen Blickwinkel des logischen Empirismus, wie MacIntyre im Vorwort zur Neuauflage 2004 selbstkritisch vermerkt. Paul Ricoeur hat in der 60er Jahren Freuds Theorie von Sinn und Bedeutung gewürdigt,3 Richard Wollheim seit den 70er Jahren Freuds Anthropologie.4 Die wissenschaftsphilosophische Analyse der Psychoanalyse, die in Amerika mit Sidney Hooks Symposium 1959 in Schwung kommt,5 (ver)endet 1984 in gewissem Sinne mit Adolf Grünbaums Kritik der »Grundlagen der Psychoanalyse«.6 Habermas, der 1968 in Erkenntnis und Interesse noch Interesse für Psychoanalyse als einen Idealtypus kritischer Theorie gezeigt hatte, hat dieses später verloren. Erst seit etwa zehn Jahren kommen die Auseinandersetzungen mit Psychoanalyse innerhalb der deutschsprachigen Philosophie wieder in Gang, woran die Referenten unseres Kolloquiums einigen Anteil haben. Wegen der immensen Verständigungsprobleme bedarf dieser Polylog in Zukunft der Verstetigung und Verbreiterung, auch und gerade innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. Interessante Spannungen zwischen der psychoanalytisch-naturalistischen Perspektive und der philosophisch-rationalistischen Perspektive zeigen sich an vielen Punkten, von denen die Referenten des Kolloquiums einige im Rahmen der folgenden Fragen bearbeiten: Wie können psychoanalytische Erklärungen personaler Motivation die Standardform der Handlungserklärung aus den Wünschen (bzw. Pro-Einstellungen) Karl R. Popper: Conjectures and Refutations, New York 1962. Vgl. The Cambridge Companion to Freud, hg. von Jerome Neu, Cambridge 1991. 3 Paul Ricoeur: Die Interpretation, Frankfurt 1969. 4 Richard Wollheim: Sigmund Freud, München 1972. Philosophical Essays on Freud, hg. von Richard Wollheim und James Hopkins, Cambridge 1983. 5 Psychoanalysis, Scientific Method and Philosophy, hg. von Sidney Hook, New York 1959. 6 Adolf Grünbaum: The Foundations of Psychoanalysis. A Philosophical Critique, Berkeley 1984 [dt.: Die Grundlagen der Psychoanalyse. Eine philosophische Kritik, Stuttgart 1988]. Ders.: A Final Accounting: Philosophical and Empirical Issues in Freudian Psychology, Harvard 1995. 1

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plus Überzeugungen des Akteurs erweitern? Wie (wenn überhaupt) sollte sich unsere Auffassung der »rationalen Person« erweitern, wenn wir psychoanalytische Einsichten berücksichtigen? Die Bedeutung von »Bedeutung« ist im psychoanalytischen Begriffsrahmen eine andere als im Rahmen jener Bedeutungstheorien, die auf Wahrheitsbedingungen von Propositionen oder Gültigkeitsbedingungen von Äußerungen abheben; welche Differenzen bestehen und was ist Vernünftiges daran? Wie erscheint die Differenz zwischen »Rationalisierung« – eine Form abwehrmotivierter Selbsttäuschung – und »echten« bzw. »transparenten« Handlungsgründen, wenn man methodologische Perspektiven aus Psychologie und Soziologie miteinander verbindet? Lassen sich (einige) psychische Störungsbilder als systematische Orientierungsfehler oder -defizite im Raum der Gründe beschreiben? Patrizia Giampieri-Deutsch ist Psychoanalytikerin sowie Professorin für Philosophie an der Universität Wien, zudem Lehranalytikerin und Supervisorin der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und der International Psychoanalytical Association sowie korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Mitglied in deren Kommission für Linguistik und Kommunikationsforschung.7 Achim Stephan ist Professor für Philosophie der Kognition an der Universität Osnabrück und arbeitet besonders über Emergenz, Emotionen und Affektivität. 1989 erschien von ihm Sinn als Bedeutung: bedeutungstheoretische Untersuchungen zur Psychoanalyse Sigmund Freuds und 2003 der zusammen mit Henrik Walter herausgegebene Band Natur und Theorie der Emotion.8 Michael Buchholz ist Diplompsychologe und Soziologe, Professor am Institut für Soziologie der Universität Göttingen, Vertretungsprofessor für Psychoanalyse an der Universität Kassel, sowie in Berlin Gastprofessor an der International Psychoanalytic University, wo er Grundlagen der klinischen Psychoanalyse und psychoanalytische Sozialpsychologie lehrt. Viele einschlägige Veröffentlichungen9 über Familientherapie, Psychotherapieforschung und das Unbewusste dokumentieren seine interdisziplinäre Offenheit. Die wichtigsten Buchveröffentlichungen von Patrizia Giampieri-Deutsch zu unserem Thema sind: Sensory Perception. Mind and Matter, hg. zus. m. Friedrich G. Barth und Hans-Dieter Klein, Wien/New York 2012; Geist, Gehirn, Verhalten: Sigmund Freud und die modernen Wissenschaften, Würzburg 2009; Psychoanalysis as an Empirical Interdisciplinary Science: Collected Papers on Contemporary Psychoanalytic Research, Wien 2005; Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften. Europäische Perspektiven, Stuttgart 2002; Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften. Anglo-amerikanische Perspektiven, Stuttgart 2004. 8 Die neueste für unser Themenfeld hochrelevante Buchveröffentlichung von Achim Stephan ist die zusammen mit Jan Slaby, Henrik Walter und Sven Walter herausgegebene Aufsatzsammlung Affektive Intentionalität. Beiträge zur welterschließenden Funktion der menschlichen Gefühle, Paderborn 2011. 9 Michael B. Buchholz: Unbewusstes, zus. m. Günter Gödde, Gießen 2011; Die Psychoanalyse im Pluralismus der Wissenschaften, hg. zus. m. Karsten Münch, Gießen 2010; Tat-Sachen: Narrative von Sexualstraftätern, zus. m. Franziska Lamott und Kathrin Mörtl, Gießen 2008. Das Unbewusste in der Praxis : Erfahrungen verschiedener Professionen, Gießen 2008; Das Unbewusste in aktuellen Diskursen – Anschlüsse, Gießen 2005; Macht und Dynamik des Unbewussten: Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse, Gießen 2005, alle drei Bände hg. zus. m. Güter Gödde. Die unbewusste Familie: Lehrbuch der psychoanalytischen Familientherapie, München 1995. 7

Einführung

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Matthias Kettner ist Diplompsychologe und Professor für Praktische Philosophie an der Universität Witten/Herdecke. Er hat seit Auseinandersetzungen mit der Psychoanalysekritik Adolf Grünbaums insbesondere über Deutungslogik gearbeitet.10

Reflexionen über das Unbewusste. Philosophie und Psychologie im Dialog, zus. m. Wolfgang Mertens, Göttingen 2010; Das Konzept der Nachträglichkeit in Freuds Erinnerungstheorie, in: Psyche, 4 (1999) 309–342; Psychoanalytische Kulturtheorie – Die Zukunft einer Desillusion, in: Kulturtheorie. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Band 24, hg. von Ortrud Gutjahr, Würzburg 2005, 19–44; How to argue about Psychodynamic Interpretations. A Case Study of Complex Argumentation, in: Proceedings of the Second International Conference on Argumentation, hg. von Frans H. van Eemeren, Rob Grootendorst, J. Anthony Blair, Charles A. Willard, Amsterdam 1991, 1051–1061; Peirce’s Notion of Abduction and Psychoanalytic Interpretation, in: Semiotic Perspectives on Clinical Theory and Practice: Medicine, Neuropsychiatry and Psychoanalysis, hg. von Bonnie E. Litowitz und Phillip S. Epstein, New York 1991, 163–180. 10

Bewusste Gründe, nicht-bewusste Gründe Patrizia Giampieri-Deutsch

Es kann der Fall sein, dass Gründe für die eigene Meinung, das eigene Wissen bzw. die eigene Handlung aus der Erste-Person-Perspektive angeführt oder berichtet werden können, die diese Meinung, dieses Wissen bzw. diese Handlung offensichtlich rechtfertigen könnten, also »gute« Gründe darstellen können, die ein anderes Subjekt – z. B. die eigene AnalytikerIn – überzeugen könnten. Diese vorgebrachten, berichteten und bewussten Gründe müssen jedoch nicht jene Gründe sein, weshalb das Subjekt bzw. die AnalysandIn ihre Meinung, ihren Wissensstand vertritt oder ihre Handlung begründet. Die ausschlaggebenden, »wirklichen« Gründe für eine Meinung, einen Wissensstand, eine Handlung sind erfahrungsgemäß selten bewusst und das Subjekt, in unserem Fall die AnalysandIn, kann darüber kaum Auskunft geben. In der Psychoanalyse wird jener Prozess, welcher die scheinbar »guten« Gründe hervorbringt, »Rationalisierung« genannt.

1. Rationalisierung in der Psychoanalyse Der Begriff der Rationalisierung wurde 1908 – Freud zufolge in seiner Laudatio »Ernest Jones zum 50. Geburtstag«, den Autor Jones würdigend – auf dem ersten psychoanalytischen Kongress in Salzburg eingeführt. Damals »tat sich ein junger englischer Arzt hervor, der einen kleinen Aufsatz ›Rationalisation in Everyday Life‹1 zur Verlesung brachte. Der Inhalt dieser Erstlingsarbeit ist noch heute aufrecht; unsere junge Wissenschaft war durch sie um einen wichtigen Begriff und einen unentbehrlichen Terminus bereichert worden.«2

1 Ernest Jones: Rationalisation in every-day life, in: Journal of Abnormal Psychology 3 (1908), 161–169. 2 Sigmund Freud: Ernest Jones zum 50. Geburtstag (1929a), in: ders.: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud u. a., 18 Bde. u. ein unnummerierter Nachtragsband (im Folgenden zitiert als GW), Bd. 14. Frankfurt 1987, 554. Die in Klammern ergänzten Jahresangaben geben das Jahr der Erstveröffentlichung an. Im gleichen Jahr publizierte Schriften werden durch Kleinbuchstaben unterschieden. Die nachgestellten Zahlen nennen das Jahr der Niederschrift. Die Jahresangaben zu den Publikationen Sigmund Freuds sind entnommen aus: Ingeborg Meyer-Palmedo, Gerhard Fichtner: Freud-Bibliographie mit Werkkonkordanz, Frankfurt 1989, 15–90.

Bewusste Gründe, nicht-bewusste Gründe

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1.1 Rationalisierung in der Philosophie am Beispiel von Donald Davidson Während Rationalisierung in der Psychoanalyse klinisch als Abwehrmechanismus verstanden wird, definiert hingegen Donald Davidson in »Handlungen, Gründe und Ursachen« den Begriff »Rationalisierung« bekanntlich anders als in der Psychoanalyse: »Was ist die Beziehung zwischen einem Grund und einer Handlung, wenn der Grund die Handlung erklärt, indem der Grund des Handelnden für sein Tun angegeben wird? Derartige Erklärungen können wir Rationalisierungen nennen und sagen, dass der Grund die Handlung rationalisiert.«3 Der angeführte Grund »rationalisiert« die Handlung, indem er sie wirklich rechtfertigt. Davidsons Annahme ist, dass der angeführte Grund der ausschlaggebende, »gute«, »wirkliche« Grund für eine Handlung ist. Es wird nicht Ausschau nach einem zweiten verborgenen Grund gehalten, der noch unbewusst wäre. Darüber hinaus – dadurch Grund mit Ursache gleichsetzend – nimmt Davidson an, »dass die Rationalisierung eine Spielart der kausalen Erklärung ist.«4 Ernest Jones sowie mehrere AnalytikerInnen nach ihm würden Davidson übrigens darin folgen. In dem schon erwähnten Rationalisierungsaufsatz spricht Jones durchgehend von »cause«, also von »Ursache«, und nicht von »Grund«.

1.2. Ist Rationalisierung ein Abwehrmechanismus? Zurück zur Rationalisierung in der Psychoanalyse. Obwohl Anna Freud die Rationalisierung nicht in ihre Klassifizierung der Abwehrmechanismen5 aufnimmt und andere – inklusive Jean Laplanche und Jean-Baptiste Pontalis6 – ihr darin folgen, tritt Paulina Kernberg dafür ein, die Rationalisierung als einen Abwehrmechanismus zu verstehen, der folgendermaßen formuliert werden könnte: »Ich offeriere mögliche Erklärungen statt der eigentlichen.«7 Paulina Kernberg unterteilt die Abwehrmechanismen in vier Gruppen, die der normalen, der neurotischen, der Borderline- und der psychotischen Abwehr dienen, und zählt die Rationalisierung zur neurotischen Abwehr. Schon Freud sah in der Rationalisierung keine wahnbildende Abwehr. Der Größenwahn, meint Freud, ist keine Rationalisierung des Verfolgungswahns (à la »ich muss ein wichtiger Mensch sein, wenn ich von solchen Großmächten verfolgt werde«, vgl.

3 Donald Davidson: Handlungen, Gründe und Ursachen, in: ders.: Handlung und Ereignis, Frankfurt 1990 (engl. ursprünglich 1980), 19. 4 Ebd., 19. 5 Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen, in: dies.: Die Schriften der Anna Freud. Bd. 1, München 1980 (engl. ursprünglich 1936). 6 Jean Laplanche, Jean-Baptiste Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. 2, Frankfurt 1972 (ursprünglich 1967), 418–419. 7 Paulina Kernberg: Aktuelle Perspektiven über Abwehrmechanismen, in: Bulletin der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1 (1991), 13.

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Kolloquium 8 · Patrizia Giampieri-Deutsch

Laplanche und Pontalis8). In »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia«, in seinem »Fall Schreber« kritisiert Freud, dass in den Lehrbüchern der Psychiatrie die »Auslösung des Größenwahnes […] somit einem Vorgang zugeschrieben [wird], den wir nach einem guten Wort von E. Jones ›Rationalisierung‹ heißen.« Freud weigert sich »einer Rationalisierung so stark affektive Konsequenzen zuzutrauen«9 und scheint dabei eher an eine Spielart neurotischer als psychotischer Abwehr zu denken. So sind mögliche Beispiele von Rationalisierung in Interaktionen zwischen AnalytikerIn und AnalysandIn mehr im Rahmen der Analyse einer normal-neurotischen Persönlichkeitsorganisation vorstellbar.

1.3. Der Einwand eines »unendlichen Regresses« Der Psychoanalytiker Walter Hollitscher hebt hervor, dass Rationalisierung sowohl von BefürworterInnen als auch von KritikerInnen als ein paradigmatischer Begriff der Psychoanalyse angesehen wird.10 In den Worten des Psychoanalytikers Heinz Hartmann: »Die Psychoanalyse versucht, wo immer möglich, Rationalisierungen zu durchschauen und zu der wahren Dynamik der Motivation vorzudringen, die sich hinter ihnen verbirgt.«11 Jedoch stellt sich die folgende Frage: Wie abgesichert ist ggf. die Deutung des von der AnalysandIn explizit angeführten Grundes als eine Rationalisierung? Könnte nicht jener von der AnalytikerIn als »wirklich« gedeutete Grund seinerseits eine Rationalisierung sein? Hollitscher sieht hier die Möglichkeit des Einwandes eines »unendlichen Regresses«, der zur Kritik oder sogar Zurückweisung der psychoanalytischen Methode führen könnte.12

1.4. Sind nicht angeführte, nicht berichtbare Gründe irrational? Keinesfalls müssen die nicht anführbaren, nicht berichtbaren Gründe für die eigene Meinung, das eigene Wissen, die eigene Handlung irrational sein. Vielmehr fallen sie der Abwehr zum Opfer, weil die AnlaysandIn sie als nicht zu ihren – affektgetönten – Selbst- und Objektvorstellungen passend erlebt.

8 Jean Laplanche, Jean-Baptiste Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. 2, Frankfurt 1972 (Original: 1967), 419. 9 Sigmund Freud: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides ) [Schreber] (1911c [1910]), GW, Bd. 8, 284. 10 Walter Hollitscher: The concept of rationalization. Some remarks on the analytical criticism of thought, in: International Journal of Psycho-Analysis 20 (1939), 330–332. 11 Heinz Hartmann: Psychoanalyse und moralische Werte, Stuttgart 1973 (Original: 1960), 55. 12 Walter Hollitscher: The concept of rationalization. Some remarks on the analytical criticism of thought, in: International Journal of Psycho-Analysis 20 (1939), 330.

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So bringt der Vorgang der Rationalisierung von »wirklichen«, ausschlaggebenden und doch verborgenen Gründen keinesfalls immer Gründe hervor, die rationaler sind als jene »Gründe«, die durch die Abwehr wegrationalisiert werden. Zugegeben, zumindest seit Paul Ricœurs Die Interpretation. Ein Versuch über Freud genießen psychoanalytische Deutungen den Ruf der »Übung des Zweifels«.13 Insbesondere angeführte moralische Gründe für die eigene Meinung und die eigene Handlung erweisen sich oft als Rationalisierungen von »wirklichen«, ausschlaggebenden, eigennützigen Gründen.

1.5. Auch gute Gründe können rationalisiert werden Es kann jedoch auch gut das Gegenteil der Fall sein, sodass »wirkliche«, ausschlaggebende Gründe, welche in jeder Hinsicht »gute« Gründe sind, der Abwehr zum Opfer fallen und rationalisiert werden. Auch gegen Über-Ich-Gebote, die von jenem Anteil oder der Substruktur des Über-Ichs im dreiteiligen Strukturmodell des Mentalen ausgehen, die »Gewissen« genannt wird, kann sich der Rationalisierungsvorgang richten. Der Analytiker Heinz Hartmann hat dazu treffend bemerkt: »Es kommt häufig vor, dass Menschen sich entsprechend ihren moralischen Gesetzen verhalten und auf alle Fälle ständig unter ihrem Einfluss stehen und sich doch weigern, zuzugeben, dass es sich um ihre eigenen Gesetze handelt. Eher würden sie versuchen, ihr Verhalten im Sinn ihrer eigenen Interessen oder sonst in ähnlicher Weise zu erklären.«14 Derselbe Rationalisierungsvorgang vermag eigenen Über-Ich-Werten des Subjekts widerfahren, die von jenem Anteil oder der Substruktur des Über-Ichs kommen, die psychoanalytisch als »Ich-Ideal« bezeichnet wird. Eine AnalysandIn kann durchaus ihre »wirklichen« Gründe, die im Rahmen einer Pflichten- bzw. Sollensethik oder einer Werteethik »gut« und ausschlaggebend für ihre Meinung oder ihre Handlung sind, rationalisieren. Ihre Meinung: »Man soll (= Pflicht, Imperativ) anderen Menschen in Not helfen bzw. es ist gut (= Wert), es zu tun« und ihre pflicht- bzw. wertkonformen Handlungen können z. B. durch angeführte Gründe rationalisiert werden, die ihr von ihrer Erste-Person-Perspektive aus kulturell kompatibler, im gesellschaftlicher Kontext akzeptabler erscheinen, z. B. durch Gründe der Eigennützigkeit.15 Ihre Meinung kann die AnalysandIn auf diese Weise rationalisierend begründen: »Anderen Menschen in Not zu helfen, lohnt sich wegen des guten Rufes, der ›Publicity‹, wegen einer möglichen Belohnung usw.« Auch ihre Handlung kann sie rationa-

Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt 1974 (ursprünglich 1965), 45. Heinz Hartmann: Psychoanalyse und moralische Werte, Stuttgart 1973 (ursprünglich 1960), 33. 15 Vgl. auch Patrizia Giampieri-Deutsch: Aggression und Normengenese. Zum ethischen Subjekt in der Psychoanalyse, in: Geschichte und Gegenwart 18/4 (1999), 227–244; dies.: Ethik in der österreichischen Philosophie, in: Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 6.2: Philosophie und Religion: Gott, Sein und Sollen, hg. von Karl Acham, Wien 2006, 441–498. 13 14

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lisierend begründen: »Ich helfe anderen Menschen in Not, denn es wird mir Vorteile bringen«, selbst wenn ihr in ihren Assoziationen nichts Konkreteres als ein möglicher Sekundärgewinn einfallen will. Hartmann hatte zur Rationalisierung der Über-Ich-Gebote und der Über-Ich-Werte bemerkt: »Häufig spielen bei diesen Haltungen kulturelle Faktoren eine überragende Rolle. Wir beobachten heute eine starke Tendenz, […] die Moral als ein unglückliches und beschwerliches Relikt religiöser oder metaphysischer Systeme aufzufassen. Dabei werden die moralischen Imperative des Menschen als etwas angesehen, das seinem Wesen nach nicht psychologisch ›real‹ ist oder das auferzwungen wurde und bösartige Auswirkungen hat.«16 Die beschriebene Wegrationalisierung der »guten« ausschlaggebenden Meinungsund Handlungsgründe der AnalysandIn hängt nach psychoanalytischer Auffassung mit ihren unbewussten Selbst- und Objektvorstellungen zusammen, mit den unbewussten Meinungen, dem Wissen, welches das Subjekt sich selbst und seinen bedeutenden Anderen, seinen »Objekten« – darunter auch der AnalytikerIn – zuschreibt.

2. Was ist ein Objekt? Objektbeziehungstheorie Der Ausdruck »Objekt« bezieht sich nicht auf einen unbelebten Gegenstand im Unterschied zu »Subjekt«, sondern auf emotional bedeutsame andere Subjekte, wie sie jedes Subjekt im Laufe der eigenen Entwicklung verinnerlicht. Eine Theorie der Selbst- und Objektvorstellungen bildet einen zentralen Baustein in der gegenwärtigen psychoanalytischen Theorie des Mentalen.17 Eine große klinische Objektbeziehungstradition innerhalb der Psychoanalyse geht auf Sándor Ferenczi zurück, jenen alt-österreichischen, ungarischen Pionier der Psychoanalyse, der von Beginn an die Relevanz aller prä-, paraoder einfach nicht verbalen Äußerungen der menschlichen Subjekivität anerkannte. Die Objektbeziehungstheorie stellt heute einen integrierten Teil des Standardmodells der Gegenwartspsychoanalyse dar und durchdringt die alltägliche klinische Arbeit, sowohl in der psychodynamischen Psychiatrie wie in den psychodynamisch orientierten Psychotherapien.18 Im Laufe meiner Editionsarbeit an der Freud-Ferenczi Korrespondenz gelang mir der Nachweis, dass die Objektbeziehungstheorie so alt wie die Psychoanalyse selbst ist, da Ferenczi von Anfang an an ihr arbeitete und sie in die analytische Theorie und 16 Heinz Hartmann: Psychoanalyse und moralische Werte, Stuttgart 1973 (ursprünglich 1960), 1960, 33. 17 Patrizia Giampieri-Deutsch: Zum »Objekt« in der psychoanalytischen Theorie des Mentalen und in der klinischen Theorie, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 32 (2001), 157–175. Vgl. auch Donald McIntosh: Cathexes and their objects in the thought of S. Freud, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 41 (1993), 679–709; Leo Rangell: The object in psychoanalytic theory, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 33 (1985), 301–334. 18 Patrizia Giampieri-Deutsch: Ferenczis Beitrag zur Theorie des psychoanalytischen Prozesses, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis 10 (1995), 259–291.

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Behandlungstechnik integrierte. Ferenczi ist daher weniger bei den GründerInnen der historischen Psychoanalyse einzureihen, sondern vielmehr als der Vorläufer der gegenwärtigen Psychoanalyse anzusehen.19 Ferenczi bewegte sich von einem frühen Modell der mentalen Entwicklung in der psychoanalytischen Theorie, das nur ein Subjekt berücksichtigt, zu einem Modell des Mentalen, des Geistes, das von zwei Subjekten in Beziehung zueinander ausgeht. Ferenczis psychoanalytische Objektbeziehungstheorie ist nicht nur eine Theorie der Pathologie und der Behandlungstechnik, sondern auch eine Theorie des Mentalen und der mentalen Entwicklung. In seiner Untersuchung zu Introjektion und Übertragung20 widmet sich Ferenczi dem »Objekt« des Ichs und berücksichtigt schon im Jahr 1909 die Dimension der Intersubjektivität. Die Introjektionsprozesse, die Ferenczi hier zu untersuchen beginnt, sind alle Vorgänge, durch die das Ich die Beziehung zu einem äußeren Subjekt (dem »Objekt«) bildet, dieses Objekt in sich aufnimmt und eine innere, mentale Welt mit internen mentalen Objekten aufbaut.21 Die Introjektion ist eine Ausweitung des Ichs, die »Ausdehnung des ursprünglich autoerotischen Interesses auf die Außenwelt durch Einbeziehung derer Objekte in das Ich.«22 Während für Freud die Beziehung des Ichs zu einem Objekt eher eine spätere Entwicklung darstellt, ist die Bindung des Ichs an ein Objekt für Ferenczi primär. Während Freud eher die intrapsychischen Phänomene betont, hebt Ferenczi mehr die intersubjektiven Aspekte hervor und die »Budapester Schule«, darunter Michael Balint und Imre Hermann, wird Ferenczis Ansätze weiterentwickeln. Der menschliche Geist ist relational und muss in einem intersubjektiven Zusammenhang untersucht werden. Entwicklung und Pathologie finden in der Beziehung zur Familie und zu den wichtigen frühen Menschen, den psychoanalytischen »Objekten«, statt. Die Behandlung entwickelt sich in der Beziehung zur AnalytikerIn, sodass die Übertragung der AnalysandIn nur im Zusammenhang mit der Gegenübertragung der AnalytikerIn verständlich wird. Ferenczi ersetzt das Intrapsychische nicht einfach durch das Intersubjektive und damit die klassische psychoanalytische Technik durch eine intersubjektive Variante, sondern erklärt Intersubjektivität zum Ursprung und zur konstitutiven Natur jeder intrapsychischen Struktur.

Patrizia Giampieri-Deutsch: The influence of Ferenczi´s ideas on contemporary standard technique, in: Ferenczi´s Turn in Psychoanalysis, ed. by Peter Rudnytsky, Antal Bókay, Patrizia GiampieriDeutsch, New York 1996, 224–247; Patrizia Giampieri-Deutsch: Der Beitrag Ferenczis zur psychoanalytischen Theorie des Mentalen, in: Verdrängter Humanismus – verzögerte Aufklärung. Philosophie in Österreich 1920–1951, hg. von Michael Benedikt, Reinhold Knoll, Cornelius Zehetner, Wien 2005, 406–415. 20 Sándor Ferenczi: Introjektion und Übertragung. Eine psychoanalytische Studie, Wien 1909. 21 Vgl. Joseph Sandler, Meir Perlow: Internalization and externalization, in: Projection, Identification, Projective Identification, ed. by Joseph Sandler, Madison 1987, 1–11; vgl. auch Patrizia GiampieriDeutsch: Zum »Objekt« in der psychoanalytischen Theorie des Mentalen und in der klinischen Theorie, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 32 (2001), 157–175. 22 Sándor Ferenczi: Zur Begriffsbestimmung der Introjektion, in: ders.: Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 1, Bern, Stuttgart, Wien 1984 (ursprünglich 1912), 58. 19

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Späterhin definierte Otto Kernberg die Objektbeziehungstheorie besonders übersichtlich, leider ohne sich dabei auf die grundlegende Forschung von Sándor Ferenczi zu beziehen und sie zu würdigen. Kernberg definiert Objektbeziehungen als Verinnerlichungen der subjekteigenen Beziehungen mit wichtigen anderen Subjekten, die aus folgenden Komponenten bestehen: einem Objektbild (Objektvorstellung) als Repräsentanz des wichtigen anderen Subjektes; einem Selbstbild (Selbstvorstellung) als Repräsentanz von sich selbst in Interaktion mit diesem Objekt; und der Affektlage, sowohl des Objektbildes (Objektvorstellung) wie auch des Selbstbildes (Selbstvorstellung) unter dem Druck der Triebrepräsentanz im Moment der Interaktion.23 Kernberg zufolge werden auf diese Weise im Verinnerlichungsprozess affektive Gedächtnisstrukturen gebildet, die aus Selbstvorstellungen in Interaktion mit dem wichtigen anderen Subjekt bzw. Subjekten (Objektvorstellungen), durchdrungen von starken Affekten, bestehen, wie z. B. die Verinnerlichung »einer befriedigenden, zuverlässigen Muttervorstellung in Beziehung zu einer liebenden, befriedigten Selbstvorstellung.«24

2.1. Selbst- und Objektvorstellungen und das Strukturmodell des Mentalen In welcher Beziehung stehen Selbst- und Objektvorstellungen zu Ich, Es und Über-Ich, den drei Instanzen in Freuds dreiteiligem Strukturmodell des Mentalen? In der Verinnerlichung von Objektbeziehungen und ihren affektiven Besetzungen entspringt erst das Modell des Mentalen mit den Strukturen Ich, Es und Über-Ich.25 Schon in den Siebzigerjahren hob Kernberg hervor, »daß Affekte als das früheste motivationale System fungieren und dass die Fixierung einer verinnerlichten Welt von Objektbeziehungen durch das Gedächtnis eng mit Affekten gekoppelt ist.«26 Überdies verinnerlicht das Kind nicht einfach das andere Subjekt als sein Objekt, sondern die ganze, stark emotional gefärbte Erfahrung der Beziehung mit diesem Subjekt.27 Nach der Objektbeziehungstheorie werden unbewusste Selbst- und Objektvorstellungen in jeder menschlichen Kommunikation – und in der psychoanalytischen Situation ist das in concreto beobachtbar – unter dem Einfluss einer jeweils herrschenden Affektlage aktiviert: »[J]edes Mal wenn eine Objektbeziehung in der Übertragung auflebt, kommt auch ein bestimmter Affektzustand ins Spiel.«28 Im Lauf der psychoanalytischen Behandlung verändern sich Selbst- und Objektvorstellungen und weisen womöglich auf eine Verbesserung des Zustands der AnalysandInnen hin. Was sich hierbei entwickelt, sind jedoch nicht allein die verbalen Selbst-Beschreibungen oder die Beschreibungen Otto Kernberg: Objektbeziehungen und Praxis der Psychoanalyse. Stuttgart 1981 (ursprünglich 1976), 25. 24 Ebd., 75. 25 Vgl. Otto Kernberg: Wut und Haß. Stuttgart 1997 (Original: 1992), 26. 26 Ebd., 28. 27 Vgl. auch Patrizia Giampieri-Deutsch: Zum »Objekt« in der psychoanalytischen Theorie des Mentalen und in der klinischen Theorie, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 32 (2001), 157–175. 28 Otto Kernberg: Wut und Haß, Stuttgart 1997 (ursprünglich 1992), 23. 23

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der Anderen auf einer bloß sprachlichen Ebene, vielmehr kommt es zu ausdrücklichen Veränderungen auch der Affektlage, der Stimmung, der Gestik und Mimik der AnalysandInnen gegenüber ihren Objekten, d. h. gegenüber der AnalytikerIn innerhalb der klinischen Situation sowie den Menschen außerhalb.

2.2. Unabhängige empirische Belege für die Objektbeziehungstheorie Der Psychiater und Psychologie Drew Westen konnte überzeugend zeigen, dass eine Reihe von Annahmen Freuds, die in der zeitgenössischen psychoanalytischen Theorie als Grundannahmen gelten, durch unabhängige empirisch-quantitative psychologische Forschung in Form indirekter Beweise validiert wurden.29 Zu diesem Zweck stellte Westen eine Fülle experimenteller Ergebnisse von unvoreingenommenen, an Psychoanalyse uninteressierten ForscherInnen zusammen, die sich mit »sozialer Kognition« oder »sozialer Wahrnehmung« beschäftigten. Unter anderem konnte die Annahme überprüft und bestätigt werden, dass die Selbst- und Objektvorstellungen des Subjekts sowie seine Vorstellungen von den Beziehungen zwischen dem Selbst und den Objekten, für alle seine Interaktionen mit anderen Subjekten ausschlaggebend sind.

3. Nicht-bewusste Gründe: latente, vorbewusste Gründe und dynamisch unbewusste Gründe Was den Status der ausschlaggebenden, nicht-bewussten, rationalisierten Gründe betrifft, entsteht als erstes die Frage, ob diese Gründe vorbewusst bzw. latent sind. Anders gefragt: Ob die Analysandin durch Willensanstrengung (Nachdenken, Reflexion) sich diese Gründe bewusst machen könnte. Anders würde es sich mit »dynamisch unbewussten« Gründen verhalten: Hier würden Willensanstrengungen alleine nicht ausreichen, um sie sich bewusst zu machen.

3.1. Latente, vorbewusste Gründe Insofern die »wirklichen«, nicht-bewussten, rationalisierten Gründe einfach vorbewusst bzw. latent sind, ist ein Nachdenken möglich: manchmal sind keine Deutungen notwendig, damit vorbewusste Gründe im analytischen Prozess erkennbar werden. Jene »guten« Gründe beispielsweise, die zwar im Rahmen einer Pflichten- oder Sollethik bzw. einer Werteethik »gut« sind, jedoch Opfer der Rationalisierung wurden, kann die Analysandin im Laufe ihrer Analyse spontan erkennen, indem sie sich selbst als ein einheitlich nach eigenen moralischen Pflichten und Werten, eigene Meinungen Drew Westen: The scientific status of unconscious processes: Is Freud really dead?, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 47 (1999), 1061–1106. 29

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vertretendes, handelndes Subjekt ansieht: »Das Individuum lernt, die moralischen Ziele, Ideale und Forderungen, an die es sich tatsächlich gebunden fühlt, deutlicher zu sehen und sie im Zusammenhang seiner Persönlichkeit und als seine eigenen zu verstehen. Sie wissen, wie sorgfältig wir es in der Analyse vermeiden, unseren Patienten ethische Forderungen aufzuerlegen. Aber was häufig als eine Konsequenz der Analyse eintritt ist, dass die eigenen authentischen Werte des Patienten in seinen Kodices dominant werden.«30 3.2. Dynamisch unbewusste Gründe Für dynamisch unbewusste Gründe sind Deutungen jedoch von Relevanz. Von der Dritte-Person-Perspektive aus wird die AnalytikerIn in ihrem Zuhören die explizit angeführten Gründe vorerst annehmen, da sie sich zur bewussten und nachvollziehbaren Rechtfertigung der Meinung, des Wissens bzw. der Handlung der AnalysandIn eignen. Die explizit berichteten »guten« Gründe sind oft alles, worüber die AnalysandIn verfügt: sie können nicht einfach kurzerhand weggedeutet werden. Den Einfällen der AnalysandIn zuhörend, sammelt die AnalytikerIn in freischwebender Aufmerksamkeit Spuren zur Entwicklungsgeschichte des Grundes, zu dessen »Genese«. Sie stellt sich die Frage, ob der angeführte Grund als Ergebnis eines Spiels antagonistischer Kräfte – wie Impuls und Abwehr – als eine Rationalisierung hervorgehen konnte. Es geht ihr um die »Dynamik« des Grundes. Zur Einschätzung der affektiven Besetzung des angeführten Grundes, zur »Ökonomie« des Grundes stellt sie sich die Frage, ob die Infragestellung des angeführten Grundes eine intensive oder gar keine affektive Reaktion hervorruft. Auch folgt sie den Spuren der Zusammensetzung der Gründe der AnalysandIn, ihrer inneren »Welt der Gründe« als ein zusammenhängendes Ganzes. Des weiteren vergleicht die AnalytikerIn die explizit angeführten Gründe mit jenen Gründen, die die AnalysandIn in ihren Einfällen den Objekten ihres Umkreises zuschreibt (z. B. mit jenen Gründen, die sie Personen ihrer Familie zuschreibt, mit vergangenen und gegenwärtigen Gründen, sowie mit jenen meist gegenwärtigen Gründen, welche die AnalysandIn ihren ArbeitskollegInnen und Personen ihrer sozialen Gruppe zuschreibt). Welche Gründe schreibt die AnalysandIn der AnalytikerIn zu? Die Zuschreibungen der AnalysandIn können realistisch oder aber Rationalisierungen sein. So wird es manchmal vorkommen, dass im Rahmen der Übertragung und der sogenannten »Übertragungsregression« der AnalysandIn diese der AnalytikerIn Gründe zuschreibt, die auf keinen Fall Gründe der AnalytikerIn selbst sind. Nach psychoanalytischer Auffassung verändert sich im Regressionsprozess die Objektbeziehung aus einer realitätsorientierten, in der die AnalytikerIn als empathisch und wohlwollend erlebt wird, hin zu einer Objektbeziehung, die mehr der jeweiligen Übertragung der AnalysandIn entspricht. Um noch einmal auf das vorhin diskutierte Beispiel der Moralgründe unter kulturellem Anpassungsdruck zurückzukommen: Für jene »guten« und dennoch wegrati30

Heinz Hartmann: Psychoanalyse und moralische Werte, Stuttgart 1973 (ursprünglich 1960), 71.

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onalisierten Gründe wäre z. B. eine Objektbeziehung mit einem Elternteil als Objekt der AnalysandIn vorstellbar, das sich zwar korrekt benimmt und implizit nach klaren Wertigkeiten lebt, sich jedoch gleichzeitig über die eifrige, um die Liebe des Elternteiles werbende Pflichtbewusstheit des Kindes lustig macht oder jener Naivität ideeller Werte mit Hohn und Spott begegnet. Möglicherweise nimmt das Kind die implizit vorhandenen Pflichten und Werte wahr, ahmt sie nach und will sie durch deren Ausdruck explizit machen. Das beschämte Kind, das sich peinlich und lächerlich, also ungeliebt und abgelehnt fühlt, muss unerträgliche Affekte wie Scham und das Gefühl des Abgewiesenwerdens abwehren. Möglicherweise steht das Elternteil auch einfach vor soviel Tugend verlegen da – keinesfalls die Liebe zum Kind in Frage stellend –, was das Kind jedoch kaum richtig verstehen kann. So kann sich die AnalysandIn in der Übertragung plötzlich spöttisch und höhnisch geben, sich somit mit der Objektrepräsentanz des Elternteils identifizieren. Die AnalytikerIn könnte sich in ihrer Gegenübertragungsantwort darauf – in, wie es psychoanalytisch heißt, »konkordanter Identifizierung« mit dem unbewussten kindlichen Selbst der AnalysandIn – ihrerseits naiv, inadäquat und beschämt fühlen. Oder sie könnte in »komplementärer Identifizierung« mit dem unbewussten Objekt der AnalysandIn spüren, wie auf sie und in sie hinein die spöttische Objektrepräsentanz des Elternteils projiziert wird, während sich die AnalysandIn selbst beschämt und abgewiesen fühlt.

3.3. Das Timing der Deutung Im Gegensatz zur »Spontaneität« wilder Interpretationen wird, was die AnalytikerIn erlebt und versteht (in diesem Fall der wirkliche, ausschlaggebende, hinter seiner Rationalisierung verborgene Grund), keineswegs direkt als Deutung mitgeteilt. Vorbereitende Interventionen tasten das Terrain für die Deutung vorsichtig ab. Was die AnalytikerIn erlebt und versteht, wird sie vorerst für sich behalten, bis der geeignete Zeitpunkt für die Deutung gefunden ist. Enrique Pichon-Riviere und Madeleine Baranger haben den passenden Zeitpunkt für eine Deutung »Dringlichkeitspunkt« genannt. Anders als bei Melanie Klein, die diesen Terminus ebenfalls benutzt, ist bei ihnen von der Zugänglichkeit der Deutung die Rede, die für die AnalysandIn erst zu diesem Zeitpunkt kognitiv verständlich und affektiv annehmbar wird. Die Deutung wird nicht nur mit Rücksicht auf die sich einstellende Zugänglichkeit für die AnalysandIn zurückgehalten, sondern, wie Baranger unterstreicht, auch mit Rücksicht auf eine maximale Wirkung zu einem spezifischen Moment der Sitzung und des analytischen Prozesses. Baranger nennt dies das »Timing« der Deutung.31 Auch Kernberg reflektiert zunächst in diese Richtung: »Natürlich verspürt der Analytiker manchmal den starken inneren Drang, unmittelbar mit einer Deutung einzugreiMadeleine Baranger: The mind of the analyst: From listening to interpretation, in: International Journal of Psycho-Analysis 74 (1993) 15–24. 31

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fen«, legt der AnalytikerIn dann aber nahe, sich mit dem Material »zunächst einmal nur innerlich auseinanderzusetzen«.32 Die Abwehr der AnalysandIn, die sie in ihrem Denken und Handeln behindert, kann dann am besten abgelegt werden, wenn sich die Notwendigkeit der Abwehr erübrigt: wenn der analytische Raum als gut genug erlebt wird; wenn er als intrapsychisch und intersubjektiv sicher erfahren wird, also als vor inneren Angriffen wie auch vor möglichen Angriffen der AnalytikerIn geschützt erlebt wird. Anders gesagt: Wenn die AnalysandIn das Gefühl hat, dass genug Raum vorhanden ist, ihre eigenen Gedanken zu denken und ihre eigenen Handlungen durchzuführen. Das ist auch jener Punkt, an dem sich Selbst- und Objektvorstellungen modifizieren und weiterentwickeln können.

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Otto Kernberg: Wut und Haß, Stuttgart 1997 (ursprünglich 1992), 116.

Zur Adäquatheit von Emotionen und existenziellen Gefühlen Achim Stephan

Unter Philosophen und Psychologen besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sowohl länger andauernde Emotionen wie z. B. ein chronischer Groll oder lebenslange Trauer als auch kurzzeitige emotionale Episoden wie eine vorübergehende Befürchtung oder Freude auf Vorkommnisse in der Welt gerichtet sind – auf Ereignisse, Situationen, Personen oder Objekte – und diese in einer spezifischen Weise präsentieren, mit anderen Worten: dass sie Intentionalität haben.1 Emotionen erschließen jedoch nicht nur Aspekte der (Außen-)Welt, sondern zugleich immer auch die konkrete subjektive Situation des Fühlenden.2 Wer sich zum Beispiel vor einer Gefahr fürchtet, was eine Form des Weltbezugs ist, fühlt sich zugleich gefährdet, also in einer spezifischen Hinsicht verletzlich oder angreifbar – eine Form des Selbstbezugs. Darüber hinaus verweist die Furcht darauf, dass eigene zentrale Anliegen und Bedürfnisse nicht erfüllt werden, nämlich die nach Sicherheit und körperlicher Integrität. Wer hingegen über einen unwiederbringlichen Verlust trauert (Weltbezug), fühlt sich zugleich ärmer zurückgelassen und beraubt (Selbstbezug). Im Groll nehmen wir etwas als einen Affront gegen uns wahr – üblicherweise die Handlung oder Haltung einer anderen Person, die uns in abweisender Form betrifft. Im selben Augenblick deuten wir uns selbst als enttäuscht, attackiert, geringschätzig behandelt oder geschädigt durch das, was die andere Person getan bzw. unterlassen hat. Unserem Bedürfnis nach Respekt und Anerkennung der eigenen Anliegen scheint nicht Rechnung getragen zu werden. Jedes emotionale Fühlen ist ein solches Sich-angesichts-von-etwas-Fühlen, wobei die beiden Pole (Sich-Fühlen und Angesichts-von-etwas-Fühlen) untrennbar aufeinander bezogen sind. Diese Wechselseitigkeit von Selbstbezug und Weltbezug in emotionalen Prozessen, die zugleich vor dem Hintergrund kultureller Prägungen zu denken ist, macht wesentlich die Bedeutung von Emotionen als spezifisch subjektive Bewertungen der Welt aus: Durch Emotionen erfolgt eine spürbare Einschätzung der Welt gerade hinsichtlich derjenigen Dimensionen, die für die fühlende Person eine spezifische Bedeutung haben. Vgl. z. B. Nico H. Frijda: Varieties of affect: emotions and episodes, moods, and sentiments, in: The nature of emotion. Fundamental questions, ed. by Paul Ekman, Richard J. Davidson, New York, Oxford 1994, 59–67; Ronald de Sousa: Emotion, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy, spring edition 2010, (http://plato.stanford.edu/archives/spr2010/entries/emotion, erhalten am 25.02.2011); Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270–1670. Frankfurt 2011. 2 Zu den »Aspekten der Welt« können freilich auch Gedanken und Handlungen des affektiv involvierten Subjektes selbst gehören: So kann man über eigene Wünsche erschrocken sein, sich wegen begangener Verfehlungen schämen und sich vor eigenen aggressiven Impulsen fürchten. Dennoch bleibt auch hier die Doppelstruktur der emotionalen Bezogenheit erhalten: Sich-angesichts-von-etwas-Fühlen. 1

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Mit dieser Diagnose ist zugleich der Rahmen abgesteckt, in dem wir uns bewegen, wenn wir uns mit Fragen nach der Angemessenheit (oder Adäquatheit) emotionaler Reaktionen beschäftigen: Angemessene Emotionen haben – wie Jean Moritz Müller es nannte – sowohl ein fundamentum in re als auch ein fundamentum in persona.3 Darüber hinaus scheinen sie aber auch noch ein fundamentum in cultura zu haben: denn in der Regel signalisieren uns weitere Mitglieder unseres (oder auch eines anderen) kulturellen Umfelds, ob sie unsere emotionalen Reaktionen für angemessen und akzeptabel halten.4 Gegen Ende des Beitrages werde ich mögliche Spannungen beleuchten, die entstehen können, wenn »kulturelle Erwartungen« im weitesten Sinne nicht mit den emotionalen Reaktionen eines Individuums zur Passung zu bringen sind. Zur Einführung und Erläuterung der verschiedenen Faktoren, die im Hinblick auf Adäquatheitsüberlegungen emotionaler Reaktionen eine wichtige Rolle spielen, beginne ich mit einem vergleichsweise einfachen Fall: Ein Winzer, der im Spätsommer vor einer überaus guten Traubenernte zu stehen glaubt, erfährt in den Wetternachrichten von einem heranziehenden Gewitter, das sehr wahrscheinlich mit Starkregen und Hagel einhergehen wird. Er ist in Sorge, dass das angekündigte Unwetter seine Ernte vernichten könnte. Als die ersten Tropfen fallen, spürt er eine innere Unruhe und Anspannung, die sich angesichts der taubeneigroßen Hagelkörner, die kurz danach auf sein Anwesen prasseln, zu schlimmsten Befürchtungen ausweitet; dazwischen mischen sich Anflüge von Panik und Verzweiflung. Auch hadert er mit sich selbst, dass ihm die Beiträge zur Hagelversicherung in der Vergangenheit als unangemessen hoch erschienen waren und er deshalb keinen Versicherungsschutz abgeschlossen hat. Nachdem das Unwetter verzogen ist, fährt er zu den Anbaugebieten, um nachzusehen: Erleichtert stellt er fest, dass die Schneise der Verwüstung nicht den Wingert getroffen hat, an dem seine besten Trauben wachsen. Vor dem Hintergrund dieser kleinen Episode können wir bereits einige der zentralen Komponenten bestimmen, die für Adäquatheitsüberlegungen emotionaler Prozesse relevant sind (vgl. dazu auch Abb. 1): Die verschiedenen emotionalen Regungen des Winzers, des emotional reagierenden SUBJEKTS, sind alle auf etwas gerichtet – das ZIEL der jeweiligen emotionalen Reaktion. Im Allgemeinen kann dieses ein Ereignis, ein Sachverhalt, ein Gegenstand, eine andere Person, aber auch man selbst sein: Hier sind es unter anderem das vermeintlich Unheil bringende Gewitter, vor dem sich der Winzer sorgt; er selbst, sofern er angesichts seines Versäumnisses, eine Versicherung abgeschlossen zu haben, mit sich hadert; sowie der von ihm mit Erleichterung registrierte Sachverhalt, dass die Trauben weitgehend heil geblieben sind. Aber lösen die genannten Ziele überhaupt emotionale Reaktionen aus, und mehr noch: weshalb gerade die hier angeführten? Offenbar tangieren sie alle etwas, das für

3 Vgl. Jean Moritz Müller: Emotion, Wahrnehmung und evaluative Erkenntnis, in: Affektive Intentionalität, hg. von Jan Slaby, Achim Stephan, Henrik Walter, Sven Walter, Paderborn 2011, 100–127, hier: 126. 4 Vgl. David Wiggins: Ein vernünftiger Subjektivismus, in: Philosophie der Gefühle, hg. von Sabine Döring, Frankfurt 2009, 496–510, hier: 500–503.

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den Winzer bedeutsam ist – den FOKUS der Emotionen. Vordergründig sind es die Reben mit ihren voll ausgereiften Trauben, doch dahinter steht das Anliegen, Wein aus diesen zu gewinnen: guten Wein, der sich deutschlandweit verkaufen lässt, von dessen Erlös der Lebensunterhalt bestritten, die Familie ernährt, das Weingut fortgeführt werden kann. Die eigene Existenz steht also im Fokus; das ist es, worum es letztlich geht.

Abbildung 1. Triangulierung emotionaler Reaktionen

Die emotionalen Reaktionen des Winzers sind plausibel und erscheinen damit angemessen, da ihre Ziele, also das, worauf sie bezogen sind (das Gewitter, die eigene Person, die Trauben) tatsächlich Eigenschaften haben, die das, was Bedeutsamkeit für ihn hat (den Fokus seiner Emotionen) ernsthaft tangieren:5 Das hagelbringende Gewitter hat etwas Bedrohliches für ihn, da es seine Ernte zerstören könnte, seine frühere Unterlassung, eine Hagelversicherung abzuschließen, hat etwas selbstverschuldet Ärgerliches, da sie die Kompensation des zu erwartenden Schadens ausschließt, die Unversehrtheit der Trauben hat etwas freudig Erleichterndes, insofern der befürchtete Schaden ausgeblieben ist. Hier stimmen also die Verhältnisse. Die verschiedenen Aspekte und Veränderungen tangieren in der Tat den (hier: gemeinsamen) Fokus seiner emotionalen Reaktionen – seine berufliche Existenz. Zugleich wird in dieser Episode ein übergeordnetes Muster erkennbar, innerhalb dessen die einzelnen emotionalen Regungen als Teile eines größeren kohärenten Zusammenhangs erscheinen. Würde jenes Muster auf die eine oder andere Art durchbrochen, so bestünde Anlass nachzufragen: zum Beispiel, wenn ceteris paribus der Winzer keine Das ist das, was seit Kenny (1963) etwas unglücklich das »formale Objekt« der Emotion genannt wird: Das sogenannte »formale Objekt« ist eine Eigenschaft, die durch die emotionale Reaktion ihrem Ziel, also dem, worauf sie sich bezieht, implizit zugeschrieben wird und kraft derer diese Reaktion (schon aus logischen Gründen) als plausibel angesehen werden kann. Vgl. Anthony Kenny: Handlung, Emotion und Wille, in: Philosophie der Gefühle, hg. von Sabine Döring, Frankfurt 2009, 76–82, hier: 80–82. 5

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Erleichterung angesichts der Tatsache spürte, dass sein Wingert vom Unwetter nicht betroffen war. Ebenso merkwürdig wäre es, wenn sich die Bedeutsamkeit des Fokus seiner emotionalen Reaktionen nicht auch an anderer Stelle zeigte: zum Beispiel, wenn es ihn ceteris paribus gleichgültig ließe, sollte ein Schwarm von Krähen seine Rebstöcke kahlfressen oder eine neue EU-Richtlinie die Vermarktung seines Weins erschweren. Kurz: Erst in einem solchen übergeordneten Muster erwirbt jede einzelne emotionale Reaktion ihren plausiblen Platz, zugleich trägt sie zur Konstitution jener Bedeutsamkeit bei, die der Fokus der entsprechenden emotionalen Reaktionen hat.6 Wir sehen an der bisherigen Analyse aber auch, dass die Angemessenheit einer einzelnen emotionalen Reaktion – Angemessenheit in puncto Typus und Stärke – von wenigstens zwei Faktoren abhängt. Zum einen muss sie ein fundamentum in re haben, das heißt, der Gegenstand, auf den sie sich bezieht, muss es auch »verdienen«, ihr Ziel zu sein; zum anderen muss sie ein fundamentum in persona haben, das heißt, die Bedeutsamkeit des Fokus einer einzelnen emotionalen Reaktion muss in einem übergeordneten kohärenten Muster verankert sein, das sich durch eine Vielzahl emotionaler Reaktionen ergibt. Fehlt eines der beiden Fundamente, so erscheint eine emotionale Reaktion als in bestimmter Hinsicht fragwürdig oder unangemessen. Typische Beispiele für emotionale Reaktionen, die unangemessen erscheinen, weil ihnen ein fundamentum in re fehlt, obgleich durchaus ein übergeordnetes Muster erkennbar wird, das der jeweils einzelnen emotionalen Reaktion einen kohärenten Rahmen gibt, sind die verschiedenen Phobien wie Höhenangst, Flugangst oder Platzangst. Üblicherweise reagiert eine Person, die unter Höhenangst leidet, gleichermaßen phobisch, sei es, dass sie sich auf einer hohen Brücke, einem Kirchturm oder einem steilen Anstieg im Gebirge befindet. Und entsprechend spürt sie eine große Erleichterung, wenn sie diesen Herausforderungen nicht länger ausgesetzt ist. Obgleich emotionale Reaktionen dieses Typs also ein fundamentum in persona zu haben scheinen, kann ihnen kaum ein fundamentum in re zugesprochen werden:7 Die hohe Brücke ist durch ein stabiles Geländer gesichert, Flugreisen sind statistisch sehr viel sicherer als der gewöhnliche Straßenverkehr, Aufzüge bleiben normalerweise nicht stecken, usw. Da dies in der Regel auch von den Betroffenen so eingeschätzt wird, erscheinen ihnen ihre Phobien oft selbst als inadäquat und regulierungsbedürftig. Daher wenden sie sich häufig hilfesuchend an Therapeuten.

Es ist vor allem Bennett Helms Verdienst, die holistische Struktur emotionaler Verhältnisse sorgfältig herausgearbeitet zu haben. Auch argumentiert er überzeugend dafür, dass wir durch die Wechselseitigkeit der Konstitution emotionaler Bedeutsamkeit nicht in einen vitiösen Zirkel geraten. Vgl. Bennett Helm: Affektive Intentionalität: Holistisch und vielschichtig, in: Affektive Intentionalität, hg. von Jan Slaby, Achim Stephan, Henrik Walter, Sven Walter, Paderborn 2011, 72–99, hier: 73 und 78–83. 7 Ähnliches gilt für übermäßige Trauer (z. B. wenn jemand um eine überfahrende Schnecke in einem Ausmaß trauert als sei der nächste Angehörige verstorben) oder vollkommen fehlende Aggressionshemmung (z. B. wenn jemand kleinste Meinungsunterschiede als beleidigend oder ehrverletzend wahrnimmt und darauf ohne Abklärung massiv aggressiv reagiert). In Fällen wie diesen fehlt der emotionalen Reaktion ebenfalls ein fundamentum in re. 6

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John Bowlby hat zu diesen Phänomenen für den Fall der Angst allerdings eine interessante Überlegung angestellt; er schreibt: »Wenn wir fragen, wie es kommt, dass solche Situationen [plötzliche Veränderungen wie Geräusche, Klippen] bei den Tieren so vieler Arten leicht Angst auslösen, ist unschwer zu erkennen, dass keine dieser Situationen gefährlich an sich, aber jede in gewissem Maße potentiell gefährlich ist. Anders ausgedrückt: Die potentielle Gefahr muss nicht einmal groß sein, es genügt, wenn das Risiko leicht erhöht ist, sagen wir, von nur einem Prozent auf fünf Prozent steigt«.8 Überträgt man Bowlbys Überlegung auf die oben angeführten Beispiele und betrachtet diese nicht im Hinblick auf ihre Gefährlichkeit an sich, sondern nur im Hinblick darauf, dass durch das Besteigen eines hohen Ortes eine Veränderung eintritt, die eine Gefährdung wahrscheinlicher macht, so kann der emotionalen Reaktion zumindest eine rudimentäre Plausibilität (vielleicht eine biologische Plausibilität) abgewonnen werden. Allerdings beurteilen wir üblicherweise die Angemessenheit von Emotionen nicht aufgrund ihrer Passung zu veränderten Wahrscheinlichkeiten, sondern aufgrund ihrer Passung gegenüber der Sache selbst.9 Neben emotionalen Reaktionen, denen ein fundamentum in re fehlt, kann es aber auch Reaktionen geben, denen das fundamentum in persona fehlt. Das ist dann der Fall, wenn es gute Gründe für einen Zweifel an der tatsächlichen Bedeutsamkeit des vermeintlichen Fokus einer emotionalen Reaktion für das Subjekt gibt. Ob ein Fokus tatsächlich Bedeutsamkeit für ein emotional involviertes Subjekt hat, zeigt sich – wie wir gesehen haben – allerdings kaum in einer einzelnen emotionalen Reaktion, sondern erst in einem ganzen Strauß emotionaler Reaktionen auf Situationen, in denen der gleiche Fokus tangiert ist.10 So können höchst wechselhafte Reaktionen bei nahezu gleichbleibendem Fokus – Gleichgültigkeit versus höchste Unbedingtheit, dass x geschehe – für ein Fehlen eines kohärenten fundamentum in persona sprechen. Etwaige Schwankungen eines solchen Ausmaßes würden anderen Beteiligten Rätsel bezüglich der Ernsthaftigkeit der Anliegen des involvierten Subjekts oder der Stabilität seiner Persönlichkeit aufgeben. Die Schwankungen in den emotionalen Reaktionen eines Subjekts bezüglich desselben oder eines ähnlichen Zieles bei vermeintlich gleichbleibendem Fokus können ihren Grund auch in einer zugrunde liegenden Ambivalenz haben. Ambivalente emotionale John Bowlby: Selbstvertrauen und wodurch es gefördert wird [1973], in derselbe: Das Glück und die Trauer: Herstellung und Lösung affektiver Bindungen, Stuttgart 42011, 130–155, hier: 151. 9 Ein Blick auf das Geschehen an den Börsen gibt allerdings Anlass, selbst an dieser Einschätzung zu zweifeln: Wenn ein schwächeres Quartal eines Unternehmens, das immer noch Milliardengewinne einfährt, zu einem Kurseinbruch seiner Aktien an den Aktienmärkten führen kann, und das geschieht nicht zu selten, scheint genau diese Anforderung an emotionale Reaktionen nicht mehr erfüllt zu sein! Das Verhalten ähnelt dann eher dem eines Phobikers als eines an den tatsächlichen Verhältnissen orientierten und analytisch urteilenden Menschen. 10 Natürlich kann sich über einen längeren Zeitraum auch die Bedeutsamkeit, die jemand oder etwas für einen anderen hat, ändern: Aus Liebe kann Hass werden, aus etwas Wichtigem etwas Belangloses. Damit einhergehend verschiebt sich jedoch das gesamte Muster von Bedeutsamkeiten; damit werden die emotionalen Reaktionen der Vergangenheit nicht inadäquat; diese entstammen noch einem anderen Bedeutungsgleichgewicht. 8

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Reaktionen sind allerdings nicht erratisch, ihnen fehlt kein fundamentum in persona. Vielmehr geben einige Ereignisse sowohl zu positiven als auch zu negativen emotionalen Reaktionen Anlass. So kann uns ein und dasselbe ZIEL (z. B. die Eheschließung der Tochter mit ihrem geliebten Freund, der Ruf an eine bedeutende Universität) größte Freude oder Anerkennung bescheren und zugleich mit Konsequenzen verbunden sein, die wir zutiefst bedauern oder gar mit großer Sorge betrachten (die Tochter könnte im Falle der Eheschließung an einen weit entfernten Ort ziehen, so dass es nur noch wenige Gelegenheiten der Begegnung geben wird, der Ruf an die namhafte Universität könnte ein Pendlerdasein zur Folge haben, das es nicht erlaubt, das Familienleben wie gewünscht fortzusetzen, die Kinder gemeinsam groß zu ziehen, weil etwa der Partner am bisherigen Familienwohnsitz selbst beruflich gebunden ist, usw.). Meist sprechen wir in solchen Fällen davon, dass wir ein Ereignis zugleich mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten. Überwiegt der positive (oder der negative) Aspekt, so erhalten unsere emotionalen Reaktionen eine leicht entgegengesetzte Färbung; sie bleiben ihrem Tonus nach jedoch eindeutig. Manchmal jedoch halten sich die beiden Reaktionen wirklich die Waage: Das Positive an einem Ereignis wird durch das Negative vollständig aufgewogen. In solch ambivalenten Ausgangslagen mag bei größeren Entscheidungsprozessen das Pendel zwischen Zustimmung und Ablehnung durchaus heftig hin und her schwingen, ohne dass daraus geschlossen werden kann, dass die emotionale Reaktion kein solides fundamentum in persona hätte: Das Subjekt ist einfach hin und hergerissen. Die Situation ist ambivalent, und insofern ist die ambivalente emotionale Reaktion ihr auch angemessen. Urteile über die Angemessenheit vieler emotionaler Reaktionen erfolgen immer in einem bestimmten kulturellen Kontext, wobei dieser von überlieferten Familientraditionen im Kleinen bis hin zu gesamtgesellschaftlichen Strömungen im Großen reichen kann. In diesem ist – insbesondere im Hinblick auf öffentliche soziale Interaktionen – mehr oder weniger unausgesprochen »definiert«, ob eine bestimmte Handlungsweise etwa Anlass zu Empörung oder Zorn geben sollte oder ob über sie hinweggesehen werden kann. Umgekehrt gilt das Gleiche natürlich auch für lobenswerte und als erfreulich zu bewertende Handlungen. Ebenso gibt es implizite Regeln, die festlegen, in welchem Ausmaß und durch welche Ausdrucksformen z. B. ein schwerer persönlicher Verlust zu betrauern ist. Obwohl es für zahlreiche emotionale Reaktionen nahezu universell geltende Angemessenheitsvorstellungen zu geben scheint, steht gleichfalls außer Frage, dass es sowohl zwischen verschiedenen Kulturen als auch zwischen verschiedenen Epochen innerhalb ein und derselben kulturellen Strömung zum Teil gewaltige Unterschiede (bzw. Veränderungen) im Hinblick auf die Bewertung emotionaler Reaktionen gegenüber vergleichsweise ähnlichen Ereignissen gibt bzw. gegeben hat. Zum Teil hängt dies mit der (ebenfalls wesentlich kulturell geprägten) Frage zusammen, was als »schicklich« gilt oder als moralisch geboten, erlaubt oder verboten. So hören wir heute nur mit unverständlichem Kopfschütteln von den überaus heftigen, von sittlicher Empörung geradezu befeuerten emotionalen Reaktionen, die 1951 in der äußerst prüden deutschen Nachkriegsöffentlichkeit dem Film Die Sünderin und seiner Hauptdarstellerin Hildegard Knef entgegengebracht wurden: Der Erzbischof von Köln, Kardinal Jo-

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seph Frings, verurteilte den Film in einem Hirtenbrief, der Ende Februar beim Anlaufen des Films in Köln verlesen wurde. Priester warfen Stinkbomben in Kinos, und Politiker verteilten Flugblätter mit Texten wie »Die Sünderin – Ein Faustschlag ins Gesicht jeder anständigen deutschen Frau! Hurerei und Selbstmord! Sollen das die Ideale eines Volkes sein?«.11 Wie ist diese Situation zu analysieren? Das ZIEL dieser jeweils in die gleiche Richtung zielenden emotionalen Reaktionen war der deutschlandweite Start des Kinofilms Die Sünderin; die Reaktionen galten aber auch den Kinos, in denen er gezeigt wurde, sowie den beteiligten Schauspielern und dem Regisseur. Weshalb der Film Ziel jener sehr heftigen emotionalen Reaktionen wurde, lässt sich den Äußerungen der Beteiligten entnehmen: Er tangierte ihrer Ansicht nach die »öffentliche Moral« oder das, was als die »Ideale eines Volkes« angesehen werden sollten. In dem, was der Film zeigt, empfanden die Akteure diese Ideale als verletzt, beschädigt und insofern den Film und das Verhalten der in ihm und an seiner Vermarktung Beteiligten als »anstößig«. Zugleich hielten sie den FOKUS ihrer emotionalen Reaktion – die öffentliche Sittlichkeit – für höchst bedeutsam, sowohl für sich selbst als auch für die soziale Gemeinschaft im Allgemeinen. Stellt man den Fokus und dessen Bedeutsamkeit für die sich Echauffierenden in Rechnung, so erscheint ihre Reaktion in gewisser Weise als nachvollziehbar: Das ZIEL ihrer Entrüstung hat Eigenschaften, die die (von ihnen vorausgesetzte) Sittlichkeit in der Tat in Frage stellen könnten. Was nach unserem heutigen Verständnis einer Akzeptanz der öffentlichen emotionalen Reaktionen aus dem Jahr 1951 entgegensteht und diese stattdessen als inadäquat erscheinen lässt, ist, dass wir den damals vorausgesetzten FOKUS nicht (mehr) teilen. Das Koordinatensystem im Hinblick auf die Frage, was als sittlich akzeptables Verhalten gilt und welche Bedeutsamkeit das, was als sittlich gilt, für unser öffentliches Leben haben soll, hat sich seither fundamental verschoben. Das, was vor sechzig Jahren als bedeutsam für die öffentliche Moral angesehen wurde, hat diese Bedeutsamkeit eingebüßt. Wir schreiben dem Film – vor dem Hintergrund unserer eigenen, nun sehr freizügigen kulturellen Prägung – keine Eigenschaften zu, die Anlass zu einer Empörung geben könnten: Er ist nicht anstößig. Weder würden wir dem Verhalten der »Sünderin« noch einem gleichartigen Verhalten eines anderen im »wirklichen Leben« mit moralischer Entrüstung begegnen. Die ablehnenden emotionalen Reaktionen haben für uns im Hinblick auf die Inhalte des Films daher kein fundamentum in re mehr. Eine ähnliche Spannung zwischen verbürgten emotionalen Reaktionen anderer und der eigenen Einschätzung, wie wir sie in Bezug auf die Ereignisse wahrnehmen, die vor sechzig Jahren in Deutschland stattfanden, spüren wir aber auch in der Gegenwart, wenn wir in subkulturelle Enklaven im eigenen Land oder in andere Teile der Welt

Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Die_Sünderin (PDF erstellt am 29.02.2012, hier: S. 2). Mit dem zeitlichen Abstand von mehr als sechzig Jahren erscheint die öffentliche Entrüstung, die dem Film Die Sünderin entgegenschlug, insbesondere vor dem Hintergrund bizarr, dass nur wenige Jahre zuvor von Deutschlands Boden ausgehend die ganze Welt mit Krieg und millionenfachem Leid überzogen worden war – eine Tatsache, die sehr viel mehr Anlass zu heftigen emotionalen Reaktionen hinsichtlich der »Ideale eines Volkes« hätte geben müssen. 11

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blicken und z. B. davon erfahren, dass als gravierende Ehrverletzungen empfundene Handlungen anderer wiederholt zu exzessiven Gewaltausbrüchen führen oder dass jungen Paaren im Iran nur deshalb Empörung und Aggressivität von selbsternannten Tugendwächtern entgegengebracht wird, weil sie sich händchenhaltend in die Öffentlichkeit gewagt haben. Auch diesen emotionalen Reaktionen kommt vor dem Hintergrund unserer eigenen kulturellen Prägung kein fundamentum in re zu. Das fundamentum in persona, das sie zweifellos haben, speist sich in der Regel aus einem fundamentum in cultura, das die jeweils emotional Involvierten zumeist mit einigen (oder gar vielen) anderen, ähnlich Empfindenden teilen. Es könnte sich kaum in persona etablieren, wäre da nicht der entsprechende (sub-)kulturelle Hintergrund. Ohne Zweifel führt die – wie wir gesehen haben: unerlässliche – Berücksichtigung der kulturellen Dimension zu weiteren Komplikationen, wenn wir der Frage nach der Angemessenheit emotionaler Reaktionen nachgehen wollen. Einige emotionale Reaktionen scheinen nur vor dem Hintergrund einer spezifischen kulturellen Prägung ein fundamentum in re zu haben, da nur der entsprechende kulturelle Rahmen die Bedeutsamkeit des der emotionalen Reaktion zugrunde liegenden FOKUS für die Mitglieder der emotional tangierten sozialen Gruppierung und damit für jedes einzelne ihrer Subjekte festschreibt. Dieser Sachverhalt bedarf sicher noch weiterer Untersuchung und Analyse. Es zeichnet sich jedoch bereits ab, dass emotionale Reaktionen (oder Intuitionen) per se kaum geeignet sein werden, zwischen fundamental widerstreitenden Reaktionen und Einstellungen zu entscheiden: So wenig Anstößiges wir vor dem Hintergrund unserer eigenen kulturellen Prägung im Film »Die Sünderin« entdecken können, so viel Anlass zur Empörung gab es seinerzeit für viele Menschen aus der Generation unserer Großeltern. Um bei solch konfligierenden emotionalen Reaktionen zu einer Einschätzung ihrer Angemessenheit zu kommen, die sich nicht auf kulturrelativierende Floskeln beschränkt, dürften daher außer-affektive Gründe eine zentrale Rolle spielen. Von Brisanz sind dabei Situationen, in denen es zu einer Spannung zwischen den unmittelbaren emotionalen Reaktionen eines Individuums und den Forderungen seiner sozialen Umgebung kommt, insbesondere wenn diese Forderungen oder Gepflogenheiten zu Lasten des hauptsächlich involvierten Subjektes zu gehen scheinen. John Bowlby hat sich dazu umfassend in Bezug auf das Zulassen von Wut im Rahmen von Trauer nach dem Verlust von sehr nahestehenden Angehörigen geäußert: »Die Häufigkeit, mit der Wut als Bestandteil normaler Trauer auftritt, ist unseres Erachtens gewöhnlich unterschätzt worden – vielleicht weil sie so fehl am Platze und so anstößig erscheint.«12 Ausführlicher führt Bowlby aus: »Es gibt heute genügend Beweise dafür, dass die stärksten und beunruhigendsten, durch einen Verlust hervorgerufenen Affekte die Angst, verlassen zu werden, die Sehnsucht nach der verlorenen Person und die Wut, sie nicht finden zu können, sind – Affekte, die auf der einen Seite mit einem Drang, die verlorene Person zu suchen, verknüpft sind und auf der anderen Seite mit einer Tendenz, jedem wütende Vorwürfe zu machen, der in den Augen der Hinterbliebenen für den Verlust John Bowlby: Trennung und Verlust innerhalb der Familie [1970], in derselbe: Das Glück und die Trauer: Herstellung und Lösung affektiver Bindungen, Stuttgart 42011, 105–129, hier: 110. 12

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verantwortlich ist oder die Wiedergewinnung der verlorenen Person verhindert. Der Hinterbliebene scheint mit seinem ganzen emotionalen Sein das Schicksal zu bekämpfen in dem verzweifelten Versuch, das Rad der Zeit zurückzudrehen und die glücklichen Tage zurückzuerobern, die ihm so plötzlich genommen worden sind. Weit davon entfernt, der Realität ins Auge zu sehen und sich zu bemühen, sie zu akzeptieren, ist der Hinterbliebene in einen Kampf mit der Vergangenheit verstrickt. – Wenn wir einem Hinterbliebenen die Art von Hilfe geben wollen, die er braucht, ist es wichtig, dass wir die Dinge aus seinem Blickwinkel sehen und seine Gefühle respektieren – auch wenn wir manche von ihnen vielleicht für unrealistisch halten.«13 Bowlby geht es hier um die Anerkennung dessen, was Sigmund Freud einst »psychische Realität« und Heinz Hartmann in leicht modifizierter Form »innere Realität« genannt haben.14 Beide betonen, dass jegliche Phantasietätigkeit, selbst wenn sie (wie hier im Falle unerfüllbarer Sehnsüchte oder nicht adressierbarer Wut) unrealistische Szenarien voraussetzt, psychisch real und insofern für unsere Befindlichkeit von größter Bedeutung ist. Selbst wenn also starken Affekten wie etwa unstillbarer Sehnsucht und maßloser Wut im Falle des endgültigen Verlusts einer nahestehenden Person ein fundamentum in re zu fehlen scheint, kann es sinnvoll sein, wenn die soziale Umgebung die übliche Forderung, dass unsere emotionalen Reaktionen ein fundamentum in re haben sollten, zurücknimmt und die sich einstellenden Gefühle der Zurückgebliebenen in all ihren Facetten akzeptiert. Für Bowlby sind die »Sehnsucht nach dem Unmöglichen, maßlose Wut, ohnmächtige Trauer, Ekel bei der Aussicht auf Einsamkeit, Bedürfnis nach Mitgefühl und Unterstützung […] Gefühle, die ein Hinterbliebener ausdrücken und manchmal erst entdecken muss, wenn er Fortschritte machen soll. Doch werden alle diese Gefühle als unwürdig und unmännlich angesehen. Sie auszudrücken, mag bestenfalls demütigend erscheinen; schlimmstenfalls fördert es Kritik und Verachtung heraus. Kein Wunder, dass derartige Gefühle so oft nicht ausgedrückt werden und schließlich vielleicht im Unterbewusstsein weiterwirken.«15 Aus Bowlbys Befund sollten wir den Schluss ziehen, dass verschiedene emotionale Reaktionen sogar dann als angemessen gelten sollten, wenn sie unrealistisch wirken und gegen kulturelle Normen zu verstoßen scheinen; und zwar dann, wenn ihrem Ausdruck und Erleben eine wichtige Rolle für die psychische Gesundheit der emotional reagierenden Subjekte zukommt (und zugleich kein anderer durch diese Reaktionen geschädigt wird). Die in Fällen des Verlusts eines geliebten Menschen auftretenden Emotionen ähneln in einigen Aspekten leidvollen existenziellen Gefühlen, wie sie mitunter in psychopatho13 Ebd., 119. Bowlby stützt sich hier im Übrigen auf eine Vergleichsstudie von Maddison und Walker aus dem Jahre 1967, in der diese vierzig Witwen daraufhin untersuchten, wie sie gesundheitlich mit den emotionalen Problemen eines Todesfalls fertig wurden. Diejenigen, die gegenüber Freunden und Verwandten die ganze Bandbreite ihrer Gefühle zeigen konnten, hatten eine erheblich bessere Prognose. Vgl. ebd., 126–128. 14 Vgl. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1916–17], Studienausgabe, Bd. 1, Frankfurt 111989, 359; Heinz Hartmann: Bemerkungen zum Realitätsproblem [1956], in: derselbe: Ich-Psychologie. Studien zur psychoanalytischen Theorie, Stuttgart 1972, 236–260, hier: 259. 15 Ebd., 123.

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logischen Zuständen auftreten. Im Unterschied zu Emotionen sind existenzielle Gefühle jedoch nicht auf spezifische Vorkommnisse in der Welt gerichtet, sondern erschließen uns – in einer sehr viel allgemeineren Form affektiver Intentionalität – die Welt als Ganzes.16 Sie strukturieren als Hintergrundorientierungen unsere spezifischeren Interaktionen mit der Welt – wie und was wir wahrnehmen, erleben, planen oder denken. Es ist vor allem Matthew Ratcliffes Verdienst, deutlich gemacht zu haben, welch zentrale, wenngleich häufig auch verborgene Rolle existenzielle Gefühle in unserem Erleben spielen, wie sie sich in Psychopathologien verändern und was dies für die Betroffenen bedeutet.17 Von ihm stammt auch die folgende Auflistung, die einen ersten Eindruck von der Bandbreite existenzieller Gefühle vermittelt: »Die Welt kann uns manchmal fremd, unwirklich, weit entfernt oder nah erscheinen, wir können uns als Teil von ihr oder als getrennt von ihr erleben, wir können das Gefühl haben, Kontrolle über eine Situation zu haben oder uns von den herrschenden Umständen überwältigt fühlen, wir können uns als ein an der Welt Teilhabender fühlen oder wie ein distanzierter, entfremdeter Beobachter, der Dinge anstarrt, die sich nicht ganz ›da‹ anfühlen. Derartige Beziehungen strukturieren jegliches Erleben.«18 An anderem Ort habe ich einen Vorschlag zur Strukturierung der schier überwältigenden Vielfalt existenzieller Gefühle unterbreitet:19 Danach sind elementare von nichtelementaren existenziellen Gefühle und beide wiederum von atmosphärischen Gefühlen zu unterscheiden. Elementare existenzielle Gefühle bleiben unter normalen Umständen weitgehend unbeachtet. Sie befinden sich im Hintergrund unseres affektiven Lebens und verleihen unseren Handlungen und der Welt, in der wir agieren, das im Normalfall selbstverständliche Gefühl von Realität. Solche Gefühle können sich jedoch verändern. Sie ändern sich in besonderer Weise in verschiedenen Psychopathologien, in denen das übliche Realitätsgefühl verloren geht: So wird in der Depersonalisations-Störung die eigene Person nicht mehr in der vormals vertrauten Weise als real empfunden: Den Betroffenen fehlt die normale Perspektive auf die Welt, sie erleben sich als weitgehend affektlos, im schlimmsten Fall erscheint es ihnen gar, als wären sie bereits tot. In Schizophrenien und in der Derealisations-Störung ist dagegen der Bezug zur Wirklichkeit, die Realität der Welt als Ganzer, zutiefst erschüttert. In schweren Depressionen verflüchtigt sich das Gefühl, einen unmittelbaren Zugriff auf die Geschehnisse in der Welt zu haben; auch das Gefühl, selbst ein Akteur in einer Welt voller Möglichkeiten zu sein, kann nahezu vollständig verloren gehen. Für diejenigen, die diesen Veränderungen ausgesetzt sind, verschiebt sich der gesamte Rahmen des Erlebens in dramatischer Weise – Innen16 Vgl. Achim Stephan und Jan Slaby: Affektive Intentionalität, existenzielle Gefühle und Selbstbewusstsein, in: Affektive Intentionalität, hg. von Jan Slaby, Achim Stephan, Henrik Walter, Sven Walter, Paderborn 2011, 206–229. 17 Vgl. Matthew Ratcliffe: Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford 2008. 18 Matthew Ratcliffe: Existenzielle Gefühle, in: Affektive Intentionalität, hg. von Jan Slaby, Achim Stephan, Henrik Walter, Sven Walter, Paderborn 2011, 144–169, hier: 147. 19 Achim Stephan: Existentielle Gefühle und Emotionen: Intentionalität und Regulierbarkeit, in: Feelings of Being Alive, hg. von Joerg Fingerhut und Sabine Marienburg, Berlin 2012, 101–121.

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und Außenwelt, die Gefühle und die eigenen Handlungsoptionen erscheinen in einem anderen, meist irrealen Licht.20 Die nicht-elementaren existenziellen Gefühle können sich hingegen verändern, ohne dass damit schwerwiegende Störungen der psychischen Befindlichkeit einhergehen. Aber auch sie strukturieren im Hintergrund den Raum unserer Handlungsmöglichkeiten. Sie umfassen Gefühle, die beispielsweise die eigene Vitalität betreffen (sich gesund und stark versus erschöpft oder schwach zu fühlen), den eigenen Status im Hinblick auf andere Personen des sozialen Umfelds offenbaren (sich willkommen, anerkannt und respektiert versus abgelehnt, gering geschätzt oder zurückgewiesen zu fühlen) oder die Beziehung zur Welt im Allgemeinen thematisieren (sich in der Mitte des Geschehens versus nicht dazu gehörig, wie ein Fremder oder nicht als Teil dieser Welt zu fühlen). Die meisten dieser Gefühle können in den gleichen Zeitfenstern auftreten, in denen sich elementare existenzielle Gefühle aus dem normalen Bereich bewegt haben. Generell können alle Hintergrundgefühle auch in verschiedenen komplexen Mischungsverhältnissen auftreten. Im Unterschied zu den elementaren und den nicht-elementaren existenziellen Gefühlen beziehen sich atmosphärische Gefühle auf bestimmte Situationen und Ereignisse und sind dadurch in der Aufmerksamkeit präsenter als die existenziellen Gefühle. Auch sie strukturieren unsere Interaktionen mit anderen Menschen und der Welt – häufig jedoch nur auf die Situationen bezogen, von denen sie ausgelöst werden. Ebenso wie existenzielle Gefühle umfassen atmosphärische Gefühle solche, die die eigene Person betreffen (wie das Gefühl, alle Blicke auf sich zu ziehen), solche, die Beziehungsmöglichkeiten zu anderen Menschen offenbaren (etwa das Spüren einer offenen und freundlichen Atmosphäre anlässlich des eigenen Gastvortrags), und Gefühle, die sich allgemein auf die Welt beziehen (wie die Hektik und Rastlosigkeit, die von einer geschäftigen Metropole ausgehen mag). Die Frage nach ihrer Angemessenheit kann für existenzielle Gefühle nicht auf die gleiche Weise (bzw. auf derselben Ebene) gestellt werden wie für emotionale Reaktionen. Da sie nicht auf ein spezifisches Objekt oder Ereignis bezogen sind, haben sie kein eigentliches ZIEL – es fehlt gleichsam konstitutionell ein mögliches fundamentum in re –, und damit haben sie auch keinen FOKUS.21 In einem erweiterten Sinne (bzw. auf einer anderen Ebene) können existenzielle Gefühle jedoch mit einem FOKUS konfligieren (bzw. mit diesem in Einklang stehen), der für ein SUBJEKT große Bedeutsamkeit hat. In diesem Fall werden sie – qua Hintergrundgefühl – selbst zum Objekt emotionaler Bewertungen und Reaktionen: So können wir eine starke Diskrepanz zwischen Eine ausführliche Darstellung veränderter existenzieller Gefühle bei psychischen Störungen, bietet Matthew Ratcliffe: Feelings of Being. Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford 2008, Part II. 21 Für atmosphärische Gefühle sieht die Sache etwas anders aus: Sie sind auf spezifische Orte, Situationen und Ereignisse bezogen; insofern lässt sich in der Regel intersubjektiv feststellen, ob etwa eine Situation an sich freundlich bzw. eisig ist, oder ob man diese verzerrt wahrgenommen hat. Allgemein zu atmosphärischen Gefühlen vgl. man Ben Anderson: Affective atmospheres, in: Emotion, Space and Society 2 (2009), 77–81. 20

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dem spüren, was unsere existenziellen Gefühle allgemein über unsere Möglichkeiten offenbaren, und dem, wie wir uns idealerweise sehen und verhalten möchten. Wenn es für uns zum Beispiel sehr bedeutsam ist, dass wir uns als Akteure verstehen, die die Kontrolle über den Gang der Ereignisse haben sowie selbstbestimmt und verantwortlich dazu in der Lage sind, das zu tun, was unseren wichtigsten Anliegen entspricht, dann können Hintergrundgefühle, die uns Schwäche, Kraftlosigkeit und den Verlust an Handlungsfähigkeit signalisieren, größtes Unbehagen, vielleicht auch Verzweiflung, Angst und Panik hervorrufen. Handelt es sich dabei um bloße Schwankungen nicht-elementarer existenzieller Gefühle, wie wir sie etwa im Zuge eines Dreitagevirus erleben, so nehmen wir diese eher gelassen zur Kenntnis – wissend, dass es nur eine vorübergehende Unpässlichkeit ist. Ganz anders sieht es dagegen im Falle einer nicht mehr als transient empfundenen Form gefühlter Handlungsunfähigkeit aus, wie sie in Folge eines Burnout-Syndroms oder einer schweren Depression auftreten kann. Wir halten die entsprechenden existenziellen Gefühle bzw. den Zustand, der ihnen zugrundeliegt, für äußerst besorgniserregend und in hohem Maße regulierungsbedürftig. Während wir die gefühlte Abgeschlagenheit bei einem grippalen Infekt also als durchaus normal und – gegeben unseren Gesundheitszustand – auch als »angemessen« einschätzen, erscheint uns die mit einer Depression einhergehende Weltabgewandtheit oder die fundamentale Verschiebung unseres Realitätssinns, wie er etwa mit Depersonalisations- oder Derealisationsstörungen einhergeht, gerade aufgrund ihrer organisch nicht leicht fassbaren Persistenz nicht mehr für akzeptabel. Wir wollen diese Gefühle nicht haben, da sie uns die Welt und unsere Handlungsmöglichkeiten in »verrückter« Weise präsentieren. Indirekt bringen wir damit auch zum Ausdruck, dass wir sie nicht für »angemessen« halten. Sie taugen nicht für unser Handeln in dieser Welt. Aber auch für diese Fälle müssen wir – wie im Falle der von Bowlby beschriebenen Wut im Rahmen unermesslicher Trauer – akzeptieren lernen, dass die jeweils vorherrschenden existenziellen Gefühle die »innere Realität« der Betroffenen widerspiegeln, die als solche anzunehmen sind. Erst dann kann in weiteren Schritten erwogen werden, wie sich die aus dem Lot geratenen existenziellen Hintergrundgefühle wieder in ein erträgliches Gleichgewicht bringen lassen. Die Möglichkeiten für eine solche Regulation leidvoller existenzieller Gefühle sind allerdings beschränkter als wir uns wünschen möchten.22

Vgl. Achim Stephan: Existentielle Gefühle und Emotionen: Intentionalität und Regulierbarkeit, in: Feelings of Being Alive, hg. von Joerg Fingerhut und Sabine Marienburg, Berlin 2012, § 5. 22

Rationalität und Rationalisierung – Ansichten aus Psychoanalyse und Konversationsanalyse Michael B. Buchholz

Philosophische Diskussionen über Gründe von Handlungen und Intentionalität sind keine Lehnstuhl-Philosophie. Ähnlich wie die Hermeneutik ihre reichen Traditionen mit der modernen empirischen Forschung aus Kognitionswissenschaft, Primatologie und kognitiver Linguistik nach dem Vorschlag von Wolfgang Detel1 zusammenbringt für eine »moderne Hermeneutik« mit Integration der Befunde dieser Wissenschaften, könnte eine philosophische Diskussion von Gründen, Intentionen und Emotionen diese empirischen Befunde aufnehmen – und tut dies auch längst.2 Mehr als deutlich ist dabei, dass Emotionen, Gründe und Intentionalität im Vollzug zusammen erscheinen und deshalb auch zusammen diskutiert werden.3 Vielfach wird dabei auf Essentials der Psychoanalyse zurückgegriffen, man könnte sogar vermuten, dass die Psychoanalyse solche Diskussionsnotwendigkeiten mit hat entstehen lassen mit ihrer generellen Verunsicherung selbstverständlich scheinender Selbstgewissheiten und mit der Verbreitung ihrer Leitidee vom Unbewussten, auch wenn diese Idee keine psychoanalytische, sondern eine philosophische Schöpfung war.4 Die Psychoanalyse muss sich derzeit in einer Welt erheblicher Konkurrenzen verteidigen. Einige ihrer Forscher lehnen sich an die Programmatiken der Konversationsanalyse5 und kognitiven Linguistik6 an und untersuchen das psychoanalytische Gespräch Wolfgang Detel: Geist und Verstehen. Historische Grundlagen einer modernen Hermeneutik, Frankfurt 2011. 2 Siehe z. B. Kollektive Intentionalität. Eine Debatte über die Grundlagen des Sozialen, hg. von Hans Bernhard Schmid, David P. Schweikard, Frankfurt am Main 2009; Philosophie der Gefühle, hg. von Sabine A. Döring, Frankfurt 2009; Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie, Frankfurt 2009; Achim Stephan, Jan Slaby: Affektive Intentionalität, existenzielle Gefühle und Selbstbewusstsein, in: Affektive Intentionalität, hg. von Achim Stephan et al., Paderborn 2011, 206–229, sowie im selben Band S. 321– 340 Michael Gaebler, Judith Daniels, Henrik Walter: Affektive Intentionalität und existenzielle Gefühle aus Sicht der systemischen Neurowisssenschaft. 3 Peter Goldie: Emotionen, Gefühle und Intentionalität, in Stephan et al., op. cit., 49–71. 4 Macht und Dynamik des Unbewußten. Das Unbewußte Band I. Auseinandersetzungen in Philosophie, Medizin und Psychoanalyse, hg. von Michael B. Buchholz, Günter Gödde, Giessen 2005. 5 Conversation Analysis and Psychotherapy, hg. von Anssi Peräkylä, Charles Antaki, Sanna Vehviläinen, Ivan Leudar, Cambridge/New York 2008; Evrinomy Avdi: Gespräche analysieren in der »Redekur«. Konversations-, Diskurs- und narrative Analyse psychoanalytischer Psychotherapie, in: Psychoanalytische Therapie. Neue Paradigmen und alte Weisheit, hg. von Jeremy Holmes, München 2010, 57–79; Michael B. Buchholz: Konversation, Erzählung, Metapher. Der Beitrag qualitativer Forschung zu einer relationalen Psychoanalyse, in: Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse, hg. von Martin Altmeyer, Helmut Thomä, Stuttgart 2006, 282–314; Michael Forrester, David Reason: Conversation analysis and psychoanalytic psychotherapy research: questions, issues, 1

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selbst. Für sie stammt das, was wir als Intentionalität, Gründe, Emotionen bezeichnen, nicht mehr unbedingt aus einer individuellen, introspektiv zu erschließenden Tiefe, sondern aus einer Welt der sozialen Bezüge, vor allem des Gesprächs. Ein Ich, das die Gründe seiner Handlung zu benennen sich bemüht, setzt sich so immer schon dem Verdacht aus, nicht Rationalität auszuweisen, sondern Rationalisierungen zu produzieren. Es geht somit nicht nur um die ältere Opposition von »Sinn« und »Verstehen« einerseits, »Kausalität« und »Erklären« andererseits, sondern eine dritte Position der »Sozialität« eröffnet eine triadische Struktur, innerhalb derer sich die Diskussion, insbesondere unter Rückgriff auf Befunde der Entwicklungspsychologie, neu verortet. Ich möchte deshalb zunächst am Leitfaden von Freuds Verständnis menschlicher Fehlleistungen zeigen, wie er die Idee der Intentionalität erweiterte durch die Annahme, dass Handlungsbegründungen nicht nur mitgeteilt werden, sondern – hier ist der Pol der Sozialität sofort erkennbar – durch andere beobachtet werden. Diese anderen sind nicht nur Psychoanalytiker, sondern – wie seine Beispiele zeigen – durchaus alltägliche Interaktionsteilnehmer. An einem Beispiel genau dieses Typs aus unserem Straftäterprojekt7 werde ich auf einige Erweiterungen zu sprechen kommen und skizziere dann drei experimentelle Paradigmen der Säuglingsforschung, die für die hier geführte Diskussion paradigmatisch sind.

Freuds Beispiele Die Welt der Gründe ist aus psychoanalytischer Sicht immer auch nahe an der Welt der Abgründe. Gründe werden ausgewiesen, um Handlungsmotivierungen zu bezeichnen und sollen in der sozialen Welt des Gesprächs die Stelle einnehmen, die in der Welt der physikalischen Zusammenhänge den Ursachen zugesprochen wird. Aber ist das wirklich so? Eigene Handlungsmotivierungen zu nennen setzt immer die soziale Situation

problems and challenges, in: Psychoanalytic Psychotherapy 20 (2006) 40–64; Kye L. McCarthy, Erhard Mergenthaler, Sven Schneider, Brin F. S. Grenyer: Psychodynamic change in psychotherapy: Cycles of patient-therapist linguistic interactions and interventions, in: Psychotherapy Research 21 (2011) 7722– 7731 6 José Renato Avzaradel: On the construction of thinking, in: Int. J. Psychoanal. 92 (2011) 833– 885; Antal F. Borbely: Metaphor and psychoanalysis, in: The Cambridge Handbook of Metaphor and Thought, hg. von Raymond W. Gibbs, Jr., Cambridge/New York 2008, 412–424; Michael B. Buchholz: Metaphern der ›Kur‹. Qualitative Studien zum therapeutischen Prozeß, Giessen 22003; ders.: Der Körper in der Sprache. Begegnungen zwischen Psychoanalyse und kognitiver Linguistik, in: Eine Rose ist eine Rose … Zur Rolle und Funktion von Metaphern in Wissenschaft und Therapie, hg. von Hans Rudi Fischer, Weilerswist 2005, 167–196; Donald L. Carveth: Die Metaphern des Analytikers. Eine dekonstruktionistische Perspektive, in: Metaphernanalyse, hg. von Michael B. Buchholz, Göttingen 1993, 15–71; Joseph D. Lichtenberg: The Clinical Power of Metaphoric Experience, in: Psychoanalytic Inquiry 29 (2009) 48–57; Arnold H. Modell: Metaphor –The Bridge Between Feelings and Knowledge, in: Psychoanalytic Inquiry 29 (2009) 6–11. 7 Michael B. Buchholz, Franziska Lamott, Kathrin Mörtl: Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern, Giessen 2008.

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des Gefragtwerdens nach diesen voraus; man wird nach Gründen gefragt oder orientiert sich in der Frage an sich selbst am Gesprächsmodell des Gefragtwerdens. Auf der Suche nach den eigenen Gründen erfährt man, dass der Introspektion immer schon unweigerlich der »generalized other«8 eingeschrieben ist. Gründe zu nennen ist Angelegenheit sozialer Konversation, der die Selbstbefragung nach Gründen nachempfunden ist. Öffnet man sich für diese soziale Dimension der Frage, dann merkt man rasch, dass die damit gegebene Komplexität gesteigert werden kann, weil Gründe sowohl be- wie auch zugeschrieben werden,9 was im gegebenen Fall die empirische Unterscheidung zwischen Rationalität und Rationalisierung nicht erleichtert. Die Frage nach den Gründen kann nicht ohne die nach dem jeweiligen »Ich«, das Gründe für seine Handlungen auszuweisen sucht, beantwortet werden. Zusätzliche Schwierigkeiten liegen darin, dass manche Gründe Handlungsabsichten sind, also Ausgriffe auf auch zeitlich vorausliegende Ziele.10 Auch Psychoanalytiker wissen, dass Gründe nicht nur zugeschrieben, sondern auch von anderen Gesprächsteilnehmern beobachtet werden können. Und sie erfahren, dass Mitteilungen von Absichten in der Empirie der alltäglichen Konversationsformate oft nicht in der Form »ich tue x, weil…« verfasst sind, sondern oft unabsichtlich mitgeteilt werden, bisweilen sogar entgegen den formulierbaren oder formulierten Absichten der betreffenden Person. Empirische Beispiele von (therapeutischer) Konversation ergeben interessante Überlegungen zum Verstehen von Gefühlen und Intentionalität. Freud illustriert in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse11 die Mitteilung solcher Absichten am Beispiel der Fehlleistungen. Ein Vortragender etwa eröffnet die Tagung mit den Worten: »Ich freue mich, Sie verabschieden …äh… begrüßen zu dürfen«. Oder mit den Worten: »Kommen wir zum nächsten Ausschnitt… äh… Abschnitt«. Das Publikum lacht, man hat verstanden. Dem Redner ist die Fehlleistung peinlich. Warum, erklärt uns Freud so: weil eine für den Moment unbewusste Absicht (die, die Tagung schon beendet zu sehen) als Motivierung der (missglückten) Rede hervorgetreten ist. Es gibt demnach zwei Absichten: eine bewusste und die unbewusste Absicht, die im Moment der Fehlleistung mit der bewussten Absicht interferiert. Dieser Interferenzeffekt zweier Absichten, so Freud, ist die eine Bedingung für das Zustandekommen einer Fehlleistung. Die andere sei, dass eine der beiden Absichten unbewusst sein müsse – denn nur so entziehe sie sich der bewussten Kontrolle und könne dann gleichsam hervorbrechen. Die Annahme einer bewusstseinsfernen bzw. unbewussten Intentionalität ist für Freud 8 George H. Mead: Bedeutung, in: Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie, hg. von Heinz Steinert, Stuttgart (1973) (engl. orig. 1934). 9 Siehe z. B. Joshua Knobe: The concept of intentional action: A Case Study in the Uses of Folk Psychology, in: Philosophical Studies 130 (2006) 203–231. 10 Michael B. Buchholz: Reden mit Einreden, Reden von Ausreden. Implizites Wissen von Schuld, in: Psychische Strukturen und kollektive: Regulierung und der Raum der Gründe, hg. von Brigitte Boothe, Andreas Cremonini, Georg Kohler, Würzburg 2012, 215–243. 11 Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, G.W., Bd. 11, Frankfurt 1916 u. ö.

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der Schlüssel. Nur diese Annahme mache nämlich möglich, in Fehlleistungen oder Symptomen Sinn zu entdecken. Freud sucht keineswegs nach »Ursachen«, sondern nach Gründen; diese sind manchmal unbewusst.12 Ist die Mitteilung, die Tagung beendet sehen zu wollen, nun rational? Das kommt auf den Bezugsrahmen an. Im Bezugsrahmen von Müdigkeit oder allgemeiner Unlust des Sprechers würde eine solche Mitteilung sich jedenfalls als rational gut einfügen. Aber sie ist ihm eben nicht bewusst, weil eine andere Absicht dominiert. Bewusstsein und Rationalität fallen, wie dies kleine Beispiel zeigt, nicht immer zusammen. Freud schließt sogar gelegentlich auf eine unbewusste Rationalität. Mit dieser Konstruktion haben sich manche Philosophen, insbesondere in der philosophischen Diskussion und Entdeckung des Unbewussten,13 schwer getan, aber man kann an der Empirie der Fehlleistungen sehen, wie sie gedacht ist. Es handelt sich um gedanklich rekonstruierbare Ereignisse, die in menschlichen Beziehungen eine Wirkung haben, die man als analog zur Kausalität der Physik betrachten könnte. Das Publikum muss lachen, der Körper, so sah es Hellmuth Plessner,14 emanzipiert sich von der Person.15 Freud16 hat uns ein weiteres, sehr interessanteres Beispiel hinterlassen, das soziale Dimensionen aufschließt. Es stammt eigentlich von Theodor Reik. In einer Gesellschaft will einer Dame der Titel des Buches »Ben Hur« nicht einfallen und auch den anwesenden Herren versagt sich der richtige Einfall. Gemeinsame Fehlleistungen sind eine mikrosoziale Produktion, die vielfach zu beobachten sind, aber bislang wenig empirische Aufklärung gefunden hat.17 Freud vertritt hartnäckig die Auffassung, dass es sich lohnt, diesen flüchtigen Momenten mit Aufmerksamkeit zu begegnen. Seine Deutung dieses Geschehens einer gemeinsamen Fehlleistung ist klar: Das Unbewusste der Herren habe das der Dame gedeutet! Das ist interessant deshalb, weil Freud das Unbewusste als sozialen Mitakteur ins Geschehen einrückt. Das Unbewusste ist nicht nur Objekt der Deutung, sondern es ist Subjekt; es deutet selbst schon. Welche Rolle diese Deutung im sozialen Feld spielt, kann aufgeschlüsselt werden. Es ist eine Rarität, wenn man ein solches Phänomen hat aufzeichnen, transkribieren und dann analysieren können. In

Günter Gödde: Berührungspunkte zwischen der ›Philosophie‹ Freuds und der Phänomenologie in: Founding Psychoanalysis Phenomenologically. Phenomenological Theory of Subjectivity and the Psychoanalytical Experience, hg. von Dietmar Lohmar, Jagna Brudzinska, Dordrecht 2011, 132–167. 13 Vgl. Günter Gödde: Traditionslinien des Unbewussten. Schopenhauer – Nietzsche – Freud, Tübingen 1999; ders.: Freud and nineteenth-century philosophical sources on the unconscious, in: Thinking the unconscious, hg. von Angus James Nicholls, Martin Liebscher, New York 2010, 261–187. 14 Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie, Frankfurt 1970. 15 Joachim Fischer: Der lachende Dritte. Schlüsselfigur der Soziologie Simmels, in: Die Figur des Dritten, hg. von Eva Eßlinger, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Alexander Zons, Berlin 2010, 193–208; Gustav Seibt: Der Einspruch des Körpers. Philosophien des Lachens von Platon bis Plessner – und zurück, in: Merkur 56 (2002) 751. 16 Sigmund Freud: Psychopathologie des Alltagslebens, G.W., Bd. 4, Frankfurt 1904 u. ö., 49. 17 Vgl. aber Emanuel A. Schegloff: Das Wiederauftauchen des Unterdrückten, in: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 2 (2000) 3–29 sowie Anna Kazanskaya, Horst Kächele: Kommentar zu E. Schegloff: Das Wiederauftauchen des Unterdrückten, in: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 2 (2000) 30–33. 12

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unserer Studie über verurteilte Sexualstraftäter18 haben wir im Kapitel über die Mikrostrukturen der Konversation einige solcher Momente analysiert, eines davon möchte ich hier wiedergeben.

Ein Beispiel aus dem Straftäterprojekt Das Material stammt aus einer Gruppentherapie von insgesamt 16 inhaftierten Straftätern, die eigene und fremde Kinder sexuell missbraucht haben. Es ist die weltweit erste Studie, in der diese Menschen in umfänglicher Weise selbst zu Wort kommen, man sich also in deren Denken, Weltauffassung und Sprechen recht intensiv vertiefen kann. Die vierjährige Gruppentherapie wurde videographiert, von uns transkribiert und bildet so die Basis für eine ausgedehnte empirische Analyse. Eine unserer Beobachtungen hält fest, dass nicht nur die komplexen Tatnarrative von großer Bedeutung sind, sondern auch die Konversationen der Gruppenteilnehmer vor und nach den Erzählungen. Sie haben beträchtliche Fähigkeiten, die von uns als »social scanning« bezeichnet wurden. Sie lesen sehr schnell und mit hoher Kompetenz die Absichten Anderer, auch solche, die diesen selbst noch ganz unbewusst sind. Unbewusst heißt hier in genauer methodischer Formulierung: der Selbstbeobachtung entzogen, aber durch andere Beobachter beobachtbar. Das Beispiel handelt davon, wie der Therapeut in der Gruppe der Sexualstraftäter hin und wieder die Anregung gibt, die Teilnehmer sollten weniger durch ein unpersönliches »man«, sondern durch ein personalisiertes »ich« sprechen. Das ist bereits öfter angeregt worden, in seiner ersten Äußerung im hier mitgeteilten Abschnitt bezieht sich der Therapeut darauf und kann wissen, dass die Teilnehmer wissen, was er meint. Am Ende einer Erzählung nun schließt ein Teilnehmer seinen Bericht mit den folgenden Worten ab: Martin K. (beendet eine Erzählung): Ja gu::t, man soll (.) die Hoffnung nich verliern= Therapeut K.: =Ich oder du? Martin K.: Soll ich:--? (1,5) Martin K: ((Lachen)) Wenn ich jetzt wieder ›man‹ gesagt hätte, hätten ((fängt wieder an zu lachen und verschluckt dabei den Rest des Satzes)). = Bernd B.: = Das wär doch gegangen, hätt’st doch Du:: gesagt? (1) Martin K.: Na:ja: °hh so seh ich halt POSitiv jetzt wieder in die Zukunft rein Man kann deutlich die Absicht des Therapeuten erkennen, dem Sprecher Martin K. erneut die Regel zu vergegenwärtigen, nicht »man«, sondern »ich« zu sagen. Aber Martin stockt, es gibt eine – in der Interaktion »lange« – Pause von anderthalb Sekunden, es kommt zu einem Lachen der Gruppenmitglieder und schließlich kommentiert Bernd B. Michael B. Buchholz, Franziska Lamott, Kathrin Mörtl: Tat-Sachen. Narrative von Sexualstraftätern, Gießen 2008. 18

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hellsichtig, dass es doch gegangen wäre, den Therapeuten zu duzen! Als wir das Band angesehen, die Transkription immer erneut gelesen haben, war uns zunächst das Lachen in der Gruppe nicht klar. Dann aber merkt man plötzlich, dass der Therapeut hier eine kleine Fehlleistung begeht: er sagt ja nicht, wie es korrekt wäre: »Ich oder Sie?«, sondern formuliert ein »du«. Die Wendung »Ich oder du?« ist nun aber selbst wiederum ein Alltagszitat, das in vielfachen Kontexten angetroffen werden kann. Es ist deshalb nicht sicher entscheidbar, ob der Therapeut eine Fehlleistung in bewusster oder unbewusster Absicht begeht. Sicher ist aber, dass die Gruppenmitglieder seine Äußerung als Fehlleistung kategorisieren. Sie reagieren darauf, als hätte er eine Fehlleistung begangen. Diese Deutung passt in einen (im Buch umfangreich dargestellten) Kontext angewärmter Emotionalität und Gesprächigkeit und so können wir uns dieser Deutung durchaus anschließen. Dem Therapeuten freilich so wenig wie uns Interpreten war zunächst aufgefallen, dass er eine als Fehlleistung deutbare Äußerung begangen hatte. Die Möglichkeit zu dieser besonderen Kategorisierung seiner Äußerung wird nun in erstaunlicher Geschwindigkeit von einem anderen Gruppenmitglied aufgegriffen; hier ist es der Therapeut, der gedeutet wird und zwar, wie man zugestehen muss, sehr hellsichtig. Was würde der Therapeut hinsichtlich seiner rationalen Gründe sagen können, wenn man ihm diese Stelle vorlegt und er die Fehlleistung gar nicht bemerkt?

Verschiebungen von Affektgründen Von solcher Komplexität sind die empirischen, in der professionellen ebenso wie in der alltäglichen Erfahrung vorfindlichen Beispiele. Sie sind weitaus komplexer als in manchen Texten auffindbare Diskussionen über die Furcht vor einer Schlange beim Spaziergang in einem Wald. Da in unseren Breiten Schlangen, zumal in Wäldern, wenig gesichtet werden, ist man etwas erstaunt über die Wahl eines solchen Beispiels. Um zu zeigen, dass jemand trotz besserer Einsicht – »ich weiß ja, dass da keine Schlangen sind!« – dennoch keinen Spaziergang mit dieser Begründung der Schlangenfurcht unternehmen will, lägen andere Beispiele viel näher. Etwa die Angst von manchen Studenten, die sich gut auf Prüfungen vorbereitet fühlen und dennoch zittern und zagen. In einem konkreten Fall, den ich behandeln konnte, war eine Studierende so gut vorbereitet, dass sie, wie die Analyse ergab, nicht etwa fürchtete, durchzufallen, sondern umgekehrt, dass der prüfende Assistent merken könne, wie gut sie sei – und dass sie sich aus Zuneigung zu ihm, den sie aus Seminaren kannte, so gut vorbereitet hatte, um vor ihm zu glänzen. Die Psychoanalyse nennt ein solches Manöver »Verschiebung«. Es erscheint Angst in der Rede, aber das Motiv ist Liebe. Das ist die Verschiebung des Affekts. Es gibt zudem die Verschiebung des Handlungsziels: Bewundert statt geprüft werden. Und es gibt weiter die Handlung, dass dies alles verdeckt werden muss – vor den Augen des Prüfers ebenso wie vor den eigenen. Die Supposition von Rationalität hängt auch hier an der Wahl der Bezugsrahmen. Die Rationalität einer Prüfung verlangt, solche Motive im Zaum zu halten. Gibt es aber

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einen anderen motivationalen Bezugsrahmen, z. B. den, vor einer geliebten Autorität so glänzend da zu stehen wie etwa eine Grundschülerin vor einem Lehrer – Kinder lernen bekanntlich aus genau diesen Motiven – dann wird die Rationalitätsbeurteilung schwieriger. Das so authentisch wirkende Gefühl einer Prüfungsangst müsste dann eher als Rationalisierung, als vorgeschobene Begründung mit Verdeckung der tatsächlichen Motivierungen, aufgefasst werden. Authentizität jedenfalls ist nicht einfach als Beweis für die Rationalität von Handlungsbegründungen anzunehmen. Aber das wussten die französischen Moralisten des 18. Jahrhunderts auch schon, als sie vor dem Spiegel merkten, wie genau die Pose der Aufrichtigkeit einstudiert werden kann. Drei interessante, Auswege aus diesen Schwierigkeiten weisende empirische Forschungsrichtungen möchte ich nun in aller Kürze vorstellen.

Das Paradigma des »social referencing« von Robert Emde Der Säuglingsforscher Robert Emde19 hat seit vielen Jahren ein Forschungsparadigma entwickelt, das er als »social referencing« bezeichnet. Vor einem kleinen Kind (die Variation des Alters ist selbst eine experimentelle Variable20) im Alter von wenigen Monaten wird eine Situation aufgebaut, die als »visual cliff«21 bekannt ist: Das krabbelnde Kind bewegt sich auf einen Graben zu, der etwa einen Meter breit, aber auch tief ist. Der Graben ist mit einer tragfähigen Glasplatte überdeckt, so dass dem Kind nichts geschehen kann. Doch um das einzuschätzen, fehlt dem Kind eben die nötige Erfahrung. Es möchte zu seiner Mutter auf der anderen Seite des Grabens gelangen. Das Baby weiß nicht, was tun? Emde und seine Mitarbeiter beobachten nun, wie das Baby vor dem Graben innehält und einen fragenden Blick an die Mutter richtet: soziale Referenzierung. Ermutigt die Mutter das Kind, krabbelt es weiter. Manche Mütter aber spiegeln die Zögerlichkeit des Kindes oder intensivieren sie so, dass auf ihrem Gesicht Ängstlichkeit zu sehen ist – dann fängt das Baby an zu weinen. Das Baby selbst weiß nicht, wie die Situation zu »deuten« ist und sucht als erstes eine Deutung der Situation, die es vorfindet. Die Deutung der Mutter wird dann »ermittelt« durch den als »social referencing« bezeichneten Vorgang und wird sofort als relevante, gleichsam verbindliche Deutung assimiliert. Sie wird zur eigenen Deutung.

Robert N. Emde: Changing models of infancy and the nature of early development. Remodeling the foundation, in: J. Amer. Psychoanal. Assoc. 29 (1981) 179–219; ders.: The effect of relationships on relationships: a developmental approach to clinical intervention, in: Relationships within Families. Mutual Influences, hg. von Robert A. Hinde, J. Stevenson-Hinde, Oxford 1988. 20 Robert N. Emde: Die Aktivierung grundlegender Formen der Entwicklung: Empathische Verfügbarkeit und therapeutisches Handeln, in: Die Kraft liebevoller Blicke. Psychotherapie und Babyforschung, Band 2, hg. von Hilarion Petzold, Paderborn 1995, 219–252; ders.: Regeneration und Neuanfänge. Perspektiven einer entwicklungsbezogenen Ausrichtung der Psychoanalyse, in: Psyche 65 (2011) 778–807. 21 Edward J. Gibson, Richard D. Walk: The »Visual Cliff«, in: Scientific American 202 (1960) 67–71. 19

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Das ist nun der theoretisch interessante Punkt. Bevor das Kind eine eigene Emotion als Motivierung und später als Begründung der Handlung anführen könnte, hat es schon die mütterliche Deutung der Situation sich zu eigen gemacht – wie könnte es auch anders? Emde hat nachgewiesen, dass die vorsprachliche Assimilation von fremden Deutungen sozialer Situationen bei der Entstehung sogenannter Angststörungen eine erhebliche Rolle spielt. Die Psychoanalyse hat immer schon den Vorgang der Identifizierung dabei gesehen. Damit werden die Fragen aufgeworfen, ob die Angst in ihrem Ursprung überhaupt als eine »eigene« Angst angesprochen und ob sie als Grund für Handlungen angeführt werden kann? Sie scheint ein Handlungsgrund zu sein, den ein solcherart ängstlicher Mensch, wenn er vollständig explizit machen könnte, was ihn bewegt, vielleicht so ausdrücken würde: »Ich empfinde Angst (und meide deshalb den Waldspaziergang), weil meine Mutter (oder andere relevante Bezugspersonen) mir einmal gesagt haben, da könnte es zu gefährlichen Begegnungen mit Schlangen kommen – aber ich möchte mich als Erwachsener nicht so infantil darstellen und deshalb spreche ich nur von meiner Angst und halte mir die Quelle der Angst unbewusst«.

Die »still-face«-Experimente von Ed Tronick Soziale Resonanz, wie sie durch das Paradigma des »social referencing« beschrieben wird, hat in der Entwicklungspsychologie noch weitere Erforschung gefunden. Ed Tronick hat in umfangreichen Arbeiten das Paradigma der »still face«-Experimente entwickelt.22 Eine Mutter und ein etwa 4 Monate alter Säugling werden in einer ersten Versuchsphase beim Spiel mit Blicken und Gurre-Lauten gefilmt. Sie lachen sich an und vokalisieren in zeitlich enger rhythmischer Synchronisation. Initiativen gehen von beiden aus und werden von beiden resonant beantwortet. Die Stimmen der »shared emotion« finden sich auch im interkulturellen Vergleich.23 So ließ sich klären, was in einer älteren Terminologie als »Rapport« bezeichnet worden war.24 In einer zweiten Versuchs-Phase verhält sich die Mutter instruktionsgemäß zwei Minuten lang vollkommen starr und verweigert die Reaktion auf die kindlichen Initiativen. Sie blickt am Kind vorbei, reagiert nicht auf dessen Versuche, die Lächel-Spiele wieder aufzunehmen, und verweigert sich der kindlichen Initiative. In einer dritten Phase nimmt die Mutter nach den zwei Minuten das normale Spiel mit ihrem Kind wieder auf. Es gibt bewegende Videos von dieser Prozedur. In der eigentlichen experimentellen zweiten Phase, wenn die Mutter Resonanz verweigert, wird das Kind übermäßig aktiv, zeigt mit dem Finger auf etwas, worüber man eben noch gemeinsam gelacht hat, das

Ed Tronick: The Neurobehavioral and Social-Emotional Development of Infants and Children, New York/London 2007. 23 Niki Powers, Colwyn Trevarthen: Voices of shared emotion and meaning: Young infants and their mothers in Scotland and Japan, in: Communicative musicality, hg. von Stephen Malloch, Colwyn Trevarthen, Oxford 2010, 209–240. 24 Ed Tronick: The Development of Rapport, in: Psychological Inquiry 1 (1990) 322–323. 22

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Kind ergreift vielerlei Initiativen, die plötzlich so veränderte Mutter wieder zur Teilnahme am Spiel zu gewinnen, und wenn das nicht gelingt, kann man die interaktive Vorform der Verleugnung sehen: das Kind wendet, nach einer Phase des lärmenden Protests, aktiv den Kopf zur Seite und will erkennbar das erstarrte Gesicht der Mutter nicht mehr ansehen. Tronick (2007, S. 403) sieht darin einen Vorläufer der aktiven Verleugnung. Diese Mutter »precludes the creation of a dyadic state of consciousness« (ebd.). »Dyadischer Bewusstseinszustand« ist Tronicks Wort für jene besondere Form der Resonanz, die Menschen brauchen, wenn sie der Hilfe anderer bedürfen. Das gilt für psychotherapeutische Patienten, aber vor allem für kleine Kinder, die etwa für die Temperaturregulation ihres Körpers auf die Mutter angewiesen sind. Temperatur ebenso wie emotionaler Zustand werden dyadisch reguliert. Das ist die Pointe dieses Experiments. Die Affekte der Kinder sind keineswegs diffus oder chaotisch, wie eine ältere Theoriebildung noch meinte. Videographie ermöglicht zu erkennen, wie ungemein genau Kinder ihren Zustand kommunizieren. Kinder haben keineswegs nur ein »Reptiliengehirn«, das lediglich »Erregung« kommuniziert. Sie sind aktive Partner an einer vorsprachlich affektiven Konversation, die gegenseitig präzise reguliert wird. Chaotische Affekte entstehen in genau dem Augenblick, wenn die affektive Konversation (wie im Experiment) abgebrochen oder unterbrochen wird. Dann bemühen sich Säuglinge intensiv und in beschreibbaren Aktionen darum, die affektive Resonanz wieder herzustellen. Das können sie nicht allein, sie bedürfen zur Regulierung der Hilfe der Mutter und diese erkennt, wenn alles gut geht, an den differenzierten kindlichen Reaktionen, wie das Kind den Zustand ihrer gemeinsamen Interaktion »evaluiert«: als gelingend oder reparaturbedürftig, als befriedigend oder alarmierend, als geteilt oder unrettbar voneinander getrennt. Dieses so aufschlussreiche experimentelle Paradigma lässt ahnen, was Kinder erleben und bewältigen müssen, die eine wirklich depressive Mutter haben. Interessant wird nun auch, was Mütter bei einer solchen Prozedur der verordneten Resonanzunterbrechung erleben. Darüber gibt es erste und aufregende Befunde.25 Man kann Mutter und Säugling mit EEG-Elektroden »verkabeln«, den Hautwiderstand, respiratorische Sinus-Arhythmie, Herzfrequenz u. a. m. messen und beobachten, was passiert. Es bestätigt sich, was man vermuten konnte: In den Phasen des vergnügten Spiels sind die Werte von Mutter und Kind nur schwach synchronisiert. Die Synchronisation des Atemrhythmus, der Herzschlagfrequenz und des elektrischen Hautwiderstands nimmt schlagartig zu, wenn die Mütter sich instruktionsgemäß unnormal mit »still face« verhalten und das Baby zu protestieren beginnt. Obwohl sie sich äußerlich so unterschiedlich verhalten, die Mutter ruhig und das Baby mehr und mehr erregt, zeigen die psychophysischen Werte jedoch einen plötzlichen und radikalen Anstieg der Erregung in großer Synchronisation. In der Episode nach der experimentellen Instruktion Jacob Ham, Ed Tronick: Relational psychophysiology: Lessons from mother-infant physiology research on dyadically expanded states of consciousness, in: Psychotherapy Research 19 (2009) 619– 632. 25

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zeigt sich an den gemessenen Werten, wieviel Anstrengung Mütter aufwenden müssen, um die eigene Erregung, die äußerlich so still gehalten werden musste, herunter zu regulieren, damit sie dann ihr Baby beruhigen können. Dessen Werte regulieren sich in Abhängigkeit von der mütterlichen Vorleistung, also nach der mütterlichen Regulierungsleistung. Das Kind folgt der Mutter beim Wiedererreichen eines normalen Erregungszustands, und diese beachtet sorgfältig, ob und inwieweit das Kind ihr tatsächlich folgt. Es gibt einen gemeinsamen, sich »abschaukelnden« Prozess. Sobald die Mutter bemerkt, dass das Baby sich beruhigt, sinken die physiologischen Werte ihrer Erregung schneller ab als zuvor. Sie überholt gleichsam das Kind, damit es ihr folgen kann. Das alles kann man mit Videoauswertung und moderner Labortechnik gut untersuchen. Das Baby ist sichtbar erregt und führt gleichsam diese Erregung ab; die Mutter ist sichtbar still, aber innerlich sehr erregt und zugleich ihrem Baby äußerst zugewandt. Die Synchronisation von Atem und Herzfrequenz wird von den Müttern aktiv betrieben, um dem Kind gleichsam die Beruhigung vorzuatmen. Manche von ihnen geben in der mündlichen Nachbefragung an, dass sie das kontrolliert und absichtsvoll in der dritten experimentellen Phase getan haben, um dem Kind bewusst zu helfen, von seiner Erregung wieder herunter zu kommen. Gelingt diese aktive Synchronisation, stellt sich auch die affektive Resonanz wieder ein, das vergnügte Spiel kann wieder aufgenommen werden. Die Autoren sprechen von »limbischer Resonanz«, um zu verdeutlichen, dass es hier in neuronaler Betrachtung um die Resonanz zwischen zwei limbischen Systemen geht. Seit den Arbeiten von Myron Hofer26 ist dieser Begriff üblich; diese Autorin hatte solche »early social relationships« als erste zu untersuchen begonnen, die soziale Dimension dann über die frühe Zeit ausgedehnt und u. a. festgestellt, dass enge Freundinnen häufig ihre Menstruationszyklen synchronisieren. In einem sozusagen horizontalen unbewussten Vorgang kommt so etwas zustande, was per Absprache unmöglich wäre. Es gibt Autoren, die darin den Kern der Liebe erkennen,27 und das wäre der Psychoanalyse nicht fremd. Mit einem anderen Menschen in solcher Resonanz verbunden zu sein könnte sich als ebenso intensives Bedürfnis erweisen wie Triebbefriedigung. Solche Dimensionen des Menschlichen gegeneinander aufrechnen zu wollen, wäre jedoch verfehlt. Man kann vielmehr erkennen, wie unabdingbar solche Szenen der Resonanz beim Erlernen des Sprechens sind.28

Myron A. Hofer: Early social relationships: a psychobiologic perspective on bereavement, in: Psychosomatic Medicine 46 (1987) 183–197 27 Thomas Lewis, Fari Amini, Richard Lannon, A General Theory of Love, New York 2001. 28 Before speech. The beginning of interpersonal communication, hg. von Margaret Bullowa, Cambridge 1979; Michael B. Buchholz: Körper – Bild – Szene – Geste – Sprechen. Wie alles zwangslos auseinander hervorgeht, in: Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie 42 (2011) 7–35. 26

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Ein Paradigma zur Untersuchung der Intentionalität Kinder sind im Sinne einer Kontinuitätshypothese immer schon, also von Geburt an, »in Konversation«, Sprechen tritt als besondere Dimension hinzu.29 Eine Voraussetzung ist Intentionalität und ihre Entwicklung. Kinder werden als Subjekte mit Absichten behandelt, sie behandeln irgendwann andere als Subjekte mit Absichten, deren äußeres Verhalten sie nur noch als Indizes für (unsichtbare) Absichten lesen. Versteht man Intentionalität als lokale Produktion von Handlungssinn, dann lassen sich deren Bedingungen mit Tomasello30 empirisch präzise angeben: – Man braucht einen »joint attentional frame«; die Beteiligten müssen sich gemeinsam auf ein Drittes hin ausrichten. – Man braucht die kognitionstheoretische Annahme, dass Menschen Muster erkennen können wie z. B. Vergleiche oder Analogien. Daraus lässt sich weiter entwickeln, dass Menschen Fähigkeiten wie die zur passagèren Rollenübernahme ausbilden, und dass deshalb fremde Absichten annähernd verstanden (oder jedenfalls hinreichend genau erraten) werden können, ohne in Worten mitgeteilt werden zu müssen. »Intention reading« ist bei Kleinkindern bereits experimentell nachweisbar und läuft neben der Konversation bei Erwachsenen mit. Für Kleinkinder im Alter von 18 Monaten hat das in einem interessanten Experiment Meltzoff et al. mit seiner Arbeitsgruppe belegt. 31 Man setzt ein Kind an einen Tisch, auf dem typische Kinderspielsachen liegen, etwa ein Holzstab und Ringe, die auf den Stab gesteckt oder eine Lederschnur und Holzperlen, die auf die Schnur gezogen werden sollen. Das Material ist für das Kind nicht erreichbar. Der erwachsene Versuchsleiter nimmt es und versucht vor den Augen des Kindes, die beschriebenen Aufgaben zu lösen – und lässt sich dabei immer wieder »scheitern«. Dazu macht er Laute des Missbehagens, weil ihm nicht glückt, was er offensichtlich vorhat. Nach einer Weile lässt er die Sachen vor dem Kind liegen und geht aus dem Raum. Was macht das Kind? Es nimmt die Materialien und vollzieht die Aufgaben. Diese Beobachtung kann nicht mit einer Theorie des Imitationslernens erklärt werden, weil das Kind ja etwas tut, was es nicht gesehen hatte. Es hat aber die Absicht verstanden und zeigt, dass es imstande ist, nicht etwa Verhalten zu imitieren, sondern Verhalten als Indikator für Absichten zu verstehen. Es schließt aus dem äußerlich Sichtbaren auf den inneren Vorgang. »Obviously, infants are not behaviorists«, bemerken die Autoren mit einer kleinen Genugtuung. Um die Hypothese genauer zu testen, dass Buchholz 2011 ebd. Michael Tomasello: The Key Is Social Cognition, in: Language in Mind. Advances in the Study of Language and Thought, hg. von Dedre Gentner, Susan Goldin-Meadow, Cambridge, London 2003; ders.: Origins of Human Communication, Cambridge/London 2008. 31 Andrew N. Meltzoff, Alison Gopnik, Betty M. Repacholi: Toddlers’ Understanding of Intentions, Desires and Emotions: Explorations of the Dark Ages, in: Developing Theories of Intention. Social Understanding and Self-Control, hg. von Philip David Zelazo, Janet W. Astington, David R. Olson, Mahwah, NJ/London 1999, 17–42. 29 30

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es um das Erschließen von Absichten geht, haben die Autoren eine Mechanik gebaut, die die gleichen Aufgaben ebenfalls »scheiternd« vor dem Kind vollzieht. Aber hier hat das Kind keinerlei Interesse, es wendet sich ab. Das zeigt: Kinder »lesen« Absichten aus dem Verhalten von Menschen, nicht von Maschinen; denn denen können sie Absichten gar nicht unterstellen. Die Logik dieser Art von Experimenten ist von einer anderen Autorengruppe in den sog. »head-on-box«-Experimenten gut bestätigt worden.32 Ein Versuchsleiter krabbelt auf dem Boden und stößt mit dem Kopf an eine an der Wand in Fußbodenhöhe befestigte runde Plastikscheibe, hinter der daraufhin ein Licht angeht und etwas Musik ertönt, die das zusehende Kind im Alter von 8 Monaten lustig findet. Es krabbelt daraufhin an diesen Plastikscheibenschalter und stößt ebenfalls mit dem Kopf dagegen, die Lampe geht an und aus. Das ist Imitationslernen. Die Situation ändert sich, wenn man dem Erwachsenen die Hände auf dem Rücken zusammenbindet. Das Kind beobachtet nun einen gebundenen Erwachsenen, der das Licht mit dem Kopf anstößt. Es imitiert jetzt nicht die Handlung und macht ebenfalls das Licht mit dem Kopfstoß an und aus, sondern das Kind krabbelt an den Schalter und patscht mit seiner Hand dagegen. Das Kind reagiert auf den Sinn der beobachteten Handlung – und das schon in diesem frühen Alter. Imitationslernen wird von Sinnorientierung und »intention reading« gleichsam überrundet. Menschliche Kleinkinder werden Tomasello zufolge als Wesen behandelt, deren Verhalten Absichten zum Ausdruck bringt.33 Mütter beugen sich über das reflektorisch zappelnde Baby und sagen Sätze wie »Du willst auf den Arm« und unterstellen damit dem Säugling bereits Absichten, die er oder sie noch gar nicht haben kann. Shotter und Newson34 sprachen hier von »Sinn-Infusion«: dem Kind bzw. seinem Verhalten wird gleichsam Sinn infundiert. Für seine Entwicklung ist entscheidend, dass die Sinninfusion nicht zu weit von dem abweicht, was es tatsächlich möchte. Aber das ist ein Nebenaspekt. Entscheidend wird, dass Kinder überhaupt begreifen, dass andere Menschen Absichten haben, die an ihrem Verhalten abgelesen werden können, dass sie also Subjekte mit einem seelischen Binnenraum, der im äußerlich sichtbaren Verhalten zum Ausdruck kommt. In dem Maße, wie sie das begreifen, beginnen sie ab dem 9. Lebensmonat auch sich selbst als solche Subjekte zu begreifen. Vor dieser »Neun-MonatsGyörgy Gergely, James S. Watson: The Social Biofeedback Theory of Parental Affect-Mirroring: The Development of Emotional Self-Awareness and Self-Control in Infancy, in: Intern. J. Psychoanal. 77 (1996) 1181–1212; György Gergely, George Csibra: The social construction of the cultural mind: Imitative learning as a mechanism of human pedagogy, in: Interaction Studies 6 (2005) 463–481; György Gergely, Zsolt Unoka: Attachment and Mentalization in Humans. The Development of the Affective Self, in: Mind to Mind. Infant Research, Neuroscience and Psychoanalysis, hg. von Elliot L. Jurist, Arietta Slade, Sharone Bergner, New York 2008, 50–88, György Gergely, Zsolt Unoka: The Development of the Unreflective Self, in: Mentalization. Theoretical Considerations, Research Findings, and Clinical Implications, hg. von Fred N. Busch, London/New York 2008, 57–103. 33 Michael Tomasello. Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt 2002. 34 John Shotter, J. Newson: An ecological approach to cognitive development: implicate orders, joint actions and intentionality, in: Social Cognition. Studies of the Development of Understanding, hg. von George E. Butterworth, Paul Light, Brighton 1982. 32

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Revolution« (Tomasello) schauen sie auf den Finger, wenn die Mutter auf etwas hinweisen will, sie verstehen die deiktische Geste noch nicht. Danach schauen sie auf das Gezeigte und noch später entwickeln sie die »imperiale Geste«: Sie weisen selbst mit einem »Da!« auf etwas hin – während ihr Blick kontrolliert, ob die Mutter auf das Gezeigte schaut. »Intention reading« ist eine für das kindliche Selbst entscheidende Dimension. Die Absichten eines anderen zutreffend zu deuten ist eine evolutionäre Überlebensstrategie schon bei subhumanen Primaten (aber auf weit weniger komplexe Niveaus beschränkt) und bei anderen, auf der Evolutionsleiter niedriger stehenden Tieren.35 Für menschliche Wesen entwickelt sich daraus der Übergang in symbolische Welten.36

Die Deutung ist nicht Rationalisierung, sondern unbewusstes Intentionenlesen Die referierten Befunde unterstützen meine These: Ein Psychoanalytiker, der deutet, sucht die unbewussten Absichten eines Handelnden. Er tut dies, indem er Interaktionsszenen miteinander so vergleicht, dass der Auszug der Invarianz daran sichtbar und erlebbar wird. Ich erläutere meine These erneut an einem Transkriptabschnitt aus einer Studie von Annsi Peräkylä,37 einem finnischen Konversationsanalytiker, der psychoanalytische Dialoge analysiert hat. Konversationsanalytiker haben sich vielfach mit der Analyse von Gesprächen beschäftigt, mit Arzt-Patient-Gesprächen im Behandlungszimmer oder während einer Visite, mit Zeugenvernehmungen vor Gericht, mit der Konversation hoch verantwortlicher Teams in einem Cockpit oder in einem Operationssaal. Es geht in der Konversationsanalyse um die genaue Beschreibung derjenigen konversationellen Praktiken, mit denen Teilnehmer ihre Aufgaben bewältigen. Peräkylä wendet erstmals solche Methoden auf einen Korpus von 60 transkribierten Therapiesitzungen an.38 Eine der dabei zu bewältigenden Aufgaben, die die finnische Forschungsgruppe identifizierte,

Klaus Ottomeyer: Mensch und Tier in der Psychologie, in: Bei Jutta auf der Couch. Eine Festschrift für Jutta Menschik-Bendele, hg. von Axel Krefting, Klagenfurt 2009, 65–80. 36 Per Age Brandt: Music and how we became human – a view from cognitive semiotics: Exploring imaginative hypotheses, in: Communicative musicality, hg. von Stephen Malloch, Colwyn Trevarthen, Oxford 2010, 31–44; David Premack: Is Language the Key to Human Intelligence?, in: Science 303 (2004) 318–320; Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie, Frankfurt 2009. 37 Anssi Peräkylä: Shifting the perspective after the patient’s response to an interpretation, in: Int. J. Psychoanalysis 91 (2010) 1363–1384. 38 Anssi Peräkylä: Making Links in Psychoanalytic Interpretations: A Conversation Analytical Perspective, in: Psychotherapy Research 14 (2004) 289–307; ders.: Patients’ responses to interpretations: A dialogue between conversation analysis and psychoanalytic theory, in: Communication and Medicine 2 (2005) 163–176; ders.: Conversation analysis and psychoanalysis: Interpretation, affect, and intersubjectivity, in: Conversation Analysis and Psychotherapy, hg. von Anssi Peräkylä, Charles Antaki, Sanna Vehviläinen, Ivan Leudar, Cambridge/New York 2008, 100–120. 35

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werde ich nun ausführlicher beschreiben. Die erste Aufgabe heißt: »Making Links between Different Domains of Experience«. Ein Mann erzählt von den Schwierigkeiten an seiner Arbeitsstelle, wo sich Männer und Frauen überhaupt nicht zu vertragen scheinen. Am Anfang der Therapiestunde aber war von der Scheidung seiner Eltern die Rede. Der Therapeut macht einen »Link« zwischen beiden Situationen durch deren ideelle Gemeinsamkeit – Männer und Frauen vertragen sich nicht ebenso wie die Eltern des Patienten – und in beiden zeitlich so weit auseinander liegenden Situationen reagiert der Patient mit einem für ihn fühlbaren identischen Stimmungsabfall und dem Gefühl, in seinen Handlungsmöglichkeiten gelähmt zu sein. Die nächste Aufgabe heißt: »Lexical Choice«, Wahl der Worte. Dabei kommt es zu etwas, was als »Zirkulation der Figuren« bezeichnet und am besten durch ein kleines Beispiel verdeutlicht wird (Peräkylä 2004, 295, meine Übersetzung, MBB). Eine kürzlich depressiv »zusammengebrochene« Patientin spricht über die Beziehung zu ihrer Mutter und erinnert, wie die Mutter ihr, als sie 10 Jahre alt war, ständig die falsche Kleidung kaufte: C: Und ich war so enttäuscht und wütend als sie mir (0.6) Hosen und Winterschuhe kaufte als ich:: und Schuhe als ich gerade überlegt hatte welche ich gerne wollte und gerne gehabt hätte ((…)) C: Ich erinn[ere noch, wie ich wirklich versucht habe T: [Ja C: hhhh[h das zu sagen und konkret zu zeigen dass ich T: [ja C: selbst aus[suchen wollte .hh Und un un dann ist meine Mutter T: [Mmmm C: voll zusammen gebrochen (0.4) und das war einfach schrecklich und dann da[chte ich dass ich das einfach lasse T: [Und dann also haben Sie aufgehört zu kämpfen C: Ja, mthh und dazu kam das [dass ja der ( ) T: [Jetzt sind z- Sie selbst zusammen gebrochen C: W[ie T: [ja, so dass Sie jetzt zusammen gebrochen sind Sie sagen doch wie depri[miert und gebroch- .hh: Sie C: [Ja das stimmt aber m: T: zusammen gebrochen, also schon in anderer Wei[se Sie ( ) C: [Das stimmt, Man könnte in der klinischen Sprache sagen, dass der Therapeut die unbewusste Identifikation mit dem Aggressor deutet, den dabei deutlichen Verzicht der Patientin auf

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eigene Artikulation und Abgrenzung der Mutter gegenüber. Aber das ist Theorie. Viel wichtiger ist hier zu sehen, wie das geschieht. Die Gestalt der Szene mit der Mutter wird verbunden gesehen mit der Gestalt der anderen Szene. Das geschieht über eine beide Szenen verknüpfende, zentrale Metapher für die Störung, den »Zusammenbruch«. Das Unsichtbare, das beide Szenen miteinander verknüpft, wird fühlbar und sichtbar: eben der unbewusste Vorgang einer Identifikation.

Ausblick Ich ende mit einigen Fragen für ein zukünftiges Gespräch zwischen Psychoanalyse, Philosophie und Konversationsanalyse. Die Psychoanalyse bietet mit der Annahme der Rationalisierung als eines Abwehrmechanismus eine gewisse Provokation: wenn jemand »ich« sagt, ist nicht unbedingt klar, wen dies »ich« tatsächlich bezeichnet. Die Experimente von Emde zum »social referencing« machen das in Hinsicht auf die Interpretation von unbekannten Situationen mit dem dazugehörigen Erleben von Gefühlen deutlich. Die hier aufgewiesene Abhängigkeit der »Deutung« einer Situation (als gefährlich oder nicht) durch Bezugspersonen zeigt auch, dass die eventuell entstehende und erlebte Angst nicht durchweg als »eigene« Angst, jedenfalls nicht in ihren Ursprüngen, angesehen werden kann. Die »still-face«-Experimente zeigen, wie sehr Menschen in ihrer frühen Entwicklung auf diese Art von Resonanz angewiesen sind und geradezu übernehmen müssen, was angeboten wird – eine großartige Chance für Traditionsbildung, zugleich aber auch für die intergenerationelle Weitergabe von Störungen aller Art. Chance und Risiko zeigen auch die Experimente zur Intentionalität. In der Rationalisierung eigener Handlungsmotive spielt die unbewusste Identifikation mit einem anderen eine gewichtige Rolle. Die Übernahme von Gefühlen und Reaktionsweisen Anderer ist entwicklungspsychologisch mittlerweile gut untersucht. Einer spricht und sagt »ich«, aber die Bezugsperson ist gleichsam »besetzt« von der Identifikation. An dem personalen Ort, wo wir das Ich als Gegenüber vermuten, spricht zugleich ein Anderer. Für die eingangs angeschnittene Diskussionslage zwischen Philosophie, Psychoanalyse und Konversationsanalyse ergeben sich also interessante, ja sogar aufregende Fragen. Sie sind nicht nur philosophisch bedeutsam, sondern auch klinisch-therapeutisch belangvoll. Wir bewegen uns nicht mehr nur in der Opposition von Verstehen und Erklären, wir müssen die soziale Dimension, in der das (spätere) Ich sehr früh konstituiert wird, vollumfänglich in Anschlag bringen. Wie das zu geschehen hat, werden weitere Diskussionen erweisen.

Gründe und Affekte Matthias Kettner

Die Philosophie hat um die Psychoanalyse bislang eher einen Bogen gemacht, abgesehen von gelegentlichen Attacken. Freilich meiden auch die meisten Analytiker den Diskurs der Philosophie und bleiben lieber in ihren Schulen.1 Die Psychoanalyse ist im Raum der Gründe nicht so beheimatet, wie sie es doch sein sollte und – das möchte ich am Beispiel der Affekte nun zeigen – auch sein könnte.

Abwehr und Übertragung zwischen Psychoanalyse und Philosophie Es ist nicht ganz einfach, in wenigen Sätzen im Denken der Psychoanalyse gewisse Konturen hervorzuheben, mit denen wir dieses Denken am besten in philosophische Kontexte einzeichnen könnten. Mit einer Anleihe bei Gottlob Frege möchte man sagen: Wie das Wort »schön« der Ästhetik und »gut« der Ethik, so weist »wahr« der Logik die Richtung – und »unbewusst« der Psychoanalyse. Denn tatsächlich wird die komplexe Theoriewelt der Psychoanalyse, die sich mit und seit Freud entfaltet hat, noch immer zusammengehalten durch den Begriff eines Unbewussten bzw. unbewussten Anteils im menschlichen Seelenleben, der seinerseits wirkungsvoll Anteil an demjenigen Anteil hat, den eine Person in ihr bewusstes Selbsterleben einbeziehen kann. Die für das praktische Selbstverhältnis von Personen wichtigsten, oft konfliktträchtigen, in der Regel zwar Normalität sichernden, unter Umständen aber zerstörerischen Erscheinungsweisen dieses wirkungsvollen Anteils bezeichnen wir seit Freud mit den termini technici »Abwehr« und »Übertragung«. Abwehr bedeutet im Wesentlichen so viel wie motivierte Abhaltung vom Bewusstsein, Übertragung so viel wie motiviertes Sich zu einem Anderen so verhalten, als sei dieser ein anderer Anderer – z. B. sich zu seiner Ehefrau so verhalten, als sei diese die eigene Mutter.

Wolfgang Mertens: Interdisziplinäre Theoriebildung zum Unbewussten, in: Eine Psychoanalyse für das 21. Jahrhundert, hg. von Edith Geus-Mertens, Stuttgart 2007, 123: »Nach Kernberg […] lassen sich die derzeitigen psychoanalytischen Richtungen – die sich global betrachtet alle unter ein (objekt-) beziehungstheoretisches Denken subsumieren lassen – wie folgt unterscheiden: Interpersonale, intersubjektive und selbstpsychologische Psychoanalytiker sind davon überzeugt, dass Objektbeziehungstheorie und Freuds duale Triebtheorie unvereinbar seien; Post-Ich-Psychologen, die britischen »Unabhängigen« und die Post-Kleinianer halten die Triebtheorie und die Objektbeziehungstheorie sehr wohl für kompatibel.« Vgl. Otto Kernberg: Recent developments in the technical approaches of English-language psychoanalytic schools, in: Psychoanalytic Quarterly LXX (2001) 519–547. Vgl. auch die entsprechenden Lemmata in Wolfgang Mertens, Bruno Waldvogel (Hg.): Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe, Stuttgart 32008. 1

Gründe und Affekte

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Jedes negative, also seiner Erlebnisqualität nach unlustvolle Gefühl (z. B. Angst, Scham, Schuld, Ekel, Hilflosigkeit) und alle mit solchen Gefühlen innig zusammenhängenden Subjektzustände (z. B. Einstellungen, Vorstellungen) können wegen und durch diese Negativität einen bis zur Unmöglichkeit erschwerten Zugang zur bewusst machenden erstpersonalen Aufmerksamkeit erfahren, weil die Negativität das Positive bedrängt (z. B. positive Selbstwertschätzung, Lust, Glück, Selbstwirksamkeit). Von den typischen und imponierenden Geschichten, was stattdessen mit der Negativität geschieht, handelt die analytische Abwehrlehre. Abwehr und Übertragung.2 Mit diesen Begriffen bewegen wir uns in der ziemlich tragfähigen Schicht des mit klinischen Erfahrungen und experimentellen Belegen gut abgestützten tiefenpsychologischen Denkens. Über dieser Schicht hat Freud zuletzt sein inferentiell anspruchsvolleres, aber immer noch robustes Strukturmodell des Seelenlebens errichtet, die Psyche als System der drei Subsysteme Überich, Ich und Es. Jedoch wäre es eine nicht besonders sinnvolle und zudem herkulische Arbeit, die vielen von Freud und nach Freud weiter ausgearbeiteten Konzeptionen des Unbewussten gewissermaßen in ein integrales Superkonzept überführen zu wollen. Günter Gödde3 hat einleuchtend rekonstruiert, wie sich Freuds eigener Begriff des Unbewussten wandelt, teils durch neu gewonnene klinische Erfahrungen, teils durch »Veränderungen der impliziten Philosophie«,4 die ihrerseits mit Umbauarbeiten in Freuds Metapsychologie einhergehen. Der anfangs allein zur Erklärung klinischer Phänomene konstruierte neue Begriff des Unbewussten meint 1890 (1) »ein spezifisches Gedächtnis, in dem unbewusste Erinnerungen an unverarbeitete psychische Traumen gespeichert sind, (2) einen »Komplex von der Assoziation abgetrennter Vorstellungen, der die Tendenz hat, andere mit dem Ich unvereinbare Vorstellungen anzuziehen«, (3) »eine Reizquelle, von der pathologische Wirkungen auf die Gemütslage, das Affektleben, die Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit ausgehen und zu längerfristigen Beeinträchtigungen des psychischen Normalzustandes führen können.«5 Um 1900 kommt infolge der Traumtheorie und der zu ihrer Fundierung von Freud aufgebotenen Metapsychologie das Moment der Verdrängungsgenealogie in den Vordergrund, so dass Freud mit dem Unbewussten nunmehr folgendes meint: (4) »Das verdrängte Unbewusste bestehe aus dem mit dem Ich unvereinbaren Vorstellungen, die aus dem Bewusstsein ausgeschlossen worden seien. Diese abgewehrten, aber weiter wirksamen und nachdrängenden Vorstellungen bildeten ein dynamisches Kraftzentrum, dessen Wirkung sich in Form psychischer Störungen, aber auch nicht-pathologischen Erschei2 Zur Übersicht s. Karl König: Abwehrmechanismen, Göttingen 1995. Genaueres zu Widerstand und Abwehr s. Helmut Thomä und Horst Kächele, Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie, Bd. 1, Grundlagen, Berlin 1986, 101–140, sowie zu Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand dies.: Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie, Bd. 2, Praxis, Berlin 1988, 35–190. 3 Günter Gödde: Freuds »Entdeckung« des Unbewussten und die Wandlungen in seiner Auffassung, in: Macht und Dynamik des Unbewussten, hg. von Michael B. Buchholz und Günter Gödde, Gießen 2005, 325–360. 4 Ebd., 326. 5 Ebd., 329.

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nungen des Seelenlebens wie z. B. in Träumen und Fehlleistungen manifestiere. […] Die Verdrängung beruht »auf einem Antagonismus zwischen Vorbewusstem und Unbewusstem. Das Vorbewusste wird zwar auch als Form des Unbewussten betrachtet, aber nur des im deskriptiven, nicht im dynamischen Sinne. Im Unterschied dazu wird das eigentliche Unbewusste der Region der verdrängten Wünsche, Leidenschaften und Phantasien zugeordnet, die von sich aus ins Bewusstsein zurückdrängen.«6 Auch das dynamische Unbewusste gilt Freud nicht als interpretationstranszendent, sondern prozessiert Sinn, wenngleich auf eine besondere und befremdliche Weise, die Freud nun als Primärvorgang terminologisch von den bewusstseinsnahen, vertrauten und rationalen Formen der Sinnverarbeitung, dem Sekundärvorgang, absetzt. Zu den spezifischen Unterschieden beider zählen Verdichtung und Verschiebung, Zeitlosigkeit, Widerspruchstoleranz und Regulation nach Maßgabe des Lustprinzips im Primärvorgang. Freuds Konzeptualisierung des Unbewussten bleibt durchweg rein psychologisch, d. h. das rein Somatische und als solches Interpretationstranszendente bleibt eine Randbedingung dessen, was im Prinzip interpretiert, im Prinzip als sinnhaft verstanden werden kann. Das Konstrukt Trieb spielt die innertheoretische Rolle einer wichtigen Schnittstelle, um »Aspekte von Konstitution, psychosexueller Entwicklung und Triebschicksal«7 in das Denken des Unbewussten einzubringen. So bestimmt Freud das Unbewusste um 1915 metapsychologisch (5) im Kern als eine Menge von Triebrepräsentanzen, die ihre Besetzung abführen wollen. Weitere Begriffsvarianten kommen ins Spiel, als Freud seine erste »Topik« des Seelenlebens, die das Bezugsproblem der Ausschließung aus dem und des Zugangfindens zum Bewusstsein in den Mittelpunkt stellte, zu seiner zweiten, gewissermaßen konflikttheoretische Topik umbaut, deren Bezugsproblem die Herrschaft bzw. Unterworfenheit des Ichs ist.8 Soviel zur Theoriegeschichte des Unbewussten bereits bei Freud. Ihre Proliferation ist inzwischen beachtlich.9 Zwar sind Vereinheitlichungssehnsucht oder umgekehrt die Suche nach einem gordischen Knoten, den es zu zerhauen gälte, philosophisch wohlvertraute Gesten. Aber eine angemessenere Reaktion auf die Unübersichtlichkeit des Unbewussten wäre wohl, die Vielfalt seiner Konzeptionen zunächst als eine Vielfalt von Perspektiven zu würdigen, deren jeder ein relatives epistemisches Recht zuzubilligen wäre, nämlich relativ zu den diversen Therapiepraktiken und den beschränkten Phänomenzugängen, die sie jeweils gewähren. Allen gemeinsam ist jedenfalls die Annahme eines unbewussten Anteils im menschlichen Seelenleben, der seinerseits wirkungsvoll, und besonders wirkungsvoll in Abwehr- und Übertragungsprozessen, Anteil an demjenigen Anteil unseres Seelenlebens hat, der uns im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte bewusst ist.

6 7 8 9

Ebd., 339. Ebd., 343. Vgl. ebd., 343 ff. Eine Übersicht gibt Mertens, op. cit. 2007, 114–162.

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Bewusste und unbewusste Repräsentanzen von Selbst-Objekt-Beziehungen Nach dieser gewiss sehr abstrakten Zuspitzung möchte ich Otto Kernberg zu Wort kommen lassen, einen zeitgenössischer Repräsentanten der Psychoanalyse, der mehr als viele andere an Fragen der Theorieintegration interessiert ist. Ich habe ein Zitat10 ausgesucht, in dem Kernberg in aller Kürze doch sehr vieles vom psychoanalytischen Denken der Gegenwart verdichtet, was m. E. unsere dürre Standardauffassung der »rationalen Person« in der philosophischen Handlungstheorie und in der Philosophie des Geistes verändern müsste und erheblich bereichern könnte: »Object relations is a contemporary psychoanalytic theory that puts the emphasis on the importance of earliest relations with significant others as the building blocks of the construction of the tripartite structure of ego, superego and id. More specifically, from birth on, our relations with significant others, under the impact of strong affects [emotions], are internalized as affective memory. These basic affective memories contain the representation of the self, the representation of other – called »object« in object relations theory – and the dominant affect linking them. There are many of these dyadic structures of self- and object-representations that eventually consolidate. All the self-representations are eventually integrated as an integrated self. […] The ego has the double task of general learning as well as setting up an internal world of representations of self and others. And these representations are gradually integrated, so then the ego develops an integrated sense of self and an integrated sense of significant others.« Um die Kontur von Kernbergs Gedanken noch einmal hervorzuheben: Im unbewussten Anteil des Seelenlebens rationaler Personen sind Selbst-Objekt-Beziehungen memoriert, repräsentiert – sie sind einflussfähig bewahrt bzw. bleiben nachträglich wirksam. Zugespitzt: Im Wesentlichen besteht das seelisch Unbewusste von Personen in einer fortwährenden persönlichen, sozusagen eigensinnigen Verarbeitung von affektiv bedeutsam erlebten Selbst-Objekt-Beziehungserfahrungen. An dem, was Soziologen »Interaktion« oder »Interaktionsfiguren« und pragmatische Philosophen »Praxis« oder »Praxisformen« nennen, hebt der psychoanalytische Begriff der »Selbst-Objekt-Beziehung« gewissermaßen die bedeutsame Innenseite von Interaktionspraxis hervor: Dies, wie Interaktionspraxis für die beteiligten Menschen in deren Erleben ist und sich für sie anfühlt. Die Störbarkeit des Seelenlebens von Personen erklären Analytiker mit der psychodynamischen Generalhypothese, dass besonders die unbefriedigend und traumatisch erlebten Interaktionen »einen dynamischen Einfluss auf die Wahrnehmung und Gestaltung gegenwärtiger Beziehungen aus[üben].«11 Diese empirisch reich belegte Generalhypothese, das sei noch angemerkt, passt gut zu

10 Ausschnitte aus einem Interview 2010 in der Zeitschrift EnligthenNext, online unter http://www. enlightennext.org/magazine/j17/kern.asp (Stand 1.1.2012). 11 Wolfgang Mertens: Zur Konzeption des Unbewussten – Einige Überlegungen zu einer interdisziplinären Theoriebildung zum Unbewussten, in: Matthias Kettner und Wolfgang Mertens, Reflexionen über das Unbewusste, Göttingen 2010, 7–76, hier 25.

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der, ist aber logisch distinkt von der (Kernbergschen12) Konzeption des seelisch Unbewussten als einer fortwährenden persönlichen Verarbeitung von affektiv bedeutsam erlebten Selbst-Objekt-Beziehungserfahrungen. Kernberg formuliert sinnfällig, wie wir über die Strukturiertheit von Selbstobjektbeziehungsrepräsentanzen denken können: Sie enthalten als Elemente, schematisch ausgedrückt, eine Interaktion, einen Interaktionsaffekt13 und ein geordnetes Paar der Interaktionspartner ego und alter: { , Interaktion, Affekt } Drücken wir mit einfachen Klammern () schematisch aus, dass eine Repräsentanz gegeben ist, und des weiteren durch Indices, auf welche von zwei Weisen die betreffende Repräsentanz Anteil am Seelenleben einer bestimmten Person (hier: von ego) hat: ego(ego-Interaktionsaffekt-alter)bewusst ego(ego-Interaktionsaffekt-alter)unbewusst

Schon mit dieser einfachen Differenzierung gewinnt man komplexe und interessante Möglichkeiten der psychodynamischen Analyse menschlichen Erlebens und Verhaltens. Gewiss, zu den gut funktionierenden Reflexen gegenwärtiger philosophischer Reflexion gehören Alarmrufe, sobald von »Repräsentanzen« die Rede ist. Und tatsächlich liegen vertrackte Probleme in jener Reihe unbestimmter Begriffe, mit der ich oben diplomatisch formuliert habe, dass Selbstobjektbeziehungsrepräsentanzen »memoriert«, »repräsentiert«, »einflussfähig bewahrt« und »nachträglich wirksam« sind. Die interessante Frage ist: Wie machen sie das? Zu diesem Repräsentationsrätsel, wie man es nennen könnte, gehören nicht nur der funktionalistische und gedächtnistheoretische Fragenkomplex, wie eine fortwährende persönliche Verarbeitung von affektiv bedeutsam erlebten Selbst-Objekt-Beziehungs-Erfahrungen überhaupt funktioniert und welcher Art die Prozessen sind, in denen sich diese Verarbeitung realisiert. Zum Repräsentationsrätsel gehört zudem der Fragenkomplex der bewusst/unbewusst-Differenz: Ob sich, wie sich und wodurch sich solches Prozessieren unterscheidet je nach dem, ob bewusst bzw. bewusstseinsnah oder aber unbewusst bzw. bewusstseinsfern prozessiert wird. Wohlgemerkt: Eine fortlaufende persönliche Verarbeitung von affektiv bedeutsam erlebten Selbst-Objekt-Beziehungs-Erfahrungen kommt ja auch im bewussten Anteil unseres Seelenlebens vor – z. B. wenn Clara sich erinnert, wie ihre erste Grundschulklassenlehrerin sie damals oft lobte, so dass ihr ganz warm ums Herz wurde. Das kann Clara erinnern und die Erinnerung ist wirkungsvoll geblieben: Clara wird immer noch Zur Genealogie der Konzeption siehe den Aufsatz von Patrizia Giampieri-Deutsch im vorliegenden Band. 13 Für die Verallgemeinerbarkeit des theoretischen Modells wäre der Anschluss an empirische Affekttheorien über Grundgefühle (wie Zorn, Trauer, Furcht, Freude, Liebe, Ekel, Scham, vgl. Paul Ekmans neurokulturelle Theorie der Emotion, s. http://www.uni-saarland.de/fak5/orga/Kurs/Seiten/ basics/b2.htm, Stand: 2.2.2012) wichtig. Zum diskurspragmatischen Anschluss der Emotionstheorie s. Matthias Kettner: Neid und Eifersucht. Über ungute Gefühle und gute Gründe, in: Gefühle – Struktur und Funktion, hg. von Hilge Landweer, Berlin 2007, 57–89. 12

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warum ums Herz, wenn sie diese Erlebnisse heute erzählt. Aber es wäre etwas anderes – und würde sich womöglich auch völlig anders auswirken –, wenn Clara dasselbe nicht erinnern wollte oder könnte; und auch nicht mehr erinnern will oder kann, wie sich das früher anfühlte (als der Glanz im Auge ihrer Mutter erlosch und Anzeichen von mühsam unterdrückter Eifersucht Platz machte, sobald Clara ihrer Mutter daheim davon erzählte und von der Lehrerin schwärmte…).14 Dem Fragenkomplex der bewusst/unbewusst-Differenz nähert man sich am besten, nämlich unter Vermeidung bewusstseinsphilosophischer Umwege, indem man diese Differenz in Begriffen unterschiedlicher Arbeits- und Verarbeitungsweisen sinnhaften persönlichen Erlebens auslegt. Freud bietet hierfür zwei Prozessbegriffe an. Er unterscheidet den »Sekundärprozess«, in welchem sich die allmähliche Rationalisierung der Seelenlebensführung der Person niederschlägt, vom »Primärprozess«, dessen rationalitätsferner Eigensinn besonders anschaulich in den für unser Traumbewusstsein, unser Phantasieren und unsere metaphorische Kommunikation charakteristischen Verdichtungen und Verschiebungen von Sinn zum Ausdruck kommt. Heutige Psychoanalytiker sprechen auch von »multiplen Kodierungsformen«.15 Der entscheidende Punkt ist, dass die Verarbeitung persönlichen Erlebens und die resultierende persönliche Sinnbildung als eine uneinheitliche, heterogene Organisationsweise beschrieben werden muss,16 wenn man die Freudsche Differenz von »bewussten« und »unbewussten« Anteilen im Seelenleben aufmachen will – z. B. um der Trivialisierungsgefahr innerhalb der philosophischen Handlungstheorie und der Philosophie des Geistes zu begegnen. Kernbergs Auffassung, das (dynamische) Unbewusste sei wesentlich durch Selbstobjektbeziehungsrepräsentanzen strukturiert, ist selbstverständlich auch unter Psychoanalytikern umstritten und dem Verdacht des Partisanenhaften nicht minder ausgesetzt als Alternativkonzeptionen anderer analytischer Schulen. Für Anhänger Melanie Kleins etwa spielt das Konstrukt der unbewussten Phantasie eine viel größere Rolle. Ein ernstzunehmendes Bedenken gegen das Konstrukt der Selbstobjektbeziehungsrepräsentanzen betrifft die anspruchsvollen Voraussetzungen dieser psychologischen Grammatik des Unbewussten: die Elemente (Selbst, Anderer, Interaktion, affektive Wertigkeit) sollen »repräsentiert« werden, also muss das Subjekt schon als mit entsprechenden Repräsentationsressourcen ausgestattet gedacht werden. Wie aber ist diese Ausstattung entwicklungsgeschichtlich zu verorten? Ab wann kann das ein Kleinkind, eine Person im Werden, normalerweise? An welches »Niveau« von Repräsentation denkt Kernberg? Etwa an symbolische Repräsentation? Dann wären nur voll semiotisierte, triadisch symbolisierungsfähige – psychoanalytisch gesprochen: »ödipale triangulierte« Für einen Fundus psychodynamisch aufschlussreicher Erlebnisgeschichten s. Theodor Reik: Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers, Frankfurt 1983 (engl. ursprünglich 1948). 15 Wilma Bucci: Psychoanalysis and Cognitive Science: A Multiple Code Theory, New York 1997. S. auch Buccis Artikel The Need for a »Psychoanalytic Psychology« in the Cognitive Science Field, online auf http://www.psychology.sunysb.edu/attachment/courses/620/pdf_files/freud_cognition.pdf (Stand 1.1.2012). 16 Hermann Argelander: Die kognitive Organisation psychischen Geschehens, Stuttgart 1979. 14

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Subjekte – zu den entsprechenden Repräsentationen in der Lage. Das aber würde die Anwendbarkeit des Kernbergschen Konzepts contra Kernberg enorm einschränken.17

Drei strukturelle Beziehungen von Handlungsgründen Nun möchte ich die Kontur der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie in die Kontur einer diskurspragmatischen Rationalitätstheorie guter Gründe einzeichnen. Metaphorisch gesprochen sind Gründe jeglicher Art die globale Währung, die allen kommunikativ vergemeinschafteten Personen qua Bewohner der Welt von Gründen zu Verfügung steht, um den Sinn ihres sinnhaften Erlebens, Denkens und Verhaltens zu durchdringen und dadurch womöglich auch zu beherrschen.18 Handlungsgründe lassen sich durch Spezifizierung ihrer diskurspragmatischen Rolle folgendermaßen definieren: X ist ein Handlungsgrund genau dann, wenn man durch Anführen von X ernsthaft auf die Warum-Frage antworten kann, warum Akteure so handeln, wie sie handeln.19 An Handlungsgründen lassen sich immer drei philosophisch auf interessante Weise verschiedenartige Bezüge unterscheiden. Sie haben erstens einen strukturellen Bezug auf Tatsachen – faktischen Bezug. Bei jedem Grund G, aus dem einer etwas tut, könnten wir fragen, was der Fall sein muss, weil G andernfalls als Grund verschwinden würde. Wenn ich am Nachmittag Sport treiben will (nun kommt der Grund), weil ich in meinem schlechten Zustand einen körperlichen Ausgleich bitter nötig habe, dann muss wahr sein, dass ich körperlich in

Man kann die semiotischen Voraussetzungen m. E. abschwächen. Repräsentation ist ja nicht per se symbolische, dreistellige Repräsentation. Auch auf weniger anspruchsvollem, ikonischem und indexikalischem Niveau ist Repräsentation denkbar. Und aus dem Problem der Höhe der semiotischen Voraussetzungen des Konzepts wird umgekehrt eine Stärke, wenn man gleichsam primitivierende Abschwächungen einzelner Voraussetzungen macht, um »frühere« oder »vorgängige« seelische Entwicklungsphasen zu modellieren. Schwächt man z. B. die Voraussetzung, dass das Ego-Alter Paar in einer Selbstobjektbeziehungsrepräsentanz ein geordnetes Paar sein muss, dahingehend ab, dass nur noch zwei Subjekststellen (irgendwie) unterschieden werden, aber noch keine stabile Unterscheidung von Ego und Alter bestehen muss, dann lassen sich Projektions- und Introjektionsprozesse besser erklären. Auch lässt sich womöglich die (bei Kernberg unnötig eingeschränkte) Dyadizität des Konzepts aufheben: Statt als bloße Vorstufe zu einer ontogenetisch irgendwann irgendwie hereinkommenden Dreistelligkeit und Vielstelligkeit, wäre sie auch denkbar als defizienter Modus einer ursprünglich dreistelligen, wenngleich ursprünglich noch rudimentären, nämlich erlebnismäßig nicht voll differenzierbaren dreistelligen Struktur, sozusagen einer Dreistelligkeit an sich, die das sich bildende Subjekt – dialektisch gedacht – zu einer Dreistelligkeit an und für sich machen muss. 18 Damit ist gerade nicht gesagt, dass alles Erleben, Denken und Verhalten aus der Akteursperspektive als ein sinnhaftes erlebt oder erfasst wird. Auch ist nicht gesagt, dass etwas, sofern es sinnhaft erlebt wird, als rational bzw. vernünftig erlebt wird, z. B. absurde Traumgedanken. 19 Um Doppelungen zu vermeiden, verweise ich auf weitere Erläuterungen und Literatur im Abschnitt II (»Rationalitätsmodelle und gute Gründe«) meines Beitrags Gute Gründe für und in Konzeptionen ökonomischer Rationalität im vorliegenden Band. 17

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einem schlechten Zustand bin, sonst gibt es den von mir genannten guten Grund nicht, sondern bloß einen fälschlich mir gut erscheinenden Grund.20 Handlungsgründe haben zweitens einen strukturellen Bezug auf die Person, die sie hat, und zwar in der Weise einer positiven oder negativen Wertschätzung durch diese Person – affektiven Bezug. Um mein Beispiel fortzusetzen: Angenommen, ich bin an diesem Tag sehr depressiv. Und es geht mir körperlich wirklich schlecht. Dann hört G auf, für mich selbst ein guter Grund zu sein, obwohl ich den Grund weiterhin rational bewerten und sogar finden kann, dass einen körperlichen Ausgleich nötig zu haben einem einen denkbar guten Grund gibt, Sport zu treiben – nur eben nicht hier und jetzt mir. Es ist in diesem Fall aber nicht so, dass ich den guten Grund gar nicht mehr hätte (wie im Fall, dass es gar nicht stimmt, dass ich körperlich in einem schlechten Zustand bin). Ich »habe« G noch, nur ist G kraftlos, ich identifiziere mich nicht mehr mit G, kann besagten Grund »nicht mehr besetzen«, obwohl ich tatsächlich einen körperlichen Ausgleich nötig habe, was mir aber gerade völlig egal ist. Handlungsgründe haben drittens einen strukturellen Bezug auf gemeinschaftlich anerkannte Normen in einer Wir-Bezugsgruppe von Gründebewertern – kommunitären Bezug. Egal, ob ich depressiv bin oder nicht, und egal, ob es mir körperlich schlecht geht, es kann aus meinem Gedanken, *dass ich in meinem schlechten Zustand einen körperlichen Ausgleich bitter nötig habe* nur dann ein hinreichend guter Grund G werden, wenn eine Wir-Bezugsgruppe von Gründebewertern das Sporttreiben als Ausgleich bei schlechtem körperlichen Befinden für probat und einschlägig hält. Gingen die meisten Personen in meinem Lebensumfeld dazu über, immer dann, wenn es ihnen körperlich schlecht geht, viel Kaffee zu trinken und Sport nur noch als ein Bußritual am Karfreitag zu treiben, dann hörte mein verlauteter Handlungsgrund irgendwann auf, einschlägig zu sein, und würde kritische Nachfrage nach weiteren anderen Gründen auf sich ziehen, weil mein verlauteter Grund nun unter unseresgleichen nicht mehr als ein guter Grund, Sport zu treiben, würde gelten dürfen. Durch ihren kommunitären Bezug sind Handlungsgründe kultur- bzw. Wir-Gruppenrelativ, natürlich manche Gründe mehr, manche weniger. Gewiss gibt es auch wichtige Handlungsgründe, die in der denkbar weitesten Wir-Gruppe für probat und einschlägig gehalten werden, z. B. erwarten wir von allen anderen rationalen Gründebewertern Intoleranz gegen logische Widersprüche, aus dem prinzipiellen Grund, dass wir vermeiden sollen, widersprüchliche Überzeugungen für gültig zu halten.21 Zusammengefasst: Handlungsgründe haben einen »faktischen« Bezug zu den Tatsachen, die in den Gründen supponiert sind, einen »affektiven« Bezug zur Person, die die Gründe hat, und einen »kommunitären« Bezug zu gemeinschaftlich anerkannten Normen in Wir-Gruppen, die für die Person, die ihre Gründe hat, relevant sind, wenn

20 Vgl. zu unbewussten Handlungsgründen »hinter« explizit genannten guten Handlungsgründen den Beitrag von Patrizia Giampieri-Deutsch im vorliegenden Band. 21 Dass meine kulturalistische Auffassung keine unvernünftigen relativistischen Konsequenzen für moralische Urteilsgründe hat, zeige ich in Moralrelativismus und Kulturreflexion, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (AZP), Jg. 34 (2009) Heft 2, 235–254.

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sie ihre Gründe angibt, also anderen Personen kommuniziert, was für Gründe sie hat. Und ein guter Handlungsgrund hat die richtigen faktischen, affektiven und kommunitären Bezüge. Gründe, Bedeutungspotentiale, Sinnwirkungen Soviel zur Kontur einer diskurspragmatischen Rationalitätstheorie guter Gründe. Eine ihrer Konsequenzen betrifft die Bedeutungstheorie und besagt, dass wir die Interpreten-Bedeutung von etwas, z. B. die Bedeutung einer wohlgeformten Kette sprachlicher Wortzeichen als den wörtlicher Satzsinn dieser Zeichen, oder die Bedeutung eines Verhaltensablaufs einer Person als die Handlungsbedeutung des Verhaltens der Person, als eine Menge von Gründen erklären können, nämlich als die Menge derjenigen Gründe, die dadurch, dass ein Gründeversteher und –bewerter (rationaler Interpret) das betreffende Interpretandum im Rahmen eines bestimmten Kontexts interpretiert, zu guten Gründen werden plus diejenigen Gründe, die dadurch zu schlechten werden (für den rationalen Interpreten).22 Angenommen, wir sind im Hörsaal und ich trage diese Überlegungen vor. Würde ich jetzt erregt rufen, »Raus, es brennt!«, dann würde den Zuhörern der Sinn dieser Worte, wenn sie des Deutschen mächtig sind, guten Grund geben zu glauben, dass einer (nämlich ich) meint, es brennt, und würde ihnen auch, wenn sie kommunikativ kompetent sind, einen prima facie guten Grund geben, sich durch mich gewarnt und zum raschen Verlassen des Raumes aufgefordert zu sehen. Allerdings: Die kommunikativ kompetenten Hörer würden diese Gründe nicht besetzen und nicht aus ihnen handeln, weil ihnen der hier und jetzt maßgebliche öffentliche Kontext – ein Vortrag über Affekte und Gründe – guten Grund gäbe, mir bei den Worten meines Ausrufs eine bloß didaktische oder theatralische Absicht zu unterstellen. Warum darf ich in der gerade geschilderten Kommunikationssituation erwarten, dass meine didaktische Handlung den Zuhörern keinen guten Grund z. B. zur Empörung gibt? Oder zu einem Angstanfall? Oder einem bestimmten Zuhörer zur Wiederbelebung von Erinnerungen an einen Scherz in einem Film, den der Betreffende letztes Jahr im Sommer im Kino gesehen hat? Oder – es sind Philosophen im Publikum – guten Grund gibt, an Oliver Wendell Holmes bekanntes »shouting fire in a crowded theatre« Argument zu denken? Mag sein, dass tatsächlich der eine oder andere Zuhörer über die didaktische Zumutung empört, von meinem Ausruf in Angst und Schrecken versetzt, von Kinoerinnerungen durchströmt oder an Oliver Wendel Holmes erinnert wird. Aber die Zuhörer werden sich nicht – jedenfalls nicht wenn sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind

22 Um zwei nahe liegenden Einwänden vorzubeugen: (1) Unter »Gründe« sind hier nicht nur Handlungsgründe sondern Gründe aller Art subsumiert. (2) Wenn wir geeignete Idealisierungen einführen, z. B. Annahmen über Standardinterpreten bzw. Normen, wie ein rationaler Interpret interpretieren sollte, erhalten wir einen diskurspragmatischen Begriff von wörtlicher Bedeutung (im Fall von Sprachzeichen) und konventioneller Bedeutung (im Fall von Sprach- und sonstigen Zeichen).

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bzw. sekundärprozesshaft beherrscht denken – zu diesen Sinnwirkungen und zu mir so verhalten, als hätten sich für sie durch mich bzw. durch meine Äußerungen gute Gründe dafür offenbart. Allenfalls würde man das Verhältnis, in dem der Sinn meiner Äußerung im geschilderten Kontext zu den beschriebenen möglichen Sinnwirkungen steht, als ein Assoziationsverhältnis beschreiben können. Assoziationen sind subjektiv und frei, intersubjektiver Sinn und Bedeutung sind es nicht. So jedenfalls erwarten wir es, soweit wir ausschließlich mit der Normalität der Kommunikationspraxis rechnen. Die Normalität der jeweiligen Kommunikationspraxis (hier: einer öffentlichen Kommunikationspraxis) legt nämlich fest, dass von dem – unendlichen – Bedeutungspotential von Text und Kontext für normale Teilnehmer und normalerweise nur derjenige Anteil als ein manifester Gründegeber zum Zuge kommen soll, den die von uns geteilten Konventionen am betreffenden Text und Kontext bedeutsam machen – und dass nicht zum Zuge kommen sondern latent bleiben soll, was z. B. unsere persönlichen Phantasien am betreffenden Text und Kontext bedeutsam machen mögen. Selbstobjektbeziehungsrepräsentanzen und Diskurspragmatik Nach dieser Vorbereitung auf diskurspragmatischem Terrain können wir zu (Kernbergs) Selbstobjektbeziehungsrepräsentanzen zurückkehren. Stellen wir uns die unbewussten Selbstobjektbeziehungsrepräsentanzen vor als subjektive Bedeutsamkeitsgeber, die im Hintergrund konventionell gesicherter Kommunikation bei jeder Person, bei jedem Gründeverstehen und -bewerten zwar mitlaufen, aber im fortlaufenden Gründeverstehen und -bewerten sich solange nicht störend bemerkbar machen, wie sie sich nicht ihrerseits zu Gründegebern ermächtigen. Doch immer dann, wenn unbewusste (genauer: durch Abwehrvorgänge dynamisch unbewusst gewordene) Selbstobjektbeziehungsrepräsentanzen im Seelenleben einer Person durch primärprozesshafte Verdichtungen und Verschiebungen zu Gründegebern werden, unter (pathologischen) Umständen sogar zu dominanten Gründegebern werden, beginnt die betreffende Person so zu erleben und sich so zu verhalten, als ob sie aus Gründen handeln und erleben würde, die sie gar nicht hat bzw. die sie sich nicht zu eigen gemacht hat und auch nicht zu eigen machen möchte. Ein fiktionales Beispiel aus einer Paartherapie-Episode: Der Mann beklagt sich bei der Therapeutin, ständig wolle seine Lebenspartnerin von ihm gelobt und toll gefunden werden, umgekehrt komme aber nichts und er fühle sich von seiner Frau »übersehen und banalisiert«. Seine Lebenspartnerin bekommt bei diesen Worten einen Wutanfall und verübelt ihm »seine Überempfindlichkeit«. Wir könnten diesen Ausbruch einseitig23 folgendermaßen analysieren. In der Therapie-Episode beginnt die Frau sich so zu verhalten, als würde sie aus Gründen handeln und erleben, die die Äußerungen ihres Mannes ihr dann geben würden, wenn die ÄuEinseitig, insofern nur die Klientin betrachtet wird, nicht aber das Interaktionsdreick der Personen. 23

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ßerungen ihres Mannes über den konventionaliter von der Normalität der Kommunikationspraxis als bedeutsam festgelegten Text-plus-Kontext hinaus in einem erweiterten Text-plus-Kontext bedeutsam sind. In der Perspektive psychoanalytischer Reflexion könnte sich aufklären, dass dieser erweiterte Text-plus-Kontext durch gewisse unbewusste Repräsentanzen festgelegt wird, die im Seelenleben der Klientin »repräsentiert« (einflussfähig bewahrt, nachträglich wirksam) sind: ego(Kind-Eifersuchtsangst-Mutter)unbewusst

Vielleicht meldet sich in dem Wutausbruch der Klientin eine ihr einst als Kind schwer erträgliche Angst vor ihrer eifersüchtig verfolgenden Mutter. Vielleicht hat sie damals diese Angst mit Gefühlen der Wut (über eigentlich verdiente, aber von der Mutter ihr verweigerte Anerkennung) beantwortet, Gefühle, die sie sich damals weder eingestehen noch offen aggressiv gegen die Mutter wenden konnte. Und vielleicht erlebt sie heute als Erwachsene sehr bewusstseinsfern ihren Mann ähnlich, wie sie damals ihre Mutter erlebte. Wie solche Konjekturen belegt oder widerlegt, kritisiert und präzisiert werden können, wirft Fragen zu den epistemologischen Ressourcen der Praxis des psychodynamischen Deutens auf, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann.24 Hier sollte mit der Episode keine psychologische Fallgeschichte aufgeblättert, sondern bloß punktuell angedeutet werden, wie wir über Zusammenhänge zwischen Gefühlen und Gründen im Rahmen einer diskurspragmatischen Rationalitätstheorie nachdenken können. Gefühle, auch unbewusste, wie besonders die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie zeigt, gehören zum Fundus der rationalisierbaren Motivation von Personen. Gefühle, auch unbewusste Gefühle, haben Gründe und geben Gründe zu allerlei.25 Insofern sind Gefühle auch kritisierbar und reason-responsive. Gefühle können ihrerseits auch Gründe besetzten und verschaffen diesen dadurch gleichsam fühlende Körper. An gewissen Gründen kann einem sehr viel liegen, andere können einem verhasst sein. Insofern können wir umgekehrt auch sagen, dass Gründe emotion-responsive sind. Das animal rationale ist eben nicht bloß das Tier, das seine Gründe hat. Es ist das Tier, das auch seine Gefühle und für diese auch seine Gründe hat.

24 Für einen hermeneutisch-empirischen Ansatz zur Untersuchung dieser Praxis s. Matthias Kettner: Psychoanalytische Deutungsmuster. Plädoyer für die diskursive Erforschung der Supervision, in: Psychoanalytisches Wissen. Studien zur Forschungsmethodologie, hg. von Erwin Kaiser, Opladen 1995, 265–288. 25 Vgl. die Beiträge von Achim Stephan und Michael Buchholz im vorliegenden Band.

KOLLOQUIUM 9

Ursachen und Gründe in der Neurophilosophie Kolloquiumsleitung: Dieter Sturma

Dieter Sturma Einführung: Ursachen, Gründe und das psychophysische Problem Wolf Singer Neuronale und bewusste Prozesse – Eine schwierige Beziehung Lutz Wingert Über die Wirksamkeit des menschlichen Geistes in der wohl verstandenen Welt Peter Janich Die Gedankenleser. Gründe für Grenzen neurophysiologischer Ursachenforschung

Einführung: Ursachen, Gründe und das psychophysische Problem Dieter Sturma

Das psychophysische Problem Das psychophysische Problem steht nach wie vor im Mittelpunkt systematischer Auseinandersetzungen der Philosophie des Geistes, die in den letzten Jahrzehnten durch Forschungserträge der Neurowissenschaften deutlich an systematischer Tiefe und interdisziplinärer Breite gewonnen haben. Während in der Geschichte der Philosophie das psychophysische Problem mithilfe unterstellter Gegensätze zwischen Leib und Seele beziehungsweise Körper und Bewusstsein angesprochen worden ist, wird heute in systematischen Kontexten mit Gegenläufigkeiten von Ereignissen und Erlebnissen, von Ursachen und Gründen oder von neuronalen Prozessen und bewussten Zuständen operiert. Die unterschiedlichen Versionen des psychophysischen Problems ähneln sich darin, dass sie ihren jeweiligen Ausgang von dem Gegensatz zwischen der Differenzthese und der Geschlossenheitsthese nehmen. Während die Differenzthese einen grundsätzlichen Unterschied von Ereignissen und Erlebnissen unterstellt, behauptet die Geschlossenheitsthese, dass es keine Ausnahmen in den ereignisbasierten Kausalverhältnissen des Raums der Ursachen gebe. Auf diese Weise kommt es in der Regel zu schroffen Entgegensetzungen zwischen monistischen und dualistischen Erklärungstypen. Versuche, ohne ein Primat von der Geschlossenheits- oder Differenzthese auszukommen, und sowohl an der Einheit der Wirklichkeit und der Einheit der Wissenschaften wie an der kausalen Wirksamkeit von Erlebnissen und Gründen festzuhalten, finden sich nur vereinzelt.1 In der Philosophie des Geistes herrscht Einhelligkeit darüber, dass der Umgang mit dem psychophysischen Problem genauso wie die sich damit verbindenden Lösungsansätze entscheidend von dem jeweiligen semantischen Zugriff bestimmt werden. Das psychophysische Problem ist in einem nicht trivialen und nicht oberflächlichen Sinn ein Kampf um Worte. In den interdisziplinären Debatten ist es mittlerweile üblich geworden, sich dem psychophysischen Problem über die Bestimmung des Verhältnisses von Raum der Ursachen und Raum der Gründe zu nähern.

Ursachen und Gründe Vor dem Hintergrund der Erfolge neurowissenschaftlicher Forschungen hat sich innerhalb der Philosophie des Geistes der Ansatz einer Neurophilosophie herausgebildet, der sich in seinen Hauptströmungen vorrangig an der Geschlossenheitsthese und 1

Vgl. Dieter Sturma: Philosophie des Geistes, Leipzig 2005, 14 ff.

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Kausalverhältnissen des Raums der Ursachen orientiert. Dieser Ansatz ist durch eine weitreichende Skepsis gegenüber unseren epistemischen Fähigkeiten und der kausalen Wirksamkeit von mentalen Zuständen gekennzeichnet. Was aus den unserem Denken und Handeln zugrunde liegenden neuronalen Prozessen entnommen werden könne, müsse so gedeutet werden, dass Überlegungen, Intentionen und Handlungsinitiativen gegenüber tatsächlich ablaufenden neuronalen Vorgängen immer zu spät kämen. Danach seien Handlungen der Kulminationspunkt von neuralen Mikromechanismen im Raum der Ursachen, die uns im Aufbau und Vollzug prinzipiell verborgen blieben. Die revisionären Ansätze der Neurophilosophie gehen davon aus, dass das Bewusstsein unserer Handlungsvollzüge von den tatsächlichen neuralen Abläufen abgekoppelt ist. Die neuralen Mikromechanismen seien letztlich für das Einleiten und die Ausführung der jeweiligen Handlungen verantwortlich. Die Vorstellung von Handlungsurheberschaft oder freiem Willen werde dann im Nachhinein auf der Basis von Erwartungen an sensorische Rückmeldungen hinzugefügt. In revisionären Ansätzen gibt es weder innerhalb noch außerhalb des Raums der Ursachen Platz für Initiativen mentaler Zustände von Personen. Die Einstellungen und Verhaltensweisen von Personen seien grundsätzlich auf Vorgänge zurückzuführen, die auf der Ebene neuraler Mikromechanismen abliefen und unterschiedslos naturwissenschaftlich identifizierbaren Gesetzmäßigkeiten folgten. Innerhalb dieser Kausalverhältnisse tauche eine Person als Person nicht auf. Die kausale Geschlossenheit des Raums der Ursachen lasse zudem keine Eingriffe von außen zu. Annahmen, die ein Handlungssubjekt außerhalb des Raums der Ursachen ansiedeln, widersprächen den wissenschaftstheoretischen Grundvoraussetzungen der Einheit der Wissenschaften und der Einheit der Wirklichkeit. Auch Ansätze, die dem engen Naturalismusverständnis der revisionären Neurophilosophie skeptisch gegenüberstehen, stellen nicht in Abrede, dass naturwissenschaftliche Beschreibungen der Einstellungen und Verhaltensweisen von Personen zumindest in Teilen angemessen sind. Umstritten ist, welche Extension diese Beschreibungen beanspruchen können, ohne an Plausibilität zu verlieren. Bei den Auseinandersetzungen über die Beantwortung der Frage, ob der Raum der Ursachen das Primat vor dem Raum der Gründe hat, findet kaum Beachtung, dass der Raum der Ursachen nur im Raum der Gründe konstruiert beziehungsweise rekonstruiert werden kann. In Propositionen und propositionalen Einstellungen zu dem, was der Fall ist, kommen inferenzielle Beziehungen des Raums der Gründe zum Ausdruck. Die Syntax und Semantik von Gründen formiert die Anwendung von Prädikaten genauso wie die Form von deskriptiven und normativen Sätzen. In dieser Hinsicht ist der Raum der Gründe eine notwendige Bedingung für epistemische Orientierungen im Allgemeinen und für die Darstellung von Sachverhalten und Gesetzmäßigkeiten des Raums der Ursachen im Besonderen.2 Zur Figur des logischen Raums der Gründe (logical space of reasons) siehe Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge 1997, 64 ff.; vgl. John McDowell: Mind and World, Cambridge 1994, 70ff.; Robert B. Brandom: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, 2

Einführung

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Der Raum der Ursachen ist das Reich des wissenschaftlichen Realismus. Damit verbinden sich zwei Elemente: die Bezugnahme auf das, was in der Welt der Fall ist, sowie das Sprachspiel theoriefähiger Begründungen. Im Raum der Ursachen werden nicht einfach für sich selbst sprechende Entdeckungen gemacht, sondern wie auch immer Gegebenes, Erschlossenes oder Vermutetes nomologisch ausgedeutet. Die Annahme, man könnte mit Elementen des Raums der Ursachen jenseits von Zügen im Raum der Gründe operieren, gehört zum Mythos des Gegebenen.3 Den neurowissenschaftlichen Annahmen zufolge vollziehen sich neuronale beziehungsweise neurale Prozesse nach dem Modell von Wirkungsverhältnissen im Raum der Ursachen. Propositionalen Einstellungen und assertorischen Sätzen liegen dagegen inferenzielle Beziehungen zugrunde, die Vorgaben rechtfertigungsfähiger Züge im Raum der Gründe entsprechen müssen. Die Gesetzmäßigkeiten dieser Züge lassen sich in ihrer syntaktischen und semantischen Ausprägung nicht mit denen von neuralen Vorgängen identifizieren. Nomologisch sind die inferenziellen Beziehungen des Raums der Gründe und des Raums der Ursachen nicht unmittelbar aufeinander abbildbar. Inferenzielle Züge im Raum der Gründe sind keine epiphänomenalen Vorkommnisse im Raum der Ursachen. Vielmehr konstituieren sie die epistemischen Einstellungen und Verhaltensweisen von Personen. Wie sich Personen verhalten, lässt sich unter angemessenen sozialen Bedingungen auf der Grundlage von inferenziellen Zügen verstehen, korrigieren oder gegebenenfalls sogar verallgemeinern. Die Autonomie der Regeln des Raums der Gründe darf allerdings nicht so gedeutet werden, als wäre es Personen möglich, zumindest partiell den Raum der Ursachen zu verlassen. Auch wenn sie Regeln im Raum der Gründe folgen, bleiben sie durchgängig den Gesetzmäßigkeiten des Raums der Ursachen unterworfen. Bei der Rekonstruktion des Verhältnisses vom Raum der Ursachen und Raum der Gründe ist darauf zu achten, dass die epistemologischen Differenzierungen nicht unter der Hand in ontologische Unterscheidungen transformiert werden.4 Von dem internen Zusammenhang zwischen Raum der Ursachen und Raum der Gründe ist nicht zuletzt »die kausale Relevanz des Geistigen« abhängig. Dieser Sachverhalt ist gut an Handlungen ablesbar, die zwar in physischer und in psychischer Perspektive betrachtet werden können, aber als »verkörperte Intentionen« eine Einheit von Absichten und Körperbewegungen bilden. Der kausale Effekt lässt sich weder auf das Mentale noch das Physische allein zurückführen.

Cambridge 2000, 189 ff.; Lutz Wingert: Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung, in: Philosophie und Neurowissenschaften, hg. von Dieter Sturma, Frankfurt/M. 2006, 249 ff.; Jürgen Habermas: Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), 670 ff. 3 Siehe Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, 13 ff. 4 Siehe Wingert, in diesem Band, 480 ff.

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Tatsachen und Theorien Das Ineinandergreifen von Raum der Ursachen und Raum der Gründe ist auch an dem Verhältnis von Tatsachen und Theorien abzulesen. Gemeinhin wird der Raum der Ursachen als Bereich der Tatsachen und der Raum der Gründe als Bereich der Theorien und Interpretationen aufgefasst. Diese Aufteilung darf nicht dazu verleiten, das Verhältnis zwischen Tatsachen und Theorien zu eng zu fassen und von wechselseitigen Festlegungen auszugehen – wie das etwa im Rahmen der neurobiologischen Kritik an der Willensfreiheit dann nahegelegt wird, wenn durch Bildgebung gewonnene Daten unmittelbar als Beleg für die These genommen werden, dass Personen in ihren Handlungsvollzügen nicht frei seien. Daten enthalten als solche keine Festlegungen auf einen eindeutig bestimmten Interpretationsrahmen, und Theorien sind nicht in der Lage, das, was der Fall ist, in allen Aspekten zu erfassen. Auch erzwingt keine experimentelle Theorie gleichsam von sich aus eine eindeutige und in sich abgeschlossene Interpretation. Der Zusammenhang von Tatsachen und Theorie ist im Fall plausibler Ansätze sehr dicht, aber niemals in dem Sinne unauflöslich, dass kein Platz für alternative Beschreibungen oder Annahmen bliebe. Zwischen Tatsachen, experimentell gewonnenen Daten und darauf aufbauenden Theorien besteht ein komplexes Beziehungsgeflecht, das sich nur auf dem Wege von umfänglichen Rekonstruktionen und Interpretationen erschließt. Zudem stehen Theoriesprachen nicht die syntaktischen und semantischen Ressourcen zur Verfügung, das, was der Fall ist, in seiner Gesamtheit zu erfassen. Es wäre daher falsch, auf zukünftige Entwicklungen in der Hinsicht zu setzen, dass nach und nach ein begrenztes Feld von Tatsachen, für das noch keine befriedigende wissenschaftliche Erklärung vorliegt, immer kleiner würde. Experimentelle Verfahren und Theorien befinden sich mit Tatsachen in einem Prozess permanenten Interagierens. Dabei rücken spezifische Eigenschaften und Phänomene in den Vordergrund, während andere Aspekte konstruktiv ausgeblendet werden. Entdecken, Erfinden und Ausblenden gehen Hand in Hand. Die wechselseitige Unterbestimmung von Tatsachen und Theorien legt der Sache nach keine überzogenen Erwartungen hinsichtlich nicht-reduktionistischer Theorieprogramme nahe. Reduktionen sind in den Bereichen experimenteller Forschung genauso notwendig wie in der Wissenschafts- und Theoriesprache. Das eingeschränkte Erklärungspotenzial der jeweiligen Ansätze ist denn auch nicht mit globaler Nicht-Erklärbarkeit gleichzusetzen. Vielmehr ist es die Folge des jeweiligen methodischen Zugriffs, der immer mit konstruktiven Ausblendungen verbunden ist.

Entschlüsselung des menschlichen Bewusstseins Die Philosophie des Geistes erhält – unabhängig von offenen Fragen nach fachwissenschaftlichen Zuständigkeiten – seit drei Jahrzehnten wichtige Impulse aus den Neurowissenschaften. Das gilt für die eigene Methode genauso wie für die Identifikation des

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Gegenstandsbereichs der Philosophie des Geistes beziehungsweise der philosophischen Psychologie. Die funktionelle Magnetresonanztomographie erlaubt die Beobachtung neuraler Aktivitätsmuster von wachen Personen bei der Bewältigung von sensorischen, motorischen oder kognitiven Aufgaben. Die Korrelationen zwischen neuralen Prozessen und psychischen Prozessen werden zuweilen zum Anlass genommen, Projekte des Gedankenlesens anzustoßen. Damit verbindet sich die Absicht, mit Verfahren der Bildgebung Rückschlüsse auf spezifische Bewusstseinszustände des Probanden oder Patienten zu gewinnen.5 Insbesondere sollen Entscheidungen von Personen aus erhobenen Aktivitätsmustern ihres Stirnhirns vorhergesagt werden. Es kann bislang aber noch nicht davon gesprochen werden, dass jenseits von sehr künstlichen und vereinfachten Versuchen eindeutige Zuordnungen zwischen dem phänomenalen Gehalt von Bewusstseinszuständen und den entsprechenden neuralen Mustern vorgenommen werden können. Auch ist nicht hinreichend geklärt, wie die Rückschlüsse über die individuellen neuralen Dispositionen der Probanden hinweg verallgemeinerbar sind. In explikativer Hinsicht besteht nach wie vor ein immenser Abstand zwischen der neuralen Informationsverarbeitung und der Sprache des Denkens. Wenn eine Person handelt, laufen bei ihr unterhalb der Schwelle ausdrücklichen Bewusstseins spezifische neurale Prozesse ab. Sie stellt dabei aber vor allem auch konkrete Überlegungen an und verfolgt bestimmte Absichten. Aus den korrelativen Vorgängen folgt, dass es offenbar Übergänge von manifesten Einstellungen und Verhaltensweisen zu neuralen Prozessen – und umgekehrt – geben muss. Von neurobiologischer Seite wird allerdings zu Recht eingewandt, dass dieser »rätselhafte Übergang« nicht einfach mit einem »Ich« besetzt werden dürfe. Die berechtigte Warnung vor egologischen Reifikationen befreit noch nicht von der Aufgabe, bei der Entschlüsselung menschlichen Bewusstseins den Anteil einer Person an ihren Handlungen zu bestimmen – zumal auch Verfechter umfassender Naturalisierungsstrategien nicht in Abrede stellen, dass Personen in ihrer Umwelt über andere Veränderungsoptionen verfügen als Steine, Pflanzen oder Tiere. Personen können zumindest teilweise bewusst auf die Anpassungen und Veränderungen Einfluss nehmen, die sich an ihnen und mit ihnen vollziehen. Anders als vielfach angenommen wird, ist es für das Verhältnis von Philosophie des Geistes und Neurowissenschaften nicht entscheidend, ob die Unterschiede zwischen der humanen Lebensform oder anderen Lebensformen – die ohnehin nicht zum Gegenstand von Messverfahren gemacht werden können – kategorisch ausfallen oder lediglich von »quantitativer Natur« sind. Vielmehr geht es darum, die – wie auch immer verfassten – Einflussnahmen der Person auf die Gestaltungen ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen zu erfassen. Diese Gestaltung mag von ihren Ursachen und Bedingungen her betrachtet »nichts Ungewöhnliches« sein, aber das Resultat kann sich gleichwohl von herkömmlichen Anpassungsvorgängen eminent unterscheiden – wie sich im Fall der menschlichen Lebensform deutlich zeigt. 5

Siehe Janich, in diesem Band, 499 ff.

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Kolloquium 9 · Dieter Sturma

Disziplinäre Zuständigkeiten Die Methoden der Philosophie und der Neurowissenschaften verfügen über jeweils eigene Weisen der Rechtfertigung und sind nicht ohne Weiteres direkt aufeinander abbildbar. Gleichwohl kann im Dialog zwischen beiden Disziplinen ein gemeinsames Verständnis menschlichen Bewusstseins entwickelt werden. Philosophie des Geistes und Neurowissenschaften setzen an unterschiedlichen Punkten des Raums der Ursachen und des Raums der Gründe an. Allein schon wegen des unterbestimmten Verhältnisses von Tatsachen und Theorien dürfte es zwischen ihnen gar keine Konfrontation geben. Beide gehen mit verschiedenen Manifestationen von Bewusstsein und Gehirn auf methodisch unterschiedliche Weise um und haben es im strikten Sinne nicht einmal mit ein und denselben Sachverhalten zu tun. Aus ihrem Methodenverständnis heraus legt die Philosophie des Geistes Schwerpunkte auf semantische, erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Überprüfungen und macht der Intention nach Grenzen der Naturalisierung kenntlich. Der Streit um die jeweiligen semantischen Festlegungen ist systematisch überaus wichtig. Von sprachkritischer Seite kann zu Recht darauf hervorgehoben werden, dass etwa Handlungen auf Zwecke ausgerichtet sind und eng gefasste Naturalisierungen, die diese Ausrichtung schon begrifflich nicht berücksichtigen, das, was erklärt werden soll, konstruktiv verstellen.6 Herausfordernde Naturalisierungsverfahren, die nicht nur reklamieren, dass das Mentale ein »innerweltliches« Phänomen sei, sondern auch von seiner vollständigen Reduktion auf naturwissenschaftliche Untersuchungsverfahren ausgehen, rufen in großen Teilen der theoretischen Philosophie Kritik hervor. Der Vorwurf richtet sich insbesondere darauf, dass zu weit gehende Naturalisierungsverfahren das, was erklärt werden soll – Gedanken, Entscheidungen und Handlungen von Personen –, vom Ansatz her ausklammern. Wenn neurale Prozesse als Ursachen von Gedanken bestimmt werden sollen, dann müssen die unterstellten kausalen Mechanismen in allen ihren Elementen erschöpfend beschrieben werden. Das geschieht in Eliminationsszenarien aber nicht einmal ansatzweise. Deshalb wird der Vorwurf der Kategorienverwechselung zwischen beschreiben und zuschreiben erhoben. Denn neurowissenschaftliche Projekte zur Entschlüsselung des menschlichen Bewusstseins thematisieren in der Regel Gedanken oder Entscheidungen von Personen ohne Bezug auf die jeweiligen semantischen, pragmatischen und sozialen Kontexte. Die auf dem Weg der Abstraktion gewonnene Syntax neuraler Mechanismen wird als die Form oder die Struktur des Gedankens bestimmt, und es wird unterstellt, dass die Syntax die Semantik und Pragmatik konstituiere. Die wissenschaftstheoretische Herausforderung bei der Erforschung des menschlichen Bewusstseins besteht nicht in der neurobiologischen Annahme, dass die Entwicklungsprozesse des Gehirns »vollständig im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme erfasst werden können«7, sondern in dem gemeinhin damit verbundenen 6 7

Siehe Janich, in diesem Band, 503. Singer, in diesem Band, 467.

Einführung

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Epiphänomenalismus. Mentale Zustände wie Absichten und Entscheidungen wären durch ihre mentale Vorgeschichte vollständig determiniert und hätten als solche keinen Einfluss auf das weitere Verhalten der Person sowie auf die Gestaltung ihrer Einstellungen und Dispositionen. Das neurobiologische Angebot, dem Determinismus einen epistemologischen Indeterminismus an die Seite zu stellen, dürfte in diesem Zusammenhang nicht weiterhelfen. Der Umstand, dass wegen der nicht-linearen Dynamik von neuralen Prozessen keine sicheren Voraussagen hinsichtlich der Endzustände des Systems möglich sind, sichert keinen Beitrag der Person an ihren Handlungsgeschichten. Zwar wird von neurobiologischer Seite auch eingeräumt, dass eine »bestimmte Lösung, die wir uns durch bewusstes Abwägen von Argumenten erarbeitet haben, unsere nachfolgenden Aktionen bestimmen wird.« Aber »das Verhandeln von Gründen und Finden einer Lösung« wird dann doch wieder nur als »Folge einer Sequenz sich kausal bedingender neuronaler Zustände« ausgewiesen. In diesem Zusatz ist der Konflikt zwischen philosophischen und neurowissenschaftlichen Erklärungen begründet. Ein Rekurs auf einen supranaturalistischen Immaterialismus ist weder in philosophischer noch in neurowissenschaftlicher Perspektive zu akzeptieren. Es bleibt aber die Frage, wie weit die Naturalisierung von Gründen – wenn sie denn überhaupt auf den Weg kommt – sinnvollerweise getrieben werden kann. Die Philosophie des Geistes kann sich naturalistischen Prämissen auch dann nicht verschließen, wenn sie sich Handlungsgründen zuwendet. Denn Personen handeln ausschließlich in der Welt, die in vielen Aspekten erfolgreich von den Naturwissenschaften beschrieben wird. Insofern muss sich die Philosophie des Geistes um eine umfassende Konzeption bemühen, in der Raum der Ursachen und Raum der Gründe differenziert, aber eben auch als ineinandergreifend zur Darstellung kommen.

Literatur Bennett, Max R./Hacker, Peter M. S.: Philosophical Foundations of Neuroscience, Oxford 2003. Brandom, Robert B.: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge 2000. Habermas, Jürgen: Freiheit und Determinismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52/6 (2004), 871–890. – Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lässt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus versöhnen?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 54 (2006), 669–707. Janich, Peter: Die Gedankenleser. Gründe für Grenzen neurophysiologischer Ursachenforschung, in diesem Band, 498–513. McDowell, John: Mind and World, Cambridge 1994. Nida-Rümelin, Julian: Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005. Sellars, Wilfrid: Philosophy and the Scientific Image of Man, in: Ders.: Science, Perception and Reality, Atascadero 1963.

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– Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge 1997. Singer, Wolf: Neuronale und bewusste Prozesse – Eine schwierige Beziehung, in diesem Band, 465–477. Sturma, Dieter: Philosophie des Geistes, Leipzig 2005. – Ausdruck von Freiheit. Über Neurowissenschaften und die menschliche Lebensform, in: Philosophie und Neurowissenschaften, hg. von Dieter Sturma, Frankfurt/M. 2006a, 187–214. – Philosophie und Neurowissenschaften, hg. von Dieter Sturma, Frankfurt/M. 2006b. Wingert, Lutz: Grenzen der naturalistischen Selbstobjektivierung, in: Philosophie und Neurowissenschaften, hg. von Dieter Sturma, Frankfurt/M. 2006, 240–260. Wingert, Lutz: Über die Wirksamkeit des menschlichen Geistes in der wohl verstandenen Welt, in diesem Band, 478–497.

Neuronale und bewusste Prozesse – Eine schwierige Beziehung Wolf Singer

Der Konflikt zwischen Selbstwahrnehmung und neurobiologischer Fremdbeschreibung Unsere Innenschau führt zu Annahmen über die Organisation unseres Gehirns – also jenes Organs, das diese Vermutungen anstellt –, die mit den Erkenntnissen der Neurobiologie nur schwer zu vereinbaren sind. Uns ist, – weil wir uns in unserer bewussten Wahrnehmung als kohärenten Agenten wahrnehmen –, als ob es in unserem Gehirn eine zentrale Instanz gäbe, die unser intentionales Ich darstellt. Da diese Instanz über alle Informationen verfügen muss, die unsere Wahrnehmungen, Entscheidungen und Handlungspläne bestimmen, sollten dort alle Sinnessignale aus unserem Körper und der Umwelt zusammenlaufen, um zu einheitlichen Perzepten gebunden zu werden. Es wäre demnach dies der Ort, an dem die Sinnessignale zu Wahrnehmungen werden, an dem Entscheidungen fallen und Vorsätze gefasst werden, und schließlich wäre dies der Ort, an dem das Ich sich seiner selbst bewusst wird und seinen Willen artikuliert. Es wäre dies der Ort, an dem der rätselhafte Übergang von neuronalen Prozessen zu subjektiven Empfindungen und Erfahrungen erfolgt, wo aus Vorgängen, die sich aus der DrittenPerson Perspektive beschreiben lassen, solche werden, die nur aus der Ersten-PersonPerspektive fassbar sind, die Qualia unserer Wahrnehmungen. Die moderne Hirnforschung entwirft ein gänzlich anderes Bild. Ihre Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Gehirn von Säugetieren in extremer Weise distributiv organisiert ist und dass es kein singuläres Zentrum gibt, welches die vielen, an unterschiedlichen Orten gleichzeitig erfolgenden Verarbeitungsprozesse koordinieren und deren Ergebnisse zusammenfassen könnte. Zum einen wirft dies die Frage auf, warum ein erkennendes Organ zu so unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen kann, je nachdem, ob es sich bei seiner Erforschung auf die Selbsterfahrung oder auf die Fremdbeschreibung durch naturwissenschaftliche Vorgehensweise verlässt. Zum anderen ergeben sich aus diesen konfliktträchtigen Erkenntnissen eine Fülle äußerst anspruchsvoller Fragestellungen, sowohl für die Philosophie als auch die Neurobiologie, und hier vor allem für die kognitiven Neurowissenschaften. Letztere müssen erklären, wie ein System, das aus Myriaden miteinander vernetzter Neuronen besteht, sich so zu organisieren vermag, dass es trotz seiner dezentralen Struktur in der Lage ist, kohärente Interpretationen seiner Umwelt zu liefern, Entscheidungen zu treffen, angepasste Handlungsentwürfe zu erstellen, Erfahrenes zu speichern, sich dieser Prozesse gewahr zu werden und ein Bild seiner Selbst zu entwerfen. Bei diesem Unterfangen gehen Hirnforscher von einigen Grundannahmen aus, die meist nicht erwähnt werden, weil sie als allgemein anerkannt vorausgesetzt werden. Sie

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sollen deshalb hier noch einmal kurz zusammengefasst werden. Eine dieser Thesen ist, dass alles gespeicherte Wissen und die Programme, nach denen dieses Wissen geordnet, verarbeitet und angewandt wird, in der funktionellen Architektur des Gesamtgehirns residieren. Mit funktioneller Architektur ist dabei die spezifische Verschaltung von Nervenzellen gemeint. Anders als in den oft fälschlich zum Vergleich herangezogenen Computern gibt es im Gehirn keine Trennung zwischen Rechenwerk, Arbeits- und Programmspeicher. Im Gehirn werden all diese Funktionen von Nervennetzen erfüllt, deren ausgeklügelte Verschaltung und Adaptivität die gleichzeitige Bewältigung von Verarbeitungs- und Speicherfunktionen erlaubt. Die für die Auslegung dieser Architekturen verfügbaren Freiheitsgrade sind überschaubar. Festzulegen sind folgende Variablen: 1.) welche Zellen miteinander verschaltet sind, 2.) ob die Kopplungen erregend oder hemmend sind, 3.) ob die Wirkung der einzelnen Verbindungen stark oder schwach ist und 4.) wie die auf eine Zelle konvergierenden Signale integriert werden. Die Grundzüge dieser funktionellen Architektur sind genetisch festgelegt. Eine Vielzahl der Verbindungen werden jedoch während der strukturellen Entwicklung des Gehirns, die beim Menschen bis zum 20. Lebensjahr anhält, durch epigenetische Einflüsse modifiziert. Während der Hirnentwicklung bilden sich weit mehr Verbindungen aus als im erwachsenen Gehirn erhalten bleiben. Viele dieser zunächst hergestellten Verbindungen werden wieder eingeschmolzen, wobei die Entscheidung darüber, welche konsolidiert oder vernichtet werden von den Aktivitätsmustern abhängt, die sich in den Nervennetzen entwickeln. Da diese Muster durch Sinnessignale und Interaktionen mit der Umwelt beeinflusst werden, ermöglicht dieser Reifungsprozess eine funktionelle Validierung der sich entwickelnden Nervennetze. Somit passt sich die Architektur eines individuellen Gehirns an die Bedingungen der aktuell vorgefundenen Umwelt an. Im Fall des menschlichen Gehirns zählen zu den relevanten Umweltfaktoren natürlich auch der jeweilige sozio-kulturelle Rahmen und erzieherische Maßnahmen. Eine weitere Grundannahme der Hirnforschung ist, dass alle kognitiven und exekutiven Funktionen, die wir an uns und unserem Gegenüber beobachten können, auf neuronalen Prozessen beruhen. Dies impliziert, dass neuronale Prozesse allen Wahrnehmungen, Empfindungen, Entscheidungen, Gedanken, Verhaltensäußerungen und selbst der Bewusstwerdung dieser Leistungen vorausgehen und diese ursächlich bewirken. Zurzeit gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass »geistige«, also immaterielle Kräfte, auf Nervenzellen einwirken könnten, damit diese ein bestimmtes Erregungsmuster ausbilden, also einen Gedanken ausformulieren oder eine bestimmte Entscheidung treffen. Und schließlich gehen Hirnforscher davon aus, dass alle neuronalen Prozesse den bekannten Naturgesetzen folgen. Bislang gibt es keine wissenschaftlich abgesicherten Beobachtungen, die dazu zwängen, die Wirkung von Mechanismen zu postulieren, die im Rahmen der bekannten Naturgesetze nicht fassbar sind. Aber das Fehlen von Evidenz ist kein Ausschlusskriterium. Diese Grundannahmen beruhen auf unterschiedlichen, jedoch konvergierenden Beobachtungen. So gilt es als gesichert, dass sich Gehirne, ebenso wie der sie beherber-

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gende Organismus, einem kontinuierlichen evolutionären Prozess verdanken, der zu immer komplexeren Strukturen führte. Entsprechend sind die Unterschiede zwischen den Gehirnen von Menschen und nicht-menschlichen Primaten lediglich quantitativer Natur. Sie beruhen im Wesentlichen auf der Vermehrung von Verarbeitungsstrukturen, die allen Säugergehirnen gemein sind. Das menschliche Gehirn zeichnet sich vor allem durch die mächtige Zunahme der Großhirnrinde aus und der Strukturen, die erforderlich sind, um die Hirnrinde im optimalen Arbeitsbereich zu halten und ihre Areale mit Information zu versorgen. Diese Komplexitätszunahme erlaubte offensichtlich die Realisierung jener neuen kognitiven Fähigkeiten, die es dem Menschen erlaubten, der biologischen Evolution die kulturelle hinzuzufügen und die vorgefundene Realität um die Dimension der sozialen Realitäten zu erweitern. Wie es möglich ist, durch die bloße Vermehrung von Hirngewebe und die dadurch mögliche Erhöhung der Verschaltungsoptionen neue kognitive und exekutive Funktionen zu entwickeln, lässt sich in groben Zügen nachvollziehen. Dass durch Mehrung von Komplexität neue Qualitäten entstehen können, ist nichts Ungewöhnliches, wie viele Beispiele aus der unbelebten und belebten Natur belegen. So verdankt sich die Ausbildung von Sprache unter anderem der Fähigkeit des Menschen, im phänomenologisch Verschiedenen das Gemeinsame zu erkennen, und für dieses Gemeinsame abstrakte Metarepräsentationen zu bilden, also symbolische Beschreibungen zu erstellen. Dies wurde vermutlich dadurch ermöglicht, dass sich neue Hirnrindenareale ausbildeten, in denen Verarbeitungsergebnisse aus verschiedenen Sinnessystemen zusammengeführt und verglichen werden können. Eine weitere Begründung der naturalistischen Thesen der Hirnforschung liefert die Entwicklung des Gehirns. Auch diese Entwicklung vollzieht sich kontinuierlich von der Befruchtung bis hin zur Ausdifferenzierung des reifen Organs, wobei diese Ausreifungsprozesse vollständig im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme erfasst werden können. Bemerkenswert ist dabei, dass zwischen der Ausreifung bestimmter Hirnfunktionen und dem sukzessiven Auftreten bestimmter kognitiver Leistungen sehr enge und plausible Korrelationen bestehen. Diese sehr eindrucksvollen Struktur-Funktions-Beziehungen erfahren weitere und sehr überzeugende Bestätigungen durch den Verlust spezifischer Leistungen nach der Zerstörung von Hirngewebe und durch die modernen bildgebenden Verfahren, die einen direkten Bezug zwischen Hirnaktivität und Funktion herstellen. Diese neurobiologischen Erkenntnisse implizieren, dass auch mentale Prozesse wie das Treffen von Entscheidungen und das »Sich-Bewusst-Werden« und Abwägen der jeweiligen Gründe auf neuronale Aktivierungsmuster zurückgehen müssen. Und da die neuronalen Vorgänge den Naturgesetzen gehorchen, also jedes neuronale Erregungsmuster durch das unmittelbar vorausgehende bedingt wird, muss gelten, dass auch mentale Zustände und Entscheidungen durch die unmittelbare Vorgeschichte festgelegt sind. Nur wenn sich das Gesamtsystem in einem Zustand befindet, für den es mehrere Folgezustände gibt, die eine gleich hohe Übergangswahrscheinlichkeit aufweisen, können zufällige Schwankungen der Systemdynamik den einen oder anderen favorisieren. Dies dürfte jedoch die Ausnahme sein, da Gehirne verlässlich arbeiten müssen und ihre Reaktionen auf Reize aus der Umwelt nicht dem Zufall überlassen sein dürfen. Um jed-

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weden Fehlinterpretationen vorzubeugen, muss jedoch betont werden, dass Gehirne im Sinne der Theorie komplexer Systeme »komplex« sind und eine nicht-lineare Dynamik aufweisen. Somit haben sie nur wenig gemein mit herkömmlichen Maschinen, mögen diese auch noch so kompliziert sein. Maschinen, und das gilt für Uhrwerke wie Computer, sind hinsichtlich ihres Verhaltens für alle Zeit festgelegt und präjudizierbar, weil die Wechselwirkungen zwischen den Komponenten dieser Maschinen so begrenzt werden, dass die Systemdynamik linear bleibt. Die Evolution ist einen anderen Weg gegangen. Sie stattete unsere Gehirne mit einer Fülle von Rückkopplungsverbindungen aus, die dafür sorgen, dass sich nicht-lineare Prozesse entwickeln können. Zwar gehorchen die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Neuronen nach wie vor dem Kausalgesetz. Aufgrund der komplexen Vernetzung, bei der das Prinzip der Reziprozität vorherrscht, entfalten diese jedoch eine nicht-lineare Dynamik. Diese reduziert zwar die Voraussagbarkeit des Systems, eröffnet aber dafür Raum für neue Konstellationen. Systeme mit nicht-linearer Dynamik sind hinsichtlich ihrer zukünftigen Entwicklung offen und nicht voraussagbar, und dies gilt, selbst wenn alle Ausgangsbedingungen vollständig bekannt wären. Sie können völlig neue, bislang noch nie aufgesuchte Orte in einem hochdimensionalen Zustandsraum besetzen, – was dann als kreativer Akt in Erscheinung tritt. Dennoch gilt, dass jeder der kleinen Schritte, die aneinander gefügt die Entwicklungstrajektorie des Systems ausmachen, auf neuronalen Wechselwirkungen beruht, die dem Kausalgesetz folgen. Auch wenn zu Beginn eines Entscheidungsprozesses nicht vorausgesagt werden kann, zu welchem Ergebnis das System kommen wird, so folgt dennoch jeder einzelne Übergang von einem Zustand zum nächsten, auf dem möglicherweise langen und verschlungenen Weg vom Ausgangs- zum Endzustand, den bekannten Naturgesetzen. Das impliziert, dass jeder Zustand den je wahrscheinlichsten und meist einzig möglichen nächsten bedingt. Diese Sicht steht im Widerspruch zu unserer Intuition, zu jedem Zeitpunkt frei darüber befinden zu können, was wir als je nächstes tun oder lassen sollen. Zwar trifft zu, dass eine bestimmte Lösung, die wir uns durch bewusstes Abwägen von Argumenten erarbeitet haben, unsere nachfolgenden Aktionen bestimmen wird. Aber wenn gilt, dass auch das bewusste Abwägen von Argumenten auf neuronalen Prozessen beruht, – also deren Folge und nicht deren Ursache ist –, dann muss auch das Verhandeln von Gründen und Finden einer Lösung die Folge einer Sequenz sich kausal bedingender neuronaler Zustände sein. Somit kann die Entwicklung der neuronalen Zustände keinen beliebigen Trajektorien folgen, sondern der Endzustand, in unserem Fall die getroffene Entscheidung, muss der unter den gegebenen Bedingungen »wahrscheinlichste« aller möglichen sein. Zu diesen Bedingungen zählen alle Faktoren, welche die Dynamik der neuronalen Wechselwirkungen bestimmen, die auf den jeweiligen Lösungszustand konvergieren. Ein entscheidender Faktor ist die spezifische funktionelle Architektur der neuronalen Netzwerke. Diese weist eine beträchtliche interindividuelle Variabilität auf, da sie durch unterschiedliche genetische Vorgaben, ontogenetische Prägungsprozesse und lebenslanges Lernen bestimmt wird. Weitere, die jeweiligen Entscheidungstrajektorien bestimmende Faktoren sind die neuronalen Aktivitätsmuster, die sich in der Phase, die der Entscheidung unmittelbar vorausgeht, ausgebildet haben, gleich, ob sie bewusst

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wahrgenommen werden oder lediglich als unbewusste Einflussfaktoren wirken. Auf diese Weise nehmen emotionale Gestimmtheiten, Wahrnehmungen von Außenereignissen, aus dem Gedächtnis auftauchende Erinnerungen und natürlich auch gerade gehörte Argumente, die ja ebenfalls in neuronale Aktivitätsmuster übersetzt werden, Einfluss auf den Entscheidungsprozess. Manche der Aktivitätsmuster, welche die Entwicklungstrajektorie hin zur Entscheidung bestimmen, können im Bewusstsein aufscheinen. Diese stehen dann der bewussten Deliberation als »Argumente« zur Verfügung. Wir führen diese dann als Gründe für den bestimmten Ausgang einer Entscheidung an – und, weil es »unsere« Gründe sind, weil es unsere Entscheidung ist, sagen wir, »wir hätten uns so entschieden, weil…«, und haben dabei das Gefühl, wir hätten uns auch anders entscheiden können. Weil die meisten gesunden Menschen dieses Gefühl teilen, billigen wir diese »Freiheit« auch dem je anderen zu. Entsprechend unterstellt unsere Rechtsprechung, ein Täter hätte sich im Moment der Tat auch anders entscheiden können, hätte er nur gewollt. Aus dem Gesagten folgt aber, dass dies nicht zutreffen kann – es sei denn, was die große Ausnahme sein dürfte, es hätte zwei gleich wahrscheinliche Lösungszustände gegeben. In diesem Fall hätte aber der Zufall entschieden.

Vermutete Grenzen naturalistischer Deutungen Von Philosophen-Seite wird oft eingewandt, dass bewusste mentale Vorgänge kausal relevant sind für das, was wir tun, dass aber bewusstes Verhandeln von Gründen ein Prozess sei, der sich den Naturgesetzen entzieht und in den Bereich der Metaphysik gehört. Wenn mit mentaler Verursachung gemeint ist, dass immaterielle Vorgänge, die lediglich im »Bewusstsein« existieren und keine weitere materielle Entsprechung haben, auf neuronale Prozesse einwirken, um diese so zu beeinflussen, dass sie auf eine bestimmte Entscheidung konvergieren und der Gedanke zur Tat wird, dann ist diese Sicht der mentalen Verursachung aus neurobiologischer Sicht nicht nachvollziehbar. Aus naturwissenschaftlicher Sicht erscheint die Annahme plausibler, dass mentale Vorgänge auf neuronalen Prozessen beruhen und diese kausal relevant für den Ausgang von Entscheidungen und zukünftiges Handeln sind. Der Unterschied zwischen bewussten und unbewussten Erregungsmustern bestünde dann lediglich darin, dass erstere benannt und damit einem Abwägungsprozess zugeführt werden können, der nach rationalen Diskursregeln erfolgt und sprachlich beschreibbar ist. Der Entscheider kann in diesem Fall Gründe für seine Entscheidung angeben. Auch bei Tieren finden sich Hinweise dafür, dass sie entscheidungsrelevante Variablen bewusst wahrnehmen, im Arbeitsgedächtnis halten und abwägen können. Der Entscheidungsprozess unterscheidet sich also nur insofern von der bewussten Deliberation des Menschen, als die Variablen nicht sprachlich gefasst sind und deshalb keine erlernten Diskursregeln befolgt und keine in sprachliche Argumente verpackten Gründe berücksichtigt werden können. Dennoch lässt sich dieses Abwägen auf gleiche Weise operationalisieren und auf neuronale Vorgänge zurückführen, wie jedes andere Verhalten auch. Die Fähigkeit des Menschen, Bedingungen in Sprache zu fassen und

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mitzuteilen, erweitert lediglich das Bedingungsgeflecht, innerhalb dessen sich Entscheidungen vollziehen, um all das, was wir in gesellschaftlichen Verabredungen kodifizieren und dann als zusätzliche Gründe und Argumente in Entscheidungsprozesse mit einbeziehen. Diese neuen Variablen sind keine tangiblen Objekte der dinglichen Welt, aber es sind konkrete, wirkmächtige soziale Realitäten, die unsere Entscheidungen als Verheißungen und Bedrohungen ebenso beeinflussen wie Erwartungen über Vorgänge in der dinglichen Welt. Wäre dem nicht so, – hätten also soziale Realitäten den Status metaphysischer Entitäten –, dann müssten wir die Erforschung jener Realitäten, die erst durch die kulturelle Evolution in die Welt kamen und den Versuch ihrer Rückbindung an kognitive und damit neuronale Prozesse beenden, da es sich dabei um ein metaphysisches Unterfangen handelte. Dem widerspricht die Empirie. Es ist durchaus möglich, die neuronalen Grundlagen von Funktionen zu erforschen, die sich nur in der sozialen Interaktion manifestieren und als Qualität einer Beziehung immateriellen Charakter haben. Zu diesen sozialen Realitäten zählen Phänomene wie zum Beispiel Empathie, Fairness, Redlichkeit, Altruismus, Unterwürfigkeit, etc. All diese Variablen gehen in Entscheidungsprozesse ebenso ein wie ein eben gehörtes Argument. Natürlich besteht ein Unterschied zwischen der Wirkmächtigkeit von sozialen Dispositionen und rationalen Argumenten hinsichtlich anstehender Entscheidungen. Wenn es gelingt, Gefühle so zu konkretisieren, dass sie bewusst wahrgenommen werden können und einer sprachlichen Fassung im Sinne eines Arguments zugänglich werden, dann kann dieses rationale Argument einem anderen rationalen Argument entgegengesetzt werden und innerhalb eines anderen neuronalen Substrats verhandelt werden, als wenn sich lediglich unbewusste Strömungen rivalisierend gegenüber stehen.

Bewusste und unbewusste Entscheidungsprozesse Damit Entscheidungsprozesse in Gang kommen, müssen die gerade herrschenden neuronalen Erregungsmuster aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Dies kann vielfältige Ursachen haben. Sie können sich aus der Systemdynamik selbst ergeben, wenn diese auf labile oder inkohärente Muster zusteuert, oder wenn Erregungsmuster, die Erinnerungen an unerfüllte Aufträge oder ungelöste Konflikte entsprechen, prävalent werden und bestehende Zustände destabilisieren. Meist werden Entscheidungsprozesse jedoch durch äußere Einwirkungen induziert, durch Sinnesreize, Befehle oder Argumente, die nach ihrer Übersetzung in neuronale Erregungsmuster Veränderungen der gerade ablaufenden Vorgänge bewirken. Auf der Ebene der neuronalen Netzwerke sind solche instabilen Zustände dadurch charakterisiert, dass unterschiedliche, sich ausschließende Aktivitätsmuster miteinander in Wettbewerb treten. Dabei durchläuft das System eine Folge wechselnder Zustände, wobei aufgrund der nicht-linearen Dynamik völlig neue Trajektorien entstehen können, bis sich schließlich wieder ein stabiler Zustand einschwingt, eine »Lösung« gefunden, eine »Entscheidung« getroffen wurde. Dabei konkurrieren die bewussten mit den parallel ablaufenden unbewussten Entscheidungsprozessen. Erstere beruhen auf dem seriellen Abarbeiten von Argumenten

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nach expliziten, oft kulturspezifischen Regeln. Dies benötigt Zeit und führt nur dann zu befriedigenden Ergebnissen, wenn die Variablen klar definiert und verlässlich sind und deren Zahl überschaubar ist. Die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses beziehungsweise der Plattform für bewusstes Verhandeln von Argumenten ist sehr begrenzt. Es kann also immer nur eine Handvoll von Variablen gleichzeitig gegeneinander abgewogen werden. Welche der Variablen jeweils im Bewusstsein aufscheinen, unterliegt nur zum Teil der Kontrolle bewusster Prozesse. Jeder kennt das Problem, dass Inhalte, die verlässlich im deklarativen Gedächtnis abgespeichert wurden, in kritischen Momenten nicht abrufbar sind und dann irgendwann ohne ersichtlichen Grund im Bewusstsein auftauchen. Es ist also damit zu rechnen, dass im Augenblick einer bewussten Entscheidung nicht alle relevanten Variablen tatsächlich ins Bewusstsein gehoben werden können, dass vielleicht sogar Variablen, die man gebraucht hätte, um eine bestimmte Entscheidung nicht zu treffen, durch unbewusste Verdrängungsmechanismen daran gehindert wurden, bewusst und damit verhandelbar zu werden. Ganz anders arbeiten die unbewussten Entscheidungsmechanismen. Sie können eine sehr große Zahl von Variablen parallel zueinander in Bezug setzen und kommen auch mit unscharfen, unterbestimmten Variablen zurecht, weil sie sich auf angeborene oder erlernte Heuristiken verlassen und nicht auf logische Folgerungsketten wie die bewussten Prozesse. Sie erfordern deshalb weniger Zeit und finden auch dann noch zu befriedigenden Lösungen, wenn die Variablen unzuverlässig, zahlreich und sehr stark untereinander vernetzt sind. Meist werden diese schnellen, unbewussten Entscheidungen unreflektiert in Handlungen umgesetzt, die uns sicher durch das Leben bringen. Oder sie manifestieren sich als Intuitionen, als gute oder schlechte Gefühle mit ihren vegetativen Begleiterscheinungen, als »good feeling«. Wir verfügen also über zwei parallel agierende Entscheidungsmechanismen, die sich gegenseitig beeinflussen, die aber nicht notwendig zu dem gleichen Ergebnis führen müssen. Im Fall von Widersprüchen sagen wir, wenn die unbewussten über die bewussten siegen, wir hätten uns wider besseres Wissen, wider die Vernunft entschieden, weil es sich so richtiger anfühlt. Im umgekehrten Fall sagen wir, wir hätten gegen unser Gespür entschieden, weil die vernünftigen Argumente überwogen. Diese Betrachtungsweisen verdeutlichen, wie fragwürdig der Versuch ist, jeweils im Nachhinein feststellen zu wollen, wie eine Entscheidung zustande kam und ob sie frei war. Selbst, wenn mit »frei« wirklich nur gemeint ist, wie unbehindert von äußeren und inneren Zwängen und Behinderungen die bewussten Prozesse ablaufen konnten, ließe sich kaum eruieren, inwieweit dies der Fall war, da die neuronalen Mechanismen, die bewusste und unbewusste Entscheidungen vorbereiten, aufs engste miteinander verwoben sind. Worauf beruht also das Gefühl, wir seien unseren Entscheidungsmechanismen nicht ausgeliefert, sondern könnten sie bis zum letzten Moment vor der Entscheidung bewusst kontrollieren? Warum halten wir an dieser Überzeugung fest, selbst dann, wenn wir uns mit der Notwendigkeit abgefunden haben, den Substanz-Dualismus aufzugeben? Vermutlich hat auch dies damit zu tun, dass wir kein Empfinden von den Vorgängen in unserem Gehirn haben, dass wir von den komplexen Vorgängen, die zu Ent-

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scheidungen führen, nur jenen Bruchteil wahrnehmen, der im Bewusstsein aufscheint und dass nur diese Aspekte später als Begründung angeführt werden können. Da wir uns lediglich der Ergebnisse, nicht aber der Hintergründe unserer bewussten Prozesse gewahr werden, identifizieren wir uns ausschließlich mit ihnen und machen uns als Intention zueigen, was uns einsichtig ist.

Weshalb trügt unsere Intuition? Ein Grund für die Diskrepanz zwischen Intuition und wissenschaftlicher Erkenntnis liegt vermutlich in der evolutionären Anpassung unserer kognitiven Leistungen. Eine der wichtigsten Funktionen von Nervensystemen ist, Information aus der Umwelt aufzunehmen, Gesetzmäßigkeiten ausfindig zu machen, daraus Modelle abzuleiten und aufgrund dieses Wissens optimal angepasste Verhaltensstrategien zu entwerfen. All dies dient der Sicherung des Überlebens in einer gefährlichen, sich stetig wandelnden Welt. Die Größe von Tieren, die Nervensysteme entwickelt haben, variiert im Bereich von Millimetern bis wenigen Metern. Folglich haben sich die kognitiven und exekutiven Funktionen der Nervensysteme an diesen schmalen Ausschnitt der Welt angepasst. Es ist dies die Welt, in der die Gesetze der klassischen Physik vorherrschen – weshalb wir diese und nicht jene der Quantenmechanik zuerst entdeckten. Es ist die Welt der soliden Objekte, der kausalen Wechselwirkungen, der nicht relativierbaren Koordinaten von Raum und Zeit, und es ist die Welt, in der vorwiegend lineare Modelle hinreichen, um den Großteil der für unser Überleben wichtigen Prozesse zu verstehen. Wir beobachten zwar Vorgänge, die eine andere Dynamik aufweisen und unseren Vorstellungen von Kausalität und Linearität zu widersprechen scheinen, aber wir haben Schwierigkeiten, die zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten intuitiv zu erfassen. Dies gilt beispielsweise für Resonanzphänomene, die zu unerwarteten Verstärkungen von Schwingungen führen, das Aufschaukeln von extremen Wetterlagen und die scheinbar völlig unvoraussagbaren Phasenübergänge in chaotischen Systemen. Selbst bei Kenntnis der herrschenden Ausgangsbedingungen ist es meist unmöglich vorauszusagen, wie sich nicht-lineare Systeme entwickeln werden. Es bringt also kaum Vorteile, sich mit der Dynamik solcher Systeme zu befassen, wenn es darum geht, Modelle zu erstellen, von denen zutreffende Voraussagen abgeleitet werden können. Es gab also vermutlich keinen Selektionsdruck für die Ausbildung kognitiver Funktionen zur Erfassung nicht-linearer dynamischer Prozesse. Auch für die Wahrnehmung der Prozesse der Quantenwelt gab es keinen Selektionsdruck, weil diese für die Vorgänge in unserer Lebenswelt irrelevant sind. Wir haben deshalb für diese weder Sinnessysteme noch Intuitionen entwickelt, weshalb sie uns nur schwer vorstellbar sind. Diese Beschränkung unserer kognitiven Fähigkeiten ist vermutlich dafür verantwortlich, dass wir Vorstellungen über die Organisation unseres Gehirns entwickelt haben, die mit der naturwissenschaftlichen Beschreibung nicht übereinstimmen. Die Evolution hat Gehirne mit nicht-linearen Eigenschaften ausgestattet, weil eine Vielzahl von Problemen der Informationsverarbeitung mit linearen Operationen nur

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schwer, wenn überhaupt zu lösen sind. Beispiele sind die Mustererkennung, die Bildung von Kategorien, die assoziative Verknüpfung sehr großer Mengen von Variablen, das Treffen von Entscheidungen auf der Basis sehr zahlreicher, unterbestimmter Variablen und die kreative Anpassung an sich ständig ändernde Bedingungen. Da wir kein Sensorium für die Vorgänge in unserem Gehirn haben und nur deren Ergebnisse wahrnehmen, stellen wir uns offenbar vor, das Gehirn folge den gleichen linearen Gesetzen, die wir den beobachtbaren Phänomenen in der Welt draußen unterstellen. Aber lineare Systeme bewegen sich in unveränderlichen, vollständig determinierten Bahnen, können sich nicht selbst organisieren und sind nicht kreativ. Wenn in ihnen Neues entstehen soll, dann müssen strukturierende Einflüsse von außen auf sie einwirken. Weil wir Linearität annehmen, uns und unser Gegenüber aber als kreativ und intentional erleben, kommt unsere Intuition zu dem falschen Schluss, in unserem Gehirn müsse es eine übergeordnete, lenkende und autonome Instanz geben, welche die vielfältigen verteilten Prozesse koordiniert, Impulse für Neues gibt und den neuronalen Prozessen vorgängig über deren zukünftige Ausrichtung entscheidet. Und da wir diese virtuelle Instanz nicht zu fassen vermögen, schreiben wir ihr all die immateriellen Attribute zu, die wir mit dem Begriff des »Selbst« verbinden: die Fähigkeit, initiativ zu sein, zu entscheiden und Neues zu erfinden. All dies sind jedoch Eigenschaften, die unsere Gehirne aus sich heraus entwickeln können ohne einer intentionalen Instanz zu bedürfen, die von neuronalen Prozessen unabhängig ist.

Welche Entscheidungen gelten als frei? Wir sagen gemeinhin, eine Person hätte sich frei entschieden, wenn kein Hinweis auf das Vorliegen besonderer äußerer oder innerer Zwänge besteht, wenn der Ausgang der Entscheidung nicht durch Bedrohung oder soziale Abhängigkeiten, durch neurotische Zwänge oder pathologische Triebstrukturen beeinflusst wurde und wenn die Möglichkeit bestand, Für und Wider in bewusster Deliberation abzuwägen. Aus diesen Gründen gelten nicht nur äußere und innere Zwänge, sondern auch Zustände eingeschränkten Bewusstseins als mildernde Umstände. Wenn wir also in der alltäglichen Praxis das Prädikat »frei« jenen Entscheidungsprozessen zuschreiben, die auf der Basis bewusster Deliberation erfolgen, dann beschränken wir die relevanten Variablen auf jene, die bewusst gemacht werden können. Dies ist nur für Inhalte der Fall, die im Arbeitsgedächtnis des Gehirns beziehungsweise im sogenannten deklarativen Gedächtnis abgelegt wurden. Beides, das Abspeichern in und das Auslesen aus diesen Speichern erfordert, dass die Inhalte mit Aufmerksamkeit belegt sind. Nur die Variablen, die während ihrer Erfassung mit Aufmerksamkeit belegt und ins Bewusstsein gehoben wurden, gelangen in diese Speicher und können später wieder bewusst gemacht werden. Ausgeschlossen von der bewussten Deliberation bleiben deshalb all die Variablen, die im Augenblick der Entscheidungsfindung nicht ins Bewusstsein gedrungen sind. Angeborenes Vorwissen, das in der Architektur unserer Gehirne niedergelegt ist und unsere Wahrnehmungen, Neigungen und Prioritätenset-

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zungen nachhaltig prägt, und damit natürlich auch unsere Entscheidungen beeinflusst, verharrt grundsätzlich im Unbewussten, da dieses Wissen vor der eigenen Lebenszeit erworben wurde. Das gleiche gilt für Lebenserfahrungen, die vor dem 3. bis 4. Lebensjahr gewonnen wurden. Da sich das deklarative Gedächtnis erst spät ausbildet, können diese frühen Prägungen nicht bewusst erinnert werden. Dann gibt es die vielen inneren Prozesse, die sich in Gefühlen und Gestimmtheiten ausdrücken, die nicht näher begründet werden können. Wir haben keine bewusste Wahrnehmung vegetativer Variablen, fühlen uns aber matt oder agitiert, wenn diese von der Norm abweichen. Und schließlich sind selbst die im Prinzip bewusstseinsfähigen Variablen im Augenblick der Entscheidungssuche nicht immer alle verfügbar. Denn welche Inhalte jeweils ins Bewusstsein gelangen, hängt wiederum ab von einer Fülle unbewusster Motive, von Verdrängungsmechanismen, von der assoziativen Einbettung der abgespeicherten Inhalte und schließlich von der selektiven Aufmerksamkeit, die sich, je nach Entwicklung des Entscheidungsprozesses, auf ganz bestimmte Inhalte richtet. Solches nicht »rechtzeitige« Aufscheinen relevanter Argumente äußert sich später dann in Äußerungen der Art: »Ich habe wohl nicht darauf geachtet« oder »ich habe es nicht bemerkt«, »daran habe ich nicht gedacht« oder »dieser Zusammenhang war mir im entscheidenden Augenblick nicht erinnerlich«. Auch wenn man das Gefühl hat, sorgfältig alle Variablen geprüft zu haben, bleibt das Problem, dass sich einige von ihnen trotz ehrlichen Bemühens der gezielten Suche entziehen und nicht immer rechtzeitig im Bewusstsein aufscheinen. Die oft vergebliche Suche nach Namen, die sicher im deklarativen Gedächtnis abgelegt sind, zeigt, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, sich etwas intentional bewusst zu machen. Und schließlich wird der Spielraum für die bewusste Abwägung von Gründen durch die begrenzte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses beschränkt. Die Zahl der jeweils gleichzeitig im Bewusstsein haltbaren und damit verhandelbaren Argumente weist starke interindividuelle Schwankungen auf und variiert etwa zwischen 3 und 7. Zudem ändert sie sich in Abhängigkeit von schwankender Konzentrationsfähigkeit und Wachheit. Der Ausgang einer Entscheidung wird aber davon abhängen, welche und wie viele Variablen in den Prozess mit einbezogen werden konnten.

Freiheit und Schuld Folgendes Beispiel macht die Problematik des Versuchs deutlich, das Maß der jeweils verfügbaren »Freiheit« zur Bemessung der subjektiven »Schuld« heranzuziehen. Findet sich bei einem Delinquenten, der ganz offensichtlich bei vollem Bewusstsein und ohne Zeitdruck eine fatale Aktion ausgeführt hat, durch Zufall im Nachhinein eine Läsion im Präfrontalhirn, welche die Bahnen unterbrochen hat, die den Ort, wo ethische Normen gespeichert sind, mit den Zentren verbinden, deren Aktivierung erforderlich ist, um Handlungen zu unterdrücken, so würden dem Delinquenten im Nachhinein mildernde Umstände zugesprochen. Den gleichen Effekt wie makroskopisch feststellbare Läsionen können jedoch unsichtbare Fehlverschaltungen haben, die ihrerseits auf vielfältigste Ursachen zurückgehen können. Hierzu zählen genetische Dispositionen, feh-

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lerhaft verlaufene Entwicklungs- und Prägungsprozesse und die ungenügende oder falsche Einschreibung von Lerninhalten. Ferner muss mit ebenfalls unsichtbaren und im Nachhinein nicht mehr nachvollziehbaren Veränderungen im Gleichgewicht neurochemischer Prozesse gerechnet werden oder mit akzidentellen Entgleisungen der Systemdynamik. Es muss also davon ausgegangen werden, dass jemand tat, was er tat, weil just in dem Augenblick sein Gehirn zu keiner anderen Entscheidung kommen konnte, gleichgültig, wie viele bewusste oder unbewusste Faktoren tatsächlich dazu beigetragen haben. Wie wenig wir gelegentlich über die »wahren« oder »eigentlichen« Gründe einer Handlung wissen, zeigen eine Fülle von Experimenten. Mit einfachen Tricks lassen sich Handlungsanweisungen so maskieren, dass sie von Probanden nicht bewusst wahrgenommen, aber dennoch befolgt werden. Fragt man dann, warum die Handlung ausgeführt wurde, erhält man selten als Antwort, »ich habe mir eigentlich nichts dabei gedacht«. Meist folgt eine prompte Begründung im intentionalen Format, »ich habe dies getan, weil ich dies oder jenes wollte« – wobei dann nur der Versuchsleiter weiß, dass die Begründung mit dem tatsächlichen Auslöser nichts zu tun hat. Menschen handeln oder entscheiden ungern ohne Begründung, und wenn ihnen die »wahren« Gründe verborgen sind, machen sie sich ad hoc erfundene zueigen. Auch täuschen wir uns oft über die mitunter lange Vorgeschichte von Entscheidungsprozessen, weil uns deren Ausgang erst bewusst wird, wenn der neuronale Prozess zur Vorbereitung der beschlossenen Handlung bereits abgeschlossen ist. Probanden, deren Hirnaktivität mit der funktionellen Kernspintomographie bestimmt wird, sollen in frei gewählten Intervallen entscheiden, ob sie mit der rechten oder linken Hand eine Taste drücken wollen. Vorher bestimmt man die für den Probanden typischen neuronalen Aktivitätsmuster, die mit dem entsprechenden Tastendruck einhergehen. Im Versuch selbst sind die Probanden angewiesen, sofort zu drücken, wenn sie sich entschieden haben, mit welcher Hand sie drücken wollen. Dabei zeigt sich, dass man aus den fortlaufend registrierten Aktivitätsmustern immer schon Sekunden, bevor der Proband »beschlossen« hat zu drücken, voraussagen kann, wie er sich »entscheiden« wird. Diese Vorlaufzeiten können bis zu 15 Sekunden betragen. Offensichtlich haben sich im Gehirn schon lange, bevor dem Probanden seine Entscheidung bewusst wird, spezifische Aktivitätsmuster ausgebildet, die diese und keine andere Aktion präjudizieren.

Konsequenzen für das Miteinander Aus diesen neurobiologischen Anmerkungen zur neuronalen Bedingtheit von Entscheidungen folgt selbstverständlich nicht, dass abweichendes Verhalten nicht sanktioniert werden darf. Denn dann dürften wir auch unsere Kinder, denen wir Schuldfähigkeit absprechen, weil sie nur über eine eingeschränkte deklarative Kompetenz verfügen und weniger als Erwachsene zur bewussten Verarbeitung von Argumenten fähig sind, für das, was sie tun, nicht bestrafen. Wir bestrafen und belohnen das Kind in der Absicht, seine Hirnarchitektur so zu prägen, dass es später Entscheidungen treffen wird, die mit

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den sozialen Normen der Gesellschaft, in welche es integriert werden soll, konform sind. Und so stellt sich die Frage, ob es nicht zur Klarheit beitrüge, wenn man andere Terminologien verwendete. Selbstverständlich bleibt die Notwendigkeit zur Zuschreibung von Verantwortung unberührt, denn wer sonst als das handelnde Individuum könnte die Tat verantworten. Nachdem sich das, was mit der Freiheit von Entscheidungen gemeint ist, offensichtlich nur auf einen kleinen Teil der kognitiven Leistungen von Gehirnen bezieht, nämlich auf die Fähigkeit zur bewussten Abwägung von Argumenten, also Inhalten des deklarativen Gedächtnisses, wäre es vielleicht tunlicher, von Mündigkeit zu sprechen. Je mündiger eine Person ist, umso mehr ist sie in der Lage, sich Argumente bewusst zu machen und diese nach Regeln, welche die jeweilige Gesellschaft vorgibt, abzuwägen und dabei jenes Wissen heranzuziehen, das im deklarativen Gedächtnis gespeichert ist. Dabei handelt es sich ganz vorwiegend um explizites, sprachlich fassbares Kulturwissen. Mündigkeit also, verstanden im Sinne von Sagbarkeit. Was also geschähe, wenn wir den mit unterschiedlichsten Konnotationen befrachteten Begriff der Freiheit aufgäben und stattdessen sprächen von der interindividuell stark schwankenden Fähigkeit zur rationalen Verhandlung von Argumenten, also von Mündigkeit. Strafe behielte alle bisherigen Funktionen im Kontext von Abschreckung, Erziehung, Schutz und Wiedergutmachung. Wie bisher würde sie hart ausfallen, wenn die große Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft in gleichen Situationen anders entschieden hätte und auch die Schwere der Tatfolge würde weiterhin mit in Betracht gezogen. Dem Täter würde aber zugute gehalten, dass es sein Schicksal war, dass er – dass sein Gehirn – im kritischen Moment so und nicht anders entscheiden konnte. Gleichwohl kann es sich als zweckmäßig erweisen, im Rechtsalltag und im Selbstverständnis der Gesellschaft an den Begriffen »Freiheit«, »Schuld« und »Strafe für Schuld« festzuhalten, weil jeder, der in unserem Kulturkreis erzogen wurde, damit zwar vage, aber zumindest konsensfähige Inhalte seiner Selbsterfahrung benannt findet.

Schlussbemerkung Da gemeinhin angenommen wird, dass Menschenwürde unabdingbar mit Willensfreiheit verbunden ist und die Zuschreibung von Verantwortung und Schuld, einer der Grundpfeiler unseres Rechtssystems, von der Existenz dieser Freiheit abhängt, werden die Grundthesen der modernen Hirnforschung mit großer Besorgnis rezipiert. Ein Anliegen meiner Ausführungen war, diese Bedenken zu zerstreuen. Die Einsichten in die neuronalen Mechanismen, die unseren Entscheidungen zu Grunde liegen, implizieren natürlich nicht, dass Menschen für das, was sie tun, nicht verantwortlich sind und deshalb nicht zur Rechenschaft gezogen werden dürfen. Die handelnde Person ist alleiniger Urheber und somit verantwortlich für ihr Tun. Sie muss für die Folgen eintreten. In der Rechtspraxis wird nach diesen Grundsätzen verfahren und deshalb spielt die akademische Diskussion um die Willensfreiheit nahezu keine Rolle bei der Beurteilung der Strafwürdigkeit von Verhalten. Im Vordergrund steht hier

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die Prüfung, inwieweit bei den gegebenen äußeren und, soweit zugänglich, inneren Bedingungen die Mehrheit der Menschen in gleicher Weise gehandelt hätte. Trifft dies zu, werden mildernde Umstände zugebilligt. Je weniger dies der Fall ist, umso härter werden die Sanktionen sein. Dies drückt aus, dass unser Rechtssystem umso strenger sanktioniert, je mehr eine Verhaltensweise negativ von der Normalverteilung menschlicher Verhaltensdispositionen abweicht. Zudem wird die Schwere der Tatfolgen miteinbezogen, um dem Bedürfnis nach Wiedergutmachung zu entsprechen. Hat eine Lässlichkeit wenig negative Folgen, wird sie verziehen. Führt die gleiche Lässlichkeit zu einem Unfall mit verheerenden Folgen, wird die Strafe hart sein. Die weithin verbreitete Sicht, Willensfreiheit sei unabdingbare Voraussetzung für Sanktionen, weil es ohne sie weder Schuld noch Verantwortung gäbe, ist demnach nicht einmal Grundlage gängiger Strafbemessung. Der Umstand, dass die neurobiologischen Befunde zwingend nahelegen, jemand habe im Augenblick des Entscheidens nicht anders entscheiden können, weil das entscheidende Gehirn den Naturgesetzen gehorcht, hat also kaum Auswirkungen auf die Notwendigkeiten, Fehlverhalten zu sanktionieren. Aber er zwingt zu einer veränderten und vermutlich humaneren Beurteilung von Menschen, deren Verhalten von der Norm abweicht.

Über die Wirksamkeit des menschlichen Geistes in der wohl verstandenen Welt1 Lutz Wingert

Einleitung: Nicht Scheidung, sondern Unterscheidung zwischen dem Raum der Gründe und dem Raum der Ursachen In der Regel bewohnen wir mehrere Räume. Jedenfalls gilt das zweifellos im Alltag für uns, die wir besser gestellte Mitglieder von westlichen OECD-Gesellschaften sind. Das ist anders in der wissenschaftlichen Debatte um die Frage, wie wir Menschen uns verstehen müssen, in Anbetracht unseres Wissens über uns, über die Natur, über die soziale Welt und über die Natur- und die Kulturgeschichte. Naturalisten physikalistischer Couleur in der Philosophie (also Anhänger von Quine, nicht von Marx) platzieren uns in einem Raum der Ursachen, den die Naturwissenschaften, namentlich die Physik ausleuchten. Anti-Naturalisten wenden dagegen ein, dass wir Mensch nicht bloß makroskopische, lebendige Körper sind, sondern auch Personen. Körper sind Objekte und Träger von kausalen Kräften. Personen sind auch Autoren und Adressaten von Begründungen. Wir leben als Personen nicht nur in einem Raum der Ursachen, sondern auch in einem Raum der Gründe.2 Wie so oft bei Unterscheidungen stellt sich auch hier die Frage: Wie ist das Verhältnis zwischen dem Raum der Gründe und dem Raum der Ursachen beschaffen? Eine Antwort lautet: Die Räume sind getrennt wie im Schauspielhaus die Bühne und das Parkett. Es gibt den Raum der Ursachen als die Bühne, auf der das große Welttheater spielt. Hier erröten Menschen vor Scham, zücken spontan die Geldbörse beim Anblick des Bettlers und anderer Spender auf dem Boulevard vor ihnen. Hier werden Menschen im Sturm von herunterstürzenden Ästen in die Flucht geschlagen oder winden sich vor Krämpfen in Folge ihres gestörten Hirnstoffwechsels. Und es gibt den Raum der Gründe, in dem das Publikum im Halbdunkel sitzt, manchmal laut und meistens leise seine Kommentare zum Geschehen äußert – Bewertungen und Deutungen der Vorkommnisse und Begebenheiten auf der Bühne. Auch gibt es Distanz sichernde Logenplätze. Dort sitzen methodisch disziplinierte, also wissenschaftliche Beobachter des Welttheaters, die oft erkennen können, wie gewisse Vorkommnisse möglich sind oder sogar unter bestimmten Umständen nicht ver-

1 Für hilfreiche Bemerkungen danke ich Dieter Sturma und Michael Hampe sowie Wolf-Jürgen Cramm, Anna Kreysing, Nadia Mazouz, Albert Newen, Martine Nida-Rümelin, Johann Steurer und David Wörner. 2 Zur Beschreibung dieses Raums der Gründe vgl. Lutz Wingert: Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe?, in: Vernunft und Freiheit, hg. von Dieter Sturma, Berlin 2012.

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mieden werden können. Manchmal werden diese Erforscher der Realitäten auch zu Kritikern, nämlich dann, wenn die Kommentare des Publikums im Halbdunkel irrige Aussagen über die Ursachen des Geschehens beinhalten – so wenn zum Beispiel epileptische Krämpfe fälschlich als Folge der Verhexung gedeutet werden oder wenn Spendenfreudigkeit als Ausdruck von Mitleid oder von Großherzigkeit und nicht als ein Fall von sozial funktionalem Altruismus aufgefasst wird. Natürlich ist meine Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Raum der Ursachen und dem Raum der Gründe eine Karikatur. Aber wie jede Karikatur soll sie einen tatsächlichen Sachverhalt wiedergeben. Hier soll sie eine Sein-Sollens-Differenz wiedergeben. Was faktisch der Fall ist, was geschieht und warum etwas geschah, ist das eine. Normative Stellungnahmen, also Bewertungen und Aufforderungen, sind das andere. Gewiss, Erklärungen sowie Behauptungen, was der Fall ist, können angefochten werden und fallen in den Raum der Gründe. Aber diese Möglichkeit zieht für uns den Unterschied zwischen dem Raum der Ursachen für Faktisches und dem Raum der Gründe nicht ein. Die Scham des Fremden mag damit erklärt werden, dass er glaubt, das schwierige Fremdwort falsch ausgesprochen zu haben. Aber damit ist nicht schon entschieden, ob der Fremde sich zu Recht schämt. Denn einen rechtfertigenden Grund haben und glauben, einen solchen Grund zu haben, sind zweierlei. Die Beschreibungen und Erklärungen mit Hilfe von Ursachen und Wirkungen stellen das Beschriebene und Erklärte in einen Raum der Ursachen. Sie machen die Begründungen normativer Stellungnahmen mit Hilfe von Gründen nicht überflüssig. Die Unterscheidung zwischen einem Raum der Gründe und einem Raum der Ursachen soll daran erinnern. Wie so oft bei Unterscheidungen muss man auch hier aufpassen, dass die Unterscheidung nicht zu einer Scheidung wird; dass also das voneinander Verschiedene nicht geschieden, getrennt, isoliert wird. Der Raum der Gründe sollte nicht vom Raum der Ursachen abgespalten werden. Warum nicht? Ein Argument hat mit der kausalen Relevanz des Geistigen zu tun. Geistiges zeigt sich wesentlich in einer Responsivität für Sein-Sollens-Beziehungen. Nun gehört zum Raum der Gründe ein Sinn für Gründe. Die Bewohner dieses Raumes haben einen solchen Sinn für Gründe. (Nichts ist bislang darüber gesagt, wer diese Bewohner sind, ob Personen oder Säugetiere oder Organismen.) Der Sinn für Gründe ist ein Unterscheidungsvermögen. Er ist das Gespür für Unterschiede in Hinsicht darauf, was ein Sollen erfüllt oder nicht erfüllt, was also einen Maßstab oder einen Sollzustand wie zum Beispiel Gesundheit oder eine Norm wie eine Ausspracheregel etc. erfüllt oder verfehlt. Das Unterscheidungsvermögen wird aktualisiert in einer Empfänglichkeit, eben in einer Responsivität dafür, was in einer Erfüllungsbeziehung zu etwas Gesolltem steht und was nicht. Man kann also den Raum der Gründe nicht ohne einen Begriff vom Geistigen zutreffend beschreiben. Wenn man nun den Raum der Gründe vom Raum der Ursachen trennen würde, dann könnte es sein, dass man zwei Sorten von Dingen strikt trennt: das, was den Status einer Ursache hat, und das, was etwas Geistiges ist. Man würde so riskieren, die kausale Relevanz des Geistigen zu übersehen.

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I. Die kausale Relevanz des Geistigen Diese kausale Relevanz des Geistigen ist aber augenscheinlich unstrittig. Wir reden im Alltag ganz unbefangen von ihr: (1) Er errötete erneut, weil er wieder an seinen Lapsus dachte. (2) Der junge Motorradfahrer schaltete beim Einbiegen in die nächtlich stille Wohnsiedlung den Motor aus, weil ihn die Mutter darum gebeten hatte, die Nachbarn nicht aufzuschrecken. (3) Kinder im afrikanischen Burkina Faso leiden an Zinkmangel, weil ihre Eltern zu arm sind, um die Nahrung in der erforderlichen Weise zuzubereiten.3 (Durch ein energie- und zeitaufwändiges Kochen des Hirsebreis wird der enzymatische Prozess der sogenannten Phytase unterstützt. Dieser enzymatische Prozess ist für die Zinkabsorption des menschlichen Organismus wichtig.) Das »Weil« in diesen Sätzen ist nicht nur ein erklärendes, sondern auch ein kausales Weil.4 Ihm folgen Ausdrücke für geistige oder mentalistisch zu beschreibende Sachverhalte; Ausdrücke wie »er dachte« oder »die Mutter hatte ihn darum gebeten«. Im ersten Satz ist es ein erinnerter und für wahr gehaltener Gedanke über einen Fehler, dem eine kausale Rolle zugeschrieben wird. Im zweiten Beispielssatz ist es die akzeptierte Bitte der Mutter um Rücksicht auf die schlafende Nachbarschaft, die als kausal wichtig dafür genannt wird, dass der junge Motorradfahrer noch vor Erreichen seines Zieles den Motor abschaltet. Im dritten Beispielssatz schließlich ist es eine unzulängliche Art der Nahrungszubereitung für Kinder und ein fehlender normativer Status der Eltern: die Armut der Eltern, denen eine kausale Rolle zugesprochen wird. Arme haben dauerhaft keinen Zugang zu Ressourcen. Dieser Zugang ist auch an einen normativen Status gebunden, zum Beispiel an den Status, ein Käufer zu sein, der über ein anerkanntes Zahlungsmittel verfügt. Deshalb kann Armut ein fehlender normativen Status genannt werden. In allen Fällen werden propositional strukturierte Entitäten, also aussageförmige Gebilde als Ursachen angeführt. Diese beispielhaften Redeweisen im Alltag, und zwar auch im naturwissenschaftlichen Forschungsalltag, sollen eine augenscheinliche kausale Relevanz des Geistigen illustrieren. Die leitende Frage lautet: Wie muss man sich die kausale Relevanz des Geistigen denken, wenn man den Raum der Gründe und den Raum der Ursachen unterscheiden, 3 Vgl. Rita Wegmüller: Assessment of zinc absorption from a phytic acid rich complementary food, consumed by young children, Ms. März 2011, 4, ETH Zürich, Institut für Lebensmittelwissenschaften. 4 Ralf Stoecker gehört zu denen, die zwischen einem erklärenden und einem ursächlichen »Weil« unterscheiden und Gründe, darunter Intentionen, nur in Verbindung mit einem erklärenden »Weil« bringen wollen. Das ist problematisch. Denn wir gebrauchen ein erklärendes »Weil« mit dem Anspruch, dass es eine erklärende Rolle spielt, weil es ein ursächliches »Weil« ausdrückt. Zu Stoecker vgl. seinen Aufsatz: Tun und Unterlassen – Überlegungen zur Ontologie menschlichen Handelns, in: Erkenntnis 48 (1998), 406.

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aber nicht voneinander isolieren will? Die zu erwägende Antwort ist: Die kausale Relevanz des Geistigen besteht in seiner Rolle, eine strukturierende Ursache zu sein. Eine strukturierende Ursache sorgt dafür, dass bestimmte Dinge bestimmte kausale Effekte auslösen können. Eine Handlungsabsicht oder -intention kann die Rolle einer solchen strukturierenden Ursache haben. Sie sorgt dafür, dass Handlungen zu Stande kommen, die intendierte Wirkungen in der Welt auslösen können. Eine Handlungsintention tut das, indem sie mögliche, begonnene, ausgeführte Körperbewegungen in Beziehung zu den Erfolgsbedingungen für Handlungen setzt. Sie bestimmt so die Körperbewegungen als Erfüller oder Nicht-Erfüller dieser Bedingungen. Handlungsintentionen zeigen etwas als Erfüller oder Nicht-Erfüller von Bedingungen für den Erfolg einer Handlung an. Deshalb sind Intentionen eine Sorte von Gründen. Denn Gründe sind ganz allgemein Indikatoren für das, was Erfüllungsbedingungen erfüllt sein lässt.5 Erfolgsbedingungen für Handlungen sind ein Fall solcher Erfüllungsbedingungen, Wahrheitsbedingungen für Aussagen sind ein anderer Fall. Man kann also die Frage, ob und wie der Raum der Gründe und der Raum der Ursachen miteinander verbunden sind, bearbeiten, indem man die Frage behandelt, ob und wie Handlungsintentionen kausal relevant sind. Bevor ich auf Handlungsintentionen eingehe, will ich zunächst etwas zum Begriff der kausalen Beziehung sagen (II). Dann werde ich meine bisherige, verdinglichende Rede vom Geist und Geistigen präzisieren (III). Das sind zwei vorbereitende Schritte. In einem dritten Schritt werde ich kurz auf einen Aspekt im Physikalismus eingehen, die Wirksamkeit des Geistigen verständlich zu machen (IV). Das dient vor allem dazu, eine Annahme zu kritisieren, die auch nicht-physikalistische Geisttheoretiker unangetastet lassen: die Gleichsetzung der Welt mit der physischen Welt. Meine Kritik wird dann auch angeben, was ich mit »wohl verstandener Welt« im Aufsatztitel meine. Nach diesem Schritt werde ich mich um eine Erläuterung des Gedankens bemühen, dass die kausale Relevanz des Geistigen darin besteht, die Rolle von strukturierenden Ursachen zu spielen (V). Zuerst aber die zwei Erläuterungen zum Begriff der kausalen Beziehung und zum Begriff des Geistigen.

II. Zum Begriff der kausalen Beziehung Unter »kausaler Relevanz« von x für y verstehe ich den Beitrag, den x dafür leistet, dass eine kausale Beziehung mit y als Wirkung besteht. Die Aussaat (= x) ist kausal relevant für das Wachsen (= y) des Weizens. Die menschlichen Körperzellen namens T- Lymphozyten (= x) sind kausal wichtig für die Immunabwehr (= y) gegen humane Pilzpathogene. Die Verbindung von schlecht besicherten mit gut besicherten Krediten in Wertpapieren, die Verbriefung (= x ) ist kausal relevant für den Zusammenbruch (= y) des Interbankenhandels.

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Ausführlicher dazu Lutz Wingert: Was geschieht eigentlich im Raum der Gründe?, a. a.O.

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Nun ist der Begriff der kausalen Relevanz mit dem Begriff der kausalen Beziehung verbunden. Was aber ist eine kausale Beziehung? Das ist eine schwierige Frage, die ich nicht vollständig beantworten kann. (Ich muss also eine ausreichende Explikation meiner Rede von »Wirksamkeit« schuldig bleiben.) Ich möchte mich hier mit der folgenden vorläufigen Antwort begnügen: (1) Eine kausale Beziehung ist eine Beziehung, bei der etwas – gemeinhin die »Ursache« genannt – eine hinreichende Bedingung dafür ist, dass eine Änderung in der Welt eintritt oder ausbleibt. Etwas ist kausal relevant oder wirksam, wenn es zur Etablierung einer solchen Beziehung beiträgt.6 Diese allererste Antwort lässt viele Fragen zum Begriff der kausalen Beziehung offen. Welcher Art sind die Glieder dieser Beziehung? Sind sie immer Ereignisse? (Im fachsprachlichen Sinn von »Ereignis«, das eine raumzeitliche Entität bezeichnet, die nur einmal in einem Zeitintervall vorkommt.) Können auch Tatsachen, Eigenschaften, Substanzen Glieder der Kausalbeziehung sein? Diese Fragen hängen eng damit zusammen, was Kausalaussagen wahr sein lässt. Eine andere Frage betrifft die Rede von der hinreichenden Bedingung in der Formulierung (1). Wie kommt man mit dem Phänomen der Präemption zurecht, wenn man Ursachen mit hinreichenden Bedingungen zusammendenkt? – Auf diese Präemption will ich hier kurz eingehen. Denn ihre Betrachtung führt auf zwei Thesen, die für den weiteren Gedankengang wichtig sein werden. Mit dem Phänomen der Präemption ist die unstrittige, aber etwas rätselhafte Tatsache gemeint, dass Ursachen »ausgeschaltet werden«, wie David Lewis oder Jonathan Schaffer sagen;7 dass etwas hinreichend für ein Vorkommnis ist und gleichwohl nicht die Ursache davon ist. Ein beliebtes Beispiel stammt aus der Welt der Kriminalisten: Bevor der verhasste Diktator die vergiftete Vorspeise schlucken konnte, wurde er von einem Leibwächter erschossen. Die Dosis Arsen auf dem Löffel in seinem Mund hätte genügt, den Diktator zu töten; sie war eine hinreichend Bedingung gewesen. Aber sie war keine erfüllte Bedingung und daher nicht ursächlich. Mit Blick auf das Beispiel wird man sagen, dass die Zwischenglieder in der Kausalkette von der vermeintlichen distalen Todesursache »Gift« zur proximalen Todesursache fehlten: Eine proximale Ursache mag der massive Blutverlust des Diktators gewesen sein, der wiederum durch die Zerstörung der Halsschlagader und nicht durch die Zersetzung der Magenschleimhaut hervorgerufen wurde. Die distale Ursache für die Zerstörung der Halsschlagader war eben das abgeschossene Projektil. Es unterbrach die Kette zwischen der erwogenen distalen Ursache und einer proximalen Ursache: also zwischen der tödlichen Dosis Gift und der Zersetzung der Magenschleimhaut. Vgl. Georg Henrik von Wright: »The proposition that p is a cause of q is often equated with the proposition that p, by itself, is a sufficient condition of q. This is a great, but nevertheless useful, oversimplification.« – On the Logic of the Causal Relation (1973), wieder in: Causation, ed. by Ernest Sosa/ Michael Tooley, Oxford 1993, 113. 7 David Lewis: Causation as Influence, erweiterte Version in: Causation and Counterfactuals, ed. by John Collins/Ned Hall/L.A. Paul, Cambridge, Ma. 2004, 80–85; Jonathan Schaffer, Trumping Preemption, in: The Journal of Philosophy 97 (2000), 165–181. 6

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Damit will ich keine Lösung aller Probleme behaupten, die dem Kausalitätstheoretiker durch das Phänomen der Präemption bereitet werden. Das Beispiel soll zwei schlichte, für mein Thema aber wichtige Punkte illustrieren: (1) Erstens: Es gibt nicht die Ursache für eine Änderung im Weltlauf, sondern eine Kette von Ursachen. (2) Zweitens: Kausalaussagen sind kontrastive Aussagen. Mit der Rede von der Ursache wird ein Glied in einer Ursachenkette hervorgehoben und andere als Zwischenglieder eingestuft. Was hervorgehoben wird, hängt auch davon ab, was die kontrastierenden Aussagen sind, die erwogene Ursachen (und erwogene Wirkungen) angeben. So steht beispielsweise die Aussage: »Der fehlende Zugang zu Ressourcen wie Brennmaterial und Küchenherd, also die Armut der Eltern, ist kausal relevant für den Zinkmangel der Kinder« im Kontrast zu »Die schiere Unfähigkeit, eine Nahrung zeitaufwändig zuzubereiten, ist kausal relevant für den Zinkmangel.« Oder die kontrastierenden Kausalaussagen sind: »Die mit Phosphat aufgebaute pflanzliche Säure (die Phytinsäure) und nicht die mit Natrium gebildete pflanzliche Säure im Hirsebrei reduziert die Absorption von Zink im menschlichen Organismus und verursacht so den Zinkmangel.« Kausalaussagen sind kontrastive Aussagen und die relevanten Einheiten von Kontrastaussagen umfassen kontrastierte Ursachen oder kontrastierte Wirkungen. Dies passt gut zu der erklärenden Rolle von Kausalaussagen. Denn Kausalaussagen mit Hilfe von Weil-Sätzen sind Antworten auf solche kontrastive Warum-Fragen, die es mit Änderungen oder dem Ausbleiben von Änderungen in der Realität zu tun haben. Warum verfärbte sich sein Gesicht rot, obwohl er nicht am Kaminfeuer und auch nicht im Schein der roten Lampe saß? Warum schaltet der Motorradfahrer seinen Motor aus, obwohl er doch noch nicht am Ziel seiner Fahrt ist? Warum weichen westafrikanische Kinder hinsichtlich eines bestimmten Werts von Zink im kindlichen Organismus ab, obwohl Kinder der gleichen Entwicklungsstufe in anderen Ländern in großer Zahl einen höheren Wert aufweisen? Es ist wichtig, diesen Aspekt der Kontrastbildung bei kausalen Aussagen und Fragen nach kausalen Effekten zu beachten. Denn unter diesem Aspekt wird klar, dass Kausalbeziehungen je nach relevanten Kontrastierungen variieren. Man kann fragen: »Warum hat es den langjährigen Diktator tödlich erwischt?« und antworten: – »Weil sein Leibwächter die Belohnung wollte und nicht weil dieser den Diktator hasste.« Man kann aber auch fragen »Warum hat es den Diktator tödlich erwischt?« und dann antworten: »Weil das Projektil seine Halsschlagader traf und nicht weil sein Essen vergiftet war.« Ebenso wie Vorkommnisse können wir ein Benehmen unter dem Aspekt relevanter Kontrastklassen von Kausalaussagen in unterschiedlichen Kausalbeziehungen lokali-

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sieren. Er schämte sich (wurde rot im Gesicht), weil er sich an seinen Lapsus erinnerte und nicht weil er die prüfenden Blicke der gestylten Gäste auf seine ärmliche Kleidung spürte. Oder: Er wurde rot im Gesicht, weil sich die arteriovenösen Anastomosen verschlossen und dadurch mehr Blut durch die oberflächlichen Hautkapillaren floß8 und nicht weil viele Blutgefäße platzten. Die kausale Relevanz und Irrelevanz von Geistigem hängt davon ab, welche Art von kontrastiven Kausalaussagen und damit welche Art von Kausalbeziehungen man im Blick hat. Wenn man beachtet, dass Kausalaussagen zu explanatorisch relevanten Kontrastklassen von Aussagen gehören, dann fällt es einem leichter, einen ontologischen Pluralismus zuzulassen.9 Mit »ontologischem Pluralismus« ist gemeint, dass verschiedenartige Entitäten die Glieder einer Kausalbeziehung bilden können. Es können zum Beispiel Ereignisse oder Eigenschaften sein, die den Status einer Ursache haben. So verursachen die Eigenschaften der Phytinsäure den Zinkmangel und das Rotwerden im Gesicht wird verursacht von der plötzliche Kontraktion der Muskelzellen in den Hautgefäßen. Gemäß eines ontologischen Pluralismus können aber auch propositional strukturierte Entitäten wie zum Beispiel Tatsachen oder Intentionen den Status einer Ursache haben. Die Feststellung, dass eine Ursache-Wirkungsbeziehung oft in einer Übertragung von Energie besteht und propositionale Gebilde keine Energie übertragen können, rechtfertigt nicht schon die ontologische Privilegierung physikalischer Entitäten als Ursachen.10 Ursache-Wirkungsbeziehungen haben es zwar explanatorisch mit Änderungen (oder deren Blockaden) in der Welt zu tun. Aber diese Änderungen müssen keine physikalischen Änderungen durch Energieübertragung sein. Worin bestünde die physikalische Änderung, die die Änderung des Spitzensteuersatzes ist? Die Welt der Physik ist nicht die ganze Welt. Man muss sich die Kausalbeziehung nicht als Übertragung einer physikalischen Größe wie Energie denken und man muss nicht alle Änderungen in der Welt als Änderungen physikalischer Zustände auffassen. Eine Kausalbeziehung ist die Beziehung einer Abhängigkeit von Änderungen dessen, was in der Welt der Fall ist. Das sind abwehrende Argumente. Sie liefern nicht schon eine Antwort auf die Frage: Was macht Kausalaussagen wahr, darunter solche Kausalaussagen, in denen propositional strukturierte Entitäten als Ursachen oder als Wirkungen genannt werden? Ein befriedigender ontologischer Pluralismus muss eine Antwort darauf enthalten. Diese Antwort werde ich hier nicht geben können. Hier waren Hinweise von Johann Steurer hilfreich. Vgl. auch Peter B. Medawar/Jean S. Medawar: Von Aristoteles bis Zufall. Ein philosophisches Lexikon der Biologie, München 1986, 287, zitiert nach Michael Wolff: Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt/M. 1992, 162. 9 Vgl. Helen Steward: The Ontology of Mind, Oxford 1997, insbesondere 163–202; dies.: A Metaphysics of Freedom, Oxford 2012, 210–222. 10 Julian Nida-Rümelin macht darauf aufmerksam, dass in der gegenwärtigen Physik nicht nur dann von Ursachen gesprochen wird, wenn eine Energieübertragung vorliegt. Er führt das Beispiel von so genannten Transversalkräften an, die kausal verantwortlich für die Raumzeitstelle eines Teilchens sind, das sich reibungsfrei auf einer Bahn bewegt. Julian Nida-Rümelin: Ursachen und Gründe – eine Replik, in: Naturgeschichte der Freiheit, hg. von Jan-Christoph Heilinger, Berlin 2007, 274. 8

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Bevor ich näher auf die kausale Relevanz des Geistigen in der spezifischeren Form von Handlungsintentionen eingehe, sei die Rede vom Geistigen, Mentalen beziehungsweise von Geist erläutert. Seit Gilbert Ryle und Maurice Merleau-Ponty sehen wir ja teilweise zu Recht Gespenster vor uns, wenn jemand so redet. Dieses Misstrauen soll durch einige Erläuterungen zerstreut werden. Auch sollen diese Erläuterungen einsichtiger machen, warum man sich die Wirksamkeit des menschlichen Geistes mit Hilfe des Begriffs von einer strukturierenden Ursache begreiflicher machen kann. Das Strukturieren lässt sich nämlich als eine Aktivität verstehen, die für das Geistige charakteristisch ist. Nach meinen Bemerkungen zum Begriff des Geistes möchte ich kritisch auf einen Ansatz eingehen, die kausale Relevanz des Geistigen naturalistisch aufzufassen. Danach will ich etwas konstruktiver werden.

III. Zum Begriff des Geistigen Unter dem Wort »Geist« soll nichts Geheimnisvolles, nichts Ätherisches verstanden werden. Die Wörter »Geist« oder »Geistiges« sind zwar Substantiva. Aber sie bezeichnen keine substanzhaften Entitäten, sondern einen Aktivitätsmodus. Verben geben deshalb sprachlich oft besser das Geistige wieder. Solche Verben sind zum Beispiel: »streben«, »hegen«, »versuchen«, »ausprobieren«, »jagen«, »zimmern«, »warnen«» »koordinieren«, »sich beschäftigen mit«, »prüfen«, »rätseln«, »für wahr halten«, »auffordern«, »bedauern«, »genießen«, »trauern«, »fürchten«, »klagen«, »beraten«, »auffassen«. Damit ist nicht gesagt, dass Substantiva keine geeigneten sprachlichen Ausdrucksmittel sind. Auch Wörter wie »Urteil, »Gebrauchsanweisung«, »Stolz« oder »Bild« stehen für etwas Geistiges (wenn auch nicht immer für etwas Geistreiches). Wörter wie »Geist«, »Geistiges«, »Mentales« beschreiben (a) eine Aktivität, die ein Reagieren auf etwas Äußeres oder Inneres ist. Dabei wird dieses Reagieren an Maßstäben des Richtigen und Falschen gemessen oder beurteilt.11 (b) Dieses Beurteilen ist Teil der Aktivität selbst. Es ist ein internes Beurteilen und überdies auch Gegenstand von Reaktionen. Soweit wären alle Artefakte mit Rückkoppelungsmechanismen, also zum Beispiel Heizungen mit Temperaturfühlern auch schon ein Fall von Geistigem. Das sind sie nicht. Es fehlt ein drittes Charakteristikum von Geistigem: (c) Zu den beurteilenden Reaktionen oder Antworten, die für Geistiges wesentlich sind, gehören Bewertungen sowie das Erleben von Zuständen als bewertete Zustände. Pflanzen reagieren auf ihre Umwelt auch so, dass sie Zustände bewerten. Das zeigt sich daran, dass sie gedeihen oder verkümmern. Aber diese bewerteten Zustände werden von ihnen nicht als gut oder schlecht bewertet erlebt. Ein Stiefmütterchen mag schlapp oder elend aussehen, aber es ist nichts, was sich als schlapp oder elend erleben kann. Deshalb fallen Pflanzen ebensowenig wie intelligent gebaute Heizungen unter Geistiges. Neben dem maßstabsgebundenen Reagieren auf die Welt, neben der internen Maß11

Diese Formulierung ist ein Ergebnis von Diskussionen mit Wolf-Jürgen Cramm.

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stabsanwendung und neben der erlebenden Bewertung der Ergebnisse dieser Anwendung gehört zu geistigen Aktivitäten ein viertes Merkmal: (d) Die Aktivität wird verständlich unter Bezug auf die Maßstäbe und im Licht der Reaktionen auf die Erfüllung/Nicht-Erfüllung der Maßstäbe. Versteht man Wörter wie »geistig« oder »Geist« in der angegebenen Weise, so hat Geistiges wenigstens drei Eigenschaften: Normativität, Selbstorganisation, Verstehbarkeit.12 (1) Erstens: Geistiges hat einen normativen Zug. Es existiert in der Weise, dass zu seinem Sein ein Sollen gehört. (2) Zweitens: Geistiges ist selbstorganisierend. Etwas Geistiges ist von sich aus in seinem Dasein auf Maßstäbe ausgerichtet, die Sollzustände bezeichnen und wirksam sind. (3) Drittens ist Geistiges verstehbar: Es ist in dem Sinn verstehbar, dass Fragen des Typs »Warum soll die Aktivität stattfinden?« beantwortbar werden. Der Aussagegehalt dieser Antworten muss in Beschreibungen dieser Aktivität selbst vorkommen, wenn die Beschreibungen vollständig sein sollen. Geistiges ist für das, was den Aktivitätsmodus des Geistigen hat, verstehbar, wie bruchstückhaft auch immer. Deshalb sagen wir intutiv, dass ein Tier oder ein Mensch sich etwas bei seinem Verhalten gedacht hat, wenn wir verstehen, warum dieses Verhalten stattfinden soll oder sollte. Die verständlich machende Erklärung wird nicht bloß an das Explanandum herangetragen, sondern hat ein fundamentum in re, ein Gegenstück in der Sache. Nur Geistiges kann deshalb für sich auch unverständlich, intransparent sein. Elektrische Spannungsdifferenzen zwischen Nervenzellen und dadurch induzierter Stromfluss, Hämoglobinkonzentrationen und synchronisierte elektrische Entladungen sind Zustände respektive Vorkommnisse, die für diese Zustände und Vorkommnisse selbst weder verständlich noch unverständlich sind. Sie sind deshalb auch nichts Geistiges. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass solche naturwissenschaftlich beschreibbaren Zustände und Prozesse des Lebens Bedingungen für Geistiges sind. Ich hatte gesagt, dass mit Begriffswörtern wie »Geist« und »Geistiges« eine Art von Aktivität gemeint ist, für die erstens eingebaute Normativität, zweitens Selbstorganisation und drittens interne Verstehbarkeit charakteristisch sind. Pflanzen und technische Artefakte sind demnach nichts Geistiges. Aber das bedeutet nicht, dass nur Menschen Geist zukommt. Nichts am erläuterten Geistbegriff schließt aus, dass Tiere, insbesondere Tiere mit einem erlebnishaften Bewusstsein bewerteter Zustände Geist haben. Es gibt aber zumindest ein Spezifikum des Geistes, das Menschen zukommt. Es hat mit der Komponente der Normativität im Geistbegriff zu tun. Diese Komponente besteht darin, dass Geistiges von sich auf Maßstäbe des Guten und Schlechten, des Richtigen und Falschen ausgerichtet ist. Diese Maßstäbe können den Status natürlicher Funktionen haben. Was eine solche natürliche Funktion erfüllt, Anders Wolfgang Detel, der systemerhaltende Funktionalität, Repräsentationalität und Bewusstsein als Charakteristika des Geistigen ansieht: Geist und Verstehen, Frankfurt/M. 2011, 31–40; 331– 334. Ich kann hier nicht auf diese Alternative eingehen. 12

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ist gut und empfehlenswert oder sogar geboten (wenn es kein funktionales Äquivalent gibt). Und was diese Funktion nicht erfüllt, ist schlecht und vermeidenswert oder gar unzulässig. Die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung dieser Maßstäbe mit dem Status natürlicher Funktionen wird oft erlebt als Krankheit oder Degeneration, als Verfall oder als Gesundheit und Gedeihen. Das Messen an solchen Maßstäben und das Erleben der Ergebnisse der Maßstabsanwendung ist dann ein biologisches Bewerten. Bewertungen, die zu den Aktivitäten des menschlichen Geistes gehören, erschöpfen sich aber nicht in biologischen Bewertungen, denen zum Beispiel Zustände im limbischen System korrelieren. Es ist ein Spezifikum des menschlichen Geistes, Maßstäbe mit dem Status natürlicher Funktionen in Frage stellen zu können. Ein menschliches Leben mag gesund sein und somit viele Maßstäbe mit natürlicher Normativität erfüllen. Aber derjenige, der es durchlebt und führt, kann gleichwohl fragen: »Ist dieses Leben wirklich gut?« Es ist charakteristisch für den menschlichen Geist, an Maßstäben mit anfechtbarer Normativität ausgerichtet zu sein. 13 Soweit die Skizze des hier verwendeten Begriffs vom Geistigen. Sie umreisst ersichtlich keine physikalistische Auffassung vom Geistigen. Allerdings gibt es ernst zu nehmende Argumente für diese physikalistische Auffassung. Ich möchte nur ein Argument kurz diskutieren. Meine Diskussion dient dazu, die leitende Frage vor falschen Hintergrundannahmen zu schützen. Die leitende Frage war und ist: Wie muss man sich die Wirksamkeit des Geistigen denken, wenn man den Raum der Gründe und den Raum der Ursachen unterscheiden, nicht aber voneinander isolieren will? Ich glaube, dass die Behandlung dieser Frage oft eine Annahme mitschleppt, nämlich: Alles, was wirklich ist, ist physisch. Diese Annahme wird oft auch von nichtepiphänomenalistischen Theoretikern der mentalen Verursachung geteilt.

IV. Eine naturalistische Auffassung von geistiger Wirksamkeit und ihre Kritik Zunächst aber zu einem Argument für die physikalistische Geistauffassung, die diese Annahme macht. Die physikalistische Geistauffassung findet sich prägnant in einem Diktum des kalifornischen Linguisten und Kognitionswissenschaftler George Lakoff. »Alles Denken ist physisch«, sagt Lakoff ohne Vorbehalt.14 Diese These lässt sich als Schlussfolgerung aus einer Reihe von Prämissen verstehen: Warum das charakteristisch ist, lässt sich nicht leicht erklären. Ein möglicher Grund liegt im Gebrauch komplexer symbolischer Zeichen im Rahmen einer grammatikalisch sehr differenzierten Sprache. Zu diesem Zeichengebrauch gehört der Gedanke, dass die Zeichen etwas leisten sollen, zum Beispiel etwas darstellen sollen. Wegen dieses Gedanken kommt die Möglichkeit einer Differenz zwischen Richtigkeit und Falschheit zu Bewusstsein. Dieses Bewusstsein zeigt sich in Unterscheidungen wie »Sein versus Schein«, »Satz versus Tatsache«, »behaupten versus zutreffen«. Es ist ein Bewusstsein der Irrtumsfähigkeit. Mit dem Gebrauch komplexer symbolischer Zeichen ist der Geist der Kritik gesät. – Das Argument setzt voraus, dass dieser Gebrauch humanspezifisch ist. 14 George Lakoff/Elisabeth Wehling: Auf leisen Sohlen ins Gehirn. Politische Sprache und ihre heimliche Macht, Heidelberg 2007, 13. 13

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1. Der menschliche Geist, mithin das Denken von Menschen hat erkennbare Effekte in der Welt, er ist wirksam. 2. Das Wirksame ist etwas Wirkliches. 3. Alles, was wirklich ist, ist physisch. 4. Also ist das Wirksame physisch. 5. Also ist der menschliche Geist, das Denken physisch. In dieser Argumentation wird behauptet, dass alles, was wirklich ist, physisch ist.15 Aber mit dieser Behauptung verwechselt man eine Konstitutionsbedingung mit einer Rationalitätsbedingung. Es ist eine Bedingung für die Rationalität von Behauptungen, dass sie nicht im Widerspruch stehen zu den gut begründeten Aussagen der Physik. Aber daraus folgt nicht, dass wir vernünftigerweise nur das behaupten dürfen, was präsumtiv solche Tatsachen konstatiert, die von physikalischen Entitäten konstituiert werden. Unsere Behauptungen über die Welt sollten ja auch mit den Aussagen der Logik verträglich sein. Daraus folgt jedoch nicht, dass alle Aussagen über die Welt nur logische Sachverhalte konstatieren sollten. Nun sehen viele physikalistische Naturalisten in dem physikalischen Energieerhaltungssatz eine solche Aussage, die nur dann beachtet werden kann, wenn man das Geistige physikalistisch auffasst.16 (Gemeint ist die Aussage, dass die Summe aller Arten von Energie – kinetische, elektrische, magnetische Energie und so weiter – bei Vorgängen mit Zufuhr und Entzug von Energie in einem System konstant bleibt.) Aber dieser Energieerhaltungssatz ist auf geschlossene Systeme gemünzt. Menschen sind als Organismen offene Systeme, das heißt Systeme, die wie eine Sanddüne auch in einem stofflichen und energetischen Austausch mit anderen Systemen stehen. Die Energie, die zum Beispiel frei wird, wenn ein Rhodopsin in einem Sehstäbchen der menschlichen Netzhaut zerfällt und Reaktionen bis hin zum visuellen Kortex auslöst, ist größer als die Energie des Photon, das diesen Rhodopsinzerfall auslöst. Dieser photochemische Prozess verletzt nicht den Energieerhaltungssatz, erinnert aber an dessen Geltungsbereich. Physikalistische Geisttheoretiker, die mit dem Energieerhaltungssatz argumentieren, vergessen, dass wir letztlich Dank der Sonne und der Pflanzen »Batterien sind«, wie Michael Hampe sagt.17 Natürlich können wir offene Systeme zu Teilen von geschlossenen Systemen machen. Wir können uns zum Beispiel als Teil des Kosmos ansehen. Aber tut das die Neurobiologie?

Selbst ein von Wissenschaftsgläubigkeit weit entfernter Autor wie John Dupré hält das für eine offensichtliche Wahrheit: »Though I have been critical of many interpretations of this doctrine (= naturalism, L.W.), I do subscribe to a very modest kind of physicalism. To begin with, this is the view that everything that exists is made of the sort of stuff described by physics and chemistry.« John Dupré: How to be naturalistic without being simplistic in the study of human nature, in: Naturalism and Normativity, ed. by Mario de Caro/David Macarthur, New York 2010, 289 f. 16 Beispielhaft für die Selbstverständlichkeit, mit der so argumentiert wird: Hans Flohr: Der Raum der Gründe, in: Hirn als Subjekt. Philosophische Grenzfragen der Neurobiologie (= Sonderband 15 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie), hg. von Hans-Peter Krüger, Berlin 2007, 169. 17 Mündliche Äußerung inklusive des Beispiels in einem Gespräch am 25.8.2011. 15

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Das genannte physikalistische Argument stützt nicht die These: »Alles, was wirklich ist, ist physisch.« Es ist ein Gebot der Vernunft, die ontologischen Festlegungen gut begründeter Aussagen in der Physik zu beachten. Aber daraus folgt nicht, dass es nur solche ontologischen Festlegungen geben darf. Man sollte deshalb einen inklusiveren Begriff von wirklich oder real verwenden: Wirklich oder real ist alles, was in seinem So-und-so-Sein oder in seiner Fortexistenz unverfügbar ist. Die Welt – wohl verstanden – ist alles, was unverfügbar ist. Diese Unverfügbarkeit weist Grade auf, je nachdem wie man den Kreis derer (= X) bestimmt, für die etwas unverfügbar ist. Ist das X ein Schüler, dann ist die Statuseigenschaft eines Stücks Papiers als Zeugnis etwas Reales. Ein Schüler – auch wenn er ein Baron ist – kann sich kein Zeugnis ausstellen. Ist das X eine menschliche gesetzgeberische Instanz, dann ist das anders. Die Instanz verfügt gegebenenfalls willkürlich, was als Zeugnis gilt. Allerdings ist die Eigenschaft, aus Zellulose zu sein, keine Tatsache, die von der Meinung einer Gesetzgebungsautorität über diesen materiellen Gegenstand abhängt. Diese chemische Eigenschaft ist unverfügbarer als die Statuseigenschaft, ein Zeugnis zu sein. Der Begriff des Realen ist also kein absoluter Begriff wie der Begriff des Kreisrunden. Nichts spricht dafür, diesen Begriff exklusiv auf das Physische anzuwenden. Nichts spricht dafür, die Welt, verstanden als eine Ordnung von Realem, nur als die physikalische Welt aufzufassen. Wenn man einen nicht-physikalistisch verengten, eben inklusiveren Begriff vom Wirklichen oder Realen verwendet, dann hat das unter anderem einen Vorteil für das Nachdenken über die kausale Relevanz des Geistigen. Man kann dann Organismen als etwas Reales zulassen und muss Zweck-Mittel-Beziehungen, die für Organismen charakteristisch sind, nicht als Ursache-Wirkungs-Beziehungen vom Typ »Reiz – Reaktion« oder vom Typ der Impulsübertragung zwischen Billardkugeln auffassen.18 Auch wird man nicht dazu verleitet, Handlungen, die ja etwas Reales sind, sogleich in eine Kategorie mit physikalistisch beschreibbaren Vorkommnissen zu packen. Man muss beispielsweise nicht ein begrüßendes Händeschütteln als ein Vorkommnis von derselben Art auffassen wie das Schütteln der Blätter im Herbstwind. Entsprechend muss man nicht sogleich davon ausgehen, dass die kausale Relevanz von x für das Zustandekommen eines Händeschüttelns zwischen Churchill und Stalin bei der Konferenz von Jalta im Februar 1945 der kausalen Relevanz von y gleicht, die beim Schütteln der Blätter im Spiel ist. Diese Gleichartigkeit der jeweiligen kausalen Wichtigkeit wird aber bei der Frage nach der kausalen Relevanz des Geistigen oft unterstellt. Und das hat eben auch mit der Meinung zu tun, alles, was wirklich ist, sei physisch. Die Formulierung des sogenannten Exklusionsproblems in der Philosophie des Geistes zehrt genau von dieser Meinung: »Man geht davon aus, dass das Physische und das Geistige verschieden sind, dass das Reich des Physischen kausal vollständig ist, und dass das Geistige multipel im Antonio Damasio hat die Vernachlässigung des Organismusbegriffs in der Neurobiologie beklagt: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, München 2000, 55; dt. Übersetzung von The Feeling of What Happens. Body and Emotion in the Making of Consciousness, New York 1999. 18

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Physischen realisiert ist […]. Daraus folgt, dass es für jedes Ereignis und daher insbesondere auch für jedes Verhalten hinreichende physische Ursachen gibt. Und das bedeutet, dass für das Geistige kein kausaler Job zu tun bleibt – die kausalen Kräfte des Geistes scheinen wegzutrocknen und damit ausgeschlossen zu werden.«19 Mit dem Exklusionsproblem ist dann die folgende Schwierigkeit gemeint: Wie kann man den Ausschluss des Geistigen als kausal irrelevant vermeiden, gegeben die kausale Geschlossenheit der physikalischen Welt?

V. Die kausale Relevanz des Geistigen als strukturierende Ursache Wie sollte man sich nun die kausale Relevanz des Geistigen denken? Ich vermute, dass die kausale Wichtigkeit des Geistigen in dessen Rolle besteht, eine strukturierende Ursache dafür zu sein, dass kausale Effekte ausgelöst werden können. Ich werde zunächst etwas zum Begriff der strukturierenden Ursache sagen und dann zur Frage, warum man die kausale Relevanz des Geistigen mit diesem Begriff erläutern sollte. Danach werde ich meinen Gedankengang auf Intentionen und Handlungen einschränken. Die Idee ist, dass eine Handlungsintention die Rolle einer strukturierenden Ursache für Handlungen ist und dass Handlungen nicht mit Körperbewegungen identisch sind. Eine Handlung ist eine Einheit von Körperbewegungen und Intention. Sie ist eine verkörperte Intention und kann nicht rein physikalistisch beschrieben werden. Der Begriff einer strukturierenden Ursache ist ein Kontrastbegriff zum Begriff von einer auslösenden Ursache. Er stammt von Fred Dretske; ein ähnliches Konzept entwickelt E.J. Lowe.20 Eine strukturierende Ursache sorgt dafür, dass bestimmte Dinge kausale Effekte auslösen. Genauer, sie sorgt dafür, dass bestimmte kausale Effekte möglich werden, die dann durch diese Dinge ausgelöst werden. So ist das Öffnen des Heißwasserhahns in der Dusche die auslösende Ursache dafür, dass aus dem Duschkopf heißes Wasser fließt. Die strukturierende Ursache dafür ist, dass ein ausreichender Wasserdruck herrscht, dass der Heißwasserzulauf mit dem Heißwasserkessel verbunden ist, und so weiter.21 Entsprechend kann man mit Blick auf das schon erwähnte Beispiel von dem jungen Motorradfahrer sagen: Die auslösende Ursache für das Ausschalten des Motors besteht in einer ganzen, geordneten Reihe von Elementen, die zum Handlungsvollzug gehören: das registrierende Sehen der Einfahrt, das Drosseln des Tempos durch

19 Wolfgang Detel: Forschungen über Hirn und Geist, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), 910. 20 Vgl. Fred Dretske: Mental Events as Structuring Causes, in: Mental Causation, ed. by John Heil/Albert Mele, Oxford 1995. – E. J. Lowe: Subjects of Experience, Cambridge 1996, 83/Anmerkung. Lowe spricht von »enabling« und »initiating causes«. Siehe auch E. J. Lowe: Personal Agency, Oxford 2008, 34–38, 54 f. Ich teile allerdings nicht die Auffassung von Dretske, dass Intentionen geistige Ereignisse sind. Intentionen sind keine Ereignisse. Sie sind das nicht, weil sie kritisierbar sind und weil Ereignisse nicht kritisiert werden können. Intentionen sind eine Art bejahende Stellungnahme. 21 Vgl. Dretske: Mental Events, a. a.O., 127.

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das Drehen des Gasdrehgriffs, das Bremsen, das Betätigen des Kupplungshebels, um das Getriebe vom Motor zu trennen, sodann das Umlegen des Kipphebels am Motorradlenker in die Off-Stellung. Auf die strukturierende Ursache kommt man, wenn man fragt: Warum lässt sein Anblick der Einfahrt den Motorradfahrer das Tempo drosseln und bremsen, warum lässt ihn der propriozeptive Eindruck der Trägheitskraft auskuppeln und so weiter? – Das, was diese Faktoren ihre Rolle als zusammenwirkende, auslösende Ursache spielen lässt, ist die Absicht des Fahrers, der Bitte der Mutter zu folgen. Der gleiche Anblick der Einfahrt, der gleiche propriozeptive Eindruck in Folge des Abbremsens kann dazu führen, dass noch einmal der Gasdrehgriff nach unten gedreht wird, so dass der Motor fauchend aufheult, und dass der Schalter für den Motor nicht umgelegt wird – eben wenn die Absicht nicht die gleiche ist. Überdies kann die gleiche Absicht funktionale Äquivalente zu diesen Komponenten der auslösenden Ursache identifizieren und auswählen (scharfes Abbremsen, Ausschalten, Schieben und so weiter). Soweit eine Bemerkung zum Begriff der strukturierenden Ursache. Warum sollte man diesen Begriff dazu verwenden, die kausale Relevanz des Geistigen zu erläutern? – Weil das Strukturieren eine geistige Aktivität sein kann. Eine Eigenschaft von geistiger Aktivität ist es, Sein-Sollens-Beziehungen herzustellen. Das Strukturieren besteht in einem Inbezugsetzen von Gegebenheiten zu etwas Gesolltem unter dem Aspekt der Erfüllung von Sollensbedingungen. Dieses Strukturieren kann zwar die Form des Planens annehmen, muss es aber nicht. Wichtiger hier ist, dass sich das Strukturieren nicht bloß in einem Einstufen mit dem Ergebnis einer Rangordnung erschöpft. Das Strukturieren ist auch ein Identifizieren und Auswählen von Gegebenheiten, die zur Erfüllung der Sollensbedingungen beitragen. Es ist dann ein Konfigurieren. Nun ist eine motivierte Handlung der augenscheinlich geläufigste Übergang vom Raum der Gründe in den Raum der Ursachen. Denn einerseits hat sie Gründe, die als Handlungsabsichten Beweggründe oder Motive sind; andererseits hat die Handlung Wirkungen in der Welt, oft unerwünschte und manchmal auch gewollte Wirkungen. Auch deshalb ist es sinnvoll die Frage nach der Wirksamkeit des menschlichen Geistes am Beispielsfall des Handelns zu erörtern. Handlungen sind Einheiten von Körperbewegungen und Absichten. Handlungsabsichten beinhalten Erfolgsbedingungen für die Handlungen. (Erfolgsbedingungen sind das, was erfüllt sein muss, wenn eine Handlung erfolgreich sein soll.) Der junge Motorradfahrer hat die vorgängige Absicht, die mütterliche Bitte zu erfüllen, dass er vor seiner nächtlichen Einfahrt in die stille Wohnstraße den Motor ausschaltet. Diese Absicht gibt ungefähr an, was die Bedingungen seiner erfolgreichen Handlung sind – eben dass der Motor seines Fahrzeugs in der Wohnstraße ausgeschaltet ist, und zwar schon vor seiner nächtlichen Einfahrt in die Straße. Wir beschreiben oft Handlungen mit sogenannten Erfolgswörtern: »heilen«, »in Kenntnis setzen«, »ein anvertrautes Geheimnis bewahren«, »aufräumen« oder eben »den Motor ausschalten«. Diese Erfolgswörter nennen die Handlungen, indem sie die jeweils intendierten Wirkungen der Handlungen angeben. Das Heilen hat die Wirkung, dass eine Heilung eintritt, das Ausschalten des Motors hat die Wirkung, dass der Mo-

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tor ausgeschaltet ist. Die Erfolgsbedingungen für so beschriebene Handlungen sind unterbestimmt. Sie geben nicht an, wie man die Handlung vollziehen kann. Allerdings enthält eine Handlungsabsicht auch eine minimale, anfechtbare Kenntnis, wie die Handlung zu Stande gebracht werden kann, und auch eine Kenntnis, wie sie nicht ausgeführt werden kann. Das unterscheidet eine Handlungsabsicht oder Handlungsintention von dem bloßen Wunsch, etwas zu tun. Es ist ausgeschlossen, dass man beabsichtigt, einen Patienten zu heilen, und dass man keinerlei Kenntnis irgendwelcher Schritte in der Behandlung des Patienten beansprucht. Solche Kenntnisse haben spezifischere Erfolgsbedingungen zum Inhalt. Wer sie hat, kennt Ausführungsbedingungen oder Implementationsbedingungen für eine Handlung.22 In der Ausführung einer Handlung wird die Absicht des Handelnden spezifischer. Der Motorradfahrer hat jetzt nicht nur die Absicht, eine Bitte zu erfüllen, sondern er beabsichtigt jetzt, den Gasdrehgriff am Lenker tempodrosselnd nach oben zu drehen; und – sehr kurze Zeit später – beabsichtigt er, den Kipphebel für den Motor in die OffStellung zu drücken. Es wäre aber falsch, sich diese Spezifikationen einer Handlungsabsicht nur als eine Aneinanderreihung von spezifischeren Gedanken vorzustellen, die sprachlich in Absichtsäußerungen dargestellt werden. Denn das hieße, das Handeln durch das Denken oder Reden über Handlungen zu ersetzen. Es kommt nicht einfach nur zu einer solchen Aneinanderreihung. Vielmehr kommt es zu einer geordneten Abfolge von Körperbewegungen wie zum Beispiel dem Drehen des Gasdrehgriffs, dem Ziehen und Treten der Bremse, dem Ziehen des Kupplungshebels, dem Umlegen des Kipphebels. Was zu Anfang nur ein innerlich gemurmelter Vorsatz oder eine Absicht war, der mütterlichen Bitte nachzukommen, nimmt im Zuge der Handlungsausführung eine wahrnehmbare Gestalt an, die die Absicht ausdrückt. Die Handlung im Vollzug, also das Handeln, ist Ausdruck einer Absicht.23 Deshalb kann man an einem Handeln eine Absicht ablesen oder erkennen, auch wenn man vielleicht nicht alle Absichten an ihr ablesen kann, weil der Ausdruck unvollständig ist. Da ein Handeln der Ausdruck einer Absicht ist, kann die Handelnde mit ihrem Handeln jemandem auch etwas zu verstehen geben. Ein Handeln lässt eine Absicht erkennen oder kann sie zu verstehen geben. Das gehört zum epistemischen beziehungsweise zum kommunikativen Aspekt der These, eine Handlung (= ein Handeln) sei Ausdruck einer Absicht. Wichtiger mit Blick auf die kausale Rolle von Intentionen ist ein ontologischer Aspekt: Ein Handeln, verstanden als Ausdruck einer Absicht, ist eine verkörperte Intention. Das hat Konsequenzen dafür, wie man Körperbewegungen und Intentionen im Handeln verstehen muss.

22 Vgl. Pierre Livet/Jean-Luc Petit: Problems of Contemporary »Theory of Action«, in: Naturalizing Intention in Action, ed. by Franck Grammont/Dorothée Legrand/Pierre Livet, Cambridge, Ma. 2010, 30–31. 23 Das erklärt eine These von Elizabeth Anscombe: »The primitive sign of wanting is trying to get«, G.E.M. Anscombe: Intention, Oxford 41979, § 36, 68; dt. Absicht, Berlin 2011, § 36, 106.

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Eine Handlungsintention haben heißt auch, als leibhafter Akteur eine bestimmte Körperhaltung zu bewahren oder sich in einer bestimmten Art und Weise zu bewegen;24 nämlich in einer Weise, die sensibel ist für Hindernisse und für Fehler (»so geht’s nicht«) und die responsiv ist für Korrekturmöglichkeiten (»aber so geht’s«) sowie für günstige Umstände (»so läuft’s glatter«), also für Gelegenheiten und für Mittel. Umgekehrt sind die Körperbewegungen, die eine Intention verkörpern, nicht bloß Bewegungen mit biomechanisch und physiologisch beschreibbaren Eigenschaften. Sie sind Bewegungen mit dem normativen Status, zur Erfüllung der Intention, also zur Erfüllung der spezifischen Erfolgsbedingungen der Handlung beizutragen. Körperbewegungen als Vollzüge von Handlungen haben die normative Statuseigenschaft, Erfüller von Erfolgsbedingungen zu sein. Wegen dieser Statuseigenschaft können auch sogenannte Basishandlungen nicht vollständig mit neurobiologischen und biomechanischen Begriffen beschrieben werden.25 Diese Eigenschaft lässt Handlungen eine Abfolge von Bewegungen sein, die auf die Erfolgsbedingungen hin geordnet ist. Ein Handeln besteht darin, eine Absicht zu realisieren, indem der Handelnde Körperbewegungen als Erfüller von Erfolgsbedingungen vollzieht. Die in den letzten Abschnitten dargestellten Überlegungen zum Handlungsbegriff sind zweifellos skizzenhaft. Sie sollten aber genügen, um einsichtiger zu machen, warum eine Handlung eine Einheit von Körperbewegungen und Intention ist.26 Wenn man diese Einheit beachtet, dann können die kausalen Effekte von Handlungen nicht mehr Körperbewegungen zugerechnet werden, die vollständig physikalistisch beschrieben werden. Man hat dann in der Theorie nur noch die Wahl, auf diese Zurechnung zu verzichten oder Handlungen jede kausale Wirksamkeit abzusprechen. Dass eine Handlung eine Einheit aus Körperbewegungen und Intentionen ist, besagt zweierlei: Man kann erstens Körperbewegungen und Intention nur um den Preis isolieren, dass die Handlung verschwindet, so wie ein Rad aufhört, ein Rad zu sein, wenn man Felge und Speiche trennt. Und zweitens hören Körperbewegungen und Intention auf, Handlungselemente zu sein, wenn man sie isoliert. So wie Felge und Speiche aufhören, Teile eines Rads zu sein, wenn man sie trennt, und nur noch ein kreisförmiges Metallband beziehungsweise ein metallener Stab sind.

Wenn man nicht nur von Körperbewegungen, sondern auch von Körperhaltungen spricht, dann kann man Unterlassungshandlungen berücksichtigen: Der höfliche Gast unterlässt es, ein weiteres Stück Schokoladentorte zu nehmen, indem er beim beiläufigen Blick auf die geschrumpfte Torte seine Hände da lässt, wo sie schon sind. (Die Augenbewegung sei hier vernachlässigt.) Gleichwohl ist es ausgeschlossen, dass man handeln kann, ohne etwas mit seinem Körper zu tun, was eine Erfolgsbedingung erfüllen soll. Das Tun besteht zumindest darin, seine eingenommene Körperhaltung zu bewahren. – Ein ähnliches Beispiel, nicht aber die hier vorgeschlagene Interpretation findet sich bei Jennifer Hornsby: Agency and Actions, in: Agency and Action, ed. by John Hyman/Helen Steward, Cambridge 2004, 5. 25 Basishandlungen sind solche Handlungen, die in Handlungssätzen als letztem Glied einer »indemKette« beschrieben werden: »Der Motorradfahrer erfüllte die Bitte, indem er sich einen Merkzettel schrieb, indem... und indem er den Motor ausschaltete, indem er den Kippschalter umlegte.« 26 Sie sind auch als ein Versuch zu verstehen, genauer zu klären, was Geert Keil den »Vollzugscharakter des Handelns« nennt. Vgl. Geert Keil: Handeln und Verursachen, Frankfurt/M. 2000, 143. 24

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Die Körperbewegungen können nicht von der Intention gelöst werden, weil sie die Statuseigenschaft haben, Erfüller der Intention zu sein. Wegen dieser Eigenschaft nennen wir eine Körperbewegung richtig, geschickt oder virtuos. Und wegen des Mangels dieser Eigenschaft nennen wir eine Bewegung falsch, umständlich oder plumb. Isoliert man die Körperbewegungen von dieser Bezogenheit, dann hören sie auf, der gelingende Vollzug oder der missratene Versuch einer Handlung zu sein. Allerdings kann man Körperbewegungen von einer Intention unterscheiden, und zwar in Hinsicht auf Eigenschaften, kraft derer sie die genannte Statuseigenschaft haben oder ihrer ermangeln. Umgekehrt kann die Intention im Handlungsvollzug nicht von der Körperbewegung isoliert werden, weil sie eine Bestimmtheit der Körperbewegung ist; eben eine bestimmte Art und Weise, den Körper zu bewegen. Die Intention im Handlungsvollzug kann ebensowenig davon isoliert werden, wie eine aufgetragene Farbe als Bestimmtheit einer Oberfläche von der Fläche getrennt werden kann. Auch die Intention lässt sich jedoch von der Körperbewegung unterscheiden, nämlich in Hinsicht auf verschiedene mögliche Bestimmtheiten von ihr. Die Intention kann in Gestalt von verschiedenen Körperbewegungen eine Bestimmtheit annehmen. Man kann ja mit verschiedenen Bewegungen den Schalter in die beabsichtigte Off-Stellung bringen, dass heißt mit verschiedenen Körperbewegungen eine spezifische Absicht, mithin eine Implementationsbedingung erfüllen. Philosophen wie John Searle, Brian O’Shaughnessy und John McDowell sprechen von »intention in action«, um diese Einheit von spezifischer Intention und Körperbewegungen auszudrücken.27 Man kann die Rede von »intention in action« durchaus wörtlich als Absicht in Aktion, als tätige Absicht verstehen. Eine Absicht in Aktion zu sein macht die Rolle der Intention als strukturierende Ursache aus. Ich hatte das Strukturieren unspezifisch als ein Inbezugsetzen von Gegebenheiten zu etwas Gesolltem unter dem Aspekt der Erfüllung von Sollensbedingungen erläutert. Mit Blick auf Handlungen sind die Sollensbedingungen – spezifischer bestimmt – Implementationsbedingungen. Die Absicht in Aktion als strukturierende Ursache setzt Handlungsimpulse und Handlungsumstände in Beziehung zu den Implementationsbedingungen für eine Handlung und bewertet sie als Erfüller oder Nicht-Erfüller dieser Bedingungen. Die Absicht in Aktion bringt auch Handlungsumstände in Verbindung zu diesen Bedingungen. Sie identifiziert dadurch situative Umstände als Hindernisse oder als günstige Gelegenheiten. Und sie gibt partielle Handlungsaufgaben und mögliche Handlungsschritte für den Handelnden an. Durch diese Angaben und jene Identifikationen beschränkt sich die Rolle der Absicht nicht auf die Rolle einer bewertenden Instanz. Sie besteht auch in einem Konfigurieren: Die situativ möglichen und vielleicht auch erforderlichen Bewegun-

27 John Searle: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge 1983, 84, 93 ff.; dt. Intention. Eine Abhandlung zur Philosophie des Geistes, Frankfurt/M. 1991, 113 ff., 124 ff.; ders.: Rationality in Action, Cambridge, Ma. 2001, 44–45. B. O’Shaughnessy: Searle’s Theory of Action, in: John Searle and His Critics, ed. by Ernest Le Pore/Robert van Gulick, Oxford 1991, 277. John McDowell: Five Lectures, Ms February 2008, II. Lecture.

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gen werden zu einer geordneten Abfolge zusammengefügt oder konfiguriert, die einen Handlungsvollzug ausmacht. Bevor ich abschließend auf ein Bedenken eingehe, möchte ich die Überlegung zur kausalen Relevanz des Geistigen resümieren: Mit der kausalen Relevanz des Geistigen war nicht so etwas wie die Macht der Ideen gemeint, zum Beispiel die Macht der Idee von einer gerechten Gesellschaft. Es war nur die Rede von Handlungsabsichten gemeint, die kausal relevant sind. Handlungsabsichten sind als Absichten in Aktion, als »intentions in action« strukturierende Ursachen. Eine Absicht in Aktion ist eine Ursache dafür, dass eine Handlung zu Stande kommt. Diese Handlung löst kausale Effekte in der Welt aus, ist also eine auslösende Ursache. Zu den Effekten können solche tatsächlichen Wirkungen zählen, die beabsichtigt sind und die mit Erfolgswörtern für Handlungen beschrieben werden. Die kausale Rolle von Handlungsabsichten – so die These – besteht in ihrem Beitrag, dass es solche auslösenden Ursachen wie Handlungen (= verkörperte Intentionen) gibt. Es handelt sich allerdings nur um einen Beitrag. Deshalb spreche ich auch nur von kausaler Relevanz des Geistigen. – Warum nur ein Beitrag? Weil für das Zustandekommen einer Handlung auch sogenannte Motorintentionen gehören, wie Marc Jeannerod sie nennt.28 Motorintentionen sind neuronale Aktivitätsmuster mit der funktionalen Rolle, Repräsentationen von einzelnen Handlungsaufgaben: sogenannte motor images zu erstellen. Diese Motorintentionen sind unbewusst und bleiben es, sind also der bewussten Kontrolle entzogen. Sie bilden sich als solche schneller und verschwinden auch schneller als bewusste Vorstellungen von Handlungsschritten. Das ist für den gelingenden Handlungsvollzug zweckmäßig. Phänomenologisch ist diese Zweckmäßigkeit von Gerd Müller, einem Fußballer und Rekordtorschützen des FC Bayern München in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, lapidar beschrieben worden: »Wenn’d vor dem Tor nachzudenken beginnst, ist’s meistens eh schon zu spät.« Es gibt neben organisierenden Absichten in Aktion auch neurobiologische, unverfügbare Faktoren für erfolgreiche Handlungen. Das sind zum Beispiel biologische Ursachen dafür, dass sich Motorintentionen in der erforderlichen Weise bilden. Warum sollten wir uns als Handelnde über diese Unverfügbarkeit wundern? Jedes menschliche Handeln ist ja ein mehr oder weniger zuversichtliches Wetten auf den Lauf der Dinge. Zu dieser Zuversicht gehört beim gesunden Menschen das Vertrauen, dass unverfügbare biologische Prozesse des eigenen Leibes funktionsgerecht ablaufen.

Schluss Abschließend möchte ich eine Kritik besprechen, die sich an meinen Überlegungen entzünden kann. Dieser sinnkritische Punkt findet sich zum Beispiel bei Wolf Singer: »Wenn mit mentaler Verursachung gemeint ist, dass immaterielle Vorgänge, die ledigMarc Jeannerod: Motor Cognition. What Actions Tell the Self, Oxford 2006, 4, 58 f. Ich klammere hier das Problem aus, das der Ausdruck »Motorintentionen« birgt. 28

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lich im ›Bewusstsein‹ existieren und keine weitere materielle Entsprechung haben, auf neuronale Prozesse einwirken, um diese so zu beeinflussen, (…) dass der Gedanke zur Tat wird, dann ist diese Sicht der mentalen Verursachung aus neurobiologischer Sicht nicht nachvollziehbar.«29 Bin ich nicht doch auf die von Singer kritisierte spiritistische Auffassung von der kausalen Rolle des Geistigen festgelegt? Muss man sich die Wirksamkeit des Geistigen nicht so ätherisch vorstellen, wenn man, wie Ned Block und Wolfgang Detel sagen, das »Wegtrocknen« der kausalen Kraft des Geistigen verhindern will?30 Nun hatte ich mit Blick auf den Beispielsfall von Handlungen gesagt: Handlungsbezogene Intentionen haben den Status von strukturierenden Ursachen. Sie tragen als intentions in actions durch die Konfiguration von Körperbewegungen dazu bei, dass es bestimmte Wirkungen gibt. Aber was genau an den durch intentions in action zu Stande gebrachten Handlungen ist für die Änderungen in der Welt kausal verantwortlich? Was genau ist kausal verantwortlich dafür, dass Motorradmotoren ausgeschaltet sind oder dass die Zinkabsorption bei westafrikanischen Kindern von der eines gesunden kindlichen Organismus abweicht? Sind es die Körperbewegungen oder die Absichten? Meine Antwort war: Es sind Handlungen, die als verkörperte Intentionen ein Tandem von Intention und Körperbewegung bilden. Man kann hier die kausalen Effekte nicht einem einzelnen Bestandteil zurechnen. Ebensowenig wie allein ein Fahrradpedal ohne Tritt eine Fortbewegung mit dem Rad erzeugt, so erzeugt allein ein Tritt ohne ein Pedal eine Fortbewegung. Die Überlegung zu der Zusammengehörigkeit von Intention und Körperbewegungen sollte einen Dualismus abwehren, nämlich den Dualismus kausaler Rollen: »Entweder physische oder mentale Rollen«. Das schließt nicht aus, dass man kausale Erklärungen der einen oder der anderen Art gibt, je nach den relevanten Kontrastierungen: »Warum wurde er rot?« –»Weil er sich an seinen Lapsus erinnerte und nicht weil er wieder an die fremden Blicke auf seine ärmliche Kleidung dachte.« Der physiologische Vorgang des Errötens ist Teil der erklärungsbedürftigen Reaktion, also der Scham, aber er ist kein erklärungsbedürftiger Teil. – »Warum wurde er rot?« – Weil mehr Blut durch die oberflächlichen Hautkapillaren floß und nicht weil viele Blutgefäße platzten.« Die Bewertung eines eigenen Benehmens ist Teil der Scham, aber in diesem Fall kein erklärungsbedürftiger Teil. Man kann die Hinsichten auf Handlungen unter einem geistigen oder unter einem physischen Aspekt auch verselbständigen und Warum-Fragen in Bezug auf Änderungen fortgesetzt stellen. Wenn man eine Handlung unter dem physischen Aspekt der zugehörigen Körperbewegungen betrachtet, dann setzt man sie in Relationen zu natürlichen Zuständen und Vorkommnissen. Ihr Autor wird als lebendiger Körper in einer ökologischen Nische und als Materie im Kosmos betrachtet.

Wolf Singer: Neuronale und bewusste Prozesse – Eine schwierige Beziehung, in diesem Band, S. 469. 30 Vgl. Detel: Forschungen über Hirn und Geist, a. a.O. und Ned Block: Do Causal Powers Drain Away?, in: Philosophy and Phenomenological Research 67 (2003), 110–127. 29

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Unter dieser Perspektive laufen die physikalisch beschreibbaren Kausalketten durch Organismus und Körper hindurch, wie Geert Keil einmal in einer Diskussion sagte. Das besagt das biblische Wort aus dem Ersten Buch Mose Kapitel 3 Vers 19: »(Vom Ackerboden) bist Du ja genommen. Denn Staub bist Du, zum Staub mußt Du zurück«. Und das meinte wohl auch der US-Physiker William Alfred Fowler – 1983 mit dem Nobelpreis geehrt – als er sagte, dass wir Menschen nichts anderes seien als Sternenstaub.31 Gewiss, mit dieser Aussage werden wir Menschen nicht mehr im Raum der Gründe lokalisiert. Aber so platziert erkennen wir uns auch nicht mehr als aktive Mitglieder im Raum der Ursachen.

Zitiert nach Arno Ros: Mentale Verursachung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 56 (2008), 175/Anm. 25. 31

Die Gedankenleser. Gründe für Grenzen neurophysiologischer Ursachenforschung Peter Janich

0) Einleitung Als unkonventioneller Anfang meines Vortrags mag mir eine Geschichte gestattet sein, die sich zutrug, als ich etwa 14 Jahre alt war. In einem großen landwirtschaftlichen Betrieb nahe Regensburg (ich bin in Regensburg aufgewachsen, und meine Eltern waren mit den Gutsleuten befreundet) gab es einen höchst ungewöhnlichen Knecht. Ein Naturbursche mit unbekannter Biografie, der sommers im Freien und winters in der Scheune nächtigte, fast immer mit einem langen Lederschurz herumlief, vor allem für die Versorgung der Schweine zuständig war, entsprechend roch und zum Fürchten aussah: er hatte sich mit dem Luftgewehr das rechte Auge ausgeschossen, weil er sehen wollte, wie die Kugel aus dem Lauf kommt. Und da er kein Glasauge trug, konnte man dem Blick in eine blutig aussehende Höhle nicht ausweichen, wenn man ihn ansah. Der Mann war ein totaler Analphabet. Nun lernte er auf einem Volksfest eine Frau kennen, die ihm einige Tage später einen Brief schrieb. Da rief er die (mir gleichaltrige) Tochter der Gutsleute in die Essküche des Hofes und wies sie an, sich auf einen Stuhl zu setzen und ihm den Brief vorzulesen. Und nun die Pointe: dabei stellte er sich hinter das Mädchen und hielt ihr mit beiden Händen die Ohren zu, damit sie nicht hört, was die Frau ihm geschrieben hatte. Damit ist die These meines Vortrags vorbereitet: der Irrtum des Knechts, der selbst nicht lesen konnte, erweist sich auf verblüffende Weise als gleich dem Irrtum von Hirnphysiologen, die unter Bezeichnungen wie »brain reading« oder »Gedanken lesen« beanspruchen, unsere Gedanken öffentlich machen zu können.1 Zur Erläuterung und Begründung dieser These bemühe ich zuerst drei klassische Teildisziplinen der Philosophie, nämlich 1. die Sprachphilosophie für einige begriffliche Klärungen und insbesondere für eine Auflösung der Metapher »Gedanken lesen«, 2. die Erkenntnistheorie für die Frage, an welchen Kriterien sich entscheidet, ob – metaphorisch gesprochen – die Gedanken richtig oder falsch gelesen wurden, und 1 Als Zeichen öffentlichen Interesses an diesem Thema sei verwiesen auf: Patrick Illinger: Die Gedankenleser. Berliner Neurowissenschaftler entschlüsseln die Sprache des Hirns – Patienten kann das helfen, aber wie frei wird das Denken in Zukunft noch sein?, Süddeutsche Zeitung Nr. 281, 4. / 5. Dezember 2010, 24. Sowie auf: Gehirn und Geist 6 (2011); Titel: Der Traum vom Gedankenlesen. Forscher entziffern Vorstellungen und Absichten im Gehirn.

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3. die Wissenschaftstheorie, um zu diskutieren, ob, und wenn ja, wie das »richtige Gedanken lesen« experimenteller Kontrolle zugänglich sein und zu empirisch tragfähigen Kausalurteilen führen kann. Daraus wird eine Klärung zu gewinnen sein, welche Gründe hier einer neurophysiologischen Ursachenforschung Grenzen setzen. Dies wird 5. erlauben, die Gleichartigkeit des Fehlers von Knecht und dem Gedanken lesenden Hirnforscher aufzuweisen.

1) Sprachphilosophie: Begriffsklärungen und Auflösung von Metaphern. »Gedankenlesen« ist ein allerbestens vertrautes Wort der Alltagssprache und entstammt eher dem Bereich uralter Wunschträume als dem der modernen Hirnforschung. Dem wohl jedermann bekannten Wunsch, wissen zu wollen, was ein anderer Mensch gerade denkt, entspricht die Sorge, dass die Privatheit, ja die Intimität der eigenen Gedanken nun naturwissenschaftlich durchbrochen oder gar aufgehoben werden könnte. Wer gar durch eine religiöse Tradition in die Gewissensroutine gedrängt worden ist, wonach die Privatheit der eigenen Gedanken ohnehin vor einem allwissenden Gott nicht bestehe, könnte auf die nicht minder naive Vorstellung verfallen, nun sei dieser Zugang durch die Hirnforschung auch den Menschen offen. Da Gegenstand und Motiv des Gedankenlesens also weder in der Wissenschaft noch in der Philosophie liegen, sondern ganz im Alltagsleben ihren Sitz haben, braucht auch die Philosophiegeschichte mit ihren Fragen und Antworten zum menschlichen Denken von Platon über Kant bis zu Husserl und Heidegger nicht bemüht zu werden. Die Neurowissenschaften ignorieren die Philosophie ohnehin. Umso mehr zielen sie auf das öffentliche Interesse, ja auf die Sensation, wenn sie ankündigen, den Weg zum erfolgreichen Gedankenlesen bereits betreten zu haben.2 Deshalb wird hier ebenfalls nicht auf die philosophische Tradition und ihre Ergebnisse Bezug zu nehmen sein, wo es um die Frage geht, was denn da eigentlich »gelesen« werden soll.

1.1) »lesen« Das Wort »lesen« mit der etymologisch ursprünglichen Bedeutung des Sammelns bezeichnet in der Alltagssprache keine Naturgabe, sondern eine von jedem Individuum einzeln zu erlernende Kulturleistung. Lesen Lernen kann unabhängig vom Schreiben Lernen erfolgen, muss aber an Geschriebenem stattfinden. Geschriebenes kommt durch Verschriftung gesprochener Rede in die Welt. »Lesen« in der üblichen Bedeutung ist

So etwa das Süddeutsche Zeitung Magazin 21 vom 27. Mai 2010, 23: »Auf den Spuren unseres Denkens (III)«: »Es ist so weit: Forscher können Gedanken lesen. Sie erkennen mit dem Gehirn-Scanner sogar Gefühle, Absichten und Lügen. Aber das heißt auch: Der Mensch wird immer leichter manipulierbar. Ein Gespräch mit dem Hirnforscher John-Dylan Haynes.« 2

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also darauf gerichtet, etwas Gesagtes in der Form des geschriebenen Textes zur Kenntnis zu nehmen. Soweit die Selbstverständlichkeiten. Nun lässt sich »Vorlesen« von »Lesen«, oder um den intendierten Unterschied zu betonen, »schematisches Vorlesen« von »verständigem Lesen« unterscheiden. Dazu zwei Beispiele: nach sechs Jahren Unterricht in Altgriechisch am Humanistischen Gymnasium Regensburgs kann ich zwar immer noch den griechischen Text von Homer mit den richtigen Betonungen bei Hexameter und Pentameter vorlesen, aber leider ist in den letzten fünfzig Jahren die Fähigkeit verschwunden, bei diesem Vorlesen zu verstehen, wovon die Rede ist. So lassen sich weitere Beispiele eines schematischen Vorlesens ohne Verständnis des Inhalts geben, wie sie auch in der Diskussion der Pisa-Studien als Text- oder Leseverstehen auftauchen. Das zweite Beispiel: es gibt, etwa für blinde Studenten, Vorlesemaschinen.3 Sie können vorliegende Dateien oder auch eingescannte Druckschriften wie Bücher über eine Software in gesprochene Sprache transformieren. Diese Vorlesemaschinen bilden das Gegenstück zur umgekehrten Transformation gesprochener Sprache in geschriebenen Text, die Diktiersysteme wie Dragon naturally speaking leisten. In diesen technischen Substitutionen für Handlungsvermögen menschlicher Vorleser oder Diktatschreiber liegen Fälle vor, in denen eine rein syntaktische Transformation menschlicher Sprache von einer in eine andere Modalität vollzogen wird, ohne dass irgend ein semantisches oder gar pragmatisches Verständnis dieser Sprachstücke eine Rolle spielen würde. Diese vom Konstruktionsziel her leistungsgleiche technische Substitution einer menschlichen Fähigkeit bleibt aber immer der Beurteilung eines verständigen Sprechers oder Hörers unterworfen, wenn es darum geht, ob die Transformation von Rede in Schrift oder von Schrift in Rede erfolgreich war oder nicht. Und sicher wird ein verständiger, einfühlsamer Vorleser eines literarischen oder eines wissenschaftlichen Textes dem blinden Zuhörer mehr bieten als die Vorlesemaschine. Mit dieser Unterscheidung hat man sich allerdings die große Aufgabe eingehandelt, zu erläutern, was »verständig« beim verständigen Lesen bedeutet, beziehungsweise worin der Überschuss des Semantischen und Pragmatischen über dem bloß Syntaktischen der verarbeiteten Datenmengen liegt. Denn es wird sich die Frage stellen, ob »Gedankenlesen« als »verständiges Lesen« gemeint ist. Die Alltagssprache kennt außer dem Gedankenlesen auch andere metaphorische Formen des Lesens, etwa das Spuren- oder das Handlesen. Dabei scheint es immer um verständiges Lesen zu gehen. Man erwartet ja von einem Handleser nicht, dass er etwa die Länge von Handlinien in Millimetern angibt, sondern dass er aus deren Form oder anderen Eigenschaften der Hand eine Deutung des Charakters der Person, ihrer Gesundheit oder gar ihres Schicksals anbietet. Analoges gilt beim Spurenlesen des Jägers oder des Indianers bei Karl May. Damit ist die Frage vorbereitet, ob die Metapher vom Gedankenlesen beziehungsweise ihr neurowissenschaftliches Pendant dem schematischen Vorlesen oder dem verIn Marburg gibt es die »Blista«, die Blindenstudienanstalt, aus deren Praxis ich diese Beispiele kenne. 3

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ständigen Lesen zuzuordnen sei. Dafür ist jetzt ein Blick auf die zu lesenden »Gedanken« zu werfen. 1.2) »Gedanken« Das Alltagsleben liefert zahlreiche Gelegenheiten, in denen sich wohl jeder die Kunst des Gedankenlesens wünscht. Wer als alter Mann in später Nacht mutterseelenallein auf einem U-Bahnsteig steht und bemerkt, dass er selbst bemerkt wurde von einer plötzlich auftauchenden Gruppe grölender, betrunkener Jugendlicher, möchte wohl gerne wissen, was in deren Köpfen vorgeht, um vielleicht noch fliehen zu können. Oder angenehmer, eine Dame und ein Herr an verschiedenen Tischen eines netten Cafés bemerken, dass sie sich gerade bemerkt haben, und wüssten nun gerne, was im Kopf der anderen Person gerade vorgeht. Um die Beliebigkeit der dabei in Frage kommenden Gedanken zu umgehen, seien zunächst Situationen gewählt, die einen Fokus auf situationsrelevante Gedanken legen, wie beim Schach- oder Pokerspiel. Normiert durch Spielregeln, getragen durch die Übung der Spieler und orientiert auf das Ziel, das Spiel zu gewinnen, wüsste beim Schach der Spieler A, der einen Zug des B zur Kenntnis nimmt, gerne, welche Absichten mit dem Zug verbunden sind, welche Strategie B verfolgt und, was B über die Strategie von A vermutet. Beim Poker kommt (außer weiteren Mitspielern) hinzu, dass der Gedankenleser gerne wüsste, welches Blatt der Gegner hält, also was er sieht, wenn er in die eigenen Karten schaut, und welche Absicht sich hinter dem sprichwörtlichen Pokerface verbirgt. Es geht also in diesen Beispielsituationen nicht darum, ob einem unkonzentrierten Gegenspieler plötzlich einfällt, dass er vorhin sein Auto nicht abgesperrt hat, sondern um situationsrelevante Gedanken. Und grundsätzlich geht es um eine Zwei-PersonenBeziehung der Form »A liest die Gedanken von B«. Was kann es sein, das da gelesen werden soll? 1.3) Das mentale Vokabular Wer als Neurowissenschaftler behauptet, mit seinen Methoden Gedanken lesen zu können, muss über »Gedanken« oder andere mentale Vorgänge oder Zustände sprechen. Welches Vokabular kommt dafür in Frage, und welchen Umständen verdankt dieses Vokabular ihre wissenschaftliche, das heißt transsubjektiv kontrollierte Verstehbarkeit? Hier sei eine Anleihe beim Beratungsmodell mancher Ethiker genommen, die Wörter wie überlegen, entscheiden, urteilen, beabsichtigen, wollen und so weiter als Bezeichnungen intrapersonaler Vorgänge erläutern durch analoge Handlungsprädikatoren für interpersonale, eben in Beratungen von Gruppen geübte Tätigkeiten. Dieses Beratungsmodell leistet sicher keine Operationalisierung in einem methodologisch strengen Sinne. Aber es führt heraus aus dem Dilemma, keinen direkten definitorischen Zugang zur Rede über innere, nicht beobachtbare Vorgänge und Zustände zu haben.

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Ganz allgemein werden also »Gedanken« als Gedachtes auf das Verbum »denken« zurückgespielt, das seinerseits an Einzelbeispielen wie überlegen, sich erinnern, sich vorstellen, beabsichtigen und so weiter im Beratungsmodell erläutert wird. Man denke etwa an eine Personengruppe, die einen gemeinsamen Ausflug vorbereitet. Das interpersonale »Beraten« (über Ziele, Wege, Zeitplanung und so weiter) entspricht dann dem intrapersonalen »Überlegen«. Dem »Beschließen« entspricht in diesem Modell das »(sich) Entscheiden«, dem »Festsetzen« von Ziel und Weg des Ausflugs das »Beabsichtigen« oder »Wollen«, und so weiter. Was ein Sprecher als »gewusst« beschreiben, erzählen oder erläutern kann, gilt intrapersonal als »bewusst«. Und Gelesenes oder Gehörtes mit eigenen Worten richtig wiederholen und Fragen dazu richtig beantworten zu können, entspricht dem oben genannten »verständigen Lesen« im Unterschied zum schematischen Vorlesen.

1.4) Anwendung auf »Gedanken lesen« Die oben an den Beispielen des Schach- und Pokerspiels fokussierten Wünsche nach dem Gedankenlesen grenzen »die zu lesenden Gedanken« ein auf das über Handeln und Widerfahren bei den beteiligten Personen Gedachte. Anders gesagt, hier werden Beispiele von Gedanken in kommunikativ organisierten gemeinsamen Praxen betrachtet, nicht jedoch etwa Fälle, in denen z. B. eine Person entspannt und absichtslos im Liegestuhl am Strand liegt und ihren Gedanken freien Lauf lässt. Vielmehr geht es um Vollzüge, Pläne, Erlebnisse, Erinnerungen und so weiter in einer Phase, in der eine Person aktiv auf andere Personen gerichtet handelt. (Solche Handlungen werden wir unten als »Beziehungshandlungen« charakterisieren.) Diese Beschränkung legitimiert sich daraus, dass ja erläutert werden soll, wann eine Person A die Gedanken einer Person B »richtig« gelesen hat. Es geht also per se immer um Kriterien für Interpersonalität beim Gedankenlesen.

2) Erkenntnistheorie Um via Beratungsmodell die Bedingung der Möglichkeit von richtigem und falschem Gedankenlesen zu klären, seien einige handlungstheoretische Grundunterscheidungen zitiert, die für interpersonales Handeln wichtig werden.4

Eine detaillierte und begründete Explikation dieser handlungstheoretischen Unterscheidungen findet sich in: Peter Janich: Logisch-pragmatische Propädeutik, Weilerswist 2001. 4

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2.1) Das handlungstheoretische Vokabular Unter Handeln wird hier verstanden, was jeder Mensch in Kooperations- und Kommunikationsgemeinschaften zu lernen hat, unterstützt von Lob und Tadel oder andere positive und negative Sanktionen für gelungenen oder misslungenen Vollzug. Handlungen werden also dem Handelnden als Verdienst oder Verschulden zugerechnet (synonym: zugeschrieben, zugesprochen). Handlungen sind immer auf Zwecke, also auf Sachverhalte gerichtet, die herbeigeführt, vermieden oder aufrechterhalten werden sollen. Werden Zwecke realisiert, spricht man von Erfolg, sonst von Misserfolg. Die Unterscheidung gelingen/misslingen und Erfolg/Misserfolg ist erforderlich, weil auch gelungene Handlungen gelegentlich Misserfolg, etwa durch unerwartete äußere Störung, nach sich ziehen. Handlungen lassen sich nach Aspekten einteilen, die schon seit der griechischen Antike als kinetisch, poietisch und praktisch bezeichnet werden; letztere betreffen den Aspekt der Beziehung zwischen Akteur und der von seinen Handlungen betroffenen Person. Die drei Aspekte können zugleich an ein und derselben Handlung auftreten, wie etwa ein handschriftlicher Dankesbrief durch die gelernte Kinesis des Schreibens, durch die Poiesis der Herstellung eines Schriftstücks und durch die Praxis des Dankens bestimmt ist. Handlungen lassen sich nach Typen in Beteiligungshandlungen, Gemeinschaftshandlungen und Individualhandlungen unterscheiden. Erstere können nur gelingen, wenn ein anderer Akteur sich beteiligt. Gemeinschaftshandlungen können nur in Gemeinschaften erfolgreich sein, also ihren Zweck erreichen, und nur Individualhandlungen können allein vollzogen werden und erfolgreich sein. Leicht lassen sich nun die kombinatorischen Möglichkeiten der drei Aspekte und der drei Typen von Handlungen durchspielen, so dass etwa Wettlaufen, Seilziehen oder Fangen Spielen nur als kinetische Beteiligungshandlung möglich sind, während ein Mannschaftsspiel wie Fußball auch als kinetische Gemeinschaftshandlung zu gelten hat. Die Rolle des Gedankenlesens bei kinetischen Handlungen sollte nicht unterschätzt werden, wie das Beispiel des Straßenverkehrs zeigt. Könnte man die Gedanken anderer Verkehrsteilnehmer »lesen«, wäre mancher Unfall vermeidbar. Von besonderer Bedeutung für die potentiellen Gegenstände des Gedankenlesens sind die praktischen, synonym die Beziehungshandlungen. Beispiele sind als nichtsprachliche etwa Beschenken, Bestehlen, Verletzen, Heilen und andere, als sprachliche etwa Grüßen, Danken, Bitten, Zurechnen, Loben, Tadeln, Versprechen, Gratulieren, Kondolieren und so weiter. Mit diesen Unterscheidungen kann nun die alltagssprachliche Frage rekonstruiert werden, worauf sich das Gedankenlesen in problemrelevanten Beispielen richten kann, um richtiges von falschem Gedankenlesen zu unterscheiden.

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2.2) Gedankenlesen: problemrelevante Beispiele »Vorlesen« ist eine praktische, sprachliche Beteiligungshandlung, sobald ein Hörer zuhört, und eine entsprechende Gemeinschaftshandlung, wenn der Leser vorliest, damit ein Hörer versteht; wenn der Hörer das Vorgelesene versteht, liegt eine erfolgreiche praktische sprachliche Gemeinschaftshandlung des Vorlesens (und eine solche des Zuhörens) vor. Das »Lesen« erweckt am Bild des einsamen Lesers, der in die Lektüre eines Buches vertieft ist, leider oft den falschen Eindruck, eine Individualhandlung zu sein, gerade so, als würde man sich selbst vorlesen. Problemrelevant wird dieses Beispiel aber erst dann, wenn eine andere Person zu beurteilen hat, ob der einsame Leser das Gelesene versteht. Dann wird nämlich auch das »einsame« Lesen zu einer praktischen oder Beziehungshandlung. Diese Beispiele zeigen, dass das Denken, je nach Handlungs- und Widerfahrnistyp, ein mentales Analogon von praktischen Beteiligungs- oder Gemeinschaftshandlungen ist einschließlich der auf solche Handlungen bezogenen Widerfahrnisse.

2.3) Gedanken richtig/falsch gelesen Betrachtet man, wegen der erwünschten Nähe zur Lehr- und Lernbarkeit von Handlungen und ihrer gedanklichen Analoga, bevorzugt Kinderspiele, so wäre etwa das Verstecken und Suchen von Ostereiern eine (poietische) Praxis, die (1) nur als Beteiligungshandlung möglich ist und (2) nur als Gemeinschaftshandlung erfolgreich vollzogen werden kann. Erfolgreich heißt, dass der Suchende B die Eier findet, die A versteckt hat: Am Ende hat A zu bestätigen, dass alle von ihm versteckten Eier von B gefunden wurden. A fungiert damit als letzte Instanz zur Beurteilung von Erfolg oder Misserfolg des Suchens durch B. Diese Zuständigkeit in letzter Instanz kann, weder in den Gedanken von A während der Beobachtung des Suchens durch B, noch durch B, der gern durch Gedankenlesen bei A die Verstecke finden würde, behaviouristisch hintergangen werden. Ob B im Wunsch, den Ort der versteckten Eier durch Gedankenlesen bei A zu finden, Erfolg hat, bindet also das richtige Gedankenlesen letztlich an eine wahrhaftige Auskunft des (in seinen Gedanken »gelesenen«) A. Ein archimedischer oder göttlicher Beobachter des Ostereier-Versteckens und -Suchens außerhalb der Welt von A und B (als Figur des naturwissenschaftlichen Behavouristen) ist weder erforderlich noch realisierbar. Damit sollte nicht nur das Mentale, sondern auch das methodologische Vokabular hinreichend klar sein, um wissenschaftstheoretisch einige Beispiele zu betrachten, die von Neurowissenschaftlern angeboten werden.

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3) Wissenschaftstheorie Die Rede vom Gedankenlesen spielt prominent in der parasprachlichen5 Literatur der Neurowissenschaften eine Rolle. Hier sei an die Artikel erinnert, die in den Anmerkungen 1 und 2 genannt sind. Dort wird auch der Berliner Neurowissenschaftler JohnDylan Haynes zitiert, der mit bildgebenden Verfahren beansprucht, zumindest eine Vorform des Gedankenlesens zu erforschen. Nun dürfte nicht umstritten sein, dass in der Neurophysiologie Beobachtungen und Experimente nach dem Vorbild von Physik oder Chemie an die technische Reproduktion eines Verlaufs durch technische Reproduzierbarkeit der Experimentalbedingungen gebunden sind. Das heißt, die beanspruchten oder wenigstens gesuchten Fälle eines erfolgreichen neurophysiologischen Gedankenlesens unterstehen den Minimalbedingungen eines aussagekräftigen Experiments, oder sie haben gar kein empirisches Resultat. Nun sollte bei der Beurteilung dieses Forschungszweiges nicht übersehen werden, dass in der Neurophysiologie solche Experimente prinzipiell Experimentalreihen sind, das heißt, nicht das Einzelereignis oder den Einzeleffekt technisch reproduzieren können, sondern nur statistische Effekte. Hier ist immerhin einer der Unterzeichner eines »Manifests«6 führender Hirnforscher von 2004, Frank Rösler, zu zitieren, der methodologisch korrekt betont, dass Aussagen über individuelle Ereignisse an oder in individuellen Personen aus statistischen Ergebnissen nicht zu gewinnen sind.7 Kurz, eine stringente wissenschaftstheoretische Analyse kommt für die Beispiele aus der an eine interessierte Öffentlichkeit gerichteten Literatur zu dem Ergebnis, dass hier die elementaren Erfordernisse seriöser naturwissenschaftlicher Experimentalforschung nicht erfüllt sind. Hier wird, und nicht nur von Neurowissenschaftlern, gerne erwidert, man sei eben in einem Frühstadium der Forschung und könne sicher, wie die wissenschaftshistorische Erfahrung lehre, mit den zu erwartenden, erheblichen Fortschritten künftig die in Aussicht gestellten Erkenntnisse immer besser erreichen. Dem gegenüber sind die im Untertitel dieses Vortrags angekündigten Gründe für Grenzen neurophysiologischer Ursachenforschung von prinzipieller, auch künftige Fälle betreffender Art. Um sie geht es jetzt. 4) Kurzschlüsse der Neurophysiologie Versucht man, sich einen Einblick in die neurowissenschaftliche Literatur und ihre fach- und laienphilosophische Diskussion zu verschaffen, von einem Überblick ganz zu schweigen, dann ergibt sich ein sehr heterogenes Bild. Neben vorsichtigen, begriff-

5 Zur Unterscheidung von Objekt- Meta- und Parasprache in der Hirnforschung vgl. Peter Janich: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt/M. 2009. 6 »Manifest zur Hirnforschung«, Gehirn und Geist 6/2004. 7 Frank Rösler: Unterschätzte Komplexität. Gedankenlesen per Bildgebung? Der Neuropsychologie Frank Rösler hält das für Zukunftsmusik, in: Gehirn und Geist 6 (2011), 19.

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lich und methodisch sensiblen Forschern gibt es auch die lauten, die kühn ihre Versprechungen publizieren, neue Menschenbilder ausrufen und Ratschläge für Erziehung und Gesetzgebung erteilen, welche sie nicht selten später in Fachjournalen oder auch nur in Einzelgesprächen relativieren. Dennoch bleiben einige »harte« Probleme, die generell oder für bestimmte Themenbereiche auftreten.

4.1) Explanandum unterbestimmt Die in der Literatur zu findenden Beispiele erweisen sich zum Beispiel als dramatisch unterbestimmt, was das Explanandum »Gedanken« betrifft. Dort herrscht vielmehr ein in jeder Hinsicht naives Verständnis der Alltagssprache vor, in dem etwa einem Probanden aufgegeben wird, »an einen Hund zu denken«. Da dürfte es wenig verwundern, dass eine Person zu verschiedenen Zeiten oder verschiedene Personen in Experimenten diese Aufforderung mit höchst verschiedenen »Vorstellungen«, also verschiedenen Handlungen und Widerfahrnissen verknüpfen. Woraus sich die Erwartung speist, dass die Aufforderung, an einen Hund zu denken, einen klar bestimmten Zielgegenstand für eine empirische Kausalerklärung erzeugt, bleibt unerfindlich. Aber auch die etablierten Forschungen, in denen Neurowissenschaftler über Kognitionen, Erinnerungen, Entscheidungen, Willensfreiheit und Verantwortung sprechen, sind nicht begleitet von einer nachvollziehbaren Bestimmung der jeweiligen Explananda. Insofern sind »die Gedankenleser« nicht schwächer als die meisten übrigen Hirnforscher. Solche Defizite ließen sich jedoch weitgehend vermeiden oder wenigstens einschränken, wenn die oben vorgetragene Strategie zur methodischen Rekonstruktion der Rede von Gedankenlesen berücksichtigt würde. Hier soll also nicht der eher desolate Zustand eines neurophysiologischen Forschungsprogramms aus der philosophischen Perspektive beklagt, sondern, soweit möglich, mit Hilfe philosophischer Mittel dessen Behebung betrieben werden.

4.2) Zweckrationalität statt Kausalismus in der Neurophysiologie Wo Erregungsmuster des Hirns als ursächlich für Gedanken oder deren »Inhalte« gelten, wird gern übersehen, dass die explizite Behauptung solcher kausaler Zusammenhänge allemal erfordert, beides explizit zu beschreiben: einerseits mit den Mitteln der Neurophysiologie etwa die in bildgebenden Verfahren sichtbar gemachten Stoffwechselvorgänge im Hirn, andererseits die in experimentalpsychologischer Manier abgefragten oder induzierten Gedanken und deren »Inhalte«. Nach elementarem methodologischem Basiswissen können die bisher erhobenen Daten allenfalls als Korrelationen physiologischer und psychologischer, also physiologisch beschriebener und psychologisch beschriebener Befunde gelten. Damit bleibt einerseits generell jede Korrelation in ihrer Geltung abhängig von der Adäquatheit der beiden Beschreibungen. Andererseits stellt sich die Frage, ob die korrelierten Be-

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funde, so sie denn seriös beschrieben und erhoben sind, einen Kausalnexus erkennbar machen. Entgegen diesem kausalistischen Dogma, wonach alles, was in den Naturwissenschaften nicht definitorisch/logisch/mathematisch und damit nur formal gilt, empirisch im Experiment als Kausalverknüpfung gefunden werden muss, bleibt auch hier ein methodischer Ausweg: Da es hier zwangsläufig immer um ein Verhältnis zweier Beschreibungen geht, kann eine Zweck-Mittel-Relation zwischen den beiden Beschreibungen, also der Physiologie des Hirns und der Psychologie der Person angestrebt werden. Dies legt immerhin das bekannte und erfolgreiche Beispiel der Rechenmaschinen nahe. Es wäre aus vielerlei Gründen abwegig, die Geltung eines mit einer Maschine erzeugten Rechenresultats als Kausalwirkung der maschineninternen Vorgänge anzusprechen. Es gibt keine Kausalwirkungen, die metasprachliche Aussagen über Rechenresultate erzeugen. Wohl aber sind Rechenmaschinen so konstruiert, dass sie, ausgehend vom mathematischen Vorwissen, gerade richtige und nicht irgendwelche oder falsche Rechenresultate ergeben. Das heißt, die Konstruktion der Rechenmaschine ist ein adäquates Mittel für den Zweck, richtige Resultate zu erzeugen. Das Mittel-Zweck-Verhältnis muss sich also als solches zwischen der technisch-physikalischen Beschreibung der Maschine und der mathematischen Beschreibungen der Rechenleistungen darstellen lassen. Deshalb kann zugunsten der Neurowissenschaften angenommen werden, dass Beschreibungen auf der physiologischen und auf der psychologischen Ebene gesucht sind, die zueinander in einem Zweck-Mittel-Verhältnis stehen und jeweils für sich durch entsprechende Beobachtungen gedeckt sind. Aber selbst diese philosophische Hilfestellung überwindet nicht den physiologistischen Kurzschluss, der im neurowissenschaftlichen Programm des Gedankenlesens prinzipiell enthalten ist.

4.3) Physiologistische Kurzschlüsse: allein auf der Welt? Gedanken werden faktisch immer als neuronale Individualleistungen eines isolierten Organismus erforscht. Tatsächlich aber sind alle Alltagsbeispiele für den Wunsch nach Gedankenlesen und a fortiori die begrifflich fokussierten Fälle des Denkens in gemeinschaftlichen Praxen eben gerade keine Individualhandlungen oder Individualwiderfahrnisse. Vielmehr richtet sich das Gedankenlesen auf die intrapersonalen Analoga von (sprachlichen oder nicht sprachlichen) Beteiligungs- oder Gemeinschaftsleistungen sowie auf Beziehungshandlungen, also auf interpersonale Handlungen und Widerfahrnisse. Nur solche können als Gegenstände eines gelungenen und erfolgreichen Gedankenlesen gelten. Um die Tragweite dieses Kurzschlusses zu veranschaulichen, sei als erstes ein Beispiel aus den kinetischen Beteiligungshandlungen gewählt. Es dürfte nicht strittig sein, dass Körperbewegungen von Menschen physikalisch beziehungsweise biomechanisch als Bewegungen des Skeletts infolge Muskelkontraktionen kausal erklärt werden können. (Es geht hier also nicht um die nervliche Steuerung und Regelung dieser Bewegungen!) Diese Zuständigkeit der Physik beziehungsweise der Biomechanik gilt selbstverständ-

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lich wie für alle kinetischen Handlungen so auch für alle kinetischen Beteiligungs- und Gemeinschaftshandlungen. Nun denke man etwa an Klassisches Ballett oder an einen Boxkampf. Alles, was eine Videoaufnahme solcher kinetischer Beteiligungs- oder Gemeinschaftshandlungen zeigt, kann damit physikalisch kausal erklärt werden. Wird dagegen im Film nur eine der beiden Personen in ihren Bewegungen gezeigt, was sich durch einen einfachen technischen Trick der Löschung einer Person aus dem genannten Videofilm veranschaulichen lässt, kann es keine physikalische Erklärung der Bewegungen mehr geben. Sonst müsste ja etwa bei einer der artistischen Hebefiguren die Ballerina schweben, weil der sie tragende Tänzer aus dem Film ausgeblendet ist. Das ist physikalisch aber unmöglich. Das heißt, betrachtet man bei einer kinetischen Beteiligungs- oder Gemeinschaftshandlung nur isoliert eine Person, wie dies im biologischen Organismusmodell üblich ist, wird die physikalische Beschreibung und Erklärung der Bewegungen schlicht falsch. (Dass es sich hier nicht um eine abwegige technische Fiktion eines Philosophen handelt, sondern um konkret angewandte Verfahren, lässt sich etwa in der Sportberichterstattung an der Aufzeichnung der Laufleistungen eines Fußballspielers während eines bestimmen Spiels ohne Einblendung irgendwelcher anderer Personen oder auch des Balls belegen.) Warum aber sollte dies bei der Isolation eines in kommunikativen und kooperativen Handlungen mit anderen Personen stehenden Individuums (als potentiellen Gegenständen des Gedankenlesens) anders sein? Zur Beantwortung dieser Frage betrachten wir jetzt als zweites Beispiel eine Beziehungshandlung zwischen zwei Personen. Oben wurden unter den Beispielen nichtsprachlicher Beziehungshandlungen unter anderem Beschenken und Bestehlen genannt. Bleiben wir beim Diebstahl: Es ist sicher nicht strittig, dass es keinen Diebstahl welcher Art auch immer geben kann, ohne dass der Dieb eine Körperbewegung ausführt. Die kann so harmlos minimal sein wie das Abhaken eines gefälschten Schecks. Selbst der in letzter Zeit heiß diskutierte geistige Diebstahl, das Plagiat, kann nicht ohne eine Körperbewegung des Plagiators vollzogen werden. Für Körperbewegungen, so war als unstrittig unterstellt worden, sei die klassische Mechanik beziehungsweise eine entsprechende Biomechanik zuständig. Und niemand wird heute bestreiten, dass nicht nur die Muskulatur bei jedem Diebstahl beteiligt ist, sondern auch das Hirn. Soll deshalb der Physik oder der Hirnforschung die Definition und im Einzelfall die Identifizierung eines Diebstahls überlassen werden, oder doch besser weiterhin den Juristen? Was sich ein Dieb vor, bei oder nach seiner Tat »denkt«, ist demnach unvollständig erfasst, wenn dabei nicht auch der Adressat, das Opfer des Diebstahls als Eigentümer der gestohlenen Sache, in Betracht gezogen wird. Es gibt per definitionem keinen Diebstahl, wenn es nicht einen Eigentümer der gestohlenen Sache gibt, das heißt, eine Person, Personengruppe oder Institution, der diese Sache als Eigentum zugeschrieben wird. Und damit kommen wir, über die kinetischen Beteiligungshandlungen hinaus, bei den praktischen, synonym den Beziehungshandlungen zu den Gründen, warum Gedanken nicht als Individualleistungen aufgefasst werden können.

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Wer, und das sind nicht wenige und nicht unbekannte Hirnforscher, glaubt, dass wir Menschen nicht für unsere Handlungen verantwortlich sind, weil unser Hirn das Regiment führt, hat einen Kategorienfehler begangen. Dieses nun seinerseits häufig zu lesende Argument leidet freilich darunter, dass keine hinreichende Klärung des Begriffs »Kategorienfehler« vorgetragen wird und a fortiori nicht belegt wird, warum diese für die Ergebnisse der Hirnforschung fatal sein sollen.8 Anstelle einer universellen Theorie einschlägiger Kategorienfehler sei hier ein spezieller Typ bestimmt, der für das Projekt Gedankenlesen und für fehlgeleitete Ansprüche vieler Hirnforscher eine hinreichende Erklärung liefert: den Kategorienfehler, der in der Verwechslung von beschreiben und zuschreiben durch die Hirnforschung liegt.

4.4) Kategorienfehler: Verwechslung von Beschreiben und Zuschreiben Mit dem bisherigen Ergebnis betrachte man, was Hirnforscher im Labor mit ihren Versuchspersonen anstellen. Dies alles läuft nämlich unter der stillschweigenden methodologischen Prämisse, wir hätten es mit einem Organismus und seinen individuellen Leistungen zu tun. Man kann nun einmal bei den bildgebenden Verfahren kein tanzendes Paar oder einen Dieb und sein Opfer in die Scanner-Röhre schieben. Dabei haben die das Individuum fokussierenden, den einzelnen Menschen isolierenden Laborverfahren und Betrachtungsweisen etwas Zentrales vergessen. Sie haben vergessen, dass Beteiligungshandlungen nicht einer isolierten Person, sondern immer zwei oder mehreren Personen zugleich zugeschrieben werden müssen, um überhaupt stattfinden zu können. Und sie haben entsprechend bei den Beziehungshandlungen vergessen, dass es immer um einen Täter im Verhältnis zu seinem Adressaten geht, damit es zu einer solchen Handlung überhaupt kommen kann. Nur das Zuschreiben einer Handlung zu einer Person gegenüber einer anderen erlaubt, das Verhältnis von Akteur und Adressat einer praktischen Handlung sprachlich zu erfassen. Wenn also die beschreibenden Wissenschaften, und selbstverständlich ist die Hirnforschung erst einmal eine beschreibende Wissenschaft, den einzelnen Menschen isoliert beschreibt, verwechselt sie beschreiben und zuschreiben. Der intendierte Unterschied zwischen Beschreiben und Zuschreiben sei an einem einfachen Beispiel veranschaulicht, nämlich an der vertrauten Situation in einem Café. Man denke an die Tasse, die vor dem Gast steht. Selbstverständlich können wir die Tasse beschreiben. Wir wissen, wie das geht, und wir wissen, dass solche Beschreibungen wahr oder falsch sein können. Darüber hinaus können solche Beschreibungen auf die Verfahren der Naturwissenschaften ausgeweitet werden. Die Tasse wird gewogen, ihr Volumen vermessen, die chemische Zusammensetzung des Porzellans analysiert und so weiter. Die Ergebnisse werden wahre oder falsche Beschreibungen sein. Was allerdings auch durch eine optiEin Versuch, diesem Mangel abzuhelfen, wird vorgetragen in: Peter Janich: Stillschweigende Hirngespinste. Über einige Kategorienfehler in der Hirnforschung, in: Frankfurter Rundschau vom 12. Juli 2012, 20/21. 8

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male, perfekte oder wissenschaftliche Beschreibung nicht erhalten werden kann, ist das Wissen, um wessen Tasse es sich dabei gerade handelt. Zur Beantwortung dieser Frage stelle man sich eine konkrete Caféhaus-Situation vor! Ein Gast hatte einen Cappuccino bestellt, den der Kellner mit einer Bemerkung wie »Ihr Cappuccino!« serviert. Und schon ist diese Tasse die Tasse des adressierten Gastes. Dieser Besitz wird sofort eingefordert, wenn etwa der Tischnachbar versehentlich nach der Tasse des anderen Gastes greift. Man wird mit einer Bemerkung wie »Entschuldigung, das ist meine Tasse!« den Anderen in seiner Bewegung unterbrechen. Die Tasse ist in seinem Besitz, ein Besitz auf Zeit. Wenn der Gast anschließend bezahlt und der Kellner die Tasse wegnimmt, ist der Besitz zu Ende. Oder er bestellt einen zweiten Cappuccino; dann geht eine neue Tasse in seinen Besitz über, und die alte verschwindet daraus. Das heißt, dem Gast wird auf Zeit die Tasse als Besitz zugeschrieben; aber warum? Doch offensichtlich aufgrund bestimmter Beziehungshandlungen zwischen Personen, in diesem Falle unter der Rollenverteilung von Gast und Kellner aufgrund der Bestellung und des Servierens. Bestellen und Servieren sind Beziehungshandlungen, in denen es jeweils einen Akteur und einen Betroffenen, einen Adressaten gibt. Hier bleibt der Unterschied von Beteiligungs- und Beziehungshandlungen zu beachten. Bei Beteiligungshandlungen müssen beide Beteiligte handeln, damit die Handlung vollzogen werden kann, wie beim Wettlaufen oder beim Schachspielen, beim Boxen oder beim Paarlauf. Bei Beziehungshandlungen dagegen, bei denen ein Akteur die Bedürfnisse, Wünsche, Befürchtungen, Abneigungen und so weiter eines Anderen berührt, gibt es neben dem Akteur den (nicht zwangsläufig selbst handelnden) Betroffenen. Ersichtlich ist die Bestellung des Gastes und deren Ausführung durch den Kellner jeweils sowohl eine Beteiligungs- wie eine Beziehungshandlung. Wie steht es dagegen mit dem Eigentum an der Tasse, um auf den Diebstahl zurückzukommen? Selbstverständlich gehört diese Tasse jemandem, vermutlich dem Eigentümer oder Pächter des Cafés. Sie wird ihm also als Eigentum und nur gelegentlich als Besitz zugeschrieben, was ebenfalls nicht irgendwie aus einer alltäglichen oder naturwissenschaftlichen Beschreibung der Tasse zu entnehmen ist. Vielmehr sind es wiederum Beziehungshandlungen zwischen Personen (oder Personengruppen und Institutionen) wie Kaufen, Mieten, Leihen, Schenken und so weiter, die Eigentum stiften. Was hat das nun wiederum mit Hirnforschung zu tun? Die Unterscheidung zwischen Beschreiben und Zuschreiben soll belegen, warum die Hirnforschung hier einen Kategorienfehler macht. Zunächst ist auf einen syntaktischen Unterschied bei den Wörtern beschreiben und zuschreiben zu verweisen: »Eine Person P beschreibt eine Tasse t« benötigen zwei Angaben für eine vollständige Behauptung über das Beschreiben, nämlich eine Person P und eine Tasse t. »Beschreiben« ist ein zweistelliger Prädikator. Ganz anders ist es bei den Beispielen von Besitz und Eigentum: eine Person A schreibt einer Person B die Tasse t zu – je nach erfolgten Handlungen als Besitz oder als Eigentum an t. Hier benötigt ein vollständiges Zuschreiben drei Glieder: »A schreibt B die Tasse t (als Besitz oder als Eigentum) zu.« »Zuschreiben« ist also (mindestens) ein dreistelliger Prädikator. Das heißt, dass man Beschreibungen und Zuschreibungen nicht

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durch einander ersetzen kann oder gar ihren Unterschied ignorieren darf, weil die letztere gegenüber der ersteren mehr Angaben für eine vollständige Behauptung darüber benötigt. In (sprachphilosophisch naiver) Alltagssprache formuliert: Beschreibungen betreffen das Verhältnis zwischen einer Person und einem Gegenstand, Zuschreibungen dagegen das Verhältnis zwischen zwei Personen bezüglich einer Handlung oder Handlungsfolge. Selbstverständlich kann man das Beschreiben zuschreiben und das Zuschreiben beschreiben. Und während das Ersteres berechtigt oder verfehlt sein kann, kann Letzteres wahr oder falsch sein. Es kommt nur darauf an, die verschiedenen sprachlichen Tätigkeiten nicht gleichzusetzen. Sie gehören verschiedenen Sprechakttypen an und sind insofern »kategorial« verschieden. Erinnert sei außerdem an die Üblichkeit der Alltags- und mancher Fachsprache, wonach »zuschreiben« die Urheberschaft eines menschlichen Akteurs betrifft. Wenn ein Gemälde von einem Experten einem Maler zugeschrieben wird, (eventuell aufgrund einer beschreibenden, naturwissenschaftlichen Expertise), geht es nicht um eine wahre oder falsche Beschreibung (»Maler M hat das Gemälde g gemalt«), so als wäre der Experte als Beobachter bei der Herstellung dabeigewesen; dann würde sich eine Zuschreibung, weil trivial, erübrigen. Es geht stattdessen um die Legitimität der Zuschreibung und damit um das Verhältnis von zuschreibendem Experten und dem Urheber eines Werkes. Zuschreiben betrifft also Handlungsurheberschaft als Verhältnis zwischen Personen, nicht zwischen einer Person und einer Sache.9 Nachdem geklärt ist, dass Beschreibungen und Zuschreibungen nicht wechselseitig durcheinander setzt werden können, obwohl sie grammatisch in derselben Form des Aussagesatzes auftreten können, sollte auch deutlich geworden sein, warum die Verwechslung von Beschreiben und Zuschreiben als Kategorienfehler der Neurowissenschaft zu gelten hat: Beschreibungen werden in wahren oder falschen Behauptungen gegeben. Zuschreiben (zurechnen, zusprechen) dagegen erfolgt nicht in wahren oder falschen Aussagen, sondern ist als richtiges oder verfehltes Urteil zu bezeichnen. (Diese Wortwahl orientiert sich an der Rechtspraxis: das Zuschreiben von Handlungsurheberschaft zu einem Täter in einem Richterurteil gilt als richtig oder als Fehlurteil.) Wie ein und derselbe Satz von einem Tatzeugen als Beschreibung eines Mordes vorgetragen werden kann, der vom Richter im Urteil die Zuschreibung der Tat zum Angeklagten formuliert, so kann kein naturwissenschaftlicher »Tatzeuge« neuronalen Geschehens im Labor eine Zuschreibung eines Gedankens gewinnen, ohne in die Rolle des Richters zu wechseln, der mit dem Untersuchungsobjekt, seiner Versuchsperson, in ein praktisches Verhältnis eintritt. Das aber ist die Verletzung der grundsätzlich beschreibenden Neutralität des Experimentators gegenüber seinem Experimentalgegenstand. Das heißt, die Verwechslung von Beschreiben und Zuschreiben im neurowissenschaftlichen Experiment verdeckt die Verletzung der Bedingungen, unter denen allein das Experiment Die hier nur angedeuteten Probleme einer Logik des Zuschreibens sind detailliert diskutiert in: Peter Janich: Die Logik des Zuschreibens. Von der natürlichen Besitznahme zur Kultur des Verantwortens, im Druck. 9

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empirische Resultate zeigt. Was vermeintlich beschrieben wird, ist in Warhheit eine unvollständige Zuschreibung – nur dass der zuschreibende Experimentator seiner eigenen Verwicklung und Parteinahme in eine defizitäre Zuschreibung nicht gewahr wird. Wir kommen deshalb auf die Eingangsgeschichte mit dem Knecht zurück, der den selben Fehler begehen sollte wie der Gedankenlesende Hirnforscher.

5) Gleiche Fehler: Knecht und Hirnforschung Was ist am einleitenden Beispiel des Knechts, der dem Mädchen die Ohren zuhält, damit sie beim Vorlesen eines Liebesbriefs nicht hört, was man ihm geschrieben hat, eigentlich so rührend komisch und falsch? Zunächst einmal die naive Vorstellung des Mannes, eine Sprecherin wüßte nicht, was sie sagt, wenn sie es nicht über ihre eigenen Ohren hört. Dieser Fehler ist hier nicht gemeint, weil er nichts mit dem Vorlesen, sondern mit dem lauten Sprechen zu tun hat. Gemeint ist vielmehr die falsche Vorstellung des Knechts, die Leserin wüßte nicht schon durch das (eventuell auch stille) Lesen, was sie liest und sagt, oder anders formuliert, Lesen könnte auch ohne (Sprech-)Denken erfolgen. Wenn der Knecht kein Analphabet wäre, sondern selbst lesen könnte, würde er selbst den Unterschied zwischen dem Vorlesen eines Textes kennen, das man ganz selbstverständlich nur als Sprechen ausübt (oben »verständig lesen« genannt), und dem »Vorlesen« eines Textes, den man zwar nachsprechen, aber nicht verstehen kann (oben »schematisch vorlesen« genannt). Es ist also der fehlende Erwerb der Lesefähigkeit, der das tertium comparationis zum Fehler der Hirnforschung liefert. Die Unmöglichkeit, einen einfachen, alltagssprachlichen (und nebenbei die Neugierde weckenden) Text (vor-)zu lesen, ohne seinen Inhalt zur Kenntnis zu nehmen, liegt nicht an irgendwelchen psychologischen Umständen, sondern an der methodischen Abhängigkeit des schematischen Vorlesens vom verständigen Lesen: Nur wo ausgehend von der Sprachfähigkeit einer Person das Geschäft des Lesens als Rückübertragen vom Geschriebenen zum Gesagten beherrscht wird (das heißt auch, in inhaltlich richtig beziehungsweise falsch gelesen unterschieden werden kann, indem das semantische und pragmatische Verständnis des Gesagten für das Geschriebene herangezogen wird), erst dort kann es (»formal«, »strukturell« oder »syntaktisch«) zu einem schematischen und schematisch richtigen Vorlesen eines unverstandenen Textes (etwa einer Fremdsprache oder einer unbeherrschten Fachsprache) kommen. Hieran zeigt sich die aus der »Mathematischen Theorie der Information« bekannte Tatsache, dass die ungestörte Funktion eines syntaktischen Nachrichtenübertragungssystems wie der Telefonie nur relativ zur ungestörten semantischen und pragmatischen Nachrichtenübertragung zwischen verständigen Kommunikanten definiert werden kann.10 Der Mensch kann nicht Lesen lernen, indem er in einem ersten Schritt eine Eine detaillierte Begründung für diese These findet sich in: Peter Janich: Was ist Information? Kritik einer Legende, Frankfurt/M. 2008. 10

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funktionierende Vorlesemaschine imitieren lernt, um daran im zweiten Schritt das Verstehen beim Lesen einzuüben und damit verstandene und unverstandene Texte zu unterscheiden. Der Mensch lernt vielmehr, methodisch umgekehrt, das Lesen als sprachfähiger Mensch. Lesen lernt man also nur als Transformation von Geschriebenem in verständig Gesagtes, das seinerseits dem Schreiben methodisch vorausgeht. Erst dann kann sich das Lesenkönnen (»technisch«, das heißt als strukturelles Vermögen) so entwickeln, dass es auch bei unverstandenen Texten praktiziert werden kann. Das lässt sich dann in einem methodisch späteren Schritt durch Maschinen simulieren, das heißt als syntaktisch leistungsgleich substituieren. Das Kriterium dafür, eine ungestörte (syntaktische) Nachrichtenübertragung von einer gestörten zu unterscheiden, bleibt aber immer die Beurteilung durch einen verständigen Sprecher. Er hat die Nachrichten an der Nachrichtenquelle mit denen am Nachrichtenziel auf (hinreichend) gleiche Inhalte hin zu vergleichen. Die neurowissenschaftlichen Gedankenleser beginnen ihr Geschäft ebenfalls mit dem Fehler, gegen die methodische Ordnung zu verstoßen: Sie beginnen nicht bei »Gedanken« als dem situationsgebundenen Denken des pragmatisch und semantisch Bedeutsamen, das auf Beteiligungs- und Beziehungshandlungen im Blick auf andere Menschen gerichtet ist, sondern mit dem schematisch und syntaktisch Abgeblendeten, nämlich »der Syntax« der neuronalen Erregungen, die sich im methodisch zweiten Schritt auf die Syntax von Gedanken oder Gedankeninhalten strukturgleich übertragen lassen soll. Oder kurz, die neurowissenschaftlichen »Gedankenleser« unterstellen methodisch falsch, eine Syntax könne eine Semantik beziehungsweise Pragmatik liefern. Auch Neurowissenschaftler, die sich an das »brain reading« gemacht haben, halten, metaphorisch gesprochen, jemandem die Ohren zu, damit dieser nicht hören soll, was sinnvoll und verstehbar gesprochen wird: Sie halten ihren Hörern und Lesern (wenn nicht gar sich selbst) die Ohren zu gegen ein semantisch und pragmatisch sinnvolles Sprechen, damit nicht gehört wird, dass die Syntax immer die Syntax eben des sinnvoll und verständlich Gesagten ist, und nicht eine (formalistisch) eigenständige Struktur. Im tertium comparationis entspricht also dem mangelnden Erwerb der Lesefähigkeit des Knechts beim Hirnforscher der mangelnde Erwerb einer »bewussten« Sprechfähigkeit als einer reflektiert auf Bedeutung und Geltung abstellenden Kommunikationsleistung. Das Programm »Gedanken lesen« entspringt damit einer sprachphilosophischen Fehlorientierung der Neurophysiologie.

KOLLOQUIUM 10

Angewandte Ethik zwischen Rationalitätsanspruch und Weltanschauung Kolloquiumsleitung: Carl Friedrich Gethmann

Carl Friedrich Gethmann Einführung Armin Grunwald Ethik im Trend – ambivalente Beobachtungen Michael Quante Biomedizinische Ethik: Zwischen Rationalität und Weltanschauung? Kritische Reflexionen zur Dialektik einer Fragestellung

Einführung Carl Friedrich Gethmann Mit Blick auf das Thema dieses Kongresses soll in diesem Kolloquium der Frage nachgegangen werden, ob die Themen der Angewandten Ethik zur Welt der Gründe oder zu einer anderen Welt, der der Gefühle, der Weltanschauungen, der religiösen Bekenntnisse bzw. deren vorgeblicher Sachwalter, der Kirchen, der Nicht-Regierungsorganisationen, der Bürgerinitiativen u.a. gehören. Mit dem Begriff der »Angewandten Ethik« werden in der gegenwärtigen Philosophie meistens folgende Themenbereiche angesprochen: (i)

Die Ethik technischen Handelns (vulgo: Technikethik) • Handeln unter Bedingungen der Unsicherheit (Risikovergleiche und pragmatische Konsistenz, Sicherheit, Katastrophen) • Handeln unter Bedingungen der Ungleichheit (Verteilungsgerechtigkeit bei Chancen und Risiken, Partizipation) (ii) Ethik des umsichtigen Naturumgangs (vulgo: »Umweltethik«, »ökologische Ethik«) • Naturschutz / Umweltschutz • Langzeitverantwortung • Tierschutz (iii) Medizinische Ethik (vulgo »Medizinethik«) Gesundheit und Krankheit - Gesundheitssystem • Krankheit und Gesundheit als Wesenszüge der conditio humana • Bedürftigkeit als Ursprung von Verpflichtungen und Berechtigungen • Sozialer Anspruch und Sozialsystem • Die medizinischen Fächer als praktische Wissenschaften Neue diagnostische und therapeutische Handlungsoptionen • Status des Embryo • Klonen • Keimbahnintervention • Leib und Körper: Transplantationsmedizin • Altern • Tod und Sterben Daß die Zuständigkeit für diese Themenbereiche entsprechend der Eingangsfrage nicht trivial ist, zeigen zwei Beobachtungen aus den letzten Monaten: (i) Nach der Katastrophe von Fukushima berief die Bundeskanzlerin eine »Ethikkommission« ein und erläuterte dies so: sie habe als Vorsitzende den ehem. Bundesumweltminister und Leiter des UN-Umweltprogramms Töpfer sowie den Präsidenten der DFG Kleiner berufen, ferner gehöre der Kommission ein Kardinal an.

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Kolloquium 10 · Carl Friedrich Gethmann

Dazu ist anzumerken, daß in der 10-köpfigen Kommission allerlei großgesellschaftliche Agenturen und einige renommierte Wissenschaftler vertreten waren, aber kein bis ein (mit Blick auf Weyma Lübbe, die jedoch eher als Sozialphilosophin denn als Fachethikerin einzuordnen ist und – soweit bekannt – den Abschlußbericht nicht unterstützt hat) Ethiker. (ii) Bei der Diskussion um die rechtliche Zulässigkeit der PID wurde der »Deutsche Ethikrat« um eine Stellungnahme gebeten. Dazu ist anzumerken, daß von den 25 Mitgliedern ca. 5 als Fachethiker zu identifizieren sind. (iii) Bei der Abstimmung über die PID-Gesetzgebung im Deutschen Bundestag wurde die Fraktionsdisziplin aufgehoben, mit der Begründung, daß es hierbei um eine ethische, also eine Gewissensfrage gehe. Dazu ist anzumerken, daß nach dem Grundgesetz die Abgeordneten immer ihrem Gewissen und sonst niemandem unterworfen sind. Gibt es unterschiedliche Gewissen, ethische und andere? Diese Vorgänge der jüngsten Zeit zeigen, daß es offenkundig einen Hiatus, vielleicht sogar Antagonismus gibt zwischen der professionellen Ethik (wie Philosophen sie betreiben – die Ethik ist eine Subdisziplin der Philosophie und sonst keiner Disziplin) als Wissenschaft vom Ethos, der Bürgermoral, der Sitte, dem »Ensemble der Üblichkeiten« (O. Marquard) einerseits und der Auffassung von »Ethik« im öffentlichen, vor allem politischen Gebrauch andererseits.1 Politische Meinungsverschiedenheiten sind oft tolerabel, in diesem Fall aber spiegeln die unterschiedlichen Auffassungen von »Ethik« einen ideologiepolitischen Kampf in der Gesellschaft wider, bei dem es um die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens geht. Kämpfe dieses Tiefgangs haben Bürgerkriegspotential. Dazu erinnere man sich nur an Auseinandersetzungen, die mit Ortsnamen wie Wackersdorf, Gorleben, Mutlangen, Hofgartenwiese oder Themen wie Tierexperimente, Grüne Gentechnik, Hirntod verbunden sind. Gesellschaftliche Konflikte, auch solche um Fragen, die bei manchen Bürgern in den innersten Überzeugungskern reichen, sollten gewaltfrei »bewältigt« werden. Eine gewaltfreie Bewältigung ist eine solche, die durch diskursive (argumentative) Auseinandersetzung, den Austausch der Argumente, im »Raum der Gründe«, kurz: rational erfolgt. Die Ethik ist die »Arena«, in der diese rationale Auseinandersetzung stattfindet. »Eth-ik« (von ars ethica) sollte man also als Disziplinentitel (wie Log-ik, Grammat-ik, Rhetor-ik, Mechan-ik, Opt-ik, Akust-ik, Arithmet-ik) verwenden, und die Disziplin »Ethik« nicht mit ihrem Gegenstand, dem »Ethos« (der Moral, der Sitte) konfundieren. Das Ethos einer Gruppe ist das Ensemble von Üblichkeiten in dieser Gruppe2,

Vgl. dazu ausführlicher C.F. Gethmann: Professionelle Ethik und Bürgermoral. Zur Debatte um die ›Bio-Politik‹, in: Individualität und Selbstbestimmung (Festschrift für Volker Gerhardt), hg. von J.-Ch. Heilinger / C.G. King / H. Wittwer, Berlin 2009, 225–241. 2 Das ist die Übersetzung, die O. Marquard für »ethos« vorgeschlagen hat; vgl. O. Marquard: 1

Einführung

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d. h. kein System mit einer logischen Ordnung und oder wenigstens mit Kohärenznachweis. Üblichkeiten sind Regeln, für die gilt: • Der Akteur erwartet die Einhaltung der Regeln von den Ko-Akteuren. • Die Ko-Akteure wissen, daß der Akteur die Einhaltung der Regeln von ihnen erwartet. • Der Akteur weiß, daß die Ko-Akteure die Einhaltung der Regeln von ihm erwarten. Dabei ist zu beachten, daß solche Regeln nur in einer Gruppe gelten, sogar eine Gruppe wesentlich mit-konstituieren. Ein Ethos ist ein soziales Phänomen. Ein »Individualethos« und entsprechend eine »Individualethik« stellt somit eine contradictio in adjecto, eine »Sozialethik« ein Hendiadyoin dar. Ferner ist zu beachten, daß Erwartungen durch Nicht-Erfüllung enttäuscht, aber nicht »widerlegt« werden. Ethos-, Moral- oder Sitten-Regeln können jedoch »im« Akteur zu Regelkollisionen und zwischen Akteuren zu Regel-Konflikten führen. Schließlich kann es Kollisionen in und Konflikte zwischen ganzen Moral-Ensembles (beispielsweise Familienmoralen, Nachbarschaftsmoralen, Stammesmoralen, Standesmoralen, Klassenmoralen, Rassenmoralen, religiösen Moralen, Staatsmoralen, Wirtschaftsmoralen, usw.) geben. In diesen Fällen wäre es wünschenswert, über Regeln höheren Typs zu verfügen, die Kollisionen und Konflikte aufzulösen erlauben. Diesem Zweck dienen die berühmten ethischen Regeln wie die Goldene Regel, die Glücksmaximierungsregel oder der Kategorische Imperativ. Während Moral-Regeln (»üblicherweise«) handlungs-veranlassend (sowohl Ausführungswie Unterlassungshandlungen betreffend) sein sollen, dienen ethische Regeln der Beurteilung (assessment) von Handlungen. Der Konflikt innerhalb und zwischen Moralen ist der point de départ der Ethik, so wie die Kurzsichtigkeit der point de départ der Optik ist. Konflikte lassen sich gewaltfrei nur auf dreierlei Weisen bewältigen: • präventiv: durch Verzicht auf Handlungszwecke, • kurativ: durch Veränderung von Handlungszwecken und • kompensatorisch: durch Ausgleich der Handlungsfolgen, Quartum non datur. Aufgabe der Ethik ist es demgemäß, Kriterien zur Bewältigung von Konflikten aufzustellen. Diese Aufgabe hat (bisher) offenkundig keine einfache Lösung gefunden, d.h. keine Ethik löst alle Konflikte »angemessen«, relativ zu anscheinend naheliegenden Ausgangsintuitionen (die selbstverständlich ihrerseits kritisierbar sind). Paradigmen der Ethik wie Tugendethik, Nutzenethik, Verpflichtungsethik, Mitleidsethik, Wertethik u.a. bilden eine faktische Pluralität. Nach dem Gesagten müssen Pluralitäten unterschiedlichen Typs unterschieden werden, nämlich die Pluralität

Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981; ders.: Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1986; ders.: Glück im Unglück, München 1995.

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• von ἔθη, Moralen, Sitten, Üblichkeiten (in Gruppen): »moralischer Pluralismus«: • von moralischen Überzeugungen (von Individuen innerhalb von Gruppen): »Pluralismus individueller Überzeugungen«; • von Ethik-Konzeptionen, ethischen »Theorien«, ethischen Paradigmen: »ethischer Pluralismus« Bezüglich der Pluralität von ethischen Paradigmen gelten die Verhältnisse, die grundsätzlich für inter»theoretische« Relationen zu beachten sind, neben anderen: (a) Einheiten wissenschaftlicher Systematisierung (Makrotheorien, Theorien, Paradigmen,) müssen sich nicht immer widersprüchlich zueinander verhalten. (b) Eine theoretische Pluralität diskreditiert nicht die Theorien. Sie ist vielmehr epistemologisch wünschenswert. (c) Es gibt meistens die Möglichkeit, divergente oder konvergente Interpretationen einer theoretischen Pluralität durchzuführen. In bezug auf diese läßt sich leicht das Postulat rechtfertigen: Interpretiere theoretische Pluralitäten möglichst konvergent! Mit dem Phänomen des Ethos befassen sich viele wissenschaftliche Disziplinen, wie die Moralpsychologie (die es vor allem mit dem individuelles Verhalten im Rahmen von Ethos-Ensembles zu tun hat), die Moralsoziologie (die das soziales Verhalten in und zwischen Ethik-Ensembles untersucht), die Moralpädagogik (deren Thema die Erziehung zu moralischem Handeln ist), die Jurisprudenz (soweit sie das Verhältnis von Moral und Recht untersucht), die Moraltheologie (die das Handeln gemäß den Vorstellungen religiöser Ethos-Ensembles systematisiert) u. a. Mit Blick auf das Thema dieses Kolloquiums ist vor allem festzuhalten, daß die Moraltheologien auf religiöse Bekenntnisse bezogen sind, soweit diese (was weder systematisch zwingend noch tatsächlich der Fall ist) moralische Überzeugungen implizieren. Folglich gibt es eine (oder mehrere) katholische, lutherische, muslimische usw. Moraltheologie(n). Für das Verhältnis von Ethik und Jurisprudenz (neuerdings etabliert sich der Begriff der »Rechts-Ethik«) ist das grundsätzliche Verhältnis von Sitte und Recht zu beachten: (a) Die Moral ist der Ausgangspunkt und die intuitive Kontrollinstanz für die Beurteilung der Adäquatheit des Rechts. Es gibt einen residualen Bereich moralischer Orientierung, der für eine Verrechtlichung nicht ausreicht oder sich nicht dazu eignet. Beispiele sind die (vorrechtliche) Wahrhaftigkeit gegenüber den Anforderungen an die Aussage unter Eid oder das (vorrechtliche) Versprechen gegenüber dem förmlichen Vertrag. (b) Das Recht ist in einen historisch-konkreten sozialen Kontext eingebettet (Gruppenrecht, Stammesrecht, staatliches [nationales] Recht, Unionsrecht [EU]). Die Jurisprudenz »behandelt« solche Rechtssysteme. Die Ethik »behandelt« dagegen moralische Normen (-systeme) und stellt (kontextinvariante) Regeln auf. (c) Es gibt »moral-affine« Rechtssysteme (z.B. das Deutsche Grundgesetz). Gerade in solchen Fällen ist auf den Unterschied zwischen den Aufgaben der Ethik und der Jurisprudenz zu achten.

Einführung

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Die »Angewandte« Ethik umfaßt diejenigen Themenbereiche der Ethik, die einen unmittelbaren Handlungsbezug zu konkreten und aktuellen Fragen der öffentlichen Diskussion aufweisen. Der Begriff der »Anwendung« ist jedoch alles andere als klar. Wenigstens drei Bedeutungen lassen sich unterscheiden: (i) subsumtive /deduktive Anwendung (Kant: bestimmende Urteilskraft). Man denke an technische Normen (DIN, TÜV); (ii) reflektierende / induktive (Kant: reflektierende Urteilskraft). Man denke an Präjudizien oder Veränderung von Regel-Gehalten durch Rechtsfortbildung (ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion um das Eigentumsverständnis im Rahmen der informationstechnisch bedingten Urheberrechtsdebatte); (iii) diskursive, wie sie z. B. im Rahmen praktischer Syllogismus rekonstruiert werden. Bei der Variante (i) wird die Regel auf den Fall bezogen, ohne daß sie ihre Bedeutung ändert, bei der Variante (ii) verändert sich die Regel dadurch, daß der Fall sich auf die Regel derart zurückspiegelt, daß sich dadurch ihre Bedeutung verändert. Im Falle (iii) besteht die Anwendung im konklusiven Bezug zwischen einer ethischen Oberprämisse (propositio major) von hoher Allgemeinheit und einem konkreten deskriptiven oder präskriptiven Satz als Unterprämisse (propositio minor). In der Angewandten Ethik dürfte vor allem die Variante (iii) evtl. unter Einbeziehung von Variante (ii) die vorherrschende Rolle spielen. Mit »Anwendung« in der »Angewandten« Ethik ist daher ein Verfahren im Raum der Gründe gemeint. Die professionelle Ethik sollte auf diesem Anspruch bestehen. Dann aber muß sie die Frage beantworten, mit welchen Rationalitätsbedingungen die Angewandte Ethik die Bühne betritt, wenn sie die eingangs genannten Protagonisten der Weltanschauungen und der religiösen Bekenntnisse in ihre kontextvarianten Schranken weisen will.

Ethik im Trend – ambivalente Beobachtungen Armin Grunwald

1. Zur Fragestellung Seit etwa zehn Jahren ist zu beobachten, dass das Wort »Ethik« in den gesellschaftlichen Debatten, bei Politikern und in der Öffentlichkeit, aber auch in der Wirtschaft immer häufiger verwendet wird. In der soziologischen Deutung dieser Entwicklung wird von »Ethisierung« als einem empirisch belegbaren Trend gesprochen (Bogner 2011). Ethikkommissionen und Ethikräte, Ethik-Kodizes und Leitlinien, Forderungen nach einem ethisch korrekten Verhalten in Wissenschaft und Wirtschaft, die Zunahme an ELSI-Studien (ethical, legal and social implications) in vielen Feldern von Wissenschaft und Technik sowie das aktuelle forschungspolitische Schlagwort »Responsible Innovation« (Siune et al. 2009) sind Ausdruck dieser Entwicklung. Aus Sicht der Praktischen Philosophie, näherhin der Angewandten Ethik, sollte dies prima facie eine begrüßenswerte Entwicklung sein. Jedoch, und dies stellt die Ausgangsdiagnose dieses Beitrags dar, führt ein genauerer Blick auf den Ethik-Trend zu mindestens ambivalenten Beurteilungen. So scheint die Zunahme in der Verwendung des Wortes Ethik von der professionellen Ethik weitgehend abgekoppelt zu sein. Ethik wird zusehends zum Synonym für Runde Tische, Mediation und Akzeptanz, während die philosophische Ethik im Ethik-Trend zu verschwinden scheint (Kap. 2). Zu fragen ist, wenn diese Einschätzung zutrifft, offensichtlich, was sie für die Angewandte Ethik bedeutet und welche Konsequenzen diese Diagnose hat. Meine These ist, dass eine adäquate Strategie nur in der »offensiven Einmischung« der philosophischen Ethik in die entsprechenden Debatten bestehen kann (Kap. 5). Um diese zu entfalten, werde ich gemäß dem Selbstverständnis philosophischer Ethik dieselbe als ein Aufklärungsprogramm einführen, das durch Explikation und Rechtfertigung konditional-normativer Argumente Handlungsorientierung in normativer Hinsicht anbieten kann (Kap. 3) und dieses konzeptionelle Modell am Beispiel des noch recht jungen Schlagwortes »Responsible Research and Innovation« (RRI) in Bezug auf den dort zentralen Verantwortungsbegriff und auf Fragen der Akzeptabilität illustrieren (Kap. 4).

2. Ethik im Trend Seit einigen Jahren wird von einer ›Ethisierung‹ in Wissenschaft und Technik gesprochen (Siune et al. 2009, Bogner 2011). Der Begriff wird nicht präzisiert (Grunwald 2012). Zumeist, so lassen sich die Diagnosen interpretieren, ist es die verstärkte Nutzung von Worten wie »ethisch« oder »moralisch« auf der politischen Bühne, in Massenmedien

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und Öffentlichkeit sowie in der Wirtschaft. Gelegentlich wird auch, nur scheinbar etwas präzisier, von einer Verschiebung in der Ausrichtung von Debatten von der Risikoorientierung hin zu einer Ethik-Orientierung gesprochen (Bogner 2011). Scheinbar, weil dort nicht einmal thematisiert wird, ob diese Diagnose nicht schief sei, haben doch Risikokontroversen unzweifelhaft eine ethische Dimension (Nida-Rümelin 1996, Gethmann/Mittelstraß 1992). Um von Ethik »als Trend« sprechen zu können, reicht die zunehmende Begriffsverwendung. Indizien dafür gibt es mehr als genug. Am augenfälligsten in der öffentlichen Debatte ist die verbreitete Einrichtung von Ethik-Kommissionen und Beiräten auch außerhalb ihres klassischen Ortes der Universitätskliniken. Der Deutsche Ethikrat und die Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung (auch Töpfer-Kommission genannt) sind wohl die in Deutschland prominentesten Beispiele. Ein weiteres Indiz stellt die Zunahme von Ethik-Kodizes (Codes of Conduct) und ethischen Leitlinien dar. Als der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) sich 2002 – nach Vorbereitung durch eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe unter philosophischer Leitung (Hubig/Reidel 2004) – sich einen Ethik-Kodex gab, war das in Deutschland, anders als vor allem in den USA, noch eher ungewöhnlich. Heute haben nicht nur wissenschaftlich-technische Vereinigungen oder Akademien der Wissenschaft einen Ethik-Kodex, sondern dieses Mittel wird auch zur Steuerung von Forschung genutzt. Das prominenteste Beispiel dürfte der Code of Conduct sein, den die Europäische Union für im Jahre 2008 für den verantwortlichen Umgang mit der Nanotechnologie beschlossen hat. Gerade auch in diesem Umfeld, der »new and emerging science and technology« (NEST) ist ebenfalls die rasche Verbreitung von ELSI-Studien zu neuen Technologien und von ethischer Begleitforschung zu nennen (Grunwald 2008). Schließlich stellt die seit einigen Jahren aufgekommene Rede von »Responsible Innovation«, heute vielfach erweitert zu »Responsible Research and Innovation« (RRI), ein weiteres Indiz für Ethisierung dar, gehört doch Verantwortung zu den zentralen Begriffen Angewandter Ethik (dazu Kap. 4). Auch in der internationalen Forschungsförderung und Forschungspolitik ist Ethik als Trend zu beobachten. Die Europäische Kommission hat die European Group on Ethics (EGE) für themenbezogene ethische Beratung berufen und für die Forschungsrahmenprogramme ethische Leitlinien in Kraft gesetzt, deren Beachtung im Rahmen von »Ethical Impact Assessments« geprüft wird. Typische Themen sind die Vermeidung von Diskriminierung, Tierexperimente, Umgang mit persönlichen Daten und geistige Eigentumsrechte. Ähnliches ist beim European Research Council zu finden, in der European Science Foundation und auch beim Europarat. Auf der globalen Ebene wurde die World Commission on the Ethics of Scientific Knowledge and Technology (COMEST) eingesetzt und bei der UNESCO angesiedelt. Mit diesen Leitlinien, Kodizes und Kommissionen werden unterschiedliche Ziele verfolgt, teils in nicht sehr transparenter Weise. Grob kann unterschieden werden zwischen ethischen Fragen des Forschungsprozesses selbst, z. B. in Bezug auf die eingesetzten Mittel und Verfahren, etwa den Umgang mit Tieren und Daten betreffend, und ethischen Fragen, die mit Ergebnissen der Forschung verbunden sein können, z. B. in Bezug auf gesellschaftliche Folgen der Nutzung dieser Ergebnisse. Geht es im ersteren Fall eher um das Ethos des For-

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Kolloquium 10 · Armin Grunwald

schens, also in der Reflexion um eine Wissenschaftler-Ethik, so ist betrifft der zweite Fall den Umgang der Gesellschaft mit ethischen Fragen der Folgen von Wissenschaft und Technik. Der letzt genannte soll im Folgenden im Vordergrund stehen. Der Zunahme in der öffentlichen, politischen und auch wissenschaftlichen Verwendung der Worte »Ethik« und »ethisch«, teils auch in mangelnder Begriffsdifferenzierung von »Moral« und »moralisch«, entspricht jedoch nicht unbedingt eine stärkere Involvierung professioneller Ethik als philosophischer Teildisziplin (Bogner 2009). In Bezug auf politisch sichtbare Ethik-Kommissionen ist dies bereits des Öfteren angemerkt worden; besonders deutlich wird die Diskrepanz, wenn Ethik als philosophische Teildisziplin in derartigen Kommissionen bestenfalls eine Randrolle zugewiesen bekommt. Die so genannte Ethik-Kommission für eine sichere Energieversorgung, die nach dem Fukushima-Desaster eingesetzt worden war, hatte siebzehn Mitglieder, darunter gerade eine Vertreterin der Praktischen Philosophie. Stattdessen waren neben einigen Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen die einflussreichen Forschungsorganisationen, die Kirchen, Arbeitgeber und Gewerkschaften vertreten. Ähnlich verhält es sich beim Deutschen Ethikrat. Die Verwendung des Wortes Ethik hat scheinbar (fast) nichts mit der philosophischen Teildisziplin Ethik zu tun. Wenn die Diskrepanz so offenkundig ist, stellt sich jedoch die Frage, wofür das Wort Ethik dann steht. Es ist doch kaum anzunehmen, dass, wenn die Töpfer-Kommission statt »Ethik-Kommission für eine sichere Energieversorgung« nur »Kommission für eine sichere Energieversorgung« geheißen hätte, das ihre Ausrichtung oder Erfolgsbedingungen verschlechtert hätte. Ein Erklärungsversuch könnte sein, dass das Wort Ethik dahingehend zu verstehen ist, dass es in den dort zu beratenen Fragen nicht um Sachfragen – für die man üblicherweise Experten beruft – geht, sondern um Werturteile. In Werturteilsfragen, so würde die Erklärung fortfahren, seien gerade nicht Experten zuständig, sondern Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, die unterschiedliche Werte vertreten. Wenn die Aufgabe von Ethik-Kommissionen im politischen Bereich darin gesehen wird, die Möglichkeiten gesellschaftlicher Konsense in Bezug auf Werturteile auszuloten, dann erfordere dies in Anerkennung der moralischen Pluralität der modernen Gesellschaft, so könnte man weiter deuten, in derartigen Kommissionen die Gesellschaft »in nuce« abzubilden, d. h. diese Kommissionen so zusammenzusetzen, dass in ihnen Debatten und Aushandlungsprozesse stellvertretend für die Gesellschaft betrieben werden können. Ethik als philosophische Teildisziplin wird dann ersichtlich nicht benötigt, entspricht ihr doch keine mächtige gesellschaftliche Gruppe. Wenn diese Hypothese zutrifft, dann ist der Ethik-Trend zunächst eine Anerkennung der moralischen Pluralität der modernen Gesellschaft ohne jede Erwartung, dass bestimmte moralische Überzeugungen anderen argumentativ überlegen sein könnten (Bogner 2011). Im moralischen Subjektivismus wird das Geschäft der philosophischen Ethik, Moralbegründungen zu rekonstruieren, sie nach Maßgabe argumentativer Qualität zu beurteilen und damit bestimmte vor anderen auszuzeichnen, obsolet. In moralischen Fragen würde nicht mehr auf dem Wege eines geltungsorientierten Diskurses argumentiert, sondern die unterschiedlichen Positionen würden sozial ausgehandelt (Bogner 2009, 2011). Dabei können Argumente durchaus eine Rolle spielen, sie

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stünden aber konzeptionell nicht im Zentrum. Die Mitglieder einer Ethikkommission sind in diesem Sinne als Vertreter gesellschaftlicher Gruppen anzusehen, die moralische Positionen und Interessengruppen vertreten und diese in einem Aushandlungsprozess versuchen durchzusetzen. Auch wenn das Aufkommen von Ethikkommissionen als Modernisierungsschritt verstanden werden kann (Bogner 2011), wäre ein Platz für philosophische Ethik damit prima facie nicht verbunden. Man könnte paradox formulieren: der Ethik-Trend hat mit Ethik nichts zu tun. Etwas anders, aber in der Tendenz nicht unähnlich, verhält es sich mit den EthikDebatten zu neuen Technologien. Auch hier gibt es einen Ethik-Trend, der sich vor allem in Form der genannten ELSI-Studien zu Wissenschaft- und Technikfeldern wie Nanotechnologie, Human Enhancement und Synthetische Biologie niederschlägt, aber auch durch Stellungnahmen von Wissenschaftsorganisationen zur Notwendigkeit von Ethik (z. B. acatech 2009 für die Synthetische Biologie), durch konzeptionelle Überlegungen (Rip/Swierstra 2007) und durch massenmediale Thematisierung. Auch hier ist der Trend nur lose (aber immerhin das!) mit philosophischer Ethik verbunden und eher Ausdruck einer allmählich gewachsenen Erkenntnis, dass Gesellschaft sich früh mit neuen Zweigen von Wissenschaft und Technik sowie ihren möglichen Folgen und deren ethischer Beurteilung befassen solle. Dies lässt sich z. B. an der Debatte zur Nanotechnologie zeigen. Bereits früh wurde ein Bedarf nach Ethik zur Nanotechnologie angemeldet – interessanterweise in den ersten Publikationen einer innovationspolitischen Motivation folgend, dass nämlich Ethik nötig sei, um drohende mangelnde Akzeptanz der Nanotechnologie zu verhindern (vgl. die Rekonstruktion in Grunwald 2008, Kap. 5). Innerhalb kurzer Zeit kam es geradezu zu einer Explosion der Arbeiten zu ethischen Aspekten der Nanotechnologie und zu einer inflationären Verwendung des Wortes ›Nanoethics‹ (ebd.). Beim näheren Hinsehen jedoch zeigen sich rasch Ambivalenzen. So stellt sich das mit dem Anspruch einer umfassenden Anthologie auftretenden Buch ›Nanoethics‹ (Allhoff et al. 2007) als eine informative und lesenswerte Sammlung von Aufsätzen zu nahezu allen denkbaren Themen im Umfeld gesellschaftlicher Aspekte der Nanotechnologie heraus. Es geht z. B. um Forschungsprogramme, die (U.S.-)öffentliche Debatte, um technologische Revolutionen und ihre Vorhersagbarkeit, um demokratietheoretische Fragen, um öffentliches Engagement, Bildungsreform, Entwicklungsländer und militärische Entwicklungen – Themen, deren ethische Relevanz teils alles andere als evident ist. Daran, das ethisch Interessante an diesen Themen herauszuarbeiten, bestand wohl kein Interesse. Damit werden in der »Nanoethics« die spezifischen Lösungsbeiträge philosophischer Ethik für gesellschaftliche Fragen der Nanotechnologie undeutlich bis unsichtbar. Philosophische Ethik als professionelle Befassung mit normativen Aspekten von Technik tritt kaum bis gar nicht in Erscheinung. ›Nanoethics‹, so verstanden, ist begrifflich paradox: eine Abschaffung oder zumindest ein Ausblenden von professioneller Ethik in der und für die Nanotechnologie. Dies ist kein Einzelfall, sondern konsequentes Ergebnis einer Entwicklung, in der »Ethik« zu einem Oberbegriff für alles geworden ist, was kein Labor braucht und mit gesellschaftlichen Herausforderungen und entsprechender Akzeptanz zu tun hat, mögen das nun Fragen der Governance, der Sozial- oder Politikwissenschaft,

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der Wissenschaftskommunikation oder – das ist wenigstens nicht ausgeschlossen – Fragen der Angewandten Ethik sein. Manche Naturwissenschaftler und Ingenieure gehen noch einen Schritt weiter und verstehen unter Ethik primär ein Mittel zur Beruhigung der öffentlichen Debatte und zur Akzeptanzvermehrung. Ein zweites Beispiel in der gleichen Richtung stellt die Synthetische Biologie dar. Dort wird der Mensch vom Veränderer des Vorhandenen zum Schöpfer von Neuem, jedenfalls nach einigen Zukunftsvisionen: »In fact, if synthetic biology as an activity of creation differs from genetic engineering as a manipulative approach, the Baconian homo faber will turn into a creator« (Boldt/Müller 2008, S. 387). Die genannte EthikKommission der EU (EGE) hat bereits 2005 in einem Bericht an die Kommission ihre Sorge ausgedrückt, dass hier die Befürchtung, in der Synthetischen Biologie »spiele der Mensch Gott«, zu öffentlichen Debatten und Ängsten Anlass geben könnte. Nun ist die Befürchtung des »Playing God« nicht sehr neu, sondern begleitet viele Schritte des wissenschaftlich-technischen Fortschritts. In der Tat, betrachtet man die massenmediale Behandlung der Synthetischen Biologie, taucht die Metapher vom »Gott spielen« dort relativ häufig auf. In DER SPIEGEL (following Synthethics 2010) wurde getitelt »Konkurrenz für Gott«, und die Nichtregierungsorganisation ETC Group benannte dies in der Form: »For the first time, God has competition« (ETC 2007). Nun ist »Gott spielen« jedoch kein Thema der philosophischen Ethik. Das »Playing God« ist Ausdruck von Sorgen und Befürchtungen, berührt aber keine eigentlich ethischen Fragen des Handelns im Bereich der Synthetischen Biologie, da die Frage, wo das ›Playing God‹ beginnt und wo es aufhört, sinnlos zu sein scheint. Dennoch wird in der Öffentlichkeit genau diese Frage als die genuin ethische Frage der Synthetischen Biologie bezeichnet. Diese Beispiele zusammenfassend lassen sich damit zwei Anteile im Ethik-Trend bestimmen, die beide für die professionelle Ethik problematisch sind. Dies ist zum einen ihre Verwässerung im öffentlich-politischen aber auch wissenschaftlichen Bereich, die aus einer unspezifischen Verwendung resultiert: unter Ethik wird alles Mögliche in Bezug auf die Wünschbarkeit und Nichtwünschbarkeit, Akzeptanz oder Nichtakzeptanz von Technik und Technikfolgen verstanden. Ethik bezeichnet danach die »weiche Seite« von Wissenschaft und Technik, nicht aber einen spezifischen professionellen Zugang, schon gar nicht etwas, was mit Forschung und Wissenschaftlichkeit zu tun hat. Zum anderen, und dies ist möglicherweise noch schwerer wiegend, ist diese Verwässerung mit einem moralischen Subjektivismus verbunden, der sich besonders in den EthikKommissionen zeigt und der bereits vom Ansatz her professionelle Ethik ausschließt. Beides kann in dem Satz zusammengefasst werden: In der Ethisierung verschwindet die Ethik. 3. Angewandte Ethik als Expertise Die zentrale Frage, die sich an professionelle Angewandte Ethik nunmehr stellt, ist, wie es um ihre eigene Position inmitten dieser Ethisierung bestellt ist, in der scheinbar, auf die erwähnten Ethikkommissionen anspielend, ethische Fragen an Interessenvertreter delegiert werden und ethische Expertise nicht erforderlich oder auch gar nicht – im

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Sinne eines moralischen Subjektivismus – als möglich erscheint. Meine These dazu ist, dass Angewandte Ethik sich offensiv in die entsprechenden Debatten einbringen sollte (dazu Kap. 4). Dies kann nicht dadurch erfolgen, dass einfach die eigene Bedeutung proklamiert wird; stattdessen muss die eigene Kompetenz und Unverzichtbarkeit in der Behandlung moralischer Fragen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts erwiesen werden. Zu diesem Zweck werde ich zunächst die Bedingungen der Möglichkeit untersuchen, Ethik als Expertise zu betreiben (Grunwald 2003). Expertise meint im allgemeinen ein Wissen, das (a) über die Sphäre des subjektiven Meinens und Glaubens hinaus Geltung beanspruchen kann und das (b) als Beratung für ein zu lösendes Problem eingesetzt werden kann: handlungsleitendes Wissen, das dem Anspruch von TransSubjektivität genügt. Es ist eine der großen Fragen der Metaethik, ob und auf welche Weise Ethik in Form von Expertise möglich ist.

3.1 Technischer Fortschritt, Moral und Ethik Der wissenschaftlich-technische Fortschritt erweitert die Handlungsmöglichkeiten des Menschen und vermindert die Abhängigkeit vom Vorgegebenen. Dadurch werden bislang bestehende faktische Handlungsbegrenzungen aufgelöst oder durchlässig, es werden moralische Standards in Frage gestellt oder neue Fragen aufgeworfen. In der damit verbundenen Zunahme der Kontingenz entstehen neben neuen Entscheidungsfreiräumen auch Orientierungsprobleme. Dies zeigt sich zurzeit deutlich in den Debatten um die technische Verbesserung des Menschen durch »Converging Technologies« (Roco/ Bainbridge 2002, Grunwald 2008, Kap. 9), in der menschlicher Körper und Geist zunehmend als gestaltbar erscheinen, und um die Synthetische Biologie, die das Ziel der technischen Herstellung von Leben verfolgt, oder auch in der aufkommenden Debatte um ein »Climate Engineering« als technischen Ansatz, dem Klimawandel zu begegnen (TATuP 2010). In der Situation aufgelöster, verflüssigter oder ›aufgeweichter‹ traditioneller Orientierungen und Selbstverständlichkeiten müssen neue Orientierungen zum Handeln und Entscheiden bestimmt werden. Die Beachtung bislang nicht überschreitbarer oder nicht hinterfragter Grenzen wird ersetzt durch ein mehr oder weniger explizites gesellschaftliches ›Grenzmanagement‹ oder gar eine ›Grenzpolitik‹ (Beck/Lau 2004). Grenzmanagement heißt demzufolge zunächst, die bestehenden Grenzen des Handelns – seien es praktische Grenzen des nicht anders Möglichen oder moralische Grenzen des bislang Üblichen – zu erkennen und zu reflektieren. Nur vor dem Hintergrund erkannter Grenzen können sodann Elemente des wissenschaftlichen Fortschritts als Grenzüberschreitungen thematisiert werden. Grenzmanagement in diesem Sinne besteht aus einem konstruktiven Umgang mit dem Spannungsfeld aus neuen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten, etablierten Werten, Zukunftserwartungen oder -befürchtungen und erheblichen kognitiven und normativen Unsicherheiten. Positiv formuliert heißt dies, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt bestimmte Fragen erst aufwirft, die bis dato nicht existent waren, oder bekannte in einem neuen Licht erscheinen lässt. Noch

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anders ausgedrückt: es entsteht normative Unsicherheit. Neues wissenschaftliches Wissen und technisches Können kann Situationen, die bis dato als »Standardsituationen in moralischer Hinsicht« angesehen werden konnten, in denen die anerkannten Üblichkeiten und Regeln zur normativen Orientierung aller auftretenden Handlungs- und Entscheidungsnotwendigkeiten ausreichte, in »Nicht-Standardsituationen« überführen, die durch normative Unsicherheiten und damit einen ethischen Orientierungsbedarf gekennzeichnet sind (zu diesem Konzept genauer Grunwald 2008). Diese Situationsbeschreibung erfordert offensichtlich die Unterscheidung von Moral und Ethik. Unter ›Moral‹ verstehe ich Gewohnheiten, Üblichkeiten, Werte, Tugenden, Handlungsregeln und Normen, die von Individuen, Gruppen oder der ganzen Gesellschaft faktisch anerkannt sind und die dort die normative Basis für Handlungen und Entscheidungen bilden. Moralen bilden die Gesamtheit der in einem bestimmten Kontext faktisch anerkannten und befolgten normativen Anteile von Handlungs- und Entscheidungsgrundlagen (Gethmann 1982) und sind mit Mitteln der Sozialforschung oder der Kulturwissenschaften empirisch erforschbar. ›Ethik‹ bezeichnet die systematische und theoriegeleitete Reflexion über Moral(en): Ethik ist die Reflexionstheorie der Moral (Gethmann/Sander 1999). Durch Reflexion der empirisch zugänglichen und faktisch wirksamen Moralvorstellungen sollen Orientierungen des Handelns und Entscheidens im Falle normativer Unsicherheit erbracht werden, also wenn die faktischen Moralen nicht mehr hinreichen, um Entscheidungen zu treffen. Normative Unsicherheit kann in Konflikten, Mehrdeutigkeiten oder Unsicherheiten über die im Einzelfall angemessene oder ›richtige‹ Moral bestehen. Ethische Reflexion kann zur Konstruktion weitergehender, also über die bestehenden Moralen hinausgehender, normativer Orientierungsangebote für die betreffende Situation führen, es kann zu einer Modifikation bestehender Moralen kommen, aber auch zu ihrer Bekräftigung. Die Ergebnisse ethischer Reflexion ergeben sich aus einem ergebnisoffenen Analyse- und Diskursprozess und verdanken ihre argumentative Kraft der Rationalität dieses Prozesses (Habermas 1991). Ethik und Moral sind nach dieser Bestimmung kategorial verschieden: »Im Gegensatz zu den Sätzen der Moral dienen diese [Sätze der Ethik] aber nicht der Handlungsanleitung, sondern der Handlungsbeurteilung« (Gethmann 2000, S. 63). Die Unterscheidung von Moral und Ethik erlaubt eine Klärung des Begriffs der Ethisierung: Ethisierung würde heißen, dass normative Unsicherheiten vermehrt auftreten und mit Mitteln der Ethik bewältigt werden sollen (Grunwald 2012).

3.2 Ethik als konditional-normative Expertise Motivation der Ethik sind Probleme und Bedarfe, die aus einer gesellschaftlichen Praxis heraus erwachsen. Ethik ist problemorientiert, bezieht sich auf eine außer ihr selbst liegende Praxis und ist Mittel zu außer ihr selbst liegenden Zwecken. Wir reflektieren nicht »einfach so« oder aus einem innerwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse auf Moralen, sondern bei Bedarf – d. h. wenn normative Unsicherheit auftritt oder als möglich

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antizipiert wird. Insofern diese Ethik als Expertise soll auftreten können, geht es im Folgenden um die Struktur der Ergebnisse ethischer Reflexion und ihre Geltung. Die Einlösung des Anspruchs problemorientierter Ethik, in Fällen der geschilderten Art zur Bewältigung der Problemsituation und zur Beantwortung der involvierten moralischen Fragen beizutragen, erfordert sowohl einen Bezug auf die jeweiligen Konfliktfelder und deren normative Strukturen (seien dies Fragen der medizinischen Behandlung, des Umgangs mit menschlichen Embryonen, der Verteilungsgerechtigkeit im Sozialstaat oder nach journalistischer Verantwortung), als auch eine Legitimation der entsprechenden Lösungsangebote. Ethische Orientierung und Beratungsleistung müssen über die Sphäre des subjektiven Meinens und Glaubens hinaus Geltung beanspruchen, sollen sie gesellschaftliche Belange orientieren. Während moralische Rede (z. B. über involvierte Werte) in derartigen Konflikten grundsätzlich Partei für oder gegen eine der beteiligten Positionen bezieht, steht ethische Reflexion außerhalb des von den Konfliktpartnern aufgespannten normativen Rahmens und zielt darauf ab, Handlungsorientierungen jenseits der faktisch bereits anerkannten zu erarbeiten. Ethische Beratungsangebote müssen, um dieses leisten zu können, eine diskursive Überprüfungsprozedur bestehen. Eine solche bedarf der vorgängigen Anerkennung von prädiskursiven Einverständnissen (Gethmann 1979). Jeglicher argumentativen Auseinandersetzung muss eine von den jeweiligen Kommunikationsteilnehmern gemeinsam anerkannte Basis zugrunde liegen. Ansonsten müsste die Argumentation entweder auf dezisionistischer Setzung des Anfangspunktes, einem unendlichem Regress oder in einem zirkelförmigen Argument bestehen (Janich et al. 1974). Das für ethische Beratung generell erforderliche prädiskursive Einverständnis umfasst zumindest (Gethmann 1982, erweitert nach Grunwald 2003): (1) lebensweltliche Zustimmung, dass Moralkonflikte überhaupt gewaltfrei und argumentativ bewältigt werden sollen (2) Übereinstimmung in Bezug auf die begriffliche Basis und grundlegende Unterscheidungen im Diskurs (3) Bereitschaft zur Anerkennung besserer Argumente gemäß der Argumentationstheorie (z. B. Toulmin 1958; Schneider 1994) (4) Einverständnis über gemeinsam anerkannte Regeln, z. B. zur Sicherung von Chancengleichheit (5) Gelingenszuversicht, dass eine ethische Herangehensweise an moralische Konflikte überhaupt Erfolgsaussichten hat In praktischen Kontexten sind darüber hinaus Vorabvereinbarungen substantieller Art zu treffen, z. B. die Eingrenzung der in Frage kommenden Optionen oder das Spektrum der jeweils zugelassenen Argumentationstypen betreffend. Ein solches kontextbezogenes Einverständnis als Basis einer ethischen Deliberation sei prädeliberatives Einverständnis genannt (Grunwald 2008, Kap. 3). Pragmatisches Ziel verständigungsorientierter Bewältigung von normativen Unsicherheiten ist die Beseitigung oder Überwindung handlungs- und entscheidungshemmender Faktoren, nicht der Konsens in jeder Hinsicht. In vielen Fällen ist es möglich, das weitere Handeln unter kollektiver Verständigung zu

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ermöglichen, ohne bis ins letzte Konsens erreicht zu haben, z. B. durch eine Entfundamentalisierung von Konfliktsituationen oder durch Formen eines Dissensmanagement (vgl. Hubig 2007). Wenn ein prädeliberatives Einverständnis in einer Kommunikationsgemeinschaft vorliegt, ist mit Grund, jedenfalls im Rahmen praktischer Rationalität, zu erwarten, dass das Ergebnis einer darauf aufbauenden ethischen Beratung akzeptiert wird. Die faktische Akzeptanz des prädeliberativen Einverständnisses unter den Akteuren führt zu der Akzeptabilität der Ergebnisse (Grunwald 2005). Ethische Orientierung als Deliberationsresultat ist damit trans-subjektiv gültig nur relativ zur Anerkennung des prädeliberativen Einverständnisses. Der Geltungsbereich dieses Einverständnisses, d. h. die Reichweite seiner Zustimmungsfähigkeit, ist sodann auch die Reichweite der Geltung der ethischen Orientierung; jemand, der auf der Basis eines anderen Einverständnisses argumentiert, kann zu anderen Ergebnissen kommen. Die Rechtfertigungsstruktur ethischer Urteile ist nicht losgelöst von gesellschaftlichen Strukturen zu denken. Im gesellschaftlichen ›Sein‹ – wie es sozialwissenschaftlich erforschbar ist – sind normative Strukturen enthalten, auf die in der reflexiven Befassung mit normativen Unsicherheiten zurückgegriffen werden kann (Nida-Rümelin 2006) – und muss, da anderenfalls eine argumentative Basis für ethische Orientierung nicht erkennbar wäre. Ethik führt also nicht zu normativen, sondern – wegen der Abhängigkeit von prädeliberativen Einverständnissen – zu konditional-normativen Aussagen. Über die praktische Umsetzung dieser Expertise entscheidet das In-Kraft-Setzen der AntezedensBedingungen der entsprechenden Wenn/Dann-Ketten. Hierfür ist jedoch nicht Ethik, sondern die Gesellschaft in ihren dafür eigens eingerichteten, beauftragten und legitimierten demokratischen Institutionen zuständig. Dies meint der ›Primat der Demokratie vor der Philosophie‹ (Rorty 1998). Ethik kann damit nicht substantielle Antworten auf die Frage geben, was in Fällen normativer Unsicherheit zu tun sei. Schon gar nicht kann Ethik etwas zu gut/böseBewertungen sagen, wie dies immer wieder in soziologischen Rezeptionen unterstellt wird (Bechmann 1993, Bogner 2011). Ethische Expertise in Situationen normativer Unsicherheit fungiert als Informierung, Orientierung und Aufklärung der entsprechenden Debatten und Entscheidungsprozesse in normativer Hinsicht. Fragen des Dürfens und des Entscheidens oder auch von gut/böse-Bewertungen können an Ethik weder delegiert noch von ihr abschließend zu lösen beansprucht werden. Das verhindert bereits die Definition von Ethik als Reflexionstheorie – Reflexion führt zur Distanzierung vom Objekt der Reflexion (und dieses Objekt sind definitionsgemäß Moralen), nicht zu einer Identifizierung – also auch nicht zu einer Moralisierung, sondern zu einem distanzierten Verhältnis zu Moralen. Ethik als Expertise ist somit möglich, indem sie Wenn/ Dann-Ketten rekonstruiert, für deren Geltung argumentiert werden kann. Diese Expertise ist darüber hinaus spezifisch für Ethik: argumentative Rekonstruktion von Wenn/ Dann-Ketten, an deren Ende eine Aufforderung, eine Erlaubnis oder ein Verbot stehen, ist nicht Teil des Aufgabenspektrums anderer Disziplinen – außerhalb der Rechtswissenschaften, denen freilich, anders als der Ethik, Gesetzestexte zur argumentativen Stützung der Wenn/Dann-Ketten zur Verfügung stehen. Wenn es also darum geht, um

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an den Anfang dieses Kapitels zu erinnern, das Spezifische deutlich zu machen, dass ethische Expertise in den »Ethik-Trend« im Sinne des Kap. 2 einbringen kann, muss es diese spezifische Perspektive auf normative Argumentationsstrukturen und ihre Prämissen und Präsuppositionen sein. Die Möglichkeit ethischer Expertise lässt sich also methodisch aufzeigen, führt jedoch zu einem bescheidenen Verständnis der Möglichkeiten von Ethik (Grunwald 2003). In moralischer Hinsicht ist jedoch aufgrund der moralischen Autonomie der Individuen nicht von Expertise zu sprechen, sondern von Positionen und Stellungnahmen. Der Ansatz der eingangs erwähnten Ethik-Kommissionen, in denen moralische Fragen verhandelt werden, ist also insoweit zu unterstützen, als dass das »wirkliche Gespräch« (Schwemmer 1986) zwischen Vertretern unterschiedlicher Positionen in der Tat geführt werden muss. Jedoch bedeutet dies nicht, dass Ethik als Expertise hier keinen Platz hat. Zum einen ist Ethik für die »Geschäftsordnung des moralischen Diskurses« zuständig (Gethmann/Sander 1999, S. 123). Zum anderen kann sie, und dies sei im Folgenden gezeigt, substantielle, freilich konditional-normative Beiträge zu diesem wirklichen Gespräch leisten. 4. Responsible Research and Innovation: Ethisierung als Aufklärung Das im Vorgehenden entwickelte Verständnis von ethischer Expertise sollte, dies wäre die nächste Herausforderung, seinen Platz in den Ethik-Debatten um Wissenschaft und Technik erhalten. Hierzu wird als Beispiel das relativ neue Schlagwort von »Responsible Research and Innovation« herangezogen (dazu 4.1), indem gefragt wird, was und wie ethische Expertise dort spezifisch beitragen kann (4.2). 4.1 Responsible Innovation In unterschiedlichen Konzeptionen der sozialkonstruktivistischen Technikgestaltung (z. B. Rip et al. 1995) wird Technikentwicklung als sozialer Prozess verstanden, der mit politischen Implikationen, gesellschaftlichen Gruppen, ihren Strategien und Interessen verbunden ist. Dies ermöglicht es, auch normative Vorstellungen in die Gestaltung einfließen zu lassen, z. B. über die Forderungen nach einer verantwortlichen Technik, wie dies z. B. im Ansatz des Value Sensitive Design versucht wird (van de Poel 2009). In ›Responsible Research and Innovation‹ sollen ethische Überlegungen, Folgenreflexion und die Beteiligung von Nutzern und Betroffenen den gesamten Prozess der Technikentwicklung von den frühen Phasen im Labor über Entwurf, Design und Produktion bis hin zum Einsatz begleiten. Ein Fallbeispiel ist das seit 2009 bestehende Forschungsprogramm »Responsible Innovation – Ethical and Societal Exploration of Science and Technology«. Ausgerichtet von der »Dutch Organisation for Scientific Research« (NWO) dient es der Förderung von Projekten, in denen die Erforschung ethischer und sozialer Fragen neuer Technologien in einen engen Kontext mit Technikentwicklung gestellt wird. In der Selbstbeschreibung lautet dies:

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The Responsible Innovation programme involves research into the ethical and societal aspects of new technologies (e. g. ICT, nanotechnology, biotechnology and brain sciences) and of changes in technological systems (e. g. energy, transport, agriculture and water). The programme’s objective is to help ensure that technological and scientific advances become properly embedded in society. To this end the funded projects not only result in scholarly analysis and an understanding of a particular problem, but subsequently also lead to a ‘design perspective’. … Right from the start, research, development and design incorporate relevant ethical and societal aspects. This allows researchers to make a genuine contribution to responsible innovation (NWO 2010). Das Programm zielt darauf, durch die Erforschung von ethischen und gesellschaftlichen Aspekten von Technik möglichst direkt zu ihrer adäquaten Gestaltung beizutragen. In Bezug auf die in Kap. 2 genannte Verwässerungsproblematik herrscht in diesem Programm eine unbestimmte Pluralität: in den Projekten kommt sowohl professionelle Ethik vor wie es auch Aushandlungsrunden mit Stakeholdern, Betroffenen und Bürgern gibt. Zentral ist ersichtlich der Verantwortungsbegriff, der freilich nicht explizit gefasst wird, sondern ebenfalls einer unbestimmten Mehrdeutigkeit unterliegt. Im Folgenden soll es darum gehen, an Beispielen zu zeigen, wie ethische Expertise beitragen kann, zunächst durch eine Analyse des Verantwortungsbegriffs (4.2), sodann zu einem konkreten Fall aus der Risikoethik (4.3).

4.2 Zum Verantwortungsbegriff Bekanntermaßen wird der Gebrauch des Redens über Verantwortung vom Verdacht bloßer Rhetorik begleitet. Um diesem – häufig begründeten – Verdacht zu begegnen, sind Semantik und Pragmatik des Begriffs zu klären. Verantwortung ist kein quasiontologisches Prädikat und kein ›Naturgegenstand‹, sondern Resultat einer Zuschreibungshandlung (Grunwald 1999), entweder wenn Handelnde sie sich selbst zuschreiben und damit etwas über die Beurteilung ihrer eigenen Handlungen oder den Umgang mit deren Folgen ex ante oder ex post aussagen, oder durch die Verantwortungszuschreibung durch andere. Die Forderung nach pragmatischer Konsistenz rationaler Akteure führt darauf, dass eine Instanz, die bestimmten Personen oder Gruppen eine spezifische Verantwortung zuschreibt, darauf achten muss, ob diese die zugeschriebene Verantwortung auch faktisch wahrnehmen können. Wenn die zuschreibende Instanz nun selbst in der Lage ist, die Bedingungen zu beeinflussen, unter denen die Übernahme von Verantwortung praktisch möglich ist, kann dieses Argument der pragmatischen Konsistenz dahingehend verschärft werden, dass die zuschreibende, also Verpflichtungen delegierende Instanz sich damit selbst verpflichtet, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die verantwortlich gemachten Akteure ihrer Verantwortung auch gerecht werden können. Argumentationen dieses Typs, die Bedingungen der Möglichkeit von Verantwortung zu rekonstruieren, sind typische Beiträge philosophischer Begriffsklärung.

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Der Verantwortungsbegriff muss als zumindest dreistelliger Begriff rekonstruiert werden: jemand (ein Verantwortungssubjekt) verantwortet etwas (Handlungsresultate als Objekt der Verantwortung) vor einer Instanz (einer Person, einer Institution, einem Regelwerk, einer Moral etc.). Die moralische Dimension erschließt sich jedoch erst in der Rekonstruktion des Verantwortungsbegriffs als vierstellig, wenn gefragt wird, relativ zu welchen Regelsystemen Verantwortung übernommen werden soll. Diese Regeln bilden den normativen Rahmen für die Beurteilung von Handlungen als verantwortbar dar. Insofern es hier zu normativen Unsicherheiten kommt, z. B. aufgrund moralischer Konflikte, ist ethische Reflexion auf diese Regeln und ihre Rechtfertigbarkeit erforderlich. Insbesondere für Verantwortungsdebatten zu neuen Technologien eine fünfstellige Rekonstruktion angemessen: jemand ist verantwortlich für etwas vor einer Instanz relativ zu einem Regelwerk und relativ zu einem Wissensstand. Der Bezug auf einen Stand verfügbaren Wissens ist in Fragen prospektiver Verantwortung unverzichtbar, einschließlich der Reflexion der epistemologisch prekären Struktur des prospektiven Wissens über Technikfolgen. Extreme Positionen wie die, dass aufgrund der Unsicherheit des Folgenwissens das Objekt der Verantwortung komplett verschwinde (Bechmann 1993), sind genauso wenig haltbar wie Hoffnungen darauf einlösbar sind, auch bloß denkmögliche Entwicklungen – die also nicht durch ein verfügbares Wissen gedeckt sind – mittels der Verantwortungsethik zu behandeln (Jonas 1979). Der Hinweis, dass aus ›mere possibility arguments‹ nichts weiter folge (Hansson 2006), verweist darauf, dass in Verantwortungsdebatten der Stand des verfügbaren Wissens über die zu verantwortenden Zukünfte erhoben und unter epistemologischen Aspekten kritisch reflektiert werden muss. In Bezug auf weit reichende Zukunftsfragen, die nur unter hoher Unsicherheit beurteilt werden können, ist dies ein entscheidender Aspekt, indem der Relation zwischen dem verfügbaren Wissen – dem, was ›auf dem Spiel‹ steht – und den normativen Kriterien für Verantwortung und Verantwortbarkeit die entscheidende Bedeutung zukommt. Ist also, wie eingangs gesagt, die normative Verantwortungsdebatte in Kontakt mit den empirischen gesellschaftlichen Verhältnissen zu bringen, müssen ›nach der anderen Seite‹ epistemische Bedingungen der Möglichkeit von Verantwortung bedacht werden. Damit stellen sich in prospektiven Verantwortungsdebatten Fragen in drei Dimensionen (Grunwald 2011): • epistemische Dimension: was wird gewusst, was kann gewusst werden, welche Unsicherheiten bestehen fort, wie können sie qualifiziert werden und was steht im Falle des Falles auf dem Spiel? • ethische Dimension: unter welchen Bedingungen können die in Frage stehenden Handlungen, z. B. wissenschaftliche Entwicklungen, gerechtfertigt werden, welche ethischen Reflexions- und Argumentationsmuster sind einschlägig etc.? • politische Dimension: wie soll Verantwortung verteilt werden, welche gesellschaftlichen Gruppen sind betroffen und sollen über die Verantwortungsverteilung mitentscheiden, handelt es sich um Fragen, die die ›Polis‹ betreffen oder können sie an Gruppen oder Teilsysteme delegiert werden?

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Häufig werden Verantwortungsdebatten auf die zweite Ebene beschränkt und ausschließlich im Rahmen der Verantwortungsethik behandelt. Resultat sind die bekannten Vorwürfe des bloß Appellativen, der epistemologischen Blindheit und der politischen Naivität. Die begriffliche Aufklärung und Rekonstruktion zeigt jedoch, dass Verantwortungsfragen unabdingbar interdisziplinär sind und gerade dadurch ihre Spezifik gewinnen. 4.3 Ethik und die Akzeptabilität von Risiken Fragen nach der Öko- oder Humantoxizität von synthetischen Stoffen, z. B. von künstlich hergestellten Nanopartikeln oder Chemikalien, nach ihrem Ausbreitungsverhalten in den verschiedenen Umweltmedien, nach ihrer Abbaurate und ihren Folgen sind keine moralischen Fragen. Hier sind die einschlägigen empirischen Wissenschaftsdisziplinen wie die Toxikologie, die Medizin oder die Umweltchemie gefragt. Auch allein die Tatsache, dass hier Risiken vermutet oder zumindest als denkbar angesehen werden, ist noch keine ethische Frage per se. Risikoregulierung und Risikomanagement gehören in vielen Feldern des wissenschaftlich-technischen Fortschritts oder in industriellen Produktionsprozessen zur eingeübten und täglichen Praxis. Im Folgenden geht es darum zu zeigen, wo in diesem Feld normative Unsicherheiten auftreten und ethische Expertise gefragt ist. Zur Bestimmung normativer Unsicherheiten muss zunächst geklärt werden, welcher normative Rahmen zur Behandlung der jeweiligen Fragen verfügbar ist. Dazu gehören (neben vielen anderen in Kraft befindlichen Handlungsregeln, Normen und Üblichkeiten) an erster Stelle die für die Regulierung technikbedingter Risiken etablierten Verfahren und Kriterien. Zunächst ist hier an das Risikomanagement zu denken (Renn et al. 2007). Risikoregulierung und Risikomanagement gehören in der industrialisierten Welt zur eingeübten Praxis und beruhen auf vereinbarten Grenzwerten und Sicherheitsstandards sowie Maßnahmen bei Unter- oder Überschreiten dieser Werte, ggf. bewehrt mit Sanktionen gegenüber den Verursachern. Dieses Konzept ist auf die Kenntnis wissenschaftlich begründeter und anerkannter Daten zu Schadensart und -ausmaß sowie zur Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens angewiesen. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, sind drei Fälle zu unterscheiden: (1) das Wissen über Risiken ist vorhanden, es kommt aber zu Kontroversen über die Verfahren ihrer Bestimmung; (2) das Wissen ist vorhanden und anerkannt, jedoch kommt es in der Festlegung der Grenzwerte für die Akzeptabilität von Risiken zu Konflikten, die (2a) durch den Vergleich mit anderen Risiken oder (2b) durch den Vergleich mit Chancen entschieden werden sollen; (3) aufgrund mangelnden Wissens ist eine quantitative Bestimmung der Risiken gar nicht erst möglich. In diesen Situationen liegen jeweils unterschiedlich gelagerte normative Unsicherheiten und damit Ansatzpunkte ethischer Reflexion vor: (1) Normative Unsicherheit in der Bestimmung der Risiken: Quantifizierungen im gesellschaftlichen Bereich können, anders als im naturwissenschaftlich-technischen Fall, nicht von ethisch-politischen Fragen abgekoppelt werden (Kambartel 1979). Be-

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sonders evident ist dies bei der Quantifizierung des Werts von Menschenleben oder von ökologisch wertvollen Naturstücken. Auch kann eine Beschränktheit in der Erfassung und Beschreibung von Risiken kritisiert werden, weil aus vielerlei Perspektiven je andere Dinge wichtig sind: So zeigen z. B. Entscheider und Betroffene technischer Risiken häufig eine deutlich unterschiedliche Risikowahrnehmung, was über die unterschiedlichen Relevanzeinschätzungen Folgen für die jeweils gewünschten Erfassungskriterien hat (Bechmann 2007). Hier treten also normative Unsicherheiten hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung der Risiken und in Bezug auf ihre Quantifizierung auf. Insofern zu diesen Fragen keine gemeinsame Akzeptanz von Entscheidungsgrundlagen besteht, liegt hier normative Unsicherheit vor. (2) Normative Unsicherheit in der Bestimmung von Grenzwerten: Umwelt- und Gesundheitsstandards sind gesellschaftliche Vereinbarungen (Gethmann/Mittelstraß 1992), die politisch durchgesetzt werden müssen. Sie sind häufig umstritten, genauso wie die Kriterien und Verfahren, unter denen sie festgesetzt werden sollen. Die Grundsätze der Festlegung von Grenzwerten sind daher nicht nur gelegentlich, sondern in der Regel mit normativen Unsicherheiten konfrontiert. (2a) In neuen Risikosituationen werden häufig die neuen mit bekannten Risiken verglichen und Analogschlüsse vom Bekannten auf das Unbekannte durchgeführt. Dies kann jedoch nur unter normativen Kriterien der Vergleich- und Abgleichbarkeit erfolgen. Was darf womit in welchen Hinsichten und Absichten verglichen und abgewogen werden und welche Präsuppositionen liegen den Vergleichen zugrunde? Entscheidungen über die Zulässigkeit von Vergleichen und ihre Kriterien sind häufig selbst kontrovers. Ob z. B. mögliche Risiken durch radioaktive Strahlung in der Umgebung eines Kernkraftwerks mit den Risiken des Autofahrens oder des Skisports abgeglichen werden dürfen, ist umstritten. Welche Rolle darf z. B. in der Festlegung von Grenzwerten von künstlich hergestellten Nanopartikeln die bereits bestehende natürliche Belastung durch ultrafeine Partikel spielen? Antworten auf diese Fragen hängen von individuellen Befindlichkeiten, Gruppenmoralen oder präskriptiven Vorgaben wie etwa der Gesetzgebung ab. Das ›Prinzip pragmatischer Konsistenz‹ (Gethmann/Mittelstraß 1992) stellt ein Beispiel dar, wie die Konsistenzforderung praktischer Rationalität im Bereich des Risikohandelns in Anschlag gebracht werden kann. (2b) Moralische Erlaubtheit von Risiko/Risiko- und Risiko/Chance-Abwägungen: Häufig werden in konsequentialistischer Ethik Risiken mit den erwarteten Chancen abgewogen, um über die Rechtfertigbarkeit zu urteilen. Dies kann jedoch kontrovers sein. Ist es gerechtfertigt, Risiken mit anderen Risiken oder einzugehende Risiken mit erwarteten Vorteilen abzuwägen, oder sind k.o.-Argumente, z. B. auf deontologischer Basis (vgl. Nida-Rümelin 1996) im Spiel, die eine Abwägung prinzipiell verbieten würden? Welche Rolle dürfen z. B. die ohne Zweifel erheblichen Chancen Nanopartikel-basierter Produkte in den Abwägungen mit (möglichen) Risiken spielen? Steht der Grundsatz auf dem Spiel, dass »das Ganze nicht zum Einsatz in einer Wette gemacht werden darf« (Jonas 1979), oder handelt es sich um abwägungsfähige Entscheidungen, in denen z. B. Kosten/Nutzen-Überlegungen angestellt werden dürften? In der Kernenergiedebatte war es ein zentrales, freilich selbst umstrittenes Argument, dass die

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schiere Größe eines denkbaren Schadensfalls jegliche Kosten/Nutzen-Abwägungen verbiete. (3) Normative Unsicherheiten im Umgang mit ›unklaren Risiken‹: Vielfach ist kaum Wissen über Umwelt oder Gesundheit gefährdende Eigenschaften von neuen Materialien oder Technik verfügbar (z. B. Schmid et al. 2006, Kap. 5 für Nanomaterialien). Dann ist es nicht möglich, Risiken quantitativ zu messen und darauf aufbauend Grenzwerte für akzeptable Risiken zu bestimmen. Hier stellt sich also die Frage, wie mit dieser epistemologischen Unsicherheit hinsichtlich ›unklarer Risiken‹ (Wiedemann/Schütz 2008) umzugehen ist und welche Folgen sie in ethischer Hinsicht hat. An dieser Stelle treten in der Regel normative Unsicherheiten und Konflikte auf, die sich z. B. an den unterschiedlichen Einschätzungen des Vorsorgeprinzips in der Debatte um Nanotechnologie zeigen, welche sich wiederum auf unterschiedliche Beurteilungskriterien zurückführen lassen (Bachmann 2006). Diese Felder zeigen exemplarisch und in aller Kürze, wo ethische Expertise in Debatten über Verantwortungsfragen und die Akzeptabilität von Risiken spezifische, d. h. von keiner anderen Disziplin zu erbringende Beiträge liefern kann. Entscheiden, welche Risiken akzeptabel sind und welche nicht, kann Ethik jedoch nicht, zum einen, da sie im »interdisziplinären Konzert« nur eines der Instrumente spielt. Zum anderen führt die konditional-normative Struktur ihrer Expertise dazu, dass sie nur als Beratung im Vorfeld politischer und legitimierter Entscheidungsprozesse verstanden werden kann (Grunwald 2008).

5. Plädoyer für offensive Einmischung Die Möglichkeit und Relevanz ethischer Expertise wurde erwiesen – freilich in Verbindung mit »konditional-normativen« Rechtfertigungsmustern und hypothetischen Imperativen. Ihr Auftrag und ihre Chance bestehen in der Aufklärung moralischer Debatten über sich selbst. Damit verbunden ist erstens die hermeneutische Aufgabe, die Semantik und Pragmatik der betreffenden moralischen Kontroverse zu analysieren. Zweitens ist die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von argumentationsgeleiteten Konfliktlösungen zu stellen und zu beantworten, z. B. im Hinblick auf den Verantwortungsbegriff. Angesichts der Ambivalenzen einer »Ethik im Trend« (Kap. 2) muss Ethik ihre genuinen Möglichkeiten und Expertisen in Anschlag bringen und sich in die Debatten einbringen. Klagen darüber, dass in Ethik-Kommissionen kaum Ethiker vorkommen und in ELSI-Studien ein bunter Strauß von Themen enthalten ist, hinter denen die Ethik kaum noch sichtbar ist, helfen nicht weiter.

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Kolloquium 10 · Armin Grunwald

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Biomedizinische Ethik: Zwischen Rationalität und Weltanschauung? Kritische Reflexionen zur Dialektik einer Fragestellung Michael Quante

Zu einem Sprachspiel gehört eine ganze Kultur. Ludwig Wittgenstein Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt. Theodor W. Adorno

I. So mancher Schlagabtausch, egal ob auf Podien, in Talk Shows, im Parlament oder auf wissenschaftlichen Tagungen, der zu aktuellen oder grundlegenden Problemen der biomedizinischen Ethik geführt wird, hinterlässt – nicht nur bei philosophischen Fachvertretern – den Eindruck, hier gehe es weniger um Argumente und rationale Begründungen als eher um die Durchsetzung weltanschaulicher Positionen.1 Die Argumente, die im Zuge der Modifizierung des Transplantationsgesetzes für und gegen verschiedene Regelungen zur Organentnahme bei Verstorbenen vorgebracht werden, erwecken genauso wie die Argumente, die bei der Regelung der Geltungskraft von Patientenverfügungen ins Feld geführt werden, oft den Eindruck, nicht die ›eigentlichen‹ oder ›tieferen‹ Beweggründe derjenigen, die sie vorbringen, offen zu legen. Anders zumindest lässt sich die Inkonsistenz oder Unplausibilität so mancher Argumentation kaum verständlich machen. In den Diskussionen um die Präimplantationsdiagnostik oder speziesübergreifende gentechnische Eingriffe liegen tief greifende ethische Differenzen hinsichtlich des

Mit »biomedizinische Ethik« ist in diesem Beitrag stets die philosophische biomedizinische Ethik gemeint. Sie befasst sich mit einem spezifischen Kontext menschlichen Handelns, ist also eine Bereichsethik. Sie hat es mit dem medizinischen Umgang mit und medizinischen Eingriffen ins menschliche Leben, aber auch mit Fragen der Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen sowie, zumindest im Grenzbereich, auch mit der Frage nach dem moralischen Status nichtmenschlichen Lebens zu tun. Es handelt sich bei der biomedizinischen Ethik jedoch nicht um eine Sonderethik, in der es bereichsspezifische Normen (Prinzipien, Werte) oder Begründungs- und Erkenntnisformen gäbe, die sich in anderen Bereichen nicht finden ließen. Für die Überlegungen dieses Beitrags reicht diese grobe Begriffsbestimmung von »biomedizinische Ethik« im Sinne einer philosophischen Bereichsethik aus. Darüber hinaus verwende ich in diesem Beitrag die Termini »Ethik« und »Moral« sowie die zugehörigen Adjektive »ethisch« und »moralisch« als Äquivalente. 1

Biomedizinische Ethik: Zwischen Rationalität und Weltanschauung?

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moralischen Status menschlichen und nichtmenschlichen Lebens ganz offen zu Tage. In diesen Fällen scheint es keiner der streitenden Parteien möglich zu sein, ihre eigenen Prämissen und Folgerungen in nicht zirkulärer Weise zu fundieren; und vermittelnde Positionen sind, zumindest auf der Ebene der ethischen Begründung, nicht in Sicht. Der Aus- und Abtausch von Argumenten scheint, so könnte man meinen, auf einem Selbstmissverständnis der Beteiligten zu beruhen, da es hier gar nicht um Kritik und Begründung, sondern darum geht, eine weltanschauliche Position gegenüber einer anderen durchzusetzen. Es ist sicher kein Zufall, dass diese besonders extreme Diskussionslage immer dort aufbricht, wo es um den besonderen moralischen Status menschlichen gegenüber nicht menschlichen Lebens, um die Frage der Reichweite dieses besonderen menschlichen Status oder um die Frage nach der ethischen Vorrangstellung der individuellen Selbstbestimmung geht. Spielt der Mensch aufgrund der Menschenwürde ethisch in einer kategorisch anderen Liga als alle anderen Entitäten? Kommt dieser durch die Menschenwürde verbürgte ethische Sonderstatus allen menschlichen Individuen zu allen Zeitpunkten ihrer Existenz zu? Beschränkt er sich auf menschliche Individuen oder könnte auch die menschliche Gattung selbst Träger der Menschenwürde sein? Wie weit reicht das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen bezüglich seiner eigenen Existenz und bezüglich zukünftiger Zustände, in denen er sich demnächst vermutlich befinden wird? Wie weit reicht die Selbstbestimmung von Frauen oder Paaren gegenüber dem noch nicht existierenden oder dem heranwachsenden menschlichen Embryo? Fortschritte im Bereich von Medizin, Technik und Wissenschaft bringen neue Erkenntnisse und Handlungsoptionen hervor, die zu neuen Entscheidungssituationen führen. Manche ›natürlichen‹ Abläufe, die bisher als stabil gelten konnten, werden modifizier- oder aufhebbar. Dies führt zu einer Erosion unseres ethischen Selbst- und Weltverständnisses und löst Irritationen aus, weil sich Grundzüge – man denke nur an das Verhältnis von Organismus und Artefakt angesichts der Synthetischen Biologie – als kontingent und fragil erweisen, die dennoch für unser Selbst- und Weltverständnis konstitutiv (gewesen) sind. Auch wenn weite und grundlegende Teile unserer evaluativen Orientierung weitgehend stabil sind, beunruhigen die tiefen Risse, die sich in manchen Bereichen der biomedizinischen Ethik auftun, doch sehr, weil sie fraglich werden lassen, wie robust die Fundamente wirklich sind. Gesellschaftliche Veränderungen und die Verschiebung der Gewichtung von Normen und Werten gegeneinander lösen ebenfalls Irritationen und Konflikte aus, die diesen Prozess der Erosion und des Vertrauensverlusts weiter verstärken. Es scheint so zu sein, dass die Konflikte im Bereich der Medizin oder der Biotechnologien nicht nur einen Randbereich oder extreme Konstellationen betreffen, sondern dass in ihnen vielmehr die Grundlagen unserer Ethik selbst auf dem Prüfstand stehen. Ganz abgesehen davon, dass es bei diesen Fragen häufig um dramatische und existentielle Probleme geht, die mit massivem Leiden, dem Sterben und auch dem Töten von Menschen verbunden sind. Angesichts der faktisch ablaufenden Diskussionen in gesellschaftlichen Diskursen, in politischen Debatten oder auch innerhalb der philosophischen Fachliteratur kann

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sich deshalb eine Besorgnis einstellen, die Anlass zu der Fragestellung gibt, die im Titel dieses Beitrags formuliert wird: Stellen die Diskussionsbeiträge der biomedizinischen Ethik eine wissenschaftlich-rationale oder eine weltanschauliche Intervention dar? Dies ist nicht im Sinne einer Faktenfrage zu verstehen, denn ohne Zweifel geben sich manche weltanschaulichen Positionen im gesellschaftlichen und vor allem politischen Diskurs gerne den Anschein einer wissenschaftlichen und rationalen Argumentation. Die Besorgnis, die in dieser Fragestellung zum Ausdruck kommt, geht tiefer. Sie zielt auf das Selbstverständnis der Akteure, die sich als Vertreter der biomedizinischen Ethik in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft äußern, und sie zielt letztlich auf den Status der philosophischen Ethik als solcher: Kann die biomedizinische Ethik überhaupt einen wissenschaftlich-rationalen Beitrag zu diesen Debatten leisten? Und, falls dem so ist, sollte sie sich auf diese Rolle beschränken? Die implizite oder explizite Antwort auf diese Fragen und die hinter diesen Fragen stehende Besorgnis prägt ohne Zweifel die Debatten und die biomedizinische Ethik, da es hierbei immer auch um ihr Selbstverständnis geht. Aus Gründen, die im Folgenden expliziert werden, ist die richtige Haltung gegenüber dieser Fragestellung jedoch nicht, sie zugunsten einer der beiden Optionen zu entscheiden. Es ist vielmehr angemessen, die Fragestellung selbst einer Kritik zu unterziehen und einige der ihr zugrunde liegenden Präsuppositionen zu problematisieren. Geschieht dies, so lässt sich die Sorge, die der Fragestellung zugrunde liegt, zerstreuen.

II. Um diese Besorgnis und das ihr zugrunde liegende Problem besser zu verstehen, ist es notwendig, sich zwei gegenwärtige Rahmenbedingungen vor Augen zu führen und sich zweier historischer Entwicklungen zu erinnern. Unsere Gesellschaft zeichnet sich durch eine Pluralität ethischer Praxen aus, wobei ich dies nicht im Sinne von abgrenzbaren Handlungsfeldern, die dann den so genannten Bereichsethiken zugrunde liegen, auffasse, sondern als Kontexte mit evaluativer oder normativer Eigensinnigkeit. Es kann also bereichsübergreifende Praxen, aber auch mehrere sich durchdringende ethische Praxen innerhalb eines Bereichs geben, die eine jeweils spezifische, z. B. durch die eingenommenen Rollen festgelegte Struktur aufweisen. Sie zeichnen sich durch spezifische Normen und Werte oder aber durch eine spezifische Struktur derselben in Form von Vorrangregeln zwischen den Normen (oder Werten) oder der Klassifikation derselben als absolut, intrinsisch oder instrumentell aus. Diese Pluralität lässt sich in der historischen Dimension beobachten, wenn wir z. B. von einer Verschiebung von Normen, wie etwa dem Autonomie- gegenüber dem Wohltuensprinzip oder dem Nichtschadens- gegenüber dem Wohltuensprinzip, im Bereich der biomedizinischen Ethik, sprechen. Sie lässt sich auch im interkulturellen Vergleich leicht feststellen, wenn wir etwa an den unterschiedlichen Stellenwert individueller Selbstbestimmung in Bezug auf soziale Inklusion im Vergleich der deutschen und japanischen Gesellschaft denken, der seinen Niederschlag dann auch im Kontext der

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biomedizinischen Ethik, etwa im Bereich der Transplantationsmedizin oder des Public Health, findet. Doch die Pluralität ist auch innerhalb unserer eigenen Gesellschaft zu konstatieren, die sich durch eine Vielzahl normativ und evaluativ ungleichzeitiger Kontexte (und sozialer Gruppen) auszeichnet, wobei es zusätzlich noch zwischen verschiedenen Handlungsfeldern signifikante Unterschiede geben kann. So verschieben sich möglicherweise schon innerhalb der biomedizinischen Ethik die Konstellationen von Werten und Normen, wenn wir vom Bereich der Verteilungsgerechtigkeit auf oberer Allokationsebene in den der Reproduktionsmedizin oder aus dem Handlungskontext der Intensivstation in den der Sterbebegleitung im Hospiz oder der Langzeitpflege übergehen. Und innerhalb dieser Bereiche lassen sich wiederum voneinander abweichende Konstellationen identifizieren, wenn wir auf die unterschiedlichen Akteure (mit ihren spezifischen sozialen Rollen) und die involvierten Parteien (mit ihren spezifischen Gruppeninteressen) achten: Ärzte haben andere Einstellungen als das pflegende Personal, beide Perspektiven weichen von der Haltung des Krankenhausmanagements ab – und die Perspektive von Patienten und deren Angehörigen, die auch nicht immer deckungsgleich ist, stellt einen weiteren Pluralitätsfaktor dar. Zu dieser Pluralität der ethischen Praxen gesellt sich eine der philosophischen Ethiken bzw. Ethiktypen hinzu. Letztere ergibt sich aus einem Zusammenspiel von unterschiedlichen Methodenidealen und Adäquatheitsbedingungen, die an eine philosophische Ethik herangetragen werden, auf der einen Seite und der Vielschichtigkeit, die unsere ethischen Praxen selbst kennzeichnet, auf der anderen Seite. Je nach Kontext bewerten wir die Handlung oder ihre Folgen, die Intention des Handelnden oder seinen Charakter – und viele philosophische Ethiken, die dem Ideal eines Prinzipienmonismus verpflichtet sind, versuchen dann, diese vorgefundene Vielfalt auf einen Aspekt zu reduzieren, indem der moralische Wert einer Handlung beispielsweise nur in dem moralischen Wert der Absicht oder ausschließlich in dem moralischen Wert der Handlungsfolgen gesehen wird. Weitere Kriterien, die auf einer metaethischen Ebene zum Einsatz kommen, betreffen die intersubjektive Überprüfbarkeit dessen, was moralisch zu bewerten ist. So wird beispielsweise von Konsequentialisten darauf hingewiesen, dass es unplausibel und für unsere ethische Praxis der Zuschreibung von moralischer Verantwortung oder der Bewertung einer Handlung schädlich sei, anzunehmen, dass die moralische Dimension ausschließlich durch die Absicht des Handelnden bestimmt werde, weil diese intersubjektiv nicht verlässlich zu kontrollieren sei.2 Auf der anderen Seite gibt es die starke Intuition, sich bei der moralischen Bewertung nicht auf die Folgen einer Handlung zu verlassen, da diese vom Handelnden nicht ausreichend kontrollierbar seien, es aber unfair wäre, moralische Verantwortung für etwas zuzuschreiben, das nicht durch die Autonomie des Handelnden abgedeckt werde. Weitere Adäquatheitsbedingungen, welche die Struktur ethischer Theorien bestimmen, betref-

Im Bereich der biomedizinischen Ethik ist dieser Punkt z. B. bei der Einschätzung der Leistungsfähigkeit der Lehre von der Doppelwirkung relevant; das Problem taucht aber auch in alltäglichen Kontexten auf, man denke nur an den Bezug auf das absichtliche Handspiel, das im Fußball zur Konstatierung eines Regelverstoßes herangezogen wird. 2

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fen die Leistungsstärke und die methodische Explizitheit: So wird eine Theorie, deren Methode sich den als verlässlich akzeptierten Verfahren quantifizierbarer Messmethoden der Naturwissenschaften anschmiegt, als wissenschaftlich betriebene philosophische Ethik wahrgenommen. Oder es wird verlangt, dass eine Theorie einen deduktiven Apparat von Prinzipien und Ableitungsregeln bereitstellt, der eindeutige und in ihrer Anwendung kontrollierbare Ableitungen von Handlungsanweisungen aus allgemeinen Voraussetzungen ermöglicht. Es liegt auf der Hand, dass dies angesichts unserer alltäglichen ethischen Praxis sehr strikte Adäquatheitsbedingungen sind, die entweder zu starken Idealisierungen der Theorien führen oder aber zu dem Schluss zwingen, dass eine philosophische Ethik gar keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben darf. Neben diesen beiden Rahmenbedingungen sind auch zwei historische Verschiebungen in Erinnerung zu rufen, welche die allgemeine und die biomedizinische Ethik sowie die darin identifizierbaren Frontstellungen nachhaltig prägen. Zum einen hat sich, aufgrund veränderter sozialer Rahmenbedingungen, die auch etwas mit der entstehenden und sich heute als universal-dominant erweisenden Marktgesellschaft zu tun haben, die Hierarchie zwischen Normen und Werten zugunsten eines Primats personaler Autonomie verschoben, das dem einzelnen Individuum nicht nur politische Mitbestimmungsrechte, sondern auch einen privaten Schutzraum zugesteht, in welchem es seine individuelle Konzeption des guten und gelingenden Lebens ohne Einmischung von außen entwerfen kann und zu realisieren versuchen darf. Dies gilt zumindest so weit, wie nicht die Rechte anderer autonomer Subjekte in unzulässiger Weise betroffen sind. Die historisch mit dieser Entwicklung einhergehende Privatisierung von Konzepten des guten Lebens hat nicht nur zu einer erwartbaren Pluralität solcher Lebensentwürfe geführt, sondern auch dazu, dass sich die philosophische Ethik immer mehr auf die Benennung von Verfahren zurückgezogen hat, deren Anwendung die moralische Qualität der Resultate im Angesicht gleicher und freier Bürger garantieren soll. Materiale Antworten auf ethische Fragen hat sich die moderne Moralkonzeption der Philosophie dagegen zunehmend verboten, weil dies zwangsläufig zu einer ethisch unzulässigen Bevormundung autonomer Subjekte und zu unerträglichem staatlichem Paternalismus führen müsse.3 Außerdem, so das damit parallel gehende Argument, ließen sich solche materialen Antworten aus der wissenschaftlich verfassten philosophischen Ethik nicht Gegen dieses Argument lässt sich nahe liegender Weise einwenden, dass mit der Formulierung solcher materialer Antworten noch nicht behauptet wird, man dürfe sie dann autonomen Subjekten gegen ihren Willen aufzwingen. Es ist leicht zu sehen, dass eine solche logische Folgerungsbeziehung nicht besteht. Die Replik auf diesen Einwand ist jedoch instruktiv, denn nun wird darauf hingewiesen, dass eine Ethik, die sich solche materialen Antworten, die paradigmatisch unter dem Schlagwort der dichten Konzeptionen des guten Lebens geführt werden, nicht kategorisch verbietet, im Prinzip die Möglichkeit eröffnet, einen solchen Paternalismus zu legitimieren. Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, die Schlüssigkeit oder Plausibilität dieser Argumentation zu bewerten; ich möchte vielmehr darauf hinweisen, dass sich in ihr eine Prämisse zeigt, der zufolge die prinzipielle Ausgeschlossenheit des Paternalismus eine Adäquatheitsbedingung für eine moderne Moralkonzeption ist. Dies ist ein schönes Beispiel dafür, auf welche Weise eine materiale Überzeugung, denn diese Prämisse ist eine solche des kategorischen Vorrangs personaler Autonomie vor den Aspekten des guten Lebens, die Strukturvorgaben für die philosophische Ethik präfiguriert. 3

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gewinnen und müssten daher als im politischen Raum zwar legitime Äußerungen einzelner Bürger, aber eben doch wissenschaftlich nicht gedeckte Reste weltanschaulicher Orientierung eingeschätzt werden. Zum anderen hat sich, in einer antiaristotelisch ausgerichteten naturwissenschaftlichen und einer antitheologischen Doppelbewegung, die Aufklärung an den neuzeitlichen Naturwissenschaften bzw. an deren methodischem Selbstverständnis orientiert, um so im Namen einer universellen Vernunft, deren depotenzierter Nachfolger heute die Rationalität ist, den Aufbruch aus der Unmündigkeit in epistemischer, ethischer und politischer Hinsicht zu wagen. Es liegt auf der Hand, dass dieser Prozess, der mit der französischen Aufklärung einsetzt, gerade im Bereich der biomedizinischen Ethik immer noch fortgeführt wird, weil das Bewusstsein, in einer entzauberten Natur zu leben, mit Bezug auf das menschliche Leben noch nicht voll durchgeschlagen ist. Die religiösen Restbestände des metaphysischen oder voraufgeklärten bzw. vormodernen Weltbildes werden dann im Namen einer säkularisierten Vernunft von einer biomedizinischen Ethik attackiert, die sich immer noch und immer wieder einmal der theologischen Bevormundung erwehrt. Es liegt auf der Hand, dass »Rationalität« und »Wissenschaftlichkeit« in diesem Kontext keine rein deskriptiven Begriffe sein können, genauso wenig wie es die Gegenbegriffe, von denen »Weltanschauung« einer ist, sein werden. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass schon die Definitionen dieser Begriffe von impliziten oder expliziten normativen Vor- und Unterstellungen geleitet werden, sodass mit der Gefahr zu rechnen ist, dass ethische Dissense verschleiert und auf dem Nebenschauplatz einer anscheinend von ethischen Fragen unabhängigen Debatte um das Wesen von Rationalität oder Wissenschaftlichkeit stellvertretend oder gar undurchschaut ausgetragen werden. III. Um die Sorge, die sich im Titel dieses Beitrags als Frage Ausdruck verleiht, besser zu verstehen, ist es hilfreich, kurz einige Begriffsklärungen vorzunehmen und auf die Komplexität der involvierten Begriffe zu verweisen. Weil der Begriff der Vernunft, mit dem die Aufklärung so hoffnungsvoll ihr Projekt gestartet hat, im Laufe der letzten drei Jahrhunderte philosophisch starken Belastungen ausgesetzt war, hat sich der Begriff der Rationalität als prima facie unproblematischer in seiner Nachfolge etabliert. Doch schon eine flüchtige Betrachtung zeigt, dass der Begriff der Rationalität vermutlich genauso komplex und philosophisch ausdeutbar ist, wenngleich man zugestehen könnte, dass er – anders als »Vernunft« möglicherweise – erst gar nicht den Verdacht aufkommen lässt, man könne aus dem alltäglichen Vorverständnis eine Bedeutung ermitteln, die unabhängig von philosophischer Theoriebildung als gleichsam neutraler Grund zur Verfügung stünde.4

Auf die Parallele zwischen den Termini »Autonomie« und »Selbstbestimmung« kann ich an dieser Stelle nur verweisen. Auch hier liegt auf der Hand, dass »Autonomie« ohne philosophische Theoriebil4

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Zuerst einmal weist die Extension des Prädikats »ist rational« eine große Breite auf: Wir können es von so unterschiedlichen Entitäten wie Personen, Handlungen, Überzeugungen, Wünschen, Zwecksetzungen oder Entscheidungen, aber auch von Institutionen, anderen sozialen Gebilden oder auch Verfahren aussagen. Alles andere als ausgemacht ist dabei, dass »ist rational« hier immer im gleichen Sinn verwendet wird oder dass sich eine Kernbedeutung ermitteln lässt, die als Essenz in allen diesen Verwendungen invariant als Kern von »ist rational« erscheint. Außerdem wird in der philosophischen Literatur von verschiedenen ›Arten‹ von Rationalität gesprochen, die zumeist durch Bereichsangaben (z. B. ästhetische, emotionale, kommunikative, moralische, etc. Rationalität) oder durch die Angabe von Oppositionspaaren bestimmt werden. Prominente Beispiele für letzteres sind etwa ideale versus minimale, logische versus instrumentelle oder praktische versus theoretische Rationalität. Auch mit Bezug auf die Bereiche ist unklar, ob ihnen ein Kernkonzept von Rationalität zugrunde liegt, das zu bereichsspezifischen Konzeptionen angereichert wird, oder ob es sich eher um eine Begriffsfamilie handelt, deren Konstellation man nach dem Wittgensteinschen Modell der Familienähnlichkeit deuten sollte. Und mit Bezug auf die Oppositionspaare ist zum einen evident, dass sie nicht äquivalent sind, sondern auf verschiedenen Ebenen operieren (so ist die Unterscheidung »ideal versus minimal« methodologisch, die Unterscheidung »logisch versus instrumentell« inhaltlich und die Unterscheidung »praktisch versus theoretisch« bereichsspezifisch oder funktional gefasst). Zum anderen ist auch nicht wirklich klar, ob es sich hier jeweils um duale Gegensatzpaare und nicht etwa um Pole eines graduellen Spektrums handelt. Dieser Beitrag kann nicht der Ort sein, eine Antwort auf diese Fragen oder eine Konzeption der Rationalität zu entwickeln. Daher sei hier nur thetisch gesagt, dass es am sinnvollsten ist, Aspekte von Rationalität zu identifizieren, die in vermutlich allen Bereichen relevant sind und die ich hier »regelgeleitet«, »methodisch kontrolliert« und »intersubjektiv verstehbar« nennen möchte. Dass etwas regelgeleitet ist, impliziert dabei nicht, dass ein Subjekt explizit eine Regel anwendet, während dies bei »methodisch kontrolliert« gerade der Fall sein muss (auch wenn es Grade der Explizitheit auf Seiten des Akteurs geben mag). Außerdem gilt natürlich nicht, dass aus der Tatsache, dass z. B. eine Handlung intersubjektiv nachvollziehbar ist, folgt, dass der Interpret dieser Handlung oder der Wertung des Handelnden, die mit dieser Handlung einhergeht, zustimmen muss. Auch eine Begründung, der ich mich inhaltlich nicht anschließe, kann intersubjektiv nachvollziehbar sein.5 Während man vielleicht unbefangen davon ausgehen könnte, dass »Rationalität« ein ethisch neutraler und im Kern auch wohl bestimmter und somit unumstrittener Begriff ist, liegen die Dinge beim Begriff »Weltanschauung« offensichtlich ganz anders.

dung nicht zu einer sinnvollen Konzeption entfaltet, das Verständnis von Autonomie also nicht lediglich in unserem vorphilosophischen Sprachgebrauch zu entdecken sein wird. 5 Da hier nicht angestrebt ist, eine Konzeption der Rationalität zu entwickeln, lasse ich die Frage, ob jeder der drei Aspekte eine notwendige Bedingung für »ist rational« darstellt, genauso offen wie die Frage, ob sie gemeinsam hinreichend sind.

Biomedizinische Ethik: Zwischen Rationalität und Weltanschauung?

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Vermutlich würden viele sogar von der genau gegenteiligen Unterstellung ausgehen, dass es sich hierbei um einen pejorativen Begriff handelt. Doch auch in diesem Punkt ist die Sachlage komplexer. Unter einer Weltanschauung verstehe man, so lässt sich dem Eintrag in der deutschen Ausgabe von Wikipedia entnehmen, eine auf Wissen, Erfahrungen und Empfindungen basierte Gesamtheit persönlicher Wertungen und Sichtweisen.6 Inhaltlich hat eine Weltanschauung die Deutung der Welt sowie das Verhältnis von Individuum zu Natur und Gesellschaft zum Gegenstand. Seine Karriere, die es als Lehnwort in manche andere Sprache getragen hat, beginnt der Begriff der Weltanschauung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Romantik, die sich mit seiner Hilfe gegen den als überzogen und einseitig empfundenen Rationalitätsanspruch der Aufklärung wendet. Ist damit zu Beginn noch die Betonung des individuellen Erfahrungswissens gemeint, verschiebt sich die Bedeutung des Begriffs in der Folgezeit, um schließlich als Oppositionsbegriff zu wissenschaftlichen Erkenntnisweisen für eine Form des Schauens zu stehen, die für alles herzuhalten hat, was man am Vernunftpathos der Aufklärung als unzulänglich empfindet. Den Begriff der Weltanschauung, der sich dem Eintrag in Wikipedia zufolge bald bis zur Unkenntlichkeit weitet, hat man in der Folge durch Abgrenzung zu anderen zentralen Konzepten (z. B. des Weltbilds, der Religion oder auch der Ideologie) semantisch wieder in den Griff zu bekommen versucht. Doch da diese Konzepte ihrerseits unterbestimmt (oder mehrdeutig) und teilweise durch die gleichen Frontstellungen geprägt sind, wie der Begriff der Weltanschauung, ist dieser Präzisierungsversuch wenig Erfolg versprechend. Es bleiben die Zurückweisung einer einseitigen Vernunftemphase, die Betonung von Erfahrung und Anschauung sowie die Hervorhebung der individuellen Perspektive auf Welt, Gesellschaft und eigene Existenz als zentrale Aspekte.7 Fassen wir die Ausführungen dieses Abschnitts kurz zusammen, dann können wir festhalten, dass »Rationalität« und »Weltanschauung« keine zwei stabilen und für sich klar individuierbaren Inseln sind, zwischen denen die biomedizinische Ethik hindurchzusegeln hätte wie Odysseus und seine Gefährten zwischen Skylla und Charybdis. Wesentlich sinnvoller ist dagegen die Vorstellung, dass mit »Rationalität« und »Weltanschauung« unterschiedliche Aspekte evaluativer Einstellungen und ethischer Überzeugungen sowie von Weisen ihrer Kritik und Begründung benannt werden. Auch die zusätzliche Annahme, dass sich diese Aspekte den unterschiedlichen Funktionen, die solche Einstellungen, Überzeugungen und Begründungen in unserer ethischen Praxis erfüllen, verdanken, ist keineswegs unplausibel. Dieser Bezug auf den Artikel in der Wikipedia darf nicht missverstanden werden. Damit soll gerade nicht die Ansicht zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich hierbei um eine fachwissenschaftlich respektable oder gar verlässliche Quelle handelt. Der obige Bezug ist umgekehrt dadurch motiviert, dass in einem solchen Artikel am ehesten ein weit verbreitetes lebensweltliches Vorverständnis zum Ausdruck kommt. Zumindest ist die obige Widergabe in diesem Sinne zu verstehen. 7 Auch mit Bezug auf »Weltanschauung« lasse ich die Frage, ob jeder der drei Aspekte eine notwendige Bedingung darstellt, genauso offen wie die Frage, ob sie gemeinsam hinreichend dafür sind, dass ein Ensemble von Überzeugungen eine Weltanschauung ist. 6

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IV. Die Titelfrage dieses Beitrags bringt eine Besorgnis zum Ausdruck, die in der biomedizinischen und allgemeinen philosophischen Ethik unerwünschte Auswirkungen haben kann. Im Folgenden werden vier dieser möglichen Effekte kritisch benannt. Erstens kann die Unterstellung einer klaren Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Rationalität und Weltanschauung, die sich im letzten Abschnitt als unangemessen erwiesen hat, dazu verführen, eine zu scharfe Opposition zwischen den beiden Polen zu betreiben und in der Konsequenz Argumenttypen als prinzipiell unzulässig aus dem Diskurs zu verbannen. Ein prominentes Beispiel ist die gegenwärtige Politische Philosophie, in der vom Liberalismus gefordert wird, religiöse oder theologische Argumente im politischen Diskurs, zumindest aber in bestimmten Bereichen der politischen Institutionen, als prinzipiell unzulässig auszuschließen, weil sie den geforderten Standards an rationaler Nachvollziehbarkeit oder Verallgemeinerbarkeit nicht genügen. Es liegt auf der Hand, dass in demokratischen Gesellschaften Vertreter von gesellschaftlichen Gruppen, die ihre ethischen und bioethischen Überzeugungen und Werthaltungen in Form religiöser oder theologischer Sprache formulieren, diese generelle Verbannung nicht akzeptieren wollen. Die Schwierigkeit, in die sich die Vertreter des politischen Liberalismus bringen, wenn sie einen solchen generellen Ausschluss fordern und mit philosophischen Mitteln zu begründen versuchen, liegen ebenfalls auf der Hand: Zum einen ist unklar, welche Kriterien auf alle und nur religiöse (oder theologische) Überzeugungen und Einstellungen zutreffen, sodass schon die auszugrenzende Art von Argumenten kaum hinreichend klar zu definieren ist. Und zum anderen lässt sich einigermaßen plausibel einwenden, dass auch nicht religiöse oder nicht theologisch fundierte Überzeugungen oder Werthaltungen, die als philosophische oder philosophisch zulässige unterstellt werden, keine homogene Menge darstellen, die sich von den auszugrenzenden religiösen oder theologischen Überzeugungen und Einstellungen klar trennen lässt. Kritiker der liberalen Position müssen also ihrerseits nicht etwa gute Gründe dafür anführen, warum man religiöse oder theologische Argumente in einer pluralen und weitgehend säkularisierten Demokratie zulassen sollte. Sie können sich vielmehr darauf zurückziehen nachzuweisen, dass die vom politischen Liberalismus unterstellte klare Trennung gar nicht vorgenommen werden kann. Damit aber gerät der politische Liberalismus argumentativ in die Defensive; seine zu starke Voraussetzung hat ihm eine Beweislast eingetragen, die er nicht einlösen kann, wenn die obige Diagnose zutrifft. Darüber hinaus droht nun das umgekehrte Extrem, welches zwar nicht logisch zwingend, in der Dialektik des Diskurses aber naheliegend ist. Die Kritiker des politischen Liberalismus ziehen aus ihrem Erfolg den Schluss, dass es hinsichtlich des Rationalitätsgehalt oder -grads überhaupt keine qualitative Differenz zwischen religiösen, theologischen, wissenschaftlichen oder philosophischen Einstellungen und Überzeugungen gibt. Diesem schlechten Umschlag der Extreme ineinander kann man entkommen, wenn man an die Stelle des Bildes einer klaren Opposition zweier für sich wohldefinierter und abgrenzbarer Pole das gradualistische Bild eines Kontinuums setzt, das mit einer offenen Liste von Kriterien Adäquatheitsbedingungen für den Rationalitäts- und Verallgemeinerbarkeitsgrad von

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Überzeugungen und Werteinstellungen versucht, plausible von unplausiblen und angemessenere von weniger angemessenen Argumenten oder Gründen zu unterscheiden.8 An die Stelle eines für sich genommen attraktiven klaren Schnitts tritt dann ein Bereich von Grauzonen. Angesichts der – zumindest bislang zu konstatierenden – Unhaltbarkeit einer prinzipiellen oder kategorischen Ausgrenzung auf der Ebene von Argumentationsweisen und Argumenttypen ist dies jedoch die geringere Einbuße an Rationalität, weil andernfalls durch das Scheitern an den überhöhten Begründungslasten der generelle Verlust sämtlicher Rationalitätsstandards droht, die man kritisch an Überzeugungen, Werteinstellungen und Begründungen anlegen könnte. Die Ideologie einer weltanschauungsfreien, reinen Rationalität, die sich im Bereich der Philosophie z. B. in den Slogans einer »Ethik ohne Metaphysik« oder in dem Anspruch, eine nachmetaphysische Ethik zu betreiben, Ausdruck verschaffen kann, hat zweitens mit Bezug auf die biomedizinische Ethik zwei negative Auswirkungen. Zum einen droht eine Reduktion der Vielfalt unserer ethischen Praxis mit ihren kontextspezifischen Variationen, weil sich diese Pluralität in den jeweiligen philosophischen Ethiken aufgrund des jeweils befolgten Methodenideals nicht oder nur unzulänglich einfangen lässt. Wer aus einer deontologischen Grundhaltung heraus Folgenabwägungen als generell ethisch unzulässige Gesichtspunkte aus der biomedizinischen Ethik ausblenden will (oder aus Systemzwang ausblenden muss), wird dem möglichst effizienten Einsatz knapper Ressourcen aus theoriestrategischen Gründen keine Beachtung schenken. Dies ist ein Effekt, der in seinem Extrem dann zu der Position führt, dass die Anzahl geretteter menschlicher Leben oder die Anzahl der z. B. mit einem Spendeorgan erzielten lebenswerten Jahre für die Frage nach der ethisch richtigen Handlungsoption keine Rolle spielen darf. Umgekehrt begeben sich diejenigen, die einem strikten Konsequentialismus und einem Maximierungsgedanken verpflichtet sind, in den Zwang, alle ethisch relevanten Aspekte als Folgen und alle ethisch relevanten Aspekte als im Prinzip quantifizierbare und miteinander verrechenbare Größen ansehen zu müssen. Dies führt dann nicht nur zu dem notorischen Problem, individuelle Grundrechte in einem Ausmaß gegenüber kollektivem Nutzen abzusichern, die auch für Nichtutilitaristen ausreichend ist. Es hat auch den Effekt, dass man in der Begründung suggerieren muss, man hätte ein quantitativ verfahrendes, dem mathematischen Exaktheitsideal verpflichtetes Werkzeug zur Verfügung, mit dem man eindeutige und methodisch explizierbare Resultate ethischer Abwägung generieren kann. Zum anderen bringt diese Rationalitätsideologie die Ausgrenzung von Fragestellungen oder Argumenttypen mit sich, die wir in einem vorphilosophischen Vorverständnis als ethisch relevant oder zumindest plausibel einschätzen würden. Paradigmatische Belege für diesen Effekt sind auf der einen Seite die Dominanz von Risikodebatten, mit denen Fragen nach intrinsischer Werthaftigkeit umgangen und die wechselseitige Kritik von vorausgesetzten subjektiven Präferenzen vermieden werden. Und auf der anderen Seite reduzieren sich Fragen nach der ethischen Zulässigkeit von biomedizinischen Handlungsoptionen, die z. B. auf das anthropologisch fundierte Selbstverständnis 8

Alternativ kann man natürlich auch versuchen, die oben identifizierten Beweislasten abzutragen.

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des Menschen ausgerichtet sind, zu Gerechtigkeitsproblemen. Dann geht es nicht mehr um den intrinsischen Wert grundlegender Konzeptionen guten oder gelingenden Lebens, die durch den medizinisch-technischen Fortschritt und die mit ihm einhergehenden neuen Handlungs- und Eingriffsmöglichkeiten unter Druck geraten. Sondern an ihre Stelle tritt die anscheinend für eine nachmetaphysische oder metaphysikfreie Ethik besser zu handhabende Frage nach der gerechten Verteilung dieser neuen Chancen (und Risiken). Innerhalb der konkurrierenden Paradigmen der philosophischen Ethik, die auch die biomedizinische Ethik dominieren, führen die Reduktion des Phänomenreichtums unserer ethischen Praxis und die Übersetzung der aus dieser Praxis stammenden Probleme in solche, die innerhalb des jeweiligen Theorietyps dem eigenen Methodenideal gemäß verarbeitet werden können, drittens zu dem Eindruck, die biomedizinische Ethik mache Fortschritte und sei auf dem Wege zu einer aufgeklärten und weltanschauungsfreien Wissenschaft. Dieser z. B. von der deontologisch und von der utilitaristisch betriebenen biomedizinischen Ethik geteilte Eindruck gilt jeweils innerhalb des eigenen Paradigmas und erstreckt sich nicht auf die materialen Aussagen und Antworten, die von Vertretern des jeweils anderen Paradigmas auf Sachprobleme gegeben werden. Letztere müssen stattdessen als rational nicht begründbare und letztlich weltanschaulich motivierte Positionen angesehen und vom rationalen Diskurs ferngehalten werden.9 So sehr sich diese in der modernen Ethik weit verbreitete Fortschrittsvorstellung allgemeiner Sympathie erfreut, so sehr verdankt sie sich doch auch der, mit Wittgenstein gesprochen, einseitigen Diät, die ihr jeweils zugrunde liegt. Da diese Diäten aber unterschiedliche sind und daher häufig zu inkompatiblen Einschätzungen zwischen den Lagern führen, erschwert sie die Verständigung über die Lager hinweg, da stets ein Rückfall in die eigenen philosophischen Voraussetzungen droht, der nicht nur der Selbstaufklärung dient, sondern auch dazu, die Gegenposition als nicht rationale sondern weltanschauliche Position zurückzuweisen. Der vierte und für die biomedizinische Ethik langfristig schädlichste Effekt, den die Unterstellung einer klaren Opposition von Rationalität und Weltanschauung hervorzubringen droht, betrifft aber nicht die Qualität der philosophischen Begründungen oder des Umgangs der Vertreter verschiedener Positionen des Spektrums der philosophischen Traditionslinien miteinander, sondern die Außenwirkungen auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit. Wegen der in diesem Beitrag skizzierten Selbstbeschränkung der modernen philosophischen Moral (in methodologischer und inhaltlicher Hinsicht) muss die biomedizinische Ethik viele von und in der Gesellschaft als ethisch relevant angesehenen Aspekte ausblenden, viele der an sie gerichteten Fragen und Einwände als ›unsachgemäß‹, ›vorwissenschaftlich‹ oder ›unaufgeklärt‹ zurückweisen, oder aber so weit in ihren jeweils eigenen Theorierahmen ›übersetzen‹, dass die Fragesteller in dem Resultat ihre eigenen Problemstellungen nicht mehr wieder erkennen können. Dies führt nicht Die pejorative Verwendung metaethischer Klassifikationsbegriffe kann als ein Symptom dieses Effekts angesehen werden; man denke für den deutschen Sprach- und Philosophieraum z. B. an die Verwendung von »utilitaristisch« oder – verstärkt – »rein utilitaristisch«. 9

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nur zu einem generellen Unbehagen und zu einer weit verbreiteten Enttäuschung in die Leistungskraft der biomedizinischen Ethik, sondern auch zu einem generellen Misstrauen, da eine solche Reaktion als Ausgrenzung oder Marginalisierung empfunden und als Anzeichen dafür gewertet wird, nicht Ernst genommen zu werden. Die von dieser professionellen biomedizinischen Ethik enttäuschten Bürger, Patienten oder Angehörigen wenden sich dann, weil sie sich ihre Sorgen und ethischen Intuitionen nicht ausreden oder gemäß den Richtlinien einer rationalen Ethik uminterpretieren lassen wollen, anderen Orientierung verheißenden Instanzen zu. Es kann nicht überraschen, dass unter diesen Bedingungen eine Fluchtbewegung aus der philosophisch-ethischen Sprache und eine Hinwendung zu solchen Weltanschauungen, Pseudowissenschaften oder auch Religionen statt findet, in denen sich die fraglichen ethischen Intuitionen (wie z. B. der Wert der Natürlichkeit oder nicht auf subjektive Präferenzen reduzierbare Vorstellungen des Guten) leichter artikulieren lassen. Verstärkend kommt hinzu, dass die historisch feststellbare Konvergenz zwischen aufgeklärter Vernunft und Naturwissenschaft, die in vielen Bereichen zu einer stabilen und leistungsstarken Symbiose geführt hat, an dieser Stelle zu einem negativen Syndrom gerinnt, in dem sich Technikund Wissenschaftsskepsis mit einem Misstrauen gegenüber einer an Rationalität und intersubjektiver Begründbarkeit orientierten biomedizinischen Ethik vereinen. Spätestens mit Blick auf diese exoterischen Folgen, die mit der Orientierung an einem starren Gegensatz von Rationalität und Weltanschauung sowie der aus ihr resultierenden einseitigen Diät und Verengung der Perspektive einhergehen können, gibt es gute Gründe, diese Dialektik ihrerseits kritisch zu reflektieren.

V. Eine Alternative, mit dem Problem anders umzugehen, besteht darin, das Verhältnis von Rationalität und Weltanschauung als ein graduelles und kontinuierliches Spektrum zu verstehen, innerhalb dessen die unterschiedlichen Aspekte von Rationalität je nach Kontext unterschiedlich zu interpretieren und zu gewichten sind. Gegen diese Diagnose und die soeben angedeutete Strategie werden sich Bedenken anmelden. Zwei von ihnen möchte ich hier abschließend in Form von Einwänden thematisieren. Erster Einwand: Die hier vorgelegte Diagnose und die hier favorisierte Alternative gehen von der metaphilosophischen Voraussetzung aus, dass Philosophie keine Wissenschaft, sondern eine Art von Weltanschauung ist. Wenn mit diesem Einwand eine strikte Opposition von Rationalität und Weltanschauung unterstellt wird, dann ist er nicht triftig, denn es ist ja gerade diese Voraussetzung der Möglichkeit einer klaren Trennung, die hier mit Gründen bestritten wird. In analoger Form wird dieser Einwand mittels des Vorwurfs vorgebracht, der Philosophie würde auf diesem Wege der Theoriestatus aberkannt oder sie würde zu einem nonkognitivistisch zu rekonstruierenden Sprachspiel degradiert. In beiden Fällen lautet die Ent-

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gegnung, dass dies nur dann der Fall ist, wenn man Adäquatheitsbedingungen für Theorien formuliert, die nur naturwissenschaftliche Disziplinen erfüllen können, oder aber mit dem Kognitivismus die Forderung verbindet, eine seinen Bedingungen genügende Theorie müsse kausal-explanatorische oder prognostische Kraft haben. Wenn die Differenz zwischen Weltanschauung und Rationalität über den Umweg solcher Zwischenstücke (Theoriebegriff oder Bedingungen für Kognitivismus) organisiert wird, engt man den Rationalitätsbegriff unzulässig szientistisch ein und übersieht, dass es eine Vielzahl diskursiver Praxen gibt, in denen Erklärungen und Begründungen in intersubjektiv nachvollziehbarer und mit Gründen kritisierbarer Weise vorgebracht werden, die sich weder als Formen noch als Vorstufen dieser spezifischen Form der Vernunft begreifen oder herabstufen lassen.10 Wenn mit diesem Einwand dagegen darauf abgezielt wird, dass die Philosophie eben keine Sonderform der Mathematik und auch keine Vorläuferform von Natur- oder Gesellschaftswissenschaft darstellt, dann trifft er einen für den obigen Gedankengang wesentlichen Punkt. In der Ethik, und a fortiori in der biomedizinischen Ethik, kommen irreduzibel inhaltliche Vorstellungen des guten oder richtigen Lebens zum Zuge, in denen sich auch der personale Standpunkt, den William James mit dem Terminus »vision« benannt hat, manifestiert.11 Aber dies führt nicht zwangsläufig zu einer privaten Weltanschauung, wenn man bedenkt, dass ein personaler Standpunkt immer sozial vermittelt und das Resultat intersubjektiver Anerkennungsprozesse ist. Es geht hierbei also gerade nicht um die private, von einigen Varianten des Existenzialismus gefeierte Partikularität, sondern um eine sozial geteilte Lebensform, innerhalb derer Autonomie, Privatheit sowie das Geben und Akzeptieren von Gründen allererst möglich wird. Zweiter Einwand: Der Verzicht auf eine kategorische Grenze zwischen Rationalität und Weltanschauung führt zu einem Relativismus, der in ethischer Hinsicht inakzeptable Resultate mit sich bringt, weil er die Universalität von grundlegenden Rechten untergräbt. Diesem Vorwurf liegt die zutreffende Einsicht zugrunde, dass die obige Konzeption irreduzibel kontextuell verfasst ist und historisch bedingte Elemente enthält, die zugleich als konstitutiv dafür angesehen werden, dass etwas als rationale Begründung oder vernünftiger Standpunkt angesehen oder eben als plausibler Einwand gelten gelassen wird. Wäre es eine Adäquatheitsbedingung für die biomedizinische Ethik, dass sie sich auf a priori gegebene, historisch und kulturell invariante oder sonst wie notwendige Prinzipien bzw. semantische Einsichten stützen muss, um ihre Aufgabe erfüllen zu können, dann wäre mit diesem Einwand in der Tat ein wichtiger Punkt getroffen. Mit dieser Entgegnung soll keineswegs die Leistungsfähigkeit dieser Form der Vernunft geleugnet werden. Bestritten wird lediglich, dass sie die einzige Form der Vernunft und ihre Art von Leistungsfähigkeit der einzige Zweck des Vernunftgebrauchs ist. 11 »Irreduzibel« drückt eine These aus, die in folgendem Sinne gemeint ist: Bisher ist keine befriedigende Reduktion gelungen und keine philosophische Ethik vorgelegt worden, die auf solche materialen Bestandteile verzichten kann, ohne erhebliche revisionäre Konsequenzen für unsere ethischen Praxen und das darin zu findende alltägliche Vorverständnis zu haben. 10

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Doch auch in diesem Falle lautet die Diagnose und damit die Entgegnung, dass dem Einwand selbst eine Voraussetzung bzw. ein Anspruch an philosophische Ethik zu Grunde liegt, den man weder teilen muss, noch auf eine Weise begründen kann, die ihrerseits gegen plausible Einwände geschützt wäre. Mit Blick auf die alltägliche Praxis sind derart starke Begründungen schlicht nicht erforderlich; hier reichen gute Gründe aus, auch wenn sie sich als fallibel erweisen können oder unter veränderten Rahmenbedingungen ihre Gültigkeit verlieren werden. Und mit Blick auf die Begründungslasten fördert jeder, der die biomedizinische Ethik unter Verwendung zu starker Adäquatheitsbedingungen vor Irrationalität, Ideologie oder irgendwelchem Unsinn schützen möchte, nur die Skepsis gegenüber der Möglichkeit, gute ethische Gründe und Begründungen zu etablieren. Damit aber wird, im nächsten Zug, genau der Zwischenbereich des mehr oder weniger Plausiblen ausgeblendet, in dem sich die biomedizinische Ethik bewähren muss, um nicht jede Weltanschauung und jeden idiosynkratischen Unsinn als prinzipiell gleichberechtigt dulden zu müssen.

VI. Als Fazit lässt sich festhalten, dass die philosophische Ethik, wenn sie sich als biomedizinische Ethik in Anwendung befindet, sowohl Elemente der Rationalität (in Form von Verfahren und der mit ihnen einhergehenden Überprüfbarkeit der Resultate) als auch Elemente, die ein verkürzter Rationalismus in die Weltanschauungen abgeschoben hat, in Anspruch nehmen muss: Ohne Vorstellungen des guten oder richtigen Lebens kann die biomedizinische Ethik die Herausforderungen, welche die Gesellschaft ihr stellt, nicht angemessen erfassen. In der Konsequenz kann sie dann auch keine Antworten bereitstellen, die den Menschen Orientierung bieten und zugleich Motivation zu ihrer Umsetzung verschaffen kann. Wenn wir uns als Philosophen einmischen wollen, und gemäß einer weiteren metaphilosophischen Prämisse, die diesem Beitrag zugrunde liegt, sollte die Philosophie dies aufgrund ihres praktischen Charakters tun, dann muss das Ziel sein, die besseren von den schlechteren Argumenten und die plausibleren von den unplausibleren Begründungen zu unterscheiden. So gut und so weit dies geht, und so weit dies für die Kontexte und Problemstellungen nötig ist.

KOLLOQUIUM 11

Die Welt der Gründe als Bildungsgegenstand Kolloquiumsleitung: Krassimir Stojanov

Krassimir Stojanov Einführung Harvey Siegel Education as Initiation into the Space of Reasons Ari Kivelä Publicity, Education and Space of Reasons – Towards a Reconstruction of Kant’s Idea of public Use of Reason and Education Claudia Schumann Deontic Scorekeeping and the Concept of Bildung

Einführung Krassimir Stojanov

Eine zentrale Aufgabe der analytischen Philosophie in ihren verschiedenen Richtungen und Schulen ist seit jeher die Erhellung der Güterkriterien, denen richtige und wahre Behauptungen entsprechen sowie der Voraussetzungen, welche diese Behauptungen erfüllen müssen, damit sie Richtigkeit und/oder Wahrheit beanspruchen können. Wenn nunmehr im Folgenden von der »neuen analytischen Philosophie« die Rede ist, so sind damit jene Ansätze gemeint, welche die Formulierung und Begründung von wahrheitsbeanspruchenden Aussagen als eine genuin soziale Praxis rekonstruieren: als eine Praxis der Diskurse, in deren Rahmen Begriffsbedeutungen kommunikativ artikuliert und dialogisch-argumentativ festgelegt werden. Dementsprechend sind die Güterkriterien und Voraussetzungen von wahren Aussagen nunmehr nicht in monologischen Denkstrukturen zu verorten, sondern in Merkmalen von kommunikativen, öffentlichen Diskursen. Diese sozialtheoretische Wendung der analytischen Philosophie vollzieht sich während den letzen zwei Jahrzehnten auf unterschiedliche Weisen zum einen bei den Vertretern der sogenannten »Pittsburgh School«, und zum anderen im Rahmen der Bewegung des Critical Thinking in den USA. Eine Gemeinsamkeit der beiden Ansätze, die im Fokus der nachfolgenden Beiträge stehen, welche die Arbeit des Kolloquiums »Die Welt der Gründe als Bildungsgegenstand« des 22. Deutschen Philosophiekongresses dokumentieren, ist die zentrale Rolle, die der Begriff der Bildung in diesen Ansätzen spielt. Ist ein – pädagogisch zu bewerkstelligendes – Mindestmaß an Bildung Voraussetzung für die Teilnahme an den sozial-diskursiven Praktiken der argumentativen Artikulation von Begriffsbedeutungen, dann ist diese Teilnahme ihrerseits als zentraler Antrieb für den Fortgang des Bildungsprozesses des Einzelnen zu verstehen. Genau diesem wechselseitigen Zusammenhang zwischen Bildung und public reasoning widmen sich die nachfolgenden Aufsätze. Bevor jedoch auf diesen wechselseitigen Zusammenhang näher eingegangen wird, scheint ein kurzer Exkurs zu der in den letzen Jahrzehnten kurvenreich verlaufenden Karriere des Bildungsbegriffs angebracht. Erst vor dem Hintergrund der widersprüchlichen und oft schwammigen Bedeutungszuschreibungen sowie der intendierten und nicht-intendierten Abwertungen dieses Begriffs kann der Beitrag der neuen analytischen Philosophie für die Klärung seiner Semantik und die Absteckung seiner konzeptuellen Reichweite vollständig eingeschätzt werden.

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Kolloquium 11 · Krassimir Stojanov

Der Bildungsbegriff im disziplinären Korsett der Erziehungswissenschaft Anders als im angelsächsischen Raum, in dem Education als Bezeichnung für ein genuin interdisziplinäres Forschungsfeld verstanden wird, wird in Deutschland die wissenschaftliche Erkundung von Bildungs- und Erziehungsprozessen vorwiegend einer einzigen Disziplin zugeordnet, nämlich der Erziehungswissenschaft. Viele tonangebende Vertreterinnen und Vertreter dieser Disziplin haben jedoch aus zumindest zwei strukturellen Gründen Schwierigkeiten mit und Unbehagen gegen den Begriff der Bildung. Erstens können auch Erziehungswissenschaftler nicht verneinen, dass »Bildung« eine interdisziplinäre Kategorie ist, die eine wichtige Rolle in sämtlichen Geistes- und Sozialwissenschaften spielt (vgl. Tenorth 2011, S. 357). Diese Erkenntnis legt es schon aus disziplinpolitischen Gründen nahe, als übergreifende Kategorie der Erziehungswissenschaft eben »Erziehung« zu postulieren und den Bildungsbegriff dieser Kategorie unterzuordnen, oder sogar ganz abzulehnen. Daher wird die Bedeutung dieses Begriffs bestenfalls zu einer Bezeichnung für den Aspekt der »Selbstkonstruktion« im menschlichen Aufwachsen degradiert, den es bei der Untersuchung der Möglichkeiten und Wege des erzieherischen Einwirkens auf dieses Aufwachsen zu berücksichtigen gilt (vgl. ebd., S. 359). Noch schwerwiegender ist der zweite Grund für die strukturelle Marginalisierung des Bildungsbegriffs durch die Erziehungswissenschaft. Schon seit ihrer Entstehung durch Abgrenzung von der Pädagogik in den 1960er Jahren versteht sich die Erziehungswissenschaft als eine deskriptiv-empirische und dezidiert nicht-normative Disziplin (vgl. Brezinka 1968, S. 441–444). Die starken normativen Implikationen der Bildungskategorie als Kristallisation humanistischer Denktraditionen, welche um die Idealvorstellungen von Subjektautonomie und individueller Freiheit kreisen, sind mit diesem Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft wohl kaum kompatibel. Dadurch lässt sich eine Reihe von in der Erziehungswissenschaft weit verbreiteten Aversionen und Vorurteilen in Bezug auf den Bildungsbegriff erklären, wonach sich dieser Begriff wissenschaftlich nicht bestimmen und empirisch nicht operationalisieren ließe, oder wonach er gar Ausdruck eines deutschen Sonderwegs wäre, der sich auf andere kulturelle und sprachliche Kontexte nicht übertragen ließe. Dabei bleibt die neuerliche extensive Verbreitung des Wortes »Bildung« in nichtdeutschsprachigen, vor allem angelsächsischen Kontexten – nicht zuletzt im Kontext der neuen analytischen Philosophie – in den erziehungswissenschaftlichen Diskursen erstaunlicherweise nahezu unbemerkt.

Bildung als »having one’s eyes opened to reasons« Ein prominentes Beispiel für diese Verbreitung ist John McDowell’s Schrift »Mind and World«, die als ein paradigmatisches Werk der neuen analytischen Philosophie zu betrachten ist. In diesem Werk spielt der Bildungsbegriff eine Schlüsselrolle. Das folgende Zitat verdeutlicht sehr gut die Bedeutungsdimensionen und die konzeptuellen Funktionen, die McDowell diesem Begriff zuschreibt:

Einführung

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“If we generalize the way Aristotle conceives the moulding of ethical character, we arrive at the notion of having one’s eyes opened to reasons at large by acquiring a second nature. I cannot think of a good short English expression for this, but it is what figures in German philosophy as Bildung” (McDowell 1996, S. 84). Bildung ist also als Augenöffnung für den Raum der Gründe durch den Erwerb einer zweiten Natur zu verstehen. Was bedeutet es aber genauer, den Raum der Gründe zu »sehen«, bzw. sich in diesem Raum zu bewegen? Wie lassen sich die sozialen Praktiken der Artikulation, Evaluation und Anwendung von Gründen beschreiben? Wie vollzieht sich der Erwerb einer zweiten Natur, welche die Teilnahme an solchen Praktiken ermöglicht, und wie lässt sich dieser Erwerb pädagogisch unterstützen? Dies sind genau die Fragen, mit denen sich die nachfolgenden drei Beiträge befassen.

Drei Perspektiven in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Bildung und Teilnahme an sozialen Argumentationspraktiken Der Beitrag von Claudia Schumann bewegt sich am ehesten im konzeptuellen Rahmen der »Pittsburgh School«, als deren herausragender Vertreter McDowell neben Robert Brandom gilt. Schumann’s Versuch, den Bildungsbegriff in sozial-pragmatischen Termini zu rekonstruieren, baut auf Brandom‘s Vorstellung von Intersubjektivität als deontic scorekeeping auf. Diese ist zugleich als eine Praxis der Welt-Erschließung als Voraussetzung für die Konstituierung von Subjektivität zu verstehen – also als eine Praxis, in der Bildung als Wechselwirkung zwischen Ich und Welt im Sinne Humboldts stattfindet. Harvey Siegel kritisiert am Ansatz der »Pittsburgh School« vor allem den Umstand, dass dort Differenzierungen zwischen verschiedenen Arten von Gründen sowie Kriterien für Unterscheidungen zwischen guten und schlechten Gründen und Begründungen fehlen. Die Kultivierung der Fähigkeit, solche Unterscheidungen zu treffen, ist jedoch ein zentrales Merkmal von Bildung und zugleich ein zentrales Ziel der Bewegung des Critical Thinking, dessen wichtigster Vertreter gegenwärtig Siegel selbst ist. Und schließlich zeigt Ari Kivelä in seiner Kant-Interpretation überzeugend, dass die Bildung des Subjekts nicht individualistisch verstanden werden soll, wie dies viele Bildungstheoretiker fälschlicherweise nahe legen. Vielmehr vollzieht sich diese Bildung nach Kant im Zuge des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft. Die Eröffnung der Möglichkeit des öffentlichen Vernunftgebrauchs ist wiederum die zentrale Aufgabe der Erziehung. Dass die Mission der Erziehung, oder auch der Pädagogik im weiteren Sinnes des Wortes, in der Ermöglichung von Bildungsprozessen in Form der Teilnahme Einzelner am öffentlichen Gebrauch der Vernunft besteht, ist eine Erkenntnis, der sicherlich alle Autoren der Beiträge unseres Kolloquiums zustimmen würden.

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Kolloquium 11 · Krassimir Stojanov

Literatur Wolfgang Brezinka: Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Vorschläge zur Abgrenzung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 14 (1968), S. 435–454 John McDowell: Mind and World: With a new Introduction, Cambridge/ London 1996. Heinz-Elmar Tenorth, H.E.: »Bildung« – ein Thema im Dissens der Disziplinen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 14 (2011), S. 351–362.

Education as Initiation into the Space of Reasons Harvey Siegel

1. Introduction A long tradition in the philosophy of education identifies education’s most fundamental aim and ideal as that of the fostering or cultivation of rationality. In recent decades this aim has been advanced under the banner of critical thinking. Because this story is well known I won’t dwell on it in detail here. Instead, in what follows I will relate this tradition in philosophy of education to recent work, inspired by Wilfred Sellars, on ‘the space of reasons.’ I will first offer a very brief overview of the tradition just mentioned. I will then briefly lay out Sellars’ notion and discuss its place in the work of some of those influenced by Sellars, especially John McDowell. I will next address recent work in philosophy of education that suggests that there is a tension between Sellars’ notion and the traditional educational ideal as I have developed and defended it in my own work, or that the Sellarsian view as developed by McDowell resolves outstanding difficulties with my version of the traditional view. I will argue that there is less tension than there appears to some of my critics to be, and that the Sellarsian view is in fact compatible with the traditional ideal as thus developed. But I will argue as well that the Sellarsian view it leaves out an important aspect of the traditional ideal that should not be lost.

2. The Place of Reasons in Education: A Very Brief Overview Philosophical issues concerning education have enjoyed substantial attention throughout the history of Western philosophy. From Socrates’ conversations with his fellow Athenians, Plato’s Republic and Aristotle’s Politics to the great philosophers of the Middle Ages, the Enlightenment and the Modern era, through to the Twentieth Century, issues concerning education, both epistemological and ethical/ social/political, have loomed large on the philosophical scene. In this long history, there has been an unusual degree of agreement among the central figures in the philosophy of education concerning the place of reason, or the fostering of rationality, as the most fundamental aim of education.1

Even though in recent decades philosophy of education has received short shrift in philosophy departments in North America and much of Western Europe, the subject has historically enjoyed and continues to deserve an honored place. At least, so I have argued. (Siegel 2009b) For a brief recap of the historical story, see Siegel 2003. 1

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Kolloquium 11 · Harvey Siegel

These days, the story is often told in terms of critical thinking. While there are a range of theories of critical thinking in the contemporary literature and the usual amount of philosophical controversy, theorists are mainly agreed that critical thinking is best understood as involving two components: a reason assessment component involving the ability to evaluate the quality or epistemic strength of reasons, and a critical spirit component involving a range of dispositions, habits of mind and character traits such that the critical thinker is actually disposed to engage in reason assessment and to be guided by it in belief, judgment and action. On my own view of the matter the ideal is justified by several considerations, but most importantly is compelled by our moral obligation to treat students, children, and indeed everyone with respect as persons: failing to educate for critical thinking constitutes a failure to treat students with respect. On my view the successful articulation and defense of the ideal requires as well a principled rejection of epistemological relativism, a non-epistemic conception of truth, an internalist conception of justification, and a ‘transcendental’ justification of reason or rationality itself. (Bailin and Siegel 2003; Siegel 1988, 1977, 2003, 2007a, 2010a; cf. Robertson 2009) These are of course highly contentious matters, and I cannot undertake a serious defense of them here. But I hope to have said enough to provide a proper background for the discussion of the ‘space of reasons’ to follow.

3. Sellars and ‘The Logical Space of Reasons’ As is well known, Sellars’ overarching project – and, according to him, the project of philosophy itself – was that of reconciling the ‘manifest image’ of ourselves, as traffickers in the intentional contents of language and thought and the normative character of belief, judgment, and action, with a thoroughgoingly naturalistic, ‘scientific image’ of human beings as complex but scientifically explicable denizens of the natural world.2 Of special relevance here is Sellars’ view of the ‘irreducibly normative character of epistemic discourse’ (Rosenberg, 2009: 10) and of thinking with/in terms of concepts itself: …anything which can properly be called conceptual thinking can occur only within a framework of conceptual thinking in terms of which it can be criticized, supported, refuted, in short, evaluated. To be able to think is to be able to measure one’s thoughts by standards of correctness, of relevance, of evidence. (Sellars, 2007: 374) It is in the context of his celebrated critique of ‘the myth of the given’ and his positive characterization of epistemic normativity and its incorporation in his ‘stereoscopic’ reconciliation of the manifest and scientific images that Sellars introduced the notion ‘the logical space of reasons’ in Empiricism and the Philosophy of Mind:

See especially Sellars 2007. Rosenberg 2009 is a helpful brief introduction to Sellars’ thought; two book-length treatments are deVries 2005 and O’Shea 2007. 2

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The essential point is that in characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says. (Sellars, 1997: VIII, 36, p. 76, emphasis in original) The details of Sellars’ view are complex and would require extended treatments of fundamental issues in the theory of meaning, the philosophy of language more generally, metaphysics and the philosophy of mind, and other core areas of philosophy. Such treatment would extend well beyond the present effort. Happily, for present purposes such an extended excursion is unnecessary. Our task here is to examine the relationship between Sellars’ naturalistic view of the normativity of epistemic discourse, thought and judgment as captured in his metaphor of the logical space of reasons and the traditional educational aim of the cultivation of reason.

4. Naturalism, Normativity, and Transcendence Sellars’ account of normativity is naturalistic; the scientific image is that given by the theoretical/explanatory sciences. What does Sellarsian ‘naturalism’ come to? Perhaps as good an expression of Sellars’ naturalism as any is the widely-cited passage: ‘…in the dimension of describing and explaining the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not.’ (Sellars, 1997: XI, 41, p. 83)3 This is enough to see that Sellars’ naturalism is metaphysical: he takes the deliverances of the theoretical/explanatory sciences to be the final court of appeal with respect to questions concerning the constituents of the world (‘of what is and what is not’). A central aspect of Sellars’ project is that of reconciling the normativity of the manifest image with the naturalism of the scientific image.4 That is, his stereoscopic combining of the manifest and scientific images aims to show, in part, that epistemic and other sorts of normativity can find their legitimate place in the scientific conception of the world. Such a reconciliation can be attempted in various ways; recent decades have seen several such attempts. Quine is famously, though controversially, often understood to have championed the abandonment of normativity in favor of a thoroughgoing nonnormative naturalism. This interpretation of Quinean naturalism was eventually explicitly rejected by Quine himself in favor of a version of instrumental efficacy (Quine, 1986: 655); in any case it is untenable. (Siegel 1984, 1995, 1996a) Sellars, of course, took normativity to be central; he was certainly not an advocate of its abandonment. Another influential attempt, popular among both epistemologists and philosophers of science, goes under the banner of ‘normative naturalism.’ According to the normative naturalist (including the Quine of Quine 1986), epistemic normativity is a matter

Readers will recognize the passage as playing off of Aristotle’s famous characterization of truth. Cf. Aristotle, Metaphysics 1011b. 4 O’Shea characterizes Sellars’ view as ‘naturalism with a normative turn.’ Cf. O’Shea, 2007: 3 and passim. 3

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of instrumental rationality. On this view, cognitive ends or goals are presupposed or ‘given’ and not criticizable on the basis of reasons; normativity is a matter of the judicious fitting of means to such ‘given’ ends. This view too is open to serious criticism. (Siegel 1989, 1990, 1996b, 1998, 2006) It is in any case not Sellars’ view either.5 Rather, Sellars’ view is that reason is ‘both naturalistic and nonreductive’ (Hanks, 2008: 204); that is, reason is a part of the natural world but nevertheless operates autonomously from it and cannot be reduced to it. This aspect of Sellars’ view is developed at some length by both Robert Brandom and John McDowell; I concentrate here on McDowell’s discussion.6 McDowell’s effort to reconcile the ‘realm of law’ (the realm in which Sellars’ scientific image reigns supreme) with the ‘sui generis character of spontaneity’ (the domain of the manifest image, in which human understanding, meanings, intentions, and rational relations are central) hinges on his effort to ‘rethink our conception of nature so as to make room for spontaneity.’ (McDowell, 1994: 77) This ‘rethinking’ is not an attempt to find some middle space between what McDowell calls ‘bald naturalism’ and ‘rampant platonism’ (ibid.: 72, 77; cf. 70–86); rather, it rejects the sharp distinction between them and builds on Aristotle’s notion of ‘second nature’ (84), according to which we are ‘animals whose natural being is permeated with rationality’ (85) and in which we can ‘reconcile reason and nature’ (86) by noting how our understanding develops in the course of ordinary human experience. It is worth quoting McDowell at some length: …Aristotle’s picture can be put like this. The ethical is a domain of rational requirements, which are there in any case, whether or not we are responsive to them. We are alerted to these demands by acquiring appropriate conceptual capacities. When a decent upbringing initiates us into the relevant way of thinking, our eyes are opened to the very existence of this tract of the space of reasons. Thereafter our apprecia-

It is also possible simply to reject the project of reconciliation as an empty philosophical worry that is of no concern to the naturalist. For discussion, see Siegel 2010b. 6 While I don’t discuss Brandom’s view at length in what follows, I should note that his development of this aspect of Sellars’ view is in important respects similar to McDowell’s. In particular, on Brandom’s view the normativity manifested in the space of reasons is independent of and autonomous from the scientific study of the realm of law, but is nevertheless a part of the natural world; such normative relations ‘are not studied by the natural sciences – though they are not for that reason to be treated as spooky and supernatural.’ (Brandom, 2000: 26, emphases in original). That said, I should also note that Brandom’s concern – as Sellars’ – is more a matter of linguistic than epistemic normativity; his inferentialist semantics and normative pragmatics primarily concern meaning, language, and linguistic practice, and focus centrally on his original theory of concept use/mastery in terms of inferential commitments and entitlements. See, e. g., Brandom, 1994: 600–1, 647, and passim; Brandom, 2000: ch. 1, esp. 1, 6, 10–11, 32; Brandom, 1997: 141. His understanding of rationality is similarly more linguistic than epistemic: rationality is a matter of playing the game of giving and asking for reasons well, where that in turn is a matter of proper deontic scorekeeping, i. e., of keeping track of commitments and entitlements. See, e. g., Brandom, 1994: 183, 253, ch. 9; Brandom, 2000: 31, 203–4. I suggest below that while this is good as far as it goes, it does not go far enough, in that one can play that game well, thereby establishing one’s mastery of the relevant concepts, but nevertheless end up with epistemically deficient beliefs. There is more to rationality/epistemic normativity than proper concept use. 5

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tion of its detailed layout is indefinitely subject to refinement, in reflective scrutiny of our ethical thinking. We can so much as understand, let alone seek to justify, the thought that reason makes these demands on us only at a standpoint within a system of concepts and conceptions that enables us to think about such demands, that is, only at a standpoint from which demands of this kind seem to be in view. (McDowell, 1994: 82) There are several things to note about this passage. First, McDowell is clear that this account of how ‘our eyes are opened to the very existence of this tract of the space of reasons’ is not limited to ethics: The point is clearly not restricted to ethics. Moulding ethical character, which includes imposing a specific shape on the practical intelligence, is a particular case of a general phenomenon: initiation into conceptual capacities, which include responsiveness to other rational demands besides those of ethics. Such initiation is a normal part of what it is for a human being to come to maturity, and that is why, although the structure of the space of reasons is alien to the layout of nature conceived as the realm of law, it does not take on the remoteness from the human that rampant platonism envisages. If we generalize the way Aristotle conceives the moulding of ethical character, we arrive at the notion of having one’s eyes opened to reasons at large by acquiring a second nature. (McDowell, 1994: 84) McDowell’s account is thus not limited to ethics, but is rather a general account of how our eyes are ‘opened to reasons at large.’ Second, the demands of reason are autonomous from and independent of us, in that the requirements and relations of reason ‘are there in any case, whether or not we are responsive to them.’ Third, acquiring an Aristotelian ‘second nature’ is, on McDowell’s account, very much a matter of education, broadly conceived; it is ‘a decent upbringing’ that ‘initiates us into the relevant way of thinking.’ As McDowell also puts it, ‘ordinary upbringing can shape the actions and thoughts of human beings in a way that brings these [rational] demands into view.’ (83) Fourth, such an education is clearly a matter of initiation into the space of reasons; it is, as McDowell says, ‘initiation into conceptual capacities, which include responsiveness to… rational demands,’ which initiation is ‘a normal part of what it is for a human being to come to maturity.’7 Let me note three points concerning McDowell’s view. First, his proposed reconciliation of naturalism and normativity is accomplished by reconceiving of nature in such a way that the normativity of language and thought are built into the very nature of human beings who become aware of meanings, intentions and rational relations during the course of their ordinary upbringing and coming to maturity as rational animals; their rationality is, so to speak, a central aspect of their natural character. Second, I have already quoted McDowell at too much length to add additional quotations here. But I want to recommend his closing section of the main text of the book, Lecture 6, section 8: 124–126, for a very instructive overview of his account that also connects directly with a classic work in philosophy of education, Scheffler’s ‘Moral Education and the Democratic Ideal’ (1989). 7

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McDowell explicitly rejects the idea that mind, reason, or normativity ‘transcend’ the natural world. On the contrary, such normativity is autonomous from nature in the sense that it is not determined by natural law, but it does not transcend nature in any metaphysically problematic way. As Chris Hanks characterizes McDowell’s view, on it ‘We can acknowledge that humans are rational animals and hold that reason can be exercised autonomously without placing this process outside of nature and setting up a dualism between mind and world.’ (Hanks, 2008: 207) Third, and most importantly for present purposes, all this is completely compatible with the traditional view of the cultivation of reason as the fundamental aim of education and with my own development of the traditional view in terms of the fostering of rationality. The latter is completely in keeping with conceiving of education as initiation into the space of reasons. In particular, when we ‘acquire appropriate conceptual capacities’ and are thus able to engage in what Sellars called ‘conceptual thinking,’ our thinking ‘is under a standing obligation to reflect about and criticize the standards by which, at any time, it takes itself to be governed.’ (McDowell, 1994: 81) Such criticism and self-criticism are central to my accounts of critical thinking/rationality.8

5. Problems of Compatibility? However, not all commentators agree that my view is compatible with the Sellars/McDowell reconciliation of naturalism and normativity. Why is my view thought to be problematic? The worry is that regarding epistemic criteria and standards of normative quality as reaching beyond or ‘transcending’ particular reasoners and communities – so that, for example, reasoning in accordance with the gambler’s fallacy is a mistake even in communities that regard it as a valid form of reasoning9, and slavery is morally objectionable even in communities that do not so regard it – forces me to abandon naturalism and thus to diverge from Sellars and McDowell. The worry is expressed most recently by Hanks, who suggests that my view founders on its ‘relation of reason to the natural world’ (Hanks, 2008: 194):10 Siegel’s notion of rationality stands, in a fundamental way, outside the empirical realm, populated as it is by particular circumstances, cultural traditions, and the messy contingencies of everyday life. His fallibilism wisely acknowledges that any specific application of critical thinking must take place under such conditions, but I discuss this in several places; see especially Siegel 1988 and 1997. For discussion of the case of logicians/probability theorists who regarded the gambler’s fallacy as a legitimate form of reasoning, see Siegel 1992. 10 Hanks’ discussion of what he sees as the problematic metaphysical character of my view takes place in the context of his treatment of the problem of indoctrination as it manifests itself in my dispute with Jim Garrison and his use of McDowell to overcome that dispute. I ignore most of Hanks’ insightful paper here in order to focus on the relation between my view and McDowell’s. I should acknowledge that Hanks is not alone in complaining about the metaphysics of my view; I regret I cannot undertake a systematic review of such complaints here. 8 9

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staunchly insists that rationality itself must involve criteria that stand independent of particular circumstances… [He] adheres to the Kantian view that the grounding of philosophical (rational) truths must stand outside the causal, contingent realm of experience… Siegel clings to a kind of Kantian transcendentalism… Siegel maintains a commitment to rational autonomy, which motivates him to argue for reason’s transcendence of the natural frame. (Hanks 2008: 199, 200, 204) There is much to say in response to Hanks’ complaint; I will do my best to be brief. First: it is not true that on my view rationality itself ‘stands…outside the empirical realm’ – at least, not as it is manifested in the reasoning, beliefs, judgments and actions of actual agents – as Hanks acknowledges (199). Does my ‘notion of rationality’ stand outside that realm? It is not obvious how this question is best understood. On one way of reading it, lots of ‘notions’ – numbers, arguments, ideals, etc. – ‘stand outside the empirical realm’ in that they are abstract objects that, by their very nature, are not extended in empirical space. Of course we could deny that the empirical realm is limited to the so extended, as McDowell does. So understood, insofar as the denizens of the space of reasons are in the empirical realm, my notion of rationality is as well. On yet another possible reading, such notions as these are ours, and so are in the empirical realm insofar as we ourselves are. So the claim that my notion ‘stands outside the empirical realm’ is ambiguous: in some senses it is, in others it is not. But in no sense do I embrace or commit myself to any sort of supernatural realm, a ‘realm’ outside or beyond the ordinary, everyday world. What about my ‘staunch insistence’ that rationality involves criteria that are independent of particular circumstances? I certainly do insist on this – as does Hanks himself (210–11). Declaring that such criteria are ‘outside the empirical realm’ is likewise ambiguous: the criteria are ours, put forward in our theorizing, and meant by us to extend beyond the boundaries of their articulation and acceptance. This is why we can say, for example, that reasoning that commits the gambler’s fallacy is epistemically deficient independently of the context in which the reasoning occurs. Indeed, this is just McDowell’s view, as we have seen: on his view as on mine the demands of reason are autonomous from and independent of us in that the requirements of reason ‘are there in any case, whether or not we are responsive to them.’ These demands, and the related criteria, are not ‘outside the empirical realm’ on McDowell’s view or on Sellars’ – the domain in which they reside, the ‘space of reasons,’ is independent of/autonomous from the empirical realm, but not outside it. The same is true on my view. Second: I have tried to be careful to distinguish stronger and weaker forms of ‘transcendence.’ I do offer a ‘transcendental’ argument for justifying rationality (Siegel, 1988: Postscript; 1997: ch. 5 and Epilogue), but here ‘transcendental’ does not mean ‘outside the empirical realm,’ but rather refers to the argument form according to which something (in this case rationality, or at least an acknowledgment of it and a commitment to it) is necessary if something else (in this case the serious calling of rationality into question) is possible. When I say that epistemic criteria transcend local contexts I do not thereby assign to criteria some special metaphysical status. Rather, I affirm just

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that what people in a given context say or think is criticizable on the basis of suitable criteria whose force is independent of and extends beyond the bounds of that context, and whose suitability is itself a matter open to reasoned criticism. This is more or less the same point Sellars makes when he says ‘to be able to think is to be able to measure one’s thoughts by standards of correctness,’ presuming, of course, that it is possible that one’s thoughts might fail to measure up; and that McDowell makes when he says that our thinking ‘is under a standing obligation to reflect about and criticize the standards by which, at any time, it takes itself to be governed,’ presuming, again, that our thinking can fail to meet such standards – which they clearly can on McDowell’s view, since according to it ‘rational requirements…are there in any case, whether or not we are responsive to them.’ ‘Transcendence’ at my hands does not have the untoward metaphysical features that I join Sellars, McDowell and Hanks in rejecting. (Siegel, 1997, 1999a, 1999b, 2001, 2007b, 2011) I suspect that this tangle results from insisting that my epistemological account of rationality/critical thinking be understood metaphysically, and by failing to distinguish epistemological from metaphysical naturalism. Like Sellars and McDowell, I too embrace metaphysical naturalism, and reject all forms of supernaturalism. What I reject is epistemological naturalism, when that view is understood to involve or entail that ‘metaphysically naturalist’ standing – i. e., something’s standing as a thing that has ‘naturalistically emerged,’ e. g., by way of McDowell’s ‘ordinary, decent upbringing,’ or its status as something genuinely in the world – guarantees positive epistemic standing.11 The reason is simply put: The ‘natural’ includes or gives rise to both the epistemically good and the epistemically bad, both truths and falsehoods, both justified and unjustified beliefs. So once we agree that everything arises or emerges naturally, i. e. as a result of natural processes, or is natural in that it is ‘in the world,’ the problem of distinguishing the good from the bad remains. Naturalist metaphysical status – i. e., being a product or a part of nature – is no indication of epistemic status or quality. Once we have agreed that minds generally, and the minds of critical thinkers in particular, emerge naturalistically and are part of the natural world, we need to deal with the fact that the minds of uncritical thinkers likewise so emerge and reside. Doing so requires the rejection of epistemological naturalism as here understood, but is of course compatible with metaphysical naturalism. Sellars, McDowell, Hanks and I are agreed that critical thinking is embodied and that human nature is part of nature. We agree, further, that language, minds, ideas and ideals all emerge naturalistically, i. e., from natural processes. However, we might disagree on what follows from that emergence. For the reasons just rehearsed, I reject the claim that such naturalistic emergence or status establishes epistemic quality. Sellars, McDowell and Hanks should agree, given their embrace of the independence and autonomy of the ‘space of reasons’ from the ‘realm of law,’ and the ‘non-reductive’ character of reason/rationality. That is, my rejection of epistemological Cf. Brandom’s interpretation and endorsement of Sellars on this point: the ‘justificatory relation is not a natural one, but a normative one; it is not the empirical scientist, but the logician or epistemologist who has the final say about it.’ (Brandom, 1997: 127; see also Brandom, 2000: 117) 11

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naturalism and my positive accounts of rationality and critical thinking are completely compatible with the metaphysical naturalism embraced by all four of us.12

6. A Key Missing Ingredient While there is then no incompatibility between the two, there is something missing from the Sellars/McDowell view that is central to (my version of) the traditional ideal with which we have been comparing it. Suppose that Sellars and McDowell are right about what is involved in humans’ becoming competent language users and conceptual thinkers. It does not follow that as a matter of fact competent language users/conceptual thinkers are good at making normative epistemic judgments. Epistemic discourse may be ‘irreducibly normative,’ as Rosenberg puts it; Sellars may be correct that ‘to be able to think is to be able to measure one’s thoughts by standards of correctness.’ But one can ‘measure one’s thoughts by standards of correctness’ well or badly; one can, once one’s ‘ordinary decent upbringing’ opens one’s eyes to the space of reasons and enables one to maneuver in that space, maneuver well or badly; one can be ‘initiated into the relevant way of thinking by a decent upbringing’ and yet engage in such thinking either well or badly; one can be a competent concept user and player of the game of giving and asking for reasons and yet play it either well or badly, epistemically speaking, in that one can, despite one’s conceptual competence, judge badly the probative force of candidate reasons. If so, the ability to reason well is not guaranteed by an ordinary decent upbringing or the acquisition of appropriate conceptual capacities, unless having mastered a range of concepts somehow prohibits mistakes in reasoning or leads inevitably to epistemically high quality thinking. This is of course not the case. Being ‘in’ the space of reasons does not ensure that good reasoning will result. Every competent language user uses it in the space of reasons, yet not every such user is a critical thinker. More is needed.13 Consequently, while the Sellars/McDowell view is compatible with the traditional ideal, that ideal requires more: it requires that ordinary decent upbringing and the acquisition of appropriate conceptual capacities – that is, normal human development as conceived by Sellars and McDowell – be supplemented by explicit educational intervention aimed at enhancing students’ abilities to reason well. This is not surprising, since the mental life of every normal human being is lived ‘in’ the space of reasons but irrationality and uncritical thinking abound nonetheless. Simply acquiring appropriate conceptual capacities during the course of learning language (McDowell, 1994: 125) is This paragraph borrows from and builds upon Siegel 2001. This perhaps should not be surprising, since Sellars and McDowell are preoccupied with matters metaphysical – in particular, with what is required in order to have a mind at all, and to be rational in that sense – and are not primarily concerned with the normative evaluation of the epistemic strength of candidate reasons. The preoccupation extends far beyond those two authors, of course, and is more or less universal in contemporary philosophy of mind. Special thanks to Randy Curren and Kate Elgin for very helpful comments on this. 12 13

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not enough, educationally speaking. At any rate, it is not enough once we are agreed that (1) one can learn a language yet reason badly, evaluate reasons badly, and/or fail to be disposed to believe, judge and act in accordance with one’s evaluation of the strength of candidate reasons, (2) we are obliged to treat students, as everyone, with respect as persons, and (3) so treating students requires doing our best to foster their rationality. (Siegel 1988, 1997)

7. Conclusion: Education as Initiation into the Space of Reasons R. S. Peters famously argued that education is fundamentally a matter of initiation.14 I do not want here to defend Peters’ view generally. But I do think that the idea that education importantly involves initiation is basically correct, and that it is readily adapted to the idea that education fundamentally involves the initiation of students into Sellars’ space of reasons. However, in so far as we embrace the thesis that a central aim and guiding ideal of education is the fostering of reason or rationality, initiating students into the space of reasons as Sellars and McDowell conceive it – by way of learning language and in that way acquiring appropriate conceptual capacities – is, as we have seen, not by itself enough. Such an ordinary, decent upbringing needs to be supplemented with explicit educational intervention aimed at fostering students’ critical thinking – that is, aimed at fostering their ability to evaluate reasons well and their dispositions to seek reasons, evaluate their power and convicting force competently, and be guided by the results of such evaluation. There is thus no reason to think that there is any serious conflict between the traditional educational ideal concerning the fostering of rationality and the Sellars/McDowell view. Education can indeed be seen as a matter as initiation into the space of reasons. But such education, to satisfy the ideal, must do more than rest on ordinary decent upbringing and language learning. It must pay explicit attention to the fostering in students of the ability to assess reasons well, including a sophisticated understanding of the epistemology underlying such assessment, and to the fostering of the suite of dispositions, habits of mind and character traits constitutive of the critical spirit. Only thus enhanced will ‘initiation into the space of reasons’ meet our deepest educational ideal.15

Cf. Peters 1972. The theme of education as initiation informs much of Peters’ work. For helpful recent discussions, both of Peters and of education as initiation, cf. Scheffler 1995 and the essays in Cuypers and Martin 2009. 15 A version of this paper was presented at the Congress of the German Society of Philosophy (Deutscher Kongress für Philosophie), Munich, September 2011. I am grateful to Krassimir Stojanov for the invitation to participate in this event, to him and its other participants, esp. Randall Curren, and to Jonathan Adler, Catherine Elgin, Israel Scheffler and Amie Thomasson for very helpful comments, suggestions and advice. 14

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Publicity, Education and Space of Reasons. – Towards a Reconstruction of Kant’s Idea of public Use of Reason and Education Ari Kivelä

Introduction Immanuel Kant’s ideas on education can be understood as the point of departure for the educational discourse of the modernity. Education was supposed to be the crucial element for evolving humanity, which takes its place in every individual, but also on the collective level (i. e. mankind). Thus education is the presupposition for humanity itself. The modern concept of education depends on the profound anthropological condition of human beings. Every individual being is basically only an imperfect image of possible humanity. Despite the empirical imperfectness, every human being has at least potentially the possibility to perfect oneself. Accordingly, every human needs to be educated in order to be human being. This credo of the modern education becomes evident in Immanuel Kant’s lectures, where he made the strong claim, typical for the modern educational thought. In the contemporary writings some educational philosophers have been constantly arguing, the modern concept of education was biased towards individualistic notion of subject and hence philosophy of subjectivity1. In this paper I will however argue, the pedagogical thought of Kant was more complex than that. The pedagogical discourse of modernity considered the aim of education as the active autonomous person within the framework of social life. Accordingly, the aim of education was indeed an educated man as a rational autonomous subject. However, this educated subject or person (Gelehrter) was not considered as the solitude subject living in autarchy but moreover as individual, which lives on the public sphere among the other individual beings.The Project of Enlightenment was not an individualistic one. The use of reason was considered as the public use of reason. In this very sense, reason is possible only in the social context where our attitudes to norms, beliefs, and standards of our life form are basically under the constant pressure to become not only justified but also contested by individuals themselves. In many ways, the whole discourse of the modern pedagogues could be labelled as the Kantian one. Kant insisted, on the other hand, that the sphere of publicity allows us as individuals to use our reason in a critical way. On the other hand, he was aware of the fact, that the public sphere must be evoked by social actors themselves. Being a counterfactual concept, it only gives us a critical idea of what it means to use our Gert J. J. Biesta: Pedagogy Without Humanism. Foucault and the Subject of Education, in: Interchange 29 (1998), 2–5. 1

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reason. It does not guarantee – as such – that we factually use reason. Furthermore, intentional activity called education is the way to secure the constitution of the public sphere and thus the use of reason. The concepts of public use of reason and education are interrelated. In his book Reason in Philosophy Robert Brandom has proposed an interesting and impressing interpretation on Kantian notions of transcendental apperception, autonomy, freedom and reason, which might have a vital contribution to our understanding of Kantian thought, and especially its importance for contemporary attempts to make a philosophy of education. Eventually, this interpretation could make Kantian thought more accessible, and hopefully even correct some prejudices and biased against Kant and his philosophy. Brandom has proposed a reading of Kant, which differs crucially from the abovementioned interpretation. According to Brandom, German Idealism – understood here as a movement of thought from Kant to Hegel – showed a possibility for a rationalism that “[…] is not objectionably Cartesian, intellectuallist, or anti (or super-) naturalist. Nor need we treat the”light of reason” as unacquired or innate”2. Intuitions of central thought by Kant and Hegel should be re-examined in order to avoid “the adventitious accretions and subsequent folklore” which have been obscuring Kant and post-Kantian philosophy. Brandom himself supports his position through his complex reading of Kant’s famous treatise on the unity of original transcendental apperception. Brandom argues that one of the most important findings of German idealism was that rationality is a “normative concept”.

The Kantian Notion of Freedom and Autonomy It is generally known that transcendental apperception and the notion of a transcendental subject is also supposed to offer the ground for the concepts of freedom and autonomy, which are important for Kantian philosophy and Idealism, and the philosophy of Enlightenment in general. Brandom attempts to show that it is precisely his reading of transcendental apperception that illuminates the Kantian model of freedom and autonomy, or at gives us such access to it which does resist every accusation of metaphysics and recourse to the traditional idea of soul or substance. Brandom suggest that practical freedom and autonomy have their sources in the “discursive activity on the subjective side”3 Freedom and autonomy are already implied in the concept of the epistemic subject and its ability to endorse commitments and integrate them into to the unified whole (that is: the consciousness). Freedom and autonomy belong initially and originally to the “domain of representing subjects”4 Thus the Kantian concept of autonomy and freedom are rooted in rationality and its discursive nature in general.

2 3 4

Robert B. Brandom: Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge, Massachusetts 2009, 2. Ibid., 2. Ibid., 59.

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The use of the concept, and the undertaking of commitments, is in itself an exercise of authority. It is the knowing subject itself, who commits itself and deploys concepts in making judgements. The knowing subject her / himself aims (or at least ought to aim) for the integrated unity of commitments and to bind her / himself to them. This is based on an assumption according to which the use of concepts in the judgements means that we eventually bind ourselves with the normative statuses. In other words, every epistemic act of the subject is as such an expression of spontaneity, authority and responsibility for making commitments. Brandom describes the leading motive of positive freedom typical for Kantian philosophy as follows: “[…] positive freedom is the rational capacity to adopt normative statuses: the ability to commit oneself, the authority to make oneself responsible”. In this very specific sense, the knowing is always an act of self-determination (practical activity per se) which in a Kantian sense of positive freedom means that one has an ability to bind oneself to conceptual norms established by oneself. This also clarifies the notion of autonomy implied by the concept of freedom. Positive freedom is our practical capacity to be bound by commitments being understood actually as normative attitudes or norms. This is based on our spontaneity, which can be understood as the capacity to deploy concepts, and acknowledge their binding force. Autonomy is a de facto exercise of this human ability or potential. Strictly, we can speak of autonomy, when “[…] we as subjects are genuinely normatively constrained only by the rules we constrain ourselves by”5 Autonomy means that rules or norms are conditioned by our own attitude to them. It is precisely our own attitude which allows those rules to bind us.6 Brandom points out, that Kant’s insight to transcendental apperception and its semantic-propositional conceptual structure reflects the idea of freedom and autonomy inherited from the legacy of the Enlightenment. Accordingly, freedom and autonomy imply that we define the normative statues and attitudes to which we ourselves are dedicated to follow. Freedom and autonomy are expressed only when we as subjects are defined and constrained only by the normative commitments to which we commit ourselves. Thus the normative statuses and attitudes of are not independent from the attitudes of the subjects who ought to be bound by the given norms or concepts. On the contrary, they are “attitude dependent”7. The project of the Enlightenment had a strong “commitment to the attitude-dependence of normative statuses”8. The philosophical tradition of the Enlightenment conceived that commitments and their normative statuses must be derived from the epistemic and practical attitudes of reasonable human beings. They are not instituted by some superhuman authority or nature as such (nature laws) but constituted by the subjects who acknowledge them in their judgments or practical actions. Furthermore Brandom emphasizes that freedom described by Kant implies also that we distinguish ourselves from the merely natural. Hence, by exercising

5 6 7 8

Ibid., 62. Ibid., 64. Ibid., 61. Ibid., 66.

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this capacity we make ourselves into beings having our active living and consciousness in the space of normative commitments and responsibilities. Because these normative commitments are related to each other and also articulate the contents of the normative statuses, they can be used by the subjects for giving reasons for their own judgments and actions. We are always already involved with the space of reasons so to speak.9 Kant himself did not contemplate this idea systematically in the context of critical philosophy. This has led several critics on Kantian philosophy to believe that reason and subjectivity exposed by Kant are something which must be considered eventually as non-historical, non-situated and even transmundane from their origins.10 However, in his writings on the philosophy of history and Enlightenment, Kant actually discussed the historical and social structures which inhibit freedom and autonomy and give a context for human reason, freedom and autonomy, which binds them primordially to social practices. Already Kant himself proposed the view that freedom and autonomy, and eventually human reason are contextualized into the historical and social formations. Kant’s lectures on education, published posthumously, also extend the central thought he was envisaging in his writings on the philosophy of history and Enlightenment. Eventually the idea of education must be understood in the context of the philosophy of history and Enlightenment and therefore it is very closely related to the ideas of autonomy, freedom and reason, and their public exercise.

History as a Project of Humankind The key motive behind the Kantian philosophy of history is the idea that history can be understood as the process whereby human species develop themselves from the initial natural – say animal-like stage – to a being who is able to use reason.11 Like all other living things in the world, human species are also, indeed, determined to accomplish and develop their own natural predispositions and possible abilities. Whereas animals develop their organs and instincts, human species develop their natural disposition for reason, and as Kant states, the possibility for reason is given by nature for the human species. Although humans have a natural disposition for the use of reason, and thus for expanding their abilities, reason will not evolve instinctively or automatically by itself; on the contrary, the whole process depends greatly on attempts, training and teaching. Furthermore Kant emphasizes tirelessly that this process cannot ever perfected through the individual striving. This is possible only collectively for the human as species while, according to Kant, human dispositions cannot develop completely in individuals but Ibid., 60. Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 31989, 47–49. Jürgen Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze, Frankfurt am Main 2004, 186. 11 Jorgen Huggler: Culture and Paradox in Kant’s Philosophy of Education, in: Kant and Education. Interpretation and Commentary, ed. by Klas Roth & Chris W Surprenant, New York, London (2012), 94–107. 9

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only in the species. Furthermore, Kant argues strongly for the autonomy and self-realisation of human beings, while they do have to take the responsibility for the development of reason and freedom. Nature and natural instincts no longer guide human species in their urge to perfect natural dispositions.12 In his writing Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Kant describes the beginning of human history as the initial shift to the realm of reason, opening the possibility for progress to a better state of affairs and thus approach a better future and ideal state of humanity13. The universal history described by Kant should be mainly understood as a philosophical project14. Kant’s intention is only to illuminate one possible course of the human world. Kant stresses that history as the blooming of human reason does not unconditionally come true. As Kant states in the closing passage of the text Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, human beings as individuals and as species are responsible for the course of history. Whether the process of history comes empirically true or not, no nature, no providence, is to blame. History as a process of evolving humanity is only one possibility depending on the factual and correct use of our reason and freedom.15 The obligation, posited for human species to take responsibility for the human process of history takes its most advanced form in Kant’s famous writing Beantwortung zur Frage: Was ist Afklärung. The philosophy of history and the philosophy of the Enlightenment are profoundly connected with each other16. The concept of Enlightenment gives for Kant the opportunity to exposure his motives underlying the idea of universal history. The movement of Enlightenment is to be seen as practical form of process of history aiming to the better stand of civil society and in the end the whole humanity. Like Kant declares, we do live the age of Enlightenment but not yet in the truly enlightened age17. Therefore enlightenment refers first and foremost to a process taking place in our present time, aiming however for the ever expanding use or reason and thus extending possibilities of freedom in the history of humankind.

Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel Bd. VI, Darmstadt 51998,35–36. 13 Immanuel Kant: Über Mutmasslicher Anfang der Menschgeschichte, in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel Bd. VI, Darmstadt 51998, 92. 14 Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 49–50. 15 Immanuel Kant,: Über Mutmasslicher Anfang der Menschgeschichte, in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel Bd. VI, Darmstadt 51998, 101. 16 Barbara Herman: A habitat for humanity, in: Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim, ed. by Amelie Oksenberg Rorty & James Schmidt, New York (2009), 150–170. Pauline Kleingeld: Kant’s changing cosmopolitanism, in: Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim, ed. by Amelie Oksenberg Rorty & James Schmidt, New York (2009), 171–186. 17 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel Bd. VI, Darmstadt 51998, 59. 12

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Enlightenment and Publicity The core of the concept of enlightenment is the idea or plea for Mündigkeit and individual freedom, which implement further the freedom of thought and moral decision Kant begins his essay with the famous and classic articulation of the fundamental idea of Enlightenment according to which Enlightenment is man’s release or emancipation from self-inflicted tutelage. Kant clarifies immediately what exactly he means. Tutelage is self-produced, while not resulting from the lack of reason, nevertheless, its cause lies in a lack of resolution, commitment and courage to use it without direction from another.18 Kant stresses in the ending sentence of this passage, that humans have to have enough courage to think independently and without guidance from the authorities: “Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also Wahlspruch der Aufklärung”19. At first glance, the Kantian credo seems to be addressed to individuals. Kant makes, however, evidently clear that individual autonomy and the use of reason depend on the concept of freedom, which should be merely understood in terms temporary social space, giving crucial degrees of individual freedom for the use of reason. It is important to notice, that the Kantian concept of public use of reason implies strongly the social dimension of reason. Kant stresses that an individual should use his own reason in front of the public. To gain a proper insight to this version of Kantian concept of freedom we have to bear in mind the practical dimensions of the use of reason. Kant makes a clear distinction between two forms of the usage of reason which differ from each other, namely private use of reason and public use of reason. The private use of reason has in Kantian vocabulary quite a specific meaning, while it refers to the actions of person when being in a specific position or positions in the society. When using reason privately, one is mainly a passive part of the machinery of society. A person – being in this specific role – is obliged to obey the rules and aims of the very society to which he happens to belong.20 As important as the private use of reason for a functioning society always might be, however, Enlightenment is not possible without freedom, which Kant signifies here as the public use of reason. According to Kant the only thing needed for Enlightenment is freedom, which can be understood as a possibility to use ones reason in public. Public use of one’s reason must be free and without any restrictions and limitations typical, indeed, for the private use of reason. According to Kant an individual does not present here the specific societal position or profession and standards typically set by this specific position but acts as a scholar (Gelehrter), who has an important task to use her / his own reason independently, express her / his own opinions, and in fact even criticise the limitations, norms and standards which are constitutive for the temporal use of reason under the conditions of private use.21 The essential difference between these 18 19 20 21

Ibid., 53. Ibid., 53. Ibid., 55–56. Ibid., 55–57.

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two dimensions of using reason is that private use preserves the contemporary stage of humanity, whereas public use of reason should give a very dynamic impetus to the process of history as an everlasting approach to the ideal state of the human reason and freedom, in other words, Enlightenment.22 In the true sense of Kantian Philosophy of Enlightenment, the use of reason is already contextualized in the social and historical realm. Kant did not presume upon the individual’s ability to free oneself from the almost natural-like minority. Every single individual will have severe difficulties to rise above nature and become a rational being able to use one’s own reason autonomously. Despite the doubts about the individual ability to become enlightened, Kant however believes deeply that publicity can collectively enlighten itself: “Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. […] Das aber ein Publikum sich selbst aufkläre ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.”23 The human freedom and autonomy gain their historical reality only where individuals actually can express their own thinking in the community and in front of the public. When we use our reason in public, we say or think something, which means in turn, that we are making something explicit24. Essentially, the core of public use of reason is identical with giving and asking reasons. When someone steps from the private sphere of reason into to the public sphere of reason and hence into the role of scholar, she / he begins initially to use one’s own understanding concerning the substantive beliefs, doctrines and world views one was earlier subjected to. In other words, we enter philosophizing activity precisely then when we enter in the discursive realm and are using our ability to make explicit and understandable “[…] the conditions, nature and consequences of conceptual norms and the activities”25. Being in the role of a scholar, one no longer has a duty to follow the commitments and responsibilities in the given communal and institutional context without questioning the reasons upon which they are based. Instead, one has an obligatory mandate to think and act from explicit reasons and contest the given normative assessments invested by the community and its institutions, and adjust them when possible or necessary. The rational individual, outlined by Kant in his text on Enlightenment, has to make public one’s commitments and reasons for following or not following them. Hence Brandom’s description of the nature of human rationality describes the very essence of the Kantian conception of Enlightenment and publicity as follows: “Saying or thinking something, making it explicit, consists applying concepts, thereby taking up a stance in the space of reasons, making a move in to the game of giving and asking reasons”26. This is precisely also the kernel of the

Ibid., 55, 61. Ibid., 55. 24 Robert B. Brandom: Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge, Massachusetts 2009, 124–125. 25 Ibid., 127. 26 Ibid., 125. 22 23

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Kantian idea of Enlightenment and its famous normative credo: Sapere aude! The public use of reason envisaged by Kant means ultimately, that we bring “into the discursive explicitness”27 the conceptually articulated norms and reasons which we are supposed to commit to. Therefore the process of Enlightenment depends on something, which Brandom calls our “concept-using capacity”28. History as a project of Enlightenment, as Kant proposed it, results from our nature as rational beings. It is based on our ability as concept users to make explicit how things are, how they should be, what we are doing and what we should be doing29. Thus the Kantian idea of publicity – however counter factual it might be – has its ultimate roots in our distinct ability as “concepts-mongering creatures”30. Making society more rational or more enlightened – as Kant suggested – is possible only when we can make explicit the material inferential connections of our normative commitments and actions based on the judgements as well adjust and re-adjust our commitments according to the reasons given in the public sphere of discursive practices. Only activity like this makes possible the anticipation of a better course of history, as Kant suggested in his philosophy of history and philosophy of Enlightenment. Kant’s notions of history and public use of reason imply strongly attitude-dependence of judgments and moral norms. Furthermore these notions are linked inherently to Kant’s conceptions of freedom, which is merely freedom “[….] to do something rather than from some sort of constraint”31 and the idea of autonomy. One of the central contributions of the philosophy of Enlightenment and especially in the case of Kant is that freedom can be described as a specific human capacity to assert norms for oneself and be bound with them. This capacity raises us “[…] above merely natural”32 entities or objects which on the contrary are subjected to natural laws and events, and not to normative attitudes and practical actions guided by those attitudes whose validity and bindingness are actually conditioned by the consciousness or the attitudes of those who have initially produced and undertaken those normative attitudes33. While we exercise this ability, we become rational beings who live “in the normative space of commitments and responsibilities and so […] reasons”34. We are no longer solely natural beings but rational autonomous authorities for our own actions, judgments and commitments in the sense that we let ourselves be bounded by the rules we consciously and discursively acknowledge by ourselves as the bindings for us. By the same token we are autonomous subjects, who have a duty to obey no other normative attitudes than those by which we constrain ourselves.35 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Ibid., 125. Ibid., 125. Ibid., 127. Ibid., 126. Ibid., 58. Ibid., 60. Ibid., 62. Ibid., 60. Ibid., 62.

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The process of history as Enlightenment is possible only when agents actually are attached to the normative idea of critical publicity and accordingly strive to realize it in their action. At the same time the realm of publicity as the context for autonomous use of individual reason serves as platform for the making explicit the normative judgments, criticizing them and becoming responsible for them. When knowers and agents take the role of scholar (Gelehrter) in the public they eventually express conceptual contents and give reasons for criticizing and endorsing norms and judgments. This means that norms and judgments are instituted in the discursive practices and are therefore based on the authority of knowing and acting agents. Only those norms and judgments can be seen as rationally valid that are based on the procedure of publicity and hence depend on the attitudes of autonomous knowers and agents expressing their freedom in public. It is not perhaps too much to say, that Kantian “original conception of the positive freedom” (Brandom 2009, 58) finds its expression precisely in his philosophy of Enlightenment. According to Brandom freedom means our “rational capacity to adopt normative statuses”36. This is the human ability to commit ourselves to normative statuses and judgments, and first of all to our self-constitutive authority to make ourselves responsible for those commitments by giving reasons for them, and by binding ourselves to those commitments and eventually to practical attitudes based on them. The Kantian notion of freedom reflects our authority to make ourselves responsible by giving norms and binding ourselves by those norms which we have given for ourselves.37 Freedom in the Kantian sense is hence our freedom to act for conceptually articulated reasons which we have given to ourselves, and furthermore to be bound or even constrain by those reasons as the responsibilities to which we are practically committed in our actions and in knowing. While engaging in public use of reason, we also engage in discursive practices of giving and asking reasons, and undertaking responsibilities and commitments.38 Interestingly, Brandom refers just briefly to Kant’s essay Was ist Aufklärung? According to him, Kant, in this popular writing, actually gives us the possibility to understand how freedom, autonomy and authority should be understood in the modern sense. “To get an intuitive sense of how such capacity can sensibly be thought of as a kind of positive freedom it is helpful to think of an example suggested by the guiding metaphor of Kant’s popular essay “Was ist Aufklärung?” Consider what happens when a young person achieves her legal majority. Suddenly she has the authority to bind herself legally, for instance by entering into the contracts. This gives her a host of new abilities: to borrow money, take out a mortgage, start a business. The new authority to bind oneself normatively, to take on these normative statuses, involves a huge increase in positive freedom. The difference between discursive creatures and

36 37 38

Ibid., 59. Ibid., 59–63. Ibid., 143–145.

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non-discursive ones is likewise to be understood in terms of sort of normative positive freedom exhibited by the concept users.”39 The public use of reason is hence the case for the use of positive freedom in the Kantian sense discussed above. In his essay Kant eventually identifies freedom with the individual’s use of one’s own reason in public, and reminds us that it is precisely the form of freedom required by the Enlightenment. Kant writes as follows: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heissen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen. […] der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen.«40 Kant as a Modern Pedagogue Finally, we have to ask ourselves, what this all has to do with education, if anything at all. Obviously, in his writing on Enlightenment, Kant did not speak about the younger generation. Public use of reason was clearly warranted for those persons who are already members of the community, persons who are socialized into the existing society. In other words, the public use of reason is for adults as competent rational beings and not for children. This leads to the question of how then can free individuals initially evolve, as autonomous users of their reason as conceptual capacity, and the public sphere, offering the context for individual concept users and their rational activity. Kant does not give an exact answer in the context of the philosophy of Enlightenment nor in the philosophy of history; he merely suggests the existence of such rational agents who are de facto free and able to use their reason in order to aim for an enlightened and better future. What exactly is at stake here is the question about empirical genesis of rational subjects and the rational community alike. Interestingly, Kant does touch upon this problem elsewhere, namely in his lectures on education. These lectures can be understood as the counterpart for the visions developed in his philosophy of Enlightenment and history. When we approach these lectures from the perspective of those writings, it becomes clear that the concept of education is inevitable. It is precisely not the case that the younger generation “suddenly” (see above) has the authority and the positive freedom to undertake normative bindings and have responsibility for them. For Kant this ability is not based on natural growth, socialization or maturing, but on intentional and planned education instead. Kant stresses that education is not natural event that just occurs, but an attainment based on plans and intentions to educate somebody. It is a form of human action. As Kant states, humans have only facilities, given by nature or even providence41. “Der Mensch soll seine Anlagen zum Guten erst entwickeln: die Ibid., 59. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, 55. 41 Immanuel Kant: Über Pädagogik, in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel Bd. VI, Darmstadt 51998, 701. 39 40

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Vorsehung hat sie nicht schon fertig in ihn gelegt; es sind blosse Anlagen […]”42 Hence education aims to develop and advance those facilities that are merely potentials given by the evolution of nature. According to Kant, the idea of education–which develops all the natural capacities in human beings is truthful43. That education is inevitable, results from the fact that the freedom, autonomy and use of reason are not strictly natural dispositions but merely properties which discriminate the sapient beings from other merely natural beings. As Kant supposed in his philosophy of history, although the human potential for reason, freedom and autonomy is evidently given in our natural presence, yet they do not evolve naturally, and we have to strive for them by ourselves. Hence, education appears to be a crucial factor for the constitution of the human condition and our ability to use reason.44 In other words, education is “humanization of the humane”45. In the beginning pages of the lectures on education, Kant argues throughout in the manner of philosophical anthropology and philosophy of history. Both of these arguments obviously are tightly interrelated. According to the anthropological argument a human being is the only being that needs constant education. Education is, in this sense, an anthropological necessity: “Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss”46. Furthermore, Kant argues more strongly for education to the extent that the education is something which basically produces every human being, which is thus dependent on education: “Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht”47 In a certain sense, the Kantian anthropology underlying the concept of education defines a human being as a faulty or imperfect being but in a twofold way. On the one hand, she is in the first place imperfect while lacking instincts, unlike animals, and on the other hand she is imperfect when she does not use reason independently. This, let’s say, negative anthropology consists of the distinction between animal and non-animal in the sense of the rational autonomous being (Menschheit – humanity – as Kant himself calls it). Education in the Kantian sense is inherently interwoven with the concept of reason, and especially with the very idea of the development of reason through history as a process. Only education can contribute to the leap from the natural and animal, or natural like stage to humanity, which is characterized by the use of reason. Human beings are to be considered as beings gifted with inherent possible ability (predisposition) to use reason. Unlike other species, humans are not the product of nature only, but merely humanity itself brings itself to the human condition through its own use of reason, which is potentially given by the

Ibid., 14. Ibid., 11. 44 Michael Winkler: Immanuel Kant über Pädagogik – eine Verführung, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 67 (1991), 256–257. 45 Ibid. 258–259. 46 Immanuel Kant: Über Pädagogik, 697. 47 Ibid., 699. 42 43

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nature. A human being has a natural talent/gift to use reason, but it depends heavily on the achievement of the human being whether or not s/he exists empirically as a rational (free and autonomous) being.48 Education (as a form of what Kant himself calls Disziplin or Zucht) transforms the natural condition of the individual to the direction of the humanity. Whereas the first mentioned is defined by instinct guided behavior, the latter is defined by the use of reason. According to Kantian anthropological thinking, human beings do not possess such an instinct which is endowed upon animals and guides their behavior in their natural environment; human beings need to be able to use reason, precisely because they are not perfect in the sense of animals, which according to Kant, to sustain their life instinctively. Human beings are predestinated by nature to reason and freedom, while lacking any instinct guided behavior they are obliged to plan their actions consciously.49 Although Kant is concerned, especially in later stages of lectures, that education as an action is addressed to the individual child during his/her different developmental stages, the whole programmatic sketch on education contemplated by Kant in the introduction of the lectures is considered as a project of educating humanity or mankind as a whole. Education is not solely an individual enterprise, but the collective attempt to perfect humanity. In a way, the final object of education is not the individual subject with an aim to develop individual character, rather the object is humankind, which should be able to take a step further in approaching the very idea of humanity. Of course both dimensions, individual and collective, are related to each other. However education of an individual cannot be completed in one lifetime.50 Education can only step by step, generation after generation, guide human species to the everlasting perfection of human nature. According to Kant, the secret of perfection of humankind lies behind education.51 Hence the concept of education is related to the idea or the concept of perfection which, however, does not yet exist in our experience and within our reach at the moment, but it can be reconsidered – at least philosophically – as a truthful and possible way for the human condition. Education anticipates a better future for every upcoming generation.52 Thus, Kant’s lectures can be interpreted in the context of his philosoAccording to this anthropology of the possible, or better expressed: anthropology of “as if” – education is the form of human effort which should bring us to real of humanity and reason. Education is thus a specific human feature. It should be responsible for the leap to the human condition. 49 “Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um. Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt, und muss sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es andere für ihn tun.” Immanuel Kant: Über Pädagogik, 677. 50 Accordingly, the anthropological presuppositions – and their inherent tension between nature and reason – give the fundament for the Kantian idea of the universal history of the human species. As a species, the human race must itself approach humanity. Humankind itself is responsible for the transition from nature into the realm of reason. 51 Immanuel Kant: Über Pädagogik, 700. 52 Ibid., 700. 48

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phy of history, and the concept of enlightenment is deeply related to the Kantian idea of history. Actually, the introduction to the lectures basically merely duplicates ideas that Kant developed in his short writings on philosophy of history. Apparently Kant’s lectures on education do not offer any clearly structured concept of education. In the introduction to the lectures Kant however exposes the core of his educational thought, which eventually reflects the key concept of modernity, namely autonomy, which also lays the foundation for the concept of education. For him, as well as for the educational discourse of modernity in general, to educate somebody means essentially to cultivate freedom and autonomy. Perhaps nowhere else than here does the relationship between freedom and education get such a simple and elegant expression. Here the idea of autonomy and freedom, which belongs to the very definition of the humanity and human dignity, actually relates to the central problem of educational theory and praxis53. As Kant writes: »Eines der grössten Probleme der Erziehung ist, wie man die die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freiheit zu bedienen, vereinigen könne. Denn Zwang ist nötig! Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange? Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles blosser Mechanism, und der der Erziehung Entlassene weiss sich seiner Freiheit nicht zu bedienen.«54. Being one of the most cited passages from Kant’s lectures on education, this exposes the essential problem of education. Humans become humans only by education; this does however inevitably include the use discipline, coercion, which itself is in contradiction with the idea of freedom. As Kant states, the freedom of a child must be already acknowledged from his/her early childhood onwards, yet s/he must be literally forced to use his/her own freedom55. Education seems to be the condition for the freedom and autonomy at the individual level, but education itself is – paradoxically speaking – initially involved with the use of discipline and coercion. The puzzling problem however is how to understand the problem of education. The Kantian pedagogical paradox could be reformulated while keeping in mind that according to Brandom one of the central achievements of Kantian philosophy and idealistic tradition in general seems to be a careful distinction between sentience and sapience56 This distinction gives us a possibility to understand the paradox concept of modern education more correctly.

Alfred Treml : Anthropologie und Ethik – Evolution und In Kant und die Pädagogik, in: Kant und die Pädagogik, hg. von Jürgen-Eckard Pleines, Würzburg (1985), 75–98. Michael Winkler: Immanuel Kant über Pädagogik – eine Verführung, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 67 (1991), 241–261. 54 Immanuel Kant: Über Pädagogik, 711. 55 Ibid., 711. 56 Robert B. Brandom: Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge, Massachusetts 2009, 141. 53

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Sentience and sapience are two fundamentally different dimensions of our awareness and consciousness. Our mindedness comes with these two different and easily distinguishable forms of being aware of ourselves and the world. Sentience is sensuous awareness common with all consciously living creatures. Such forms of awareness or states of immediate experience like feeling pain, seeing colours and hearing sounds are characteristic for us as sentient beings. Accordingly, the orientation of sentient beings is based simply in the sensuous pleasure and the avoidance of pain. We as sentient beings are merely animal-like creatures living in our natural environment, which we sensate and experience due to biological and naturally given faculties. Sensuous awareness is certainly a necessary but not sufficient condition for the true human being – at least in the sense of a Kantian idealist and the enlightened tradition discussed above. Human beings are not only sensing and feeling beings, but they are also thinking – reflexive – beings. What does separate us as a sapient from sentience is that the first mentioned is conceptual awareness or consciousness of our self and the world. The sapient states of consciousness are something which can be articulated and made explicit with concepts. In other words, they have conceptual content, which can be at least potentially verbalised and communicated by the subject of that state or awareness.57 While sapient beings essentially “apply concepts, in judgement and action”58 their orientation in the world is quite different compared to sentient beings. Brandom emphasizes this difference as follows: “Sapient beings are knowers and agents. They make judgements and perform intentional actions.” Whereas sentient creatures merely behave responsively to their natural environment, sapient beings are essentially normative beings, who act and think for reasons for which they are responsible and committed to, and which they have authorized solely by their own reasoning.59 The contents of the sapient stages are merely rules that grip us on our way to thinking and acting. They determine what we deliberatively choose to do and think. Sapient beings are “sensitive to conceptual norms”60 which are rooted in their own capacity to legislate and commit such norms and responsibilities. Therefore sapience and freedom in the true Kantian sense of positive freedom eventually collide. Sapient beings are free to do something from reasons made by them, and freedom to do something is preserved only for sapient beings. Sapient beings are free in the sense that they are able to self-legislate. Freedom of the sapient being expresses itself not as the absence of an externally imposed cause, but as internally endorsed commitments which are drawn from the reasoning done by the sapient being him/herself. They are not free while lacking external cause or natural constraint, but merely while they can be constrained by norms and reasons based on their own intellectual activities.61 Actually, Kant’s lectures on education associate deeply with the distinction between sentience and sapience. Eventually, the question is, how do we turn from animals to 57 58 59 60 61

Ibid., 135. Ibid., 142. Ibid., 142. Ibid., 142. Ibid., 142–143.

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sapient beings. The brilliance of the Kantian concept of education is precisely that it marks education as a form of practice and identifies it as the shifting space between nature and humanity62 or in other words: between sentient and sapient beings. Since Kant stresses that education should change our natural existence, our animality and coarseness into humanity he actually locates education in between these two possible modes of being a human creature. The task of education is nothing but to transform us from sentient beings into the sapient beings. Hence education is one of the central human enterprises, which is vital for the emergence of freedom and autonomy and reason. According to Brandom, the emergent the sapient being, one who is able to bind him/herself by conceptual norms and exercise his/her own authority over them, one who is the subject of normative statuses like responsibility and commitment to these norms, “[…] is, for Kant, moving from being a denizen of the realm of nature to being a citizen of the realm of freedom.”63 Thus Kant had more than a good reason to argue how education is just not just the exercise of coercion and discipline, but always eventually also a form of moralization64. Kant writes as follows: »Bei der Erziehung muss der Mensch also 1) diszipliniert werden. […]. 2) Muss der Mensch kultiviert werden. […]. 3) Muss man darauf sehen, dass der Mensch auch klug werde, […]. 4) Muss man auf die Moralisierung sehen. Der Mensch soll nicht bloss zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern auch die Gesinnung bekommen, dass er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können.«65 While education as discipline should attempt to prevent our nature or animality from deflating the humanity of individual and social beings, it is obvious that discipline is suggested to be functional only in the realm of nature. For Kant, discipline means solely the taming of the wilderness or our nature so that it does not inhibit our potential to become rational and free beings.66 Hence education as discipline or coercion is just reserved for those beings that are merely sentient beings. On the contrary, education

Theodor Ballauf & Klaus Schaller: Pädagogik. Eine Geschichte der Bildung und Erziehung. Bd II, Freiburg/München, 1970, 435. Käte Meyer-Drawe: Sklaverei und Tändelei. Kant zu den Grenzen von Erziehung und Bildung, in: Die aufgegebene Aufklärung. Experimente pädagogischer Vernunft, hg. von Johanna Hopfner & Michael Winkler Weinheim und München (2004), 48. Ritzel, Wofgang: Wie ist Pädagogik als Wissenschaft möglich?, in: Kant und die Pädagogik, hg. von Jürgen-Eckard Pleines, Würzburg 1985, 38. Michael Winkler: Immanuel Kant über Pädagogik – eine Verführung, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 67 (1991), 257. 63 Robert B. Brandom: Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge, Massachusetts 2009, 143. 64 Funke, Gerhard: Pädagogik im Sinne Kants heute, in: Kant und die Pädagogik, hg. von JürgenEckard Pleines, Würzburg (1985), 104–107. Manfred Kuehn: Kant on Education, Anthropology, and Ethics, in: Kant and Education. Interpretation and Commentary, ed. by Klas Roth & Chris W. Surprenant, New York, London (2012), 56–57. 65 Immanuel Kant: Über Pädagogik, 706–707. 66 Ibid., 697, 706. 62

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as moralization anticipates the sapience. According to Kant, the evolving human being should become aware that s/he chooses just those goals, which are solely good goals. In other words, education as moralization attempts to set free one’s essentially human potential to act according to aims or reasons authorized and instituted by oneself. The moral commitments are based on the subject’s own reflective decisions, and an aim of education is to equip us with this insight.67 However, education does not only aim at individual freedom as positive freedom to self-legislation, but has inevitably also a social and inter-subjective dimension while the Kantian sapience is not only the subjective or individualistic property, but essentially something which expresses itself in a social and communal context of rational individuals. Only those aims can be attributed as good which can be accepted by everyone, and which can at the same time become the aims for everybody68. Eventually, we have the duty to follow only such commitments and aims which are good; in other words, aims which can be accepted by all rational human beings at the same time. Hence, education as moralization aims for the constitution of the social space, which is structured by a reciprocal agreement between individuals. According to Kant, this can established only when every educational situation acknowledges the freedom of the child from the beginning, and shows at the same time to the child that the use of one’s own freedom has as a prerequisite that one accepts also the freedom of others.69

Education for the Space of Reasons How we can then understand the Kantian trinity of history, education and Enlightenment? Perhaps the best way to gain insight to this is to reconstruct it by using the continental (mainly German) concept of education, which oscillates between two different kinds of perspectives, namely Erziehung and Bildung. In his writing Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlichen Absicht Kant defines the history of mankind as infinite progress towards the idea of the highest humanity and society, which allows universal moral laws to become reality. The history of mankind can be understood as the process whereby the human species evolves from the realm of nature into the realm of reason and freedom. In other words, the history of mankind is the process whereby sentient beings gradually evolve to the greater realm of sapience. With regard to the public use of reason, it can be regarded as the vehicle for such processes of history that are understood as the infinite realisation of the ideal image of humanity. This traditional interpretation of the history of the mankind as a collective process of Bildung helps us to understand the relevance of the Kantian concept of publicity. As E. Förster

Ibid., 740. Gary B. Herbert: Bringing Morality to Appearences: Kant’s Theory of Education, in: Kant and Education. Interpretation and Commentary, ed. by Klas Roth & Chris W Surprenant, New York, London (2012), 90. 69 Kant, Immanuel: Über Pädagogik, 711. 67 68

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has noticed, in Kantian terms, the supreme abilities evolve only in society through joint efforts and practices70. This is not possible until human beings have formed for themselves some kind of image or picture of what they want to achieve. This is precisely the idea of Kantian public use of reason, which is indeed a normative or regulative one. The Kantian concept of public use of reason refers actually to the form of reality which can be understood as a space of reasons. Public use of reason is constituted by the giving, expressing and appraising of the reasons (in the terms of grounds for something) for the actions, arguments, practises and so on, and vice versa publicity gives a conceptual sphere, where individual reasons are about to be contested when needed. As Brandom insists, rationality, which was indeed the key concept of classical idealism, may not be properly understood as something inherently mental. Rationality cannot be entirely associated with stuff called mental, but must be merely understood as social discursive practice.71 Kant in fact shows us how we actually raise ourselves, due “[…] exercising our capacity of reason above the merely natural and become beings who live and move in the normative space of commitments and responsibilities, and so […] reasons”.72 Interestingly, Brandom’s reconstruction of the sapient being makes also explicit the basic conditions of public use of reason and our ability to think and act as scholars in the context of the public sphere. Public use of reason is not possible without sapient beings being able to act and think as scholars in the public sphere. On the other hand, publicity is the form of community, which gives us the possibility to express ourselves as rational creatures. Between public sphere and rational individuals, which Kant calls scholars (Gelehrten) there is a mutual interdependence. On the one hand the community must be enlightened enough to give certain degrees of freedom for the individuals so that they can express their opinions in the form of commitments or criticize, if needed, the earlier ones. On the other hand there must be enough rational and free individuals to participate in the public use of reason. Of course, the space of reasons is not something which is totally given for us. When we are giving reasons by using concepts, we are basically able to criticise and even correct our habits and normative commitments. Accordingly, we are able to free ourselves from the standards and judgements given previously to us in the realm of private use of reason and which furthermore have proven themselves to be faulty or inadequate. Thus, while using our reason in the realm of publicity we are – at least principally – able to take part in the process of history. Enlightenment is the movement in which we emancipate ourselves from judgements and normative commitments that are obsolete. This process is possible only in so far that human beings are able realize the image of publicity under empirical conditions. While defining reason under the presuppositions drafted briefly above as socially and collectively mediated reason, one is able to gain

70 Eckart Förster: The hidden plan of nature, in: Kant’s Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim, ed. by Amelie Oksenberg Rorty & James Schmidt, New York (2009), 192. 71 Robert B. Brandom: Reason in Philosophy. Animating Ideas, Cambridge, Massachusetts 2009, 12. 72 Ibid., 60.

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the concept of Bildung, which should stand the test of post-metaphysical times. The process of Bildung means – no more or less than the unending approach to the counterfactual and critical image of publicity, which, however, can fortunately take its time and place in our factual communications and actions. After defining quite easily the meaning of the notion of Bildung, we have to ask ourselves once more what is the education in the meaning of Erziehung. Despite the fact that the Kantian concept of education has been having a bad reputation since it can be understood as the legitimate permission for the use of pure coercion, I would like to make an interpretation accentuating slightly different idea, namely that that education in a true Kantian sense is an intergenerational effort to open the possibilities for the emergence of public use of reason thus being the temporal requirement for the processes of Bildung. The function of education as Erziehung is to take part in the process of history outlined in the philosophy of history and the idea of Enlightenment. As Kant states in the lectures on education, education should bring every new generation a step towards the perfection of humanity73. Hence education as a form of human practice or art serves the grounding motives derived from the idea of universal history and Enlightenment. It is education for a better, more rational and enlightened future of the mankind. The education of an individual and the perfection of humanity are basically identical. Education does not only aim to develop one’s human capacities and autonomy at the individual level but above all at the development of the whole of humankind towards greater freedom and autonomy, towards greater possibilities for the expression of our sapient potentials, which in turn allow our individual abilities to flourish. Education can fulfill this task in the twofold manner. First, education taking place in practical every day relations aims for the development of such autonomous individuals who are able to use their reason as scholars in front of publicity. Second, every deed of education has to establish an intersubjective space for giving and asking reasons and therefore anticipate the sphere of public use of reason. After all, these two dimensions coincide. As Kant suggested, education does not only discipline human nature and force individuals to become aware of their potential freedom, but also moralizes human beings by opening to them the possibility to use their positive freedom in actu. Education is in its essence an education for the space of reasons, that requires both the freedom and autonomy for every individual and the intersubjective space, reflecting the noumenal counter-factual idea of enlightened publicity, which gives the medium for discursive practice, where reasons are asked and given. It should open for every generation the possibility to be initiated into the realm of sapience so that moving in the space of reasons – which Kant actually embodied in the concept of publicity – becomes possible.

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Immanuel Kant: Über Pädagogik, 700.

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It was in 1997 that Dieter Lenzen argued for the complete abolishment of the term Bildung.1 From his systems theoretic, constructivist framework, the term not only appeared to lack a clear-cut definition, but seemed wholly overdetermined and therefore inadequate for contemporary scientific use in education sciences and pedagogy. However, I think that we must be careful not to confuse complexity with vagueness. It is true that in current educational debates, in the media, in politics, but also in educational sciences themselves, the term Bildung is on the one hand plumply rejected as antiquated, while on the other hand it is used as an omnipresent slogan and prefix for the most various of political concerns or hopes, so that the worry about the term having become completely devoid of meaning as well as the worry about it having been strategically reinterpreted to serve neoliberal ideologies seem indeed justified. Furthermore, the term Bildung is widely used in everyday German, designating all the various processes involved in the development of our relations to ourselves and to the world with certain normative implications. I believe that it is the task for a critical educational theory, and especially for philosophy of education, not to discard terms from theory because they are also used non-scientifically, but rather to explicate and clarify the various meanings of these central terms of our everyday orientations, and, if necessary, to remind us of the historical development of important concepts in order to specify in which way current (mis-)understandings of important notions might give us a wrong guidance. Particularly with regard to the term Bildung, I want to defend its status as an important, indispensable and irreplaceable critical category for educational philosophy – not only in a German speaking context – because, if understood correctly, it allows us to delineate humane from inhumane concepts of education from a clearly pedagogical perspective in preserving the emancipatory, humanistic aspiration of asking for how we can best provide conditions for the development of an autonomous individual that is capable of critically distancing herself from given norms in reflection as well as capable of own judgment. Furthermore, I think that some of the major criticisms raised against the concept of Bildung can be disarmed, and that parts of the characteristic features of the notion can be given an interesting re-interpretation in light of the theory of reasoning developed by Robert Brandom in his 1994 work Making It Explicit.2

Dieter Lenzen: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab?, in: Zeitschrift für Pädagogik 6 (1997), 949–968. 2 Robert Brandom: Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge/MA & London 1994. 1

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First of all, I would like to carve out some of the prominent characteristics of the notion of Bildung by contrasting it with related concepts which are sometimes used synonymously, but ultimately cannot live up to its complexity and therefore do not lend themselves to replace it. One such competing term is “learning.” The systematic valorization of “learning” in the course of present calls for “life-long learning,” be it by the UNESCO, the OECD, or the European Council, focuses primarily on the need to meet the requirements of an ever faster changing job market. Key qualifications to be acquired through learning are here understood mainly as readily retrievable knowledge and competencies which have to be accurately quantifiable. Despite efforts to reclaim a broader notion of learning, as for example in Käte Meyer-Drawe’s3 recent phenomenalist approach, the concept of “learning” lends itself much more readily to such functionalist and utilitarian understandings of education because learning denotes the process by which an individual relates to parts of her environment, and does not – as the concept of Bildung – lay claim to a relation with the world as such. When Humboldt in his Theorie der Bildung des Menschen specifies that Bildung is the connection of “I and world” in order to establish the “most general, the most lively, and the most free”4 interaction, then what he means by “world” does not reduce to an acquaintance with a particular section of the world that seems useful in light of current trends, but there is an implicit idea of a normative universalism in his notion of world which – in contrast to the utilitarian teaching of the Enlightenment – aspires to transcend immediate particularity and contextuality. Through the continuous appropriation of the world in all its many-faceted variety, the individual is to realize herself towards a universal ideal of humanity. Learning, in a sense, can be seen as a precondition for, but it cannot replace the concept of Bildung which always requires an ability to critically reflect on and transcend the immediate environment in its immediacy. Another term competing with Bildung is socialization. Since the dialectic of socialization and individualization is usually employed for modes of personality formation that are unconscious, the deficiencies I see with the notion might be obvious already. Processes of Bildung clearly entail processes of socialization, which might adequately depict processes leading to conformist adaptation, but at the same time Bildung in the sense of enabling a self-conscious struggle for autonomy, for emancipation from given contexts, and for humanity clearly goes beyond processes of socialization. The third notion competing with the concept of Bildung is not easy to render in English. The German term “Erziehung” is maybe best translated as education in the sense of upbringing (or maybe even training) as opposed to a concept of education as for example the one advanced by Dewey as the unending growth of a person as an end in itself. Education in the sense of “Erziehung” shares some common features with the concept of Bildung, especially considering the widely varying understandings of both concepts. However, the meaning of “Erziehung” generally comprises the “transitive” Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, München 2008. Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen, in: Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Bd. 1, hg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt 1980, 235 f. 3 4

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acts undertaken by educators in which children are mainly seen as objects of educational means, as opposed to processes of Bildung in which the individual consciously furthers her relations to herself and the world as a participating subject in the educational process. Seeing that Bildung in Humboldt’s sense means chiefly self-formation, it goes beyond a mere integration into society, and aims at enabling autonomous action and the shaping of one’s own life. In this way it can avoid the paradox of how autonomy can be achieved through subjugation inherent in the notion of “Erziehung.” Furthermore, while “Erziehung” has as its primary goal to first introduce norms and standards of the respective society, often by means of preconscious rituals and conditionings, Bildung additionally comprises the critical questioning of internalized traditions and customs by means of developing self-consciousness and rationality in order to enable autonomous judgment and action. The fact that the classic humanistic notion of Bildung contains conceptional aspects which are in a sense unique and highly valuable can further be seen by its being appropriated by non-German speaking authors. I would like to mention two examples here. Following Gadamer, Richard Rorty in his Philosophy and the Mirror of Nature5 makes reference to the German notion of Bildung (for which he uses the English word “edification”). Bildung, for Rorty, is his way to envision philosophy without epistemology. Instead of the pursuit of a constructive, systematic philosophy with its unavailing search for a foundation for knowledge and transcendental truth, Rorty argues that philosophy should be appreciated as an edifying endeavor, as nothing more and nothing less, but the interesting continuation of a conversation where the different possibilities of expression are more important than the appropriation of truths.6 When Rorty illustrates what he appreciates in the work of the so-called edifying philosophers (such as Wittgenstein, Dewey, Sellars, or Kuhn), he draws on many of the aspects of the concept of Bildung I just delineated. It is particularly the critical nature of the edifying discourse, which is in some sense parasitical on “learning” and education in the sense of “Erziehung,” i. e. on first acquiring the rules and standards of normal discourse, but then transcends normal discourse and puts the established norms back in their place revealing their mere contingency and non-absolute character. However, in Rorty’s understanding Bildung gains a strongly relativist meaning, which, in my view, is no longer in accordance with the notion’s implicit normative universalism outlined above. A second philosopher employing the concept of Bildung is John McDowell in Mind and World.7 Trying to characterize his idea of the bridge between facts and norms, between nature and reason, between environment and world as such, he draws on the notion of Bildung because it adequately expresses the acquisition of a “second nature” as the largely unreflected adaption of traditional perceptual schemes on the one hand, and the “having one’s eyes opened to reasons,”8 on the other hand, that is for the concep-

5 6 7 8

Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton/NJ 1979. Ibid., 389. John McDowell: Mind and World, Cambridge/MA & London 1994. Ibid., 84.

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tual space of norms and reasons transcending the merely factual realm of first nature. In this process of Bildung as a forming of a second nature, the partial and pre-reflexive factual realm and conceptual contents with their claim for universal validity are always already united so that the longstanding philosophical quest for finding a bridge between the space of nature and the space of reasons can be shown to be unnecessary. As persuasive as one might find McDowell’s therapeutic approach as a philosophical work of the highest excellence, against the light of Humboldt’s new humanistic notion of Bildung it seems to fall short on explaining which conditions have to be met in order to distinguish conceptual practices with context-transcending emancipatory power from practices which might hinder or even impede the development of such innovative and critical appropriation of the tradition. In addition to being criticized for its vagueness or vacuity, the educational theories based on the notion of Bildung have been considered as problematic for two main reasons which can both be traced back to certain questionable developments the notion took quite early on after its first articulation within the context of the German new humanism. Firstly, Humboldt’s idealization and reverence for the Greek language and culture gave way to a functionalist understanding of Bildung within the emerging middle class as the acquisition of a canon of high cultural goods ensuring high societal standing. This conservative and elitist understanding of the transmission of a cultural canon to the younger generation as a process of Bildung is prevalent until today as recent analyses of the notion by, for example, Manfred Fuhrmann9 and Heinz-Elmar Tenorth10 show. In light of the heterogeneity and plurality of the present day multicultural society, it is no longer adequate to presuppose the existence of such a transcultural, meta-social canon. Rather, each individual’s biography is shaped by highly idiosyncratic combinations of cultural and environmental influences so that educational processes have to be conceptualized in terms of individualized and pluralized forms of differing self- and world-relations. Secondly, Bildung has been criticized for promoting an understanding of education which is incompatible with contemporary concepts of inter-subjectivity. Again, it was already at the beginning of the early 19th century that Humboldt’s emphasis on individuality was misunderstood in terms of a crude, quietistic individualism by the emerging middle class. While Humboldt tries to delineate the conditions for the individual to criticize, overcome and improve on the shortcomings of established societal norms, he did not mean to encourage a reductionist individualistic conception of Bildung, but his focus on the possibilities of self-formation was informed by the “insight into the sociality of the individual,”11 as Sünker writes. When Masschelein12 appropriates Habermas’ Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität, Ditzingen 2002. Heinz-Elmar Tenorth: “Alle alles zu lernen”. Möglichkeiten und Perspektiven allgemeiner Bildung, Darmstadt 1994. 11 Heinz Sünker: Bildung, in: Handbuch der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, hg. von Hans-Uwe Otto und Hans Thiersch, Neuwied 2001, 165. 12 Jan Masschelein: Kommunikatives Handeln und pädagogisches Handeln. Die Bedeutung der Habermasschen kommunikationspädagogischen Wende für die Pädagogik, Weinheim/Leuven 1991. 9

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communicative paradigm for education and works out the implications of the primacy of inter-subjectivity for educational theory, his notion of community is so strong that it does not allow for an autonomous subject distancing herself from its inter-subjective structural conditions. Notably, he speaks of education only in terms of “Erziehung” and not in terms of Bildung. Dietrich Benner,13 on the other hand, doubts that the notion of Bildung is incompatible with inter-subjectivity because of the lack of a strong notion of world in present theories of inter-subjectivity. Historically speaking Bildung is oriented towards relations between an I and the world, and the experience of the otherness of the world as primarily constituting processes of Bildung cannot be adequately captured within inter-subjective approaches according to Benner. Therefore, the two question that have to be answered in order to show that Bildung can still be a useful concept for present day educational philosophy are the following. Firstly, I will have to show how one could conceptualize trans-cultural and trans-contextual claims to knowledge which nevertheless originate in the particular cultural contexts of everyday practices and do not presuppose the incorporation of a homogeneous, elitist canon in order to achieve Bildung. The second question for a contemporary understanding of the notion of Bildung is to interpret Bildung from an inter-subjective perspective which nevertheless allows for a specification of an individual’s autonomous judgment. How can we spell out a notion of inter-subjectivity where society’s opinion does not collapse with the truth, while at the same time the autonomy of the individual must not be overstated to the extent that we fall back into a crude individualism incapable or unwilling to take into account societal and political conditions of self-formation? Furthermore, such a conception of inter-subjectivity has to include a conception of a strong I-world relation in addition to subject-subject relations. I believe that both critical questions can be given an interesting answer if we interpret the concept of Bildung in light of Robert Brandom’s theory of rationality as developed in Making It Explicit. Working within the contexts of a normative pragmatics and an inferential semantics, Brandom thinks of linguistic practices specifically in terms of deontic scorekeeping. The deontic scorekeeping model of language use is built on an analogy, originally drawn by David Lewis, between language use and keeping the score in a game.14 Brandom first generalizes Lewis’ insight by modeling normative practices generally on the scorekeeping model. Having shown how this model can reveal the structure of normative practices at large, Brandom can then go on to explain one particular normative practice, the game of giving and asking for reasons, in terms of the general model of normative practices. In this manner, he can define what structure a normative practice must exhibit in order to count as a discursive practice. First of all, Brandom distinguishes between two kinds of normative status: commitment and entitlement. These statuses are instituted by normative attitudes, such as taking a performance to be correct, taking someone to be entitled to a performance, Dietrich Benner: “Der Andere” und “das Andere” als Problem und Aufgabe von Erziehung und Bildung, in: Zeitschrift für Pädagogik 3 (1999), 315-328. 14 Cf. Brandom 1994, 180-182. 13

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or taking someone to be committed to a performance. In order to institute the normative status of a commitment, two kinds of normative attitudes are required: one practitioner (A) has to attribute a commitment to another practitioner (B) and B has to acknowledge that commitment himself. By instituting normative statuses, normative attitudes impose “normative significances on a natural world that is intrinsically without significance for the guidance or assessment of action.”15 The special kind of normative statuses of interest for Brandom are commitments and entitlements to claims as these provide the technical means to define three types of inferential relations. The crucial idea is that consequential and excluding relations hold between commitments and entitlements in complex normative structures. Thus, two claims can be related by a commitment-preserving inferential relation (if commitment to p has commitment to q as a consequence), by an entitlement-preserving inferential relation (if entitlement to p has entitlement to q as a consequence), and by relations of incompatibility16 (if commitment to p precludes entitlement to q).17 Practices of claiming are furthermore characterized by the fact that entitlements to assertional commitments can be inherited: In producing assertions, performers are doing two sorts of things. They are first authorizing further assertions (and the commitments they express), both concomitant commitments on their part (inferential consequences) and claims on the part of their audience (communicational consequences). […] they are also undertaking […] the responsibility to show that they are entitled to the commitment expressed by their assertions, should that entitlement be brought into question. This is the responsibility to do something, and it may be fulfilled for instance by issuing other assertions that justify the original claim. 18 Thus, we can distinguish between two sources of authority in practices of claiming. For one, authority can be based on a person as communication appeals to “interpersonal, intracontent inheritance of entitlement to a propositional commitment”19 (i.e. we can defer to someone else’s claim). Secondly, authority can be based on content as justification appeals to “intrapersonal, intercontent inheritance of entitlement to a propositional commitment”20 (i. e. we justify a claim with other claims of which it is an appropriate inferential consequence). By analogy with a baseball game, Brandom then suggests that we think of discursive practice in terms of deontic scorekeeping, with the participants involved being construed as deontic scorekeepers who keep track of each other’s assertions in terms Ibid., 48. Relations of incompatibility are relations between two distinct normative statuses, but nevertheless can be “thought of as broadly inferential because their construal in terms of the deontic statuses of commitment and entitlement is analogous to the first two” (Ibid., 189). 17 Cf. Ibid., 168 f. 18 Ibid., 173. 19 Ibid., 175. 20 Ibid. 15 16

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of commitments and entitlements. Practitioners who have deontic scorekeeping attitudes21 towards each other, i. e. they take each other as committed and entitled, keep score of their own and their interlocutors’ deontic scores, which consist in the set of commitments and entitlements assigned to scorekeepers at a certain point in time. The pragmatic significance of a speech act is determined by the way it interacts with the deontic score: The deontic score determines which speech act we are entitled to make, and each speech act modifies our score. As normative statuses are instituted by normative attitudes, the deontic statuses of commitment and entitlement are instituted by the scorekeeping attitudes. Brandom is particularly concerned with the question of what it means for claims to have the normative force of assertions. Claiming is undertaking a commitment, thereby licensing commitment to other commitments, and taking responsibility for justifying the entitlement to the claim if asked to. The next question is how the propositional contents of claimings relate to the interaction of assertions and deontic scores. Propositional contents of claims are inferential roles and hence have to stand in the three inferential relations mentioned earlier. These three relations are different components of the inferential role and suffice to constitute the propositional content of a claim. Propositional contents then relate to the interaction of assertion and deontic score in three ways. First, scorekeepers attribute not only commitment to a claim p, but also to all claims which are commitment-preserving inferential consequences of p, these consequences being dependent on the other commitments of the speaker. Second, as relations of incompatibility might hold between different commitments of the speaker, the one keeping score on him might have to withdraw entitlements to claims attributed earlier on. Thirdly, entitlements to p have to be attributed if it is an entitlement-preserving inferential consequence of earlier claims that entitlement was attributed to. As scorekeepers are able to defer to someone else’s claim to demonstrate entitlement, a claim p does not only change the score of the speaker, but can also change the score of a listener. The crucial feature of Brandom’s scorekeeping model is its social structure. As the inferential consequences depend on concomitant commitments and as these differ from scorekeeper to scorekeeper, “a single commitment typically has a different significance for the one undertaking it, a speaker or believer, from that which it would have for those attributing it, an audience or intentional interpreter.”22 Hence, “the inferential articulation of conceptual contents has a fundamental social dimension.”23 It is this social dimension which forms the basis of Brandom’s conception of objectivity. The representational dimension of conceptual content, which can be made explicit in de re ascriptions, is a specific manifestation of the fundamentally social-perspectiThese attitudes are practical attitudes. They are implicit in practices as long as these practices allow for positive and negative sanctions of performances and they do not have to be specifiable in nonnormative terms. As Brandom says, “there need be no social pattern of performances and dispositions describable in non-normative terms that is either necessary or sufficient for the constitution of such deontic attitudes” (Brandom 1994, 180). 22 Brandom 1994, 139. 23 Ibid. 21

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val nature of conceptual content. Conceptual contents can be specified only from the perspective of one discursive scorekeeper. As the exact specification of the conceptual contents depends upon the collateral commitments of this particular scorekeeper, it is different from each scorekeeping perspective. However, this does not mean that the conceptual content loses its identity; rather, it consists in the systematic coordination of the different scorekeeping perspectives: Conceptual contents, paradigmatically propositional ones, can genuinely be shared, but their perspectival nature means that doing so is mastering the coordinated system of scorekeeping perspective, not passing something nonperspectival from hand to hand (or mouth to mouth).24 This is the way in which our “explicit knowing-that something is the case must be understood in terms of this implicit, practical-interpretive scorekeeping as knowinghow.”25 Ascriptions de re and de dicto allow us to clarify the responsibility each scorekeeper takes and should take for a certain commitment; they are a means of distinguishing between what someone takes himself to be committed to and what he is indeed committed to according to another scorekeeper. Ascriptions de re are the means to sort out what it is that we are talking about – and in this way they are necessary for assessing the truth of our claims. The socially perspectival character of conceptual norms is thus not only underlying the representational relation between language and world, but is also key to an understanding of how conceptual norms can be objective. Brandom aims at giving “an account of what it is to be committed to the correctness of our claims answering to how things are, rather than to how anyone takes them to be.”26 The criterion of adequacy for his theoretical project is that it can account for the objectivity of concept application, that it “make sense of a distinction between how they are applied in fact, by anyone or everyone, and how they ought to be applied – how it would be correct to apply them.”27 Hence, Brandom has to show that he can develop “a notion of objective correctness of claiming and concept application that is not perspective-relative in the way that what is taken to follow from what is.”28 Yet, we will find that by way of putting his task the way he does, Brandom’s solution can already be anticipated. The crucial step is to construe objectivity as consisting in a kind of perspectival form, rather than in a nonperspectival or cross-perspectival content. What is shared by all discursive perspectives is that there is a difference between what is objectively correct in the way of concept application and what is merely taken to be so, not what it is – the structure, not the content.29 24 25 26 27 28 29

Ibid. Ibid., 591. Robert Brandom : Replies, in : Philosophy and Phenomenological Research 57/1 (1997), 198. Brandom 1994, 593. Ibid., 595. Ibid., 600.

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It is important to see that it is precisely the social-perspectival character of conceptual contents that allows Brandom to develop an account of conceptual contents that originates in nothing but social practices, but can still make sense of the objective correctness of their application. One major advantage of such an account of objectivity is that it can avoid the shortcomings of other social construals of conceptual content that rely on so-called ‘I-we construals of intersubjectivity.’ Brandom takes special pride in being able to show how within his theoretical framework the correctness of a concept application only depends on the way things are objectively and does not depend on the attitude any individual or community has at any particular point in time. The problem with social accounts of conceptual content in the I-we form is that by privileging the perspective of the community, objectivity is identified with inter-subjectivity as a relation between the subject and the community. Privileging the perspective of the community leads to the implausible consequences that from the community’s believing that p it follows that p is the case, or that p being the case necessarily leads to the community’s belief or claim that p. Put in plain words, the I-We construal of objectivity conflates objective purport with objectivity as such, making it impossible to distinguish between what the community takes to be correct from how things really are. Against these approaches, Brandom posits an I-thou construal of intersubjectivity as the true origin of conceptual objectivity. Crucial to his account, Brandom states, is the symmetry that holds between the perspectives of the scorekeepers, which prevents any such perspective from being privileged per se. The I-thou relation between the speaker and the scorekeeper interpreting him corresponds to two individual perspectives of normative assessment. Brandom describes the sorting out of whose perspective is the better one and whose claim is to count as correct as a “messy retail business” of examining who can give the better reason: There is only the actual practice of sorting out who has the better reason in particular cases. The social metaphysics of claim-making settles what it means for a claim to be true by settling what one is doing in taking it to be true. It does not settle which claims are true – that is, are correctly taken to be true. That issue is adjudicated differently from different points of view, and although these are not all of equal worth, there is no bird’s-eye view above the fray of competing claims from which those that deserve to prevail can be identified, nor from which even necessary and sufficient conditions for such deserts can be formulated.30 The position taken here by Brandom is reminiscent not only of Wittgenstein’s position in On Certainty, but also of the Sellarsian phrase about knowledge being rational because it is a “self-correcting enterprise which can put any claim in jeopardy, though not all at once.”31

30 31

Ibid., 601. Wilfrid Sellars: Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge/MA & London 1997, 79.

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Kolloquium 11 · Claudia Schumann

As Brandom views objectivity in this context as “a structural aspect of the socialperspectival form of conceptual contents”32 which is determined by the different points of view taken by the two scorekeepers, the representational dimension and the objective correctness of conceptual norms are systematically interrelated. De re ascriptions specify the object that has to be looked at in order to decide about the objective correctness of the claim in question from the different perspectives of the various scorekeepers. The distinction between what is objectively correct and what is merely taken to be correct then corresponds to the general social-perspectival difference between the commitment ascribed and the commitment undertaken. A scorekeeper who takes a commitment as objectively correct does nothing else but undertake it herself. Mere ascription of a commitment without undertaking it oneself expresses what someone else takes to be true. This distinction is captured in Brandom’s account of how scorekeepers distinguish between the subjective attitudes, i. e. what the interlocutor acknowledges only from his subjective perspective, and the objective statuses, i.e. what the interlocutor is really committed to irrespective of his subjective attitude, according to the interpretation of another scorekeeper. This is the distinction between what someone merely takes to be correct and a notion of objective correctness transcending the scorekeepers’ subjective attitude because the object talked about can be specified from a second perspective. He writes: The notion of objective truth conditions makes explicit what is implicit in our grasp of the possibility of mistaken belief and so of the distinction between what is merely held (true) and what is correctly held (true). It emerges only in the context of interpretation – that is, discursive scorekeeping – because that is the practical activity in which the commitments acknowledged (held true) by one interlocutor are compared and contrasted with those acknowledged (held true) by another, the scorekeeper who attributes the first set.33 From the perspective of each scorekeeper who undertakes a doxastic commitment, this commitment appears as a locally privileged view on an objective truth that transcends the attitudes of all practitioners, but every other scorekeeper takes a perspectival viewpoint as well so that no perspective is privileged in advance. Even though the I-thou social account of conceptual norms can thus avoid the weaknesses of social accounts in the I-we fashion, there remains one challenge for Brandom, namely the problem of how the I-thou account does not lead to similar problems with regard to the local privileging of a perspective as does the I-we account’s global privileging of the community. What is expressed by “I believe that p” must not fall together with “p” so as to allow that I can be ignorant about the fact that p as well as that I can err with regard to p being the case. He has to avoid that it follows from my claiming or believing that p that p is the case, or that p being the case necessarily leads to 32 33

Brandom 1994, 597. Ibid., 599.

Deontic Scorekeeping and the Concept of Bildung

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my belief or claim that p as happened for the perspective of the community in the I-we account. For assertibilist accounts of objectivity, it is generally difficult to avoid these absurd consequences, but because Brandom splits the notion of assertibility in two, he can appeal to entitlements and commitments and thus evade the assertibilists’ typical difficulties. Monological discourse is dependent upon dialogical discourse for Brandom. The fact that I can assess my own claims according to their objective correctness is due to my familiarity with a discursive practice involving other participants who assess my claims and commitments according to their different background commitments. Furthermore, he explains that it is via ascriptional locutions that “the possibility of taking up hypothetically a sort of third-person scorekeeping attitude toward my own present commitments and entitlements”34 is made explicit. Now, if I take this third-person perspective towards myself, we find that even though I necessarily have to be committed to both the claims “I believe that p” and “p” in case I am committed to any one of them, the same is not true for my entitlements to the claims. Thus the two claims can be incompatible with each other even though I am committed to both of them. It is in this proof that Brandom’s distinction between entitlement and commitment pays off for the case of the objectivity of concept application. It pays off in being able to show that constructing discursive practice as a social deontic scorekeeping practice incorporates “practices of assessing claims and inferences according to their objective correctness – a kind of correctness that answers to how things actually are, rather than to how they are taken to be, by anyone (including oneself) or everyone.”35 After having outlined my reasons for thinking that the concept of Bildung as developed by Humboldt should still be considered an indispensable and irreplaceable notion for educational philosophy today in the beginning of the paper, I named two important challenges for a contemporary understanding of Bildung. Within Brandom’s socialpragmatist account, I think we can take on both challenges. Firstly, his model can illustrate how with the help of the modern means of analytical philosophy, knowledge can be understood as generated not through the instruction of a rigid canon of cultural contents, but as mastering the participation in the game of giving and asking for reasons. Furthermore, his account of objectivity shows how claims to knowledge originating in local and contextual everyday social practices are still able to transcend the particularity of these practices towards a perspective on the world as such, and thus underwrite Humboldt’s insistence on a normative universalism. Secondly, Brandom’s account provides an understanding of inter-subjectivity that takes the individual seriously and supplies a model of how critically distancing oneself from traditions and habits is possible for the individual by making autonomous judgment comprehensible in social-pragmatist terms. It is true that what is missing in Brandom’s model is a genetic dimension which could explain how we become competent discursive scorekeepers. While such a dimension would certainly have to be incorporated into a comprehensive theory of 34 35

Ibid., 605. Ibid., 607.

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Bildung, I nevertheless hope to have provided some convincing arguments for the idea that Brandom’s model of rationality allows us to restate Humboldt’s idea of the goal of education as envisioned in the concept of the humanistic concept of Bildung in terms that are appropriate to what Anthony Giddens calls the post-traditional condition.

KOLLOQUIUM 12

Motiv und Grund Kolloquiumsleitung: Volker Gerhardt

Volker Gerhardt Einführung Markus Gabriel Autonomie, Normativität und das Problem des Scheiterns der Subjektivität Sebastian Rödl Motive der Vernunft Alessandro Pinzani Grundbedürfnisse als Handlungsgründe

Einführung Volker Gerhardt

Die Bemühung, den metaphysischen Dualismus zwischen Natur und Geist zu überwinden, kann auch beim Begriff des Grundes einen lohnenden Ausgangspunkt finden. Denn ein Grund kann seine rationale Funktion nur erfüllen, wenn er selbst einen Ort, zumindest einen Einsatzpunkt im Naturgeschehen hat. Nur in Verbindung mit der Natur kann er reale Wirksamkeit entfalten. Das lässt sich nicht allein im Verhältnis von Ursachen und Gründen, sondern auch in der Beziehung zwischen Motiven und Gründen deutlich machen. Motive gehören zur Welt des Erlebens der eigenen Handlungsfähigkeit. Sie sind die empfundenen und gefühlten Ursachen eines eigenen, durch eine bewusste Regung veranlassten Verhaltens. Sie sind gebunden an den Leib, an die Selbsterfahrung des Leibes in einer nicht nur von Gegenständen erfüllten, sondern auch von Ereignissen bestimmten Umwelt, in der sich der eigene Leib nach Reizen und Bedürfnissen, nach Stimmungen und Absichten bewegen kann. Doch trotz dieses weit ins Organische, Psychische und Soziale ausgreifenden Bedeutungsfeldes, bleiben die Motive – weil sie nur Motive sind, sofern sie etwas in der Welt der Körper bewirken – mit der physischen Realität verknüpft. Auch Stillhalten, Verharren oder Totstellen gehört zu den Stadien der Selbstbewegung des Organismus. Er kann von außen gedrückt, gezogen oder gestoßen werden, er kann auf Schmerz oder empfundene Bedrohung reflexhaft reagieren, kann sich durch unbewusste Impulse antreiben lassen und er kann bewusste Motive haben, die ihn von sich aus bewegen, etwas zu tun oder zu unterlassen. Aber er kann auch einfach erstarren oder gar nichts tun – und auch darin seine Motive haben. In alledem können die Motive als Trieb, Gefühl, Gewohnheit, besonderer Reiz, spontaner Einfall oder kalkulierte Absicht erfahren werden. So sind auch Gründe als Motiv zu erleben, wenn sie in der Lage sind, ein Tun oder Lassen auszulösen. Wann immer ein Grund wirksam wird, wird er dies in der Form eines Motivs. Damit lässt sich fragen, zu welcher Art von Motiven die Gründe gehören. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich bereits daraus ein Hinweis auf das Verhältnis von Natur und Bewusstsein ergibt. Meine vor Jahren gegebene Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Motiv und Grundbestand darin, Gründe als »angeeignete Motive« zu kennzeichnen.1 Das klang klar und eindeutig, war aber eine eher sibyllinische Auskunft, denn man konnte fragen, was »Aneignung« hier eigentlich heißen soll, wenn Motive doch immer schon angeeignet sind? Sie gehören stets bereits dem Ich, das sie als seine Beweggründeerlebt. Ihren Sinn entdeckt die damals gebrauchte Formel erst, wenn man Nachdruck auf 1

Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999.

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Kolloquium 12 · Volker Gerhardt

den Akt der Aneignung legt und dabei genauer fasst, wer in diesem Vorgang die aktive Rolle spielt: Es ist nicht das erlebende Ich, das sich in seiner Funktion als Träger einer physisch wirksamen psychischen Regung gegenwärtig ist; es ist vielmehr das Ich, das in begrifflich ausgewiesenen Zusammenhängen von sich weiß, sich darin auf seinesgleichen bezieht und diesen Bezug über Sachverhalte herstellt. Es ist das sich sowohl in seiner Eigenart wie auch in seinen Leistungen in sozialen Bezügen dadurch bestimmende Ich, dass es etwas aus Motiven tut, die auch die Motive der Anderen sein könnten. Es ist, um es kurz zu machen, das sich als rational, als vernünftig begreifende Ich, das sich im Anspruch auf einen Grund ein Motiv zueigen macht. Die sich hier im Selbstbewusstsein des Individuums vollziehende Aneignung darf nicht als Besitzergreifung eines herrenlosen Guts verstanden werden; es ist vielmehr die Aufnahme eines wirksamen psychischen Moments in einen rationalen Zusammenhang, in dem es einen ausgewiesenen Platz einnehmen kann. Die Aneignung des Motivs bedeutet dessen Anerkennung in einem Kontext, aus dem heraus es als berechtigt erwiesen werden kann. Im Grund wird das Motiv zum Element in einem Kontext, dem sich das Ich selbst zurechnet. Seine Aneignung vollzieht sich unter Konditionen einer von jedem anderen nachvollziehbaren Verständlichkeit. Also geht es gar nicht allein um seine Zurechnung zu einem bestimmten, sich darin selbst bestimmenden Ich. Das Motiv wird vielmehr von einem sich als vernünftig begreifenden Ich so übernommen, dass es im sozialen Kontext mit seinesgleichen verwendet werden kann. Nur so kann das erlebte Motiv als rationaler Grund fungieren. Zum Grund wird das Motiv durch Überführung in einen interindividuellen Zusammenhang, in dem inmitten der unendlichen Vielfalt stets neuer und niemals wirklich gleicher Motive dennoch wirklich gleiche Motive angenommen werden. Ein als wirklich gleich angesehenes Motiv hat den Status eines Grundes. In der Übertragung eines Motivs in einen Grund wird es intersubjektiv als etwas vermittelt, das in der gleichen Form, in dem es einer als Beweggrund seines Handelns anführt, auch von anderen Individuen verstanden werden kann. Damit dürfte wenigstens im Ansatz die Brücke erkennbar sein, die von der Natur in die Wirkungssphäre des Geistes hinüberführt. Denn da Gründe die in der sozialen Verständigung rational angeeigneten Motive sind, bleiben sie, wie die Motive, auf die Wirkung in leiblichen Bezügen angewiesen und halten somit die Verbindung mit den Kräften der physischen Welt. Bei dieser systematischen Vorbemerkung möchte ich es belassen. Es dürfte jedem offensichtlich sein, dass die hier skizzierte Form der Aneignung eines (psychischen) Motivs durch ein (sich als rational begreifende und somit sich zugleich sozial angleichendes) selbstbewusstes Individuum nicht nur eine Theorie der Rationalität, sondern auch eine des Bewusstseins voraussetzt, die sich gegenwärtig noch nicht von selbst versteht. Ich persönlich kann mich mit dieser Feststellung zufrieden geben, weil ich sie in dem Bewusstsein tue, dass die für heute offengelassenen Theorieelemente von mir alsbald an anderer Stelle entwickelt und öffentlich zugänglich2 sind. 2

Volker Gerhardt: Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins, München 2012.

Autonomie, Normativität und das Problem des Scheiterns der Subjektivität Markus Gabriel

In seinem Resümee der Fragestellung des Kolloquiums, in dem dieser Beitrag vorgestellt wurde, schlägt Volker Gerhardt vor, Gründe als »angeeignete Motive« zu verstehen. Wenn Gründe angeeignete Motive sind, stellt sich die doppelte Frage (1) nach der Rationalität von Motiven und (2) nach der Rationalität von Gründen. Denn einerseits steht die Rationalität der Aneignung in Frage und andererseits die Rationalität des Anzueignenden. Jedes Motiv läßt sich nämlich in irgendeinem Kontext rechtfertigen und damit erfolgreich rational aneignen, da die Frage, was jeweils als Rechtfertigung gilt, in den Rechtfertigungsbegriff eingeht. Selbst wenn man davon ausgeht, daß es eine objektive epistemische Ordnung gibt, die unabhängig von den Erfolgsbedingungen der Rechtfertigung festlegt, welche Überzeugung welche andere Überzeugung stützt, bleibt der Rechtfertigungsbegriff an Verwendungsbedingungen geknüpft.1 Die Erfolgsbedingungen einer Rechtfertigung sind immer auch an Spielregeln gebunden, die festlegen, was als Rechtfertigung gilt. Rechtfertigungen sind in diesem Sinn endlich, anfechtbar und dementsprechend revidierbar. Sie stehen selbst im Erfolgsfall unter einem grundsätzlichen Vorbehalt. Demnach ist nicht jede Aneignung eines Motivs auch schon als solche rational, da ansonsten jedes beliebige Motiv rational wäre, insofern es einfach nur in irgendeiner geeigneten justifikatorischen Umgebung auftaucht. Also stellt sich die Frage, wie man zwischen rationalen Aneignungen einerseits, etwa Sublimierungen, Therapien oder unter gegenwärtigen sozialen Bedingungen akzeptablen Begründungen gegebener Motive, und irrationalen Aneignungen, beispielsweise Selbsttäuschungen jedweder Art, andererseits unterscheiden kann. Angeeignet-Sein ist demnach keine hinreichende Bedingung dafür, daß ein Motiv zu einem guten Grund wird, wenn es auch dafür hinreichend sein mag, daß es zu irgendeinem Grund wird. Allgemein ist es notwendig, zwei Aspekte des Rationalitätsbegriffs zu unterscheiden. Einerseits ist Rationalität ein normativer Begriff, weil Rationalität der Norm der Wahrheit untersteht. Andererseits stellen wir die Norm der Wahrheit unter endlichen Bedingungen dadurch dar, daß wir Begründungsketten entwickeln. Die Fähigkeit, solche Begründungsketten zu entwickeln und zu verbessern, bezeichnen wir ebenfalls als

1 Zur Diskussion der erkenntnistheoretischen und metalogischen Begründungslasten der Annahme, es gebe eine objektive epistemische Ordnung, vgl. Paul Boghossian: How Are Objective Epistemic Reasons Possible?, in: Philosophical Studies 106 (2001), 1–40. Vgl. auch Thomas Nagel: The Last Word. Oxford 1997 und zu einer ebenfalls generellen Verteidigung der Annahme einer objektiven epistemischen Ordnung Sebastian Rödl: Self-Consciousness. Cambridge, Ma. 2007.

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Kolloquium 12 · Markus Gabriel

Rationalität. Doch die Orientierung an der Norm der Wahrheit reicht gegenüber der erfolgreichen Etablierung und Durchsetzung von Begründungsketten erheblich weiter. Denn die Norm der Wahrheit ist anerkennungstranszendent. Was wahr und damit der Fall ist, hängt allenfalls partiell davon ab, daß und wie es in Begründungsketten eingebettet wird, weshalb eben auch nicht alle Begründungsketten wahr sind. Die Wahrheit oder Falschheit von Begründungsketten ist eben nicht identisch mit ihrer Gültigkeit. Deswegen ist der inferentialistische Begriff der Rationalität auch unzureichend, und es wundert nicht, daß Brandom versucht, den Wahrheitsbegriff zu eliminieren und Wahrheit durch diskursive Akzeptanzkriterien (endorsement) zu ersetzen.2 In meinem Beitrag geht es um ein allgemeines Problem, das sich für eine Theorie stellt, die Rationalität und Normativität dadurch verbindet, daß sie Rationalität als Leistung auffaßt. Die zu erörternde Frage lautet, inwiefern sich Rationalität als eine Leistung und damit als etwas erläutern läßt, das auch scheitern kann. Denn eine Leistung, die man schon dadurch erreicht, daß man sie überhaupt zu erreichen versucht, wäre keine Leistung, die man auch verfehlen kann und demnach keine objektive Leistung. Die Annahme, Rationalität sei eine Leistung, soll die Objektivität von Rationalität ohne Orientierung an der potentiell transzendenten Norm der Wahrheit erklären. Eine objektive Leistung ist eine Leistung, die hinter ihrer vollkommenen Realisierung zurückbleiben kann, so wie eine Erkenntnis objektiv ist, die fallibel ist. Eine automatisch perfekte Leistung unterminiert aber die Möglichkeit, sich nach Kriterien für rationale Aneignungen von Motiven im Unterschied zu irrationalen Aneignungen umzusehen. Rationalität bezeichnete alsdann keine Norm, an der man jemandes Aneignungen bemessen kann, da sie der unhintergehbare Normalfall wäre. In der gegenwärtigen, von Kant-cum-Hegel geprägten Landschaft der US-amerikanischen Theorie der Normativität ist es inzwischen Usus, Subjekt- oder Person-Sein als normativen Status zu verstehen. Subjekte sind rationale Agenten, und rationale Agenten sind Wesen, die objektive Leistungen vollbringen, die nur durch Normen verständlich werden, die durch diese Leistungen »in die Welt kommen«. Insbesondere Robert Pippin hat (im Anschluß an Stanley Cavell) in seinen wegweisenden Buchpublikationen der letzten Jahre unterstrichen, daß man Subjekt-Sein als Leistung (achievement) auffassen müsse.3 Dabei bindet er den Begriff einer solchen Leistung so an den Begriff Vgl. das Kapitel »Why Truth Does not Matter in Philosophy«, in: Robert Brandom: Reason in Philosophy. Animating Ideas. Cambridge, Ma./London 2009, 156–176. Zur Kritik des Inferentialismus vgl. das Argument bei Rödl: Self-Consciousness, 70 ff. Rödl zeigt, daß man an irgendeinem Punkt einen wahrheitsfähigen Kontakt mit einer normativen, rationalen Ordnung annehmen muß, da man ansonsten nicht einmal die Frage verstehen kann, wovon man überzeugt sein soll. Wenn man diese Frage immer nur als die Frage nach einer Schlußfolgerung versteht, aus der die Wahrheit eines bestimmten Gedankens folgt, entsteht nicht nur ein indefiniter Regreß. Die Annahme, wir könnten diese Prämisse gegenüber jener vorziehen und damit überhaupt auch nur eine Schlußfolgerung formulieren, wird vielmehr unterminiert. 3 Vgl. Robert Pippin: Hegel’s Practical Philosophy. Rational Agency as Ethical Life. Cambridge 2008; Ders.: Hegel on Self-Consciousness. Desire and Death in the Phenomenology of Spirit. Princeton 2011. Vgl. dazu auch meine Rezension in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 8 (2010) 362–370. 2

Autonomie, Normativität und das Problem des Scheiterns der Subjektivität

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der Norm, daß er Normen in der Kantischen Tradition als etwas versteht, durch das man nur so verpflichtet sein kann, daß man dieser Verpflichtung auch nicht genügen kann. Diese Auffassung unterscheidet in der Kantischen Tradition bekanntlich Normen von Naturgesetzen, welchen man gerade nicht nicht genügen kann und die deswegen nur beschreiben, was ohnehin geschieht, während Normen demgegenüber gerade vorschreiben, was geschehen soll.4 Faßt man Subjekt- oder Person-Sein in diesem Sinn als normativen Status auf, bedeutet dies, daß Subjekte oder Personen zu Fehlleistungen imstande sind, was so weit gehen kann, daß sie ihren Subjekt- oder Person-Status insgesamt verfehlen oder gar verlieren können. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man das Subjekt- oder Person-Sein selbst als eine Norm auffaßt, was sich natürlich von der These unterscheidet, die Subjekte oder Personen als Wesen versteht, die sich an Normen orientieren, ohne daß diese Orientierung an Normen ihrerseits eine Norm wäre. Wesen, die sich an Normen orientieren, sind zumindest prima facie nicht zugleich auch Wesen, die sich an dieser Normorientierung ihrerseits orientieren. Identifizieren wir entsprechend als die Autonomie-These die Behauptung, daß Subjekt- oder Person-Sein in dem Sinn ein normativer Status ist, daß die Orientierung an Normen selbst eine Norm ist, und zwar näherhin diejenige Norm, mit deren Verfehlung man das Subjekt- oder Person-Sein verfehlt. Subjekte sind demnach nicht nur imstande, sich an Normen zu orientieren, sie sind dies insbesondere stets nur so, daß sich diese Orientierung immer auch an sich selbst orientiert, was man, wenn man seine Kantischen Launen noch weiter auslebt, auch so ausdrücken kann, daß Subjekte Zwecke an sich selbst sind. Was man nun in einer wie auch immer gearteten kognitiv orientierten Einstellung auch verfehlen kann, ist in einem anspruchslosen Sinn objektiv. An anderer Stelle habe ich vor diesem Hintergrund vorgeschlagen, allgemein unter »Gegenstand« formal dasjenige zu verstehen, was man auch verfehlen kann.5 Der formale Gegenstandsbegriff ist demnach keineswegs identisch mit dem Begriff raumzeitlich ausgedehnter Gegenstände, sondern ein Begriff, unter den auch mentale Zustände oder Gedanken fallen, sofern wir

»Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfodert wird, so ist der Wille nichts anders, als praktische Vernunft.« (GMS A/B 36) »Ich begnüge mich hier, die theoretische Erkenntnis durch eine solche zu erklären, wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, was dasein soll. Diesemnach ist der theoretische Gebrauch der Vernunft derjenige, durch den ich a priori (als notwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle.« (KrV A 633/B 661) »Diese gibt daher auch Gesetze, welche Imperativen, d. i. objektive Gesetze der Freiheit sind, und welche sagen, was geschehen soll, ob es gleich vielleicht nie geschieht, und sich darin von Naturgesetzen, die nur von dem handeln, was geschieht, unterscheiden, weshalb sie auch praktische Gesetze genannt werden.« (KrV A 802/B 830) 5 Vgl. dazu Markus Gabriel: Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg/München 2012. Die ontologischen Verpflichtungen, die damit einhergehen (und die sich im Ausgang von Meinong und Carnaps Aufbau plausibilisieren lassen, wenn man einige Annahmen hinzufügt), habe ich ausführlich entwickelt in Markus Gabriel: Il senso dell’esistenza. Per un nuovo realismo ontologico. Presentazione di Maurizio Ferraris, Rom 2012. 4

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Kolloquium 12 · Markus Gabriel

uns auf diese zu beziehen vermögen. Ein Wissensanspruch, der seine Bedingungen notwendigerweise einlöst, wäre nicht objektiv, er hätte keinen Gegenstand. Entscheidend ist hier, den Gegenstandsbegriff hinreichend formal aufzufassen und Gegenstände nicht mit einer bestimmten Klasse von Gegenständen (etwa raumzeitlich ausgedehnten mesoskopischen bzw. kausal-nomologisch eingebundenen Gegenständen) zu verwechseln. Jeder Gegenstandsbereich, auf den man sich mit objektiv orientierten Einstellungen bezieht, muß partiell einstellungsunabhängig sein, da eine Einstellung nichts verfehlen kann, was nicht in irgendeinem Sinn auch von ihr unabhängig ist. Eine Einstellung ist nur dann objektiv, wenn sie sich auf etwas bezieht, das in irgendeinem Sinn auch von ihr unabhängig ist. Entsprechend muß auch eine Kant-cum-Hegel-Theorie der Normativität unter anderem erklären können, in welchem Grade Normen konstruiert, d. h. einstellungsabhängig, sind und in welchem Grade sie dabei gleichwohl objektiv sein können. Dies gilt insbesondere für die selbstbezügliche Normativität, die in der Autonomie-These erscheint. Wenn wir sie verfehlen können, haben wir sie offensichtlich nicht konstruiert, oder genauer: dann muß sie eine einstellungsunabhängige Facette haben. Hinsichtlich einer völlig konstruierten Einstellung, etwa einer Halluzination, kann man nicht mehr sagen, sie sei fallibel. Wenn ich eine vorbeihuschende Fledermaus halluziniere, obwohl gerade gar nichts Mesoskopisches an mir vorbeihuscht, täusche ich mich nicht dahingehend, daß da eine Fledermaus – etwa im Unterschied zu einem Schmetterling – vorbeihuscht, sondern dahingehend, daß ich überhaupt etwas Vorbeihuschendes wahrnehme. Wahrnehmung wird in diesem Falle überhaupt verfehlt, was jedoch etwas anderes ist als ein wahrnehmungsbasierter Irrtum. Dem Unterschied zwischen dem Scheitern von Wahrnehmung und einem Wahrnehmungs-basierten Irrtum entspricht der Unterschied zwischen dem Scheitern von Rationalität und einem rationalen Irrtum. Hierbei ist rationaler Irrtum in der Regel leichter zu erklären als das Scheitern von Rationalität. Denn was heißt es, daß ein Subjekt an seiner Rationalität insgesamt scheitert? Wenn wir die Objektivität der Leistung, rational zu sein, nicht daran binden, daß Rationalität sich an einer potentiell transzendenten Norm der Wahrheit, sondern eben nur an sich selbst orientiert, bringt uns dies in die Schwierigkeit, die Möglichkeit des Scheiterns der Rationalität insgesamt zu erläutern. Die theoretische Landschaft, auf die ich mich beziehe, geht insgesamt von einer vielzitierten Stelle aus Sellars’ Empiricism and the Philosophy of Mind aus, an der es heißt: »Der springende Punkt liegt darin, daß wir keine empirische Beschreibung dieser Episode oder dieses Zustandes liefern, wenn wir eine Episode oder einen Zustand als ein Wissen bezeichnen. Wir stellen sie vielmehr in den logischen Raum der Gründe, der Rechtfertigung und der Fähigkeit zur Rechtfertigung des Gesagten.«6 6 Wilfrid Sellars: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes, übers., hg. und eingeleitet von Thomas Blume. Paderborn 1999, 66. Original: Ders.: Empiricism and the Philosophy of Mind. Cambridge, Ma. 1997, 76: »In characterizing an episode or a state as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says.«

Autonomie, Normativität und das Problem des Scheiterns der Subjektivität

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Im Ausgang von dieser Stelle kommt es bei Sellarsianern zu sehr unterschiedlich gepolten Einschätzungen der Reichweite dieses Punktes, so daß sich insbesondere Brandoms Darstellung des immer schon sozialisierten normativen Status von Personen im »Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen« deutlich von McDowells Metaphysik der Intentionalität unterscheidet, welche Normativität primär als Verantwortlichkeit, d. h. buchstäblich als Fähigkeit versteht, auf begriffliche Ansprüche zu antworten, die potentiell einstellungsunabhängig bestehen. Dies geschieht nach McDowell in Urteilen, die er bereits für Ausübungen von Freiheit hält, während Brandom bekanntlich Schlußfolgerungen für die relevante Einheit von Objektivität hält und deren Einschränkungen er letztlich durch soziale Strukturen wie Autoritäten, Experten usw. erklärt.7 Wie dem auch im einzelnen sei, entscheidend für die Überlegungen, die ich hier anstellen möchte, ist der folgende Umstand: Der gegenwärtig in der Theorie der Normativität blühende Rationalismus, der sich auf ein bestimmtes Bild von Kant-cum-Hegel, bisweilen auch -cum-Wittgenstein, beruft – wie etwa Korsgaard oder Nagel, die beide ohne Hegel auskommen –, blendet einen entscheidenden Aspekt aus. Dieser entscheidende Aspekt wurde von Kant, Hegel und Wittgenstein deutlich erkannt, was in den gegenwärtigen Debatten aber bis auf die Ausnahme Cavells eher eine untergeordnete Rolle spielt oder in einem bedenklich antiquierten vorkritischen, ja christlich-mittelalterlichen Vokabular von Willensschwäche diskutiert wird, wogegen v.a. Pippin überzeugende Argumente angeführt hat.8 Der Punkt, den ich meine, zeigt sich in der Frage, womit wir es eigentlich zu tun haben, wenn die Leistung, ein Subjekt bzw. eine Person zu sein, tatsächlich insgesamt scheitert? Wie wir sehen werden, geht diese Frage einher mit der anderen, wie es überhaupt zur Bindung eines Subjekts an Bindung kommt – eine Frage, die zwar von vielen Autoren ausführlich erörtert wird, ohne aber hinreichend anzuerkennen, daß sie mit der ersten zusammenhängt. Das für Kant, Hegel, aber auch noch für Wittgenstein entscheidende Wort lautet: Wahnsinn – ein Phänomen oder Pseudo-Phänomen, das sowohl Kant als auch und v.a. Hegel ausführlich analysiert haben. »Wahnsinn« meint dabei nicht eine Einschränkung psychischer Gesundheit, sondern die Abwesenheit von Rationalität insgesamt, die sowohl in der Genealogie von Vernunft als auch in der Rekonstruktion der Struktur ihres Scheiterns angenommen werden muß. Insbesondere Hegel hat in seiner Philosophie des subjektiven Geistes darauf hingewiesen, daß das begrifflich und anderweitig bindungsfähige Subjekt aus dem primordialen »Wahnsinn« einer »Weltseele« hervorgeht, die in der Form der Klimaabhängigkeit unserer Überzeugungen, der freundschaftlichen oder erotischen Bindung oder auch in Frühlingsgefühlen noch in die abgeklärtesten Begründungsgänge hineinragt. Denn als endliche Subjekte bleiben wir auch noch denkend an Vgl. in diesem Sinne etwa John McDowell: Having the World in View. Essays on Kant, Hegel, and Sellars. Cambridge, Ma./London 2009, 71: »Judging is at the centre of the treatment of objective purport in general. And judging is making up one’s mind about something. Making up one’s mind is one’s own doing, something for which one is responsible. To judge is to engage in free cognitive activity, as opposed to having something merely happen in one’s life, outside one’s control.« 8 Vgl. Pippin: Hegel’s Practical Philosophy, 80–85. 7

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»die Erzeugung der Gewohnheit als Übung«9 gebunden, ohne die – wie Hegel einräumt – auch kein philosophisches Denken möglich wäre. »Das ganz freie, in dem reinen Elemente seiner selbst tätige Denken bedarf ebenfalls der Gewohnheit und Geläufigkeit, dieser Form der Unmittelbarkeit, wodurch es ungehindertes, durchgedrungenes Eigentum meines einzelnen Selbsts ist. Erst durch diese Gewohnheit existiere Ich als denkendes für mich. Selbst diese Unmittelbarkeit des denkenden Bei-sich-seins enthält Leiblichkeit (Ungewohnheit und lange Fortsetzung des Denkens macht Kopfweh)«.10 Pippin lehnt nun zu Recht die These ab, das Scheitern von Subjektivität schlage sich psychologisch primär als Einschränkung geistiger Gesundheit nieder, obwohl er dieser These an verschiedenen Punkten immer wieder nahe kommt. Gleichwohl akzeptiert er eine Version der Historisierung von Subjektivität und damit die These, daß Autonomie keineswegs zur Natur von Wesen wie uns Menschen gehört, daß wir vielmehr durch eine komplexe Kulturgeschichte autonom geworden sind. Wenn wir aber autonom geworden sind, fragt sich, wie der Übergang von einer nicht-normativen Vorgeschichte in den geschichtlichen Zustand der Normativität zu verstehen ist. Im folgenden werde ich mich nicht ausführlich mit Pippins fraglos interessanter Lösung des Problems beschäftigen, wonach Autonomie eine Vorgeschichte hat, die – so meine These – auch noch unter bereits etablierten Autonomie-Bedingungen durch- oder, wie man hier sagen könnte, ausbrechen kann. Vielmehr werde ich zunächst Schellings, aber auch Hegels eigene Einwände gegen die Autonomie-These als allgemeines Modell unserer Bindungsfähigkeit erörtern (I.). Dabei stütze ich mich auf Schellings sogenannte Potenzenlehre, die ich als eine Theorie der Prädikation verstehe. Diese Theorie hat die Eigentümlichkeit, a limine von der Frage auszugehen, wie es überhaupt zur Einbindung einer offensichtlich nicht-normativen, einfach nur natürlichen und sich selbst epistemisch opaken Welt von natürlichen Gegenständen in eine prädikative Umgebung kommen kann. Schellings Antwort darauf lautet, daß wir mit einem Bindemittel rechnen müssen, das Gegenstände für uns an Begriffe bindet, ohne daß dieses Bindemittel dabei selbst bereits begrifflicher Natur ist. Mehr oder weniger intuitiv dargestellt, lautet Schellings Frage, wie irgendein natürlicher Gegenstand, der mindestens durch seine NichtAutonomie definiert wäre, in einen regelgeleiteten Zusammenhang eintreten kann. Wie kann etwa eine Bergkette zum Gegenstand einer wahrheitsfähigen Bezugnahme werden, wenn sie als ein solcher Gegenstand vor der Bezugnahme nicht existierte? Denn es wurde ja ex hypothesi noch nicht auf die Bergkette Bezug genommen, sie war mithin nicht Gegenstand einer Bezugnahme. Sobald diese Bergkette einmal in einem Urteil dem G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), neu hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Hamburg 81991, § 410. 10 Ebd., § 410, Anm. Zu einer Diskussion dieses Gedankens vgl. ausführlicher Slavoj Žižek: Discipline between Two Freedoms – Madness and Habit in German Idealism, in: Markus Gabriel/Slavoj Žižek: Mythology, Madness, and Laughter: Subjectivity in German Idealism, New York/London 2009, 95–121; Markus Gabriel: Transcendental Ontology: Essays in German Idealism, New York/London 2011, 48–59. 9

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Begriff der Bergkette subsumiert wurde, gilt, daß man sich im Interesse seiner Wahrheitsfähigkeit auf diese Bergkette durch Subsumierung unter den Begriff der Bergkette beziehen soll. Die Bergkette ist damit irgendwie in eine normative Umgebung eingebunden worden, so daß Prädikation allgemein dieselbe Frage aufwirft wie die eingangs gestellte Frage, wie wir nämlich überhaupt zu Personen werden können, wenn wir es denn nicht immer schon sind oder waren. Der uns Menschen besonders nahestehende Fall der Person-Werdung oder Subjektivierung ist dabei ein Sonderfall der allgemeinen Frage, wie ein Gegenstand in einem prädikativen Ambiente erscheinen kann, d. h. wie er unter Begriffe fallen kann, unter die er nicht immer schon von sich aus gefallen ist. In der Subjektivierung beobachten wir an uns selbst, was es heißt, unter Begriffe zu fallen, und dies zeigt sich nicht zuletzt noch inmitten des Spiels des Gebens und Verlangens von Gründen, in dem wir nicht nur über Gegenstände in der sogenannten »Außenwelt« sprechen, sondern auch ständig um die Selbst- und Fremdzuschreibung von Prädikaten wie … ist ein guter Freund, … ist ein guter Parteivorsitzender, … ist ein schlechter Koch usw. ringen. Der damit verbundene »Kampf um Anerkennung« ist ein kaum bestreitbarer Aspekt der Subjektivierung, und in ihm zeigt sich das Phänomen, um das es in diesem Beitrag geht: Die Befürchtung, Subjektivität könnte insgesamt scheitern.11 Während es im ersten Teil meiner Ausführungen v. a. darum geht, von Schelling ausgehende systematische Überlegungen einzusetzen, um das Phänomen des Wahnsinns als die Befürchtung des Verlusts des Subjekt-Seins insgesamt und nicht als die Einschränkung psychischer Gesundheit zu verstehen, geht es im zweiten Teil (II.) darum, den der Autonomie vorhergehenden Zustand ebenfalls als eine Form des Wahnsinns in diesem Sinn aufzufassen. Ich behaupte also nicht, daß Geisteskrankheiten das Scheitern des Subjekt-Seins insgesamt darstellen – damit hat Freud und alles, was auf ihn gefolgt ist und unsere Institutionen revolutioniert hat, glücklicherweise aufgeräumt. Geisteskrankheit ist eine Möglichkeit des Subjekts selbst und nicht sein Ende. Das Thema des Wahnsinns steht traditionell also nicht für eine Einschränkung, sondern für die Befürchtung des Scheiterns des Subjekt-Seins insgesamt und wurde als Phänomen von Kant und im nachkantischen Idealismus genau in dieser Hinsicht diskutiert. Schelling schreibt einmal, »Verstand« sei »geregelter Wahnsinn«12, womit er genau den Begriff von Wahnsinn aufgreift, auf den es mir ankommt. Diese These werde ich Axel Honneth diskutiert dies in seiner Anerkennungstheorie insbesondere unter dem Stichwort der »sozialen Pathologien«. Vgl. dazu seine aktuelle Darstellung in Axel Honneth: Das Recht auf Freiheit – Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2011. 12 Vgl. F.W.J. Schelling: Sämmtliche Werke, hg. v. K.F.A. Schelling, Bde. I–XIV (urspr. in zwei Abteilungen erschienen: I. Abt., Bd. 1–10 und II. Abt., Bd. 1–4), Stuttgart 1856–1861, hier: SW, VII, 469 f. (Stuttgarter Privatvorlesungen): »Was ist der Geist des Menschen? Antwort: Ein Seyendes, aber aus dem Nichtseyenden, also der Verstand aus dem Verstandlosen. Was ist also die Basis des menschlichen Geistes in dem Sinn, in dem welchem wir das Wort Basis nehmen? Antwort: Das Verstandlose. […] Die Basis des Verstandes selbst also ist der Wahnsinn. Daher der Wahnsinn ein nothwendiges Element, das aber nur nicht zum Vorschein kommen, nur nicht aktualisirt werden soll. Was wir Verstand nennen, wenn es wirklicher, lebendiger, aktiver Verstand ist, ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn. Der Verstand kann sich nur manifestiren, zeigen in seinem Gegensatz, also im Verstandlosen. Die Menschen, die keinen Wahnsinn in sich haben, sind die Menschen von leerem, unfruchtbarem Verstand.« 11

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freilich so rekonstruieren, daß damit nicht behauptet wird, der Verstand sei vor der geschichtlichen Etablierung regelgeleiteter diskursiver Praktiken wahnsinnig im Sinn von geisteskrank gewesen oder daß unser direkter evolutionärer Vorfahre eine Art homo demens gewesen sei. Gleichwohl waren die Bergkette sowie unser evolutionärer Vorfahre amentes, wenn mens ein normativer Status ist. Abschließend werde ich in einem dritten Teil (III.) noch kurz auf eine Hegelsche Strategie der Eindämmung des Wahnsinns zu sprechen kommen, die übrigens ein ganz zentraler Baustein in Pippins Rekonstruktion ist, nämlich der Begriff der Nachträglichkeit.13 Obwohl Pippin darauf nicht eigens eingeht, hat dieser Begriff im Ausgang vom Deutschen Idealismus in der Psychoanalyse, von Freud bis Jean Laplanche, Karriere gemacht, wobei Laplanche ihm eine eigene Monographie gewidmet hat.14 In diesem Zusammenhang wird es nicht darauf ankommen, die Details der psychoanalytischen Diskussion aufzuarbeiten. Gleichwohl ist in der Debatte um Nachträglichkeit deutlich geworden, daß ihr eine bewahrenswerte Einsicht zugrundeliegt, die in der gegenwärtigen Normativitätstheorie nur unzureichend zur Geltung kommt.

I. Prädikation und Wahnsinn Es wird häufig übersehen, daß das Phänomen des Wahnsinns im engsten erkenntnistheoretischen Gebiet, und zwar im Zusammenhang des Problems der Rechtfertigung unserer Überzeugungen, ins Spiel kommt. Bereits Descartes’ genius malignus bedroht die diskursive Rationalität im ganzen, womit Descartes eine radikale Wahnsinnshypothese aufstellt.15 Diese besagt letztlich, daß wir durch keine Anwendung unserer Rationalität imstande sind, die dabei in Anspruch genommenen Verknüpfungen mit rationalen Ressourcen zu verteidigen. Wir können nicht sicherstellen, daß unsere Intentionalität, um Kants daran anknüpfende Formulierung aufzugreifen, »weniger, als ein Traum«16 ist. Denn weniger als ein Traum wäre sie dann, wenn unsere Überzeugungen insgesamt nicht einmal wahrheitsfähig, geschweige denn wahr, wären. Entsprechend geht es seit Kant gar nicht mehr primär um das dogmatische Projekt, die Wahrheit unserer Überzeugungen sicherzustellen, sondern um das transzendentale oder kritische Projekt, unabhängig von der Wahrheitsfrage die Wahrheitsfähigkeit unserer Überzeugungen unter maximalem skeptischen Druck zu etablieren. Pippin: Hegel’s Practical Philosophy, 153–161. Vgl. Jean Laplanche: Problématiques VI. L’Après Coup, Paris 2006. Zur Funktion der Nachträglichkeit im Deutschen Idealismus vgl. ausführlich Gabriel: Transcendental Ontology. 15 Vgl. Derridas berühmten Aufsatz: Jacques Derrida: Cogito und die Geschichte des Wahnsinns, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt/M. 71997, 53–101. Derrida hat insbesondere darauf hingewiesen, daß das Cogito neutral hinsichtlich der Frage des Wahnsinns ist. Auch der Wahnsinn hat eine Rationalität, wenn Descartes freilich sogar noch weitergeht und diese Rationalität mit dem genius malignus suspendiert. 16 KrV, A 112. James Conants Distinktion zwischen einem Cartesischen und einem Kantischen Skeptizismus basiert unter anderem auf diesem Punkt. Vgl. James Conant: Spielarten des Skeptizismus, in: Skeptizismus und Metaphysik, hg. von Markus Gabriel, Berlin 2012, 21–72. 13 14

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Genau an dieses Projekt knüpft auch Schelling an, und zwar mit dem Hinweis, daß es Bedingungen unserer Wahrheitsfähigkeit gibt, die prä-rational sind, was ihn zusammen mit Schopenhauer und Nietzsche zum anerkannten Vorläufer der Psychoanalyse gemacht hat. Schelling stellt dabei die folgende grundlegende Überlegung an. Nehmen wir einmal mit Kant an, etwas sei für uns nur dadurch irgendetwas so-und-so Bestimmtes, daß wir es von einigem anderen unterscheiden können. Wir unterscheiden einiges von einigem anderen dadurch, daß wir ihm Eigenschaften zuschreiben, indem wir es also unter einen Begriff subsumieren. Ohne Prädikate verfügten wir über gar keine auch nur minimal orientierte Wahrheitsfähigkeit, weshalb epistemische Intentionalität sich auch in toto als Ausübung begrifflicher Fähigkeiten verstehen läßt. Nehmen wir weiterhin an, jemand fälle sein erstes Urteil bzw. erfasse seinen ersten Gedanken, was in der Kantischen Tradition auf dasselbe hinausläuft.17 In diesem Fall wird es notwendig sein, irgendeinen Gegenstand zum ersten Mal unter einen Begriff zu bringen. Dazu müssen Gegenstand und Begriff aber verbunden werden. Es bedarf einer Synthesis. Diese Synthesis setzt voraus, daß es einen Gegenstand gibt, der nicht identisch mit dem Begriff ist, unter den er subsumiert wird, da er ansonsten durch den Begriff gar nicht erst für uns individuiert werden könnte. Kehren wir zur Bergkette zurück. Der Umstand, daß diese Bergkette da unter den Begriff … ist eine Bergkette fällt, erschöpft weder die Bergkette noch den Begriff der Bergkette. Vielmehr ist in der Erkenntnis, daß dies da eine Bergkette ist, bereits unterstellt, daß dies da auch noch vieles andere ist, z. B. ein teilweise schnee- und grasüberzogener Haufen Steine, ehemaliger Kriegsschauplatz, Drehort für Bollywoodfilme usw. Andererseits ist in der Erkenntnis impliziert, daß auch noch anderes eine Bergkette sein könnte, weshalb die Aussage, dies da ist eine Bergkette, auch keine Identitätsaussage ist, die dieses da vollständig mit dem Begriff der Bergkette identifiziert. Mit anderen Worten impliziert die Erkenntnis, die wir mit der Behauptung, dieses da sei eine Bergkette, ausdrücken mögen, einen Spielraum der Kontingenz in doppelter Hinsicht: Erstens könnte dieses da auch noch etwas Anderes als eine Bergkette sein, und zweitens könnte auch noch anderes eine Bergkette sein. Dieses da existiert nun vor der Erkenntnis bzw. der mit ihr einhergehenden Bezugnahme auch unabhängig von der Erkenntnis. Zuvor war es als solches noch nicht in den genannten Spielraum der Kontingenz eingebunden. Gleichwohl hätte es die Begriffsfunktion … ist eine Bergkette sättigen können, wie wir nachträglich feststellen. Diese Voraussetzung bezeichnet der späte Schelling als die erste Potenz. Die erste Potenz, »das Ursubjekt«18, ist, wie er dies nennt, »reines Können ohne alles Seyn«19. Dies bedeutet, daß sie die Unterstellung ist, irgendetwas vermöge, ein an sich ungesättigtes Prädikat zu sättigen. Die erste Potenz ist gleichsam ontologisch dicht, sie bedarf keiner Sättigung, sie ist aber nur dann dies oder das (dieses oder jenes Subjekt eines Urteils), wenn sie eine Funktion erfüllt. Der erste Gegenstand, »das erste Denkbare 17 18 19

Kant identifiziert Denken explizit mit Urteilen. Vgl. Prol. A 88, 119; KrV A 69/B 94. SW, XI, 352, Anm. 3. SW, XI, 292, 318.

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(primum cogitabile)«20, ist logisch-ontologisch unendlich dicht, er ist im ersten Urteil noch nicht daraufhin durchsichtig, daß er auch als Wahrmacher für andere Urteile in Frage kommt. Er ist einfach da – ein ontologischer Status, den Schelling auch kurzum »unvordenkliches Seyn« getauft hat.21 Das Prädikat hingegen ist bereits eine zweite Potenz oder die zweite Potenz im ersten Urteil, »das Urprädicat«.22 Es ist, wie Schelling sich ausdrückt, »reines Seyn ohne alles Können«23, da es eine freie Variable enthält, die über einen Gegenstandsbereich quantifiziert, der offen für eine indefinite Anzahl von Gegenständen ist. Das Prädikat allein vermag nichts; ungesättigt hat es keinerlei Bedeutung, es ist wesentlich darauf angewiesen, gesättigt zu werden. Schelling beschreibt die zweite Potenz auch als »das Seyende[], in welchem nichts vom Subjekt ist (+ A), das also für sich auch nicht einmal seyn könnte (so wenig ein Prädicat seyn kann ohne Subjekt, von dem es getragen wird)«.24 Nehmen wir als Beispiel das Prädikat … ist rot. Indefinit vieles kann unter diesen Begriff fallen, ohne daß durch die bloße Verwendung dieses Prädikats schon festgelegt wäre, was genau alles unter ihn fällt. Allenfalls steht durch die Verwendung des Prädikats mit behauptender Kraft fest, daß vorausgesetzt wird, daß einiges unter den Begriff des Rot-Seins fällt, aber nicht auch schon, wie vieles und was alles im einzelnen. Die dritte Potenz, die Schelling im typischen stilistischen Hochglanz seiner Zeit als »Geist« bezeichnet, aber auch nüchterner als »Ursynthesis von Subjekt und Prädikat«25 anspricht, verbindet den Gegenstand mit einem Prädikat. Geist ist das Vermögen, Gegenstand und Prädikat zu verbinden bzw. sie im Dienste einer Pluralität von Anwendungen in anderen Kontexten zu isolieren. Anders gesagt, Geist ist hier nichts anderes als der Name für Wahrheitsfähigkeit. Der für unseren Zusammenhang springende Punkt besteht nun darin, daß der Übergang von der Erfassung eines Gegenstandes zu seiner Einbindung in den ihm gegenüber weiteren Kontext eines Prädikates nicht vom Prädikat selbst gewährleistet wird. Im Umlauf befindliche Begriffe suchen sich nicht von sich aus die Gegenstände, die unter sie fallen, womit Schelling an Kants Kritik der Urteilskraft erinnert. Immer bedarf es einer doppelten Suchbewegung: Die Konfrontation mit einem logisch-ontologisch maximal dichten Gegenstand führt zur Suche nach einem Begriff, unter den er fällt, und der Begriff, unter den irgendetwas fallen kann, ist gleichsam auf der Suche nach einem sättigenden Gegenstand, um überhaupt eine bestimmte freie Variable und nicht nur

SW, XI, 289. Zur Deutung des Begriffs des unvordenklichen Seins in diesem Sinn sei noch einmal verwiesen auf Gabriel: Transcendental Ontology. Eine ausführliche Deutung der Potenzenlehre und ihrer Funktion in der Spätphilosophie Schellings habe ich im Ausgang von Arbeiten Wolfram Hogrebes vorgeschlagen in: Der Mensch im Mythos. Untersuchen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings »Philosophie der Mythologie«, Berlin/New York 2006. 22 SW, XI, 352, Anm. 3. 23 SW, XI, 292. 24 SW, XI, 289. 25 SW, XI, 352, Anm. 3. 20 21

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irgendetwas enthalten zu können. Wenn wir etwas Rotes suchen, suchen wir nicht in Bereichen, in denen farbige Gegenstände gar nicht in Frage kommen, etwa im Bereich der irrationalen Zahlen. Um das noch etwas zu verdeutlichen, nehmen wir wiederum den Begriff … ist rot. Vieles kann unter diesen Begriff fallen, er enthält eine Leerstelle. Nun ist diese Leerstelle aber nicht absolut leer; eine freie Variable ist niemals absolut frei, weil der Begriff bereits eine logische Form in Anspruch nimmt, die festlegt, daß irgendetwas, aber nicht alles unter ihn fallen kann. Um also Begriffe verwenden zu können, was ein Konstituens unserer Wahrheitsfähigkeit ist, müssen wir die Freiheit der Variablen einschränken. Dazu müssen wir aber Gegenstände voraussetzen, die keine Variablen, sondern absolute Konstanten sind, was ich tentativ – und zuletzt in Anlehnung an die Eleaten – mit dem Ausdruck »logisch-ontologische Dichte« anvisiert habe. Absolute Konstanten bringen unsere epistemische Karriere aber ebensowenig voran wie absolut freie Variablen. Folglich müssen die Gegenstände daraufhin transparent gemacht werden, daß sie in vielen Urteilen firmieren können. Sie werden in diesem Sinn allgemein, also Gegenstände für mehrere Urteile. Sie müssen dabei im Hinblick auf ihre Sättigungsfunktion klassifiziert werden können. Diese doppelte Ausrichtung – einerseits auf die Einschränkung der Freiheit von Variablen und andererseits auf die Dekompression der Gegenstände – ordnet Schelling dem »Geist« zu. Ohne Geist hätten wir keine Gedanken, weil Gegenstände und Begriffe völlig unverbunden aufträten und damit genaugenommen nicht einmal mehr Gedankenteile wären. Es bedarf also eines »Bindemittels«, wie Frege einmal schreibt: »Diese ungesättigten Gedankenteile sind nun auch Teile unseres allgemeinen Gedankens; aber diese Teile bedürfen eines Bindemittels, um aneinander zu haften, wie auch zwei abgeschlossene Gedankenteile nicht ohne Bindemittel aneinander haften können.«26 Dieses Bindemittel heißt bei Schelling »Geist«, und es übt die Funktion der dritten Potenz aus. Diese bewegt sich zwischen ungesättigten absoluten Konstanten einerseits und Funktionen mit einer bestimmten, endlichen Reichweite, d. h. Begriffen, andererseits. Um wahrheitsfähig zu sein, müssen wir die Ontologie unserer Umgebung verändern. Synthesis ist Arbeit, wie der frühe Habermas mit Marx gesagt hat.27 Denn daß dieses da eine Bergkette ist, ist zwar eine ziemlich einstellungsunabhängige Tatsache, aber daß diese Tatsache erkannt und so in einen Spielraum der Kontingenz eingebunden ist, zeigt die Bergkette nicht von selbst an. Die Welt überschüttet uns nicht von selbst mit inferentiellen Netzwerken, wenn sie auch im Fall der Erkenntnis in diese eingebunden wird. Diese Arbeit der Synthesis, die schon in der basalsten logischen Form eines singulären informativen Urteils am Werk ist, stellt eine Bewegung dar. In dieser Bewegung wird irgendein Gegenstand unter irgendeinen Begriff gebracht, unter den auch anderes Gottlob Frege: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, aus dem Nachlaß, hg. von Gottfried Gabriel, Hamburg 2001, 83. 27 Vgl. Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1973, 36–59. 26

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gebracht werden könnte, und zwar so, daß auch der Gegenstand zugleich unter andere Begriffe gebracht werden kann. Diese Bewegung ist in der Tat eine Leistung, eine »Tathandlung«, denn sie ist eine Handlung, die uns Tatsachen zugänglich macht. Schelling betont nun, daß diese Tathandlung auch scheitern kann. Dieses Scheitern ist dabei von einem falschen Urteil, einem Irrtum, zu unterscheiden. In einem falschen Urteil erfassen wir immer noch einen Sachverhalt oder einen Gedanken, d. h. wir erfassen etwas, das wahr oder falsch sein kann. Auch falsche Urteile haben trivialiter Bedingungen der Wahrheitsfähigkeit, selbst wenn ihre Wahrheitsbedingungen eben nicht erfüllt sind, weshalb es sich um einen Irrtum handelt. Wenn die Tathandlung hingegen scheitert, löst sich unsere Wahrheitsfähigkeit auf. Das Scheitern der Tathandlung selbst muß dabei als Möglichkeit anerkannt werden, wenn wir Subjektivität insgesamt als Leistung, d. h. als normativen Status, auffassen wollen, was Schelling Kants und Fichtes Versionen der Autonomie-These konzediert. Die Tathandlung wäre nicht autonom, wenn sie nicht objektiv orientiert wäre. Wenn die Tathandlung aber scheitern kann, dann sind wir auch imstande, unsere Wahrheitsfähigkeit einzubüßen. Die diskursive Rationalität kann im ganzen genau deswegen scheitern, weil sie erarbeitet und aufrechterhalten werden muß. Ihr Scheitern ist nicht Irrtum im theoretischen und auch nicht Willensschwäche im praktischen Fall, sondern Wahnsinn. Vor diesem Hintergrund sollte man Wahnsinn nicht an die Einschränkung psychischer Gesundheit binden. Der Ausdruck bezeichnet vielmehr die Drohung eines völligen Selbstverlustes, welche mit der These einhergeht, Subjekt-Sein sei eine Leistung. Es ist bemerkenswert, daß Frege diese Möglichkeit unter dem Stichwort des »erkenntnistheoretischen Idealismus« und »Skeptizismus« diskutiert, worunter er die Behauptung versteht, daß alle Gegenstände unserer Urteile »Vorstellungen« seien, und d. h. für ihn insbesondere, daß kein einziger Eigenname Bedeutung hätte.28 Alles wäre, wie Frege sagt, »Sage und Dichtung«.29 In einem solchen Szenario herrschte der Wahnsinn, wie insbesondere die von Hegel perhorreszierten Dramen und Erzählungen E.T.A. Hoffmanns und Heinrich von Kleists ausgemalt haben, die nicht von ungefähr im Gefolge der skeptischen Lesarten von Kants transzendentalem Idealismus entstanden sind. Schelling weist auf genau diese Möglichkeit hin, auf den völligen Zusammenbruch von Bedeutung. Allerdings geht er noch weiter. Denn wenn die Tathandlung als solche

Vgl. Gottglob Frege: Kleine Schriften, hg. von Ignacio Angelelli, Hildesheim/Zürich/New York 147 f. An dieser Stelle liefert Frege freilich keine Widerlegung des Idealismus, sondern räumt ein, daß die Existenz von Bedeutung eine diskursive Voraussetzung sei: »Die Frage aber, ob wir uns vielleicht immer darin irren, kann hier unbeantwortet bleiben; es genügt zunächst, auf unsere Absicht beim Sprechen oder Denken hinzuweisen, um es zu rechtfertigen, von der Bedeutung eines Zeichens zu sprechen, wenn auch mit dem Vorbehalte: falls eine solche vorhanden ist.« (ebd., 148) 29 Frege: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, 75, 79, 82, 88 und insbesondere 136. Wenn der erkenntnistheoretische Idealismus àwahrà wäre (von Wahrheit könnte man hier Frege zufolge aus anderen Gründen nicht mehr sprechen), àverlöre sich der Sprechende in das Gebiet der Sage und Dichtung, während er glaubt, sich im Gebiete der Wahrheit zu bewegen.à 28

32011,

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scheitert, bleibt letztlich auch kein reines Reich des Sinns, nicht einmal mehr »Sage und Dichtung« übrig. Wir verlören auch noch den für rationale Wesen »distinct mode of orientation and direction«30, um eine Formulierung Pippins aufzugreifen. Kant, dem der Wahnsinn als Gegenmodell zur Vernunft deutlich vorschwebte, diskutiert selbst die Möglichkeit, wir könnten anstelle von Selbstbewußtsein ein »vielfärbiges verschiedenes Selbst«31 haben, das nur noch einem »Gewühle von Erscheinungen«32 ausgesetzt wäre. Seine Transzendentalphilosophie gibt dabei die Gründe an, die dafür sprechen, daß wir uns nicht in einem solchen Gewühle befinden, sondern daß wir wahrheitsfähig sind. Damit wird die Möglichkeit des Wahnsinns zunächst eröffnet und dann abgelehnt. Sollte diese Diagnose aus den hier nur skizzenhaft angeführten Gründen zutreffen, stellt sich auch die Frage nach der Bindungsfähigkeit von Wesen, die einen normativen Status innehaben, in einem anderen Licht. Denn das »Gewühle von Erscheinungen« ist nicht nur das Resultat eines Zusammenbruchs, sondern auch die Ausgangslage, aus der wir uns durch Erziehung und die Einbindung in Lebensformen jeweils befreit haben müssen. Man denke nur an ein Kleinkind, das schreit, weil es entweder hungrig ist oder etwa einen für es völlig unbestimmten Druck auf den Ohren spürt, bspw. bei der Landung eines Flugzeugs. Ein erwachsener Mensch schreit unter anderem deshalb nicht in derselben Lage, weil er oder sie weiß, daß man die Bedürfnisbefriedigung gefahrlos verschieben kann bzw. daß der Druck auf den Ohren sich leicht beheben läßt. Es ist bereits ein Weltvertrauen aufgebaut worden, das mit der Einbindung in normative Ordnungen einhergeht, eine Einstellung, in die das Kind allererst hineinwachsen muß. Das Verfehlen unseres normativen Status als Selbstgesetzgeber ist demnach nicht einfach Irrtum, sondern eine radikale Fehlleistung, die nicht ausgeschlossen werden kann, wenn wir die Autonomie-These vertreten. Diese Fehlleistung bleibt immer eine inhärente Möglichkeit des Subjekts. »Wahnsinn« ist dabei der Name, unter dem diese Möglichkeit in der Tradition besprochen wurde und auf die sich auch noch die gegenwärtige Theorie der Normativität bezieht. Allerdings zeigt sich diese Möglichkeit nicht nur als Fehlleistung, d. h. im Scheitern der Rationalität; sie entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine nicht-normative Voraussetzung von Normativität. Wenn Subjekt-Sein eine historisch erworbene transzendentale Leistung ist, stellt sich eben die Frage nach der Kehrseite dieser Leistung. Und der traditionelle Name für transzendentales Scheitern ist »Wahnsinn«.

II. Nicht-normative Voraussetzungen von Normativität An einer berühmten Stelle seiner Jenaer Systementwürfe schreibt Hegel: »Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt –, 30 31 32

Pippin: Hegel’s Practical Philosophy, 53. KrV, B 134 KrV, A 111.

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oder die nicht als gegenwärtige sind. Dies die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiert reines Selbst, – in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutig Kopf, – dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor, und verschwinden ebenso – Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.«33 Die Parallele dieser Hegel-Stelle zu Hieronymus Bosch und zur Geschichte des Wahnsinns ist häufig gezogen worden, und Hegels Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn als prä-diskursivem anthropologischem Normalfall zieht sich bis in seine reife Philosophie, insbesondere in die Philosophie des subjektiven Geistes, hinein. Genau auf diese Dimension stößt Pippins Analyse des Selbstgesetzgebungscharakters moderner Subjektivität immer wieder, und sie führt ihn auch zur Anerkennung eines »großen Paradoxes der »Selbstgesetzgebung« (great paradox of »self-legislation«)«34, von dem er sich sogleich abwendet. Dieses Paradox formuliert er folgendermaßen: »die Tatsache, daß es kein bindendes Gesetz gibt, bevor wir uns ihm unterordnen, scheint zu implizieren, daß diese Handlung der Unterordnung selbst gesetzlos ist, gleichsam »prä-legal«; daß es einen ursprünglich gesetzlosen Zustand gibt, der eingeschränkt werden muß, als ob Normativität aus dem prä-normativen Schlamm entstünde«.35 Allerdings thematisiert Hegel genau diesen »prä-normativen Schlamm« in seiner Philosophie des subjektiven Geistes, von seiner Jenaer bis in seine Berliner Zeit hinein, worin er sich übrigens gerade nicht von Schelling unterscheidet. Hegel erkennt damit – wie auch sonst – durchaus die Grenzen von Kants Autonomie-Konzept an, das er im Unterschied zu Kant nicht dem Naturbegriff entgegensetzt. Bereits in Glaube und Wissen, aber auch im Rest seiner Kant-Kritik wendet er gegen den Autonomie-Gedanken, wie ihn Pippin auf anspruchsvolle systematische Weise weiterentwickelt hat, ein, daß eine vermeintlich völlig selbständige Sphäre der – und sei es kollektiven – Selbstsetzung immer noch heteronom bleibt, wenn sie sich der Natur entgegensetzt. Pippin schreibt Hegel hingegen die These zu, die Natur sei in moralischer Hinsicht entzaubert, ja »es bedeutet nichts, was für unser sich selbst ausrichtendes Leben relevant wäre, daß wir einfach die Wünsche und Begierden und Leidenschaften und Limitationen haben, die wir haben.«36 Hier blendet Pippin die Philosophie des subjektiven in ihrer Einbettung in die des objektiven Geistes aus, die gerade darin die philoso-

G.W.F. Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, neu hg. von Rolf-Peter Horstmann, Hamburg 1987, 172. 34 Pippin: Hegel’s Practical Philosophy, 105. 35 Ebd.: »the fact that there is no binding law until we submit ourselves to it would seem to imply that this act of subjection is itself lawless, as if ›pre-law,‹ that there is an original lawless state that must be constrained, as if normativity arises out of the pre-normative ooze«. 36 Ebd., 115: »Nature is morally disenchanted; it doesn’t mean anything of relevance to our selfdirecting lives that we simply have the wants and desires and passions and limitations that we do.« 33

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phische Relevanz der Psychoanalyse antizipiert, daß sie eben nicht nur die Sozialität und Historizität der Vernunft und der mit dieser einhergehenden Bindungsfähigkeit erkennt, sondern insbesondere die Rolle der Gefühle und der aus diesen entspringenden Urteile diskutiert. Auch Gefühle sind sozial und historisch, und sie liegen unserem Vernunftgebrauch selbst dort zugrunde, wo er das ihm mögliche Maximum an Autonomie, nämlich in der Theoriebildung, erreicht. Die in der Form von Gründen anzueignenden Motive sind bereits gesellschaftlich und geschichtlich historisch vermittelt. Es ist nicht so, als ob wir – wie in Platons Seelenmodell – eine Art Gefühlstier in uns trügen, das durch Argumente gezügelt werden muß, sondern vielmehr so, daß wir in der Welt der Gründe retroaktiv auch diejenigen Motive umstrukturieren, die wir uns insgesamt jeweils soziokulturell und historisch zu eigen gemacht haben. Im übrigen sind unsere »Wünsche, Begierden und Leidenschaften« alles andere als moralisch irrelevant oder höchstens moralisch anstößig, was man nur unter strikt Kantischen Prämissen annehmen kann. Doch was bedeutet all dies systematisch? Sind wir darauf verpflichtet, die Heteronomie so weit zu treiben, daß damit die Bindungsfähigkeit an Gründe skeptisch, soziologisch oder psychologisch unterminiert wird? Gegen diese Option wendet sich Pippin, und er stellt die Diagnose auf, daß sich die post-Hegelsche europäische oder, wie er auch sagt: »Kontinentalphilosophie«, einem solchen Skeptizismus verdankt, von dem er Hegel freizusprechen sucht. Allerdings halte ich es für fragwürdig, die in jeder Hinsicht wissenschaftlich anerkannte Tatsache als »skeptisch« zu bezeichnen, daß alle Gründe, die wir jeweils verwenden können, immer auch unsere Gründe sind und daß wir uns an sie immer auch unter den Bedingungen unserer jeweiligen biographisch und sozial vermittelten faktisch bestehenden Bindungsfähigkeit halten können. Gründe sind nicht von Motiven isoliert. Wir sind eben auch deswegen endlich, weil wir Gefühle haben, und diese Dimension ist weder moralisch irrelevant noch haben wir sie im Zuge einer völligen Autonomisierung unserer Selbstgesetzgebung überwunden. Pippin vertritt eine zu radikale Form des Normen-Konstruktivismus, obwohl er zu Recht immer wieder einräumt, Hegel rechne mit Einschränkungen, um ein Modell der reibungslosen Selbstkonstitution ebenso zu vermeiden wie ein Modell der Imposition von Normativität auf eine schlechthin prä-normative, etwa rein physikalisch beschreibbare, Umwelt. Doch vermeidet Hegel diese Modelle nicht dadurch, daß er Subjekt-Sein an die Partizipation am objektiven Geist bindet. Der subjektive Geist entspringt auch bei Hegel einem »prä-normativen Schlamm«, wie Pippin dies abwehrend nennt, wodurch er an seine natürliche Vorgeschichte zurückgebunden bleibt. Auf diese Weise vermeidet Hegel von vornherein einen Dualismus von Norm und Natur, da er die Prämissen dieser Distinktion, d. h. für ihn insbesondere den Kantischen Autonomie-Begriff, nicht teilt. Hegel wendet sich bewußt von der Autonomie-These ab, da sie grundsätzlich einen dualistischen Charakter besitzt. Es sieht so aus, als ob eine normative Ordnung aus dem normativen Off entstünde. Doch die normative Ordnung entsteht aus einer Vorgeschichte, in die sie jederzeit zurückfallen kann, ihr Scheitern ist eine beständige Möglichkeit und führt im äußersten Fall zum Wahnsinn, der historisch ganz verschiedene Gestalten annehmen kann und angenommen hat. Diese Gestalten sind dabei nicht einfach nur Verkörpe-

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rungen eingeschränkter psychischer Gesundheit, sondern die völlige Verwüstung von Rationalität. Was dabei in Erscheinung tritt, ist kein animalisches oder rein natürliches Reich, sondern eben völlig gescheiterte Subjektivität und demnach die Verkörperung von Irrationalität. Theoretiker der Normativität, die Normativität und Rationalität in Verbindung bringen, berufen sich gern auf das folgende Argument: Es sei unmöglich, mit rationalen Mitteln darauf hinzuweisen, daß Rationalität auf eine solche Weise beschränkt sei, daß diese Beschränkung innerhalb der Rationalität bemerkbar wird. So wie nur Überzeugungen Überzeugungen stützen oder erschüttern könnten, könnten auch nur Gründe Gründe stützen oder einschränken. Ein Außerhalb der Vernunft scheint es demnach für die Vernunft nicht so zu geben, daß es ihre Selbstkonstitution stören oder gar bedingen könnte. Gegen diese überzogen optimistische Annahme spricht aber der Umstand, daß unsere diskursive Rationalität sich sehr wohl aus dem prä-diskursiven und »prä-normativen Schlamm«, von der Ursuppe bis hin zu den Urwäldern und Steppen unserer Vorfahren und der komplexen kulturellen Evolution entwickelt hat, ohne welche auch die Moderne nicht möglich wäre. Dieser Umstand zeigt sich aber auch in der Erfassung eines jeden einzelnen Gedankens, worauf Schelling insistiert. Die Umgebung einer Überzeugung, d. h. eines wahrheitsfähigen, durch uns erfaßten Gedankens, besteht niemals ausschließlich aus Gedanken. Damit ein strukturierter Gedanke zustandekommt, muß er vielmehr aufrechterhalten werden. Doch muß er nicht nur über einen gewissen Zeitraum hinweg psychologisch aufrechterhalten werden. Vielmehr muß selbst jeder Gedanke, der ein Token eines von uns bereits einmal erfaßten Gedanken-Typs ist, in eine nie dagewesene neue Umwelt hineinprojiziert und damit erneuert werden. Um eine stabile Umwelt erfassen zu können, bedarf es auch einer Stabilisierung unserer selbst, wie Kant, Schelling und Hegel mit jeweils anderer Absicht einräumen. Diese Stabilisierung ist jederzeit fragil, worin gerade ihre Rationalität besteht. Rationalität ist deswegen eine Norm, weil sie auch scheitern kann. In diesem Zusammenhang haben die nach-Kantischen Idealisten, aber bis zu einem gewissen Grad auch schon Kant selbst, folgende Beobachtung ins Zentrum ihrer Theorien der Intentionalität gerückt. Kant hat darauf hingewiesen, daß jeder Gegenstand einer wahrheitsfähigen Bezugnahme eine Erscheinung – in Kants terminologischem Sinn – ist. Dies gilt eben nicht nur für raum-zeitlich ausgedehnte Gegenstände, sondern auch für uns selbst. Sofern wir uns auf uns selbst mit wahrheitsfähigen Überzeugungen beziehen, sind wir Erscheinungen – eine Einsicht, die Kant unablässig unterstreicht und ohne welche seine praktische Philosophie gar nicht in Gang käme.37 Wenn ich etwa der höherstufigen Überzeugung bin, daß meine Überzeugung, der zufolge es gerade regnet, wahr ist, wird meine Überzeugung damit selbst zu einer Erscheinung neben anderen. Nun steht diese Überzeugung tatsächlich unter Erfolgsbedingungen. Sind diese erfüllt, haben wir etwas geleistet, namentlich die Phänomenalisierung unserer selbst, die tatsächlich von uns selbst abhängt. Doch hängt sie, wie im gegebenen Beispiel, keineswegs 37

Vgl. KrV A 33 ff./B 49 ff., B 428 ff.

Autonomie, Normativität und das Problem des Scheiterns der Subjektivität

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nur von uns selbst ab. Die Phänomenalisierung meiner selbst als Denker des Gedankens, oder als Vertreter der Überzeugung, daß es gerade regnet, hängt u. a. davon ab, ob es gerade regnet und ich wirklich gerade der Überzeugung bin, daß es regnet. Simple externalistische Zusatzannahmen bzw. realistische Platitüden wie diejenige, wonach die Bedeutung der Proposition, daß es gerade regnet, auch von einem Weltzustand abhängt, der kein Zustand meiner selbst ist, zeigen bereits, daß meine Selbstkonstitution durchaus von Faktoren abhängt, die meine Autonomie einschränken. Auch und v.a. in Bezug auf die Selbstgesetzgebung ist es nicht der Fall, daß die Tatsache, daß es sich bei einem menschlichen Selbst, sprich bei Instanzen des biologischen Programms homo sapiens, um einen normativen Status handelt, dazu führt, daß wir nur Gesetzen unterliegen, die wir uns jeweils selbst gegeben haben. Dies gilt allenfalls im moralischen Fall im engeren Sinn, da nicht einmal die Staatsbürgerschaft oder die Zugehörigkeit zu einer Institution im vollen Sinn anerkennungsabhängig ist. Politische Gesetze, die historisch geworden, erkämpft und realisiert worden sind, sind allemal faktische Grenzen und Bedingungen unserer moralischen Selbstgesetzgebung. Die Institutionen, die Gesetze verkörpern, schützen und modifizieren, sind fundamental historisch. Ihre Historizität erfahren moralische Agenten als Faktizität: Es gibt diese oder jene Institutionen, die Gesetze verkörpern, ob uns dies gefällt oder nicht. Dabei geht ihre Existenz über die Anerkennung durch eine gegenwärtige Gemeinschaft hinaus, was etwa besonders deutlich im Fall von Verfassungen ist. Die Gültigkeit einer Verfassung hat eine anerkennungsunabhängige Seite. Allgemein gilt, daß Gesetze Restriktionen auf moralische Agenten ausüben können, denen diese sich zwar widersetzen mögen, weil sie der Überzeugung sind, daß die Gesetze selbst unmoralisch sind. Doch die Existenz dieser Meinung ist als solche noch kein Umstand, der legal relevant ist. Im allgemeinen gilt, daß Rationalität nicht ausschließlich über die AutonomieThese verstanden werden kann, wenn diese auch einen Aspekt von Rationalität erfaßt. Gründe sind nämlich immer in historische Kontexte eingebettet, welche Restriktionen auferlegen und Spielräume der Revision eröffnen. Diese Spielräume, denen konkrete Handlungsspielräume moralischer oder allgemein vernünftiger Agenten entsprechen, sind dabei niemals unendlich. Ein Spielraum, der erlaubt, alles zu tun, eröffnet keine Handlungsmöglichkeiten, sondern unterminiert gerade eine entscheidende Bedingung von Handlungen: daß jeder Wahl eine nicht gewählte Wirklichkeit vorausliegt.38 Die Frage, wie die jeweils nicht gewählte Wirklichkeit angeeignet, in die »Welt der Gründe« inkorporiert oder dort phänomenalisiert werden kann, wie man auch sagen könnte, ist eine Frage nach den historisch kontingenten jeweiligen Grenzen der Rationalität. Daß Rationalität überhaupt begrenzt ist, drückt sich in der Möglichkeit ihres Scheiterns aus, welche aus derselben Quelle wie die Möglichkeit ihrer Entstehung entspringt, wie ich zu zeigen versucht habe. Dabei ist es entscheidend, die Historizität der Grenzen der Rationalität geltend zu machen, eine Einsicht, die wir wesentlich Hegel, Schelling und Wittgenstein verdanken und die auf vielfältige Weise in der Philosophie Vgl. Thomas Nagel: The Possibility of Altruism, Princeton 1978, 23: »Some unchosen restrictions on choice are among the conditions of its possibility.« 38

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Kolloquium 12 · Markus Gabriel

des letzten Jahrhunderts diskutiert wurde. Es gibt keine stabilen Grenzen der Rationalität, sondern immer nur diese oder jene sich verschiebenden Voraussetzungen, die einem Handlungsspielraum vorausliegen und diesen auf eine endliche Menge an Optionen festlegen. Die sich verschiebenden Grenzen der Rationalität bedrohen diese zwar immer auch mit der Möglichkeit des Scheiterns. Doch folgt aus der Möglichkeit des Scheiterns keineswegs (wie v. a. Derrida zu vorschnell geschlossen hat), daß die Ausübung unserer begrifflichen Fähigkeiten schon ihr Scheitern impliziert. Daß einige Bedingungen Bedingungen der Möglichkeit der Ausübung unserer begrifflichen Fähigkeiten und zugleich des Scheiterns dieser ihrer Ausübung sind, impliziert nicht, daß die Ausübung einer begrifflichen Fähigkeit identisch mit ihrem Scheitern ist. Es besteht also kein Anlaß zu tragischer Resignation, vielmehr sind wir aufgefordert, die Vernunft unter fragilen historischen Bedingungen aufrechtzuerhalten, wohlwissend, daß dieser Anspruch intrinsisch von Pathologien verschiedenster Art bedroht ist.

Motive der Vernunft Sebastian Rödl

In seinen Vorlesungen über Ethik unterscheidet Ernst Tugendhat den Grund eines moralischen Urteils von dem Motiv, ihm gemäß zu handeln. Das ist widersprüchlich. Der Grund eines praktischen Urteils ist als solcher das Motiv, ihm gemäß zu handeln. Wenn es praktische Urteile gibt, gibt es eine ausgezeichnete Art Motiv, ein Motiv, das in Vernunft gründet, ein Motiv der Vernunft. Das will ich zeigen. Tugendhat identifiziert den Gegenstand der Moralphilosophie durch eine Art Urteil.1 Der sprachliche Ausdruck solcher Urteile ist: So zu handeln ist gut (schlecht). Ich darf nicht so handeln. (Du darfst nicht, man darf nicht …) Ich muß so handeln. (Du mußt, man muß …) Indem das, was solche Sätze ausdrücken, ein Urteil ist, weist es die Form des Urteils auf: Ein Urteil ist notwendig allgemein. Es ist allgemein, das heißt, es versteht sich als verbindlich für jeden, der zu urteilen vermag. Es ist notwendig, das heißt, es versteht die Begriffe, die es zusammenbringt, als notwendig verbunden. Beides ist dasselbe, denn die Verbindung der Begriffe ist darin notwendig, daß sie von nichts abhängt, was ein Subjekt von anderen unterscheidet, was bedeutet, daß sie allgemein ist. Ich sagte, ein Urteil versteht sich als allgemein. Ich meine, ein Urteil und das Bewußtsein seiner Allgemeinheit sind ein Bewußtsein. Das Bewußtsein seiner allgemeinen Verbindlichkeit ist keine Vorstellung, die zum Urteil hinzutritt. Es ist keine Vorstellung zweiter Ordnung, keine Meta-Vorstellung, deren Gegenstand das Urteil wäre. Das Bewußtsein seiner Allgemeinheit konstituiert das Urteil als Urteil. Das unterscheidet das Urteil von Empfindung und Gefühl. Ein Gefühl kann allgemein sein, indem jeder es fühlt, sofern er nicht krank oder sonst beschädigt ist. So verhält es sich mit der Liebe von Eltern für ihre Kinder und vielleicht mit der Lust am Genuß von Gruyere. Dieses Gefühl ist vielleicht allgemein. Es ist aber nicht selbst ein Bewußtsein seiner Allgemeinheit. Das Bewußtsein seiner Allgemeinheit ist ein Gedanke über das Gefühl, unterschieden von diesem. Ein Urteil dagegen ist an sich selbst ein Bewußtsein seiner Allgemeinheit. Ein Urteil kann einen Grund haben. Sein Grund ist der Grund seiner Notwendigkeit: In seinem Lichte versteht man die Notwendigkeit des Urteils. Der Grund eines Urteils ist daher so allgemein wie das Urteil, dessen Grund er ist: Er enthält ein Bewußtsein seiner selbst als fähig, das Urteil für jeden, der zu urteilen vermag, zu begründen. Jeder, der urteilt, kann aus diesem, kann aus demselben Grund so urteilen. Aus der Allge1

Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik, Frankfurt 1993, 35–37.

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Kolloquium 12 · Sebastian Rödl

meinheit des praktischen Urteils und seines Grundes folgen einige formale Prinzipien, etwa, daß schlecht handelt, wer einen anderen veranlaßt zu tun, was zu tun schlecht ist; daß schlecht handelt, wer einen anderen hindert zu tun, was zu tun gut ist; daß gut handelt, wer einem anderen hilft zu tun, was zu tun gut ist. Das sind formale Bestimmungen des guten Handelns, sofern das gute Handeln durch ein Urteil bestimmt werden kann, das heißt, sofern die Vorstellung eines Handelns als gut notwendig allgemein ist. Wenn jemand meint, daß diese Prinzipien nicht gelten, verneint er damit, daß das gute Handeln in einem Urteil vorgestellt wird. Tugendhat bestimmt den Gegenstand der Ethik durch eine Art Urteil, ein Urteil darüber, wie zu handeln gut ist. Vielleicht wird das gute Handeln nicht in einem Urteil vorgestellt. Aber Tugendhat zweifelt daran nicht, und daher nehmen wir hier an, daß es sich so verhält. Es gibt also Urteile darüber, wie zu handeln gut ist. Zu diesem Gedanken fügt Tugendhat den folgenden hinzu: Da ich einsehe, daß soundso zu handeln gut ist, stehe ich vor wie nach vor der Frage: Soll ich so handeln? Ich kann diese Frage allgemein stellen oder bezogen auf die gegebene Situation. Ich kann fragen, »Soll ich im allgemeinen so handeln, wie ich einsehe, daß zu handeln gut ist?« Und ich kann im gegebenen Fall fragen, »Soll ich jetzt und hier soundso handeln, so nämlich, wie ich erkenne, daß zu handeln gut ist?« Für uns ist es unwesentlich, ob die Frage allgemein oder bestimmt gestellt wird. Entscheidend ist dieser Gedanke Tugendhats: Da ich einsehe, daß soundso zu handeln gut ist, weiß ich noch nicht, ob ich so handeln soll. Da ich weiß, daß so zu handeln gut ist, stehe ich vor wie nach vor der Frage, ob ich so handeln soll. Nun läßt sich das Urteil »So zu handeln ist gut« auch so ausdrücken: »So sollst du, so soll man, so soll ich handeln«. Die Frage »Soll ich so handeln?«, die noch offen ist, da ich weiß, daß so zu handeln gut ist, muß ein anderes »soll« verwenden als das praktische Urteil. In der Tat unterscheidet Tugendhat zwei Bedeutungen von »soll«. Er erklärt, es gebe zwei Fragen, »Was soll ich tun?«, die sich darin unterscheiden, was, wie Tugendhat sagt, ihr Bezugspunkt ist. Der Bezugspunkt des einen »soll« ist das gute Handeln, der des anderen das je eigene Wohlergehen. »Soll ich so handeln?« heißt im einen Fall, »Ist so zu handeln gut?«, im anderen, »Dient so zu handeln meinem Wohlergehen?«2 Tugendhat sagt nicht viel dazu, was das Wohlergehen eines Menschen ausmacht. Jedenfalls aber charakterisiert mein Wohlergehen mich als besonderes Subjekt unterschieden von anderen. Es wird also nicht durch ein Urteil bestimmt, das allgemein verbindlich wäre und mich gerade nicht als besonderes Subjekt charakterisierte. Dazu stimmt, daß Tugendhat nahelegt, daß Wohlergehen in der Befriedigung von Wünschen und Interessen liegt. Denn Wünsche enthalten kein Bewußtsein ihrer Allgemeinheit. Da ich wünsche, verbinde ich nicht jeden, so zu wünschen. Wie oben bemerkt, hindert das nicht, daß es Dinge gibt, die alle Menschen wünschen. Vielleicht wünschen sich alle Menschen, geliebt und bewundert zu werden. Daß es sich so verhält, ist ein Gedanke, der zu dem Wunsch hinzutritt und nicht mit ihm identisch ist.

2

Vgl. Ebd., 38–39.

Motive der Vernunft

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Es gibt also zwei Fragen »Was soll ich tun?«. Der Bezugspunkt der einen ist das gute Handeln, der der anderen das je eigene Wohlergehen. Die erste Frage wird in einem Urteil beantwortet, das notwendig allgemein ist, die andere in einer Vorstellung, die dem je besonderen Subjekt eigen ist, denn die Antwort hier hängt von Wünschen und Interessen ab, die allgemein sein können, aber kein Bewußtsein ihrer Allgemeinheit sind. Indem Tugendhat die beiden Fragen unterscheidet, unterscheidet er Motiv und Grund, und zwar so: Wenn ich auf die Frage, »Soll ich so handeln?«, die bedeutet, »Ist so zu handeln gut?«, antworte, »Ja, weil …«, ist das, was folgt, ein Grund für das fragliche praktische Urteil und ineins damit ein Grund, so zu handeln, wie zu handeln das Urteil als gut vorstellt. Wenn ich auf die Frage, »Soll ich so handeln?«, die bedeutet, »Dient das meinem Wohlergehen?«, antworte, »Ja, weil …«, gebe ich keinen Grund, sondern ein Motiv, so zu handeln. Wir haben oben gesagt, indem ich einsehe, daß so zu handeln gut ist, habe ich noch nicht entschieden, ob ich so handeln soll. Das können wir jetzt so ausdrücken, und Tugendhat drückt es so aus: Indem ich Grund habe, so zu handeln, habe ich noch kein Motiv.3 Wir haben oben den Grund eines Urteils formal charakterisiert: Der Grund eines Urteils ist, wodurch man seine Notwendigkeit versteht; er ist deshalb so allgemein wie das Urteil, das er begründet: Jeder kann aus demselben Grund ebenso urteilen. Das unterscheidet einen Grund von dem, was Tugendhat Motiv nennt: Ein Motiv ist nicht allgemein. Denn es bezieht das Handeln auf das je eigene Wohl, und da dieses nicht notwendig allgemein ist, ist es auch ein Motiv nicht. Verschiedene Menschen können für ihr Handeln grundsätzlich nicht dasselbe Motiv haben; sie können nur ein Motiv derselben Art haben. Das Motiv des einen bezieht das Handeln auf sein Wohl, das des anderen auf dessen Wohl, und das sind verschiedene Dinge, mein Wohl und deins. Das bestimmt Motive negativ. Ihre positive Bestimmung, die Tugendhat durch seine Wortwahl ausdrücken möchte, ist die, daß das Motiv zum Handeln bestimmt. Ein Motiv, soundso zu handeln, erklärt, warum der, der es hat, so handelt. Ein Motiv ist ein Beweggrund; es bewegt. Indem Tugendhat das Motiv dem Grund gegenüberstellt, sagt er, daß dem Grund eines praktischen Urteils und also dem praktischen Urteil diese Bestimmung abgeht. Ein Grund, der ausweist, daß so zu handeln gut ist, bestimmt als solcher nicht dazu, so zu handeln. Jemandes Einsicht, daß so zu handeln gut ist, erklärt nicht, warum er so handelt. Das erklärt erst ein Motiv, das Motiv, das er hat, so zu handeln, wie er einsieht, daß zu handeln gut ist. Das also ist Tugendhat: Der Grund eines praktischen Urteils ist allgemein, aber er bewegt nicht. Ein Motiv ist partikular, aber es bewegt. Was allgemein ist, bewegt nicht; nur was partikular ist, bewegt. Da die Vernunft das Vermögen allgemeiner Vorstellungen ist, das Vermögen zu Vorstellungen, die ein Bewußtsein ihrer Allgemeinheit enthalten, kann man das auch so ausdrücken: Die Vernunft bewegt nicht. Die Vernunft ist kein Quelle von Motiven. Es gibt keine Motive der Vernunft. Da wir einsehen, daß soundso zu handeln gut ist, haben wir kein Motiv, so zu handeln. Wir brauchen ein Motiv, so zu handeln, wie zu handeln gut ist, ein Motiv, das so 3

Vgl. Ebd., 88 ff.

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Kolloquium 12 · Sebastian Rödl

zu handeln – im allgemeinen oder im besonderen – mit unseren Wünschen und Interessen verknüpft. Tugendhat meint, daß die meisten ein Motiv haben, so zu handeln, wie zu handeln gut ist. Aber das Motiv ist nicht der Grund. Das Motiv ist nicht das, was zeigt, daß so zu handeln gut ist. Was das zeigt, ist so allgemein wie das Urteil, das es ausweist; was mir zeigt, daß so zu handeln gut ist, zeigt es jedem. Das Motiv dagegen, das uns bestimmt, so zu handeln, wie zu handeln gut ist, ist nach Tugendhat unser Wunsch, von anderen geliebt und bejaht zu werden. Dieser Wunsch ist allgemein, glaubt Tugendhat; Menschen wünschen sich das im allgemeinen.4 Wie wir besprochen haben, ist aber das Bewußtsein dieser Allgemeinheit dem Wunsch nicht intern. Es ist ein Gedanke zweiter Ordnung über diesen Wunsch. Das also ist Tugendhat: Wir sind, was die Quelle unseres Handeln angeht, mit uns allein. In dieser Quelle gibt es keine Gemeinschaft der Menschen; ein Zusammenhang ihres Handelns kann sich niemals aus einer gemeinsamen Quelle des Handelns speisen; ein Zusammenhang ihres Handelns bleibt im Licht der Quelle eben dieses Handelns stets zufällig. Doch haben wir ein Motiv, so zu handeln, wie wir handeln würden, wenn praktische Urteile uns bewegen könnten. Das Motiv liegt darin, daß wir uns sehnen, geliebt und geschätzt zu werden, und damit man uns liebt und schätzt, handeln wir so. Das ist der Mensch: radikale Einsamkeit und tiefes Bedürfnis nach Liebe. Das Allgemeine bewegt nicht. Wenn wir über diese Aussage nachdenken wollen, hilft uns Tugendhat nicht. Tugendhat haut sie einfach hin; er überlegt nicht, wie man daran gehen könnte, sie auszuweisen. Darüber hinaus scheint er selbst nicht recht an sie zu glauben; jedenfalls gewinnt man diesen Eindruck aus den beständig wiederholten, beschwörenden Formulierungen, mit denen er sich selbst zu ihr überreden zu wollen scheint.5

Das heißt, nicht ausnahmslos. Tugendhat bemerkt wiederholt, daß er nicht versteht, wie das Allgemeine zum Handeln bestimmen kann. Daraus aber, daß ich nicht verstehe, wie X möglich ist, folgt nicht, daß X nicht wirklich ist. Und das scheint Tugendhat zu wissen, was eine irritierende sprachliche Angespanntheit vieler einschlägiger Passagen erklärt. Auf S. 44 etwa heißt es: »Hier muß man mit Hume annehmen, daß unsere Ziele immer schon – von unserer Affektivität, von unseren Gefühlen – vorgegeben sind.« Tugendhat sagt nicht: Unsere Ziele sind von unseren Gefühlen vorgegeben. Sondern: das muß man annehmen. Es ist eine Annahme, keine Erkenntnis. Und man muß sie machen. Warum? Weil »nicht zu sehen [ist], wie ein Handeln überhaupt absolut begründet werden könne, d. h. nicht nur relativ zu etwas anderem.« (Ebd., 51) Tugendhat scheint zu empfinden, daß mir dies, daß ich etwas nicht sehe, keine Erkenntnis verschaffen kann. Doch soll es eine Annahme notwendig machen. Welche Notwendigkeit ist das? Weshalb sollte man in der Philosophie, zumal in der Moralphilosophie, Annahmen machen? Das ist dem Streben nach Erkenntnis, zumal in dieser Sache, ganz unangemessen. Hier geht es doch um alles. Was soll ich da mit einer Annahme? An einer späteren Stelle scheint Tugendhat sich sicherer; auf S. 62 erscheint das empiristische Dogma als Satz der Logik: »Was man hier vor allem einsehen muß, ist, daß ein absolutes »ich muß«, das nicht von einem wie immer impliziten »ich will« abgestützt ist, logisch gesehen ein Unding ist.« Aber wieder ist die Formulierung merkwürdig. Weshalb sagt Tugendhat, es sei »logisch gesehen« ein Unding? Kann man es anders sehen? Warum ist es nicht schlicht ein Unding, welche Tatsache die Logik ans Licht bringt? Weiter tritt wieder der rätselhafte Imperativ auf: Man muß das einsehen. Müßte man, wenn die Idee eines Urteils, das als Urteil zum Handeln bestimmt, logisch widersprüchlich wäre, zu dieser Einsicht wie ein gestrenger Vater mahnen? 4 5

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Tugendhat legt seinen Vorlesungen eine Auffassung davon zugrunde, was ein Beweggrund des Handelns sein kann, einer, der erklärt, warum jemand handelt, wie er handelt: Der Beweggrund liegt in der Dienlichkeit des Handelns für das je eigene Wohlergehen. Zugleich bestimmt Tugendhat die Moral durch die Idee des praktischen Urteils und behauptet, der Grund eines solchen Urteils könne niemals als solches ein Motiv sein, ihm gemäß zu handeln. Jahre bevor Tugendhat seine Vorlesungen hält, formulieren Nagel und Korsgaard, anschließend an Kant, in damals schon klassischen Texten den entgegengesetzten Gedanken: Da der Grund eines praktischen Urteils als solcher ein Motiv ist, erkennen wir, was uns zum Handeln bewegen kann, und erkennen also unsere eigene Natur und die unseres Handlungsvermögens, indem wir darüber nachdenken, was ein möglicher Grund zu handeln ist.6 Wenn es begründete praktische Urteile gibt, wie Tugendhat annimmt, dann, das ist Nagels und Korsgaards Gedanke, gibt es Motive, die der Vernunft entspringen. Wenn es ein begründetes praktisches Urteil gibt, ist das Allgemeine an sich selbst fähig, zum Handeln zu bewegen. Ich will diesen Gedanken – Kants, Nagels, Korsgaards – erneut aufnehmen, indem ich überlege, was praktisches Schließen ist. Denn offenbar ist das, worin ein praktischen Schließen mündet, begründet. Sein Grund aber, werden wir sehen, ist als solches ein Motiv. Tugendhat meint, daß es Motive zu handeln gibt und daß diese die Frage »Was soll ich tun?« beantworten, wenn ihr Bezugspunkt das je eigene Wohlergehen ist. Ein Motiv, da es als Antwort auf diese Frage bewegt, bewegt in charakteristischer Weise, nämlich so, daß der, der handelt, weiß, daß er so handelt und warum. Ein Motiv bewegt so, daß der, der handelt, es als das, was ihn zum Handeln bewegt, kennt. Das bedeutet, daß ein Motiv als solches im praktischen Schließen auftritt. Nehmen wir einen einfachen Fall: Ich will B tun. A tun ist ein Weg. Ich tue A. Mein Motiv ist, daß ich B tun will. Wenn ich A tue, da ich wie beschrieben schließe, weiß ich, daß ich A tue und daß ich das tue, um B zu tun. Ich weiß also, was ich tue, und weiß, aus welchem Motiv, indem mein Handeln einem praktischen Schließen entspringt, dessen erste Prämisse das Motiv spezifiziert. Ich sagte, daß das Handeln dem Schließen entspringt. In jedem Fall wird das Schließen in einer Vorstellung des Handelns münden, die wir sprachlich verschieden wiedergeben können, »Ich will A tun«, »Ich sollte A tun«,»Ich tue A«. Das ist ein Bejahen der Handlung. Das Schließen also mündet in einem Bejahen der Handlung. Ich sagte aber, daß dem Schließen ein Handeln entspringt. Und das ist auch richtig. Denn das Bejahen

6 Thomas Nagel: The Possibility of Altruism, Princeton 1970. Christine Korsgaard: Skepticism about Practical Reason, in: The Journal of Philosophy 83 (1986), 5–25. Tugendhats Literaturverzeichnis nennt weder Nagel noch Korsgaard. Tugendhat urteilt streng über die »zeitgenössische Ethik« und ihre Mängel. Ausweislich des Literaturverzeichnisses kennt er die zum Zeitpunkt seiner Vorlesungen zeitgenössische Ethik kaum.

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der Handlung, in das ein praktisches Schließen mündet, und die bejahte Handlung sind ein Akt. Es würde uns zu weit führen, das positiv zu entwickeln.7 Wir sehen negativ, daß wir, wenn wir annähmen, die Handlung sei von ihrem Bejahen unterschieden, die gegebene formale Bestimmung eines Motivs verlören. Wenn das Bejahen der Handlung von der Handlung verschieden wäre, könnte deren Zusammenhang nurmehr ein Gegenstand empirischer Erkenntnis sein: Wir stießen durch wiederholte Erfahrung darauf, daß bestimmte Vorstellungen dazu neigen, Vorgänge zu verursachen, die von eben diesen Vorstellungen vorgestellt werden. Das läßt sich auf vielerlei Weise ad absurdum führen. Wir bemerken hier nur, daß in diesem Fall nicht gälte, daß ich, indem ich aus einem Motiv handle, weiß, was ich tue und aus welchem Motiv. Denn dieses Wissen wäre eben nicht schon damit gegeben, daß ich aus diesem Motiv handle, sondern erst durch eine zusätzliche empirische Erkenntnis der Kausalität dieses Motivs. Indem also ein praktisches Schließen so in das Bejahen eines Handelns mündet, daß dieses Bejahen nichts anderes ist als die bejahte Handlung, gibt die erste Prämisse eines praktischen Schließens, auf die es die bejahte Handlung bezieht, als solche ein Motiv, so zu handeln. Das macht es zu einem praktischen Schließen. Die Konklusion eines praktischen Schließens läßt sich verschieden ausdrücken: »Ich will A tun«, »Ich sollte A tun«,»Ich tue A«. Diese Vorstellung ist zweifach partikular, in Subjekt und Prädikation. Wenn wir die Prädikation verallgemeinern, stellen wir kein Handeln hier und jetzt vor, sondern allgemein eine Weise zu handeln. Die Prädikation ist dann habituell. Ein Beispiel: »Ich will tun, was ich verspreche«, »Ich tue, was ich verspreche«, »Ich muß tun, was ich verspreche«. Wenn wir weiter das Subjekt verallgemeinern, bezieht sich die Vorstellung nicht auf mich unterschieden von anderen, sondern auf jeden, und zwar in der ersten Person, im Deutschen durch »man« ausgedrückt: »Man tut, was man verspricht«. Es ist klar, daß jeder, der der fraglichen zweifach partikularen Vorstellung fähig ist, eben damit der entsprechenden allgemeinen Vorstellung fähig ist. Wir sind von einem Schließen ausgegangen, das das Handeln, das es bejaht, in einem Motiv verankert. Dann haben wir eine Vorstellung bestimmt, die die Konklusion eines solchen Schließens in Subjekt wie Prädikation verallgemeinert. Eine solche allgemeine Vorstellung ist ihrer logischen Form nach fähig, als erste Prämisse im praktischen Schließen aufzutreten. Es gibt also ein praktisches Schließen, dessen erste Prämisse nicht ist »Ich will dies und das tun«, sondern »Man handelt soundso«. Ein Beispiel: Man tut, was man versprochen hat. Ich habe Florian versprochen, ihm beim Umzug zu helfen. Ich helfe ihm beim Umzug. Die erste Prämisse hier ist, was Kant ein praktisches Gesetz und Tugendhat ein moralisches Urteil nennt: Sie enthält ein Bewußtsein ihrer allgemeinen Verbindlichkeit. (Unser Gegenstand ist nicht der Inhalt moralischer Urteile. Tugendhat glaubt, ihren wahren Inhalt zu kennen, aber über diese Seite seiner Auffassungen spreche ich nicht.) Ein prak7

Vgl. mein Self-Consciousness, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2007, chapter 2.

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tisches Schließen der beschriebenen Form verankert also ein Handeln in einem praktischen Urteil. Und da das, worin ein praktisches Schließen ein Handeln verankert, als solches ein Motiv ist, ist ein praktisches Urteil, wenn es als erste Prämisse eines praktischen Schließens auftritt, ein Motiv. Nun erklärt Tugendhat, das, wodurch man einsieht, daß soundso zu handeln gut ist, sei nicht das, was einen bewegt, so zu handeln. Damit legt er fest, daß das praktische Urteil nicht als erste Prämisse eines praktischen Schließens auftreten kann. Diese Behauptung Tugendhats, für die er nichts anführt, wird einerseits, ich wage es zu sagen, jeden Tag tausendfach durch die Tat widerlegt, andererseits widerlegt sie sich selbst. Das sehen wir, wenn wir fragen, wie das praktische Urteil im praktischen Schließen auftritt, wenn nicht als erste Prämisse. Die letzte erste Prämisse jedes praktischen Schließens – eines Schließens, das das in ihm bejahte Handeln in einem Motiv verankert – ist nach Tugendhat der Wunsch nach dem je eigenen Wohlergehen. Wenn es sich so verhält, kann das praktische Urteil nurmehr im Inhalt der zweiten Prämisse auftreten. Diese zweite Prämisse sagt allgemein, daß soundso zu handeln meinem Wohlergehen dient; sie kann spezifisch sagen, daß es meinem Wohlergehen dient, so zu handeln, wie es das praktische Urteil vorstellt. So kann ich denken: Es dient meinem Wohlergehen zu tun, was ich Juri versprochen habe, weil ich so sein Vertrauen erlange, was es mir ermöglicht, ihn später umso gründlicher über’s Ohr zu hauen. Das praktische Urteil tritt hier nicht als erste Prämisse auf, sondern, gleichsam zitiert, in der zweiten Prämisse, indem ich sehe, daß dem Urteil gemäß zu handeln einem Zweck dient, im gegebenen Fall dem, Juri über’s Ohr zu hauen. Hier gibt nicht das praktische Urteil das Motiv, sondern dieser Zweck; das Handeln in Übereinstimmung mit dem Urteil ist ein Mittel zu diesem Zweck. Im Beispiel ist der Zweck ein übler. Die Form des Überlegens ändert sich nicht, wenn der Zweck freundlicher ist, wenn ich etwa allgemein entscheide, so handeln zu wollen, wie zu handeln gut ist, weil ich denke, daß ich dann geliebt werde, was ich mir wünsche. So verhält es sich nach Tugendhat. Wenn ich so handle, wie zu handeln gut ist, ist mein Motiv nicht, daß so zu handeln gut ist, sondern mein Motiv ist mein Wunsch, geliebt zu werden, bejaht zu werden, dazuzugehören. Am Grunde des Handelns, soweit es mit dem praktischen Urteil übereinstimmt, liegt der Schluß: Ich will geliebt werden. Ich kann das erreichen, indem ich so handle, wie zu handeln gut ist. ∴Ich handle, wie zu handeln gut ist. Es stimmt, daß praktische Urteile so im praktischen Schließen auftreten können. Es ist aber unmöglich, daß sie nur so auftreten. Praktische Urteile sind nur möglich, wenn sie als erste Prämisse auftreten und also unmittelbar willensbestimmend sind. Ihr zitiertes Auftreten in der zweiten Prämisse – eben weil es ein zitiertes ist – setzt das voraus. Das sieht man an den Beispielen: Ich kann Juris Vertrauen nur erwecken, indem ich ihm vorspiegele, daß mich das praktische Urteil als erste Prämisse bestimmt, und also ist vorausgesetzt, daß das möglich ist. Im zweiten Beispiel erwarte ich, geliebt zu werden, weil und insofern man denkt, daß ich so handle, wie ich es tue, weil ich einsehe, daß so

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Kolloquium 12 · Sebastian Rödl

zu handeln gut ist. Wenn man dagegen denkt, daß ich kalkuliere, daß mir so zu handeln Liebe eintragen wird, wird man mich vielleicht bemitleiden, vielleicht sogar lieben, letzteres aber nicht deswegen, weil mich das bezeichnete Motiv bestimmt. Das ist der Widerspruch: Wenn es nicht möglich ist, daß das praktische Urteil den Willen unmittelbar bestimmt und also ein Motiv ist, ist es nicht möglich, daß es den Willen abgeleitet bestimmt, so nämlich, daß ihm gemäß zu handeln ein Mittel zu einem weiteren Zweck ist, und sei es der verzweifelte Zweck, geliebt und bejaht werden zu wollen. Wir können dabei festhalten, daß das Bedürfnis, bejaht zu werden, im Menschen grundlegend ist. Dieses Bedürfnis ruht auf dem Grund des und hat einen inneren Bezug zum geteilten praktischen Urteil, einem Urteil, das an sich selbst zum Handeln bestimmt. Wenn man aber das Bedürfnis nach Liebe zur Quelle der Wirksamkeit des praktischen Urteils erklärt, tritt das Bedürfnis, bejaht zu werden, an die Stelle der Einsicht in das, was zu bejahen ist. Dann erscheint das Bedürfnis nach Liebe als bedrückendes Leiden, als unerfüllbare Sehnsucht nach einem Zusammenhang der Menschen, dessen Möglichkeit zugleich verneint wird. Das erklärt den zerquälten Ton der Vorlesungen über Ethik. Es ist vielleicht in jedem gegebenen Fall unmöglich zu entscheiden, ob mein Herz rein ist, ob ich also umwillen des Guten handle oder aus einem anderen Motiv, zu dem das gute Handeln nur ein Mittel ist. Vielleicht ist es so, daß alle nur gut handeln, weil sie kalkulieren, daß sie daraufhin geliebt werden. Das ist nicht nur vereinbar damit, sondern setzt voraus, daß es möglich ist, daß das Urteil selbst zum Handeln bestimmt und also, indem es Grund ist, ebensosehr Motiv ist. Wir müssen uns diese Tatsache des menschlichen Lebens nicht wegerklären: Ein Mensch kann durch das Allgemeine, durch die Vernunft, zum Handeln bewegt werden. Das letzte Motiv des Menschen ist die Vernunft. Wir können daran, und das heißt an uns selbst, festhalten.

Grundbedürfnisse als Handlungsgründe Alessandro Pinzani

Der vorliegende Text stellt einige Grundüberlegungen vor, die sich im Rahmen einer umfassenderen Theorie der sozialen Gerechtigkeit verorten lassen. Diese Theorie setzt den Begriff Bedürfnis in ihr Zentrum. Dies ist ein ziemlich riskantes Unterfangen, da dieser Begriff relativ vage und sehr umstritten ist. Der Grund, warum ich trotzdem auf ihn zurückgreife, ist, dass er ermöglichen könnte, aus einem Engpass herauszufinden, in den sich einige der herkömmlichen Theorien hineinmanövriert haben. Während Theorien, die sich wie diejenigen Rawls’ und Dworkins auf die Verteilung von Gütern und Ressourcen konzentrieren, wichtige Aspekte vernachlässigen, die ihrerseits zum Gegenstand einer Gerechtigkeitstheorie werden sollten (wie aus unterschiedlichen Perspektiven Amartya Sen und Axel Honneth unter anderen überzeugend dargelegt haben), stoßen Theorien, welche die Ungerechtigkeitserfahrung der Individuen in ihr Zentrum rücken oder als Ausgangspunkt nehmen, bald an ihre Grenzen. Dies geschieht aus zweierlei Gründen: zum einen besteht die Gefahr einer Psychologisierung, die letztlich die Diagnose über eine ungerechte Situation vom subjektiven Empfinden der angeblichen Opfer abhängig macht; zum anderen sind die Opfer tief verwurzelter struktureller Ungerechtigkeit eben aufgrund ihrer Lage meistens nicht imstande, diese objektiv zu beurteilen. Eine auf den Bedürfnisbegriff aufbauende Theorie könnte die Perspektiven dieser beiden Theoriengruppen dadurch vereinigen, dass sie einerseits auf die Verteilung der Mittel eingeht, die für die Befriedigung von objektiv feststellbaren Bedürfnissen notwendig sind, und andererseits für den nicht abgeschlossenen Charakter der Definition solcher Bedürfnisse empfänglich ist. Ich werde in diesem Kontext eine solche Strategie skizzieren und sie dabei unter dem Gesichtspunkt einer Handlungstheorie betrachten. Die zentrale Frage meines Vorhabens lautet daher: Wie sind menschliche Bedürfnisse aus einer solchen Perspektive zu betrachten? Wir befinden uns somit noch nicht auf einer strikt normativen Ebene, z. B. auf der Ebene einer Moral- oder einer Gerechtigkeitstheorie, obwohl der Übergang zu dieser Ebene von mir angestrebt und hier auch angedeutet wird.

I. Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen. Es scheint jedoch, dass die politische Philosophie der Gegenwart damit nichts anzufangen weiß oder nicht gewillt ist, sich mit diesem Umstand zu beschäftigen. Im Gegenteil: Fast jede Theorie sozialer Gerechtigkeit vermeidet den Begriff von Bedürfnis sorgfältig und fokussiert vielmehr Begriffe wie primäre Gü-

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Kolloquium 12 · Alessandro Pinzani

ter (Rawls), capabilities (Sen und Nussbaum), Ressourcen (Dworkin) usw. Es gibt m. E. zwei Gründe für diese Unwilligkeit, und ich werde versuchen, beide zu widerlegen, um die Zentralität des Begriffs Bedürfnis für eine Theorie der sozialen Gerechtigkeit hervorzuheben. Der erste Grund bezieht sich auf die Gefahr, einem naturalistischen Fehlschluss zu unterliegen: Aus der Tatsache, dass wir Grundbedürfnisse haben, dürfe keine normative Aussage über die Befriedigung solcher Bedürfnisse abgeleitet werden. Wir dürften z. B. eventuelle Rechte auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen nur mit Bezug auf Begriffe rechtfertigen, die nicht unmittelbar mit den Bedürfnissen selbst zu tun haben – auf Begriffe wie Menschenwürde usw. Dies ist ein relevanter Einwand. Um ihn zu entkräften, muss eine Doppelstrategie befolgt werden. Im ersten Schritt muss geklärt werden, in welcher Hinsicht Bedürfnisse zum Gegenstand einer Theorie sozialer Gerechtigkeit werden müssen. Gerechtigkeit und Bedürfnisbefriedigung korrelieren zwar, aber nicht unmittelbar: eine Gesellschaft ist nicht deswegen ungerecht, weil sie nur einige Bedürfnisse befriedigt und andere unbefriedigt lässt. Außerdem braucht eine Aussage über eine solche Korrelation nicht normativ zu sein, wie etwa: »Da die Menschen Bedürfnisse haben, sollen diese von einer gerechten Gesellschaft befriedigt werden«; sondern sie kann bloß deskriptiv benutzt werden, wie z. B.: »Die Menschen haben Bedürfnisse, deren Befriedigung als Maßstab für die Gerechtigkeit einer Gesellschaft benutzt werden kann« (nicht: »werden sollte«). Insofern kann beim Hinweis auf die erwähnte Korrelation von einem naturalistischen Fehlschluss nicht die Rede sein. Der zweite Schritt besteht darin zu zeigen, dass der Existenzgrund der Gesellschaft eben darin besteht, Bedürfnisse zu befriedigen. Ihr Hauptziel ist nicht, Rechte zu gewährleisten, oder Werte zu realisieren, oder Güter und Ressourcen zu verteilen. All dies sind bloße Mittel zur Erfüllung des fundamentalsten Ziels: der Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Dass die meisten Theorien eher die Mittel als das Ziel fokussieren, mag irritieren. Der Grund dafür ist wahrscheinlich in der dominierenden Idee zu suchen, wonach die Gesellschaft dazu da ist, ihren Mitgliedern bei der Realisierung derer individuell definierten Ziele zu helfen. M. a. W.: Die Individuen entwerfen Lebenspläne, und die Gesellschaft hilft ihnen, diese Pläne durchzusetzen. Dies lässt jedoch die Frage unbeantwortet, auf welcher Basis die Individuen ihre Lebenspläne entwickeln: auch wenn man meint, sie tun dies aufgrund von Präferenzen, Wünschen, Begierden, Werten usw., können all diese letztlich auf Bedürfnisse zurückgeführt werden. Die meisten Gerechtigkeitstheorien erkennen zwar an, dass bestimmte Grundbedürfnisse wie Nahrung, Gesundheit usw. wichtig sind, vernachlässigen jedoch tendenziell oder bestreiten sogar offensichtlich, dass Bedürfnisse allgemein eine zentrale Rolle bei der Formulierung von Lebensplänen spielen. Genau dies werde ich versuchen zu widerlegen. Da die Bedürfnisse die Basis darstellen, auf der die Individuen ihre eigenen Lebenspläne und -ziele entwickeln und die entsprechenden Mittel (unter die individuelle Rechte, soziale Güter usw. fallen) schaffen, bezieht sich jede Theorie sozialer Gerechtigkeit und allgemeiner jede normative Gesellschaftstheorie mittelbar auf sie. Bedürfnisse werden daher von jeder solchen Theorie immer vorausge-

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setzt.1 Sollte nun eine bedürfniszentrierte Theorie, wie ich sie vorschlage, einen naturalistischen Fehlschluss begehen, dann würde auch jede andere normative Sozialtheorie bzw. Theorie sozialer Gerechtigkeit dasselbe tun. Der zweite Grund für die Unwilligkeit, den Begriff Bedürfnis zu benutzen, bezieht sich auf dessen epistemischen oder gar ontologischen Status. Es wird bestritten, dass es so etwas wie allgemeine menschliche Bedürfnisse überhaupt gebe. Kulturrelativisten behaupten z. B., es gäbe keine Bedürfnisse, die von allen Menschen geteilt werden, sondern nur kulturell definierte Bedürfnisse. Ein japanischer Professor, der für das »Human and Social Development Program« der United Nations University verantwortlich war, bemerkte einmal, dass es auf Japanisch kein Wort für »Bedürfnis« und »innerhalb der japanischen Gesellschaft und Kultur keinen Begriff von Bedürfnissen im ›objektiven‹ Sinn gibt.«2 Wie würde er dann die Lage einer japanischen obdachlosen Frau beschreiben, die im Schnee friert und verhungert? Würde er sagen, dass sie sich Nahrung und Obdach bloß wünscht? Dass sie diese begehrt? Dass sie diese einfach will? Nun, natürlich tut sie das. Aber wir würden eher sagen, dass sie Nahrung und Obdach wünscht, begehrt und will, weil sie derer bedarf. Ansonsten würden wir meinen, dass die Tatsache, dass sie sich nach Nahrung und Obdach sehnt, der bloße Ausdruck ihrer subjektiven Willkür ist, dem keine wirkliche Notwendigkeit entspricht. Dies würde bedeuten, dass sie zwar um Nahrung und Obdach bittet, aber auch ohne sie leben könnte. Dagegen neigen wir eher zu der Behauptung, dass ihre Bitte Ausdruck objektiver Bedürfnisse, nicht subjektiver Willkür ist. Dies zwingt uns aber dazu, den Begriff von Bedürfnis zu klären. II. Das Wort wird oft als Synonym von »Wunsch«, d. h. von »subjektiver Präferenz« oder aber von »Trieb« angesehen. Wir sollten daher diese zwei möglichen Bedeutungen betrachten und zunächst klären, was Bedürfnisse nicht sind. Dieser Versuch, den Begriff »Bedürfnis« im objektiven Sinne zu definieren geht zum Teil gegen den alltäglichen Sprachgebrauch, der eben zwischen objektiv feststellbaren Bedürfnissen einerseits und subjektiv empfundenen Mängeln, Wünschen oder Trieben andererseits kaum unterscheidet. Daher ist es wichtig, den Bedürfnisbegriff von diesen angeblichen Synonymen zu distanzieren, die allesamt Bedürfnisse auf subjektive Präferenzen reduzieren. Die Vorstellung, ein Bedürfnis sei nichts als eine subjektive Präferenz, ist typisch für eine orthodoxe ökonomische Perspektive. Aus dieser Perspektive koennen einzig die Individuen selbst ihre korrekten »Interessen oder – strikter genommen – ihre Wünsche«

Ähnlich Scanlon: »Criteria of relative well-being […] will have a central place in any moral theory that does not start with a system of rights taken as standing in need of no defense. […] Moral and political theories are often not very explicit about the criteria of well-being that they invoke« (Timothy M. Scanlon: Preference and Urgency, in: The Journal of Philosophy, 72/19 (1975), 655 f.). 2 Zitiert von K. Lederer in ihrer »Introduction« zu Human Needs. A Contribution to the Current Debate, ed. by Katrin Lederer, Cambridge (MA) und Koenigstein a. T. 1980, 7 f. 1

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bestimmen.3 Dies ist ziemlich fragwürdig. Die Vorstellung, Individuen beurteilen am besten selbst über die eigenen Bedürfnisse, wird vom Umstand in Frage gestellt, dass wir als Individuen in unseren Kenntnissen und Rationalität beschränkt sind. Es ist eine Tatsache, dass die Menschen manchmal nicht wissen, was sie brauchen. Es kann sein, dass sie nicht über die relevanten Informationen verfügen, wie im Falle eines Diabetikers, der von seinem Zustand noch nichts weiß und bei einem Schwächeanfall meint, er bräuchte Zucker, während er in der Tat Insulin braucht. Oder es kann sein, dass sie nicht über genügend Willenskraft verfügen, wie im Falle eines Abhängigen, der ganz genau weiß, dass er auf seine Droge verzichten muss, jedoch nicht imstande dazu ist. Oder es kann sein, dass sie die falsche Lösung für ihr Problem identifiziert haben, wie im Fall eines Menschen, der ein gesundheitliches Problem hat und Weihwasser trinkt, anstatt einen Arzt aufzusuchen. Außerdem kann unsere Lage uns verleiten, Sachen zu wünschen, die einfach in Reichweite liegen, anstatt von Sachen, derer wir wirklich bedürfen, die zu erreichen wir aber nicht imstande sind. Arme Menschen neigen z. B. dazu, die Palette ihrer Wünsche und Interessen zu reduzieren, da sie wissen, dass ihre Möglichkeiten durch ihre Situation (sprich: durch ihre Armut) stark eingeschränkt werden.4 M. a. W.: Die Art und Weise, wie Individuen ihre eigene Bedürfnisse definieren, ist durch ihren subjektiven Zustand bestimmt; man kann sie daher nicht als objektive Feststellung bezüglich ihrer wirklichen Bedürfnisse betrachten. Eine Theorie menschlicher Bedürfnisse sollte daher auf die Perspektive der ersten Person verzichten, die viele Moral- und Handlungstheorien charakterisiert, und die Perspektive der dritten Person (sprich: eines unparteiischen Beobachters) einnehmen, aus der sich Bedürfnisse unabhängig von individuellen Vorstellungen beschreiben lassen. Sie sollte außerdem zwar die Unterschiede unter den Menschen in Betracht ziehen, damit aber nicht die Unterschiede meinen, die aufgrund der jeweiligen individuellen Persönlichkeit entstehen, sondern diejenigen, die von ihrer jeweiligen sozialen Lage und Fähigkeit zu wissen und zu wünschen, was für sie wirklich notwendig ist, abhängen. Man darf diese Aspekte nicht im Namen eines bloß formalen Vorrangs des Gerechten vor dem Guten unberücksichtigt lassen. Es liegt nichts Gerechtes darin, dass Individuen aus Ignoranz, Täuschung oder Mangel an korrekten Informationen eine Entscheidung treffen, die gegen ihr Wohl geht. Gerechtigkeit fordert vielmehr, dass sie gut informierte Entscheidungen treffen können, und dass daher die Hindernisse zur Erreichung der dazu notwendigen epistemischen Kompetenz beseitigt werden (durch Erziehung, Aufklärungsarbeit usw.). Die Alternative zur Definition der Bedürfnisse als subjektive Präferenzen wäre, sie als natürliche, unwiderstehliche Kräfte zu betrachten – als Triebe oder als Dränge, welche die Individuen dazu zwingen, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, um ihre Befriedigung zu erreichen. Beschreibt man Bedürfnisse auf solch eine naturalistische,

3 Len Doyal and Ian Gough: A Theory of Human Need, London 1991, 10. Vgl. auch Della Nevitt: Demand and Need, in: Foundations of Social Administration, ed. by Helmuth Heisler, London 1977. 4 Siehe dazu: Amartya Sen: Well-being, Agency, and Freedom. The Dewey Lectures 1984, in: Journal of Philosophy. 82 (1985), 191. Siehe auch: Amartya Sen: Commodities and Capabilities, Amsterdam 1985, 20.

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fast physiologische Weise, so scheint es, dass die Gefahr des Subjektivismus vermieden werden kann. Triebe oder Dränge entsprechen jedoch nicht immer wahren Bedürfnissen. Man kann Trieben bzw. Drängen unterworfen sein, die einem schaden und sich daher gegen die eigenen Bedürfnisse richten, wie z. B. im Fall einer fettleibigen Person, die den Drang fühlt, immer mehr zu essen, obwohl sie eigentlich eine Diät bräuchte, um die eigene Gesundheit nicht zu gefährden. Hiermit wird aber nicht nur behauptet, dass sich Bedürfnisse von Präferenzen (bzw. Wünschen) und von Trieben (bzw. Drängen) unterscheiden; es wird außerdem bestritten, dass Bedürfnisse überhaupt subjektiven Charakter besitzen. Sie sind m.a.W. Ausdruck objektiver Notwendigkeit und hängen in ihrer Existenz mitnichten von den spezifischen Merkmalen einzelner Individuen ab, obwohl sie mit der besonderen Beschaffenheit des jeweiligen Individuums zusammenhängen. Es wurde einmal bemerkt, dass »jeder Mensch in gewisser Hinsicht (a) wie jeder andere Mensch, (b) wie manch andere Menschen und (c) wie kein anderer Mensch ist.«5 Ein Mensch ist wie alle anderen mindestens in Bezug auf seine biologischen Eigenschaften, er ist wie manch andere, wenn er mit ihnen bestimmte Merkmale teilt (z. B. wenn sie alle derselben, wie auch immer definierten Gruppe angehören); er ist wie kein anderer Mensch, weil er über eine einzigartige Biographie und über persönliche Erlebnisse verfügt, die ihm und nur ihm eigen sind. Man müsste dann behaupten, er habe Bedürfnisse in dreierlei Hinsicht: als Mensch allgemein, als Gruppenmitglied und als Individuum. Dies hängt jedoch davon ab, wie man das Wort »Individuum« in diesem Kontext versteht. Wenn wir sagen, dass ein Mensch wie kein anderer ist, so beziehen wir uns weder auf seine Bedürfnisse, noch auf seine physiologischen und psychologischen Merkmale einzeln betrachtet, sondern auf den Umstand, dass diese Bedürfnisse und Merkmale bei ihm auf einzigartige Weise kombiniert sind, und dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie auf genau dieselbe Weise bei einem anderen Menschen vorkommen, extrem gering oder gar null ist (dies hängt davon ab, inwieweit man die Bildung unserer Persönlichkeit der Umwelt und nicht bloß den Genen zuschreibt). Die Tatsache, dass in dieser Hinsicht jeder Mensch wie kein anderer zu sein scheint, impliziert nicht, dass er Bedürfnisse hat, die kein anderer Mensch haben kann. Leidet er z. B. unter Depression oder Diabetes so werden seine Bedürfnisse mehr oder weniger die gleichen (wenn auch nicht dieselben) wie jedes anderen depressiven bzw. diabetischen Menschen sein, unabhängig von der jeweiligen Biographie. In dem Sinne hat ein Individuum Bedürfnisse nur als Mensch allgemein (a) oder als Mitglied einer Gruppe (b), egal wie die Gruppe definiert wird. Aus dem Gesagten folgt, dass die fehlende Befriedigung eines Bedürfnisses nicht bloß ein subjektives Leiden, sondern einen objektiv feststellbaren Schaden verursacht. Um ein sehr konkretes Beispiel zu machen, sind die Effekte von kindlicher Unterernährung auf die physische und intellektuelle Entwicklung objektiv feststellbar und zum Teil sogar messbar, während die Frustration, die aus dem Entzug irgendeiner Lieblingsspeise entsteht, zwar, wenn sie zur Schau getragen wird, feststellbar aber nicht genau fassbar ist. Personality in Nature, Society, and Culture, ed. by C. Kluckhohn, H. Murray und D. M. Schneider, New York 1953, 53. 5

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III. Bisher haben wir lediglich behauptet, dass (1) Bedürfnisse keine Wünsche, Präferenzen oder Triebe sind, und dass (2) Bedürfnisse einen objektiven Charakter haben, auch wenn sie mit den einzigartigen biographischen Erlebnissen eines Individuums zusammenhängen. Aber wir haben noch keine positive Definition von Bedürfnis angeboten. Werfen wir einen genaueren Blick auf die Struktur des Bedürfnisses, so können wir feststellen, dass man es nicht nur mit einem Mangel zu tun hat, der gestillt werden muss, sondern auch mit einem oder mehreren Mitteln dazu, dem bzw. den satisfier(s). Der erste zu klärende Punkt ist dabei die Frage, ob ein Bedürfnis ein Mittel oder ein Zweck ist. Worauf beziehen wir uns, wenn wir sagen, dass Menschen das Bedürfnis nach Nahrung haben: auf den endgültigen Zustand des Ernährt-Seins oder auf die Mittel dazu (d. h. auf die Nahrungsmittel selbst bzw. auf die Möglichkeit, diese zu bekommen)?6 Dies mag irrelevant scheinen, da wir Nahrungsmittel brauchen, um uns zu ernähren, und uns umgekehrt nur ernähren können, indem wir solche Mittel bekommen. Aber die Tatsache, dass eine praktische Beziehung zwischen beiden Momenten besteht, macht aus ihnen nicht ein und dasselbe – weder von einem logischen, noch von einem praktischen Standpunkt aus. Hier haben wir es noch einmal mit einem Problem zu tun, das aus dem alltäglichen Sprachgebrauch entsteht: man sagt z. B., dass essen ein Grundbedürfnis ist; gemeint wird aber die Herstellung eines Zustandes des Ernährt-Seins, der seinerseits durch essen erreicht wird. Dies bedeutet allerdings auch, dass essen ein notwendig anzustrebendes Mittel der Ernährung ist. In dieser Hinsicht ist es nicht verkehrt von einem Bedürfnis nach essen bzw. nach Essmitteln zu sprechen, obwohl man damit eigentlich das Bedürfnis nach dem Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses bezeichnet. Das Bedürfnis nach etwas ist immer implizit ein Bedürfnis nach den Mitteln dazu, die ihrerseits das Vorhandensein von weiteren Mitteln, von Mitteln zweiter Ordnung voraussetzen können. Zum Beispiel ist das Bedürfnis nach Ernährung implizit das Bedürfnis nach Nahrungsmitteln und eventuell nach den finanziellen Mitteln, um letztere zu kaufen, oder nach den Mitteln, die mit deren direkter Herstellung verbunden sind (in diesem Fall mit der Bearbeitung des Bodens oder der Haltung von Tieren oder dem Sammeln von Früchten usw.). Auch in Bezug auf ihre motivationale Kraft unterscheiden sich Bedürfnisse von Trieben und Wünschen. Im Unterschied zu den letzteren zielt ein Bedürfnis nicht unbedingt auf die Vermeidung eines subjektiv empfundenen Leidens ab. Die Stärke eines Bedürfnisses hängt von zwei Momenten ab: von der individuellen Beschaffenheit einerseits (dass es aus der Beobachterperspektive beschrieben wird, heißt nicht, dass ein Bedürfnis keine subjektiven Aspekte hat) und von seinem grundlegenden Charakter. Beispiele dafür sind Individuen, die aus religiösen Gründen eine strenge Askese üben, und – noch dramatischer – Individuen, die aus ideologischen Gründen in Hungerstreik treten und sich tatsächlich zu Tode hungern. Nahrungsmittel zu haben, ist natürlich nicht dasselbe, wie die Möglichkeit zu haben, sie zu bekommen. Ich werde allerdings in diesem Kontext auf diesen Unterschied nicht eingehen. 6

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Dieses letzte Beispiel ermöglicht uns, wichtige Bemerkungen zum zweiten Aspekt zu machen. Essen ist anscheinend ein grundlegenderes Bedürfnis als die Treue zu einer religiösen oder ideologischen Auffassung. Aber die oben genannten Beispiele zeigen, dass dieser grundlegende Charakter nicht impliziert, dass ein grundlegendes Bedürfnis eo ipso eine größere motivationale Kraft besitzt als weniger grundlegende. Darin besteht ein erster Schritt zur Relativierung der Idee von Grundbedürfnis. Ein zweiter Schritt besteht in der Revision der gewöhnlichen Unterscheidung zwischen grundlegenden und abgeleiteten Bedürfnissen. Bedürfnisse können ihrerseits Mittel zur Befriedigung anderer Bedürfnisse sein (ich kann z. B. Nahrung brauchen, nicht nur um zu überleben, sondern auch um genügend Kraft zu haben, meine Familie durch physische Arbeit zu unterhalten). Es ist unmöglich, eine absolute Hierarchie von Bedürfnissen aufzustellen, obwohl es möglich ist, Bedürfnisse zu identifizieren, die »grundlegender« als andere sind, da ihre Befriedigung Bedingung für die Befriedigung anderer Bedürfnisse ist, wie im Fall derjenigen, die mit physischem Überleben verbunden sind. In diesem Sinne ist Ernährung ein »grundlegenderes« Bedürfnis als religiöse Offenbarung, denn ohne Ernährung kann man nicht leben und daher keine weiteren Bedürfnisse (einschließlich dem nach religiöser Erfahrung) überhaupt haben. Manche Individuen können jedoch auf Ernährung verzichten und daher ihr Leben opfern, um religiöse Offenbarung zu erreichen. Ein grundlegendes Bedürfnis ist daher kein höheres bzw. wertvolleres Bedürfnis, sondern einfach ein Bedürfnis, dessen Befriedigung Voraussetzung für die Befriedigung anderer Bedürfnisse ist. Man könnte von primären und sekundären Bedürfnissen sprechen, aber dieser Wortwahl scheint ein bewertendes oder gar normatives Moment innezuwohnen.7 Man könnte auch von Bedürfnissen erster und zweiter Ebene sprechen, aber ich ziehe es vor, von grundlegenden und abgeleiteten Bedürfnissen zu sprechen. Abgeleitet ist das Bedürfnis, dessen Befriedigung von der Befriedigung eines anderen abhängt. Aber es kann sein, dass seine Befriedigung die Bedingung für die Befriedigung eines weiteren Bedürfnisses ist, und in diesem Fall würde es seinerseits zu einem grundlegenden Bedürfnis bezüglich des neueren werden. Ein Bedürfnis als grundlegend oder abgeleitet zu bezeichnen, wird daher zu einer Frage der Perspektive. Dies ist nicht unumstritten, ganz im Gegenteil: die meisten Theorien menschlicher Bedürfnisse8 neigen dazu, eine Werthierarchie unter ihnen herzustellen (in diesem Kontext werde ich jedoch auf diesen Punkt nicht eingehen). Damit wird die herkömmliche Idee von Grundbedürfnissen relativiert, sowohl systematisch und objektiv (d. h. mit Bezug auf ihre Stellenwert anderen Bedürfnissen gegenüber), als auch subjektiv (mit Bezug auf die individuellen Einstellungen ihnen gegenüber). Der letzte Schritt, um den Bedürfnisbegriff zu definieren, besteht darin, ihn in den Rahmen einer teleologischen bzw. schwach perfektionistischen Perspektive zu setzen.

7 Primäre Bedürfnisse besäßen demnach höheren Wert und sollten immer befriedigt werden, während sekundäre Bedürfnisse nicht so wichtig seien, so dass ihre Befriedigung dahingestellt bleiben darf. 8 Zum Beispiel Abraham Maslows bahnbrechendes Werk, in: Abraham Maslow: A Theory of Human Motivation, in: Psychological Review, 50/4 (1943), 370–396, und in: Ders. Motivation and Personality. New York 1954.

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Jedes Bedürfnis (genauer: seine Befriedigung) kann Zweck oder Mittel zu weiteren Zwecken sein, aber alle Bedürfnisse zielen auf einen »Oberzweck« bzw. Endzweck ab, nämlich: Überleben und Wohl des Individuums, das sie hat. Die Befriedigung von Bedürfnissen soll eben diese zwei Zustände garantieren. Zwar nimmt der Begriff von Wohl unterschiedliche Bedeutung bei unterschiedlichen Lebewesen ein, aber ein jedes Lebewesen neigt zu diesem Zustand. In dieser Hinsicht kann man den Gegenstand von Bedürfnissen positiv als das bezeichnen, was ein Lebewesen braucht, um zu überleben und um Wohl zu erreichen, und negativ als das, ohne was ein Lebewesen stirbt oder in Unwohlsein lebt. Was wir in der Alltagsprache als »Bedürfnis« bezeichnen, bezieht sich eben auf diese Zustände, daher eigentlich auf den Gegenstand des Bedürfnisses. Wenn wir sagen, dass Ernährung ein Bedürfnis ist, so meinen wir, dass das Ernährt-Sein eine notwendige Bedingung von Überleben und Wohl ist. Aber die teleologische Perspektive besteht nicht bloß darin, den instrumentellen Charakter der Bedürfnisse aufzuzeigen, sondern auch in der weiteren und weitergehenden Behauptung, der Mensch habe die Möglichkeit, sich immer weiter zu entwickeln. Diese Entwicklung stellt einen offenen Prozess dar, dem durch keine Vervollkommnung irgendeiner menschlichen Natur ein Ende bereitet wird (daher ist hier von schwachem Perfektionismus die Rede). Wird diese Weiterentwicklung im Sinne einer Zunahme an Wohl verstanden, so gibt es keinen vollkommenen Zustand des Wohles, sondern immer nur ein Mehr oder ein Weniger dessen. Unabhängig davon, wie man den Begriff des Wohles genauer definiert, kann man schon sagen, dass sich eine Gesellschaft daran beurteilen lässt, bis zu welchem Grad sie das Wohl ihrer Mitglieder fördert und zwar so, dass bei der durch soziale Institutionen stattfindenden Verteilung der satisfiers den Bedürfnissen eines jeden Mitglieds gleiche Achtung entgegengebracht wird (was eventuell zu einer ungleichen Verteilung führen kann).9 Meine These ist, dass darin die Gerechtigkeit (im Sinne von sozialer Gerechtigkeit)10 einer Gesellschaft besteht. Wenn es so ist, dann gibt es keine absolut gerechten bzw. ungerechten Gesellschaften, sondern nur gerechtere bzw. ungerechtere Gesellschaften – wobei sich dies sowohl in Bezug auf andere Gesellschaften, als auch in Bezug auf vergangene historische Momente derselben Gesellschaft feststellen lässt.11 Es bleibt noch die Frage offen, wie sich Wohl definieren lässt. Um diesen Begriff besser zu erklären, werde ich im Folgenden eine (schwach perfektionistische) Theorie der Persönlichkeit und der Bedürfnisse tabellarisch darstellen. Wohl ergibt sich demnach, wenn auf der jeweiligen Ebene ein gewisser Grad der Befriedigung der entsprechenden 9 Mir ist es bewusst, dass diese Definition der Gerechtigkeit zu vage ist und einer Vertiefung bedürfte. Ich glaube jedoch, sie dient den Zwecken des vorliegenden Beitrags hinreichend. 10 Eine andere Form der Gerechtigkeit wäre die bloß legale Gerechtigkeit, die in der Einhaltung bestimmter Prinzipien (Gleichheit vor dem Gesetz, fairer Prozess usw.) besteht. 11 Man könnte einwenden, dass der Begriff von Gesellschaft hier genauso wie der von Gerechtigkeit unterbestimmt bleibt: ist es die Gerechtigkeit von sozialen Institutionen allgemein oder nur die von politischen Institutionen, die hier bemessen werden soll? Oder gar die von den Gesellschaftsmitgliedern? Diese Frage muss hier unbeantwortet bleiben. Hinweise auf eine Antwortstrategie sind im letzten Teil dieses Beitrags zu finden.

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Bedürfnisse erreicht wird. Es ist nicht möglich, von vornherein diesen Grad zu bestimmen, da er von kulturellen und individuellen Faktoren abhängt. Dies wird hoffentlich im Folgenden verständlicher. Zunächst werde ich die unterschiedlichen Ebenen der Persönlichkeit und die entsprechenden Kategorien von Bedürfnissen mit ihren jeweiligen Gegenständen tabellarisch vorstellen. Persönlichkeitsebene

Kategorien von Bedürfnissen

Hauptgegenstand der Bedürfnisse

1. Individuum • Lebewesen • Tier

Biologische Bedürfnisse • Lebensbedürfnisse • Tierische Bedürfnisse

Biologisches Wohl • Überleben u. Reproduktion • Physiologische u. psychologische Entwicklung

2. Mensch (homo sapiens) • Kulturwesen • Alterndes Wesen • Geschlechts- und sexuelles Wesen

Menschl. (Grund-)Bedürfnisse • Kulturelle Bedürfnisse • Altersbezogene Bedürfnisse • Gender-Bedürfnisse und sexuelle Bedürfnisse

Minimales menschliches Wohl • Kulturelle Zugehörigkeit • Alterspezifisches Wohl • Gender Identity, sexuelle Orientierung und Wohl

3. Persona

Juristische Bedürfnisse

Juristischer Schutz

4. Handelndes Subjekt • Akteur • Agent • Person mit epistemischer Identität

Mit grundlegender Autonomie ver- Grundlegende Autonomie bundene Bedürfnisse • Akteursbedürfnisse • Handlungsfreiheit • Agentenbedürfnisse • Agenc • Mit epistemischer Identität ver- • Selbstdefinition und Glaubwürbundene Bedürfnisse digkeit

5. Ethische Person

Ethische Bedürfnisse

• Moralisches Subjekt

• Mit moralischem Handeln verbundene Bedürfnisse • Affektive Bedürfnisse

• Affektives Wesen (Familienmitglied und Freund) • Mitglied der bürgerlichen • Sozio-ökonomische Bedürfnisse Gesellschaft • Politische Bedürfnisse • Staatsbürger, Ausländer, Asylsuchender, illegaler Einwanderer

Ethische Autonomie und bedeutendes Wohl (gutes Leben) • Bedeutende (moralische) Autonomie • Affektives und familiäres Wohl • Sozio-ökonomisches Wohl • Politische Autonomie und Partizipation

Ich werde nicht auf jede Ebene einzeln eingehen, sondern nur die letzten zwei paradigmatisch erklären. Zu den ersten drei Ebenen nur wenige Bemerkungen: Wie man sieht, wird das Wort Individuum für jedes Lebewesen benutzt: es bezeichnet einfach das Mitglied einer Spezies. Für das Mitglied der Spezies homo sapiens wird die Bezeichnung Mensch benutzt. Während die ersten zwei Ebenen eine Art klassifikatorische Hierarchie bzw. eine immer genauere Spezifizierung darstellen (von individuellen Lebewesen zu Menschen, zu Geschlechtswesen), bilden die weiteren drei Ebenen keine solche Hi-

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erarchie, sondern nur unterschiedliche Perspektiven, aus denen eine Person beobachtet werden kann. Sie sind die Ebenen der eigentlichen Persönlichkeit. Die erste dieser Ebenen ist die dritte, auf der das Subjekt von juristischen Rechten und Pflichten als Persona bezeichnet wird – in Anlehnung an eine sehr alte Tradition. Die vierte Ebene ist die des handelnden Subjekts. Als solches hat die Person Bedürfnisse, die mit einer grundlegenden Autonomie verbunden sind. Autonomie kann nämlich auf unterschiedlichem Niveau entwickelt werden. In einem grundlegenden Sinn bezeichnet sie die Fähigkeit, eine bestimmte Handlungsstrategie zu wählen und durchzuführen. Diese impliziert ihrerseits die Fähigkeiten, sich Ziele zu setzen, Überzeugungen bezüglich der dazu tauglichsten Mittel zu haben, und die möglichen Folgen des eigenen Handelns wenigstens zum Teil vorherzusehen. Alle diese Fähigkeiten können auf unterschiedlichem Niveau besessen werden – und zwar nicht nur von Menschen, sondern auch von nicht-menschlichen Tieren (wenn auch nicht von allen). Diese Art von Autonomie ist notwendig, um als Akteur im technischen Sinn, d. h. als ein auf irgendeine Weise sinnvoll handelndes Subjekt, angesehen zu werden. Sie setzt gewisse materielle Bedingungen voraus wie Bewegungsfreiheit und minimale physische Kraft (und zwar die zur Durchführung der jeweiligen Handlungsstrategie notwendige Kraft). Diese Bedingungen lassen Bedürfnisse entstehen, deren Befriedigung notwendig ist, damit man überhaupt handeln kann, und die ich im obigen Schema Akteursbedürfnisse genannt habe. Sie betreffen die erwähnte Bewegungsfreiheit und physische Kraft, sowie auch die Entwicklung der eigenen intellektuellen Fähigkeiten mindestens bis zu dem Punkt, ab dem man versteht, unter welchen Handlungsoptionen man wählen kann, und welche deren wahrscheinlichste Folgen sein könnten. Auf diesem Niveau entspricht Autonomie einer bloßen Handlungsfreiheit. Sie kann jedoch auf einem höheren Niveau als die Fähigkeit verstanden werden, für unsere Handlungen Verantwortung zu übernehmen, d. h. uns und anderen deren Gründe anzugeben. Dies macht aus dem handelnden Subjekt etwas mehr als einen bloßen Akteur: er wird zum Agent. Diese Art von Autonomie, die ich mit dem englischen Wort agency bezeichne, ist ausschließlich bei Menschen aufzufinden, und ist mit weiteren Fähigkeiten verbunden wie: (1) sich reflexiv als Akteur zu begreifen (d. h. eine reflexive Haltung den eigenen Handlungen gegenüber einzunehmen); (2) auch längerfristige Folgen unserer Handlungen vorherzusehen; (3) die Gründe für die eigenen Handlungen auch anderen verständlich zu machen. Es handelt sich um kognitive Fähigkeiten, ohne die keine Verantwortung für die eigenen Handlungen übernommen werden kann. So kann z. B. eine psychotische Person, die eine Tat aus einem Raptus her vollzieht, nicht als verantwortlich dafür erklärt werden, eben weil sie nicht begreifen kann, was sie gerade tut (und so sehen es auch die meisten Rechtssysteme). Dies weist auf ein weiteres wichtiges Moment hin: Der Agent muss von den anderen als verantwortlich für die eigenen Handlungen anerkannt werden. Dies ist eine minimale Ebene der Anerkennung: Man wird nicht bloß als ein Akteur betrachtet, der eine gewisse Handlung durchführt, sondern auch als ein Agent, der für diese Handlung zur Verantwortung gezogen werden kann und sich eventuell rechtfertigen muss. Beide Sorten von Autonomie (Handlungsfreiheit und agency) bilden grundlegende Formen von Autonomie. Hinzu kommt die Fähigkeit, sich

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selbst zu definieren – was ich in Anlehnung an Miranda Fricker epistemische Identität nenne.12 Die zweite Ebene, die ich kurz darstellen möchte, ist die fünfte. Dort wird der Mensch als ethische Person angesehen, die versucht, das zu vollbringen, was sie für ein gutes Leben hält (unabhängig davon, wie und woher sie sich ihre Idee von gutem Leben angeeignet hat). Als solche ist sie in erster Linie ein autonomes moralisches Subjekt; sie hat zweitens ein affektives und ein familiäres Leben (möge auch dies zeitlich beschränkt sein);13 sie nimmt drittens eine bestimmte Position in der Gesellschaft (und in deren ökonomischem System) ein; sie nimmt viertens am politischen Leben dieser Gesellschaft teil (auch die Partizipationsverweigerung stellt eine Art der Teilnahme dar).14 Auf allen diesen Gebieten kann sie ein gutes Leben führen. Diese Art von Autonomie kennt wie immer unterschiedliche Entwicklungsniveaus. Eine Person wird umso autonomer, (1) je unabhängiger die Entwicklung ihres Lebensplans von den in ihrer Umwelt herrschenden Modellen ist (wobei diese Umwelt vom näheren Kreis – Familie, Freunden, lokaler Gemeinde – bis hin zum weiteren Kreis – Kultur, religiösem Glauben usw. – reicht); und (2) je universeller die Prinzipien sind, mit denen sie Rechte und Pflichten für sich und die anderen begründet. Während das Erreichen einer weitergehenden Autonomie im ersten Fall für die Person selbst wichtig ist, da es sich um die Erweiterung ihrer Chance auf ein gutes Lebens handelt, ist sie im zweiten Fall auch für die anderen wichtig. Für eine Person, die imstande ist, für sich Lebensmodelle auszudenken, die ihre unmittelbare Umwelt moralisch verachtet, vermehren sich die Optionen, ein gutes Leben zu leben (wie z. B. im Falle einer Frau aus einer stark chauvinistischen und patriarchalischen Familie, die entscheidet, allein zu leben, auch wenn dies bedeutet, in eine andere Stadt bzw. an einen fernen Ort umziehen zu müssen). Eine Person, die anfängt, andere Personen anders als ihre Umwelt zu sehen und zu behandeln und ihnen mehr (moralische) Rechte anzuerkennen, trägt hingegen zur Entstehung einer günstigeren Umwelt für diese Personen und für deren Lebensentscheidungen bei (wie z. B. im Falle eines Bruders der genannten Frau, der anfängt, anders als seine Familie, ihre Entscheidung und ihren Lebensplan für moralisch legitim zu halten und auch anderen Frauen Rechte zuzusprechen, die ihnen der Rest seiner Familie aufgrund ihrer chauvinistischen Ansichten weiter verweigert). Diese Art von Autonomie kann – wie gesagt – mehr oder weniger entwickelt werden, und der entsprechende Prozess ist prinzipiell endlos: es gibt keinen Punkt, ab dem eine Person aufhört, autonomer zu werden. Es gibt andererseits offensichtliche Grenzen, die von konkreten Umständen abhängen: kontextgebundene Umstände (historische EpoVgl. Miranda Fricker: Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing, Oxford 2007, 14 f. und passim. 13 Das familiäre Leben mag sich auf die Kindheit beschränken (wie im Fall einer Person, die keine Liebesbeziehung und keine richtige Freundschaft eingeht und als Erwachsene ein einsames Leben durchmacht). 14 Ich lasse mich hierbei offensichtlich von Hegels Einteilung der Sphäre der Sittlichkeit (in den Grundlinien der Philosophie des Rechts) inspirieren. Dies sollte jedoch als Arbeitshypothese eher als überzeugte Übernahme des Hegel’schen Modells verstanden werden. 12

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che, kulturelle und soziale Umwelt usw.), subjektive und biographische Erfahrungen, genetische Möglichkeiten. Joseph Raz spricht diesbezüglich von »bedeutender Autonomie« (significant autonomy).15 Bedeutend autonome Personen sind die, die nicht einfach rationale Akteure sind, sondern darüber hinaus einen Lebensplan entwickeln, der den Einsatz für Sachen mit einschließt, die einem wichtig sind, um Würde und Selbstrespekt zu gewinnen und zu bewahren. Es gibt nämlich einen wichtigen Zusammenhang zwischen Autonomie einerseits und Würde und Selbstrespekt andererseits. Wenn jemand fühlt, dass er nicht autonom handelt, sondern dass er gezwungen wurde, auf eine bestimmte Weise zu handeln, wird sein Selbstrespekt darunter leiden. Er wird nicht imstande sein, die von ihm vollbrachten Handlungen als die eigenen anzuerkennen. Daher stellt Autonomie nicht einfach ein Merkmal der Persönlichkeit dar, sondern auch den Gegenstand eines wichtigen Grundbedürfnisses und ein zentrales Moment des Wohls eines Menschen, den ich – wie klar geworden werden sollte – als einen Zustand definiere, in dem ein Individuum die für die jeweilige Art von Wohl wichtigeren Bedürfnisse befriedigt hat; in diesem Fall ginge es daher um das Bedürfnis, sich für die eigenen Handlungen verantwortlich zu fühlen. Damit verbunden ist eine Reihe von Voraussetzungen und Bedingungen, die von der Existenz sozialer Institutionen abhängen und direkt oder indirekt Objekt von öffentlichen Politiken (daher auch Objekt einer Theorie sozialer Gerechtigkeit) sein können. Im Zentrum der gesuchten Theorie steht somit nicht Autonomie an sich, sondern Autonomie verstanden als wichtiges Moment menschlichen Wohls und als wichtige Bedingung für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Sie ist gleichzeitig ein Mittel zum Zweck und Teil des zu realisierenden Zwecks, wie auch Amartya Sen bemerkt (obwohl im Rahmen einer anderen Auffassung von Autonomie).16 IV. Ich gehe jetzt zu einen weiteren Punkt über: Können Bedürfnisse als Gründe angesehen werden? Um die Frage zu beantworten, müssen wir zunächst klären, was hier unter Grund verstanden wird. Das Wort kann sich auf ein Handlungsmotiv, d. h. auf einen Beweggrund einerseits oder auf ein Argument zugunsten einer Handlung, d. h. auf einen Rechtfertigungsgrund andererseits beziehen. Ersterer ist subjektiver Natur, da er als Handlungsmotiv für einen bestimmten Agenten fungiert, während letzterer objektiver bzw. intersubjektiver Natur ist, denn es handelt sich um einen Grund, der vom Handelnden angegeben werden kann und von anderen als gültig angenommen werden kann oder nicht. Insofern stellt er das Verbindungsglied zwischen einer rein deskriptiven und einer normativen Handlungstheorie dar. Gründe als Motive werde ich bei Seite lassen, um mich auf Gründe als Rechtfertigung zu konzentrieren. Bei der Frage, ob Bedürfnisse als Gründe im letzteren Sinne gelten können, geht es darum, festzustellen, ob sie Handlungen rechtfertigen, die ihrer Befriedigung dienen – und zwar unabhängig davon, dass 15 16

Joseph Raz: The Morality of Freedom, Oxford 1986, 154. Amartya Sen: Inequality Reexamined, Cambridge (MA) 1992.

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der Handelnde sich subjektiv dazu motiviert fühlt, solche Handlungen vorzunehmen (d. h. unabhängig davon, dass für ihn ein bestimmter Rechtfertigungsgrund auch ein Handlungsmotiv ist). Insofern sind Rechtfertigungsgründe für den Handelnden selbst nicht zwingend: sie rechtfertigen seine Handlung bzw. seine Handlungsstrategie, zwingen ihn aber nicht, sie vorzunehmen. Werden sie andererseits von anderen als gültig angenommen, lassen sie verbindliche Erwartungen entstehen, denn es wird von dem, der sie anerkennt, erwartet, dass der Handelnde Handlungen vornimmt bzw. unterlässt, die der Befriedigung des entsprechenden Bedürfnisses dienen bzw. im Wege stehen können. Erkenne ich an, dass ein Individuum ein gerechtfertigtes Bedürfnis nach angemessener Ernährung hat, so kann ich es nicht hindern, sich die notwendigen Mittel zu beschaffen – auch illegal, wenn es anders nicht geht. Bedürfnisse können daher unmittelbar Handlungsmotive als auch Rechtfertigungsgründe sein, da sie einerseits Individuen dazu bewegen, die zu ihrer Befriedigung notwendigen Handlungen vorzunehmen, andererseits Ansprüche begründen, die dieselben Individuen bezüglich der Befriedigung ihrer Bedürfnisse anderen Individuen oder Institutionen gegenüber geltend machen können. Diese Ansprüche interessieren uns hier und wir müssen ihren normativen Charakter erkunden. Wie Robert Brandom betont, sind wir gleichzeitig fühlende und denkende Wesen, sentient and sapient beings.17 Er schreibt auch der ersten, fühlenden Dimension unseres Daseins normativen Charakter zu: ein fühlendes Wesen, das Schmerz empfindet, fühlt, dass es nicht so sein sollte, dass es eher frei von einer solchen Empfindung leben sollte. Es handelt sich dabei um einen instrumentellen Begriff von Normativität, nach dem gut ist, was man will, wünscht oder begehrt. Der Wunsch, Schmerz zu vermeiden, führt uns dazu, eine bestimmte Handlung oder Haltung vorzunehmen oder zu unterlassen. Dabei spielen auch Meinungen über Sachverhalte eine wichtige Rolle. Will ich z. B. lästige Kopfschmerzen loswerden, nehme ich Aspirin, weil ich meine, dies wird mir dabei helfen. Man kann sagen, dass der Grund, warum ich Aspirin nehme, aus einem Wunsch und aus einer Meinung über die richtigen Mittel zu dessen Befriedigung besteht. Dies entspricht den kantischen hypothetischen Imperativen der Form: »Wenn Du den Zweck A bewirken willst, sollst Du die dazu notwendige Handlung B vornehmen«, die eben Ausdruck einer instrumentellen Normativität sind. Die Befriedigung von Bedürfnissen scheint derselben Logik zu folgen, weicht jedoch an zwei wichtigen Punkten davon ab. Wird ein Bedürfnis nicht befriedigt, haben wir nicht bloß mit einem Gefühl der Unzufriedenheit oder gar des Schmerzes zu tun. Es kann sogar sein, dass ein solches Gefühl überhaupt nicht entsteht, da Menschen ihre Bedürfnisse nicht immer und nicht vollständig bewusst sind. Was auf jeden Fall besteht, ist ein objektiv festzustellender Mangel, der nicht gestillt wurde. Eben aus dem objektiven Charakter dieses Mangels folgt, dass die normative Forderung nach Befriedigung des entsprechenden Bedürfnisses keineswegs vom Wunsch des Subjekts abhängt. Das Bedürfnis muss befriedigt werden, damit der Mangel gestillt wird. Damit wird aber mitnichten behauptet, dass es befriedigt werden soll. Nur aus der subjektiven Per17

Robert Brandom: Reason in Philosophy. Animating Ideas. Cambridge (MA) 2009, 135 f.

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spektive des Individuums entsteht also Normativität in Bezug auf die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Um diesem Engpass zu entkommen, müssen wir auf eine weitere Dimension von Bedürfnissen eingehen, nämlich auf ihre soziale Dimension. Bevor wir das tun, müssen wir jedoch zunächst die zentrale Frage klären, welche Beziehung solche Ansprüche mit unserer conditio humana unterhalten.

V. Die Beantwortung dieser Frage wird notwendig, weil der Begriff der Grundbedürfnisse häufig mit der Vorstellung verbunden wird, es gebe eine unveränderliche menschliche Natur, die sich eben durch Bezug auf diese Grundbedürfnisse definieren lässt. Diese Vorstellung nenne ich naiv-naturalistisch. Es handelt sich nicht bloß um eine essentialistische Position, denn sie beschränkt sich nicht auf die Behauptung, es gebe objektiv festzustellende Bedürfnisse, sondern behauptet darüber hinaus, dass es eine unveränderliche menschliche Natur gibt (darin besteht ihre Naivität). Stattdessen werde ich eine historisch-naturalistische Auffassung vertreten, nach der die menschliche Natur immer historisch geformt ist – nicht nur im offensichtlichen, aber keineswegs trivialen Sinne, dass es eine Geschichte der menschlichen Evolution gibt, sondern auch in einer philosophischen Perspektive, nach der die geschichtliche Dimension ein charakteristisches Merkmal ist, das den homo sapiens sapiens von anderen Tierarten unterscheidet. Wie Max Horkheimer schon bemerkte, besitzen sogar unsere wahrnehmenden Organe einen historischen Charakter, denn wir benutzen sie gemäß den Forderungen und den Möglichkeiten unserer Epoche: unsere historisch, also menschlich bestimmte Welt prägt ihrerseits die Art und Weise, wie wir sie wahrnehmen.18 Weit entfernt davon, eine tabula rasa zu sein, auf die alles geschrieben werden kann – wie eine naiv-kulturalistische Auffassung behauptet19 –, ist der Mensch biologisch und kulturell bestimmt, nämlich durch die genetischen und kulturellen Bedingungen unter denen er seine Persönlichkeit bildet. Zur Zeit gibt es eine riesige Debatte über das relative Gewicht, das wir diesen beiden Positionen (der naturalistischen und der kulturalistischen) beimessen sollten, aber in diesem Kontext ist es nicht notwendig, darauf einzugehen. Es sei lediglich betont, dass unsere individuelle Persönlichkeit durch beide Momente bestimmt wird: durch das genetische, biologische, natürliche einerseits und durch das historische, kulturelle, artifizielle andererseits. Die Behauptung einer Entgegensetzung von Natur und Kultur ist falsch, wenn damit eine unüberwindliche Unterscheidung gemeint wird. Es handelt sich vielmehr um ein dialektisches Verhältnis: Die Kultur formt vorgegebene natürliche Elemente, die gleichzeitig den Rohstoff ihres Tuns darstellen und ihrer Tätigkeit Grenzen setzen. In dem Sinne ist eine naturwidrige Kultur ein Unding. Wirklichkeit kann nicht ausschließlich aus einem materiellen oder Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie, in: Ders.: Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, 217 f. 19 Vgl. Steven Pinker: The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, London 2002. 18

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aus einem immateriellen, aus einem naturalistischen oder aus einem spiritualistischen Gesichtspunkt erklärt werden. Um dies besser zu verstehen, könnte man sich auf Hegels Diktum beziehen, nach dem »das Sein des Ichs ein Ding ist« und »das Ding […] Ich« ist.20 Behauptet man, dass das Ich bloß ein Ding ist, würde man eine naiv-naturalistische Stellung einnehmen, wie es manche Forscher aus der evolutionären Biologie oder aus den kognitiven Wissenschaften tun; behauptet man dagegen, dass das Ding selbst Ich ist, wird darauf hingewiesen, dass es immer (und das heißt: auch von einem rein materialistischen Standpunkt) ein Moment der Wirklichkeit ist, das nicht materiell, sondern im Hegel’schen Sinne geistig ist, d. h. mit Bezug auf die menschliche Tätigkeit. Die Welt ist uns nie einfach als Gegenstand unserer Wahrnehmung und unserer Erkenntnis gegeben, sondern sie wird immer auch von uns mit hergestellt. Nach Heideggers Wort ist der Mensch »weltbildend.«21 Wir stellen unsere Umwelt und unsere eigene Natur mit her – sowohl im materiellen, als auch im immateriellen Sinn: durch konkrete Manipulation, aber auch dadurch, dass wir sie beschreiben und interpretieren.22 Diese schaffende Tätigkeit bringt Robert Brandom zu der Behauptung, dass wesentlich selbstbewusste Wesen wie die Menschen keine Natur, sondern eine Geschichte haben.23 Ein wesentlich selbstbewusstes Wesen ist gleichzeitig wesentlich selbst-konstituierend: »Ein solches Wesen kann das, was es an sich ist, verändern, indem es verändert, was es für sich ist« (so Brandom, mit einem typischen Hegel´schen Vokabular). Dies bedeutet, dass »eine Änderung der SelbstKonzeption eine Änderung des Selbst mit sich bringt, von dem es eine Konzeption ist.« Solche Wesen »machen sich zu etwas Verschiedenem, indem sie sich für etwas Verschiedenes halten.«24 Kojéve bemerkte im Anschluss an Hegel, dass das natürliche Wesen, das Tier, wesentlich ‚gegeben‘ ist, während der Mensch sich transzendieren, d. h. über die eigene angeborene Natur hinausgehen kann. Dies Sich-transzendieren bedeutet jedoch »den Tod« des tierischen Moments im Menschen. Deswegen definiert Kojéve den Menschen als »die tödliche Krankheit des Tiers.« Der Mensch existiert als solcher nur insofern er das Tier, das ihn »trägt«, transzendiert.25 Dies ist ein wichtiger Punkt, denn das, was den Menschen von den anderen Tieren unterscheidet, ist nicht Selbstbewusstsein im trivialen Sinne eines Bewusstseins der eigenen Individualität oder im Sinne der Fähigkeit der Selbstbehauptung und der individuellen Selbstveränderung, sondern eher im Sinne der Fähigkeit, eine Interpretation des eigenen Selbst und der eigenen Natur vorzunehmen und diese Fähigkeit ist mit der weiteren Fähigkeit wesentlich verbunden, die Sprache auf einzigartige Weise zu gebrauG. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, 517 f. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a. M. 1983, 383. 22 Bekanntlich benutzt der Jenaer Hegel für diese zweifache Tätigkeit den Ausdruck »Arbeit«. 23 Robert Brandom: Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution. Die Struktur von Wünschen und Anerkennung, in: Hegels Erbe, hg. von Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep, Frankfurt a. M. 2004, 47. 24 Ebd. 46. 25 Alexandre Kojève: Introduction à la lecture de Hegel, Paris 1947, 553 f. 20

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chen. Wir benutzen Sprache nicht bloß, um miteinander zu kommunizieren oder um unsere Gemütszustände auszudrücken, wie es andere Tiere tun, sondern um sowohl die Welt um uns als auch unser Handeln zu erklären. Nietzsche definierte den Menschen als »ein Tier […], das versprechen darf,«26 aber dies ist die Folge einer anderen Fähigkeit, nämlich der Fähigkeit, das eigene Handeln zu erklären, und zwar in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft in Form von Rechtfertigungen und von Absichtserklärungen (wie eben Versprechen). Der Mensch ist das Tier, das Gründe angeben kann. Es ist nicht notwendig hier auf die Frage einzugehen, wie der homo sapiens sapiens diese Fähigkeit entwickelt hat. Was wichtig ist, ist vielmehr der Umstand, dass sie die Basis für die Entwicklung von dem war, was wir als Kultur bezeichnen. Die anderen Tiere haben keine Kultur. Man kann Unterschiede bei Gruppen derselben Art beobachten, wie z. B. unter den Schimpansen der Tai-Region in West-Afrika und denjenigen der Mahale-Region in Tansania,27 aber es handelt sich um Unterschiede bezüglich der Interaktion mit der Umwelt, z. B. der Jagdmethode, der Essgewohnheiten usw. Eine Kultur ist weit mehr als das: sie ist eine Art und Weise, die Umwelt zu interpretieren, ihr eine Bedeutung zu geben, Gründe für ihre Beschaffenheit anzugeben. Die erwähnte Entgegensetzung von Natur und Kultur geht von der falschen Voraussetzung aus, Kultur sei nicht natürlich – eine Voraussetzung, die dem naiven Naturalismus und dem naiven Kulturalismus gemein ist. In Wirklichkeit ist Kultur die Folge der natürlichen Merkmale der Gattung homo sapiens sapiens und deren Evolution.28 Das Hauptmerkmal besteht, wie gesagt, in der Fähigkeit, die eigene Natur durch die Grammatik der Gründe zu interpretieren. Damit gewinnt der Mensch Distanz zu sich selbst, sozusagen, und beobachtet sich von einem äußeren Standpunkt. Dabei sucht er nach einer Erklärung für den Umstand, dass er bestimmte Eigenschaften hat und bestimmten Bedürfnissen untersteht. Dadurch werden natürliche Mechanismen neu interpretiert und eventuell verändert – und eben dies scheint mir Brandom zu meinen, wenn er sagt, dass ein wesentlich selbstbewusstes Wesen gleichzeitig wesentlich selbst-konstituierend ist. Dies ist der Standpunkt der erwähnten historisch-naturalistischen Auffassung. Die Fähigkeit, Gründe anzugeben, wurde zum Anthropinum, da sie dem Menschen ermöglichte, sich von seiner bloß tierischen Natur zu distanzieren. War er zuvor einfach eine Gattung unter anderen (homo sapiens sapiens), wurde er nun ein Wesen besonderer Art, das kein einfaches Tier mehr ist. In diese Sinne ist Brandoms Behauptung, der Mensch habe eine Geschichte, keine Natur, zwar gerechtfertigt, aber nur mit Hinweis auf die Tatsache, dass diese geschichtliche Dimension eben wesentlich zur menschlichen Natur gehört. Die ontologische Differenz zwischen dem Menschen und den anderen Tieren ist eine gewordene, keine gegebene. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse / Zur Genealogie der Moral (KSA 5), hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1999, 291. 27 Steven Mithen: The Prehistory of the Mind. A Search for the Origins of Art, Religion and Science, London 1998, 83 f. 28 Über Ursprung und Entwicklung von Kulturen aus einer evolutionären Perspektive siehe Robert Boyd und Peter J. Richerson: The Origin and Evolution of Cultures, Oxford 2005. 26

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Das hat wichtige Folgen für eine Theorie menschlicher Bedürfnisse. Aus der historisch-naturalistischen Perspektive sind menschliche Bedürfnisse nämlich weder einfach gegeben, noch Ausdruck einer unveränderlichen menschlichen Natur, wie die naiv-naturalistische Auffassung meint. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es sie nicht gibt, oder dass sie nur kulturell definiert sind, wie die naiv-kulturalistische Auffassung behauptet. Sie besitzen vielmehr einen komplexen objektiven Charakter, den sie auf mehreren Ebenen aufweisen. Zunächst geht es um die oben erwähnte Möglichkeit, Bedürfnisse unabhängig von den subjektiven Einstellungen von Individuen zu definieren. Wir haben aber gesehen, dass sie deswegen keineswegs als unveränderlich zu beschreiben sind, denn sie beziehen sich nicht auf eine unveränderliche menschliche Natur, sondern auf eine Natur, die sich in einem Prozess des historischen Werdens befindet. Daher sind auch die menschlichen Bedürfnisse in diesen Prozess eingebunden und weisen somit trotz ihres objektiven Charakters eine plastische Beschaffenheit auf. Wie wir gesehen haben, wird der homo sapiens sapiens erst dadurch zum Menschen, dass er die Sprache benutzt, um Gründe anzugeben. Er ist dann imstande, zu sich selbst und zu seiner Welt Stellung zu nehmen, wie es Gehlen ausdrückte.29 Dieser Prozess der Menschwerdung bedeutet zwar nicht die vollkommene Lossagung von den tierischen Bedürfnissen, wohl aber ihre Neudefinition. Sie werden zu menschlichen Bedürfnissen, weil sie im Lichte dieser Stellungnahme sich selbst und der Welt gegenüber neu interpretiert werden. Man kann sein Handeln nicht mit bloßem Hinweis auf deren Befriedigung rechtfertigen: gefordert wird vielmehr, dass man die eigenen Bedürfnisse und die entsprechenden Befriedigungsstrategien im Rahmen eines kollektiv anerkannten Bezugssystems verortet. Dies wird offensichtlich, wenn man z. B. die komplexen Regelungen beachtet, denen in allen Kulturen die Befriedigung der sexuellen Bedürfnisse unterstehen. Damit der Hinweis auf ein Bedürfnis als möglicher Rechtfertigungsgrund gilt, muss er innerhalb eines bestimmten sozialen Kontextes als ein solcher annehmbar sein. Damit setzt sich die bloße faktische Befriedigung, die eine rein individuelle Dimension besitzt, von der gerechtfertigten, kollektiv akzeptierten Befriedigung ab, bei der die soziale Dimension entscheidend ist. Bedürfnisse werden im sozialen Zusammenhang neu definiert; vor allem die Mittel zu ihrer Befriedigung werden zum Gegenstand sozialer Regelung – einer Regelung, die häufig die Befriedigung erschwert und unter Bedingungen setzt, die vom Individuum nur schwer zu erfüllen sind. Freud hat überzeugend gezeigt, wie wichtig für die Menschwerdung dieser Prozess der Kultivierung ist.30 Die Regelung findet allerdings nicht zufällig statt, sondern ist ihrerseits Objekt von Rechtfertigungen, die letztlich die Form legitimierender Diskurse annehmen. Damit gelangen wir zum abschließenden Teil dieses Aufsatzes.

Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiebelsheim 2009, 9. Siegmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, Frankfurt a. M. 1994. 29

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VI. Gesellschaft existiert, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, denn die Menschen sind allgemein nicht imstande, dies allein zu tun – im Unterschied zu manchen anderen Tieren, aber in Übereinstimmung mit vielen anderen. Verschiedene Gesellschaftstypen definieren unterschiedlich, was als Bedürfnis gilt, und welche Bedürfnisse sozial zu befriedigen sind; sie tragen daher unterschiedlich zu dessen Befriedigung bei. Die Palette reicht von Gesellschaften à la Mad Max, in denen die einzigen Bedürfnisse, deren Befriedigung von der Gemeinschaft übernommen wird,31 das nackte Überleben und die Sicherheit vor äußeren Feinden sind, bis hin zu den weit entwickelten Formen des Wohlfahrtstaats, in denen das Spektrum von sozial befriedigten Bedürfnissen extrem breit ist. Jede historisch gegebene Gesellschaft gründet sich unabhängig von ihrer Natur auf einen legitimierenden Diskurs, der ihre innere Anordnung rechtfertigt – in Übereinstimmung mit dem einzigartigen Merkmal des Menschen, mit dessen diferentia specifica nämlich, mit der Fähigkeit Gründe anzubieten. Insofern ist jede Gesellschaft Ausdruck der menschlichen natürlichen Beschaffenheit, da sie erstens zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse entsteht und sich zweitens durch die charakteristische menschliche Tätigkeit der Angabe von Gründen rechtfertigen lässt. Der Mensch ist zoon politikon insofern er zoon logon echon ist, insofern also sein logos nach dem Muster des Angebens von Gründen funktioniert. Es gehört somit zum legitimierenden Diskurs einer jeden Gesellschaft, dass sie sowohl die Bedürfnisse definiert, die sie beansprucht zu befriedigen, als auch auf die Mittel hinweist, wodurch dies geschehen soll. So verspricht z. B. der American Way of Life einen hohen Standard von individuellem Wohlstand und von individueller Freiheit durch einen freien Markt und Privatinitiative und so gut wie ohne staatliche Intervention, während das skandinavische Modell des Wohlfahrtstaats seinen Staatsbürgern weitgehende Sozialrechte und einen gewissen Lebensstandard eben durch massive staatliche Intervention verspricht. Der legitimierende Diskurs ist das Bindeglied, das den Übergang von einer rein deskriptiven zu einer normativen Ebene ermöglicht, ohne dass man in die Is-Ought-Fallacy gerät. Durch diesen Diskurs verpflichtet sich die Gesellschaft selbst, bestimmte Aufgaben zu übernehmen, die mit der Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder zusammenhängen. Somit entstehen diese Verpflichtungen nicht aus dem einfachen Vorhandensein von Bedürfnissen, sondern aus der Selbstdarstellung der Gesellschaft. Gesellschaftskritik kann dementsprechend verschiedene Formen annehmen: Sie kann die Versprechungen, die eine Gesellschaft ihren Mitgliedern gibt, ernst nehmen und feststellen, ob und inwieweit sie gehalten wurden und – falls dies nicht der Fall sein sollte – aus welchen Gründen dies geschah: wegen kontingenter Begebenheiten, wegen absichtlicher Handlungsstrategien der Machthaber oder wegen der prinzipiellen UnmöglichIch beziehe mich auf die Filmtrilogie Mad Max (1979), Mad Max 2 (1981) und Mad Max Beyond Thunderdome (1984) von George Miller. 31

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keit ihrer Realisierung. Im letzteren Fall sollte die Selbstdarstellung der Gesellschaft selbst in Frage gestellt werden, denn sie verspricht offensichtlich etwas, das sie unmöglich halten kann (wie z. B. uneingeschränktes Wirtschaftswachstum oder allgemeinen Wohlstand oder individuelle Selbstverwirklichung oder religiöse Erlösung). Es geht hier nicht um die Stabilität einer Gesellschaft – also um die Tatsache, dass sie zusammenbrechen könnte, wenn sie ihre Versprechen nicht hält. Die Erfahrung zeigt uns eher das Gegenteil. Gesellschaften – besonders wenn sie groß und komplex sind – können auch unter Bedingungen überleben und sogar blühen, die sonst für relevante Teile der Bevölkerung ungünstig sind.32 Wo die Linie gezogen wird, unter der die Gesellschaft ihre faktische Legitimation verliert, hängt von vielen, spezifischen Faktoren ab, die historisch, geographisch und kulturell bedingt sind. Ein wichtiges Element ist dabei die Internalisierung bestehender sozialer Werte, die zur Annahme des status quo als gerechten oder wenigstens unveränderlichen Zustand der Dinge führt – und zwar ausgerechnet seitens derjenigen, die von diesem Zustand am meisten benachteiligt sind. Die Auslegung der Mechanismen, durch die eine solche Internalisierung stattfindet, gehört bekanntlich zu den Hauptaufgaben einer kritischen Theorie der Gesellschaft, aber ich werde hier nicht darauf eingehen. Dass die Befriedigung von Bedürfnissen zum Kriterium der Gerechtigkeit einer Gesellschaft gemacht wird, hat einige Konsequenzen für die gesuchte Theorie. Es existiert erstens nicht ein alleiniger Maßstab der Gerechtigkeit, denn jedes sozial zu befriedigende Bedürfnis setzt eigene Maßstäbe.33 Gerechtigkeit wird zweitens nicht nur von politischen Institutionen erwartet, sondern kann durchaus als individuelle Eigenschaft der Mitglieder einer Gesellschaft gelten.34 Schließlich wird die normative Basis für die Existenz einer Gesellschaft mit einer Handlungstheorie verbunden, die zwar Individuen als ihren Gegenstand hat, diese jedoch von vornherein in ihrer sozialen Dimension auffasst.35

So hat z. B. der Umstand, dass die meisten Brasilianer für die ganze Zeit, in der es Brasilien als Kolonie und als unabhängigen Staat gegeben hat, in bitterer Armut gelebt haben, das Weiterbestehen der brasilianischen Gesellschaft mitnichten bedroht, sowenig wie er verhindert hat, dass Brasilien heute zu einem wichtigen global player geworden ist. Es scheint, dass eine Gesellschaft zwar ihre Versprechen wenigstens bis zu einem gewissen Grad halten muss, aber nicht notwendigerweise allen ihren Mitgliedern gegenüber. 33 Dies entspricht einer zentralen Intuition Amartya Sens. 34 Dies entspricht einer Grundidee nicht nur der klassischen Philosophie (z. B. der antiken Tugendethik), sondern auch mancher gegenwärtiger Positionen wie Avishai Margalits Theorie der anständigen Gesellschaft (Avishai Margalit: The Decent Society, Cambridge (MA) 1996). 35 Dies entspricht Hegels Idee der Sittlichkeit – einschließlich ihrer gegenwärtigen Reformulierungen bei Autoren wie Axel Honneth (siehe z. B. Axel Honneth: Das Recht der Freiheit, Berlin 2011). 32

KOLLOQUIUM 13

Historische Gründe Kolloquiumsleitung: Andreas Speer

Andreas Speer Einführung Thomas Zwenger Das Problem des »historischen Zusammenhangs«. Geschichte als »narrative Konstruktion in praktischer Absicht« Georgi Kapriev Axiomatische Gründe und Geschichtlichkeit: Die byzantinische Philosophie und ihre gegenwärtige Rezeption Costantino Esposito Die Geschichte der Metaphysik: Das Problem vom doppelten Sinn eines Genitivs

Einführung Andreas Speer

Daß auch philosophische Argumente und Begriffe einen historischen Index besitzen, ist unstrittig. Doch was folgt daraus? Das wiederum ist keineswegs unstrittig. Weit verbreitet ist die Ansicht, man könne, ja man müsse die Sache der Philosophie von ihrer Geschichte abtrennen – ganz nach dem Vorbild der »sciences« – und die Argumente allein geltungslogisch analysieren. Die Frage nach der Invention, der Genealogie und der historischen Kontexte blieben dann – wie es Popper für die wissenschaftliche Erkenntnislogik fordert – außerhalb einer solchen Analyse und stünden zur Welt der Gründe allenfalls in einem akzidentellen Verhältnis. Vielleicht war aus diesem Grunde ein Kolloquium zur Frage historischer Gründe in der ursprünglichen Kongreßplanung gar nicht vorgesehen. Doch diese Ambivalenz des Historischen für die Philosophie ist nicht neu. Sie findet sich bereits zu Beginn bei dem ersten großen Philosophiehistoriker: Aristoteles. Zum einen zählt Aristoteles das Historische zum Singulären und damit zu dem Kontingenten, von dem es zwar praktisches und »technisches« Wissen geben könne, aber nicht Wissen im strengen Sinne: episteme. »De singularibus non est scientia« – vom Einzelnen gibt es keine Wissenschaft: auf diese griffige Formel bringt diesen Sachverhalt später ein viel zitiertes scholastisches Adagium1. Denn Wissen und somit auch Wissenschaft im strengen Sinne bezieht sich stets auf Allgemeines sowie Unveränderliches und Notwendiges2. Zum anderen aber bezieht sich Aristoteles bei seiner Suche nach der Natur der gesuchten ersten Wissenschaft auf die Antworten diejenigen, »die vor uns zu einer Untersuchung der Natur der Dinge schritten und über die Wahrheit philosophierten«3. Denn auch diese hätten von gewissen Prinzipien und Ursachen gesprochen, die für die eigene Erörterung von Nutzen seien, sei es daß eine andere Art von Ursachen gefunden oder die bereits genannten bestätigt würden4. Somit gewinnt Aristoteles seine Antwort zunächst im Rekurs auf die Theorien vornehmlich der Ionischen Naturphilosophen, die er vorfindet und die er zum Teil ausführlich darstellt und diskutiert, um zu zeigen, wie ein jeder seiner Vorgänger, »wie gesagt, von der Wahrheit selbst genötigt , das

Dieses Adagium wird schon bei Thomas von Aquin anonym zitiert: Sententia super Metaphysicam (ed. M. Spiazzi), lib. 2, l. 4, n. 8: »Impossibile est aliquid sciri prius quam perveniatur ad individua. Non autem accipitur hic individuum singulare, quia scientia non est de singularibus.« – Summa Theologiae I, q. 1 a. 2 arg. 2: »Praeterea, scientia non est singularium.« 2 Eth. Nic. VI 3 (1139 b 18–24) 3 Met. A 3 (983 b 1–3). 4 Met. A 3 (983 b 3–6). 1

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nächstfolgende Prinzip zu suchen«5, wenn die bisherige Antwort sich als unzureichend erwies. In diesem Sinne sind – wie Robin George Collingwood zu zeigen versucht hat – auch absolute Annahmen, wie sie die Metaphysik zum Gegenstand hat, in geschichtliche Entwicklungsprozesse einbezogen. Denn jene Grundüberzeugungen, die der Metaphysiker zu erfassen und einzuordnen versucht, seien eben nicht einfach Antworten auf Fragen, vielmehr Voraussetzungen für Fragen. Sie können selbst nicht ohne die historisch aufzuklärenden Fragen verstanden werden, auf die sie eine Antwort formulieren. Als Archäologe sei ihm, so schreibt Collingwood in seiner philosophischen Autobiographie, die Bedeutung der »fragenden Aktivität« für die Erkenntnis klar geworden6. Mit Recht müsse man daher, so hatte bereits Aristoteles seine hermeneutische Leitvorstellung formuliert, »nicht bloß gegenüber denjenigen dankbar sein, deren Ansichten man zustimmt, sondern auch gegenüber denen, die ihre Lehren mehr an der Oberfläche gehalten haben. Denn auch sie trugen dadurch etwas bei, indem sie unsere Fähigkeiten übten und vorbildeten«7. Diese Feststellung, die auf ein Strukturmoment metaphysischen, ja philosophischen Denkens überhaupt verweist, nimmt Aristoteles ernst, wie seine ausführliche Auseinandersetzung mit den Vorgängern zeigt. Das historische Strukturmoment ist somit keinesfalls äußerlicher Natur, sondern gehört zum Kern der Suche nach der ersten Wissenschaft – und damit auch der Philosophie8. Für Collingwood ist daher die Trennung von Geschichte und Philosophie ebenso wie die strikte Unterteilung in Tatsache und Theorie dogmatisch und willkürlich. Die Fragen der Philosophie existieren nicht unabhängig von Zeit und Ort, so als gelte es in der Philosophie die ewig gleichen Fragen zu klären oder Probleme zu lösen, so als könnten wir aus den geschichtlichen Bedingungen und Umständen, unter denen wir selbst denken und handeln, heraussteigen. Denn – so sagt es schon Platon in seinem Symposion (204 A) – allein die Menschen philosophieren. Die Götter philosophieren nicht, da sie bereits alles wissen, und auch die Tiere tun es nicht, da es ihnen an der hierzu nötigen Vernunft mangelt. Die spezifische Gestalt der diskursiven, an Raum und Zeit und an materielle Vorstellungsbilder gebundenen menschliche Vernunft aber impliziert ihre Geschichtlichkeit. Denn nicht es denkt, sondern wir denken! Geschichte ist somit eine Bedingung menschlichen Verstehens im allgemeinen, nicht nur die Praxis von Historikern. Sie ist eine Dimension menschlicher Existenz und konstituiert gemeinsam mit der Sprache die menschliche Lebenswelt. Daher ist die Philosophie geltungslogisch unterbestimt, wenn sie allein auf einer Begriffslogik aufbaut, die von einer Konstanz und Invarianz der Begriffe ausgeht. Das Großprojekt deutscher Philosophie, das zwölfbändige »Historische Wörterbuch der Philosophie«, führt nachdrücklich vor Augen, daß die philosophische Terminologie nur zusammen mit ihrer Met. A 3 (984 b 9–11). R. G. Collingwood: Denken. Eine Autobiographie (übers. v. H.-J. Finkeldei), Stuttgart 1955, 65–68 (engl. R. G. Collingwood, An Autobiography, Oxford 1939). 7 Met. α 1 (993 b 11–14). 8 Siehe hierzu ausführlich A. Speer: Fragile Konvergenz. 3 Essays zu Fragen metaphysischen Denkens (éditions questions, Sonderband 7), Köln 2010, 22–28. 5 6

Einführung

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Begriffsgeschichte angemessen erfaßt werden kann, will man nicht einem naiven Dogmatismus erliegen, der sich dieser Tatsache selbst nicht einmal bewußt ist. Das gilt in einem verschärften Maße bei der Übernahme eines Begriffes aus einem anderen theoretischen Kontext. Wie sehr die ursprünglichen Bedeutungskontexte oftmals auch nach dessen Übertragung in einen anderen theoretischen Kontext weiterwirken, hat in jüngster Zeit unter anderem Giorgio Agamben eindringlich demonstriert9. Gleiches trifft auf Theorien zu: auch diese haben eine Geschichte. Sie sind Teil einer Wirkungs- und einer Problemgeschichte. Denn Theorien stellen Antworten auf Fragen dar. Dies gilt erst recht für die Fragen der Philosophie. Diese unterscheiden sich von pragmatischen oder wissenschaftlichen Fragen vor allem dadurch, daß sie oftmals zu komplex und zu weitreichend sind, als daß wir Menschen sie überhaupt beantworten könnten. Collingwood spricht in diesem Zusammenhang von »absolute presuppositions«, absoluten Voraussetzungen oder Grundüberzeugungen, die unseren Fragen und den Fragen und möglichen Antworten der Wissenschaften zugrundeliegen. Diese absoluten Grundüberzeugungen oder absoluten Voraussetzungen sind der eigentliche Gegenstand der Philosophie und in Besonderheit der Metaphysik einschließlich ihrer Geschichte. Denn es handelt sich eben nicht einfach um Antworten auf Fragen, sondern vielmehr um Voraussetzungen für Fragen, und deshalb – so Collingwood – ist die Unterscheidung zwischen wahr und falsch auf sie gar nicht ohne weiteres anwendbar10. Folglich läßt sich Philosophie nicht angemessen als problemlösendes Denken rekonstruieren. Es ist vielmehr die Aufgabe der Philosophie, über die kontextuelle Basis ihrer Argumente selbst nachzudenken, sie zum Gegenstand der Reflexion auf die jeweiligen Gründe und deren Geltung zu machen. Hierbei stellt sich die Frage, inwieweit die historische Rekonstruktion eines Problems bzw. der Geschichte eines Begriffs und die Fragestellung, die jeder Begriff in sich trägt, unterschieden werden können. Schon lange vor Michel Foucault evoziert Robin George Collingwood das Bild des Philosophen als eines Archäologen, der wie dieser tiefer gräbt als die anderen Wissenschaften und bei seinen Untersuchungen auf das Netz von Hintergrundüberzeugungen stößt, das unser Weltverständnis und Weltverhältnis bestimmt. Er entdeckt die Konstellationen jener Präsuppositionen, die unseren Unterscheidungen in wahr und falsch zugrundeliegen. Er legt die Sicht auf die grundeliegenden Strukturen frei – jedoch nicht ich Gestalt eines absoluten Wissens, sondern aus der Perspektive einer endlichen und damit geschichtlichen Vernunft. Ziel einer solchen Archäologie ist weniger die Erforschung der Vergangenheit, als vielmehr das bessere Verständnis unserer gegenwärtigen Fragen – ganz im Sinne von Collingwoods »Laboratorium historischen Denkens«, das im Kern als eine fragende Aktivität zu begreifen ist, die nicht nur die Bedingungen

Verwiesen sei exemplarisch auf Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Frankfurt a.M. 2010), das als Teil II.2 des Homo Sacer-Projekts erschienen ist (Italienisch: Il Regno e la Gloria. Per una genealogia teologica dell’economia e del governo, Vicenza 2007). 10 R. G. Collingwood: Denken. Eine Autobiographie (wie Anm. 6), 66; R. G. Collingwood: An Essay of Metaphysics, Revised Edition, ed. with an introduction by Rex Martin, Oxford 1998, 59. 9

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Kolloquium 13 · Andreas Speer

menschlichen Verstehens allgemein betrifft, sondern eine Dimension menschlicher Existenz selbst darstellt11. Die Beiträge dieser Sektion nähern sich der Frage der historischen Gründe aus unterschiedlichen Perspektiven an. Sie bilden gewissermaßen Fallstudien, welche die gemeinsame Fragestellung nach den historischen Gründen in unterschiedlichen Perspektiven ausleuchten. (i) Thomas Zwenger befaßt sich mit der Form der Historie oder Geschichtsschreibung, das heißt mit der Frage, welches das spezifische Geltungsmoment der besonderen Textsorte »Geschichte« ist und inwiefern, ja ob dem historischen Denken überhaupt eine Begründungsfunktion zukommt. (ii) Nach Georgi Kapriev gründet jede Philosophie auf einer axiomatischen Basis im Sinne von vorprädikativen Evidenzen jeglichen, also auch des philosophischen Denkens. Als Beispiel dient ihm die byzantinische Philosophie. Diese Basis, die keiner Notwendigkeit einer expliziten Erörterung unterliegt, wird zum Thema nur dann, wenn das Paradigma in einer Krise steckt. (iii) Costantino Esposito schließlich sieht in der geschichtlichen Dimension jeder metaphysischen Fragestellung mehr als einen bloßen Zeitindex, vielmehr ein Geschehen. Gerade deshalb können die philosophischen Grundlagen nicht einfach als ungebunden und zeitlos gedacht werden; sie sind vielmehr als geschichtliche Elemente zu denken, ohne deshalb in einem historistischem Sinn »relativiert« zu werden. Für die Geschichte der Metaphysik bedeutet dies, daß wir uns nicht auf etwas Zeitloses im philosophischen Diskurs, vielmehr auf das Verhältnis von Zeitlichem und Zeitlosem beziehen. Ideen, Begriffe und Probleme der Philosophie – die Zeichen eines unaufhaltsamen Fragens der menschlichen Vernunft – lassen sich folglich nur entziffern, sofern sie sich auf gegenwärtige Fragen beziehen.

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R. G. Collingwood: Denken. Eine Autobiographie (wie Anm. 6), 27.

Das Problem des »historischen Zusammenhangs«. Geschichte als »narrative Konstruktion in praktischer Absicht« Thomas Zwenger

Einleitung Wenn im Rahmen des Deutschen Kongresses für Philosophie mit dem Gesamtthema »Welt der Gründe« ein Kolloquium mit der Überschrift »Historische Gründe« veranstaltet wird, so ist klar, daß es hier um einen grundsätzlichen Konflikt innerhalb der Philosophie als Universitäts-»Fach« geht, nämlich um den Konflikt zwischen systematischem und historischem Denken, oder – wie man im anglo-amerikanischen Bereich gerne sagt –, zwischen »Philosophy proper« und (bloßer) »History of Philosophy«. Die Frage lautet also, ob in der Philosophie Argumente »historisch begründet« werden können oder nicht, ja, ob das historische Denken überhaupt eine »Begründungsfunktion« haben kann. Diese Frage ergibt sich aus dem spezifischen Methodenproblem der Philosophie, das ihrer problematischen Stellung gegenüber den »wissenschaftlichen« Disziplinen an der Universität geschuldet ist. In der Philosophie wird argumentiert, die Philosophie ist geradezu nichts anderes als Argumentation. Die Philosophie besteht aus »Meinungen« [gr. δόξαι], deren Überzeugungskraft durch das »Angeben von Gründen« [gr. λόγον διδόναι] verbessert werden sollen. Dieser Prozeß der philosophischen Erkenntnisgewinnung durch argumentative Wechselrede, bei der die Diskutanten ihre Meinung als die jeweils stichhaltigere zu »rechtfertigen« versuchen, heißt seit Platon »Dialektik«, so daß die Philosophie in diesem Sinne eigentlich immer vornehmlich ἐπιστήμη διαλεκτική ist.1 – Das Begründen ist der Lebensnerv der Philosophie, und daher wird man sagen können, daß Begründungen und Rechtfertigungen konstitutive Bestandteile philosophischer Erkenntnis sind. Unter »Begründung« verstehen wir ein logisches Verfahren, bei dem eine Behauptung, eine Meinung, eine Argumentation, eine Überzeugung insofern »gerechtfertigt« wird, als sie auf einen allgemeineren Satz zurückgeführt wird, aus welchem sie gemäß einer logischen (Schluß-)Regel folgt. Wohlgemerkt, bei der Begründung geht es nicht um den Beweis einer Aussagenwahrheit, sondern lediglich um die Schlüssigkeit des Verhältnisses von Grund und Folge. Begründungen sind nicht »wahr« oder gelten »objektiv«, weil sie notwendig ein subjektives bzw. normatives Moment enthalten, da das »InAnschlag-Bringen« eines Grundes nicht allein aus logischem oder empirischen Zwang erfolgt. Deshalb wird man zwischen guten und weniger guten Gründen unterscheiden müssen, so daß Begründungen mehr oder weniger »überzeugend« sein können, Argu1

Vgl. Platon: Sophistes 253 b9-e2.

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Kolloquium 13 · Thomas Zwenger

mente mehr oder weniger »Stich halten«. – In den (positiven) Wissenschaften spielt das Begründen dagegen keine Rolle, weil es hier stets um »Wahrheit« geht. Hier werden Erfahrungserkenntnisse, etwa Beobachtungssätze durch »Theorien«, also explanatorische Begriffsschemata als »objektiv gültig« erwiesen bzw. »erklärt«. Der Erklärungs-Grund ist dabei eine als wahr ausgewiesene Gesetzesaussage (Theorie). In der Diskussion zwischen Vertretern des »historischen« und des »systematischen Argumentierens« in der Philosophie wird meist die Frage komplett ausgeblendet, was eigentlich unter einer »historischen Begründung« bzw. unter »historischen Gründen« zu verstehen ist. Ich möchte in meinem Beitrag – der sich natürlich nicht als historische, sondern als systematische Argumentation versteht – darauf aufmerksam machen, daß »historisch Argumentieren« nichts anderes heißt als »eine Geschichte erzählen«. Daraus folgt aber, daß nur dann überhaupt »historisch begründet« werden kann – sei es in der Philosophie oder sonstwo –, wenn gezeigt werden kann, daß das logische Verfahren der Begründung überhaupt ein wesentliches – und das heißt konstitutives – Element bei der Gewinnung historischer Erkenntnis sein kann. Ich werde dafür argumentieren, daß dies nicht der Fall ist, das heißt daß Begründung in der und für die Geschichte nicht konstitutiv ist, sondern nur ein ephemeres oder zufälliges Instrument bildet. Der Hauptgrund dafür ist, daß in der Geschichte – anders als in der Philosophie – nicht primär argumentiert wird. Sondern die Geschichte ist ihrer Form nach eine andere, eigene Textsorte, sie ist im wesentlichen »Erzählung« und nicht Argumentation. Die Erkenntnisgewinnung geht in der Geschichte nicht dialektisch, sondern konstruktiv vor sich. Man könnte auch sagen, daß es beim Erzählen um nichts als um die Konstruktion eines Sinn-Zusammenhangs geht, oder – mit einem Ausdruck des Philosophen Hans Michael Baumgartner – um eine »narrative Konstruktion in praktischer Absicht«2, nämlich in der Absicht, eine konsistente Geschichte zu erzählen. Die folgenden Ausführungen befassen sich daher zunächst ausschließlich mit der Form der Historie oder Geschichtsschreibung, das heißt mit der Frage, welches das spezifische Geltungsmoment der besonderen Textsorte »Geschichte« ist. Wegen der Geltung des sogleich zu besprechenden »Homogenitätsprinzips« der Textsorte Erzählung ist weder der Unterschied zwischen Form und Inhalt, noch die Unterscheidung zwischen »wahren« und »erfundenen« (fiktiven) Geschichten rationalisierbar.

Subjektive – objektive Geschichte Zu Beginn wollen wir 200 Jahre in die Vergangenheit zurückgehen und zitieren, was Hegel über die Form der Geschichte verlautet. An der berühmten Stelle in der Einleitung zu seinen »Vorlesungen über Philosophie der Geschichte« eröffnet Hegel den Unterschied zwischen »subjektiver« und »objektiver Geschichte«: »Geschichte vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl als subjektive Seite und bedeutet ebenso gut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst; sie ist das Geschehene nicht minder wie die 2

Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte, Frankfurt a. M., 356.

Das Problem des »historischen Zusammenhangs«

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Geschichtserzählung.«3 Geschichte ist also sowohl – objektive – das, was »wirklich« in der Vergangenheit geschehen ist, als auch – subjektive – das, was Menschen, etwa Historiker, von diesem vergangenen Geschehen zu berichten wissen. Als diese »subjektive« Geschichte ist sie Überlieferung in der Form eines sprachlichen »Textes«. Diese Unterscheidung ist absolut notwendig und für uns Menschen schlechterdings unaufhebbar (tertium non datur). Es gibt keine Möglichkeit, aus einer übergeordneten Perspektive zu entscheiden, was es denn mit der Geschichte »in Wirklichkeit« auf sich hat. Und so ergeben sich bezüglich der Form der historischen Erkenntnis aus Hegels Unterscheidung zwangsläufig zwei spezifisch philosophische Problemfelder, die hier als das »Objektivitätsproblem« und das »Subjektivitätsproblem« der Geschichte bezeichnet werden sollen.

Das »Objektivitätsproblem« der Geschichte Beginnen wir mit dem »Objektivitätsproblem«. Dieses erkenntnistheoretische Grundproblem ist allen positiven Wissenschaften gemeinsam und hält auch heute noch die Wissenschaftstheorie in Atem. Es besteht in der Schwierigkeit, daß in der Empirie nichts Notwendiges erkannt werden kann, also in der problematischen Allgemeingültigkeit empirischer Erkenntnis. In den Geisteswissenschaften und also auch in der Geschichtswissenschaft ist diese Schwierigkeit insofern noch verstärkt, als diese Wissenschaften ja überhaupt nicht über empirische Erkenntnis im eigentlichen Sinne, das heißt über Erfahrungserkenntnis sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände verfügen. Weshalb man ihnen in den großen überdisziplinären Debatten der Vergangenheit schon mal gerne den Wissenschaftsstatus ganz aberkennen wollte. Aber auch die Geschichtswissenschaft hat ein »Objektivitätsproblem«, wenngleich es sich etwas anders darstellt als in den positiven Wissenschaften. Denn auch in der Geschichte haben wir es ja mit der konkreten Wirklichkeit zu tun. Freilich ist die Wirklichkeit der Geschichte eine vergangene. Die Vergangenheit aber zeichnet sich dadurch aus, daß sie eben vergangen ist, dahin, nicht mehr da. Und es gibt keine Möglichkeit, das vergangene Geschehen als solches, eben als das, was jetzt nicht mehr ist, wieder zu vergegenwärtigen. Was in der Geschichte fehlt, ist eine Methode der Verifikation der Erkenntnis. Die positiven Wissenschaften verfügen über eine solche Methode. Diese Methode besteht darin, daß wir uns durch die sinnliche Anschauung diese Gegenstände der Erfahrungserkenntnis jederzeit vor Augen führen können – sie sind grundsätzlich epistemisch zugänglich, und eben das zeichnet sie ja als »das Positive« im Sinne Auguste Comtes aus. Dadurch aber werden diese Erkenntnisgegenstände zu etwas Allgemeinem, zu »generischen« Gegenständen. Die Methode ihrer Erkenntnis kann so rational als Verfahren der Subsumption unter allgemeine Regeln beschrieben werden, die besagen, »von welcher G. W. F. Hegel: Werke in 20 Bänden (hg. E. Moldenauer u. K. M. Michel), Frankfurt a. M. 1970 ff., Bd. 12, 82. 3

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Art« solche Gegenstände sind. Die »Objektivität« der Erfahrungserkenntnis wird – kantisch gesprochen – dadurch gesichert, daß die sinnlichen Anschauungen auf allgemeine Begriffe von Gegenständlichkeit überhaupt bezogen werden können. Das macht den methodischen Vorteil der positiven Wissenschaften aus: Der Gegenstand wird hier nicht in seiner Individualität und damit seiner subjektiven zeitlich-räumlichen Festlegung, das heißt in der Perspektivität eines individuellen Betrachters, angesprochen. Eine Geschichtserzählung dagegen beinhaltet nur oder besteht aus einzelnen Ereignissen, die wegen ihrer »Zeiteinmaligkeit«4 uns nicht »jederzeit vor Augen geführt« werden können. Diese geschichtlichen »Gegenstände« sind in dem Sinne reine Individuen, als sie ganz im Erleben eines individuellen Betrachters bestehen. Ereignisse, so könnte man allgemein mit einem sozusagen »lebensphilosophischen« Ausdruck sagen, werden nicht wahrgenommen, sondern erlebt. Im Erleben ist keine sinnliche Anschauung im Spiel, sein »Seinsmodus« besteht gewissermaßen im (zeitlichen) »Vergehen«. Die bittere Konsequenz dieser unwiderruflichen Vergangenheit der »Gegenstände« historischer Erkenntnis besteht darin, daß uns schlechthin jeder epistemische Zugang zu ihnen fehlt. Wir können uns noch so sicher sein, daß ein bestimmtes Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort stattgefunden hat, wir können noch so sichere Beweise dafür anbringen, wir werden aber die – sozusagen »objektive« – »Wirklichkeit« des Ereignisses nicht wiedererwecken. Diese epistemische Unzugänglichkeit der Vergangenheit ist etwas, womit sich unser Alltagsverständnis der Geschichte gar nicht oder nur äußerst schwer abfinden mag. Es scheint uns so selbstverständlich, daß die Ereignisse der Vergangenheit »wirklich«, im Sinne objektiver Tatsachen stattgefunden haben, völlig unabhängig von der subjektiven Erlebens-Perspektive einzelner Menschen. So schreibt etwa der amerikanische Philosoph C. D. Broad: »Mir erscheint es so, als wenn ein Ereignis, sobald es einmal geschehen ist, in alle Ewigkeit existieren muß«.5 Nun ist es klar, daß nur unter der Voraussetzung einer solchen Objektivitätsthese der Geschichte irgendeine Art von historischer Begründung sinnvoll erscheinen kann. Aber diese vermeintliche Objektivität der historischen Erkenntnis und die damit verbundene Unterstellung eines ebenso objektiven – zum Beispiel zeitlichen oder kausalen – Zusammenhangs vergangener Ereignisse ist nichts anderes als ein – wiewohl schwer auszurottendes – geschichtsphilosophisches Vorurteil. Im Gefolge der historistischen Gründung einer institutionalisierten wissenschaftlichen Geschichtsschreibung – die sich ja immerhin zu Anfang noch ausschließlich als wissenschaftliche Quellenkritik verstand6 – insbesondere in der sprachanalytischen Diskussion des 20. Jahrhunderts wird sogar die naiv-geschichtsphilosophische Behauptung der Geschichte als einer Art »empirischer Erkenntnis« propagiert. So in den Debatten um die sog. Historischen Gesetze, wo – etwa bei K. R. Popper oder M. Mandelbaum – die Wissenschaftlichkeit der Geschichte 4 5 6

Dieser Ausdruck stammt von Johannes Thyssen: Die Einmaligkeit der Geschichte, Bonn 1924. Zitiert nach A. C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt/M. 1974, 236. Vgl. J. G. Droysen: Grundriß der Historik, hg. von Peter Leyh, Stuttgart-Bad Cannstadt 1977.

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rigide an die Methodologie einer objektivistischen »Logik der historischen Forschung« geknüpft wird, eine Forderung, die bis heute für die meisten Historiker unverständlich ist. Wir können das »Objektivitätsproblem« der Geschichte auf sich beruhen lassen. Für die tägliche Arbeit der Historiker ist es im Grunde genommen nicht bedeutungsvoll. Es bleibt lediglich kritisch festzuhalten, daß wir getrost von dem naiven geschichtsphilosophischen Bild der »objektiven Geschichte« Abschied nehmen können. Die objektivistische Illusion in der Geschichtsschreibung ist nichts als schlechte Geschichtsmetaphysik. Die res gestae sind und bleiben unwiederbringlich in den Tiefen der Vergangenheit verschwunden und dem menschlichen Erkenntnisvermögen verborgen. Unsere einfältige Hoffnung, dermaleinst den »Fahrstuhl in die Römerzeit« betreten zu können, wird sich sicher nicht erfüllen. Irrationale Vorstellungen dieser Art kommen allenfalls in den Zeitreisen- und Parallelwelten-Phantasien der Science Fiction vor, oder werden zum Gegenstand der Satire wie beispielsweise neuerdings wieder in Woody Allens amüsantem neuen Film »Midnight in Paris«. Was immer die Geschichte für uns Menschen bedeuten kann, sie ist immer nur in der rerum gestarum memoria zu haben, nämlich als erzählende Vergegenwärtigung von Erinnerung. Das »Subjektivitätsproblem« der Geschichte Da uns also die »objektive Geschichte« im Sinne Hegels, die res gestae selbst nicht gegeben ist, weil uns der epistemische Zugang zur Vergangenheit verschlossen ist, so bleibt uns für eine Geschichtsschreibung ausschließlich die Hegelsche »subjektive Geschichte«, also die memoria rerum gestarum, was ja nichts anderes heißt als die Erinnerung oder das Gedächtnis des Vergangenen. Als Gedächtnis ist die Geschichte aber immer nur etwas Geistiges, nichts (objektiv) Wirkliches, sondern nur ein Konstrukt bzw. ein Sinn-Zusammenhang im Kopfe des Historikers oder Geschichtenerzählers. Die Geschichte gehört somit in die semantische Kategorie der Texte, sie ist genauer gesagt »Erzähltext«. Denn das »Erzählen« ist die uns Menschen mögliche und eigentümliche Art und Weise der symbolischen, das heißt schriftlichen oder mündlichen Wiedergabe oder Beschreibung von Erlebtem. Unser eigenes vergangenes Erleben liegt uns subjektiv als Erinnerung, als memoria vor, das Erzählen ist mithin textuelle Vergegenwärtigung des Erinnerten. Die Vergangenheit, also auch das Erleben anderer, ist für uns Menschen immer nur in dieser subjektiven Form der erzählten Geschichte zu haben. Wir haben keinen direkten oder objektiven Zugang zur Vergangenheit, sondern nur dadurch, daß wir verstehen, was uns jemand erzählend zu verstehen gibt, seien es Historikerinnen, Dichter, Journalisten, Zeitzeugen, unsere Großeltern oder wer auch immer. Das »Subjektivitätsproblem« der Geschichte ergibt sich daraus, daß der Erzähltext, der die Geschichte – jede Geschichte – ausmacht, etwas rein Geistiges ist, eine identifizierbare Texteinheit, ein Artefakt, das nicht von Natur aus vorhanden ist, sondern aufgrund einer bewußten Zwecksetzung eines vernünftigen Wesens zustandegekommen

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ist. Sie ist eine »narrative Konstruktion in praktischer Absicht.«7 Entsprechend diesem Ausdruck hat das Subjektivitätsproblem zwei Facetten:

(1) Erste Gestalt des Subjektivitäts-Problems (»narrative Konstruktion …«) Es bedeutet zum einen, daß sich die Erzählung nicht auf eine gleichsam »außerhalb« befindliche und in diesem Sinne »objektive« Realität beziehen kann. Sie ist eine Bedeutungs-Konstruktion, die kein unabhängig existierendes »Referenz-Objekt« hat. Deshalb kann es auch nicht darum gehen, etwa durch empirischen Nachweis der Übereinstimmung mit diesem Referenz-Objekt ihre »Wahrheit« zeigen. Sie hat keine objektiven Wahrheitsbedingungen. Daraus folgt, daß die Erzählung – im Gegensatz etwa zu einer Tatsachenbeschreibung – in dem Sinne homogen ist, als sie keine objektiv definierten Bestandteile enthält. Eine Tatsachenbeschreibung ist dementsprechend heterogen, weil sie unterschiedliche – nämlich sinnliche und begriffliche – Bestandteile enthält. Homogenität der Geschichte heißt also, daß die Teile des Erzähltextes nicht von anderer Art sind als dieser Text selbst. Eine Geschichte besteht nicht aus einzelnen Ereignissen, oder Handlungen von Menschen, sondern »Geschichte ist immer nur Geschichte«, die Teile eines Erzähltextes sind immer nur selbst Erzähltexte, nicht etwa die Gegenstände, von denen die Erzählung erzählt: »History tells stories.«8 Und eben nichts anderes! In einer Geschichte kann nichts vorkommen, was nicht selbst die Form einer Geschichte hat. Jede Geschichte und so auch die von den Historikern erzählte Geschichte besteht aus kleineren Geschichten, sozusagen Unter-Geschichten. Insbesondere sind die von Historikern in ihren Geschichten verwendeten Begriffe (die sog. »Historischen Begriffe«9) immer nur »Überschriften« für weitere eigene Geschichten)10. Die Geschichte als Erzähltext ist eine kontinuierliche geistige Bedeutungskonstruktion, ein Sinn-Zusammenhang, der nicht dadurch entsteht, daß seine Teile begrifflich (definitiv) zum Ganzen der Erzählung zusammengesetzt würden. Der Sinn-Zusammenhang Erzählung ist mithin ein amorpher nicht a priori geregelter Zusammenhang, sondern ein Zusammenhang, der lediglich in der formalen Einheit bzw. der »Kontinuität« des Textes besteht. Diese Kontinuität oder »Sinn-Einheit« des Kant beschreibt mit dem Ausdruck »[…] in praktischer Absicht« bekanntlich die Autonomie einer Handlung, oder allgemeiner, er macht den Freiheitsaspekt einer Vorstellung deutlich [beispielsweise in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« oder in der »Kritik der praktischen Vernunft« passim]. 8 A. C. Danto, zitiert nach Hans Michael Baumgartner: Kontinuität und Geschichte (wie Anm. 2). 9 Vgl. Th. Zwenger: Geschichtsphilosophie. Eine kritische Grundlegung, Darmstadt 2008, 190 ff. 10 Ein vergleichbares Verhältnis eines Ganzen zu seinen Teilen beschreibt Kant in der transzendentalen Ästhetik der Kritik der reinen Vernunft, bei der metaphysischen Erörterung der Anschauungsformen Raum und Zeit: Teilt man den Raum, so erhält man immer wieder Raum, nämlich Teilräume. – Das Gegenstück zu dieser »Homogenitätsvorstellung« wäre also ein heterogenes Teil-Ganzes-Verhältnis, wie wir es etwa in Platons Beispiel von dem Schiff haben, das aus vielen anders gearteten Teilen, wie Nägeln, Planken, Segeln usw. zusammengesetzt ist. 7

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narrativen Textes hat formal bloß die Funktion, den Text identifizierbar und von anderen Texten unterscheidbar zu machen11. Dabei ist zu beachten, daß unabhängig davon, ob wir es mit einer wahren oder erfundenen Geschichte zu tun haben, die Einheit der Geschichte zunächst eine bloße Konstruktionsleistung seitens des Erzählers der Erzählung darstellt. Das angesprochene Subjektivitäts-Problem der Geschichte besteht also in der Schwierigkeit, im Falle der »wahren« Geschichte der Historiker objektive Kriterien für die Kontinuität dieser Geschichte anzugeben. Eigentlich ist mit dem, was oben zum »Objektivitätsproblem« gesagt wurde, auch dieses Problem schon gelöst. Wenn wir keinen epistemischen Zugang zur Vergangenheit haben, wenn wir also keine »objektive« Geschichte haben, dann besagt das ja gar nichts anderes, als daß auch nicht an einen »objektiven Zusammenhang« der vergangenen Ereignisse gedacht werden kann. In dieser formalen Hinsicht unterscheiden sich die unendlich vielen – erfundenen und wahren – Geschichten, die immer schon von allen Menschen erzählt worden sind, nicht von der einen wahren Geschichte und ihren Teil-Geschichten, die die Historiker erzählen. Jeder einzelne Erzähl-Text hat seine eigene Sinn-Gestalt oder Kontinuität. In dieser chaotischen Vielfalt gibt es kein System und keine Regeln. Da gibt es das eine Extrem, wo die Kontinuität der Geschichte geradezu durch das völlige Fehlen irgendeines Zusammenhangs hergestellt wird; das heißt es wird eine Geschichte erzählt, die eine völlig willkürliche Aufeinanderfolge von Zufällen dargestellt.12 Dann geht die Liste weiter über zu der Möglichkeit einer bloßen Chronologie, wobei die Geschichte als Ereignisfolge durch bloßes Aneinanderreihen von »… und dann … und dann … und dann …« konstruiert wird. – Dann sind da die vielen Geschichten, die in der Form einer Charakterstudie oder eines »Lebensbildes« etwa einer Person oder einer Gruppe von Personen verfaßt sind; Biographien fallen in dieses Genre. – Oder man kann die Geschichte als Strukturgeschichte zu schreiben, indem man abstrakte synchronische Zusammenhänge analysiert. – Und schließlich kann man zu dem anderen Extrem gelangen, das wir in substantialistischen Geschichtsphilosophien beispielsweise Hegelscher Provenienz finden, wo die Geschichte als objektiver planvoller Zusammenhang vorgestellt wird, der auf den Willen eines – möglicherweise göttlichen – Planers zurückgeht. Doch damit der grundsätzliche Unterschied zwischen den »fiktiven« und den »wahren« Geschichten deutlicher wird, ist hier dennoch eine Präzisierung des Begriffs des »Sinn-Zusammenhangs« nötig. In allen Überlegungen zur Theorie der Geschichte seit der Antike bis heute wird wie selbstverständlich die Vorstellung dargetan, daß trotz der epistemischen Unzugänglichkeit der vergangenen Ereignisse selbst, aufgrund genauer Dieser Sinn-Zusammenhang ist es natürlich, der uns zum Beispiel ermöglicht, zwei Geschichten, in denen gleiche Namen vorkommen, von einander zu unterscheiden, wie etwa im Falle von Dan Simmons’ Roman Flashback, in dem die Hauptperson Nick Bottom heißt, und Shakespeares Midsummer Night’s Dream, in welchem ebenfalls ein Nick Bottom [der Weber Klaus Zettel in der deutschen Übersetzung] vorkommt. 12 So etwa in dem Roman des ungarischen Nobelpreisträgers Imre Kertész: Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind. 11

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Quellenanalyse immerhin gewisse »objektive« Verhältnisse zwischen solchen Ereignissen rekonstruiert werden können, Verhältnisse, die sich aus der zeitlichen Datierung der Ereignisse ergeben, bis hin zu möglichen Kausalverhältnissen, so daß man in der Tat überall in der Geschichte »objektive« (zeitliche) Zusammenhänge zwischen vergangenen Ereignissen feststellen kann. Nun ist es sicherlich unstrittig, daß eine mögliche korrekte »Chronologie« der Ereignisse zu den notwendigen Bedingungen aller Geschichtsschreibung gehört. Aber sie gehört eben freilich bloß zu den Voraussetzungen. Denn die Chronik ist noch nicht selbst die Geschichte. Eine Chronik ist kein narrativer Text, eben weil sie keinen SinnZusammenhang darstellt. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß man in bestimmten Fällen – etwa bestimmten Formen der Ereignisgeschichte – die Chronik als Gliederungsschema einer Geschichte einsetzen kann, wenn man glaubt, daß sich das Verständnis der Geschichte eben aus der zeitlichen Aufeinanderfolge bestimmter Ereignisse ergibt. Als »objektives« Moment der Geschichtsschreibung gehört die Chronik überhaupt nicht zur »Form der Geschichte«, sondern zu ihrem »Inhalt«. Dieser Inhalt der Geschichte ist uns aber wie gesagt nicht direkt zugänglich, sondern besteht aus dem, was man mit Paul Ricoeur die dinglichen »Spuren« der Vergangenheit nennen kann. Die Chronik gehört – mit anderen Worten – in den Bereich der »Quellen«, denn wie die anderen Überreste, Dokumente, Zeugenaussagen und so weiter, so muß auch die Chronik interpretiert oder gedeutet werden, damit daraus ein »Narrem« als Bestandteil eines Erzähltextes werden kann. Was wir allgemein als »Geschichtsbewußtsein« bezeichnen, ist im Wesentlichen nichts anderes als das menschliche Vermögen, »wahre« von bloß »erfundenen« Geschichten unterscheiden zu können. Das Subjektivitäts-Problem der Geschichte zeigt uns, daß dieser Unterschied gar nicht die Form des Erzähl-Textes, sondern den Inhalt oder Gegenstand der historischen Erkenntnis betrifft. Hierzu zwei Anmerkungen: (1) Besonders in szientistischen Ansätzen der Geschichtstheorie, wie etwa Jörn Rüsens »Historik« wird die Objektivität der Zeitverhältnisse geradezu als Beleg für den empirischen Charakter der »historischen Forschung« angesehen13. Die Chronologie ist für Rüsen somit nicht allein ein Ersatz, sondern in der Tat die objektive »(Real-) Geschichte«! Dabei verwechselt er ganz offensichtlich oder wirft zusammen die Objektivität bzw. epistemische Zugänglichkeit der Quellen einerseits mit der vermeintlichen Objektivität der (epistemisch unzugänglichen) vergangenen Ereignisse andererseits. Und die »Wissenschaftlichkeit« derjenigen historischen Hilfswissenschaften, die – wenigstens zum Teil mit empirischen Methoden – der Erforschung der Quellen dienen, begründet die Wissenschaftlichkeit der Historie selbst. Folgerichtig wehrt sich Rüsen vehement gegen alle narrativen Ansätze in der Geschichtstheorie. Denn wenn der Sinn-

Z. B. Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik, Bd. I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1982; Bd. II: Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986; Bd. III: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989. 13

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Zusammenhang der Geschichte in der wissenschaftlichen Erforschung der Quellen objektiv »erkannt« bzw. aus den objektiven Zeitverhältnissen der Vergangenheit herausgelesen werden kann, dann ist die formale Struktur oder Gestalt der GeschichtsErzählung bloß eine sekundäre Angelegenheit der »Präsentation« der objektiven Forschungsergebnisse. Wenn man wie etwa Hayden White oder andere Theoretiker eines Narrativismus die bloß subjektive Sinnbildung des Erzählens zum konstitutiven Moment der Geschichte überhaupt macht, dann öffnet man nach Rüsens Ansicht der Beliebigkeit oder gar einem subjektiven »Konstruktivismus« Tür und Tor. Das wäre das Ende jeder ernsthaften wissenschaftlichen historischen Forschung. (2) Im finsteren, post-aufklärerischen 19. Jahrhundert kehrt mit Schopenhauers Wende von der Vernunft zum Willen als Prinzip dessen, »was die Welt im Innersten zusammenhält« der Irrationalismus in die Philosophie ein. Die Geschichtsphilosophie »nach dem Ende der Geschichtsphilosophie«14 hat das Subjektivitätsproblem der Geschichte denn auch vornehmlich damit zu überwinden versucht, daß sie stets nach einem außerhalb der Vernunft situierten und damit vermeintlich nicht-mehr-bloß-subjektiven, also quasi-objektiven oder doch wenigstens »inter-subjektiven« Prinzip der Bedeutung oder Sinnhaftigkeit der Geschichte gesucht hat. Aus der geschichtsphilosophischen Grundannahme, daß in der zeitlichen Abfolge der vergangenen Ereignisse ein – wenngleich uns Menschen letztlich verborgenes – geschichtliches Entwicklungsprinzip wirksam sein müsse, erwächst namentlich in lebensphilosophischen Strömungen von Nietzsche über Dilthey und Simmel bis Spengler die Vorstellung, daß dieser »Sinn der Geschichte« mit jenem »dunklen Trieb«, aus dem alles entsteht, dem »Leben selbst« zusammenhängen muß. So wird hier der Begriff der »Geschichtlichkeit« des menschlichen Lebens und Er-lebens zur Folie für eine gleichsam metaphysische Deutung des Sinn-Zusammenhangs der Geschichte: so, wenn etwa bei Wilhelm Dilthey oder Georg Simmel versucht wird, die Geschichte der Menschheit per Analogie formal mit der Lebensgeschichte eines Menschen zu parallelisieren. Selbst bei Jürgen Habermas finden wir noch die naive Hoffnung, daß das »Orientierungswissen«, das uns die Geschichte liefern soll und in welchem sich die Bedeutung der Geschichte zeigt, gleichsam – quasiobjektiv – aus der Geschichte selbst erwächst und damit ideologiefrei von den partikulären Interessen der Menschen unabhängig vom Historiker formuliert werden kann.

(2) Zweite Gestalt des Subjektivitäts-Problems (»… in praktischer Absicht«) Die zweite Facette des Subjektivitäts-Problems besteht in der Frage nach dem Autor bzw. dem Erzähler der Geschichte. »Wo überhaupt erzählt wird, ist Kontinuität gesetzt, und wo Kontinuität gesetzt ist, da wird erzählt.«15 Die Betonung liegt dabei auf der Nach dem bekannten Aufsatztitel von Odo Marquard in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973. 15 H. M. Baumgartner: Kontinuität und Geschichte (wie Anm. 2), 364. 14

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Setzung; das bedeutet, daß eine Erzählung eine rein geistige Konstruktion ist, als »Verstandeshandlung« oder Funktion der »reflektierenden Urteilskraft« aufgefaßt werden muß, die sich nicht auf objektive Wirkmechanismen zurückführen läßt. Man muß sich klar machen, daß man eine Geschichtserzählung überhaupt nur dann als »sinnhaften« Zusammenhang verstehen kann, wenn sie einem sinnstiftenden symbolisch kommunizierenden Autor zugeschrieben werden kann. Der Erzähler der Erzählung ist der »Geist der Geschichte«16, der autonom die Kontinuität seiner Geschichte bestimmt. Jede Geschichte – das ist die Konsequenz aus ihrer »Subjektivität« – ist somit eine »freie Konstruktion« eines des symbolischen Ausdrucks fähigen Wesens17, so daß man sagen kann, daß das Geschichten-Erzählen geradezu das Signum der menschlichen Freiheit ist. Soweit ist die Subjektivität als eine gleichsam transzendentale Ermöglichungsbedingung jeder Erzählung anzusehen, was sich in dem Begriff der (narrativen) Konstruktion andeutet. Wenn wir uns aber den besonderen »wahren« Geschichten bzw. – mit dem im 19. Jahrhundert aufgekommenen Kollektiv-Singular18 – der Geschichte zuwenden, die die Historiker erzählen, so entsteht eigentlich erst hier dieses Subjektivitäts-Problem. Wir haben oben das Vermögen, »wahre« von bloß erfundenen Geschichten unterscheiden zu können, mit dem Geschichtsbewusstsein des Menschen identifiziert. Dabei ist deutlich zu erkennen, daß der Unterschied zwischen diesen beiden Arten der Erzählung nicht in ihrer Form, sondern allein in ihrem jeweiligen Gegenstand zu suchen ist. Eine »wahre« Geschichte handelt von dem, was »in Wirklichkeit« vorgefallen ist. Also muß sich die Geschichte der Historiker doch irgendwie auf die vergangene Wirklichkeit beziehen. Weil diese aber kein Gegenstand objektiver Erkenntnis sein kann (s. o.), so kann dieser Bezug nur mittelbar sein, muß sich auf eine Interpretation der zur Verfügung stehenden »Quellen« stützen. Die »Wahrheit der Quellen« verantwortet so die »Wahrheit der Geschichte«. Daher kann der Bericht des Historikers nicht »wahrheitsgetreu« im Sinne einer adaequatio intellectus et rei sein. Der Historiker konstruiert seine Geschichte folglich lediglich mit dem Anspruch auf Wahrheit19. Genau darin besteht der Sinn der Baumgartnerschen Wendung, bei der Geschichte handele es sich um eine »narrative Konstruktion in praktischer Absicht«. Der Historiker kann nicht, wie ein Naturwissenschaftler seinen Gegenstand theoretisch beschreiben, sondern die wahrhaftige Wiedergabe des geschichtlichen Gegenstandes unterliegt einem Akt der normativen Selbstverpflichtung seitens des Geschichtsschreibers. Wilhelm von Humboldt, der von vielen für den Begründer der modernen Geschichtswissenschaft gehalten wird, erläutert in seinem kurzen Aufsatz »Über die Aufgaben des Geschichtsschreibers« (1821) sehr eindrücklich die Funktion, die dem Erzählsubjekt der Geschichte – jeder Geschichte – zukommt. Gleich zu Anfang weist er die Vorstellung

Man denke hier an jenen »Geist der Erzählung« in Thomas Manns Roman Der Erwählte. Der Mensch als ζ ον λόγον ἔχον, als »ein Wesen, das Sprache und verstand hat« (Aristoteles, Phys. 189 a 5 f.) 18 Vgl. R. Koselleck: Kritik und Krise, Frankfurt a. M. 1973. 19 Vgl. Th. Zwenger: Geschichtsphilosophie (wie Anm. 9), 207. 16 17

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ab, der Historiker verfüge über objektive Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Worum es dem Historiker allenfalls gehen könne, sei »die einfache Darstellung« des »Geschehenen«. Und da durch die Mittelbarkeit der Überreste des Vergangenen die Ereignisse »zerstreut, abgerissen, vereinzelt« und vor allem »der unmittelbaren Beobachtung entrückt« erscheinen, müsse der Historiker wesentlich »selbsttätig und schöpferisch« sein, weil der fehlende Zusammenhang des Vergangenen »hinzu empfunden, geschlossen, erraten« werden müsse. »Verknüpfungsgabe« nennt Humboldt das besondere Merkmal des Historikers. Mit »Phantasie und Ahndungsvermögen« suche er »nach der wahren Gestalt der Begebenheiten«. Und der Historiker suche diese Wahrheit »auf einem ähnlichen Wege, als der Künstler die Wahrheit der Gestalt.« So macht Humboldt klar, daß der Historiker, indem er die Geschichte mit dem Anspruch auf Wahrheit erzählt, seinen geistigen Standort zwischen Kunst und Wissenschaft hat. Übrigens ist bemerkenswert, daß Humboldts Historismus oder historischer Realismus sich kaum von der romantischen Konzeption eines Thomas Carlyle unterscheidet [Stichwort Geschichte als »Das Chaos des Seins«] Aufgrund dieses Subjektivitätsproblems der Geschichte läßt sich nun leicht einsehen, daß und warum die Geschichtsschreibung überhaupt nicht theoretische Begründungsfunktionen – wie die positiven Wissenschaften – haben kann. Die Erzählung kann in keinem Fall explanatorische Begriffsschemata entwickeln. Sie kann lediglich Fragen nach dem Zustandekommen von Erscheinungen beantworten. Beschränkt sich die wissenschaftliche Erklärung ganz auf den »Kontext der Geltung«, so bewegt sich die Geschichts-Erzählung nur im »Kontext der Genese« von Wissen. Beide Kontexte sind nicht rational vermittelbar. Auch der alte Vorwurf vom Methodendefizit der Geschichtsschreibung verfängt nicht. Die Geschichte begründet oder erklärt nichts, sondern sie zeigt uns nur auf, wie es kommen konnte, daß unsere Welt so geworden ist, wie sie ist, wer warum Schuld auf sich geladen hat und wer wofür verantwortlich zu machen ist. Historiker gleichen mithin weniger den positiven Wissenschaftlern, als vielmehr Richtern, die über »das von Menschen Geschehene« Urteile zu fällen haben. Die Urteile der Historiker sind wie die Urteile der Richter mit einem Moment von Subjektivität behaftet, was aber nur die Kehrseite der Freiheit bzw. Unabhängigkeit von irgendwelchen externen Autoritäten bedeutet. Die Subjektivität des Historikers macht genau sein kritisches Potential aus. Die Vernunft steht hier über dem (wissenschaftlichen) Sach-Verstand20. Nur aus diesem Geschichtsbewußtsein erwächst die Möglichkeit einer emanzipierten Zukunftsplanung.

Es ist interessant, hier die Rolle der (wissenschaftlichen) Gutachter im Rahmen einer Gerichtsverhandlung zu sehen: Ob der Gutachter gehört wird oder nicht, entscheidet der Richter. 20

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Fazit: Geschichten begründen nichts Wir halten fest: Historische Begründungen bzw. historische Gründe sind keine konstitutiven, also notwendigen Bestandteile einer Geschichte: sie können in einem historischen Kontext vorkommen, müssen es aber nicht. »History is all of a piece«, sagt Arthur Danto, und das heißt, die Methoden, die ein Historiker anwenden will, um die Kontinuität der Geschichte zu konstruieren, ist ganz und gar von den Interessen abhängig, die er bei dieser Konstruktion verfolgt. Daraus folgt, daß auch in allen anderen Gebieten des Geistes – wie etwa in der Philosophie – das historische Denken keine Begründungsfunktion hat. Sondern – und das ist ja auch in der Diskussion zu unserem Kolloquium deutlich geworden –, insofern die Philosophie ebenfalls keine positive Wissenschaft ist, sondern Reflexion und Urteil, so hat hier das historische Urteilen ebenfalls seinen guten Sinn.

Axiomatische Gründe und Geschichtlichkeit: Die byzantinische Philosophie und ihre gegenwärtige Rezeption Georgi Kapriev

Eine »neutrale«, vollauf voraussetzungslose Philosophie gibt es nicht, ausgenommen in der Sicht von gewissen sehr fleißig ausgespülten, oberflächlichen oder einfach schwachen Geistern. Jedes philosophische System, das wohlbegründet ist und kein abstraktes Schema sein will, soll über die kontextuelle Basis seiner Argumente reflektieren. Erst dann kann es zu einem kritischen Diskurs werden. In seinem Koordinatensystem selbst sind die anthropologische und die geschichtliche Dimension als Strukturmomente enthalten. Die Philosophie kann also keine Ansprüche auf absolute Wissenskompetenz erheben, und das absolute Wissen kann deswegen kein unmittelbares Ziel der Philosophie sein. Sie ist nicht die Weisheit, sondern das Streben danach, und sie erlangt lediglich ein Wissen, das der condition humaine zugänglich ist1. Jede Philosophie gründet mithin auf einer axiomatischen Basis. Davon, ob sie darüber reflektiert oder nicht, hängen lediglich die Qualität und die Haltbarkeit dieser Philosophie, nicht aber der erwähnte Sachverhalt ab. Diese Basis unterliegt der Norm nach keiner expliziten Erörterung; sie wird zum Thema nur dann, wenn das Paradigma in einer Krise steckt. Es geht um das System der »vorprädikativen Evidenzen« jegliches Denkens, des philosophischen inklusive. Im Fall der Philosophie sollen sie aber auch ihre diskursive Bezeugung finden können. Diese allgemeine Position ist auch für die byzantinische Philosophie gültig, sofern ihre Vertreter sich dieser Problematik und Aufgabe völlig bewußt waren. Daher habe ich sie exemplarisch für dieses Kolloquium ausgewählt.

1. Die Selbstbestimmung der byzantinischen Philosophie als christliche Philosophie Bevor ich über die Axiomatik der byzantinischen Philosophie spreche, möchte ich eine Präzisierung des Begriffs vorausschicken. Wenn ich von »Philosophie in Byzanz« spreche, meine ich für gewöhnlich die Gesamtheit aller philosophischen Projekte in der byzantinischen Kultur. Diese Projekte unterscheiden sich voneinander in dem Maße, wie man behaupten darf, daß es in Byzanz so viele Philosophien wie Philosophen gab. Fachlich betrachtet waren sie alle Gestalten einer christlichen Philosophie. Als einzige Ausnahme kann der späte Plethon gelten, falls er die ihm zugeschriebene neo-pagane Lehre 1

Cf. A. Speer: Fragile Konvergenz. 3 Essays zu Fragen metaphysischen Denkens, Köln 2010, 11-32.

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tatsächlich entwickelt hat. Unter »byzantinischer Philosophie« verstehe ich in einem engeren Sinn die philosophischen Tendenzen, die sich von den abendländischen Traditionen hauptsächlich dadurch unterscheiden, daß sie ausdrücklicher die Betonung auf die Dynamik des Seins legen. Sie erheben zum primären Objekt des philosophischen Nachdenkens nicht die Essenz, die Substanz oder das Seiende an und für sich, sondern seine Wirklichkeit, seine Wirkungen und Bewegungen und in diesem Sinn seine Existenz, wodurch eben auch seine Wesenheit erkannt werden kann. Diese besondere Nuancierung der metaphysischen Kernproblematik betrachte ich als einen spezifischen Beitrag der philosophischen Kultur in Byzanz. Gegenstand meiner vorliegenden Betrachtung wird gerade diese Strömung sein. Auch die Byzantiner deuteten die theoretische Philosophie hauptsächlich als Erforschung des Logos der Seienden als Seiende (lόgoj tῶn ὄntwn Î ὄnta). Sie wurde als ein durch die natürliche menschliche Vernunft erhaltenes wahres Wissen über das Seiende als Seiendes verstanden, das imstande ist, seine wirklichen Gesetze zu entdecken. Die Philosophie wurde in dieser Perspektive durchgehend als der universelle vernunftmäßige Richtungsweiser auf dem Weg zur Wahrheit bestimmt, indem ihr diskursiver Charakter betont wurde. Die Philosophie und die ihr entsprechenden Erkenntnispraktiken verbleiben im Bereich des Diskurses, des rational Erreichbaren und begrifflich Artikulierbaren. Damit zugleich konnte die philosophische Praxis im byzantinischen Kontext keineswegs Entfaltung einer beliebigen, historisch bereits entwickelten Lehre sein. Die Distanz zu den hellenischen Philosophieprogrammen besaß für die byzantinischen Kultur gleichsam normativen Charakter. Noch die Kappadokier lehnen die ¹ œxw oder œxwqen filosof…a, die sog. äußere Philosophie bzw. die Philosophielehren der Hellenen ab, die der »unsrigen Philosophie« (¹ ¹metšra oder kaq᾽ ¹m©j filosof…a) gegenübergestellt wird, der Philosophie also, welche die Christen praktizieren. Eine stets wiederholte Regel fordert, daß man die heidnischen philosophischen Lehren nur zu Bildungszwecken erlernen darf, während die mögliche Befolgung des ihnen inhärenten Aberglaubens mit einem Anathema (durch das Synodikon der Orthodoxie, in den Kapiteln gegen Johannes Italos) belegt wird. Noch bei Maximus Confessor, der auch in dieser Hinsicht als Gesetzgeber agiert – seine Bedeutung für die östliche Tradition ist lediglich mit der Bedeutung Augustins für den Westen zu vergleichen2 –, wird die von den Christen praktizierte Philosophie eindeutig als »christliche Philosophie« bzw. »Philosophie den Christen nach« (kat¦ CristianoÝj filosof…a)3 bestimmt, die er als Lehre der Väter mit den Doktrinen der (hellenischen) Philosophen konkurrieren läßt4. Es ist fürwahr symptomatisch, daß der Begriff »christliche Philosophie« erst im 20. Jahrhundert dank Étienne Gilson – und zwar nur allmählich und als Ergebnis heftiger Auseinandersetzungen am Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts (wobei 2 3 4

So J. Meyendorff: Byzantine Theology, London – Oxford, 1975, 39. Mystagogia, 5 (PG 91, 673B). Cf. Opuscula theologica et polemica, 26 (PG 91, 276AB).

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die Argumente der Opponenten Gilsons auch heute noch als gültig angeführt werden5) und unter schwerwiegenden Korrekturen des ursprünglichen Konzeptes6 – im Westen durchgesetzt wurde, während er für die byzantinische Kultur vielmehr traditionsgemäß evident war. Selbst dieser Umstand deutet auf die unterschiedlich formulierten Philosophie-Konzepte der abendländischen Scholastik und der byzantinischen Denkkultur hin. Die Byzantiner unterschieden die Theologie und die Philosophie nicht auf die Weise, die für die Scholastik oder für die Neuzeit charakteristisch ist. Sie blieben der Begriffsordnung der frühen christlichen Jahrhunderte treu. In diesem Kontext ist die Theologie keine Aktivität des menschlichen Geistes. Sie ist keine rationale Deduktion offenbarter Voraussetzungen, sondern die Selbstäußerung Gottes, der dem Menschen eine Erfahrung von sich selbst gibt. Die Theologie ist Logos Gottes im Sinne des genitivus subiectivus7. Diese mystische Erfahrung, die als Teilhabe am göttlichen Geist gedeutet wird, ist kraft menschlicher Vermögen nicht erreichbar und bleibt an sich unaussagbar. Die Theologie ist Gotteserkenntnis, die von Gott selbst offenbart wird und an sich diskursiv nicht zu artikulieren ist. Die theologische Erfahrung, die innig, nicht relativ und wesentlich zeitlos ist, setzt alle übrigen Existenzbereiche als »äußerliche«. Sie bilden das »Andere«, das als die Gesamtheit der natürlichen und sozialen Möglichkeitsbedingungen gedeutet wird, wodurch sich das »Innige« im geschichtlichen Zeitraum äußert. Aus dieser Perspektive sind die christliche Philosophie und die spekulative Theologie auf ein gemeinsames Niveau gesetzt. Die Theologie als menschliches Nachdenken wird als Reflexion über die gnadenhaft erhaltene Gotteserkenntnis verstanden und übernimmt die Rolle des erhabensten metaphysischen Diskurses im Rahmen der »ersten Philosophie«. Der diskursiven Theologie und der Philosophie kommt vor dem Horizont der Theologie schlechthin lediglich ein sekundärer Charakter zu. Ihre Aufgabe besteht darin, maximal adäquat die Zeugnisse derjeningen, welche über die mystische Erfahrung verfügen, kraft der natürlichen menschlichen Vernunft zu deuten. Sowohl prinzipiell wie auch geschichtlich ist es durchaus nicht verbindlich, daß die Figur des Theologen und des Deuters der theologischen Inhalte in einer Person zusammenfallen. Die Erkenntnisdimension und die geschichtliche Verwirklichung der Theologie ist die Weisheit. Durch das Wort »Weisheit« (sofίa) wird primär die göttliche Weisheit bezeichnet, die auf die Schöpfung gerichtet ist und in denen, die sie erhalten, je nach dem persönlichen Maß innewohnt. Im aktuellen Zustand des Menschlichen ist aber die

Cf. R. Brague: Wie islamisch ist die islamische Philosophie?, in: Wissen über Grenzen. Arabisches Wissen und lateinisches Mittelalter (Miscellanea mediaevalia 33), hg. von A. Speer / L. Wegener, Berlin – New York, 2006, 165–178. 6 Cf. W. Kluxen: Die geschichtliche Erforschung der mittelalterlichen Philosophie und die Neuscholastik, in: Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 2, hg. von E. Coreth / W. Neidl / G. Pfligersdorffer, Graz – Wien – Köln 1988, 379–383. 7 Auf diese treffende Weise fasst Philipp W. Rosemann meine These in seiner Rezension über mein Buch Philosophie in Byzanz zusammen – Tijdschrift voor filosofie, 1 (2006), 171. 5

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Weisheit, die man erreichen konnte, unumgänglich mit der Ökonomie verbunden. Es geht um ein Niveau der Gotteserkenntnis, die angesichts der totalen Unüberwindbarkeit der Abgrenzung zwischen Gott und dem Menschen zugänglich ist. An einer Stelle überlegt Maximus Confessor, daß der Mensch in der neuen Existenzweise von dreierlei bewegt wird: von alogischen Phantasien (περί φαντασίας ἀλόγους); von den Prinzipien der Künste, die er, von den Umständen ausgehend, um des Nutzens willen ausübt (περί λόγους τεχνῶν ἐκ περιστάσεως διά τήν χρείαν); von den natürlichen Prinzipien gemäß dem Naturgesetz, damit er sie erkennt (περί φυσικούς λόγους ἐκ τοῦ νόμου τῆς φύσεως διά μάθησιν). Keiner dieser Motive, darauf insistiert Maximus, bewegte den Menschen ursprünglich (κατ᾿ ἀρχήν) auf eine notwendige Weise (™ξ ἀνάγκης). Der Mensch stand über alldem und benötigte es nicht. Für seine Vollkommenheit brauchte er nur die unaufhaltsame (ἄσχeτοj) Bewegung um den ihm Überlegenen, d. h. um Gott. Selbst das Erkennen wurde in der paradiesischen Existenzweise nicht durch die »natürliche Schau« (περί τήν φύσιν θεωρίας), d. h. durch das Vermögen der natürlichen Vernunft, die diskursiv erkennt, verwirklicht, sondern durch die unmittelbare Erkenntnis der Weisheit, weil nichts zwischen Gott und dem ersten Menschen war (oὐδέν οὖν εἶχεν ὁ πρῶτος ἄνθρωπος μεταξύ Θεοῦ καί αὐτοῦ), das als ein Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis (πρός εἴδησιν) vorliegen und die durch die Liebe zu erreichende Verwandtschaft (συγγένεια) des Menschen mit Gott behindern konnte8. Damit wird betont, daß die diskursive Tätigkeit der Vernunft kein konstitutives Element des exemplarisch Menschlichen ist, sondern einen supplementären Charakter hat. Es geht um einen Kompensationsmechanismus, damit man die verlorene unmittelbare Erkenntnis Gottes wenigstens in einem geringen Maße nachholen könnte. Die Vernunfttätigkeit ist als eine ergänzende Aktivität zu bestimmen, die nur in der Perspektive der Bedürfnisse der aktuellen Existenzweise des Menschen gebilligt werden kann. Die Philosophie samt der diskursiven Theologie gehört zu diesem Tätigkeitsbereich. Vor diesem Horizont spricht Maximus nicht nur über die Unterschiede, sondern auch über den notwendigen Zusammenhang zwischen Weisheit und Philosophie. Die Weisheit ist die Erkenntnisdimension und die erkenntnismäßige Verwirklichung der theologischen Erfahrung9. Die Weisheit, so betont Maximus, ist die Entstehungsursache der Philosophie und ihr Ziel zugleich. Sie steht am Anfang der Genese der Philosophie und motiviert sie als ihre Finalursache. Der Zweck der Philosophie besteht darin, in die Weisheit einzufließen, Weisheit zu werden. Sie schreitet zur Weisheit als ihre Finalursache in einer sie verbindenden Verwandtschaft (oἰkeiÒthj scetik»)10. Die relative Selbständigkeit der Philosophie ergibt sich aus der Notwendigkeit, die Gotteserkenntnis in dieser Existenzweise der menschlichen Natur auch durch die Schöpfung und durch die natürlichen Logoi zu verwirklichen, wobei ihre Erkenntnis kraft der Vernunft der Bereich des Philosophischen ist11.

8 9 10 11

Cf. Ambigua ad Iohannem, 117 (PG 91, 1353C–1356A). Cf. Ambigua ad Thomam, praef. (PG 91, 1032A). Cf. Ambigua ad Iohannem, 10 (PG 91, 1136CD). Es sind in diesem Fall sowohl die Analogie mit der aristotelischen Fassung der Weisheit als auch

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Aus diesem Grund erörtert Maximus die notwendige Synthese von Philosophie und Glauben, der (selbst als »wahres Wissen« – gnîsij ¢lhq»j12 – definiert) zur Basis alles Philosophischen erklärt wird. Maximus deutet die Vierzahl der Evangelien in einer Analogie mit den vier Elementen der Natur der sinnlichen Welt: Erde, Wasser, Luft, Feuer. Im weiteren sagt er, daß die vier Evangelien als ein Symbol entsprechend des Glaubens, der praktischen, der natürlichen und der theologischen Philosophie zu verstehen sind. In dieser Analogie wird der Glaube mit dem Element der Erde verglichen13. Man soll über eine innere Hierarchie der Naturelemente zwar reden, ohne jedoch zu vergessen, daß die vier Elemente nur im Fall ihres Zusammenseins und ihrer Zusammenwirkung als Elemente der kosmischen Natur zu deuten sind. Dasselbe ist kraft der Analogie auch über den Bezug zwischen Glauben, Praxis, natürliche Erkenntnis und Theologie zu behaupten. Das Gegenteil würde nach der Sicht des Maximus die menschliche Erkenntnis und selbst die menschliche Existenz als absurd erscheinen lassen14. Nur innerhalb dieses untrennbaren Zusammenhangs ist die christliche Philosophie überhaupt möglich.

2. Die Axiomatik der byzantinischen Philosophie Der Glaube und die theologische Erfahrung bilden die Basis der byzantinischen Philosophie. Jedoch können sie diese Funktion nicht an und für sich ausüben. Ihre Eigenart besteht vielmehr in ihrer diskursiven Unartikulierbarkeit. Allerdings ist ein der Vernunft nicht adäquat verfügbarer Ansatzpunkt der Philosophie genauso wie eine irrationale theoretische Philosophie unmöglich. Die eigene Basis der christlichen Philosophie ist daher im Bereich der artikulierten Theologie zu entdecken, wobei es in diesem Fall nicht um die spekulative, sondern um die dogmatische Theologie geht. Der Fundus der Dogmatik ist damit die axiomatische Grundlage der christlichen Philosophie. Das Dogma der östlichen Kirche in seiner Vollständigkeit ist die Gesamtheit des in Schrift und Überlieferung kontinuierlich bezeugten Glaubens der Kirche. Die dogmatische Glaubensbezeugung versteht man als eine möglichst deutliche Manifestation der inneren Übereinstimmung der ganzen Lehre mit der Gesamtheit der Überlieferung15. Obschon diese Kirche ein »dogma definitum« etwa in Form eines autoritativen Lehramtes nicht so sehr als eine Dogmatik schlechthin anerkennt, gelten vor allem die Entscheidungen der ökumenischen und einiger lokalen Konzilien als wegweisende dogma-

die christliche Umdeutung dieser Fassung einzusehen – cf. Aristoteles: Metaphysica, A1–2 (981b27– 983a11); A. Speer: Fragile Konvergenz (wie Anm 1), 16–18. 12 Capita theologica et oeconomica, 1, 9 (PG 90, 1085CD). 13 Ambigua ad Iohannem, 21 (PG 91, 1245D–1248A). 14 Cf. G. Kapriev: Der Gebrauch der Vernunft und die Offenbarung gemäß Gregorius dem Theologen, Maximus Confessor und Johannes Damascenus, in: De usu rationis. Vernunft und Offenbarung im Mittelalter, hg. von G. Mensching, (= Contradictio 9), Würzburg, 2007, 41. 15 H.-J. Schulz: Einführung zur Übersicht über die Glaubensurkunden« – Einleitung zu E. v. Ivánka: Das Dogma der orthodoxen Kirche im Spiegel der wichtigsten Glaubensurkuden, in: Handbuch der Ostkirchenkunde, Bd. 1, hg. von W. Nyssen / H.-J. Schulz / P. Wiertz, Düsseldorf 1984, 289.

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tische Zeugnisse. Die Ausarbeitung dieser Formulierungen wie auch die Konkordanz der Dogmen untereinander und mit dem ganzen Systeminhalt des darauf gebauten Denkens beinhalten in sich eine intensive Philosophietätigkeit. Ein vorzügliches Beispiel stellt die schwerwiegende Redaktion des zweiten Credo-Artikels dar, die das zweite ökumenische Konzil vornimmt. Das Konzil in Nikaia schließt im zweiten Satz des Glaubensbekenntnisses noch vor der Erwähnung des philosophisch geprägten Begriffs »wesensgleich [dem Vater]« (ὁmooύsion [tῷ patrί]) den Nebensatz »d. h. aus der Wesenheit des Vaters [geboren]« (toutέstin ἐk tῆj oὐsίaj toà patrόj [gennhqέnta]) ein16. Dieser Ausdruck fällt am Konzil von Konstantinopel aus einsichtigen Gründen aus. Das Glaubensbekenntnis von Nikaia verwendet (in seinem letzten Satz) fast synonym die Begriffe »Hypostase« (ύpόstasij) und »Essenz/Wesenheit« (oὐsίa)17. Nach der philosophischen Arbeit der Kappadokier, die nicht zuletzt die Begriffsdefinitionen von »Wesenheit« und »Hypostase« um Ergebnis hat, ist die Zweideutigkeit dieses Nebensatzes evident. Eine ähnliche philosophische Arbeit läßt sich in allen Fällen der Dogmenprägung geschichtlich identifizieren. Erst nach ihrer Dogmatisierung sind die entsprechenden Sätze nicht mehr dem Kompetenzbereich der Philosophie zugehörig. Man kann sie nunmehr zwar erklären, nicht aber erweitern oder umgestalten. Weil es sich um Axiome handelt, kann man hier weder argumentieren noch umformulieren: Sie sind nicht mehr diskutabel. Gerade die Axiomatik wird zur Basis der Ausarbeitung der Theologumena, der Philosophemata und des Argumentationsnetzwerkes der byzantinischen Philosophen. Dain besteht ihre eigentliche Fachtätigkeit und die Eigenart und die Qualität ihrer Philosophieprogramme. Das Verfahren im Bereich der philosophisch-theologischen Spekulation unterscheidet sich deutlich von der Dogmatik. Hier erweist sich die persönliche Kreativität des Denkers wie auch sein philosophischer Charakter und erst hier zeigt man sich bereit, den Argumenten der Opponenten gegenüber eine Antwort zu suchen und eine Lösung zu finden, gleich ob diese Opponenten die axiomatische Basis teilen oder nicht. Das über die Axiomatik Gesagte hebt keineswegs die Tatsache auf, daß die byzantinische Philosophie als ihre Grundelemente die Geschichtlichkeit und die Zeitlichkeit hatte. Denn der eigentliche Forschungsbereich der Philosophie ist die Ökonomie. Damit sind die Erscheinungen Gottes innerhalb des geschaffenen Seins gemeint (d. h. die Akte der Schöpfung, der Vorsehung, der Menschwerdung Gottes, wie auch der Erlösung und der Vergöttlichung des Menschen), welche von der natürlichen menschlichen Vernunft in einer mittelbaren Erkenntnis erfaßt werden können. Während die diskursiv nicht zu äußernde theologische Existenzerfahrung dem Wesen nach außerhalb von Zeit und Geschichte steht, erstreckt sich die ganze Ökonomie in der Zeit und ist ohne die Zeitlichkeit nicht denkbar, weil sie eben die Heils- und Weltgeschichte umfaßt. Die Zeitlichkeit und die Geschichtlichkeit sind Grundelemente der Philosophie überhaupt, aus denen sich die differentia specifica der Philosophie ergibt. Cf. H. Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hg. von P. Hünermann, Freiburg Brsg. – Basel – Rom – Wien 392001, 125 (S. 62). 17 Ibid., 126 (S. 64). 16

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Dieser Umstand betrifft definitiv auch die spekulative Theologie. Insoweit sie die göttliche Ökonomie erörtert, umfaßt sie in ihrem Gegenstand die Zeit und die Geschichte auf eine notwendige Weise. Selbst die Trinitätstheologie bleibt aber nicht außerhalb der Reichweite dieser Regel. Das begriffliche Erfassen der Offenbarungserreignisse verläuft in der Zeit und steht mit dem entsprechenden Zeitpunkt in einem notwendigen Zusammenhang; dadurch wird die geschichtliche Entfaltung der theologischen Begrifflichkeit vorausgesetzt. Sie steht in einem verbindlichen Zusammenhang mit der Zeit und der Geschichte. Das theologische Nachdenken kann das Zeitliche und Geschichtliche keinesfalls abrechnen. Die Entfaltung des theologischen Wissens verläuft ebenfalls geschichtlich und in der Geschichte, wobei das konzeptuelle Wissen, sowohl das philosophische, als auch das theologische, lediglich in seiner geschichtlichen Ausdehnung einen Sinn hat. Damit ist nicht nur die berühmte »byzantinische Subtilität«, d. h. die Entwicklung und die Präzisierung der Begrifflichkeit, sondern selbst die Lebensfähigkeit und die Aktualisierung der philosophischen Praxis verbunden. Die Geschichtlichkeit ist die Perspektive, aus der die byzantinischen Denker ihr Verhältnis zur Tradition erfaßten und für seine Korrektheit argumentierten, indem sich auf die Evidenz des Satzes von der fortdauernden Renovation in der geschichtlichen Zeit als Strukturelement der Tradition stützten18.

3. Die gegenwärtige Rezeption der byzantinischen Philosophie Nach dem Fall Konstantinopels in 1453 begann auch ein Niedergang der philosophischen Tradition in Byzanz. Durch immer weniger Autoren vertreten und mit immer weniger Kreativität und Originalität ausgezeichnet, fanden auch ihre letzten Äußerungen spätestens Mitte des 18. Jahrhunderts ein Ende. Seit den letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts fing man auf eine selbstverständliche Weise auch im Kulturgebiet des Byzantinismus, d. h. im von Byzanz kulturgeprägten Kreis, an, das Interesse an philosophischem Wissen durch die Formen des abendländischen Denkens und insbesondere durch die Philosophiemodelle der Aufklärung zu befriedigen. Diese Situation wurde im Laufe der Zeit durch die neu entstandenen Universitäten und anderer Wissensinstitutionen verstärkt und legitimiert. Die byzantinische Philosophie verlor jegliche wissenschaftliche Aktualität. In den letzten ungefähr zweihundert Jahren gibt es niemanden, der die byzantinische Philosophie in ihrem vollen Dimensionsumfang als eigenes Philosophieprogramm präsentiert hätte.

Siehe ausführlicher in G. Kapriev: Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit als Grundelemente der byzantinischen Philosophie, in: Die Geschichtlichkeit des philosophischen Denkens, hg. von G. Kapriev / G. Mensching, Sofia, 2004, 58–71. Zur systematischen Einordnung und Interpretation meiner These siehe M. Trizio: Byzantine Philosophy as a Contemporary Historiographical Project, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiéval, 1 (2007), 272–274. Über das Tradition-Konzept siehe V. Lossky: Tradition and Traditions, in: V. Lossky: In the Image and Likeness of God, New York 1974, 141–168. 18

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Die fachliche Erforschung der byzantinischen Philosophie begann um die Mitte des 20. Jahrhunderts und wurde zum ersten Mal durch das 1949 in Paris erschienene Buch von Basilios Tatakis, La philosophie byzantine dokumentiert. Inzwischen weisen die Forschungen eine wachsende Intensität und beachtliche Ergebnisse auf19. Es gibt sogar positive Versuche, einzelne Motive, Methoden und Konzepte dieser Philosophie auf die gegenwärtige wissenschaftliche Forschung und selbst auf andere, nicht eigentlich philosophischen Fachbereiche zu übertragen. Zwei solcher Versuche möchte ich abschließend kurz besprechen. Die beiden Entwürfe sind mit dem Achsenkonzept der byzantinischen Philosophie, nämlich mit der Energienlehre, verbunden. Das Projekt von Ivan Tchalakov und Georgi Kapriev20 befaßt sich aus soziologischer Sicht mit der Theorie von der Wirkung, die im Rahmen der byzantinischen Philosophie im Ausgang von der Oὐsίa-dÚnamij-™nšrgeia-Seinslehre des Aristoteles und seiner hellenischen (hauptsächlich neuplatonischen) Fortsetzer weiterentwickelt wurde. Der Entwurf erfährt seine Anwendung im Kontext gegenwärtiger soziologischer Programme, insbesondere im Bereich der actor-network theory und der sociology of regimes of engagement mit ihrer Kritik an etablierten Analysen der menschlichen Wirkungen (human actions). Es geht um einen methodischen Gebrauch dieser Lehre, der eine andere Dimension der Problematik als die modernen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Konzepte eröffnet. Das Projekt gründet auf drei Hauptpunkten: 1) auf der »doppelten Natur« der Wirkungen der Essenz, die noch bei Aristoteles in »kausale bzw. instrumentale Wirkungen« (Bewegungen) und »existentiale Wirkungen« (Energien schlechthin) aufgeteilt sind; 2) auf den in Byzanz entwickelten Konzepten von Øpόstasij und pericèrhsij (gegenseitige Durchdringung); und schließlich 3) auf dem Konzept von ›xij (dem festen inneren Zustand). Dadurch wird versucht, die empirisch feststellbaren Unterschiede zwischen den Wirkungsweisen der Wirksubjekte und dem persönlichen oder vielmehr hypostatischem Faktor in der Anweisung und Bestimmung der Wirkung begrifflich zu erklären. Die These der Autoren lautet, daß diese neu errichtete Perspektive unsere Ressourcen für das Verständnis der menschlichen Handlung erweitern. Das gilt insbesondere für die Analyse von Phänomenen des Soziallebens wie Widerstand, Standhalten, Dauerhaften und Innovation. Aus der Perspektive der byzantinischen Philosophie lassen sich diese an sich betrachten und nicht auf Devia-

Cf. L. Benakis: Current Research in Byzantine Philosophy, in: Byzantine Philosophy and its Ancient Sources, ed. by K. Ierodiakonou, Oxford 2002, 283–288; G. Kapriev: The Modern Study of Byzantine Philosophy, in: Bulletin de philosophie médiévale, 48 (2006), Leuven 3–13; M. Trizio: Byzantine Philosophy as a Contemporary Historiographical Project, in: Recherches de Théologie et Philosophie médiéval, 1 (2007), 247–294. 20 Cf. G. Kapriev, I. Tchalakov: Actor-Network Theory and Byzantine Interpretation of Aristotle’s Theory of Action: Three Points of Possible Dialogue, in: Yearbook of the Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society, Volume 57, hg. von A. Bamme / G. Getzinger / B. Wieser, München – Wien 2009, 207–238; I. Tchalakov, G. Kapriev: The Limits of Causal Action: Actor-Network Theory Notion of Translation and Aristotle’s Notion of Action, in: Yearbook of the Institute for Advanced Studies on Science, Technology and Society, Volume 47, hg. von A. Bamme / G. Getzinger / B. Wieser, München – Wien 2005, 389–433. 19

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tionen und Umsetzungen reduzieren oder gar im Geiste einer durchaus ungesunden soziologischen Mystik zu deuten. Dadurch werden zudem die Interaktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren nachvollziehbar analysiert, indem die soziale Rolle der letzten in das Blickfeld der wissenschaftlichen Sozialforschung tritt. Vergleichbares gilt für das Projekt von Stoyan Tanev21, der den Gebrauch des Energie-Konzepts in der gegenwärtigen orthodoxen Theologie und in der Physik (insbesondere in der Quantenphysik) sowie die potentielle Relevanz einer solchen vergleichenden Forschung untersucht. Substantielle Entsprechungen liegen darin, daß in der Unterscheidung zwischen Essenz und Energie die Brücken zwischen Sehbarem und Unsehbarem, Verborgenem und Aufgedecktem, Kenntlichem und Unkenntlichem gegeben sind. Anzumerken ist, daß in den beiden Bereichen das epistemologische Niveau von dem ontologischen Paradigma abhängig ist. Die unsichtbare und unvorstellbare Natur der Seienden wird in beiden Fällen vor dem Hintergrund des entsprechenden Systems der Sozialaktivitäten und des Gemeinschaftslebens gedeutet, die durch die konkreten Entwicklungen der intellektuellen und der sakramentalen Tradition bestimmt werden. In den beiden Fällen wird unter Bezugnahme auf die Grenzen der Erkenntnisfähigkeiten argumentiert, indem diese Grenzen als Teil der Erkenntnis selbst konzipiert werden. Man operiert in beiden Fällen mit zwei notwendig verschiedenen Sprachen der Analyse, die dem antinomischen Wesen des Erkenntnisobjekts folgt. Dadurch entsteht ein neues logisches Gerüst, das über die normative »aristotelische« Logik und insbesondere über ihre metaphysische Basis hinausführt. Letztendlich wird das Potential der parallelen Analyse demonstriert, wodurch jeder der beiden Fachbereiche imstande sein könnte, immanente diffuse Problemstellungen kraft einer konzeptuellen Analogie zu erklären. Soweit ich dies beurteilen kann, sind diese Projekte in ihren Forschungsbereichen innovativ und leistungsfähig. Ist das nun eine Wiederbelebung oder etwa eine geschichtliche Upgrade der byzantinischen Philosophie? Nein, das ist es nicht. Es geht zwar um die Verwendung von Motiven, Methoden, Begriffen und Positionen, die der byzantinischen Philosophie eigentümlich sind und sogar zu ihren Merkmalen zählen. Doch geht es um Entlehnungen, die fragmentarisch gebraucht und von ihrem ursprünglichen Ort im System abgelöst sind. Sie sind instrumentalisiert und in ganz andere Denkformate eingesetzt. Sie funktionieren im Modellraum des modernen und postmodernen Denkens des Abendlandes ohne Rücksicht auf die eigene Problematik der byzantinischen Philosophie und ihre eigentliche Struktur. Hieraus folgt ein rückwirkender Beweis für die Verfassung dieser Philosophie: Die erwähnten Projekte sind keine Gesten dieses Philosophierens, gerade weil sie von der axiomatischen Basis separiert sind und diese sogar absichtlich in Klammern setzen. Ihrem Charakter nach war die byzantinische Philosophie axiomatisch; sie war ihrem Wesen nach eine christliche Philosophie.

S. Tanev: The Concept of Energy in Orthodox Theology and in Physics, in: The Wedding Feast, Proceedings of the Colloquia of Orthodox Theology of the Universite de Sherbrooke, 2007–2008– 2009, ed. by P. Ladouceur, Montreal 2010, 67–102. 21

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4. Schluss Abschließend fasse ich meine These kurz zusammen: Es kann keine voraussetzungslose Philosophie geben, gleich ob die Philosophen über die axiomatische Basis ihres Philosophierens reflektieren oder nicht. Die byzantinische Philosophie ist ihrem Charakter nach christlich und als ihre Axiomatik galt die Dogmatik der östlichen Kirche. Dieses Umstands waren die Philosophen sich durchaus bewusst und bestimmten die »christliche Philosophie« als ihre Art zu philosophieren. Vor diesem Horizont zogen sie nachhaltig die Unterscheidung zwischen der Theologie schlechthin, d. h. der mystischen Erfahrung, und der spekulativen Theologie, die zum rationalen Diskurs gezählt und also als Teil – und zwar als der erhabenste Teil – der ersten Philosophie gedeutet wurde. Als Streben nach der Weisheit (wobei die »Weisheit« als die göttliche Weisheit in ihrer Präsenz in der Schöpfung verstanden wurde) und nicht als sie selbst steht die Philosophie in einem notwendigen Zusammenhang mit der Weisheit, die als ihre Entstehungsursache und zugleich als ihr Ziel bestimmt wird. Die Erkenntnissphäre wird durch das Zusammensein und die Zusammenwirkung des Glaubens, der praktischen, der natürlichen und der theologischen Philosophie strukturiert, wobei der Glaube das Fundament jeglicher Erkenntnis ist. Die diskursive und philosophisch relevante Explikation dieses Fundaments ist die Dogmatik gemäß ihrer formellen Durchsetzung, wobei die Ausarbeitung der dogmatischen Sätze letztendlich eine Sache der philosophischen Arbeit ist. Nach der Dogmatisierung der entsprechenden Lehren und Sätze können diese aber nicht mehr diskutiert werden; sie stellen vielmehr die Axiomatik des Philosophierens dar. Diese wird sodann zur Basis der Ausarbeitung der Theologumena, der Philosophemata und der Argumentationen der byzantinischen Philosophen. Die gegenwärtigen Entwürfe, die von einzelnen Verfahren und Konzepten der byzantinischen Philosophie Gebrauch machen, sind jedoch nicht als eine Wiederbelebung dieser Philosophie zu betrachten, weil sie die zugrundeliegende Axiomatik ignorieren.

Die Geschichte der Metaphysik: das Problem vom doppelten Sinn eines Genitivs Costantino Esposito

I. Das Problem der Metaphysik hat immer auch ihre Geschichte betroffen. Nicht nur aus dem unabweislichen Bedürfnis, die Behauptungen und Entdeckungen einer Theorie zu historisieren, zu kontextualisieren, zu relativieren, sondern aus dem Grunde, daß die Geschichtlichkeit eine recht eigentliche Erkenntnisdimension der Metaphysik konstituiert. Zweifellos hat dies mit jener merkwürdigen Bedingung des philosophischen Denkens zu tun, deretwegen es auf einen Ausgang von allgemeiner Geltung und umfassendem Sinn abzielt, und auch von Zeit zu Zeit dazu kommt, obwohl – vielmehr gerade weil – es sich in einer begrenzten Zeit und in einem begrenzten Raum zuträgt. Doch wenn wir von der geschichtlichen Dimension jeder metaphysischen Fragestellung sprechen, wollen wir damit etwas mehr sagen, nämlich daß jede Fragestellung ihre eigene Art und Weise hat, zu »geschehen« (ich verwende dieses Wort, wenn auch mit großer Vorsicht, im Bewußtsein dessen, wie Heidegger es benutzt1), und daß die philosophischen Probleme nicht nur ihre eigene Geschichte haben, wie sie sich durch die Umstände der Textkonstituierung und Textüberlieferung dokumentieren läßt, sondern eine Geschichte sind, und als solche dazu beitragen, den Zugang zu bestimmen, den wir zur Welt und zu uns selbst haben. Wir wissen wohl, welchen Einfluß die Wahl der heideggerschen Perspektive in bezug auf die Geschichte der Metaphysik als Geschichte des Seins selbst nehmen kann, bedenkt man, daß sie – mit den gebührenden Einschränkungen – ihren Stempel einem Gutteil des zeitgenössischen Denkens aufgedrückt hat, analog zu dem, was im Denken des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts infolge der Hegelschen Reflektion über den spekulativ-dialektischen Charakter der geschichtlichen Wirklichkeit geschehen war. Mir scheint aber, daß man – wenn man die Geschichte der Metaphysik

Zur Verbindung Geschehen-Geschichte siehe beispielsweise, M. Heidegger: Sein und Zeit (1927), jetzt in: Gesamtausgabe, Bd. 2, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a.M., Klostermann, 1977, § 76, 518 ff. (im Zusammenhang von Geschichtlichkeit des Daseins und deren Verhältnis zur Historie); ders.: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936/38), Gesamtausgabe Bd. 65, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a.M., Klostermann, 1989, §§ 86–87, 174–175 (im Zusammenhang von Ereignis und seinsgeschichtlichem Denken); ders.: Nietzsche, I–II, Neske, Pfullingen 1961, II, 367 ff. (im Zusammenhang von »Geschichte der Metaphysik« als »Geschichte des Nihilismus«). Zu dieser Problemkonstellation erlaube ich mir zu verweisen auf C. Esposito: Heidegger. Storia e fenomenologia del possibile, Levante, Bari 20032, parte II: »Dalla storicità dell’esserci alla storia dell’essere. Sulla fenomenologia della storia nel pensiero di Heidegger«. 1

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einerseits nicht allzu leicht in das Schicksal des Seins überführen sollte – andererseits überprüfen muß, in welcher Weise die Geschichte unserer Interpretationen der metaphysischen Problematik sozusagen dem Geschehen ihres Gegenstandes angehört. Der Ausdruck »Geschichte der Metaphysik« enthält einen Genitiv, welcher in einem doppelten Sinne zu verstehen ist, objektiv und subjektiv zugleich. Die Metaphysik ist zweifelsohne einer der relevantesten »Gegenstände« der geschichtsphilosophischen Forschung, sowohl als Studium der ausdrücklich metaphysischen Disziplinen als auch als Rekonstruktion der Voraussetzungen und Grundlagen, die die verschiedenen philosophischen Theorien stützen. Aber die Metaphysik ist Gegenstand historischer oder besser gesagt historiographischer Forschung, weil sie selbst – im subjektiven Verständnis des Genitivs – eine Geschichte oder, wenn man will, mehrere Geschichten ist, welche häufig voneinander abweichen, parallel zueinander verlaufen, oder sich begegnen, sich kreuzen und sich verknüpfen. Mir scheint, daß sich hier das ganze Problem der »Historischen Gründe« wiederfinden läßt: 1) im Sinn der Bedingungen der Möglichkeit einer Geschichte des philosophischen Denkens in seiner epistemologischen Besonderheit gegenüber der Geschichte aller anderen Wissenschaften und Disziplinen; und 2) in dem Sinn, daß die philosophischen Grundlagen nicht einfach als ungebundene und zeitlose, sondern als geschichtliche Elemente zu denken sind, ohne deshalb in historistischem oder nihilistischem Sinn »relativiert« zu werden. Denn die Grundlagen als solche sind geschichtlich; und die Geschichte eben als solche ist das Geschehen einer Vernunft oder eines logos. II. Das methodologische Prinzip, das die Geschichte der Metaphysik charakterisiert, besteht darin, zwei Ebenen zusammenzuhalten: die historische Rekonstruktion eines Problems, eines Begriffs oder eines Phänomens und die Fragestellung, die jeder einzelne Begriff in sich trägt. Die zwei Ebenen sind nicht einfach nebeneinander her zu führen, sondern sie sind von Anfang an durch ihre wechselseitige Zusammengehörigkeit bestimmt, weil sie grundsätzlich nicht von einander getrennt bestehen, so daß beiden die Bezugnahme auf das jeweils andere aufgegeben ist. Dies ist nicht bloß eine abstrakte Arbeitsvorgabe, sondern versteht sich aus einer speziell auch italienischen Tradition historisch-philosophischer Forschung, die eine Einheit von einerseits philologischem Zugang zum Text und einer kritischen Reflexion andererseits auf hohem Niveau darstellt. Dabei geht es darum, zwei verbreitete Unarten zu vermeiden: ein Spezialistentum, das sich auf Selbstbeschränkung und Parzellierung des Forschungsgebiets verlegt, und eine ausufernde Auslegung, die sich im Unüberprüfbaren verliert. Im ersten Fall sind die Grenzen des Textes die Grenzen der Forschung; im zweiten Fall wird der Text zum bloßen Vorwand oder aber zu einer nachträglichen Rechtfertigung für eine vorweg feststehende Interpretation. Es gibt keine Begriffsgeschichte ohne Textgeschichte und es kann keine wirkliche Textgeschichte ohne Begriffsgeschichte geben. Die Begriffsgeschichte hat niemals nur archäologisch oder genealogisch, sondern kritisch vorzugehen. Diese Behauptung er-

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weist ihre Richtigkeit an zwei besonderen Phänomenen: dem Fragen und der Tradition. Versteht man Tradition als eine sprachliche und begriffliche Gesamtheit, so stellt sich immer die Frage nach den Grundlagen der Fragen, aus denen sie entsteht und auf Grund derer sie sich entwickelt. Wenn wir von der Tradition als einem Kanon sprechen, identifizieren wir diese gerne mit einer einigermaßen gesicherten Topik von Antworten auf die Ausgangsfragen. Aber eine Tradition entwickelt sich ebenso weiter durch das andauernde Aufwerfen jener grundsätzlichen Fragestellungen, und gerade wenn die in einer bestimmten Tradition gegebenen Antworten nicht mehr dazu anhalten, diese Fragen aufs Neue zu stellen, wird die Tradition zu einer nicht mehr auf ihre Ausgangsforderung verpflichteten Standardform. In jeder gültigen philosophischen Tradition stellen sich die Antworten wie die aus den Ausgangsfragen bezogenen begrifflichen Deutungen und Lehrgebilde dar, besser gesagt, jede Interpretation ist per se die Neuformulierung einer Frage; und wenn es nicht mehr so ist, gerät die gesamte Tradition in eine Krise: Die Fragen tauchen dann auf, als wären sie neu, oder es tauchen bei der Suche nach neuen Lösungen völlig neue Fragen auf und bilden den Keim für neue Traditionen. Ein neuer Traditionskanon bildet sich, wenn sich die Antworten auf bestimmte Probleme, die sich zuvor in der Philosophiegeschichte gestellt haben, verändern, aber eine solche Veränderung in der Lehre entsteht ihrerseits aus einer Neuinterpretation derselben Fragen. In dieser Verflechtung von Frage und Antwort scheint mir die Bedeutung des Ausdrucks »Geschichte der Metaphysik« zu liegen. Er bedeutet etwas anderes und mehr als die einfache Rekonstruktion der historischen Begebenheiten einer ruhmreichen Disziplin, was für sich genommen schon ausreichte für eine historisch-philosophische Untersuchung von beträchtlichem Interesse. Doch ist die Aufgabe einer Geschichte der Metaphysik auch nicht gleichzusetzen mit dem in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ausgearbeiteten Ansatz, sie als »Geschick« zu begreifen. Die einflußreichen Überlegungen Martin Heideggers mit der ihnen zugrunde liegenden Idee, daß die Metaphysik nicht nur eine Geschichte hat, sondern grundsätzlicher eine Geschichte ist, diese Koinzidenz von Metaphysikgeschichte und Seinsgeschichte übt immer noch eine große Faszination aus. Nicht zufällig jedoch bezieht das Heideggersche Denken seine Bedeutung aus einer Neuinterpretation des Seins als Entzug von der Unmöglichkeit her, daß die Wahrheit sich als Gegenwart darbiete. In dieser Perspektive ist die Geschichte der Metaphysik die Geschichte des Nihilismus, und die Überwindung der Metaphysik wird zu einem neuen Ruf des Seins, der ein Abschied ist: die Metaphysik wäre von einer Seinsvergessenheit beherrscht. Für Heidegger gründet sich diese Seinsvergessenheit aber auf eine Seinsverlassenheit unter der Herrschaft des technischen Zeitalters. Mit anderen Worten legt Heidegger nahe, daß das Sein sich dank unseres Fragens ereignet, eben dadurch, daß eine Antwort auf jenes Fragen unmöglich erscheint. Diese beiden Konzeptionen von Geschichte der Metaphysik – als Disziplin und als Geschick – erschöpfen jedoch deren Bedeutung nicht, wenn auch von ihnen einige wichtige methodologische Ansätze abstammen. In beiderlei Hinsicht ist eine Hypostasierung der Metaphysik ausgeschlossen, so wie es nicht nur in Form einer philosophia perennis

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geschieht, sondern auch in der entgegengesetzten Position vom Ende der Metaphysik in den bekannten Formen der Sprachanalyse: der Dekonstruktion oder der Hermeneutik. Wem die historischen Daten unserer Tradition und die Grundformen unserer Sprache am Herzen liegen, dem erscheint die Metaphysik nicht als ein zeitloser Gegenstand, aber auch nicht als ein postmodernes divertissement, da in beiden Fällen die spezifisch metaphysische Geschichtlichkeit geopfert wird, nämlich daß die Sache der Metaphysik die Form eines Geschehens in der Zeit hat. Das Grundgeschehen konstituiert sich mithin, wie zuvor angedeutet, aus der Struktur des philosophischen Fragens, und auf Grund dieses Fragens kann eine Tradition erkannt, überprüft, angeeignet oder verworfen werden. Geschichte der Metaphysik heißt also erheblich mehr als ein Repertorium von metaphysischen Lehrmeinungen oder eine Rückführung der regionalen philosophischen Forschungen auf ihre expliziten oder impliziten metaphysischen Voraussetzungen. Die metaphysische Tradition ist immer ein Spannungsfeld, und sie kann angemessen rekonstruiert werden unter drei Bedingungen: durch Wiederaufnehmen von Fragen der Autoren und der Texte, durch Überprüfung der Entsprechung zwischen aufgestellten Fragen und vorgeblichen Antworten, durch Vergleich der Ausgangsfragen einer Tradition mit unseren eigenen Fragen. Die Geschichte der Metaphysik als kritische Befragung unserer Traditionen kann sich demnach nur im Licht der Entwicklung unseres eigenen Fragens entwickeln. Hierin liegt meines Erachtens der wesentliche Wert einer Geschichte der Metaphysik, und somit nicht nur auf einer archivistischen, sondern auf einer eigentlich schöpferischen Ebene. Das Zeugnis eines Dichters und Literaturkritikers, wenngleich er kein Berufsphilosoph oder Historiker ist, Thomas Stearns Eliot, macht dies besonders deutlich. In einem berühmten Aufsatz mit dem Titel Tradition and Individual Talent – aus dem Jahr 1922, der immer noch Gültigkeit hat – hebt er die enge Beziehung zwischen Tradition, d. h. zwischen der Zugehörigkeit zu einem Bedeutungs- und Begriffshorizont und individueller Begabung, d. h. dem Bewusstsein eines gegenwärtigen Ich hervor. “Tradition is a matter of much wider significance. It cannot be inherited, and if you want it you must obtain it by great labour. It involves, in the first place, the historical sense (…); and the historical sense involves a perception, not only of the pastness of the past, but of its presence; the historical sense compels a man to write not merely with his own generation in his bones, but with a feeling that the whole of the literature of Europe from Homer and within it the whole of the literature of his own country has a simultaneous existence and composes a simultaneous order. This historical sense, which is a sense of the timeless as well as of the temporal and of the timeless and of the temporal together, is what makes a writer traditional. And it is at the same time what makes a writer most acutely conscious of his place in time, of his contemporaneity”2. T. S. Eliot: Tradition and Individual Talent, in The Sacred Wood. Essays on Poetry and Criticism (1920), Routledge, London-New York 19897, 49 (»Die Tradition ist kein Vermächtnis, das man ruhig antreten kann; wer sich seiner bemächtigen will, muß es unter großen Mühen erwerben. Das erfordert vor allem ein gutes historisches Gespür […]; historisches Gespür haben bedeutet, sich bewusst zu sein, 2

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Wenn wir von einer Geschichte der Metaphysik sprechen, beziehen wir uns nicht, wie man gemeinhin annimmt, auf etwas zeitloses (timeless) im philosophischen Diskurs, vielmehr beziehen wir uns auf das Verhältnis vom Zeitlichen und Zeitlosen, d. h. auf das, was es möglich macht, in geschichtlichem Sinn von Philosophie zu sprechen. Ideen, Begriffe und Probleme der Philosophie sind die Zeichen eines unaufhaltsamen Fragens der menschlichen Vernunft und lassen sich einzig entziffern, insofern sie die Gegenwartsfragen zu klären helfen. Daher ist eine so verstandene Geschichte der Metaphysik nicht die andere Seite der gegenwärtigen Philosophie (Geschichte versus Gegenwart), vielmehr ihre innere Bedingung. Jeder neue philosophische Ansatz seinerseits definiert die gesamte Tradition neu. Noch einmal Eliot: “…what happens when a new work of art is created is something that happens simultaneously to all the works of art which preceded it. […] The existing order is complete before the new work arrives; for order to persist after the supervention of novelty, the whole existing order must be, if ever so slightly, altered; and so the relations, proportions, values of each work of art toward the whole are readjusted; and this is conformity between the old and the new. Whoever has approved this idea of order, of the form of European, of English literature, will not find it preposterous that the past should be altered by the present as much as the present is directed by the past. […] But the difference between the present and the past is that the conscious present is an awareness of the past in a way and to an extent which the past’s awareness of itself cannot show”3. Es handelt sich nicht nur um den gewohnten »hermeneutischen« Kanon, nach dem jede heutige Interpretation auf gewisse Weise den vergangenen Sinn rekonstruiert, ja sogar daß das Vergangene nicht nur vergangen ist, sondern daß es eben auch gegenwärtig ist; historisches Gespür nötigt dazu, nicht nur mit der im Blut liegenden physischen Empfindung, der eigenen Generation anzugehören, zu schreiben, sondern auch mit dem Bewusstsein, daß die gesamte europäische Literatur von Homer an und darin inbegriffen die gesamte Literatur des eigenen Landes gleichzeitig existiert und gleichgeordnet aufgebaut ist. Ein historisches Gespür besitzen, was heißt Gespür für das Zeitlose wie für das Zeitliche sowie für Zeitloses und Zeitliches zusammen, das macht einen Schriftsteller zu einem traditionellen Schriftsteller. Und es ist zugleich das, was ihn seinen eigenen Ort in der Zeit, seine Zeitgenossenschaft, schärfer erkennen läßt«). 3 Ebd., 49–50, 52 (»…das was geschieht, wenn ein neues Kunstwerk geschaffen wird, geschieht gleichzeitig allen vorausgehenden Kunstwerken. […] Die bestehende Ordnung ist in sich beschlossen, bevor das neue Werk auftritt; aber nachdem das neue Werk erschienen ist, muß, wenn die (ideale) Ordnung fortbestehen soll, alles, wiewohl geringfügig, verändert werden; gleichzeitig stellt sich für alle Beziehungen, Proportionen, Wertigkeiten eines jeden Kunstwerkes ein neues Gleichgewicht her; darin besteht die Übereinstimmung von Althergebrachtem und Neuem. Wer diese Idee von einer Ordnung, einer Form, die der europäischen, der englischen Literatur eigen ist, anerkennt, wird die Idee, daß das Vergangene vom Gegenwärtigen verändert wird, nicht absurd finden, so wie es nicht absurd ist, daß das Gegenwärtige seine eigene Anleitung im Vergangenen findet. […] Aber der Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit liegt darin, daß die Gegenwart, so sie bewußt ist, Bewusstsein vom Vergangenen in einem nie erreichten Sinn und auf eine nie erreichte Weise ist, als ein Selbstbewusstsein vom Vergangenen her).

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konstruiert; auch handelt es sich nicht darum, die unweigerliche sprachliche Abhängigkeit unserer Lektüre vom Überlieferungszusammenhang zu beglaubigen. Die Vergangenheit erhält ihre besondere Objektivität vielmehr allein in dieser Neuheit des Gegenwärtigen, und die Gegenwart ihrerseits ist erheblich mehr als eine subjektive Erfahrung, sie lebt aus dem Vergangenen; denn das Vergangene lebt entweder aus der Gegenwart oder es existiert nicht. Jede Geschichte des philosophischen Denkens hat daher die Aufgabe – die niemals ganz gelöst wird –, die signifikanten Strukturen des philosophischen Diskurses immer aufs neue durchzuarbeiten und jedesmal die Bedeutungen, die sich in diesen Strukturen abgelagert und geschichtlich kodifiziert haben, in Frage zu stellen. In diesem Sinne stellt jeder philosophische Text eine Diskontinuität in der Tradition dar, zugleich aber auch eine Kontinuität des Neuen. Im übrigen verlangt der Sinn der einzelnen Gedankenstrukturen – betrachtet man sie in ihrer Kontinuität und Diskontinuität hinsichtlich der Tradition – nach unseren Fragen, um schließlich in geschichtlichem Sinn (d. h. zugleich zeitlich und zeitlos) verstanden werden zu können.

III. Es sei mir erlaubt, abschließend hervorzuheben, daß das Problem der historischen Gründe, so wie sie sich in der Geschichte der Metaphysik darstellen, dazu beiträgt, aus einem spezifischen Blickwinkel die geschichtlich erkennende Struktur der menschlichen Vernunft zu erhellen. Die geschichtsphilosophische Forschung läßt sich als eine hervorragende Gelegenheit und als ein konkreter Weg verstehen, sich darüber klar zu werden, wie die »Grundlagen« der Realität und der Erfahrung in der Geschichte auftreten; in anderen Worten, wie der Sinn der Sachen stets in ihrer Existenz beschlossen liegt und zugleich von der menschlichen Vernunft andauernd gesucht und ausgeführt werden muß, um die Grundlage für das zu sein, was es gibt. Darum kann die Geschichte der Philosophie, vor allem in meiner Sichtweise, in Form einer Geschichte der Metaphysik (auch unter Berücksichtigung der Beziehungen zwischen der Metaphysik und den angrenzenden Disziplinen wie Erkenntnistheorie und Psychologie, Sprachphilosophie, Wissenschaftsphilosophie und Epistemologie, Theologie, Religionsphilosophie, Mystik, usf.) eine recht eigentliche Erziehung der Vernunft und zur Vernunft abgeben. a) Die Vernunft ausbilden heißt, den Fortgang der Fragen ausmachen, von denen das Bewusstsein unserer selbst und der Welt ausgeht. Die Vernunft ist vor allem nicht als eine abstrakte Struktur oder Funktion unseres Geistes zu verstehen, sondern selbst als ein Geschehen, als die Geschichte einer Begegnung mit dem Anderen. In diesem Sinne »ist« die Vernunft ein Leben; und eben darum, daß sie das »Warum« der Sachen betrifft, ist ihre Dynamik tendenziell unendlich. Nicht nur, weil für ein vernünftiges Wesen die Fragen niemals an ein Ende kommen, sondern auch weil das Ende des Fragens eben das Unendliche ist, die betrachtete Realität nämlich – soweit uns diese als Versuch zugänglich ist – in der Gesamtheit ihrer Faktoren.

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Das Unendliche ist nicht so sehr im Sinne von unbegrenzt oder als ein bloß regulatives Ideal innerhalb unseres Denkens zu verstehen, sondern als ein vom Denken qualitativ verschiedener Faktor: nicht das einfache »unbestimmt«, sondern das, was den Ursprung der endlichen Erkenntnis bildet und als eine sie bestimmende Funktion bestehen bleibt (sofern man unter endliche Erkenntnis sowohl die Erkenntnis eines umrissenen Sujets innerhalb der Möglichkeit, die Totalität zu begreifen, als auch die Erkenntnis endlicher Gegenstände faßt). Als Modellfall dieser Erziehung der Vernunft wollen wir uns auf einen Autor beziehen, den man für den zu nehmen pflegt, der das Paradigma der modernen Vernunft eingesetzt hat, indem er sie als mathematisches Maß einer auf einen rein physischen Mechanismus reduzierten Welt versteht. Wir sprechen von René Descartes und seinem Entwurf einer Idee vom Unendlichen als das, was die Erkenntnis der Wahrheit begründet. Ich bin mir wohl bewußt, daß meine Wahl durchaus nicht unschuldig ist, da ja die cartesische Philosophie wiederholt (insbesondere in den Neuro-Wissenschaften) für eine unrichtige Interpretation des rationalen Mechanismus verantwortlich gemacht worden ist, insofern sie – wie bekannt – die Sphäre des Denkens (res cogitans) von der der physischen Realität (den materialen Körpern, die der res extensa zugehören) klar geschieden hat. Wie auch immer man aber die Frage entscheiden mag, und auch wenn man der weitest verbreiteten Interpretation folgt, wonach Descartes Bezug auf die Gottesidee nehme und einen Beweis seiner Existenz liefere, einzig mit dem Ziel, die Übereinstimmung unserer klaren und distinkten Ideen mit der Welt, die diese bestimmen (d. h. die mechanistische Physik), zu garantieren, so bliebe es auch in diesem Fall dabei, dass sein metaphysischer Entwurf des Unendlichen eine Bedeutungsspur hinterläßt, die – vielleicht gegen Descartes’ eigene Intention – sich schwerlich auf einer bloß epistemologischen Ebene erschöpft. Es sei erinnert an die bekannte Passage aus den Meditationes de prima philosophia (1641), in der Descartes die Idee des denkenden Subjekts analysiert – das cogito –, das als einzige unbezweifelbare Gewißheit die Evidenz seiner Existenz hat, allerdings in solipsistischem Sinn, d. h. abgesehen von allen anderen Dingen, einschließlich dem eigenen Körper, da wir ja von ihnen noch nicht wissen, ob sie wirklich existieren, und immer annehmen könnten, daß es sich um unsere geistigen Erfindungen handelt. Aber eben indem er die Ideen der denkenden Substanz analysiert, läßt Descartes uns die Gegenwart einer – meinem Geist innewohnenden – Idee erkennen, die ich, wie ich auch suche, niemals von mir ableiten kann: Es handelt sich eben um die Idee von Gott als »unendlich«, die obwohl von mir gedacht, obwohl in mir vorhanden als konstitutiver Teil meines Denkens, dennoch einen Inhalt (ein ideatum) besitzt, der mein Denken übersteigt. Die Idee von unendlich kann Descartes zufolge nur erklärt werden, wenn man zugibt, daß sie eine ihrem Inhalt angemessene Ursache hat: und diese Ursache kann nicht unser Geist sein, d. h. das Denken eines endlichen Seienden, welches wir sind, vielmehr ist das unendliche Seiende selbst und mithin das Unendliche als notwendig existierend anzuerkennen. Die Argumentation wird noch deutlicher, wenn Descartes zu einem Einwand übergeht, der in den nachfolgenden Jahrhunderten mehrfach auf verschiedene Weise wie-

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derkehren soll, daß nämlich das Unendliche lediglich eine »Negation des Endlichen« wäre, will sagen eine geistige Konstruktion seitens eines endlichen Seienden, welches wir sind, das, indem es seine Grenze negierte, sich das Unbegrenzte erfände. (Es ist leicht zu sehen, wie hier die Kritiken vorgezeichnet sind, die vom positivistischen Rationalismus gegen das Verhältnis von Ich und Unendlichem vorgebracht worden sind.) Für Descartes nun ist der Sachverhalt genau umgekehrt: Ich kann meine Endlichkeit nur wahrnehmen, weil ich die »Unendlichkeitswahrnehmung« (nämlich »die Wahrnehmung Gottes«) bereits in mir habe als »der Endlichkeitswahrnehmung (nämlich »meiner selbst«) vorhergehend«, da ich ja ohne sie »kein Bewusstsein hätte zu zweifeln, zu begehren, d. h. etwas zu ermangeln und gar nicht vollkommen zu sein« (Med. III, AT VII, 45–46). Hier liegt das ungelöste Problem der nach-cartesischen Moderne, dessen Folgen bis in unsere postmoderne Zeit reichen, daß nämlich das cogito – will sagen meine eigene Denkerfahrung – als ein solipsistisches Erkenntnisparadigma aufgenommen worden ist, worin die Gewißheit des Wahren mit seiner exakten Mathematisierung übereinkommt; gleichzeitig aber ist es von seiner metaphysischen Gründung getrennt worden, wie in der Idee des Unendlichen aufgezeigt, welche die ursprüngliche Begleitung des Ich bildet, woher Descartes denn überraschenderweise zu der Feststellung kommt: »… daraus folgert, daß ich nicht allein auf der Welt bin« (Med. III, AT VII, 42). b) Aus dieser Ausbildung der Vernunft geht in meiner Sichtweise die Perspektive hervor, diese unsere Fähigkeit methodologisch angemessen zu gebrauchen. Die Vernunft ausbilden bringt die Aufgabe mit sich, zur Vernunft zu erziehen, d. h. fragen zu lernen. Aber ein Subjekt kann nur zu fragen anfangen, weil es auf etwas gestoßen oder von etwas oder jemandem, von einem Ereignis eingeholt worden ist, was das Andere zu ihm ist (d. h. nicht von den eigenen Gedanken hervorgebracht), und was es zu einer Antwort provoziert hat. Die Frage ist nie ein Nullpunkt in der Forschung, da sie ja gerade im Gegenzug zum Realen, nämlich selbst als eine Erwiderung entsteht. Es ist nicht die Vernunft, die die letzte Bedeutung – oder »Begründung« – der Sachen hervorbringen kann: Diese erscheint entweder als die Wahrheit der Sachen selbst oder sie wird zu einer bloßen Ideologie; aber um erscheinen zu können, braucht mich die Wahrheit in gewisser Weise, weil allein die Frage des Ich den Sachen gestattet, ihre verborgene Stimme hören zu lassen, wodurch sie zur gelebten Erfahrung werden (wie Thomas von Aquin einmal unter Berufung auf Aristoteles schreibt: anima est quodammodo omnia). Diese ursprüngliche Dynamik bestimmt in letzter Instanz die »Stellung« eines Menschen in der Welt; und davon hängt ab, ob der Blick unseres Geistes und der affektive Antrieb unserer Freiheit sich der Wirklichkeit öffnen, um sie aufzunehmen, oder ob sie sich ihr gegenüber verschließen, um sich davor zu schützen. Allein ein Mensch, der fragt, kann die von der Vernunft erwartete Antwort entdecken. Gleichzeitig aber kann er nur, wenn eine Antwort in Sicht ist (ausgehend von der ersten grundlegenden Antwort, die das Gesicht der Mutter ist, die mich anlächelt, während sie mir die Brust gibt, und d. h. eine gute Realität, die für mich da ist), anfangen, wirklich zu fragen.

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Nun läßt sich leicht erkennen, daß man in der zeitgenössischen Kultur gewöhnlich davon ausgeht, daß, wenn das Fragen des Menschen eine seiner Erwartung entsprechende Antwort erhält, wenn also die Bedeutung, der logos der Realität sich zeigt und sich zu erkennen gibt, das Fragen notwendig aufhört. Recht betrachtet liegt eines der entscheidenden Motive für den »nihilistischen« Charakter unserer Zeit eben darin, daß die Antworten als Abbrechen des Fragens gesehen werden, und daß folglich die grundlegenden Fragestellungen des Erziehungsprozesses im Ausgang von der vorhergehenden Entscheidung a priori angegangen werden, daß eine angemessene Antwort auf sie unmöglich ist. So fragte man beinahe paradoxerweise nicht, um eine gewisse Antwort zu finden, sondern im Gegenteil gerade weil es die Antwort nicht gibt. Derart wird der für jede Forschung typische problematische Charakter ungebührlich in eine vorurteilsvolle Zweifelshaltung verkehrt und die genuin kritische Haltung wird auf einen relativistischen Skeptizismus reduziert. Doch handelt es sich gerade um eine Option, um eine Wahl, die man vollführen möchte, nicht um eine methodologische Notwendigkeit, noch weniger um eine erfahrbare Evidenz. Die »Kritik« z. B. kann auch auf andere Art und Weise verstanden werden, nämlich nicht als Entwertung a priori von dem, was vor mir liegt, sondern als ein alles »erwägen« (was die etymologische Bedeutung von krinein oder von krisis ist), um zu überprüfen, ob es etwas gibt, das angemessen auf meine Fragen antworten möchte. Auch in diesem Fall kann eine große Denkerfahrung diese grundlegende Position der Vernunft belegen. Es handelt sich um einen Autor, der wahrscheinlich – selbst im zeitlichen Abstand von Jahrhunderten – der »modernste« von allen bleibt: Augustinus von Hippo. Wir befinden uns im Buch X der Confessiones (verfaßt zwischen 397 und 400). Nachdem er vor dem göttlichen Du und vor den Menschen nicht nur seine Autobiographie, sondern sein Leben als bedeutendes Geschehen, als sich Vergegenwärtigen eines liebenden logos für Intelligenz und Zuneigung dargelegt hat, stellt Augustinus die Frage danach, »wer Jener sein mag«, den er liebt (Quid autem amo cum te amo?), d. h. er versucht – soweit es ihm möglich ist, jedoch mit dem deutlichen Bedürfnis zu begreifen – die Wahrheit jenes Verhältnisses von Endlichem und der unendlichen Gegenwart, die sich in den Begegnungen, Ereignissen, dramatischen Episoden seines Lebens gezeigt hat, auszuloten. Er beginnt damit, die Dinge außerhalb seiner selbst (den Himmel, die Erde, das Meer …) zu befragen, und alle antworten ihm nach ihrer Schönheitsform (species): Wir sind nicht, was Du suchst, »wir sind nicht dein Gott«, da wir gemacht sind. Also wendet Augustinus sich an sich selbst – »und Du, wer bist Du?« (Conf. X, 6,9) – denn allein das Bewußtsein des Ich (was er homo interior nennt) kann das zu erkennen geben, was außen ist, die ganze Realität außerhalb von uns selbst. Dabei ist der innerliche Mensch durchaus nicht als eine in der Innerlichkeit beschlossene psychologische Sphäre zu verstehen, sondern im Gegenteil als Öffnung der Vernunft und Möglichkeit eines Urteils über die Sachen. Diese Fähigkeit zu urteilen – diese iudex ratio – konnotiert für Augustinus die menschliche Erfahrung. Doch wie werden wir darauf aufmerksam? Und wie können

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wir diese unsere Urteilskraft ausüben? Allein in Freiheit, aber diese in erster Linie nicht verstanden als eine moralische Dimension, die unsere praktischen Entscheidungen betrifft, sondern als ursprüngliche Öffnung, um die Realität zu erkennen und aufzunehmen. Denn, wie Augustinus bemerkt: subditi iudicare non possunt, »die Sklaven können nicht urteilen«. Um zu urteilen – um zu erkennen, was es gibt – muß man frei sein, d. h. gespannt darauf, nach der Bedeutung zu fragen. Und wie zeigt sich diese Bedeutung? Sie erscheint unserem Bewußtsein als Schönheit (species). Die Schönheit der Dinge – eine Qualität, die für Augustinus nicht in dem bloßen ästhetischen Aspekt aufgeht, sondern in der Ordnung, der Harmonie und der tiefgreifenden Vernunft liegt, wofür die Dinge stehen und womit sie begabt sind – spricht zu allen, aber nicht alle hören sie. Nur die begreifen sie, die mit Urteil zu fragen verstehen, die nämlich, die »die Stimme, welche sie von außen empfangen haben, aufnehmen, und sie mit der Wahrheit konfrontieren, die in ihnen selbst gegenwärtig ist« (Conf. X, 6,10). Mir scheint, daß in diesem sozusagen »dramatischen« Verhältnis von der Vernunft als Erkenntnisvermögen des Menschen und der Vernunft als »Stimme« des logos, die von der Welt auf uns kommt, der Raum der Geschichte sich auftut als Abenteuer der Entdeckung des Grundes. Diese Entdeckung ist der wahre Einsatz in der »Geschichte der Metaphysik«.4

Der Verfasser macht für diese Entdeckung die Probe aufs Exempel mit »Quaestio« einem »Jahrbuch für die Geschichte der Metaphysik«, das er zusammen mit Pasquale Porro herausgibt und seit dem Jahr 2000 bei den Verlagen Brepols (Turnhout) und Pagina (Bari) veröffentlicht. Als Beispiele für die methodische und historisch-kritische Perspektive einer transdisziplinären Geschichte der Metaphysik (von der Antike bis zur Gegenwart, und durch die verschiedenen Ansätze von Erkenntnistheorie und Psychologie, Sprachphilosophie etc. hindurch) seien nur die Themen der bisher erschienenen elf Bände genannt: Bd. 1/2001: Heidegger und das mittelalterliche Denken (hg. von C. Esposito und P. Porro); Bd. 2/2002: Die Kausalität (hg. von C. Esposito und P. Porro); Bd. 3/2003: Die Existenz (hg. von C. Esposito und V. Carraud); Bd. 4/2004: Die Erfahrung (hg. von C. Esposito und P. Porro); Bd. 5/2005: Metaphysica-sapientia-scientia divina: Subjekt und Status der ersten Philosophie im Mittelalter (hg. von P. Porro); Bd. 6/2006: Augustinus und die augustinische Tradition (hg. von C. Esposito und P. Porro); Bd. 7/2007: Die Materie (hg. von C. Esposito und P. Porro); Bd. 8/2008: Das Nachwirken des Johannes Duns Scotus (hg. von P. Porro und J. Schmutz); Bd. 9/2009: Entstehung und Entwicklungen der Ontologie, XVI–XXI Jahrhundert (hg. von C. Esposito): Bd. 10/2010: Later Medieval Perspectives On Intentionality (hg. von F. Amerini); Bd. 11/2011: The Philosophical Book (hg. von L. Del Corso und P. Pecere). – Dazu sei erlaubt, auf den folgenden Aufsatz des Verf.s hinzuweisen: «Quaestio»: Die Metaphysik in begriffs- und problemgeschichtlicher Hinsicht, in: R. Pozzo, M. Sgarbi (Hg.), Begriffs-, Ideenund Problemgeschichte im 21. Jahrhundert (Wolfenbütteler Forschungen Bd. 127), Harrasowitz Verlag, Wiesbaden 2011, 147–153. 4

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Grund und Abgrund Kolloquiumsleitung: Wolfram Hogrebe

Wolfram Hogrebe Einführung Markus Gabriel Die Endlichkeit der Gründe und die Unvollständigkeit der Tatsachen Slavoj Zizek Im Zirkel des Grundes, Or, is it still possible to be a Heligian Today?

Einführung Wolfram Hogrebe

Einen Raum der Gründe kann es im wörtlichen Sinne schwerlich geben. Eine Welt der Gründe vermutlich auch nicht. Was es geben könnte, wäre eher so etwas wie eine Dimension der Gründe, für die Prämissen in gültigen Schlüssen in Frage kommen. Einen Raum der Prämissen wird man ebenso kaum deklarieren können, da jeder Satz Chancen hat, Prämisse zu sein. Da Gründe jedenfalls immer etwas Zuvorgekommenes sind, vermuten elastische Denker, also Dichter, daß sie geradezu in den Brunnen der Vergangenheit gehören. Und von diesem Brunnen argwöhnt Thomas Mann: »Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?«1 Diese Dimension der Gründe, wenn man denn bei ihr bleiben will, kommt aber auch in bekannte Schwierigkeiten, wenn man verlangt, daß diese Dimension ihren eigenen Grund mit enthält. Wer über Gründe redet, verliert, wenn er aufs Ganze geht, leicht den Boden unter den Füßen und landet im Abgründigen oder Ungründigen, wie wir schon von Schelling lernen konnten. Niemand ist auf diese Abgründigkeit besser vorbereitet als die beiden Redner dieses Kolloquiums. Das sind Markus Gabriel und Slavoj Zizek. Daß beide hier in München zusammen auftreten, hat einen ganz simplen Grund: Beide haben als Co-Autoren ein Buch geschrieben und herausgegeben. Das war die natürliche Empfehlung für den Leiter dieses Kolloquiums, die beiden um Beistand im Abgründigen zu ersuchen. Ihr gemeinsames Buch trägt den rätselhaften Titel: Mythology, Madness and Laughter: Subjectivity in German Idealism. Erschienen ist es 2009 im Verlag Continuum in New York und London. Das Gelächter, von dem in diesem Buch in einem Beitrag von Slavoj Zizek die Rede ist, ist übrigens nicht olympisch, denn es ist das Gelächter Fichtes. Fichte macht sich einmal lustig über eine Kritik, ungenannt Schellings, daß bei ihm, Fichte,wegen des für ihn allein zulässigen praktischen Weltverhältnisses des Menschen konsequent der Natur nur ein moralkonformer Status zukomme, so daß man Luft und Licht sehr leicht und sogar a priori für die moralische Existenz des Menschen als zweckmäßig nachweisen könne. Fichte leiht seinem Kritiker hier tatsächlich folgende Worte: »Luft und Licht a priori; bedenken Sie nur! ha haha! – ha haha! ha haha! Nun so lachen Sie doch mit! ha haha! – ha haha! – ha haha!«2

Thomas Mann, Josef und seine Brüder, Bd. 1, Frankfurt/M. 1975, p. 5. J.G. Fichte, Annalen des philosophischen Tons, in: Fichtes Werke, ed. Immanuel Hermann Fichte, De Gruyter, Bd. II, p. 472/3. Zitiert bei Slavoj Zizek, Fichte’s Laughter, in: Markus Gabriel and Slavoj Zizek, Mythology, Madness and Laughter, London/New York 2009, p. 160; der Nachweis bei Zizek (p. 188) gibt fälschlich die Seiten 478/9 an. 1 2

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Kolloquium 14 · Wolfram Hogrebe

Diese Stelle kannte ich, offen gestanden, vorher nicht. Und das, obwohl ich hier in München in unvordenklichen Zeiten (1968) bei Reinhard Lauth intensiv Fichte studiert hatte, aber vielleicht auch gerade deshalb. Meines Wissens kommt ein Lachen bei Fichte ansonsten auch nicht vor. Ich kann mir ein Gelächter von Fichte auch nur schwer vorstellen. Wenn ich es hören müßte, befiele mich vermutlich ein Frösteln. Dennoch formuliert Zizek am Ende seines Beitrags eine milde Bitte an den Leser: »we should give Fichte a chance.«3 Da schließe ich mich natürlich gerne an. Aber ich sollte auch unserem Kolloquium eine Chance geben. Deshalb stelle ich Ihnen unsere Redner nach akademischer Manier in knapper Form vor. Da ist zunächst unser erster Redner Prof. Markus Gabriel. Er, 1980 geboren, studierte in Bonn, Heidelberg und New York. Nach seiner Promotion (2005) und Habilitation (2008) in Heidelberg bei Jens Halfwassen folgte er im selben Jahr einem Ruf an die New School for Social Research in New York, um 2009 einen weiteren Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie an der Rheinischen Friedrich Wilhelms Universität in Bonn anzunehmen. Hier übernimmt er auch mit Wirkung zum 1.1.2012 den Vorstandsvorsitz des Internationalen Zentrums für Philosophie NRW, dessen Gründung 2008 vom Landtag in Düsseldorf beschlossen worden war. 2008 war Herr Gabriel bereits mit 28 Jahren als Senior-Fellow [sic] an das Wissenschaftskolleg in Berlin berufen worden. Derzeit ist er Fellow am Käte Hamburger Kolleg in Bonn. Er hatte zudem schon zahlreiche Gastprofessuren inne, in den USA, Südamerika, Italien, Spanien und Portugal. Wahrscheinlich hat er mehrere Doppelgänger und das Original sitzt gar nicht hier in München. Die wissenschaftlichen Schwerpunkte von Herrn Gabriel sind in systematischer Hinsicht Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ontologie, im historischen Korridor die Philosophie der Antike, die Philosophie des deutschen Idealismus und die moderne, auch Analytische Philosophie des 20. und 21. Jahrhunderts. Herr Gabriel hat bereits acht Monographien vorgelegt: zu Schelling, zur Debatte um den Skeptizismus und Idealismus in der Antike, zur Erkenntnistheorie und zu anderen Themen, die ich nicht alle aufzählen will, von den Aufsätzen ganz zu schweigen. Seine letzte Monographie möchte ich hier allerdings erwähnen. Sie ist in diesem Jahr unter dem Titel Transcendental Ontology erschienen und beschreitet neue Wege einer Repristinierung der Ontologie aus der jacobinischen Einsicht, daß auch die Dinge eine Chance haben müssen, zu erscheinen. Nach dem Vortrag von Herrn Gabriel hören wir Prof. Slavoj Zizek. Er, 1948 in Slowenien geboren, ist einer der weltweit bekanntesten Kulturphilosophen unserer Zeit. Nach seinem Studium von 1981 bis 1985 in Paris, hätte er um ein Haar auch eine politische Karriere in Slowenien machen können, wo er als ehemaliger Dissident 1990 als Präsidentschaftskandidat für die Republik Sloweniens aufgestellt wurde. Heute ist er Professor in seiner Heimatstadt Ljubljana und in Saas-Fee in der Schweiz, hatte aber ebenso zahlreiche Gastprofessuren in den USA und verschiedenen Ländern inne, und

3

Slavoj Zizek, op. cit., p. 167.

Einführung

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ist seit 2007 u. a. International Director des Birbeck Institute for the Humanities an der Universität London. Der Radius von Slavoj Zizeks wissenschaftlichen Interessen umfaßt alle Bereiche der kulturellen Expressivität der Moderne vom Film bis zum Feminismus. Die tragende Achse für seine philosophischen Forschungen besteht aus den Denkern des deutschen Idealismus, Karl Marx und vor allem Jacques Lacan. Man hat ihn deshalb auch gern dem Poststrukturalismus zugerechnet, was er allerdings nicht gerne hört. Ich würde ihn als konsequenten Denker der Alterität in allen expressiven auch politischen Feldern unserer modernen kulturellen Existenz bezeichnen, vielleicht sogar als einen reflexiven Anarchisten in den Feldern des Realen, Symbolischen und Imaginären oder als Anwalt der Teilnehmer ohne Anteil. Aber solche Klassifikationsversuche scheitern natürlich immer an seinem philosophischen Temperament. Zu Konzessionen auf Kosten seiner Überzeugungen ist er jedenfalls nicht bereit. Es ist klar, daß er damit auch Kritik auf sich gezogen hat. Aber das soll uns heute nicht weiter interessieren. Ich verweise hier auf die Präsentation seines Denkens von Rex Butler, Slavoj Zizek zur Einführung, ein Buch, das 2006 in Hamburg in Übersetzung von Bettina Engels bei Junius in Hamburg erschienen ist. Was seine zahlreichen Publikationen angeht, muß leider gesagt werden, was ich auch schon von Markus Gabriel gesagt hatte: ich kann sie hier unmöglich alle aufzählen. Für Slavoj Zizek gilt das natürlich a fortiori. Er hat über zwanzig Monographien vorgelegt. Eines seiner wichtigsten Werke ist das zweibändige Opus Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, dessen erster Band den Titel trägt Der Erhabenste aller Hysteriker (Wien 1992) und der zweite den Titel Verweilen beim Negativen (Wien 1994). Dieses Werk ist in mancher Hinsicht eine um die Entwicklung der Psychoanalyse bis zu Lacan und über Lacan hinaus erneuerte Fassung des Buches von Odo Marquard Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln 1987. Zu nennen sind auch die zwei Bücher, die Slavoj Zizek mit Alain Badiou publiziert hat (Philosophie und Aktualität, Wien 2005). Auch für die Kritik provozierend waren die jüngeren Publikationen Der Mut, den ersten Stein zu werfen (Wien 2008) und Ein Plädoyer für Intoleranz (Wien 2009). Der letzte Titel ›Ich höre dich mit meinen Augen‹. Anmerkungen zu Oper und Literatur (Konstanz 2010) klingt da schon versöhnlicher, obwohl der Schein beim ersten Stein übrigens trügt: in Slavoj Zizek schlummert Kant. Zur Einführung empfehle ich persönlich sein Buch Liebe Deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne (Verlag Volk & Welt, Berlin 1999²). Hier können vor allem Philosophen lernen, in welcher Welt sie eigentlich leben, denn meistens wissen sie es nicht. Meine Damen und Herren! Wenn sich auf diesem Kongreß nichts lohnt, hier jedenfalls lohnt es sich zuzuhören, sich anregen zu lassen, auch zum Widerspruch. Wir hören zuerst Herrn Markus Gabriel zum Thema Die notwendige Endlichkeit der Gründe und die notwendige Unvollständigkeit der Tatsachen und anschließend Herrn Slavoj Zizek zum Thema Im Zirkel der Gründe.

Die Endlichkeit der Gründe und die Unvollständigkeit der Tatsachen Markus Gabriel

In Ethics Without Ontology gelangt Hilary Putnam zu der folgenden bemerkenswerten Feststellung: “How can the question whether something exists be a matter of convention? The answer, I suggest, is this: what logicians call ‘the existential quantifier,’ the symbol ‘(∃x),’ and its ordinary language counterparts, the expressions ‘there are,’ ‘there exist’ and ‘there exists a,’ ‘some,’ etc., do not have a single absolutely precise use but a whole family of uses.”1 Wenn Putnams semantische Konklusion, die These einer Quantoren-Familienähnlichkeit, zwar letztlich nicht überzeugend ist, wie ich im folgenden zeigen werde, enthält seine Beobachtung eine m. E. sehr wohl zutreffende Diagnose.2 Um zu verstehen, was Putnams Diagnose motiviert, und um von dieser aus in ein weites Gebiet vorzudringen, beginnen wir mit einer unscheinbaren Überlegung über das Wesen von Gründen und damit über das Wesen von Begründungen, eine Überlegung, die – wie man vielleicht schon ahnen wird – aufgefordert sein muß, Auskunft über sich selbst zu geben, da es sich bei dieser Überlegung natürlich um eine Begründung handelt. Setzen wir einmal voraus, daß es irgendeinen logischen Raum gibt. Unter einem »logischen Raum« verstehe ich eine Dimension, in der es mindestens zwei propositionale, und d. h. behauptbare, Gebilde sowie den Raum gibt, den sie einnehmen. Propositionale Gebilde sind dasjenige, was behauptbar und damit auch negierbar ist, weshalb Frege einmal bemerkt: »Jedem Gedanken steht ein entgegengesetzter gegenüber, so daß die Verwerfung des einen immer mit der Anerkennung des anderen zusammenfällt.«3 Vor diesem Hintergrund können wir den logischen Raum, von dem wir unseren Ausgang nehmen wollen, als Dimension ansehen, in der P und ¬P existieren.4 Als ExisEthics without Ontology, Cambridge, Ma. 2004, 37. Eli Hirsch hat freilich eine robust realistische Deutung der »Quantoren-Varianz (quantifier variance)« (wie er dies nennt) vorgeschlagen, womit er zwar Putnams Diagnose aufgreift, aber sich ebenfalls gegen die anti-realistische These wendet, daß die Ontologie damit insgesamt verabschiedet werden müsse, wie Putnam meint. Vgl. insbesondere Eli Hirsch: Quantifier Variance and Realism: Essays in Metaontology, Oxford 2011. Zu einem Überblick über die Debatte vgl. auch Metametaphysics. New Essays on the Foundations of Ontology, ed. by David Chalmers, David Manley and Ryan Wasserman, Oxford 2007. Meine eigene Position eines »Hyperrealismus« habe ich skizziert in Markus Gabriel: Il senso dell’esistenza. Per un nuovo realismo ontologico. Presentazione di Maurizio Ferraris, Rom 2012. 3 Gottlob Frege: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, aus dem Nachlaß, hg. von Gottfried Gabriel, Hamburg 2001, 74. 4 Es mag sein, daß aus der Voraussetzung eines logischen Raums, in dem P und ¬P existieren, folgt, 1 2

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tierende sind P und ¬P isosthenisch oder genauer: asthenisch, weil weder Gründe für noch gegen P vorausgesetzt worden sind; ebenso wenig für oder gegen ¬P. Gründe existieren in unserem logischen Raum noch gar nicht, sondern nur zwei propositionale Gebilde. Diese propositionalen Gebilde sind als existierende nicht einmal inkompatibel, sie existieren beide in derselben Dimension. Diese Koexistenz ist dabei nicht mit einer logischen Konjunktion gleichzusetzen. Die einzige Relation zwischen P und ¬P ist die Koexistenz, so wie etwa jemand gerade glaubt, daß er ein guter Tänzer ist und jemand anderes dies verneint. In diesem Fall existieren P und ¬P ebenfalls in derselben Dimension, die in diesem Fall ein logischer Raum von Überzeugungen ist. Von einem Widerspruch oder ähnlichen Gefahren ist hier noch gar keine Rede. Ein Widerspruch vermag erst dann zu bestehen, wenn die Konjunktion in den logischen Raum eingeführt wird, d. h. wenn es über die ontologische Minimalbedingung von Behauptbarkeit, der Koexistenz von P und seiner Negation, hinaus auch noch eine Relation gibt, die ihrerseits behauptet werden kann. Doch auch dies genügt noch nicht für einen Widerspruch. Wenn die Konjunktion ihrerseits nämlich lediglich als existierende aufgefaßt wird, koexistieren nun eben P, ¬P und ihre Konjunktion, welche ihrerseits behauptbar ist, so daß die Konjunktion sowie deren Verneinung existieren. Da eine Konjunktion als existierende nur ein weiteres propositionales Gebilde ist, haben wir unseren logischen Raum durch die Einführung der Konjunktion noch gar nicht erweitert. P und ¬P bleiben die einzigen Entitäten oder vielmehr freien Variablen in unserem logischen Raum. Damit es überhaupt zu einem Widerspruch kommen kann, müssen P und ¬P in Begründungen firmieren können. Etwas muß für P und gegen ¬P sprechen, d. h., es muß eine Asymmetrie eingeführt werden. Was für P sprechen kann, ist aber ein Grund. Ohne Gründe gibt es demnach keinen Widerspruch. Daß es sich bei »P ∧ ¬P« um ein Ärgernis, ein äußerst unbequemes Syntagma, handeln kann, liegt daran, daß es in Begründungen Schwierigkeiten aufwirft. Bekanntlich argumentiert der Pyrrhonische Skeptizismus dafür, daß eine begründungstheoretisch notwendige Asymmetrie niemals erfolgreich eingeführt werden kann, da wir an irgendeinem Punkt auf eine Instanz des logischen Raums treffen, von dem wir ausgegangen sind, so daß P und ¬P lediglich koexistieren.5 Denn genau dieser logische Raum ist die minimale Voraussetzung der

daß mehr als nur die beiden Propositionen angenommen werden muß, jedenfalls dann, wenn man sich fragt, was der Inhalt von »P« ist. Nehmen wir zu diesem Zweck an, der Inhalt von »P« sei, daß es einen logischen Raum gibt, in dem P und ¬P existieren. Daß sich der logische Raum, von dem wir unseren Ausgang nehmen, demnach selbst betrifft, ist als solches noch kein Anlaß für eine Paradoxie. Es spielt allerdings für die Argumentation keine Rolle, welchen Inhalt P hat. Ich danke Martin Brecher für den Hinweis, daß der betreffende logische Raum mindestens sich selbst betrifft. 5 Marius Bartmann hat mich darauf hingewiesen, daß daraus folgt, daß der Pyrrhonische Skeptizismus eigentlich gar keine Isosthenie, sondern nur eine Asthenie der Gründe fordert, woran ich mich im Haupttext angeschlossen habe, womit der Pyrrhonische Skeptizismus sich als stärker erweist, als dies den antiken Skeptikern vorgeschwebt haben mag. Seine Pointe ist nämlich in der Tat eine Unentscheidbarkeit, eine Aparallaxie, von Propositionen (bzw. Theorien qua inferentiell geordneten Mengen von Propositionen) und nicht die Behauptung ihrer gleichen Gültigkeit. Vgl. dazu ausführlicher Markus Gabriel: Skeptizismus und Idealismus in der Antike, Frankfurt/M. 2009.

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Behauptbarkeit, und was nicht zumindest behauptbar ist, ist allemal nicht begründbar. Die ontologische Symmetrie irgendeiner Behauptung und irgendeiner Verneinung ist demnach die Voraussetzung aller Asymmetrien oder, wenn man dies hinreichend voraussetzungsfrei auffaßt: Alle Begründungsgänge vollziehen sich in einer ontologischen Anarchie, wenn diese auch als solche nur in Grenzfällen auffällig wird. Der Grund dafür, daß uns die ontologische Anarchie nicht immer schon in der Form einer vollständigen kognitiven und praktischen Paralyse heimsucht – was Erkenntnistheoretiker fürchten, die sich dem Skeptizismus stellen –, ist die Endlichkeit der Gründe. Nur weil es keinen vollständigen Grund für irgendeine Überzeugung gibt, gibt es hinreichende Gründe.6 Der Satz vom hinreichenden Grund muß bereits in diesem Licht dahingehend korrigiert werden, daß er den Umstand bedenkt, daß es hinreichende Gründe nur so gibt, daß sie nicht vollständig sind. Wer unbedingte Vollständigkeit einfordert, überfordert die Welt der Gründe und überfällt sie mit Anarchie. Bedingte Vollständigkeit hingegen ist das wahre Ziel von Begründungen. Begründungen etablieren eine Asymmetrie zwischen P und ¬P und führen auf diese Weise Zusammenhänge zwischen propositionalen Gebilden ein. Diese Zusammenhänge lassen sich jederzeit suspendieren, indem man sich darauf besinnt, daß jedes noch so komplexe propositionale Gebilde, etwa irgendein formales System, als behauptbares Gebilde seinerseits ein P ist, dessen Behauptung mit der Verwerfung seiner Negation einhergeht. Die Endlichkeit von Gründen ist demnach eine notwendige Voraussetzung von Begründungen überhaupt. Im folgenden werde ich dafür argumentieren, daß dieser Unvollständigkeitssatz ein logisch-ontologisches Prinzip ist, d. h. daß es nicht nur eine zufällige Eigenschaft des »Spiels des Gebens und Verlangens von Gründen« ist, daß keine vollständigen Gründe angeführt werden können. Vielmehr gibt es sozusagen eine Lücke im Gefüge der Tatsachen, eine konstitutive Unvollständigkeit. Die Unvollständigkeit der Tatsachen ist konstitutiv in dem Sinne, daß sie eine notwendige Bedingung der Existenz von Tatsachen ist. Wenn die Tatsachen vollständig wären, gäbe es gar keine Tatsachen, sondern eine ontologische Anarchie, d. h. gar nichts, das irgendetwas ist und irgendetwas nicht ist. Sobald nämlich irgendetwas irgendetwas ist, ist bereits eine Differenz etabliert. Daß es dieses und nicht jenes ist, läßt sich begründen, irgendetwas hat jeweils dafür gesorgt,

Man könnte sich fragen, welcher Zusammenhang bei Leibniz zwischen dem Satz vom hinreichenden Grund (ratio sufficiens) und seinem Begriff eines vollständigen Begriffs (notio completa) besteht. Allerdings führt die Frage nach der vollständigen oder unvollständigen Bestimmtheit der Individuen bei Leibniz in den Bereich der Ontotheologie. Im folgenden geht es darum, daß unvollständige Gründe nicht nur die einzigen Gründe sind, über die wir verfügen, sondern daß diese Unvollständigkeit unter endlichen Bedingungen nicht bedeutet, daß unsere Gründe nicht hinreichend sind. Vgl. dazu übrigens die Ausführungen Josef Simons insbesondere in Wahrheit als Freiheit. Zur Entwicklung der Wahrheitsfrage in der neueren Philosophie, Berlin/New York 1978; Ders.: Philosophie des Zeichens, Berlin/New York 1989. Im Hintergrund steht dabei Josef Königs Erläuterung des Begriffs der Ursache als »der Begriff einer befriedigenden Antwort auf die Frage ›warum?‹.« (Josef König: Bemerkungen über den Begriff der Ursache (1949), in: Ders.: Vorträge und Aufsätze, hg. von Günther Patzig, Freiburg/München 1978, 122–255, hier: 143; vgl. auch ebd., 148). 6

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daß es sich so und nicht anders verhält – sei dies nun eine Ursache oder ein Grund, wenn man diese beiden Begriffe überhaupt scharf unterscheiden kann.7 Im ersten Teil meines Beitrags (I.) werde ich ein Argument für die notwendige Endlichkeit von Gründen und damit von Begründungen liefern. Dieser begründungstheoretisch begründete Unvollständigkeitssatz führt mich im zweiten Teil (II.) zu der Überlegung, daß die Tatsachen unvollständig sind. Es gibt keine omnitudo realitatis oder, wie ich auch sagen werde: Bis auf Eines, nämlich das Ganze, gibt es alles.

I. Die notwendige Endlichkeit der Gründe Ein unbedingter Grund wäre ein Grund, der sowohl für P als auch dafür spräche, daß er für P spricht. Ein solcher Grund wäre wahrheitsgarantierend, d. h., man könnte ihn nur so erfassen, daß man sowohl die Wahrheit des durch ihn Begründeten als auch seine eigene Wahrheit einsähe.8 Traditionell wird die Annahme, es müsse einen solchen Grund geben, dadurch motiviert, daß man sich mit dem Skeptizismus konfrontiert sieht. Wäre kein solcher Grund verfügbar oder könnte es gar keinen solchen Grund geben, bliebe scheinbar lediglich die Konsequenz übrig, alle Wissensansprüche zu verabschieden. Denn wer einen Wissensanspruch erhebt, unterstellt diesen einer Verteidigungsverpflichtung, was ich die apologetische Dimension des Wissensbegriffs nenne und was gemeinhin als »Rechtfertigungsbedingung« von Wissen firmiert.9 Offensichtlich führt die Verteidigungsverpflichtung in einen problematischen Regress, wenn man nur dann mit Gründen behaupten kann, daß P, wenn man auch behaupten kann, daß die für P sprechenden Gründe G1, G2, …, Gn, bestehen, wobei diese Behauptung nur eine anders gelagerte Behauptung dessen ist, daß P. Sollte es sich bei ihr um einen Wissensanspruch handeln, sieht man sich gezwungen zu behaupten, daß G1*, G2*, …, Gn*, wobei die mit einem Asterisk versehene Begründungsreihe anzeigt, daß es sich bei ihr spezifisch um Gründe für Gründe handelt. Bekanntlich weist der Pyrrhonische Skeptizismus darauf hin, daß wir an irgendeinem Punkt (1.) entweder auf eine Begründungsreihe stoßen, die zuletzt nur gesetzt und nicht begründet ist, oder Sebastian Rödl hat etwa vorgeschlagen, Gründe und Ursachen allgemein als Antworten auf Warum-Fragen zu verstehen, womit er ein überzeugendes Rüstzeug gegen reduktionistische Handlungserklärungen an der Hand hat. Vgl. Sebastian Rödl: Self-Consciousness, Cambridge, Ma. 2007. 8 Zu einer Verteidigung des Begriffs des »unbedingten« bzw. des »wahrheitsgarantierenden Grundes« vgl. insbesondere Rödl: Self-Consciousness, und Andrea Kern: Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten, Frankfurt/M. 2006. Gegen die Möglichkeit wahrheitsgarantierender Gründe habe ich an anderer Stelle bereits ausführlicher argumentiert. Vgl. Markus Gabriel: Die Wiederkehr des Nichtwissens – Perspektiven der zeitgenössischen Skeptizismus-Debatte, in: Philosophische Rundschau 54/1 (2007), 149–178; Ders.: An den Grenzen der Erkenntnistheorie. Die notwendige Endlichkeit des objektiven Wissens als Lektion des Skeptizismus, Freiburg/München 2008; Ders.: Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie, Freiburg/München 2012. 9 Vgl. An den Grenzen der Erkenntnistheorie, 149 f. 7

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(2.) eine weitere Begründungsreihe suchen müssen, oder (3.) eine Begründungsreihe suchen müssen, die sich selbst und das von ihr Begründete begründet. Die erste Option neigt zu einem Dezisionismus, was die unangenehme Folge hat, daß Carl Schmitt bereits hinter ihr hervorlugt. Die zweite Option führt zu einer kognitiven und praktischen Paralyse, da man keine unendliche Begründungsreihe im Sinne eines justifikatorischen Aufstiegs von G zu G* zu G** usw. durchlaufen kann, um zu garantieren, daß P. Deswegen könnte man zu Option (3.) neigen, die traditionell unter dem Stichwort der »causa sui« und damit als unbedingter Grund diskutiert wird. Dabei besteht freilich kein Grund, diese begründungstheoretische Überlegung auf überstürzte Weise theologisch oder ontotheologisch auszubuchstabieren. Ein unbedingter Grund könnte bereits etwas so Unspektakuläres wie eine Wahrnehmung sein, wie bspw. John McDowell, Sebastian Rödl oder James Pryor neben vielen anderen meinen.10 Fragen wir uns also, wie es um die Option einer causa oder vielmehr ratio sui im allgemeinen bestellt ist. Wenn das Verhältnis zwischen Grund und Begründetem inferentieller Natur ist, wie viele gegenwärtige Freunde des Spiels des Gebens und Verlangens von Gründen meinen, kann es sich bei einem Grund lediglich um eine Prämisse handeln. Da Prämissen propositionale Gebilde sind, können sie sich nicht selbst begründen. Propositionale Gebilde sind als existierende noch gar nicht begründet, sondern lediglich behauptbar. Ein wahrheitsgarantierender Grund kann demnach keine Prämisse sein bzw., genauer, er muß auch noch etwas anderes als eine Prämisse sein, um als wahrheitsgarantierender Grund in Schlußfolgerungen eingebaut werden zu können. Denn Prämissen sind qua propositionale Gebilde nicht auch schon notwendig wahr. Ihre Wahrheit muß anderweitig etabliert werden. McDowells Option, irgendeine Wahrnehmung als unbedingten Grund anzusehen, scheint infolge dessen immerhin plausibler als Brandoms Version, alle Gründe als Elemente in Schlußfolgerungen aufzufassen. Denn der Inferentialismus läßt keine unbedingten Gründe, sondern nur Autoritäten zu, wie man am Beispiel des Pittsburgher Neopragmatismus leicht sehen kann. Autoritäten sind bei Brandom Platzhalter unbedingter Gründe, wobei sie freilich ihrerseits historisch bedingt sind. Soviel Demokratie schickt sich im Spiel des Gebens und Verlangens von Gründen, wobei man sich fragt, ob Brandom Institutionen als Autoritäten auffassen möchte, was eine fragwürdige Option darstellt.11 Nehmen wir also dagegen an, irgendeine Wahrnehmung sei ein unbedingter

10 Vgl. insbesondere neuerdings John McDowell: Perception as a Capacity for Knowledge, Marquette 2011, sowie dort auch die Diskussion der Positionen Pryors und Burges. 11 Das Problem ist freilich, daß Autoritäten oder Institutionen schlechte Regreßstopper darstellen. Denn Autoritäten sind keine inferentiellen Tatsachen, sondern lediglich Weichensteller inferentieller Dispositionen. Paul Boghossian hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß damit auch die Normativitäts-Rhetorik des Inferentialismus unplausibel wird. Denn, was aus etwas folgt, hängt letztlich von Autoritäten (oder diskursiven Praktiken oder Institutionen usw.) ab, so daß alle inferentiellen Strukturen letztlich nicht normativ, sondern rein dispositional ausgerichtet sind. Sie beschreiben lediglich, was man beschließt, und nicht, was man annehmen soll, wenn man zu wahren Überzeugungen gelangen will.

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Grund oder vielmehr: Die beste Ausübung unserer begrifflichen Fähigkeit, etwas als etwas wahrzunehmen, sei ein unbedingter und demnach wahrheitsgarantierender Grund, wofür insbesondere Andrea Kern argumentiert hat. Für diese Version spräche etwa die folgende Überlegung. Wahrnehmen ist eine begriffliche Fähigkeit. Wenn wir etwas wahrnehmen, nehmen wir etwas wahr, das wir auf irgendeinen Begriff bringen können, und sei es auf den Begriff des Unbekannten. Diese Fähigkeit üben wir nicht ständig aus, weshalb es sich eben um eine Fähigkeit handelt. Eine Fähigkeit, die auszuüben man nicht unterlassen kann, unabhängig davon, welche Askese man auf sich nimmt, wäre keine Fähigkeit, sondern ein Widerfahrnis. Das Leben ist vielleicht von dieser Sorte, was aber dahingestellt sein mag. Nun scheint es unplausibel anzunehmen, daß die beste Ausübung einer Fähigkeit hinter deren Realisierung zurückbleibt. Wenn der beste Tangotänzer seine Fähigkeit ausübt, ist diese Ausübung die Realisierung eines Tangotanzes. Analog scheint es sich mit dem Wahrnehmen zu verhalten. Die beste Ausübung unserer Wahrnehmungsfähigkeit ist eine veridische Wahrnehmung, und eine veridische Wahrnehmung ist die Erfassung einer Tatsache und damit einer Wahrheit. Denn Tatsachen sind dasjenige, was über irgendetwas wahr ist, und genau solches erfassen wir mit der Ausübung der begrifflichen Fähigkeit der Wahrnehmung.12 Demnach ist die beste Ausübung der Wahrnehmung ein wahrheitsgarantierender Grund. Leider reicht diese Argumentation nicht hin. Denn ein wahrheitsgarantierender Grund soll nicht nur ein propositionales Gebilde sein, sondern ein solches, das seine eigene Wahrheit verbürgt. Nun verbürgt eine Ausübung der Wahrnehmungsfähigkeit keineswegs, daß sie die beste Ausübung ist. Deswegen ist jede einzelne Wahrnehmung fallibel. Auch der beste Tangotänzer kann in Zweifel darüber geraten, daß er der beste Tangotänzer ist, vielleicht handelt es sich bei dem, was er für Tango hält, nicht einmal um Tango, sondern – sagen wir – um »Schmango«, so wie sich etwa meine eigenen bescheidenen Tangotanzversuche regelmäßig als Schmango herausstellen. Nur weil wir den Begriff der besten Ausübung der begrifflichen Fähigkeit der Wahrnehmung erfassen und darstellen können, folgt daraus noch nicht, daß irgendein Wissensanspruch, wonach dieses oder jenes eine Instanz dieses Begriffs sei, tatsächlich eine Instanz dieses Begriffs ist. Dazu bedarf es wiederum einer Begründung, woraus folgt, daß die beste Da der Begriff der »Tatsache« eine nicht ganz unwichtige Rolle in diesem Beitrag spielt, sei hier immerhin beiläufig erläutert, was beabsichtigt wird, wenn ich sage, daß Tatsachen etwas sind, das über etwas wahr ist. Es ist bspw. wahr über mein Laptop, daß es sich vor meinen Augen befindet, während ich diese Zeilen tippe. Dieser Umstand ist dabei nicht selbst das Laptop, das sich vor meinen Augen befindet, während ich diese Zeilen tippe. Er ist aber auch nicht identisch mit der Behauptung, daß sich das Laptop vor meinen Augen befindet, während ich diese Zeilen tippe. Tatsachen sind objektive Wahrheiten, die wir mit Behauptungen gleichsam in unsere diskursiven Praktiken einblenden, um sie ggf. mit Begründungen in diese fest einzubinden. Die Einbindung von objektiven Tatsachen in diskursive Praktiken ist Interessen-abhängig, die Tatsachen selbst nicht, weshalb es einige (ziemlich viele, genaugenommen mindestens unendlich, noch genauer transfinit viele) Wahrheiten gibt, die (noch) nicht in unser diskursiven Praktiken eingebunden sind. Wie in diesem Beitrag gezeigt werden soll, ist selbst diese transfinite Menge von Wahrheiten unvollständig, da immer eine Tatsache fehlt, nämlich eine alle anderen Tatsachen betreffende Tatsache. 12

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Ausübung der begrifflichen Fähigkeit der Wahrnehmung kein wahrheitsgarantierender und demnach auch kein unbedingter Grund ist. Unbedingte Gründe gibt es einfach nicht. Dies gilt auch und v. a. für den Cartesischen Anspruch, das Cogito als Intuition und nicht als Schlußfolgerung zu verstehen.13 Auch das Cogito ist kein unbedingter Grund. Wir befinden uns einfach niemals in einem wahrheitsgarantierenden Zustand, der etwas und sich selbst garantiert. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß wir auch hinsichtlich unserer Fallibilität auf mindestens zwei Ebenen fallibel sind: einerseits als Theoretiker der Fallibilität, was ich hier ausblenden werde, und andererseits in der Ausübung unserer falliblen Fähigkeiten. Wenden wir uns dem zweiten Fall, der Fallibilität unserer kognitiven Performanzen, zu! Angenommen, wir übten erfolgreich unsere Wahrnehmungsfähigkeit aus und befänden uns in einem Erfolgsszenario der visuellen Präsenz eines, sagen wir, blauen Würfels. Nun kann man uns aber durch verschiedene Szenarien davon abbringen anzuerkennen, daß wir uns in einem Erfolgsszenario befinden, indem man etwa darauf hinweist, daß die Lichtverhältnisse manipuliert worden sind, um die Illusion eines blauen Würfels hervorzurufen. Wenn ein Erfolgsfall zwar auch eine unanfechtbare Struktur haben mag, wie McDowell unterstreicht, kommt diese unanfechtbare Struktur nicht zugleich auch der Beantwortung der Frage zu, ob irgendein Fall defizient oder nicht-defizient ist, da die Entscheidung dieser Frage begriffliche Fähigkeiten anderer Art oder einen weiteren Akt der Wahrnehmung erfordert, dessen Unanfechtbarkeit seinerseits nicht aus der tatsächlichen, wenn auch in Frage stehenden Unanfechtbarkeit des Ausgangsakts folgt. Diese Tatsache ist nun aber gerade der Grund dafür, daß wir überhaupt Gründe haben. Nur weil Gründe notwendig endlich sind, also niemals etwas und sich selbst begründen, haben wir überhaupt Gründe für irgendetwas. Wer nämlich einen Grund für irgendetwas hat, generiert damit Objektivität, d. h. eine Dimension, in der ex hypothesi etwas auf begründungsbedürftige Weise existiert. Weil unsere Gründe endlich sind, wissen wir, daß es irgendetwas gibt, das begründungsbedürftig ist, weshalb wir überhaupt nach Gründen suchen. Unser Zugang zu irgendetwas, das nicht identisch mit unserem Zugang zu ihm ist und damit die potentielle Divergenz von esse und percipi, die uns vor einem psychotischen Solipsismus schützt, verdankt sich der notwendigen Endlichkeit der Gründe. Und genau diese Endlichkeit eröffnet uns unsere epistemischen Fähigkeiten, d. h. den Umstand, daß wir wahrheitsfähige, aber niemals wahrheitsgarantierende Überzeugungen haben. Freilich betrifft diese Überzeugung – daß Gründe notwendigerweise endlich sind – sich selbst. Doch ihre Selbstbezüglichkeit ist das diametrale Gegenteil eines unbedingten Grundes. Vielmehr ist sie das Resultat eines endlichen Begründungsgangs, der nur so beschritten werden kann, daß er grundsätzlich auch anders beschritten werden könnte.

Vgl. etwa die berühmte Distinktion von »Intuition« und »Deduktion« in den Regulae (Œuvre de Descartes, publ. par Charles Adam & Paul Tannery, Paris 1904, hier: AT X, 368–370) sowie die Zurückweisung der Deutung des Cogitos als Schluß in den Zweiten Einwänden (AT VII, 140 f.). 13

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II. Die notwendige Unvollständigkeit der Tatsachen Gründe sind in Tatsachen eingebettet. Denn Tatsachen sind etwas, das über etwas wahr ist. In diesem Sinne können Tatsachen der Fall sein, sie sind das Der-Fall-Seiende. Der Bildschirm, den ich beim Eintippen dieser Zeilen meines Vortrages vor mir gesehen habe, ist nicht der Fall, sondern er ist ein Bildschirm. Aber es ist der Fall, daß er ein Bildschirm ist. Nun sind alle Gründe unvollständig, was keineswegs ausschließt, daß viele Gründe hinreichend sind. Um ein sehr deutsches Beispiel zu wählen: Ein Schaffner im Zug hat hinreichende Gründe, mein Zugticket sehen zu wollen. Diese Gründe autorisieren ihn gar, mich zu wecken oder von meiner Arbeit abzuhalten. Diese Gründe sind aber nicht vollständig. Sie können mich nicht zwingen, ein Ticket vorzuzeigen, ja, nicht einmal dazu, ein Ticket zu kaufen. Niemand kann irgendjemanden mit einem vollständigen Grund zur freiwilligen Ausübung irgendeiner Fähigkeit zwingen. Diese Einsicht ist trivial, wurde aber etwa von Sartre zum Existenzialismus aufgeblasen. Nun folgt aus der Unvollständigkeit der Gründe noch nicht die Unvollständigkeit der Tatsachen. Denn immerhin könnten die Tatsachen vollständig, die Gründe aber unvollständig sein. Es fehlt immer irgendein Grund, woraus allein noch nicht folgt, daß immer auch irgendeine Tatsache fehlt. So könnte man etwa den Tatsachenbereich abschließen, indem man die Tatsache anerkennt, daß immer irgendein Grund fehlt, eine Tatsache, die selbst nicht fehlt. Um die notwendige Unvollständigkeit der Tatsachen zu begründen, müssen wir deswegen einen Umweg nehmen, der Gründe und Tatsachen letztlich hinsichtlich ihrer Unvollständigkeit an einer Schnittstelle verschweißen wird. Stellen wir zu diesem Zweck die Frage, was Existenz ist. Diese Frage beantworte ich in drei Schritten: 1. Es ist zu zeigen, daß Existenz keine eigentliche Eigenschaft ist. 2. Wie sodann zu zeigen sein wird, erweisen sich Kants und Freges Antworten auf die Frage, was Existenz ist, als falsch bzw. als idealistische Übertreibungen. 3. Es bleibt letztlich nur übrig, Existenz in irgendeiner Form als Umfaßtwerden, und d. h. als immer nur lokale Eigenschaft, aufzufassen, wenn ihr jeweiliger Gegenstandsbereich auch unendlich groß sein mag. Aus diesen drei Schritten werde ich dann schließen, daß nichts Allumfassendes existieren kann. Eine Regel, welche die Vollständigkeit der Tatsachen feststellte, wäre aber allumfassend, da ihre – für uns unmögliche unendliche Anwendung – jede Tatsache beträfe, sie umfaßte alle Tatsachen. Wenn sie selbst existierte (und damit zu den Tatsachen gehörte), beträfe sie sich selbst. Eine sich selbst betreffende allumfassende Regel unterschiede sich aber von einer allumfassenden Regel, wie wir sehen werden. Gehen wir zunächst unsere drei Schritte durch! (1.) Ich stimme der Kant-cum-Frege-Linie darin zu, daß Existenz keine eigentliche Eigenschaft sein kann. Unter einer »eigentlichen Eigenschaft« verstehe ich eine Eigenschaft, auf die wir uns mithilfe eines Begriffs oder Prädikats so beziehen können, daß wir den Gegenstand, dem die Eigenschaft zukommt, von einigen anderen Gegenständen in der Welt unterscheiden können. Unter »Welt« verstehe ich dabei denjenigen

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Bereich, in dem alle Gegenstände vorkommen. Es gibt dieser Auffassung zufolge nichts außerhalb der Welt, womit lediglich irgendein Totalbegriff eingeführt sei. Wer das Wort »Sein« oder irgendeine Version eines unbeschränkten Diskursuniversums vorzieht, denke sich eben »Sein« oder seinen Lieblingskandidaten, wenn ich »Welt« sage. Wir werden sehen, daß solche Begriffe ohnehin deskriptiv leer sind. Wenn Existenz nun eine eigentliche Eigenschaft wäre, könnten wir uns mit Existenzaussagen so auf Gegenstände beziehen, daß wir diese von einigen anderen Gegenständen in der Welt unterscheiden könnten. Dies ist aber unmöglich. Wenn wir von einem Gegenstand lediglich wissen, daß er existiert, können wir ihn von gar nichts unterscheiden, da Existenz ex hypothesi allen weltlichen Gegenständen zukommt. »Sein ist offenbar kein reales Prädikat«14. Frege formuliert diesen Gedanken über seine These, daß Existenz eine höherstufige Eigenschaft sei, namentlich diejenige Eigenschaft eines Begriffes, daß etwas unter ihn fällt.15 (2.) Kants Antwort auf die Frage, was Existenz ist, lautet, »Position«16. Der Bereich, auf den sich Position bezieht, ist dabei der Bereich »möglicher Erfahrung«17. Existenz ist demzufolge eine Eigenschaft des Feldes möglicher Erfahrung, und zwar, daß etwas in ihm vorkommt. Damit garantiert Kant, daß alle existierenden Gegenstände erkennbar sind, weil mögliche Erfahrung der Gegenstandsbereich der Ausübung unserer begrifflichen Fähigkeiten ist. Freges Antwort hingegen lautet, daß Existenzaussagen die »Verneinung der Nullzahl«18 sind. Da er Zahlen als Begriffsumfänge versteht, ist die Verneinung der Nullzahl gleich der Behauptung, daß irgendetwas unter einen bestimmten Begriff fällt. Man sieht nun leicht, inwiefern Kants These, Existenz sei Erscheinung im Feld möglicher Erfahrung, und Freges These, Existenz sei das Fallen-unter-einen-Begriff, idealistische Übertreibungen darstellen. Denn was soll es heißen, daß ein Vulkan in einer räumlich und zeitlich epistemisch niemals erreichbaren Entfernung ausgebrochen ist, d. h., daß es einen entsprechenden Vulkan gibt, gab oder geben wird? Der Vulkan kommt sicherlich niemals im Feld möglicher Erfahrung vor, es ist unmöglich, ihn zu

KrV A 598/B 626. Vgl. »Dialog mit Pünjer über Existenz«, in: Frege: Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, 1-22, hier: 3: »In den Sätzen »Es gibt Menschen« und »Es gibt keine Zentauren« findet auch eine Klassifikation statt. Sie klassifizieren aber nicht das Ding, das in dem einen Falle gar nicht da ist, in dem anderen nicht in eine von zwei Klassen eingereiht wird, sondern Sie klassifizieren die Begriffe »Mensch« und »Zentaur«, indem Sie den einen in die Klasse von Begriffen bringen, unter die etwas fällt, den anderen von dieser Klasse ausschließen. Deshalb meine ich, daß in diesen Sätzen die Begriffe die sachlichen Subjekte sind.« 16 KrV A 598/B 626. 17 »Folglich liefern uns die Kategorien vermittelst der Anschauung auch keine Erkenntnis von Dingen, als nur durch ihre mögliche Anwendung auf empirische Anschauung, d.i. sie dienen nur zur Möglichkeit empirischer Erkenntnis. Diese aber heißt Erfahrung. Folglich haben die Kategorien keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als nur so fern diese als Gegenstände möglicher Erfahrung angenommen werden.« (KrV B 147 f.) 18 Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch-mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Hildesheim/Zürich/New York 1990, 65. 14 15

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erfahren. Und inwiefern fällt er unter einen Begriff? Wenn er unter einen Begriff fällt, dann bedeutet dies, daß es Begriffe gibt, die wir niemals erfassen können. Es gäbe epistemisch unzugängliche Begriffe oder, von der anderen Seite aus betrachtet, es gäbe nur dann Gegenstände, wenn es auch Begriffe für sie gäbe, wobei es einen Bereich gäbe, der aus Gegenständen und Begriffen bestünde, unter welche diese fallen, der uns aber schlechthin unzugänglich ist.19 Timothy Williamson hat in diesem Sinne gegen McDowells Idealismus eingewandt, daß man nicht a priori die Existenz »ausweichender Gegenstände (elusive objects)«20 ausschließen könne. Wer durch Definition des Existenzbegriffs Entzugsphänomene wie Gegenstände, die verschwinden, wenn man sich auf sie bezieht, ausschließt, erzeugt eher ein revisionäres Wunschuniversum als eine überzeugende Erläuterung des Existenzbegriffs. Deswegen ist der Existenzbegriff auch an realistische Platitüden gekoppelt. Gleichwohl handelt es sich bei Existenz nicht um eine eigentliche Eigenschaft von Gegenständen. Vulkan-Sein und Existieren sind keine Eigenschaften, die auf derselben logischen Ebene liegen. (3.) Meine eigene Antwort auf die Frage, was Existenz ist oder was »Existenz« bedeutet, die ich hier nicht en détail begründen werde, lautet, daß Existenz Erscheinung in einem Sinnfeld ist. Ich erspare mir die ausführliche Verteidigung des Begriffs des Sinnfeldes und sage vorab nur so viel: Was auch immer existiert, es kommt in irgendeinem Zusammenhang vor.21 Deswegen kann man auch sagen, daß es Hans Castorp gibt, z. B. in Thomas Manns Zauberberg, oder daß Jesus den See Genezareth ohne technische Hilfsmittel überschritten hat, z. B. im Evangelium. Außerdem gibt es Polizeiuniformen tragende Einhörner auf der Rückseite des Mondes, beispielsweise in meiner Vorstellung oder vielleicht in irgendeiner publizierten oder nicht publizierten Erzählung. Ebenso gibt es Mondkrater, etwa im durch die Physik untersuchten Universum. Kurz, ich nenne den Zusammenhang, in dem etwas existiert, ein Sinnfeld. Da nichts außerhalb von jeglichem Zusammenhang existiert, existiert alles in Sinnfeldern. Wenn wir Existenzfragen entscheiden, müssen wir demnach immer auch entscheiden, in welchem Gegenstandsbereich wir uns bewegen wollen. Denn alles existiert in irgendeinem Gegenstandsbereich, und sei es im Gegenstandsbereich unmöglicher oder

Natürlich ist es völlig unklar, was Frege eigentlich zu der Frage zu sagen hätte, ob Begriffe existieren und inwiefern er nicht sein berühmtes Manöver von der Ungegenständlichkeit der Begriffe anwenden würde. Denn zu sagen, daß es den Begriff … ist ein Berg gibt, bedeutet, irgendetwas der folgenden Art zu behaupten: »Der Begriff … ist ein Berg fällt unter den Begriff … ist ein Begriff«. Dies wirft für Frege bekanntlich Schwierigkeiten auf, die er insbesondere in »Über Begriff und Gegenstand« diskutiert. Vgl. zur Anwendung des Existenzbegriffs auf Begriffe Verf.: Die Erkenntnis der Welt. Eine Einführung in die Erkenntnistheorie. 20 Timothy Williamson: Past the Linguistic Turn, in: The Future for Philosophy, ed. by Brian Leiter, Oxford 2004, 106-128, hier: 110: »[F]or all that McDowell has shown, there may be necessary limitations on all possible thinkers. We do not know whether there are elusive objects. It is unclear what would motivate the claim that there are none, if not some form of idealism. We should adopt no conception of philosophy that on methodological grounds excludes elusive objects.« 21 Vgl. ausführlicher die Einleitung in Markus Gabriel: Transcendental Ontology: Essays in German Idealism, New York/London 2011. 19

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nichtexistierender Gegenstände, wobei unmögliche Gegenstände eine Teilmenge der nichtexistierenden Gegenstände sind. Es gibt also alles, bis auf Eines, wie wir nun sehen werden. Das Eine, das es nicht gibt, ist das Ganze oder die Totalität oder die Welt im Sinne irgendeiner Hypertatsache, die alles umfaßt, was der Fall ist. Allenfalls gilt, daß die Welt alles ist, was der Fall ist, daß sie selbst aber nicht ihrerseits der Fall ist, wie man Wittgensteins berühmte These übrigens auch lesen kann.22 Um dies zu erkennen, stellen wir uns die Frage, ob es einen Zusammenhang gibt, in dem alles steht. Wenn es einen solchen Zusammenhang gäbe, dann gäbe es auch das Ganze oder die Totalität oder die Welt. Einen solchen Zusammenhang gibt es aber nicht. Denn damit es ihn gäbe, d. h. damit er existieren könnte, bedürfte es eines Zusammenhanges, in dem er steht. Es gäbe also einen Zusammenhang, in dem alles steht, und einen Zusammenhang, in dem dieser Zusammenhang selber wieder neben anderem steht. Dieser zweite Zusammenhang von Zusammenhang und Zusammenhängendem umfaßte aber mehr als alles, was zusammenhängt. Denn er umfaßte den Zusammenhang und alles Zusammenhängende, d. h. er erweiterte das Zusammenhängende um seinen Zusammenhang. Dadurch etablierte er einen neuen, scheinbar allumfassenden Zusammenhang, der sich auf alles vormals Zusammenhängende und seinen Zusammenhang mit anderem bezieht. Man sieht leicht, daß durch die Einführung dieser Überlegung kein Abschluß mehr möglich ist. Es wird immer einen noch umfassenderen Zusammenhang geben. Einen Algorithmus für eine buchstäbliche »theory of everything«, die von geträumten Einhörnern, Hans Castorp, Viren und allem anderen handelt, kann es demnach nicht geben. Daraus folgt, nebenbei bemerkt, das Scheitern des Physikalismus, wenn man darunter die These versteht, daß alles Existierende im Zusammenhang des Universums vorkommt und daß dieses der Gegenstandsbereich der Physik ist. Denn ein allumfassender Gegenstandsbereich kann gar nicht existieren. Aus dem Physikalismus oder etwa auch aus Carnaps allgemeiner Annahme, es gäbe »nur éin Gebiet von Gegenständen und daher nur éine Wissenschaft«23, folgt demnach wider Erwarten, daß es das Universum nicht gibt, was eine erheblich wildere These als meine bescheidene Behauptung ist, daß es alles, nur die Welt nicht gibt. Meines Erachtens gibt es das Universum, aber nicht alles, was es gibt, existiert als physikalisch untersuchbarer Teil des Universums. Wenn dies stimmt, muß freilich vieles überarbeitet werden. Man könnte etwa »mögliche Welten« keineswegs, wie David Lewis, als physikalische Universen deuten oder als alternative Verlaufsformen des Universums, da es gar keine Operation gibt, die überhaupt einen solchen Abschlußbegriff wie das Universum oder die Welt generiert, dessen Alternativen man sich dann ausdenken könnte. Vielmehr fordert die Sinnfeldontologie, wie ich mein Projekt nenne, eine Neubestimmung der Modalitäten gegen die MöglicheWelten-Semantik, deren metaphysische Begriffe völlig ungeklärt sind und etwa bei Le-

Eine solche Lesart folgt etwas aus Sellars’ Interpretation der Lösung des Relationsregresses im Tractatus. Vgl. Wilfrid Sellars: Science and Metaphysics, London/New York 1968. 23 Rudolf Carnap: Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1998, 4. 22

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wis auf dem physikalistischen Dogma beruhen.24 Doch bei Lewis folgt auch schon, daß es keine mögliche Welt geben kann, in der der Physikalismus falsch ist. Daß aber der Physikalismus eine metaphysisch notwendige Wahrheit ist, daß es mithin schlechthin keine idealistischen Welten geben könnte, in denen es keine raumzeitlich ausgedehnten materiellen Gegenstände gibt, ist mehr als fragwürdig. Allemal bedarf es eines Beweises, der zugleich eine ziemlich radikale Überwindung des Skeptizismus darstellte. Es gibt also alles bis auf Eines, d. h. bis auf die Totalität. Daraus folgt, daß der Bereich der Tatsachen notwendig unvollständig ist. Es gibt mindestens eine Tatsache nicht, nämlich eine Tatsache, die alle Tatsachen beträfe. Alle Gründe sind endlich, und der Tatsachenbereich ist unvollständig. Besteht nun ein Zusammenhang zwischen diesen Thesen und damit zwischen Epistemologie und Ontologie? Verliert sich mein Begründungsgang nicht bestenfalls in einer intern kohärenten Welt der Gründe, die niemals zu den Tatsachen selbst vordringt? Könnte der Tatsachenbereich nicht doch schlechthin unzugänglich sein, wie Skeptiker insinuieren? Woher der epistemologische und ontologische Optimismus, dem ich mich trotz meiner fallibilistischen Bekenntnisse verpflichtet fühle? III. Das einundzwanzigste Jahrhundert hat mit einer spekulativen bzw. ontologischen Wende eingesetzt, womit freilich Tendenzen aufgegriffen wurden, die bereits seit den Siebzigern und Achtzigern bei Deleuze, Badiou, Žižek, Lewis, Cavell, aber auch schon früher und gleichzeitig bei Carnap, Quine oder Putnam usw. erkennbar waren. Freilich zeichnet insgeheim Heidegger, nicht zuletzt auch durch seinen Einfluß auf Carnap, für diese Wende verantwortlich, die bei ihm bekanntlich in Alemannischem Tonfall »die Kehre« heißt. Die Kehre verdankt sich dem folgenden Argument, das ich »das Argument aus der Faktizität« nennen möchte. Versionen dieses Arguments zirkulieren derzeit sowohl im Ausgang von Meillassoux’ einflußreichem Buch Après la finitude als auch im Ausgang von Paul Boghossians Fear of Knowledge: Against Relativism and Constructivism.25 Das Argument beruft sich darauf, daß irgendetwas ohnehin existiert. Irgendeine Tatsache kommt uns zuvor, ein Umstand, den Schelling in der Freiheitsschrift »Ungrund« und in seiner Spätphilosophie »unvordenkliches Sein« getauft hat.26 Selbst

Unabhängig von der offenkundigen Zirkularität, die darin liegt, daß man die Modalitäten (und damit auch Möglichkeit) über mögliche Welten definiert, sehe ich nicht, wie man die Rede von möglichen Welten metaphysisch eigentlich verstehen soll. Was heißt hier »Welt«, wenn nicht »Verlaufsform des Universums«? Selbst wenn man den Weltbegriff an dieser Stelle möglichst deflationär als irgendeinen konsistenten Zusammenhang versteht, bliebe noch Vieles offen, das man nicht dadurch verdecken kann, daß man mit möglichen Welten rechnet. 25 Quentin Meillassoux: Après la finitude. Essai sur la nécessité de la contingence, Paris 2006; Paul Boghossian: Fear of Knowledge: Against Relativism and Constructivism, Oxford 2006. 26 Vgl. dazu Markus Gabriel: Das Absolute und die Welt in Schellings Freiheitsschrift, Bonn 2006; Ders.: Der Mensch im Mythos. Untersuchungen über Ontotheologie, Anthropologie und Selbstbewußtseinsgeschichte in Schellings »Philosophie der Mythologie«, Berlin/New York 2006; Ders./Slavoj Žižek: 24

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wenn sich etwa herausstellen sollte, daß alles Existierende für uns unter irgendwie – mental, ideologisch, emotional, sozio-ökonomisch oder politisch – gefärbten Zugangsbedingungen stünde, so stünde doch diese Tatsache nicht unter denselben Zugangsbedingungen, oder genauer: An irgendeinem Punkt werden wir auf eine nackte Tatsache stoßen, wobei es für das Argument aus der Faktizität keine Rolle spielt, was das Wesen dieser Tatsache ist. Die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, verdankt sich insofern dem immer schon entschiedenen Umstand, daß etwas ist. Die Frage, die sich nach der ontologischen Wende oder nach der Kehre stellt, ist nun die Frage, was dieses Etwas ist? Gibt es irgendeine Art und Weise, in der alles Existierende ist? Die klassische Metaphysik vor dem Deutschen Idealismus schien regelmäßig mit einer neuen positiven Antwort aufzutreten: Von »Alles Existierende ist Wasser« bis hin zu »Alles Existierende ist Substanz«. Der Bruch ereignet sich mit der Einsicht, daß wir unsere Zugangsbedingungen zum Existierenden in dieses installieren müssen, da wir ansonsten dem Skeptizismus nicht entgehen können. Genau dies ist die Quintessenz von Schellings und Hegels Kant-Kritik: Es kann gar keine ontologische Umgebung unserer Zugangsbedingungen geben, in welche diese nicht schon eingeschrieben sind. Die uns betreffenden Tatsachen gehören zu den Tatsachen, oder, wie man diese Einsicht auch zusammenfassen kann: Das Subjekt existiert, es gibt Subjekte. Wenn es aber Subjekte gibt, müssen wir mit einer entsprechenden ontologischen Kompatibilität von Tatsachen und Subjekten rechnen. Demnach bewegt sich jeder noch so abwegige Begründungsgang inmitten der Tatsachen, durch Irrtum transzendiert man die Welt nicht, sondern verfällt ihr blindlings. Daher rührt auch die idealistische Insistenz auf den Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit: Die Anerkennung der Tatsachen befreit uns von der Vorstellung, das Subjekt, die Ideologie, die Sprache, das Bewußtsein, das Gehirn, oder welches repräsentationale Medium man bevorzugen mag, sei eine Art Gefängnis. Wir stehen nicht neben der Welt. Ein »Wesen der Ferne«27 zu sein, bedeutet nicht, von außen in die Welt zu blicken; und auch das Fliegenglas steht schon in irgendeinem Zimmer. Im übrigen ist es gar nicht so schwer, der »Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas«28 zu zeigen. Wer etwa gegen den ontologischen Optimismus einwandte, daß die Tatsachenstruktur vollständig verfehlt werden könnte, übersieht damit, daß er bereits eine Aussage über die Tatsachenstruktur getroffen hat, z. B. die Aussage, daß unsere Einstellung zur Tatsachenstruktur kontingent modalisiert ist, d. h. daß die Tatsachenstruktur die Eigenschaft hat, repräsentierbar (und damit auch verfehlbar) zu sein. Wie Parmenides zu Recht bemerkte, können wir dem Sein nicht entrinnen, was ich selber damit zum Ausdruck bringe, daß alles existiert bis auf Eines. Diese Position kann man auch als einen Eleatismus der Multiplizität oder, was etwa von Iain Hamilton Grant vorgeschlagen wurde, als Neo-Monadologie bezeichnen.

Mythology, Madness, and Laughter. Subjectivity in German Idealism, New York/London 2009, bes. 50–81; Ders.: Transcendental Ontology. 27 Martin Heidegger: Vom Wesen des Grundes, Frankfurt/M. 81995, 55. 28 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1984, § 309.

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Die Pluralität der Sinnfelder, d. h. derjenigen Bereiche, in denen etwas existieren kann, existiert aufgrund einer Pluralität des Sinns. Sinn ist das Individuationsprinzip von Sinnfeldern, dasjenige, demzufolge S1 nicht S2 ist. Den Sinnbegriff, mit dem ich arbeite, möchte ich abschließend mit einem letzten, von Putnam inspirierten Argument illustrieren, das noch einmal die notwendige Unvollständigkeit der Tatsachen im Zusammenhang mit der notwendigen Endlichkeit der Gründe illustrieren soll.29 Führen wir zu diesem Zweck eine Würfelwelt ein. Die Würfelwelt bestehe aus einem blauen, einem weißen und einem roten Würfel. Man könnte sich nun fragen, wie viele Gegenstände es in der Würfelwelt gibt. Eine natürliche Antwort lautet »3«. Man könnte allerdings auch die Würfelseiten oder die Atome zählen, die dem Auge als Würfel erscheinen; in diesem Fall fiele die wahre Antwort auf die Frage anders aus. Nennen wir nun die Würfelwelt, von der wir ausgegangen sind, ein Sinnfeld. Hierbei verstehe ich unter »Sinn« die Zählregel, welche das Feld freigibt, in dem dann drei bunte Würfel erscheinen. In Anlehnung an Cantor kann man nun das »Potenzfeld« der Würfelwelt dasjenige Feld nennen, das sich ergibt, wenn man ein Feld bildet, das aus allen möglichen Zählregeln zusammen mit den jeweils durch es erscheinenden Gegenständen besteht. Das Potenzfeld umfaßt damit eine Sinnwelt, die etwa aus den folgenden Zählregeln besteht: Z1 = »Zähle die Würfel!«, Z2 = »Zähle die Würfelseiten«, Z3 = »Zähle die Atome« usw. Die Frage ist nun, ob es eine Zählregel gibt, welche Z1 bis Zn abzählt. Selbst wenn es sie gäbe, hätten wir damit natürlich wiederum ein Sinnfeld erzeugt, zu dem sich wiederum ein Potenzfeld erzeugen läßt. Die Pointe besteht demnach darin, daß es unmöglich ist, Gegenstände und ihre Zählregeln vollständig abzuzählen. Es gibt keinen Algorithmus des Sinns, und zwar schon deswegen nicht, weil einiger Sinn vage ist. Nicht aller Sinn erfüllt Freges strenge Auflage, daß ihm ein Gegenstandsbereich zugeordnet sein soll, der präzise Inklusions- und Exklusionsregeln aufweist. Und dennoch gibt es Zählregeln. Nicht alles, was existiert, läßt sich reglementieren. Genauer besehen sind natürlich gar nicht alle Sinnfelder durch Zählregeln, wohl aber durch Regeln bestimmt, die etwas zur Erscheinung bringen. Die relevanten sortalen Strukturen sind dabei bisweilen vage. In keinem Fall wird es uns gelingen, ein Inventar der Realität zu erstellen, da diese unvollständig ist. Insbesondere müßte jedes Inventar mit inventarisiert werden, was ein anderes Inventar erforderlich machte usw. Es gibt viele weitere Argumente für die Unvollständigkeit der Tatsachen. In diesem Beitrag war es mir nur daran gelegen, darauf hinweisen, daß diese Unvollständigkeit eine Schnittstelle mit der Endlichkeit der Gründe hat. Denn Begründungsgänge setzen voraus, daß irgendetwas als ein hinreichender Grund anerkannt wird. Welche Kriterien dabei angelegt werden, variiert auf komplexe und nicht überschaubare Weise.30

Vgl. insbesondere die Version des schon früher vorgetragenen Arguments in Ethics without Ontology, 33–51. 30 Wohlgemerkt behaupte ich nicht, daß Begründungen justifikatorische Gewohnheiten oder Dispositionen sind, sondern nur, daß sie ohne justifikatorische Gewohnheiten nicht in Erscheinung treten. Es ist wichtig, zwischen justifikatorischen dispositionalen Mustern und inferentiellen Tatsachen zu unterscheiden. Vgl. in diesem Sinne auch Brandoms Hinwendung zum modalen Realismus in diesem Band. 29

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Alles, was uns dabei hier wie sonst übrig bleibt, ist: zu erkennen. Es besteht kein Grund zur Resignation, es sei denn, man verlangte, daß man nur dann Wissen beanspruchen solle, wenn man einen vollständigen Grund hat, der sich und das Begründete im Sinne einer ratio sui begründet. Doch so etwas gibt es nicht und sollte daher auch kein Maßstab sein. Überraschenderweise war bereits Norman Malcolm dem eingangs bei Putnam diagnostizierten Gedanken auf der Spur, wenn er schreibt: “Is the Euclidean theorem in number theory, ‘There exists an infinite number of prime numbers,’ an ‘existential proposition’? Do we not want to say that in some sense it asserts the existence of something? Cannot we say, with equal justification, that the proposition ‘God necessarily exists’ asserts the existence of something, in some sense? What we need to understand, in each case, is the particular sense of the assertion. Neither proposition has the same sort of sense as do the propositions, ‘A low pressure area exists over the Great Lakes,’ ‘There still exists some possibility that he will survive,’ ‘The pain continues to exist in his abdomen.’ One good way of seeing the difference in sense of these various propositions is to see the variously different ways in which they are proved or supported. It is wrong to think that all assertions of existence have the same kind of meaning. There are as many kinds of existential propositions as there are kinds of subjects of discourse.”31 Ich hoffe allerdings, plausibel dargelegt zu haben, daß die letztlich transfinite Pluralität des Sinns nicht ausschließlich diskursiver Natur ist, wie Malcolm anscheinend meint. Denn die Faktizität des Sinns kommt dem Diskurs immer schon zuvor. Wir sind in Sinn geworfen.32

Norman Malcolm: Anselm’s Ontological Arguments, in: The Philosophical Review 69 (1960), 41–62, 53. 32 Zu einer ausführlicheren Darstellung dieser Position vgl. auch Markus Gabriel: Dissens und Gegenstand – Vom Außenwelt- zum Weltproblem, in: Ders.: Skeptizismus und Metaphysik. Sonderband der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Nr. 26, Berlin 2011, 74–92 sowie insbesondere Markus Gabriel: Il senso dell’esistenza. 31

Im Zirkel Des Grundes, Or, is it still possible to be a Hegelian Today? Slavoj Zizek

The main feature of the historical thought proper is not “mobilism” (the motif of the fluidification or historical relativization of all forms of life), but the full endorsement of a certain impossibility: after a true historical break, one simply cannot return to the past, one cannot go on as if nothing happened – if one does it, the same practice acquires a radically changed meaning. Adorno provided a nice example of Schoenberg’s atonal revolution: after it took place, one can, of course, (and one does) go on composing in the traditional tonal way, but the new tonal music has lost its innocent, since it is already “mediated” by the atonal break and thus functions as its negation. This is why there is an irreducible element of kitsch in the 20th century tonal composers like Rachmaninov – something of a nostalgic clinging to the past, of an artificial fake, like the adult who tries to keep alive the naïve child in him. And the same goes for all domains: after the emergence of philosophical analysis of notions with Plato, mythical thought lost its immediacy, all revival of it is a fake; after the emergence of Christianity, all revivals of paganism are a nostalgic fake. Is Hegel’s speculative idealism not the exemplary case of such a properly historical impossibility? Can one still be a Hegelian after the post-Hegelian break with traditional metaphysics which occurred more or less simultaneously in the works of Schopenhauer, Kierkegaard and Marx? After this break, is there not something inherently false in advocating a Hegelian “absolute Idealism”? Is, then, any re-affirmation of Hegel not a victim of the same anti-historical illusion, by-passing the impossibility to be a Hegelian after the post-Hegelian break, writing as if the post-Hegelian break did not happen? Here, however, one should complicate things a little bit: in some specific conditions, one can and should write as if a break didn’t happen – in what conditions? To put it simply and directly: when the break we are referring to is not the true break but a false break, the one which obliterates the true break, the true point of impossibility. Our wager is that this, precisely, is what happened with the “official” post-Hegelian anti-philosophical break (Schopenhauer-Kierkegaard-Marx): although it presents itself as a break with idealism as embodied in its Hegelian climax, it ignores the crucial dimension of Hegel’s thought, i. e., it ultimately amounts to a desperate attempt to go on thinking as if Hegel did not happen – the hole of this absence of Hegel is, of course, filled in with the ridiculous caricature of Hegel the “absolute idealist” who “possessed absolute Knowledge.” The re-assertion of Hegel’s speculative thought is thus not what it may appear to be, the denial of the post-Hegelian break, but the bringing-forth of the dimension whose denial sustains the post-Hegelian break itself.

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Hegel versus Nietzsche Let us develop this point apropos Gerard Lebrun’s posthumously published L’envers de la dialectique1, one of the most convincing and forceful attempts to demonstrate the impossibility of being Hegelian today – and, for Lebrun, “today” stands under the sign of Nietzsche. Lebrun accepts that one cannot “refute” Hegel: the machinery of Hegel’s dialectics is so all-encompassing that nothing is easier for Hegel than to demonstrate triumphantly how all such refutations are inconsistent, to turn them against themselves – “one cannot refute an eye disease,” as Lebrun quotes approvingly Nietzsche. Most ridiculous among such critical refutations is, of course, the standard Marxist-evolutionist idea that there is a contradiction between Hegel’s dialectical method which demonstrates how every fixed determination is swiped away by the movement of negativity, how every determinate shape finds its truth in its annihilation, and Hegel’s system: if the destiny of everything is to pass away in the eternal movement of self-sublation, doesn’t the same hold for the system itself? Isn’t Hegel’s own system a temporary, historicallyrelative, formation which will be overcome by the progress of knowledge? Anyone who finds such refutation convincing is not to be taken seriously as a reader of Hegel. How, then, can one move beyond Hegel? Lebrun’s solution is Nietzschean historical philology: one should bring to light the “eminently infra-rational” lexical choices, takings of sides, which are grounded in how living beings are coping with threats to their vital interests. Before Hegel set in motion his dialectical machinery which “swallows” all content and elevates it to its truth by destroying it in its immediate being, imperceptibly a complex network of semantic decisions has already been taken. In this way, one begins to “unveil the obverse of the dialectics. Dialectics is also partial. It also obfuscates its presuppositions. It is not the meta-discourse it pretends to be with regard to the philosophies of ‘Understanding’.” (23) Lebrun’s Nietzsche is decidedly anti-Heideggerian: for Lebrun, Heidegger re-philosophizes Nietzsche by way of interpreting the Will to Power as a new ontological First Principle. More than Nietzschean, Lebrun’s approach may appear Foucauldian: what Lebrun tries to provide is the “archaeology of the Hegelian knowledge,” its genealogy in concrete life-practices. But is Lebrun’s “philological” strategy radical enough in philosophical terms? Does it not amount to a new version of historicist hermeneutics or, rather, of Foucauldian succession of epochal episteme? Does this not – if not legitimize, at least – make understandable Heidegger’s re-philosophication of Nietzsche? That is to say, one should raise the question of the ontological status of the “power” which sustains particular “philological” configurations – for Nietzsche himself, it is the Will to Power; for Heidegger, it is the abyssal game of “there is” which “sends” different epochal configurations of the disclosure of the world. In any case, one cannot avoid ontology: historicist hermeneutics cannot stand on its own. Heidegger’s history of Being is an attempt to elevate See Gerard Lebrun: L’envers de la dialectique. Hegel à la lumière de Nietzsche, Paris 2004. (Numbers in brackets refer to the pages of this book.) 1

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historical (not historicist) hermeneutics directly into transcendental ontology: there is for Heidegger nothing behind or beneath what Lebrun calls infra-rational semantic choices, they are the ultimate fact/horizon of our being. Heidegger, however, leaves open what one might call the ontic question: there are obscure hints all around his work of “reality” which persists out there prior to its ontological disclosure. That is to say, Heidegger in no way equates the epochal disclosure of Being with any kind of “creation” – he repeatedly concedes as an un-problematic fact that, even prior to their epochal disclosure or outside it, things somehow “are” (persist) out there, although they do not yet “exist” in the full sense of being disclosed “as such,” as part of a historical world. But what is the status of this ontic persistence outside ontological disclosure? From the Nietzschean standpoint, there is more in the “infra-rational” semantic decisions than the fact that every approach to reality has to rely on a pre-existing set of hermeneutic “prejudices” or, as Heidegger would have put it, on a certain epochal disclosure of being: these decisions effectuate the pre-reflexive vital strategy of the Will to Power. To such an approach, Hegel remains a profoundly Christian thinker, a nihilist whose basic strategy is to revamp a profound defeat, a withdrawal from full life in all its painful vitality, as the triumph of the absolute Subject. That is to say, from the standpoint of the Will to Power, the effective content of the Hegelian process is one long story of defeats and withdrawals, of the sacrifices of vital self-assertion: again and again, one has to renounce vital engagement as still “immediate” and “particular.” Exemplary is here Hegel’s passage from the revolutionary Terror to the Kantian morality: the utilitarian subject of the civil society, the subject who wants to reduce the State to the guardian of his private safety and well-being, has to be crushed by the Terror of the revolutionary State which can annihilate him at any moment for no reason whatsoever (which means that the subject is not punished for something he did, for some particular content or act, but for the very fact of being an independent individual opposed to the universal) – this Terror is his “truth.” So how do we pass from revolutionary Terror to the autonomous and free Kantian moral subject? By what, in more contemporary language, one would have called full identification with the aggressor: the subject should recognize in the external Terror, in this negativity which threatens all the time to annihilate him, the very core of his (universal) subjectivity, i. e., he should fully identify with it. Freedom is thus not freedom from Master, but a replacement of one Master with another: the external Master is replaced with an internal one. The price for this identification is, of course, the sacrifice of all “pathological” particular content – duty should be accomplished “for the sake of duty.” Lebrun demonstrates how this same logic holds also for language: “State and language are two complementary figures of the Subject’s accomplishment: here as well as there, the sense that I am and the sense that I enounce are submitted to the same imperceptible sacrifice of what appeared to be our ‘self’ in the illusion of immediacy.” (83) Hegel was right to point out again and again that, when one talks, one always dwells in the universal – which means that, with its entry into language, the subject loses its roots in the concrete life-world. To put it in more pathetic terms, the moment I start to talk, I am no longer the sensually-concrete I, since I am caught into an impersonal mechanism

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which always makes me say something different from what I wanted to say – as the early Lacan liked to say, I am not speaking, I am being spoken by language. This is one of the ways to understand what Lacan called “symbolic castration”: the price the subject pays for its “transubstantiation” from the agent of a direct animal vitality to the speaking subject whose identity is kept apart from the direct vitality of passions. A Nietzschean reading easily discerns in this reversal of Terror into autonomous morality a desperate strategy of turning defeat into triumph: instead of heroically fighting for one’s vital interests and stakes, one pre-emptively declares total surrender, gives up all content. Lebrun is here well aware how unjustified is the standard critique of Hegel according to which the dialectical reversal of the utter negativity into new higher positivity, of the catastrophe into triumph, functions as a kind of deux ex machina, precluding the possibility that the catastrophe remains the final outcome of the process – the well-known common sense argument: “But what if there is no reversal of negativity into a new positive order?” This argument misses the point, which is that this, precisely, is what happens in the Hegelian reversal: there is no effective reversal of defeat into triumph but only a purely formal shift, change of perspective, which tries to present defeat itself as a triumph. Nietzsche’s point is that this triumph is a fake, a cheap magician’s trick, a consolation-prize for losing all that makes life worth living: the real loss of vitality is supplemented by a lifeless spectre. To Lebrun’s Nietzschean reading, Hegel thus appears as a kind of atheist Christian philosopher: like Christianity, he locates the “truth” of all terrestrial finite reality into its (self)annihilation i. e., all reality reaches its truth only through/in its self-destruction; unlike Christianity, Hegel is well aware that there is no Other World in which we would be repaid for our terrestrial losses: transcendence is absolutely immanent, what is “beyond” finite reality is nothing but the immanent process of its self-overcoming. Hegel’s name for this absolute immanence of transcendence is “absolute negativity,” as he makes it clear in an exemplary way in the dialectics of Master and Servant: the Servant’s secured particular/finite identity is unsettled when, in experiencing the fear of death during his confrontation with the Master, he gets the whiff of the infinite power of negativity; through this experience, the Servant is forced to accept the worthlessness of his particular Self. What, then, does the Servant get in exchange for renouncing all the wealth of his particular Self? Nothing – in overcoming his particular terrestrial Self, the Servant does not reach a higher level of a spiritual Self; all he has to do is to shift his position and recognize in (what appears to him as) the overwhelming power of destruction which threatens to obliterate his particular identity the absolute negativity which forms the very core of his own Self. In short, the subject has to fully identify with the force that threatens to wipe him out: what he feared in fearing death was the negative power of his own Self. There is thus no reversal of negativity into positive greatness – the only “greatness” there is is this negativity itself. Or, with regard to suffering: Hegel’s point is not that the suffering brought about by alienating labour of renunciation is an intermediary moment to pass, so that we should just endure it and patiently wait for the reward at the end of the tunnel – there is no prize or profit to be gained at the end for our patient submission, suffering and renunciation are their own reward, all that is to be done

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is to change our subjective position, to renounce our desperate clinging to our finite Self with its “pathological” desires, to purify our Self towards its universality. This is also how Hegel explains the overcoming of tyranny in the history of states: “One says that tyranny is overturned by the people because it is undignified, shameful, etc. In reality, it disappears simply because it is superfluous.”2 It becomes superfluous when people no longer need the external force of the tyrant to make them renounce their particular interests, but when they become “universal citizens” by directly identifying the core of their being with this universality – in short, people no longer need the external master when they are educated into doing the job of discipline and subordination themselves. The obverse of this Hegel’s “nihilism” (all finite/determinate forms of life reach their “truth” in their self-overcoming) is its apparent opposite: in continuity with the Platonic metaphysical tradition, he is not ready to give its full right to negativity, i. e., his dialectics is ultimately an effort to “normalize” the excess of negativity. For late Plato already, the problem was how to relativize-contextualize non-being as a subordinate moment of being (non-being is always a particular/determinate lack of being measured by the fullness it fails to actualize, there is no non-being as such, there is always only “green” which participates in non-being by not being “red” or any other colour, etc.). In the same vein, Hegelian “negativity” serves to “proscribe absolute difference” or “non-being” (218): negativity is constrained to the obliteration of all finite/immediate determinations. The process of negativity is thus not just a negative process of the self-destruction of the finite: it reaches its telos when finite/immediate determinations are mediated/maintained/elevated, posited in their “truth” as ideal notional determinations. What remains after negativity has done its work is the eternal parousia of the ideal notional structure. What is missing here, from the Nietzschean standpoint, is the affirmative no: a no of the joyous and heroic confrontation with the adversary, a no of struggle which aims at self-assertion, not self-sublation.

Struggle and Reconciliation This brings us to back to the incompatibility between Hegel’s thought and any kind of evolutionary or historicist “mobilism”: Hegel’s dialectics “in no way involves the recognition of the irresistible force of becoming, the epopee of a flux which takes everything with it”: “The Hegelian dialectics was often – but superficially – assimilated to a mobilism. And it is undoubtedly true that the critique of the fixity of determinations can give rise to the conviction of an infinite dialectical process: the limited being has to disappear again and always, and its destruction extends to the very limit of our sight… However, at this level, we are still dealing with a simple going-on (Geschehen) to which one cannot confer the inner unity of a history (Geschichte).” (11) 2

G.W.F. Hegel: Jenaer Realphilosophie, Hamburg 1969, 247–248.

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To see this, to thoroughly reject the “mobilist” topic of the eternal flux of Becoming which dissolves all fixed forms, is the first step towards dialectical reason in its radical incompatibility with the allegedly “deep” insight into how everything comes out of the primordial Chaos and is again swallowed by it, the Wisdom which persists from ancient cosmologies up to the Stalinist dialectical materialism. The most popular form of “mobilism” is the traditional view of Hegel as the philosopher of “eternal struggle” popularized by Marxists from Engels to Stalin and Mao: the well-known “dialectical” notion of life as an eternal conflict between reaction and progress, old and new, past and future. This belligerent view which advocates our engagement on the “progressive” side is totally foreign to Hegel, for whom “taking sides” as such is illusory (since it is by definition unilateral). Let us take social struggle at its most violent: war. What interests Hegel is not struggle as such, but the way the “truth” of the engaged positions emerges through it, i. e., how the warring parties are “reconciled” through their mutual destruction. The true (spiritual) meaning of war is not honour, victory, defence, etc., but the emergence of absolute negativity (death) as the absolute Master which reminds us of the false stability of our organized finite lives. War serves to elevate individuals to their “truth” by making them obliterate their particular self-interests and identify with the State’s universality. The true enemy is not the enemy we are fighting but our own finitude – recall Hegel’s acerbic remark on how it is easy to preach the vanity of our finite terrestrial existence, but much more difficult to accept this lesson when it is enforced by a wild enemy soldier who breaks into our home and starts to cut members of our family with a sabre… In philosophical terms, Hegel’s point is here the primacy of “self-contradiction” over external obstacle (or enemy). We are not finite and self-inconsistent because our activity is always thwarted by external obstacles; we are thwarted by external obstacles because we are finite and inconsistent. In other words, what the subject engaged in a struggle perceives as the enemy, the external obstacle he has to overcome, is the materialization of the subject’s immanent inconsistency: the fighting subject needs the figure of the enemy to sustain the illusion of his own consistency, his very identity hinges on his opposing the enemy, so that his (eventual) victory over the enemy is his own defeat, disintegration. As Hegel likes to put it, fighting the external enemy, one (unknowingly) fights one’s own essence. So, far from celebrating engaged fighting, Hegel’s point is rather that every struggling position, every taking-sides, has to rely on a necessary illusion (the illusion that, once the enemy is annihilated, I will achieve the full realization of my being). This brings us to what would have been a properly Hegelian notion of ideology: the misapprehension of the condition of possibility (of what is an inherent constituent of your position) as the condition of impossibility (as an obstacle which prevents your full realization) – the ideological subject is unable to grasp how his entire identity hinges on what he perceives as the disturbing obstacle. This notion of ideology is not just an abstract mental exercise: it fits perfectly the Fascist anti-Semitism as the most elementary form of ideology, one is even tempted to say: ideology as such, kat’ exochen. The anti-Semitic figure of the Jew, this foreign intruder who disturbs and corrupts the harmony of the social order, is ultimately a fetishist objectivization,

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a stand-in, for the “inconsistency” of the social order, for the immanent antagonism (“class struggle”) which generates the dynamic of the social system’s instability. Hegel’s interest in the topic of struggle, of the “conflict of the opposites,” is thus that of the neutral dialectical observer who discerns the “Cunning of Reason” at work in struggle: a subject engages in struggle, is defeated (as a rule in his very victory), and this defeat brings him to his truth. We can measure here clearly the distance that separates Hegel from Nietzsche: the innocence of exuberant heroism that Nietzsche wants to resuscitate, the passion of risk, of fully engaging in a struggle, of victory or defeat, they are all gone – the “truth” of the struggle only emerges in and through defeat. This is why the standard Marxist denunciation of the falsity of the Hegelian reconciliation (already made by Schelling) misses the point. According to this critique, the Hegelian reconciliation is false, it occurs only in the Idea, while real antagonisms persist – in the “concrete” experience of the “real life” of individuals who cling to their particular identity, state power remains an external compulsion. Therein resides the crux of the young Marx’s critique of Hegel’s political thought: Hegel presents the modern constitutional monarchy as a rational State in which antagonisms are reconciled, as an organic Whole in which every constituent (can) find(s) its proper place, but he thereby obfuscates the class antagonism which continues in modern societies, generating the working class as the “non-reason of the existing Reason,” as the part of modern society which has no proper part in it, as its “part of no-part” (Rancière). What Lebrun rejects in this critique is not its diagnosis (that the proposed reconciliation is dishonest, false, an “enforced reconciliation (erpresste Versöhnung)“ – the title of one of Adorno’s essays, which obfuscates the antagonisms’ continuous persistence in social reality): “what is so admirable in this portrait of the dialectician rendered dishonest by his blindness is the supposition that he could have been honest.” (115) In other words, instead of rejecting the Hegelian false reconciliation, one should reject as illusory the very notion of dialectical reconciliation, i. e., one should renounce the demand for a “true” reconciliation. Hegel was fully aware that reconciliation does not alleviate real suffering and antagonisms – his formulas of reconciliation from the foreword to his Philosophy of Right is that one should “recognize the Rose in the Cross of the present,” or, to put it in Marx’s terms, in reconciliation, one does not change external reality to fit some Idea, one recognizes this Idea as the inner “truth” of this miserable reality itself. The Marxist reproach that, instead of transforming reality, Hegel only proposes its new interpretation, thus in a way misses the point – it knocks on an open door, since, for Hegel, in order to pass from alienation to reconciliation, one does not have to change reality, but the way we perceive it and relate to it. This sudden retroactive reversal from not-yet to already-is (we never directly realize a goal – we directly pass from striving to realize a goal to a sudden recognition that the goal already is realized) is what distinguishes Hegel from all kinds of historicist topic, inclusive of the standard Marxist critical reproach that the Hegelian ideal reconciliation is not enough, since it leaves reality (the real pain and suffering) the way it is, so that what is needed is actual reconciliation through radical social transformation. For Hegel, the illusion is not that of the enforced “false reconciliation” which ignores the

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persisting divisions; the true illusion resides in not seeing that, in what appear to us as the chaos of becoming, the infinite goal is already realized: “Within the finite order, we cannot experience or see that the goal is truly achieved. The accomplishment of the infinite goal resides only in overcoming the illusion (Täuschung – deception) that this goal is not yet achieved.”3 In short, the ultimate deception is not to see that one already has what one is looking for – like Christ’s disciples who were awaiting his “real” reincarnation, blind for the fact that their collective already was the Holy Spirit, the return of the living Christ. Lebrun is thus justified in noting that the final reversal of the dialectical process, far from being a magic intervention of a deux ex machina, is a purely formal turnaround, a shift of perspective: the only thing that changes in the final reconciliation is the subject’s standpoint, i. e., the subject endorses the loss, re-inscribes it as its triumph. Reconciliation is thus simultaneously less and more than the standard idea of overcoming an antagonism: less, because nothing “really changes”; more, because the subject of the process is deprived of its very (particular) substance. Here is an unexpected example: at the end of Howard Hawks’s classic Western Red River, a “psychologically unfounded” twist occurs which is usually dismissed as a simple weakness of the scenario. The entire film moves towards the climactic confrontation between Dunson and Matt, a duel of almost mythic proportions, predestined by fate, the inexorable conflict between two incompatible subjective stances; in the final scene, Dunson is approaching Matt with a determinacy of a tragic hero blinded by his hatred and marching towards his ruin. A brutal fist fight which then ensues is unexpectedly over when Tess, in love with Matt, fires a gun into the air and shouts at the two men how “any fool with half a mind can see that you two love each other” – and a quick reconciliation follows, with Dunson and Matt talking like buddies: this “transition of Dunson from anger incarnate, all Achilles all the time, to sweetness and light, happily yielding to Matt […], is breathtaking in its rapidity.”4 Robert Pippin is fully justified in detecting beneath this technical weakness of the scenario a deeper message: “the struggle for power and supremacy that we have been watching […] has been a kind of shadow largely staged by Dunson to justify himself. There never was any great struggle, never any real threat of a fight to the death. […] The mythic struggle we have been watching is itself the result of a kind of self-mythologization […], a fantasy narrative frame that is also demythologizing itself in front of us.”5 Is this how the Hegelian reconciliation works – it is not the positive gesture of resolving or overcoming the conflict, but a retroactive insight into how there never was a serious conflict, how the two opponents were always on the same side. This retroactivity accounts also for the specific temporality of reconciliation. Let us take Hegel’s critique 3 4 5

G.W.F. Hegel: Philosophy of Mind, Oxford 1992, 442. Robert Pippin: Hollywood Western and American Myth, New Haven 2010, 52. Ibid., 54–55.

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of the Jacobin revolutionary Terror as an exercise in abstract negativity of the absolute freedom which cannot stabilize itself in a concrete social order of freedom, and thus has to end in the fury of self-destruction. However, one should bear in mind that, insofar as we are dealing here with a historical choice (between the “French” way of remaining within Catholicism and thus being obliged to engage in the self-destructive revolutionary Terror, and the “German” way of Reformation), this choice involves exactly the same elementary dialectical paradox as the one, also from The Phenomenology of Spirit, between the two readings of “the Spirit is a bone” which Hegel illustrates by the phallic metaphor (phallus as the organ of insemination or phallus as the organ of urination): Hegel’s point is not that, in contrast to the vulgar empiricist mind which sees only urination, the proper speculative attitude has to choose insemination. The paradox is that the direct choice of insemination is the infallible way to miss it: it is not possible to choose directly the “true meaning”, i. e. one has to begin by making the “wrong” choice (of urination) – the true speculative meaning emerges only through the repeated reading, as the after-effect (or by-product) of the first, “wrong,” reading.6 And the same goes for social life in which the direct choice of the “concrete universality” of a particular ethical life-world can only end in a regression to pre-modern organic society that denies the infinite right of subjectivity as the fundamental feature of modernity. Since the subject-citizen of a modern state can no longer accept his immersion in some particular social role that confers on him a determinate place within the organic social Whole, the only way to the rational totality of the modern State leads through revolutionary Terror: one should ruthlessly tear up the constraints of the premodern organic “concrete universality,” and fully assert the infinite right of subjectivity in its abstract negativity. In other words, the point of Hegel’s analysis of the revolutionary Terror is not the rather obvious insight into how the revolutionary project involved the unilateral direct assertion of abstract Universal Reason, and was as such doomed to perish in selfdestructive fury, since it was unable to organize the transposition of its revolutionary energy into a concrete stable and differentiated social order; Hegel’s point is rather the enigma of why, in spite of the fact that revolutionary Terror was a historical deadlock, we have to pass through it in order to arrive at the modern rational State. So is it not that one has to do it (choose terror) in order to see how it is superfluous? This paradox is sustained by the distinction between the “constative” and the “performative” dimensions, between “subject of the enunciated” and “subject of the enunciation”: at the level of the enunciated content, the whole operation is meaningless (why do it – go through terror – when it is superfluous?); however, what this common sense insight forgets is that it is only the “wrong” superfluous gesture which creates the subjective conditions which made it possible for the subject to really see why this gesture is superfluous. It only becomes possible to see how Terror is superfluous and destructive This logic of urination/insemination holds also for Hegel himself, for the two images of Hegel: the “corporate organicist Hegel” is the urination aspect, wrong but necessary: one has to begin the reading of Hegel with the “wrong Hegel,” only in this way can one arrive at the right one. 6

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after one goes through it. The dialectical process is thus more refined than it may appear; the standard notion is that, in it, one can only arrive at the final truth through the path of errors, so that these errors are not simply discarded, but “sublated” in the final truth, preserved in it as its moments. The evolutionary notion of dialectical process tells us that the result is not just a dead body, that it doesn’t hold alone, in abstraction from the process that engendered it: in this process, different moments first appeared in their unilateral immediate form, while the final synthesis gathers them as sublated, maintaining their rational core. What this standard notion misses is how the previous moments are preserved precisely as superfluous. In other words, the preceding steps/ stages are superfluous, but we need time to arrive at the point from which we can see that they are superfluous.

A Story to Tell How, then, does the truly historical thought break with universalized “mobilism”? In what precise sense is it historical and not simply the rejection of “mobilism” on behalf of some eternal Principles exempted from the flow of generation and corruption? The key resides in the concept of retroactivity which concerns the very core of the relationship between Hegel and Marx: it provides the main reason why, today, one should return from Marx to Hegel and enact a “materialist reversal” of Marx himself. To approach this complex issue, let me begin with Gilles Deleuze’s notion of a pure past: not the past into which things present pass, but an absolute past “where all events, including those that have sunk without trace, are stored and remembered as their passing away,”7 a virtual past which already contains also things which are still present (a present can become past because in a way it is already, it can perceive itself as part of the past (“what we are doing now is (will have been) history”): “It is with respect to the pure element of the past, understood as the past in general, as an a priori past, that a given former present is reproducible and the present present is able to reflect itself.”8 Does this mean that this pure past involves a thoroughly deterministic notion of the universe in which everything to happen (to come), all actual spatio-temporal deployment, is already part of an immemorial/atemporal virtual network? No, and for a very precise reason: because “the pure past must be all the past but must also be amenable to change through the occurrence of any new present.”9 It was none other than T.S. Eliot, this great conservative, who first clearly formulated this link between our dependence on tradition and our power to change the past: tradition “cannot be inherited, and if you want it you must obtain it by great labour. It involves, in the first place, the historical sense, which we may call nearly indispensaJames Williams: Gilles Deleuze’s Difference and Repetition: A Critical Introduction and Guide, Edinburgh 2003, 94. 8 Gilles Deleuze: Difference and Repetition, London 2001, 81. 9 Williams, op. cit., 96. 7

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ble to anyone who would continue to be a poet beyond his twenty-fifth year; and the historical sense involves a perception, not only of the pastness of the past, but of its presence; the historical sense compels a man to write not merely with his own generation in his bones, but with a feeling that the whole of the literature of Europe from Homer and within it the whole of the literature of his own country has a simultaneous existence and composes a simultaneous order. This historical sense, which is a sense of the timeless as well as of the temporal and of the timeless and of the temporal together, is what makes a writer traditional. And it is at the same time what makes a writer most acutely conscious of his place in time, of his contemporaneity. No poet, no artist of any art, has his complete meaning alone. His significance, his appreciation is the appreciation of his relation to the dead poets and artists. You cannot value him alone; you must set him, for contrast and comparison, among the dead. I mean this as a principle of æsthetic, not merely historical, criticism. The necessity that he shall conform, that he shall cohere, is not one-sided; what happens when a new work of art is created is something that happens simultaneously to all the works of art which preceded it. The existing monuments form an ideal order among themselves, which is modified by the introduction of the new (the really new) work of art among them. The existing order is complete before the new work arrives; for order to persist after the supervention of novelty, the whole existing order must be, if ever so slightly, altered; and so the relations, proportions, values of each work of art toward the whole are readjusted; and this is conformity between the old and the new. Whoever has approved this idea of order, of the form of European, of English literature, will not find it preposterous that the past should be altered by the present as much as the present is directed by the past. And the poet who is aware of this will be aware of great difficulties and responsibilities. […] What happens is a continual surrender of himself as he is at the moment to something which is more valuable. The progress of an artist is a continual self-sacrifice, a continual extinction of personality. There remains to define this process of depersonalization and its relation to the sense of tradition. It is in this depersonalization that art may be said to approach the condition of science.”10 When Eliot writes that, when judging a living poet, “you must set him among the dead,” he formulates precisely an example of Deleuze’s pure past. And when he writes that “the existing order is complete before the new work arrives; for order to persist after the supervention of novelty, the whole existing order must be, if ever so slightly, altered; and so the relations, proportions, values of each work of art toward the whole are readjusted,” he no less clearly formulates the paradoxical link between the completeness of the past and our capacity to change it retroactively: precisely because the pure past is complete, each new work re-arranges its entire balance. This is how one

T. S. Eliot: Tradition and the Individual Talent, originally published in: id.: The Sacred Wood: Essays on Poetry and Criticism, New York 1921. 10

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should read Kafka’s critique of the notion of the Day of Judgment as something which will arrive at the end of time: “Only our concept of time makes it possible for us to speak of the Day of Judgment by that name; in reality it is a summary court in perpetual session.” Every historical contains its own Judgment in the sense of its “pure past” which allocated to each of its elements its place, and this Judgment is constantly rewritten. Recall Borges’ precise formulation of the relationship between Kafka and the multitude of his precursors, from old Chinese authors to Robert Browning: “Kafka’s idiosyncrasy, in greater or lesser degree, is present in each of these writings, but if Kafka had not written we would not perceive it; that is to say, it would not exist. […] Each writer creates his precursors. His work modifies our conception of the past, as it will modify the future.”11 The properly dialectical solution of the dilemma of “Is it really there, in the source, or did we only read it into the source?” is thus: it is there, but we can only perceive and state this retroactively, from today’s perspective. Here, Peter Hallward falls short in his otherwise excellent Out of This World,12 where he stresses only the aspect of the pure past as the virtual field in which the fate of all actual events is sealed in advance, since “everything is already written” in it. At this point where we view reality sub specie aeternitatis, absolute freedom coincides with absolute necessity and its pure automatism: to be free means to let oneself freely flow in/with the substantial necessity. So while Hallward is right to emphasize that, for Deleuze, freedom “isn’t a matter of human liberty but of liberation from humanity,”13 of fully submerging oneself into the creative flux of the absolute Life, his political conclusion from this seems too fast: “The immediate political implication of such a position […] is clear enough: since a free mode or monad is simply one that has eliminated its resistance to the sovereign will that works through it, so then it follows that the more absolute the sovereign’s power, the more ‘free’ are those subject to it.”14 But does Hallward not ignore the retroactive movement on which Deleuze also insists, i. e., how this eternal pure past which fully determines us is itself subjected to retroactive change? We are thus simultaneously less free and more free than we think: we are thoroughly passive, determined by and dependent on the past, but we have the freedom to define the scope of this determination, i. e., to (over)determine the past which will determine us. Deleuze is here unexpectedly close to Kant, for whom I am determined by causes, but I (can) retroactively determine which causes will determine me: we, subjects, are passively affected by pathological objects and motivations; but, in a reflexive way, we ourselves have the minimal power to accept (or reject) being affected in this way, i. e., we retroactively determine the causes allowed to determine us, or, at least,

11 12 13 14

Jorge Luis Borges: Other Inquisitions: 1937-52, New York 1966, 113. See Peter Hallward: Out of This World, London 2006. Ibid., 139. Ibid.

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the mode of this linear determination. “Freedom” is thus inherently retroactive: at its most elementary, it is not simply a free act which, out of nowhere, starts a new causal link, but a retroactive act of endorsing which link/sequence of necessities will determine me. Here, one should add a Hegelian twist to Spinoza: freedom is not simply “recognized/known necessity,” but recognized/assumed necessity, the necessity constituted/ actualized through this recognition. So when Deleuze refers to Proust’s description of Vinteuil’s music that haunts Swann – “as if the performers not so much played the little phrase as executed the rites necessary for it to appear” –, he is evoking the necessary illusion: generating the sense-event is experienced as ritualistic evocation of a pre-existing event, as if the event was already there, waiting for our call in its virtual presence. The key philosophical implication of the Hegelian retroactivity is that it undermines the reign of the Principle of Sufficient Reason: this principle only holds in the condition of linear causality where the sum of past causes determines a future event – retroactivity means that the set of (past, given) reasons is never complete and “sufficient,” since the past reasons are retroactively activated by what is, within the linear order, their effect. Changing the Destiny This is how one should differentiate historicity proper from organic evolution. In the latter, a universal Principle is slowly and gradually differentiating itself; as such, it remains the calm underlying all-encompassing ground that unifies the bustling activity of struggling individuals, their endless process of generation and corruption that is the “cycle of life.” In history proper, on the contrary, the universal Principle is caught into the “infinite” struggle with itself, i. e., the struggle is each time the struggle for the fate of the universality itself. In organic life, particular moments are in struggle with each other, and through this struggle, the Universal reproduces itself; in Spirit, the Universal is in struggle with itself. This is why the eminently “historical” moments are those of great collisions when a whole form of life is threatened, when the reference to the established social and cultural norms no longer guarantees the minimum of stability and cohesion; in such open situations, a new form of life has to be invented, and it is at this point that Hegel locates the role of great heroes. They operate in a pre-legal, stateless, zone: their violence is not bound by the usual moral rules, they enforce a new order with the subterranean vitality which shatters all established forms. According to the usual doxa on Hegel, heroes follow their instinctual passions, their true motifs and goals are not clear to themselves, they are unconscious instruments of the deeper historical necessity of giving birth to a new spiritual life form – however, as Gerard Lebrun points out, one should not impute to Hegel here the standard teleological notion of a hidden Reason which pulls the strings of the historical process, following a plan established in advance and using individuals’ passions as the instruments of its implementation. First, since the meaning of one’s acts is a priori inaccessible to individuals who accomplish them, heroes included, there is no “science of politics” able to predict the course of events: “no-

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body has ever the right to declare himself depositary of the Spirit’s self-knowledge,”15 and this impossibility “spares Hegel the fanaticism of ‘objective responsibility’”16 – in other words, there is no place in Hegel for the Marxist-Stalinist figure of the Communist revolutionary who knows the historical necessity and posits himself as the instrument of its implementation. However, it is crucial to add a further twist here: if we just assert this impossibility, we are still “conceiving the Absolute as Substance, not as Subject” – we still surmise that there is some pre-existing Spirit imposing its substantial Necessity on history, we just accept that the insight into this Necessity is inaccessible to us. From a consequent Hegelian standpoint, one should go a crucial step further and historical Necessity does not pre-exist the contingent process of its actualization, i. e., that the historical process is also in itself “open,” undecided – this confused mixture “generates sense insofar as it unravels itself”: “It is people, and they only, who make history, while Spirit explicates itself through this making. […] The point is not, as in a naïve theodicy, to find a justification for every event. In actual time, no heavenly harmony resonates in the sound and fury. It is only once this tumult recollects itself in the past, once what took place is conceived, that we can say, to put it briefly, that the ‘course of History’ is a little bit better outlined. History runs forward only for those who look at it backwards; it is linear progression only in retrospect. […] The Hegelian ‘providential necessity’ has so little authority that it seems as if it learns from the run of things in the world which were its goals.”17 This is how one should read Hegel’s thesis that, in the course of the dialectical development, things “become what they are”: it is not that a temporal deployment merely actualizes some pre-existing atemporal conceptual structure – this atemporal conceptual structure itself is the result of contingent temporal decisions. Let us take the exemplary case of a contingent decision whose outcome defines the agent’s entire life: Caesar’s crossing of Rubicon: “It is not enough to say that crossing Rubicon is part of the complete notion of Caesar. One should rather say that Caesar is defined by the fact that he crossed Rubicon. His life didn’t follow a scenario written in the book of some goddess: there is no book which would already have contained the relations of Caesar’s life, for the simple reason that his life itself is this book, and that, at every moment, an event is in itself its own narrative.”18 But why shouldn’t we then say that there is simply no atemporal conceptual structure, that all there is is the gradual temporal deployment? Here we encounter the properly dialectical paradox which defines the true historicity as opposed to evolutionist his-

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Lebrun, op. cit., 40. Ibid., 41. Ibid., 41–44. Ibid., 87.

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toricism, and which was much later, in French structuralism, formulated as the “primacy of synchrony over diachrony.” Usually, this primacy was taken to mean the ultimate denial of historicity in structuralism: a historical development can be reduced to the (imperfect) temporal deployment of a pre-existing atemporal matrix of all possible variations/combinations. This simplistic notion of the “primacy of synchrony over diachrony” overlooks the (properly dialectical) point, made long ago by (among others) T.S. Eliot (see the long quote above) on how each truly new artistic phenomenon not only designates a break from the entire past, but retroactively changes this past itself. At every historical conjuncture, present is not only present, it also encompasses a perspective on the past immanent to it – say, after the disintegration of the Soviet Union in 1991, the October Revolution is no longer the same historical event, i. e., it is (for the triumphant liberal-capitalist view) no longer the beginning of a new progressive epoch in the history of humanity, but the beginning of a catastrophic mis-direction of history which reached its end in 1991. This is the ultimate lesson of Hegel’s anti-“mobilism”: dialectics has nothing whatsoever to do with the historicist justification of certain politics or practice as justified in/for a certain stage in development and losing this justification in a later “higher” stage. In reaction to the revelation of Stalin’s crimes at the 20th congress of the Soviet CP, Brecht made a note on how the same political agent who earlier played an important role in the revolutionary process (Stalin) now became an obstacle to it, and praises this as a proper “dialectical” insight – one should thoroughly reject this logic. In the dialectical analysis of history, on the contrary, each new “stage” “rewrites the past” and retroactively de-legitimizes the previous one. Marx himself nonetheless comes close to this paradox of non-teleological retroactivity when, in his Grundrisse manuscripts, apropos of the notion of labour, he pointed out how “even the most abstract categories, despite their validity – precisely because of their abstractness – for all epochs, are nevertheless, in the specific character of this abstraction, themselves likewise a product of historic relations, and possess their full validity only for and within these relations”: “Bourgeois society is the most developed and the most complex historic organization of production. The categories which express its relations, the comprehension of its structure, thereby also allows insights into the structure and the relations of production of all the vanished social formations out of whose ruins and elements it built itself up, whose partly still unconquered remnants are carried along within it, whose mere nuances have developed explicit significance within it, etc. Human anatomy contains a key to the anatomy of the ape. The intimations of higher development among the subordinate animal species, however, can be understood only after the higher development is already known.”19 In short, to paraphrase Pierre Bayard, what Marx is saying here is that the anatomy of the ape, although it was formed earlier in time than the anatomy of man, nonetheless in a way plagiarizes by anticipation the anatomy of man. The question nonetheless re19

Quoted from http://www.marxists.org/archive/marx/works/1857/grundrisse/ch01.htm#3.

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mains here: does Hegel’s thought harbor such an openness towards future? Does not the closure of his System a priori preclude it? In spite of the misleading appearances, we should answer yes: Hegel’s thought is open towards future precisely on account of its closure. That is to say, Hegel’s opening towards the future is a negative one: it is articulated in his negative/limiting statements like the famous “one cannot jump ahead of one’s time” from his Philosophy of Right. The impossibility to directly borrow from the future is grounded in the very fact of retroactivity which makes future a priori unpredictable: we cannot jump onto our shoulders and see ourselves “objectively,” the way we fit into the texture of history, because this texture is again and again retroactively rearranged. We, of course, are borrowing from the future, but how are we doing it will only become readable once the future is here, so we should not put too much hopes into the desperate search for the “germs of Communism” in today’s society. It is, however, at this very point, after fully conceding Hegel’s radical break with traditional metaphysical theodicy, after fully admitting Hegel’s openness towards the to-come, that Lebrun’s makes his critical move. The fundamental Nietzschean strategy of Lebrun is first to admit the radicality of Hegel’s undermining of the traditional metaphysics, but then, in the crucial second step, to demonstrate how this very radical sacrifice of the metaphysical content saves the minimal form of metaphysics. The accusations which concern Hegel’s theodicy, of course, fall too short: there is no substantial God who writes in advance the script of History and watches over its realization, the situation is open, truth emerges only through the very process of its deployment, etc. etc. – but what Hegel nonetheless maintains is the much deeper presupposition that, at the end, when the dusk falls over the events of the day, the Owl of Minerva will take off i. e., that there always is a story to be told at the end, the story which (“retroactively” and “contingently” as much as one wants) reconstitutes the Sense of the preceding process. Or, with regard to domination, Hegel is of course against every form of despotic domination, so the critique of his thought as the divinization of the Prussian monarchy is ridiculous; however, his assertion of subjective freedom comes with a catch: it is the freedom of the subject who undergoes a violent “transubstantiation” from the individual stuck onto his particularity to the universal subject who recognizes in the State the substance of his own being. The mirror-obverse of this mortification of individuality as the price to be paid for the rise of the “truly” free universal subject is that the state’s power retains its full authority – what only changes is that this authority (as in the entire tradition from Plato onwards) loses its tyrannical-contingent character and becomes a rationally-justified power. The question is thus: is Hegel effectively enacting a desperate strategy of sacrificing everything, all the metaphysical content, in order to save the essential, the form itself (the form of a retrospective rational reconstruction, the form of authority which imposes onto the subject the sacrifice of all particular content, etc.)? Or is it that Lebrun himself, in making this type of reproaches, enacts the fetishist strategy of je sais bien, mais quand meme… – “I know very well that Hegel goes to the end in destroying metaphysical presuppositions, but nonetheless…”? The answer to this reproach should be a pure tautology which marks the passage from contingency to necessity: there is a story

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to be told if there is a story to be told. That is to say, if there is a story to be told (if, due to contingency, a story emerges at the end), then this story will appear as necessary. Yes, the story is necessary, but its necessity itself is contingent. Is there nonetheless not a grain of truth in Lebrun’s critical point – does Hegel effectively not presuppose that, contingent and open as the history may be, a consistent story can always be told afterwards? Or, to put it in Lacan’s terms, is the entire edifice of the Hegelian historiography not based on the premise that, no matter how confused the events, a subject supposed to know will emerge at the end, magically converting nonsense into sense, chaos into new order? Recall just his philosophy of history with its narrative of world history as the story of the progress of freedom… And is it not true that, if there is a lesson of the 20th century, it is that all the extreme phenomena that took place in it cannot ever be unified in a single encompassing philosophical narrative? One simply cannot write a “phenomenology of the 20th century Spirit,” uniting technological progress, the rise of democracy, the failed Communist attempt with its Stalinist catastrophe, the horrors of Fascism, the gradual end of colonialism… But why not? Is it really so? What if, precisely, one can and should write a Hegelian history of the 20th century, this “age of extremes” (Eric Hobsbawm), as a global narrative delimited by two epochal constellation: the (relatively) long peaceful period of capitalist expansion from 1848 till 1914 as its substantial starting point whose subterranean antagonisms then exploded with the First World War, and the ongoing global-capitalist “New World Order” emerging after 1990 as its conclusion, the return to a new all-encompassing system signalling to some a Hegelian “end of history,” but whose antagonisms already announce new explosions? Are the great reversals and unexpected explosions of the topsy-turvy 20th century, its numerous “coincidences of the opposites” – the reversal of liberal capitalism into Fascism, the even more weird reversal of the October Revolution into the Stalinist nightmare – not the very privileged stuff which seems to call for a Hegelian reading? What would Hegel have made of today’s struggle of Liberalism against fundamentalist Faith? One thing is sure: he would not simply take side of liberalism, but would have insisted on the “mediation” of the opposites.

The Hegelian Circle of Circles The stakes of this debate are extremely high: they concern the (in)existence of the “big Other” itself. That is to say, the totalizing story we can tell after the fact, i. e., the certainty that such a story will always emerge, is one of the names of the “big Other.” What Nietzsche reproaches to modern atheism is precisely that, in it, the “big Other” survives – true, no longer as the substantial God, but as the totalizing symbolic frame of reference. This is why Lebrun emphasizes that Hegel is not an atheist conveniently presenting himself as Christian, but effectively the ultimate Christian philosopher. Hegel always insisted on the deep truth of the Protestant saying “God is dead”: in his own thought, the substantial-transcendent God dies, but is resurrected as the symbolic totality which guarantees the meaningful consistency of the universe – in a strict homology

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with the passage from God qua substance to the Holy Spirit as the community of believers in Christianity. When Nietzsche talks about the death of God, he does not have in mind the pagan living God, but precisely this God qua Holy Spirit, the community of believers. Although this community no longer relies on a transcendent Guarantee of a substantial big Other, the big Other (and thereby the theological dimension) is still here as the symbolic frame of reference (say, in Stalinism in the guise of the big Other of History which guarantees the meaningfulness of our acts. Did Lacan himself not point in this direction when, in 1956, he proposed a short and clear definition of the Holy Ghost: “The Holy Ghost is the entry of the signifier into the world. This is certainly what Freud brought us under the title of death drive.”20 What Lacan means, at this moment of his thought, is that the Holy Ghost stands for the symbolic order as that which cancels (or, rather, suspends) the entire domain of “life” – lived experience, the libidinal flux, the wealth of emotions, or, to put it in Kant’s terms, the “pathological”: when we locate ourselves within the Holy Ghost, we are transubstantiated, we enter another life beyond the biological one. But is this shift from the living gods of the real to the dead God of the Law really what happens in Christianity? Is it not that this shift already takes place in Judaism, so that the death of Christ cannot stand for this shift, but for something much more radical – precisely for the death of the symbolic-“dead” big Other itself? The key question is thus: is the Holy Spirit still a figure of the big Other, or is it possible to conceive it outside this frame? If the dead God were to morph directly into the Holy Ghost, then we would still have the symbolic big Other. But the monstrosity of Christ, this contingent singularity interceding between God and man, is the proof that the Holy Ghost is not the big Other which survives as the spirit of the community after the death of the substantial God, but a collective link of love without any support in the big Other. Therein resides the properly Hegelian paradox of the death of God: if God dies directly, as God, he survives as the virtualized big Other; only if he dies in the guise of Christ, his earthly embodiment, he also disintegrates as the big Other. When Christ was dying on the cross, earthquake and storm broke out, a sign that the heavenly order itself – the big Other – was disturbed: not only something horrible happened in the world, the very coordinates of the world were shaken. It was as if the sinthom, the knot tying the world together, was unraveled, and the audacity of the Christians was to take this is a good omen, or, as Mao put it much later: “there is great disorder under heaven, the situation is excellent.” Therein resides what Hegel calls the “monstrosity” of Christ: the insertion of Christ between God and man is strictly equivalent to the fact that “there is no big Other” – Christ is inserted as the singular contingency on which the universal necessity of the “big Other” itself hinges. In claiming that Hegel is the ultimate Christian philosopher, Lebrun is thus – to paraphrase T.S. Eliot – right for the wrong reason. Only if we bear in mind this dimension, can we really see why the Darwinian (or other evolutionary) critics of Hegel miss the point when they ridicule Hegel’s claim that 20

Jacques Lacan: Le seminaire, livre IV: La relation d’objet, Paris 1994, 48.

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there is no history in nature, that there is history only in human societies: Hegel does not imply that nature is always the same, that forms of vegetal and animal life are forever fixed, so that there is no evolution in nature – what he claims is that there is no history proper in nature: “The living conserves itself, it is the beginning and the end; the product in itself is also the principle, it is always as such active.”21 Life eternally repeats its cycle and returns to itself: substance is again and again reasserted, children become parents, etc. The circle is here perfect, at peace with itself. It is often perturbed – from without: in nature, we, of course, do have gradual transformations of one species into another, and we do get clashes and catastrophes which obliterate entire species; what one does not get in nature is the Universal appearing (posited) as such, in contrast to its own particular content, a Universal in conflict with itself. In other words, what is missing is nature is what Hegel called the “monstrosity” of Christ: the direct embodiment of the arkhe of the entire universe (God) in a singular individual which walks around as one among the mortals. It is in this precise sense that, in order to distinguish natural from spiritual movement, Hegel uses the strange term “insertion”: in an organic process, “nothing can insert itself between the Notion and its realization, between the nature of the genus determined in itself and the existence which is conformed to this nature; in the domain of the Spirit, things are wholly different.”22 Christ is such a figure which “inserts itself” between God and its creation. Natural development is dominated-regulated by a principle, arkhe, which remains the same through the movement of its actualization, be it the development of an organism from its conception to its maturity or the continuity of a species through generation and decay of its individual members – there is no tension here between the universal principle and its exemplification, the universal principle is the calm universal force which totalizes/encompasses the wealth of its particular content; however, “life doesn’t have history because it is totalizing only externally” (250) – it is a universal genus which encompasses the multitude of individuals who struggle, but this unity is not posited in an individual. In spiritual history, on the contrary, this totalization occurs for itself, it is posited as such in the singular figures which embody universality against its own particular content. Or, to put it in a different way, in organic life, substance (the universal Life) is the encompassing unity of the interplay of its subordinate moments, that which remains the same through the eternal process of generation and corruption, that which returns to itself through this movement; with subjectivity, however, predicate passes into subject: substance doesn’t return to itself, it is re-totalized by what was at the beginning its predicate, its subordinated moment. This is how the key moment in a dialectical process is the “transubstantiation” of its focal point: what was first just a predicate, G.W.F. Hegel: Philosophie der Religion, in: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe, hg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Bd. XVI, Frankfurt/M. 1970 ff., 525–526. 22 G.W.F. Hegel: Philosophie der Geschichte, Bd. XII, 90. 21

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a subordinate moment of the process (say, money in the development of capitalism), becomes its central moment, retroactively degrading its presuppositions, the elements out of which it emerged, into its subordinate moments, elements of its self-propelling circulation. And this is also how one should approach Hegel’s outrageously “speculative” formulations about Spirit as its own result, a product of itself: while “Spirit has its beginnings in nature in general,” “the extreme to which spirit tends is its freedom, its infinity, its being in and for itself. These are the two aspects but if we ask what Spirit is, the immediate answer is that it is this motion, this process of proceeding from, of freeing itself from, nature; this is the being, the substance of spirit itself.”23 Spirit is thus radically de-substantialized: Spirit is not a positive counter-force to nature, a different substance which gradually breaks and shines through the inert natural stuff, it is nothing but this process of freeing-itself-from. Hegel directly disowns the notion of Spirit as some kind of positive Agent which underlies the process: “Spirit is usually spoken of as subject, as doing something, and apart from what it does, as this motion, this process, as still something particular, its activity being more or less contingent […] it is of the very nature of spirit to be this absolute liveliness, this process, to proceed forth from naturality, immediacy, to sublate, to quit its naturality, and to come to itself, and to free itself, it being itself only as it comes to itself as such a product of itself; its actuality being merely that it has made itself into what it is.”24 Robert Pippin exemplifies in what sense the Hegelian Spirit is “its own result” by the finale of Proust’s Recherche: how does Marcel finally “become what he is”? By way of breaking with the Platonic illusion that his Self can be “secured by anything, any value or reality that transcends the wholly temporal human world:” “It was […] by failing to become ‘what a writer is,’ to realize his inner ‘writer’s essence’ – as if that role must be some transcendentally important or even a definite, substantial role – that Marcel realizes that such a becoming is important by not being secured by the transcendent, by being wholly temporal and finite, always and everywhere in suspense, and yet nonetheless capable of some illumination. […] If Marcel has become who he is, and this somehow continuous with and a product of the experience of his own past, it is unlikely that we will be able to understand that by appeal to a substantial or underlying self, now discovered, or even by appeal to successor substantial selves, each one linked to the future and past by some sort of self-regard.”25 It is thus only by way of fully accepting this abyssal circularity in which the search itself creates what it is looking for, that the Spirit “finds itself.” This is why the verb “failing” 23 24 25

G.W.F. Hegel: Philosophie des subjektiven Geistes, Dordrecht 1978, 6–7. Ibid. Robert Pippin: The Persistence of Subjectivity, Cambridge 2005, 332–334.

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used by Pippin is to be given all its weight: the failure to achieve the (immediate) goal is absolutely crucial to, constitutive of, this process – or, as Lacan put it: la vérité surgit de la méprise. If, then, “it is only as a result of itself that it is spirit,”26 this means that the standard talk about the Hegelian Spirit which alienates itself to itself and then recognizes itself in its otherness and thus reappropriates its content, is deeply misleading: the Self to which spirit returns is produced in the very movement of this return, or, that to which the process of return is returning to is produced by the very process of returning. In a subjective process, there is no “absolute subject,” no permanent central agent which plays with itself the game of alienation and desalienation, losing/dispersing itself and then re-appropriating its alienated content: after a substantial totality is dispersed, it is another agent – previously its subordinated moment – which re-totalizes it. It is this shifting of the center of the process from one to another moment which distinguishes a dialectical process from the circular movement of alienation and its overcoming; it is because of this shift that the “return to itself” coincides with accomplished alienation (when a subject re-totalizes the process, its substantial unity is fully lost). In this precise sense, substance returns to itself as subject, and this trans-substantiation is what substantial life cannot accomplish. The logic of the Hegelian triad is thus not the externalization of the Essence and then the recuperation of the alienated Otherness by the Essence, but a wholly different one. The starting point is the pure multiplicity of Being, a flat appearing with no depth. Through self-mediation of its inconsistency, this appearing constructs/engenders the Essence, the depth, which appears in/through it (passage from Being to Essence). Finally, in the passage from Essence to Concept, the two dimensions are “reconciled” so that Essence is reduced to the self-mediation, cut, within appearing itself: essence appears as essence within appearing, this is its entire consistency, its truth. Consequently, when Hegel talks about how the Idea “externalizes (entäussert)” itself in contingent appearances, and then re-appropriates its externality, he applies one of his many misnomers: what he is actually describing is the very opposite process, that of “internalization,” the process of how the contingent surface of being is posited as such, as contingentexternal, as “mere appearance,” by way of generating, in a self-reflective movement, (the appearance of) its own essential “depth.” In other words, the process in which essence externalizes itself is simultaneously the process which generates this very essence: “externalization” is strictly the same as the formation of the essence which externalizes itself. The essence retroactively constitutes itself through its process of externalization, through its loss – this is how one should understand the much-quoted Hegel’s statement that the essence is only as deep as it is wide. This is why the pseudo-Hegelian topic of the subject who first externalizes itself and then re-appropriates its alienated substantial Otherness is to be rejected. First, there is no pre-existing subject which alienates itself by way of positing its otherness: the subject stricto sensu emerges through this process of alienation in the Other. This is why the second move – Lacan calls it separation – in which the subject’s alienation in the 26

Hegel, op. cit., ibid.

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Other is posited as correlative to the separation of the Other itself from its ex-timate core, this overlapping of two lacks, has nothing to do with the subject integrating/internalizing its otherness. (However, a problem remains here: Lacan’s duality of alienation and separation obviously also displays the formal structure of a kind of “negation of negation,” but how this redoubled negation is related to the Hegelian negation of negation?) Perhaps, what is missing in Lebrun is the proper image of a circle that would render the unique circularity of the dialectical process. For pages, he fights with different images to differentiate the Hegelian “circle of circles” from the circularity of traditional (pre-modern) Wisdom, from the ancient topic of the “cycle of life,” its generation and corruption. How, then, are we to read Hegel’s description which seems to evoke a full circle in which a thing merely becomes what it is? “Necessity only shows itself at the end, but in such a way precisely that this end reveals how it was equally the First. Or, the end reveals this priority of itself by the fact that, in the change actualized by it, nothing emerges which was not already there.”27 The problem with this full circle is that it is too perfect, that its self-enclosure is double – its very circularity is re-marked in yet another circular mark. In other words, the very repetition of the circle undermines its closure and surreptitiously introduces a gap into which radical contingency is inscribed: if the circular closure, in order to be fully actual, has to be re-asserted as closure, it means that, in itself, it is not yet truly a closure, i. e., that it is only the (contingent excess of) its repetition which makes it a closure. (Recall again the paradox of the Monarch in Hegel’s theory of rational State: one needs this contingent excess to actualize State as rational totality. This excess is, in Lacanese, the excess of the signifier without signified: it adds no new content, it just performatively enregisters something that is already here.) As such, this circle undermines itself: it only works if we supplement it with an additional insidecircle, so that we get the figure of the “inside-inverted eight” (regularly referred to by Lacan, and also once invoked by Hegel). This is the true figure of the Hegelian dialectical process, a figure missing in Lebrun’s book. This brings us finally to Hegel’s absolutely unique position in the history of philosophy. The ultimate anti-Hegelian argument is the very fact of the post-Hegelian break: what even the most fanatical partisan of Hegel cannot deny is that something changed after Hegel, that a new era of thought began which can no longer be accounted for in Hegelian terms of absolute conceptual mediation; this rupture occurs in different guises, from Schelling’s assertion of the abyss of pre-logical Will (vulgarized later by Schopenhauer) and Kierkegaard’s insistence on the uniqueness of faith and subjectivity, through Marx’s assertion of actual socio-economic life-process, and the full autonomization of mathematicized natural sciences, up to Freud’s motif of “death-drive” as a repetition that insists beyond all dialectical mediation. Something happened here, there is a clear break between before and after, and while one can argue that Hegel already announces this break, that he is the last of idealist metaphysicians and the first of post27

G.W.F. Hegel: Phenomenology of Spirit, Oxford 1977, 297.

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metaphysical historicists, one cannot really be a Hegelian after this break, Hegelianism has lost its innocence forever. To act like a full Hegelian today is the same as to write tonal music after the Schoenberg revolution. Hegel is the ultimate “bad guy” in this grand narrative, the achievement of metaphysics. In his thought, system and history thoroughly overlap: the consequence of the equation of the Rational and the Actual is that the conceptual system is nothing but the notional structure of history, and history is nothing but the external deployment of this system. The predominant Hegelian strategy that is emerging as a reaction to this scare-crow image of Hegel the Absolute Idealist, is the “deflated” image of Hegel freed of ontological-metaphysical commitments, reduced to a general theory of discourse, of possibilities of argumentation. This approach is best exemplified by so-called Pittsburgh Hegelians (Brandom, McDowell), and is ultimately advocated also by Robert Pippin, for whom the point of Hegel’s thesis on Spirit as a “truth” of Nature “is simply that at a certain level of complexity and organization, natural organisms come to be occupied with themselves and eventually to understand themselves in ways no longer appropriately explicable within the boundaries of nature or in any way the result of empirical observation.”28 Consequently, the “sublation” of Nature in Spirit ultimately means that “natural beings which by virtue of their natural capacities can achieve it are spiritual: having achieved it and maintaining it is being spiritual; those which cannot are not.” (53) So far from describing an ontological or cosmic process through which an entity called Notion externalizes itself in nature and then returns to itself from it, all Hegel tries to do is to provide “some manageable account of the nature of the categorical (if not ontological) necessity for spirit-concepts in making sense of what these human organisms are doing, saying, and building.” (52–53) Such a “deflated” image of Hegel is not enough, one should approach the post-Hegelian break in more direct terms. True, there is a break, but in this break, Hegel is the “vanishing mediator” between its “before” and its “after,” between traditional metaphysics and post-metaphysical 19th and 20th century thought. That is to say, something happens in Hegel, a break-through into a unique dimension of thought, which is obliterated, rendered invisible in its true dimension, by the post-metaphysical thought. This obliteration leaves an empty space which has to be filled in so that the continuity of the development of philosophy can be re-established – filled in with what? The index of this obliteration is the ridiculous image of Hegel as the absurd “absolute idealist” who “pretended to know everything,” to possess absolute Knowledge, to read the mind of God, to deduce entire reality out of the self-movement of (his) Mind – the image which is an exemplary case of what Freud called Deck-Erinnerung (screen-memory), a fantasy-formation destined to cover up a traumatic truth. In this sense, the post-Hegelian turn to “concrete reality, irreducible to notional mediation,” should rather be read as a desperate posthumous revenge of metaphysics, as an attempt to reinstall metaphysics, although in the inverted form of the primacy of concrete reality.

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Robert Pippin: Hegel’s Practical Philosophy, Cambridge 2008, 46.

KOLLOQUIUM 15

Belief Changes in Science Kolloquiumsleitung: Ulises Moulines / Holger Andreas

Holger Andreas Einführung und Überblick

Einführung und Überblick Holger Andreas

1. Einleitung Die formale Theorie der Glaubensrevisionen (belief revision theory) wurde in den 80-er Jahren von Carlos Alchourrón, Peter Gärdenfors und David Makinson begründet und ist seitdem auch als AGM-Theorie bezeichnet worden.1 Gegenstand dieser Theorie sind Überzeugungsänderungen, wie sie in alltäglichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen auftreten. Solche Änderungen werden zumeist durch neue Informationen ausgelöst, die durchaus nicht konsistent mit den alten Überzeugungen sein müssen. Im Fall der Inkonsistenz stellt sich die Frage, welche der alten Überzeugungen aufgegeben werden müssen, um in einen konsistenten epistemischen Zustand zu gelangen. Mit Wiliam van Orman Quines berühmtem Aufsatz Two Dogmas of Empiricism unterscheiden wir zwischen zentralen und peripheren Überzeugungen.2 Üblicherweise versuchen wir Glaubensrevisionen konservativ vorzunehmen, insofern wir Anpassungen unseres Überzeugungssystems in einer Art und Weise vornehmen, die zentrale Überzeugungen ungestört lässt. Quine spricht hier von einem Prinzip der minimalen Störung (maxim of minimal mutilation). Auf der anderen Seite haben wir mit Thomas S. Kuhn und Paul K. Feyerabend gewisse Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte zu erkennen gelernt, bei denen durchaus auch einmal recht zentrale Überzeugungen über Bord geworfen werden, etwa die Trennung von Raum und Materie oder die Annahme kontinuierlicher Veränderungen aller Zustandsgrößen in der Physik.3 Solche Diskontinuitäten sind bislang nur sporadisch vom Standpunkt der AGM-Theorie untersucht worden und stellen somit eine Herausforderung für die aktuelle Forschung dar. Im Rahmen der AGM-Theorie geht man davon aus, dass epistemische Zustände durch logisch abgeschlossene Satzmengen repräsentiert werden können. Solche Satzmengen werden auch als Überzeugungsmengen bezeichnet. Diese Annahme beinhaltet natürlich eine Idealisierung, insofern bereits auf der Ebene der Aussagenlogik alle logisch abgeschlossenen Satzmengen unendlich sind. Angemessener scheint da die Untersuchung von endlichen Überzeugungsbasen zu sein, aus denen Überzeugungsmengen generiert werden. Zwischen einer potentiell endlichen Überzeugungsbasis H und einer

Carlos E. Alchourron, Peter Gärdenfors, David Makinson: On the Logic of Theory Change: Partial Meet Contraction and Revision Functions, in: Journal of Symbolic Logic 50 (1985), 510–530. 2 Wiliam van Orman Quine: Two Dogmas of Empiricism, in: Philosophical Review 60 (1951), 20–43. 3 Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1970; Paul K. Feyerabend: Philosophical Papers, Cambridge 1981. 1

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korrespondierenden logisch abgeschlossenen Überzeugungsmenge K besteht einer der beiden folgenden logischen Zusammenhänge: (1) K = Cn(H) (2) K = Inf(H) Im ersten Fall geht man davon aus, dass die Überzeugungsmenge K durch eine monotone Konsequenzoperation Cn generiert wird, wohingegen im zweiten Fall eine nichtmonotone Inferenzoperation die Menge der abgeleiteten Überzeugungen zusammen mit der Überzeugungsbasis H darstellt. Die Untersuchung von Basis-Revisionen ist von Sven Ove Hansson begründet worden. Die Theorie der Glaubensrevisionen untersucht nun in systematischer Weise die folgenden Operationen auf Überzeugungsmengen K im Ausgang einer neuen Information α: (1) Expansionen - in Symbolen: K + α; (2) Revisionen - in Symbolen: K * α; (3) Kontraktionen - in Symbolen: K ÷ α. Die Expansion einer Überzeugungsmenge besteht schlicht darin, dass ein Satz zur Überzeugungsmenge hinzugefügt und daraufhin der logische Abschluss der daraus resultierenden Menge gebildet wird. Expansionen können zu inkonsistenten Satzmengen führen. Die Operation der Revision hingegen muss eine konsistente Satzmenge zum Ergebnis haben, es sei denn, es handelt sich bei α um eine logische Falschheit. Des Weiteren gilt allgemein α ∈ K * α. Bei Kontraktionen schließlich wird gefordert, dass die Überzeugungsmenge K ÷ α den Satz α nicht enthält, es sei denn, dass α eine logische Wahrheit ist. Expansionen, Revisionen und Kontraktionen werden in der klassischen Theorie zum einen axiomatisch durch Postulate, zum anderen konstruktiv durch Funktionen charakterisiert, die Überzeugungsmengen auf Überzeugungsmengen bzw. Mengen von Überzeugungsmengen abbilden. Ein besonders interessantes Problem stellt die eindeutige konstruktive Charakterisierung von Revisionen dar. Wenn α nicht konsistent mit K ist, dann gibt es im Allgemeinen verschiedene Möglichkeiten, bestimmte Überzeugungen aus K zu revidieren, um α als neue Überzeugung in konsistenter Weise anzunehmen. Nichtsdestoweniger entscheiden wir uns de facto für eine dieser Möglichkeiten. Diesem Umstand wird durch die Einführung des Begriffes der epistemischen Etabliertheit (epistemic entrenchment) Rechnung getragen. Wenn eine Überzeugung α stärker epistemisch etabliert ist als eine Überzeugung β – in Symbolen: α > β –, dann sind wir bei Revisionen eher bereit, β aufzugeben als α. Auf der Grundlage einer solchen Relation der epistemischen Etabliertheit können nun zunächst Kontraktionen in eindeutiger Weise definiert werden. Die eindeutige Definition der Revision ergibt sich dann aus der sogenannten Levi-Identität: A * α = (A ÷ ¬α) + α wobei A sowohl für eine logisch abgeschlossene Überzeugungsmenge K also auch für eine endliche Überzeugungsbasis H stehen kann. Die Expansion einer Überzeugungs-

Einführung und Überblick

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menge ist eindeutig konstruktiv charakterisierbar allein unter Verwendung von logischen Operationen: K + α = Cn(K ∪ {α}) im Fall von Überzeugungsmengen und H + α = H ∪ {α} im Fall von Überzeugungsbasen. Neben der Relation der epistemischen Etabliertheit sind weitere Typen von epistemischen Rangordnungen von Überzegungen, Überzeugungsmengen und möglichen Welten entwickelt und in Bezug auf ihre formalen Eigenschaften untersucht worden. All diese epistemischen Rangordnungen ermöglichen eine eindeutige konstruktive Definition von Revisionen. Für eine konzise Einführung in die Theorie der Glaubensrevisionen sei hier auf den Artikel Belief Revision von Peter Gärdenfors und Hans Rott verwiesen.4 Offenbar besteht es eine sehr enge inhaltliche Verbindung zwischen der Theorie der Glaubensrevisionen und jenem Teilgebiet der Wissenschaftstheorie, das vielfach als Theoriendynamik bezeichnet wird. Dennoch gibt es recht wenige Arbeiten, welche den formalen Apparat der AGM-Theorie für die Untersuchung von Überzeugungsänderungen in den Wissenschaften verwenden. Sven Ove Hansson versuchte in seinem Kolloquiumsvortrag ganz allgemein zu klären, welche Anpassungen des formalen Apparats der AGMTheorie erforderlich sind, um diesen für die Analyse der Dynamik des wissenschaftlichen Wissens fruchtbar zu machen. Hans Rott zeigte auf, wie bereits der bestehende Apparat für ein Verständnis von Idealisierungen und intertheoretischen Relationen in den Wissenschaften verwendet werden kann. Beide Vorträge basieren auf Beiträgen der Autoren, die in dem Band Belief Revision Meets Philosophy of Science erschienen sind.5 2. Sven Ove Hansson: Veränderungen des wissenschaftlichen Korpus 2.1 Der wissenschaftliche Korpus Erinnern wir uns daran, dass in der AGM-Theorie epistemische Zustände durch Überzeugungsmengen repräsentiert werden. Im Kontext von wissenschaftlichen Theorien lässt sich der Begriff der Überzeugungsmenge nur bedingt anwenden. Wir sind nicht daran interessiert, die Überzeugungsänderungen einzelner Wissenschaftlicher zu untersuchen. Auch die Summe aller Überzeugungen einer Gruppe von Wissenschaftlern scheint kein geeigneter Gegenstand der Untersuchung von Glaubensrevisionen in den Wissenschaften zu sein. Daher führt Hansson den Begriff des wissenschaftlichen Korpus (sciPeter Gärdenfors and Hans Rott: Belief Revision, in: Handbook of Logic in Artificial Intelligence and Logic Programming, Volume 4: Epistemic and Temporal Reasoning, ed. by Dove M. Gabbay, C. J. Hogger, J. A. Robinson, Oxford (1995), 35–132. 5 Sven Ove Hansson: Changing the Scientific Corpus, in: Belief Revision Meets Philosophy of Science, ed. by E. Olsson and S. Enqvist, Dordrecht 2011, 43–58. Hans Rott: Idealizations, Intertheory Explanations and Conditionals, in: ibid., 59–75. 4

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entific corpus) ein, um jene abstrakten Gegenstände zu charakterisieren, deren dynamische Prinzipien wir bei Untersuchungen von Glaubensrevisionen in den Wissenschaften verstehen wollen. Dieser Korpus wird durch zwei Bedingungen charakterisiert: (1) Elemente des Korpus werden von Wissenschaftlern akzeptiert bis neue Ergebnisse diese Elemente in Frage stellen. (2) Elemente des Korpus könnten ohne Vorbehalte in einem hinreichend genauen Lehrbuch dargestellt werden. Der Korpus wird von verschiedenen Gruppen von Wissenschaftlern gepflegt, aktualisiert und weiterentwickelt. Disziplinäre Grenzen werden nach wechselseitiger Zustimmung gezogen; diese Grenzen ändern sich allerdings im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung. Zwei alternative Modelle weist Hansson zurück: die Annahme einer Pluralität von Korpora und die Vorstellung eines vagen Korpus, in dem es nur Grade von Überzeugungen im Sinne eines Bayesianischen Modells gibt. Vielfältige interdisziplinäre Verknüpfungen sowie die Existenz integrierender Wissenschaften (Astrophysik, Evolutionsbiologie, Biochemie, Quantenchemie etc.) machen die erste Alternative unplausibel. Gegen die Annahme eines vagen Korpus mit Überzeugungsgraden bringt Hansson das Peircesche Argument zur Geltung, wonach solche Systeme kognitiv für endliche menschliche Individuen nicht beherrschbar sind. Hansson diskutiert eine Reihe von Unterschieden zwischen dem wissenschaftlichen Korpus und Überzeugungsmengen in der AGM-Theorie. Dabei erweist sich einer dieser Unterschiede als besonders relevant für die weiteren Überlegungen: Veränderungen von Überzeugungsmengen werden durch Operationen determiniert, die auf die konsistente Integration von neuem epistemischen Input abzielen. Veränderungen des wissenschaftlichen Korpus hingegen werden durch die Suche nach den besten Erklärungen von Daten und Phänomenen unter Berücksichtigung immer neuer Daten- und Phänomenmengen ausgelöst. 2.2. Eine neue epistemische Operation: Abduktion Da die Veränderungen des wissenschaftlichen Korpus durch die Suche nach immer besseren Erklärungen einer stetig wachsenden Menge von Phänomenen geleitet wird, führt Hansson so etwas wie eine neue epistemische Operation ein: für eine gegebene Menge von Daten und Phänomenen H designiert C(H) diejenigen Sätze, die durch Inferenzen auf beste Erklärungen von H gewonnen werden können. Solche Inferenzen werden üblicherweise als Abduktionen bezeichnet. Hansson spricht von retrieval, um die Funktion der Operation C(H) zu charakterisieren. Das von Hansson entwickelte Modell kann mit Hans Hans Rott als eine Basis-Revision im direkten Modus charakterisiert werden.6 Solche Revisionen zeichnen sich daHans Rott: Change, Choice and Inference: A Study of Belief Revision and Nonmonotonic Reasoning, Oxford 2001. 6

Einführung und Überblick

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durch aus, dass Veränderungen der Basis durch recht einfache Operationen der Addition oder Subtraktionen erfolgen. Für die Überzeugungsmenge gilt dann stets K = Inf(H), wobei Inf im Allgemeinen nichtmonoton und parakonsistent ist. Revisionen können im direkten Modus dann folgendermaßen dargestellt werden: K = Inf(H ∪ {α}) Solche Revision setzen sich somit aus einer einfachen Addition neuer Überzeugungen und der Bildung des Abschlusses der Operation Inf zusammen. Für die von Rott untersuchten Varianten gilt stets, dass das Ergebnis der Akkumulation und Auswertung neuen epistemischen Inputs stets unabhängig ist von der Ordnung der Operationen Addition und Inf. Dies bedeutet, es gilt allgemein: Inf(Inf(H ∪ {α}) ∪ {β}) = Inf(H ∪ {α} ∪ {β}) Hansson weist nun darauf hin, dass im Fall des wissenschaftlichen Korpus das Ergebnis einer Revision durchaus davon abhängen kann, zu welchem Zeitpunkt wir die Suche nach besten Erklärungen vornehmen und entsprechend die Operation C auf die gegebene Daten- und Phänomenmenge anwenden. Dies bedeutet, der Zeitpunkt der Suche nach besten Erklärungen kann einen entscheidenden Einfluss auf die weitere wissenschaftliche Entwicklung haben. Für zukünftige Forschungen stellt sich die Frage, inwiefern wir die abduktive Inferenzoperation durch bekannte logische und mengentheoretische Operationen charakterisieren oder sogar definieren können. Versuche in diese Richtung sind unter anderen von Gerhard Schurz und dem Verfasser unternommen worden.7

3. Hans Rott: Idealisierung, intertheoretische Erklärungen und Konditionale 3.1. Idealisierung Hans Rott zeigt zunächst auf, wie die Theorie der Glaubensrevisionen für ein allgemeines Verständnis des Begriffes der Idealisierung in den Wissenschaften fruchtbar gemacht werden kann. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schritt eine Analyse von intertheoretischen Relationen entfaltet. Es handelt sich in beiden Fällen um sehr originelle Vorschläge, die durchaus eine stärkere Rezeption in der allgemeinen Wissenschaftstheorie verdienen. Für den Begriff der Idealisierung ist wesentlich, dass idealisierte Modelle Annahmen über die Gegenstände der Anwendung einer Theorie machen, die wir streng genommen für falsch halten. So geht die von Kepler und Netwon entwickelte Theorie unseres SonGerhard Schurz: Patterns of Abduction, in: Synthese 164 (2008), 201–234; Holger Andreas: A Structuralist Theory of Belief Revision, in: Journal of Logic, Language, and Information 20 (2011), 205–232. 7

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Kolloquium 15 · Holger Andreas

nensystems davon aus, dass keine Gravitationskräfte zwischen den Planeten wirken, die Planeten nicht rotieren, Planeten keine Ausdehnung haben, der Schwerpunkt des Sonnensystems mit dem Mittelpunkt der Sonne zusammenfällt etc. All diese Annahmen entsprechen nicht dem bereits zu Zeiten von Kepler und Newton anerkannten Wissen über die Eigenschaften der Planeten unseres Sonnensystems. Wie ist die Behauptung einer Theorie zu verstehen, wenn die in ihr enthaltenen Idealisierungen streng genommen falsch sind? Erinnern wir uns, um diese Frage zu beantworten, an die von Imre Lakatos eingeführte Unterscheidung zwischen dem harten Kern und dem Schutzgürtel (protective belt) einer Theorie.8 Letzterer leitet vor allem die Anwendung einer Theorie auf empirische Phänomene. Hans Rott schlägt nun vor, das Zusammenspiel des harten Kerns einer Theorie mit ihren Idealisierungen folgendermaßen zu verstehen: Th ⊆ Tp * α1 * … * αn In dieser Notation designiert Th den harten Kern einer mit Idealisierungen arbeitenden Theorie T und Tp eine projektierte perfekte Theorie, in der alle Idealisierungen aufgehoben sind. α1, …, αn stehen für die einzelnen Idealisierungen. Im Fall der Kepler-Newton Theorie mag α1 die Aussage bezeichnen, dass sich die Planeten nicht gegenseitig anziehen, α2 die Aussage, dass die Planeten nicht rotieren etc. Die Revision mit α1, …, αn ist entsprechend als Revision einer vom Wissenschaftler projektierten Theorie mit idealisierenden Annahmen zu verstehen. Zu beachten ist, dass wir über diese projektierte Theorie üblicherweise nicht verfügen. Dennoch glauben wir, dass der harte Kern unserer faktisch verfügbaren Theorie über die Aufhebung von Idealisierungen hinweg erhalten bleibt. (Darin besteht die Aussage von Th ⊆ Tp * α1 * … * αn.) So könnte man die Behauptung einer Theorie verstehen, deren Idealisierungen streng genommen falsch sind. 3.2. Intertheoretische Erklärungen Eine gute Nachfolgertheorie T sollte gegenüber ihrer Vorgängertheorie T´ zwei Bedingungen erfüllen: T sollte den empirischen Erfolg von T´ verständlich machen in denjenigen Bereichen, in denen T´ tatsächlich erfolgreich ist. Darüber hinaus sollte T das Auftreten bestimmter Anomalien erklären, die durch T´ nicht erklärt werden konnten. Hans Rott geht nun davon aus, dass Erfolg und Mißerfolg von T´ stets von bestimmten Anwendungsbedingungen abhängig sind, bei denen es sich in vielen Fällen um Idealisierungen handelt. So geht man in der Theorie des idealen Gases davon aus, dass keine elektromagnetischen Kräfte zwischen den Molekülen wirken. Diese Annahme scheint für viele Anwendungen gerechtfertigt zu sein, führt aber zu Anomalien bei einer besonders dichten Packung der Moleküle, die bei sehr tiefen Temperaturen auftritt.

Lakatos, I.: Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes, in: Criticism and the Growth of Knowledge, ed. by I. Lakatos and A. Musgrave, Cambridge (1970), 91–196. 8

Einführung und Überblick

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Nehmen wir an, A designiere die Anwendungsbedingungen, unter denen T´ erfolgreich ist, B die Bedingungen, unter denen diese Theorie nicht erfolgreich ist, insofern eine bestimmte Anomalie α auftritt. Dann lassen sich die Bedingungen für eine progressive Nachfolgertheorie T folgendermaßen ausdrücken: (1) (2) (3) (4)

T, A ⊢ T´ T´, B ⊢ ¬ α T, B ⊢ α T, B ⊢ ¬ T´

wobei ⊢ die Konsequenzrelation der jeweils verwendeten Logik designiert. Betrachtet man T als Hintergrundtheorie, in der alle Erklärungen vorgenommen werden, können wir auch sagen: (1) (2)

A erklärt den Erfolg von T´ in T; B erklärt den Mißerfolg von T´ in T.

Die weiteren Schritte der Analyse bestehen nun darin, die Bedingungen (1) und (2) in die Sprache der Theorie der Glaubensrevisionen zu übersetzen. Zunächst unterscheidet Rott zwischen drei verschiedenen Modi der Erklärung. So kann die Anwendungsbedingung A den Erfolg von T´ (1a) faktisch, (1b) potentiell oder (1c) kontrafaktisch vor dem Hintergrund von T erklären. Mit Hilfe einer von Hans Rott entwickekten Verbesserung des Ramsey-Tests9 können diese Bedingungen folgendermaßen reformuliert werden: (1a) A, T´ ∈ T und ¬ A ∈ T * ¬T´; (1b) A, T´, ¬ T´, ¬ A ∉ T, aber A → T´ ∈ T; (1c) ¬ T´, ¬ A ∈ T und T´ ∈ T * A; Für die Erklärung des Mißerfolgs von T´ durch die Ungültigkeit gewisser Anwendungsbedingungen A in T erhalten wir die folgenden Übersetzungen: (2a) ¬ T´ ∈ T * ¬ A; (2b) ¬ A → ¬ T´ ∈ T; (2c) A ∈ T * T´. Hans Rott scheint dabei davon auszugehen, dass bestimmte Aussagen über Anwendungsbedingungen entweder wahr oder falsch sind. Betrachtet man stets die Gesamtheit

Hans Rott: Ifs, Though, and Because, in: Erkenntnis (1986), 345–370. Bei dem sogeannnten Ramsey-Test handelt es sich um eine epistemische Semantik von konditionalen Aussagen, in der Wahrheitsbedingungen für solche Aussagen auf der Grundlage von Überzeugungsänderungen angegeben werden. In der ursprünlichen Variante: Wenn A, dann B (in Symbolen: A > B) g.d.w. B ∈ K * A. 9

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Kolloquium 15 · Holger Andreas

der Anwendungen einer Theorie, dann ist diese Annahme sicher gerechtfertigt. Dennoch unterscheiden wir üblicherweise zwischen Systemen, bei denen bestimmte idealisierende Annahmen ganz hervorragende Ergebnisse liefern, und anderen Systemen, bei denen dies nicht der Fall ist. Die Theorie des idealen Gases wird nach wie vor sehr erfolgreich in einigen Bereichen angewendet, so in der Meteorologie. Auch scheint es nicht so einfach zu sein, die Theorie des realen Gases oder die Theorie des realen Planetensystems zu identifizieren. Überzeugungsbasen, welche unser hypothetisches Wissen über reale Gase und reale Planeten repräsentieren, tendieren dazu, die Maxime der Einfachheit und axiomatischen Darstellung zu verletzen, die in den mathematischen Naturwissenschaften bis heute eine normative Funktion bei der Formulierung von Theorien haben. Nach einer alternativen Betrachtungsweise verfügen wir über eine Reihe von Fundamentaltheorien, die wir in geeigneter Weise auf empirische Systeme anwenden. Diese Überlegungen legen die genauere Unterscheidung zwischen den Axiomen einer Theorie und den intendierten Anwendungen dieser Axiome nahe, wie sie z. B. in der strukturalistischen Wissenschaftstheorie eingeführt wird.10 Es wäre in diesem Zusammenhang höchst interessant zu untersuchen, inwiefern die Analysen von Hans Rott zu Idealisierung und Theorienreduktion mit der strukturalistischen Theorienkonzeption verknüpft werden können. Diese Analysen verdienen ohne Zweifel eine vertiefte Auseinandersetzung und stärkere Rezeption in der allgemeinen Wissenschaftstheorie.

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Wolfgang Balzer, C. Ulises Moulines, Joseph Sneed: An Architectonic for Science, Dordrecht 1987.

KOLLOQUIUM 16

Gründe ohne Grund Kolloquiumsleitung: Rolf Elberfeld

Rolf Elberfeld Einführung Inigo Bocken Die Kreativität des Grundes ohne Grund. Das Nichtandere des Nicolaus Cusanus und der Versuch einer pragmatischen Metaphysik in der Renaissance Tanehisa Otabe Der »Grund der Seele«. Über Entstehung und Verlauf eines ästhetischen Diskurses im 18. Jahrhundert Shigeto Nuki Unheimlicher Leib – Ein Grund ohne Grund

Einführung Rolf Elberfeld

Das Kolloquium Gründe ohne Grund wurde finanziell von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung getragen, wofür der Stiftung an dieser Stelle gedankt sei. Die Idee, ehemalige Humboldt-Stipendiaten für ein eigenes Kolloquium zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Philosophie einzuladen, entstand während einer Sitzung des erweiterten Vorstandes. Der Gedanke war, dass durch die weltweit nachhaltige Förderung der Humboldt-Stiftung schon seit langem deutschsprachiges Philosophieren in verschiedenen Teilen der Welt stattfindet und dies einen guten Anlass bietet, ehemalige Stipendiaten der Humboldt-Stiftung zum größten deutschsprachigen Philosophiekongress einzuladen und mit ihnen ein eigenes Kolloquium zum Thema der Tagung zu gestalten. Schon bald fanden sich zwei Philosophierende aus Japan und einer aus den Niederlanden, die jeweils gewichtige Beiträge für das Tagungsthema zu bieten hatten. Dr. Inigo Bocken lehrt Philosophie an der Universität Nijmegen. Er ist wissenschaftlicher Direktor des Titus Brandsma Instituts für Spiritualität. Sein Spezialgebiet ist die Philosophie der frühen Neuzeit und insbesondere die Philosophie des Cusanus. Weitere Forschungsgebiete sind die Theorie der Mystikgeschichte und der Zusammenhang von Malerei und Philosophie in der Renaissance. Prof. Dr. Tanehisa Otabe ist Professor für Ästhetik an der Universität Tokyo. Er ist Spezialist für die Geschichte der Ästhetik im 18. und 19. Jahrhundert in Europa und ihre interkulturelle sowie systematische Weiterentwicklung in der Gegenwart. Prof. Dr. Shigeto Nuki ist Professor für Philosophie an der Universität Senshu in Tokyo und ist spezialisiert auf die Phänomenologie mit besonderem Schwerpunkt in der Phänomenologie des Leibes und des Tanzes. Als Thema für die gemeinsame Veranstaltung schälte sich bald der Titel Gründe ohne Grund heraus, der mit dem Plural Gründe und dem Singularetantum Grund spielt. In der deutschen Sprache kommt es immer wieder vor, dass ein Wort in einer bestimmten Bedeutung vorrangig oder ausschließlich im Singular verwendet wird, aber zugleich in seiner Pluralform eine andere Bedeutung entwickelt oder gar zu einem anderen Begriff wird. Ein Beispiel hierfür ist das Wort Kultur, das als Singularetantum kultivieren und pflegen bedeutet und in der Pluralbildung Kulturen zu einem anderen Begriff wird, bei dem das Nebeneinander von Kulturen denkbar wird. Ähnliches kann von dem deutschen Wort Grund gesagt werden, das auf der einen Seite, vorrangig als Singular verwendet, Boden eines Gefäßes, Erdboden, Tiefe, Ursprung, Anfang, Wesen, Substanz und Hintergrund bedeutet und der Plural Gründe, der in dieser Bedeutung vermutlich erst im 20. Jahrhundert ausgebildet wurde, die Bedeutung von Motiv, Beweggrund, Grund um etwas zu tun und vernünftige Begründung annimmt.

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Die erste und konkreteste Bedeutung von Grund, die seit alten Zeiten in der deutschen Sprache belegt ist, ist die von »feste untere Begrenzung eines Dinges« z. B. der Grund von Gewässern wie der Meeresgrund.1 In dieser Bedeutung wird es schon früh in übertragenem Sinne verwendet: »auf den Grund kommen bis zum Untersten, zu den Anfängen einer Sache vordringen und dadurch zu ihrem Verständnis gelangen. Im 16./17. Jh. häufig absolut ›die Wahrheit ermitteln‹«.2 In diesem Sinne ist der Grund einer Sache das Wesen oder die Substanz, von der die Sache gehalten und be-gründet wird. In dieser Bedeutung meint das Wort immer auch den letzten Grund, in dem alles begründet ist. Bereits seit dem 13. Jahrhundert war daher Grund in der deutschen Mystik ein Wort für Gott oder den tiefsten und innersten Bereich der Seele. Gottes-Grund und Seelen-Grund waren Bezeichnungen für das Tiefste, den Ursprung und das Innerste der Welt und des Menschen. In weiteren Reflexionen über diesen tiefsten Grund wurden die Bezeichnungen Abgrund und Ungrund geprägt, die auf den Sachverhalt reagierten, dass dieses Tiefste und Innerste selbst weder gegenständlich noch mit einfachen Aussagen zu greifen war.3 Mit dem Wort Grund in der übertragenen Bedeutung als Fundament, erster Grund und eigentliche Wahrheit war somit seit seiner ersten Verwendungsphase in der deutschen Sprache auch die Frage nach der möglichen oder unmöglichen Aussagbarkeit eines solchen Grundes verbunden, ein Motiv, das in den drei folgenden Texten in jeweils verschiedenen philosophiegeschichtlichen Konstellationen eine zentrale Rolle spielt. An den jeweiligen inhaltlichen Akzentuierungen der Frage nach dem letzten Grund lassen sich seit der europäischen Neuzeit zudem grundsätzliche philosophische Interessensverschiebungen beobachten. Im mittelalterlichen Denken wurde ausschließlich Gott als der letzte Grund betrachtet. Spätestens im 18. Jahrhundert wurde auch die Seele zu einem letzten Grund vor allem in den Debatten zur Ästhetik. Im 19. Jahrhundert erhielt dann der Leib bei einigen Denkern die Rolle eines letzten Grundes, der als Voraussetzung aller Wirklichkeit erfahren werden kann, aber nicht begrifflich zu fassen ist. Mit dem Thema Gott als letztem Grund im Ausgang von Cusanus beschäftigt sich der erste Text von Inigo Bocken. Der Text von Tanehisa Otabe zeigt demgegenüber, wie das Motiv Grund der Seele bei Alexander Baumgarten eine zentrale Stellung einnimmt und sich in den Ansätzen von Sulzer, Herder und Schelling zum Abgrund verwandelt. Im dritten Text von Shigeto Nuki tritt der Leib ausgehend von Merleau-Ponty in den Blick, von wo aus die Frage nach dem Grund und Fundament in neuer Weise gestellt wird. Die drei Texte beschäftigen sich pointiert gesagt mit den Themen Gott, Seele und Leib. Die drei Themen sind von der philosophischen Fragestellung dadurch miteinander verbunden, dass sich Gott, Seele und Leib bei den herangezogenen Denkern jeweils als abgründig bzw. ungründig erweisen. Die drei philosophiegeschichtlichen Konstella-

Vgl. den Eintrag Grund in: J. u. W. Grimm: Deutsches Wörterbuch, 1838 ff. Ebd. 3 Vgl. den Eintrag Grund in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter et al, Basel 1971 ff. 1 2

Einführung

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tionen können auch als ein Weg in die Moderne gelesen werden, die zugespitzt dadurch charakterisierbar ist, dass eindeutig angebbare letzte Gründe nicht ohne Weiteres oder gar nicht mehr angenommen werden können. Dieses Ergebnis bedeutet auch, dass alle Gründe, die wir angeben, ohne einen letzten Grund auszukommen haben. In dieser Perspektive sind (rationale) Gründe ohne (letzten) Grund. Sie bleiben damit in jeder Hinsicht kontingent und ohne die Möglichkeit einer propositional fassbaren Letztbegründung. Ob in diese Problematik auch die Grundlagenkrise der Mathematik einbezogen werden muss, die, vereinfacht gesagt, darin besteht, dass es der Mathematik unmöglich ist, die eigenen Grundlagen mathematisch zu beweisen, wäre zu fragen. Häufig wird angenommen, dass die (Natur-)Wissenschaften uns die letzten Fundamente genommen haben, wie dies beispielsweise Hilary Putnam formuliert »Science takes away foundations without providing a replacement. Whether we want to be there or not, science has put us in the position of having to live without foundations. It was shocking when Nietzsche said this, but today it is commonplace; our historical position – and no end to it is in sight – is that of having to philosophize without ›foundations‹.«4 Auch wenn Putnam Nietzsche erwähnt, so scheint er doch überzeugt zu sein, dass allein die Wissenschaften uns die letzten Fundamente geraubt habe. Die folgenden drei Texte legen jedoch demgegenüber nahe, dass es schon sehr früh die Gottesfrage selbst war, die ein Nachdenken über die Unmöglichkeit der Aussagbarkeit des letzten Grundes evoziert hat und dann in Folge diese Perspektive auch in der Frage nach der Seele und dem Leib entwickelt worden ist. Dies bedeutet, dass das philosophische Fragen selbst und nicht erst die Naturwissenschaften, die als ein philosophisches Nebenprodukt der europäischen Neuzeit gesehen werden können, die Perspektiven auf den letzten Grund radikal verändert haben. Es war somit die Philosophie im Zusammenhang mit den Wissenschaften, die das Fundament entkernte bzw. entsubstanzialisierte und in immer neue Abgründe führte. Wenn heute Gründe in der Philosophie angegeben werden, dann geschieht dies in den meisten Fällen ohne letzten Grund. Fraglich bleibt jedoch, ob wir die Frage nach dem letzten Grund einfach aufgeben sollen, oder ob eine Fragerichtung möglich ist, die mit der Grundlosigkeit der Gründe in anderer und neuer Weise umgeht. An dieser Stelle soll nur ein Denker aus dem außereuropäischen Kontext genannt werden, der ausführlich begründet, warum es keinen letzten Grund geben kann und einen Weg aufzeigt, wie mit dieser Grundlosigkeit in radikaler Weise umzugehen möglich ist. Im 2. Jahrhundert n. u. Z. reflektierte der buddhistische Denker Nagarjuna unter anderem die Unmöglichkeit eines letzten Grundes und einer letzten Ursache. Anhand logischer Argumentationen versuchte er zu zeigen, wie sich eine solche Suche in nicht auflösbare Widersprüche verstrickt. Seine Antwort auf die Frage bestand darin, letztlich jeden substanzialisierenden Sprachgebrauch zu Grund und Ursache zurückzuweisen. Er versuchte zu zeigen, wie alles und jedes nicht es selbst ist, sondern aus anderem entsteht. Dieser Grundzusammenhang wird im Buddhismus mit »Entstehen in

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Hilary Putnam: The many faces of realism, Chicago 1987, S. 29.

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Abhängigkeit« bezeichnet.5 Wenn alles und jedes – auch Gedanken und Gründe – nur in Abhängigkeit von anderem entstehen, so sind sie nach Nagarjuna für sich gesehen jeweils »leer«. Nagarjuna geht es im Anschluss an diese Einsicht darum, diese Leerheit selbst als Realisierung des Entstehens in Abhängigkeit zu verstehen.6 Wenn hier noch von einem letzten Grund die Rede sein sollte, dann ist es die Leerheit selbst, die aber in keiner Hinsicht einen substanziellen letzten Grund bildet. Denn die Leerheit selbst wird nur in radikaler Relationalität aller Zusammenhänge realisiert. Nagarjunas Lösung – im recht verstandenen Sinne – liegt somit in der radikalsierten Relationalität und im Aufgehen und Mitgehen im Entstehen in Abhängigkeit. So verstanden arbeiten die Texte Nagarjunas im prägnanten Sinne mit Gründen ohne Grund. Je klarer sie begründen, umso deutlicher wird, dass dies ohne letzten Grund geschieht bzw. alle Gründe in sich leer sind und allein im Entstehen in Abhängigkeit verstanden werden können. Hier deutet sich eine philosophische Position an, die sich innerhalb des Buddhismus in verschiedener Weise philosophisch entwickelt hat. Ob es ausgehend von diesem Gedanken Brücken zu den Ansätzen in Europa gibt, wäre noch zu zeigen.

Vgl. Rolf Elberfeld, Michael Leibold, Mathias Obert: Denkansätze zur buddhistischen Philosophie in China. Seng Zhao - Jizang - Fazang zwischen Interpretation und Übersetzung, Köln 2000. 6 Vgl. Jay L. Garfield: The Fundamental Wisdom of the Middle Way. Nagarjuna’s Mulamadhyamakakarika, New York 1995. Bernhard Weber-Brosamer u. Dieter M. Back: Die Philosophie der Leere. Nagarjunas Mulamadhyamaka-Karikas. Übersetzung des buddhistischen Basistextes mit kommentierenden Einführungen, Wiesbaden 1997. 5

Die Kreativität des Grundes ohne Grund. Das Nichtandere des Nicolaus Cusanus und der Versuch einer pragmatischen Metaphysik in der Renaissance Inigo Bocken

In seiner Schrift Idiota de mente (1450) beschreibt der frühneuzeitliche bzw. spätmittelalterliche Philosoph und Kardinal Nicolaus Cusanus die Suche nach dem letzten Grund – in gut platonischer Begrifflichkeit mit exemplar angedeutet – als den Versuch eines Malers sich selbst und also die Kunst der Malerei selbst zu malen.1 Es ist klar, dass es sich dabei um ein Gedankenexperiment handelt. Denn wenn es dem Maler gelingen sollte, ein Gemälde zu schaffen, das die Malerei als solche darstellen würde, wäre er schon gescheitert, weil es ihm gelungen ist. Denn dieses Bild würde tatsächlich alle möglichen Gemälde darstellen – und dabei kann man an viele Gemälde aus der Tradition denken, in der die Werkstatt des Malers abgebildet wird, mit einer Vielzahl von Werken – doch ein Gemälde würde fehlen, nämlich dieses eine Gemälde, das die Malerei als solche malt. Die Kritik der traditionellen Metaphysik, die in diesem Vergleich zum Ausdruck kommt, dürfte klar sein: Es ist letztendlich unmöglich den letzten Grund der Dinge und des Handelns – welchen zu finden immer die Aufgabe der klassische Metaphysik seit Aristoteles und Platon war – zum Ausdruck zu bringen. Schon indem man es macht, hat man den Grund verfehlt. Um wieder zum Bild des Malers zurückzukehren: Der Maler steht mit seiner aktiven Tätigkeit immer zwischen sich selbst und seiner Aufgabe, die Malerei als solche zu malen. Er hindert sich sozusagen selbst am Erfüllen seiner Aufgabe. Es ist also eine unmögliche Aufgabe, die Malerei als solche abzubilden, es ist – bezogen auf unsere Problematik und wie Cusanus es auch meint – unmöglich, den Grund aller Dinge zu finden oder zum Ausdruck zu bringen. Denn mit dem Vergleich des Malers versucht Cusanus nicht nur die Unmöglichkeit seiner Aufgabe zu beschreiben, vielmehr scheint er ebenso zu bestätigen, dass es tatsächlich Aufgabe des Malers ist, die Malerei als solche zu malen. Genauso wie es Aufgabe der Philosophie ist, das Exemplar zu finden. Doch anders als die Tradition, welche die notwendige Rezeptivität der Seele für die Schau der göttliche Ideen betont, scheint Cusanus hier die Unumgänglichkeit der menschlichen Tätigkeit in den Vordergrund zu stellen, ohne den Rückbezug auf die Fähigkeit einer Wahrheitsschau aufzugeben.

De mente c.13 (h ²V. n.148): »Unde mens est creata ab arte creatrice, quasi ars illa se ipsam creare vellet et,quia immultiplicabilis est infinita ars, quod tunc eius surgat imago, sicut si pictor se ipsum depingere vellet et, quia ipsa non est multiplicabilis, tunc se depingendo oriretur eius imago.« Edition der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1928–2004. 1

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Kolloquium 16 · Inigo Bocken

Es ist für Cusanus tatsächlich die Aufgabe des Malers, die Malerei zu malen – es ist nicht sein Ziel, einfach die Dinge in der Wirklichkeit darzustellen; denn dieses anzustreben bewirkt nur zweitrangige Bilder. Cusanus nennt ein solches zweitrangiges Bild in Idiota de mente ›imago mortua‹ – totes Bild, im Gegensatz zu der ›imago viva‹, dem lebendigen Bild.2 Der Maler versucht die Malerei selbst darzustellen, indem er die Dinge in der Wirklichkeit abbildet. Genau wie auch Cézanne nicht 40 Mal den Mont Sainte-Victoire gemalt hat, sondern vierzig Mal, an Hand des Mont Saint-Victoire, die Malerei gemalt hat. Cusanus betont mit seinem Vergleich ausdrücklich die Unmöglichkeit seiner Aufgabe. Der Maler macht eigentlich etwas, das unmöglich ist. Das heißt: Der Philosoph, auf der Suche nach dem Grund aller Dinge, beschäftigt sich mit einer unmöglichen Aufgabe, einer Aufgabe, die in sich widersprüchlich ist. Der Durchschnittsphilosoph der Neuzeit würde daraus unzweifelhaft schließen, dass man sich mit solchen Aufgaben besser nicht beschäftigt. Es wäre besser, diese Versuche zu lassen und seine kostbare Zeit erreichbaren Zielen zu widmen. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. In Idiota de mente will Cusanus jedoch deutlich machen, dass der Maler gerade nicht aufhören soll, seine ultimative Aufgabe zu erledigen. Denn ihm ist klar, dass die Unmöglichkeit der Aufgabe nicht aus irgendeinem externen Grund festgestellt wird – z.B. aufgrund der Beschränktheit des menschlichen Könnens oder Erkennens. Nein, die Unmöglichkeit der Aufgabe wird erst sichtbar, indem man mit allen Kräften versucht hat, sie zu erfüllen. Erst dann, wenn man tatsächlich versucht, diese ultimative Aufgabe zu bewältigen, realisiert man ihre Unmöglichkeit. Das Scheitern ist aus der Notwendigkeit abgeleitet, und es ist eigentlich nur Bestätigung derselben. Denn es ist, wenn wir Cusanus glauben dürfen, durchaus möglich, die Unmöglichkeit dieser ultimativen Aufgabe – die Malerei zu malen – zum Ausdruck zu bringen. Es sind sogar – und dies ist ein empirisches Argument des Cusanus – nur die besten Gemälde, die dieses machen. Es sind diejenigen, die nicht ›photographisch‹ (dieses Wort verwendet Cusanus selbstverständlich nicht) die natürliche Wirklichkeit außerhalb des Bildes abbilden; denn solche Gemälde unterliegen der Kategorie imago mortua. Sie sind tote Bilder, die den Zuschauer nicht in Bewegung bringen, ihm keine Fragen vorlegen, ihn nicht in der lebendigen Bewegung der Reflexion mitführen. Es gibt aber Bilder, die es schaffen, die Unmöglichkeit der ultimativen Aufgabe im Rahmen des Bildes zum Ausdruck zu bringen. Es ist nicht unmöglich, dass Cusanus, wenn er dieses Beispiel beschreibt, an flämische Maler seiner Zeit wie Jan van Eyck oder Rogier van der Weyden denkt. Wenigstens auf Rogier nimmt Cusanus in seinem Buch De visione Dei explizit Bezug.3 Denn diese Maler haben tatsächlich die Malerei, wie Hans Belting es gesagt hat, De mente c.13 (h ²V. n.149); Karsten Harries: On the Power and Poverty of Perspective. Cusanus and Alberti, in: Cusanus. The Legacy of Learned Ignorance, ed. by Peter Cassarella, Washington 2006, 105–126; Anke Eisenkopf: Das Bild des Bildes. Zum Begriff des toten und lebendigen Bildes in Idiota de mente, in: Spiegel und Porträt. Zur Bedeutung zweier zentraler Bilder im Denken des Nicolaus Cusanus, hg. von Inigo Bocken/Harald Schwaetzer, Aachen 2005, 49–74. 3 Inigo Bocken: Cusanus and Rogier van der Weyden, in: Rogier van der Weyden. Master oft he Passion, hg. von Lorne Campbell/Jan van der Stock, Leuven 2009, 215. 2

Die Kreativität des Grundes ohne Grund.

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neu erfunden.4 Diese Maler betrachten sich selbst nicht mehr als einfache Handwerker, die nur versuchen abzubilden, was vorgegeben ist. Jan Van Eyck versucht als reflexiver Maler (als pictor doctus) immer wieder die Bildhaftigkeit seiner Bilder gegenwärtig zu machen, indem er verborgene Zuschauer hinstellt, indem er mit bestimmten unerwarteten Reflexionen den Zuschauer darauf hinweist, dass er ein Bild betrachtet und dass er einen weiteren Weg gehen soll. Das Bild ist Anfang der Reflexion, nicht Ende. Lebendige Bilder soll der Maler schaffen, die die Zuschauer in Bewegung bringen. Wir als Zuschauer kennen die Erfahrung, wenn wir ein großes Bild ›verstanden‹ haben, dann kommen die Ideen auf, wie man weiter machen kann, dann wird klar, dass es noch eine unendliche Zahl an möglichen anderen Bilder gibt. Zuschauer und Maler sind in diesem Sinne nicht unterschiedlich – denn der Maler sieht sich von seinem eigenen Bild herausgefordert noch mehrere Bilder zu machen. Nur nicht aufhören – das scheint die Botschaft des Cusanus zu sein. Dennoch bleiben viele Fragen übrig, die für unsere Tagung über »Grund ohne Grund« wichtig sind. Denn es bleibt die Frage: was ist es für eine Aufgabe, die in sich widersprüchlich ist? Warum sollten wir uns tatsächlich noch mit der Frage nach dem Grund beschäftigen – in der Gestalt des Exemplars – wenn dies ohnehin eine hoffnungslose Sache ist? Fast wie eine Sysiphos-Aufgabe. Und dann, kritisch an Cusanus gewendet: warum will er unbedingt festhalten an einem Wissens- und Lebensideal, dessen problematischen Charakter er selbst erkannt hat? Warum sollten wir die Frage nach dem Grund überhaupt noch in Betracht ziehen? Diese Überlegungen haben nicht nur geisteshistorischen Charakter – denn es ist an sich nicht so wichtig ob Cusanus nun Recht hatte oder nicht. Doch Cusanus lebte und dachte in einer Epoche, die von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Neuzeit war. In der die Brüche des alten Weltbildes, des alten Rationalitätsparadigmas, sichtbar werden, die den Boden bereiten für diesen Satz vom Grunde, der von Leibniz ganz klar formuliert wurde. In der die Brüche aber vor allem ein Merkmal der neuzeitlichen Rationalität herauszufordern scheinen: die Suche nach absoluter Gewissheit, den Punkt aufzusuchen, an dem keine Zweifel mehr möglich sind, von dem aus nur noch Transparenz erschaffen werden wird, und von dem aus absolute Kontrolle über alle möglichen Ungewissheiten möglich wird, über die Einflüsse der Tradition und die der Sinnlichkeit, wie dies z. B. bei Descartes der Fall ist – so etwas finden wir bei Cusanus nicht, obwohl er ganz klar die fatalen Schwierigkeiten der klassischen Metaphysik erkannt hat. Deshalb werde ich im Folgenden zuerst die Krise der Metaphysik (die prämoderne Philosophie des Grundes) behandeln, damit aufgezeigt werden kann, worauf Cusanus sich, historisch betrachtet, bezieht. Im zweiten Teil werde ich klar machen, wie er in diesem Kontext die Gottesfrage, in der Tradition des Anselm von Canterbury, entfaltet und auf unerwartete Weise transformiert. Im dritten Teil werde ich den Begriff des

Hans Belting: Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden, München 2010. 4

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Nichtanderen, vor dem Hintergrund der entscheidenden Bedeutung der Praxis erläutern, die grundlos und deshalb selber Grund ist.

1. Die Unmöglichkeit der Suche nach dem Grund. Die Metapher des Malers der seine Malkunst zu malen versucht, kann als eine Antwort des Cusanus auf die tiefgreifende Krise der klassischen Metaphysik im platonisch-aristotelischen Sinne gedeutet werden.5 Vielleicht wirft diese Antwort von Cusanus auch ein anderes Licht auf die eigene Art dieser Suche nach dem letzten Grund. Ich möchte die These vertreten, dass die Kritik, die z. B. in der nominalistischen Philosophie entfaltet wird, von Cusanus nicht sosehr widersprochen, sondern vielmehr radikalisiert wird, dies heißt, auf ihren eigentlichen Grund zurückgeführt wird. Denn tatsächlich kann die ganze Philosophie des Cusanus verstanden werden als eine kritische Auseinandersetzung mit der Kritik der Metaphysik am Ende des Mittelalters. Eine Kritik, die keine rein theoretische Sache war, sondern mit wichtigen soziologischen Transformationen, sowie Entwicklungen im Frömmigkeitsbewusstsein des ausgehenden Mittelalters zu tun hat.6 Denn die nominalistische Kritik an die Zugänglichkeit für den menschlichen Intellekt der göttlichen Maßstäbe, die die Ordnung der Wirklichkeit bestimmen (sowie das Handeln des Menschen), scheint eine entscheidende Phase der Kritik an der traditionellen Philosophie des Grundes darzustellen. Allgemeinbegriffe können von dieser Perspektive heraus nicht mehr als im göttlichen Intellekt begründete Gedanken verstanden werden. Diese Kritik hat weitgehende Folgen – wie Hans Blumenberg schon 1966 in seiner Legitimität der Neuzeit gezeigt hat. Denn seit dieser Kritik war es nicht mehr möglich sich auf Gott – in platonischer Begrifflichkeit das Exemplar – als letzten Grund aller menschlichen Ordnung zu beziehen, und dies nicht nur im erkenntnistheoretischen, sondern auch im moralischen und politischen Sinne.7 Es mag klar sein, dass diese nominalistischen Philosophen und Theologen ihre Überlegungen nicht aus irgendeinem theologiefeindlichen oder religionskritischen Ansatz formuliert haben. Eher das Gegenteil ist der Fall. Sie waren, wie z. B. William of Ockham, meistens Denker aus franziskanischer Schule und hatten vor allem eines im Blick: den Schutz von Gottes Allmacht, die der Vernunft nie untergeordnet werden darf. Zwar ist – aus nominalistischer Perspektive – Gott Grund aller Dinge und aller Handlungen, 5 Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Cusaner und Nolaner, Frankfurt a.M. 1966; Elizabeth Brient: The Immanence of the Infinite. Hans Blumenberg and the Threshold to Modernity, Washington 2002. 6 Inigo Bocken: Perspektiven der Theorie. Philosophie als scientia aenigmatica, in: Spiegel und Porträt, hg. von Inigo Bocken/Harald Schwaetzer, Aachen 2005, 9–28, 12. 7 Wolfgang Göbel: Okzidentale Zeit. Die Subjektgeltung des Menschen im Praktischen nach der Entfaltungslogik unserer Geschichte, Freiburg i. Ue/Freiburg i.Br., 1996, 23 und passim; Jürgen Goldstein: Nominalismus und Moderne. Zur Konstitution neuzeitlicher Subjektivität bei Hans Blumenberg und Wilhelm von Ockham, Freiburg i.Br. 1998, 48–73.

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letzter Sinn- und Orientierungspunkt, doch die menschliche Vernunft ist niemals in der Lage diesen Grund zu artikulieren. Gott ist so sehr Grund, auch des menschlichen Intellekts, dass er der vernunfthaften Ordnung des Menschen entzogen ist. Das philosophische Denken kann also nicht mehr in der Lage sein, den Grund zu erreichen und ihn in Begriffen zu erläutern. Das wäre nichts als Blasphemie. Die franziskanischen Nominalisten waren keine genialen Einzelfälle – sondern sind Ausdruck einer allgemeinen Stimmung zum Ende des Mittelalters. Die franziskanische Bewegung war eine Reformbewegung, wie es sie in der Zeit viele gab, wie auch die Hussiten oder in den Niederlanden die Devotio Moderna von Geert Grote und Thomas a Kempis und seine Nachfolge Christi.8 Auch hier finden wir die Einsicht, dass Gott, bzw. Christus, der letzte Grund der Dinge und des Lebens ist, doch sollten wir diesen Grund nicht theoretisch zu gewinnen versuchen, denn dies wäre hochmütig und eitel. Nur in der Praxis, im alltäglichen Tun, kann man diesen Grund erreichen, nur mit dem eigenen Leben kann man ihn zum Ausdruck bringen (imitatio ist bekanntlich nicht nur Nachfolge, sondern auch Ausdruck und Bildwerdung). Es ist viel wichtiger Reue einzuüben, als ihre Definition zu kennen, wie Thomas a Kempis mit einer für ihn unerwarteten Ironie sagt.9 Dass diese Reformbewegungen am Ende des Mittelalters so aktiv sind, mag kein Zufall sein – es ist eine Zeit in der die Bürger der Stadt sich zu emanzipieren beginnen. Auch Handwerker und Beamte, Künstler und Politiker haben das Recht Zugang zur Seligkeit zu finden. Nicht nur im Schauen, sondern vor allem im Tun, eröffnet sich dieser göttliche Grund aller Dinge, nur so findet man Grund unter den Füßen.10 Die Kritik an der Metaphysik scheint also zusammenzuhängen mit einer Transformation des Verständnisses der Praxis. Und aus diesem Kontext nimmt Cusanus diese Kritik neu auf. Während die nominalistischen Denker jedoch in ihrer Kritik an der Fähigkeit des menschlichen Intellekts, den Grund aller Dinge zu finden, den Schluss ziehen, man solle das Sprechen und Denken über diesen Grund dem Glauben und der Theologie überlassen – das heißt der Glaubenspraxis, scheint Cusanus – obwohl letztendlich auch Kleriker und bekanntlich nicht der unwichtigste – andere Wege zu gehen, wie wir in dem Vergleich mit dem Maler schon gesehen haben. Denn für Cusanus ist es durchaus sinnvoll philosophisch den Grund der Welt zu betrachten und auf den Begriff zu bringen. Nur wie? Das ist die Frage – und diese Frage ist was Cusanus angeht immer auch verbunden mit der Frage, warum eigentlich? Gerade aus diesem letzten Grund, ist Cusanus auch ein moderner Denker. 8 Inigo Bocken: Imitatio und creatio bei Cusanus und Van Eyck. Die neue Bedeutung des Betrachters im 15. Jahrhundert, in: Videre et videri coincidunt. Theorien des Sehens in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, hg. von Marc de Mey et al., Münster 2010, 83–97. 9 Tilman Borsche: Reden unter Brüdern. Diskurstheoretische Bedingungen der Konkordanz bei Nikolaus von Kues, in: Conflict and Reconciliation. Perspectives on Nicholas of Cusa. hg. von Inigo Bocken, Leiden 2004, 9–28; Inigo Bocken: The Language of the Layman. The Meaning of the Imitatio Christi for a Theory of Spirituality, in: Studies in Spirituality 15 (2005), 217–249. 10 Berndt Hamm: The Reformation of Faith in the Context of Late Medieval Theology and Piety, Leiden 2004, 12 und passim.

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Die Antwort des Cusanus zu dieser Kritik zeigt sich als seine eigene Kritik an Platon, dem er vom Sprachgebrauch her verpflichtet bleibt, den er jedoch auf grundsätzliche Weise neu interpretiert. Denn im Gegensatz zu Platon (wie Cusanus ihn versteht, DDI II), ist Cusanus der Meinung, dass es nicht viele Ideen, d.h. exemplaria gibt. Es gibt letztendlich nur ein Exemplar. Ein Grund und alle Ideen, alle Bilder und Begriffe die für die menschliche Ordnung begründend sind, sind eigentlich vom menschlichen Intellekt hervorgebrachte Begriffe. Damit nimmt Cusanus die Kritik des Nominalismus ernst, hält jedoch am platonischen Paradigma fest. Denn diese vom menschlichen Intellekt hervorgebrachten Ideen verweisen letztendlich doch auf diesen einen begründenden Grund. Es sind alle Versuche, diesen Grund zu artikulieren, abzubilden, vorläufige Bestimmungen von Etwas, das niemals auf den Begriff gebracht werden kann. Denn sogar der abstrakteste Begriff ist letztendlich vom menschlichen Intellekt hervorgebracht. Auch die Idee eines Grundes ist noch ein menschliches Konstrukt. Von hier aus geht Cusanus einen entscheidenden Schritt über den Nominalismus hinaus. Denn auch die Betonung der Unerreichbarkeit des letzten Grundes, die Entdeckung, dass diese Grenze unüberbrückbar ist, ist noch immer eine menschliche Idee, vom menschlichen Intellekt hervorgebracht. Die Idee des letzten Grundes ist den meist skeptischen Aussagen noch entzogen. In diesem Sinne radikalisiert Cusanus die nominalistische Kritik, die letztendlich an einer doppelten Ordnung festhält – zwischen menschlicher Vernunft und göttlicher Wahrheit. Für Cusanus ist sogar diese doppelte Ordnung noch eine Realität des menschlichen Intellekts. Die Differenz zum Göttlichen ist eine kreative Differenz, auf die der menschliche Intellekt immer wieder stößt, und die ihn herausfordert den Grund neu zu artikulieren. Genau wie der Maler, der die Unmöglichkeit seiner Aufgabe einsieht, indem er versucht die Malerei als solche abzubilden, und in dieser Unmöglichkeit eine Herausforderung sieht neue Bilder zu machen, unendlich viele neue Möglichkeiten entdeckt.11 2. Gott als Spiegel Die Differenz zwischen dem vom Menschen hervorgebrachten Bild und dem eigentlichen Bild (exemplar) wird von Cusanus also als eine ›kreative Differenz‹ betrachtet. Der Hintergrund dieser kreativen Differenz ist die erkenntnistheoretische Frage, die Cusanus schon in seinem ersten Hauptwerk De docta ignorantia entfaltet. Diese Schrift beginnt mit einer Analyse des Erkenntnisprozesses. Die Frage, die Cusanus beschäftigt, ist die Frage, was wir eigentlich erkennen, wenn wir erkennen. Aristoteles frei interpretierend betont Cusanus, dass keine Erkenntnis vergebens ist. Erkenntnis kann eigentlich nicht falsch sein, es sei denn, es gibt einen Irrtum oder einen physiologischen Defekt.12 Aber als solches ist Erkenntnis zur Wahrheit hin orientiert. Johannes Hoff: Kontingenz, Berührung, Überschreitung. Zur philosophischen Propädeutik mystischer Theologie, Freiburg 2007. 12 De docta ignorantia I c.1 (h I, p.2, n.3): »Omnis igitur inquisito in comparativa proportione facili 11

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Dennoch ist es notwendig, zu wissen, was wir eigentlich erwarten können, wenn wir erkennen, so Cusanus in einem der kritischen Philosophie Kants sehr nahe kommenden Satz. Denn Irrtümer entspringen gerade aus falschen Erwartungen. In seiner Analyse beschreibt Cusanus – inspiriert von Leon Battista Alberti – Erkenntnis als ein messen – mensurare.13 In einer typisch mittelalterlichen Etymologie sieht Cusanus einen Zusammenhang zwischen diesem mensurare und dem Wort mens – also dem Wort für den menschlichen Geist. Erkenntnis ist ein Prozess des Messens, also des Vergleichens, zwischen dem, was als Unbekanntes auf uns zukommt, und dem, was wir schon kennen. Erkennen ist ein Suchen von Proportionen, zwischen dem Maßstab, den wir schon haben, dem, was bekannt ist, und dem Gemessenen, dem, was als unbekannt auf uns zukommt. Erkennen ist also ein Zusammenbringen von Maß und Gemessenem (mensura und mensuratum). Ziel des Erkenntnisprozesses ist es, die Einheit von Maß und Gemessenem zu bewirken. Dennoch ist gerade dies unmöglich, denn es würde das Ende der Erkenntnis sein. Obwohl diese Einheit das Ziel ist, kann sie per se nicht erreicht werden, ohne menschliche Erkenntnis aufzuheben. Jeder der erkennt, setzt diese Einheit voraus, denn er sucht diese Einheit. Jedoch muss er zugleich einsehen, dass diese Einheit nie erreicht werden kann. In einer späteren Schrift beschreibt Cusanus dies als das Paradox des Suchens – wenn wir etwas suchen, wissen wir was wir suchen, sonst würden wir einfach so herum laufen ohne Bestimmtheit – doch wir wissen auch nicht was wir suchen, denn sonst würden wir nicht suchen, und es schon wissen.14 Schon sehr früh in dieser Analyse stellt Cusanus fest, dass es etwas im Raum des menschlichen Erkennens gibt, das dieses Netzwerk der Proportionalität der Erkenntnis zu zerreißen droht. Fast wie bei Descartes, 200 Jahre später (in seinen Méditations métaphysiques), beobachtet Cusanus, dass der Gottesgedanke diesen Bedingungen der Proportionalität nicht entspricht. In der Tradition des unum argumentum des Anselm von Canterbury, beobachtet Cusanus, dass der Begriff des maximum, des Größten, wenigstens eine Möglichkeit des menschlichen Geistes darstellt. Für Cusanus ist es jedoch

vel difficili existit; propter quod infinitum ut infinitum, cum omnem proportionem aufugiat, ignotum est. Proportio vero cum convenientiam in aliquot uno simul et alteritatem dicat, absque numero intelligi nequit. Numerus ergo omnia proportionabilia includit. Non est igitur numerous in quantitate tantum, qui proportionem efficit, sed in omnibus, quae quovismodo substantialiter aut accidentaliter convenire.« 13 Leon Battista Alberti: De pictura I,18, a cura di Sinisgalli, Rome 2007, 158: »Nam magnum, parvum, longam, breve, altum, infimum, latum, arctum, clarum, obscuram luminosum, tenebrosum et huiusmodi omnia, quae cum possint rebus adesse et non adeese, ea philosophi accidentia nuncuparunt, huiusmodi sunt ut omnis earum cognitio fiat comparatione. […] Inest enim in comparandis rebus vis, ut quid plus, quid minus, quidve aequale adsit, intelligamus. […] Fit quidem comparatio ad res imprimis notissimas.« 14 Complementum Theologicum (h X/2a n.13). Es mag wohl nicht zufällig sein, dass gerade in dieser Schrift die Mathematik als Spiegel für die menschliche Seele entfaltet wird – denn auch die Mathematik ist bekanntlich für Cusanus eine menschliche Konstruktion, siehe: Inigo Bocken: Die Zahl als Grundlage der Bedeutung bei Nikolaus von Kues, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 29 (2005), 265–279.

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klar, dass der Superlativ maximum sich den komparativen Verhältnissen des menschlichen Erkennens entzieht. Jedes Mal, wenn wir das maximum denken, haben wir es schon nicht mehr gedacht; denn dann haben wir etwas anderes gedacht, das nicht mehr das Größte ist. Es gibt nämlich etwas außerhalb dessen, was wir als maximum denken, nämlich unsere Maßstäbe der Erkenntnis. Es ist genau die anselmianische Argumentation, welche Cusanus verfolgt, doch wird sie bei ihm zu einer Philosophie des Geistes transformiert (man könnte darüber diskutieren ob dies bei Anselm auch schon der Fall war). Der Superlativ des maximum ist ein Gedanke, der innerhalb des Raumes des menschlichen Geistes präsent ist, der jedoch als ein Spiegel funktioniert, in dem die Komparativität der Erkenntnis sichtbar wird. Denn er ist Ausdruck dessen, dass wir nicht nur in der Lage sind die komparativen Verhältnisse zu übersteigen, sondern vor allem, dass wir uns eigentlich immer schon innerhalb eines Raumes bewegen, der umfassender als die komparativen Erkenntnisverhältnisse ist. Maximum ist ein Grenzgedanke, der uns als Spiegel einiges über unsere Erkenntnistätigkeit sagt. Dieser Spiegel, so wird Cusanus sich nach und nach immer mehr bewusst, gehört selbst wieder zum Raum dieser Tätigkeit. Das maximum ist nicht irgendein Begriff, der von außen zu unserer Erkenntnispraxis hinzukommt, sondern er ist sozusagen der Fluchtpunkt, der in jedem Akt der Erkenntnis präsent ist. Es ist in diesem Sinne ein kritischer Punkt – Cusanus spricht in diesem Hinblick von docta ignorantia, dem Wissen des Nichtswissens –, da das eigentliche Ziel des Erkennens nicht erreicht ist, dass man etwas besser erkennen kann, als man es aktuell tut. Am Ende des ersten Buches von De docta ignorantia scheint Cusanus sich dessen voll bewusst zu sein. In De docta ignorantia erkennt Cusanus, dass auch das göttliche Maximum nicht einfach der objektive Grund aller Erkenntnis ist, sondern dass die eröffnende Dynamik, die er im Spiegel des maximum-Begriffs entdeckt hat, eigentlich in jeder menschlichen Artikulation anwesend ist, in allen Begriffen und Worten. Dies wird klar, wenn Cusanus betont, dass maximum nicht der ultimative Gottesname ist, sondern dass alle Namen Gottesnamen sein können, auch die heidnischen polytheistischen usw. Cusanus entdeckt, dass die Differenz zwischen dem, was wir aktuell wissen, und dem, was wir nicht wissen, so fundamental ist, dass sie mit dem Begriff maximum nicht geschlossen werden kann.15 Der Grund der Erkenntnis ist für Cusanus also die konkrete Tätigkeit des Erkennens selbst. Während Cusanus am Anfang seiner Suche noch davon ausging, dass er mit dem Gottesbegriff des maximum den ultimativen Spiegel aller Erkenntnis gefunden hat, der die Unruhe des nie endenden Vergleichens stabilisieren könnte, so versteht er schon am Ende des ersten Buches von De docta ignorantia, dass auch dieser Grund wiederum ein Zeichen ist oder, wie er Hermes Trismegistos zitierend sagt, ein Gottesname. Es scheint sich zu ergeben, dass die spiegelnde Bedeutung dieser Gottesnamen gerade in ihrer destabilisierenden Kraft liegt: Wenn wir das maximum zu denken versuchen, denken wir nicht mehr das maximum – und dies gilt eigentlich für alle Namen und Begriffe, die 15

De docta ignorantia I c.24 (h I p.48, n.74).

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Menschen zur Verfügung stehen. Es ist genauso wie mit den Bildern, die von dem Maler gemalt werden, um sich selbst zu malen: manche Bilder sind lebendiger, andere sind eher tot – doch es gibt letztendlich kein definitiv bestimmtes Kriterium, diese zu unterscheiden, es sei denn die Praxis des Nennens, der Umgang mit den Namen. Namen haben erst dann ihre spiegelnde Bedeutung, wenn sie die Menschen, die sie nennen, auch tatsächlich in Bewegung setzen, sie in die göttliche Bewegung involvieren. Wenn es stimmt, dass in allen Namen die gleiche Dynamik aufkommt, die Cusanus anlässlich des Gottesbegriffes maximum hervorgehoben hat, könnte schnell der Verdacht aufkommen, dass es überhaupt keinen Unterschied mehr gibt zwischen dem einfachen Sprechen und der spiegelnden Reflexion. Oder in cusanischer Begrifflichkeit: wenn der Mittelpunkt überall ist, ist er auch nirgendwo. Cusanus hat auf diesen Einwand zwar schon geantwortet, dass es nur Gott vorbehalten ist, die Wirklichkeit so zu betrachten, dass der Mittelpunkt überall zugleich ist, und dass wir dies nur von einem bestimmten Mittelpunkt im wissenden Nichtwissen erahnen können. Dennoch bleibt die Frage, wie dies dann wiederum praktisch aussieht (denn auch die philosophische Fragestellung ist wiederum eine Praxis). Diese Frage möchte ich angehen mit der Beobachtung, dass Cusanus in seinen philosophischen Schriften immer wieder Bezug nimmt auf das, was er vorher gedacht hat. Er wiederholt am Anfang jeder Schrift fast gebetsmühlenhaft, dass er erst jetzt verstehe, was er früher gemeint habe mit z. B. der coincidentia oppositorum, mit wissendem Nichtwissen usw. Diese Wendung wird immer mit einem Gestus hervorgebracht, als ob jetzt die definitive Formel gefunden sei. Endlich habe ich verstanden, was ich vorher meinte, so lautet – ungefähr – die Formel, die Cusanus immer wieder benutzt. Später ergibt sich jedoch, dass die Suche doch noch nicht abgeschlossen war. Ich glaube, dieser Gestus ist mehr als eine äußere Form, mehr als eine Floskel. Er sagt vielmehr etwas über die Art und Weise, wie Cusanus über das Sprechen über den Grund nachdenkt. Zu seinen Entdeckungen gehört, wie wir gesehen haben, die Einsicht, dass das Nennen der Gottesnamen eine Praxis darstellt. Cusanus schließt daraus, dass der Mensch auch in der Lage ist, neue Gottesnamen zu schaffen – wie ein Künstler, der immer wieder in der Lage ist, neue Bilder zu schaffen. Ich möchte im Schlussteil auf einen Namen für Gott eingehen, den Cusanus fast am Ende seines Lebens konstruiert hat, und der ihm – wie vorher auch andere Namen – endlich zeigt, was es heißt, über den letzten Grund der Dinge nachzudenken. Von »Nichtsanderes« ist die Rede – non-aliud – wie er diesen Begriff in seiner Schrift Directio speculantis sive de li non-aliud einführt.

3. Nichtanderes Die Schrift De li non-aliud sive directio speculantis hat Cusanus aller Wahrscheinlichkeit nach im Jahre 1463 geschrieben, also fast am Ende seines Lebens. Diese Phase im Leben des Cusanus wird gekennzeichnet von einer ungeheuren Produktivität – immer wieder schreibt er Bücher, in denen er zurückblickt auf seine vorherigen philosophischen

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Suchwege. Er fasst zusammen, was er eigentlich gemacht hat, wenn er all diese begrifflichen Anstrengungen gemacht hat. So geschieht es auch in De li-non-aliud, welche, nicht ganz ohne Ironie, als ein Tetralog verfasst ist, einem Dialog mit vier Gesprächspartnern, drei philosophisch interessierten jüngeren Männern, die mit dem alternden Philosophen ins Gespräch treten. Die Thematik des Grundes aller Gründe ist auch hier wieder Thema, diesmal jedoch als die Suche nach der Definition, die alles – und also sich selbst (se ipsa) definiert und die uns auf unsere eigene Tätigkeit hinweist. Diese ganz abstrakte Frage, die fast an Hegels sich selbst bewegende Begriffe erinnert, wird jedoch in einem ganz konkreten Kontext des Freundesgesprächs entfaltet. Die Schrift fängt dabei nicht ganz ohne Ironie an, etwas was man bei einem mittelalterlichen Philosophen nicht wirklich erwartet. Ich zitiere die Anfangssätze: »Nikolaus:

Dich frage ich zuvörderst danach: Was ist es, was uns vor allem etwas wissen lässt? Ferdinand: Die Definition. Nikolaus: Recht geantwortet! Denn die Definition ist eine Aussage oder eine Sinnbestimmung. Doch woher stammt die Bezeichnung Definition? Ferdinand: Vom Definieren, da sie alles definiert. Nikolaus: Ausgezeichnet! Wenn folglich eine Definition alles definiert, definiert sie dann auch sich selbst? Ferdinand: Durchaus, da sie nichts ausschließt. Nikolaus: Siehst du also, dass eine Definition, die alles definiert, nichts anderes ist als das Definierte? Ferdinand: Ich sehe es, weil sie die Definition ihrer selbst ist. Aber welche jene sei, das vermag ich nicht zu sehen. Nikolaus: Sehr klar habe ich es dir schon zum Ausdruck gebracht. Das ist genau der Punkt, von dem ich sagte, dass wir ihn nicht beachten, indem wir in der fliegenden Hast der Jagd am Gesuchten vorbeilaufen. Ferdinand: Wann hast du es zum Ausdruck gebracht? Nikolaus: Jetzt eben, als ich sagte, die Definition, die alles definiert, sei nichts anderes als das Definierte. Ferdinand: Ich verstehe dich noch nicht. (4) Nikolaus: Das Wenige, das ich sprach, ist leicht durchforscht; in ihm wirst du finden: ›nichts anderes‹. Wenn du aber die Schärfe deines Geistes mit ganzem Eifer auf eben dieses ›nichts anderes‹ richtest, wirst du mit mir in ihm die Definition sehen, die sich und alles definiert.«16

16 De non aliud n.3 (Hg. von Klaus Reinhardt, Jorge M. Machetta und Harald Schwaetzer in Verbindung mit Claudia D’Amico, Martín D’Ascenzo, Anke Eisenkopf, José González Ríos, Cecilia Rusconi und Kirstin Zeyer, Münster 2011): »Nicolaus: Abs te igitur in primis quaero: quid est quod nos apprime facit scire? Ferdinandus: Definitio.

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Darauf entschließen sich die Gesprächspartner, sich für den Rest der Zeit mit diesem Nichtsanderes zu beschäftigen – die Definition, die eigentlich schon da war, ohne dass wir es sehen, die in der Praxis der Betrachtung der Welt immer schon vorgegeben ist. Das Nichtsanderes erweist sich als die gesuchte Definition aller Dinge. Denn sie ist die genaueste Definition, die mit der größten Präzision, die denkbar ist, definiert: Die ultimative Definition der Erde lautet dann: Die Erde ist nichts anderes als die Erde; diejenige des Mondes: Der Mond ist nichts anderes als der Mond; diejenige des Körpers: Der Körper ist nichts anderes als der Körper usw.17 Sogar für das Andere gilt: Das Andere ist nichts anderes als das Andere. Und wie selbstverständlich: Nichtanderes ist nichts anderes als Nichtanderes. Gleich kommt die Frage auf, welchen Sinn es hat, eine solche Definition zu schaffen. Ist es nicht ein tautologisches Verfahren, ein Wortwitz ohne Bedeutung? Es mag klar sein, dass dieser Begriff, diese Definition – die ›alles abschließt‹, ähnliche Züge hat, wie der Begriff des maximum. Er stellt die ultimative Bedeutung aller Dinge dar, den letzten Grund aller Bedeutung. Zugleich scheint dieser Begriff nichts Neues an Inhalt hinzuzufügen. Dennoch scheint es für Cusanus gerade deshalb sinnvoll, eine Reflexion über Nichtanderes zu entfalten. Doch, genau wie dies beim Begriff des maximum der Fall war, versteht er das Nachdenken über Nichtanderes als eine Praxis, ein Tun, das den Geist in eine bestimmte Richtung führt (directio speculantis). Denn dieser Begriff, diese Definition konfrontiert uns mit der Tatsache, dass, wenn wir etwas denken, wir eigentlich immer auch etwas anderes denken als das, was wir zu denken versuchen. Die Definition des non-aliud weist uns hin auf die unaufhebbare Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen signum und significatum, obwohl wir in der Praxis des Definierens gerade die Einheit dieser beiden zu bestimmen versuchen. Die Definition ›Nichtanderes ist nichts anderes als Nichtanderes‹ mag zwar bedeutungslos erscheinen, sie weist uns jedoch hin auf etwas, was all unseren Bedeutungen innerhalb der menschlichen Praxis zugrunde liegt, nämlich, dass wir ständig mit dieser Differenz zu tun haben und dass wir deshalb niemals davon ausgehen können, dass wir die ultimative Bedeutung von etwas in der Wirklichkeit definitiv zum Ausdruck bringen können. N.: F.: N.: F.: N.: F.: N.:

Recte respondes; nam oratio seu ratio est definitio. Sed unde dicitur definitio? A definiendo, quia omnia definit. Bene sane! Si igitur omnia definit definitio, et se ipsam igitur definit? Utique, cum nihil excludat. Vides igitur definitionem omnia definientem esse non aliud quam definitum? Video, cum sui ipsius sit definitio. Sed quaenam sit illa, non video. Clarissime tibi ipsam expressi. Et hoc est id, quod dixi nos negligere in venationis cursu quaesitum praetereuntes. F.: Quando expressisti? N.: Iam statim, quando dixi definitionem omnia definientem esse non aliud quam definitum. F.: Nondum te capio. N.: Pauca, quae dixi facile rimantur in quibus reperies non-aliud; quodsi toto nisu mentis aciem ad li non-aliud convertis, mecum ipsum definitionem se et omnia definientem videbis.« 17 Ebd.

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Der Begriff non-aliud ist also ein Spiegel, der uns auf die Grundstruktur unserer eigenen Tätigkeiten hinweist. Die Differenz zwischen signum und significatum ist und bleibt Bedingung all unserer Praktiken, wir können nicht umhin. Dennoch sind wir Menschen in der Lage, Begriffe zu bilden, die diesen Bedingungen zwar nicht entzogen sind, die jedoch die menschliche Tätigkeit in einer neuen Perspektive darstellen. Dieser Spiegel weist uns darauf hin, dass wir in der Praxis unseres Geisteslebens immer damit beschäftigt sind, die Kluft zwischen signum und significatum zu überbrücken und dass es dabei immer und ständig unendlich viele andere Möglichkeiten gibt als die, die wir aktualisieren. Dies heißt dann auch, dass der Begriff des non-aliud zwar auf einen letzten Grund hinweist, dass es aber dennoch immer andere Möglichkeiten gibt, diesen Begriff zu artikulieren. Kurz gefasst: die Praxis – auch die Praxis des Denkens, des Definierens, des Bezeichnens – begründet sich selbst, indem sie tatsächlich vollzogen wird. Es gibt keinen allgemeinen Begriff, der über all diesen Begriffen steht. Das Gemeinsame – der letzte Grund – ist in diesem Sinne sozusagen leer, doch diese Leere ist eigentlich auch eine Überfülle an Möglichkeiten der Praxis. Es ist deshalb nicht umsonst, dass die Schrift De li-non-aliud in Dialogform geschrieben wurde, denn es ist nur in der Praxis der Auseinandersetzung, des Sprechens, möglich, dass dieser gemeinsame Boden realisiert wird. In diesem Sinne ist Philosophie für Cusanus diejenige Praxis, die Gottesnamen hervorbringt, Namen, die auf die Paradoxa unserer Erkenntnis und unserer Wahrnehmung hinweisen, sie aber nicht aufheben. Sich mit dieser Praxis der Philosophie auseinanderzusetzen befördert die Möglichkeit, dass wir nicht vorschnell zu wissen glauben, was der Fall ist, wie die Wahrheit aussieht. Es befördert die Möglichkeit, dass wir die zu schnell geschlossene Kluft zwischen Zeichen und Bezeichnetem wieder öffnen können und weiter ins Gespräch tragen, neue Wege aus festgefahrenen Situationen zu finden.

Der »Grund der Seele«. Über Entstehung und Verlauf eines ästhetischen Diskurses im 18. Jahrhundert Tanehisa Otabe

Das Wort »Grund«, das im Titel unseres Kolloquiums »Gründe ohne Grund« steht, entspricht dem lateinischen »ratio«, wie der Ausdruck »ratio sufficiens« mit »zureichender Grund«1 übersetzt wird, hat aber auch die Bedeutung »fundus«. Ein typisches Beispiel dafür wäre der Ausdruck »Grund der Seele«, der mit »fundus animae« übersetzt wird. Wenn man vom mystischen Gebrauch des Wortes »Seelengrund« absieht, ist das Wort »fundus animae« der von Alexander von Baumgarten gewählte Fachausdruck,2 der sein Konzept der Ästhetik als »Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis (scientia cognitionis sensitivae)« bzw. als »unterer Erkenntnislehre (gnoseologia inferior)«3 stützte und den ästhetischen Diskurs im 18. Jh. von Moses Mendelssohn bis Herder, indirekt sogar bis Schelling, grundlegend beeinflusste. Im Folgenden geht es darum, die Veränderungen der Bedeutung des Begriffes »Grund der Seele« genealogisch zu klären, wobei ich mich darauf fokussiere, ob und wie sich der »Grund der Seele« dem »zureichenden Grund« entzieht.4

1. Leibniz – der Grund der Seele und dessen Grund Um den Hintergrund von Baumgartens Begriff »Grund der Seele« zu verstehen, muss man auf Leibniz zurückgehen, denn dem »Grund der Seele« ähnelnde Ausdrücke finden sich schon bei ihm. Die intellektuellen bzw. notwendigen Wahrheiten, so Leibniz, existieren »im Grunde unserer Seele, ohne in sie [durch Erfahrung bzw. Sinne] hineingebracht worden zu sein (dans le fond5 de nos âmes, sans y être mise)«.6 Hiermit wendet sich Leibniz gegen den Locke’schen Empirismus und verteidigt die Theorie der eingeborenen Ideen. Alexander Baumgarten: Metaphysica, editio IV, Halle 1757, § 21. Ebd., § 511. 3 Alexander Baumgarten: Ästhetik, übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, § 1. 4 Zum Begriff des »Grundes der Seele« siehe Hans Adler: Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: DVjs 62 (1988), 197–220 und ders.: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder, Hamburg 1990, hier S. 64. Adler übersieht dabei, dass Leibniz den Begriff »Grund der Seele« verwendet. 5 Leibniz verwendet oft den Ausdruck »fonds« statt desjenigen »fond«. Bei den Zitaten aus Leibniz wird seine Schreibweise beibehalten. 6 Alle Zitate aus Leibniz-Werken werden mit Bezug auf Die philosophischen Schriften, hg. von Carl Immanuel Gerhardt, Berlin 1875–90, ND: Hildesheim 1978, gekennzeichnet. Die deutschen Über1 2

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Leibniz führt als Beispiel Platons Dialog Menon an, in dem Sokrates »ein Kind, ohne ihm etwas zu lehren, nur durch Fragen zu schwer verständlichen Wahrheiten führt«.7 Dieses Beispiel zeugt davon, dass selbst ein Kind nur durch Beantwortung von Fragen die allgemeingültigen geometrischen Wahrheiten »erwerben« kann. Dass ein Kind sie »aus seinem eigenen Grund zu entnehmen vermag«, bedeutet aber nicht, dass es nicht gefragt zu werden braucht. Es muss außerdem sogar die entsprechenden Figuren zeichnen können. In der Tat können wir »keinen abstrakten Gedanken haben, der nicht einer sinnlichen Sache bedürfte«, denn laut Leibniz ist die Verbindung der Seele mit dem Körper die notwendige Existenzbedingung des Menschen. Das hindert aber nicht, dass »der Geist die notwendigen Wahrheiten aus sich selbst nimmt«.8 Die Sinne sind zwar dazu nötig, um dem Geist »die Gelegenheit und Aufmerksamkeit« für die notwendigen Wahrheiten zu geben, reichen aber nicht aus, »um deren Notwendigkeit einsichtig zu machen«. In diesem Sinne besitzt der Geist »eine Anlage (Disposition), […] um sie aus sich selbst zu entnehmen«.9 Genauer gesagt, der »Grund der Seele« betrifft nicht nur die intellektuellen bzw. notwendigen Wahrheiten. Laut seiner Lehre von der prästabilierten Harmonie hat »Gott die Seele oder jede wirkliche Einheit dieser Art von Anfang an so geschaffen, dass ihr durch eine vollkommene Spontaneität in Anbetracht ihrer selbst und doch in vollkommener Übereinstimmung mit den Dingen außer ihr alles aus ihrem eigenen Grunde entstehen (naitre de son propre fonds) muss«.10 D. h., nicht nur die notwendigen Wahrheiten, sondern alle zufälligen Sachen, die der Seele begegnen, ergeben sich aus ihrem eigenen Grund: »Unsere Ideen, sogar diejenigen von sinnlichen Dingen, stammen aus unserem eigenen Grunde (naitre de nostre fonds).«11 Die Seele ist also »die Quelle und der Grund der Ideen (fons et fundus idearum)« bzw. »der Grund der Aktivitäten (activitatum fundus)«.12 Daraus folgt, dass Leibniz’ Begriff des »Grundes der Seele« die Spontaneität derselben rechtfertigt. Warum wohnt nun der Seele ein solcher Grund inne? Mit anderen Worten, welches ist der Grund vom »Grund der Seele«? Leibniz zufolge lässt er sich nicht in den zufälligen Dingen finden: »So muss der zureichende Grund«, d. h. Gott, »außerhalb dieser Reihe der kontingenten Dinge liegen«.13 Der zureichende Grund ist also außerhalb von und vor dem Begründeten. setzungen stammen, soweit nicht anders angemerkt, aus den Philosophischen Schriften (Frankfurt/M. 1996), teilweise verändert vom Verfasser. Abkürzungen – Monad.: Monadologie, NA: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, PNG: In der Vernunft begründete Prinzipien der Natur und Gnade. Stellen aus den Neuen Abhandlungen werden zweifach angegeben: Nach dem Verweis auf die Gerhardt-Ausgabe folgt die Angabe des entsprechenden Abschnitts nach Leibniz’ eigener Einteilung der Neuen Abhandlungen in Bücher, Kapitel und Paragraphen. Hier Bd. V, 73; NA, I.1.iv. 7 Ebd., 73; NA, I.1.v. 8 Ebd., 74; NA, I.1.v. 9 Ebd., 76; NA, I.1.v. 10 Ebd., Bd. VI, 484. 11 Ebd., Bd. V, 16 (meine Übersetzung). 12 Ebd., Bd. II, 172, 171 (meine Übersetzung). 13 Ebd., Bd. VI, 602; PNG, § 8, hervorgehoben von T. O., vgl., Bd. VI, 613; Monad., § 37.

Der »Grund der Seele«. Über Entstehung und Verlauf eines ästhetischen Diskurses

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2. Von Leibniz bis Baumgarten – die kleinen Wahrnehmungen und die Sinnlichkeit In diesem Abschnitt gehe ich darauf ein, wie Leibniz’ rationalistische Philosophie Baumgartens Ästhetik als »Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis« vorbereitete. In seiner Abhandlung »Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen« (1684) formuliert Leibniz die Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit der Erkenntnis wie folgt: Der Grad von Klarheit und Deutlichkeit der Erkenntnis wird davon bestimmt, inwieweit eine Vorstellung auf ihre Merkmale hin analysiert wird, d. h., die Erkenntnis steigt durch die Analyse von der dunklen zur adäquaten Stufe empor. Dunkel ist die Erkenntnis, wenn sie zum Wiedererkennen der dargestellten Sache nicht ausreicht. Klar ist dagegen die Erkenntnis, wenn sie hinreicht, um die Sache wiederzuerkennen. Deutlich ist die Erkenntnis, welche die Sache durch Merkmale von allen anderen ähnlichen Sachen unterscheiden kann. Die Erkenntnis, die dazu nicht hinreicht, ist zwar klar, aber nicht deutlich; sie ist verworren. Wenn man hingegen die bis zum Ende durchgeführte Analyse kennt, so ist die Erkenntnis nicht nur deutlich, sondern auch adäquat.14 Die Seele, der nur dunkle Vorstellungen zukommen, heißt »monade toute nue« (Übersetzung nach Köhler »die ganz bloße Monade«,15 nach Gottsched »die schlummernde Monade«,16 nach Baumgarten die »im tiefen Schlaf liegende Monade«17 und nach Meier »die schlafende Monade«18), diejenige hingegen, »deren Perzeption deutlicher und mit Erinnerung verbunden ist«, die Seele im eigentlichen Sinne.19 Bei denjenigen Monaden, »deren Perzeption deutlicher und mit Erinnerung verbunden ist«, existieren jedoch immer dunkle Ideen. Es gibt keine Monaden, die von jeglicher Dunkelheit frei sind, Gott ausgenommen. Hier ist hervorzuheben, dass diese Stufe von Klarheit und Deutlichkeit der Erkenntnis einen Rahmen für ein künftiges Fach Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis bildet. In der oben erwähnten Abhandlung nennt Leibniz zwei Beispiele verworrener Erkenntnis. Erstens erkennen wir »Farben, Gerüche, Geschmacksempfindungen und andere den Sinnen eigentümliche Gegenstände«, d. h. die sinnlichen Qualitäten, zwar klar, aber nicht deutlich, denn wir können sie nicht definieren. Wenn wir gefragt werden, was z. B. rot ist, können wir nur das Zeugnis der Sinne, aber keine sprachlich formulierbaren Eigenschaften heranziehen. Zweitens, so Leibniz, »erkennen Maler und andere Künstler angemessen, was richtig und was fehlerhaft gemacht

Ebd., Bd. IV, 422. Gottfried Wilhelm Leibniz: Lehrsätze von den Monaden und von der schönen Übereinstimmung zwischen dem Reiche der Natur und dem Reiche der Gnade, in: Des Freiherrn von Leibniz kleinere philosophische Schriften, Jena (1740), 12, § 23. 16 Historisches und kritisches Wörterbuch, versehen von Johann Christoph Gottsched, Bd. IV, Leipzig 1744, 550. 17 Alexander Baumgarten: Metaphysica, editio IV, Halle 1757, § 401. 18 Alexander Baumgarten: Metaphysik, ins Deutsche übersetzt von Georg Friedrich Meier (1783), mit einer Einführung von Dagmar Mirbach, Jena 2004, § 289. 19 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. VI, 610 f.; Monad., §§ 19, 23. 14 15

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ist, ohne dass sie oft den Grund ihres Urteils angeben (judicii sui rationem reddere) können«. Treffende Urteile des Künstlers beruhen also auf dem sogenannten Ich-weißnicht-was (nescio quid, je ne sais quoi), das im 17. Jh. als Prinzip des Geschmacks galt. Hier geht es um eine Art von evidenter Erkenntnis, die der intellektuellen Analyse vorangeht bzw. sich dieser entzieht.20 Vor einem solchen Hintergrund stellt Baumgarten fest, dass die Schönheit in der verworrenen Erkenntnis besteht.21 Die verworrene Erkenntnis ist dadurch gekennzeichnet, dass die sie ausmachenden Merkmale nur sehr dunkel vorgestellt werden. Eindrücke wie etwa Farben oder Meeresgetöse sind das »Ergebnis mehrerer […] kleiner Wahrnehmungen«,22 deren man sich nicht als einzelner bewusst werden kann.23 In diesem Sinne wird die verworrene Erkenntnis durch die dunklen, kleinen Wahrnehmungen ermöglicht, die unterhalb der Reizschwelle zum Bewusstsein liegen. Mit anderen Worten, die Sinnlichkeit setzt das sinnlich nicht Wahrnehmbare voraus. In solchen dunklen Vorstellungen findet nun Baumgarten den Grund der Seele. In der Metaphysica heißt es: »Der Inbegriff der dunkeln Vorstellungen ist der Grund der Seele (fundus animae).«24

3. Baumgarten – die kleinen Wahrnehmungen als der Grund der Seele In der »Metaphysik« schreibt Baumgarten: »Der Zustand der Seele, in welchem die herrschenden Vorstellungen dunkel sind, ist das Reich der Finsternis (regnum tenebrarum), in welchem dieselben aber klar sind, das Reich des Lichts (regnum lucis).«25 Die Metaphern von Licht und Finsternis finden sich auch bei Chr. Wolff.26 Baumgarten hält aber die Dunkelheit der Vorstellung nicht für einen Defekt, wie Wolff. Denn Baumgartens Konzept der Ästhetik setzt zwar Leibniz’ Theorie über die Stufen der Erkenntnis voraus, erneuert sie aber zugleich. Baumgarten gliedert die Klarheit der Vorstellung mit Hilfe von Leibniz’ Begriff der »kleinen Wahrnehmungen« in zwei Arten, nämlich die intensive und die extensive Klarheit.27 Eine Vorstellung wird intensiv klar, wenn man sie auf ihre Merkmale hin

Ebd., Bd. IV, 422. Alexander Baumgarten: Ästhetik, § 7, 14-16. 22 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. V, 470; NA, IV.17. xiii. 23 Zum Begriff der »petites perceptions« siehe Hans Strahm: Die »petites perceptions« im System von Leibniz, Bern und Leipzig 1930, Ernst Bloch: Aus der Begriffsgeschichte des (doppelsinnig) Unbewussten, in: Gesamtausgabe in 16 Bänden, Frankfurt/M. (1969), Bd. X, 86–131, Thinking the Unconscious. Nineteenth-Century German Thought, ed. by Anglus Nicholls & Margin Liebscher, Cambridge 2010, vor allem Kap. 1 und meinen Aufsatz, Der Begriff der ›petites perception‹ von Leibniz als Grundlage für die Entstehung der Ästhetik, in: JTLA 35 (2010), 41–53. 24 Alexander Baumgarten: Metaphysica, editio IV, Halle 1757, § 511. Cf. Alexander Baumgarten: Metaphysik, ins Deutsche übersetzt von Georg Friedrich Meier (1783), mit einer Einführung von Dagmar Mirbach, Jena 2004, § 378. 25 Alexander Baumgarten: Metaphysica, § 518, Metaphysik, § 380. 26 Christian Wolff: Psychologia empirica, Frankfurt/O. 1732, §§ 35–36. 27 Alexander Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnulis ad poema pertinentibus (Phi20 21

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analysiert und sich die Letzteren klar vorstellt. Die intensiv klare Vorstellung ist also nichts anderes als die deutliche, welche die logische Vollkommenheit der Erkenntnis ausmacht. Insofern folgt Baumgarten Leibniz’ Argument. Neu ist die Einführung der zweiten, extensiven Klarheit als Gebiet des Ästhetischen. In den »Philosophischen Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes« (1735) heißt es: »Wenn in der Vorstellung A mehr vorgestellt wird als in B, C, D usw., dennoch alle verworren sind, so wird A extensiv klarer als die übrigen sein.«28 Diese Vorstellung heißt »extensiv« klar, weil es sich dabei um eine Menge von Merkmalen handelt. Extensiv klar wird also die Vorstellung, wenn sie mehrere Merkmale erhält, die nicht einzeln analysiert, sondern gemeinsam und damit verworren vorgestellt werden. Die extensiv klare Vorstellung, die sich der begrifflichen Analyse entzieht, ist also mit mehreren, nicht einzeln analysierbaren Nebenvorstellungen ausgestattet, was ihren eigenen, materiellen Reichtum ausmacht. Baumgarten nennt diese Vorstellung »praegnans«, d. h. »vielsagend«.29 Leibniz hat, wie gesehen, die Stufen der Erkenntnis als vom dunklen zum adäquaten Grad steigend betrachtet. Dagegen gliedert Baumgarten die Klarheit in zwei Arten, so dass sich die vom dunklen zum klaren Grad gestiegene Erkenntnis in zwei Zweige teilt, wovon die eine die intensiv klare, d. h. deutliche, die andere die extensiv klare, d. h. prägnante Vorstellung erstrebt. Damit führt Baumgarten trotz der Übernahme des Leibniz’schen Begriffs der »kleinen Wahrnehmungen« eine Leibniz fremde, neue Dualität zwischen dem Intellektuellen und dem Sinnlichen, dem Logischen und dem Ästhetischen bzw. dem Formellen und dem Materiellen ein. In der Ästhetik heißt es: »Ich meine in der Tat, dass es den Philosophen nunmehr in höchstem Maße offenkundig sein kann, dass in der Vorstellung und in der logischen Wahrheit nur mit einem Verlust an vieler und großer materialer Vollkommenheit (sc. extensiver Klarheit) zurechtzubringen war, was auch immer ihnen an formaler Vollkommenheit (sc. intensiver Klarheit) innewohnt. Denn was ist die Abstraktion, wenn nicht ein Verlust?«30 Wegen ihrer Endlichkeit kann die menschliche Erkenntnis die Individuen und das Allgemeine (bzw. die Abstrakta) nicht gleichzeitig erkennen, wie die göttliche, sondern sieht sich einem Entweder-oder gegenüber. So wendet sich Baumgarten gegen die bisherigen Philosophen, die nicht zur Einsicht kamen, dass sich die Erkenntnis in zwei Richtungen vervollkommnen kann und muss, und rechtfertigt die »kleinen Wahrnehmungen« als das, was zur der sinnlichen Erkenntnis eigenen extensiven Klarheit beiträgt. In der Vorlesung zur Ästhetik heißt es: »Unsere Seele ist so beschaffen (welches man vor der Verbesserung der Psychologie nicht bemerkte), dass eine erstaunende Menge von Vorstellungen im Grund derselben dunkel bleiben, dass sie aber oft zu einem geringen Grade

losophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Heinz Paetzold, Hamburg 1983), § 41, cf. Metaphysica, § 531, Ästhetik, §§ 618, 885. 28 Alexander Baumgarten: Meditationes …, § 16. 29 Alexander Baumgarten: Metaphysica, § 517. 30 Alexander Baumgarten: Ästhetik, § 560.

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der Dunkelheit gelangen und sich gleichsam an das Reich der Klarheit anhängen. […] Das Reich der Klarheit und dieses Feld der dunklen Vorstellungen, das etwas an das Reich der Klarheit anrückt, geben zusammengenommen ein weites Feld für den schönen Geist.«31 Baumgartens Konzept der Ästhetik entstand also, indem er den Begriff des »Grundes der Seele« nicht wie Leibniz mit deren Spontaneität, sondern – sich den damaligen Fortschritten der empirischen Psychologie anschließend – mit den dunklen Vorstellungen verband. Der Grund der Seele ist somit nicht mehr der vom zureichenden Grund bestimmte »Grund der Ideen«, wie es bei Leibniz hieß,32 sondern das, was psychologisch zu erforschen ist, denn wir können uns dessen nicht unmittelbar bewusst werden. Der Grund der Seele wird deswegen so bezeichnet, weil deren dunkle Komponenten in den Hintergrund treten und den Grund bilden, während die klaren bzw. deutlichen Vorstellungen in den Vordergrund geraten und uns bewusst werden. Baumgarten ist sich seiner Originalität sehr bewusst, wenn er meint: »Viele, auch Philosophen, wissen von diesem Grund der Seele bisher nichts«.33 Nebenbei bemerkt, Baumgarten konzipiert die Ästhetik in Analogie zur seit Aristoteles schon lange etablierten Logik und nennt sie deren jüngere Schwester.34

4. Von Sulzer bis Herder – der Grund der Seele als Abgrund In diesem Abschnitt möchte ich zeigen, welchen Nachklang bzw. welche Innovation Baumgartens Konzept der Ästhetik von den 50er bis 70er Jahren des 18. Jh. erfuhr. Im Kurzen Begriff aller Wissenschaften und anderer Teile der Gelehrsamkeit (2. Aufl., 1759) erwähnt Johann Georg Sulzer lobend »die Wissenschaft oder Kenntnis des Schönen, welcher man den Namen der Ästhetik gegeben hat«.35 Außerdem beschreibt er die Bedeutung der empirischen Psychologie wie folgt: »Einige dieser [dunklen] Würkungen sind so beschaffen, dass man sie in der Tiefe der Seele nicht würde gewahr werden, wenn sie nicht durch entferntere Veränderungen, die von ihnen herrühren, Spuren ihres Daseins entdeckten«.36 In der Tiefe der Seele, die nichts anderes als der »Grund der Seele« im Sinne Baumgartens ist, liegen die dunkeln Wirkungen als solche unterhalb der Schwelle zum Bewusstsein, aber wenn wir ihre Spuren nicht übersehen, können wir die Tiefe der Seele indirekt erforschen. »Wolff hat«, so Sulzer, »die Würkungen des

Alexander Baumgarten: Kollegnachschrift, in: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wollfischen Philosophie und seine Beziehung zu Kant, nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Leipzig (1907), § 80. 32 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. II, 172 (meine Übersetzung). 33 Alexander Baumgarten: Ästhetik, § 80. 34 Ebd., § 13. 35 Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften und anderer Teile der Gelehrsamkeit, zweite ganz veränderte und sehr vermehrte Auflage, Leipzig 1759, §72. 36 Ebd., § 205. 31

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Verstandes beim deutlichen Denken und Urteilen fürtrefflich beschrieben.« Erfordert ist nun »die genaueste Aufmerksamkeit auf die dunkeln Gegenden der Seele (wenn man so reden kann) zu richten«.37 Die Beobachtung der »Zufälle aller Arten der Tollheit« wäre von hohem Nutzen. Im Aufsatz »Zergliederung des Begriffs der Vernunft« (1765) versucht Sulzer den »Ursprung der Narrheit« in den »in dem Innersten der Seele verborgenen Angelegenheiten« zu entdecken.38 Das Projekt Sulzers ist auch im Rahmen der Ästhetik im weiteren Sinne zu verstehen, wenn auch nicht in demselben Sinne wie bei Baumgarten, der sich auf die Schönheit konzentriert.39 Im Aufsatz »Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften« (1761) fasst Moses Mendelssohn die Bedeutung der Untersuchung der Kunst wie folgt zusammen: »In den Regeln der Schönheit, die das Genie des Künstlers empfindet, und der Kunstrichter in Vernunftschlüsse auflöset, liegen die tiefsten Geheimnisse unserer Seele verborgen. […] Wenn also der Weltweise die Spuren der Empfindungen auf ihrem dunkeln Wege verfolgt; so müssen sich ihm neue Aussichten in der Seelenlehre auftun«.40 Hierin lässt sich Mendelssohns Überzeugung erkennen, dass die Erforschung der Kunst zugleich eine psychologische Erforschung des »Grunds der Seele«41 sei. Hier sei angemerkt, dass Mendelssohn, anders als Baumgarten, bei seinen ästhetischen Untersuchungen vor allem die »Empfindungen« im Sinne der Gefühle thematisiert. Der späte Mendelssohn tut dabei einen entscheidenden Schritt. Während Leibniz die Empfindung der Lust und Unlust in Bezug auf das praktische bzw. Begehrungsvermögen behandelte,42 argumentiert Mendelssohn in seiner späteren Schrift Morgenstunden (1785) wie folgt: »Man pfleget gemeiniglich das Vermögen der Seele in Erkenntnisvermögen und Begehrungsvermögen einzuteilen, und die Empfindung der Lust und Unlust schon mit zum Begehrungsvermögen zu rechnen. Allein mich dünkt, zwischen dem Erkennen und Begehren liege das Billigen, der Beifall, das Wohlgefallen der Seele, welches noch eigentlich von Begierde weit entfernt ist«.43 Durch die spezifische Unterscheidung der Empfindung der Lust und Unlust vom Begehren führt Mendelssohn die neue Trichotomie von Erkennen, Billigen und Begehren ein, die den drei Werten des Wahren, Schönen und Guten entspricht. Während Baumgarten das neue Fach Ästhetik im Rahmen der Erkenntnisvermögen etablierte, entwirft der späte Mendelssohn aufgrund der Trennung der Empfindung der Lust und Unlust vom Begehren die Ästhetik auf seine eigene Weise. In einer kleinen Schrift von 1767 setzt sich schließlich auch Johann Gottfried Herder mit Baumgartens Ästhetik auseinander.44 1769 fertigt er Exzerpte aus Leibniz’ Neuen Ebd., § 206. Hierzu siehe Hans Adler: art. cit., hier S. 203. Johann Georg Sulzer: Vermischte philosophische Schriften, Bd. I, Leipzig 1773, 261. 39 Zum »Grund der Seele« bei Sulzer siehe ebd., 76. 40 Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1971, Bd. 1, 427. 41 Ebd., Bd. 1, 383, 394. 42 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. V, 152 f.; NA, II.20.vi. 43 Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Bd. III/2, 62. 44 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin 1877– 1913, ND: Hildesheim 1967–68, Bd. XXXII, 175–192. 37 38

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Abhandlungen über den menschlichen Verstand an, wobei er sich vor allem für den Begriff der »kleinen Vorstellungen« interessiert.45 In dem Fragment von 1767 heißt es: »Er (sc. Baumgarten) nennt […] die Logik die ältere Schwester der Ästhetik; und ich weiß nicht, ob diese […] dem Alter nach [jünger ist]; da sie (sc. die untern Erkenntnisvermögen) sich weit eher entwickeln, und auch eher müssen entwickelt werden«.46 Im Unterschied zu Baumgarten, der die Ästhetik in Analogie zur seit Aristoteles schon lange etablierten Logik konzipierte, führt Herder in die Ästhetik als eine Disziplin der Erforschung des Grunds der Seele eine genetische bzw. genealogische Sicht auf die menschliche Seele ein. Herder betrachtet die Ästhetik als »ein Stück von der nötigsten Anthropologie, da in dem Grunde der Seele unsere Stärke als Menschen besteht«.47 Genetisch betrachtet sei Baumgartens Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis nichts anderes als »ein Auswuchs der falschen philosophischen Wurzel« und verfehle also den Grund der Seele als einen Sitz des dunklen Gefühls, das der Erkenntnis genetisch vorangeht.48 Im Fragment »Von Baumgartens Denkart in seinen Schriften« (1767) zitiert Herder Mendelssohn und führt Baumgartens Konzept der Ästhetik in Mendelssohns Richtung fort.49 »[I]n diesem dunkeln Grunde«, d. h. »in der Sinnlichkeit meiner Seele, in Phantasie und Geschmack, Gefühl und Leidenschaft«, so heißt es, liegt »mein ganzes Gefühl für das Schöne und Gute«.50 Das Attribut »dunkel« nimmt Herder durchaus wörtlich und sieht in dem unergründlichen »Grund« der Seele sogar einen Abgrund: »Nun siehe in den dunkeln Abgrund der menschlichen Seele hinunter, wo die Empfindungen des Tieres zu den Empfindungen eines Menschen werden, und sich gleichsam von fern mit der Seele mischen: siehe herab in den Abgrund dunkler Gedanken, aus welchem sich nachher Triebe und Affekte, und Lust und Unlust heben«.51 Das Wesen des »Gefühl[s] des Schönen« ist folglich eine »Grundkraft, das Band, was Seele und Leib verbindet«.52 Erforderlich ist also nicht nur eine genetische, sondern auch eine physiopsychische Sicht. Nach Herder ist der Grund bzw. der Abgrund der Seele derjenige, der »die später aufgetragnen Bilder und Farben unsrer Seele oft nur gar zu sehr verändert und nur schattieret«, d. h., er gehört genetisch nicht in die Vergangenheit, sondern bleibt »als eine ewige Basis in der Seele«.53 In seinem Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (2. Teil, 1785) erklärt Herder, warum der Mensch das »Gefühl der Selbsttätigkeit« hat: »Die

Ebd., Bd. XXXII, 211–225, hier 214–216. Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Frankfurt/M. 1985–2000, Bd. I, 666. 47 Ebd., 665. 48 Ebd., 670. 49 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, Bd. XXXII, 188. 50 Ebd., 185. 51 Ebd., 186. 52 Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden, Frankfurt/M. 1985–2000, Bd. I, 672. 53 Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, Bd. IV, 33, 29. Hierzu siehe Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt/M. 2008, S. 46–51. 45 46

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Jahre seiner Kindheit sind vergessen: die Keime, die er darin empfing, ja die er noch täglich empfängt, schlummern in seiner Seele: er siehet und genießt nur den entsprossten (sic!) Stamm und freut sich seines lebendigen Wuchses, seiner Früchte tragenden Zweige«.54 Unsere Kindheit dauert in Gestalt schlummernder dunkler Vorstellungen fort und bildet eine ewige Basis für unser Leben, ja, auch als erwachsener Mensch bleibt man gleichsam ein Kind, sofern man die »Keime […] noch täglich empfängt«. Die schlummernden dunklen Vorstellungen, d. h. Leibniz’ »kleine Wahrnehmungen«, machen unsere Identität aus. Die Aufgabe des »Philosoph[en]« ist also laut Herder, die vergessene Basis, d. h. »die Genesis und den Umfang eines Menschenlebens«, zu »verfolgen« und wieder ans Licht zu bringen.55 Herders Philosophie entwickelt Baumgartens Projekt der Ästhetik, »den Grund der Seele« psychologisch zu erforschen, somit dadurch weiter, dass er ihm eine genetische bzw. genealogische und physiopsychische Komponente hinzufügt.

5. Schelling – der Grund als Mittel Zum Schluss möchte ich kurz auf Schellings Begriff des Grundes in seiner Münchener Rede »Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur« von 1807 eingehen, wo er das Charakteristische als den Grund der Schönheit bezeichnet.56 Schelling zufolge ist für die Kunsttheorie weder der Formalismus, der nur die »äußere Form« als den »Körper ohne Seele« hervorhebt, noch der Idealismus, der ausschließlich das »Geheimnis der Seele« als das »Formlose«57 würdigt, hinreichend. D. h., weder die »Schönheit der Formen« noch die »Schönheit, die […] aus der Seele fließt«, macht als solche die Kunstschönheit im wahren Sinne aus.58 Dieser Gedanke wird in der Freiheitsschrift von 1809 wie folgt formuliert: »Der Idealismus, wenn er nicht einen lebendigen Realismus zur Basis erhält, wird ein […] leeres und abgezogenes System. […] Idealismus ist Seele der Philosophie; Realismus ihr Leib: nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus. Nie kann der letzte das Prinzip hergeben, aber er muss Grund und Mittel sein, worin jener sich verwirklicht, Fleisch und Blut annimmt«.59 Auf den kunstphilosophischen Kontext übertragen, geht es Schelling also darum, Körper mit Seele, d. h. Form mit Wesen auf kunstphilosophischer Ebene zu verbinden und so den realistischen und idealistischen Standpunkt zu einer Synthese zu bringen. Der

Ebd., Bd. XIII, 343 f. hervorgehoben von T. O. Ebd., 344. 56 Zur Münchner Rede siehe meinen Aufsatz, Tanehisa Otabe: Wann spricht die schweigende, wann schweigt die sprechende Natur? Schellings Kunstphilosophie und die romantische Kunstauffassung, in: Christian Danz und Jörg Jantzen (Hg.), Gott, Natur, Kunst und Geschichte. Schelling zwischen Identitätsphilosophie und Freiheitsschrift, Wien (2011), 103–114. 57 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. von Manfred Schröter, München 1927, Bd. VII, 293, 303. 58 Ebd., 296. 59 Ebd., 356, hervorgehoben von T. O. 54 55

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»Grund« ist nach Schelling zwar eine Basis für das, was daraus entsteht, dient aber nicht als dessen Prinzip, sondern nur als Mittel. Den Grund als ein Mittel zu betrachten heißt laut Schelling nichts anderes, als das Verhältnis zwischen Wesen und Form oder Seele und Körper als eine Art von Bewegung aufzufassen. Schelling behauptet, dass ein Grenzenloses wie das Wesen zuerst durch Form begrenzt werden muss, um sich in einem Werk zu verwirklichen, denn »ohne Begrenzung könnte das Grenzenlose nicht erscheinen«.60 Die Kunst beginnt also mit dem Widerstreit zwischen dem grenzenlosen Wesen und der beschränkenden Form. Zu Anfang sind die Kunstwerke jedoch durch »die größte Strenge der Form« gekennzeichnet,61 was die erste Stufe der Kunst ausmacht und kunsttheoretisch als das »Charakteristische«62 bezeichnet wird. Doch die Form kann »ohne Wesen nicht sein« und fließt »aus ihm selbst«.63 Sie darf daher für das Wesen eigentlich nicht »beschränkend« sein.64 Das Wesen muss vielmehr dadurch, dass es die Form »völlig ausgebildet« hat, dazu gelangen, in der Form »befriedigt [zu] ruhen«.65 So entsteht die »hohe und selbstgenügsame Schönheit«,66 die die zweite Stufe der Kunst bildet. Über das Verhältnis zwischen den ersten beiden Stufen der Kunst schreibt Schelling: »Wenn wir […] diese hohe und selbstgenügsame Schönheit nicht charakteristisch nennen können, inwiefern dabei an Beschränkung oder Bedingtheit der Erscheinung gedacht wird, so wirkte in ihr das Charakteristische dennoch auch ununterscheidbar fort«.67 In diesem Sinne wird das »Charakteristische« der »tiefe[] Grund, auf dem sie [sc. die hohe und selbstgenügsame Schönheit] ruht«, genannt.68 Wie hoch die Kunst der zweiten Stufe in ihrer »erhabene[n] Schönheit«69 auch steigen mag, der tiefe Grund lässt sich nicht völlig aufheben: »Die […] Basis aller Schönheit ist die Schönheit der Form. […] Charakteristische Schönheit ist daher die Schönheit in ihrer Wurzel, aus welcher dann erst die Schönheit als Frucht sich erheben kann; das Wesen überwächst wohl die Form, aber auch dann bleibt das Charakteristische die noch immer wirksame Grundlage des Schönen«.70 Das Verhältnis zwischen Form und Wesen ist also analog der Beziehung zwischen Realismus und Idealismus in der Freiheitsschrift so zu verstehen, dass die Form als »Grund« bzw. »Basis« das Wesen stützt und das Wesen in der Form »befriedigt ruht«. In seinem Begriff des »Charakteristischen« knüpft Schelling an Goethes Abhandlung »Der Sammler und die Seinigen« (1799) an, wo es heißt, dass das Charakteristische 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

Ebd., 310. Ebd., 310. Ebd., 304. Ebd., 307, 303. Ebd., 303. Ebd., 311, 303. Ebd., 307. Ebd., 307. Ebd., 306. Ebd., 305. Ebd., 307.

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dem Schönen »zugrunde lieg[t]« wie das »Skelett« dem »lebendigen Menschen«. Der Charakter »begründet« und »bestimmt« die Gestalt, aber das Schöne ist keineswegs »eins mit dem Charakteristischen«.71 In der Auffassung, dass das Charakteristische der Schönheit zugrunde liegt, stimmt Schelling mit Goethe überein und interpretiert Goethes Gleichnis in dem Sinne, dass »das Skelett in der Natur […] nicht […] von dem lebendigen Ganzen getrennt ist; dass Festes und Weiches, Bestimmendes und Bestimmtes sich gegenseitig voraussetzen und nur miteinander sein können«.72 Der Grund »begründet« und »bestimmt« das daraus Entstehende so, dass der Grund und das daraus Entstehende bzw. Bestimmendes und Bestimmtes sich gegenseitig voraussetzen und gleichsam in einem Zirkel stehen. Der Grund steht gemäß der Münchener Rede nicht eigenständig »außerhalb« des Begründeten,73 wie es für den zureichenden Grund (die »ratio sufficiens«) von Leibniz gilt, sondern ist nur insofern der Grund, als daraus das Begründete entsteht. Umgekehrt ist das Begründete trotz seiner Abhängigkeit vom Grund »selbstgenügsam[]«, denn der Grund, in dem das Begründete »befriedigt ruht«, dient dem in den Vordergrund tretenden Begründeten nur als »Grundlage« bzw. als »Mittel« und tritt deshalb als solcher in den Hintergrund.74 So lässt sich die Charakteristik des Grundes als »fundus« zusammenfassen. Literatur Alexander Baumgarten: Aesthetica, in: Ästhetik, übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007. –: Kollegnachschrift, in: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wollfischen Philosophie und seine Beziehung zu Kant, nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Leipzig 1907. –: Meditationes philosophicae de nonnulis ad poema pertinentibus, in: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Heinz Paetzold, Hamburg 1983. –: Metaphysica, editio IV, Halle 1757. –: Metaphysik, ins Deutsche übersetzt von Georg Friedrich Meier (1783). Mit einer Einführung von Dagmar Mirbach, Jena 2004. Johann Wolfgang Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, München 1982–2008. Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., ND: Hildesheim 1967–68.

71 Johann Wolfgang Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, München 1982–2008, Bd. XII, 75. 72 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke, Bd. VII, 307. 73 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, Bd. IV, 602; PNG, § 3. 74 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke, Bd. VII, 307, 311, 356.

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–: Werke in zehn Bänden, Frankfurt am Main 1985–2000. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die philosophischen Schriften, hg. von Gerhardt, Berlin 1875–90. Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1971. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke, nach der Originalausgabe in neuer Anordnung, hg. von Manfred Schröter, München 1927. Johann Georg Sulzer: Kurzer Begriff aller Wissenschaften und anderer Teile der Gelehrsamkeit, 2. Aufl., Leipzig 1759. –: Vermischte philosophische Schriften, Bd. I, Leipzig 1773, ND: Hildesheim 1974. Christian Wolff: Psychologia empirica, Frankfurt an der Oder 1732.

Unheimlicher Leib – Ein Grund ohne Grund Shigeto Nuki

»Der Satz vom Grund ist ohne Grund«,1 schreibt Heidegger in Der Satz vom Grund. Die Hinfälligkeit des Grundes, der Erde oder des Bodens zeigten auch die Vorgänge, die am 11. März 2011 die Inseln Japans erschütterten. Gerade Erdbeben sind ein Phänomen, bei denen die Erde als unser aller Grund zerstört wird und die Menschen ins Grundlose stürzen. Auch Europa ist nicht unberührt von solchen Naturkatastrophen. Bekanntlich trafen im Jahre 1755 ein großes Erdbeben und ein Tsunami die portugiesische Hauptstadt Lissabon. Diese Katastrophe hatte weitreichende Folgen – auch in der Philosophie. Zugespitzt kann gesagt werden, dass sie einerseits den Untergang der Leibniz-Schule bedeutete und andererseits die Konzeption der kritischen Philosophie Kants mit hervorbrachte. Ausgehend von dieser historischen Parallele stellt sich die Frage: Was für eine Wende könnte die Katastrophe im März 2011 in der Philosophie mit sich bringen? Ausgehend von dieser Frage möchte ich die Analyse der Leiblichkeit aufnehmen, denn wie Waldenfels sagt, stellt die »Leiblichkeit […] keinen regional abgegrenzten Bereich dar, […] sondern der Leib ist der Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte«.2 Schon Nietzsche schrieb in Zarathustra: »Der Leib ist eine große Vernunft. […] [Was] du ›Geist‹ nennst, [ist] ein kleines Werk- und Spielzeug deiner großen Vernunft: die sagt nicht Ich, aber tut Ich […]. Hinter ihnen [Sinn und Geist] liegt noch das Selbst. Das Selbst sucht auch mit den Augen der Sinne, es horcht auch mit den Ohren des Geistes. […] Es [Selbst] herrscht und ist auch des Ichs Beherrscher. […] In deinem Leib wohnt er [Selbst], dein Leib ist er«.3 Hier wird der Leib, im Kontrast zu Geist und Ich, mit Vernunft und Selbst gleichgesetzt. Zur Leiblichkeit werden konkrete Analysen erst von Phänomenologen wie Husserl oder Merleau-Ponty durchgeführt. Dabei wird der Leib oft als die eigene, vertraute, »vor-objektive« oder »vor-sprachliche« (Schmitz) Vermittlung der Erfahrung bzw. des Sich-Einwohnens-in-die-Welt angesehen, weil, im Gegensatz zum Körper, das Wort »Leib« schon ein »Wort für den belebten, erlebten, lebendigen Körper«4 ist. Näher betrachtet sind aber »die leibhaftigen Erlebensformen« Orte, an denen »unterschiedliche Bedingungen von Ökonomie und Kultur wirkliche Lebensgeschichten prägen«, wie »Arbeitsweisen, Reisen, Tänze, Kriegstechniken, Krankheiten, Liebesgewohnheiten« und andere.5 Infolgedessen hat jeder Leib an und für sich Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, Stuttgart 1957, 37. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst, Frankfurt a.M. 2000, 9. 3 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, Köln 2005, 35–36. 4 Rudolf zur Lippe: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Hamburg 1988, 11. 5 Ebd., 9. 1

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viele verschiedene Schichten: Paul Valéry unterscheidet »vier Körper«, nämlich ein gelebter, ein gesehener, ein anatomischer Körper neben dem möglichen Leib, der diese drei zur Einheit bringt. Unter dem »gesehenen bzw. anatomischen Leib« lassen sich nach Jean Baudrillard ferner vier »Illusionen« des Leibes differenzieren, nämlich die »Leiche als das Modell in der Medizin«, das »Tier für die Religion«, der »Roboter für die Ökonomie« und das »Mannequin für das symbol-ökonomische System«.6 Wenn ein Leib wirklich »der Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte« sein soll, steckt in der Leiblichkeit nicht nur die Dimension der Wahrnehmung oder der Existenz, sondern auch die der »Vergesellschaftungsformen«7, Künste, Medizin, Ökonomie oder Religion, usw. Wenn dies der Fall sein sollte, kann oder muss man sagen: »Ohne Leib könnte ich nicht existieren, während ›ich‹ zugleich den Leib nie völlig in Besitz nehmen kann« (Kiyokazu Washida). Die scheinbar vertrauteste Dimension stellt sich als ein unheimlicher Riss dar, der sich in uns selbst auftut. Wenn der Leib der Boden der Wahrnehmung, die Basis der Existenz ist, ist der Grund unserer Erfahrung grundlos. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich zeigen, dass sich die Unheimlichkeit des Leibes gerade aus der phänomenologischen Analyse ergibt, die normalerweise die Vertrautheit des Leibes zu betonen scheint. Aus der Analyse von Husserl (= I, II) und Merleau-Ponty (=III) wird u. a. die Transformierbarkeit bzw. Erneuerbarkeit einsehbar, die sich als der Mechanismus erweist, der die Leiblichkeit in der Vergesellschaftung bzw. in Machtverhältnissen im Sinne von Michel Foucault (= IV) ermöglicht. Die Beziehung zwischen der Leiblichkeit und Vergesellschaftung lässt sich durch die phänomenologische Analyse der Normalisierung (= V) und der Traditionsbildung (= VI) aufklären, die aber ihrerseits die Grundlosigkeit der Leiblichkeit phänomenologisch zeigt (= VII).

I. Umriss der Phänomenologie Um den Stellungswert der Leiblichkeit in phänomenologischer Hinsicht einzusehen, skizziere ich zuerst einige Grundmomente der Phänomenologie. Nach Husserl ist jeder Erfahrungsgegenstand nur durch jeweilige Erscheinungen oder Abschattungen gegeben und wird in den evidenten Erfahrungen bestätigt. Evidenz kennzeichnet er als »Einheit einer Vernunftsetzung mit dem sie wesensmäßig Motivierenden«.8 Hier besagt Vernunftsetzung die Setzung mit irgendeinem Rechtsgrund, während der Motivierende ein »noematischer Satz in seiner Weise der Erfülltheit«9 ist. Wenn jemand, z. B. an den Strand gehend, ein mittelgroßes fliegen-

Jean Baudrillard: L’échange symbolique et la mort, Paris 1976. Rudolf zur Lippe: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Hamburg 1988, 9. 8 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, Husserliana, Edmund Husserl Gesammelte Werke [Hua.], Bd. III, hrsg. von K. Schuhmann, den Haag 1976, 316. [III] 9 Ebd., 136. Vgl. Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl u. Heidegger, Berlin 1970, 43. 6 7

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des Objekt mit weißem Bauch sieht und urteilt: »Da ist eine Möwe«, motiviert der teilweise erfüllte noematische Satz, »ein mittelgroßes, fliegendes Objekt mit weißem Bauch, grauem Rücken und einem bestimmten Gackern usw. ist eine Möwe« die Vernunftsetzung der Möwe. Weil eine Vernunftsetzung unendliche unerfüllte Intentionen in sich einschließt, kann sie in der weiter fortschreitenden Erfahrung von dem selben Gegenstand entweder weiter bestätigt oder als eine Täuschung durchgestrichen werden. Hier gilt zu beachten, dass die »Ent-täuschung«,10 wie sie Husserl nennt, nur durch eine neue Evidenz möglich ist. Andererseits aber, weil eine Setzung immer unendliche, unerfüllte Intentionen einschließt und somit »mehr« als das jeweilig Gegebene enthält, kann keine Vernunftsetzung eine endgültige Setzung sein. Zwar setzt Husserl »das Eidos Wahrhaft-sein« mit »dem Eidos Adäquat-gegeben« (III, 332) gleich, aber die Adäquatheit ist als solche prinzipiell nicht zu realisieren. Infolgedessen bleibt das Wahrhaft-sein oder die endgültige Wahrheit phänomenologisch nur eine »Idee im Kantischen Sinne«. Vielleicht würde jemand einwenden und sagen, dass die Phänomenologie ein alles in die Erfahrung reduzierender Idealismus sei oder, dass sie dem alltäglich vertrauten Realismus wiederspreche. Aber ein Realist, der die Existenz unabhängig von der Erfahrung behauptet, nimmt insgeheim den Standpunkt Gottes ein, weil er damit das angenommene Ding an sich ohne jede Vermittlung der Erfahrungsstruktur anzuschauen prätendiert, was aber uns, den Menschen, versagt ist. Der Realismus, der unbedingt auf »God’sEyes-View« insistiert, wie Hilary Putnam es formuliert, oder »Theorie von oben her«,11 wie Husserl es nennt, verwickeln sich in unhaltbare Behauptungen. Phänomenologie, die zeigt, dass das Ding als ein Korrelat der Erfahrungen mehr als das jeweils Erfahrene enthält, nimmt den Standpunkt des Anti-Realismus (anti-realism) im Sinne von Michel Dummet oder Putnam ein. Die alltägliche Realität der Welt ist, z. B., auf folgende Weise aufzuklären: Wie oben gesehen, kann eine Evidenz nur durch eine neue Evidenz aufgehoben werden. Infolgedessen ist die Welt nicht als Ganzes zu negieren, weil, trotz des jeweiligen Wechsels einzelner Setzungen des Seienden, die Welt als Boden nie gänzlich zu zerstören ist. Übrigens ist hier die Notwendigkeit der phänomenologischen bzw. transzendentalen Reduktion als die Methode einzusehen: Die Frage von Husserl war, wie kann man zur Erkenntnis des Seienden kommen oder, wie kann man sagen, dass es Etwas gibt. Wenn man »naiv« diese Frage stellt, ist aber nur eine Antwort möglich: »Weil da das Ding bzw. die Welt ist«. Das beantwortet die Frage natürlich nicht, weil wir wissen möchten, wie man eigentlich sagen kann, dass es ein Ding wie die Welt gibt. Um aber eine naive Antwort zu vermeiden, muss die alltägliche Setzung der Dinge »ausgeschaltet« werden: Dies ist nichts anderes als die Reduktion im Sinne Husserls.

Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Stuttgart, Hamburg 1980, 41. [LUII/1] Edmund Husserl: Formale und transzendentale Logik, Hua. XVII, hrsg. von Paul Janssen, den Haag 1974, 286. [XVII] Vgl. III, 46. 10 11

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II. Kinästhese Merleau-Ponty sagt: »Das System der Erfahrung breitet sich nicht etwa vor mir aus, als wenn ich Gott wäre, sondern es wird von mir gelebt aus irgendeinem Gesichtspunkt«.12 Gott als ein allgegenwärtiges Sein würde eine vollkommene Wahrnehmung alles Seienden besitzen, die keine Lücke enthält. Wie können wir Menschen, denen die vollkommene Wahrnehmung versagt ist, dann überhaupt etwas erfahren? Hier ist an das Argument von Merleau-Ponty über die Zeitlichkeit zu erinnern: Nicht alles kann zugleich (hier vor mir) präsent sein, aber wenn alles irgendwann (irgendwo) erscheinen muß, dann kann jedes nur nacheinander erscheinen. Das ist der Grund für ihn, warum die Zeit fließen kann oder muss (PP, 471-489, 484 u. a.). Tatsächlich ist die Struktur des inneren Zeitbewusstseins von Husserl als ein Netzwerk der Retentionen, in denen einzelne Zeitpunkte nacheinander als Gegenwart auftauchen, um sofort in die Vergangenheit zu versinken, nicht als der Speicher der Vergangenheit, sondern als ein endloser Prozeß der »Entgegenwärtigung«13 zu betrachten, wodurch vermieden wird, dass irgendein Zeitpunkt für immer als Gegenwart bleibt, der den Wechsel der Gegenwart und Nicht-gegenwart verhinderte. Gleichfalls wird durch die Kinästhese die Bewegungsempfindung vermieden, dass für immer dasselbe Hier an mir kleben bleibt. Durch die Kinästhese lässt sich nicht nur eine objektive Veränderung eines Dinges von seinem visuellen Wechsel wegen meiner Bewegung unterscheiden, sondern es konstituiert sich auch der dreidimensionale Raum aus zweidimensionalen Sehfeldern durch die »Verbindung der eindimensional linearen Entfernungsmannigfaltigkeit mit der zweidimensional zyklischen Wendungsmannigfaltigkeit«.14 Bemerkenswert ist dabei, dass die Einführung der Kinästhese schon die Objektivierung des Leibes als ein Körper mit sich führt. In Ideen II schreibt Husserl, dass die Leiblichkeit auch bei der Konstitution der Materialität eines Dinges nötigt ist, die durch die Verknüpfung der haptischen Empfindungen mit den visuellen »sinnlichen Schemata«15 ermöglicht werden, die sonst nur Phantome blieben. Dabei ist zugleich die Konstitution von anderen Egos erforderlich, weil anderenfalls eine mögliche Anomalität meines Leibes, die eine subjektiv verursachte Änderung der Erscheinung, z. B. rote Färbung des Sehfelds wegen einer farbigen Brille, als eine objektive Veränderung angesehen würde, nicht zu erkennen wäre. Daher ist die Objektivierung meines Leibes durch die anderen als ein Körper unerlässlich. Auf diese Weise trägt die Leiblichkeit in Zusammenhang mit der Zeitlichkeit zur Konstitution der Welt bei, wobei sich hier das erste Symptom der Grundlosigkeit der Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris 1976, 350. [PP] Eugen Fink: Studien zur Phänomenologie 1930–1939, den Haag 1966, 23, Klaus Held: Lebendige Gegenwart, den Haag 1966, 28. 14 Edmund Husserl: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Hua. Bd. XVI, hrsg. von Urlich Claesges, den Haag 1973, 255. [XVI]. 15 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, Hua. Bd. IV, hrsg. von M. Biemel, den Haag 1952, 37–41. [IV] 12 13

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Erfahrung zeigen lässt. Erstens sind weder die Retentionen als Ent-gegenwärtigung, die sich durch die Verbergung ihres Gegenstandes als der Prozess des Verlierens zeigt, noch die Kinästhesen, die die Darstellungen der Dinge ermöglichen »ohne selbst darzustellen« (XVI, 161), dem Erfahrenden zugänglich. Zweitens ist die Realität des Seienden nur durch die raum-zeitliche Zerstreutheit des Erfahrens möglich. Während sich Augustinus über die Spaltung des vergangenen, gegenwärtigen und kommenden Ichs beklagt, um endlich Gott als Vereinigungsprinzip einzufordern, zeigt die Phänomenologie, dass die Erfahrung der Realität sich nie vollständig aus der Zerrissenheit der Erfahrung zu lösen vermag. Merleau-Ponty hat diesen Grundgedanken in seiner Phänomenologie der Leiblichkeit in bestimmter Richtung verschärft.

III. Spontaneität der Leiblichkeit In der Phänomenologie der Wahrnehmung ist die Leiblichkeit, die den Boden aller Erfahrungen bzw. der menschlichen Existenz bildet, als »spontan« und deshalb »unpersönlich (impersonell)« oder »anonym« zu bezeichnen. Sie ist unpersönlich bzw. anonym, denn die den je eigenen Leib strukturierenden Schemata (»schema corporell«, PP. 114, 165) bilden zusammen mit den jeweiligen Veränderungen der Situation ein System (PP. 93, 160, 162, 167), das »spontan« fungiert und einer umfassenden Kontrolle des jeweiligen Cogito entzogen ist. Daher hat Merleau-Ponty die Leiblichkeit als eine »vorpersonelle«, »generelle« Gewohnheit bezeichnet, die nicht eine Figur im Sinne der Gestaltpsychologie, sondern immer der »Grund einer Handlung« bleibt (PP. 99, 159, 166). Wenn beispielsweise jemand mit dem Fahrrad fährt, verändert sich ständig die Balance der Kraft in seinen Armen, dem Rücken, in den Neigungen des ganzen Körpers, in der Stellung seiner Hüfte usw. All dies ändert sich ständig je nach Veränderung des Straßenzustands, ohne als solches von ihm bewusst kontrolliert zu werden. Wenn er sich das leibliche Schema des Fahrradfahrens angeeignet hat, reagiert jeder Teil seines Leibes spontan auf die Umstände in der Situation. Eine bewusste Berechnung der jeweils angemessenen Reaktion vorzunehmen ist nicht nur unmöglich, sondern sogar gefährlich. Übrigens sind die leiblichen Schemata nicht zu verwechseln mit dem Wissen-Wie (knowing-how), das Gilbert Ryle im Gegensatz zum Wissen-Daß (knowing-that) kennzeichnete. Nach Ryle »weiß« man das Wie der Handlung nur ohne sprachliche Formulierung, während bei den leiblichen Schemata der Leib von sich selbst her fungiert, was manchmal von dem Handelnden selber völlig unbemerkt bleibt. Durch Aneignung neuer Gewohnheiten kann sich jedes leibliche Schema umgestalten (PP. 166-7). Zwar spricht Merleau-Ponty dabei von »Entwurf (projet)«, ein Wort, das wie ein intellektualistisches, ego-zentristisches Residuum klingt. Der Eindruck ist aber nur Schein, denn der Entwurf selber ist nur möglich als »eine Aktivität, in der man in die Welt mit vollen Kräften eingehen« (PP. 92) kann. Ebenso ist bei den Menschen der Entwurf im Sinne von Merleau-Ponty nicht als eine Aktivität des Cogito, sondern nur als ein Wirken des intentionalen Bogens (arc intentionnel) zu betrachten, nämlich als eine Triebkraft, die durch die Zusammenwirkung des Bogens als Futur und der

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Sehne als Vergangenheit erzeugt wird, um den Pfeil als gegenwärtige Aktivität in Gang zu setzen. Der Seelen-Blinde Schröder, der keine Spur einer Entwurfs-Aktivität zeigte, war jedoch in seinem intellektuellen Leben fast wie normal. Der innere Zusammenhang von Leib und Situation lässt in der Analyse der Wahrnehmung die zeit-räumliche Zerstreutheit der Erfahrenden noch konkreter einsehen. Genauso wie jedes leibliche Schema, tritt jede Wahrnehmung als ein spontan sich-organisierender Prozess hervor. Die Spontaneität der Wahrnehmung ist anhand folgender Beispiele zu illustrieren. Bei einer Wahrnehmung der Tiefendimension zeigen sich z. B. das große Bild eines Mannes und das kleine Bild im Sehfeld. Nicht als ein Riese und ein Zwerg nehmen wir sie wahr, sondern als normale Männer, einmal in der Ferne und einmal in der Nähe, indem sich die beiden Bilder in den entsprechenden Tiefen spontan einrichten (PP. 301–2). Das Sehen wird zudem durch Licht und Belichtung geleitet, so dass Sehfelder auf verschiedene Arten organisiert werden. Wenn jemand aus dem sonnenhellen Garten in den Schatten geht, gestaltet sich sein Sehfeld um, so dass er vorher unsichtbare Details im Schatten deutlicher sieht (PP. 358-9). Bei der Wahrnehmung eines größeren Objekts, z. B. des Münchner Opernhauses, hat ein Aspekt, beispielsweise die Fassade, den Vorrang, wodurch Veränderungen auf eine Reihe anderer Aspekte ausgeübt werden (PP. 146): Wenn jemand das Gebäude von hinten sieht, tendiert er dazu, die Wahrnehmung der Fassade zu realisieren oder die Sicht der Rückseite als eine Erscheinung des eigentlichen Aussehen des Gebäudes zu betrachten. Weil die Aspekte nur durch meine leiblichen Bewegungen als »Montage« zu erfahren sind, »fließt meine Erfahrung in die Dinge ein, um sich an den Dingen zu transzendieren« (PP. 350). Wenn jemand in der Ferne ein Champagnerglas sieht, spürt er den hellen Klang oder die Sprödigkeit, ohne es klopfen zu müssen. Hier transzendiert das Erfahrene das wirklich Gegebene, das in diesem Falle im Ort des Champagnerglases passiert. Gerade deshalb sagt Merleau-Ponty: »das Sehen ist aus der Mitte der Dinge zu nehmen, oder es gestaltet sich inmitten der Dinge«,16 oder, »das Sehen ist weder ein Modus des Denkens noch eine Präsenz vor sich: Das Sehen ist mir als das Mittel geschenkt, durch das ich von mir weggehe und inmitten der Aufspaltung des Seins aufgehe« (OE, 81). Weil die »Welt […] gerade aus dem Stoff des Leibes gemacht« ist (OE, 19), besteht zwischen dem Leib und der Welt ein Verhältnis des »Chiasmus« und der Umkehrbarkeit (»réversibilité«).17 Im Chiasmus kreuzen sich zwei entgegengesetzte Verhältnisse wie in der Kleinschen Flasche. Als ein Beispiel gilt der Satz: »Ihr Leben ist dein Tod! / Ihr Tod dein Leben!« (Friedrich Schiller, Maria Stuart 1. Akt, 3. Auftritt). Den Chiasmus zwischen Leib und Welt zeigt auch die Tätigkeit des Malers: Weil in der Natur keine bestimmte Linie existiert und mit den Bewegungen des Malers sich die Konturen unaufhörlich verändern und wechselseitig miteinschließen, scheint die eigentlichste Aktion des Malens so, »als ob sie aus den Dingen selbst auftaucht« (OE, 31). Ausgehend von dieser Erfahrung fühlt sich ein Maler in einem Wald, als ob »die Bäume ihn betrachten« (OE, 31). Diese Rede klingt sicher mysteriös, ist aber dennoch möglich und 16 17

Maurice Merleau-Ponty: L’Oeil et l’esprit, Paris 1964, 19. [OE] Maurice Merleau-Ponty: Visible et Invisible, Paris 1964, 317. [VI]

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einsehbar, wenn man bedenkt, dass das Ich, als die lebenslang dauernde Identität nur möglich ist, als »eine konkrete Einheit, die in den vielen verschiedenen Beziehungen nicht verloren gegangen ist«,18 nämlich als »die Struktur der Strukturen« (SC, 133). Man erinnere sich daran, dass Nietzsche auf das Selbst den Vorrang legte gegen das Ich. Während das Ich ein großes »Werkzeug« mit dauerhafter Identität, verschiedenen Fähigkeiten wie Gefühl oder Verstand sein muss, besagt Selbst nur die Beziehung auf sich selbst. Die Aussage des Malers ist nur dann unverständlich, wenn man die Wahrnehmung immer nur ausgehend vom Objekt/Subjekt-Schema verstehen will. Hier ist zu beachten, dass die Leiblichkeit nur als etwas in einem langen Prozess der Erneuerung, Revision, und Festigung »historisch Konstituiertes«19 ist, wie Judith Butler in der Konstruktion des Gender gezeigt hat. Somit ist jede leibliche Existenz immer wieder umzugestalten. Leiblichkeit ist, je nach dem System der jeweiligen Epochen oder Regionen unterschiedlich, und, weil sie transformierbar ist, kann sich die Struktur der Gesellschaft z. B. im Gang der Geschichte verändern, wie Michel Foucault gezeigt hat.

IV. »Gehorsamer Leib« Im 18 Jh. wurde in den verschiedenen Ländern in Europa, Amerika und später auch in Ost-Asien eine Bio-Macht (biopouvoir) ohne jede Autoren etabliert, indem in der Schule, dem Militär, den Fabriken, Gefängnissen und Krankenhäusern subtile Netzwerke der Disziplinierung von Handlungen und der Leiblichkeit von Schülern, der Soldaten, Arbeitern, der Gefangenen oder Kranken gespannt wurden, um die sonst bunten und verschiedenartigen Leute zu normieren und zu regulieren.20 Im Gegensatz zum herkömmlichen Begriff der Macht, der sich über den Tod herleitete, war die Micro-Physik der Macht eine Technik, die durch die Produktion der disziplinierten Leiber das Leben ermöglichte. Sowohl Bio-Macht als auch Bio-Politik realisieren sich durch Interventionen, die auf den »gehorsamen Leib« zielen, um den einzelnen als »modernes Ich« oder »modernen Bürger« zu konstruieren. Foucault schreibt: »Disziplin und Übung ist gerade das, was die Individuen ›herstellt‹, als das Objekt und Werkzeug der Ausübung der Macht« (SP. 200). Weder wurden einzelne Personen als Individuen durch den neuzeitlichen Liberalismus ermöglicht, noch existierte a priori unabhängig vom Gang der Geschichte das Individuum. Foucault sagt: »Während die Juristen oder die Philosophen im Vertrag das grundlegende Modell der Bildung bzw. der Wiederherstellung der Sozialität suchten, haben das Militär oder die […] Techniker eine Methode entwickelt, den Leib des einzelnen in eine bestimmte Form zu zwingen« (SP. 199). In diesem System, wo man nicht überleben kann, ohne durchnormiert zu werden, kann man nur als Subjekt/Untertan (»sujet«) leben, während zugleich jeder als Sujet der vernünftigen Selbst-Entschei-

Maurice Merleau-Ponty: La structure du comportement, Paris 1977, 128. [SC] Judith Butler: Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory, in: Theater Journal, vol. 40, No. 4, Dec. (1988). 20 Michel Foucault: Surveiller et punir. Nessance de la prison, Paris 1975. [SP] 18 19

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dung zu leben prätendiert. Hier ist ein Einwand denkbar, nämlich dass das Ego eine universale Struktur sein muss, die überall als Subjekt der Erkenntnis oder der Handlung funktionieren soll. Gegen diesen Einwand möchte ich nur darauf aufmerksam machen, dass in der griechischen Welt, beispielsweise bei Homer, oder im 16. Jh. in Europa, wie Nobert Elias anhand der Beschreibung von Erasmus gezeigt hat, kein einheitliches Ego zu finden ist. Nicht nur die Inhalte, sondern auch die Struktur des jeweiligen »Individuums« sind von den Beziehungen innerhalb der Gesellschaft abhängig, und deshalb spricht Elias von »Figuration«.21 Hier ist auch anzumerken, dass der von Foucault analysierte Wechsel der Formen der Macht in der Transformation des Welt-systems im Sinne von Emmanuel Wallerstein oder Didier Frank seine Wurzeln hatte. Im 17. Jh., ein Jahrhundert nach der Ankunft der Europäer in Amerika, wuchs die europäische Wirtschaft in enormem Maße und der schnelle Wachstum des Reichtums hat die Veränderung der Mentalität der Europäer nach sich gezogen,22 so dass mit der steigenden Wertschätzung des Besitzrechts die Umschreibung des Strafrechts einherging, die gerade mit der Entstehung der verschiedenen Micro-Physiken der Macht, im Sinne von Foucault, Hand in Hand ging.

V. Normierung durch die Leibe Geschichtliche Betrachtungen zeigen enge Zusammenhänge der leiblichen Existenz mit der Struktur der Bio-Macht und ferner mit geschichtlichen Epochen. Die Herstellung des Individuums durch Interventionen auf den »gehorsamen Leib«, die wegen der Transformierbarkeit der Leiblichkeit im Sinne von Merleau-Ponty möglich ist, steht im chiastischen Verhältnis zu den leiblichen Schemata. Dieses gilt es jetzt phänomenologisch aufzuklären, wobei die Analyse des späten Husserl hilft. In seinen späteren Manuskripten gibt Husserl zwar zu, dass die rationale Person »hinsichtlich ihrer Rationalität causa sui«23 ist. Infolgedessen kann keine Norm ihren Grund außerhalb des Ortes der Handlung haben; vielmehr ist jeder Wert von der Wertung der einzelnen abhängig (vgl. ebd., 31). Weder lässt sich daher der konkrete Inhalt des absolut Guten a priori determinieren, noch ist keiner ethischen Theorie, die unabhängig vom jeweiligen Handelnden gebildet und »von oben her« aufgezwungen ist, Gültigkeit zuzuschreiben. Vielmehr »steht […] das Ideal des vollkommen menschlichen Menschen […] im jeweils für ihn ›bestmöglichen‹ Gewissen« (ebd., 34). Die Möglichkeit der Entwertung ist nicht auszuschließen, genauso wie die Enttäuschung in der Wahrnehmung (ebd., 30).

Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation, 2. Bd., Bern 1969. Fernand Braudel: Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XVe–XVIIIe siècle, tome 2, Paris 1979, 102–103. 23 Edmund Husserl: Aufsätze und Vorträge (1922–1937). Mit ergänzenden Texten, Hua. XXVII, hrsg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp, den Haag 1989, 36. [XXVII] 21 22

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Die Person ist aber nicht die letzte Instanz der ethischen Wertungen. Husserl schreibt: »Jedes Erlebnis, jeder Akt, auch jeder Erkenntnisakt […] ist motiviert, hat also seine Tradition«.24 Oder, »Jeder Akt, in dem ich irgend etwas vorhabe und dem Vorhaben gemäß erziele, […] hat […] einen dunklen Horizont unbekannter Verkettungen von Motivationen einer unbekannten Geschichtlichkeit« (XXIX, 344). Jede Person, die als causa sui eine Entscheidung trifft oder eine Wertung vollzieht, folgt einer Motivation, die von ihrer Tradition bzw. ihrer Geschichtlichkeit herkommt. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass die Tradition bzw. die Geschichtlichkeit für die Person, die sie motiviert, unbekannt bleibt, sondern auch, dass sie weder einen bestimmten Anfang noch ein Ende hat. Husserl schreibt: »›Wir Menschen‹, das bezeichnet eine endlose Generationenverkettung, der wir keinen Anfang und kein Ende zuerteilen können, […] innerhalb deren wir aber eine allzeit bewegliche […] Historie haben […]«.25 Oder, »Es gibt keine ersten Menschen« (XXIX, 37). Da die Tradition keine starre Totalität bildet, kann sich jede Normalität immer verändern (XV, 212–3). Eine Person ist nicht nur durch die Vergangenheit, sondern auch durch das Zusammenspiel mit gegenwärtigen Mitmenschen motiviert. Husserl sagt: »Als Mensch normal ist, wer mit dem Wort ›jedermann‹ sich konkret versteht, wer einer offenen Menschengemeinschaft von Mitmenschen angehört, die dieselbe historische Lebenswelt haben, bestimmt durch dieselbe, allen vertraute, aber nicht ausgelegte Formstruktur. Der Normale ist normal in und vermöge der normalen Gemeinschaft« (XV, 142). Die Normen, die unabhängig von der Intention oder den Wünschen des Handelnden entstehen, determinieren, was er als ein normaler Mensch erzielen soll. Dabei spielen nicht nur die Sprache oder die reflexive Überlegung, sondern auch die wechselseitig beziehenden Handlungen eine große Rolle. Wie Merleau-Ponty sagt, bilden zwei Leibe zusammen ein System. Ein fünfzehnmonatiges Baby, z. B., beißt auf seinen Finger, wenn ich selbst vor seinen Augen in meinen Finger beiße. »Zwischen meinem phänomenalen Leib und dem von anderen, den ich von außen sehe, gibt es eine interne Beziehung, die die Anderen erscheinen läßt, als die Realisierung eines Systems« (PP. 405). Oder: »Um den wahrgenommenen Leib herum wirbelt ein Strudel, in den meine Welt an- und eingezogen wird« (PP. 406). Genauso wie bei der Konstruktion von Genderverhältnissen, wie Butler sie beschrieben hat, ist ein durch Übereinstimmungen der Leiber herzustellender Handlungstypus durch vielfache Wiederholungen vieler und anderer zu stärken, um dadurch Normalität zu etablieren. Merleau-Ponty schreibt dazu: »[Der andere] ist nicht etwas konstituierendes / konstituiertes, sondern ein instituiertes / instituierendes. Ich werfe mich in den Anderen hinein, während der Andere sich in mich hineinwirft. Hier liegt die Beziehung der Projektion und Verinnerlichung

24 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass (1934–1937), Hua. XXIX. hrsg. von Reinhold N. Smid, den Haag 1994, 343. [XXIX] 25 Edmund Husserl: Zur Phänomenologie des Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929–1935, Hua. XV, hrsg. von Iso Kern, den Haag 1973, 219, [XV]. Vgl. XXIX, 37.

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vor, […] eine Kommunikation durch Entrainment (entraînement). Hierbei handelt es sich um die […] Region der kulturellen Objekte«.26 Hier ist zu bemerken, dass die Konstitution der Normalität den Charakter eines komplexen Systems besitzt: durch einen zufällig auftauchenden Typus der Handlung sind auch die anderen Handlungen zu beeinflussen, so dass sich ein Rückkopplungskreislauf (feed back loop) autopoetisch zwischen der Microdimension je einzelner Handlungen und der Macrodimension der Normalität ergibt, was aber keiner kontrollieren oder überschauen kann. Die Normalität, die die Weise der Erfahrungen, die Lebensziele, die Überzeugungen, die Gewohnheiten oder die praktischen Verhaltensweisen bestimmt (Vgl. XV, 214), ist zwar »vertraut«, bleibt aber für immer unausgelegt, unthematisch. Als den Ort, wo die neu geborenen oder tradierten Normalitäten die Handelnden in unthematischer Weise motivieren, können wir die gelebte Kultur definieren. Auf diese Weise ist jede einzelne Person zu konstituieren: »Menschliche Normalität bezeichnet nicht nur einen von außen zu beschreibenden Stil, sondern eine innere Einheit, eine Einheit der Person in ihrem Leben, eine Einheit der betreffenden Menschheit als Analogon einer Person« (XV, 154). Jeder ist durch die unthematische Tradition motiviert, und nimmt im Zusammenspiel mit den Handelnden an der Umgestaltung der Normalität teil. In der Tradition ist die Normalität gebildet, und umgekehrt wird durch jeweils gebildete Normalität die Tradition erneuert. Wie sieht denn der ganze Gang der Traditionsbildung aus? Die Tradition kann auch als Geschichte betrachtet werden, die von der Historie zu unterscheiden ist. Wie bekannt, ist die Philosophie der Geschichte im 20 Jh. durch die Narratologie der Historie beinahe beherrscht, und auch sogar Husserl hat die Rolle der Historiographie in der Nationalstaatsbildung erwähnt (XXIX5–6). In diesem Aufsatz möchte ich aber jetzt auf einen anderen Aspekt der phänomenologischen Analyse der Geschichte die Aufmerksamkeit lenken.

VI. Der Mechanismus der Traditionsbildung In Vom Ursprung der Geometrie spricht Husserl über die »kontinuierliche Synthesis«, ein Prozess, in dem »alle Erwerbe fortgelten, alle eine Totalität bilden, derart, daß in jeder Gegenwart der Totalerwerb sozusagen Totalprämisse ist für die Erwerbe der neuen Stufe«.27 Jeder Geometer muss sich erst einmal die ganzen Erwerbe, als die Ergebnisse der vergangenen Geometer, aneignen, um die verschiedenen Methoden zu lernen und die zu lösenden Probleme finden zu können. Wenn der Geometer ein neues Theorem

Maurice Merleau-Ponty: L’institution / La passivité. Notes de cours au Collège de France (1954– 1955), Paris 2003, 35. 27 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hua.VI, hrsg. von Walter Biemel, den Haag 1976, 367. [VI]. 26

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bzw. einen neuen Beweis findet, wird dieses Ergebnis zu einem neuen Boden für die Aktivität der Geometer der nächsten Generation. Aus der Struktur der kontinuierlichen Synthesis sind folgende drei Punkte zu ersehen. Erstens, wie es bei der Traditionsbildung der Fall war, bleibt der ganze Gang der kontinuierlichen Synthesis dem jeweiligen Geometer völlig unthematisch, da er, um die Aktivität als ein Geometer vollziehen zu können, von den genauen Daten oder den Namen vergangener Geometer keine Kenntnis zu besitzen braucht. Zweitens besteht zwischen den vergangenen Aktivitäten und den gegenwärtigen die Beziehung der Fundierung im Sinne von Husserl. Fundierung ist die Beziehung zweier Glieder, z. B. Farbe und Fläche, von denen keins ohne das andere existieren kann (LUII/1, 114). Die gegenwärtige Aktivität ist ohne die Ergebnisse vergangener Aktivitäten unmöglich, während die Aktivitäten der Vorgänger ohne die jetzige Aktivität verschwinden. Daraus folgt ein eigentümlicher Charakter jeweiliger Geometer: Sie sind im merkwürdigen Modus der passiven Aktivität, denn, obwohl sie im strengsten Sinne des Wortes aktiv sind, strahlt ihre Tätigkeit nicht unabhängig von anderen Subjekten rein von ihrem Innern her spontan aus. Drittens kann der Prozeß der kontinuierlichen Synthesis als Ganzes weder einen einheitlichen Sinn noch einen einzigen Ursprung haben. Wie Derrida beschreibt,28 war die Geometrie in Ägypten eine Vermessungskunst, die sich auf die reale Erde bezieht, während sie für die Griechen eine Wissenschaft war, die durch unendliche Variationen der eingebildeten Gestalten zu ermöglichen war. Im 16. Jh. ist sie von Galileo zu einer Wissenschaft umgestaltet worden, die die ganze Natur bzw. das Universum ideal und nicht-empirisch bestimmt. Mit der Negation des Parallelenaxioms wurde im 19. Jh. die nichteuklidische Geometrie geboren, in der gilt, dass aus beliebigen Axiomsystemen die Theoreme bzw. die Beweise eindeutig (definitiv) ableitbar sind. Demgegenüber beweist dann der Gödelsche Unvollständigkeitssatz, dass gerade dies undurchführbar ist. Zwar wurden alle derartigen Tätigkeiten in jeder Epoche mit dem Name Geometrie bezeichnet, aber im Prozess der kontinuierlichen Synthesis veränderte sich der Sinn der Tätigkeit. Infolgedessen hat die Geometrie, je nach der Auffassung ihrer Essenz, viele verschiedene Ursprünge, oder, wenn der »Fortschritt« der Geometrie nach ihrer allgemeinere Seinsweise zu führen ist, muss man sagen, dass die Geometrie auf dem Weg zum eigentlicheren Ursprung ist.29

VII. Leiblichkeit als grundloser Grund Die sich der erst-persönlichen Kontrolle widerstehende, spontan fungierende Leiblichkeit, die, ohne sich darzustellen, unsere Erfahrung zerstreut, dient wegen ihrer Erneuerbarkeit als ein Werkzeug der Bio-Macht. Sie steht im chiastischen Verhältnis sowohl Jacques Derrida: L’origine de la géométrie, traduction et introduction, Paris 1974, 38–9. Hier ist zu bemerken, dass der Prozess der kontinuierlichen Synthesis auch auf die Diskussion um die Interkulturalität verwendbar ist. 28 29

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mit der Welt, als auch mit der Macht und der Geschichte, die sich ihrerseits nicht als eine geradlinige Entwicklung, sondern als ein unaufhörlicher Prozess der Umgestaltung, Abweichung und Inversion zeigt. Die oft als mein eigenes Zentrum zu betrachtende Leiblichkeit ist durch unsichtbare Netzwerke zu konstruieren und motivieren, die sich nicht nur in die simultan ablaufende Dynamik der Ordnungsbildung, sondern auch in die dunkle Vergangenheit ausspannen. Die Leiblichkeit, die zunächst der vertraute Boden unserer Erfahrung und Existenz zu sein schien, erwies sich als grundlos bzw. als unheimlich-grundloser Grund unserer Selbst. Sicher ist jeder Leib in seiner Handlung immer motiviert. Das besagt aber nicht, dass alle Leiber dieselbe Motivation, denselben Zweck oder dieselbe Ursache hätten. Oft wurde argumentiert, dass es den höchsten Zweck bzw. die letzte Ursache gibt, weil jedes auf etwas zielt oder von etwas verursacht wird. Frege würde aber sagen, dass dieser Typus von Argument ein Fehler ist, da ein Satz nicht immer denselben logischen Wert erhält, wenn er ins Passiv gesetzt wird: Wohl kann man sagen: »Jeder liebt jemanden«, aber es ist unmöglich zu sagen: »Jemand ist von Jedem geliebt« (»Es gibt jemanden, den alle Menschen lieben«). Wie Merleau-Ponty einmal sagte: »Der Sinn existiert nicht, aber sicher gibt es verschiedene Sinne«. Jeder ist von etwas motiviert, und jede Handlung oder Aussage hat ihren Grund, auch wenn sich diese oft nicht durchschauen lassen. Insofern gibt es viel verschiedene Gründe, aber ein letzter Grund existiert für sie nicht.

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Bilder als Gründe Kolloquiumsleitung: Jakob Steinbrenner

Jakob Steinbrenner Einführung Catrin Misselhorn Bildwahrnehmung, Imagination und das Gefühl der Präsenz Überlegungen zum besonderen Status von Bildern als Gründen Søren Kjørup Snooping on Spies. Treason, Trust and Photographic Evidence Manfred Harth Mechanische und manuelle Bilder als Handlungsgründe

Einführung Jakob Steinbrenner

Spätestens seit dem vielbeschworenen »pictorial turn« lässt sich kaum noch vor der Tatsache die Augen verschließen, dass Bilder in zahlreichen (allen?) Wissenschaften eine wichtige Rolle einnehmen. Ob damit im gleichen Sinn von einer Wende wie im Fall vom »linguistic turn« gesprochen werden kann, sei dahin gestellt. Zwei interessante Fragen lauten gleichwohl, welche unterschiedlichen Rollen die Bilder in den Wissenschaften spielen und welche Funktionen sie in Begründungszusammenhängen einnehmen. Dass Bilder zudem in zahlreichen alltäglichen Argumentationen bedeutsam sind, liegt ebenso auf der Hand, wie dass sie Voraussetzung der bildenden Künste sind. Kurz um Bilder spielen in zahlreichen Lebensbereichen eine wichtige Rolle. Sie sind daher kaum oder gar nicht (»homo pictor«) wegzudenken aus dem menschlichen Leben und sind somit gewichtiger Bestandteil von Kulturen. Die These, dass Bilder daher in Begründungszusammenhängen oft eine wichtige Funktion einnehmen, dürfte daher unstrittig sein. Fraglich ist dagegen, ob Bilder selbst Gründe sein können. Eine Antwort auf diese Frage hängt offensichtlich davon ab, was man unter Gründen versteht. Fasst man unter Gründen beispielsweise all dasjenige, was für oder gegen eine Überzeugung oder emotionale Einstellung angeführt werden kann, dann können Bilder augenscheinlich Gründe sein. Denkt man dagegen an Handlungsgründe im engen Sinn und fasst Gründe daher als Überzeugungen und Wünsche auf, die Grund für eine Handlung sind, dann sind Bilder klarerweise keine Gründe, außer man hängt der fraglichen Auffassung an, dass Überzeugungen und Wünsche selbst wieder (mentale) Bilder sind. Vertritt man dagegen eine naturalistische Auffassung und behauptet, dass sich Gründe auf Ursachen reduzieren lassen und dass diese Ursachen grundsätzlich mit den Mitteln der Naturwissenschaften beschreibbar sind, spricht scheinbar erst einmal nichts dagegen, dass Bilder auch Gründe sein können. Bei genauerem Hinsehen tauchen aber hier Probleme. So lässt sich zwar problemlos im Sinn des Naturalisten behaupten, dass ein Bild das Sonnenlicht reflektiert, aber fraglich erscheint, ob er erklären kann, dass die Totenkopfdarstellung auf dem Bild die Vergänglichkeit symbolisiert und daher den depressiven Betrachter zu Selbstmordgedanken verleitet. Das heißt, Anhänger einer naturalistischen Auffassung stehen vor der Schwierigkeit, die Bedeutung von Bildern entweder zu naturalisieren oder zu eliminieren. An dieser Stelle lässt sich dann auch danach fragen, ob Bilder epistemische (theoretische) Gründe sein können und als solche Meinungen, Überzeugungen, Urteile rechtfertigen oder eher praktische Gründe sind, mit denen sich Handlungen, Handlungsweisen, Verhalten rechtfertigen lassen. Eine Antwort auf diese Frage ist davon abhängig, was man unter Bildern versteht. Vertritt man beispielsweise die Auffassung, dass Bilder im

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wesentlichen dem Zweck dienen, im Betrachter Vorstellungen zu erzeugen, die möglichst ähnlich zu denjenigen sind, die durch ihre realen Gegenstücke erzeugt werden, dann unterscheiden sich Bilder in ihrem epistemischen Status nicht grundlegend von gewöhnlichen Gegenständen. Beide, Bilder wie ihre realen Gegenstücke, erzeugen im Betrachter Vorstellungen, die mehr oder minder, je nach Qualität der Bilder, gleich sind. Diese Vorstellungen können dann wiederum Grundlage von Überzeugungen sein, die als Gründe Meinungen, Überzeugungen und Urteile rechtfertigen. Vertritt man dagegen die Auffassung, dass Bilder Zeichen sind, deren Bedeutung wir erlernen müssen und die ähnlich wie sprachliche Zeichen zu Überzeugungen führen können, dann scheint erst einmal nichts dagegen zu sprechen, sie mit epistemischen Gründen zu vergleichen oder zumindest zuzugestehen, dass wir ähnlich wie mit Sätzen auch mit Bildern epistemische oder auch praktische Gründe ausdrücken können. An dieser Stelle taucht eine Zweideutigkeit auf, wie wir sie aus anderen philosophischen Bereichenkennen. So gilt in der Logik, dass aus den Sätzen A und »wenn A dann B« der Satz B folgt. Wenn wir nun das logische »folgt aus« durch »begründet« ersetzen, gelangen wir zur Behauptung, dass die Sätze A und »wenn A, dann B« den Satz B begründen bzw. die ersten beiden Sätze Grund für B sind. Was meinen wir aber hiermit genau? Wollen wir sagen, dass die Sätze abstrakte Propostionen ausdrücken und wir daher eigentlich meinen, dass die Propositionen der Sätze A und »wenn A, dann B« die Proposition B begründet? Oder wollen wir nur sagen, dass aus den beiden ersten Sätzen der dritte folgt? Was aber sind Sätze? Sind sie abstrakte oder konkrete Gegenstände? Diese Frage spiegelt sich in der Philosophie der Gründe wieder: sind Gründe abstrakte oder konkrete Gegenstände bzw. Relationen zwischen abstrakten oder konkreten Gegenständen? Für die Frage, ob und wie Bilder Gründe sein können, heißt dies zwischen der reinen Materialität des Bildes (dem Bildträger), dem Inhalt oder der Bedeutung des Bildes und seinem bildspezifischen Gebrauch zu unterscheiden sowie zu untersuchen, inwiefern diese gegebenenfalls Gründe sein können. Bei manchen Bildern lassen sich diese unterschiedlichen Merkmale von Bildern nur schwer voneinander trennen, gerade wenn man sie als Gründe für Handlungen und Überzeugungen betrachtet Man denke beispielsweise an Fotografien. Dass gerade Fotografien häufig Anlass und damit zumindest umgangssprachlich Gründe von Überzeugungen und Handlungen sein können, lässt sich in der Praxis häufig beobachten. Erinnert sei an die Fotografie, die den Ehemann mit seiner Geliebten im Bett zeigt. Dass dieses Bild auf ganz andere Weise Grund für eine Überzeugungen oder Handlung der Gattin sein kann als ein handgefertigtes Bild, ist schwer zu leugnen. Ein Grund hierfür ist, dass Fotografien in gewisser Hinsicht kausal von der dargestellten Szene erzeugt werden und gelungene Fotografien zudem den Sachverhalt darstellen. Die kausale Geschichte der Fotografie muss dabei an ihrer Materialität »ablesbar« und nachvollziehbar sein und macht die Fotografie dadurch zu einem ganz anderen Beweis (Grund!) als das handgemalte Bild. Genau mit dieser Problematik befasst sich Sören Kjörup in seinem Aufsatz »Snooping on Spies«. Er vertritt dabei die Auffassung, dass wir Fotografien zum einen als Beweise im Sinn von Spuren und zum andren als Bilder verwenden. Diese beiden Gebräuche unterscheiden sich aber grundlegend voneinander

Einführung

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und unser Vertrauen in Fotografien hängt letztlich davon ab, dass wir den Personen vertrauen, die behaupten, dass die Fotografie ein bestimmtes Ereignis zeigt. Ungeachtet ob man Kjörups Überlegungen an dieser Stelle zustimmt, folgt aus diesen natürlich nicht, dass man nur Fotografien die Rolle von Gründen zuschreiben kann. Denn dies hieße, die kognitive Funktion von Bildern im Allgemeinen zu übersehen. Auch handgefertigte Bilder können offensichtlich Gründe für zahllose Einsichten sein. Ein Bild von Josef Albers kann viel über die Qualitäten von Farben »erklären«, eine Karikatur kann uns Charaktereigenschaften eines Politikers verdeutlichen und im besten Fall können uns Bilder die Sicht auf die Welt des Malers zeigen. Ob und wie Bilder dies vermögen und ob sie damit Grund dafür sein können, dass ein Mensch etwas weiß und sein Wissen darauf beruht, weil er ein Bild gesehen hat, dies ist ein Frage, die den Kern der Philosophie der Bilder berührt. Zu diesem Kernbereich der Philosophie der Bilder gehört auch die weiterführende Frage, ob dieses Wissen, das auf Bildern beruht, sich in bestimmter Hinsicht streng von solchem unterscheiden lässt, das Personen aufgrund von Sprache erlangt haben. Für die These, dass sich in dieser Hinsicht Bilder von sprachlichen Zeichen präzise unterscheiden lassen, spricht die Tatsache, dass sich Bilder nur sehr bedingt in eine propositionale Struktur »übersetzen« lassen. Wir können nicht in allen Fällen sagen: wir tun X, weil auf dem Bild zu sehen ist, dass p. Denn zu unserem Umgang mit Bildern gehört ganz wesentlich, dass wir lediglich auf das Bild oder auf ein Detail des Bildes hinweisen, um etwas zu erklären oder eine Handlung zu motivieren. Im einfachsten Fall kann dies eine Farbe sein, für die wir kein passendes Prädikat besitzen oder es kann in einem etwas komplizierteren Fall der Gesichtszug einer dargestellten Person sein, der sich nicht in passende Worte fassen lässt. Dennoch ist es in beiden Fällen möglich, dass dieses »Nichtbeschreibbare« der Bilder als Grund für ein Verhalten oder für eine Überzeugung dient. Worin hier genau das Bildspezifische zu sehen ist, dieser Frage geht Manfred Harth in seinem Aufsatz »Können Bilder Gründe sein?« nach. Er kommt dabei zum Schluss, dass wenn auch Bilder spezifische Merkmale aufweisen, die sie von Sprache unterscheiden und somit nicht exakt auf dieselbe Weise Gründe sind, so können sie doch auf hinreichend ähnliche Weise Gründe sein wie Worte. Denkt man Harths These weiter, führt dies zu dem Fragenkomplex, welche nichtpropositionalen Gründe außer Bilder noch existieren und wie sich solche nichtpropositionalen Gründe in der Welt der Gründe allgemein einbetten lassen. Catrin Misselhorns Vorschlag hierzu ist, dass Bilder als Gründe gewisse Merkmale mit der Wahrnehmung einerseits und mit Zeugenaussagen andererseits teilen. Zu dieser Doppelnatur kommt es nach Misselhorn dadurch, weil Bilder mit der Wahrnehmung den Charakter als visuelle Erfahrung gemeinsam haben, während sie mit Zeugenaussagen die Eigenschaft teilen, dass ihr Gehalt durch ein anderes Subjekt vermittelt ist. An diesem Punkt schließen Misselhorns Gedanken somit an diejenigen Kjörups an. Es ist jeweils der sprachlich bestimmte Kontext, der Bildern ihre Bedeutung gibt und damit ihre Funktion in Begründungszusammenhängen festlegt. Welche Rolle dabei die visuellen Eigenschaften des Bildes spielen und inwiefern sich diese nicht sprachlich wiedergeben lassen, ist eine der Kernfragen, die dem Kolloquium »Bilder als Gründe« vorausging.

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An dieser Stelle sei neben den Referenten und den Teilnehmern des Kolloquiums »Bilder als Gründe« nicht zuletzt der DFG gedankt, die über drei Jahre das DFG-Netzwerk Bildphilosophie und damit auch im Rahmen des DGP-Kongresses 2011 dieses Kolloquium ermöglichte.

Bildwahrnehmung, Imagination und das Gefühl der Präsenz Überlegungen zum besonderen Status von Bildern als Gründen Catrin Misselhorn

Die Erfahrung bildlicher Repräsentation zeichnet sich durch eine sonderbare Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit aus. Auf der einen Seite haben wir das Gefühl, den abgebildeten Ereignissen unmittelbar beizuwohnen. Auf der anderen Seite ist uns jederzeit bewusst, dass die dargestellten Personen, Sachverhalte und Ereignisse nicht wirklich vor unseren Augen stehen. Und selbst wenn Bilder die dramatischsten Momente abbilden sind wir niemals versucht, in das Geschehen einzugreifen. Diese Besonderheit ist meiner Ansicht nach auf das besondere Zusammenspiel von Wahrnehmung und Imagination bei der Rezeption repräsentationaler Bilder zurückzuführen. Beim Betrachten stellen wir uns die beschriebenen Ereignisse vor. Diese Vorstellungen sind, wie ich zeigen werde, gekennzeichnet durch ein Gefühl der Präsenz des Bildgegenstands. Gleichwohl haben wir nicht das Gefühl, dass der abgebildete Gegenstand auch existiert. Das unterscheidet die Bilderfahrung von der Wahrnehmung, bei der sowohl das Gefühl der Präsenz als auch das Gefühl der Existenz des wahrgenommenen Gegenstands vorliegt. Ich werde dafür argumentieren, dass diese Differenz in hirnanatomisch und funktional unterschiedlichen visuellen Verarbeitungsprozessen begründet ist. Dabei greife ich auf den Ansatz von Milner und Goodale (1992, 1995, 2004, 2008) zurück, die zwei visuelle Systeme unterscheiden. Diese Unterscheidung schlägt sich auch im besonderen Status nieder, der Bildern als Gründen zukommt. Ich werde meine Überlegungen in fünf Schritten entwickeln: Am Anfang steht eine Verhältnisbestimmung von Wahrnehmung und Imagination. Im zweiten Schritt wird die Unterscheidung zwischen dem Gefühl der Präsenz und dem Gefühl der Existenz entwickelt. Dann komme ich auf die Theorie der zwei visuellen Systeme zu sprechen, durch die die Dichotomien Wahrnehmung vs. Imagination und Gefühl der Existenz vs. Gefühl der Präsenz erklärt wird. Im vierten Teil werden die Konsequenzen dieses Ansatzes für die Bildwahrnehmung dargelegt. Zuletzt erfolgt ein Ausblick darauf, wie sich die in den vorangegangenen Abschnitten entwickelte Konzeption bildlicher Wahrnehmung auf den Charakter von Bildern als Gründen auswirkt.

1. Wahrnehmung und Imagination Beginnen wir mit einer kleinen Kartographie geistiger Zustände, die uns dabei helfen soll, das Verhältnis von Wahrnehmung und Imagination besser zu verstehen. Der Bereich geistiger Zustände teilt sich auf in Erfahrung und Denken. Sowohl Erfahrungszu-

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stände als auch Gedanken können einen repräsentationalen Gehalt haben.1 Entscheidend ist, dass der Erfahrung außer dem Gehalt ein weiteres Merkmal zukommt, das dem Denken fehlt. Sie besitzt einen Erlebnisaspekt oder, anders formuliert, sie hat eine phänomenale Qualität. Das bedeutet, es fühlt sich auf eine bestimmte Art und Weise an, sie zu haben. Diese phänomenale Qualität betrifft zunächst die Sinnesmodalität, in der der repräsentationale Gehalt präsentiert wird. Repräsentationen unterschiedlicher Sinnesmodalitäten haben verschiedene phänomenale Qualitäten: Eine visuelle Erfahrung fühlt sich anderes an als eine auditive, taktile, gustatorische oder olfaktorische. Aber auch innerhalb einer Sinnesmodalität gibt es phänomenale Unterschiede, so fühlt sich eine Blauwahrnehmung anders an als eine Rotwahrnehmung. Der Erlebnisaspekt der Erfahrung beschränkt sich jedoch nicht auf ihre sinnliche Qualität, er kann auch affektiver Natur sein. Die affektive Qualität umfasst beispielsweise die Empfindung von Lust oder Unlust, aber auch Gefühle wie ein Ziehen, Stechen oder Prickeln. Die Gefühlsqualität von Emotionen, wie die Empfindung von Furcht, fällt ebenfalls darunter. Kommen wir nun zur Imagination. In der neueren Imaginationstheorie besteht weitgehend Konsens darüber, dass es eine notwendige Bedingung des Imaginierens ist, bewusste mentale Gehalte zu unterhalten, ohne deren Gegenstände für existent oder – wenn es sich um eine Proposition handelt – diese für wahr halten.2 Die Imagination nimmt eine Zwischenstellung zwischen der Erfahrung und dem Denken ein. Es gibt eine Form der Imagination, die zur Kategorie des Denkens zählt, und eine andere, die Erfahrungscharakter hat. Die erste Form nenne ich propositionale Imagination, weil es hier darum geht, sich die Wahrheit propositionaler Gehalte hypothetisch vorzustellen. Die zweite Art der Imagination liegt vor, wenn wir uns vorstellen, wie es wäre, wenn ein bestimmter repräsentationaler Gehalt der Fall wäre, und involviert die phänomenale Qualität einer Vorstellung. Ich bezeichne sie deshalb im Sinn des eben eingeführten Erfahrungsbegriffs als Erfahrungsimagination.3 Wenn ich in diesem Modus imaginiere, dass Schnee schwarz ist, dann stelle ich mir beispielsweise vor, wie es aussieht, wenn schwarzer Schnee auf den Dächern liegt und wie es sich anfühlt, in einem schwarzen Schneegestöber spazieren zu gehen. Die visuelle Imagination teilt dabei bestimmte phänomenale Qualitäten mit der Wahrnehmung. Es fühlt sich ähnlich an, schwarzen Schnee tatsächlich zu sehen und ihn sich visuell vorzustellen. Aus diesem Grund fällt die visuelle Imagination in die Kategorie der visuellen Erfahrung. Dazu gehören neben der Wahrnehmung und der visuellen Imagination beispielsweise auch Halluzinationen oder Träume. Nachdem wir die Wahrnehmung und die Die Frage, ob es auch mentale Zustände gibt, die keinen repräsentationalen Gehalt haben, lasse ich außen vor, da sie für unsere Thematik nicht von Bedeutung ist. 2 Variationen dieser Auffassung werden vertreten von: Scruton 1974, Walton 1990 sowie Currie & Ravenscroft, 2002, vgl. auch die Beiträge in Kieran & McIver Lopes 2003 und Nichols 2006. 3 Diese Terminologie schließt an Berys Gauts Begriff »experiential imagining« an (Gaut 2003). Andere Autoren haben vergleichbare Unterscheidungen mit etwas anderer Akzentsetzung vorgenommen. So unterscheidet Moran 1994 zwischen hypothetischer und dramatischer Imagination, während Goldman 2006 die Terminologie »Supposition« vs. »Enactment-Imagination« wählt. 1

Bildwahrnehmung, Imagination und das Gefühl der Präsenz

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Imagination auf der Landkarte des Mentalen situiert und ihre grundlegenden Merkmale bestimmt haben, möchte ich nun zum zweiten Teil meiner Argumentation kommen, in dem es um den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Imagination, dem Gefühl der Präsenz und dem Gefühl der Existenz geht. Die Wahrnehmung und die visuelle Imagination werden von einem Präsenzgefühl begleitet, während nur die Wahrnehmung auch ein Gefühl der Existenz involviert.

2. Das Gefühl der Präsenz vs. Das Gefühl der Existenz Die Wahrnehmung und die Erfahrungsimagination werden beide von einem Gefühl der Präsenz ihres Gegenstands begleitet. Dieses Präsenzgefühl hat aus meiner Sicht etwas mit ihrer phänomenalen Qualität zu tun. Ich möchte so weit wie möglich neutral im Hinblick auf die Analyse dieser phänomenalen Qualität bleiben, insbesondere im Hinblick auf die Frage, ob es spezifische phänomenale Eigenschaften (Qualia) gibt oder nicht. Nähert man sich der phänomenalen Qualität visueller Erfahrung rein phänomenologisch, so kann man feststellen, dass sie typischerweise zwei Seiten besitzt, eine subjektive und eine objektive. Sie ist einerseits eine Art von Bewusstsein, dass das Subjekt sich in einem bestimmten mentalen Zustand befindet. Aufgrund der phänomenalen Qualität der Wahrnehmung einer roten Rose ist das Subjekt sich beispielsweise bewusst, dass es gerade einer Rotwahrnehmung unterläuft. Andererseits zeigt sie dem Subjekt aber auch das Vorhandensein bestimmter Gegenstände oder Eigenschaften an.4 So erscheint die rote Farbe der Rose als Eigenschaft eines externen Gegenstands. Diesen Zusammenhang bringt bereits Kant in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft auf den Punkt: »Empfindung (…) drückt ebensowohl das bloß Subjektive unserer Vorstellungen der Dinge außer uns aus, aber eigentlich das Materielle (Reale) derselben (wodurch etwas Existierendes gegeben wird) (…).«(KdU, B XLIII/A XLI) Mich interessiert hier vor allem der zweite Teil des Zitats, in dem Kant der sinnlichen Qualität der Erfahrung eine existenzanzeigende Funktion zuschreibt. Auf diese existenzanzeigende Funktion der Sinnesempfindung war Kant bereits in der Kritik der reinen Vernunft näher eingegangen. Dort heißt es in der zweiten Auflage der Antizipationen der Wahrnehmung über die Empfindung, dass sie es ist »wodurch etwas Existierendes im Raume oder der Zeit vorgestellt wird.« (KrV B 208) In meiner Terminologie formuliert lautet Kants Auffassung: Die phänomenale Qualität der Erfahrung involviert ein Gefühl der Existenz, welches die objektive Seite des Bewusstseins ausmacht. Allerdings unterscheidet Kant eben nicht zwischen dem Gefühl der Existenz und dem Gefühl der Präsenz und das ist m.E. eine zu undifferenzierte Sichtweise. Denn wir können uns Vorstellungen mit sinnlichen und affektiven Qualitäten auch bloß imaginieren. Diese Vorstellungen werden – anders als Wahrnehmungen – nicht von einem Gefühl der Existenz begleitet. Es kommt uns niemals so vor, als würden die GegenDamit soll nicht ausgeschlossen werden, dass einige Formen visueller Erfahrung nur die subjektive Seite aufweisen, beispielsweise ein Roteindruck der das Drücken auf den Augapfel erzeugt wird. 4

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stände unserer Imagination wirklich existieren. Dennoch gibt es in der Imagination ein Moment, welches der objektiven Seite der Wahrnehmung entspricht. Die Gegenstände der Imagination erscheinen uns zwar nicht als existent, aber als sinnlich gegenwärtig. Ich schlage deshalb vor, das Gefühl der Präsenz vom Gefühl der Existenz zu unterscheiden. Das Gefühl der Präsenz liegt vor, wenn ein Gegenstand als sinnlich gegenwärtig empfunden wird. Das Gefühl der Existenz involviert demgegenüber die Empfindung, dass der wahrgenommene Gegenstand existiert, weil er in einer räumlichen Relation zum Wahrnehmenden steht. Dieses Gefühl besteht wesentlich darin, mit dem wahrgenommenen Gegenstand in Interaktion treten zu können. Freilich stellt sich die Frage, ob der Unterschied zwischen dem Gefühl der Präsenz und dem Gefühl der Existenz wirklich so grundlegend ist, dass man zwei unterschiedliche Termini dafür einführen sollte. Könnte man nicht einfach sagen, dass das Gefühl der Existenz in der Imagination nur schwächer ist, weniger intensiv, als in der Wahrnehmung, aber nicht grundsätzlich anders? In der Folge gäbe es keine kategoriale Unterscheidung von Imagination und Wahrnehmung, sondern nur eine graduelle. Eine solche gradualistische Auffassung schwebte beispielsweise Bishop Berkeley vor. Für ihn unterscheidet sich die Wahrnehmung von der Imagination nur graduell: »Die Ideen der Sinne sind kräftiger, lebhafter und bestimmter als die Ideen der Einbildungskraft. Es eignet ihnen ferner eine gewisse Beständigkeit, Ordnung und Kohärenz.« (Berkeley 1710/2004, 39) Doch all diese Merkmale begründen nur einen graduellen und keinen kategorialen Unterschied zwischen der Wahrnehmung und der Imagination. Das hat zur Folge, dass auch das Gefühl der Existenz in der Wahrnehmung und der Imagination grundsätzlich das gleiche ist, wenngleich unterschiedlich stark ausgeprägt: Je stärker, lebhafter, beständiger und bestimmter eine Vorstellung ist, und je stärker die gesetzmäßige Ordnung und der Zusammenhang ihrer Verknüpfung mit anderen Vorstellungen ist, desto mehr empfinden wir sie als real. Die These, dass der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Imagination, dem Gefühl der Präsenz und dem Gefühl der Existenz, nur graduell ist, möchte ich nun mit Hilfe empirischer Überlegungen angreifen.

3. Die Theorie der zwei visuellen Systeme Evidenzen aus der Wahrnehmungsphysiologie deuten darauf hin, dass es zwei verschiedene visuelle Systeme gibt, die sich auch hirnanatomisch unterscheiden (Ungerleider & Mishkin 1982; Goodale & Milner 1992, 1995, 2004, 2008). Das hängt damit zusammen, dass visuelle Stimuli auf zwei unterschiedliche Arten verarbeitet werden können. Aufgrund der unterschiedlichen Informationsverarbeitungsbahnen wird das eine als ventrales, das andere als dorsales System bezeichnet. Beide erfüllen unterschiedliche Funktionen. Ursprünglich wurde angenommen (Ungerleider & Mishkin 1982), dass das ventrale System der Objekterkennung dient (»Was-System«), während das dorsale System die Funktion hat, Objekte zu lokalisieren (»Wo-System«). Goodale und Milner (1992, 1995, 2004, 2008) konnten die Funktionsunterschiede jedoch präziser fassen und kommen zu einer etwas anderen Aufteilung. Sie bezeichnen das ventrale System als

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»vision for perception« und das dorsale system als »vision for action.« Ich übersetze diese Begriffe als perzeptuelles und handlungsleitendes Sehen. Das ventrale System, welches dem perzeptuellen Sehen zugrunde liegt, bildet auf der Basis des Wahrnehmungsinput bewusste perzeptuelle Repräsentationen, die visuelle Charakterisierungen der Wahrnehmungsobjekte bereitstellen, z. B. dass die Gegenstände eine bestimmte Form und Farbe haben, sich schnell oder langsam in diese oder jene Richtung bewegen. Es beinhaltet Informationen darüber, aus welchen Teilen (langen, kurzen, rundlichen, eckigen etc.) und in welcher Konfiguration ein Objekt besteht. Es erfasst auch Informationen über Gegenstände, die weit vom Wahrnehmenden entfernt sind. Das ventrale System repräsentiert die Gegenstände aus einer das wahrnehmenden Subjekt nicht mit einbeziehenden, allozentrischen Perspektive in ihrem räumlichen Verhältnis zueinander. Die durch das ventrale Sehsystem bereitgestellten Informationen können gespeichert und zu einem späteren Zeitpunkt erneut abgerufen werden. Das ventrale hat Einfluss auf die bewusste Planung und Ausführung von Handlungen. Das dorsale System, welche das handlungsleitende Sehen steuert, stellt hingegen visuelle Informationen für das motorische System bereit, auf deren Grundlage der Organismus sich zum Gegenstand verhalten kann. Es handelt sich um ein System, welches nur Informationen im näheren Umfeld des Wahrnehmenden erfasst, die auf das wahrnehmende Subjekt bezogen werden. Das System ist daher im Gegensatz zum ventralen Sehen egozentrisch und dient der Lokalisierung von Gegenstand relativ zum Wahrnehmenden. Die von ihm verarbeiteten Informationen werden nicht gespeichert und können später nicht mehr abgerufen werden. Sie spielen auf der Ebene der bewussten Planung und Ausführung von Handlungen keine Rolle, sondern dienen der unbewussten Koordination von Bewegungen, z. B. wenn ein Gegenstand manipuliert oder ergriffen werden soll. Aus diesem Grund bezeichnen Goodale und Milner (2004) das perzeptuelle Sehen auch als bewusstes Sehen im Gegensatz zum unbewussten bewegungsleitenden Sehen. Die Unterscheidung des perzeptuellen und des handlungsleitenden Sehens ist vom alltagssprachlichen Standpunkt ungewohnt, weil wir normalerweise unter Wahrnehmung nur das perzeptuelle Sehen verstehen. Das liegt vermutlich daran, dass nur das perzeptuelle Sehen die Bewusstseinsebene erreicht und gewöhnlich beide Formen zusammen auftreten. Die Evidenz für die Unterscheidung der beiden Sehsysteme beruht wesentlich auf Experimenten, die zeigen, dass beide Systeme bis zu einem gewissen Grad unabhängig voneinander arbeiten. Dies beweist zum einen das Phänomen der doppelten Dissoziation der Symptome, die bei Hirnläsionen der entsprechenden Regionen auftreten. Bei Patienten mit optischer Ataxie liegt eine Schädigung im Bereich der dorsalen Bahn vor. Sie haben bewusste visuelle Wahrnehmungsrepräsentationen und können die gesehenen Objekte beschreiben. Sie sind jedoch nicht in der Lage, nach Objekten zu greifen und diese zu manipulieren. Die Greifbewegungen gehen in die falsche Richtung (Milner, Dijkerman, McIntosh, Rossetti & Pisella 2003) und Grifföffnung und -Winkel werden nicht richtig eingestellt (Jakobson, Archibald, Carey, & Goodale 1991; Jeannerod, Decety, & Michel 1994). Komplementäre Evidenzen stammen aus Versuchen mit einer Patientin, deren ventrales System eine Läsion aufweist und die daher an optischer Form-Agnosie leidet

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(James, Culham, Humphrey, Milner, & Goodale, 2003; Milner, Perrett, Johnston, Benson, Jordan, Heeley et al. 1991). Obwohl diese Patientin keine visuelle Charakterisierung der Objekte, ihrer Größe oder Ausrichtung geben kann, hat sie keine Schwierigkeiten damit, Objekte zu ergreifen. Auch bei nicht geschädigten Versuchspersonen lässt sich jedoch eine Dissoziation der beiden Systeme unter spezifischen Bedingungen erreichen. Diese liegen v.a. bei optischen Illusionen vor, wie beispielsweise der EbbinghausTitchener-Illusion.

Abb. 1 Ebbinghaus-Titchener Illusion

Die inneren Kreise dieser beiden Figuren sind gleich groß, aber der innere Kreis der linken Figur erscheint größer als derjenige der rechten. Die Theorie der beiden visuellen Systeme prognostiziert nun, dass nur das perzeptuelle Sehen von der Illusion betroffen ist, während das bewegungsleitende Sehen die Stimuli korrekt verarbeitet. Es erfolgt also eine Dissoziation des perzeptuellen und des bewegungsleitenden Sehens. Diese Prognose wurde experimentell bestätigt (Aglioti, Goodale & DeSouza 1995). Obwohl die Versuchspersonen auf der Ebene des perzeptuellen Sehens der Illusion erliegen, richten sie ihre Greifbewegungen an der realen und nicht an der illusionären Größe aus. Das spricht dafür, dass die visuelle Information, die das motorische System verwendet, unabhängig von derjenigen ist, auf der das perzeptuelle Sehen beruht. An diesem Beispiel wird auch deutlich, warum der alltägliche Begriff der Wahrnehmung, der nur das perzeptuelle Sehen umfasst, unzureichend ist. Die Tatsache, dass die Greifbewegungen sich an der realen Größe orientieren, spricht dafür, dass es noch eine andere Verarbeitungsform visueller Stimuli geben muss, weil die Information über die reale Größe der Kreise auf keinem anderen Weg erlangt werden kann als über die Wahrnehmung, da die Versuchsperson nicht in Berührung mit den Objekten gekommen ist. Ein weiteres Experiment mit einer ähnlichen Stoßrichtung bedient sich der Illusion der Tiefenumkehr (Kroliczak, Heard, Goodale & Gregory 2006). Die optische Täuschung besteht darin, dass wir dreidimensional hervorstehende Gesichter wahrnehmen, wo in Wirklichkeit eine nach innen gewölbte Struktur vorliegt. Eine konkave Gesichtsmaske erscheint also bei richtiger Beleuchtung konvex. Gleichwohl irrten sich Versuchspersonen in ihrer Greifbewegung nicht, wenn sie einen kleinen Fremdkörper auf der Gesichtsmaske entfernen sollten. Sie griffen in den Hohlraum und nicht auf die visuell erscheinende Vorwölbung. Auch das spricht dafür, dass das deskriptive und das bewegungsleitende Sehsystem unabhängig voneinander arbeiten.

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Es gibt allerdings auch Gegenevidenzen. Diese zeigen einerseits, dass Patienten mit optischer Ataxie unter bestimmten Umständen visuelle Information zur motorischen Kontrolle benutzen können, und andererseits, dass auch Bewegungen in bestimmten Fällen von optischen Illusionen beeinflusst werden (Pisella, Binkofski, Lasek, Toni & Rossetti 2006). Gleichwohl stellen diese Versuche die Hypothese der zwei visuellen Systeme nicht grundsätzlich in Frage. Sie legen aber nahe, dass die beiden Systeme nicht völlig isoliert voneinander arbeiten (eine Auseinandersetzung mit der Kritik findet sich in Milner & Goodale 2008). Im vorliegenden Kontext ist entscheidend, dass das Gefühl der Präsenz – so meine Hypothese – das perzeptuelle Sehen begleitet, während das Gefühl der Existenz auf den Einfluss des bewegungsleitenden dorsalen Sehens zurückgeht. In der Folge, kann das Gefühl der Präsenz auch dann vorliegen, wenn nur das perzeptuelle Sehsystem aktiv ist. Das Gefühl der Existenz hingegen erfordert die Aktivität des bewegungsleitenden Sehsystems. Da auch diejenigen Personen, deren perzeptuelle Wahrnehmung gestört ist, die Anwesenheit eines Stimulus empfinden können (Tapp 1997; Kentridge, Heywood & Weiskrantz 1999), liegt der Schluss nahe, dass das Gefühl der Existenz auch dann gegeben sein kann, wenn kein deskriptives Sehen vorliegt. Umgekehrt liegt bei der visuellen Imagination gemäß meiner Hypothese nur das Gefühl der Präsenz vor, nicht jedoch das Gefühl der Existenz. Auch in diesem Fall ist somit die Möglichkeit einer doppelten Dissoziation gegeben. Es ist also nicht der Fall, dass zwischen dem Gefühl der Präsenz und dem Gefühl der Existenz lediglich ein gradueller Unterschied besteht, wie Berkeley annahm. Vielmehr sprechen hirnanatomische und funktionale Unterschiede für eine kategoriale Differenz zwischen beiden, die darauf zurückgeht, dass sie auf unterschiedlichen visuellen Verarbeitungsprozessen beruhen. Es gibt allerdings noch eine andere Alternative zu der hier vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen dem Gefühl der Existenz, welche das bewegungsleitende Sehen begleitet, und dem Gefühl der Präsenz, das dem perzeptuellen Sehen zukommt (sei es als perzeptuelle Wahrnehmung oder visuelle Imagination). Matthen (2005) schlägt vor, dass nur das bewegungsleitende Sehen zu einem Präsenzgefühl führt, während das perzeptuelle Sehen rein deskriptiv ist (Matthen 2005, 306). Doch dieser Ansatz leidet unter dem Manko, dass die Gemeinsamkeit von visueller Wahrnehmung und visueller Imagination als Formen visueller Erfahrung im Gegensatz zur rein deskriptiven sprachlicher Repräsentation dadurch nicht deutlich wird. Das perzeptuelle Sehen wird in diesem Ansatz zu sehr der sprachlichen Repräsentation angeglichen. Die hier vorgeschlagene Konzeption kann den Unterschied zwischen sprachlicher Repräsentation und visueller Erfahrungsrepräsentation hingegen dadurch machen, dass nur die visuelle Erfahrung, aber nicht die sprachliche Repräsentation von einem Präsenzgefühl begleitet wird. Als Spezies visueller Erfahrung haben die visuelle Wahrnehmung und die visuelle Imagination dieses Präsenzgefühl gemeinsam. Der Unterschied zwischen beiden wird dadurch markiert, dass nur die visuelle Wahrnehmung, bedingt durch den Einfluss des bewegungsleitenden Sehens, auch vom Gefühl der Existenz des Wahrgenommenen begleitet wird, während das für die visuelle Imagination nicht gilt. Auf dieser Grundlage möchte ich nun den dritten Schritt meines Gedankengangs entwi-

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ckeln, der zeigen soll, welche Rolle die visuelle Imagination und das mit ihr verbundene Gefühl der Präsenz bei der Bild-wahrnehmung spielt.

3. Visuelle Imagination und die Wahrnehmung von Bildern Die Betrachtung von Bildern besitzt eine Phänomenologie, die »zwischen Wahrnehmung und Imagination vermittelt«, wie Lambert Wiesing es treffend auf den Punkt gebracht hat (Wiesing 2005, 112). Diesem phänomenologischen Befund möchte ich im Folgenden auf den Grund gehen. Die Vermittlung besteht darin, dass bei der visuellen Erfahrung von Bildern die Wahrnehmung des Bildträgers und die Imagination des Bildgegenstands auf eine ganz bestimmte Art und Weise ineinandergreifen. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist Doppelstruktur (two-foldedness) der Bildwahrnehmung, die als Charakteristikum der Bilderfahrung weitgehend einhellig in der neueren Diskussion über die Natur bildlicher Repräsentation akzeptiert wird (Hopkins 1998, 77). Wollheim bestimmt diese Doppelstruktur als ein distinktives phänomenologisches Merkmal der Erfahrung bildlicher Repräsentation: “The distinctive phenomenological feature [of pictorial experience] I call ‘two-foldedness’, because, when seeing-in occurs, two things happen: I am visually aware of the surface I look at, and I discern something standing out in front of, or (incertain cases) receding behind, something else.” (Wollheim 1987, 48) Wir sehen auf der einen Seite den materiellen Bildträger (also z. B. die Textur der Leinwand, Farben und Formen), auf der anderen Seite sehen wir zugleich den oder die dargestellten Gegenstände (ab jetzt: Bildgegenstand). Betrachten wir beispielsweise das Stillleben »Glasflasche mit Früchten« von Jean Siméon Chardin (um 1750). Der Bildgegenstand auf diesem Stillleben ist eine Tischplatte mit verschiedenen Früchten, einer Karaffe und einem Pokal. Die Seherfahrung des Bildträgers und des Bildgegenstands unterscheiden sich qualitativ ganz wesentlich: Nur den Bildträger nehmen wir als einen realen Gegenstand vor uns wahr, den Bildgegenstand hingegen nicht. Das wirkt sich auch auf unser Verhalten aus. Wir kämen nie nicht auf die Idee, nach der auf Chardins Stillleben abgebildeten Birne zu greifen, um hineinzubeißen. Wollheim bleibt allerdings beim phänomenologischen Befund der »two-foldedness« stehen und kann nicht wirklich eine Erklärung dafür geben. Aus meiner Sicht besteht hier Erklärungsbedarf. Eine Erklärung, wie die Wahrnehmung des Bildträgers und die Wahrnehmung des Bildgegenstands zusammenhängen, wurde von Kendall Walton versucht (Walton 1990, 1991, 2002). Ich schließe mich der Auffassung an, nach der die visuelle Erfahrung eines Bildes ein komplexer mentaler Zustand ist, der sich aus einer Wahrnehmung des Bildträgers und der Imagination des Bildgegenstands zusammensetzt. Es gibt selbstverständlich auch andere Konzeptionen der Bildwahrnehmung (beispielsweise McIver Lopes 1996, Hopkins 1998, Hyman 2006). Aber wie wir sehen werden, bietet Waltons Theorie die besten Anknüpfungspunkte für den Ansatz der zwei visuellen Systeme.

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Es stellen sich jedoch zwei Fragen im Hinblick auf die Natur dieses komplexen Zustands: Die erste ist: welche Art von Imagination beinhaltet das Sehen des Bildgegenstands? Handelt es sich um eine visuelle oder um eine propositionale Imagination? Die zweite Frage betrifft das Verhältnis von Wahrnehmungszustand und imaginativer Repräsentation beim Betrachten eines Bildes: Treten diese beide Zustände einfach nur gleichzeitig auf oder sind sie irgendwie aufeinander bezogen? Beginnen wir mit der ersten Frage: In welcher Art und Weise wird der Bildgegenstand imaginiert? Geschieht dies im Modus der visuellen Erfahrungsimagination oder handelt es sich um eine propositionale Imagination. Wenn es sich um eine propositionale Imagination handeln würde, dann nähmen wir beim Betrachten von Chardins Stillleben den materiellen Bildträger wahr und würden uns zugleich einen Gedanken etwa mit dem Inhalt vorstellen: »Dort ist eine Birne« oder »Ich sehe eine Birne.« Diese Auffassung wird jedoch der Phänomenologie der Bildbetrachtung nicht gerecht. Denn diese erschöpft sich nicht im Denken an die besagten Gegenstände, sondern sie beinhaltet die Erfahrung der visuellen Erscheinung der dargestellten Objekte. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass der Bildgegenstand perspektivisch erfahren wird. Wir sehen die Objekte – wie in der Wahrnehmung – von bestimmten Seiten und aus einem bestimmten Blickwinkel. Außerdem wenden wir unsere Fähigkeiten zur visuellen Objekterkennung an, wenn wir ein Bild anschauen. So greifen wir auf bereits erlebte Wahrnehmungen bestimmter Objekte oder Personen zurück, um sie auf Bildern zu wiederzuerkennen. Umgekehrt können wir aus einer Abbildung lernen, wie ein Gegenstand in Wirklichkeit aussieht, und sind in der Lage, ihn anhand seiner visuellen Erscheinungsweise zu erkennen. Das spricht dafür, dass auch die imaginative Komponente der Bilderfahrung visuell ist, d. h. es handelt sich um eine Erfahrungsimagination mit visuellem Charakter. Bleibt die zweite Frage: In welchem Verhältnis stehen das perzeptuelle Element (also die Wahrnehmung des Bildträgers) und das imaginative Element (also die visuelle Imagination des Bildgegenstands)? Treten sie einfach nur gleichzeitig auf oder sind sie irgendwie aufeinander bezogen? Die erste Möglichkeit erweist sich als wenig plausibel: Denn eine Wahrnehmung und eine visuelle Imagination, die gleichzeitig auftreten, sind nicht hinreichend für die visuelle Erfahrung eines Bildes. Nehmen wir an, ich schaue aus dem Fenster meines Büros in den Park (Wahrnehmung) und stelle mir zugleich vor, wie ich am Abend zu Hause ein schönes Essen zubereite (Imagination). In diesem Fall sind beide Elemente gegeben, aber sie führen nicht zu einer Bilderfahrung. Es genügt also nicht, dass Wahrnehmung und Imagination parallel ablaufen, sondern sie müssen irgendwie aufeinander bezogen sein. Die dritte Frage ist, wie dieser Zusammenhang beschaffen sein muss. Diese Frage kann auf zwei Arten beantwortet werden. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass es sich um einen rein kausalen Zusammenhang handelt. Dann würde die Wahrnehmung des materiellen Bildträgers die Imagination des Bildgegenstands lediglich verursachen. Dass das nicht genügt, zeigt folgendes Beispiel: Die Wahrnehmung von Van Goghs Gemälde Das Meer bei Saintes-Maries (1888) kann die Ursache dafür sein, dass ich mir visuell vorstelle, wie ich einen schönen Teller mit gegrilltem Fisch verspeise. Dennoch

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stellt das Bild keinen Teller mit Fisch dar. Ein kausaler Zusammenhang zwischen dem materiellem Träger und dem imaginierten Bildgegenstand ist daher nicht hinreichend für die Bildwahrnehmung. verursacht die visuelle Imagination, welche sich ihrerseits auf die Wahrnehmung bezieht. Anders formuliert, die Wahrnehmung muss der intentionale Gegenstand der Imagination sein. Dies ist die zweite Möglichkeit, für die sich auch Walton entscheidet. Nach Walton stellen wir uns bei der Bildbetrachtung vor, die Wahrnehmung des materiellen Bildträgers sei eine Wahrnehmung des Bildgegenstands (Walton 2002). Er prägt dafür den Begriff der imaginativen Wahrnehmung (imaginative perception). An dieser Stelle gilt es genau zu differenzieren. Die imaginative Wahrnehmung ist nämlich nicht etwa damit gleichzusetzen, dass wir uns von einem Bild vorstellen, es sei ein Gegenstand, so wie wir uns von einer Banane vorstellen können, sie sei ein Telefonhörer. Wir stellen uns vielmehr vor, die visuelle Erfahrung des Bildes sei eine visuelle Erfahrung des dargestellten Gegenstands. Daraus ergibt sich jedoch ein Problem: Denn wenn diese Auffassung stimmt, stellt sich die Frage, wie es um die Doppelstruktur der Bildwahrnehmung – die two-foldedness – bestellt ist, die unser Ausgangspunkt war. Kann man eine Erfahrung zugleich als visuelle Erfahrung des Bildträgers erleben und imaginieren, eben dieselbe sei eine visuelle Erfahrung des Bildobjekts? Das scheint ebenso wenig möglich zu sein, wie gleichzeitig den Geschmack saurer Milch zu empfinden und sich vorzustellen, es handele sich um eine geschmackliche Erfahrung frischer Milch. Die eine Erfahrungsqualität verdrängt die andere. Wenn wir uns erfolgreich vorstellen, die Milch schmecke frisch, dann verschwindet der schlechte Geschmack (Nanay 2004, 288). Übertragen auf die Bildwahrnehmung würde das bedeuten, die visuelle Erfahrung des Bildgegenstands tritt an die Stelle der Wahrnehmung des materiellen Bildobjekts. Das ist einerseits phänomenologisch plausibel, denn der Bildgegenstand und der materielle Bildträger scheinen in der Bildwahrnehmung tatsächlich nicht gleichrangig zu sein. Wir sehen letztlich nur den Gegenstand und müssen richtiggehend umschalten, um davon zu abstrahieren und den materiellen Bildträger als solchen wahrzunehmen. Auf der anderen Seite ist es freilich auch nicht so, dass die Imagination vollständig an die Stelle der Wahrnehmung tritt. Vielmehr sind wir doch irgendwie auch die ganze Zeit des materiellen Bildträgers gewahr. Und genau aus dieser Tatsache zieht die These der Doppelstruktur der Bildwahrnehmung ihre Überzeugungskraft. Wie lassen sich diese einander widerstrebenden Tendenzen in Einklang bringen? Mein Vorschlag ist, eine Erklärung dieses scheinbar widersprüchlichen Eindrucks auf der Grundlage der Unterscheidung der beiden visuellen Systeme zu versuchen. Zu einfach wäre es allerdings, von einer simplen Dichotomie auszugehen. Es ist nicht etwa so, dass die Wahrnehmung des materiellen Bildträgers nur das bewegungsleitende Sehsystem involviert, während die visuelle Imagination des Bildgegenstands vom perzeptuellen Sehsystem freihändig vorgenommen wird. Vielmehr muss uns die deskriptive Wahrnehmung mit bestimmten Merkmalen des Bildträgers versorgen, die der Imagination zugrunde gelegt werden. Mit Hilfe des deskriptiven Systems sehen wir z. B. einen gelben Fleck von einer bestimmten Form. Diese Erfahrung wird durch die Imagination

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umgeformt in die visuelle Erfahrung einer gelben Birne, wobei bestimmte Merkmale in diesem Prozess erhalten bleiben. Allerdings werden diese dann nur noch als Eigenschaften des Bildgegenstandes und nicht mehr als Eigenschaften des materiellen Bildträgers erfahren. Unabhängig davon erfolgt zugleich eine Wahrnehmung des materiellen Bildträgers über das bewegungsleitende Sehsystem. Aus diesem Grund sehen wir zwar auf der bewussten Ebene nur den Bildgegenstand, sind aber des Bildträgers gleichwohl gewahr. Da sich das bewegungsleitenden Sehen jedoch nur auf den Bildträger und nicht auf die dargestellte Szene bezieht, erzeugt die Wahrnehmung eines Bildes – und sei es noch so lebensecht – im Hinblick auf den Bildgegenstand nicht das Gefühl der Existenz in uns, weil wir nicht das Gefühl haben, uns mit den dargestellten Objekten im selben Raum zu befinden. Bilder erscheinen uns daher nicht wirklich als Fenster zur Welt. Gleichwohl können Bilder ein Gefühl der Präsenz erzeugen, insofern sie uns zur Imagination der abgebildeten Gegenstände animieren. Das Gefühl der Präsenz zeigt sich beispielsweise eindrücklich daran, dass wir uns von einem Portrait beobachtet fühlen können. Diese Eigenschaft wäre nicht zu erklären, wenn das Gefühl der Präsenz mit dem Gefühl der Existenz identisch wäre. Denn wir haben zugleich nicht den Eindruck, dass die dargestellte Person existiert. Wir können also als Fazit bis hierher festhalten, dass sich die Erfahrung von Bildern durch eine spezifische Verbindung der Wahrnehmung des materiellen Bildträgers und der visueller Imagination des Bildgegenstands auszeichnet. Dabei sind zwei verschiedene visuelle Systeme involviert, einerseits das perzeptuelle ventrale Sehsystem und andererseits das bewegungsleitende dorsale System. Die Wahrnehmung des Bildträgers durch das bewegungsleitende System ist mit einem Gefühl der Existenz verbunden, während die Imagination des Bildgegenstands mit Hilfe des perzeptuellen Sehsystems mit dem Gefühl der Präsenz einhergeht. Obwohl diese Analyse der Bildwahrnehmung explanatorisch stark ist, steht sie einer fundamentalen Herausforderung gegenüber: Ist sie auch empirisch haltbar? Goodale und Milner haben beobachtet, dass die Patientin, deren ventrales System geschädigt war, sich gleichwohl Dinge visuell vorstellen konnte und auch in ihren Träumen visuellen Erfahrungen unterlief, die nicht weniger lebhaft waren als vor ihrem Unfall (Goodale & Milner 2004, 12). Daraus schließen sie, dass die visuelle Imagination nicht von genau denselben Gehirnstrukturen abhängen kann, wie das perzeptuelle Sehen. Doch wenn das der Fall ist, kann die visuelle Imagination nicht die Rolle bei der Bildwahrnehmung spielen, die ich ihr zugeschrieben habe. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Evidenzen dafür, dass sie visuelle Imagination und die visuelle Wahrnehmung auf denselben neurophysiologischen Prozessen beruhen. Die Lage ist unübersichtlich (zum Überblick über die Evidenzen dafür vgl. Kosslyn; dagegen vgl. Bértolo 2005), aber einiges spricht dafür, dass größere Bereiche des Gehirns, die bei der visuellen Wahrnehmung und der visuellen Imagination aktiviert werden, tatsächlich identisch sind. Eine Studie von Ganis, Thompson und Kosslyn (2004) ist für unsere Fragestellung besonders aufschlussreich, da sie die visuelle Wahrnehmung mit Hilfe von Bildern operationalisiert und mit der visuellen Imagination des Abgebilde-

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ten vergleicht. Dabei kommt heraus, dass bei der Bildwahrnehmung und der visuellen Imagination stark überlappende Bereiche des Gehirns involviert sind. Das bedeutet, der Bildwahrnehmung und der visuellen Imagination unterliegen sehr stark überlappende Hirnstrukturen. Das spricht für die hier vertretene Auffassung, dass die visuelle Imagination auch bei der Bildwahrnehmung beteiligt ist. Das schließt nicht aus, dass Unterschiede zwischen der reinen visuellen Imagination und der Wahrnehmung bestehen. Der Ansatz der zwei visuellen Systeme legt dies sogar nahe, da das dorsale System bei der reinen Imagination nicht beteiligt ist. Bei der Bildwahrnehmung hingegen sind beide Systeme aktiv, aber in einer etwas anderen Art und Weise als bei der normalen Gegenstandswahrnehmung, bei der die Imagination nicht beteiligt ist. Gleichwohl bleibt die Frage bestehen, wie im Rahmen meiner Konzeption der Imagination und der Bildwahrnehmung die Beobachtung von Goodale und Milner (2004) zu erklären ist. Hier könnte es von Bedeutung sein, dass die visuelle Imagination in beiden Fällen auf unterschiedliche Art und Weise aktiviert wird. Während sich das Subjekt im Fall der freien visuellen Imagination etwas willentlich vorstellt, wird die Imagination im Fall der Bildwahrnehmung durch die Merkmale des wahrgenommenen Bildträgers aktiviert (z. B. Farb- und Formeigenschaften). Dies entspricht den experimentellen Resultaten, die nahelegen, dass die Kontrolle im Fall der freien visuellen Imagination im Unterscheid zur perzeptuellen Wahrnehmung »top-down« ist und das Langzeitgedächtnis involviert (Ishai, Ungerleider & Haxby 2000). Das spricht dafür, dass im Fall der untersuchten Patienten mit einer Läsion der ventralen Bahn, diese irgendwo auf dem Weg vom Stimulus zur bewussten visuellen Wahrnehmung gestört ist. Gleichwohl kann das perzeptuelle Sehsystem noch auf dem »topdown« Weg mit Hilfe des Langzeitgedächtnisses aktiviert werden. Da es sehr wenige Fälle mit dieser Diagnose gibt, ist ein Vergleich unterschiedlicher Symptomen allerdings nicht durchzuführen. Die Tatsache, dass eine Beeinträchtigung der ventralen Bahn nicht notwendigerweise zu einem Ausfall der visuellen Imagination führt, spricht also nicht gegen den hier verfolgten Erklärungsansatz. Damit sind wir beim letzten Schritt meines Argumentationsgangs angelangt, der die Konsequenzen des bis hierher entwickelten Ansatzes für den Status von Bildern als Gründen darlegt.

4. Das Gefühl der Präsenz und Bilder als Gründe Den Begriff eines Grundes kann man einerseits im epistemischen Sinn verstehen, als etwas, das dafür spricht, dass etwas der Fall ist. So spricht ein deduktiver Schluss für die Wahrheit der Konklusion, sofern die Prämissen wahr sind, und meine Wahrnehmung, des Blumenkübels vor mir spricht dafür, dass dort ein Blumenkübel steht. Bilder als Gründe teilen meiner Ansicht nach gewisse Merkmale mit der Wahrnehmung einerseits und mit Zeugenaussagen andererseits. Mit der Wahrnehmung teilen sie den Charakter als visuelle Erfahrung, während sie mit Zeugenaussagen gemeinsam haben, dass ihr Gehalt durch ein anderes Subjekt vermittelt ist. Man könnte erwägen, noch einen Unterschied zwischen Bildern zu machen, in denen das Dargestellte mehr oder weniger

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vollständig von den Absichten eines Subjekts bestimmt wird (z. B. Gemälden) und solchen Bildern, die eher wie die Aufzeichnung einer Maschine funktionieren, insbesondere analoge Fotografien, die rein mechanisch zustande gekommen sind. Darauf werde ich später zu sprechen kommen. Sowohl bei der Wahrnehmung als auch bei Zeugenaussagen besteht der Grund in einem repräsentationalen Gehalt, der für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts spricht. Anders formuliert: Der Grund fungiert als ein Indikator des Begründeten (Luper-Foy 1987). Dieser Gehalt kann bei Bildern einfach nur darin bestehen, einen Gegenstand a als Träger einer Eigenschaft F zu vergegenwärtigen, darüber hinaus kann aber auch eine Bewertung des Sachverhalts vorliegen, also es ist gut/schlecht, dass a F ist. Welche evaluativen Einstellungen Bilder zum Ausdruck bringen, hängt davon ab, in welchem Licht der Bildgegenstand gezeigt wird. So kann die Untersicht als Kameraperspektive in einem Film beim Zuschauer Ehrfurcht gegenüber dem Objekt erwecken. Um die Besonderheit von Bildern als Gründen besser erfassen zu können, möchte ich noch einmal auf die Kartographie geistiger Zustände vom Anfang zurückkommen. Wie wir gesehen hatten, unterscheiden sich Erfahrungszustände von Gedanken durch ihre phänomenale Qualität sinnlicher oder affektiver Art. Wie ich weiter argumentiert hatte, ist die Bildwahrnehmung eine Form der visuellen Erfahrung, die die Wahrnehmung des Bildträgers und die visuelle Erfahrungsimagination des Bildgegenstandes involviert. Auch die Bildwahrnehmung verfügt daher über eine phänomenale Qualität. Und zwar übermittelt ein Bild visuelle Informationen in visueller Form. Das klingt trivial, ist es aber nicht. So übermittelt auch die Aussage: »Katjas Wohnung macht einen geräumigen Eindruck« visuelle Information, aber nicht in visueller Form. Sowohl durch den repräsentationalen Gehalt als auch durch die mit bestimmten Farben und Formen verknüpften Affektqualitäten kann dann eine Bewertung des Dargestellten vorgenommen werden. Insofern es dem Bild gelingt, diese Affektqualitäten im Betrachter hervorzurufen, bezieht sich das Gefühl der Präsenz nicht mehr nur auf den Gegenstand, sondern auch auf die Bewertung. Der Betrachter sieht den Gegenstand in seiner Imagination förmlich im Licht der Bewertung. So zeigt das berühmte Bild aus dem Vietnamkrieg, mit dem Nick Ut den Pulitzer Preis gewann, nicht nur eine Gruppe von Kindern, darunter am auffälligsten ein etwa neunjähriges Mädchen, das dem Betrachter nackt und offenbar traumatisiert auf der Flucht vor einer Napalm-Attacke entgegenläuft. Es bringt auch eine negative Bewertung des Geschehens zum Ausdruck. Diese Bewertung geht zum einem vom repräsentationalen Gehalt des Bildes aus, das leidende Kinder zeigt, also einen offensichtlich negativ zu bewertenden Sachverhalt. Diese negative Bewertung wird aber durch die Art und Weise verstärkt, wie das Leid der gepeinigten Kinder eingefangen ist (sie kommen hilfesuchend, aber auch fast anklagend auf den Betrachter zu) und findet in der phänomenalen Qualität der schwarz-weiß Photographie ihren Niederschlag, in der alles Positive mit der Farbe aus der Welt verschwunden zu sein scheint. Die Kraft von Bildern als Gründen beruht darauf, dass sie das Gefühl der Präsenz eines Gegenstands oder Sachverhalts erzeugen, und zwar auf der Grundlage der vom Gefühl der Existenz begleiteten Wahrnehmung des Bildträgers. Aus diesem Grund können

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sie eine Überzeugungskraft entwickeln, die nahe an der Wahrnehmung ist, welche ja geradezu als Präzedenzfall eines guten Grundes gilt, wie die Formel »Ich habe es selbst gesehen!« zeigt. Diese Eigenschaften macht sich insbesondere die sakrale Kunst zunutze, um die Wahrheit religiöser Geschehnisse, wie die Kreuzigung Christi und sogar die Auferstehung, erfahrbar zu machen und somit zu beglaubigen, wie beispielsweise Matthias‘ Gründewalds beeindruckende Auferstehungstafel des Isenheimer Altars (um 1505–15). Es gibt aber nicht nur epistemische, sondern auch motivierende Gründe. Motivationsgründe sprechen nicht primär dafür, etwas zu glauben, sondern dafür, etwas zu tun. So fahre ich aus dem Grund ins Museum, weil ich ein bestimmtes Bild sehen möchte und glaube, dass es sich dort befindet. Bilder können jedoch nicht nur Gegenstand motivierender Gründe sein wie in diesem Beispiel. Sie können aufgrund des Dargestellten auch dazu motivieren, etwas zu tun. Sie sind im Stande, auf der Grundlage des Präsenzgefühls eine sehr stark motivationale Kraft entwickeln, die derjenigen des bloßen Worts überlegen ist. Das liegt nicht zuletzt an ihrer affektiven phänomenalen Qualität. Durch ihren Präsenzcharakter können sie Emotionen wie Wut, Angst oder Begeisterung besonders leicht erregen, die ihrerseits stark handlungsmotivierend sind. Diese Tatsache zeigte sich beispielsweise daran, dass die Risiken der Atomkraft längst bekannt sind, aber bei vielen Menschen erst Einfluss auf die Handlungsmotivation gewannen, als die Bilder von Fukushima um die Welt gingen, die diese Risiken vergegenwärtigten. Bilder als Gründe haben jedoch auch einige Schwächen. Diese lassen sich darauf zurückführen, dass zwar sowohl das Gefühl der Präsenz als auch das Gefühl der Existenz vorliegen, sie aber nicht in derselben Art und Weise wie bei der Wahrnehmung zusammenspielen. Das betrifft vor allem den Status von Bildern als epistemische Gründe. Denn es stellt sich die Frage, ob das Gefühl der Präsenz des Bildgegenstands, das Bilder erzeugen, auch zuverlässig für die Existenz ihres Gegenstandes spricht. Dies ist nicht der Fall. Nur das Gefühl der Existenz, aber nicht das Gefühl der Präsenz spricht für die Existenz seines Gegenstands. Das Gefühl der Existenz bleibt jedoch bei der Bildwahrnehmung auf den Bildträger beschränkt und umfasst nicht den Bildgegenstand. Somit wird die Existenz des Dargestellten im Bild, anders als in der Wahrnehmung, letztlich nicht beglaubigt. Betrachtet man die Geschichte der Malerei, so haben bildende Künstler nach unterschiedlichen Strategien gesucht, um mit dieser Tatsache umzugehen. So hat Andrea Verrocchio (um 1435–88) die Zuverlässigkeit seiner Augenzeugenschaft in seinen Künstlernamen als wahres (ver-) Auge (-occhio) eingebaut. Francisco Goya hingegen sah sich genötigt, bestimmte Blätter seines Radierungszyklus »Los desastres de la guerra« (1810–14) mit Inschriften wie »yo lo vi«, also »Ich sah dies« zu versehen um den Betrachter des tatsächlichen Geschehens des Dargestellten zu versichern. Man könnte argumentieren, dass dies zumindest für analoge Photographien aufgrund ihrer kausalen Entstehungsweise nicht zutrifft. Denn in der Regel werden sie zuverlässig von dem Gegenstand hervorgebracht, den sie repräsentieren (Scruton 1983). So wurde vorgeschlagen, Photographien als eine Art Sehprothese zu verstehen, die uns die Vergangenheit visuell zugänglich macht (Walton 1983) oder wie eine Fußspur, die

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als Indikator für die Anwesenheit eines bestimmten Objekts zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt fungieren kann (Barthes 1980; Currie 1991). Auch Photographien können zwar manipuliert werden, aber allein die Möglichkeit reicht nicht aus, um ihnen den Status als Gründe abzusprechen. Denn epistemische Gründe müssen zwar dafür sprechen, dass etwas der Fall ist (sie müssen wahrheitszuträglich sein), aber sie brauchen nicht infallibel zu sein. Die Möglichkeit der Täuschung ist daher mit epistemischen Gründen durchaus vereinbar. Allerdings kommt es häufig darauf an, wie das, was man auf einer Photographie sieht, zu interpretieren ist. So wurde gegen Robert Capas berühmtes Bild »Loyalistischer Soldat im Moment des Todes« (1936) aus dem spanischen Bürgerkrieg der Vorwurf erhoben, es sei gestellt. Der auf dem Bild abgebildete Mann sei nicht etwa auf dem Schlachtfeld in Cerro Muriano gefallen, sondern posiere lediglich an einem Ort in der Nähe, von dem das Kriegsgeschehen bereits fortgezogen war, als Capa ankam. Das Bild beglaubigt also das vom Titel benannte Geschehen nicht. Auch das von einer Photographie erzeugte Gefühl der Präsenz ist also als nur beschränkt als Grund für die Existenz der von ihr abgebildeten Sachverhalte tauglich. In der bildenden Kunst gibt es eine lange Tradition, die versucht, die Beschränkung von Bildern auf das Gefühl der Präsenz zu überwinden. Eine sehr schöne Zusammenstellung solcher Versuche versammelt der Katalog zur Ausstellung »Täuschend echt. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst«, die im Bucerius Kunst-Forum in Hamburg 2010 gezeigt wurde (Westheider & Philipp 2010). Eines der berühmtesten Bilder ist ein als »Flucht vor der Kritik« bekanntes Werk von Pere Borrell del Caso (1874), in dem ein Knabe aus dem Bilderrahmen hinaus in den Raum des Betrachters zu flüchten scheint. Dieses Bild versucht das Gefühl der Existenz zu evozieren, indem es einen räumlichen Bezug des Bildsujets zum Betrachter suggeriert. Freilich gelingt das nicht wirklich. Folgerichtig lautet der Originaltitel von Borrells Bild »una cosa que non pot ser«, also frei übersetzt: ein Ding der Unmöglichkeit (Hedinger 2010). Eines der wenigen Beispiele, wo der Trick fast gelingt, ist das »Portrait mit zerbrochenem Bildglas« von Louis-Léopold Boilliy (um 1795), das ein besonders gelungenes Exemplar eines ganzen Genres darstellt (Westheider & Philipp 2010, 143). Meine eigene Reaktion angesichts dieses Bildes gab den Ausschlag dafür, mich nach der Rolle der beiden visuellen Systeme für die Bildwahrnehmung zu fragen. Ich meinte, es tatsächlich mit einem Sprung im Glas zu tun zu haben und streckte instinktiv die Hand aus, um den Sprung im Glas zu berühren. Das Gefühl der Existenz scheint also tatsächlich eng mit dem motorischen Aspekt der Wahrnehmung verbunden zu sein. Während das trompe-l‘oeuil versucht, die Illusion zu perfektionieren, können die modernistischen künstlerischen Bewegungen, die den materiellen Bildträger in den Vordergrund stellen, als entgegengesetzter Versuch mit demselben Ziel verstanden werden, die Kluft zwischen Kunst und Wirklichkeit, zwischen dem Gefühl der Präsenz und dem Gefühl der Existenz zu schließen. Im Gegensatz zum trompe l’oeuil wird hier jedoch nicht das Unmögliche versucht, durch die Imagination das Gefühl der Existenz zu erzeugen. Die Strategie besteht vielmehr darin, die Imagination als Quelle des Illusionsverdachts bei der Bildwahrnehmung auszuschalten. Ich bin daher grundsätzlich der Diag-

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nose zugeneigt, die Celement Greenberg in seinem Aufsatz »Modernist Painting« trifft (Greenberg 1993). Er konstatiert, dass das modernistische Bild durch das Herausstellen der Qualitäten des Bildträgers eine Präsenz zu erzielen vermag, die der traditionellen Kunst verwehrt gewesen sei. Mit meinem geschärfteren begrifflichen Instrumentarium würde ich allerdings sagen, dass es dem Modernismus im Gegensatz zum traditionellen trompe l‘oeuil gelingt, das Gefühl der Präsenz hin zum Gefühl der Existenz zu transzendieren. Das hat aber auch die Verabschiedung einer bestimmten Konzeption der Malerei zur Folge, wie dieses Zitat von Lucio Fontana verdeutlicht, der in seinen »Concetti Spatiale« die illusionistische Leinwand mit Schnitten versehen hat: »Wenn ich ein Bild mit einem Schnitt mache«, so sagte er, »will ich kein Bild machen: ich öffne einen Raum, eine neue Dimension […]« (zit. nach Lüthy 2006,165) Der Preis für diesen Anspruch in der Kunst besteht darin, die bildliche Repräsentation hinter sich zu lassen. Muss damit auch der Anspruch der Kunst verabschiedet werden, etwas Wahres über die Welt zu sagen? Das ist nicht der Fall. Denn der Wahrheitsanspruch der Kunst bezieht sich – wie ich an anderer Stelle argumentiert habe – nicht auf die Repräsentationen erster Ordnung, zu denen die bildliche Repräsentation gehört, sondern auf einen Gehalt höherer Ordnung, der symbolischer Natur ist (Misselhorn 2010). Dieser ist vom Vorwurf des Illusionscharakters auf der Ebene bildliche Repräsentation vollkommen unabhängig. Literatur Barthes, R. (1980): La chambre claire, Paris. Bartolomeo, P. (2002): The Relationship between Visual perception and Visual Mental Imagery: A Reappraisal of the Neuropsychological Evidence, in: Cortex 38, 357– 378. Berkeley, G. 1710/2004: Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, hg. von Arend Kulenkampff, Hamburg. Bértolo, H. (2005): Visual Imagery Without Visual Perception?, in: Psicológica (2005), 26, 173–188. Currie, G. (1991): Photography, Painting and Perception, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 49, 23–29. Currie, G./Ravenscroft, I. (2002): Recreative Minds, Oxford. Ganis, G., Thompson, W.L./Kosslyn, S.M. (2004): Brain Areas Underlying Visual Mental Imagery and Visual Perception: an fMRI Study, in: Cognitive Brain Research 20, 226–241. Gaut, B. (2003): Creativity and Imagination, in: The Creation of Art, hg. von B. Gaut und P. Livingston, New York 2003, 148–73. Goldman, A. (2006): Imagination and Simulation in Audience Responses to Fiction, in: The Architecture of the Imagination: New Essays on Pretence, Possibility, and Fiction, hg. von S. Nichols, Oxford, 41–56. Greenberg, C. (1993): Modernist Painting, in: J. O’Brien (Hg.): The Collected Essays and Criticism, Bd. 4, Chicago/London, 85–93.

Bildwahrnehmung, Imagination und das Gefühl der Präsenz

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Kolloquium 17 · Catrin Misselhorn

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Snooping on Spies. Treason, Trust and Photographic Evidence Søren Kjørup

“Office manager Arne Treholt? I am police superintendent Ørnulf Tofte from the counterintelligence services. You are arrested for espionage for the Soviet Union. Please come with us!”1 The words were pronounced to the Norwegian Labour politician and diplomat Arne Treholt a few minutes after this photograph was taken of him leaving a cab in the (former) Oslo airport at Fornebu, 20 January 1984:

Ill. 1 Treholt in the airport

Superintendent Tofte approached the 42 years old, recently appointed head of the Norwegian Foreign Ministry’s press office right after he had passed the ticket and passport control and was about to board the aircraft. Earlier that day Treholt had kissed his wife goodbye in their Oslo apartment, and she had wished him a nice trip to Paris. He was, however, not en route towards Paris, but was heading for Vienna and a meeting with his KGB-contact, general Gennadij Titov, who had worked in the Soviet embassy in Oslo from 1971 until he in 1977 was expelled from Norway because of his involvement with 1 Most of the information in this essay about the trial of Arne Treholt and about his connections with the KGB and Iraqi agents is taken from the verdict that since 6 June 2011 has been published in a complete version (including formerly secret passages). It can be reached in pdf in four parts from http://www.abcnyheter.no/nyheter/110607/treholt-dommen-frigitt. I cite it below as Verdict. Information about the later development of the case has mostly been gathered from Wikipedia and Norwegian newspapers on the Internet. The initial quotation is repeated in innumerable accounts of the case, but always without a source reference. In Treholt’s own two autobiographies, Alene (“Alone”, Oslo 1985) and Gråsoner (“Grey zones”, Oslo 2004), the remark is rendered without Tofte’s presentation of himself.

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another Norwegian double-crossing official. The briefcase you see in the photo contained 66 confidential documents from the Ministry. One and a half years later, 20 June 1985, Treholt was sentenced to the maximum penalty of 20 years in prison for treason and espionage on behalf of both the Soviet Union and Saddam Hussein’s Iraq (and the money he was supposed to have earned by his activities, was confiscated), but after a little more than eight years he was pardoned by the Norwegian government and released for reasons of health.

The Treholt Photographs and their Users When Treholt was arrested, he had been under surveillance by the Norwegian intelligence services for seven years, and much of the evidence that was submitted during the trial (and a good deal of which had already been published in the media right after the arrest), consisted of photographs taken by the Norwegian counterintelligence agents. Here is one of the best-known ones:

Ill. 2: Treholt with Titov and Lopatin

The photograph, taken (secretly, of course) from a car as part of a whole series, shows a meeting in Nussdorferstraße in Vienna on Saturday 20 August 1983 (five months before the arrest) between Treholt (with a barely seen newspaper in his left hand, probably hiding some papers to be handed over), Titov (with spectacles) and one more KGBagent, Aleksander Lopatin. I lived in Norway in January 1984, and remember this and other photographs from the media then, and obviously we all saw these photographs as evidence of Treholt’s secret life as a spy. But in which sense is this photo “evidence” and for what? What kind of reasons can it give for what kind of actions or decisions? Here we must distinguish between four different “target groups” or groups of “users” of the photograph (and of many of the other Treholt photos): The Norwegian agents, Treholt himself, the general public and, finally, judges and jurors in court.

Snooping on Spies. Treason, Trust and Photographic Evidence

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The photograph was taken by the agents, and for them it was probably, at least originally, just a kind of record of the event, evidence of what they had witnessed. Obviously, they also made a written log of their observations of Treholt’s doings, in this case for instance about how the street was inspected by (presumably) KGB agents before the three men arrived. When they later entered the “Taj Mahal” restaurant on the corner, the Norwegian counterintelligence also had agents in there who made notes of what the men were doing and (as far as possible) saying.2 A photo, however, is in many ways more practical than written notes, not only because it is more quickly made, but, first of all, because it contains lots of information that at the time of the observation may seem irrelevant and therefore is not recorded in writing, but that later may gain importance (like here the person reading a newspaper in the background who might have been a Soviet agent keeping guard – or a Norwegian one, for that matter). So for the Norwegian counterintelligence agents, the photograph was evidence, not in the sense of “proof”, but just in the sense of being a record of a clandestine meeting they had observed. Later, in court, they would of course use the photograph as a kind of proof of the meeting, but that function takes more discussion, and as already suggested, I shall return to it below. Another “target group” might be just one person, the protagonist, Treholt himself, and to him the photographs taken by the counterintelligence people had quite another kind of importance or message. Obviously, it would be illogical to say that he saw them as proof of occurrences he knew like no other, but he understood the very existence of the photographs as evidence of something else, namely that he had been tailed for years. This was not something he saw in the photographs, but something he would immediately infer from their very existence. When he was arrested and brought to the police headquarters in Oslo for a potential interrogation that same afternoon (and he actually declined using his right not to say anything and would not even wait for a lawyer), he started out playing innocent and claiming that he had been on his way to Vienna to meet a secret girlfriend, and that he had not met Titov since Titov was expelled from Norway. When the agents then showed him one of the photographs of the three men in Nussdorferstraße, he was so perturbed that he started throwing up and had to rush to the toilet.3 Had he not already confirmed that he had met Titov before, although several years earlier, he might of course still have claimed that the innocent-looking photograph just showed that he had been in Vienna and had been approached on the sidewalk by a talkative, East European gentleman in a grey suit, and that he did not have the faintest idea who the gentleman and his friendly companion were. But of course, other evidence produced by the agents would no doubt have made such an explanation rather futile, even though the photograph in itself does not give anything away.

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Verdict 56-57. Verdict 60-61.

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The Photograph as Proof? A real target group is the Norwegian public that meets the photograph as illustration to a story on Treholt’s treachery (or so far only the accusation of treachery) on the front page of their morning newspaper (or in the television news in the evening) – and as I suggested above, everybody would tend to understand it as evidence of the crime: On the one hand we have the newspaper text, telling us with many details how Treholt met Titov in Helsinki, Vienna and other places, on the other the photograph as a kind of proof that the text is indeed telling the truth because here we actually see Treholt in Vienna with his KGB friends or at least contacts. Not that we are necessarily sceptical towards the text, of course, but it is always nice to have that kind of visual guarantee for the truth of what we read. And as we all know, it is just as easy to say or write that Treholt is a spy as to say or write the opposite, whereas a photograph somehow shows us reality more or less directly and can therefore somehow verify the one or the other. And this is also the situation in court: The prosecution will submit photographs to substantiate its claim that Treholt met with Titov and Lopatin from the KGB on a Saturday in August 1983 in Vienna. One thing is that the prosecution will assert verbally that such meetings actually took place, and will have agents as witnesses telling about them, another is the concrete proof you get from the photograph. Or rather: That you feel that you get. The point is that while you as a reader of a newspaper or viewer of television news may recognize Treholt in the photograph (because you have seen other photos of him if you have not seen him in real life, the way people in court have), you probably do not recognise the two KGB agents since you have probably never seen them before, not even in photographs. And even if you do recognise them, you will have to know Vienna pretty well to recognise the place where the photograph was taken, while seeing directly when it was taken, must be practically excluded. The photograph simply cannot function for you as evidence in a case of espionage, if you are not told so verbally. What should have been a proof of the truth of a verbal claim turns out to be dependent on nearly the very same verbal claim. And this goes both for the use of photographs in the media (where a caption normally tells us what a photograph shows us) and in the courtroom (where the photograph is shown and explained to everybody present by a witness – and most convincingly by the photographer him- or herself). This may perhaps sound very mistrustful towards photographs, but it is not meant that way. The point is simply that using photographs in a standard situation of communication and cognition is not very different from using other kinds of pictures like drawings – or plain verbal language. Also where photographs are involved, we must normally trust that everybody sticks to the Gricean maxims for effective or successful communication, not least the double, so-called “quality” one that you should not say what you believe to be false, and not say that for which you lack adequate evidence.4 4

Paul Grice: Studies in the Way of Words, Cambridge, Mass. 21989, 27.

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Photographs may function as part of your evidence, and it may be a good idea to show your photographs to rhetorically underpin your verbal claim, but any feeling you or your interlocutor may have that looking at a photograph is more or less like looking directly on whatever the photograph shows, is misleading. But these considerations call for a more theoretical discussion of the general semiotic character of photographs and what looking at, or maybe better “reading” a photograph means (and I apologize for having to use expressions like “read” and “reader” in connection with photographs, obviously for want of a specific “visual” vocabulary for pictures and their use).

What is a Photograph? As we all know, amongst the huge system of semiotic trichotomies developed by the American 19th century philosopher Charles Sanders Peirce, only one has survived in common theory: the one between icons, indices and symbols, a categorisation of signs according to the relationship between the sign and what it “stands for”. For a semiotician and philosopher of language (including pictures) who (like me) finds it important to distinguish between the meaning and the referent of a sign,5 the discourse about signs indifferently “standing for” something is forbiddingly problematic, but for a practical characterisation of photographs, Peirce’s distinction turns out to be quite illuminative, and I am also going to use it here. But just to recapitulate Peirce’s terminology as he once explained it himself: Icons “serve to convey ideas of the things they represent simply by imitating them”, while indices “show something about things, on account of their being physically connected with them”, and symbols “have become associated with their meanings by usage.”6 Or as we would often phrase it: Icons signify through resemblance, indices through causal relationships (being effects of the causes they signify), and symbols are conventional signs. So standard examples will be that pictures are icons, fingerprints are indices, and words are symbols. And photographs? Peirce has a clear answer: Photographs, especially instantaneous photographs, are very instructive, because we know that they are in certain respects exactly like the objects they represent. But this resemblance is due to the photographs having been produced under such circumstances that they were physically forced to correspond point by point to nature. In that aspect, then, they belong to the second class of signs, those by physical connection.7

See e. g. my article Pictorial Speech Acts, in: Erkenntnis 12 (1978), 55–71. Charles Sanders Peirce: The Essential Peirce: Selected Philosophical Writings, Vol. 2 (1893–1913), ed. by the Peirce Edition Project, Bloomington 1998, 28. 7 Charles Sanders Peirce: The Essential Peirce: Selected Philosophical Writings, Vol. 2 (1893–1913), ed. by the Peirce Edition Project, Bloomington 1998, 5–6. 5

6

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A photograph is both an icon and an index, both a likeness to and a trace (or imprint) of its scene, sitter or subject – and also modern theoreticians of photographs will agree with my quotation from Peirce’s originally unpublished 1894-manuscript. The double nature of the photograph as both likeness and trace is also the halfway unconscious premise for our everyday reading of photographs. We normally read photographs in the same way as we read handmade (realistic) drawings, paintings and other pictures, only with the difference that we presume (without thinking much about it) that the scene we see in a photograph is what was in front of the camera when the photograph was taken, whereas handmade pictures are at best the interpretation of the scene by the draughtsman (not unlike a detailed description). But “the scene we see in a photograph” must mean “the scene we see the photograph as pictorially presenting,” and by taking it for granted that this scene is identical with what was in front of the camera, we forget that we are here actually confounding two very different questions: On the one hand we have the iconic question of what the photograph, read as a picture, represents, and on the other the indexical one about what made its mark or trace on the light sensitive emulsion of the negative (and mutatis mutandis for the now more common electronic cameras). Two different questions that also demand two different methods for finding answers: The iconical reading is interested in how the configuration of lines, shapes and colours on the pictorial surface (or blacks, whites and greys) “resemble” persons and places in such a way that it becomes a vehicle for a meaningful depiction.8 The indexical interpretation, however, is in principle a scientific or technical consideration about the way different kinds of surfaces reflect light, how light rays move, also when they cross through lenses, which kind of traces they leave on light sensitive material, etc. Two different questions, and two different procedures for answering the questions, and yet mostly the iconic reading would be confirmed by the indexical one if we actually went through such a reading (what we rarely do). The two readings would reach what we might call isomorphic results: What the iconic reading sees as a nose, say, (i. e. as a picture of a nose) an indexical reading (or rather technical analysis) would disclose as a trace of the reflected light of a nose. However, what goes on in an ordinary reading of a photograph is that we only read it iconically and then simply presuppose this isomorphism between our actual reading and a hypothetic indexical one. This gives rise to two considerations: Why can we normally trust that the presupposition of isomorphism is justifiable? And why is it not always the case, after all?

I put „resemble“ in quotes because as a conventionalist I would prefer to discuss this in terms of compliance with iconic codes or at least with „schemata“ in Gombrich‘s sense in his Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London 1960, but to keep the discussion as simple as possible, I shall stick to the discourse of resemblance. 8

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The Camera as a Sign-Producing Device The reason why the presupposition is justifiable, has been suggested by Peirce already: The photographic camera and all the procedures around taking and processing photographs are technically constructed in such a way that photographs are “physically forced to correspond point by point to nature”. A camera is actually a special case of these very common and very varied sign producing instruments, from weathervanes to gauges of all kinds, that are constructed to elicit readable signs from reality about a situation that often cannot be observed directly or with the desirable degree of precision: the direction of the wind, the pressure in the boiler, the temperature of the kiln, the speed of the train, the volume of petrol left in the car’s tank, the number of prints, the amount of background radiation. More often than not the registered situation is converted into a number in an analog or digital sign system through these more or less ingenious devices, but the user interface may also utilize for instance various shades of colour to tell about weight, size, density or whatever is measured or represented in some other way. Still there is a huge leap from here through radiographs to family snapshots and news photos that give an impression of forms and surface characteristics of three-dimensional objects. One important difference is between on the one hand the one-dimensionality of the pointing of the weathervane or the pointer indications of all the meters and gauges etc. and on the other hand the multi-dimensional complexity of a black-and-white or colour photograph. But maybe another difference is even more radical, after all, namely that while the tyre gauge, say, carries no other meaning than the one it gets as an index of the pressure in the tyre, a photograph makes sense both as a picture, an icon, an inherently meaningful vehicle for human communication, and as a trace of reality, the photo-graphic, “written-by-light” aspect of the visual sign. Speaking of gauges as sign vehicles, there is only one reading possible, the indexical one, but for photographs there are two – as demonstrated by the simple fact that pictures were a common vehicle for communication for thousands of years before photographs were invented. But then photographs were invented, and they were presented to the world at that famous joint meeting in Paris of the Académie des Sciences and the Académie des Beaux-Arts on 19 August 1839 where Louis-Jacques-Mandé Daguerre was supposed to describe the invention, but had to ask the scientist and politician – and organiser of the meeting – François Arago to do the job (because Daguerre, who had no scientific education, lost the courage to talk to the learned and dignified audience – and with the courage also the voice).9 It is not exaggerating to say that the members of the Fine Arts Academy here represented the old iconic or pictorial tradition while the members the Science Academy represented the new indexical possibilities.

Helmut Gernsheim and Alison Gernsheim: L.J.M. Daguerre. The History of the Diorama and the Daguerreotype, New York 21968, 98–99. 9

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The Misleading Photograph And why is it that the isomorphism between an iconic and an indexical reading is only something we can “normally” safely presuppose and not simply always trust? Because even though photographs are “physically forced to correspond point by point to nature,” this physical correspondence does not necessarily create a picture that corresponds to nature. If we stick to the conception of the camera as a sign-producing device on a par with a tyre gauge (and ignore the possibility that the gauge as well as the camera may be malfunctioning somehow) there may be both theoretical and more concretely realistic problems on both sides of the equivalence “icon = index”, and both kinds also when it comes to the relationship between the two. On the icon side it is not the case that any pictorial configuration of lines etc. has one and only one interpretation. Considering handmade pictures this is extremely well known from amusing examples like the duck-rabbit figure or the one with the Freud portrait and the question “What’s on a man’s mind?” There is no reason why photographically produced pictures should not have the possibility of being just as drastically ambiguous, but better known examples are rather like this puzzling one:

Ill. 3: Man in front of the tower of Pisa

Obviously the photo can be read both as showing a man (or rather a giant) engaged in an attempt at kicking over the famous campanile in Pisa and a man standing in a rather awkward position many meters in front of the campanile. This example may also be seen as demonstrating the problem that rises in the connection between the iconic and the indexical reading since the first one is the most visually convincing iconic reading (although not perfect), while the second corresponds to the most likely indexical reading (and explains the imperfections in the iconic one).

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On the indexical side, seeing the configuration of lines etc. as an effect, there are in principle always indefinitely many possible answers to the question about what was the cause in the sense of some (normally) three-dimensional constellation of objects, the connection between cause and effect being rays of reflected light from the objects’ surfaces. Just one example: The height of a certain element on the pictorial surface may be the trace of a short object standing close by or a high element standing far away. Normally the visual context of these objects (the room or landscape in which they are photographed, as exemplified in the photograph from Pisa) will give away the correct situation in the picture, but the American ophthalmologist researcher (and much more) Adelbert Ames II has constructed his “Ames rooms” to remind us that we cannot always be sure that rooms are the cubic spaces we spontaneously take them to be.10 I have already mentioned one example of the problems that may arise in the meeting of the iconic and the indexical reading, namely that the most probable iconic reading may not be the most probable indexical one, and that we therefore iconically will prefer the less probable one. More intriguing are the cases where the spontaneous iconic reading does not suggest an improbable indexical one and is therefore accepted on face value, while the correct indexical reading is different. This possibility was formerly used intensively in film production where models and mattes created iconic renderings of buildings and landscapes. This kind of scenography works in films and photographs, but rarely in real life where the observer will normally see models and mattes as what they are. In that sense they are different from illusions that work in reality and therefore also work in photographs (like the false perspective gallery by Borromini in Palazzo Spada in Rome, or the one, inspired by Borromini, by Robert Venturi in the National Gallery in London): Iconically we see a long, straight gallery, but the actual gallery that left its trace in the photograph, is short and shrinking. And finally, look at this photograph:

Ill. 4: Ames chair 10

An example can be seen at http://creaturecast.org/uploads/Ames_Room550.jpg

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It does look a little strange, perhaps, but there is no doubt that as a picture it complies nicely with a Gombrichian schema of a simple chair. Again we have a photograph that has been “physically forced to correspond point by point to nature,” but the “nature” it corresponds to is better revealed by a photograph taken from another angle that brings forth the strange assembly of sticks and cardboard, once again constructed by Ames:

Ill. 5: Ames “chair” from another angle

Pictorial Statements and Visual Evidence Even though there is no guarantee for a perfect isomorphism between an iconic and an indexical reading of a photograph, we can normally presuppose a pretty good match. But the double identity of a photograph is not only an issue for the reader of pictures. It is also an issue for a “sender” of pictorial messages in visual media because photographs with a high value as indexes, i. e. as evidence, may be pretty dull as pictures, i. e. as icons, and therefore in need of extra visual and verbal side effects to engage readers and viewers. The snapshot of Treholt, Titov and Lopatin in Vienna, while rather insignificant in itself, does seem to show a cosy encounter of some kind, and even if that may be misleading, it does have a certain pictorial charm that may be topped off with the verbal message that this is a meeting of spies. But then look at this photograph from the front page of Adresseavisen (20 March 1984), the main newspaper in the Norwegian town of Trondheim:

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Ill. 6: Adresseavisen, 20 March 1984

Here we simply see two men standing in a nondescript lobby, probably in a hotel of some sort – in itself a completely insignificant picture, an empty pictorial statement. But the picture has been allotted top billing on the front page, and the title cries out “Spy for Iraq”, while the legend tells us that what we see is Arne Treholt once more, now with the Iraqi agent Mohammed A. Rahdi, photographed in Athens 19 October 1983. And now compare with the photo that one of the two competing Norwegian national tabloids, Dagbladet, had on its front page the very same day, and actually showing the very same two people meeting in Athens:

Ill. 7: Dagbladet, 20 March 1984

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“Arab spy on a set wage,” the headline runs, and the arrow in the upper right corner declares that “Here Treholt gets the money”. Even though you cannot see him getting any money, the photograph is certainly not an insignificant picture, but a quite expressive one, clearly showing that we are peeping in at a very surreptitious affair. Not only has the photo been taken in a clandestine way, from outside some café or whatever it is, through the window (with a nicely disturbing beam and some mirror effects in the window pane obscuring the view), but look at Rahdi at the right: Here he really looks like a spy, with sunglasses and all, and the whole picture – and not only the verbal text – is telling us about the dubious things that are going on here in a quite convincing way. Telling, yes, but not proving in any way, convincing, yes, but only in a rhetorical sense. Though we seem to be able to see or even feel what the situation is all about, we have to rely on the legends to learn that this goes on in Athens etc. So we seem to have at least three things here: We have the photographs as carriers of more or less interesting pictorial statements or messages; we have some verbal explanations about the photographs (what they represent, when and where they were taken etc.); and thanks to the explanations we can see the photographs as some kind of evidence of things that have been going on in front of the cameras.

The Proof from Money When Treholt was arrested, he could not deny that he had had these secret meetings with Soviet and Iraqi agents and had given them certain more or less important and secret political and military documents, but he denied being a traitor. He had just tried to make a personal effort at détente with the Eastern bloc. Since it was difficult for the prosecution to prove exactly which and how important documents had been leaked, although it was clear that Treholt had had access to top secret NATO plans, the salient point turned out to be whether he had been paid by his contacts for his deliveries and how much. He did not deny that he had received some money, but he claimed that it only covered expenses. And also here photographs came in as evidence, now to substantiate the claim that he had received huge amounts. If true, this would indicate that his secret activities were out of greed and not out of idealism, and that the documents were of great importance for the recipients. On Monday 22 August 1983 Treholt was back home after the trip to meet Titov in Nußdorferstrasse in Vienna (where they were photographed together with Lopatin) and had taken a day off from work in the Foreign Office. As they had done for several years already, the Norwegian counterintelligence services listened in on his tapped telephone and therefore heard him make an appointment to jog with a friend for some time in the middle of the day. After quickly (but secretly, of course) checking the whereabouts of other people known to have keys to the apartment (Treholt’s wife etc.) to make sure that they were unlikely to have plans to go there over the next couple of hours, the agents decided to use the opportunity to search the Treholt home. An important find in the sleeping room was Treholt’s attaché case, and having picked the lock of the

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case they found two envelopes stuffed with dollar bills. Most of the bills were of rather small denominations, many were used, but others were quite new and in numerical order. The agents partly counted, partly estimated the bills to make up around $ 30.000 in all, probably an amount Treholt had received from Titov in Vienna during the weekend – much more than just for a plane ticket and a couple of hotel nights, even at the Hilton.11 And as documentation the agents again took a series of photographs. “Pengebeviset”, as it is called in Norwegian, “The Proof from Money”, has grown to a central position in the discussion of the Treholt case, and at the centre of the discussion are photographs like this one:

Ill. 8: The open attaché case

Maybe you can see that the photograph is stamped “HEMMELIG” (“secret”) and that it is marked “Åstedsbilde nr 3” (“Picture of crime scene nr 3”) in the lower left corner. At any rate you can see the two envelopes – but have you any idea how many dollar bills each of these can hold?

How many Dollar Bills? Reading this photograph as a picture – iconically – consists in reading it more or less the way you would read a drawing, not making any guesswork about what was in front of the camera when it was taken, but only asking yourself what the various shapes etc. on the pictorial surface look like. So what do we see? We see an attaché case lying on what might be a bed and held open by a right hand while two or three fingers of a left hand hold down a pocket in the lid (or rather pictures of an attaché case etc., to be exact). In the pocket we see what may actually be quite difficult to recognize as two (closed?) en11

Verdict, 66.

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velopes with some rather bulky (but of course invisible) content. And we also see a few other things (like the A4 envelope for internal office mail in the bottom of the case), but it all seems rather inconsequential. Reading the photograph as a trace – indexically – means trying to find out what originally made the configurations on the photographic negative in the agents’ camera that we here see as a positive print in a book (after many conversions, also lately through electronic means, and during my lecture at the conference in Munich projected onto a screen). In this case arguments about what the different elements “look like” are not irrelevant, but can only be heuristic. More important must be technical considerations about the kind of negative used and the lightening, but the really important question of course will be how thick the two envelopes in the lid pocket are, and therefore how much money they may have contained, and here questions of lens, focus and distance are important because of their influence on how the envelopes will project onto the negative. It really takes a special kind of photogrammetric expertise to make investigations like that, and the prosecution actually had experts from the Norwegian Technical University to calculate for instance the thickness of the envelopes (and to try to reconstruct the photographs to check their estimates). But even if you may come up with a sensible guess about the thickness of the envelopes, you still will not know whether they actually contained dollar bills, and if so, which denominations. Therefore the agents also took photographs where they had opened the envelopes and had pulled out the bills a couple of inches to make them visible, and they even made photos of the contents of the envelops spread out like a fan. And again: All these photographs are of course rather dull pictures, but combined with the testimony of the agents about how they were produced, they could function in court as pretty solid evidence that Treholt was keeping much more cash in his apartment than you would expect from a middle range Norwegian state official – and in international currency. Fact or Fake? When the photographs were originally shown in court, a discussion grew up whether such narrow envelopes as the ones in the inner pocket of the case, could really contain the many bills that were shown in other photographs (and that the agents told they had found in the envelopes and counted). Treholt himself even performed for the media to show that it was impossible for him to press a huge heap of dollar bills into an envelope, using this (and the photographic evidence of his stunt) as a kind of proof that the Proof from Money must be a fake somehow.12 This line of defence had to be given up, however, when the journalist Svein Torgersen after a meeting in court in 1986 right there in the courtroom, in front of rolling cameras, demonstrated for Treholt and his defence councils (and the Norwegian televiYou can see the photograph e. g. on www.dagbladet.no/2011/04/14/nyheter/arne_treholt/innenriks/gjenopptakelseskommisjonen/treholtsaken/16190306/ 12

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sion audience) that it was indeed possible to get 315 dollar bills into the envelope – a kind of filmic evidence of a physical possibility.13 But the discussion came back from new angles 9 September 2010 when the journalists Geir Selvik Malthe-Sørensen and Kjetil Bortelid Mæland published the book Forfalskningen (“The Forgery”), claiming that the photographs of Treholt’s attaché case must have been fabricated.14 One of the proofs they gave, was that in the upper right corner on at least one of the photographs of the case (not the one that I showed above) you get a glimpse of the parquet flooring, but there was no parquet in the sleeping room of the Treholt apartment 22 August 1983 where and when the agents claim to have taken the photographs. According to the notes of the carpenter who worked in the apartment that autumn to lay parquet floors, he only reached the sleeping room later during the autumn. Conclusion: The photographs of the case and the money were not taken in the apartment that Monday in August 1983 (but probably in the police headquarters after Treholt was arrested, the contention was). But also this line of defence had to be given up because it turned out that evidence from the tapping of the phone in the Treholt apartment indicated that the parquet had been laid earlier, after all. And the carpenter had to admit that his notes about the work might be somewhat slipshod since (being a friend of the Treholt family) he had been moonlighting.15 Stickers, Specialists – and a Spate of Scrutinies The most prominent evidence that fabrication may have taken place, is based on a small, round sticker of an apple that can be seen on the attaché case on the photographs that according to the agents were taken in the apartment. The authors claim that the same sticker can be seen on the case on the photograph taken when Treholt was arrested in the airport (my first illustration) – and in 2010 it was still sitting on the case (which had been given back to Treholt by the authorities many years before). In a certain sense this sticker certifies the identity of the attaché case through the whole relevant period. However, a bit of brown plastic tape covering the right lock of the case can only be descried on the case today (or rather in 2010) and on the photographs with the money, but not on the photograph from the airport, so the assertion is that the tape must have been put on after Treholt was arrested. Therefore the authors’ conclusion is that the photographs of the case with the money cannot have been taken several months before the arrest, but must have been fabricated by the police while Treholt was in custody. If you are not able to see a sticker with an apple next to a lock that is not covered with a residue of a strip of plastic tape on the very first illustration of this essay, it is not

www.nrk.no/video/emne/Svein%20torgersen/ Geir Selvik Malthe-Sørensen and Kjetil Bortelid Mæland: Forfalskningen. Politiets løgn i Treholtsaken, Oslo 2010. 15 www.vg.no/nyheter/innenriks/artikkel.php?artid=10041634 13 14

necessarily your fault, and not necessarily because of the bad quality of the reproduction (for which I apologize). It may also be because it is not there in the photograph, for instance because the attaché case is turned so that the end with sticker and with or without tape points forward, that is away from the photographer. Anyhow, the committee that in 2010–2011 looked into the claim that the Proof from Money might be false and that therefore the whole 25 years old trial had to start all over again, engaged two experts to analyse the photograph, and they see no sticker with an apple (and no brown tape either, of course). Treholt himself had engaged two British experts that both see the sticker, and one of them even reports that he can see that there is no tape, while the other is hesitant about that because of the quality of the photograph and the angle from which the attaché case is seen. At any rate, the committee concluded that any kind of fraud had not been proven, and that the trial should not be reopened.16 And we can conclude that even though photographs may function as evidence that cuts long discussions short, they may also do exactly the opposite, i. e. give rise to a spate of derived scrutinies of contextual questions to decide whether they can be trusted.

The summary of the ruling of the committee can be read at http://www.gjenopptakelse.no/fileadmin/download/Sammendrag_2010_0092.pdf 16

Mechanische und manuelle Bilder als Handlungsgründe Manfred Harth

I. Einleitung Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Frage: Kann ein Bild ein Grund sein, insbesondere ein Grund, etwas Bestimmtes zu tun? Diese Frage kann scheinbar nur einem Philosophen einfallen: Videoaufzeichnungen vom Bankräuber dienen vor Gericht als Beweismittel und sind daher zusammen mit anderen Beweisen oder Indizien hin und wieder Grund für eine Verurteilung. Röntgen- oder Ultraschallaufnahmen sind einem Arzt Grund für eine Operation. Fotos aus Hungers- oder Kriegsgebieten sind oft Grund für eine Spende. Bilder in der Werbung können ein Grund für den Kauf des beworbenen Produkts sein. Dass Bilder Gründe sein können, scheint folglich selbstverständlich zu sein – wozu dies also ernsthaft fragen oder gar in Frage stellen? Das hat verschiedene Gründe. Zum einen bliebe, selbst wenn die Frage trivialerweise bejaht werden müsste, immer noch die Frage, wie und in welchem Sinne Bilder Gründe sind – Grund ist nicht gleich Grund. Zum anderen ist dann auch noch nicht die Frage beantwortet, ob Bilder gleich welcher Art, also z. B. Fotografien gleichermaßen wie Zeichnungen, Gründe sein können oder ob es diesbezüglich Unterschiede gibt – Bild ist nicht gleich Bild. Denn es erscheint uns zwar als selbstverständlich, dass eine bestimmte Sorte von Bildern, nämlich Fotografien, Video- oder Röntgenaufnahmen Gründe sein können. Doch die Selbstverständlichkeit, dass Bilder Gründe sind, verliert sich, wenn man nicht Fotografien, oder allgemein mechanisch erzeugte Bilder, wie ich sie hier nennen möchte, sondern Zeichnung, Malerei usw., nennen wir sie manuelle Bilder, in Betracht zieht. Eine Zeichnung würde vor Gericht – und auch sonst – sicher nicht als Beweis, und damit als Grund für eine Verurteilung oder einen Freispruch dienen können. Vielleicht ist es also gar nicht, oder nicht speziell, das Bildhafte der Fotografie, das für die Tatsache verantwortlich ist, dass sie ein Handlungsgrund sein kann, sondern ein zusätzliches Merkmal, so etwas wie der dokumentarische Charakter, der unter Bildern nur mechanischen Bildern, typischerweise Fotografien und Videoaufzeichnungen, aber auch Röntgen- und Ultraschallaufnahmen, eigen ist, aber möglicherweise kein spezifisch bildliches Merkmal ist. Fotografien und dergleichen dienen uns als Indizien wie Fußspuren und Fingerabdrücke und genau wie diese dann als Gründe, etwas zu glauben und etwas zu tun. Können also manuelle Bilder wie Zeichnungen gar nicht als Gründe dienen, weil ihnen dieser dokumentarische oder Indizien-Charakter von mechanischen Bildern fehlt? Oder umgekehrt: Ist die Tatsache, dass beispielsweise Fotografien Bilder sind, hier nicht eher nebensächlich? – Was zählt, ist doch, wie bei den Fuß- oder Fingerabdrücken eines mutmaßlichen Verbrechers, die Tatsache, dass der Abdruck, in diesem Fall das Grau- oder Farbmuster

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auf Papier, vom mutmaßlichen Täter stammt, und weniger, dass der »Abdruck« den Täter abbildet. Freilich, um festzustellen, von wem der »Abdruck« stammt, muss eine Ähnlichkeit erkennbar sein: so wie der Fingerabdruck dem Muster der Fingerkuppe exakt gleichen muss, so muss die auf dem Foto zu sehende Person als der mutmaßliche Täter identifizierbar sein, ihm also ähnlich sehen. Unter Philosophen ist es allerdings strittig, ob Ähnlichkeit überhaupt ein Merkmal von Bildern oder für Bildlichkeit ist. Möglicherweise ist es also keine spezifisch bildhafte Eigenschaft der Fotografie, die für ihre Tauglichkeit als Grund verantwortlich ist. Es könnte sein, dass man Fotografien und dergleichen gar nicht als Repräsentationen der Wirklichkeit betrachten sollte, sondern vielmehr wie die Wirklichkeit selbst: der Fotoapparat als verlängertes Auge und das Foto als eine Art geronnener Anblick der fotografierten Szene. Es ist, wie wenn man gar nicht ein Bild der Wirklichkeit, sondern diese selbst betrachtet, freilich ohne sich darüber zu täuschen, wie wenn man selbst (live) dabei wäre (vgl. Walton 1984). So wie man beim Anhören einer Konzertaufzeichnung das Orchester selbst hört und nicht eine Repräsentation des Konzertes, oder gar bei einer Liveübertragung das Fußballspiel selbst sieht und nicht Bilder davon – Fotografie als im wörtlichen Sinn Wieder-Gabe der Wirklichkeit, als ihre Re- oder Wieder-Präsentation. Das Foto wäre demnach nur scheinbar der Grund. Der tatsächliche Grund wäre die fotografierte Szene selbst, auf die man vermittels der Fotografie schaut, und nicht die Fotografie als Bild der Szene. Ein weiteres Problem, das gegen die Rolle von Bildern als Gründen sprechen könnte, ist die Tatsache, dass Bilder so gut wie immer von erklärenden Worten begleitet und in einer speziellen Situation gezeigt werden – man denke an die Spendenaufrufplakate mit Bildern leidender Kinder oder an Bilder in der Werbung – und nur entsprechend sprachlich und kontextuell eingebettet als Gründe dienen. Es könnte also sein, dass Bilder in dieser Hinsicht gar nicht selbständig, sondern stets auf sprachliche Hilfe angewiesen sind, ja dass letztlich der sprachliche Rahmen eigentlich den Grund liefert und die Rolle von Bildern nur eine emotive oder affektive Rolle ist – sie sollen möglicherweise nur illustrieren, ausschmücken, berühren usw. Die Frage, ob also Bilder im Allgemeinen, d. h. auch manuelle Bilder und nicht speziell nur mechanische Bilder wie Fotografien, und die Frage, ob Bilder selbständig und für sich betrachtet, und nicht nur durch ihre spezielle sprachliche Einbettung, Gründe sein können, wirken gar nicht mehr so trivial. Schließlich ist zu bedenken, dass die Weise, wie wir darüber reden, dass etwas ein Grund ist oder war, manchmal recht ungenau ist. Wenn wir z. B. sagen, dass die Mona Lisa der Grund dafür war, dass jemand in den Louvre eingebrochen ist, dann ist nicht das Gemälde selbst der Grund dafür, sondern die Tatsache, dass es wertvoll ist und im Louvre hängt. Zudem ist ziemlich sicher nicht das Gemälde als Bild der Grund für den Einbruch, sondern das Gemälde als wertvolles Kunstobjekt. Und selbst wenn ein Gemälde, z. B. eine historisches Portrait, der Grund ist zu glauben, dass die dargestellte Person so ausgesehen hat, bleibt noch offen, ob Bilder als Bilder Handlungsgründe sein können. Das hat auch mit Überlegungen zu tun, welcher Natur eigentlich Gründe, insbesondere Handlungsgründe sind: Können materielle Gegenstände, wie Bilder es ja sind, wenn man von Vorstellungsbildern und dergleichen absieht, überhaupt Gründe

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sein? Sind Handlungsgründe nicht vielmehr Tatsachen bzw. Überzeugungen? Es ist doch offenbar die Tatsache, dass es zu regnen beginnt, die für mich der Grund ist, den Schirm zu öffnen, nicht der Regen selbst, d. h. die Ansammlung von Wassertropfen, die vom Himmel fallen. Nun aber zurück zur eigentlichen Frage, ob Bilder Handlungsgründe sein können, die hier wie folgt verstanden werden soll: Können Bilder, mechanische wie manuelle, im rationalen und nicht nur kausalen Sinne Gründe sein, etwas zu tun? Wir haben gesehen, wenn man genauer nachfragt, verschwindet der Anschein der Trivialität der Frage. Im Folgenden möchte ich etwas genauer nachfragen und dabei folgendermaßen vorgehen: In Abschnitt II werde ich zunächst die Ausgangsfrage als die Frage verstehen, ob Bilder von der richtigen ontologischen Kategorie sind, um Handlungsgründe zu sein. Gemäß der beiden gängigen Modelle zur Analyse von Handlungsgründen wird die Antwort negativ ausfallen. Unsere Ausgangsfrage, ob Bilder Handlungsgründe sein können, wäre also ebenfalls negativ beantwortet. Doch dies deutet hier eher darauf hin, dass die Frage falsch gestellt war, als dass Bilder keine Gründe sein können. Wie sollte die Frage also besser lauten? Es scheint plausibler zu fragen, ob eine bestimmte (kommunikative) Verwendung eines Bildes mit seinem Darstellungsgehalt ein Grund sein kann. Ich werde im Abschnitt III daher die Frage umformulieren und sie so in Beziehung zu einem anderen Typ von Kommunikationsmitteln setzen, die paradigmatisch als Gründe akzeptiert werden, nämlich sprachliche Mitteilungen. Die Frage lautet dementsprechend: Können Bilder genauso Gründe sein wie Worte? Nachdem ich dann untersuche, wie Worte Gründe sein können, widme ich mich der Frage, ob Bildern dies auf eben diese Weise gelingt. Meine Antwort wird sein: Auch wenn Bilder natürlich spezifische Merkmale aufweisen, die sie von Sprache unterscheiden und somit nicht exakt auf dieselbe Weise Gründe sind, so sind sie doch auf hinreichend ähnliche Weise Gründe wie Worte es sind. Die Ausgangsfrage wurde also doch mit Ja beantwortet – aber, so denke ich, nicht auf triviale Art und Weise. Im letzten Anschnitt IV werde ich genauer auf den Unterschied zwischen den zwei erwähnten Arten von Bilder, nämlich zwischen mechanischen und manuellen Bilder, bezüglich ihrer Rolle als Gründe eingehen. Bezüglich der Frage, ob mechanische Bilder tatsächlich, wie alltägliche Beobachtungen nahelegen, aufgrund ihrer Beweiskraft bessere oder stärkere Handlungsgründe sind als manuelle Bilder, komme ich allerdings nicht zu einem eindeutigen Ergebnis.

II. Bilder und die Ontologie von Handlungsgründen Bilder, mechanische wie manuelle gleichermaßen, sind materielle Gegenstände – paradigmatisch das Gemälde, das an der Wand hängt, oder die Fotografie, die man bei der morgendlichen Zeitungslektüre in der Hand hält.1 Auch an die Wand oder auf eine Auf die Unterscheidung zwischen mechanischen und manuellen Bildern werde ich erst im letzten Abschnitt genauer eingehen, da die Überlegungen davor nicht von dieser Unterscheidung abhängen, sondern Bilder im Allgemeinen betreffen. Aber die Unterscheidung dürfte ohnehin leicht nachvoll1

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Leinwand projizierte Bilder (z. B. Dias) und dergleichen sind materielle Gegenstände oder vielleicht besser gesagt, materielle Zustände. Unsere Frage lautet demnach: Können materielle Gegenstände oder Zustände überhaupt Handlungsgründe sein, d. h. sind sie dafür von geeigneter ontologischer Kategorie? Da die hier interessante Frage, ob Bilder Gründe sein können, nicht Gründe im kausalen Sinn betrifft, geht es bei dieser Frage um Gründe dafür, etwas zu tun, sog. praktische Gründe. Um die Frage zu beantworten, ob Bilder von der richtigen Kategorie sind, um praktische Gründe zu sein, muss man sich natürlich darüber klar sein, welcher Kategorie solche Gründe angehören. 1. Für Gründe rationalen Handelns gibt es grundsätzlich zwei konkurrierende Modelle: das sogenannte meist auf David Hume zurückgeführte Standardmodell, das Handlungsgründe als Kombination zweier Arten von propositionalen Einstellungen versteht, nämlich Überzeugungen und Wünsche (im weiten Sinn, der alle Arten von Begehren, Verlangen, Wünschen, Bedürfnissen usw. umfasst), und das alternative Modell, das Handlungsgründe als komplexe Tatsachen (bzw. Propositionen) auffasst. Gemäß dem Standardmodell (siehe z. B. Davidson 1963) hat jemand genau dann einen Grund, etwas zu tun, wenn er einen bestimmten Wunsch hat und entsprechende Überzeugungen, d. h. in erster Linie die Überzeugung, dass er mit seinem Tun das Gewünschte erreichen kann. Zum Beispiel habe ich genau dann einen Grund bei Schneefall langsamer zu fahren, wenn ich glaube, bei Schneefall durch langsameres Fahren (wahrscheinlich) unfallfrei nachhause zu kommen und ich wünsche, ohne Unfall nachhause zu kommen. Ohne in die Details dieses Ansatzes zu gehen, ist offensichtlich, dass Bilder nicht von der entsprechenden Kategorie sind, um Handlungsgründe zu sein, da die Bilder, von den hier die Rede ist, keine mentalen Zustände oder Einstellungen sind. Doch das Standardmodell ist nicht unumstritten, und möglicherweise ist das alternative Modell sogar plausibler. Gemäß diesem Modell (vgl. Bittner 2001, Dancy 2000, Raz 1999) ist es eine Kombination zweier Typen von Tatsachen, die für mich der Grund ist, eine Handlung zu vollziehen, z. B. die Kombination der Tatsache, dass ich durch langsameres Fahren (wahrscheinlich) ohne Unfall nachhause komme, mit der Tatsache, dass es gut (für mich) ist, unfallfrei nachhause zu kommen. Der philosophisch entscheidende Unterschied zwischen den beiden Modellen betrifft jedoch unsere Frage, ob Bilder Gründe sein können, gar nicht: er besteht nämlich darin, dass im Standardmodell Wünsche und im alternativen Modell Werte (Wert-Tatsachen, z. B. moralische Tatsachen) als die Komponenten eines Grundes genannt werden. Der für vorliegende Zwecke relevante Unterschied zwischen den beiden Modellen ist jedoch marginal: Im Standardmodell besteht der Grund u. a. aus der Überzeugung, durch langsameres Fahren unfallfrei nachhause zu kommen, im alternativen Modell aus der Tatsache bzw. Proposition selbst, die ich gemäß dem Standardmodell glaube. Ob es nun die Überzeuziehbar sein: paradigmatische Fälle mechanischer Bilder sind Fotografien und solche manueller Bilder Zeichnungen und Gemälde.

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gung, ihr Inhalt oder die entsprechende Tatsache ist, Bilder sind in keinem der Fälle von der passenden Kategorie, um Handlungsgründe zu sein.2 2. Die Frage, ob Bilder Handlungsgründe sein können, scheint damit auf recht einfache – ja, zu einfache – Weise beantwortet: Bilder können schon deshalb keine Handlungsgründe sein, weil sie nicht von der richtigen ontologischen Kategorie sind. Die Tatsache jedoch, dass die Frage so schlicht zu verneinen ist, wo doch die Alltagserfahrung deutlich das Gegenteil nahelegt, spricht dafür, dass die Frage falsch gestellt oder falsch verstanden ist. Außerdem ist damit die interessante Frage, ob Bilder vielleicht nur im kausalen Sinn – als Gefühlsauslöser – nicht aber im rationalen Sinn Gründe sein können, von vorneherein ausgeschlossen, da materielle Gegenstände selbst auch keine kausalen Gründe, also Ursachen sind. Wir sollten die Frage also neu formulieren. Bilder sind Zeichen und alle Zeichen, die wir in der Kommunikation verwenden, haben einen materiellen Gegenstand oder Zustand bzw. ein materielles Ereignis als Zeichenträger, auch sprachliche Zeichen. Dementsprechend könnten nicht einmal sprachliche Mitteilungen Gründe sein, etwas zu glauben oder zu tun. Dies widerspricht jedoch so eklatant unserem Verständnis von (einer bestimmten Art) sprachlicher Kommunikation, dass spätestens jetzt klar wird, dass unsere Ausgangsfrage anders gestellt werden sollte. Darauf möchte ich nun im nächsten Abschnitt eingehen.

III. Bilder, Sprache, Handlungsgründe Eine geeignete Formulierung unserer Frage lautet: Können Bilder genauso Gründe sein wie Worte?3 Die Frage setzt natürlich voraus, dass sprachliche Mitteilungen Gründe sein können, und die Frage ist nun, ob Mitteilungen, die unter Verwendung von Bildern gemacht werden, dies auf dieselbe Weise oder in demselben Sinne sein können wie sprachliche Mitteilungen. Um die Frage zu beantworten, ist es erst einmal nötig zu klären, wie sprachliche Zeichen bzw. Äußerungen als Gründe fungieren. 1. Betrachten wir ein sehr einfaches Beispiel: Ich bin gerade im Begriff, aus dem Haus zu gehen, als meine Frau mir zuruft: »Du, es regnet!« Diese Mitteilung, da sie ernsthaft und aufrichtig gemeint ist, ist für mich der Grund, einen Schirm mitzunehmen – so oder so ähnlich würde man es zumindest alltagssprachlich formulieren. Betrachtet man den Wenn man die in der Einleitung angedeutete Auffassung vertritt, dass beispielsweise eine Fotografie wortwörtlich einen Blick auf die Wirklichkeit gewährt, statt nur auf deren Repräsentation, und man so die fotografierte Szene bzw. Tatsache selbst sieht, nicht nur deren Abbildung, könnte dann nicht die Fotografie von der richtigen Kategorie sein, da ja dann beim Betrachten einer Fotografie die im Bild zu sehende Szene selbst der Grund für ein Handeln ist? Das ist zweifelhaft. Denn selbst dann ist immer noch nicht die Fotografie, d. h. der materielle Gegenstand, das Stück bedruckte Papier, das ich in der Hand halte, der Grund, sondern die fotografierte Szene, die darin zu sehen ist. Wenn ich in einem Spiegel eine Szene beobachte, die für mich ein Grund zum Handeln ist, dann ist ja auch nicht der Spiegel der Grund, sondern das darin Gespiegelte. 3 Für die folgenden Überlegungen klammere ich jeglichen ästhetischen oder künstlerischen Aspekt von Bildern aus, d. h. die viel komplexere Fragestellung, ob und wie Bilder speziell als Kunstwerke Gründe sein können, werde ich hier nicht behandeln. 2

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Fall etwas genauer, ergibt sich folgendes Bild: Meine Frau äußert einen bestimmten Satz, nämlich »Es regnet.« Der Satz hat eine bestimmte Bedeutung und entsprechend dieser Bedeutung zusammen mit bestimmten Merkmalen des Äußerungskontextes sagt meine Frau, da sie ernsthaft spricht und nicht etwa im Scherz, etwas Bestimmtes mit ihrer Äußerung, nämlich dass es hier und jetzt, d. h. am Ort und zum Zeitpunkt der Äußerung, regnet. Was sie sagt, kann als der primäre Mitteilungs- oder Äußerungsgehalt aufgefasst werden. Möglicherweise hat ihre Äußerung noch andere, sekundäre Inhalte, z. B. die »Empfehlung«, einen Schirm einzupacken. Diese sekundären Inhalte, auch konversationale Implikaturen genannt (Grice 1975), stehen aber in keiner notwendigen und eindeutigen Beziehung zur Bedeutung des geäußerten Satzes und zu dem, was sie sagt, sondern können frei mit dem Äußerungskontext variieren. Sie sind also etwas, das im Gespräch und durch die Gesprächssituation vom Sprecher impliziert ist, aber nicht wörtlich gesagt wird. Eine Skizze dessen, wie sprachliche Äußerungen Gründe sein können, sieht nun so aus: Meine Frau äußert »Es regnet« und sagt damit, dass es (hier und jetzt) regnet. Da meine Frau sagt, dass es regnet, und ich annehme, dass sie zuverlässig ist, habe ich einen Grund zu glauben, dass es regnet – »Wenn sie’s sagt, dann wird’s schon stimmen«. Man kann freilich noch etwas genauer analysieren: Da ich nicht davon ausgehe, dass meine Frau sich in Bezug auf das Wetter täuscht oder mir absichtlich eine falsche Auskunft gibt, habe ich Grund anzunehmen, dass sie selbst glaubt, was sie sagt, nämlich dass es regnet. Da ich weiterhin annehme, dass sie gute Gründe dafür hat, z. B. weil sie aus dem Fenster geschaut hat, habe ich ebenfalls gute Gründe zu glauben, dass es regnet. Diese Überzeugung wiederum zusammen mit dem Wunsch, nicht nass zu werden, bzw. der Überzeugung, dass es nicht gut ist, nass zu werden, und der Überzeugung, dass ein Schirm mir hilft, nicht nass zu werden, sind nun der Grund für mich, einen Schirm mitzunehmen. Was genau ist aber der Grund für mich zu glauben, dass es regnet, und der Grund, den Schirm mitzunehmen? Ist es das, was meine Frau sagt, also der primäre Äußerungsgehalt? Oder ist es die Tatsache, dass sie sagt und mitteilt, was sie sagt? Es ist natürlich Letzteres: Nicht der Äußerungsgehalt, dass es regnet, ist der Grund für den Überzeugungsgehalt, dass es regnet – dies wäre ein triviales, oder besser gesagt gar kein Begründungsverhältnis –, sondern der Grund für die Überzeugung, dass es regnet, d. h. das, was dafür spricht, dass es regnet, ist die Tatsache (bzw. die Proposition), dass meine Frau in dieser Situation den genannten Satz äußert und damit sagt, dass es regnet, zusammen mit der Tatsache (Proposition), dass sie zuverlässig und ehrlich ist und mir mit ihrer Äußerung offenkundig etwas mitteilen möchte und gute Gründe für ihre Mitteilung und Überzeugung hat, dass es regnet. Der Grund für mich zu glauben, dass es regnet, ist also in dieser Situation die Tatsache, dass sie mir mit ihrer Äußerung etwas mitteilen möchte, zusammen mit Annahmen (Tatsachen) über sie und die vorliegende Gesprächssituation. In diesem Sinne sind sprachliche Äußerungen Gründe, etwas zu glauben, und Gründe, etwas zu tun.4 Dieses Ergebnis mag nun immer noch trivial erscheinen, da ja jede beliebige Tatsache, alles, was ich z. B. sehe oder höre, für mich ein Grund sein kann, irgendetwas zu glauben oder zu tun. Auf was 4

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Nachdem skizziert wurde, wie sprachliche Äußerungen Handlungsgründe sein können – kurz gesagt: die Tatsache, dass der Satz »Es regnet« geäußert wurde, ist unter geeigneten Bedingungen ein Grund, den Schirm mitzunehmen –, stellt sich die Frage, ob Bilder bzw. »bildhafte Äußerungen«, also kommunikative Bildverwendungen, dies auf dieselbe Weise sein können. Wenn dem so ist, kann man sagen, Bilder haben eine ebenso rationale Funktion wie Sprache – natürlich neben anderen Funktionen, die aber Sprache auch hat. Dagegen, dass dem nicht so ist, spricht prima facie, dass Bilder keinen propositionalen Gehalt wie sprachliche Äußerungen haben. Betrachten wir die Sache genauer. 2. Die Frage lautet also: Können Bilder, genauer ihre kommunikativen Verwendungen, Gründe für den Betrachter sein, etwas Bestimmtes zu tun, so wie eine sprachliche Äußerung der Grund sein kann, etwas Bestimmtes zu tun? Ich werde die Frage zuerst allgemein, d. h. für mechanische und manuelle Bilder gleichermaßen, angehen, um danach die Unterschiede herauszuarbeiten. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Bilder im Gegensatz zu Sätzen keine bestimmte Bedeutung haben, nichts (Bestimmtes) besagen, d. h. keinen bestimmten Sachverhalt bzw. keine bestimmte Proposition darstellen. Es ist zudem sehr strittig, ob Bilder überhaupt Sachverhalte bzw. Propositionen darstellen, und nicht vielmehr nur Gegenstände (auch Personen, Tiere usw. natürlich) oder vielleicht Ereignisse.5 Bilder haben im Gegensatz zu gewöhnlichen sprachlichen Äußerungen keinen propositionalen Gehalt. Denn selbst wenn man zugesteht, dass Bilder Sachverhalte oder Propositionen darstellen, sind es stets unbestimmt viele Sachverhalte, die in einem Bild dargestellt werden. Die Wahrnehmung von Bildern und ihrem Darstellungsgehalt ist daher selektiv: je nach Verwendungskontext, Interessen usw. kann mal dieser, mal jener Sachverhalt im Fokus liegen und als dargestellt erachtet werden. In der Regel sind es sogar mehrere Sachverhalte pro Kontext. Es scheint also, dass ein Bild bzw. dessen Verwendung kein Grund sein kann, etwas Bestimmtes zu glauben. Denn für welche der unbestimmt vielen Sachverhalte oder Propositionen sollte ein Bild Grund sein, sie zu glauben. Auch wenn gewisse Bilder dem Betrachter einen bestimmten Sachverhalt »aufdrängen« – z. B. dass das dargestellte Kind im Krisengebiet leidet – gibt es unbestimmt viele andere Propositionen, die zu glauben das Bild ebenfalls ein Grund sein könnte. Um die Unbestimmtheit zu beseitigen, muss der Verwender bzw. allgemein der Verwendungskontext eine entscheidende Rolle einnehmen: er muss sozusagen aus der unbestimmten Fülle von möglichen Propositionen, die das Bild darstellt, eine herausgreifen und als die Proposition präsentieren, die mitgeteilt und geglaubt

es hier allerdings ankommt, ist der Zusammenhang zwischen dem, was geäußert wurde, und dem, was der Hörer daher Grund hat zu glauben. Dieser Zusammenhang ist nicht trivial. Die Tatsache, dass ein bestimmter Satz geäußert wurde, ist für den Hörer der Grund, etwas Bestimmtes zu glauben, und zwar etwas, dass in einem notwendigen Zusammenhang zu dem Satz (und seiner Bedeutung) steht. Entsprechendes gilt für Bilder und dem Zusammenhang zwischen ihrem Darstellungsgehalt und dem Grund für den Betrachter, etwas Bestimmtes zu glauben (s. u.). 5 Zur Unbestimmtheit der bildhaften Darstellung und allgemein zu den Unterschieden zwischen Bild und Sprache siehe Harth 2001 und 2005.

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werden soll. Der Kontext besteht sehr oft aus sprachlichen Erklärungen und Zusatzinformationen. Es steht also in Frage, ob ein Bild selbst bzw. dessen Verwendung, für sich genommen und ohne den sprachlichen Kontext, in dem es gezeigt und betrachtet wird, die Rolle eines Grundes spielen kann, so wie dies eine sprachliche Äußerung vermag. Und auf den ersten Blick ist es so, dass ein Bild dies nicht vermag. Doch auch sprachliche Äußerungen bzw. die geäußerten Sätze und ihre Bedeutung sind selten für sich genommen schon ausreichend, um eine bestimmte Proposition auszudrücken, also selten ein Grund, etwas Bestimmtes zu glauben; man denke an »Es regnet« – wann, wo? Der Äußerungskontext spielt auch hier eine entscheidende Rolle. Er liefert die Zusatzinformationen – im Beispiel über den Zeitpunkt und den Ort –, die nötig sind, um aus der Satzbedeutung, die diese Informationen alleine nicht enthält, einen Äußerungsgehalt zu formen. Nun zurück zu den Bildern: Auch wenn Bilder, im Gegensatz zu (nicht-ambigen) Sätzen, keine bestimmte Bedeutung haben, sie keinen propositionalen Gehalt besitzen und mit ihnen wortwörtlich nichts gesagt wird, und der Verwendungskontext deshalb eine andere, umfassendere und wichtigere Rolle spielt als der Äußerungskontext sprachlicher Mitteilungen, so ist es doch plausibel zu behaupten, dass ein Bild, d. h. die Tatsache seiner Verwendung in einem bestimmten, auch sprachlich ergänzten Kontext, ein Grund sein kann, etwas bestimmtes zu glauben oder zu tun, nämlich dadurch, dass mit ihm im Kontext seiner kommunikativen Verwendung eine bestimmte Proposition mitgeteilt werden kann. Und genau wie im sprachlichen Fall hat der Adressat, d. h. der Bildbetrachter, dann unter sonst geeigneten Umständen einen Grund, entsprechendes zu glauben und/oder zu tun. 3. Der Vergleich von Bild und Sprache in Bezug auf ihre Rolle als Gründe hat also folgendes gezeigt: Auch wenn der Beitrag des Verwendungskontextes bei Bildern ein ganz anderer ist als der Beitrag des Äußerungskontextes im Fall sprachlicher Kommunikation, so ist es doch unzweifelhaft, dass man mit Bildern Bestimmtes mitteilen, wenn auch nicht im wörtlichen Sinn sagen, kann. Daher kann ein Bild, ähnlich wie ein geäußerter Satz, in einer entsprechenden kommunikativen Situation ein Grund sein, etwas Bestimmtes zu tun. Zu bedenken wäre vielleicht lediglich, ob man zu Recht sagen kann, dass das Bild selbst der Grund ist und nicht vielmehr die Gesamtsituation bestehend aus Bild, Verwender, seinen Absichten und dem Kontext, der ja oft auch sprachliche Anteile aufweist: Die kommunikative Verwendung eines Bildes ist meist in eine Situation sprachlicher Kommunikation eingebettet, und gelegentlich wird darin das Bild erläutert oder gar erst gedeutet. Da also der Anteil des Gesamtkontextes, in dem ein Bild verwendet wird, für die Mitteilung, die mit dem Bild gemacht werden soll, erheblich ist – deutlich größer als im sprachlichen Fall und zum Teil auch von anderer Natur – ist es durchaus nicht eindeutig und selbstverständlich, dem Bild die Rolle des Grundes zuzusprechen, so wie man der Satzäußerung in ihrem Kontext diese Rolle zugesteht. Da jedoch die Rolle des Kontextes im sprachlichen Fall ebenfalls nicht zu unterschätzen ist und ein Vergleich der Relevanz der Kontextbeiträge schwierig ist, kann man Bildern durchaus die Rolle zusprechen, Gründe zu sein, etwas zu glauben und zu tun – wenn auch viel-

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leicht nicht in genau demselben Sinn wie Worten, aber zumindest doch in einem hinreichend ähnlichen Sinn. Bei meinen bisherigen Überlegungen habe ich auf die Unterscheidung zwischen mechanischen und manuellen Bildern keine Rücksicht genommen: Ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Kategorie habe ich gezeigt, dass Bilder Gründe sein können. Gibt es also gar keinen Unterschied zwischen den Kategorien von Bildern bezüglich ihrer handlungsbegründenden Rolle, obwohl man, wie eingangs erwähnt, bei Bildern, die Gründe liefern, eher an Fotografien und dergleichen denkt und geneigt ist, ihnen allein einen solche Rolle zuzusprechen? Dieser Frage möchte ich zum Abschluss nachgehen. IV. Mechanische und manuelle Bilder 1. Zunächst ein paar Erläuterungen zu der bislang nur angedeuteten Unterscheidung zwischen mechanischen und manuellen Bildern. Der Unterschied zwischen den beiden Arten von Bildern zeigt sich in einem Unterschied in der Entstehungsgeschichte der Bilder: Ein mechanisches Bild ist natürlich nicht deswegen mechanisch zu nennen, weil es mittels eines mechanischen Geräts, z. B. eines Fotoapparats, erzeugt wurde – auch bestimmte manuelle Bilder werden teilweise mechanisch erzeugt, z. B. Druckgrafiken –, sondern weil das Sujet selbst, etwa eine abgebildete Person, sozusagen mechanisch das Bild erzeugt. Das heißt, das Abgebildete verursacht das Abbild direkt, insbesondere ohne »Dazwischenschalten« eines intentionalen Subjekts. Selbstverständlich »stecken« in Fotokameras und damit in Fotografien jede Menge menschlicher Intentionen, ohne die kein brauchbares Foto entstehen könnte, aber rein theoretisch könnte eine Fotografie auch ohne menschliches Zutun, also ganz natürlich oder zufällig vom Abgebildeten verursacht werden (auch wenn es dazu natürlich sehr vieler Zufälle bedürfte und das so entstandene Bild noch als solches interpretiert werden müsste). So wie also ein Fingerabdruck oder eine Fußspur gewissermaßen natürlich entsteht und sein »Sujet« abbildet, von dem es zugleich direkt verursacht wurde, so ist auch eine Fotografie ein Abbild einer Szene als eine Art Abdruck, nur eben viel komplizierter. Ein mechanisches Bild ist das, was ausgehend von Charles Sanders Peirce in der Semiotik ein Index oder ein indexikalisches Zeichen genannt wird, also ein Zeichen, das auf besondere Art auf das Bezeichnete deutet oder verweist, indem es nämlich vom Bezeichneten verursacht wird. Typische (reine) Indizes sind Symptome, etwa von Krankheiten, oder Anzeichen allgemeiner Art, etwa natürliche Anzeichen für bestimmte Wetterphänomene oder »künstliche« Anzeichen wie Temperaturanzeigen und dergleichen. Darüberhinaus ist ein mechanisches Bild auch noch ein sogenanntes Ikon, oder ikonisches Zeichen, das laut Peirce in einer Ähnlichkeitsbeziehung zum Bezeichneten steht. Index und Ikon, sowie die dritte Kategorie Symbol, sind also keine einander ausschließenden Kategorien, sondern Aspekte von Zeichen. Ein Fingerabdruck weist z. B. beide Aspekte auf: er wird von (einer Berührung mit) der Fingerkuppe verursacht, verweist also so auf sie, und ist dieser zugleich ähnlich. Mechanische Bilder stehen natürlich in einer viel komplizierteren kausalen und Ähnlichkeits-Beziehung zu ihrem Sujet. Die Fotografie selbst, d. h. der

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materielle Bildträger, hat wohl recht wenig, wenn überhaupt irgendeine, Ähnlichkeit mit dem Abgebildeten (was viele Philosophen veranlasst, die sogenannte Ähnlichkeitstheorie der Abbildung ganz zu verwerfen), sondern nur das, was im Bild zu sehen ist, also das im Bild Dargestellte, ähnelt dem vom Bild Abgebildetem. Auch der indexikalische Aspekt, bzw. die kausale Beziehung, ist nicht so einfach und geradlinig wie bei Fingerabdrücken: das Sujet drückt sich ja nicht in das Filmmaterial (von digitaler Fotografie möchte ich erst gar nicht sprechen) und hinterlässt so eine Spur, sondern Licht wird vom Sujet reflektiert und in einem recht komplizierten Vorgang durch die Linse auf den entsprechend vorbereiteten Film geleitet, wo es chemische Reaktionen auslöst, und anschließend im Labor weitere chemische Prozesse zum endgültigen Bild führen. Manuelle Bilder dagegen stehen nicht in diesem kausalen Verhältnis zum Sujet. Auch wenn über die Wahrnehmung natürlich kausale Beziehungen zum Abgebildeten für die Entstehung manueller Bilder eine Rolle spielen, so fehlt doch bei ihnen der direkte kausale Zusammenhang und Kontakt zum Sujet, das ja nicht einmal existieren muss. Ihnen fehlt der Index-Aspekt und sie weisen nur den Ikon-Aspekt auf. 2. Nun zur Frage, ob und in welcher Weise sich die beiden Arten von Bildern bezüglich ihrer Rolle als Gründe unterscheiden. Im Licht der oben angestellten Betrachtungen scheint es diesbezüglich keinen Unterschied zu geben. Denn die hierbei herausgearbeitete handlungsbegründende Rolle von Bildern kann ja gerade auch von manuellen Bildern und nicht nur von mechanischen Bildern eingenommen werden. Eine Fotografie und eine Zeichnung können gleichermaßen verwendet werden, um jemandem etwas mitzuteilen und damit einen Grund in die Hand zu geben, etwas zu tun. Dennoch ist man geneigt zu sagen, dass mechanische, oder wie wir jetzt auch sagen könnten: indexikalische Bilder noch auf ganz andere, besondere Weise eine solche Rolle einnehmen können, also auf eine Weise Handlungsgründe sein können, wie es manuellen Bildern nicht gelingt – dies zeigen die Beweisfotos vor Gericht. Ursprünglich war die Neigung ja sogar die, dass ausschließlich mechanische Bilder Handlungsgründe sein können. Die Diskussion der Unterschiede zwischen den beiden Bildkategorien möchte ich mit einem bekannten Beispiel von Paul Grice (1957) beginnen: A zeigt seinem Kollegen B eine Zeichnung, auf der Bs Frau mit einem anderen Mann in einer sogenannten eindeutigen Situation zu sehen ist. Damit teilt A unter geeigneten Bedingungen dem Kollegen B mit, dass dessen Frau in betrügt. B hat somit einen Grund zu glauben, dass dem so ist, da er von A annimmt, dass er ihn in solchen Dingen weder täuscht noch dass er leichtfertig ist, d. h. ohne sich seiner Sache sicher zu sein, ihm solches mitteilen würde. Die Zeichnung, genauer: ihre kommunikative Verwendung in einem bestimmten Kontext, war also ein Grund für B zu glauben, dass sein Frau fremdgeht und ein Grund, entsprechend zu handeln. Natürlich hätte A dem B mit derselben Zeichnung beliebig viele andere Dinge mitteilen können, beispielsweise, falls das Fremdgehen beiden schon bekannt wäre, dass es diesmal Bs bester Freund C ist oder dass es in Bs eigener Wohnung geschah usw., und für B hätte somit die Zeichnung ein Grund für beliebig viele andere Überzeugungen sein können. Aber in dieser Situation zwischen A und B war die Zeichnung eben ein Grund für B zu glauben, dass seine Frau fremdgeht. Betrachtet man nun dieselbe Situation mit einer Fotografie statt einer Zeichnung, dann zeigt sich das Spezi-

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fische, das bei mechanischen Bildern ins Spiel kommt, in folgender Überlegung: Hätte B das Foto auf dem Boden in seinem Büro gefunden (wo es sein Kollege A verloren hat – oder es vielleicht heimlich und absichtlich fallengelassen hat?), wäre das Bild unter bestimmten Voraussetzungen, z. B. unter der Annahme, dass es nicht entscheidend manipuliert wurde oder die Szene nachgestellt ist, ohne sein kommunikative Verwendung schon eine Grund für B gewesen zu glauben, dass seine Frau fremdgeht. Das heißt, im Fall der Fotografie ist es nicht das Erkennen der kommunikativen Absicht von A, was für B der Grund ist, zu glauben, dass sein Frau ihn betrügt, sondern bestimmte Annahmen über das Bild selbst, nämlich im Wesentlichen, dass es eine Fotografie ist und dass Fotografien vom Dargestellten verursacht werden. Das macht in gewisser Weise das Foto zu einem stärkeren Grund, einem Beweismittel, das die Zeichnung nicht sein kann. B ist sozusagen nicht frei darin, dem A zu glauben oder nicht. Die Fotografie selbst »zwingt« in zu der entsprechenden Überzeugung; er wird nicht durch A bzw. dessen Vorzeigen eines Bildes, davon (rational) überzeugt. Aber genau dieser »Zwang«, der von Fotografien und anderen indexikalischen Bildern ausgeht, ist es der ihre Beweiskraft ausmacht. In der Einleitung hatte ich auch die Idee erwähnt, dass Fotografien wie der geronnene Anblick der Szene selbst sind und so die Beweiskraft erklärt wird. Wenn man nämlich die Auffassung vertritt, dass beispielsweise eine Fotografie wortwörtlich einen Blick auf die Wirklichkeit gewährt statt nur auf deren Repräsentation und man so die fotografierte Szene selbst sieht, nicht nur deren Abbildung, wäre eine Fotografie in dem Sinn ein Handlungsgrund, dass sie einen Grund liefert, indem sie einen Blick auf etwas gewährt, das wiederum ein Grund zum Handeln ist. Das würde jedenfalls erklären, warum man mechanischen Bildern wie Fotografien eine stärkere oder zumindest ganz andere (und zusätzliche) handlungsbegründende Rolle zuschreibt als manuellen Bildern. Natürlich muss B, und jeder andere Betrachter von Fotografien, von einigen Zusatzannahmen ausgehen, um die Beweiskraft von mechanischen Bildern zu »spüren« und zur entsprechenden Überzeugung »gezwungen« zu werden: Er muss annehmen, dass die Szene des Fotos nicht nachgestellt ist, dass es sich nicht um die Zwillingsschwester seiner Frau handelt, dass das Foto nicht auf entscheidende Weise montiert, retuschiert usw. ist und dergleichen mehr (von den technischen Möglichkeiten der digitalen Bilderzeugung und -bearbeitung ganz zu schweigen). Dies könnte zu der Vermutung Anlass geben, dass mechanische Bilder sich nicht wesentlich von manuellen unterscheiden. Doch diese Zusatzannahmen sind mehr oder weniger dieselben wie man sie bei gewöhnlicher Wahrnehmung auch machen muss. Man muss annehmen, dass eine beobachtete Szene echt und nicht gespielt ist, dass es sich wirklich um die Personen handelt, die man augenscheinlich sieht und nicht um deren Doppelgänger, und dass man »richtig« sieht und nicht schlichtweg Wahrnehmungsstörungen hat.6 Betrachten wir als weiteres Beispiel die Videoaufzeichnung einer Kamera in einer Bank, die den Bankräu-

Dennoch gibt es natürlich einen recht großen Unterschied: Da im Fall der Fotografie ein technisches Medium zwischen mir und der Szene dazwischengeschaltet ist, steigt die Gefahr einer Unzuverlässigkeit oder einer absichtlichen wie unbeabsichtigten Störung drastisch. Sie verdoppelt sich wenigstens, da ich ja sowohl meinen Augen beim Betrachten der Fotografie als auch dem Foto selbst trauen muss. 6

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ber zu identifizieren erlaubt. Hier ist die Wahrscheinlichkeit einer Fälschung der Aufzeichnung oder eines maßgeblichen technischen Defekts unter normalen Umständen so gering, dass man, solange keine Gegengründe vorliegen, davon ausgeht, dass die Aufzeichnung Beweiskraft besitzt. Das heißt, sobald eine bestimmte Person hinreichend eindeutig auf dem Video zu identifizieren ist, gilt das als Grund für die Annahme, dass diese Person die Bank überfallen hat – es ist so, als ob man die Person selbst beim Überfall beobachten würde.7 Sobald natürlich Zweifel an der Echtheit der Aufzeichnung aufkommen, schwindet auch ihr Beweisstatus – und ihr Status als Repräsentation (statt der Wirklichkeit selbst) kommt ins Bewusstsein. Es sieht dennoch so aus, als ob mechanische Bilder im Vergleich zu manuellen in dem Sinne einen besonderen Status als Handlungsgründe haben, dass sie – gewisse Annahmen vorausgesetzt – selbständig als Gründe dienen, d. h. nicht nur wie manuelle Bilder dadurch, dass sie kommunikative Mittel sind, um anderen etwas mitzuteilen und auf diese Weise Grund sind, etwas zu glauben und etwas zu tun, sondern auch dadurch, dass sie einem Betrachter (zumindest im metaphorischen Sinn) einen Blick auf die Wirklichkeit erlauben. 3. Wir können also festhalten: Beide Arten von Bildern, mechanische wie manuelle, können in dem erläuterten mittelbaren Sinn Handlungsgründe sein, da sie als kommunikative Mittel eingesetzt werden können, um jemandem etwas mitzuteilen und ihm so einen Grund zu geben, entsprechendes zu glauben oder zu tun. Doch es gibt einen Unterschied. Auch wenn man dem Hersteller und Verwender eines mechanischen Bildes vertrauen muss, haben mechanische Bilder dann, wenn dieses Vertrauen geschenkt wird, eine Beweiskraft, die manuelle Bilder nicht besitzen. Denn bei manuellen Bildern bedarf es nicht nur Vertrauen darauf, dass der Hersteller oder Verwender aufrichtig ist, sondern auch Vertrauen darin, dass er zuverlässig ist, d. h. sich nicht täuscht, z. B. bei der Wahrnehmung dessen, was er abbilden möchte, und dass er nicht aufgrund von Unvermögen falsch abbildet, weil er z. B. schlichtweg ein schlechter Zeichner ist. Bei mechanischen Bildern ist genau diese Möglichkeit der Täuschung bzw. des menschlichen Fehlgehens ausgeschlossen (wenn man von Fehlbedienungen des bilderzeugenden Apparats einmal absieht). Auch wenn sich ein Foto bzw. ein Fotoapparat »täuschen« kann, d. h. auf die eine oder andere Weise defekt oder mangelbehaftet sein kann, so ist diese Form der Unzuverlässigkeit doch von menschlichem Irrtum oder Versagen verschieden, da letzteres nicht einfach nur kausale Zusammenhänge betrifft wie es bei mechanischen Bildern und deren Entstehung der Fall ist. Doch ist der Unterschied wirklich von grundlegender Natur? Ist er nicht vielmehr nur graduell? In beiden Fällen gibt es grundsätzlich zwei Typen von Annahmen, die gemacht werden müssen, um ein Bild als Grund zu akzeptieren: erstens die Annahme, dass keine Täuschung oder kein Versagen vorliegt, d. h. keine Unzuverlässigkeit seitens des »bilderzeugenden Systems« (Zeichner oder Fotoapparat), zweitens die Annahme, dass ein zuverlässig entstandenes Endprodukt, das Bild, nicht nachträglich verfälscht wurde (wobei im Fall von ZeichOb das Video dann auch als Beweis vor Gericht gilt, bzw. ob solche Aufzeichnungen oder Fotos und Videos grundsätzlich als Beweismittel vor Gericht zugelassen sind, ist eine andere, nämlich juristische Frage. Ihr Status als Grund ist davon nicht betroffen. 7

Mechanische und manuelle Bilder als Handlungsgründe

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nungen wissentlich falsche Erzeugung und nachträgliche Fälschung meist zusammenfallen). Die zweite Annahme ist bei beiden Kategorien von Bildern dieselbe. Ob es nun allerdings legitim ist, menschlichen Irrtum oder menschliches Versagen (z. B. aufgrund von Wahrnehmungsstörungen oder zeichnerischen Unvermögens) und technische Unzuverlässigkeit (technische Defekte im Apparat, in der Entwicklung des Films oder bei der Wiedergabe von analogen oder digitalen Aufzeichnungen usw.) gleichzusetzen und nur als graduelle Unterschiede anzusehen, vermag ich hier nicht zu beurteilen. Mein Eindruck ist zumindest, dass der Unterschied nicht nur graduell ist, da die Kontrolle darüber, ob ein technischer Apparat zuverlässig funktioniert, wiederum die menschliche Wahrnehmung übernimmt. Ob ein Apparat zuverlässig ist und getreue Abbilder der Wirklichkeit produziert, entscheidet unsere Wahrnehmung, und zwar die vergleichende Wahrnehmung von Bild und Wirklichkeit. Ein solcher Vergleich ist im Fall der Kontrolle der Zuverlässigkeit menschlicher Wahrnehmung selbst nicht möglich. Ob dieser Unterschied wiederum ausreicht, um einen grundsätzlichen Unterschied zwischen mechanischen und manuellen Bildern bezüglich ihrer handlungsbegründenden Rolle behaupten zu können, ist wieder eine andere, nicht leicht zu beantwortende Frage. Tatsache ist jedoch, dass gewöhnlich den mechanischen Bildern aufgrund ihres indexikalischen Charakters – oder wenn man so will, aufgrund ihres Vermögens dem Betrachter einen Blick auf die Wirklichkeit selbst zu gewähren – ein anderer Status bezüglich ihrer handlungsbegründenden Rolle eingeräumt wird als den manuellen Bildern – Fotografien und dergleichen haben unter geeigneten Umständen Beweischarakter, manuelle Bilder haben diesen niemals. Man stelle sich einen Privatdetektiv vor, der seinen Auftraggeber die Untreue von dessen Frau mit einer Zeichnung von der entsprechenden Situation nachweisen will. Meine Überlegungen sollten allerdings aufzeigen, dass dieser Unterschied nicht so selbstverständlich angenommen werden sollte, wie er meist angenommen wird. Um es abschließend noch einmal in drei Sätzen zusammenzufassen: Nicht nur mechanische Bilder, wie vielleicht durch die eingangs gemachten Überlegungen naheliegt, können Handlungsgründe sein, sondern trotz des fehlenden indexikalischen oder direkt kausalen Charakters auch manuelle Bilder – zumindest so gut, oder hinreichend ähnlich gut, wie sprachliche Äußerungen. Und, so ließe sich zumindest argumentieren, mechanische Bilder spielen aufgrund ihrer Index-Natur darüber hinaus noch eine andere, und damit insgesamt stärkere Rolle als Handlungsgründe, nämlich eine Beweisrolle: Sie sind nicht nur so gut Gründe, wie Worte es sind, sondern fast so gut Gründe, wie die (Wahrnehmung der) Wirklichkeit selbst es ist – aber eben nur fast.8

Ich möchte dem Veranstalter des Kolloquiums »Bilder als Gründe«, Jakob Steinbrenner, und den Teilnehmern für Anregungen und Kommentare danken. 8

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Literatur Bittner, Rüdiger: Doing Things for Reasons, Oxford 2001. Dancy, Jonathan: Practical Reality, Oxford 2000. Davidson, Donald: Actions, Reasons and Causes (1963), in: ders.: Essays on Actions and Events, Oxford 1980, 3–20. Grice, Paul: Meaning, in: Philosophical Review 66 (1957), 377–388. –: Logic and Conversation (1975), in: ders.: Studies in the Way of Words, Cambridge 1989. Harth, Manfred: Bezugnahme bei Bildern, in: Bildhandeln, hg. von Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg 2001, 41–53. –: Grundbegriffe einer Bild-Semantik, in: Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, hg. von Klaus Sachs-Hombach, Köln 2005, 230–241. Raz, Joseph: Engaging Reason, Oxford 1999. Walton, Kendall: Transparent Pictures: On the Nature of Photographic Realism, in: Critical Inquiry 11 (1984), 246–77.

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Die Begründung des Politischen: Stationen der Ideengeschichte Kolloquiumsleitung: Barbara Zehnpfennig

Barbara Zehnpfennig Einführung Barbara Zehnpfennig Die Begründung des Politischen in der Antike: Die sokratische Suche nach Begründung Peter Nitschke Die Konstruktion von Begründung Politischer Ordnung in der Prämoderne Clemens Kauffmann Die Inversion von Politik und Vernunft in der Moderne

Einführung Barbara Zehnpfennig

Das menschliche Zusammenleben als etwas zu begreifen, das bewusst gestaltet werden kann, kennzeichnet einen Reflexionsstand, der geschichtlich erst errungen werden musste. Sobald dieses Zusammenleben dem Natürwüchsig-Gegebenen aber erst einmal entrückt ist, stellt sich sehr schnell die Legitimationsfrage: Wodurch lässt sich Politik überhaupt, wodurch lassen sich die verschiedenen Formen des Politischen begründen? Die Antworten auf diese Fragen sind ebenso allgemein wie spezifisch: Sie spiegeln grundlegende Möglichkeiten des Denkens wider, sie sind jedoch gleichermaßen Reflex ihrer Zeit. Die folgenden Artikel betrachten drei wesentliche Stationen der Ideengeschichte unter der genannten Doppelperspektive und versuchen somit, mittels eines kurzen Gangs durch die Geschichte Grundmodelle politischen Denkens vorzuführen und zu reflektieren. 1. In der griechischen Antike steht vor dem Nachdenken über die Begründung der Politik die Frage nach dem Grund überhaupt, nach der Ursache alles Wirklichen. Begründung wird hier also zunächst denkbar umfassend verstanden. Vorsokratik und Sophistik lokalisieren die Ursache im Sinnlichen bzw. im Bewusstsein – zwei Weltdeutungsoptionen, die nicht nur einander widersprechen, sondern auch in sich widersprüchlich sind. Um dies zu erkennen, bedarf es aber einer besonderen Einstellung dem Wissen gegenüber, wie es Vorsokratik und Sophistik vermitteln: der Einsicht, dass das Wissen vom Grund selbst erst begründet werden muss. Diese Begründung ist nur durch Prüfung des Wissens möglich – das ist die fundamentale Kehrtwendung der Blickrichtung, die mit Sokrates in die Welt tritt. Glaubten seine Vorgänger, von Wissen ausgehen zu können, so macht Sokrates deutlich, dass man zu den Grundlagen des Wissens selbst zurückgehen muss: zu den meist unbewussten Prämissen, von denen das Denken ausgeht. Deshalb besteht seine Philosophie nicht in einem System des Wissens, sondern in systematischem Fragen. Dieses Fragen betrifft den Bereich des Menschlichen in seinem ganzen Umfang und damit auch den Bereich des Politischen. Äußerlich erweckt das sokratische Fragen im Dialog den Eindruck des Zerstörerischen: die frühere Wissensgewissheit der Dialogpartner ist verloren. Doch diese via negationis eröffnet die Möglichkeit wirklicher Einsicht – durch Verstehen des Wissens, durch den Überschritt vom Verstand zur Vernunft. In Anwendung auf die Politik bedeutet das, die Grundmodelle des politischen Denkens auf ihre Schlüssigkeit und auf ihren inneren Zusammenhang hin zu durchdenken – und so zu ergründen, worin ihre Defizite bestehen. Die Strukturen, die auf diesem Wege erkennbar werden, sind so allgemeine, dass sie auch zur Analyse der späteren geschichtlichen Erscheinungsweisen des Politischen taugen. Daher ist der sokratische

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Dialog nicht nur ein antiker Dialog. Es ist vielmehr ein Dialog, der mit der gesamten Geschichte zu führen wäre. 2. Die Prämoderne zeichnet sich durch eine Pluralität der Diskurse zum Politikverständnis aus. Insofern ist es wenig angebracht, die Theoreme und Philosophien zur Politik zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert allein unter dem säkularisierenden Motiv einer Etablierung des modernen Naturrechts interpretieren zu wollen, wie dies generell in der Politischen Ideengeschichte und in der Philosophie zu beobachten ist. Theologische Interpretamente spielen nach wie vor eine wichtige Rolle, auch (und gerade) dann, wenn die Selbstbestimmung und Verantwortung des Menschen für »Politik« in den Mittelpunkt der Begründungen gestellt wird. Selbst am Beispiel des paradigmatischen Wechsels in der politischen Theorie mit dem hobbesschen Modell des Leviathan lässt sich zeigen, dass eine rein säkularistische Interpretationslinie hier einseitig (und dogmatisch) ist, wenn man die Implikationen aus dem dritten und vierten Buch des »Leviathan« in ihrer Logik außer Acht lässt. Jeder Anspruch auf eine Fortschrittlichkeit in der analytischen Position geht von einer geschichtsphilosophischen Setzung aus, die ihrerseits nichts anderes als ein analytisches Konstrukt ist, das vorurteilsbedingt schon beinahe einer ideologischen Positionierung im Anspruch auf die Wahrheit der Ordnung gleichkommt. Insofern zeigt der Umgang bzw. Nichtumgang mit den Theoremen der Politischen Ideengeschichte gerade für den Zeitraum zwischen 1500 und 1800, dass die Grundpfeiler für das moderne Selbstverständnis eines naturrechtlichen Individualismus auch ganz anders verstanden und diskutiert werden können. 3. Das Problem einer »Begründung des Politischen« in der Moderne steht vor denselben systematischen Schwierigkeiten, die jede »Begründung des Politischen« in anderen geschichtlichen und kulturellen Konstellationen zu reflektieren hatte, und zusätzlich vor der historischen Schwierigkeit einer Abgrenzung der Moderne als Epoche. Die Fragen, ob das Politische überhaupt »begründbar« wäre oder eine mit Menschen gegebene Tatsache, ob das Politische als Funktion der Vernunft nur in Gestalt einer Selbstbegründung des Vernünftigen erscheinen könne, ob die Moderne in ihrer Selbstverunsicherung historisch-politisch durch anderes als Brüche, Revolutionen und Kriege charakterisiert werden oder als immer möglicher Denktypus verstanden werden könne, würden selbst zu unauflösbaren Divergenzen führen. Ideengeschichtlich hat sich das Problem des Politischen in der Moderne nicht primär als Begründungsproblem gestellt. G. W. F. Hegel steigerte den Zusammenhang, den die Antike zwischen der Vernünftigkeit des Menschen und der Wirklichkeit des Politischen gesehen hatte, dahingehend, daß das Vernünftige konkrete Existenz in den geschichtlichen Gestalten der sittlichen und politischen Institutionen fände. Das Politische wäre demnach nicht zu »begründen«, sondern der Staat wäre in der geschichtlichen Rückschau auf den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit als ein in sich Vernünftiges zu »begreifen«. Es bestehe mithin ein »Bedürfnis nach Philosophie«, die als wirksames Moment einer gelebten Kultur der Freiheit zur Versöhnung mit der Wirklichkeit führe. Am Ende des 20. Jahrhunderts griff John Rawls Hegels Konzeption der »Philosophie als Versöhnung« in veränderten Kontexten auf. Aber Rawls reproduzierte gewissermaßen einen »Hegel ohne Hegel«, eine Kulisse ohne Fundament, eine politische Konzep-

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tion von Vernunft abseits von und ohne Bezug auf eine dazugehörige philosophische Auffassung der Welt als ganzer und eine Philosophie der Geschichte. An die Stelle des Begriffs der vernünftigen Wirklichkeit trat bei Rawls die öffentliche »Rechtfertigung« eines übergreifenden Konsenses. Würde man Hegel und Rawls als die »Klammer« verstehen wollen, in der sich die Moderne entfaltet hat, so wäre hier eine Inversion des Verhältnisses von Vernunft und Politik zu erkennen. Die geistige Inversion der Moderne schritt von einer Noetisierung des Politischen voran zu einer Politisierung der Vernunft. Das eigentliche Drama der Moderne hat sich zwischen Hegel und Rawls abgespielt. Statt einer konstruktiven »Begründung« des Politischen führte die Entwicklung zu einer »Rebellion gegen die Vernunft«, zu einer Auflösung des Politischen im Kampf und zu einem Niedergang der Politik im Zeitalter der Ideologien und der Vernichtung. Die Selbstbegründung politischer Vernunft könnte somit als nachzuholende Aufgabe der Moderne verstanden werden. Damit stünden wir aber erst an deren Beginn.

Die Begründung des Politischen in der Antike: Die sokratische Suche nach Begründung Barbara Zehnpfennig

In Griechenland wurde nicht bloß die Politik erfunden – die Politik als bewusste und reflektierte Form der Organisation des Zusammenlebens –, sondern auch die Frage nach der Ursache in besonderer Weise gestellt. Diese Frage ist zunächst als religiöse Frage präsent, wie sie in allen Kulturen gestellt wird; im antiken Hellas nimmt sie aber eine philosophisch-wissenschaftliche Wendung. Die Ursache wird »entgöttlicht«, sie wird auf die Erde zurückgeholt und zunehmend in den Menschen selbst verlagert. Dieser Prozess ereignet sich in der Philosophie vor Sokrates. In Sokrates aber ändert er auf dramatische Weise seine Richtung, ein Vorgang, der im Folgenden genauer zu kennzeichnen ist. I. Die Zeit vor Sokrates Am Anfang der Überlieferung und damit am Anfang der uns bekannten abendländischen Philosophie steht bekanntlich die ionische Naturphilosophie: Für Thales ist das Wasser der Ursprung von allem,1 also etwas Sinnliches, das aber, da es als allgemeiner Ursprung gedacht wird, zugleich ein Prinzip verkörpert. Damit ist der entscheidende Schritt von der mythologischen zur »wissenschaftlichen« Welterklärung getan, womit freilich eine Wissenschaft gemeint ist, welche die Wahrheit im Stofflichen sucht.2 Das gilt für Anaximenes, der die Luft zur ersten Ursache erklärt, für Heraklit, der sie im Feuer findet, für Empedokles, der die vier Elemente als Ursachen benennt. Das von Anaximandros überlieferte Fragment: »Woraus aber den Dingen das Entstehen ist, da hinein ist ihr Vergehen nach der Notwendigkeit, denn sie zahlen einander Strafe und Buße für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit«3 deutet die Welt des Werdens und Vergehens als System des Ausgleichs. Was das Entstehen verursacht, verursacht auch den Untergang – ein Art Schuldsystem, das zwischen den Dingen besteht. Die Erklärung verbleibt also zunächst wie die der Vorgänger auf der Ebene der Sinnlichkeit, da es die Dinge sind, die einander ihre »Schuld« vergelten. Der Ausgleich Vgl. Aristoteles: Metaphysik I,3, Stuttgart 1974, 24 f. Eine alternative Interpretation der Vorsokratiker zu der hier vorgeschlagenen findet sich bei Thomas Buchheim: Die Vorsokratiker. Ein philosophisches Porträt, München 1994. Danach sollte man nicht mit zeitlich späteren Kategorien dies frühe Denken zu erfassen versuchen – was allerdings konsequent zu Ende gedacht Zweifel an der grundsätzlichen Verstehbarkeit des Nicht-Zeitgenössischen nährt. 3 Zitiert nach: Karl Vorländer: Philosophie des Altertums. Geschichte der Philosophie. Mit Quellentexten, Reinbek bei Hamburg 1964, 14. 1 2

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selbst ist allerdings etwas Nicht-Sinnliches. Darin deutet sich die Richtung an, in die sich die nachfolgenden Denker zunehmend bewegen werden: die Ursachensuche verlagert sich vom Sinnlichen zum Nicht-Sinnlichen. Bei den Pythagoreern ist das Grundprinzip der Wirklichkeit und damit deren Ursache bereits von der sinnlichen Erscheinung gelöst: Im Kosmos ist alles nach Zahlenverhältnissen geordnet, d.h. der Welt liegt eine abstrakte Gesetzmäßigkeit zugrunde. Jetzt stehen nicht mehr die Dinge im Fokus, sondern das Gesetz, das ihre Beziehung zueinander regelt; nicht das Stoffliche ist die eigentliche Wirklichkeit, sondern die Zahl. Aus dem Geraden und dem Ungeraden lässt sich die Erscheinungswelt ableiten, die in kosmischer Harmonie zusammengefügt ist. Die zunehmende Abstraktion, die sich in den beschriebenen Weltdeutungsmodellen findet – auch Heraklit lässt aus seinem »Urfeuer« das Prinzip des Gegensatzes, des Umschlags in das Gegenteil hervorgehen –, liegt in der Logik der Sache: Ein rein stofflich gedachtes Grundprinzip ist ein Widerspruch in sich.4 Denn es ist nur das, was es ist, und erklärt nicht, wie aus ihm anderes entstehen kann. Folgerichtig wird dann bei Anaxagoras der Nous, der Geist, selbst zur Ursache von allem. Der Nous ist ganz für sich, unzusammengesetzt und ewig. Er ordnet und erkennt alles, er beherrscht das, was Seele hat. So scheint in Anaxagoras eine Entwicklung zu Ende gekommen zu sein, die von der sinnlichen zur nicht-sinnlichen, von einer unbewusst gedachten zu einer das Denken einbeziehenden Ursache führt – wenn er den Nous nicht selbst wieder als das »feinste aller Dinge und das reinste«5 deuten würde. Für Anaxagoras liefert der Nous zwar den Anstoß zur Entstehung der erscheinenden Vielfalt. Diese wird in sich aber wieder rein mechanisch erklärt, was nicht verwunderlich ist, wenn die Stofflichkeit in die Geistursache zurückverlagert wird. Die Konsequenz daraus wird dann in der Eleatik gezogen: In seinem Lehrgedicht erklärt Parmenides, dass nur das Sein ist, und dieses Sein ist eins mit dem Denken. Die Sinne liefern trügerischen Schein; die Meinungen der Menschen erfassen das Sein nicht. Alleine dem Denken eröffnet sich die Wahrheit, die folglich ihrerseits nicht stofflich sein kann. In diesem neuen Erklärungsansatz ist die Ursache nicht bloß im Nicht-Sinnlichen verortet, sondern auch in ihrem notwendigen Bezug zum Denken thematisiert. Denken und Sein bilden geradezu eine Einheit. Was all diesen Versuchen, die Ursache des Wirklichen zu erfassen, gemeinsam ist, ob die Ursache nun im Sinnlichen oder im Geistigen gesucht wird: Sie wird objektivistisch vorgestellt. Sie ist das dem Menschen Gegenüberstehende. Bei Parmenides, der die Einheit von Denken und Sein postuliert, könnte das fraglich erscheinen. Doch die ganze Anlage seines Lehrgedichts, in der eine Göttin dem Suchenden die Wahrheit offenbart,

Auch Aristoteles befindet über die Vorsokratiker: »Man könnte demnach meinen, die einzige Ursache sei die stoffliche Ursache. Als aber die Denker so fortschritten, wies ihnen die Sache selbst den Weg und nötigte sie zu weiterer Forschung. […] Denn das Substrat bewirkt doch nicht seine eigene Veränderung.« Metaphysik I, 3, Stuttgart 1981, 26. 5 Zitat aus: Die Vorsokratiker, Bd. III, ausgewählt, übersetzt und erläutert von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2009, 51. 4

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zeigt, dass das Sein, die Ursache, das für den Menschen Andere ist. Wie aber gelangt der Mensch dann zu ihr? Die Antwort auf diese von den Vorsokratikern offengelassene Frage gibt die Sophistik: Der Mensch ist immer schon bei der Ursache, weil er selbst die Ursache ist. Denn er ist es, der sie denkt. Der Sophist Protagoras bringt dies mit seinem homo-mensura-Satz zweifelsfrei zum Ausdruck: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nicht-seienden, dass sie nicht sind.«6 Zwar ist mit dem homo-mensura-Satz zunächst eine Wahrnehmungstheorie gemeint; diese erweitert sich jedoch zur allgemeinen Erkenntnistheorie, sofern Wahrnehmung mit Erkenntnis identifiziert wird.7 Wenn aber der Mensch das Maß aller Dinge ist, dann ist jeder Mensch die Ursache seiner eigenen Welt. Das heißt es gibt keine allgemeine Ursache jenseits der Tatsache, dass jeder einzelne für sich selbst Urheber seiner Weltempfindung und -wahrnehmung ist. Nur das Relative ist, und dieses Relative bestimmt sich aus der sinnlichen Wahrnehmung, die letztlich Selbstwahrnehmung ist, weil die Außenwelt immer nur über die je eigene Empfindung dieser Welt zugänglich ist. »Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jedesmaligen Seins.«8 Damit ist der Objektivismus der Vorsokratik durch den radikalen Subjektivismus der Sophistik abgelöst. Dass die Sophistik als geistiges Phänomen mit dem sozialen Phänomen der Auflösung traditioneller Weltbilder und Herrschaftsformen im 5. vorchristlichen Jahrhundert einhergeht, ist sicher nicht zufällig. Geistige und politisch-soziale Wirklichkeit existieren nicht unabhängig voneinander. Das Fraglichwerden überkommener gesellschaftlicher Hierarchien wie die der Adelsherrschaft reflektiert sich in einer Theorie, die eine starke Affinität zur Demokratie hat: Der homo mensura-Ansatz erkennt jedem die gleiche Urteilsfähigkeit zu. Der Subjektivismus der Sophistik muss sich aber nicht demokratisch auswirken. Wenn alle gleichermaßen über Urteilskraft verfügen, zählen nur noch quantitative, nicht mehr qualitative Gesichtspunkte. Damit ist in Wahrheitsfragen die Mehrheit, in politischer Hinsicht die Durchsetzungsstärke entscheidend. Diese kann sich auch in einer Person bündeln. So ist die Sophistik für die Demokratie wie für die Tyrannis gleichermaßen brauchbar – das Spektrum reicht von Protagoras, in dem man einen frühen Vertreter der Vertragstheorie sehen kann,9 bis zu Kallikles, der explizit für das Recht des Stärkeren plädiert.10

Platon: Theaitetos 152 a, in: Platon: Werke, Bd. 6, hg. von Gunther Eigler, Darmstadt 1990, 31. Die folgenden Platon-Zitate sind sämtlich dieser Ausgabe entnommen. 7 Diese Identifikation wird in Platons oben genanntem Dialog Theaitetos vorgenommen, welcher neben dem Dialog Protagoras als Hauptquelle für die Theorie des Sophisten gilt. 8 Platon: Theaitetos 160 c. 9 Vgl. dazu seinen Kulturschaffungsmythos in Platons Dialog Protagoras 320 c–322 d. 10 Nämlich in Platons Dialog Gorgias 483 d–484 c. 6

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II. Die sokratische Wende Diese Beliebigkeit der Sophistik, ihr letztlich Werte-zersetzender Relativismus ist die eine Herausforderung, vor die sich Sokrates im Athen des 5. Jahrhunderts gestellt sieht. Die andere liegt in der letztlich nicht zum Ziel führenden Ursachensuche der Vorsokratik. Die Auseinandersetzung mit diesen beiden Vorgängerpositionen findet sich in den platonischen Dialogen wieder. Zunächst zu der historisch früheren Position, dem Objektivismus der Vorsokratik: In Platons Dialog Phaidon schildert Sokrates in einer Art philosophischer Autobiographie, wie er auf seiner eigenen Suche nach der Ursache zunächst die Antworten der Vorsokratiker prüfte, ohne an ihnen sein Genügen zu finden. Hier wird vor allem die Theorie des Anaxagoras näher beleuchtet. Und im Dialog Sophistes erfolgt die Untersuchung des Ansatzes von Parmenides, die zwar nicht Sokrates selbst, sondern ein Fremder aus Elea vornimmt, die aber durchaus im sokratischen Geist geführt wird. Phaidon: In seiner Jugend, so Sokrates, habe er sich bei seiner Suche nach der Ursache von Werden und Vergehen die verschiedensten naturphilosophischen Antworten vorgenommen, die zu seiner Zeit kursierten; unschwer lassen sich in seiner Schilderung die Theorien von Empedokles, Anaximenes, Heraklit etc. ausmachen.11 Was ihn daran verwirrte, war die Tatsache, dass hier Physisches stets mit Physischem erklärt wurde. Wie unzureichend eine solche Erklärung ist, zeigt Sokrates an einem Beispiel: Dass aus einem Ding zwei werden, kann ebenso auf Spaltung wie auf Hinzufügung zurückzuführen sein; zwei gegensätzliche Ursachen führen demnach dieselbe Wirkung herbei. Das bedeutet aber, dass man die wahre Ursache noch nicht gefunden hat, denn zu erklären bleibt, wie Gegensätzliches Gleiches bewirken kann. Eine überzeugendere Antwort auf die Frage nach der Ursache schien dann Anaxagoras zu liefern, der in der Vernunft den Ursprung von allem sah. Von ihm erhoffte sich Sokrates gezeigt zu bekommen, dass die Dinge der Welt und das Weltganze tatsächlich vernünftig geordnet sind, das heißt, dass es gut und richtig ist, wie es ist. Tatsächlich aber blieb es bei dem Begriff »Vernunft«; einen den Begriff ausfüllenden Sachverhalt vermochte Anaxagoras nicht auszuweisen. Vielmehr erklärte er den Kosmos wie seine Vorgänger wieder mittels »Luft und Äther und Wasser«12, was Sokrates nicht besser erschien, als seinen Verbleib im Gefängnis, also seine Akzeptanz des Todesurteils, mittels der Beschaffenheit seiner Sehnen, Knochen und Muskeln zu erklären. Hier war ganz offenbar die Bedingung, unter der die Ursache wirken kann, mit der Ursache selbst verwechselt worden. Sophistes: Im Dialog Sophistes kommt man auf die Theorie des Parmenides zu sprechen, als man sich anlässlich des Phänomens des falschen Scheins mit der Frage auseinandersetzt, ob dem Nicht-Sein nicht in gewisser Weise auch Sein zukommen muss. Nach Parmenides ist das unmöglich, denn nur das Sein ist, und dieses Sein ist in sich eins. Der Fremde, der in diesem Dialog die Untersuchung führt, fühlt sich von Par11 12

Vgl. Platon: Phaidon 96 a, b. Platon: Phaidon 98 c.

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menides jedoch ebenso wie von dessen Vorgängern wie ein Kind behandelt, dem man Geschichten erzählt: Der eine behauptet, »dreierlei wäre das Seiende, bisweilen einiges davon miteinander im Streit, denn wieder als Freund. […] Ein anderer beschreibt es zwiefach, feucht und trocken, oder warm und kalt und bringt beides zusammen […]. Unser eleatisches Volk aber […] trägt seine Geschichte so vor, als ob das, was wir alles nennen, nur eins wäre.«13 Wie aber ist das zu verstehen, wovon die verschiedenen Theoretiker so kryptisch reden? Wie ist es vor allem zu verstehen, dass dieses dreierlei, zweierlei oder eine Seiende ist? Dass sich damit ein logisches Problem auftut, ist offensichtlich: Wenn über das Seiende ausgesagt wird, dass es ist, dann ist dies ein zu der Dreiheit, Zweiheit oder Einheit noch Hinzukommendes. Im Fall des Parmenides bedeutet das: Wie kann das Sein, von dem er redet, eines sein, ohne dass Sein und Eins bereits wieder zwei sind? »Denn setzt er zuerst den Namen als ein von der Sache Verschiedenes, so nennt er doch zwei. […] Setzt er aber den Namen als einerlei mit ihr: so wird er entweder genötigt sein zu sagen, er sei Name von Nichts, oder wenn er sagen will von etwas, so wird herauskommen, der Name sei des Namens Name und sonst keines anderen.«14 Eine Ursache, der Eigenschaften zugesprochen werden, müsste also zugleich Ursache und Verursachtes sein, oder sie wäre ganz in sich und könnte damit gar nichts bewirken. Auch dieser Erklärungsversuch endet also im Selbstwiderspruch. Mit dem Objektivismus der Vorsokratik kommt man demnach nicht weiter. Gerade an der Parmenides-Dialektik wird sichtbar, dass sich das Denken in Widersprüche verstrickt, sofern es die Ursache als eine denken will und das Verursachte, wozu auch das Denken gehört, als das andere und damit als ein zweites begreift. Andererseits muss die Ursache eine sein, wenn es sich denn tatsächlich um die Letztursache handeln soll. Lässt sich das Dilemma dadurch vermeiden, dass man die Ursache nicht mehr objektiv denkt, sondern im Subjekt verortet? Diese Lösung – die Lösung der Sophistik – untersucht Sokrates am systematischsten im Dialog Theaitetos. Theaitetos: Wenn, wie Protagoras behauptet, der Mensch das Maß aller Dinge ist, dann gibt es kein An-Sich mehr, sondern nur noch ein Für-Mich. Damit gerät alles in Fluss: Weder ist die Wirklichkeit etwas Bestimmtes noch das Subjekt. Vielmehr konstituiert sich beides erst im Wahrnehmungsakt, der nichts weiter ist als eine – wie auch immer induzierte – Selbstwahrnehmung des Subjekts, eines Subjekts allerdings, das im nächsten Moment schon wieder ein anderes ist: »denn weder ist etwas ein Wirkendes, ehe es mit einem Leidenden zusammentrifft, noch ein Leidendes, ehe mit dem Wirkenden.«15 […] Ständig ist alles in Bewegung, und deshalb darf man im Grunde auch nicht von Sein, sondern nur von Werdendem und Vergehendem sprechen. »So muss man sowohl von dem Einzelnen reden, als auch von dem aus Vielem Zusammengefassten, durch welches Zusammenfassen man Mensch sagt und Stein«16. Das heißt, der Mensch, der das Maß aller Dinge sein soll, ist ein Konstrukt. 13 14 15 16

Platon: Sophistes 242 c, d. Platon: Sophistes 244 d. Platon: Theaitetos 157 a. Platon: Theaitetos 157 b.

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Das wirft natürlich sofort die Frage auf, wer denn der Konstrukteur dieses Konstruktes sein soll, denn für diesen müsste natürlich dasselbe gelten wie für seine Schöpfung. Sprachlich wäre das gar nicht mehr abzubilden, denn die Statik des Wortes – und Denkens – widerspräche dem Fluss des Geschehens. Ist alle Wahrnehmung nur Selbstwahrnehmung, verschwindet zudem das Nicht-Ich, an dem das Ich sich gewinnen könnte. Also verschwindet auch das Ich. Und schließlich: Wenn der einzelne Mensch Ursache von allem ist und es somit kein allgemeines Kriterium jenseits des subjektiven Empfindens gibt, gibt es auch Wahrheit und Irrtum nicht mehr. Etwas ist ebenso wahr wie sein Gegenteil usw. Es ergibt sich also eine ganze Reihe von Widersprüchen. Die Verlagerung der Ursache in das Subjekt führt zur Auflösung aller objektiven Maßstäbe, zur Vernichtung der intersubjektiven Verständigungsmöglichkeit, letztlich zur Selbstaufhebung des Subjekts. An der sokratischen Prüfung zeigt sich, dass der Mensch ganz offenbar nicht das Maß aller Dinge sein kann, ebensowenig wie eine verdinglichte Ursache im Sinn der Vorsokratik zur Erklärung des Ganzen der Wirklichkeit taugt. Doch es gibt noch eine dritte Möglichkeit, und diese wird im Dialog Parmenides untersucht. Parmenides: In diesem Dialog ist ausnahmsweise Sokrates der Geprüfte – allerdings der junge Sokrates, der mit seinem ersten naiven Entwurf einer Ideenhypothese an der Dialektik des Altmeisters Parmenides scheitert.17 Sokrates soll zeigen, auf welche Weise die Idee Ursache des Wirklichen ist, und er entwickelt dazu drei Vorstellungen. Die ersten beiden sind die schon bekannten des Objektivismus und des Subjektivismus, aber nun kommt noch eine Position hinzu: die des Absoluten. Wie verhält sich die Idee zur dinglichen Welt, deren Idee sie ist? Die erste Erklärung ist, dass sie in den Dingen ist. »Also muss entweder die ganze Idee oder einen Teil davon jedes Aufnehmende in sich aufnehmen?«18 Die Frage legt schon das Problem nahe: Die eine Ursache wird zu vielen, sofern man sie sich dinglich vorstellt. Man bräuchte also wieder eine Überidee, um die Idee außer dem Ding und in den Dingen zur Einheit zu bringen usw. – das »Dritte-Mensch«-Argument des Aristoteles19, das er gegen die platonische Ideeannahme auffährt, so als hätte Platon nicht selbst schon gesehen, dass eine verdinglichte Ideenvorstellung in die Aporie führt. Sokrates’ zweite Erklärung vollzieht die subjektivistische Wendung der Sophistik nach: »Aber […] ob nicht etwa jede von diesen Ideen nur ein Gedanke ist, welchem Wie Sokrates zur Annahme der Idee als Ursache gekommen ist, schildert er in Phaidon 99 d–102 a. Die Tatsache, dass im Dialog Parmenides der junge Sokrates mit seiner Ideenannahme widerlegt wird, ist ein deutlicher Hinweis Platons darauf, dass Sokrates seine eigene Theorie noch nicht richtig auszufüllen vermochte. Die übliche Lesart des Dialogs, hier habe Platon Selbstkritik geübt und seine Ideen«lehre« quasi widerrufen, erscheint dagegen wenig plausibel. Erstens hat Platon nie eine Ideen«lehre« formuliert, und zweitens muss die besondere Stellung des Spätwerks, zu dem der Parmenides zählt, berücksichtig werden: Hier erfolgt u. a. eine Reflexion auf den im Frühwerk vorgeführten und im mittleren Werk begrifflich gefassten sokratischen Erkenntnisweg – einschließlich der Irrtümer, die Sokrates seinerseits zu überwinden hatte. 18 Platon: Parmenides 131 a. Schleiermacher übersetzt hier eidos mit Begriff, was den gemeinten Sachverhalt aber nur unvollkommen abbildet. 19 Vgl. z. B. Aristoteles: Metaphysik I, 9; VII, 13; XI, 1; XIII, 4, Stuttgart 1981, 44, 197, 268, 335. 17

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nicht gebührt irgendwo anders zu sein als in den Seelen?«20 Der Gegeneinwand ist offensichtlich. Wovon ist denn der Gedanke Gedanke? Von nichts? Wenn er aber Gedanke von etwas ist, dann müsste dies Etwas, das Ding, selbst diesen Gedanken in sich tragen bzw. seinerseits denkend sein. Entweder ist das Bewusstsein also leer, oder alles ist nur Gedanke, wobei sich natürlich die Frage erhebt, wer diesen Gedanken dann denkt. Angesichts dieser erneuten Aporie fällt Sokrates eine dritte Möglichkeit ein: »eigentlich scheint es sich mir so zu verhalten, dass nämlich diese Ideen gleichsam als Urbilder dastehen in der Natur, die anderen Dinge aber diesen gleichen und Nachbilder sind«.21 Damit ist in der Tat eine neue Variante, die Ursache zu denken, angesprochen – sie ist etwas Absolutes, das sich den Dingen und dem Denken mitteilt. Aber auf welche Weise tut sie das? Sehr schnell stößt man auch hier wieder an die Grenzen des Vorstellbaren. Wenn Idee und Ding als Verschiedene in ein Urbild-Abbild-Verhältnis gebracht werden sollen, müsste es wieder eine Ursache dafür geben, dass Ähnliches und Unähnliches ähnlich werden. Man befindet sich im infiniten Regress; die dingliche Welt ist nicht erklärbar. Und wenn die Idee tatsächlich an sich ist, dann ist sie dem Denken gar nicht zugänglich. Die geistige Welt ist nicht erklärbar. Parmenides macht deutlich, was daraus folgte: Siedelt man jenes Absolute bei Gott an, so wüsste Gott nicht von der Welt und die Welt nicht von Gott. Ein solches Absolutes würde von überhaupt nichts Ursache sein können. Das alles zusammengefasst bedeutet: Wenn die Ursache im Ding ist, ist sie nicht eine, sondern viele. Wenn sie nur im Denken ist, dann ist sie Ursache von nichts und deshalb in sich leer. Wenn sie absolut ist, also jenseits von Ding und Bewusstsein, dann ist sie von beidem getrennt und kann auf beides nicht einwirken. Die Ursache ist also weder objektivistisch (im Ding, als Ding) noch subjektivistisch (im Bewusstsein) noch als absolute (getrennt von beidem) widerspruchsfrei vorstellbar. Was aber bleibt dann noch als Möglichkeit? Ist die sokratische Konsequenz, dass man auf die Ursachensuche verzichten muss? Diese Konsequenz zieht Sokrates nicht. Er sucht vielmehr nach dem »System«fehler in den Ansätzen vor ihm. So unterschiedlich sie auch sein mögen, eines ist ihnen gemeinsam: Sie alle denken von der Ursache her, als sei diese selbst kein Problem. Sie setzen sie als gewusst voraus, wobei erstaunlicherweise jeder eine andere zu nennen weiß. Abgesehen davon, dass die Ansätze sich wechselseitig negieren, sind sie auch in sich widersprüchlich. Und woher stammt auch dieses vermeintliche Wissen, ist es Ergebnis einer Privatinspiration? Was ist denn mit dem »Wasser«, dem »Geist«, dem »Sein« oder dem »menschlichen Maß« gemeint? Das alles erklären die Weisen nicht und können es wohl auch nicht erklären. Daraus zieht Sokrates einen revolutionären Schluss: Es geht nicht um die richtige Antwort, sondern um die richtige Frage. Die Vorgänger haben zu früh mit dem Fragen aufgehört. Sie haben wohl die Defizite ihrer Vorgänger erkannt (die Abfolge der Erklä20 21

Platon: Parmenides 132 b. Platon: Parmenides 132 c, d.

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rungsversuche ergibt, wie gezeigt werden sollte, durchaus einen systematischen Zusammenhang), aber sie haben sich zu schnell mit der eigenen Antwort zufriedengegeben. Damit haben sie ihre Antwort ebenfalls wieder anfechtbar gemacht. Es muss also viel radikaler gefragt werden, so radikal, dass auch der Fragende selbst mit in Frage steht. Denn das war offenbar der grundlegende Fehler der Vorgänger – sich bereits im Besitz des Wissens zu wähnen, so als wäre das Vermögen, das Entscheidende, nämlich die Letztursache zu erkennen, von Natur aus gegeben. Die drei Gleichnisse in der Politeia22 schildern, welchen mühsamen Erkenntnisweg der Suchende tatsächlich zurücklegen muss, um zur Einsicht in die Ursache zu gelangen. Vernünftigkeit steht an dessen Ende, nicht aber an dessen Beginn. Vernunft ist also das Ergebnis höchster geistiger Anstrengung, und ohne Vernunft ist die letztbegründende Einsicht nicht denkbar. Insofern, das scheint der Kern des sokratischen Ansatzes zu sein, muss jede Arbeit an der Sache zunächst Arbeit an sich selbst sein. Vor der Antwort steht die Frage, und mit ihr ist nicht bloß das Objekt der Erkenntnis gemeint. Dieses radikale Fragen, das zuallererst den Fragenden selbst betrifft, ist in der Philosophiegeschichte einmalig geblieben. Schon der Nachfolger von Sokrates und Platon (die hier als Einheit behandelt werden sollen)23, Aristoteles, hatte wieder lauter Antworten parat: Er beschreibt das seiner Meinung nach richtige Verhalten (Nikomachische Ethik), die richtige politische Ordnung (Politik), die richtige Theorie (Metaphysik), so als hätte man damit einen nun nicht mehr hintergehbaren Stand erreicht. Und die Geschichte hat in merkwürdiger Verkehrung in ihm den Begründer der Wissenschaft gesehen, nicht in Sokrates.

III. Die sokratische Frage als neue Form der Begründung Es erscheint zunächst schwer nachvollziehbar, dass die Begründung im Fragen und nicht in der Antwort angesiedelt sein soll, doch das hängt mit der Spezifik des sokratischen Fragens zusammen. Dies Spezifische soll zunächst allgemein (1), dann in Bezug auf die Politik (2) dargestellt werden. Ad 1.: Die sokratische Frage in den von Platon überlieferten Dialogen ist keine rhetorische Frage, sie ist die Frage echter Suche. Üblicherweise beziehen sich Fragen auf noch Unklares an Bekanntem, z. B.: »Wie kann man den herrschaftsfreien und damit vernünftigen Diskurs gesellschaftlich etablieren?« Die Sache selbst scheint klar, nur etwas an ihr (in diesem Fall die Umsetzung) ist noch nicht geklärt. Niemand aber fragt

Platon: Politeia 506 b – 519 a. Dies gegen die verbreitete, z. B. bei Vlastos zu findende Lesart, man müsse zwischen dem »sokratischen« und dem »platonischen« Sokrates in den Dialogen unterscheiden; nur so sei der Wandel vom »moralist of the earlier dialogues« zum »methaphysician and epistemologist of the middle ones« zu erklären. (Gregory Vlastos: Socratic Studies, Cambridge, USA 1994, 37) Wieso es sinnvoll erscheint, im platonischen Werk nur einen Wechsel der Perspektive, nicht aber des Paradigmas anzunehmen, s. Barbara Zehnpfennig: Platon zur Einführung, Hamburg 42011. 22 23

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wie Sokrates: »Was ist denn die Vernunft, die hier einfach vorausgesetzt wird?« Die Was-ist-Frage ist die denkbar grundlegendste; sie setzt das Wissen vom Gegenstand nicht voraus, sondern befreit von der Schein-Gewissheit, über das gesuchte Wissen bereits zu verfügen. Zugleich provoziert diese Frage die Antwort des Dialogpartners, der noch in dem Glauben befangen ist, zu wissen, was gefragt ist. Wie ungewöhnlich dies sokratische Vorgehen ist, zeigt sich an der Reaktion manches Dialogpartners: »wenn du in der Tat wissen willst, was das Gerechte ist, so frage nicht nur und setze etwas darein zu widerlegen, wenn einer etwas geantwortet hat, weil du wohl weißt, dass fragen leichter ist als antworten; sondern antworte auch selbst«24 – so der wütende Einwurf des Thrasymachos im ersten Buch der Politeia. Die Wut resultiert aus der Annahme, Sokrates befrage den anderen, um sich selbst nicht offenbaren zu müssen und den anderen im Gespräch besiegen zu können; das ist eine ganz klare Selbstprojektion des Dialogpartners, der den Dialog als Meinungskampf missversteht und ihn seinerseits so handhaben würde. Zudem unterstellt es, dass es schwieriger ist, eine Meinung zu haben als eine Meinung zu hinterfragen. Auch dies ist eine unbegründete Prämisse. Denn Meinungen über die Wirklichkeit bildet jeder ständig aus, ohne das ist das Leben gar nicht bewältigbar. Doch sich über die Urteile, mittels derer man sich im Leben orientiert, Rechenschaft zu geben – und auf nichts anderes läuft die sokratische Frage hinaus –, ist etwas durchaus Anspruchsvolleres, als Urteile zu fällen und bei nächster Gelegenheit wieder zu revidieren. Diese Meinungen und Urteile werden aber – trotz ihrer Grundlosigkeit, trotz ihrer Kurzlebigkeit – als Wissen präsentiert. Und genau hier setzt der sokratische Dialog an. Was also im Dialog geschieht, ist die Prüfung des Wissens, das sich in der Regel als bloß scheinbares entpuppt. Doch warum widmet sich Sokrates überhaupt diesem (vermeintlichen) Wissen? Warum visiert er die Sache, um die es geht, nicht direkt an? Offenbar, weil es keinen direkten Zugang zur gesuchten Sache gibt; sie ist immer über das Wissen vermittelt. Es muss aber geprüft werden, ob das Wissen tatsächlich zwischen Subjekt und Sache vermittelt, ob das Wissen also in der Sache gründet oder nicht. In die Prüfung selbst darf allerdings nicht wieder Wissen einfließen, sonst müsste die Prüfung ihrerseits geprüft werden etc. Deshalb verfährt die sokratische Untersuchung ganz formal: Sie greift die Prämissen des anderen auf und durchdenkt sie bis in ihre letzte Konsequenz – bis in den zugrundeliegenden Selbstwiderspruch hinein. Es ist eine logische Prüfung; deren Material gibt der Dialogpartner vor, nicht Sokrates. Das wird vom Dialogpartner allerdings oft nicht verstanden. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung mit der Position des besagten Thrasymachos. Dessen These, Gerechtigkeit sei »das dem Stärkeren Zuträgliche«25, nimmt Sokrates auf und untersucht ihre Konsequenzen: Wenn es immer gerecht ist, das vom Stärkeren, also dem Herrschenden, Angeordnete zu tun, dann muss der Beherrschte auch gehorchen, wenn der Herrschende sich in Bezug auf seinen eigenen Nutzen geirrt hat. Thrasymachos hatte unbewusst unterstellt, dass Durchsetzungsstärke identisch ist mit dem Wissen um 24 25

Platon: Politeia 336 c. Platon: Politeia 338 c.

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den eigenen Vorteil. Da diese Identität aber nicht per se gegeben ist, folgt, so Sokrates: »Also nicht allein das dem Stärkeren Zuträgliche zu tun ist gerecht nach deiner Rede, sondern auch das Gegenteil, das nicht Zuträgliche.« Die verblüffte Replik ist: »Was sagst du?« Und die Antwort lautet: »Was du sagst, denke ich wenigstens.«26 Der Widerspruch lag in den Prämissen, die dialektische Prüfung bringt dies nur ans Licht des Tages. So ist der aufgedeckte Widerspruch ein Selbstwiderspruch des Dialogpartners. Ist das aber nicht ein ganz unfruchtbares Verfahren, da das Gesuchte am Ende nicht gefunden zu sein scheint und das Wissen der Dialogpartner in Trümmern liegt? Muss man Sokrates nicht ernst nehmen, wenn er sagt, dass man nun, nach der Untersuchung, ganz unwissend sei und durch den Dialog nichts gelernt habe?27 Oder ist das die berühmte sokratische Ironie? Was man tatsächlich nicht gefunden hat, ist ein Wissen; das war in Wahrheit aber auch gar nicht gesucht.28 Das Wissen kann niemals die Antwort auf die Frage nach dem Wesen einer Sache sein, denn das Wissen ist nicht die Sache. Die Sache ist etwas jenseits des Wissens, das deshalb überschritten werden muss. Eben das geschieht in der Prüfung des Wissens, denn dies ist der Weg des Verstehens. Der Widerspruch zeigt, wie die Sache nicht gedacht werden kann. Da die Positionen der sokratischen Dialogpartner immer ganz grundlegende sind, trifft die Widerlegung Paradigmen des Denkens.29 Im Durchdenken dieser Paradigmen wird das Wissen sich selbst transparent: das Wissen wird zum Material des Verstehens. Das ist zumindest die sokratische Seite des Dialogs; auf Seiten der Partner steht die Erfahrung des WiderlegtWerdens im Mittelpunkt – und die Gegenwehr dagegen. Das liegt an der unterschiedlichen Einstellung. Für Sokrates ist die Wahrheitssuche Selbstrücknahme, für die Partner ist der Dialog in der Regel ein Akt der Selbstbehauptung. Damit stehen sie sich selbst im Wege. Wer die Wahrheit des eigenen Standpunkts behaupten will, sucht nicht. Insofern kann er auch nicht finden. Was Sokrates findet, ist die zunehmende Einsicht in die gesuchte Sache durch das Verstehen der Unzulänglichkeit des Denkens der Sache. Nur via negationis ist Erkenntnis möglich, und was erkannt wird, ist nicht in der Form von propositionalem Wissen mitteilbar30 – eben, weil es mehr ist als bloßes Wissen. Platon hat für den Weg zur Erkenntnis, den Sokrates im Dialog vollzieht, das Bild des Aufstiegs gewählt: Es bezeichnet die individuelle Denkanstrengung, die jeder, darin

Alle Zitate: Platon: Politeia 339 d. Vgl. Platon: Politeia 354 c. 28 Die sokratische Frage als Suche nach Wissen zu verstehen, führt in der Deutung regelmäßig in die Irre. Wenn stellvertretend für viele Richard Kraut glaubt, die Aporie reflektiere »a real failure on the part of Socrates«, weil er zwar viele Überzeugungen habe, sie aber nicht definitorisch fassen könne, so verkennt er den ganzen Duktus des Dialogs – dass Wissen nicht gesucht, sondern geprüft wird, um zu jener Begründung des Wissens vorzudringen, die implizit immer beansprucht, faktisch aber nicht gegeben ist. (Richard Kraut: Socrates and the State, Princeton, New Jersey 1984, 245). 29 Siehe z. B. unten 857 f. 30 Zur Frage des propositionalen Wissens bei Platon vgl. Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. 26 27

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Sokrates folgend, unternehmen muss, um zur Einsicht zu gelangen. Es genügt nicht, vom Aufstieg zu wissen (z. B. als Theorie des Aufstiegs). Das wäre eine Perversion der eigentlichen Intention der platonischen Dialoge, die ja gerade vorführen, dass das Wissen als solches noch gar nicht begründet ist. Der Aufstieg muss vollzogen werden; dies ist der Auftrag an den Leser. Und um ihn vollziehen zu können, bedarf es einer fundamentalen Einstellungsänderung, im Bild des Aufstiegs als »Umkehr« bezeichnet. Im berühmten Höhlengleichnis der Politeia wird die Umkehr mit der Entfesselung und Umwendung des vormals auf seinem Sitz fixierten Höhlenbewohners versinnbildlicht. Die Fixierung besteht in dem unbewussten und damit auch fraglosen Festhalten an der einmal eingenommenen Blickrichtung: dem Denken von den eigenen Prämissen aus. Das Liniengleichnis erklärt, was an dessen Stelle treten muss, soll der Weg zur Vernunft eingeschlagen werden. Die Vernunft macht das Verstandesdenken selbst zum Gegenstand, »indem sie mittels des dialektischen Vermögens Voraussetzungen macht, nicht als Anfänge, sondern wahrhaft Voraussetzungen als Stufen und Anlauf, damit sie, bis zum Aufhören aller Voraussetzungen an den Anfang von allem gelangend, diesen ergreife«31. Das ist der Weg zur Letztursache, die Platon in der Erkenntnis des Guten findet.32 Keinesfalls ist diese Erkenntnis jedoch mit bloßem Wissen gleichzusetzen, und um dies noch einmal zu verdeutlichen, erklärt Sokrates, was die am Anfang des Weges erforderliche Umkehr bedeutet: So wie man das Auge nicht ohne den gesamten Körper umwenden könne, wenn man die Blickrichtung ändern wolle, sei auch das Erkenntnisvermögen nicht ohne Umwendung der »gesamten Seele«33 zur Einsicht zu führen. Es handelt sich nicht bloß um einen Verstandesakt. Der ganze Mensch ist gefordert, geht es doch um eine grundlegende Einstellungsänderung. Die »Umkehr« symbolisiert demnach die Bereitschaft, nicht länger davon auszugehen, das Entscheidende im Grunde schon zu wissen oder nur per Bewusstseinsprozess noch dazuerwerben zu können. »Umkehr« bedeutet das Eingeständnis fundamentalen Nicht-Wissens und der daraus resultierende Impetus, dieses Nicht-Wissen durch eine vorbehaltlose, sich selbst gegenüber rücksichtlose Wahrheitssuche zu überwinden.34 Das sokratisch-platonische Erkenntnismodell impliziert damit, dass der Mensch nicht schon von Natur aus vernünftig ist, sondern dass er Vernunft durch Wahrheitsanstrengung erst erwerben muss. Erkenntnis ist nur möglich durch Selbstveränderung. Dann aber ist sie auch möglich. Ad 2.: Was bedeutet das nun für den Bereich des Politischen? Wie jeder andere Lebensbereich ist für Sokrates-Platon auch der der Politik Anwendungsfeld jenes prüPlaton: Politeia 511 b. Zur Erkenntnis des Guten s. u. 859 f. 33 Platon: Politeia 518 c. 34 Gernot Böhmes Ansicht, die Umkehr habe jeder bereits vollzogen, der sich wissenschaftlichem Denken zugewandt und eingesehen hat, dass die Wahrheit nicht im Sinnlichen liegen kann, verkennt das Grundstürzende der von Platon gemeinten Umkehr: Hier geht es um die In-Frage-Stellung all dessen, was die Sicherheit der eigenen Existenz ausmachte: die Urteile und Maßstäbe, an denen das Leben sich bis dahin fraglos orientierte. Das betrifft auch die wissenschaftlichen Urteile. (Vgl. Gernot Böhme: Platons theoretische Philosophie, Stuttgart. Weimar 2000, 37). 31 32

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fenden Denkens, das vorhandene Meinungen und Positionen aufgreift und auf ihre Prämissen hin untersucht. Was allerdings zuerst und zumeist mit »platonischer« Politik assoziiert wird, ist der Philosophen-Politiker, der den platonischen Staat regieren soll. Spätestens seit Popper steht dieses Arrangement unter Totalitarismusverdacht.35 Übersehen wird dabei, wie sich jene besondere Kompetenz, die den Regenten auszeichnen soll, überhaupt herausbilden kann. Auf diese Frage antwortet das erste Buch der Politeia, ohne das der Staatsentwurf in den folgenden Büchern gar nicht zu verstehen ist. Im ersten Buch der Politeia untersucht Sokrates drei fundamentale Gerechtigkeitsund Politikmodelle, legt ihre Schwächen offen und weist untergründig ihren inneren Zusammenhang auf. Der positive Staatsentwurf, der danach kommt, spiegelt die Ergebnisse dieser Untersuchung nur, er entbehrt ohne die Begründung durch diese via negationis seiner Basis.36 Das wird zum einen darin erkennbar, dass die wesentlichen Themen des ersten Buches später alle wieder aufgenommen werden, freilich unter gänzlich verändertem Vorzeichen. Zum anderen aber, und dies ist noch entscheidender, macht Platon spätestens in seinem Höhlengleichnis deutlich, wer mit dem Philosophen, der kraft der Erkenntnis des Guten zur Herrschaft befähigt ist, gemeint ist: Es ist Sokrates, der wie der Philosoph im Gleichnis den wahrhaft mörderischen Widerstand derer erleben muss, die er auf die Grundlosigkeit ihrer Meinungen hinweist. Der Weise im platonischen Staat hat die Weisheit des Sokrates, die dieser in der Wissensprüfung des ersten Buchs der Politeia gewinnt und entfaltet. Es geht also nicht um ein hybrides Allwissen, das den Philosophen-Politiker auszeichnete, sondern um jene Urteilskraft und Vernunft, die sich im Durchdenken des Schein-Wissens, der falschen Vorstellung, des nur angemaßten Wissens herausbildet. Auf diesen Prozess selbst kann hier natürlich nur verwiesen werden; er lebt, wie gesagt, vom Nachvollzug. Doch die Stationen des Denkweges, markiert durch die Antworten der Dialogpartner, seien kurz skizziert: Die Ausgangsfrage lautet: Was ist Gerechtigkeit?, die politische Grundfrage schlechthin. Der erste Dialogpartner Kephalos bringt mit seiner Antwort: »Wiedergeben, was einer von einem empfangen hat«37 das Reziprozitätsprinzip bzw. den Vertragsgedanken ins Spiel – und trifft damit zugleich das Grundparadigma des neuzeitlichen Staatsdenkens, den Gesellschaftsvertrag. Die Widerlegung zeigt, dass nicht jedes Wiedergeben, jeder Vertrag gerecht ist, Gerechtigkeit also jenseits des Vertrags angesiedelt sein muss. Auch hier wird das Ergebnis nur an den Prämissen des Dialogpartners gemessen. Kephalos, der mit seinem Reziprozitätsgedanken das Verfahren der bürgerlichen Gesellschaft vor Augen hat, welches Recht auf die wechselseitige Verpflichtung zur Vertragserfüllung gründet, hatte nicht daran gedacht, dass die rein formale Vertragserfüllung

35

Vgl. Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, Der Zauber Platons, Bern

1957. Zur inneren Verbindung des ersten Buchs der Politeia mit den restlichen Büchern vgl. Barbara Zehnpfennig: Die Bedeutung des ersten Buches der »Politeia« für das platonische Staatskonzept, in: Politeia. Staatliche Verfasstheit bei Platon, hg. von Peter Nitschke, Baden-Baden 2008, 35–58. 37 Platon: Politeia 331 c. 36

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je nach Situation auch zu einer Schädigung führen kann. Recht und Gerechtigkeit sind nicht dasselbe – ein Problem, dem sich jede Form von Rechtspositivismus stellen muss. Der nächste Dialogpartner Polemarchos hält »den Freunden zu nutzen, den Feinden zu schaden«38 für gerecht. Das Reziprozitätsprinzip wird jetzt also positiv wie negativ gewendet zu jener Freund-Feind-Unterscheidung, die Carl Schmitt für den Inbegriff des Politischen hielt. Eine der Widerlegungen hebt darauf ab, dass Gerechtigkeit und das heißt: das Gute nichts Schlechtes bewirken, nicht schaden kann. Auch Polemarchos war implizit davon ausgegangen, dass Gerechtigkeit etwas Gutes sein müsse; die Bemessung der Gerechtigkeit nach zweierlei Maß, Freund und Feind sowie dementsprechender Nutzensgewährung und Schadenszuteilung, wird dieser Prämisse nicht ›gerecht‹. Und wie in der Auseinandersetzung mit Kephalos schon ein viel allgemeineres Paradigma auf den Prüfstand geriet, als es die einfache Definition vermuten ließ, so auch im Fall des Polemarchos: Ein Gerechtigkeitsverständnis, das Freund und Feind unterscheidet, liegt der Rassengesellschaft ebenso zugrunde wie der Klassengesellschaft – und allen weiteren politischen Formationen, in denen die herrschende Schicht sich durch Exklusion definiert und die Wohltaten sich und ihresgleichen vorbehält. Der dritte Dialogpartner Thrasymachos geriert sich als der große Tabubrecher und plädiert mit seiner schon genannten Gerechtigkeitsbestimmung »das dem Stärkeren Zuträgliche« für das Recht des Stärkeren. Das ist die Aufkündigung des Vertrags und letztlich der Standpunkt des Tyrannen. Dieser Position wird die umfangreichste Widerlegung gewidmet. Einer der Grundgedanken ist zu zeigen, dass die Ungerechtigkeit, die in dem von Thrasymachos propagierten Bestreben liegt, alles für sich haben zu wollen, faktisch nur Zerfall bewirkt und damit gerade nicht die Stärke besitzt, die Thrasymachos ihr zugeschrieben hatte. Selbst eine Räuberbande, welche mit der Absicht antritt, Unrecht zu tun, würde ihre kriminellen Ziele nicht verfolgen können, würde sie intern ebenso verfahren wie nach außen. Eine Gemeinschaft, die nicht wenigstens einen Restbestand an Gerechtigkeit im Sinne einer Sorge für das gemeinsame Gute bewahrt, ist letztlich dem Untergang geweiht. Diese Tendenz zur inneren Erosion ist Kennzeichen jeder Form von Gewaltherrschaft. Auch hier steht der konkrete Fall für ein allgemeines Paradigma. Wie sich in diesem Dialog die eine Position aus der anderen entwickelt, wie in der Abfolge der Definitionen der Weg von der bürgerlichen Vertragsgesellschaft über die partikulare Interessen bedienende Klassengesellschaft bis zur gewaltbasierten Alleinherrschaft beschritten wird, kann hier nur angedeutet werden. Es ist auf jeden Fall ein grandioses Panorama der grundlegenden Denk- und Staatsmodelle, mit denen sich Platon hier auseinandersetzt und deren inneren Zusammenhang er aufzeigt. Freilich wird das so nicht ausgesprochen, weil der Leser selbst im Mitdenken seinen eigenen Erkenntnisprozess in Gang setzen und erleben soll.39 Wenn er das tut, kann er allgemeine Maßstäbe gewinnen, die ihm den kritische Blick auf die Grundstrukturen Platon: Politeia 332 d (das Zitat wurde sprachlich etwas angepasst). Wie ein solches Mitdenken zum Selbst-Denken wird, ist beispielhaft vorgeführt in: Bettina Fröhlich: Die sokratische Frage. Platons Laches, Berlin 2007. 38 39

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des Denkens ermöglichen – Grundstrukturen, die in veränderter Gestalt historisch immer wiederkehren. So sind mit Politeia I nicht nur antike Positionen widerlegt. Deren Problematik wird vielmehr in ihren geschichtlichen Wiedergängern immer wieder aufs Neue virulent. IV. Resümee Wieso kann eine spezifische Art zu fragen die Begründung liefern, die in der üblichen Art zu antworten nicht zu finden ist? Die sokratische Frage erfordert ein Sich-Einlassen auf die Meinungen der Welt, zu der niemand bereit ist, der die vorgefundenen Meinungen nur als Herausforderung oder als Bestätigung für seine eigene Meinung begreift. Wer wie Sokrates davon ausgeht, die Wahrheit eben nicht schon zu haben, will die Wahrheit in den Meinungen der anderen erforschen und kommt dadurch zu einem Tiefenverständnis, das im bloßen Meinungskampf niemals zu erreichen ist. Dieses Verständnis ist alles andere als nur negativ, es ist mehr als die bloße Einsicht in den Selbstwiderspruch der unbegründeten Meinungen. In der Erkenntnis, wie etwas nicht gedacht werden kann, gewinnt man eine sachliche Systematik und ein verändertes Selbstverhältnis, weil man im anderen die eigenen Vorurteile, Fehlschlüsse und Wahrnehmungsverweigerungen wiedererkennt. Das ist der Weg zu ihrer Überwindung. Die sokratische Ursachensuche hatte den Weg des Bewusstseins nachvollzogen, der von der Verlorenheit an die Objektwelt über die Selbstbewusstwerdung des Subjekts bis zur Hinwendung zum Absoluten führte. Eine widerspruchsfrei denkbare Ursache war auf diesem Weg nicht zu finden, das Denken stieß hier an seine Grenzen. Möglich wäre es in einem solchen Fall, die skeptische Konsequenz zu ziehen, an der menschlichen Fähigkeit zur Erkenntnis generell zu zweifeln. Doch damit würde man demselben Fehler erliegen, der schon den genannten Bewusstseinsstandpunkten zugrundelag: von einer Prämisse ausgehend zu denken, die ihrerseits nicht begründet ist. In Bezug auf die Skepsis hieße das: die Erkenntnis der Nicht-Erkennbarkeit für sich in Anspruch zu nehmen. Die sokratische Konsequenz war eine andere, auch wenn seine äußerlich aporetische Dialektik bisweilen als Ausdruck einer skeptischen Grundhaltung missverstanden wird. Man muss die Grenzen des Verstandesdenkens ausloten, nicht, um wie bei Kant dem Glauben Platz zu verschaffen,40 sondern um in Rückwendung auf die Prämissen jene Wissensprüfung vorzunehmen, an der sich Vernunft erst gewinnt. Das ist der Schritt von der Voraussetzung zum Voraussetzungsleben, vom Verstand zur Vernunft. Und weil diese Wissensprüfung immer zugleich Selbstprüfung ist, fallen Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Letztursache zusammen – nicht im sophistischen Sinn, so als wäre der Mensch, wie er ist, Maß aller Dinge, sondern durch die Schaffung eigener Vernunft, die jenes Gute ist, das in den Gleichnissen der Politeia als Ziel des Erkenntnisaufstiegs dargestellt wird. Das Gute, das in der Erkenntnis des Guten gemeint ist, ist weder objektivistisch noch subjektivistisch noch in Absolutheit, also getrennt vom Menschen, zu S. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, in: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. II, Darmstadt 1966, 33. 40

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denken. Es ist überhaupt nicht zu denken. Es lebt vielmehr in eben dem Tun, das Sokrates als Vorbild des von Platon gemeinten Weisen vorführt. Der Weise, wie ihn Sokrates verkörpert, ist deshalb auch nicht der Mensch untrüglichen Wissens, sondern der Mensch, der bei jeder Sachfrage aufs Neue in jene sachliche Prüfung eintritt, die ihm durch beständige Übung zur zweiten Natur geworden ist. Er muss dann ebenso wie jeder andere eine Antwort für die konkrete Situation finden. Doch seine Antwort ist dann so begründet, wie menschliche Antworten es wohl überhaupt nur sein können – begründet durch jene erworbene Vernünftigkeit, die sich der Einsicht in die Grundlosigkeit des normalen Wissens verdankt.

Die Konstruktion von Begründung Politischer Ordnung in der Prämoderne Peter Nitschke

I. Diversität der Diskurse Die so genannte Frühe Neuzeit, die im Folgenden als Prämoderne bezeichnet wird, weil damit auch Interpretamente aus dem Spätmittelalter mit einfließen können, ist keineswegs nur linear zu betrachten. Meist wird angenommen und so argumentiert, als habe die Aufklärung konsequenterweise das fortgesetzt, was im Humanismus und in der Renaissance begonnen hat. Eine solche Interpretation, die oft unausgesprochen vielen philosophiehistorischen (und damit auch analytischen) Erklärungen zur Einschätzung der Epoche zwischen 1500 und 1800 zugrunde gelegt wird, ist (1) nur dann möglich, wenn man ein ganz bestimmtes Bild vom Menschen (und damit auch seiner politischen Ordnung) a priori aus dem Selbstbedürfnis der Menschenrechtskonzeption der Moderne heraus formuliert. Dies setzt (2) voraus, dass man dabei ebenso unabdingbar auf eine geschichtsphilosophisch bedingte Fortschrittsemphase aus ist, die selbst keinen Widerspruch gelten lässt. Doch exakt mit einer solchen hermeneutischen Vorgabe kommt man den Themen und den Autoren der Prämoderne nur unzureichend bei. Ein Großteil von ihnen wird geradezu verschluckt, weil nicht zur Kenntnis genommen oder unzureichend dechiffriert, während sich hingegen einige wenige Denker (wie etwa Machiavelli, Bodin, Hobbes, Locke, Montesquieu, Rousseau und Kant) einer kanonistischen Wertschätzung in der Politischen Philosophie und Ideengeschichte erfreuen. Das ist befremdlich, weil doch die Vorstellungen über Politik und die Frage nach der richtigen Ordnung sich im Zeitraum zwischen Humanismus und Aufklärung einer wachsenden Wertschätzung erfreuen, die nie in nur einer Vorstellungswelt einseitig aufgeht. Stattdessen existiert eine Mehrzahl von Diskursen, die sich keineswegs strikt voneinander abgrenzen lassen, die sich untereinander ergänzen, im Wechselspiel operieren und auch strategisch neue Synthesen eingehen.1 Wie schwierig es ist, sich auf diese Varianz und interpretatorische Vielfalt kognitiv einzulassen, wenn man nach wie vor an dem Dogma der eigenen Gegenwartsposition festhält, zeigt anschaulich die Argumentation von Gerhard Göhler zur Konstellation der politischen Theorie in Deutschland zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert.2

1 Vgl. hier Peter Nitschke: Politische Theorie der Prämoderne 1500–1800. Eine Einführung. 2., erweiterte, bibliografisch aktualisierte Aufl. Darmstadt 2011. 2 Vgl. Gerhard Göhler: Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts in Deutschland – ein Überblick, in: Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland, hg. von Gerhard Göhler / Bernd Heidenreich, Darmstadt/Mainz 2011, 10 ff.

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Göhler, eigentlich ein Experte für die Politische Theorie des 19. Jahrhunderts, tastet sich zwar wohltuend an die Ideen der deutschen Frühaufklärung und des Aufgeklärten Absolutismus heran. Jedoch ist der epistemologische Ansatz erkennbar von vornherein auf das moderne Naturrechtsverständnis hin ausgelegt. Dementsprechend sind die Theoreme, die im deutschsprachigen Raum zwischen 1600 und 1800 diskutiert wurden, für Göhler nach einem Muster zwischen Progressivität und Traditionalität einzuordnen. Das ist hermeneutisch allerdings eine typische Fehlkonstruktion, unterstellt sie doch eine geschichtsphilosophisch bedingte Fortschrittsperspektive, die für die meisten Denker, die in diesem Band behandelt werden, gar nicht in Frage kommt. Es ist vor allem die territoriale Vielfalt an staatlichen Konzepten, die bei den deutschen Theoretikern der Frühen Neuzeit zu ganz unterschiedlichen Perspektiven auf die Frage der Politischen Ordnung geführt haben. Die differenten empirischen Gegebenheiten im Raum führen zu einer Heterogenität in der konzeptionellen Wahrnehmung von Politik.3 Dabei lassen sich mehrere Grundströmungen in der Argumentation verorten, die sich z.T. durchdringen, mitunter aber auch heftig voneinander abgrenzen. Was Göhler als »Spätaristotelismus« bezeichnet,4 ist im Grunde eine hochgradig politisch ausgerichtete Konzeptform der Aristotelesrezeption in der Prämoderne. Damit ist diese Form der Aneignung von Politik allerdings nicht spät (im Rahmen einer Zeitachse), sondern als Politischer Aristotelismus inhaltlich eher innovativ,5 weil diese wissenschaftliche Zugangsweise auf die Politik nicht identisch ist mit der eher klassischen politica christiana, über die Göhler bezeichnenderweise nichts sagt. Man kann, wie Göhler und der Mainstream der Kommentatoren zur Politischen Ideengeschichte dies tut, die Differenz zwischen einem westlichen Naturrechtsdenken in der Konzeption der klassischen Vertreter der Kontrakttheorie (Hobbes, Locke, Rousseau) und dem eher herkömmlichen, weil spätmittelalterlichen Übereinstimmungsdenken hervorheben, wie dies in der Lehre von Althusius bis hin zu den Lokalisten wie etwa Justus Möser noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hin formuliert wird.6 Die Idee einer rationalen Selbstverpflichtung des Herrschers, die sich in dieser Form nur in den deutschen Territorien durchgesetzt hat, und die man traditionell als Aufgeklärten Absolutismus bezeichnen kann, ist insofern auch Ausdruck für ein Politikverständnis, in dem die Ordnung mittels Reformen (von oben) permanent unter einem Optimierungsanspruch gesetzt wird. Der Aufgeklärte Absolutismus wäre in dieser Hinsicht, gemessen an dem angelsächsischen Kontraktualismus, so etwas wie eine kontinentaleuropäische, spezifisch sogar mitteleuropäische Denkfolie über politische Herrschaft.

Vgl. auch ebd.: 13. Vgl. ebd.: 17 ff. 5 Vgl. hierzu Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Alexander Fidora u. a., Berlin 2007. Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen »Politik« von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, hg. von Christoph Horn / Ada Neschke-Hentschke, Stuttgart/ Weimar 2008. 6 Vgl. Göhler (wie Anm. 2): 22 f. 3 4

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Die Leibnizsche Version eines systema foederatorum beinhaltet dann nicht zufällig eine Perspektive für eine (mitteleuropäische) Großraum-Ordnung, in der es nicht um die Begründung für einen singulären Staat alleine geht, sondern um eine Funktionslogik von Staaten untereinander. Dies durchaus als eine Weiterentwicklung der Pufendorfschen Konzeption, weil hier Kaiser und Reich trotz der Eigenständigkeit der Territorialstaaten in einem ordnungsrechtlichen Zusammenhang eingebunden bleiben.7 Die Souveränitätsfrage bleibt allerdings in der Leibnizschen Modellierung diffus bzw. ungelöst (wie schon bei der Theorie des Johannes Althusius). Souverän kann jedoch für einen Denker der respublica christiana kein Mensch auf Erden sein, sondern nur Gott! Insofern stellt sich für Vertreter dieser Richtung die Souveränitätsfrage gar nicht – oder sie wird mehr auf einer ethischen als institutionalen Ebene behandelt. Die Gottesfrage ist uns heute nicht so nah. Warum also sollte man einen Denker wie Leibniz studieren, der doch die Politik nachhaltig in die richtige Ordnung der Dinge durch Gott (weiterhin) verpackt sieht? Das mutet unmodern an, und so wird der politischen Implikation der Leibnizschen Theodizee in der Politischen Theorie fast gar keine Aufmerksamkeit zuteil. Rousseau ist demgegenüber uns so viel näher und wir lesen seine Texte mit einem regelrechten Enthusiasmus, weil wir unseren Individualismus hier im voluntativen Geburtsstadium so schön verorten können. Gleiches gilt für Hobbes, der doch die formale Logik und den Behaviorismus so überaus stark gemacht hat gegen die dogmatischen Positionen der theologischen Interpretation von Politik. Warum also (noch) ein Leibniz oder ein Althusius zur Lektüre? Nicht weil sie mal zufällig wieder modern sind (was heißt das schon und wer stellt dies fest?), sondern weil man eine »Alterität der Denkweise« zu unserem heutigen Verständnis über Politik hier formuliert findet,8 die gewinnbringend sein kann, gerade weil bestimmte klassische Theoreme der Moderne hier so nicht vorkommen oder einfach anders positioniert sind. »Das Problem besteht nicht darin, die Geschichte in Perioden zu unterteilen und dabei die Epochen als antik, mittelalterlich, modern und womöglich postmodern zu bezeichnen und sich die Frage zu stellen, wie ihre zeitlichen Grenzen bestimmt sind«, konstatiert Giuseppe Duso zu Recht.9 Es gilt nach den Begriffen selbst zu fragen, wie sie bei dem jeweiligen Autor zustande kommen und was sie bedeuten (damals – und heute). So gesehen ist die Prämoderne mit ihren pluralistischen Debatten über den Sinn der Politik, der Begründung ihrer Eigenständigkeit jenseits der Theologie (noch) nicht festzulegen auf ein einheitliches Paradigma. Das Naturrecht als individuale Option des Menschen kristallisiert sich erst noch heraus. Insofern sollte man sich hüten, speziell aus der heutigen politikwissenschaftlichen (wie philosophischen) Perspektive

Vgl. auch ebd.: 26. Giuseppe Duso: Warum sollte man heute Althusius lesen?, in: Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, hg. von Corrado Malandrino u. Dieter Wyduckel, Berlin 2010, 74, Anm. 4. 9 Ebd.: 75. 7 8

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dieses moderne Naturrecht als logisches Dispositiv hier a priori zugrunde zu legen – oder einseitig nur nach den Erstbegründungen für dieses Modell zu suchen.10 Selbstverständlich wirken politische Vorstellungen wie die von Althusius in mehr als nur einer Hinsicht antimodern: Hier wird keine Vertragstheorie geliefert, obwohl es doch auch um pacti geht, hier wird nicht das Individuum als Ordnungsgröße angesetzt, hier wird keiner staatlichen Souveränität das Wort geredet – und (am Schlimmsten) hier schimmern weiterhin theologische Interpretamente (mitunter sogar ganz konventionell konfessionelle) in der Perspektive mit durch. Ein individueller Voluntarismus existiert hier überhaupt nicht.11 Wenn man Hobbes als den ersten modernen Theoretiker für die Politik ansieht, dann ist Althusius zweifellos so etwas wie ein recht antiquiertes Gegenstück dazu.12 Althusius kennt keine Potenzierung der Macht nach oben hin, jedenfalls nicht im Sinne einer Legitimierung der höchsten Gewalt. Die Einzelglieder der Respublica behalten ihren Machtstatus. Insofern ist der Begriff der Herrschaft nur als ein unendlich zergliederter Vorgang zu denken. Differenzen zwischen den einzelnen Gliedern des Staates »werden nicht neutralisiert, sondern sind das Merkmal jener Gegebenheiten, die die Eintracht anstreben«.13 Man kann hier durchaus von einer Art doppelten Repräsentation sprechen.14 Ephoren und summus magistratus repräsentieren beide zugleich den populus in corpus unum. Aber das ist (wenn es nicht eine metaphysische Konnotation hat) nichts anderes als eine rhetorische Zuordnung. Faktisch, d. h. institutionell, ist damit noch nicht viel gesagt. Würde man diesen Anspruch institutionell umsetzen, also materiell verwirklichen, wäre eine Konfusion der politischen Kräfte noch das kleinste Problem für diese Herrschaft. Althusius kann man durchaus als eine Art Mitbegründer der Politikwissenschaft in der Prämoderne ansehen.15 Allerdings bleibt seine Herangehensweise recht juridisch. Gerade auch die von Althusius bemühte und sklavisch eingehaltene Methodologie des Ramismus führt eben nicht in die Moderne! Letztlich ist es gerade der Vorteil dieser umständlich, doch inhaltlich so vielschichtigen Lehre, dass sie wie ein Steinbruch eine Fülle von Theoremen präsentiert, die in ganz unterschiedlichen Kontexten einen attraktiven Sinn ausmachen. Als Theorie für sich genommen ist es gerade die Sperrigkeit und letztendlich unausgegorene Systematik der Aussagen, die zur Diffusion führt. Attraktiv ist eine historische Rekonstruktion hier nur dann, wenn Althusius uns heute irgendetwas zu sagen hat. Das scheint beim Thema »Europa / Föderale Ordnung« der Fall zu sein, aber auch bei der diffizilen Frage nach der Souveränität des Volkes und dem Widerstandsbegriff.

Vgl. auch ebd.: 76. Vgl. auch ebd: 82. 12 Vgl. ebd.: 83. 13 Ebd.: 88. 14 Vgl. ebd.: 92. 15 Vgl. Dieter Wyduckel: Vorwort, in: Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius. Die Kunst der heilig-unverbrüchlichen, gerechten, angemessenen und glücklichen symbiotischen Gemeinschaft, hg. von Corrado Malandrino u. dems., Berlin 2010, VII. 10 11

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Die Begründungen für Politik in der Prämoderne sind also interessant, egal, ob man sie nun als Paradigmen für ein modernes Politikbild nimmt – oder eher als gegenteiliges Format. Liberalismus, Konservativismus und (in seiner utopischen Ausrichtung) auch der Sozialismus haben hier ihre Ursprünge. Jedoch sollte man diese nicht-teleologisch lesen, sondern eher im Sinne von alternativen Denkmodellen.

II. Das Organon des Menschen In der Prämoderne wird der Politik-Begriff geradezu systematisch gesucht und eingegrenzt. Auffallend ist für alle Bemühungen zwischen 1500 und (noch) bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wie wenig selbstverständlich eine Begründung von Politik als Daseinsform sui generis für die Denker dieser Epoche ist. Dies liegt (1) daran, dass auch die institutionelle Zuordnungsebene in Form des Staates noch wenig ausformuliert ist. Selbst Machiavelli meinte mit lo stato nicht den Staat in seiner apparativen Figur, sondern nur einen bestimmten Zustand herrschaftlichen (d. h. fürstlichen) Handelns in der Sphäre der Macht. Der Politik-Begriff bleibt daher zunächst personenorientiert, d. h. bestimmten Persönlichkeiten vorbehalten. Erst um 1600 wird daraus mehr und mehr ein institutionelles Verständnis, wie es sich dann systematisch im föderalen Modell der Herrschaftsformen bei Althusius abbildet. Der große Leviathan ist dann auch paradigmatisch der Durchbruch, nicht nur für die Bestimmung von Politik im Sinne der Aktionsmöglichkeiten des Menschen, sondern auch des systemischen Bildes des Staates, das durch den Menschen kreiert wird. Die Referenz auf den Menschen als Handlungsakteur verdankt sich (2) einer sukzessiven Loslösung von theologischen Basissätzen, mitunter aber auch deren Neuaufladung auf dem Gebiet der individuellen Ethik, die ja weiterhin auch für den Regenten zu gelten hat. Friedrich II. von Preußen führt gegen Machiavelli in seinem »Anti-Machiavell« gerade den Selbstverpflichtungskontext für den Monarchen als einem Bürger unter Bürgern ins Feld, an dem er rational wie normativ (erst recht) als erster Diener seines Staates gebunden bleibt.16 Spätestens hier, bei den Debatten im 18. Jahrhundert, wird deutlich, was sich bei Machiavelli bereits paradigmatisch angekündigt hat: Für Politik ist der Mensch selbst zuständig. Kein Gott befreit ihn von dieser Verpflichtung, sich die Gerechtigkeit dieser Welt selbst zu erschließen. Übrigens auch bei Leibniz nicht, dessen Theodizee eben implizit auch eine Handlungsaufforderung an den Menschen bereitstellt. So gesehen ist das wesentlich neue Kennzeichen der Politischen Theorie der Prämoderne, dass Politik (und hier spezifisch: Herrschaft) als ein Organon des Menschen wahrgenommen wird. Die diversen Diskurse in der Prämoderne unterscheiden hierbei jedoch in der Zielsetzung dessen, wofür Politik als ein von Menschen für Menschen gemachtes System Vgl. hierzu Peter Nitschke: Selbstblendung der Staatsmacht. Der Antimachiavell als kontrafaktischer Paradigmenwechsel, in: Demaskierung der Macht. Niccolò Machiavellis Staats- und Politikverständnis, hg. von Herfried Münkler u. a., Baden-Baden 2004, 61 ff. 16

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eingesetzt werden soll. Grob klassifiziert kann man zwischen stabilitätsorientierten Vorstellungen und denen einer Optimierung des Lebens unterscheiden. Zur zweiten Variante gehören zweifellos die utopischen Entwürfe eines Campanella, eines Francis Bacon, die sich an dem neuen Paradigma, das Thomas Morus hierzu liefert, nachhaltig orientieren. Es ist die Rationalität des Denken-Könnens, die hier äußerst stimulierend neue Formen der Politikgestaltung auf den Weg zu bringen sucht. Getreu dem Motto von Leibniz, »Si non possumus quod volumus, velimus quod possumus«.17 – Die Utopien der Prämoderne dokumentieren hierzu bemerkenswerte Gedankenleistungen des menschlichen Geistes, der sich nun nicht mit dem mehr zufrieden gibt, was empirisch herrschaftsrechtlich an den Tag gelegt wird, sondern nach diesem Können gezielt fragt und damit den scheinbar irrealen Potentialis über die harten Fakten der Ist-Zustände stellt. Gottähnlich erschafft der menschliche Geist aufgrund der letztlich unendlichen Möglichkeiten, die er in seiner Realitätsgewinnung hat, sein eigenes (politisches) Universum: »Der Mensch ist also gleichsam ein kleiner Gott in seiner eigenen Welt oder seinem Mikrokosmos, den er nach seiner Weise regiert: er schafft zuweilen Wunderwerke darin, und oft ahmt seine Kunst die Natur nach«, stellt Leibniz fest.18 Das ist bemerkenswert konstruktivistisch gedacht und formuliert, auch wenn sich dies bei Leibniz in seiner Philosophie durch eine nachhaltig an theologischen Positionen orientierte Metaphysik bedingt.19 Allerdings ist es für Leibniz (und wohl auch für Morus) eine Form der Rekonstruktion der natürlichen Gegebenheiten, wie Gott sie in seinem Universum schuf. Die Logik des menschlichen Geistes hat sich dieser Erkenntnis in ihrer ganzen Komplexitätsdichte zu stellen und kann in diesem Sinne nicht wirklich etwas ganz neu erfinden. Deshalb beinhalten auch alle utopischen Klassiker der Frühen Neuzeit Versatzstücke ihrer eigenen Lebenswelten sowie vor allem Anleihen aus spätmittelalterlichen wie antiken Herrschaftsformen.20 Das Neue ist hier die originelle Synthese verschiedener Herrschaftsoptionen aus Zeit und Raum. Entscheidend ist das Ausmaß der Rationalität – oder anders formuliert: der Anspruch auf die Maßstäbe der Vernunft, die dem Menschen aufzeigt, wie und wodurch er sich seine politische Ordnung organisieren kann. Insofern sind mehr noch als die Entwürfe für eine bessere Welt entscheidender (weil wirkungskräftiger) jene politischen Theorien in der Prämoderne, welche die Stabilitätsorientierung von Politik im Sinne einer Daseinsvermittlung von Ordnungsansprüchen und ihrer möglichst effizienten Or-

Gottfried Wilhelm Leibniz: Ausgewählte Schriften, Auswahl und Einleitung von Friedrich Heer, Frankfurt a.M./Hamburg 1958, 91. 18 Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Drei Teile, in: Philosophische Schriften, von dems., Bd. II / 1–2, hg. u. übersetzt von Herbert Herring, Darmstadt 1985, 459. 19 Vgl. hierzu Peter Nitschke: Staatsräson kontra Utopie? Von Thomas Müntzer bis zu Friedrich II. von Preußen, Stuttgart/Weimar 1995, 224 ff. Peter Nitschke: Die Gerechtigkeit und der Staat – das Alternativszenario in der politischen Philosophie von Gottfried W. Leibniz, Neubiberg 1999, 32 ff. 20 Vgl. umfassend hierzu Richard Saage: Utopische Profile, Bd. I – Renaissance und Reformation, Münster 2001. Richard Saage: Utopische Profile, Bd. II – Aufklärung und Absolutismus, Münster 2002. 17

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ganisierung vermitteln. Das ist zweifellos bei Machiavelli der Fall: nicht umsonst fungiert der Florentiner Autor als Begründer eines modernen politischen Denkens, in dem es ganz und gar um funktionales Handeln geht – und damit um Machtgestaltungschancen.21 Die Maßstäbe der Vernunft sind hier allerdings taktischer Art: sie folgen instrumentellen Zwecken, setzen auf Mehrwertoptionen (ohne normative Hinterfragung nach dem Guten). Das einzige Gut, was hier zählt, ist intrinsisch der Erfolg. Hat machtvolles Handeln den gewünschten Erfolg (bei dem adressierten Publikum), dann lässt sich damit (noch) jedes Mittel in der Anwendung rechtfertigen. Diese an Klugheitsstrategien aus der aristotelischen Ethik angelehnte Politikempfehlung wirkt nicht nur auf die Rezipienten in der Prämoderne, sondern bis zum heutigen Tag, scheinbar amoralisch und hat unter dem Paradigma des so genannten Machiavellismus eine Form der Zweckrationalität in die Politik eingeführt,22 in welcher der personale Machterhalt auch psychologisch das höchste Gut darstellen kann. Ein Politiker/Staatsmann handelt hierbei um eines konkreten (strategischen) Zieles willen. Damit dieses Ziel erreicht wird, ist er sich selbst Mittel zum Zweck. D. h. seine personale Existenz ist die heuristische wie operative Voraussetzung, dass überhaupt ein jeweiliges Ziel erreicht werden kann. Bei einer solchen Denkvorstellung bzw. Wahrnehmung von Politik avancieren die Optionen für politisches Handeln zu einer Dezisionslogik, die mit aller Macht auf eine Entscheidung dringt. Taktisches Denken in Variablen ist hierbei ebenso signifikant wie ein Verschleiern der wahren (strategischen) Absichten.23 Die natürliche Disposition, wie sie Machiavelli beschreibt bzw. voraussetzt, zeigt einen Menschen, der strukturell ein sich permanent selbst schädigendes Subjekt darstellt. Eben deshalb muss hier eine Bändigung durch die Politik mit aller Macht erfolgen. Dieser Anspruch schwingt auch in der christlichen Lehre mit, wenn beispielsweise Luther den Staat als Notnagel Gottes ansieht, um damit die Sündenstruktur des Menschen in den Griff zu bekommen.24 An dieser Übereinstimmung lässt sich auch ablesen, dass theologische Prämissen und die Rationalisierung des christlichen Naturrechts keinen Widerspruch darstellen müssen. Das zeigt sich u. a. im Werk von Hugo Grotius, der das Naturrecht mit dem Vernunftrecht in eine positivistische Synthese setzt.25 Der appetitus societatis, der die Menschen zu einem Sozialvertrag natürlicherweise antreibt, konfiguriert auf der nächsten (logischen) Ebene dann den Herrschaftskontrakt. Bei Hobbes fällt das bekannt-

Vgl. u. a. Thomas Schölderle: Das Prinzip der Macht. Neuzeitliches Politik- und Staatsdenken bei Thomas Hobbes und Niccolò Machiavelli, Glienicke/Cambridge, Mass. 2002. 22 Vgl. Machiavellismus in Deutschland. Chiffre von Kontingenz, Herrschaft und Empirismus in der Neuzeit, hg. von Cornel Zwierlein u. Annette Meyer, München 2010. 23 Vgl. auch Peter Nitschke: The Anatomy of Power in International Relations – The Doctrine of Reason of State as a »Realistic« Impact, in: War, the State and International Law in Seventeenth-Century Europa, ed. By Olaf Asbach and Peter Schröder, Farnham 2010, 155 ff. 24 Vgl. Nitschke (wie Anm. 1): 20 ff. 25 Vgl. auch Christoph Link: Hugo Grotius (1583–1645), in: Politische Theorien des 17. und 18. Jahrhunderts. Staat und Politik in Deutschland, hg. von Gerhard Göhler u. Bernd Heidenreich, Darmstadt/Mainz 2011, 74. 21

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lich in Eins zusammen. Demgegenüber ist für Grotius noch eine Art stillschweigender Übereinstimmung grundsätzlich die Voraussetzung für gemeinschaftliches Handeln.26 In Nachahmung der (weiterhin) göttlichen Natur konstruiert sich der Mensch seinen Staat, gemessen an seinen Bedürfnissen. Dies ist nach Raum und Zeit durchaus unterschiedlich, insofern rechtfertigen sich die verschiedenen Herrschaftsformen auch territorial nach den örtlich/regionalen Gegebenheiten. Montesquieus Theorie, die von den spezifischen Konstituenten einer Raum-, Klima- und Kulturposition für die politische Ordnung ausgeht,27 folgt somit (auch nur) den alteuropäischen Vorstellungen über die natürliche Berechtigung der jeweiligen Ordnung, die doch stets in irgendeiner Weise gottgewollt ist. Eine von den unbegrenzten Möglichkeiten durch Gottes Willen abgeleitete Politik strukturiert sich für den Menschen in seiner Natur und der seines Staates. D. h. für die Aristoteliker in der Politischen Theorie der Prämoderne, und das ist die Mehrheit der Denker, gibt es in dem Sinne nichts Neues unter der Sonne, sondern lediglich die Möglichkeit, das Richtige (im Sinne des Besseren und des Guten) zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Eine politische Gestaltungsform und verschiedene Optionen hierzu in der konkreten praktischen Anwendung sind immer schon da, quasi a priori gegeben, und es ist Sache des Menschen, sich zu entscheiden, welchen Weg er geht und welche Mittel dabei zu beachten und anzuwenden sind. Das allerdings kann man heuristisch auch als ein Auftragsverhältnis betrachten – zwischen dem Menschen und seiner (von Gott verliehenen) Natur.

III. Ordnung Noch Locke hat dieses Auftragsverhältnis trotz aller Säkularisierung seiner Theoreme zum Thema. Das Kriterium Spinozas, »Deus sive natura«,28 bleibt das zentrale Argument innerhalb der prämodernen Beschäftigung mit Politik. Das hat Folgen für die politische Ordnung insgesamt: Politik als Herrschaftsform des Menschen über sich selbst als Gattung zeigt nicht irgendeine Ordnung in der Natur an, sondern sie stellt sich in der Begründung als die richtige, die wahre dar, die Menschen auf Erden zu erreichen suchen. Die Ordnung, die von Menschen gemacht werden muss und ausgestaltet wird, ist damit nicht beliebig. Gerade dadurch, dass die Vertragstheorie den Individualismus ins Zentrum der Argumentation rückt, wird die Ordnungsfrage als Frage nach dem Gemeinwohl von einem funktionalen Mehrwert aus legitimiert. Wir sind es gewohnt, darin die Qualität für unser eigenes Denken zu verorten. Deshalb erscheint Hobbes als Vgl. hierzu Frank Grunert: Normbegründung und politische Legitimität. Zur Rechts- und Staatsphilosophie der deutschen Frühaufklärung, Tübingen 2000, 66 ff. Frank Grunert: Der Vertrag als rechtliches Medium sozialer Gestaltung – zum Kontraktualismus bei Hugo Grotius, in: Staat bei Hugo Grotius, hg. von Norbert Konegen u. Peter Nitschke, Baden-Baden 2005, 125 ff. 27 Vgl. hier Effi Böhlke: »Esprit de nation«. Montesquieus politische Philosophie, Berlin/Baden-Baden 1999. 28 Pointiert dazu Manfred Walther: Spinoza, Benedictus de, in: Handbuch Staatsdenker, hg. von Rüdiger Voigt u. Ulrich Weiß, Stuttgart 2010, 393. 26

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der wahre Begründer für die Politische Theorie der Moderne. Allerdings ist dies nur ein Teil der Wahrheit – oder anders formuliert: unsere Selbstbespiegelung am Modell des Leviathan ist bereits auch schon ein Konstrukt, das sich auf die Wahrnehmung bezieht, demzufolge die Effekte, die Hobbes beschreibt und systematisiert, zu passen scheinen. Diese Vialibilität verdankt sich unseren heuristischen Vorurteilen, die wir dem Prozess der Säkularisierung als dem Siegeszug der Vernunft entnehmen. Doch hieran kann (und sollte) man Zweifel haben. Nicht nur mit Jacob Taubes lassen sich die gängigen säkularen Interpretationsmuster rechter wie linker ideologischer Provenienz in der Tat auch bestreiten: »Keine der gängigen Spielmarken, die eine philosophische Systematik zu vergeben hat, keiner der «-ismen», mit denen nicht als Schlüssel hantiert wurde, um das Schloss zu seinem Werk aufzusprengen«, ist wirklich erfolgreich gewesen.29 Das dritte und vierte Buch des »Leviathan« wird meist gar nicht erst gelesen, insofern wird die Gesamtkomposition von Hobbes heuristisch nur zur Hälfte berücksichtigt. Erst recht, wenn man der Argumentation von Taubes nachkommt, demzufolge der Christus-Gedanke als Erlösungsgedanke zentral für das Projekt des Leviathan sei. Der Leviathan ist hierbei nur der secundus deus, der einer mittelalterlichen Tradition der societas christiana folgt.30 Wenn man Hobbes, wie die meisten Interpreten der Neuzeit nur politisch oder gar ökonomistisch-utilitär auslegt,31 dann wird man seiner Deutungshoheit für die metaphysische Dignität des ganzen Projekts (Staatswerdung durch den Menschen) nicht gerecht. Mehr als vierzigmal beansprucht Hobbes im »Leviathan« die Formel, dass »Jesus der Christus«ist!32 Das ist nicht irgendwie daher gesagt. Allerdings ist es keine Politische Theologie,33 die Hobbes hier aufmacht, sondern das genaue Gegenstück: Ein System der Bewusstseinswerdung für die Selbstverantwortung des Menschen, wenn es um seine Sozialität (und damit aristotelisch gesprochen: um seine Politikfähigkeit) geht. Taubes bezeichnet dies als »Christo-Logik«:34 Die Menschwerdung des Menschen. So, wie Gottes Sohn zu den Menschen gekommen ist, so muss auch der Mensch zu sich selbst kommen, um dem Schöpfungsauftrag gerecht zu werden. Hobbes redet nicht über Gott. Warum auch? Das, wofür man zwar einen Namen hat, aber in der Sache außer dem Namen nichts, kann man weder empirisch noch formallogisch beurteilen. Entsprechend sollte die Rede davon auch nicht sein bzw. sie wäre müßig. Aber das, wovon man nicht nur einen Namen hat, sondern auch jede Menge konkreter Anschauungen, nämlich über sich

Jacob Taubes: Leviathan als sterblicher Gott. Zum 300. Todestag von Thomas Hobbes (4. Dezember), in: Neue Züricher Zeitung (1./2. Dezember 1979), Nr. 280, 65 f. 30 Diesen Kontext hatte bekanntlich bereits Carl Schmitt hergestellt, ohne hierbei allerdings die christologische Dimension näher zu berücksichtigen, vgl. Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Köln-Lövenich 1982. 31 Vgl. z. B. Horst Hegmann: Politischer Individualismus. Die Rekonstruktion einer Sozialtheorie unter Bezugnahme auf Machiavelli, Bodin und Hobbes, Berlin 1994. 32 Vgl. Taubes (wie Anm. 29): 66. 33 Vgl. für den Kontext Religion und Politik. Zu Theorie und Praxis des theologisch-politischen Komplexes, hg. von Manfred Walther, Baden-Baden 2004. 34 Taubes (wie Anm. 29): 66. 29

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selbst, das eigene Tun (und das der Anderen), darüber lässt sich trefflich streiten. Indem der Mensch zu sich selbst kommt, sich selbst (mit all seinen Gefühlen und Interessen, Neigungen und Vorurteilen) gerecht zu werden versucht, ist er zugleich auf das noch größere Projekt der Menschwerdung angewiesen – nämlich den angemessenen Selbstbezug zur Gattung insgesamt herzustellen, die Kollektivität und Sozialität untereinander zu organisieren. Und zwar so, dass alle (halbwegs) damit zufrieden sind. Folgt man also Taubes, dann dekliniert Hobbes die systemischen Bedingungen des Menschseins unter den Anforderungen einer kollektiv zu organisierenden Notwendigkeit, die sich a) durch den Schöpfungsauftrag und b) vor allem durch die ontologische Existenz von Jesu Christi ergibt. Denn damit ist nicht nur eine existenzielle Bedingung für den Menschen in der Welt, sondern (vor allem auch) ein Heilsversprechen – die Unsterblichkeit der Seele! Der epistemologische Auftrag für die Politikauffassung in der Prämoderne lautet demnach: Wie organisieren Christen ihre Bedingungen in einer Welt voller harter Notwendigkeiten, bei denen am Ende nicht nur die körperliche Existenz gesichert bleibt, sondern auch das Heil der Seele nicht aus den Augen verloren wird? Die gängige Lehre zur Hobbes-Interpretation bekommt diese Hermeneutik nicht in den Blick, daher bilanziert Taubes: »Vielleicht lernen diese Schriftgelehrten der Politik und der Philosophiegeschichte durch die jüngsten Ereignisse im Islam und in Israel, dass Theokratie als Utopikum in den Offenbarungsreligionen latent lauert, so dass jener vierte Teil des «Leviathan» eine ungeahnte Aktualität gewinnt, um das Abc jeder Politik post Christum natum zu verstehen.«35 Das ist nicht gerade gestern oder heute geschrieben worden, sondern bereits vor dreißig Jahren! – Warum man sich bis heute so schwer tut, eine solche Interpretation anzunehmen, dafür liefert Taubes selbst einen Hinweis: »Diese Lehre war (und ist) ein philosophischer und theologischer Brocken, den die bürgerliche Gesellschaft so nicht schlucken konnte. Sie schluckte diesen Brocken, als er ihr von Hegel «auf Raten» geliefert wurde. Denn nichts anderes als die Menschwerdung des Menschen angesichts der Menschwerdung Gottes, verteilt auf Epochen, beschreibt Hegel in fast biedermeierlicher Gemütlichkeit in seinen Vorlesungen zur »Rechtsphilosophie«.36 Es ist gerade diese Art der geschichtsphilosophischen Vorverurteilung, die seitdem dazu beiträgt, dass viele interessante Positionen in der Politischen Philosophie der Prämoderne ähnlich unterentwickelt rezipiert werden wie die des Mittelalters ohnehin. Obwohl doch in der Moderne eigentlich alles kognitiv offen sein soll. Das ist dann der Preis des Fortschritts, wenn es nur noch um Hegel oder Kant in der Wahrheitsfindung (angeblich) geht.37

Ebd. (Hervorhebungen von Taubes). Ebd. 37 Vgl. hier als Beispiel Volker Gerhardt: Zwischen Kant und Hegel. In: Literarische Welt (15. Oktober 2011), 7. 35 36

Die Inversion von Politik und Vernunft in der Moderne Clemens Kauffmann

Die Frage, wie in der Moderne das Politische begründet wird, führt zu denselben systematischen Schwierigkeiten, die jede »Begründung des Politischen« in anderen geschichtlichen und kulturellen Konstellationen zu reflektieren hatte. Was man sich unter dem Politischen jenseits gegebener Staatlichkeit vorzustellen habe, ob es von einem vorpolitischen Raum abgegrenzt werden könne, wie es sich zu anderen Kulturprovinzen, zu Wirtschaft, Recht, Moral oder Religion verhalte, ob das Politische überhaupt als eigene Sphäre »begründbar« oder ob es als eine mit Menschen gegebene ursprüngliche Tatsache aufzufassen wäre, ob das Politische als Funktion der Vernunft nur in Gestalt einer Selbstbegründung des Vernünftigen erscheinen könne: das alles sind umstrittene Fragen, die zu weitgehend konträren Auffassungen geführt haben. Eine konsistente moderne »Begründung des Politischen« ist so wenig in Sicht, daß Hannah Arendt im Gegenteil meinte, eine »Abkehr von der Politik«1 und eine »Degradierung des Politischen« feststellen zu müssen.2 Hinzu kommt die historische Schwierigkeit, wie man die Moderne als Epoche bestimmen kann. Wann ihr Beginn anzusetzen wäre ist ebenso strittig wie die Frage, ob sie beendet, ob sie von einer Zweiten Moderne oder einer Postmoderne abgelöst worden sei oder ob sie als Projekt fortgesetzt werden müsse. So zeigt sich die Moderne trotz allen technisch-ökonomischen Fortschrittsoptimismus kulturell verunsichert. Möglicherweise ist es diese Selbstverunsicherung, die jenseits aller historisch-kulturellen Substanz zum Kennzeichen der modernen Befindlichkeit geworden ist. Zur Moderne gehören Kritik, Krise und Konfrontation. Sie ist durchzogen von Brüchen, von Revolutionen und Kriegen, von Vernichtungen und Vertreibungen, wie sie die Geschichte zuvor nicht gekannt hatte. Die Konfrontation ist so maßgeblich geworden, daß auch das Politische im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend vom Konflikt her verstanden wurde. Das beherrschende Paradigma lokalisiert das Wesen der Politik im Kampf.3 Das bruchhafte und konfrontative Moment der Moderne bietet indessen einen geeigneten Ansatzpunkt, von dem aus Begründungen des Politischen in der Moderne thematisiert werden können. Ein wesentlich modernes Phänomen ist die Revolution in ihren zahlreichen Erscheinungsformen. Revolutionen sind nicht nur Abstreifung der Tyrannei und des Bösen, nicht nur Ausbruch des Freiheitswillens und Akt der Befreiung,

1 Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, 101, 103. 2 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 71992, 225. 3 Vgl. Clemens Kauffmann: Kampf, Krieg und Vernunft in Aristoteles’ Konzeption des besten Regimes, in: Die »Politik« des Aristoteles, hg. von Barbara Zehnpfennig, Baden-Baden 2011, 177 ff.

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auch wenn dies historisch das Ersterscheinende ist. Revolutionen erreichen ihr Ziel nur dann, wenn es den Revolutionären gelingt, die Freiheit zu begründen und zu festigen. Im abstreifenden Moment von Revolutionen steht das zu gründende Politische so sehr zur Disposition, daß es einer öffentlichen Klärung dessen bedarf, was das Politische überhaupt ist, was es sein kann, was es sein oder leisten soll. Im Zuge einer solchen öffentlichen Klärung, die Gefolgschaft herstellen will, treten Begründungserfordernisse zutage. Welche Gestalt diese annehmen ist ebenso offen, wie Gestalt und Schicksal des Politischen selbst. Ob Menschen das Politische affirmativ setzen und ob sie ihm eine theonome, eine freiheitlich-konstitutionelle, eine rechts- oder sozialstaatliche, eine diskursiv-emanzipatorische Form verleihen, oder ob sie es in einer permanenten Revolution überhaupt überwinden wollen, weil jede Herrschaftsordnung für Unterdrückung stehe, das bleibt historisch kontingent. Aber eines macht die Revolution unvermeidlich: sie erfordert die Gründung eines Neuen. In revolutionären Gründungsprozessen werden Begründungsleistungen erforderlich. Sie verweisen auf den Bereich der politischen Vernunft als einer Befähigung, Begründungen zu entwickeln und zu kommunizieren. Begründungen des Politischen in der Moderne teilen das Schicksal der politischen Vernunft. Das Problem einer Begründung des Politischen ist folglich im Rahmen einer Klärung des Verhältnisses zwischen Politik und Vernunft zu behandeln. Damit zeichnet sich allerdings noch keine Lösung des Problems ab, denn die Vernunft war in den revolutionären Prozessen der Moderne einem zunehmenden Erosionsdruck ausgesetzt. Hannah Arendt hat das geistige Klima im Umfeld der Französischen Revolution dafür verantwortlich gemacht, daß Leidenschaft und Mitleid die politische Theorie kolonisiert, die politische Vernunft erstickt und die gewaltsame Aktion an die Stelle der Gründung der Freiheit gesetzt hätten4. Dieses geistige Umfeld sei durch das Dreigestirn von Macht, Leidenschaft und Vernunft als Zentralbegriffen des politischen Denkens geprägt gewesen5. Ein in dieser Weise vernunftkritisches Moment findet sich in Rousseaus politischem Denken. Rousseau hatte unter Absehung von aller wissenschaftlichen Tradition und in gezielter Wendung gegen die Aufklärung zwei Prinzipien hervorgehoben, die der Vernunft voraus gingen und die ursprünglich das Gebaren der Menschen gesteuert hätten: Selbstliebe und Mitleid6. Gegenüber diesen ursprünglichen Prinzipien identifizierte Rousseau in der Vernunft den Grund für die Pervertierung der guten Selbstliebe in die verderbliche Eigenliebe und für alles daraus folgende Übel. »Die Vernunft erzeugt die Eigenliebe und die Reflexion verstärkt sie; sie läßt den Menschen sich auf sich selbst zurückziehen, sie trennt ihn von allem, was ihm lästig ist und ihn betrübt. Die Philosophie isoliert ihn, ihretwegen sagt er beim Anblick eines leidenden Menschen insgeheim: Stirb, wenn du willst, ich bin in Sicherheit. Nur mehr die Gefahren für die ganze Gesellschaft können den ruhigen Schlaf des Philosophen stören und ihn aus seinem Bett

Hannah Arendt: Über die Revolution, München 41994, 103, 110. Ebd., 295. 6 Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, hg. von Henrich Meier, Paderborn u. a. 31993, 57. 4 5

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reißen. Man kann seinen Mitmenschen unter seinem Fenster ungestraft umbringen; er braucht sich nur die Ohren zuzuhalten und sich ein paar Argumente zurechtzulegen, um die Natur, die sich in ihm empört, daran zu hindern, ihn mit dem zu identifizieren, den man meuchlings ermordet.«7 Auf dieser Grundlage stellte Rousseau kurz und bündig fest: »Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, daß der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur ist und daß der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist.«8 In Rousseaus »großem und traurigem System«9 erschien die Vernunft in ihrer für die gesellschaftliche Entwicklung relevanten Form als Ursache von Verschlechterungen jeglicher Art und allenfalls als Quelle für die Etablierung einer auf Neid und Betrug ruhenden Ordnung. Rousseaus vorrevolutionäre Philosophie blieb hinsichtlich der Rolle der Vernunft trotz solch deutlicher Aussagen ambivalent. In einem legitimen republikanischen Ordnungsmodell, wie Rousseau es im Gesellschaftsvertrag entwickelt hat, haben Vernunftgründe durchaus ihren Platz. Begründungen des Politischen setzen eine Orientierung über Status und Leistungsfähigkeit der politischen Vernunft voraus. Als »politische Vernunft«10 bezeichne ich im Folgenden (1) gegenständlich ein mentales Vermögen, das dazu befähigt, die historisch und kulturell unterschiedlichen Formen menschlichen Zusammenlebens aus ihren Voraussetzungen und Bedingungen sowie im Hinblick auf ihre Folgen zu verstehen, kritisch zu beurteilen, zu vergleichen und hinsichtlich der Zwecke und der angemessenen Mittel menschlichen Zusammenlebens zu differenzieren. Das schließt die Frage nach der jeweils »richtigen« Ordnung und Regierung ein. »Politische Vernunft« nenne ich (2) modal eine Form des Vernunftgebrauchs, welche die Bedingungen der kritischen Urteilsbildung, Artikulation und Kommunikation der Vernunfttätigkeit versteht und integriert, die sich aus den Voraussetzungen, Formen und Folgen, den Zwecken und angemessenen Mitteln menschlichen Zusammenlebens ergeben. Zur Reflexionsleistung politischer Vernunft gehört ein Katalog von Einstellungen, Überzeugungen, Haltungen, Wertungen und Regeln, welche zusammen die Verfassung besonderer Gemeinschaftsformen bestimmen. »Politische Vernunft« schließt (3) logisch ein Regelwerk ein, das für ihre eigene Tätigkeit maßgeblich ist. Dies sind bestimmte Regeln des Verstehens, der Begriffsbildung, des Schließens, des Argumentierens und des Dialogs. Die Anerkennung der Leistungsfähigkeit und Reichweite politischer Vernunft hat seit der Französischen Revolution einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Dieser Wandel kann durch einen vergleichenden Blick auf Hegel und Rawls verdeutlicht werden. Begründungen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Der Wandel vollzieht sich stärker zwischen den Polen von Begreifen und Rechtfertigen. Dazwischen entfaltete

Ebd., 149. Ebd., 89. 9 Jean-Jacques Rousseau: Œuvres complètes, III, publ. par. Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris 1959–1969, 105. 10 Vgl. Clemens Kauffmann: Die Rationalität des Anarchismus, in: Jahrbuch Politisches Denken (2011), 239. 7 8

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sich ein vielschichtiger historischer Prozeß der Vernunftkritik mit verstreuten Ansätzen zu einer wiederherstellenden Selbstbegründung politischer Vernunft. Hegels Politische Philosophie steht sichtbar unter dem Eindruck der Französischen Revolution. »Das Ereignis, um das sich bei Hegel alle Bestimmungen der Philosophie im Verhältnis zur Zeit, in Abwehr und Zugriff das Problem vorzeichnend, sammeln, ist die französische Revolution, und es gibt keine zweite Philosophie, die so sehr und bis in ihre innersten Antriebe hinein Philosophie der Revolution ist wie die Hegels.«11 Hegels System ist zugleich eine philosophische Reflexion der Moderne. Eine »Begründung« des Politischen findet sich bei Hegel indessen nicht. Hegel hat den Zusammenhang zwischen der Vernünftigkeit des Menschen und der Wirklichkeit des Politischen, wie er in der Antike gedacht worden war, auf dem Boden der Moderne noch einmal gesteigert. Er ging davon aus, daß Vernunft dadurch Wirklichkeit habe, daß sie wirksam ist. Das Politische, insofern es etwas Vernünftiges sein kann, bedarf deshalb keiner Begründung. Es hat konkrete Existenz in den geschichtlichen Gestalten sittlicher und politischer Institutionen. In der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts führt Hegel dazu aus: »Ohnehin über Recht, Sittlichkeit, Staat ist die Wahrheit ebensosehr alt, als in den öffentlichen Gesetzen, der öffentlichen Moral und Religion offen dargelegt und bekannt. Was bedarf diese Wahrheit weiter, insofern der denkende Geist sie in der nächsten Weise zu besitzen nicht zufrieden ist, als sie auch zu begreifen und dem schon an sich selbst vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form zu gewinnen, damit er für das freie Denken gerechtfertigt erscheine, welches nicht bei dem Gegebenen, es sei durch die äußere positive Autorität des Staats oder der Übereinstimmung der Menschen, oder durch die Autorität des inneren Gefühls und Herzens und das unmittelbar bestimmende Zeugnis des Geistes unterstützt, stehenbliebt, sondern von sich ausgeht und eben damit fordert, sich im Innersten mit der Wahrheit geeint zu wissen?«12 Ebensowenig wie das Politische selbst bedarf die Politische Philosophie als Wissenschaft nach Hegel keiner aufwendigen Begründung, vielmehr bestehe ein »Bedürfnis der Philosophie.«13 Politische Philosophie als Wissenschaft braucht nach Hegel ihren Gegenstand nicht lange zu suchen. Der philosophische Geist muß nur hinschauen und aufgreifen, was die Geschichte ihm präsentiert. Politische Philosophie als Wissenschaft braucht sich auch um ihre Wirksamkeit nicht zu sorgen. Sie spekuliert nicht abseits des politischen Lebens im Elfenbeinturm, sondern ist als vernünftige Tätigkeit Teil des geschichtlichen Prozesses, in dem freiheitliche Institutionen geschaffen werden und sich das Bewußtsein der Freiheit entwickelt. Politische Philosophie als Wissenschaft braucht sich auch nicht um ihre Relevanz zu bekümmern. Kaum ein Denker hat so deutlich gemacht wie Hegel, daß es Freiheit als bloßes Institutionengefüge nicht geben kann. Im Duktus des Hegelschen Systems ließe sich sagen, daß weder die Revolte gegen den Ty-

Joachim Ritter: Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel, Frankfurt 1969, 192. G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede, in: Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, 13 f. 13 G. W. F. Hegel: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 2, Frankfurt/M. 1970, 20-25. 11 12

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rannen noch die militärische Intervention mit dem Ziel der Einrichtung demokratischer Institutionen einem Volk die Freiheit bringt. Ohne das Bewußtsein der Freiheit, ohne eine Idee davon, was Freiheit ist, ohne eine entwickelte politische Kultur kann es Freiheit nicht geben. Die politische Philosophie als Wissenschaft ist Bestandteil einer solch unverzichtbaren (politischen) »Kultur der Freiheit«. Wenn aber die Vernunft nach Hegel keine Begründungsleistung hinsichtlich des Politischen zu erbringen hat, was hat politische Vernunft dann zu tun? Die zitierte Passage aus der Vorrede gibt hierfür weitere Hinweise. Die Wahrheit hinsichtlich der sittlichen und politischen Fragen liege »offen dar«, sie müsse nur »begriffen«, begrifflich gefaßt oder auf den Begriff gebracht werden. Die Staatswissenschaft, heißt es an einer anderen Stelle der Vorrede, sei »der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. […] Das was ist zu begreifen ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft.«14 In der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts hat Hegel seine Auffassung von Philosophie als Wissenschaft sehr deutlich formuliert. Es war Bestandteil seiner Grundüberzeugung, daß das Universum der menschlichen Erkenntnis zugänglich und daß die Struktur des Universums letztlich vernünftig wäre und als solche erkannt werden könne. Hegel kam es darauf an, die Philosophie als Wissenschaft gegenüber subjektivistischen philosophischen Ansätzen zu sichern. In der Wissenschaft »ist der Inhalt wesentlich an die Form gebunden.«15 Es sei die Einheit von Form und Inhalt, welche die Vernunft ausmache und diese vom Verstand unterscheide. Die begriffliche Arbeit der politischen Philosophie bedeute, »dem schon an sich selbst vernünftigen Inhalt auch die vernünftige Form zu gewinnen.«16 Es geht also darum, eine Verbindung von Inhalt und Form herzustellen. Dazu muß der Inhalt erst einmal klar identifiziert und beschrieben werden. Diesem Ziel dienen die Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hegel war nicht der Auffassung, daß jede existierende rechtlich-politische Institution oder gesetzliche Regel schon deshalb Ausdruck von Vernunft wäre, weil sie existiert. Nicht jedes bestehende Staatswesen verkörpere die Gestalt des modernen Staates, nicht einmal Preußen. Alles politische Dasein wäre nur eine mehr oder weniger weitreichende Annäherung an die Idee. Die politische Philosophie leistet gerade dies, aus der geschichtlichen Wirklichkeit die vernünftige Struktur abzulesen, begrifflich zu fassen und dadurch in eine vernünftige Form zu überführen. Mit der Verbindung von Inhalt und Form gelingt auch die Zusammenführung von Besonderem und Allgemeinem, von Subjektivität und Objektivität. In der vernünftigen Reflexion realisiert der Einzelne, daß er in seinem individuellen Willen auf das Allgemeine verwiesen ist, daß seine subjektive Freiheit außerhalb objektiver Zusammenhänge nicht bestehen kann. Politische Vernunft leistet Versöhnung.

G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Vorrede, in: Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 7, Frankfurt/M. 1970, 26. 15 Ebd., 13. 16 Ebd., 14. 14

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Das vernünftige Denken der Freiheit müsse selbst ein »freies« Denken sein. Es dürfe sich keinen Autoritäten beugen. Vorschriften oder Konventionen, Intuitionen oder Emotionen, öffentlich geteilte Anschauungen und Diskurse sind für politische Philosophie als Wissenschaft ohne Belang. Daraus gewinnt die vernünftige Tätigkeit der Philosophie einen spezifischen politischen Gehalt. Sie tritt in Konkurrenz mit anderen Elementen, die eine maßgebliche Deutung des öffentlichen Lebens für sich beanspruchen und die dafür eine Autorität reklamieren. Hegels Gedanke, daß die Tätigkeit der politischen Philosophie im Begreifen liege und nicht im Begründen, hat eine histor(ist)ische Dimension. Der Gegenstand und Inhalt ist historisch gegeben. Die historische Entwicklung der Idee der Freiheit in Gestalt des modernen Staates ist bereits abgeschlossen, denn sonst könne sie nicht als wirkliche Vernunft erkennbar geworden sein. Darin liegt eine melancholische Beschränkung der Philosophie, der Hegel am Ende der Vorrede berühmt gewordenen Ausdruck verliehen hat. Politische Vernunft bleibt nicht beim Gegebenen stehen, aber sie bleibt an es gebunden. Wohl mit Ausnahme jenes absoluten Momentes in der Geschichte, in dem Hegels System zum Selbstbewußtsein des objektiven Geistes geführt hat, kann die philosophische Tätigkeit die Grenzen ihrer eigenen geschichtlichen Stufe nicht überschreiten; »so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt.«17 Politische Philosophie habe keine utopische Kompetenz und letztlich keine normative Kraft. Dafür komme sie geschichtlich schlicht zu spät. »Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«18 Hegels Position hat im gegenwärtigen Diskurs der politischen Philosophie eine überraschende Aktualität. Das gilt insbesondere für die Rezeption in Nordamerika (z. B. Shlomo Avineri, Michael Gillespie, Robert Pippin, Judith Shklar, Charles Taylor). Selbst John Rawls, der gemeinhin für eine Art Kantianer gehalten wird, attestierte Hegel, »einen der wichtigsten Beiträge zur Philosophie der Moral und der Politik«19 sowie für die Entwicklung des modernen Liberalismus geleistet zu haben. Rawls interpretierte Hegel »als gemäßigt progressiven, auf Reformen bedachten Liberalen; und in seinem Liberalismus [… sah Rawls …] ein wichtiges Muster innerhalb der Geschichte der Moralphilosophie und der politischen Philosophie des Liberalismus der Freiheit.«20 Mit »Freiheit« sei in diesem Zusammenhang, nach Hegels Auffassung, »ein System politischer und sozialer Institutionen gemeint, welche die Grundfreiheiten der Staatsbürger garantieren und ermöglichen.«21 Von besonderer Bedeutung für Rawls war Hegels Konzeption der »Philosophie als Versöhnung«. Hegel habe die Ansicht vertreten, »daß das angemessenste Institutio-

17 18 19 20 21

Ebd., 26. Ebd., 28. John Rawls: Geschichte der Moralphilosophie, Frankfurt/M. 2002, 427. Ebd., 426. Ebd., 454.

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nengerüst zur Äußerung der Freiheit bereits« existiere und die Aufgabe der politischen Philosophie darin bestehe, »dieses Gerüst in Gedanken zu begreifen. Und sobald wir das tun, werden wir uns, wie Hegel glaubt, mit unserer sozialen Welt versöhnen.«22 »Versöhnung« heiße zu verstehen, »daß die gegebene soziale Welt unsere Freiheit zum Ausdruck bringt und uns dazu befähigt, diese Freiheit im Alltag zu verwirklichen.«23 Die Leistung der politischen Philosophie für die politische Kultur sei in der Tat darin zu lokalisieren, daß sie den Bürgern helfe, den modernen Staat zu verstehen und »wie und warum sie in ihm frei sind.«24 Es scheint Rawls wichtig gewesen zu sein, sich nicht einer idealen politischen Welt zuzuwenden und mit der eigenen sozialen und politischen Wirklichkeit zu hadern, auch wenn sie keineswegs vollkommen ist.25 Rawls selbst suchte den Ausgangspunkt seiner Konzeption von »Gerechtigkeit als Fairneß« in den gewachsenen politischen Ideen der Moderne, insbesondere der Französischen Revolution. Darin scheint er in Hegel einen Verbündeten gefunden zu haben. Aber Rawls sah auch, was Hegels Begriff von Philosophie als Wissenschaft verlangte. »Was wir hingegen brauchen, ist die Versöhnung mit der realen sozialen Welt durch Einsicht in ihre wahre Natur als rationale Welt. Um zu dieser Einsicht zu gelangen, brauchen wir eine philosophische Erklärung dieser Welt und zu guter Letzt eine philosophische Auffassung der Welt als ganzer, einschließlich einer Philosophie der Geschichte.«26 Spätestens an diesem Punkt muß Rawls’ Politischer Liberalismus – der sich ebenfalls als »Liberalismus der Freiheit« verstehe27 – Hegel zurücklassen. Eine philosophische Auffassung von der Welt als ganzer einschließlich einer Philosophie der Geschichte wäre in Rawls’ Begrifflichkeit eine umfassende Lehre, also etwas, was der Politische Liberalismus gar nicht gebrauchen kann, sondern aus dem öffentlichen Diskurs verbannt. Rawls rezipierte am Ende des 20. Jahrhunderts einen Hegel ohne Hegel. Der Kontraktualismus des Politischen Liberalismus ist mit Hegels System grundsätzlich unverträglich. Eine Philosophie der Geschichte oder der nicht-menschlichen Natur wird von Rawls aus politischen Gründen abgelehnt. Ein solcher Verzicht würde Hegels System gänzlich unverständlich werden lassen. Rawls aber konzipierte »Gerechtigkeit als Fairneß« als eine sogenannte »freistehende Auffassung«, die »abseits und ohne Bezug« auf einen weiteren philosophischen Hintergrund entwickelt wird.28 Eine politische Konzeption im Sinne einer freistehenden Auffassung soll sich wie ein Modul in jede beliebige Weltanschauung einfügen lassen können. Das bedeutet, daß sie auf eine spezifische Begründung Verzicht leistet. An die Stelle der Begründung rückt die öffentliche Rechtfertigung.29 Für diese ist grundsätzlich epistemische Abstinenz charakteristisch, das heißt der Verzicht auf an Wahrheitskriterien zu bemessende begriffliche Konsistenz 22 23 24 25 26 27 28 29

Ebd., 427 f. Ebd., 428. Ebd., 428. Vgl. ebd., 431, 433. Ebd., 431. Ebd., 471. John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998, 78. Ebd., 243.

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und logische Schlüssigkeit im Interesse eines pragmatisch orientierten Konsenses. »Es sollte beachtet werden«, schreibt Rawls, »daß gemäß dieser Auffassung eine Rechtfertigung nicht einfach als ein gültiges Argument aus einer Reihe vom Prämissen angesehen werden darf, selbst dann nicht, wenn diese Prämissen wahr sind. Vielmehr richtet sich jede Rechtfertigung an andere, die nicht mit uns übereinstimmen; sie muß deshalb immer von einem Konsens aus erfolgen, das heißt von Voraussetzungen, die wir und andere öffentlich als wahr anerkennen, oder besser: öffentlich als annehmbar anerkennen, um eine funktionierende Übereinstimmung bei der Beantwortung grundlegender Fragen politische Gerechtigkeit zu erreichen.«30 Am Ende des 20. Jahrhunderts ist die Begründungsleistung der Philosophie hinsichtlich des Politischen auf eine pragmatische Rechtfertigungsrhetorik zusammengeschrumpft. Das muß kein Mangel sein, wenn der politische Wandel dies erzwingt. Wenn man die Moderne durch die Klammer von Hegel und Rawls hinreichend repräsentiert sehen möchte – was sie tatsächlich nicht ist – so fällt auf, daß das Politische in beiden Fällen keiner Begründung zugeführt wird. Die Differenz liegt in den Gründen für den Begründungsverzicht. Hegels System gewann seine politische Relevanz gewissermaßen aus einem Überschuß an Vernunft. Rawls’ freistehende Konzeption indessen ist die Folge einer Exklusion der Vernunft. Genauer gesagt: Vernünftigkeit wird von Rawls als ein moralisches Vermögen aufgefaßt, das in öffentlichkeitsrelevanten Kontexten den Verzicht auf Wahrheit und Begründung einschließt. Hegels moderne Ausformulierung der politischen Philosophie gipfelte in einer Bestätigung des antiken Gedankens, daß die Vernünftigkeit des Menschen eine Quelle des Politischen ist. Der »Überschuß« an Vernunft kommt darin zur Geltung, daß Vernünftigkeit nicht nur eine logisch-diskursive Fähigkeit von Menschen zur Verständigung über gerechte Gesetze, sondern daß sich die Vernunft unabhängig vom menschlichen Vernunftgebrauch in der Geschichte entfaltet und mit »List« freiheitliche Institutionen hervorbringt. Die Exklusion der Vernunft aus dem Politischen Liberalismus kommt in der Skepsis zum Ausdruck, daß es umfassende moralische, philosophische oder religiöse Anschauungen überhaupt erlauben könnten, mit auf sie gebauten Argumenten zu einer öffentlichen Konzeption freiheitlicher Institutionen zu kommen. Zwischen Hegel und Rawls fand eine gravierende Veränderung statt, eine Inversion des Verhältnisses von Vernunft und Politik. Hegels System steht für eine »Vernunfterfülltheit« oder »Noetisierung« des Politischen. Rawls’ Konzeption beruht umgekehrt auf einer Politisierung der Vernunft, die zu einer charakteristischen Beschränkung im öffentlichen Bereich führt. Die Begründungsfähigkeit des Politischen in der Moderne scheint eher zwischen Hegel und Rawls auf dem Spiel zu stehen als bei einem von beiden. Was war geschehen? Man hat Hegels klassischen Ansatz der Vernunft, »daß Trennungen zu überschreiten das innerste Interesse der Vernunft« darstelle, als »eminent eindrucksvoll und John Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch, in: ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, Frankfurt/M. 1994, 263. Vgl. Clemens Kauffmann: Strauss und Rawls, Berlin 2000, 252. 30

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schlüssig«31 bezeichnet. Hegel sei aber gerade durch seine nahezu zwingende Schlüssigkeit zum Gegenstand der Kritik geworden und habe eine fulminante Wendung gegen die Vernunft hervorgerufen. Die »neuere Vernunftkritik« setze bei den »katastrophischen Folgen einer ›vernünftig‹ bestimmten Wirklichkeit« an und sehe in dem »Bündnis [der Vernunft] mit Herrschaft und in ihrer Tendenz zur Uniformierung« die Hauptdefizite der Vernunft32. Die »Uniformierungstendenz und Herrschaftlichkeit« wären paradigmatisch von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung vorgetragen worden.33 Weder kann hier die Hegelrezeption noch die Vernunftkritik auch nur im Ansatz aufgegriffen werden. Beides war zu vielgestaltig, als daß man sie auf eine knappe Formel bringen könnte. Bezeichnend ist aber, daß man sich in fast allen Lagern von der Vernunft abgesetzt hat und daß dieser Prozeß – als wäre er eine Bestätigung des antiken Gedankens vom Zusammenhang zwischen Vernunft und dem Politischen – zu einem beispiellosen Niedergang der Politik geführt hat. Sicher, Philosophenschelte hat es gegeben, seit es Philosophen gibt, und der politische Optimismus in Sachen Vernunft wurde nicht erst vom Christentum in Zweifel gezogen. Aber die moderne »Rebellion gegen die Vernunft«34 hat demgegenüber eine besondere Qualität. Liberale haben die Vernunft als unfähig erachtet, in wichtigen Fragen zu öffentlichen Konsensen zu kommen, und die unaufhaltsame Tendenz zu demokratischer Gleichheit für den unvermeidlichen Meinungskampf und eine mögliche Tyrannei der Mehrheit verantwortlich gemacht. Der Konservatismus hat sich früh vom Prinzipiellen verabschiedet und politische Vernunft durch historische Erfahrung ersetzen wollen. Der Sozialismus hat die Verhältnisse, die Hegel beschrieben hatte, umgekehrt und das Politische von der materiellen Reproduktion der Menschen her verstehen wollen. Ausgehend von einer technisch-ökonomischen Rationalität wurde jede politische Organisation als Herrschaftsinstrument der Besitzenden zur Ausbeutung der Arbeiter gedeutet, das es zu überwinden galt. In vielen Strömungen wurde der Zusammenhang zwischen dem Vernünftigen und dem Politischen gekappt, das Politische naturalisiert und dem Spiel der Kräfte überlassen. Politik sank herab von einem der vornehmsten Betätigungsfelder des Menschen auf die Ebene der bloßen Konfrontation. Im Kampf – dem Meinungskampf, dem Klassenkampf, dem Kampf um die großen Kulturfragen, im Natur-Kampf nach oben – zählen Willensstärke und Entschlossenheit. Daran entscheiden sich Führer-Qualitäten. An die Stelle der Vernunft traten Kollektivgrößen: die Gesellschaft, die Geschichte, der Diskurs. Die Beziehung zwischen Politik und Vernunft führte dazu, daß die moderne Vernunftkritik eine inhaltliche Verarmung des Politischen mit sich brachte und letztlich zu einer Reduktion des Politikverständnisses auf konfliktäre Beziehungen und pugnative Grundmuster führte. Parallel zur »Abkehr von der Politik« und zur »Degradierung des

31 Wolfgang Welsch: Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt/M. 1995, 58 ff. 32 Ebd., 41. 33 Ebd. 34 Hannah Arendt: Über die Revolution, München 41994, 102.

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Politischen« fand eine Unterminierung der Politischen Philosophie und der Politischen Wissenschaft statt, die in den Befund ihres Ablebens mündete. Diese Entwicklung vollzog sich aber keineswegs einhellig. Die totalitären Erfahrungen, die das 20. Jahrhundert prägten, haben durchaus gegenläufige Tendenzen ermutigt, meist unter Rückbezug auf die Gründungsituationen der Antike eine erneuernde Selbstbegründung politischer Vernunft anzugehen. Im selben Zug deutete sich eine Rehabilitierung des »Common sense« politisch denkender Menschen als Grundlage politischen Vernunftgebrauchs an. Hannah Arendt schätzte die politischen Fähigkeiten der Vernunft hoch ein. Sie setzte aber weniger auf Prinzipienwissen und normative Deduktionen, als auf Meinen und Urteilen als jene politisch bedeutsamen vernünftigen Fähigkeiten, welche von der Tradition des politischen und philosophischen Denkens weitgehend mißachtet worden wären35. In diesem Sinne scheint es auch ihr weniger um abstrakte »Begründungen des Politischen« gegangen zu sein, als um die Öffnung eines weltlichen Raumes zwischen Menschen, in dem die politischen Fragen und der ganze Bereich der menschlichen Angelegenheiten beheimatet sind. Im politischen Raum kämen die kommunikativen Künste der Überredung, des Argumentierens, der Verhandlung und des Kompromisses zum Tragen, in welchen sich rechtliche und politische Prozesse verwirklichen36. Leo Strauss hat noch intensiver als Hannah Arendt die ethischen, epistemologischen und kulturellen Voraussetzungen der Entwicklung des modernen Bewußtseins untersucht. Er hielt es für erforderlich, angesichts der Herausforderungen, die aus dem radikalen Historismus und dem Positivismus erwachsen waren, die Notwendigkeit und die Möglichkeit politischer Philosophie neu darzulegen. Dazu schien es ihm angezeigt, zunächst die Konstituierung der Moderne als eines spezifischen Denktypus nachzuvollziehen und darüber hinaus die ursprüngliche Gründungsleistung des Politischen in der Antike zugänglich zu machen. Hinsichtlich der Begründungsfrage sind hier vor allem zwei Momente von Belang: Die Auffassung vom Politischen als einer ursprünglichen Tatsache und die Bedeutung der Religion. Eine Begründung des Politischen erübrigt sich in gewisser Weise, wenn es als eine ursprüngliche Tatsache aufgefaßt wird. Eine Begründung würde das Politische erst konstituieren, während das Politische als Tatsache in ihrem Status beschrieben, verstanden und anerkannt werden müßte. Das Politische als Tatsache müßte zur Geltung gebracht und gesetzt werden. Das kann mehrere Dimensionen haben. In seiner Auseinandersetzung mit Carl Schmitt hat Leo Strauss dessen in der Moderne befangene Auffassung vom Politischen als einer Tatsache herausgearbeitet. Das Politische, so rekonstruiert Strauss die Ansicht von Schmitt, sei kein »relativ selbständiges Sachgebiet«, sondern es sei »fundamental« und das »Maßgebende«, es sei ein »Grundcharakter«, das un-

Hannah Arendt: Über die Revolution, München 41994, 295; dies.: On Revolution, New York 1963, 231. 36 Hannah Arendt: Über die Revolution, München 41994, 109 f.; dies.: On Revolution, New York 1963, 81 f. 35

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entrinnbare Schicksal des Menschen.37 Es sei der »Naturstand« und mithin »ein status des Menschen; und zwar ist es der status als der ›natürliche‹, als der fundamentale und extreme status des Menschen.«38 Schmitt, so Strauss, habe das Politische geradezu »bejaht«, »weil er in seiner Bedrohtheit den Ernst des menschlichen Lebens bedroht sieht. Die Bejahung des Politischen ist zuletzt nichts anderes als die Bejahung des Moralischen. [… Im] Ernst der Frage nach dem Richtigen hat das Politische – die FreundFeind-Gruppierung der Menschheit – seinen Rechtsgrund.«39 Strauss zeigt die Unversöhnlichkeit, die in Schmitts Bejahung des Politischen stecke. Die ernsthafte Frage nach dem Richtigen, nach den Zwecken des menschlichen Lebens lasse nach Schmitt »keine Vermittlung und keine Neutralität« zu.40 Schmitts Bejahung des Politischen erwies sich als eine Bejahung der menschlichen Natur als Kampf. In der Gründungssituation der Politischen Philosophie fand Strauss eine andere Auffassung vom Politischen als einer ursprünglichen Tatsache. Das hängt damit zusammen, daß in der Antike ein anderes Verständnis von der Natur des Menschen vorherrschte. Das Politische als Form menschlichen Lebens wurde von Sokrates, Platon und Aristoteles als eine Funktion menschlicher Vernünftigkeit aufgefaßt. Vernünftigkeit bedeutete im antiken Kontext, daß dort, wo unversöhnliche Auffassungen vom Richtigen aufeinandertreffen, menschliche Gruppierungen sich nicht nach einem Freund-FeindSchema gruppieren und zum Kampf bereiten müssen, sondern daß in solchen Lagen eine vernünftige kommunikative Auseinandersetzung darüber möglich wäre, was als das gemeinsame Gerechte gelten solle. Nicht die Kampfbereitschaft, sondern die Gemeinschaft einer gemeinsam getragenen Überzeugung macht für das antike philosophische Verständnis den Gehalt des Politischen aus. Hegels Versuch, auf dem Boden der Moderne das Politische als das Vernünftige zu begreifen, zeigt, wie weitreichend die Antike sein System geprägt hat. Ein Problem des Politischen wäre, darauf hat Strauss nachdrücklich verwiesen, daß es nicht die einzige ursprüngliche Tatsache sei. Auch der Religion komme ein solcher Status zu.41 Wenn man den Anspruch der Offenbarungsreligion vom Standpunkt des Gläubigen ernst nehme, nicht ein Produkt der menschlichen Kultur, sondern von Gott gegeben zu sein, dann zeige sich ein grundsätzliches Dilemma zwischen den Ansprüchen von Offenbarung und Vernunft. Der Umgang mit diesem Dilemma verlange der Vernunft einen besonderen politischen Modus ab, wenn sie nicht in einer unversöhnlichen Kampfposition enden wolle. Die »neue politische Wissenschaft«, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts etabliert habe, sei einer solchen Herausforderung nicht mehr gewachsen. Sie schließe auf der Grundlage unbewiesener soziologischer oder psychologischer Theorien die Möglichkeit von Offenbarung aus und bleibe folglich im Grundsatz hypothetisch. Genauer gesagt beruhe sie auf einem »dogmatischen Atheis-

37 38 39 40 41

Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. III, hg. von Heinrich Meier, Stuttgart 22008, 222, 227. Ebd., 223. Ebd., 233, 235. Ebd., 237. Leo Strauss: Gesammelte Schriften, Bd. II, hg. von Heinrich Meier, Stuttgart 1997, 31 f. n. 2.

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mus« und verfehle damit das eigentliche Kernproblem des Politischen.42 Äußerungen wie diese bedeuten keineswegs, daß Strauss einer konservativen Orthodoxie das Wort reden wollte. Ihm ging es vor allem darum, die politische Dynamik, die den Offenbarungsreligionen innewohne und die die westliche Kulturgeschichte nachhaltig geprägt habe, ins Bewußtsein zu rufen. Die religiöse Wurzel des Politischen und ihre Rolle in Politischer Philosophie und Politikwissenschaft ist ein nicht unerheblicher Faktor im Problemkomplex moderner Begründungen des Politischen. Von einer Inversion des Verhältnisses von Politik und Vernunft in der Moderne zu sprechen scheint gerechtfertigt zu sein. Diese Inversion hat sich weder historisch noch begrifflich kontinuierlich entwickelt. Sie zeigt sich als Tendenz in einem vielschichtigen Entwicklungsgang, der gleichzeitig auch Gegenströmungen zuläßt. Wenn sich eine Begründung des Politischen vom Standpunkt des Hegelschen Systems erübrigt, weil das Bewußtsein der Freiheit in der Französischen Revolution zur höchsten Stufe gelangt und in den politischen Institutionen des modernen Staates zur Wirklichkeit geworden ist, und wenn bei Rawls auf Begründungen, die umfassende philosophische Anschauungen voraussetzen, verzichtet wird, um die Freiheit nicht zu gefährden, dann hat sich das Verhältnis von Politik und Vernunft umgekehrt. Vernunft ist nicht mehr notwendige Bedingung und Gehalt des Politischen, sondern Belastung und Gefährdung. Die Vernunft steht schließlich unter einem politischen Vorbehalt. Rousseau hatte die Inversion frühzeitig vorausgesehen indem er schrieb: »Gleich der Statue des Glaukos, welche die Zeit, das Meer und die Stürme so verunstaltet hatten, daß sie weniger einem Gott als einem grimmigen Tier glich, hat die menschliche Seele – in Schoße der Gesellschaft durch tausend unablässig neu entstehende Ursachen, durch den Erwerb einer Menge von Kenntnissen und Irrtümern, durch die Veränderungen, die in der Verfassung der Körper auftraten, und durch den ständigen Anprall der Leidenschaft entstellt – sozusagen ihr Aussehen so sehr verändert, daß sie beinahe nicht wiederzuerkennen ist; und an Stelle eines stets nach sicheren und unwandelbaren Prinzipien handelnden Wesens, an Stelle jener himmlischen und majestätischen Einfachheit, die ihm sein Urheber eingeprägt hatte, findet man nur mehr den unförmigen Kontrast der Leidenschaft, die vernünftig zu urteilen glaubt, und des Verstandes im Delirium wieder.«43

Leo Strauss: Liberalism Ancient and Modern, Chicago 1968, 218. Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, hg. von Henrich Meier, Paderborn u. a. 31993, 43-45. 42 43

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Do animals live in the space of reason? Action and decision in non-human animals Kolloquiumsleitung: Markus Wild / Reinhard Brandt

Markus Wild / Reinhard Brandt Einführung Ruth Garrett Millikan What’s Inside a Thinking Animal? Dieter Birnbacher Commentary on Ruth Millikan’s Paper Hans-Johann Glock Animals: Agency, Reasons and Reasoning Geert Keil Beyond Assimilationism and Differentialism Comment on Glock

Introduction Markus Wild and Reinhard Brandt

Do animals act for reasons? Can they decide for or against a certain course of action? Do they classify their environments by way of concepts? Or is there behaviour controlled by mechanisms and associations, ruled by causality, and devoid of any mental or conceptual structure whatsoever? Such questions hoover uncomfortably between ‘anthropomorphism’ and ‘mechanomorphism’. Surly, those options must be wrong, but is there some plausible space in between? The colloquium on animal philosophy discusses questions concerning animal action, decision-making and conceptualization from different and opposing points of view. In this way the frontiers of the spatial metaphor “the space of reasons” can be explored. Focussing on animal behaviour and animal cognition is a powerful methodological tool in the philosophy of mind. The organizers of this colloquium have both used this tool and reached quiet dissimilar conclusions. Nonetheless, we both think that the question of animal minds is an important one; it raises some puzzling questions touching the very foundation of our self-understanding.1 The mind of animals has been an abiding topic in philosophy since its beginnings. Richard Sorabji’s book Animal Minds and Human Morals makes the case that questions of animal minds (and the distinguishing features of the human mind) have deeply shaped Aristoteles’ psychology and subsequent thinking.2 Aristotle defined human beings as rational animals thereby denying thought and reason to non-human animals. His reason for doing so was his belief that animals were incapable of grasping abstract concepts and general propositions. However, Aristotle acknowledged that animals possessed perception, memory, imagination, and emotions. Here is Sorabji’s statement of the general philosophical problem arising from this background: “If animals are to be denied reason (logos), and with it belief (doxa), then their perceptual content must be compensatingly expanded, to enable them to find their way around in the world. On the other hand, it must not be expanded in such a way that perception becomes tantamount to belief. The distinction between these was as much debated then as it is now. It is not only perception that will need to be distinguished from belief, but the possession of concepts, memory, intention, emotion and speech, if these too can be found in animals that lack belief. The project will require a wholesale re-analysis of all these mental capacities.”3 1 Cf. Markus Wild: Tierphilosophie, Hamburg 2008; Reinhard Brandt. Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie, Frankfurt/M. 2009. 2 Richard Sorabji: Animal Minds and Human Morals. The Origins of the Western Debate, London 1993. 3 Ibid. p. 7.

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Kolloquium 19 · Markus Wild u. Reinhard Brandt

The problem that continued to haunt philosophy can be stated in the following way: Approaching man and animal poses a serious threat to the very difference between them, and us, and hence to our self-understanding. On the other hand, separating man and animal betrays the obvious fact that animals behave in very similar ways to human beings and that human beings are animals too. Contemporary philosophical debates on animal minds are motivated by different strands, the most important being animal ethics, the impressing results of research on animal cognition, philosophical naturalism, and philosophical rationalism. There are metaphysical questions about what kinds of minds animals possess or could possess consistent with the facts about their behaviours, brains, environments, and histories. And there are epistemological questions about our knowledge and understanding of animal minds. According to the philosophical problem of animal minds sketched a moment ago two kinds of approach can be taken to both kinds of questions: a top-down approach and a bottom-up approach. The top-down approach begins with reflection upon mentality in humans, it takes the human mind as the paradigm and judges animals more likely to have minds the closer they approximate this paradigm. The bottom-up approach begins with taking our everyday or scientifically informed ascriptions of mentality to animals at face value and proceeds with designing a theory of animal minds, including human minds. Especially the naturalists have taken the way bottom-up and have developed accounts of intentionality from models of animal mentality. Needless to say, other philosophers have strongly resisted both ideas, namely the idea that animals think and judge and the idea that human beings are essentially animals. Take the longstanding tradition that distinguishes us as rational beings from animals and that understands philosophy by its concern to grasp and explain the notion of reason. Recently Robert Brandom has powerfully claimed that the crucial demarcation in question is demarcation by concept use. While animals respond reliably and differentially to a variety of stimuli genuine concept users understand their reactions to the environment because those reactions play a role in reasoning and serve as reasons. Only creatures with the gift of tongues will be able to imbed their natural reactions in inferential relations. Or so Brandom claims. Non-linguistic creatures are out of the picture, since they do not inhabit the clearly demarcated space of reason.4 Take another tradition that understands us as being some kind of sophisticated animal, living in a natural world like all animals do. Natural beings need to collect information about the kinds of things that affect their wellbeing and survival. They need abilities with the natural purpose to identify and to re-identify kinds of things. According to Ruth Millikan concepts are abilities with such a natural purpose, and they refer to that which is their purpose to identify. Or so Millikan claims. Non-linguistic animals clearly reach into the picture. However, human beings are able to check there thinking by way of coherence. So, there is a striking difference between them and us.5 Robert Brandom: Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambridge/Mass. 2000. Ruth Millikan: On Clear and Confused Ideas. An Essay About Substane Concepts, Cambridge 2000. 4 5

Einführung

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Let’s have a closer look at the title of this conference: Welt der Gründe. A common reading of this metaphor suggests that only takers and givers of reasons do life in the space of reasons, that only social beings with the gift of tongues inhabit the space of reasons, and that only denizens of the space of reasons do have minds. Thus, only linguistic beings (human beings) are minded creatures, the mute brutes are not. The author of the metaphor, Wilfrid Sellars, is often credited with this view, since he often is viewed as identifying thoughts with linguistic events. However, in Sellars’ later texts a more nuanced picture emerges. In “The Structure of Knowledge” he counts himself among the people he jokingly calls “animal lovers”.6 And he adds, “that of course there is a legitimate sense in which animals can be said to think”. Our everyday understanding of what thinking of animals consists in, Sellars says, involves viewing them as engaged in rudimentary forms of conceptual thinking. We interpret their behaviour using conceptual thinking as a model. This analogical extension, when supported by experience, is in no way illegitimate. In the essay “Mental Events” Sellars introduces a distinction between propositional form and logical form.7 To have propositional form, a representational state must represent an object as of a certain character. The representational systems of animals (such as spatial maps) possess propositional form by this characterization, as Sellars acknowledges. Correspondingly, they can make what Sellars calls “Humean inferences,” that is, material inferences that employ no explicit generalization or logical principle. (For example, the move from “Smoke here” to “Fire nearby.”) Logical form, however, belongs to representational systems that include distinct symbols for logical operators. Human representational systems possess logical form; they enable us to represent “Aristotelian inferences” in which a general principle is explicitly represented. (For example: “Smoke here. Wherever there’s smoke, there’s fire. So, fire nearby.”) This is one crucial difference between animals and us. We can recognize conditionality and generality as such. Given the fact that the author of the metaphor of the space of reasons exhibits a tendency to include mute brutes in that very space, we have no reason to sneer at the topic of the colloquium. The question remains, however, in what sense animals could possibly be said to think or to act for reasons. Ever since Aristotle the tradition is ambiguous about such questions. The case of Sellars nicely illustrates this kind of ambiguity, since Brandom and Millikan both see their work on language and thought, on concepts and intentionality as a few more steps on the Sellarsian path. The papers resulting from the colloquium are organized in a series of proposals and comments. In the first part Ruth Millikan’s paper “What’s Inside a Thinking Animal?” will address the question of concept-use in animals and humans. Millikan is well known for her highly original work on the nature of intentionality and on concepts. A series of German translations and number of young German philosophers taking up her ideas are clear natural signs of a growing interest in Millikan’s work in general. Wilfrid Sellars: “The Structure of Knowledge”. In: Action, Knowledge and Reality: Studies in Honor of Wilfrid Sellars, ed. by Hector-Neri Castañeda, Indianapolis 1975, 295–347. 7 Wilfrid Sellars: “Mental Events”, in: Philosophical Studies 39 (1981), 325–345. 6

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Kolloquium 19 · Markus Wild u. Reinhard Brandt

Her paper is followed by a commentary by Dieter Birnbacher, a philosopher well known for his sober take on the question of the natural. In the second part Hans-Johann Glock proposes a series of reflections on “Animals: Agency, Reasons and Reasoning”. In a series of important papers Glock has offered a spirited defence of the reality of animal minds in a Wittgensteinian spirit. His paper is followed by a commentary by Geert Keil, a staunch critic of most sorts of naturalism and a sceptic about animal mentality.

What’s Inside a Thinking Animal? Ruth Garrett Millikan

For a philosopher to speculate about animal cognition is implicitly to engage in theoretical psychology or theoretical neurology at a very high level of abstraction. As with all sciences, research in psychology and neurology need to be guided by speculative hypotheses, in these particular cases, by hypotheses about what kinds of functions, hence structures, it would be sensible to look for. We philosophers may be in a position to help, but we can’t expect armchair argument to go very far. In the end, all the questions are rock-bottom empirical. My own speculation is that the major break between the way humans and other animals think has less to do with the nature of the inference processes, or lack thereof, involved than with the methods used to form adequate concepts. I am not nearly as impressed with the differences in practical reasoning abilities between we humans and other animals as with differences in the kinds of information we are able to grasp and to feed into those reasoning processes. Most everyday practical human activity seems to be guided, moment by moment, in much the way higher animal activity is. Goals are envisioned – represented – and moved toward by means first of abstractly knowing how, understanding how the reaching of first this and then that prior goal will lead to a further goal, then by filling in, step by step, making the abstract concrete by following sensory affordances – roughly, Gibsonian affordances – from here to there to there, step by step. Mostly this does not involve much reasoning out; both we and the animals have reached most of these everyday kinds of abstract goals before, though in the human case often as a result of instruction rather than mere exploration or trial and error learning. Usually there is little or no reasoning involved in driving a car or in hoeing the garden or in getting dinner. Clearly humans do a lot more thinking ahead than do other animals, they project and follow through much more complicated chains of embedded goals, they sometimes attempt to do quite novel things, and sometimes engage in very sophisticated trial and error reasoning on the way. But I suspect that these patterns remove us from other animals only as a matter of (very considerable) degree. The key difference in kind between us – a difference that actively supports the possibility of sophisticated action planning when it occurs in humans – is our capacity to develop what I will call here “theoretical unicepts.” Animals, I think, never get beyond “practical unicepts.” Let us suppose that you have both a dog named Rover and also a spouse or housemate named Bret. You and Rover share a quite remarkable, highly complicated ability with regard to Bret. You are both able to recognize Bret from the front, from the back. from the right side, from the left side, indeed, from almost any angle, also from 20 meters away or from 20 centimeters away or from any of many other distances, also under

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Kolloquium 19 · Ruth Garrett Millikan

many different lighting conditions and, indeed, whether Bret is sitting or standing or lying down, or partly occluded by a chair back or the table, whether Bret is moving or still, by Bret’s voice from any of many distances or as it passes through a variety of media such as through lightweight walls, under water, over the phone and so forth. Rover will surely know Bret by the smell and probably by the way Bret touches him, perhaps by when Bret returns home (Rover knows it’s now Bret at the door), and you may recognize information arriving about Bret by Bret’s signature, by recognizing Bret’s style of humor or by the sound of the instrument Bret plays coming from the next room. In short, you and Rover each have a complex, quite amazing still very little understood skill, namely, you can bring to one focus many bits of natural information in the form of a hugely diverse set of proximal stimulations impinging on your sensory surfaces, but all of which carry natural information about just one thing, Bret, allowing you to accumulate knowledge of that one thing over time, possibly using it in mediate inferences, certainly putting it to use during later encounters with Bret. This capacity to identify information arriving at your sensory surfaces in indefinitely may kinds of proximal packages as information about the same distal object is, of course, the capacity to “reidentify” that object. What the psychologists call “color constancy,” “shape constancy,” “sound source recognition” and so forth are – similarly – capacities to reidentify various kinds of properties through different proximal stimulations. We also have capacities to reidentify many real kinds in a great diversity of ways. Think how many different kinds of proximal stimulations may manifest either to you or to Rover the current presence of a cat. Not only can cat properties each manifest themselves to the senses in multiple ways, there are many different small sets of properties unique to cats (at least in the circles in which you and Rover normally walk) by any of which they can be identified. There are very many equally good ways to recognize a cat as such. These amazing abilities that you and Rover have to reidentify objects, properties, kinds and so forth, like other abilities that you have, are of course fallible. That you have them does not imply that you never misidentify, any more than that you have the ability to walk implies that you never trip. I’m proposing to call these abilities “unicepts”… “uni” for one, of course, and “cept” from Latin “capera,” to take or to hold. A unicept is a taking or holding as one – it is a capacity which takes in many proximal stimulations and holds them as one distal object, property or kind. (As a working model, we can think of a unicept, the capacity to reidentify something, as the capacity to employ the same mental sign again when the same distal object is encountered. Thus we couple unicepts with something like “mental signs,” naming them according to these signs. Having a unicept involves the capacity to couple new information with information gathered in the past under the same mental sign so as to bear on further thought and action.) Clearly, unicepts are of central importance for perception and cognition of any sophistication at all, and it seems clear that both we and the higher animals have them. There are animal psychologist’s who believe that all animal learning is merely associative, but surely the association is not merely among proximal stimuli. Animals too must have unicepts of distal things. My suggestion will be that only humans have theoretical

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unicepts, however. Other animals have only practical unicepts. What then is the difference between a practical and a theoretical unicept? Notice first that unicepts are not dispositions but rather abilities. To be unicepts, there is something they should succeed in doing. They should succeed in unifying or making one in the mind what was originally one in the distal environment, but manifestations of which had been scattered through diverse media before arriving at the cognizer’s sensory surfaces. Consider then the problem how unicepts might be acquired through evolution of the species or through individual learning. How might natural selection or individual experience have tuned the cognitive systems to put only proximal stimulations that have been scattered from the same distal object or kind into the same perceptual/ cognitive basket? What epistemological criterion might be used by natural selection or by the cognitive systems to distinguish genuine, adequate unicepts – ones that are for the most part succeeding in their reidentifying tasks – from those that are failing? One way that this might be done is through the use of candidate unicepts in the direction of practical activity. If it is possible to learn how to use or react to the postulated same-distal-object or same-distal-kind so as to obtain uniform useful results, this is evidence that one is reidentifying correctly. Rover needs to handle cats one way, rabbits another. (Cats may run up trees or they may turn and scratch you viciously; rabbits may dive into the brush.) That he has learned to identify and distinguish between rabbits and cats is evidenced by his having learned to handle them satisfactorily. Rover may also need to learn to behave somewhat differently in the presence of his master than his mistress, success in getting on with these people evidencing his capacity to identify them. His initial ability to distinguish among individual people by smell is probably innate, but coordinating this ability with his abilities to recognize the same people in other ways is more likely learned. For animals like us that acquire many of their uniceptual abilities through learning or perceptual tuning, a prior ability that may be innate – certainly it is acquired very early – is the ability to track objects with the eyes head and body, also perhaps to track them by sound, and certainly by feel and kinesis. Built in is the implicit assumption that a continuously tracked object remains the same object or kind from the beginning to the end of the tracking process, that tracking is correctly reidentifying over time. Thus the animal is provided with very considerable help in learning how the same object or kind may affect the senses when in different locations relative to the animal, under different mediating conditions such as lighting conditions, occluding objects, interfering noises and so forth. Unicepts acquired by a species or by individuals in the above ways, ultimately tested for adequacy by natural selection or by practical learning, are “practical unicepts.” Unicepts that can be acquired in this way are quite limited, being always of things that the animal must take account of during guidance of immediate practical activity. Practical unicepts must all be immediately useful in practice, either during the history of the species or in the individual animal’s experience. That nonhuman animals are limited to forming unicepts in this practical way is suggested by many animal studies. Merlin Donald, for example, once summarized the

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literature on signing in apes as follows: “The use of signing in apes is restricted to situations in which the eliciting stimulus and the reward are clearly specified and present, or at least very close.”1 Indeed, experimental studies of learning in animals invariably proceed by giving a reward to the animal that learns to behave as the experimenter wants. No one expects a non-human animal to acquire a new unicept – a new concept? – in any other way. A striking difference in humans is that they acquire unicepts of all kinds of things that they have no use for in practice. Many of these things are such that they could not possibly guide motions directly, being too small, or too large, or too amorphous or too abstract, or too far away, or in the past or distant future. We collect huge quantities of knowledge that we never have and, in many cases, that we never expect to find practical uses for. We wonder about and try to collect knowledge about the stars, about what’s inside an animal’s mind, about how engines work, about who won the last Boston marathon, about whether you can square the circle, about what Napoleon did after Elba, about who wrote the Shakespear plays, about how tall various mountains are, about how various cities got their names, and about what causes what and why for almost anything at all (why is the sky blue?). Collecting knowledge that is, at least at the time it is collected, irrelevant to practice, requires developing unicepts of the objects, properties, kinds, events and so forth that this knowledge concerns in some other way, obviously, than through practical test. How is this possible? My speculation is that coordinated with the development of the use of language, in humans, is the development of a new kind of inner and outer representation, namely, representation that has subject-predicate structure, the predicate being sensitive to a negation transformation. Call this “propositional structure.” Contrast, for example, the kind of representation that the honey bee uses. Different bee dances can tell of nectar different places, but there are no bee dances that say where there isn’t any nectar. Bee dances are not subject to a negation transformation. A representational system that includes negation is a system that can show right within it, prior to any attempted action it might guide, when errors in identification are occurring. It allows descriptive inconsistencies to emerge explicitly, right on the surface of the representational system. It allows thought (or language) openly to display coherence or incoherence in the ways it is representing the world prior to using those representations in practical activity. The emergence of inconsistencies indicates the need for corrections in the ways that have been being used to form judgments, corrections in ways used to identify subjects and predicates – adjustments, that is, in unicepts. Donald Davidson held that the only way to corroborate one’s ways of recognizing the selfsame thing again was through agreement with others using the same language. But that one can make the same judgment again from different perspectives, using different sensory modalities, under different mediating circumstances, and also by interpreting different kinds of more distal natural signs, offers similar evidence for the objectivity of unicepts employed in these judgments. Trust in the objective reference of 1

Merlin Donald: Origins of the Modern Mind, Cambridge MA 1991, 152.

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our unicepts is warranted in so far as we agree each with our own selves in these judgments, as well as agreeing with others, who may use other, though often overlapping, methods of identification. I check my judgment, say, that this is a pencil, by moving in relation to it, by employing various different senses, by manipulating it and so forth, to confirm a constant result. The same object, if I reidentify it correctly, that is square as perceived from here should be square as perceived from there and square by feel and also by checking with a carpenter’s square and by measuring its diagonals and, barring certain interferences, square tomorrow. I test each method of recognition against its use on other occasions and against alternative methods of recognizing the same, in doing so confirming the general abilities that constitute, in part, the subject as well as the predicate unicepts used in making my judgment. I confirm these methods again when I find that another person has arrived at the same results, another way of obtaining information about objects and properties being, of course, to believe what one is told. Consistent agreement in results is evidence that my various methods of making the same judgment are all focusing on the same distal affair, bouncing off the same target, as it were. That what I take to be the same substance is found to melt at what I take to be the same temperature by checking with an alcohol thermometer, a mercury thermometer, a gas thermometer and a bimetal expansion thermometer is evidence both that I am able to recognize the same substance again (a real kind) and that there is indeed some same real quantity (unlike caloric pressure) that all of these instruments are measuring – evidence that the unicepts I am employing are unicepts of something real. In this way “theoretical unicepts” can be formed and evaluated independently of practical activity. Our ability to form unicepts in this way, prior to and independently of practical uses, hence to acquire huge quantities of purely factual knowledge, later feeds into the governance of our practical activities, separating us quite definitively from other animals.

Commentary on Ruth Millikan’s Paper Dieter Birnbacher

One of the perennial questions in the philosophy of the man-animal relationship is whether there is a difference in kind or a difference in degree between human and nonhuman animals. If there is a difference in kind, there should be something like a clear demarcation between the animal kingdom and the kingdom of men, a kind of natural precipice; if there is no more than a difference in degree, there should be a smooth transition, or a gentle slope, between the realms, a continuum reaching from the one to the other. Traditional Western metaphysics and the theologies of monotheism are commonly seen as paradigms of the precipice view, some of the polytheistic or atheistic theologies of the East as paradigms of the gentle slope view. Given the evidence accumulated in more than forty years of intensive research into animal psychology, which of these views can be said to be nearer to the truth? There is more than one reason why an answer to this question is difficult even on the basis of the impressive knowledge about animals available. One is the inevitability of interpretation. Even if all conceptual issues have been settled and the data are ascertained with the highest reliability possible, there remains ample scope for dissent on interpretation. How far is it legitimate to interpret apparently intelligent animal behaviour in terms of cognitive processes, in a sense involving not only behavioural techniques but truly mental representations of objects and states of affairs, present, past and future? How far can we attribute to animals intentional conscious acts, states and dispositions, such as beliefs, thoughts, intentions and choices? A second difficulty is conceptual. It is by no means clear what kinds of differences between human and nonhuman animals matter, i. e. which dimensions are important enough to justify an overall statement to the effect that there is continuity or discontinuity between humans and non-humans. Evidently, a discontinuity in certain respects can coexist with a continuum in others. It all depends on the properties that are held to be essential. Rationalists usually concentrate on properties in which there is discontinuity, e. g. reflective thinking, the ability to handle abstract concepts and the possession of a more than rudimentary language. Empiricists and evolutionists usually concentrate on properties in which there is, to all appearances, a great deal of overlap, such as sensation, the ability to suffer, perception, emotionality and will. The question is which of these respects are relevant. Relevance, however, is an inherently relativistic notion. Relevance depends on what your project is and what appears to be central or marginal, as the case may be, from the perspective of this project. One such project is the ethical one. From an ethical point of view, it makes a considerable difference whether higher animals possess phenomenal consciousness, how far animal suffering is qualitatively comparable to human suffering, and when exactly the

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ability to suffer begins in the tree of evolution. For the ethical project it is of the utmost importance to know whether there is continuity or discontinuity between the sentient life of nonhuman and human animals, not least because of the far-reaching consequences for human practice, especially at the upper and the lower end of the spectrum. Think of the debate about the potential extension of fundamental human rights to apes that has led to substantial changes in animal protection laws in some countries,1 or of the ongoing debate on fish consciousness.2 If fish have phenomenal consciousness it is hard to believe that they are not also suffering from the death by suffocation many of them are subjected to. If they are, the bulk of present procedures in harvesting fish is incompatible with basic demands of animal protection and should have to be replaced by more humane methods, however expensive. Moreover, the question arises whether we should not give the benefit of doubt, as the recent European directive on animal experimentation does, to some invertebrates such as octopus, squid and lobsters, in view of their complex brains and their behavioural flexibility. On the whole, the available evidence about phenomenal consciousness suggests a great deal of continuity between non-human and human animals. In so far as sentience and the ability to suffer is concerned, there seems to be no sharp break anywhere, neither within the higher animals nor between primates and humans. Though we don’t know for certain when in evolution consciousness first entered the world, we are pretty sure that it grows, in an irregular curve, on its way up from the cephalopods to the human race, without a clear threshold at any point. One of the merits of the European directive just mentioned is that it makes an effort, however incomplete, to honour this fact and to grade the protection owed to animals according to their specific levels of sensibility. Another project is the anthropological project of finding out how far the self-image of man predominant in the Western tradition has a fundamentum in re, i. e. whether there is a discontinuity to be found in rationality, the capacity to reason and to think according to patterns formulated by the rules of deductive and inductive logic. Is rationality, as the essentialist definition of man as animal rationale suggests, exclusive to human beings? If so, is it exclusive to man in a way that involves a discontinuity between human and animal intelligence? I think we have good reasons to deny that non-human animals have anything like rationality or the capacity to reason in a way governed by the rules of logic (which is not meant to imply that their behaviour is never rule-governed). What does rationality amount to? According to Jonathan Bennett (whom we owe one of the profoundest works on the topic and whom I was lucky to have as an academic teacher) there are three criteria by which we commonly ascribe rationality: 1. a sufficient complexity of behaviour patterns, 2. the capacity to adjust behaviour to changing perceptual situations and changing inner states, 3. the capacity to judge on what is present and particular on the backdrop of judgements on past experience or empirical generalisations.3 1 2 3

cf. Cavalieri/Singer 1993. cf. Braithwaite 2010. Bennett 1964.

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Kolloquium 19 · Dieter Birnbacher

These conditions are meant to be individually necessary and jointly sufficient. The first, complexity of behaviour patterns, is necessary but not sufficient. Animal behaviour, as was already noticed by Montaigne4, can be highly complex, as, for example, the dances of bees encoding various dimensions of the location of food in the vicinity of the hive. Some social insects are known for the sophistication of their architecture, which is, however, no reason to attribute a corresponding sophistication to individual insects. The second condition, the adaptability of behaviour to changing circumstances outside and inside the animal seems, again, necessary but not sufficient for rationality. Behaviour that is modified as circumstances change is, as a rule, learned behaviour. Unlearned behaviour can be highly specific in respect of circumstances, but these circumstances are, for evolutionary reasons, usually highly standardized. It does not have room for new and unexpected situations. That behaviour is learned and adaptable does not show, however, that it exhibits rationality. For rationality, the third condition has to be present as well, the explicit recourse to past experience or to generalizations from experience and the application of the knowledge gained by them to present and particular cases. Not only theoretical rationality but also practical rationality, in the sense of a conscious choice of means appropriate to a certain end, requires more than the mastery of a certain behavioural technique. It requires theoretical knowledge of a knowingthat kind over and above practical knowledge of a knowing-how kind. In fact, it seems, as Bennett argued in Rationality, that rationality is not safely to be attributed without attributing, at the same time, an appropriately developed linguistic capacity. Only by language, it seems, states of affairs of a non-present and non-particular kind can be made available to conscious judgements on present and particular cases. “Only in a language”, to quote Bennett explicitly, “is it possible to register theoretical knowledge, that is, knowledge-that-p which is not cast in the form of knowledge-how-to-get-x.”5 The reason is that in order to ascribe theoretical knowledge to non-human animals and the capacity to make inferences from what they know to particular situations, we should have convincing evidence about reasoning processes going on in them independent from evidence about their judgements and choices in particular cases. Evidence of this kind is hard to imagine without evidence of linguistic processes. I do not think that the linguistic abilities shown in parrots, crows, whales and apes are sufficiently developed to be interpreted as expressing genuinely theoretical reasoning. If this is right, it shows how discontinuity can coexist with continuity, and how far the old question about “essential” differences between humans and non-humans suffers from ambiguity. At the same time, it shows that Ruth Millikan is right in locating the specific difference of humans in their capacity for theoretical inquiry. This capacity has two distinct aspects. The first is the ability to develop concepts for and theories about things for which we have no use in practice, not even indirectly. The second is the ability to think about real and potential actions and situations in the absence of corresponding appetitive states. Humans can be motivated to learn from experience 4 5

cf. Perler/Wild 2007, 31. Bennett 1964, 8

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from purely theoretical motives, whereas for non-human animals learning is bound to appetitive states such as hunger, thirst, the need for safety, or the desire to interact with others of the same species. West African apes are known to take specially chosen stones with them over long distances which they then use for cracking nuts for which no appropriate instrument is available in the vicinity. But they do so only if they are appropriately hungry. Non-human animals do not seem to have properly theoretical interests, though rats come near such interests in systematically exploring mazes from sheer curiosity and even after having found an access to food. Animals do not seem able to do anything like experiments, though they sometimes use techniques for practical purposes reminiscent of scientific testing. A telling example was presented by Volker Sommer recently on video: a chimp handling two instruments at the same time, using a stiff stick as a probe to feel where there is a cavity beneath the surface in which termites might be found, and using the other, a weak branch stripped of twigs and leaves, for poking into the termite nest to collect termites in case the prior test had a positive result. It is easy to be misled by the probable absence of rationality in non-human animals into thinking that there is no place for the ascription of cognitive concepts to non-human animals altogether. Even if one does not share the enthusiasm for animal thinking kindled by Donald Griffin’s seminal book Animal Thinking6 and spread, among others, by the contributions of his disciple Marian Stamp Dawkins, this conclusion seems unwarranted. Denying rationality is, in my view, compatible with attributing thinking, judging and believing to non-human animals. One of the sources of the confusion on this point seems an excessively strong definition of these cognitive notions. We should beware of overloading the concept of thinking in a way that tends to make thinking coincide with reason-giving and rationality. This done, there is no reason not to attribute to at least some nonhuman animals rudimentary kinds of thinking, believing and conscious choice. Thinking and judging, even if directed at present objects of which the animal is perceptually aware, involve more than perceiving these objects. They also involve more than the synthesis of diverse kinds of sensory input and the capacity for re-identification Ruth Millikan terms “uniception”. “Uniception” can also occur unconsciously, as. e. g. with social insects identifying and re-identifying their comrades by chemical signalling. Thinking and judging involve an inner and conscious representation of past, present or future states of affairs in a propositional form. This kind of representation is possible in a pre-linguistic form, as with small children and in moments of dyslexia where we are unable to give verbal expression to what we – clearly and distinctly – have in mind. It seems an overstatement of the cognitive presuppositions of this capacity to require that only those beings are able to judge that p that are also able to judge that non-p or who are able to judge that p is true or false. The fact that someone does not possess the capacity to think negative thoughts, or does not have the concept of truth and falsity, does not show that he is unable to think any thoughts whatsoever. 6

Griffin 1984.

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Similarly, it would be an overstatement of the conditions of believing to require that whoever believes something must know that believing is distinct from knowing. Again, we attribute to children all kinds of beliefs without attributing them even the faintest idea of what distinguishes believing from knowing. And the same seems to hold for the assumption that having concepts requires the ability to explain their content by other concepts. By saying this, I do not wish to suggest that we can in fact go so far as to attribute to animals concepts in a full-blown sense. To have concepts seems to involve the ability to think hypothetically about counterfactual situations, and this seems possible only in a fully developed language. But it does not seem misplaced to attribute to non-human animals at least simple judgements or beliefs. Think of the ape poking his stick into the soil in order to identify termite burrows. He may be doing this like a craftsman’s routine, habitually and unthinkingly. But is does not at all seem implausible to interpret the appearance of concentrated attention in his behaviour as indicating active thinking about what he is doing, of acting in a fully intentional way, intending each individual act as a step in a planned sequence of steps reaching into the future. And it does not seem absurd even to attribute animals the ability to think propositions that, verbally expressed, are commonly expressed in negative terms: Irene Pepperberg’s African grey parrot Alex who said “no” to objects given to him he did not want to be given;7 the reaction of rats surprised that the food reward they expect is suddenly missing;8 or the posture of deep sadness of a whole colony of chimps, in a photography of Volker Sommer’s, when a dead comrade of theirs is carried past them to be buried. Of course, in order to avoid anthropomorphism, we should beware of projections invited by the great similarities in outer appearance and behaviour with human appearance and behaviour. Usually, we are much less inclined to interpret the intelligent behaviour of crows, elephants and whales in similarly anthropomorphic terms. But often, it is difficult even in animals far removed from the genealogy of humans not to believe that they have beliefs and thoughts accompanying their outward behaviour and anticipating what this is meant to achieve. Think of the co-operative behaviour of crows hunting a squirrel observed by a neighbour the other day in her garden: Two crows trapped a squirrel climbing a tree by blocking its way from above and from below, with a third crow catching it sideways at the moment when it found itself trapped, killing it and carrying it away to a safe place. If this is, as I assume, not a routine procedure among crows, neither hard-wired like an instinct nor taken over as a fixed habit from the elder generation, it in fact seems to satisfy the criteria on which we commonly judge animal intelligence: it does not correspond to a simple stimulus-response-schema, it is embedded in a process of exchange and co-operation within a social group, and it shows a high degree of adaptability to qualitatively new situations.

7 8

Dawkins 1993, 120. Griffin 1984, 6.

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References Jonathan Bennett: Rationality. An essay towards an analysis, London 1964. Victoria Braithwaite: Do fish feel pain? Oxford 2010. Paola Cavalieri /Peter Singer (eds.): The Great Ape Project. Equality beyond humanity, London 1993. Marian Stamp Dawkins: Through our eyes only? The search for animal consciousness, Oxford 1993. Donald R. Griffin: Animal thinking, Cambridge MA 1984. Dominik Perler/Markus Wild (Hrsg.): Der Geist der Tiere – eine Einführung. In: Der Geist der Tiere. Philosophische Texte zu einer aktuellen Diskussion, hg. von Dominik Perler und Markus Wild, Frankfurt am Main 2005, 10–74.

Animals: Agency, Reasons and Reasoning Hans-Johann Glock

My topic is action by non-human, non-linguistic animals (henceforth ‘animals’). The most general question in this area is: a) Can animals act? This question in turn spawns several more specific questions: b) Can animals act intentionally? c) Can animals act for a reason? d) Can animals reason? My main target in this paper is a position I call lingualism (mindful of the fact that employing ugly labels is one way of getting ahead in academia). Lingualism maintains on a priori conceptual grounds that their lack of language precludes animals from possessing mental capacities at all, or at least the ‘higher’ mental capacities required for agency. This raises the question of whether there are conceptual connections between the possession of language on the one hand, and the capacity to act, to act intentionally, to act for reasons and to reason on the other. To put it differently, we need to consider whether mental terms or concepts and what one might call practical terms or concepts – concepts such as action, agency, intention, intentional action, reasons for action, rationality, etc. – are applicable only to creatures that possess the gift of language. Mental phenomena as defined by our extant mental concepts must be capable of being manifested in behaviour.1 The moot question is whether certain mental features can only be manifested in linguistic behaviour, and whether acting intentionally, acting for a reason and reasoning are among these. In addressing these questions, we need to consider not just extant species and their actual behavioural repertoire, but also what kind of behaviour non-linguistic creatures are capable of in principle. For lingualism to be correct, even animals very much like us in all respects except linguistic competence – for instance in their facial expressions, gestures, bodily demeanours and non-linguistic behavioural patterns – must be incapable of rational or intentional agency. This is a tall order. Nevertheless, lingualist arguments carry considerable weight, as long as one sticks to orthodoxy and treats reasons for action as subjective mental states that the agent needs to be aware of. By contrast, I shall approach our topic from the perspective of recent revisionist ideas in the theory of action. These ideas remove apparent hurdles to accepting animal agency and rationality. At the same time, they throw up new 1

See H. J. Glock: Can Animals Act for Reasons?, in: Inquiry 52 (2009), 233–236.

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challenges to the idea of rational agency without language, some of which I hope to meet.2 Agency Can animals act? I shall come back to this question at the end. For now let us note that it must be answered in the affirmative by those who accept non-intentional agency, including agency by inanimate objects.3 If (1) The wind knocked over the vase and (2) The bleach ruined the linen report agency in this general sense, then so do (3) The cat knocked over the vase and (4) The dog ruined the linen. At a grammatical level, we apply an active/passive distinction to many kinds of inanimate objects and stuffs. What is more, this distinction has a fundamentum in re. There is a difference between changes of a substance x the proximate causes of which do lie within x and changes of x the proximate causes of which lie outside of x. This distinction is not hard and fast, and may not be applicable to all types of changes, especially if these are described from specialized perspectives. Thus branches of physics that dispense with notions like force or causation may well do without it. But the dichotomy applies relatively unproblematically to organisms as described in everyday parlance and most branches of biology. Indeed, the capacity to discern things that are self-moving or self-propelled – notably animate objects – appears to be a basic feature of human perception manifest in infants from the age of seven months.4 Indeed, when it comes to living things, the active/passive distinction takes on a new dimension. For here we can distinguish between what an organism does and what happens to it by reference to the organism’s needs. Thus plants fulfil their needs by growing roots, orienting their leaves, emitting chemical compounds to deter predators, etc. By contrast, they are subjected to various things that are often neutral to or detrimental to these needs. Hans-Johann Glock: Non–Human Knowledge and Non-Human Agency, in: Conceptions of Knowledge, ed. by Stefan Tolksdorf, Berlin 2012, 557–578, pursues a parallel strategy concerning animal knowledge. 3 E. g. Peter M. S. Hacker: Human Nature: The Categorical Framework, Oxford 2007, ch. 5. 4 See the contributions by Elizabeth S. Spelke et al. and Rochel Gelman et al. in: Causal Cognition: A Multidisciplinary Debate, ed. by Dan Sperber, David Premack and Ann James Premack, Oxford 1995. 2

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As regards animals, we encounter not just needs but also wants (goals and purposes). And here the aforementioned distinction applies with a vengeance. An animal can be thrown over a fence or trip accidentally, or it can jump over a fence or lie down as part of a trick it has learnt. Mutatis mutandis for not doing something. An animal can be prevented from doing something, but it can also refrain from doing something. For instance, a dog can be static because it is held in place in by fetters, yet it can also hold still because it wants to be groomed. In the former cases, it is not just needs that tend to remain unfulfilled; often wants and desires of the animal are frustrated or thwarted. And such frustration, just like the fulfilment of the wants, is manifest in the animal’s behaviour. In the case of some species – notably great apes and dogs – we can also recognize them on account of postures and facial expressions. Points like these underlie a prominent psychological definition, according to which action is simply behaviour directed towards a goal.5 They are also recognized by some philosophers. Thus Harry Frankfurt writes: “Consider the difference between what goes on when a spider moves its legs in making its way along the ground, and what goes on when its legs move in similar patterns and with similar effects because they are manipulated by a boy who has managed to tie strings to them. In the first case the movements are not simply purposive, as the spider’s digestive processes doubtless are. They are also attributable to the spider that makes them. In the second case the same movements occur but they are not made by the spider, to whom they merely happen”.6 The topic of our symposion, however, is action in the space of reasons. To assess the possibility of rational agency by animals, we need to consider various conceptions of rationality. Types of Rationality Unlike problem-solving strategies which are innate or result from rigid stimulus-response patterns established through conditioning, intelligent behaviour is plastic, responsive to altering circumstances, and therefore capable of tackling problems that the subject has never encountered before. Such intelligence is clearly a feature of some higher animals. It extends from problem-solving through trial and error, as with the Cappuchin monkeys in the trap tube task, to the kind of insight and foresight displayed by chimpanzees or Caledonian crows in the fashioning of tools.7 But are intelligent animals ipso facto rational? More generally, how is intelligence related to rationality? Both concepts feature a distinction between a general capacity and its successful or unsuccessful exercise. We can contrast a subject or agent A being rational with A being

See Alan White: Introduction, in: The Philosophy of Action, ed. by Alan White, Oxford 1979, 1. Harry Frankfurt: The Problem of Action, in: American Philosophical Quarterly 15 (1978), 162. 7 See Michael Tomasello and Joseph Call: Primate Cognition, Oxford 1997, 10–11 and ch. 3; Alex Kacelnik: Meanings of Rationality, in: Rational Animals?, ed. by Susan Hurley and Matthew Nudds, Oxford 2006, 101–102. 5 6

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irrational. Both epithets presuppose, however, that A possesses the faculty of reason in the first place, rather than being arational or non-rational. Similarly, only intelligent creatures, creatures that possess the ability to behave intelligently, can strictly speaking behave stupidly, namely by either failing to exercise their intelligence in a context in which they are capable of behaving intelligently, or by exercising their intelligence in an inadequate manner. There is also at least one difference that is important to our topic. Unlike ‘intelligence’, ‘rationality’ suggests a capacity for reasoning. This difference is often glossed instead in terms of a contrast between two kinds of rationality: ‘behavioural rationality’ is a feature of behavioural patterns and capacities that lie open to observation, whereas ‘process rationality’ is a special kind of behaviour generating process.8 But as Ryle ought to have taught us, even the most rational performances by human beings need not be accompanied (and a fortiori need not be caused) by conscious processes of reasoning.9 What counts is not what does or does not cross the mind of an agent A, but what A is capable of doing, e. g. by way of justifying her beliefs and actions. As regards rationality, it is more fruitful, therefore, to distinguish between externalist and internalist conceptions. Are A’s performances assessed exclusively by reference to external standards of which A may be entirely unaware? Or are they also assessed by reference to A’s own perspective, by reference to A’s beliefs, desires, intentions and preferences? Externalist conceptions have gained favour in the wake of Darwinism. A’s behaviour is rational in a Darwinist sense in so far as it maximizes A’s biological fitness. Animals are indisputably capable of Darwinist rationality. But Darwinist rationality does not correspond to our everyday notion. There is nothing irrational, for instance, about minimizing one’s biological fitness through effective contraception. More importantly, Darwinist rationality does not require animals to possess higher mental faculties, or even to be intelligent.

Purposes and Goals For these reasons, we need to go beyond external conceptions of rationality by including an internal perspective. An agent is rational in the internalist sense if she can perform an action in order to attain a good, subjectively conceived, something she herself wants. In other words, the agent needs to be capable of acting purposively, in pursuit of her own goals. By contrast to inanimate objects and plants, animals possess both cognitive and conative powers. They have not just needs of the kind invoked in externalist conceptions of rationality, but also wants, and they can pursue goods or goals and avoid things. In

The terminology hails from Susan Hurley and Matthew Nudds: The Questions of Animal Rationality: Theory and Evidence, in Rational Animals, ed. by Susan Hurley and Matthew Nudds, Oxford 2006, 1–83. But the distinction is more pervasive. 9 Gilbert Ryle: The Concept of Mind, London 1949, esp. ch.V. 8

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addition, higher animals have and adopt purposes or goals of their own, namely the goals they pursue, the ends for the sake of which they act. They engage in a wide range of activities. Some of these activities are directed not at meeting immediate needs, but rather at things that these animals enjoy or have learnt to enjoy. In pursuit of their goals, higher animals can persist in the face of obstacles, and they can explore various routes of overcoming these obstacles.10 Finally, these goals may conflict with their objective needs. An animal A can adopt a feasible, promising or optimal way of achieving its goals or satisfying its desires, independently of whether achieving these goals or satisfying these desires is conducive to A’s biological fitness or its objective well-being. In a perfectly good and established sense, the purpose or goal with which an action is performed counts as a reason for which the action is performed. Accordingly, acting purposively or in pursuit of a goal qualifies as acting for a reason. And in that sense some animals are obviously capable of acting for a reason.

Intentional explanation Acting in pursuit of a goal may also be seen as acting intentionally: the action is performed with the intention of achieving the goal. In contemporary theory of action, however, it is customary to put a slightly different gloss on the ideas of acting for a reason and of intentional action. According to this gloss, intentional actions or actions performed for a reason are those subject to ‘intentional’ or ‘rational explanations’, explanations that refer to the agent’s reasons – her beliefs, desires and intentions. Now, in science no less than in everyday life we apply such explanations not just to human behaviour but also to the behaviour of higher animals. In both cases we employ intentional verbs, and we explain the behaviour by reference to the fact that A believes that p, desires X, intends to Φ, etc. In fact, this may be the only feasible way of making sense of the complex and intelligent behaviour of some higher animals. Lingualists are nonetheless wont to dismiss this practice as a misleading (if useful) façon de parler. Thus according to Davidson11, employing intentional explanations in the case of animals is just as anthropomorphic as employing them in the case of a heat-seeking missile. Davidson’s analogy misses the mark, however. Attributing thoughts to animals is not just convenient, as he would have it, but entirely justified. It is based not on technological ignorance but on a biological insight, namely that animals have both wants and perceptual capacities. Admittedly, Davidson has produced a raft of independent arguments to the effect that animals can’t have beliefs (believing that p) or desires (desiring that p be the case). Yet these have been found wanting; and there is the counterargument that animals must be capable of believing or knowing that p since they are capable of perceiving that p.12 See Peter M. S. Hacker: Human Nature: The Categorical Framework, Oxford 2007, 130–40, 160–164. 11 Donald Davidson: Subjective, Intersubjective, Objective. Oxford: 2001, 102. 12 See Hans-Johann Glock: Animals, thoughts and concepts, in: Synthese 123 (2000), 35–64; Hans10

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Acting for a Reason If acting for reasons simply means acting in a way that is subject to intentional explanation, then animals can act for reasons. But the idea has been construed in potentially more demanding ways. In fact, the very idea of acting for a reason can be spelled out in two different fashions. First, there is an understanding of acting for a reason which can be labelled as psychologistic, psychological, internal or subjectivist. It goes back at least to Hume, and at present it is closely associated with Donald Davidson.13 According to this subjectivist conception, (S) A is capable of acting for a reason iff A’s actions are to be explained by reference to mental states of A (beliefs and ‘pro-attitudes’ like desires and intentions). Subjectivism insists that the beliefs and desires invoked in intentional explanations are mental states of the agent – states of desiring or wanting something and states of believing something. By contrast, according to a revisionist position that is currently gaining in momentum, the reasons for which agents act are not mental states of the agent herself. Instead, they are objective facts, facts which, save for special cases, concern the agent’s environment rather than her own mind. In so far as the reasons for which an agent acts can be said to be beliefs and desires at all, they are not subjective states of believing or desiring, but what is believed or what is desired.14 An agent A acts for a reason if A acts on account not of her own beliefs, but on account of facts, on account of how things are (from A’s perspective). Accordingly, (O) A is capable of acting for a reason iff A can act in the light of reasons, that is, in the light of facts (as A sees them). The objectivist conception of reasons does not imply an externalist conception of rationality. Although A’s reasons for Φ-ing are facts, they are facts which make Φ-ing good or attractive in A’s eyes (either instrumentally or intrinsically), that is, from the agent’s own perspective. For instance, if A employs intricate ‘foraging’ techniques in order to acquire a constant supply of M&Ms, this may be irrational by Darwinist lights, in that these exploits can be deleterious to A’s biological fitness. But A has a reason for seeking the M&Ms, namely that they are sweet, something which makes them attractive to A.

Johann Glock: Can animals judge?, in: Dialectica 64 (2010), 11–33. Davidson might respond that genuinely rational explanations – by contrast to intentional explanations of a less demanding kind – do not just refer to the agent’s beliefs and desires. In addition the relevant beliefs and desires must ‘rationalise the action’, cause ‘it in the right way – through a course of practical reasoning’. Essays on Actions and Events, Oxford 1980, 79. I shall address this line of reasoning below, when considering whether an agent A can only act for a reason if A can also reflect on and operate with reasons. 13 Donald Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 1980. 14 E. g. Jennifer Hornsby: Simple Mindedness, Cambridge 1997; Jonathan Dancy: Practical Reality, Oxford 2000; Rowland Stout: Action, Dublin 2005; Maria Alvarez: Kinds of Reasons: An Essay in the Philosophy of Action, Oxford 2010.

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There are important differences within the objectivist camp. For instance, I follow the majority of revisionists in denying not just that the reasons for which an agent acts are the internal causes of her actions but also that intentional explanations are causal explanations, at least if the latter is tied to efficient causation. By contrast, some revisionists accept the Davidsonian position with respect to intentional explanations and do not adopt a hermeneutic distinction between causal explanation and the understanding of intentional action.15 Nevertheless, objectivists tend to agree on two points. First, A’s reasons for Φ-ing is something that makes Φ-ing good or valuable in A’s eyes; secondly, what makes Φ-ing good or valuable in A’s eye is (by and large) not A’s believing something to be the case, but what is believed to be the case. The rationale for both claims is rooted in the idea that A’s reasons are determined by how A reasoned. Mindful of Ryle’s critique of intellectualism, this need not mean that a line of reasoning such as a practical syllogism must actually have crossed A’s mind. But it means that A could have reasoned in such an explicit manner. Barring special cases like selfdeception, my reason for Φ-ing is what I would or could specify in a since response to the question “Why are you Φ-ing?”. And this answer typically takes the form “Because p” rather than “Because I believe that p”. My reason for taking an umbrella is that it is raining, not that I believe that it is raining; for it is the weather rather than my own mental state that makes taking an umbrella good in my eyes. The subjectivist position is often defended by appeal to Bernard Williams’ distinction16 between “motivating” and “justifying reasons”: whereas the latter are conceded to be facts, the former are held to be mental states after all. But if the ‘motivating’ reasons for which people act and the ‘justifying’ reasons they have for acting belonged to distinct ontological categories, agents could not possibly act for a reason there is for them to act, which is absurd.17 Admittedly, sometimes we state our reasons in terms of what we believe, e. g. (5) I am taking an umbrella because I think / fear it is raining. Yet these are precisely cases in which the agent is not confident of knowing the pertinent facts. They can be plausibly construed not as referring to a subjective mental state, but as entering a qualification to the claim that specifies my reason. Accordingly, (5) can be paraphrased through a parenthetical construction like (5’) I am taking an umbrella because it is raining (I think / fear). In any event, even in cases in which the answers to the question “Why are you Φ-ing?” take on this form, the agent does not and would not reason on account of her subjective mental states. While I might say (6) I am going to the fridge because I hope that there is beer in there

15 16 17

E. g. Jennifer Hornsby: Simple Mindedness, Cambridge 1997, 129–53 Bernard Williams: Moral Luck, Cambridge 1981, 101–13, Jonathan Dancy: Practical Reality, Oxford 2000, ch. 5.

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I would not normally reason (7) I hope that there is beer in the fridge, so let me go there. At most, my reasoning would take account of the need to qualify my epistemic status with respect to what I take to be the case. But this can once more be captured by a parenthetical construction that avoids the appearance of referring to a subjective state of believing. (7’) There is beer in the fridge (I hope), so let me go there. Subjectivists will nonetheless insist that a statement of reasons cannot explain the action unless it makes reference to mental states. But while the causal explanation may need to refer to mental or neurophysiological states or events, this just goes to show that intentional explanations are not explanations in terms of efficient causation. Another defence of subjectivism appeals to error cases, cases in which the relevant beliefs of the agent are mistaken. If A Φ-ies in the mistaken belief that p, A’s reason cannot be the fact that p, there being no such fact. Instead, subjectivists insist, these reason must be A’s mental state of (falsely) believing that p. From this they infer, moreover, that in the veridical case these reasons must also be mental states of (truly) believing. Yet this automatic inference from the error to the veridical case is just as problematic concerning intentional action as the analogous argument from illusion concerning perception. Hence there is room for disjunctive accounts of reasons for action.18 Furthermore, one could maintain that in error cases there are no bona fide reasons for which the agent acts, but only apparent reasons.19 Finally, to mention my favourite option, one could insist that even in error cases the reasons for acting are what is believed rather than states of believing, namely possible states of affairs, or potential facts. Even in the case of A’s falsely believing that p there is a non-obtaining state of affairs that p, which makes Φ-ing attractive in A’s eyes, provided A regards it as a fact. Such a state of affairs is no more a subjective mental state than an obtaining state of affairs or fact; it is something believed to be the case rather than a believing. This is not the place to develop and defend a watertight version of objectivism. What matters for present purposes are two points: first, there are noteworthy reasons for adopting such an account; secondly, such an account removes an important obstacle to crediting animals with the capacity to act for reasons.

E. g. Frederick Stoutland: The real reasons, in: Human Action, Delibration and Causation, Dordrecht 1998. 19 Maria Alvarez: Kinds of Reasons: An Essay in the Philosophy of Action, Oxford 2010, ch. 5 18

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Acting in the light of reasons The obstacle arises from the idea that rational agency requires that the agent be able to act in the light of reasons. The action makes sense to the agent (as the rational or a rational thing to do), given those reasons. And this implies that the agent is aware of those reasons. At this point the contrast between subjectivism and objectivism makes a crucial difference. For subjectivism the reasons in the light of which A acts are subjective states causally antecedent to A’s action. In Davidson, for instance, A’s reason for Φ-ing is roughly speaking A’s mental state of believing that p will lead to q, in combination with her mental state of desiring that q. Now, if reasons for action are subjective states of agents, acting in their light seems to require A to entertain thoughts about A’s own thoughts. More specifically, it appears to require A to think about or represent its own states of believing and desiring. To put it more grandly, rational agents would have to possess not just consciousness of their environment, but self-consciousness, awareness of their own mental phenomena (states, processes, abilities, etc.). The same would hold if the reasons in the light of which A acts were psychological facts about A, e. g. the fact that A believes that p, desires X or wants to Φ. Such self-consciousness may be beyond the ken of animals. But the apparent obstacle does not even arise on the objectivist account of reasons for action. According to objectivism, reasons for action are facts or states of affairs, things that are believed rather than subjective states of believing. This immediately removes the threat posed to the idea of animals acting in the light of reasons. For animals are capable of acting in the light of facts or states of affairs, in the light of how things are in their environment or of how they believe them to be. This is just a corollary of their having cognitive capacities. In particular, animals are able to perceive and hence to believe and know things. They can also evaluate facts – or, in a more realistic ethological idiom, features of their environment – in the sense of responding to them as good or bad (e. g. attractive or threatening), and they can act accordingly. The upshot is that animals are capable of acting in the light of reasons, provided that these are construed as they should be: as objective features or conditions of the environment assessable from the perspective of agents.

Reasons and Having Reasons There are moderate lingualists who deny that animals can act in the light of reasons without appealing to subjectivism. Thus Peter Hacker suggests that there are reasons why animals act, but that they do not act for reasons in the sense of having reasons for acting.20 For instance, the elephant drinks from the well because it is thirsty. Yet accord20

Peter M. S. Hacker: Human Nature: The Categorical Framework, Oxford 2007, 239.

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ing to the lingualist gloss, this ‘because’ cannot refer to something objective that makes drinking from the well good from the elephant’s perspective. But to what is it supposed to refer instead? One alternative is that it refers simply to an inner state causing outward behaviour. In that case, however, the ‘reasons why’ animals act would simply be internal causes, rather than reasons as objectivists understand them. So this apparent compromise is at best open to subjectivists. A more accommodating alternative runs as follows. The ‘because’-clause indicates neither a reason for which the elephant drinks nor merely an inner cause; instead, it (obliquely) indicates the elephant’s goal in drinking from the well, namely to quench its thirst. Animals, the story goes, are capable of acting in pursuit of a goal and hence of acting purposively, but not of acting intentionally.21 This proposal is objectivist. And in so far as animals can be cognisant of the goals they are pursuing, it does not even per se militate against saying that animals act in the light of reasons, namely with a view to goals that they have adopted and are aware of. Kenny, for one, follows Aristotle in positively endorsing this idea: animals can be ‘conscious of their goals in the quite literal sense [sic!] they may see or smell what they are after’.22 At the same time, the proposal requires that the apparently unproblematic and indispensible explanations of animal behaviour in terms of ‘because p’ are reformulated exclusively in terms of goals. And it is far from clear how this could be done. We apply intentional explanations to animals because they display the same fundamental nexus between cognitive and conative capacities, between knowledge, belief, desire and action that we find in humans. Consider a well-known tale from Norman Malcolm. Suppose our dog is chasing the neighbor’s cat. The latter runs full tilt toward the oak tree, but suddenly swerves at the last moment and disappears up a nearby maple. The dog doesn’t see this manoeuvre and on arriving at the oak tree he rears up on his hind feet, paws at the trunk as if trying to scale it, and barks excitedly into the branches above. We who observe this whole episode from a window say, “He thinks that the cat went up that oak tree”.23 Similarly, if Malcolm’s dog had noticed the cat’s change of course and behaved accordingly, we would have no qualms about saying ‘The dog knows that the cat is in the oak tree’. In neither case is the dog’s behaviour explained simply by noting that it serves the goal of catching the cat. For the dog will pursue that goal in very different ways, depending on its view of the situation. Reference must be made to what the dog knows or believes. More generally, higher animals pursue their goals in certain ways rather than others because of what they know or believe to be the case in their environment.

21 See Stuart Hampshire: Thought and Action, London 1959; Anthony J.P. Kenny: Will, Freedom and Power, Oxford 1975, ch. II. 22 Ibid., 19, see 15. 23 Norman Malcolm: Thoughtless Brutes, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Society 46 (1972–73), 13.

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Next consider an example by Eric Marcus24, involving his cat Opie. (8) (9) (10) (11)

Opie tries to paw the pantry door open in order to retrieve the treats. Opie paws the pantry door open because he is retrieving the treats. Opie paws the pantry door open because he is trying to retrieve the treats. Opie paws the pantry door open because the treats are in the pantry.

If Opie fails to paw the pantry door open, (9) – (11) are out of order, just as they would be in the human case. If Opie succeeds at pawing the pantry door open, yet the pantry contains no treats, (10) is in order, while (9) and (11) are not. For these explanations require knowledge of facts. The analogy with human knowledge extends to Gettier style cases. Suppose Marcus has moved the treats to the shelf above the pantry. The treats then happen to fall behind the shelf and back into the pantry. Opie, not having observed the switch and suffering from a stuffy nose, is unaware of these developments. In that case we might say (12) Opie paws the door open because the treats are usually in the pantry or (13) Opie paws the door open because he expects the treats to be in the pantry. But Opie doesn’t paw the door open because the treats are in the pantry full stop, as in (11). For ‘his expectation’s being met was merely fortuitous’.

Reflecting on Reasons Let us turn to another lingualist move that does not presuppose subjectivism. Some authors deny that animals can act in the light of reasons, on the grounds that they cannot reflect on their reasons.25 Thus one might hold that it is not enough for A to have beliefs and desires that rationalise the action, i. e. render it intelligible to us; in addition, A herself must be aware of the rationalising relation. To put it differently, it does not suffice if A is aware of facts that, as we realize, render the action desirable for A. A must also recognize that the action is desirable because it fits the reasons. And that presupposes that the agent be capable of thinking about or reflecting on her reasons, and of thinking about them as reasons.26

Eric Marcuse: Rational Causation, Cambridge/Mass. 2012, ch. 3. See Peter M. S. Hacker: Human Nature: The Categorical Framework, Oxford 2007, 203–4n; John McDowell: Mind and World, Cambridge 1996, 70; Harry G. Frankfurt: The Reasons of Love, Princeton 2004, 18–9; Robert Brandom: Conceptual content and discursive practice, in: Grazer Philosophische Studien 81 (2010), 13–35. 26 I owe this formulation of the objection to Maria Alvarez. She links it to Aquinas’ three-fold distinction between having an end, being aware of the end, and being aware of the end ‘as an end’. See also Anthony J. P. Kenny: Will, Freedom and Power, Oxford 1975, 19–21. 24 25

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Admittedly there is one mental power that does presuppose the power to reflect on reasons, namely the power to deliberate. But as we shall see, it need not presuppose the ability to justify one’s action verbally. Furthermore, while deliberation requires a capacity to consider reasons – i. e. facts pertinent to one’s desires and goals – it is at any rate not obvious that this in turn presupposes the capacity to consider reasons as reasons. There is no general principle according to which being aware of or considering an F entails being aware of it as an F, and hence possession of the concept of an F. And even if there is a rationale favouring such a demand in this specific case, that demand has an unpalatable implication. It would restrict the consideration of reasons to creatures in possession of the full conceptual apparatus of reasons and practical reasoning. And that might well disqualify even young children perfectly capable of expressing simple lines of practical reasoning in language. In any event, the lingualist argument currently under consideration is based on the assumption that one can only act for a reason, in response to reasons, if one is able to reflect on reasons. That assumption is problematic, at least if reflecting on reasons requires the agent to entertain self-conscious thoughts about certain things (facts, goals) being her reasons (i. e. thoughts of the form ‘My reason for Φ-ing is that p’). Indeed, there is a positive argument for keeping the having of reasons separate from reflecting on reasons: A couldn’t develop a capacity to reflect on A’s reasons if A didn’t have reasons to begin with.27 Lingualists could respond, however, that there is no distinction between a creature that can act for reasons and one that can reflect on these reasons. Without the capacity for reflection and hence, they continue, without the gift of language, an agent cannot act for a reason. Having reasons and being able to reflect on them come as a package. But how can this holistic response account for the intermediate stages that lie between the human infant, who can neither act for reasons nor reflect on them, and the adult, who can do both? Furthermore, how can lingualism do justice to the intentional explanation of animal behaviour? Unlike machines or plants, animals can act for purposes, adopt purposes of their own, and adapt their behaviour to circumstances in pursuit of these purposes. Yet it is unclear what this could amount to, if such animals could not act in the light of facts pertinent to achieving those purposes. For instance, we explain a well-known behaviour among some chimpanzees by saying that they batter nuts with hard stones in order to, or for the purpose of cracking them. This implies that they act on account of the fact that nuts crack when treated in this way.

Reasoning and deliberation Nevertheless there may be a case for insisting that in order to act for reasons in the fullest sense, it does not suffice to be responsive to reasons (something feasible for animals on an objectivist construal); the agent must also be capable of operating with reasons. 27

Alasdair MacIntyre: Dependent Rational Animals, London 1999, 56.

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After all, as I mentioned in my brief defence of objectivism, the reasons of fully linguistic creatures are closely tied to how they reasoned or could have reasoned. And such deliberation or practical reasoning seems to be the prerogative of language users. According to a plausible account, practical reasoning takes the following form28: P1 P2 C

X is to be brought about If I Φ then X So I’ll Φ!

By contrast to theoretical reasoning, the conclusions of practical inferences are not assertions but resolves or expressions of intentions. This does not count in favour of lingualism, however. As regards context (problem), demeanour (e. g. head scratching) and result (problem solution), the behaviour of chimpanzees, for instance, resembles that of human beings. They interrupt an activity, examine an obstacle, pursue a certain solution, discard one type of tool in favour of another, resume their activity in a purposeful and determined fashion. All of this is accompanied, moreover, by gestures and grimaces displaying displeasure, hesitation, resolve and satisfaction. In short, it is perfectly possible for nonlinguistic creatures to manifest not just intentions but also choices, resolves or decisions. A more serious difficulty for the idea of animal reasoning is that P2 is an ‘I thought’, which seems to require self-consciousness and thereby language. However, there are forms of self-awareness which do not presuppose consciousness of one’s own mental phenomena (states, processes, etc.), let alone consciousness of a ‘self’, and which do not require language. Great apes and dolphins, for instance, can recognize themselves, i. e. their own bodies, in mirrors and are also aware of their own status and role within complex social groups.29 The crucial point is that P2 requires only such simple selfawareness, namely awareness of one’s own actions and their consequences. What is more, this kind of self-awareness is already implied by the very idea of intentional action. For behaviour can only be explained by reference to intentions or reasons if it is under the control of the agent, and such control clearly presupposes awareness of what one is doing. Similarly, one can ascribe wants and goals to an agent A only if A is capable of recognizing having attained what A wants. Yet this again implies self-awareness of a minimal kind. Nor should we be all that surprised by the fact that animals can be aware of what they are doing. This is a straightforward outgrowth of kinaesthetic knowledge and essential to the survival of higher animals that need to adapt their behaviour to changing circumstances in an intelligent manner. Some higher animals can also choose in a deliberate way, i. e. one which is controlled and responsive to the situation.30 For instance, chimpanzees choose tools for cracking nuts or hunting insects in a deliberate and foresightful way, often out of sight of

Anthony J. P. Kenny: The Metaphysics of Mind, Oxford 1989, 43–45. Josua M. Plotnik, Frans B. M. de Waal and Diana Reiss: Self-recognition in an Asian Elephant, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, London 2006, 103, 17053–17057; Michael Tomasello and Joseph Call: Primate Cognition, Oxford 1997, Part II. 30 See Hans-Johann Glock: Can animals judge?, in: Dialectica 64 (2010), 11–33. 28 29

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the location in which the tool is to be used. Furthermore, as indicated above, this process closely resembles human instrumental reasoning in concrete situations. Therefore we can speak of deliberation, if not reasoning, here. Such non-linguistic creatures can weigh the conflicting claims of objective features of the situation, including their own behaviour, and act accordingly. Finally, great apes and cetaceans, at least, can also learn to distinguish means from ends. They display awareness of the fact that one and the same end can be achieved by different means and that one and the same means – for instance a tool – can serve different ends.31

Animal Action There is no reason for denying that animals are capable of acting for reasons. The attempts to sustain this denial are either question begging, or fallacious, or they lead to conclusions such as that animals cannot do things intentionally or because they want to do them, or that they cannot adapt their behaviour to their goals and circumstances, or even that they cannot perceive. And these conclusions are unpalatable or worse. Nevertheless, let us grant for the sake of argument, that animals cannot act in the light of reasons and that our practice of applying intentional explanations to their behaviour can somehow be debunked. In that case we would have to conclude that animals cannot act for reasons at all. Would we also have to conclude that they cannot act at all, but merely display behaviour? Were the behaviourists right to insist that, at least strictly speaking, all animal activity, however evolved and plastic, ultimately reduces to mechanical reactions? There is only one point in favour of such a radical conclusion. We speak more readily of animal behaviour than of acts animals perform.32 On the other hand, when we turn from highly general terms like “action” and “behaviour” to specific action verbs, the picture is very different. Animals can do and actually do many of the things that we do. They forage and search, hunt and kill prey, they eat, court and mate, defend their off-spring, groom, etc. Some of them also play, prepare and hide food, use and manufacture tools, form alliances, fight, make up, etc. This way of describing and explaining animal activity is tried and tested. Nor should we concede that animals can act only in an attenuated sense. On the contrary, the kind of activity we share with higher animals is not a limiting case of action, but the basic and paradigmatic one. It is the kind of activity one can invoke to explain what an action is, or what it is to do something. As Goethe’s Faust sapiently reminds us, in the beginning was the deed rather than the word. Even if animals could not act for reasons, therefore, their behaviour would still be purposive and flexible enough to qualify as agency.

See Michael Tomasello and Joseph Call: Primate Cognition, Oxford 1997, 318; Susan Hurley: Making sense of animals, in: Susan Hurley and Matthew Nudds (eds): Rational Animals?, Oxford 2006, 148–149. 32 Peter M. S. Hacker: Human Nature: The Categorical Framework, Oxford 2007, 140. 31

Beyond Assimilationism and Differentialism Comment on Glock Geert Keil

In a number of articles, Hans-Johann Glock has argued against the “lingualist” view that higher mental capacities are a prerogative of language-users. He has defended the “assimilationist” claim that the mental capacities of humans and of non-human animals differ only in degree. In the paper under discussion, Glock argues that animals are capable of acting for reasons, provided that reasons are construed along the lines of the new “objectivist” theory of practical reasons.

1. Humans as paradigm cases It is notoriously hard to specify necessary and sufficient conditions for intentional phenomena such as believing, desiring, having intentions, or acting for reasons. Without any doubt, however, human beings are paradigmatic instances. It cannot turn out that no human has ever held a belief, formed an intention, or acted on a reason. No other animal plays this paradigmatic role. Paradigm case arguments have often been misused to advance dogmatic assertions. Wittgenstein’s under-argued dictum, “We only say of a human being and what is like one that it thinks”,1 is a case in point. By contrast, my claim is quite modest. It is simply that humans have various mental abilities while it is at least an open question whether other animals exhibit a similar mentality. This being said, the question presents itself as to how similar and in what respects a non-human animal must be similar in order to join the club. Note that this top-down approach to the issue of animal mentality is not biased in favour of “differentialism” and against “assimilationism”, in the sense that Glock uses these terms: “Differentialists maintain that there are crucial qualitative differences separating us from animals. Assimilationists maintain that the differences are merely quantitative and gradual.”2 The how-similar approach does not prejudge this issue. Both extreme confidence and extreme skepticism about animal minds remain live options. Other research projects such as the bottom-up question of how cognitive abilities evolved remain perfectly legitimate. The point of the how-similar approach is just to circumvent, for the present

Ludwig Wittgenstein: Philosophical Investigations, Oxford 1953, § 360. Hans-Johann Glock: “Animal Agency”, in: Timothy O’Connor and Constantine Sandis (Eds.), A Companion to the Philosophy of Action, Oxford 2010, 384–392, at 384. 1 2

Beyond Assimilationism and Differentialism

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purpose, the intricate project of devising necessary and sufficient conditions for mental phenomena. If any non-human animal should be capable of believing, forming an intention, or acting on a reason, then its abilities must be sufficiently similar to paradigmatic instances, however ill-understood the phenomenon is.

2. On similarities and differences Similarity comes cheap. Everything is like everything else, and in endless ways. If meant to be informative, a statement of similarity must be related to some point of comparison. Furthermore, in many of the relevant respects, similarity is a matter of degree. As regards the similarities between humans and non-human animals, we can say a little more. First, a genus proximum suggests itself. Both are animals. Second, we have selected, for the present purpose, a point of comparison: their abilities. When comparing the abilities of human and nonhuman animals, we find numerous and striking similarities as well as dissimilarities. Most similarities are grounded in biology. Both humans and other animals have needs, live and die, reproduce, have sense organs, can move around, must show a certain amount of flexibility in their behaviour to stay alive. None of these common features hold for inanimate substances and artifacts. On the other hand, there are striking dissimilarities. Humans have invented science, morality, law, religion, poetry, irony, and philosophy. They transcend their cognitive niche by building telescopes, microscopes, Geiger counters and large hadron colliders. All humans by nature desire knowledge, even where no evolutionary benefit awaits. They know right and wrong, though not always right from wrong. They wonder about animal rights, while no other animal has ever wondered about human rights. Most notably, humans outperform other animals in a respect that marks the fairest conceivable standard: killing and avoiding being killed. Humans have devised means to defend their lives against tigers, rattlesnakes and scorpions. Conversely, the animals have not. Against our weapons, they are deplorably helpless. Given these long, incomplete lists of similarities and differences, the battle of the giants between “assimilationism” and “differentialism” loses much of its bite. Both the similarities and the differences between human and non-human animals are numerous, striking and relevant. Insisting exclusively on one of the two lists verges on being silly.

3. Differences in kind and differences in degree Even if a point of comparison has been agreed upon, the problem remains that similarity is a matter of degree. Most or even all mental abilities admit of degrees. A telling sign is the large number of modifier phrases to be found in the literature on animal mentality. Here is a selection, taken from Glock’s and Birnbacher’s papers in this volume: “only in an attenuated sense”, “at least rudimentary kinds of”, “not in a full-blown sense”, “at least simple judgments or beliefs”, “reason in the fullest sense”. These mod-

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Kolloquium 19 · Geert Keil

ifiers grade the degree of possession of mental abilities, and of the applicability of the respective predicates. A strong argument for such gradation – though not for assimilationism – is provided by the brute facts of biological evolution and ontogenetic development. Mental abilities have not been around for all time, but they now exist. Arguably, they have evolved through intermediate stages. The question as to when exactly an emerging ability F began to deserve its name seems otiose. The same holds for ontogeny. On what day of his life did Little Hanjo carry out his first act of deliberation? What was the first action that he did for a reason? There seems to be no fact of the matter. As Wittgenstein once put it: “Light dawns gradually over the whole”.3

I insist that this holistic response as such neither supports assimilationism nor differentialism. Glock seems to think otherwise. He wonders how Wittgenstein’s “holistic lingualism”, can “do justice to the intermediary stages involved in every dawn”4, in particular, to the “stages that lie between the human infant, who can neither act for reasons nor reflect on them, and the adult, who can both?” (911)5 Now, what would “doing justice to intermediary stages” amount to? Are new terms needed that denote proto-intentions and proto-deliberations? We may say that “proto-deliberation” is such a term. It comes cheap, just as modifiers like “in an attenuated sense” and “at least rudimentary kinds of” do. Contrary to what Glock suggests, the awkwardness involved in finding apt descriptions of the intermediate stages of cognitive development has nothing to do with differentialism or with lingualist assumptions about the mind. Glock’s own account does not fare better. As speakers of a natural language, we are all in the same boat insofar as our intentional vocabulary is tailor-made for the fully developed phenomenon: for the mental capacities and performances of adult specimens of our species. All cases that fall short of the paradigm − infants, severely mentally retarded or handicapped persons, nonhuman animals, robots – put us in a quandary. This quandary is familiar to us from the debate on semantic vagueness. Vague predicates admit borderline cases and give rise to the paradox of the heap. Where is the line between red and orange, where does baldness begin, what makes a heap a heap, when did Little Hanjo form his first intention? It is tempting to turn the insight that cognitive abilities come in degrees into an argument for assimilationism. But the temptation should be resisted. Continuity as such does not speak for assimilationism any more than the existence of borderline cases speaks for the nonexistence of clear-cut cases. The lesson to be drawn from the Sorites paradox is that the nonexistence of a sharp cut-off is compatible with the existence of clear-cut cases. The difference in hairiness between Telly Savalas and Reinhold Messner is a clear as can be. Obviously, smoothness of transition, and even perceptual indistinguishability between neighbouring eleLudwig Wittgenstein: On Certainty, Oxford 1969, § 141. Hans-Johann Glock: “Can Animals Act For Reasons?”, Inquiry 52 (2009), 232–254, at 247. 5 Page numbers without further reference relate to Glock’s contribution to this volume, “Animals: Agency, Reasons and Reasoning”. 3 4

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ments in a Sorites series, can go along with striking differences between starting point and end point. The similarity relation is not transitive. Assimilationists hold that the mental abilities of humans and non-human animals differ only in degree. Differentialists hold that they differ in kind. Now what exactly is the difference between a vast gradual difference and a difference in kind? Is there a fact of the matter? As long as neither camp has solved the Sorites paradox, the question as to whether a certain difference in a mental ability is gradual or qualitative strikes me as ill-defined. On closer observation, Glock’s own views about animal minds are anything but gradualist. His main criterion for animal rationality is that the animal’s behaviour be “plastic, responsive to altering circumstances” (902). Such plasticity is exhibited only by “some higher animals” whose problem-solving strategies “are not innate or result from rigid stimulus-response patterns” (ibid.). Accordingly, Glock has a differentialist view concerning the relation between non-rational and rational animals. He just draws the line elsewhere in the animal kingdom, compared to anthropological differentialism. Hence he himself faces the hard question of where to draw the line. If primates, cats, dogs and crows exhibit enough plasticity and flexibility in their behaviour while, say, fruit flies do not, then at what point exactly did these features come into existence in evolutionary history? It is very plausible that for any proposed demarcation, the animal kingdom will supply intermediate stages and borderline cases. So be it. Plausibly, animal rationality and animal mentality in all their dimensions and aspects come in degrees. Still, evolutionary continuity does not suffice to support assimilationist views. As long as the difference between a vast gradual difference and a difference in kind resists analysis, the question of whether the mental abilities of human and non-human animals differ in kind or in degree is ill-defined. Far from supporting one of the parties, the availability of Soritean little-by-little arguments to absurd conclusions shows how futile and unhelpful the large-scale distinction between assimilationism and differentialism is.

4. The case against lingualism: Who is begging the question? “Lingualism” about animal mentality, according to Glock, “maintains on a priori conceptual grounds that their lack of language precludes animals from possessing mental capacities at all, or at least the ‘higher’ mental capacities required for agency” (900). “Lingualist skepticism about animal mentality”6 is the main target of his criticism. Given his definition of “lingualism”, all lingualist arguments to the effect that certain capacities are a prerogative of language-users turn out to be question-begging. Glock construes lingualism as an a priori claim. This move is conducive to shifting the burden of proof to the lingualist. But why should a Davidsonian lingualist accept this move? He might invoke Morgan’s canon instead and argue that behavioural evi6

Glock: “Can Animals Act for Reasons?”, op. cit., 232.

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Kolloquium 19 · Geert Keil

dence alone does not suffice to ascribe the higher mental capacities required for genuine agency. Being able to communicate one’s attitudes to other language users would suffice, but since this ability presupposes sharing a language, it cannot serve for Glock as a touchstone of higher mental capacities. Those who give language-involving capacities centre stage, on the other hand, might well argue that their centrality shows that having a language matters. There is no easy way out of this dialectical situation. In the absence of independent arguments, dismissing a “lingualist” and “excessively intellectualist […] picture of human action”7 does not cut much ice. In an undemanding sense, animals can surely perform “actions”.8 I agree that there is an air of apriorism to some of Davidson’s arguments against animal mentality. Pressing the distinction between empirical and a priori grounds too hard is, however, unwise. It is known from other cases that firmly established empirical correlations in the long run tend to become entrenched as conceptual connections. Critics of lingualism hold that animals can entertain those beliefs and thoughts that do not require linguistic representation. Some lingualists claim that this class is empty. Ruth Millikan argues that mental states of a certain kind, namely those with a propositional structure, require the possession of theoretical “unicepts”, which only humans have developed.9 Similarly, Davidson does not make linguistic capacities obligatory on a priori grounds, but because they are required for the ability to grasp propositions: “Language is the organ of propositional perception. Seeing sights and hearing sounds does not require thoughts with propositional content; perceiving how things are does, and this ability develops along with language.”10 For the purpose of pinpointing the anthropological difference, this is the right line to take, I think. The challenge for the assimilationist is that the class of language-involving mental states is so large. It is not just that some thoughts and ideas never occur to non-human animals, in the way that I often think about soccer while my wife couldn’t care less. The point is rather that a huge and highly relevant class of beliefs, desires, thoughts, and intentions is beyond the reach of nun-human animals, because they do not possess, and cannot acquire, the required concepts.

Glock: “Can Animals Act for Reasons?”, op. cit., 246. Here are two polemic analogies: Can brains compute? Surely they can. Just rid yourself of the preoccupation that computation has anything to do with manipulating numbers. Does the navigation system in my car know anything? Surely it does. Just rid yourself of the preoccupation that knowledge has anything to do with having justified true beliefs. 9 “A unicept is a taking or holding as one − it is a capacity which takes in many proximal stimulations and holds them as one distal object, property or kind. […] Animals too must have unicepts of distal things. My suggestion will be that only humans have theoretical unicepts, however. Other animals have only practical unicepts.” Ruth G. Millikan: “What’s inside a thinking animal?”, this volume, 890–1. 10 Donald Davidson: “Seeing Through Language”, in: John Preston (ed.), Thought and Language, Cambridge 1997, 15–27, at 22. 7 8

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5. Acting for reasons − can objectivism about practical reasons help? Glock’s main concern in his paper is the capacity to act for reasons. He claims that many non-human animals share this capacity and he tries to support his view by invoking the new “objectivistic” account of practical reasons, according to which reasons are facts or states of affairs, rather than beliefs or belief-desire pairs. The objectivistic theory, according to Glock, “removes an important obstacle to crediting animals with the capacity to act for reasons” (907). This move strikes me as audacious, since the objectivistic theory has a number of well-known shortcomings in its original application to human agency. It would be quite surprising if these shortcomings could be remedied by extending, or misapplying, the theory to new cases. The new theory is opposed to the received view, as held by Hume and Davidson. Here is a concise expression of the received view: “Your stepping on my toes neither explains nor justifies my stepping on your toes unless I believe you stepped on my toes, but the belief alone, true or false, explains my action”.11 Glock calls the received belief/ desire theory “subjectivist” and depicts the objectivist alternative thus: “In so far as the reasons for which an agent acts can be said to be beliefs and desires at all, they are not subjective states of believing or desiring, but what is believed or what is desired” (905). In the remainder of this comment, I shall argue that objectivism about practical reasons does not help to defend the claim that non-human animals can act for reasons. My views are the following: (i)

The ontological question as to what practical reasons essentially are, either mental states or facts, sets the debate on the wrong track. (ii) Both the objectivist and the subjectivist theory have both absurd and acceptable readings. (iii) On the readings that make them acceptable, both theories converge. (iv) On these readings, animals cannot act for reasons. I cannot explain and defend these views in detail here. To begin with, let us take a look at how Glock advances the objectivist view: “My reason for Φ-ing is what I would or could specify in a sincere response to the question ‘Why are you Φ-ing?’” (906). I agree. Reasons are answers to why-questions. (Should I add that animals do not put and answer such questions?) Then Glock provides a piece of linguistic evidence: “And this answer typically takes the form ‘Because p’ rather than ‘Because I believe that p’” (ibid.) Agreed, again. The agent would however not answer “Because p” unless he believed that p. Remember Davidson’s vignette: The mere fact that someone stepped on my toes does not explain my vengeful mood, but my belief does. The crucial point is that in giving the answer “Because p” it is tacitly understood that I believe that p. It would be redundant and, for Gricean reasons, even inappropriate for me to mention my belief Donald Davidson: “Actions, Reasons and Causes”, in his Essays on Actions and Events, Oxford 1980, 8. 11

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rather than the believed fact. Hence, the proferred piece of linguistic evidence does not at all speak against the belief/desire theory. Glock continues: “My reason for taking an umbrella is that it is raining, not that I believe that it is raining; for it is the weather rather than my own mental state that makes taking an umbrella good in my eyes” (ibid.). As is generally known, “belief” is multiply ambiguous. In the present context, the ambiguity between what is believed and the mental state of believing is relevant. Objectivists typically use the content-state ambiguity in order to portray the subjectivist theory as absurd. Glock is no exception. He claims that Davidson holds the following: “In Davidson, for instance, A’s reason for Φ-ing is roughly speaking A’s mental state of believing that p will lead to q, in combination with her mental state of desiring that q” (908). This is very roughly speaking. Glock resolves the content-state ambiguity in an uncharitable way, and actually at odds with what Davidson explicitly says in many places. In Davidson’s theory of action explanation, mental attitudes play a dual role. They both cause and rationalize the action. On closer inspection, though, the item that causes and the item that rationalizes fall apart. It is the occurrence of the attitude, i. e. the mental event, which causes the action, while it is the content of the attitude which rationalizes the action. The causal relation holds between two occurrences, that is, between the mental event and the bodily movement. The relation of rationalization holds between the propositional content of the mental attitude and the description of the action. In the slogan “reasons are causes”, sometimes regarded as the hallmark of Davidson’s theory, these subtleties get lost. But compare what Davidson actually says: “the propositional contents of the explaining attitudes and beliefs must bear a certain logical relation to the description under which the action is explained”.12 The undisputed fact that propositional contents and action descriptions cannot be causally related creates serious trouble for the alignment of the causal part of Davidson’s theory, but this is not our topic today. In Davidson’s theory of reasons explanations, the content-state ambiguity of the term “belief” is resolved in favour of belief contents. Now for the objectivist theory, or rather for Glock’s version of it. Glock does not simply state that reasons are facts rather than beliefs. His views are more subtle: “Reasons […] are not subjective states of believing or desiring, but what is believed or what is desired. […] An agent A […] is capable of acting for a reason iff A can act in the light of reasons, that is, in the light of facts (as A sees them).” (905) I fail to see the dramatic difference between this account and a non-absurd reading of the received view. Acting for reasons means acting “in the light of facts”, to which Glock adds the subjectivist clause “as A sees them”. The clause accounts for the problem, fatal to crude versions of objectivism, that the mere presence of some unperceived fact in the agent’s surroundings will not elicit, let alone motivate, any reaction from him. Taking Glock’s subjectivist addendum seriously, a better way to express his view would be that, rather than being identical to reasons, facts yield reasons. Both Glock 12

Davidson: Essays on Actions and Events, op. cit., xii.

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and Davidson leave some conceptual slack between the equated items. For Davidson, giving a reason is a matter of naming attitudes, rather than its consisting of these attitudes.13 In Glock, the slack is provided by the “in the light of”-relation. What matters is not the ‘illuminated’ entity but the agent’s acting in the light of it, thereby adopting the fact as a reason. I submit that on charitable readings, both theories of practical reasons show a high degree of convergence. But instead of tracing in detail the required exegetical clarifications and refinements, I shall state in my own words why the question as to what reasons essentially are, viz. either mental states or facts, is misleading, and second, why a non-misleading account of what it takes to act for a reason is bad news for Glock’s crediting animals with this capacity. Reasons are answers to why-questions. Practical reasons are answers to the question of why someone has done something. The question as to which ontological category reasons belong leads us astray. What sheds light on the phenomenon is the practice of giving reasons, rather than the thing given. The point of this practice lies not in what is being mentioned, but in the relation between what is mentioned and what it is mentioned for. Citing something as a reason is to characterize the item relationally.14 Plausible versions of subjectivism and objectivism coincide in citing what is believed and what is desired, hence propositional contents, as reasons. A propositional content is not a reason, but becomes one if it is adduced in the appropriate justificatory context. Facts obtain, beliefs are held, but reasons only come into existence by being adopted as reasons. Now if something along these lines is correct, then the problem with non-human animals is that they are not engaged in the practice of giving and taking reasons. They cannot represent their beliefs, if they have any, as something that speaks for or against an action. The “in-the-light-of”-relation is opaque to them. The light being shed is in the eye of the beholder. Glock is remarkably close to such a view of practical reasoning when he holds that “what counts instead [of conscious processes of reasoning] is the capacity of the agent A, for instance, the ability to justify her beliefs and actions”.15 This is grist to my mill. What counts is, in a nutshell, the capacity of logon didonai. This is bad news for assimilationism, since justifying one’s actions by giving reasons is a capacity that nonhuman animals undisputedly lack. Logon didonai, the ability to give reasons, does not only matter for action explanations, it matters crucially for pinpointing the anthropological difference. Insisting, as Glock does, that animals are nevertheless capable of acting for reasons, since “acting purposively or in pursuit of a goal qualifies as acting for a reason” (904), and furthermore, since facts obtain in the light of which their behaviour

13 “Giving the reason why an agent did something is often a matter of naming a pro-attitude or the related belief or both.” Davidson: “Actions, Reasons and Causes”, op. cit., 4. 14 Compare: citing something as a cause is not introducing a new entity, but redescribing an event in terms of its causal role, i. e., by its relations to other events. 15 Glock: “Can Animals Act for Reasons?”, op. cit., 238.

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Kolloquium 19 · Geert Keil

is purposive, strikes me as a misuse of the phrase “acting for a reason”. Exhibiting behaviour that is evaluable in the light of facts by sensible evaluators is quite unlike being able to make up one’s mind about what speaks for an action and acting on such considerations. Using the same description for such different phenomena is not illuminating.16

16

Thanks to Louise Röska-Hardy and to Rory Domm for polishing my English.

KOLLOQUIUM 20

Eigene Gründe Kolloquiumsleitung: Monika Betzler

Monika Betzler Einführung Beate Roessler Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen Christian Budnik Eigene Gründe und die Perspektive der ersten Person Rahel Jaeggi Seine eigenen Gründe haben (können). Überlegungen zum Verhältnis von Aneignung, Fremdheit und Emanzipation Christian Seidel Eigene Gründe – Wozu eigentlich? Einige Überlegungen in Richtung einer deflationären Auffassung

Einführung Monika Betzler

Was ›eigene Gründe‹ sind und inwiefern sie relevant sind, ist bisher kaum direkter Gegenstand philosophischer Debatten gewesen. Auch wenn der Ausdruck bisweilen benutzt wird – in der englischsprachigen Diskussion ist meist von »reasons of one’s own« die Rede1 – gibt es wenig systematische Versuche, die zeigen, was Gründe zu ›eigenen‹ macht. Genausowenig existiert eine geteilte Auffassung darüber, warum eine Konzeption eigener Gründe notwendig ist. Die eingeladenen Beiträge zum Kolloquium »eigene Gründe« machen es sich zum Ziel, zur Natur eigener Gründe sowie zu deren normativer Bedeutung Stellung zu nehmen. Dies wird durch den Umstand motiviert, dass in ganz verschiedenen philosophischen Kontexten eigenen Gründen implizit eine normative Signifikanz zuzukommen scheint. Ich möchte daher zu Beginn kurz die Verwendungen des Adjektivs ›eigen‹ in diesen verschiedenen Kontexten aufzeigen. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, inwiefern diese Verwendungen normativ bedeutsam sein können und die Rede von ›eigenen Gründen‹ motivieren. Philosophen und Philosophinnen, die sich mit der Möglichkeit von Willensfreiheit beschäftigen, verweisen z. B. auf den eigenen Willen einer Person. In der AutonomieDebatte, in der eigene Gründe besonders häufig bemüht werden, sollen diese ein wesentliches Kriterium selbstbestimmten Handelns darstellen. Eine Person ist z. B. autonom, wenn sie nach ihren eigenen Wünschen oder eigenen Werten handelt. In Theorien des Selbstwissens geht es u. a. um die Frage, wie man von seinem eigenen Selbst, seinem eigenen Körper oder seinem eigenen Geist wissen kann. In Theorien praktischer Rationalität ist mitunter von Bedeutung, wie man Entscheidungen für die eigene Zukunft zu treffen, eigene Absichten auszubilden, eine eigene Identität erwerben und somit das eigene Leben zu gestalten vermag. In der Erkenntnistheorie geht es u. a. darum, wie man zu eigenen Meinungen kommt bzw. diesen misstrauen kann. Handlungstheoretiker fragen sich, wie wir von unseren eigenen Handlungen wissen können. Und Ethikerinnen beschäftigen sich mit dem Problem, ob die eigenen Handlungen einer Person und somit das, was sie selbst tut, eine größere moralische Relevanz besitzt als das, was sie nur geschehen lässt. So wird Personen auch eine eigene Verantwortung für ihr beabsichtigtes Handeln zugeschrieben, die sich von der negativen Verantwortung für unbeabsichtigte Nebenwirkungen ihres Tuns oder für Unterlassungen unterscheidet. Auch die eigenen Beziehungen spielen in der ethischen Debatte um Parteilichkeit und Unparteilichkeit der Moral eine besondere Rolle. So glauben viele, dass wir unsere eigenen Partner, Kinder oder Freunde gegenüber Fremden in moralischer Hinsicht bevorzugen sollen. 1

Siehe M. Sie, M. Slors und B. van den Brink (Hg.): Reasons of One’s Own, Aldershot 2004.

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Kolloquium 20 · Monika Betzler

Diese zahlreichen Verwendungen des Adjektivs ›eigen‹ in so unterschiedlichen Kontexten scheinen in vielen Fällen auf gemeinsamen Voraussetzungen zu basieren. Erstens scheinen sie häufig davon auszugehen, dass wir als Wesen mit Selbstbewusstsein und Vernunft uns auf uns selbst, auf Bestandteile unserer selbst, wie etwa unsere mentalen Zustände, deren Gehalt, unsere Handlungen und Bindungen beziehen oder diesen Selbstbezug anderen zuschreiben können. Zweites kann diese Bezugnahme häufig gelingen oder misslingen. So ist es eine offene Frage, ob es wirklich mein eigener Wille ist, oder ob mich wirklich meine eigenen Wünsche zum Handeln bewegen oder meine eigenen Meinungen mein Urteil gründen. Drittens scheint das, was einem eigen ist, häufig mit einem bestimmten Wert verbunden zu sein. Mein eigenes Leben hat eine gewisse Bedeutung für mich, die es für andere nicht hat. Desgleichen gilt für meine eigenen Freunde. Genau an dieser Stelle kann die Rede von Gründen ins Spiel kommen: Sofern die Bezugnahme als geglückt oder als wertvoll ausgewiesen wird, scheint sie eine Quelle von Gründen zu sein.2 Das heisst, sie scheint Gründe zu generieren. Diese besitzen insofern und unabhängig vom spezifischen Kontext eine normative Relevanz, als sie in einer besonderen Weise im erfolgreichen Selbstbezug des Akteurs oder dem Bezug des Akteurs zu seinem wie auch immer zu bestimmenden Eigenen verankert sind. Um die Frage danach, was eigene Gründe genauer sind und wie sie angemessen zu verstehen sind, zu präzisieren, werde ich mich im Folgenden auf ein Verständnis eigener Gründe im praktischen Kontext beschränken. Im Rahmen dieses einleitenden Beitrags möchte ich (i) zunächst skizzieren, was auf den ersten Blick gegen die Rede von ›eigenen Gründen‹ zu sprechen scheint. Auf diese Weise soll die Bedeutung von ›eigenen Gründen‹ besser konturiert werden. Ich werde mich (ii) verschiedenen sprachlichen Verwendungsweisen des ›Eigenen‹ in Bezug auf Gründe zuwenden und auf diese Weise (iii) den Weg für ein besseres Verständnis der Natur sowie der normativen Relevanz eigener Gründe ebnen. Schließlich (iv) zeige ich auf, welche Anliegen die ausgewählten Kolloquiumsbeiträge innerhalb dieses Rahmens verfolgen.

1. Was spricht gegen ›eigene Gründe‹? Auf den ersten Blick geben zwei Überlegungen Anlass zur Skepsis, dass die Rede von eigenen Gründen sinnvoll ist. So könnte man erstens geneigt sein zu glauben, das Adjektiv »eigen« füge der Bedeutung von Gründen nichts hinzu. Nennen wir dies die Redundanzthese. Sie beruht auf der folgenden Überlegung: Sofern wir handeln, tun wir etwas aus Gründen. Und sofern wir etwas aus Gründen tun, sind diese Gründe per definitionem unsere eigenen. Ansonsten könnten wir gar nicht handeln.

Dies schliesst freilich nicht aus, dass die Verwendung des Adjektivs ›eigen‹ in einem trivialeren Sinn verwendet werden kann, der keine geglückte Bezugnahme voraussetzt. Es ist jedoch nur eine Form der geglückten Bezugnahme – worin auch immer diese bestehen mag – die eine Quelle der Gründe darzustellen scheint. 2

Einführung

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Man könnte aber zweitens auch geneigt sein anzunehmen, dass es sich bei dem Ausdruck »eigene Gründe« um eine contradictio in adjecto handelt. Nennen wir dies die Widerspruchsthese. Ihr zufolge sind Gründe per definitionem universell. Sie haben eine allgemeine Anwendung qua Gründe und sind für alle gleichermaßen rechtfertigbar. Die Redundanzthese beruht auf der Annahme, dass eigene Gründe nichts anderes als subjektive Gründe sind – also Gründe, die durch unsere mentalen Zustände, wie Wünsche, Urteile oder Meinungen generiert werden. Die Widerspruchsthese hingegen setzt voraus, dass Gründe immer geteilt und insofern allgemein einsehbar sein müssen. Demzufolge können wir von Gründen nur sprechen, wenn diese nicht ›eigen‹, sondern allgemein geteilt und rechtfertigbar sind. Um diese beiden skeptischen Thesen zu entkräften, muss zum einen gezeigt werden, inwiefern eigene Gründe mehr sind als bloß subjektive Zustände oder Einstellungen. Was genau muss zu unseren Einstellungen hinzukommen, um sie als eigene bzw. als Gründe auszuweisen? Oder welche Tatsachen können Gründe als eigene ausweisen? Zum anderen bedarf es einer Klärung, wodurch Gründe gültig sein können, auch wenn sie sich nicht an alle richten. Nur wenn sich gegebene subjektive Einstellungen oder ein gegebener Bezug zu einem wie auch immer gearteten Eigenen als nicht hinreichend und die universelle Gültigkeit von Gründen als nicht notwendig erweisen, kann Raum für die normative Relevanz von eigenen Gründen geschaffen werden. Im Folgenden soll mit Hilfe einer Analyse verschiedener sprachlicher Verwendungsweisen des Terminus »eigene Gründe« sowohl seine mögliche Bedeutung als auch das Potential für die normative Relevanz von eigenen Gründen näher konturiert werden.

2. Unterschiedliche sprachliche Verwendungsweisen Im Zusammenhang mit Gründen lässt sich die attributive von der prädikativen Verwendung von ›eigen‹ unterscheiden. Entweder werden Gründe selbst durch das Adjektiv ›eigen‹ näher bestimmt – in diesem Fall handelt es sich um die attributive Verwendung im Sinn von ›eigenen Gründen‹ – oder es wird in der prädikativen Verwendung von Gründen etwas prädiziert, nämlich dass diese Gründe der Person, die sie hat, ›eigen sind‹. In der ersten, attributiven Verwendung scheinen eigene Gründe so etwas wie besondere Gründe zu sein. So könnte man etwa von dem heutigen Wetter aussagen, dass ein besonderer klimatischer Zusammenhang der Grund ist, welcher zu der extremen Kälte geführt hat. Hier sind die besonderen Gründe solche, die nicht üblich, außergewöhnlich oder selten sind. Die klimatischen Verhältnisse stellen demzufolge insofern eigene Gründe für das heutige Wetter dar, als sie nicht oft anzutreffen sind. Auch von einem Strafverteidiger könnte man sagen, dass er aufgrund seiner Rolle im Gerichtsverfahren eigene Gründe hat, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten und seinen Mandanten zu verteidigen. Diese resultieren aus einer spezifischen Rechtsauffassung, die es Verteidigern erlaubt, einen Sachverhalt, der ihren Mandanten belastet, vor Gericht zu verschweigen. Auch hier handelt es sich um besondere Gründe, die einen eingeschränkten Geltungsbereich zu haben scheinen, und sich darin von Gründen, die für alle gel-

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ten, unterscheiden. Sie sind somit Gründe, die nur bestimmte Personen mit besonderen Beziehungen haben. Diese sind jedoch nicht unüblich oder selten, sondern Gründe mit einem eingeschränkten Skopus. Sie gelten, wie im obigen Beispiel, nur für Strafverteidiger, die diese gegenüber ihren Mandaten haben. Dies macht sie zu besonderen und in diesem Sinne eigenen Gründen. In der attributiven Verwendungsweise, in der Gründe näher charakterisiert werden, scheint folglich das Adjektiv ›eigen‹ gleichbedeutend mit ›besonders‹, wobei dies in einem deskriptiven Zusammenhang, wie demjenigen des Wetters, die Bedeutung von ›unüblich‹, ›untypisch‹ oder ›selten‹ besitzt. In einem normativen Zusammenhang sind eigene Gründe besonders im Sinne einer eingeschränkten Gültigkeit, die sich aus diesem Zusammenhang selbst ableitet. Es gibt hierbei viele verschiedene Arten eigener Gründe. Was solche eigenen Gründe Strafverteidigern nahelegen, ist etwas gänzlich anderes als was eigene Gründe z. B. Eltern nahelegen. Gleichwohl einigt solche Gründe, dass sie sich aus normativen Beziehungen ergeben und nur für diejenigen Personen normativ relevant sind, die eine bestimmte Rolle in einer solchen Beziehung einnehmen. Eigene Gründe sind also besondere Gründe – besonders für bestimmte Personen im Hinblick auf bestimmte andere Personen unter bestimmten Umständen. Sie sind besonders, weil sie nur für Personen mit bestimmten Beziehungen und Rollen gelten und diese als wertvoll angenommen werden. In der prädikativen Verwendungsweise – die besagt, dass Gründe einer Person ›eigen sind‹ – scheint gemeint zu sein, dass sich die betreffende Person Gründe entweder angeeignet bzw. zu ihren eigenen gemacht oder sie in einer anderen Weise als ihre entdeckt hat. Dies setzt einen Prozess voraus, in dem Gründe entweder aktiv zu eigen gemacht werden oder in welchem bestimmte Gründe als eigene wahrgenommen werden. Dass Gründe einer Person ›eigen sind‹, setzt daher ein gelungenes Verhältnis oder einen erfolgreichen Bezug zu sich selbst voraus. Dies ist wohlgemerkt nur dann der Fall, wenn das, was einer Person eigen ist, auch als Grund – d. h. als ein ihr eigener Grund – von ihr oder von anderen betrachtet werden kann. Diese Gründe sind auch besondere Gründe, indem sie durch einen Aneignungsprozess oder durch Entdeckung als eigene zu solchen werden. Sie sind dann ebenfalls eingeschränkt gültig – in diesem Fall nur für die Person, die sich die Gründe »zu eigen« gemacht oder als eigene entdeckt hat. Der wesentliche Unterschied zur attributiven Verwendungsweise besteht darin, dass das ›Eigene‹ einen als Resultat eines bestimmten Prozesses oder durch Wahrnehmung erworbenen Zustand auszeichnet, in dem sich eine Person befindet. Die prädikative Verwendungsweise ist gleichbedeutend damit, dass eine Person sich in einem besonderen Verhältnis zu Gründen befindet, die sie als ihre autorisiert und ›hinter‹ denen sie steht. Dies kann bewusst, aktiv und reflektiert, aber auch wahrnehmend, nicht-reflektiert und unbewusst geschehen. Dieses Verhältnis charakterisiert, was der Person und ihrer normativen Identität wirklich entspricht und steht im Gegensatz zu Gründen, die ihr fremd sind. Die prädikative Verwendungsweise macht folglich deutlich, dass die Rede von ›eigenen Gründen‹ auch sinnvoll als ein Prozess oder eine Entdeckung verstanden werden kann, in deren Rahmen eine Person Gründe zu ihren eigenen macht oder sich bestimmte Gründe als ihre eigenen erweisen. Die Analyse sprachlicher Ver-

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wendungsweisen legt folglich zwei verschiedene Arten des Bezugs von Gründen auf den Akteur bzw. vom Akteur auf Gründe offen. Diese zwei Arten des Bezugs deuten darauf hin, dass die Rede von eigenen Gründen normativ relevant sein könnte.

3. Was sind ›eigene Gründe‹ und worin besteht ihre normative Relevanz? In ihrer attributiven Verwendung sind die normativ relevanten eigenen Gründe sogenannte akteur-relative Gründe. Dies sind Gründe, deren Form darin besteht, dass sie in dem, was sie zu tun nahelegen, einen Bezug zu der handelnden Person enthalten.3 Das, was eine Person tun soll, soll sie deshalb tun, weil das Ziel ihres Handelns in relevanter Hinsicht in Bezug zu ihr selbst steht: weil es etwa ihre Mandanten sind, mit denen sie durch das gegebene Rechtssystem eine Beziehung eingegangen ist, oder weil es ihre Kinder sind, für deren Erziehung sie die Verantwortung übernommen hat. Dies sind eigene Gründe, sofern sie sich wesentlich auf den Standpunkt der handelnden Person beziehen. Sie sind standpunkt-relativ und insofern nicht für alle gleichermaßen gültig. Zugleich sind sie jedoch insofern nicht bloß subjektiv und insofern abhängig von individuellen Einstellungen, als sie für alle gelten, die diesen Standpunkt einnehmen. Diesen Standpunkt nimmt die Person im Rahmen einer bestimmten sozialen Beziehung ein. In ihrer prädikativen Verwendungsweise sind es Gründe, die eine Person aufgrund ihrer spezifischen Einstellungen und deren Zusammenhangs hat. Es sind nicht die bloß subjektiv gegebenen Einstellungen, die eine Person zum Handeln veranlassen, sondern diejenigen Einstellungen, die eine Person akzeptiert bzw. als ihre entdeckt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese spezifische normative Autorität der Akzeptanz oder Entdeckung auszuweisen, die Einstellungen als eigene qualifiziert. So lässt sich die Ansicht vertreten, dass es sich bei den für Gründe relevanten Einstellungen um solche handelt, die durch weitere Einstellungen befürwortet werden, sich im Lichte anderslautender Einstellungen bewähren oder eine rationale Geschichte haben müssen. Manche glauben, dass es v.a. um einen bestimmten Zusammenhang gehen muss, in dem unsere Einstellungen zueinander stehen. Alternativ könnte behauptet werden, dass es weitere Bedingungen geben muss, denen der Erwerb unserer Einstellungen unterliegt.4 Unabhängig davon, welche spezifische Theorie vertreten wird, geht es immer um evaluative Einstellungen und deren spezifischen Zusammenhang. Der Grundgedanke ist, dass diese zum Ausdruck bringen, was der Person wirklich wichtig ist, was sie selbst nach ihren eigenen Maßstäben ausmacht und insofern Teil ihrer normativen Identität ist. Die entsprechenden eigenen Gründe sind insofern nicht bloß subjektiv, als sie nicht nur gegebene Einstellungen oder mentale Zustände abbilden. Vielmehr unterliegen gegebene Einstellungen weiteren Bedingungen, die sie als für die Person au-

Siehe dazu Monika Betzler: Akteur-neutrale und Akteur-relative Gründe, in: Moralischer Relativismus, Paderborn 2009, hg. von G. Ernst, 195–212, bes. 199–203. 4 Siehe Monika Betzler (Hg.): Autonomie. Paderborn [im Erscheinen] mit verschiedenen Ansätzen der Autonomie, die solche Bedingungen auf unterschiedliche Weise ausbuchstabieren. 3

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toritativ ausweisen. In diesem Sinne sind es dann diejenigen Wünsche, Wertungen oder Werturteile einer Person, die ihr wirklich eigen sind Es gibt folglich (mindestens) zwei verschiedene Verwendungsweisen des Terminus »eigene Gründe«, die normativ relevant sind. Zum einen handelt es sich um beziehungsabhängige moralische Gründe der Parteilichkeit. Dies sind akteur-relative Gründe, bestimmte andere Personen zu bevorzugen, welche die handelnde Person nur deshalb hat, weil sie in einer normativ relevanten Beziehung zu diesen Personen steht. Zum andern sind es nicht-moralische, die eigene Lebensführung betreffende, d. h. autonome Gründe. Diese Gründe werden dadurch generiert, dass die handelnde Person in einem bestimmten Verhältnis zu ihren evaluativen Einstellungen steht. Dieses Verhältnis drückt aus, dass sie das, was sie tut, wirklich will oder wertschätzt. Es zeigt sich, dass diese beiden Verwendungsweisen von eigenen Gründen die skeptischen Thesen der Redundanz sowie des Widerspruchs entkräften. Sowohl akteur-relative als auch autonome Gründe erweisen sich als nicht redundant. Sie lassen sich nicht auf Gründe, die für alle gleichermaßen gelten, reduzieren. Sie erweisen sich aber auch trotzdem als rechtfertigbar, als sie für alle einsichtig sind, die den spezifischen Standpunkt teilen oder die diese Gründe aus dem jeweiligen Standpunkt heraus verstehen können. Wenn dies richtig ist, so bleibt dennoch genauer zu fragen, worin die normative Relevanz eigener Gründe in den oben qualifizierten Formen besteht. Die Tatsache, dass diese Gründe für all diejenigen gelten, die in einem solchen Verhältnis zu ihren Einstellungen stehen oder die sich in solch normativ relevanten Beziehungen befinden, kann noch nicht hinreichend erklären, warum eine Person diesen Gründen folgen soll. Anders gefragt: welche weiteren Gründe gibt es, die ausweisen könnten, warum man gut beraten ist, beziehungsabhängige Gründe oder bestimmte einstellungsabhängige Gründe zum Maßstab seines Handelns zu machen? Schließlich gibt es ebenso missbräuchliche Beziehungen wie trügerische Einstellungen, die zwar ausdrücken, was einer Person wirklich wichtig ist, aber das, was ihr wirklich wichtig ist, kann selbstzerstörerisch, unklug oder unmoralisch sein. Die Tatsache, dass ein Grund in diesen beiden Sinnen der handelnden Person eigen ist und insofern einen gelungenen Selbstbezug voraussetzt, verleiht ihm nicht von selbst Normativität. Man muss jedoch die eigenen Gründe, die von Beziehungen und von Autonomie generiert werden, von jenen unterscheiden, die für Beziehungen und für Autonomie sprechen. Zweifellos können stärkere Gründe gegen eine Beziehung oder gegen die Autonomie einer Person sprechen. In solchen Fällen überwiegen sie die Gründe, die durch eine Beziehung und durch die Autonomie der Person generiert werden. Gleichzeitig kann nicht behauptet werden, dass die Normativität der beziehungs- und autonomieabhängigen Gründe vollständig auf die Gründe reduziert werden könnte, die für eine bestimmte Beziehung oder die Autonomie der Person sprechen. Vielmehr sind die beziehungs- und autonomie-abhängigen Gründe in dem Masse normativ irreduzibel, in dem Beziehungen und Autonomie einen genuinen Wert darstellen, der unabhängig von den Gründen ist, die für oder gegen Beziehungen und Autonomie sprechen: Dieser genuine Wert scheint u. a. darin zu bestehen, dass Beziehungen ebenso wie ein geglückter Selbstbezug zu der normativen Identität einer Person – d. h. zu einem erworbenen und

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sozial verankerten Selbstverständnis, einem kohärenten und wahrhaftigen Narrativ ihrer selbst – beitragen. Dies verleiht den eigenen Gründen ein eigenes Gewicht. Damit ist jedoch nicht impliziert, dass sie nicht durch stärkere Gründe – Gründe, die gegen eine Beziehung oder gegen eine bestimmte Art der autonomen Selbstführung sprechen – überwogen werden können. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen möchte ich nun die folgenden vier Beiträge zu diesem Kolloquium verorten und aufeinander beziehen.

4. Vier Perspektiven auf ›eigene Gründe‹ Beate Roessler will in ihrem Beitrag »Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen« eigene Gründe angemessener als bisher in ihrer Relevanz für die Autonomie von Personen beschreiben. Sie wendet sich hierbei gegen die weit verbreitete und verschiedenen Autonomietheorien zugrunde liegende Auffassung, dass Gründe nur dann die eigenen sind, wenn die betreffende Person bereits eine eindeutig bestimmbare Identität hat, vor deren Hintergrund sie sich ihre Einstellungen, Werte oder Projekte reflexiv aneignet. Autonome Entscheidungen, so Roessler, setzen weder eine eindeutige Identität noch eine reflektierte Aneignung oder bewusste Identifikation voraus. Was Gründe zu eigenen und somit zu für Autonomie relevanten Gründen macht, kann sich auch erst post festum zeigen, d. h. dann, wenn wir bereits gehandelt haben und unser Handeln im Lichte der Interpretation anderer verstehen können. Erst in der Handlung und durch die Handlung erlangen wir eine Identität und erwerben Wissen darüber, was wir wirklich gewollt haben. Durch den sozialen Kontext erlangen wir Verständnis darüber, was unsere eigene Handlung bedeutet. Eigene Gründe sind dann Gründe, die sich auch nach dem Handeln ergeben können. Das Verständnis von Autonomie, für das Roessler plädiert, ist folglich keine Eigenschaft, sondern eine Leistung. Sie besteht darin, Gründe nach dem Handeln als eigene zu erkennen und zu verstehen. Christian Budnik nimmt in seinem Beitrag »Eigene Gründe und die Perspektive der ersten Person« eine fundamentalere Perspektive auf eigene Gründe ein. Budnik zufolge lassen sich eigene Gründe nur dann angemessen charakterisieren, wenn wir den genuin erstpersonalen Charakter unseres Verhältnisses zu unseren eigenen mentalen Zuständen verstehen. Handeln aus eigenen Gründen ist ihm zufolge ein aktiver und dynamischer Prozess, in dem wir unsere normative Identität konstituieren. Aus der Perspektive der ersten Person wissen wir von unseren mentalen Zuständen unmittelbar und stehen zugleich in einem aktiven Verhältnis zu ihnen. Dieses aktive Verhältnis liegt immer dann vor, wenn unsere mentalen Zustände die Transparenzbedingung erfüllen: das heisst, sie verweisen unmittelbar auf Tatsachen der Welt. Wenn wir ihnen gegenüber auf diese Weise einen deliberativen Standpunkt einnehmen, dann erwägen wir die Gründe, die für oder gegen unsere mentalen Zustände sprechen und legen uns vor diesem Hintergrund auf eine bestimmte Sicht der Dinge und damit auf bestimmte mentale Zustände fest. Zugleich können wir uns aber auch auf unsere mentalen Zustände als Gründe beziehen, die das Einnehmen anderer mentaler Zustände rechtfertigen. In diesem Sinne

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stehen wir in einem erstpersonalen Verhältnis zu unseren mentalen Zuständen, wenn wir sie als Gründe und als von anderen Gründen abhängig betrachten. Wenn Personen die Perspektive der ersten Person einnehmen, dann ist dies wesentlich mit dem Anspruch verbunden, das, was den Gegenstand ihrer Einstellungen betrifft, in einem für sie verständlichen Zusammenhang aufzufassen. Budnik charakterisiert dies als einen Prozess der Aneignung von Gründen und der Konstituierung von normativer Identität. Zum einen trägt dieser Prozess dazu bei, uns selbst zu verstehen. Zum andern verstehen wir Gründe vor dem Hintergrund unseres bisherigen Selbstverständnisses mehr oder weniger gut. Rahel Jaeggi zeigt in ihrem Beitrag »Seine eigenen Gründe haben (können). Überlegungen zum Verhältnis von Aneignung, Fremdheit und Emanzipation«, dass eigene Gründe »partikulare« Gründe sind: Sie gelten nur für eine bestimmte Person, sofern sie aus ihrer spezifischen Lebensgeschichte, Situation oder Position erwachsen. Sie sind gleichwohl aufgrund der folgenden beiden Aspekte verallgemeinerbare Gründe: Sie können zum einen als aus einer bestimmten Perspektive gerechtfertigt nachvollzogen werden; zum andern können sie in einem noch stärkeren Sinn geteilt werden, wenn man sie für sich selbst wirksam werden lässt und insofern »zu eigen macht«. Sich Gründe zu eigen zu machen, bedeutet Jaeggi zufolge, dass man sie, ihre Kontexte und Wirkungen einer Kritik unterzieht. Gründe sind nur dann angeeignet und keine bloßen »Eindringlinge«, wenn sich die betreffende Person die lebensgeschichtlichen Prägungen ihrer Gründe transparent macht und teilweise revidiert. Dies geschieht, so Jaeggi, in einem Prozess der Emanzipation. Die der eigenen Lebensgeschichte erwachsenen Gründe werden erst dann zu guten, angeeigneten Gründen, wenn sie einer rationalen Kritik standhalten, sich als praktisch umsetzbar erweisen und zu der betreffenden Person passen. In diesem Sinne bezieht sich das Eigene auf den Modus des Erwerbs der entsprechenden Gründe, aufgrund dessen sie auch kritisierbar sind und somit noch stärker geteilt werden können. Christian Seidel zeigt in seinem Beitrag »Eigene Gründe – Wozu eigentlich? Einige Überlegungen in Richtung einer deflationären Auffassung«, dass sich die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Gründen nicht auf andere Unterscheidungen, wie etwa die zwischen privaten und öffentlichen, idiosynkratischen und gewöhnlichen, explanatorischen und normativen, akteur-relativen und akteur-neutralen, oder guten und schlechten Gründen reduzieren lässt. Gründe lassen sich jedoch auch nicht in nichtreduktionistischer Weise durch Bedingungen definieren, die sie als eigene ausweisen, wie die Bedingung eines bestimmten Verhältnisses einer Person zu ihrem Inneren oder aber eines bestimmten Verhältnisses zur äußeren Welt. Beide Bedingungen erweisen sich Seidel zufolge als instabil: Sobald man sich die Frage stellt, wann der interne Akt der Selbstbeschäftigung erfolgreich ist, führt dies unwillkürlich zu äußeren Kriterien der guten Begründung, an denen sich dieser Erfolg misst. Je stärker jedoch die Idee der guten Begründung daran gebunden wird, desto mehr werden eigene Gründe zu guten, aber möglicherweise fremden Gründen. Dies führt wiederum zu einer erneuten Suche nach internen Kriterien, die eine erfolgreiche Selbstbeschäftigung aufzeigen könnten. Diese Instabilität zwischen internen und externen Bedingungen macht Seidel zufolge

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deutlich, dass keine der beiden nicht-reduktionistischen Erklärungen eigener Gründe für sich genommen überzeugen kann. Vor dem Hintergrund dieser Diagnose schlägt er daher eine neue Perspektive vor, welche die Natur eigener Gründe durch ihre normative Funktion im Umgang mit einer Person in den Blick zu nehmen versucht. Diese normative Funktion besteht darin, dass man mit Personen, die aus eigenen Gründen handeln, anders umgehen sollte. Die Rechtfertigung für Nachfragen, Überzeugungsversuche, Verantwortungszuschreibung, Eingriffe und Ratschläge verändert sich, wenn eine Person aus eigenen Gründen handelt. Kurz: Die normative Funktion eigener Gründe besteht darin, dass man sich in das, was eine Person, die aus eigenen Gründen handelt, tut, nicht ungebührlich einmischt und ihr Tun respektiert. Diese deflationäre Konzeption erlaubt, eigenen Gründen einen Platz in unserem Denken einzuräumen, ohne ihre Natur durch eine so schwer ausweisbare distinkte Eigenschaft erfassen zu müssen. Sowohl Beate Roessler als auch Rahel Jaeggi qualifizieren eigene Gründe als autonome Gründe. Beide spezifizieren Bedingungen, die autonome Gründe als eigene ausweisen. Während Roessler zeigt, dass wir häufig erst durch das Handeln und mit Hilfe des sozialen Kontexts Zugang zu unseren eigenen Gründen erhalten, verteidigt Jaeggi die Auffassung, dass Gründe dann eigene sind, wenn wir uns von unseren lebensgeschichtlichen Prägungen emanzipieren. Beiden geht es damit um einen Prozess der Aneignung. Budnik und Seidel haben zwar letztlich auch autonome Gründe im Blick, nehmen jedoch eine grundlegendere Perspektive ein. Budnik zeigt, dass der genuin erstpersonale Charakter unseres Verhältnisses zu unseren eigenen mentalen Zuständen, mithilfe dessen wir unsere normative Identität konstituieren, die Idee eigener Gründe erst möglich macht. Seidel vertritt die Auffassung, dass eigene Gründe allein durch ihre normative Funktion im Umgang mit anderen bestimmbar sind. Beide stellen sich daher Versuchen entgegen, die notwendige und hinreichende Bedingungen angeben, welche Gründe als eigene qualifizieren, und deuten stattdessen auf die Bedingung der Möglichkeit eigener Gründe sowie ihre distinkte normative Funktion hin. Budnik nimmt hierbei v. a. den uns erstpersonal wesentlich kennzeichnenden Selbstbezug in den Blick, Seidel den für Beziehungen relevanten Aspekt des Umgangs mit anderen. Diese Beiträge können nicht erschöpfend beantworten, was Gründe zu eigenen macht, inwiefern eigene Gründe generiert werden, wozu die Idee eigener Gründe dient, und was genau die normative Relevanz autonomer und akteur-relativer Gründe ausmacht. Sie repräsentieren jedoch wichtige Schritte auf dem Weg zu einer Theorie eigener Gründe, die ihre Natur, ihre Normativität und ihren Wert adäquat zu erfassen vermag.5

5 Für hilfreiche schriftliche Kommentare zu diesem einleitenden Beitrag danke ich herzlich Christian Budnik, Fabrizio Fasciati und Angela Müller. Christian Seidel hat das Kolloquium zum Thema »Eigene Gründe« inhaltlich wesentlich mitgestaltet. Ihm bin ich für den Austausch von Ideen sowie der organisatorischen Hilfe dankbar. Julian Nida-Rümelin danke ich für die Einladung, dieses Kolloquium im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Philosophie zu veranstalten.

Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen Beate Roessler

I. Eine gängige, allgemeine Definition von Autonomie lautet: »Autonomy involves choosing and living according to standards or values that are, in some plausible sense, one’s own«.1 Die Frage nach den eigenen Werten und Standards, und damit die nach den eigenen Gründen, die sich an diesen Werten und Standards ausrichten, steht folglich im Zentrum der Frage nach Autonomie. Autonomie in diesem allgemeinen Sinn ist die Basis für ein gutes Leben: es bedeutet, in der Lage zu sein, auf die eigenen Werte, Überzeugungen, Wünsche, Verpflichtungen reflektieren zu können, und dann entsprechend handeln und leben zu können. Wenn wir von den »eigenen Gründen« sprechen, die wir für unsere Handlungen haben und angeben wollen, so wehren wir damit jede Form von Manipulation oder Fremdbestimmung ab und postulieren zugleich, dass die normative Quelle für diese Gründe »wir selbst« sind und dass wir durch eigene Reflexion die Ziele wählen und verfolgen können, die wirklich die unseren sind oder sein sollen. Obgleich der Begriff des »eigenen Grundes« für den Autonomiebegriff eine zentrale Rolle spielt, sind es in der philosophischen Literatur zumeist andere Titel, unter denen diese Diskussionen geführt werden, nämlich – im Rahmen der Autonomietheorien – vor allem der der Aneignung, endorsement, Identifikation oder, insbesondere, der Authentizität, und auch in der Diskussion um agent relative und agent neutral reasons spielen die »eigenen Gründe« eine Rolle; darauf komme ich gleich noch genauer zurück. Was mich im folgenden interessiert ist die Frage, wie wir diese eigenen Gründe am besten beschreiben sollten und welche Rolle sie spielen im Blick auf die Autonomie und die autonome Entscheidung und Handlung einer Person. Dass eigene Gründe in irgendeiner Weise für die Autonomie einer Person eine konstitutive Rolle spielen, ist in den gegenwärtigen Theorien von Autonomie unumstritten. Umstritten ist nur, wie man sie am besten analysiert, woher sie ihre normative Kraft beziehen, in welchem Verhältnis eigene Gründe zu subjektiven oder objektiven Gründen, zu eigeninteressierten und moralischen Gründen stehen, oder auch, wann eine Person weiß, welches ihr Handlundgsgrund war oder ist, um nur die wichtigsten Probleme zu nennen. Bevor ich gleich einen Überblick über die relevanten Debatten gebe, will ich jedoch einige Zweifel anmelden und damit auch die Richtung angeben, in die meine folgenMarilyn Friedman: Autonomy, Social Disruption, and Women, in: Relational Autonomy: Feminist Perspectives on Autonomy, Agency, and the Social Self, ed. by Catriona Mackenzie and Natalie Stoljar, Oxford 2000, 35–51, 37. 1

Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen

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den Überlegungen gehen werden. Fraglich scheint mir, ob sich diese Gründe, wie die meisten Autonomietheorien argumentieren, immer dann und nur dann ergeben, wenn wir erst einen Prozess der Reflexion auf unsere Identität, unsere Werte, unsere Projekte, durchlaufen haben und dann entscheiden, uns mit bestimmten Motiven zu identifizieren, uns diese (authentisch) anzueignen, so dass wir dann nach diesen besten eigenen Gründen handeln. Fraglich scheint mir folglich die Notwendigkeit ebenso wie die Möglichkeit, diesen authentischen Entscheidungsprozess als Bedingung für die Zuschreibung von Autonomie festzulegen. Es sind zwei Hinsichten, in denen ich dieses Modell phänomenologisch und normativ nicht immer für angemessen halte: zum einen setzt es voraus, dass die autonome Person immer eine unzweideutig bestimmbare Identität hat, die sich stützt auf eigene Werte, Projekte, Überzeugungen. Das Identitäts-Reflexionsmodell muss ausgehen von einem »wahren Selbst«, das sich in den eigenen Projekten authentisch zum Ausdruck bringt: denn die Reflexion auf unser Selbst, unsere Identität zeigt uns allererst, was wir »wirklich« wollen und welche Gründe unsere eigenen sind und sein sollten, welchen Motiven wir deshalb folgen sollten. Die zweite Hinsicht, die mir problematisch scheint, hängt mit dieser ersten zusammen: es ist die Idee der gründlichen Selbstreflexion, die unserem Handeln aus eigenen Gründen vorhergehen muss, wenn diese Gründe wirklich als unsere eigenen bezeichnet werden sollen. Autonom sind wir nur dann, wenn eine solche Reflexion uns zur authentischen Aneignung von Wünschen führt, zur Identifikation mit einem Wunsch oder Motiv. Identität und Reflexion ante festum ermöglichen eine authentische Entscheidung und damit eine selbstbestimmte Handlung. Häufig jedoch, so will ich zeigen, laufen auch autonome Handlungen nicht nach diesem Muster ab: häufig wissen wir erst, was wir wollten und damit wer wir sind, wenn wir gehandelt haben und wenn wir unser Handeln im Lichte der Interpretation anderer sehen und verstehen können. Damit will ich mich nicht gegen den Begriff der eigenen Gründe wenden; sondern mir geht es darum, anhand dieses Begriffs zu untersuchen, ob der Prozess der autonomen Entscheidung und Handlung immer so ablaufen muss, wie es in vielen gegenwärtigen Autonomietheorien postuliert wird, oder ob nicht häufig eine andere Perspektive die angemessenere und richtige ist. Dabei konzentriere ich mich in meiner kritischen Diskussion nur auf die Problematik des Identitätsbegriffs einerseits und auf die Rolle der authentizitätsstiftenden Reflexion andererseits. Diese Problematik bildet einen Aspekt einer zentralen Frage, die in den Theorien von Autonomie nicht immer eine angemessene Rolle spielt: nämlich der, was es heißt, Autonomie im Alltag zu leben, was also »alltägliche Autonomie« bedeuten könnte. Damit will ich jedoch nicht behaupten, dass Autonomietheorien im ganzen zu normativ oder ideal seien und nichts mit »dem Alltag« zu tun hätten, sondern vielmehr, dass der Blick auf den Alltag uns zeigen kann, dass die Theorien in der falschen Weise zu anspruchsvoll sein können.2 2

Vgl. zum Unterschied zwischen »ideal« und »anspruchsvoll« im Blick auf Bedingungen von Auto-

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Kolloquium 20 · Beate Roessler

Ich werde also in den folgenden Schritten vorgehen: zunächst einmal will ich kurz einige begriffliche Probleme aus dem Weg räumen (II), um dann (III) auf verschiedene Autonomietheorien unter der Perspektive der Frage nach den »eigenen Gründen« einzugehen. In einem nächsten Schritt (IV) will ich eine Alternative zu dem vorgestellten Autonomiebegriff skizzieren und diese (V) mit der Hilfe literarischer Beispiele plausibilisieren, bevor ich in meinem letzten Schritt etwas zum Verhältnis der beiden Modelle zueinander sagen werde (VI). II. Beginnen will ich mit einer kurzen Unterscheidung von Begriffen und Begriffspaaren, die für die Frage nach den eigenen Gründen relevant sind, aber die mit der hier diskutierten Problematik höchstens am Rande etwas zu tun haben. Eine solche begriffliche Klärung ist schon deshalb notwendig, weil die Debatte um »eigene Gründe«, wie schon erwähnt, häufig unter anderen Titeln und Namen geführt wird.3 Kant haben wir zwar die Idee von Autonomie zu verdanken, aber personale Autonomie ist bei ihm bekanntlich moralische Autonomie: deshalb ist auch der Begriff des »eigentlichen Selbst«, den er in der Grundlegung verwendet, noch nicht bezogen auf den komplexen Begriff individueller Identität, wie er in den heutigen Debatten zu finden ist, sondern auf das noumenale und rationale Selbst im Gegensatz zum empirischen Menschen als der Erscheinung dieses Selbst.4 »Eigene Gründe« , die das »eigentliche Selbst« als solche anerkennt, müssen folglich rationale und moralische sein. Kants Dichotomie von moralischen oder rationalen Maximen einerseits und selbstinteressierten Maximen andererseits korrespondiert folglich diesem Begriff des eigentlichen Selbst und lässt die Möglichkeit einer Theorie eigener Gründe, die sich auf individuelle Projekte als Quelle der Normativität beziehen würde, für autonome Personen nicht zu.5 Autonom sind wir nur dann, wenn wir rationalen, also moralischen Maximen folgen. Bei Mill sieht die Sache bekanntlich schon ganz anders aus: »The only freedom which deserves the name is that of pursuing our own good in our own way, so long as we do not attempt to deprive others of theirs or impede their efforts to obtain it.«6 nomie etwa Christmans Kritik an Oshana, in: The Politics of Persons: Individual Autonomy and Sociohistorical Selves, ed. by John Christman, Cambridge 2009, 167 ff.; ich komme auf diese Problematik unten noch zurück. 3 Eine Ausnahme bildet der Sammelband Reasons of One’s Own, ed. by M. Sie, M. Slors und B. van den Brink, Aldershot 2004; vgl darin vor allem die Einleitung der Herausgeber: Introduction: The Problem of Reasons of One’s Own, 1–20, und den Beitrag von Lynne Rudder Baker: On Being One’s Own Person, 129–150. 4 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 457; vgl. dazu Christine Korsgaard: Morality as Freedom, in: Christine Korsgaard: Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, 159– 187, 168. 5 Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, 1. Stueck; vgl. R. Jay Wallace: The Rightness of Acts and the Goodness of Lives, in: Reason and Value. Themes from the Moral Philosophy of Joseph Raz, ed. by R. Jay Wallace et. al., Oxford 2004, 385–411. 6 John Stuart Mill: On Liberty, London 1984, 72.

Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen

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Die zahllosen anderen Passagen, in denen er von »a person’s own character« als Prinzip individuellen freien und autonomen Handelns spricht, zeigen, dass Mill einer der wichtigsten jedenfalls impliziten Bezugspunkte für die heutigen Debatten um das eigene Handeln als das selbstbestimmte Handeln bleibt. Zwischen Kant und Mill ist folglich ein Bruch: eigene Gründe sind bei Mill individuell und different, während für Kant gerade die allgemeinen, für jeden geltenden rationalen Gründe als die »eigenen« begriffen werden; wir werden gleich bei Korsgaard sehen, dass und wie sie die beiden Prinzipien wieder zusammenführt. Eine dritte begriffliche Perspektive findet sich bei Bernard Williams. Bei ihm sind eigene Gründe solche, die sich unmittelbar aus den eigenen individuellen Projekten ergeben und gegebenenfalls mit allgemeinen moralischen Gründen konfligieren können. Williams entwickelt bekanntlich seine Idee vom persönlichen Charakter, der Ausdruck findet in eigenen, individuellen Projekten in der Kritik am Utilitarismus: erst solche persönlichen, individuellen Projekte geben Personen überhaupt Handlungsgründe, erst auf dieser Basis können sie moralische als moralische Gründe – und als eventuell konfligierend mit eigenen – begreifen.7 Spätestens hier beginnen jedoch die begrifflichen Schwierigkeiten und ich will versuchen, kurz einige mögliche Missverständisse aus dem Weg zu räumen. Denn in der Literatur werden hinsichtlich der Frage nach den eigenen Gründen folgende missverständliche Parallelisierungen vorgenommen: Auf der einen Seite objektive, neutrale (agent neutral), moralische und für alle geltende Gründe; und auf der anderen Seite relative (agent relative), subjektive und selbstinteressierte, nur für mich geltende eigene Gründe. Für die Unterscheidung zwischen agent neutral und agent relative Gründen, die Nagel bekanntlich als Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Gründen beschreibt, gilt paradigmatisch die Unterscheidung zwischen egoistischen Gründen einerseits und den am Glück aller orientierten andererseits, wie etwa schon in Bentham’s reasons of self interest versus general benevolence.8 Bei Nagel finden wir das Beispiel eines subjektiven Grundes für eine Person, den Kilimandscharo zu besteigen, ein Grund, der jedoch nicht ein objektiver, neutraler, für alle geltender Grund sein kann.9 In einer prima facie plausiblen und unumstrittenen Interpretation kann man folglich sagen, dass relative Gründe solche sind, die nur für den Handelnden selbst bindend sind und neutrale solche, die auch für jede andere Person einen Handlungsgrund darstellen würden. Bei dieser Differenz ist folglich der Gegensatz zu den eigenen Gründen der: Gründe, die für alle gelten (müssen). Um diesen Gegensatz geht es jedoch bei der Frage nach der Autonomie und den eigenen Gründen gerade nicht. Denn bei dieser Frage ist der Gegensatz zum eigenen Gruend der fremde Grund: ein Grund etwa, der von anderen als

7 Bernard Williams: Persons, Character and Morality, in: Bernard Williams: Moral Luck: Philosophical Papers 1973–1980, Cambridge 1983. 8 Nagel, Thomas: The View from Nowhere, Oxford 1986, bes. Kapitel IX (Ethics), 164–188. 9 Ebd., 167. Vgl auch Joseph Raz: Reasons: Explanatory and Normative, in: University of Oxford Faculty of Law Legal Studies Research Paper Series 13/2007.

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auch für mich geltend gefordert wird; oder ein Grund, den ich zwar vielleicht allgemein als Grund einsehen kann, mir jedoch nicht als eigenen Grund aneignen kann oder will. Nehmen wir das Beispiel der Familie oder persönlichen Beziehungen: bei Nagel gelten Gründe, die ihre normative Quelle in diesen Beziehungen haben, automatisch als subjektiv oder agent relative – ich liebe mein Kind, aber das heißt nicht, dass jeder mein Kind lieben muss. Auch bei Williams bilden bekanntlich persönliche Beziehungen in der Form von persönlichen Projekten ein Paradebeispiel für subjektive Gründe. Diese Sorte substantieller Gründe, die sich aus persönlichen Beziehungen ergeben, muss aber keineswegs in der Debatte um eigene Gründe, wir ich sie hier vorstelle, eine Rolle spielen: es kann sein, dass ich mich meiner Familie nicht-entfremdet so verbunden fühle, dass sie zu meinen basalen Werten, zu meiner Identität gehört und deshalb zu einem Handen aus eigenen Gründen führt, aber es muss nicht so sein. »Eigene Gründe« sind folglich nicht durch einen bestimmten Inhalt gekennzeichnet: wenn ich etwas tue, um meinem Partner einen Gefallen zu tun, so wäre dies in der Nagel’schen Unterscheidung ein subjektiver, relativer Grund. Wenn ich es aber nur tue, weil ich in dieser Beziehung dazu manipuliert werde, Gefallen zu tun, dann ist es kein eigener Grund. Eigene Gründe sind hier – also in den Autonomietheorien, die für unsere Fragestellung relevant sind – nämlich solche, die durch zwei Charakteristika gekennzeichnet sind: sie beziehen ihre normative Kraft aus der je eigenen Identität, den eigenen Werten, Verpflichtungen, Projekten usf; und sie sind mir auf eine spezifische Weise gegeben, nämlich durch reflektierte Aneignung oder Identifikation. Zur Debatte steht hier folglich eine spezielle Verbindung zwischen meiner Handlung und dem, wer ich bin: meine Identität, mein Selbst, bilden die Basis fürs je spezifische Handeln und die Verbindung zwischen beiden sind die eigenen Gründe, mittels derer ich mich für oder gegen ein Motiv, einen Wunsch entscheide, und zwar im Modus der – authentischen – Aneignung nach Reflexion, der Identifikation. Ist ein Grund hier nicht ein eigener, kann ich mich nicht mit ihm identifizieren, dann ist er ein für mich fremder – unabhängig von der Frage, ob er für alle oder nur für mich gilt oder gelten soll, also unabhängig von der Frage des moralischen Status des Grundes. Natürlich könnte ich trotzdem aus diesem Grunde handeln – es gibt keine definitorische Verbindung zwischen den Gründen, aus denen ich de facto handele und denen, die meine eigenen sind; wenn ich entfremdet handele, dann mit fremden Gründen, nicht autonom, sondern eben heteronom. Der Begriff des eigenen Grundes ist kein deskriptiver Begriff, sondern ein normativer. Für unsere Problematik sind folglich die Debatten um Identität und um Authentizität oder endorsement, Identifikation, die relevanten, da es hier um die Frage nach der Grundlage von Reflexion und nach dem modus der Aneignung von Motiven geht. Ich denke, dass diese kurzen Hinweise schon reichen, um den Unterschied zwischen der Frage nach den eigenen Gründen einerseits und den Debatten um die Relativität oder Neutralität von Gründen und die um deren Objektivität oder Subjektivität andererseits deutlich zu machen; es kann natürlich zu begrifflichen Überschneidungen kommen, aber das werden wir dann gegebenenfalls noch genauer sehen müssen.

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III. Ich will nun der Frage genauer nachgehen, wie in der gegenwärtigen Autonomieliteratur das Problem der eigenen Gründe konzeptualisiert wird und was es hier heißt, »wirklich« aus eigenen Gründen zu handeln.10 Dabei lässt sich zeigen, dass den prominentesten Theorien ein je gleiches oder doch vergleichbares Modell zugrundeliegt. Kennzeichen dieses Modells sind ein starker Identitätsbegriff und die Rolle der Reflexion, die für die Authentizität der Entscheidung, also der Aneignung des richtigen Wunsches oder Motives als handlungsleitend sorgt. Am bekanntesten ist sicherlich Harry Frankfurt’s Modell der Identifikation: aus eigenen Gründen handelt eine Person dann, wenn sie sich mit ihren Wünschen identifizieren kann.11 Identifikation bedeutet dabei die reflektierte Aneignung (endorsement) eines Wunsches, die sich gründet in den tiefsten volitional necessities oder cares, die die Identität bestimmen und ausmachen. Das Modell ist also: eigene Gründe wurzeln in meiner Identität, die ihrerseits definiert ist durch meine volitionalen Notwendigkeiten, durch das, was ich wirklich und im Innersten will. Die normative Kraft, die die eigenen Gründe für mich haben, gründet in diesen cares und diese können hinsichtlich der unterschiedlichen Wünsche, mit denen ich selbst konfrontiert bin, die Richtung angeben, in der ich mich entscheiden und handeln muss, mit welchem Wunsch oder Motiv ich mich also identifizieren muss. Dieses Modell von Identität, Reflexion, Aneignung und Handlung findet sich in modifizierter Form in anderen Theorien, etwa bei Gary Watson, wenn er die Verbindung zwischen den Werten und Zielen einer Person einerseits und ihrer Handlung andererseits als evaluative self-disclosure beschreibt, und als durch die angemessene Ausübung ihrer evaluative capacities (also der Reflexion) konstituert sieht; dann zeigt sich nämlich in ihren Handlungen die Identität der Person: »my activities are inescably my own (..); they express (..) my identity as an agent«.12 Auch Korsgaard begründet bekanntlich die Idee, dass wir nur dann aus eigenen Gründen und autonom handeln, wenn wir uns unsere Motive und Wünsche reflektiert aneignen (reflectively endorse), auf der Basis unserer praktischen Identität, der »practical identity, the description under which you value yourself«.13 Deshalb schreibt sie, dass »your reasons express your identity, your nature; your obligations spring from

Vgl. Bensons aufschlussreichen Beitrag, in dem er ebenfalls systematisch das Identitäts-Reflexionsmodell in Zweifel zieht: Paul Benson: Taking ownership: Authority and Voice in Autonomous Agency, in: Autonomy and the Challenges to Liberalism, ed. by Joel Anderson und John Christman, Cambridge 2005, bes. 102 ff.; auch er kritisiert den Begriff der Identität, ich komme darauf später noch zurück. 11 Vgl. besonders Harry Frankfurt: Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Harry Frankfurt: Freiheit und Selbstbestimmung, hg. von M. Betzler und B. Guckes, Berlin 2001, 65–83; Harry Frankfurt: Sich selbst ernst nehmen, Frankfurt/M. 2007. 12 Gary Watson: Two Faces of Responsibility, in: Philosophical Topics 24 (1996), 227–248, hier 233. 13 Christine Korsgaard: The Sources of Normativity, Cambridge 1996, 101. 10

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what that identity forbids« (101). Dies ist zwar das gleiche Modell wie bei Frankfurt, jedoch mit signifikanten Modifikationen: denn die praktische Identität wurzelt nicht voluntativ in subjektiv je differenten cares, volitionalen Notwendigkeiten, sondern in der praktischen Identität als der menschlichen Identität, die wir alle teilen. Damit werden letztlich die eigenen Gründe wieder zu Gründen für alle, oder können dies zumindest werden – also zu moralischen Gründen, ganz wie bei Kant.14 Die normative Quelle für die eigenen Gründe ist folglich, wie bei Frankfurt, die eigene Identität; doch diese Identität wird anders gefasst: einmal, bei Frankfurt, als individuelle und notwendigerweise unterschiedliche, einmal, bei Korsgaards, als die menschliche und damit die uns allen gleiche. Am ausführlichsten und genauesten geht John Christman auf die Idee der eigenen Gründe ein, in der Frage nach der Authentizität einer Person als Bedingung für ihre Autonomie. Christman wirft bekanntlich Autoren wie Frankfurt und Watson – trotz ihrer Identifikationsbedingung – vor, sie analysierten nicht ausreichend die externen Bedingungen von Autonomie, die zu Manipulation und Selbsttäuschung führen könnten. Autonomie explizit an Authentizität zu binden dient deshalb bei ihm dem Zweck, die Handlungsgründe einer Person tatsächlich auf ihre eigenen basalen Werte und Verpflichtungen zu Gründen und auf diese Weise Entfremdung, Manipulation und Betrug oder Selbstbetrug so weit wie möglich auszuschließen. Eine Person ist autonom nur dann, wenn »her motivating states are truly her own.«15 Christman formuliert zwei Bedingungen, die gelten müssen, wenn wir einer Person Autonomie zuschreiben wollen: sie muss über bestimmte Fähigkeiten verfügen, wie Rationalität, Selbstreflexion, etc, die es ihr ermöglichen, über ihre Wünsche, Werte und Verpflichtungen auch im Blick auf deren Entstehungsgeschichte nachzudenken und auf deren Basis Intentionen zu entwickeln (die competency condition). Und weiterhin muss sie authentisch sein: sie ist autonom nämlich nur dann, wenn sie sich von ihren basalen Werten, Überzeugungen, usf. nicht entfremdet fühlt; und wenn ihr tatsächlicher oder hypothetischer Reflexionsprozess nicht behindert oder verhindert wird durch reflection-distorting elements (die authenticity condition).16 Auch bei Christman finden wir folglich ein ähnliches Modell wie bei Frankfurt, jedoch in einer sehr viel komplexeren Version: eigene Handlungsgründe sind bei ihm geknüpft an eine Reflexion auch darauf, woher diese Wünsche und Motive, denen wir folgen wollen, weil sie Teil unserer Identität ausmachen, eigentlich stammen. Die autonome Person reflektiert auch darauf, ob die basalen Werte, an denen sie sich orientiert, tatsächlich auch zu Recht ihre eigenen genannt werden können und zu Recht ihre In-

Vgl. Christine Korsgaard: The Sources of Normativity, Cambridge 1996 und Christine Korsgaard: Morality as Freedom, in: Christine Korsgaard: Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, 159–187. 15 Vgl. John Christman: The Politics of Persons: Individual Autonomy and Socio-historical Selves, Cambridge 2009, 141, auch 149 f.; 155 ff. 16 Ebd., 155. 14

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tentionen und Handlungen bestimmen, sie beispielsweise nicht strukturellen Manipulationen ausgesetzt ist.17 Man könnte noch andere Autoren diskutieren, die auf die eine oder andere Weise ein vergleichbares Modell von Autonomie und eigenen Greunden vorstellen.18 Doch die skizzierten Positionen sind ausreichend: denn mir geht es darum, was ihnen gemeinsam ist. Gemeinsam ist ihnen die Idee, dass eine Person autonom ist dann, wenn sie zwischen ihrer Identität, ihren basalen Werten (oder Projekten) als der normativen Quelle und ihren handlungsleitenden Intentionen oder Motiven die richtige Sorte Verbindung hat, nämlich die der reflektierten und authentischen Aneignung, so dass sie zu Recht Handlungsautorität (agential authority) beanspruchen kann: nur dann sind ihre Handlungsgründe im emphatischen Sinn ihre eigenen. Auf der einen Seite scheint etwa die Theorie von Christman hinsichtlich der Frage, unter welchen Bedingungen wir Personen Autonomie zuschreiben können – und damit auch uns selbst – plausibel; auf der anderen Seite scheint es eine zu starke, zu unzweideutige und zu unproblematische Perspektive auf die Handlungsgründe einer Person zu werfen. Autonom kann man, das will ich versuchen zu zeigen, auch handeln, wenn man nicht nach genau diesem Modell handelt. Ich will deshalb in meinem nächsten Schritt vor allem zwei Aspekte dieses Modells problematisieren: die Frage, wer man ist und also die Bedeutung der Identitätsfrage, der basalen Werte oder Verpflichtungen für die Autonomie und die eigenen Gründe einer Person. Und die Frage, wann genau man eigentlich weiß, welches der Grund war, aus dem man gehandelt hat. Beides, die Sicherheit darüber, wer man ist und die vorgängige authentizitätsstiftende Reflexion und reflektierte, authentische Entscheidung, scheinen mir als durchgängige Bedingungen für Autonomie zu stark. Man könnte meinen, dies sei eine Kritik an den idealen oder idealisierten Bedingungen normativer Autonomietheorie, ähnlich wie sie etwa die nicht-idealen Theorien an den normativen Gerechtigkeitstheorien üben. Oder man könnte meinen, die Kritik bestünde darin, dass das gängige Autonomiemodell phänomenologisch nicht plausibel sei, weil es falsche idealisierte Bedingungen annehme. Doch meine Kritik sollte nicht verstanden werden als prinzpielle Kritik an idealen, normativen Theorien. Normative Theorien sind natürlich immer in gewisser Weise abstrakt und ideal. Worum es mir geht, ist einerseits um eine Kritik an der Notwendigkeit der begrifflichen Voraussetzungen des gängigen Autonomiemodells; andererseits um den Versuch der Plausibilisierung einer alternativen Perspektive durch eine alternative Interpretation dessen, was es heißt, autonom zu handeln. Das Identitäts-Reflexionsmodell formuliert allenfalls

Zu den unterschiedlichen Konzeptionen (internalistisch, externalistisch usf.) vgl. Beate Roessler: Autonomie, in: Handbuch Angewandte Ethik, hg. von H.C. Neuhäuser, R. Stoecker, M.L. Raters, Stuttgart 2011, 93–98. 18 Zum Beispiel John Martin Fischers Theorie von Willensfreiheit und Narrativität, David Vellemans Begriff des Ideals, Michael Bratmans Theorie von Plänen und Intentionen – all diese Theorien spezifizieren den Autonomiebgeriff und das Handeln aus eigenen Gründen mit jeweils unterschiedlichen Bestimmungen der »normativen Quelle« dieser Gründe. 17

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hinreichende Bedingungen für die Autonomie einer Person, jedoch keine notwendigen. Wenn folglich die Zuschreibungsbedingungen von Autonomie idealisiert sein müssen, dann sollten es die jeweils passenden idealen Bedingungen sein, die die normative Theorie formuliert. Was »passend« hier heißt, muss sich nicht nur an theoretischer Konsistenz, sondern auch an plausiblen Interpretationen autonomen Handelns beweisen. Dies will ich im folgenden erst ein wenig genauer erklären und dann mit Hilfe von Beispielen illustrieren. IV. Es sind verschiedene Autoren, die an dem skizzierten gängigen Modell auf unterschiedliche Weise Kritik üben. Dazu gehoeren etwa Paul Benson oder auch anerkennungstheoretische Ansätze wie die von Anderson und Honneth, denen gemeinsam ist, dass sie die sozialen Kontexte autonomen Handelns im Begriff der Autonomie selbst berücksichtigen wollen.19 Unter diesen Kritikern des gängigen Autonomiemodells ist es jedoch vor allem Robert Pippin, der explizit gegenüber dem Identitäts-Reflexionsmodell eine andere Perspektive entwickelt.20 Der Fehler, so Pippin, den ein solches Denken über Autonomie macht, liegt vor allem an der Orientierung an einer – übertriebenen, idealisierten – Idee des know thyself, be true to yourself. Diese Idee von »Identität« oder »Selbst« sei jedoch aus verschiedenen Gründen nicht angemessen: stattdessen sollten wir die Idee des Werde der du bist als orientierende Idee von Identität in einer Theorie von Autonomie zugrundelegen. Erst im Handeln selbst, das ist die Idee, realisiert die Person sich, wird sie sich bewusst davon, wer sie ist und welches die eigenen Gründe sind, aus denen sie gehandelt hat. Autonomie bringt sich häufig nicht in der Trias von Identität – Reflexion – Entschluss/Handlung zum Ausdruck, sondern umgekehrt entschließt sich eine Person zum Handeln und wird sich erst dadurch darüber klar, was sie »eigentlich« wollte und wer sie deshalb ist. Dazu gehört auch, dass es nicht ausschließlich ihre eigene Interpretation der Bedeutung von Entschluss und Handlung ist, die sie sich zu eigen macht, sondern die von anderen, im Kontext derer sie immer schon reflektiert und handelt. Die Aneignung eines eigenen Grundes geschieht dann erst ex post. Eigene Gründe erscheinen in dieser Theorie von Autonomie zwar immer noch als notwendig, um einer Person Autonomie zuschreiben zu können; aber sie haben einen

Vgl. Paul Benson: Taking ownership: Authority and Voice in Autonomous Agency, in: Autonomy and the Challenges to Liberalism, ed. by Joel Anderson und John Christman, Cambridge 2005, 101–126; Joel Anderson und Axel Honneth: Autonomy, Vulnerability, Recognition, and Justice, in: Autonomy and the Challenges to Liberalism, ed. by Joel Anderson und John Christman, Cambridge 2005, 127–149. 20 Vgl. zum folgenden Robert Pippin: On ›Becoming Who One is‹ (and Failing): Proust’s Problematic Selves, in: Robert Pippin: The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath, Cambridge 2005, 307–338; vgl. auch Robert Pippin: Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, Cambridge 2008, bes. 3 ff.; 65 ff. und Robert Pippin: Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne, Frankfurt 2005. 19

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anderen Stellenwert: weil ich, überspitzt gesagt, nicht immer schon weiß, was ich wirklich will, da ich nicht immer schon weiß, wer ich wirklich bin. Und es kann sein, dass ich erst weiß, nachdem ich gehandelt habe, was ich eigentlich wollte und damit auch, wer ich eigentlich bin. Um diesen Zusammenhang genauer zu erklären, will ich drei Aspekte einer solchen alternativen Perspektive auf Autonomie skizzieren; dabei orientiere ich mich grob an Pippins Theorie. Der erste Aspekt betrifft die Beziehung zwischen der Identität einer Person und ihrer Handlung: gegen das Identität-Reflexionsmodell, das davon ausgeht, dass wir auf der Basis unserer Identität, Werte usf. handeln, kann man nämlich zunächst einmal einwenden, dass unsere Identität nichts feststehendes ist, sondern dass wir häufig darum ringen müssen, eine praktische Identität zu haben und zu entwickeln und dass der Ort dieses Ringens nicht primär die Reflexion, sondern das Handeln selbst ist: »exercising your agency is always an active becoming, a struggle against bad faith, inauthenticity, temptation to conformism«, so beschreibt Pippin es, als einen »struggle for perspective«, von der aus man allererst eine Einheit von Handlungen ausmachen kann.21 Unseren Charakter, unsere praktische Identität zum Ausdruck zu bringen, bedeutet dann nicht, »being true to oneself«, sondern »becoming who one is«, oder jedenfalls zu werden, der man sein will. Identität ist nicht jeweils immer schon gegeben, sondern wird zum ethischen Problem, zur Aufgabe, die verlangt, herauszufinden, wer man ist, und wie man handeln soll und gegebenenfalls gehandelt hat.22 Dieser erste Aspekt einer alternativen Perspektive fokussiert folglich die immer schon praktische Dimension von Autonomie, aus der Perspektive der ersten Person: Erst im Handeln selbst realisieren wir die »richtige« Beziehung zwischen Identität und Motiv und erst im Handeln selbst sehen wir, was wir offenbar wollten, und müssen uns und unser angenommenes Selbstbild, unsere Identität, dann gegebenenfalls korrigieren. Der zweite Aspekt, den ich hier skizzieren will, nimmt die epistemologische Problematik in den Blick. Er betrifft die Beziehung zwischen Selbsterkenntnis und Handlung: im Identitäts-Reflexionsmodell wird diese Beziehung so dargestellt, als entdecke man in der Selbstreflexion gleichsam etwas, um dann auf der Grundlage dieser Entdeckung handeln zu können – so etwa, wenn wir bei Harry Frankfurt erst genau auf unsere cares, volitionalen Notwendigkeiten reflektieren müssen, bevor wir wissen können, was wir wirklich wollen. Doch diese Beziehung sollte als sehr viel komplexer begriffen werden: ein simples Introspektionsmodell, das epistemologisch naiv von einem gegebenen

Vgl. Robert Pippin: On ›Becoming Who One is‹ (and Failing): Proust’s Problematic Selves, in: Robert Pippin: The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath, Cambridge 2005, 307–338, 310; Robert Pippin: Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, Cambridge 2008, 155 ff. 22 Vgl. ebd., 66 ff.; vgl. auch Paul Benson: Taking ownership: Authority and Voice in Autonomous Agency, in: Autonomy and the Challenges to Liberalism, ed. by Joel Anderson und John Christman, Cambridge 2005; auch in den von mir als »gängig« bezeichneten Theorien von Autonomie findet sich dieser Begriff von identity oder unity of agency als Leistung, die immer wieder vollbracht werden muss, vgl. z. B. Catriona Mackenzie and Jacqui Poltera: Narrative Integration, Fragmented Selves, and Autonomy, in: Hypatia 25 (2010), 31–54. 21

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Selbst ausgeht, das es zu finden gilt, kann dem konstruktiven, konstruierten Charakter des Selbst, das auch im Handeln hervorgebracht wird, nicht gerecht werden. Selbstbilder müssen phänomenal angemessener begriffen werden als Anleitungen sich im Handeln zu beweisen. Denn jedes Selbstbild, das nie im sozialen Raum artikuliert wurde oder sich beweisen musste, kann sich als Täuschung herausstellen.23 Nur so lässt sich eine Differenz festhalten zwischen nur vermeintlicher Selbsterkenntnis, Selbstbetrug einerseits und dem Selbst, das sich im Handeln zeigt und von mir – mit eigenen Gründen – befestigt werden kann. Dass eine Aussage über mich und meine Identität wahr ist, ist dann nicht eine Frage der Entdeckung, sondern eine Frage des resolve, der Entschlossenheit, in der Handlung. Das epistemologische Problem der autonomen Handlung – wie weiß ich, was ich wirklich will? – wird dann nicht in der Introspektion und Reflexion situiert, sondern in der Handlung selbst. Der dritte Aspekt betrifft explizit die Beziehung zwischen der Handlung und ihrem sozialen Kontext. Denn für die Frage, wie man gehandelt hat, was die eigene Handlung bedeutet, ist nicht nur die eigene Intention relevant, sondern auch die Interpretation von anderen, der Ort der Handlung im sozialen Raum, auch die Beschreibung der Handlung im Blick auf soziale Normen. Ein großer Teil des Kampfes darum, zu werden der man ist, vollzieht sich in Beziehungen zu anderen, wie Pippin schreibt.24 Die praktische Identität einer Person, ihr Charakter und damit auch ihre Handlungsintention beruht keinesfalls nur auf einer intensiven Selbsterforschung, sondern Intention und Identität beweisen sich immer erst im sozialen Kontext und können sich erst dann beweisen.25 Denn wenn sich die, die ich wirklich bin, erst im Handeln selbst zeigt, dann ist diese Interpretation dessen, wer ich bin, nicht mehr nur abhängig von meiner eigenen Intention, sondern ihre Bedeutung wird durch die Interpretation anderer mitkonstituiert. Wer ich bin, sein kann und sein will, ist nicht nur meine Sache: es ist auch Sache sozialer Interpretation und sozialer Normen.26 Mit diesen drei Aspekten will ich die Richtung skizzieren, in der eine andere Perspektive auf Autonomie in Grundzügen vorzustellen ist, eine andere Persrpektive auf Identität und Handlung. Autonomie wird dann als Leistung begriffen, als achievement,

Vgl. Robert Pippin: On ›Becoming Who One is‹ (and Failing): Proust’s Problematic Selves, in: Robert Pippin: The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath, Cambridge 2005, 307–338, 311; 315; 318; vgl. ähnlich in seiner normativen Theorie von self-knowledge Richard Moran: Authority and Estrangement. An Essay on Self-Knowledge, Princeton 2001, etwa 20 ff. 24 Vgl. wiederum Joel Anderson und Axel Honneth: Autonomy, Vulnerability, Recognition, and Justice, in: Autonomy and the Challenges to Liberalism, ed. by Joel Anderson und John Christman, Cambridge 2005, 127–149; vgl. Robert Pippin: On ›Becoming Who One is‹ (and Failing): Proust’s Problematic Selves, in: Robert Pippin: The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath, Cambridge 2005, 318 ff.; vgl. Robert Pippin: Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, Cambridge 2008, 155 f. 25 Ich kann auf das Argument, das Pippin im Anschluss an Hegel entwickelt und die Sozialisierung der praktischen Vernunft beschreibt, nicht genauer eingehen, vgl. besonders ebd., 151 ff. 26 Vgl. Robert Pippin: On ›Becoming Who One is‹ (and Failing): Proust’s Problematic Selves, in: Robert Pippin: The Persistence of Subjectivity: On the Kantian Aftermath, Cambridge 2005, 307–338, 319. 23

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nicht als Bedingung, unter der man immer schon handelt, sondern als etwas, das wir im Handeln erreichen, uns im Handeln aneignen, erarbeiten müssen. Wenn Autonomie gebunden ist an das Gründe-geben fürs eigene Handeln im sozialen Raum, kann die Handlung als autonome auch nicht ex ante bestimmt werden. Die eigenen Gründe haben dann folglich einen anderen Platz in der Autonomietheorie als im Identitäts-Reflexionsmodell: es sind Gründe ex post, die als eigene erst begriffen und beschrieben werden können in der resultierenden sozialen Situation. Fraglich ist dann natürlich, ob die eigenen Gründe nicht immer auch schon mit anderen geteilte, durch andere mitbestimmte sind.

V. Mir scheint es am plausibelsten, die Überzeugungskraft dieser Skizze von Autonomie zu verdeutlichen anhand der Interpretation konkreter Beispiele. Die Rolle, die diese Beispiele in meiner Argumentation spielen, ist folglich die der Zeugen: sie sollen verdeutlichen, dass es nicht immer das gängige Autonomiemodell ist, das die Phänomene des autonomen Alltags am besten erklären kann und das die richtige Artikulation des normativen Autonomiebegriffs darstellt. Die Beispiele, die ich präsentiere, sind nicht einfach von mir erfunden, da es mir sehr viel angemessener erscheint, auf die Einbildungskraft von Schriftstellern zu vertrauen, um das »echte Leben« abzubilden, um also Inhalt, Komplexität und damit Plausibilität eines Beispiels sicherzustellen.27 Solche Beispiele können folglich aus Romanen, aus Tagebüchern oder Autobiographien stammen, so lange sie ausreichend gut und plausibel beschrieben und komplex gestaltet sind – die Grenzen hinsichtlich der Fiktionalität sind fließend, auch Tagebücher sind natürlich Inszenierungen des Autors. Ich werde im folgenden zwei solche literarischen Beispiele präsentieren, eine Passage aus einem Tagebuch, und zwar von Thomas Mann; und eine Passage aus einem Roman, und zwar Revolutionary Road von Richard Yates. Was ich damit zeigen möchte ist, zum einen, was es heißt, aus einem Entschluss heraus zu handeln und erst durch die und in der Handlung selbst sich zu realisieren, wer man ist; und, zum anderen, wie schwierig es ist, aus eigenen Gründen zu handeln, wenn man sich unsicher ist, wer man eigentlich ist; und, zum dritten, dass beides nicht reicht, um jemandem seine oder ihre Autonomie abzusprechen. Thomas Mann lebt im Januar 1936 schon seit drei Jahren im Schweizer Exil, nun in Zürich, wo er eine vorläufige Bleibe gefunden hat, bevor er im nächsten Jahr in die Vereinigten Staaten emigrieren wird. In diesen Jahren hat er bislang noch keine öffentliche Stellungnahme zugunsten der emigrierten Literatur abgegeben, er veröffentlicht noch innerhalb Deutschlands, bei Berman-Fischer und lebt in ständigem Konflikt vor allem mit seinen Kindern Klaus und Erika, die führende Mitstreiter der EmigrationsVgl. dazu John Martin Fischer: Stories, in: John Martin Fischer: Our Stories. Essays on Life, Death, and Free Will, Oxford 2009, 129–144. 27

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bewegung sind und ihren Vater seit langem bedrängen, endlich öffentlich Stellung zu nehmen und sich deutlich auf die Seite der Exilliteratur zu stellen. Korrodi, der Feuilletonchef der NZZ, hatte in einem Beitrag in der NZZ behauptet, es sei keineswegs der Fall, dass die gesamte deutsche Literatur emigriert sei, im Gegenteil seien die wahren deutschen Dichter noch im deutschen Lande, nur die »Romanindustrie« sei emigriert.28 Dagegen wendet sich Mann in seinem Brief an Korrodi. Für ihn ist dies eine entscheidende Situation: zum ersten Mal bezieht er öffentlich Position, zum ersten Mal macht er seine endgültige Absage an Nazi-Deutschland publik. Mann hatte noch 1933 gehofft, mit der Emigration auch eine gewisse Freiheit zu erhalten: »Daher auch das […] Vorhaben, alle Amtlichkeiten und Repräsentativitäten bei dieser Gelegenheit von meinem Leben abzustreifen, … und mich aus den ›Schlingen der Welt‹ mit einem Ruck zu befreien, fortan in voller Sammlung mir selbst zu leben […].»29 Doch spätestens 1936 hat sich dies als Illusion herausgestellt. Mann nimmt den Brief an Korrodi zum Anlass, seine politische Position zu erklären, und ich will einige Passagen zitieren, die für die Frage nach der autonomen Handlung aus eigenen Gründen relevant sind. Im Brief an Korrodi selbst heißt es am Ende: »Und bis zum Grunde meines Wissens bin ich dessen sicher, dass ich vor Mit- und Nachwelt recht getan, mich zu denen zu stellen, für welche die Worte eines wahrhaft adeligen deutschen Dichters gelten […]«, und Thomas Mann schließt bekanntlich mit einem Zitat von August von Platen.30 Im Tagebuch beschreibt er seine Entscheidungssuche, so am 31.1.1936: »Vormittags und nachmittags der Brief an die Zeitung. In Bewegung abgeschlossen. Starke und entscheidende Worte. – Fertigstellung des Maschinen-Manuskripts. Wir aßen um halb acht eine Hühnersuppe und fuhren mit Medi zur Stadt […] (wo sie den Brief abgeben, B.R.). Ich bin mir der Tragweite des heute getanen Schrittes bewusst. Ich habe nach 3 Jahren des Zögerns mein Gewissen und meine feste Überzeugung sprechen lassen. Mein Wort wird nicht ohne Eindruck bleiben.«31 Doch am nächsten Tag geht die Sorge weiter: 1.2.1936 (Sonnabend) »[…] Vormittags Beschäftigung mit dem Brief an die Zeitung, stilistische Verbesserungen daran, brieflich fixiert. […] Heftige Nervenreaktion auf den gestrigen Schritt. Ängste, im Gespräch mit K. geäußert. Telephongespräch mit Korrodi, der den Brief eben gelesen und ihn vorzüglich findet. Ausweichendes Schweigen sei doch nicht durchzuhalten und führe zu schiefen Situationen. – Bedenkzeit bis Montag. – Meine Nervosität galt dem

Details der historischen Situation sind zwar interessant, aber hier nicht wichtig; vgl. z. B. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie, Frankfurt/M. 2005, 409 ff. 29 Am 15.3.1933, Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt 1977, hier 3. 30 Thomas Mann, [An Eduard Korrodi], in: Thomas Mann: Essays, Band 2. Politische Reden und Schriften, hg. von H. Kurzke, Frankfurt 1977, 173–177. 31 Thomas Mann: Tagebücher 1935–1936, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurt 1978, 250; vgl. zum Motiv des Zauderns bei Thomas Mann: Thomas Sprecher: Thomas Mann im Zürcher Exil, in: Prekäre Freiheit. Deutschsprachige Autoren im Schweizer Exil, hg. von N. Rosenberger und N. Staub, Zürich 2002, 85–107, bes. 93 ff. 28

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Zweifel, ob ich natürlich-persönlich gehandelt oder mich zu Fremdem hätte treiben lassen. Sie war vorübergehend und ich werde meinen Text wohl aufs Geratewohl bestehen lassen. […]«32 Thomas Mann – als von ihm selbst inszenierte Figur33 – kann als Beispiel dafür dienen, dass es beim Handeln und bei der Frage nach den eigenen Gründen nicht immer (oder jedenfalls nicht nur) um eine immer ausführlichere, intensivere Reflexion auf die eigene Identität geht. Vielmehr kann es darum gehen, zu wissen, sich dessen bewusst zu sein, dass man sich durch eine Handlung als jemand zeigt oder doch zeigen kann, der man bisher nicht war, der sich als veränderter (gewandelter) präsentiert und dass man sich mit seiner Handlung in einen bestimmten sozialen Raum stellt, einen Raum, der allererst deutlich macht, was man getan hat, und was man tatsächlich wollte. Thomas Mann scheint nicht mit sich zu ringen, um zu entdecken, was er eigentlich im Kern schon wusste, also nicht nach dem Muster des Modells von Identität und Reflexion. Er scheint mit sich viel eher deshalb zu ringen, weil für ihn die entscheidende Frage ist, wer er sein will und wie er dies am angemessensten artikuliert, am besten im sozialen Raum präsentiert. Der Verweis auf den Konflikt zwischen natürlich-persönlich und fremd, klingt zunächst, als denke und handle er anhand des Modells von Identität und Reflexion: es scheint, als wolle er in der reflektierenden Introspektion herausfinden, welche Entscheidung die natürlich-persönliche und welche die fremde wäre. Aber diese Interpretation ist nicht plausibel: denn erst im Entschluss wird ihm klar, wer er tatsächlich sein will und was dies in seinem sozialen Kontext bedeutet – deshalb auch ist er (symbolisch) angewiesen auf die Reaktion von Korrodi selbst und von seiner Frau. Denn wenn seine Entscheidung tatsächlich einfach nur Ausdruck seiner festen Überzeugung wäre, wie er es im Brief schreibt, oder seines Gewissens und seiner festen Überzeugung, wie es im Tagebuch heißt, dann ist natürlich unklar, warum er wieder und wieder zögert (Bedenkzeit bis Montag; Nervosität), warum ihn der Brief noch am nächsten Tag heftige Nervenreaktionen kostet, warum er überhaupt fürchtet, sich »zu Fremden […] treiben« zu lassen. Die Frage scheint für ihn eher die zu sein, ob die eigenen Gründe, aus denen er handeln wird, gehandelt haben wird, so zu ihm passen, so seine eigenen sind, dass er tatsächlich zu dem wird, von dem er meinen will, es zu sein. Thomas Mann weiß, dass er durch die Handlung zu jemandem wird; und noch ringt er damit, ob diese Identität die ist, von der er dachte, vielleicht hoffte, dass es die seine sei. Schauen wir auf ein zweites Beispiel. Revolutionary Road ist ein Roman über die verzweifelten Versuche eines jungen Paares im Amerika der 50er Jahre, so zu leben, wie sie denken, dass sie leben wollen, auch wenn sie vielleicht nicht ganz genau wissen, wie sie eigentlich wirklich leben wollen.34 Thomas Mann: Tagebücher 1935–1936, hg. von P. de Mendelssohn, Frankfurt 1978, 251. Es ist für meine Frage natürlich ganz gleichgültig, ob diese Interpretation auf den tatsächlichen Thomas Mann zutrifft; mir geht es hier nicht um die Psychologie einer historischen Person, sondern um die Plausibilität eines Beispiels. 34 Richard Yates: Revolutionary Road, London 2011; ich verwende dieses Beispiel, leicht verändert, auch in Beate Roessler: Glück, Autonomie und der Sinn des Lebens, in: Die Jagd nach dem Glück. Perspektiven und Grenzen guten Lebens, hg. von K. P. Liessmann, Wien 2012, 267. 32 33

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Frank und April Wheeler lernen sich in New York noch während ihrer Studienzeit kennen, er ein vielversprechender junger Student und sie eine Schauspielschülerin. Ihre Pläne, oder besser: ihre Träume, ein Bohemien-Leben zu führen, eventuell nach Europa zu gehen, in jedem Fall genial und kreativ zu sein, werden durchkreuzt dadurch, dass April schwanger wird. Sie heiraten, Frank nimmt einen Job an in einer Versicherung und sie ziehen in eine Vorstadt von New York, in ein schönes Haus mit einem großen Garten. Ein zweites Kind besiegelt die konventionelle Situation, aus der sich Frank und April nur befreien können durch die gegenseitige ständige Bestätigung darin, dass dies alles eigentlich provisorisch ist, sie eigentlich anders sind als ihre Nachbarn und Kollegen, dass sie eigentlich dieses Leben gar nicht führen wollen und auch nicht führen, weil sie so vollkommen uneins sind mit den Werten, die ein solches Leben verkörpert. Diese Distanzierung führt schließlich zu einem konkreten Plan: sie wollen nach Paris ziehen, damit Frank endlich seine genialen Seiten finden und verwirklichen kann, während April es auf sich nehmen will, als Sekretärin zu arbeiten. Paris als das Symbol aller amerikanischen Träume von Freiheit und Selbstbestimmung. Doch wieder wird April schwanger, wieder droht ihr Traum zu platzen. In den entsetzlichen Streitereien darüber, ob April den Foetus abtreiben lassen soll und damit die Möglichkeit Paris offenhalten, oder ob sie der Moral ihrer Zeit gehorchen und damit in ihrem konventionellen Leben gefangen bleiben sollen, in diesen Streitereien droht nicht nur die Beziehung endgültig zu zerbrechen, sondern wird auch vor allem Franks Ambivalenz gegenüber dem Traum Paris deutlich – so schrecklich ist das konventionelle Leben für ihn, den Mann, letztlich auch nicht. Das traurige Ende ist, dass April bei dem einsamen Versuch, den Foetus abzutreiben, stirbt. Gegen Ende des Romans, der Paris-Traum schon geplatzt und die Beziehung zwischen Frank und April beinahe ruiniert, ergibt es sich, dass April Frank untreu wird (wie Frank im übrigen April auch schon eine Weile untreu war) und die ganze verhedderte Situation, in der keiner von beiden mehr weiß, was er oder sie eigentlich tun soll, in diesem Betrug, im schäbigen Rücksitz eines Autos, kulminiert. Shep, Aprils Betrugspartner, will ihr seine Liebe gestehen, will ein Gespräch führen darüber, dass er bei ihr bleiben will, hat klare Ideen davon, was ihm wichtig ist, was seine eigenen Gründe sind für sein Handeln. April jedoch will schweigen; sie behauptet, nicht zu wissen wer er wirklich ist, aber vor allem, wer sie selbst eigentlich ist. »I really dont know who you are […] And even if I did, she said, I’m afraid it wouldnt help, because you see I dont know who I am, either.»35 Für April ist ein Handeln aus eigenen Gründen, das eine Reflexion auf ihre eigenen basalen Werte, ihre Identität voraussetzt, schon deshalb so schwierig, weil sie nicht mehr weiß, wer sie ist – weil sie nicht mehr weiss, welches eigentlich ihre basalen Werte sind und womit sie sich gegebenenfalls identifizieren könnte und müsste. Die ganze Fragilität eines Lebens, das nicht gelungen gelebt werden kann, weil die äußeren Umstände und starren Konventionen dies beinahe verunmöglichen, aber auch, weil die individuellen Charaktere in dieser Beziehung nicht aufrecht genug sind, nicht ausreichend 35

Richard Yates: Revolutionary Road, London 2011, 264.

Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen

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lebensklug, diese ganze Fragilität kommt in Aprils Unvermögen, sich selbst zu kennen, sich zu entscheiden zwischen verschiedenen Wünschen oder Verpflichtungen (nicht wegen einer Ambivalenz, sondern wegen eines tatsächlichen Noch-Nicht-Wissens), zum Ausdruck. Sie macht deutlich, wie bedrohlich es ist, wenn man jemand ist, die sich in ihren eigenen Handlungen nicht mehr erkennen kann. Denn erst im Entschluss zur Abtreibung, in der Handlung selbst, kann sie sich als jemand mit einer bestimmten Identität erkennen. Die normative Quelle für ihre Handlungsgründe liegt in einem Selbstbild, das sie in die Zukuft projeziert, das sich erst im Handeln selbst realisiert, aber nicht vorher durch Introspektion hätte erkannt werden können. Man könnte einwenden, dass April hier nicht wirklich als jemand präsentiert wird, die autonom handelt. Aber das halte ich für falsch: autonom ist sie jedenfalls in dem Sinn, in dem wir sie – und sie sich selbst – moralisch für die Abtreibung verantwortlich machen würden. Handlungsautorität hat sie in dem Sinn, dass sie diejenige ist, die bewusst und intentional handelt und auch selbst davon ausgeht, dass es ihre Handlung ist, für die sie sich selbst verantwortlich macht. Aber welches ihre eigenen Gründe sind, wird ihr – und uns – erst dann deutlich, wenn sie tatsächlich handelt oder gehandelt hat. Autonom ist sie dann jedoch in einem anderen Sinn als es das Identitäts-und Reflexionsmodell fordert.

VI. Weder Thomas Mann noch April Wheeler würden wir absprechen, autonome Personen zu sein. Dennoch würde vor allem April den Test der Christman’schen AuthentizitätsBedingungen nicht bestehen. Eine solche Kritik erfordert also eine andere Perspektive auf personale Autonomie und eigene Handlungsgründe. Wenn wir zurückgehen zu den obigen Überlegungen zum Begriff der eigenen Handlungsgründe und der Frage nach Handlungsautorität und der normativen Quelle für Handlungsgründe, dann können wir, so denke ich, festhalten daran, dass eine autonome Person die normative Quelle für ihre Gründe und damit ihre Handlungsautorität ausweisen muss in ihrer eigenen Identität. Aber diese steht nicht fest und muss nicht feststehen vor der Handlung, ante festum. Eigene Gründe in jenem emphatischen Sinn können häufig erst post festum als solche beschrieben werden. Dann müssen wir jedoch die Autonomie einer Person, ihre Identitäts- und Charakterbildung beschreiben als Leistung, als Prozess, als Kampf darum, wer sie ist und wer sie sein will, also immer in gewisser Weise als provisorisch, in der Auseinandersetzung mit sich selbst, aber auch mit dem sozialen Kontext und den Interpretationen anderer. Durch die und in der Handlung lehrt man sich selbst kennen. Nun könnte man einwenden, dass auch bei Christman die Zuschreibung von Autonomie nicht erfordert, dass eine Person vor ihrer Handlung im geforderten Sinn auf ihre Motive usf. reflektiert, sondern dass dies nur hypthetisch der Fall sein muss – würde man sie fragen, warum sie dies oder das getan hat, müsste sie eigene Gründe in Christmans Sinn angeben können. Aber auch die hypothetische ex post Reflexion hält immer noch fest an dem Modell, dass man eigentlich erst weiß, wer man ist und was

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man will, und dann auf dieser Basis handelt, nur dass der Reflexionsprozess später expliziert wird. Es geht mir mit diesen Überlegungen folglich nicht um eine alternative Norm von Autonomie: es ist nicht so, dass die Klasse der autonomen Personen im Identitäts-Reflexionsmodell eine andere wäre als die in der skizzierten Alternative. Es geht vielmehr um eine Perspektivenverschiebung: Autonomie wird dann nicht als Eigenschaft, sondern als Aufgabe oder Leistung begriffen, Identität nicht als fixierte, Reflexion nicht als bewusste ante festum. Das verändert unseren Blick auf das Selbstverständnis autonomer Personen und auf die soziale Situierung ihrer Handlungen. Beide Modelle oder normativen Begriffe von Autonomie schließen sich gegenseitig nicht kategorial aus: beide formulieren jeweils hinreichende, nicht jeweils notwendige Bedingungen, beide haben deshalb auch einen je unterschiedlichen Begriff von den je eigenen Gründen der autonomen Person. Man könnte in einem folgenden Schritt versuchen, systematisch verschiedene Handlungssituationen so voneinander zu unterscheiden, dass deutlich würde, welches Modell aus welchen Gründen jeweils das angemessenere wäre. Aber das wäre eben dies, der folgende Schritt.36

Ich danke Monika Betzler sehr für die Einladung zu diesem Vortrag in München. Robin Celikates, Stefan Gosepath und Thomas Nys, ebenso wie den Diskussionsteilnehmern in München, danke ich für Kritik und Kommentar. 36

Eigene Gründe und die Perspektive der ersten Person Christian Budnik

1. Einführung Der Terminus ›eigene Gründe‹ mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen. Eine Weise diese Verwirrung zu explizieren, besteht darin, den Begriff des Grundes auf eine Weise zu interpretieren, die eng mit dem ›Standardmodell‹ der Handlungstheorie1 zusammenhängt. Diesem Modell zufolge lässt sich das Verhalten von Personen vollständig in die beiden Klassen des bloßen Verhaltens und des Handelns unterteilen. Handlungen werden im Rahmen des Standardmodells insofern von bloßem Verhalten unterschieden, als es in ihrem Fall etwas gibt, was aus der Perspektive der handelnden Person dafür spricht, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Das, was aus der Perspektive der handelnden Person dafür spricht, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, wird hierbei als der Grund verstanden, den die betreffende Person für ihre Handlung hat. Handlungsgründe werden schließlich als spezifische mentale Zustände wie Wünsche und Überzeugungen verstanden, in denen die handelnde Person sich befindet, und die kausal dafür verantwortlich sind, dass sie die betreffende Handlung ausführt. So kann eine Person beispielsweise ihre Hand heben, und dieses Verhalten wird genau dann eine Handlung darstellen, wenn es aus Gründen entstanden ist, d. h. wenn es von mentalen Zuständen wie Wünschen und Überzeugungen verursacht wurde, die zum Ausdruck bringen, was aus der Perspektive der betreffenden Person dafür spricht, sich so und nicht anders zu verhalten – etwa dem Wunsch, eine Person auf der anderen Straßenseite zu grüßen, und der Überzeugung, dass das Heben der Hand dazu führt, dass die Person auf der anderen Straßenseite gegrüßt wird. Werden Gründe allerdings auf diese Weise im Sinne von handlungsverursachenden mentalen Zuständen verstanden, so ist nicht zu verstehen, welchen Sinn die Redeweise von eigenen Gründen hat. Ein solcher handlungstheoretischer Ansatz hat keinen Raum für die Auszeichnung einer Teilklasse von Gründen als ›eigene‹ Gründe, weil alle mentalen Einstellungen sich als die ›eigenen Gründe‹ qualifizieren, sobald sie der betreffenden Person zugeschrieben und im Rahmen einer Kausalerklärung ihrer Handlungen fruchtbar gemacht werden können. Der Terminus ›eigene Gründe‹ ist dieser Lesart zufolge verwirrend, weil er eine Tautologie impliziert.

1 Ich übernehme den Terminus ›Standardmodel‹ und seine Charakterisierung von J. David Velleman; vgl. J. David Velleman: Introduction, in: J. David Velleman: The Possibility of Practical Reason, Oxford 2000, 1–31, 5 f. Für die klassische Formulierung des Standardmodells vgl. Donald Davidson: Actions, Reasons, and Causes, in: The Journal of Philosophy 60 (1963), 685–700; wiederabgedruckt in: Donald Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 2001, 3–19.

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Eine prominente Reaktion auf dieses Problem, die zwar nicht unmittelbar mit dem Projekt der Analyse von eigenen Gründen zu tun hat, aber durchaus mit ihm kompatibel gemacht werden kann, besteht in der Kritik der Annahme, dass sich das Verhalten von Personen vollständig in die Klassen des bloßen Verhaltens und des Handelns unterteilen lässt. So weist beispielsweise Harry Frankfurt darauf hin, dass es neben bloßem Verhalten von Personen, das nicht von Gründen verursacht wurde, und Handeln noch die Teilklasse der bloßen Aktivitäten gibt. Wenn eine Person – so Frankfurts Beispiel – gedankenlos mit ihren Fingern auf dem Schreibtisch trommelt, dann liegt hierbei nicht im eigentlichen Sinne des Wortes eine Handlung vor; gleichzeitig wären wir allerdings nicht geneigt, das Trommeln als einen Fall von bloßem Verhalten zu klassifizieren, denn es handelt sich dabei keinesfalls um einen Fall, in dem die betreffende Person vollständig passiv ihrem Trommeln gegenüber steht.2 Im Anschluss an Frankfurt rückt David Velleman Fälle in den Fokus wie etwa denjenigen, in dem eine Person scheinbar aus Versehen ein Tintenfass vom Schreibtisch fallen lässt, während sie dies tatsächlich tut, weil sie den ihr zum Zeitpunkt des betreffenden Ereignisses unbewussten Wunsch hat, eine Situation herbeizuführen, in der andere Personen einen Anlass hätten, ihr ein neues Tintenfass zu schenken.3 In solchen Fällen liegt Velleman zufolge zwar weniger als eine autonome Handlung, allerdings mehr als bloßes Verhalten vor.4 Sowohl Frankfurt als auch Velleman plädieren auf diese Weise dafür, den Fokus der Betrachtung von dem Unterschied zwischen Handeln und bloßem Verhalten wegzurücken. Den ihrer Auffassung nach eigentlich interessanten Gegensatz stellt der Unterschied zwischen unkontrollierten Aktivitäten auf der einen Seite und autonomen Handlungen auf der anderen Seite dar. Eine andere Weise, dieses Manöver zu formulieren, besteht darin, zuzugeben dass das Standardmodell zwar in der Lage ist, eine bestimmte Facette von Handlungen zu erfassen, gleichzeitig allerdings daran festzuhalten, dass diese Facette lediglich eine rudimentäre oder sogar defizitäre Form des Handelns darstellt, die keinesfalls als paradigmatisch für die Handlungen von menschlichen Lebewesen verstanden werden kann.5 Mit der Einführung des Unterschieds zwischen bloßen

Vgl. Harry G. Frankfurt: Identification and externality, in: The Identities of Persons, hg. von A. O. Rorty, Berkeley 1976, 239–251, 239: »Actions are instances of activity, though not the only ones even in human life. To drum one’s fingers on the table, altogether idly and inattentively, is surely not a case of passivity: the movements in question do not occur without one’s making them. Neither is it an instance of action, however, but only of being active.« 3 Vgl. J. David Velleman: Introduction, in: J. David Velleman: The Possibility of Practical Reason, Oxford 2000, 1–31, 3: »The agent wanted to destroy the inkstand so as to make way for his sister to give him a new one; and his desire to destroy the inkstand moved him to brush its cover onto the floor thereby destroying it.« 4 Vgl. ebd., 4: »Such cases require us to define a category of ungoverned activities, distinct from mere happenings, on the one hand, and from autonomous action, on the other. This category contains the things that one does rather than merely undergoes, but that one somehow fails to regulate in the manner that separates autonomous human action from merely motivated activity.« 5 Vgl. J. David Velleman: What Happens When Someone Acts, in: Mind 101 (1992), 461–481; wiederabgedruckt in: J. David Velleman: The Possibility of Practical Reason, Oxford 2000, 123–143, 124: »I shall argue that the standard story describes an action from which the distinctively human feature is 2

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Handlungen und autonomen Handlungen bzw. Handlungen, die »full-blooded«6 sind, wird aber gleichzeitig die Möglichkeit einer sinnvollen begrifflichen Trennung zwischen Gründen, die eigene Gründe sind, und solchen, die es nicht sind, neu eröffnet. So kann das von Velleman bemühte Beispiel auf eine Weise beschrieben werden, nach der die Person, die ihr Tintenfass vom Schreibtisch fallen lässt, dies durchaus aus einem Grund tut – einem Grund, der etwa aus dem unbewussten Wunsch danach besteht, ein neues Tintenfass geschenkt zu bekommen, und der damit einhergehenden Überzeugung, dass ihr Wunsch befriedigt werden wird, wenn sie ihr altes Tintenfass zerstört. Gleichzeitig kann darauf hingewiesen werden, dass es sich bei diesem Grund keinesfalls um einen genuin eigenen Grund handelt, der zu einer autonomen Handlung hätte führen können. Dieser Lesart zufolge besteht die Tatsache, dass eine Person aus eigenen Gründen handelt, nicht schon darin, dass ihr Verhalten von mentalen Zuständen verursacht wird, die lediglich in dem trivialen Sinne als ihre ›eigenen‹ mentalen Zustände aufzufassen sind, dass die betreffende Person in einem relevanten Zeitraum als das Subjekt dieser mentalen Zustände aufzufassen ist; für die Zuschreibung eines im nicht-trivialen Sinne eigenen Grundes bedarf es einem solchen Ansatz zufolge mehr als nur der Zuschreibung eines Wunsches oder einer Überzeugung. Die Frage, die sich an diesem Punkt stellt, ist die Frage nach Bedingungen der Autonomie von Handlungen. Eine ähnliche Strategie scheint hinter Beate Roesslers Ausführungen über ›Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen‹7 zu stehen. Auch Roessler identifiziert die Frage nach eigenen Gründen mit der Frage nach den Bedingungen autonomen Handelns. Im Zuge der Beantwortung der letzteren Frage kritisiert sie ein Autonomieverständnis, nach dem wir, um aus eigenen Gründen zu handeln, zunächst einen Reflexionsprozess durchlaufen müssen, in dessen Zuge wir dasjenige entdecken, was ›unser wahres Selbst‹ ausmacht bzw. dasjenige, wodurch unsere als feststehend und gegeben verstandene Identität zum Ausdruck gebracht wird. Im Anschluss an Robert Pippin und unter Zuhilfenahme von literarischen Beispielen entwirft Roessler hierbei ein Gegenbild zu diesem Verständnis des autonomen Handelns bzw. des Handelns aus eigenen Gründen. Dieses Gegenbild ist zum einen dadurch charakterisiert, dass unsere Identität nicht als etwas bereits Feststehendes verstanden wird, sondern sich primär als ein »ethisches Problem«8 für die um Identität ringende Akteurin darstellt; zum anderen wird diese Aufgabe nicht durch einen Reflexionsprozess auf bestehende psychologische Gegebenheiten gelöst, sondern es erweist sich für die Akteurin oft erst im Handeln, wer sie ist und welche Gründe als ihre eigenen Gründe zu verstehen sind; schließlich macht Roessler darauf aufmerksam, dass dieser aktive Prozess der Identitätsfindung

missing, and that it therefore tells us, not what happens when someone acts, but what happens when someone acts halfheartedly, or unwittingly, or in some equally defective way. What it describes is not a human action par excellence.« 6 Ebd. 124. 7 Vgl. hier und im Folgenden: Beate Roessler: Autonomie und Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründe, in diesem Band, 934–950. 8 Ebd. 943.

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und Aneignung von Gründen nicht im leeren Raum stattfindet, sondern sich vielmehr an der Interpretation von anderen Personen und mit Blick auf soziale Normen immer wieder beweisen muss. Aus eigenen Gründen zu handeln, ist Roessler zufolge demnach wesentlich ein aktiver Prozess, in dessen Zuge wir uns oft erst ausprobieren, verschiedene Handlungsoptionen testen und unser Selbstverständnis mit dem Verständnis, das andere Personen von uns haben, abgleichen, bevor wir – nicht selten erst retrospektiv – Gründe als unsere eigenen Gründe auszuzeichnen in der Lage sind und auf diese Weise unsere Identität konstituieren. Diese ›dynamische‹ Interpretation des Handelns aus eigenen Gründen finde ich selber sehr plausibel, allerdings möchte ich im Rahmen des vorliegenden Textes an einem Punkt ansetzen, der gewissermaßen basaler ist als der Ausgangspunkt, den die Ausführungen von Roessler, aber auch die eingangs angesprochenen Positionen von Frankfurt und Velleman haben. Meine Überlegungen setzen insofern an einem basaleren Punkt an, als es mir im Folgenden zunächst nicht primär um das Phänomen des Handelns selbst gehen wird, sondern um die grundlegende Frage nach einem angemessenen Verständnis des Verhältnisses, in dem Personen zu ihren eigenen mentalen Einstellungen stehen, wenn sie die Perspektive der ersten Person einnehmen. Im Hintergrund dieser Strategie steht die These, dass auf der einen Seite die basale Annahme des Standardmodells, nach der Gründe wesentlich mit der Perspektive der handelnden Person bzw. mit der Perspektive der ersten Person zu tun haben,9 nicht von der Hand zu weisen ist, dass allerdings auf der anderen Seite die meisten handlungstheoretischen Positionen im Gefolge des Standardmodells den genuin erstpersonalen Charakter unseres Verhältnisses zu den eigenen mentalen Zuständen nicht angemessen charakterisieren. Die Perspektive der ersten Person einzunehmen, so die Grobfassung meiner Kritik, erschöpft sich nicht darin, Subjekt mentaler Einstellungen zu sein. Wir können uns sowohl auf erstpersonale als auch auf drittpersonale Weise zu unseren eigenen mentalen Zuständen verhalten, und nur das erstpersonale Verhältnis ist einschlägig, wenn es darum geht, Gründe als die eigenen Gründe auszuzeichnen.10 Vgl. Donald Davidson: Actions, Reasons, and Causes, in: The Journal of Philosophy 60 (1963), 685–700; wiederabgedruckt in: Donald Davidson: Essays on Actions and Events, Oxford 2001, 3–19, 4: »A reason rationalizes an action only if it leads us to see something the agent saw, or thought he saw, in his action.« 10 An dieser Stelle folge ich der in der Diskussion um eigene Gründe wenig umstrittenen und nahezu trivialen Annahme, dass einen eigenen Grund zu haben, zentral mit der Perspektive der ersten Person zu tun hat; vgl. etwa Kirsten Enders und Maureen Sie: Reasons of One’s Own: A Problem? A First Exploration, in: Reasons of One’s Own, hg. von Maureen Sie, Marc Slors und Bert Van den Brink, Sussex 2004, 20–37. Die einzelnen Ansätze unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie jeweils die Perspektive der ersten Person verorten. Während Enders und Sie beispielsweise den Unterschied zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person als den Unterschied zwischen der Perspektive der Person, die einen Grund hat, und den Perspektiven der von ihr unterschiedenen Personen verstehen und auf diese Weise den Unterschied zwischen eigenen und fremden Gründen in die Nähe der Unterscheidung zwischen akteursrelativen und akteursneutralen Gründen rücken, denke ich, dass es von zentraler Bedeutung ist, eine Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person zu formulieren, nach der es auch im Hinblick auf die eigenen mentalen Zustände möglich ist, beide Perspektiven einzunehmen. 9

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Im Folgenden wird es mir deshalb zunächst darum gehen, die Unterscheidung zwischen dem Einnehmen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person bezüglich der eigenen mentalen Zustände schärfer zu konturieren, um gleichzeitig der Frage nachzugehen, inwiefern Handeln aus eigenen Gründen als ein aktiver Prozess der Konstituierung von – wie ich mich am Ende meines Textes ausdrücken werde – normativer Identität verstanden werden muss. Der wesentliche Vorteil, den ich in meinem Vorgehen gegenüber dem Vorgehen von Roessler sehe, besteht zum einen darin, dass ich die Frage danach, was eigene Gründe sind, nicht von vorneherein als die Frage nach Bedingungen für Autonomie verstehe und auf diese Weise begrifflichen Raum für die Möglichkeit lasse, dass es Gründe gibt, die als eigene im Gegensatz zu fremden Gründen verstanden werden können, aber nicht zwangsläufig Handlungsgründe sind. Zum anderen plausibilisiert Roessler ihre Interpretation des Handelns aus eigenen Gründen zu weiten Teilen durch den Hinweis auf literarische Beispiele; während ich dieses Vorgehen durchaus legitim finde, denke ich gleichzeitig, dass sich mit der Thematisierung des Verhältnisses, in dem Personen zu den eigenen mentalen Zuständen stehen, Roesslers ›dynamischer‹ Ansatz auf eine systematisch breitere Basis stellen lässt. 2. Die Perspektive der ersten Person Die Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person spielt in zahlreichen philosophischen Diskussionen eine zentrale Rolle. Für den Kontext der Frage nach einem angemessenen Verständnis des erstpersonalen Verhältnisses, in dem wir zu unseren eigenen mentalen Zuständen stehen, ist diejenige Debatte besonders einschlägig, in deren Rahmen die Unterscheidung zwischen beiden Perspektiven zunächst auf die folgende Weise als eine epistemische Unterscheidung verstanden wird: Ich kann von den mentalen Zuständen wissen, in denen sich eine von mir unterschiedene Person befindet, und ich weiß von meinen eigenen mentalen Zuständen. Beides weiß ich allerdings auf unterschiedliche Weise.11 Mein Wissen von den mentalen Zuständen, in denen sich eine von mir unterschiedene Person befindet, beruht darauf, dass ich das Verhalten dieser Person beobachte oder aber, dass ich diese Person beobachte und bestimmte Schlussfolgerungen aus diesen Beobachtungen ziehe. So kann ich zum Beispiel wissen, dass eine Person fröhlich ist, weil ich sehe, dass sie ein fröhliches Gesicht hat; oder ich kann wissen, dass eine andere Person sich Sorgen darum macht, dass eine bestimmte Bundesliga-Mannschaft absteigen könnte, weil ich mit dieser Person Gespräche geführt habe und viele ihrer Äußerungen unter Zuhilfenahme von zahlreichen Zusatzannahmen als ernsthaften Ausdruck eines teilnehmenden Interesses daran interpretieren kann, dass die betreffende Bundesliga-Mannschaft möglichst erfolgreich ist. Dass ich selbst fröhlich bin oder besorgt, dass ich eine bestimmte Überzeugung habe oder Wünsche und Absichten verschiedener Art – das alles weiß ich übBei der folgenden Rekonstruktion der Problemstellung orientiere ich mich an Richard Moran: Authority and Estrangement. An Essay on Self-Knowledge, Princeton 2001, insbes. 10 ff. 11

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licherweise, ohne die Person, um deren mentale Zustände es sich handelt, beobachten zu müssen oder unter Zuhilfenahme von Zusatzannahmen Schlüsse aus gegenwärtigen oder vergangenen Beobachtungen dieser Person zu ziehen. Das Wissen, das ich von meinen eigenen mentalen Zuständen habe – Wissen von diesen mentalen Zuständen aus der Perspektive der ersten Person – ist im Gegensatz zu dem Wissen von mentalen Zuständen aus der Perspektive der dritten Person in dem Sinne unmittelbar, dass es nicht auf Beobachtung von Verhalten beruht und nicht-inferentiell ist. Und obwohl die Weisen, wie wir aus beiden Perspektiven von mentalen Zuständen wissen können, sich in diesem Sinne fundamental voneinander unterscheiden, sind wir gewöhnlich keinesfalls der Ansicht, dass wir, je nachdem, ob wir die Perspektive der ersten Person oder die Perspektive der dritten Person einnehmen, Wissen von Verschiedenem haben. In beiden Fällen scheint es sich in dem Sinne um Wissen von Gleichem zu handeln, dass es sich jeweils um Wissen von mentalen Zuständen handelt. Unmittelbarkeit stellt demnach ein Merkmal dar, das auf eine zunächst nur wenig voraussetzungsreiche Weise die Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person im Hinblick auf mentale Zustände ermöglicht.12 Bislang habe ich von beiden Perspektiven allerdings auf eine Weise gesprochen, die nahelegt, dass ich die Perspektive der ersten Person nur im Hinblick auf mich bzw. meine eigenen mentalen Zustände einnehme, während die Perspektive der dritten Person von mir nur im Hinblick auf von mir unterschiedene Personen eingenommen werden kann. Dem ist, wie eingangs angedeutet, nicht so. Auch was meine eigenen mentalen Zustände angeht, kann ich die Perspektive der dritten Person einnehmen. Dass ich gerade deprimiert bin, werde ich vielleicht erst feststellen, nachdem ich mein erschreckend mißmutiges Gesicht im Schaufenster eines Geschäfts gespiegelt gesehen und den entsprechenden Schluss aus dieser Beobachtung gezogen habe. Andere Beispiele betreffen mentale Zustände, die uns über lange Zeiträume hinweg verborgen bleiben können, etwa unterdrückte Wünsche, von denen wir erst nach aufrichtiger Selbstbeobachtung und unter Zuhilfenahme therapeutischer Hilfe Kenntnis erlangen können.13 Mit der Perspektive der ersten Person im Hinblick auf mentale Zustände verbindet sich also das Phänomen der Unmittelbarkeit. Das Ziel eines Großteils der in der ›SelfKnowledge‹-Debatte vertretenen Positionen besteht darin, eine angemessene Erklärung für dieses Phänomen zu liefern, eine Erklärung, die im besten Fall ausweisen kann, inwiefern es sich bei der erstpersonalen Bezugnahme auf die eigenen mentalen Zustände

Ein mit Unmittelbarkeit zwar zusammenhängendes, aber davon unterschiedenes weiteres Merkmal des Unterschieds zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person, das ich im Folgenden nicht thematisieren werde, ist die mit dem Einnehmen des Standpunkts der ersten Person einhergehende epistemische Autorität: Üblicherweise ist es nicht möglich, erstpersonale Zuschreibungen von mentalen Zuständen wie ›Ich habe Kopfschmerzen‹ oder ›Ich hoffe, dass sich das Wetter bessert‹ auf dieselbe Weise zu kritisieren wie die entsprechenden Fremdzuschreibungen. 13 In diesem Sinne kann auch die Person in dem eingangs angesprochenen Beispiel von Velleman als eine Person charakterisiert werden, die sich ihrem eigenen mentalen Zustand drittpersonal gegenüber verhält, weil sie erst retrospektiv und als Folge von eingehender Selbstinterpretation von ihrem Wunsch danach, ein neues Tintenfass geschenkt zu bekommen, Kenntnis erlangt. 12

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überhaupt um eine Form von Wissen handelt. An dieser Stelle kann es mir weder darum gehen, diesen Debattenkontext nachzuzeichnen, noch eine erschöpfende Erklärung des mit erstpersonalem Selbstbezug einhergehenden Phänomens der Unmittelbarkeit vorzulegen. Stattdessen möchte ich auf eine Position aufmerksam machen, von der ich glaube, dass sie auf eine instruktive und für die Frage nach dem Wesen von eigenen Gründen hilfreiche Weise den Unterschied zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person bestimmt – es handelt sich hierbei um den ›deliberativen‹ Ansatz, der von Richard Moran entwickelt wurde.14 Morans Ansatz geht von der Überzeugung aus, dass sich das Verhältnis zwischen Personen und den mentalen Zuständen, in denen sie sich befinden, nicht darin erschöpft, dass von den mentalen Zuständen auf eine spezielle Weise gewusst wird. Seiner Ansicht nach muss das Verhältnis, in dem Personen zu den eigenen mentalen Zuständen stehen, ›aktiver‹ als in den hergebrachten Ansätzen konstruiert werden, um den Besonderheiten des Standpunkts der ersten Person gerecht zu werden. Wenn wir den Standpunkt der ersten Person gegenüber unseren mentalen Zuständen einnehmen, so die Kernidee, dann haben wir mehr zu tun, als lediglich die Zustände, in denen wir uns befinden, zu registrieren, zu entdecken oder auszudrücken. Moran argumentiert hierbei folgendermaßen: Von bestimmten Einstellungen habe ich erstpersonales Wissen, indem ich an der Entstehung dieser Einstellungen beteiligt bin; danach gefragt, welcher Überzeugung ich bin oder welche Absicht ich habe, muss ich im Gegensatz zu dem Fall, in dem ich herauszufinden versuche, welcher Überzeugung eine von mir unterschiedene Person ist oder welche Absicht sie hat, keine besonderen Anstrengungen unternehmen, weil es an mir ist, mich auf die eine oder andere Einstellung festzulegen. Anders gesagt: Meine mentalen Einstellungen sind vom Standpunkt der ersten Person in dem Sinne »up to me,«15 dass ich ihnen gegenüber einen deliberativen Standpunkt einnehme. Wie lässt sich die Behauptung verstehen, es sei ›an mir‹, in welchem mentalen Zustand ich mich befinde? In diesem Zusammenhang ist Morans Interpretation davon, was es heißt, eine Einstellung auf erstpersonale Weise zuzuschreiben, von zentraler Bedeutung. Bislang habe ich von der erstpersonalen Zuschreibung einer Einstellung als der für den Standpunkt der ersten Person charakteristischen Weise der Bezugnahme auf die eigenen mentalen Zustände gesprochen und diese durch das erklärungsbedürftige Phänomen der Unmittelbarkeit charakterisiert. Moran stellt nun einen neuen, von dem Phänomenen der Unmittelbarkeit unabhängigen und insofern explanatorisch vielversprechenden Aspekt von erstpersonalen Zuschreibungen in den Vordergrund. Eine erstpersonale Zuschreibung wird von ihm als die Behauptung einer eigenen Einstellung definiert, welche die Transparenzbedingung erfüllt.16 Die Metapher der Transparenz

Vgl. Richard Moran: Authority and Estrangement. An Essay on Self-Knowledge, Princeton 2001, vor allem Kap. 2–4. 15 Vgl. ebd., 66. 16 Vgl. ebd., 101: »An avowal is a statement of one’s belief which obeys the Transparency Condition.« Die Idee der Transparenz geht auf die von Wittgenstein gegen das sogennante Beobachtungsmodell des Wissens von den eigenen mentalen Zuständen ins Feld geführte Kritik zurück, und sie wurde 14

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meint hier, dass die einen mentalen Zustand betreffende Frage danach, welcher Überzeugung ich bin, in denjenigen Fällen, in denen die Transparenzbedingung erfüllt ist, direkt auf die Frage danach verweist, wie es sich in der Welt verhält. Bei Erfüllung der Transparenzbedingung werden Fragen der ersten Sorte auf dieselbe Weise beantwortet wie Fragen der zweiten Sorte. Das gilt nicht für alle Fragen danach, ob eine Person einer bestimmten Überzeugung ist. Wenn ich etwa wissen möchte, ob Sarah der Überzeugung ist, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird, werde ich sie beobachten müssen. Vielleicht werde ich bemerken, dass sie in ihrem Keller Nahrungsmittel- und Wasservorräte ansammelt und ziehe daraus den Schluss, dass sie der Überzeugung ist, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird. Oder ich rede mit ihr über die Weltpolitik und gelange aufgrund dieses Gesprächs zu dem Schluss, dass sie glaubt, dass es bald wieder einen Weltkrieg geben wird.17 Meine Zuschreibung ›Sarah ist der Überzeugung, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird‹, erfüllt in diesen Fällen nicht die Transparenzbedingung, weil ich mich im Zuge der epistemischen Prozesse, die zu dieser Zuschreibung geführt haben, mit den Gründen beschäftigt habe, die dafür sprechen, dass Sarah sich in einem bestimmten mentalen Zustand befindet, ohne dass der Gegenstand von Sarahs mentalem Zustand dabei irgendeine Rolle spielen würde. In meinem eigenen Fall dagegen ist die Transparenzbedingung erfüllt, wenn mein Wissen davon, dass ich der Überzeugung bin, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird, auf der Grundlage von epistemischen Prozessen zustande kommt, welche die weltpolitische Lage betreffen. Dass ich der Überzeugung bin, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird, so die Überlegung, weiß ich, indem ich auf dem Weg der Abwägung von Gründen zu der Überzeugung gelange, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird. Meine Überzeugung, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird bzw. dass gute Gründe dafür sprechen, dass es ihn geben wird, ist im Unterschied dazu völlig irrelevant für die Frage, ob Sarah der Überzeugung ist, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird, denn es kann zwar sein, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird, Sarah aber keinesfalls der Überzeugung ist, dass einen dritten Weltkrieg geben wird, ganz einfach weil sie sich darin täuscht, dass es den dritten Weltkrieg nicht geben wird, indem sie die relevanten Gründe nicht sieht oder in ihren Überlegungen falsche Schlussfolgerungen anstellt.

auf folgende Weise von Gareth Evans, auf dessen Beispiel ich mich im Folgenden beziehe, aufgegriffen: »In making a self-ascription of belief, one’s eyes are, so to speak, or occasionally literally, directed outward – upon the world. If someone asks me ›Do you think there is going to be a third world war?,‹ I must attend, in answering him, to precisely the same outward phenomena as I would attend to if I were answering the question ›Will there be a third world war?‹« (Gareth Evans: The Varieties of Reference, hg. von John McDowell, Oxford 1982, 255.) 17 An dieser Stelle müssen allerdings Positionen berücksichtigt werden, denen zufolge wir in Gesprächssituationen dazu befugt sind, uns auf das Wort anderer Personen zu verlassen, ohne einen inferentiellen Schritt machen zu müssen; für die These, dass es in solchen Fällen keiner eigenständigen Rechtfertigung bedarf vgl. vor allem Tyler Burge: Content Preservation, in: The Philosophical Review 102 (1993), 457–488.

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In einem erstpersonalen Verhältnis zu den eigenen mentalen Einstellungen zu stehen, ist der bisherigen Interpretation zufolge durch die beiden Merkmale Transparenz und Deliberation charakterisiert: Dieser Interpretation zufolge nehme ich immer dann die Perspektive der ersten Person ein, wenn ich im Hinblick auf eine bestimmte Frage an die Welt denke und Gründe abwäge, ob dies oder jenes der Fall ist, um mich schließlich auf eine bestimmte Sicht der Dinge festzulegen. Doch das kann nicht die ganze Geschichte sein. Es scheint, dass wir zu einer ganzen Reihe von Einstellungen in einem erstpersonalen Verhältnis stehen, das durch das Phänomen der Unmittelbarkeit charakterisiert werden kann – Einstellungen, für die wir zu dem jeweiligen Zeitpunkt gerade gar keine Gründe abwägen. Ich denke, an dieser Stelle muss Moran ein etwas entspannteres Verständnis der Redeweise vom deliberativen Standpunkt als dem Standpunkt der ersten Person unterstellt werden.18 Zum einen kann zugelassen werden, dass ich auch nach Abschluss eines deliberativen Prozesses den deliberativen Standpunkt nicht verlasse, solange die betreffende Einstellung in dem Sinne ›im Wirkungsbereich‹ von Gründen verbleibt, dass ich bereit bin, sie zu revidieren, sollte sich die für diese Einstellung einschlägige Gründelage verändern. Insofern kann das Verhältnis zu meiner Überzeugung, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird, auch nach der Festlegung auf diese Überzeugung als erstpersonal betrachtet werden, wenn ich nur bereit bin, diese Überzeugung aufzugeben, nachdem ich etwa festgestellt habe, dass sich die weltpolitische Situation in relevanter Hinsicht verändert hat. Damit zusammenhängend kann zum anderen gefordert werden, dass die Perspektive der ersten Person nicht nur im Hinblick auf Einstellungen eingenommen wird, auf die ich mich nach dem Abwägen von Gründen festlege bzw. festgelegt habe, sondern auch auf die Einstellungen, die jeweils als Gründe fungieren.19 In diesem Sinne werde ich in dem Fall, in dem ich nach Abwägung von Gründen zu der Überzeugung gelangt bin, dass es einen dritten Weltkrieg geben wird, nicht nur dieser Überzeugung gegenüber erstpersonal eingestellt sein, sondern auch einer ganzen Reihe weiterer Überzeugungen gegenüber, etwa der Überzeugung, dass terroristische Anschläge sehr wahrscheinlich sind, oder der Überzeugung, dass mehrere Staaten auf der Welt Zugriff auf Nuklearwaffen haben. Zum einen geht es vom Standpunkt der ersten Per-

Eine solche ›entspanntere‹ Lesart von Morans Position halte ich insofern für legitim, als es mir im Gegensatz zu Moran selbst an dieser Stelle nicht darum geht, die Frage nach dem Wesen und Status des Wissens von den eigenen mentalen Zuständen zu beantworten. Im Zusammenhang mit dieser Frage steht es Moran möglicherweise tatsächlich nicht frei, seine Position entsprechend meiner folgenden Ausführungen zu erweitern; mein primärer Fokus im Rahmen dieses Textes liegt allerdings nicht auf epistemischen Problemen, die sich mit dem Phänomen des erstpersonalen Zugangs zu den eigenen mentalen Zuständen verbinden, sondern auf der Frage, wie man möglichst präzise und voraussetzungslos den Unterschied zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person bestimmen kann, um ihn für die Frage nach eigenen Gründen fruchtbar zu machen. 19 Vgl. zu der folgenden Interpretation des Standpunkts der ersten Person vor allem Tyler Burge: Our Entitlement to Self-Knowledge, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series 96, 1996, 91–116; sowie Tyler Burge: Reason and the First Person, in: Knowing Our Own Minds, hg. von C. Macdonald, B. Smith und C. Wright, Oxford 1998, 243–270. 18

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son also darum, meine mentalen Einstellungen als etwas zu begreifen, das normative Kraft hat, d. h. es geht darum, sie als potentielle Gründe für andere Einstellungen zu sehen; zum anderen verbindet sich mit dem deliberativen Charakter des Verhältnisses, in dem ich zu meinen Einstellungen stehe, die Forderung, diese Einstellungen gemäß der Einsicht in Gründe auszubilden oder aber zu revidieren. Plakativ formuliert: In einem erstpersonalen Verhältnis zu meinen Einstellungen zu stehen, bedeutet, dass man sie als Gründe und als von Gründen abhängig betrachtet. Dies wiederum deutet auf den globalen Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person: In einem erstpersonalen Verhältnis zu einer meiner Einstellungen zu stehen, heißt immer, dass man in einem erstpersonalen Verhältnis zu ganzen Zusammenhängen von Einstellungen steht. Eine Perspektive kann als ein solches Netzwerk von Einstellungen verstanden werden; sie einzunehmen bedeutet, dass man einen Anspruch auf die Kohärenz dieses Netzwerks aufrechterhält und auf rationalem Wege Einstellungen ausbildet und revidiert. Bevor ich mich an dieser Stelle der Frage zuwende, wie vor dem Hintergrund des bislang angedeuteten Verständnisses der Unterscheidung zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person die Redeweise von den eigenen Gründen zu verstehen ist, möchte ich meine Moran-Interpretation um drei Punkte ergänzen. Erstens habe ich mich bislang insofern missverständlich ausgedrückt, als ich an einigen Stellen meiner Ausführungen Gründe mit mentalen Einstellungen identifiziert habe. Eine solche internalistische Lesart von Gründen scheint dem für erstpersonale Bezugnahme charakteristischen Merkmal der Transparenz entgegengestellt zu sein. Wenn Sarah der Überzeugung ist, dass es bald einen dritten Weltkrieg geben wird, so kann zwar eine außenstehende Person einen Grund für Sarahs Überzeugung angeben, indem sie auf eine weitere Überzeugung von Sarah, etwa die Überzeugung, dass es viele Staaten mit Nuklearwaffen gibt, hinweist. Aus der Perspektive von Sarah ist es allerdings nicht die Überzeugung, dass es viele Staaten mit Nuklearwaffen gibt, die einen Grund für sie darstellt, davon auszugehen, dass es bald einen dritten Weltkrieg geben wird, sondern dasjenige, was Gegenstand dieser Überzeugung ist. Etwas als einen Grund zu sehen, mag zwar voraussetzen, dass man zum Subjekt einer bestimmten mentalen Einstellung wird. Aus der Perspektive der ersten Person besteht der Grund aber nicht in dem Vorkommen einer bestimmten mentalen Einstellung in meinem psychologischen Haushalt – einer mentalen Einstellung, die ich erst zu entdecken hätte – sondern vielmehr darin, dass etwas in der Welt auf eine bestimmte Weise der Fall ist.20 Zweitens ist zu bedenken, dass der von mir angesprochene Anspruch auf Kohärenz eines Netzwerks von Einstellungen zwar eine notwendige, keinesfalls aber hinreichende Bedingung dafür darstellt, dass eine Person die Perspektive der ersten Person einnimmt. Man denke hier an den möglicherweise bereits als pathologisch zu bezeichnenden Fall einer Person, die Subjekt von zwei oder mehreren in sich stimmigen und kohärenten An dieser Stelle kann es mir nicht darum gehen, eine externalistische Position im Hinblick auf Gründe zu verteidigen; zum Gründe-Externalismus vgl. etwa Jonathan Dancy: Practical Reality, Oxford 2000. 20

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Einstellungsnetzwerken ist, die jeweils inkompatibel miteinander sind – etwa Sarah, eine erfolgreiche Evolutionsbiologin, die in regelmäßigen Abständen Rückfälle in das Werte- und Überzeugungsnetzwerk ihrer katholischen Erziehung erleidet. In diesem Fall kann es zwar sein, dass Sarah auf der Grundlage der Abwägung von Gründen und durchaus an die Welt denkend, zu der Überzeugung gelangt, dass Gott den Menschen erschaffen hat, aber ihr Verhältnis zu dieser Überzeugung wird kaum als erstpersonal bezeichnet werden können, solange sie sich tatsächlich mit dem Überzeugungsnetzwerk der modernen Evolutionsbiologie identifiziert bzw. sich als Evolutionsbiologin, Naturwissenschaftlerin, ein aufgeklärter Mensch oder Ähnliches versteht. Drittens muss schließlich darauf geachtet werden, die Redeweise von der Kohärenz eines Netzwerks von mentalen Einstellungen nicht auf eine Weise zu verstehen, die sie wiederum inkompatibel mit dem Merkmal der Transparenz werden lässt.21 Von einer Person, die nach der Überprüfung einer ihrer Überzeugungen zu der Einsicht gelangt, dass keine guten Gründe mehr für diese Überzeugung vorliegen, als einer Person zu sprechen, die den ›rationalen Druck‹ verspürt, ihre bisherige Überzeugung aufzugeben, mag zwar in einigen philosophischen Diskussionszusammenhängen üblich sein. Gleichzeitig sollte uns diese Ausdrucksweise nicht dazu verleiten, das mentale Leben einer solchen Person lediglich als ein Netzwerk von Einstellungen zu betrachten, das gewissermaßen ›von sich‹ aus nach Kohärenz strebt. Einer Person, die Subjekt mentaler Zustände ist und gemäß der bisher angedeuteten Interpretation des Standpunkts der ersten Person eine entscheidende Rolle im auf die Welt gerichteten Prozess der Ausbildung und Revision von Einstellungen spielen sollte, bliebe einer solchen mechanistischen Interpretation zufolge nichts mehr zu tun übrig, als ›abzuwarten‹, zu welchem Ergebnis das Kohärenzstreben ihres Einstellungssystems führen wird. Aus diesem Problem gibt es einen Ausweg, den ich an dieser Stelle wiederum nur andeuten kann. Die tendenziell drittpersonale Redeweise von ›Kohärenz‹ lässt sich nämlich – so der Vorschlag – durch den Hinweis darauf ersetzen, dass Personen, die die Perspektive der ersten Person einnehmen, sich damit auf einen Standpunkt stellen, der einen Anspruch auf die Verständlichkeit dessen mit sich führt, was Gegenstand der jeweiligen Einstellungen ist. Wenn ich nach Einsicht in eine Veränderung der geopolitischen Situation meine Überzeugung aufgebe, dass es bald einen dritten Weltkrieg geben wird, so ist das aus der Perspektive der dritten Person zwar eine Maßnahme, durch die mein auf diesen Sachverhalt bezogenes Teilnetzwerk von Einstellungen kohärenter wird, aber aus der Perspektive der ersten Person geht es mir bei meiner Überzeugungsrevision nicht darum, Kohärenz in meine mentalen Einstellungen zu bringen, sondern ein verständliches Bild der Welt, in diesem Fall also der geopolitischen Lage zu gewinnen.

Zum Zusammenhang von Rationalität, Transparenz und der Perspektive der ersten Person vgl. Niko Kolodny: Why Be Rational?, Mind 114 (2005), 509–563. 21

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3. Eigene Gründe In welchem Sinne haben meine Ausführungen mit der Frage nach eigenen Gründen zu tun? Im Rahmen meiner Moran-Interpretation habe ich plausibel zu machen versucht, dass das Einnehmen der Perspektive der ersten Person im Hinblick auf die eigenen mentalen Einstellungen wesentlich mit dem Anspruch der diese Perspektive einnehmenden Person verbunden ist, dasjenige, was den Gegenstand der in Frage stehenden Einstellungen darstellt, in einem für die betreffende Person verständlichen Zusammenhang aufzufassen. Umgekehrt kann von einer Person, welche lediglich auf drittpersonale Weise von einer ihrer mentalen Einstellungen weiß, gesagt werden, dass diese Einstellung ihr insofern fremd ist, als sie im Lichte der für den Gegenstand der Einstellung relevanten Überlegungen keinen Sinn macht. So wird etwa Sarah in der im letzten Abschnitt skizzierten Situation ihre Überzeugung, dass Gott den Menschen erschaffen hat, nicht nur als fremd empfinden – sie wird sie genau deshalb als fremd empfinden, weil das, worum es in der Überzeugung geht, Sarah im Lichte der anderen Überzeugungen, die sie hat, unverständlich sein wird, etwa im Lichte von Einstellungen, die sie im Zuge ihrer Karriere als Evolutionsbiologin ausgebildet hat. Sollte Sarah nun in einer bestimmten Situation ihre Überzeugung, dass Gott die Welt erschaffen hat, als Grund für etwas anderes – eine andere Überzeugung, eine Absicht oder eine Handlung – verstehen, etwa indem sie den Entschluss fasst, sonntags in die Messe zu gehen, oder ihre Überzeugung revidiert, dass der Mensch vom Affen abstammt, dann wird sie dies aus einem ihr fremden Grund tun, und ihre resultierenden Überzeugungen, Absichten oder Handlungen werden ihr vor dem Hintergrund ihres Selbstverständnisses als Evolutionsbiologin mehr oder weniger sinnlos und unverständlich erscheinen. Umgekehrt wird Sarah in dem Maße aus eigenen Gründen Einstellungen ausbilden bzw. Handlungen ausführen, in dem diese Einstellungen und Handlungen dazu beitragen, dass sie ein verständliches Bild von der Welt und von sich selbst als Bestandteil dieser Welt gewinnt. Auf diese Weise lässt sich das Einnehmen der Perspektive der ersten Person als ein Prozess der Aneignung von Gründen und der Konstituierung von normativer Identität verstehen, wobei ich an dieser Stelle den Terminus ›normativ‹ verwende, um den Gründe generierenden Charakter dieses Selbstverhältnisses zu markieren und ihn von dem metaphysischen Begriff von Identität abzugrenzen, wie er in der Debatte um personale Identität verwendet wird.22 Der Zusammenhang, den ich bislang zwischen dem Standpunkt der ersten Person, normativer Identität und dem Status von Gründen als eigene Gründe konstruiert habe, Für eine prominente Vertreterin einer ähnlichen Strategie vgl. Marya Schechtman: The Constitution of Selves, Ithaca, London 1996; zu den Begriffen der praktischen Identität oder der Persönlichkeit, die mit meinem Begriff der normativen Identität verwandt sind, vgl. etwa Christine M. Korsgaard: Personal Identity and the Unity of Agency: A Kantian Response to Parfit, in: Philosophy and Public Affairs, 18 (1989), 102–132 und Michael Quante: Person, Berlin 2007, Kap. 8–10; zur Trennung der verschiedenen Identitätsbegriffe vgl. auch Catriona Mackenzie: Introduction: Practical identity and narrative agency, in: Practical Identity and Narrative Agency, hg. von Kim Atikins und Catriona Mackenzie, New York 2008, 1–28. 22

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bleibt in mancherlei Hinsicht erklärungsbedürftig. Zwei Präzisierungen erscheinen mir für den Kontext des vorliegenden Textes von besonderer Bedeutung: Zum einen mag es bemüht erscheinen, den Prozess der Herausbildung und Revision von Überzeugungen als Arbeit an der eigenen normativen Identität aufzufassen. Personen können Überzeugungen ausbilden oder revidieren, die alles Mögliche zum Gegenstand haben, und es scheint nicht gerade plausibel, davon auszugehen, dass die Festlegung auf jede einzelne der von diesen Überzeugungen ausgedrückten Propositionen ebenso relevant für die normative Identität der betreffenden Person sein wird wie die Festlegung darauf, dass Gott den Menschen erschaffen hat. Ich kann zu der Überzeugung gelangen, dass es draußen regnet oder dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, und die Tatsache meines diesbezüglichen Überzeugtseins mag in beiden Fällen dazu führen, dass ich Gründe für weitere mentale Einstellungen bzw. Handlungen haben werde. Davon zu reden, dass beide Überzeugungen mit meiner normativen Identität zu tun haben oder aber die Frage zu stellen, ob es sich bei den damit einhergehenden Gründen um solche handelt, die genuin meine eigenen Gründe sind, mag angesichts solch trivialer Gegenstände wie dem Wetter draußen oder der historischen Rangstellung eines Tennisspielers unangebracht erscheinen. Diesem Einwand kann begegnet werden, indem man wiederum auf den Begriff der Verständlichkeit reflektiert, den ich zum Ende des letzten Abschnitts eingeführt habe. Verständlichkeit ist eine Relation, die graduelle Abstufungen erlaubt: Etwas kann mir mehr oder weniger verständlich bzw. unverständlich erscheinen, je nachdem, in welchem Kontext der Gegenstand meiner Betrachtung situiert ist. Je enger der Gegenstand der in Frage stehenden Überzeugungen mit dem Selbstverständnis der Person, die sich fragt, ob dies oder jenes der Fall ist, verknüpft ist, desto mehr Relevanz wird ihre Herausbildung bzw. Revision für die normative Identität der betreffenden Person erlangen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Überzeugungen eine evaluative Komponente enthalten, wie es im Beispiel der Überzeugung, dass Roger Federer der beste Tennisspieler aller Zeit ist, der Fall ist. Wenn mir der Tennissport nur beiläufig am Herzen liegt, wird meine Festlegung darauf, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist, nur wenig Einfluss auf meine normative Identität haben. Umgekehrt kann es aber sein, dass ich mich als einen international anerkannten Tennisexperten verstehe und für einen solchen von anderen Personen gehalten werde; es kann sein, dass ich mir bei der Frage danach, wer als der beste Tennisspieler aller Zeiten gelten kann, komplexe Gedanken gemacht und dabei verschiedene, subtil abgegrenzte Kriterien der Tennisspielerqualität berücksichtigt habe; es kann sein, dass ich mehreren Tennispartien zwischen den Spielern, die für den Titel des besten Spielers aller Zeiten in Frage kommen, beigewohnt habe, um schlussendlich zu der Überzeugung zu gelangen, dass Federer tatsächlich der beste Tennisspieler aller Zeiten ist. Auch wenn es bei dieser Überzeugung nicht um mich geht, weil Roger Federer bzw. der beste Tennisspieler aller Zeiten ihr Gegenstand ist, wird es sich bei der entsprechenden Festlegung um eine Festlegung handeln, die in einem empfindlichen Ausmaß meine normative Identität betrifft. Gleichzeitig wird die Tatsache, dass ich Federer für den besten Tennisspieler aller

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Zeiten halte, in bestimmten Situationen einen Grund für mich darstellen, der in einem tieferen Sinn als mein eigener Grund betrachtet werden kann, als etwa der Grund, der mit der Überzeugung einhergeht, dass es gerade draußen regnet.23 Die wesentliche Pointe dieser Überlegungen ist, dass die Unterscheidung zwischen eigenen Gründen und solchen, die es nicht sind, keine absolute Unterscheidung ist, sondern graduelle Abstufungen erlaubt: Ebenso wie die Festlegung auf eine bestimmte Proposition in dem Maße die normative Identität einer Person bekräftigen wird, in dem sie den in Frage stehenden Gegenstand als verständlich erscheinen lässt, wird dieser Prozess dazu führen, dass diese Person einen mehr oder weniger eigenen Grund für weitere Einstellungen bzw. Handlungen erlangt. Die zweite Präzisierung betrifft den Gegenstand der Einstellungen, die ich in den bislang angeführten Beispielen thematisiert habe. Wie zu sehen war, kann mein Verhältnis zu den eigenen Einstellungen als erstpersonal und insofern relevant für meine normative Identität betrachtet werden, auch wenn es in den betreffenden Einstellungen gar nicht um mich, sondern etwa um die Geschichte der Entstehung der Arten oder die historische Rangstellung eines Tennisspielers geht. Selbstverständlich kann eine Person aber auch sich selbst zum Gegenstand der Betrachtung machen, indem sie sich auf erstpersonale Weise auf die eigene Vergangenheit oder die eigene Zukunft bezieht. Gerade der letzte Fall, d. h. der Fall, in dem eine Person sich auf die eigene Zukunft bezieht, ist von besonderer Relevanz für die Frage nach eigenen Gründen. In den Beispielen, die ich bislang verwendet habe, war von dem erstpersonalen Verhältnis die Rede, in dem Personen zu ihren Überzeugungen stehen. An dieser Stelle mag kritisch eingewendet werden, (i) dass eigene Gründe zu haben bzw. sich auf erstpersonale Weise auf die eigene Zukunft zu beziehen, weniger mit Überzeugungen und anderen kognitiven Einstellungen als mit Pro-Einstellungen wie Wünschen zu tun hat; und (ii) dass die von mir vorgeschlagene Analyse dessen, was es heißt, eigene Gründe zu haben, nicht auf den Fall von Pro-Einstellungen zu übertragen ist. Ohne hier ins Detail gehen zu können, glaube ich, dass ich im Hinblick auf (i) zugeben kann, dass die paradigmatischen Fälle, die uns vor Augen stehen, wenn wir von eigenen und fremden Gründen bzw. vom erstpersonalen Zukunftsbezug reden, die konative Dimension des mentalen Lebens von Personen betreffen. Gleichzeitig denke ich in Hinblick auf (ii), dass die von mir vorgeschlagenen Kriterien für erstpersonale Bezugnahme auch auf Pro-Einstellungen anwendbar sind. Zwar mag es Pro-Einstellungen geben, bei denen der Hinweis auf das Einnehmen eines deliberativen Standpunkts deplatziert wirkt, weil wir nicht frei sind, uns auf der Basis der Abwägung von Gründen für oder gegen diese Pro-Einstellungen zu entscheiden. Allerdings gilt das nicht für alle

Es kann beispielsweise passieren, dass ich im Rahmen einer Fernsehdebatte darüber reden muss, wer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist. In einer Situation, in der ich über diese Frage auf die skizzierte Weise intensiv nachgedacht habe, und mich gleichzeitig für eine Person halte, der Tennis am Herzen liegt, und die im Hinblick auf den Tennissport eine gewisse Kompetenz aufweist, werde ich in einem emphatischen Sinn aus eigenen Gründen handeln, wenn ich mich dazu entschliesse, öffentlich die Meinung zu vertreten, dass Federer der beste Tennisspieler aller Zeiten ist. 23

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Pro-Einstellungen: Einen relativ unproblematischen Fall stellt die Bezugnahme auf die eigene Zukunft durch Absichten dar: Ähnlich wie im Fall von Überzeugungen kann im Fall von Absichten behauptet werden, dass eine Person insofern den Standpunkt der ersten Person im Hinblick auf die eigene Zukunft einnimmt, als sie sich ihr gegenüber deliberativ verhält, indem sie die Frage ›Was soll ich tun?‹ zu beantworten versucht, diesbezüglich eine ganze Reihe von die Welt betreffenden Sachverhalten zu berücksichtigen hat und bei der Festlegung, dies oder jenes zu tun, schließlich ein mehr oder weniger verständliches Bild von der eigenen Zukunft erlangt.24 Abgesehen von Absichten kann es aber auch Wünsche geben, denen gegenüber wir uns auf die skizzierte Weise erstpersonal verhalten: So kann es Wünsche geben, die in dem Sinne gerechtfertigt werden können, als man auf Überzeugungen hinweist, die mit diesen Wünschen zusammenhängen. Diese Überzeugungen werden wiederum etwas mit der Welt zu tun haben. In diesem Sinne kann ich die Tatsache, dass ich mich in dem Zustand des Wunsches danach befinde, ein Eis zu essen, durch den Hinweis darauf rechtfertigen, dass das Eisessen – ein in der Zukunft liegender Sachverhalt in der Welt – etwas Erstrebenswertes darstellt, und ich werde mich auf der Basis der Abwägung von Gründen dazu entschließen können, diesen Wunsch handlungswirksam werden zu lassen.25 Zum Abschluss des vorliegenden Textes möchte ich in der gebotenen Kürze darauf hinweisen, inwiefern Roesslers eingangs skizzierte ›dynamische‹ Interpretation von eigenen Gründen sich in den Rahmen meiner Ausführungen integrieren lässt. (1) Dass Roessler mit ihrem Hinweis darauf, dass der Prozess der Identitätskonstituierung nichts mit einer nach innen gewandten Suche nach dem ›wahren Selbst‹ zu tun hat, Recht hat, sollte aus meinem wiederholten Insistieren auf dem transparenten Charakter des Einnehmens der Perspektive der ersten Person klar geworden sein: Es gibt kein ›Selbst‹, das ich durch ›Introspektion‹ entdecken oder beobachten müsste, um herauszufinden, welche Gründe tatsächlich meine eigenen Gründe sind; vielmehr be-

Zum Begriff der Absicht, insbesondere zu der These, dass Absichten nicht auf das Vorliegen von Wünschen und Überzeugungen zu reduzieren sind und im Kontext von weitergefassten Überlegungen stehen vgl. Michael Bratman: Intention, Plans, and Practical Reason, Cambridge, Mass. 1987; vgl. in diesem Zusammenhang auch Monika Betzlers Theorie der persönlichen Projekte in Monika Betzler: The Normative Significance of Personal Projects, in: Autonomy and the Self, hg. Von M. Kühler und N. Jelinek, Dordrecht 2012 (im Erscheinen); zum Begriff der Verständlichkeit vgl. vor allem J. David Velleman: Practical Reflection, Princeton 1989. 25 Vgl. in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Wünschen, die ›motivated‹ und solchen, die ›unmotivated‹ sind, in Thomas Nagel: The Possibility of Altruism, Princeton 1970, 29 ff.; für einen weiteren prominenten Ansatz, dem zufolge manche Wünsche eine ›urteilssensitive‹ Komponente haben vgl. T. M. Scanlon: What We Owe To Each Other, Harvard 1998, 18 ff.; vgl. auch Morans Verwendung des Terminus ›desirable‹ in Richard Moran: Authority and Estrangement. An Essay on SelfKnowledge, Princeton 2001, 116 ff. Eine ähnliche Strategie müsste ich auch mit Rücksicht auf Emotionen verfolgen: Hier ließe sich dafür argumentieren, dass es, zumindest für einige Emotionen, Gründe geben kann, so dass Personen, die in bestimmten Situationen diese Emotionen nicht an den Tag legen, rational kritisierbar sind; vgl. etwa Bennett Helm: Emotional Reason, Deliberation, Motivation, and the Nature of Value, Cambridge 2001. 24

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deutet die Tatsache, dass ich den Standpunkt der ersten Person einnehme, dass ich aus einer um Verständlichkeit bemühten Haltung heraus an die Welt und mich als ihren Bestandteil denke; weil es aber, gerade im Hinblick auf das eigene Leben, niemals möglich sein wird, das Ideal der ›absoluten Verständlichkeit‹ zu erreichen, wird das Einnehmen des Standpunkts der ersten Person und eine an eigenen Gründen ausgerichtete Haltung dem eigenen Leben gegenüber immer wieder eine Herausforderung, ein ›Ringen um Identität‹ darstellen. (2) Der soziale Aspekt des Handelns aus eigenen Gründen lässt sich im Rahmen der von mir angedeuteten Position gut einfangen, indem man wiederum auf den für das Einnehmen der Perspektive der ersten Person zentralen Begriff der Verständlichkeit reflektiert. ›Verständlich sein‹ ist nämlich im Gegensatz zu ›kohärent sein‹ eine dreistellige Relation: Etwas kann kohärent im Hinblick auf etwas anderes sein; verständlich kann dagegen nur etwas im Lichte von etwas anderem für jemanden sein. Das gilt zunächst für die Person, um deren Einstellungen oder Handlungen es geht: Ich werde in dem Maße eine normative Identität haben, in dem das, was ich tue oder denke, mir selbst verständlich ist. Als nahezu trivial zu betrachten ist aber, dass zu der Welt, die ich mir verständlich zu machen versuche, der Welt, der ich einen Sinn abgewinnen will, nicht nur ich selbst, sondern viele andere Personen gehören, die sich mit ihren eigenen Perspektiven jeweils um eine verstehende Aneignung derselben Welt bemühen. Der für die Perspektive der ersten Person charakteristische Anspruch auf Verständlichkeit ist in diesem Sinne immer auch schon als ein geteilter Anspruch auf Verständlichkeit zu verstehen, und in diesem Sinne muss Roesslers These, dass das ›Ringen um Identität‹ im sozialen Raum stattfindet, zugestimmt werden.26 (3) In einer entscheidenden Hinsicht scheint Roesslers Ansatz mit meinen Ausführungen in einem scharfen Kontrast zu stehen: Einer zentralen These von Roessler zufolge besteht autonomes Handeln manchmal eben auch darin, dass man etwas tut, was einem zunächst nicht verständlich erscheint, nur um ex post festzustellen, dass das, was man getan hat, in einem tieferen Sinn zu einem selbst gehört. Dagegen habe ich die These zu verteidigen versucht, nach der Personen, die aus eigenen Gründen handeln, dies immer vor dem Hintergrund der Frage nach einer verständlichen Auffassung von sich selber und der Welt, deren Bestandteil sie sind, tun. Gleichzeitig stellt sich aber tatsächlich die Frage, ob das Ringen nach Identität und Verständlichkeit überhaupt eine gute Sache ist. Im Hinblick auf diese Frage bin ich im Rahmen dieses Textes mit Absicht neutral geblieben. Was ich anzudeuten versucht habe, ist, dass das Streben nach Verständlichkeit in gewisser Hinsicht unvermeidbar ist, indem es untrennbar mit der Struktur von Erstpersonalität zusammenhängt.27 Es kann aber genauso gut sein,

Zur sozialen Dimension der Konstituierung von normativer Identität vgl. wiederum Marya Schechtman: The Constitution of Selves, Ithaca, London 1996, 95 f. 27 Vgl. hierzu auch J. David Velleman: Introduction, in: J. David Velleman: The Possibility of Practical Reason, Oxford 2000, 31: »But you cannot attain a similar distance from your understanding, because it is something that you must take along, so to speak, no matter how far you retreat in seeking a perspective on yourself. You must take it along because you must continue to exercise it in adopting 26

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dass ein Leben, dass unter dem Primat der Verständlichkeit steht und gewissermaßen ausschließlich vom Standpunkt der ersten Person geführt wird, eine Überforderung für uns darstellt und ins Extreme getrieben einem gelungenen Leben abträglich ist, weil es letztlich zu einem schalen und einförmigen Leben führt. Von dieser Warte aus müsste die unbedingt positive Konnotation, die sich mit dem Terminus ›eigene Gründe‹ verbindet, überdacht werden und ins Auge gefasst werden, ob es nicht zu einem gelungenen Leben von endlichen Wesen gehört, dass sie manchmal, wenn auch nicht ausschließlich, aus fremden Gründen handeln können. Dies könnte umso wichtiger sein, als es Personen auf diese Weise möglich werden könnte, neue Optionen für das eigene Leben zu entdecken: In diesem Sinne mag es in manchen Fällen angebracht erscheinen, handelnd einem Impuls zu folgen, der sich zum Zeitpunkt der Handlung in keinen Verständniszusammenhang integrieren lässt, weil er – scheinbar oder tatsächlich – nicht zu der normativen Identität passt, die man sich bis zu dem betreffenden Zeitpunkt erarbeitet hat. Entscheidend ist aber, dass man an diesem Punkt nicht stehenbleiben und sich zufrieden in Handlungsmustern einrichten kann, die einem unverständlich und fremd bleiben. Es ist vielmehr zu erwarten, dass Personen, die aus einem fremden Grund gehandelt haben, den Versuch unternehmen werden, sich diesen Grund rückblickend anzueignen, indem sie entsprechende Korrekturen an ihrer normativen Identität vornehmen.28 Das Leben von Personen findet dieser Lesart zufolge im Spannungsfeld zwischen den Standpunkten der ersten Person und der dritten Person – zwischen eigenen und fremden Gründen – statt. Folgt man dieser Einsicht, so erscheint die Frage danach, was eigene Gründe von fremden Gründen unterscheidet, weniger dringlich als die Frage nach den Prozessen, in die wir eintreten, um uns Gründe anzueignen.29 Diesbezüglich hoffe ich mit dem Hinweis auf den rationalen, globalen und transparenten, d. h. auf die Welt gerichteten Charakter des Einnehmens des Standpunkts der ersten Person erste Orientierungspunkte für eine tiefergehende Analyse geliefert zu haben.30

a perspective, where it remains identified with you as the subject of that perspective, no matter how far off it appears to you as an object.« 28 Dass solche Korrekturen vor allem dann nicht einfach zu bewerkstelligen sind, wenn unsere normative Identität in mehr als eine Richtung weist, zeigt Cheshire Calhoun in ihren Ausführungen über den Begriff der Integrität (vgl. Cheshire Calhoun: Standing for Something, in: The Journal of Philosophy 92 (1995), 235–260; vgl. vor allem 238 ff.). 29 Für diese Perspektivverschiebung vgl. Rahel Jaeggi: Seine eigenen Gründe haben (können). Überlegungen zum Verhältnis von Aneignung, Fremdheit und Emanzipation, in diesem Band, 968–985. 30 Für zahlreiche Gespräche, die mir bei der Arbeit an dem vorliegenden Text sehr geholfen haben, danke ich Holger Baumann und Monika Betzler.

Seine eigenen Gründe haben (können). Überlegungen zum Verhältnis von Aneignung, Fremdheit und Emanzipation1 Rahel Jaeggi

Meine folgenden Überlegungen stehen im Zusammenhang der übergreifenden Frage danach, ob und wie die Möglichkeit, ein nicht-entfremdetes und selbstbestimmtes eigenes Leben führen zu können mit dem Umstand zusammenhängt, dass wir in diesem von eigenen Gründen geleitet sind, von Gründen also, die in einem spezifischen Sinne unsere eigenen sein sollen und dabei Gründe bleiben. Hebt die Betonung des »eigenen« Charakters der Gründe die mit der Berufung auf Gründe häufig einhergehende Unterstellung von Ausweisbarkeit und Verallgemeinerbarkeit einfach auf? Oder ist die Teilnahme am »Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen« im Gegenteil Teil dessen, was es bedeutet, sich Gründe »zu eigen machen« zu können? Im Gegensatz zu Vorstellungen, die in diesem Zusammenhang Muster unhintergehbarer Identifikation und Authentizität stark machen, gehe ich davon aus, dass auch eigene Gründe gute Gründe sein und damit kritisierbar und hinterfragbar sein müssen. Mehr noch: Ich fasse das als Vorbedingung des Prozesses auf, den ich mit einem etwas aus der Mode gekommenen Begriff als »Emanzipation« bezeichnen möchte. Um mich dieser Problematik zu nähern, will ich jedoch zunächst herausfinden, in welchem Sinn wir überhaupt von »eigenen Gründen« sprechen können, wie wir also die Rede von den eigenen Gründen überhaupt verstehen können und in welchem Sinne Gründe eigene sein und trotzdem Gründe bleiben können.

I. Eigene und öffentliche Gründe Was sind eigentlich »eigene Gründe«? Auf den ersten Blick ist man versucht, zu sagen: So etwas wie eigene Gründe gibt es gar nicht. Ich kann ein eigenes Fahrrad haben, ein eigenes Zimmer, ein eigenes Bett oder ein eigenes Büro. Manche (sehr wenige) Menschen haben sogar einen eigenen Chauffeur oder einen eigenen Swimming-Pool. Im Allgemeinen bedeutet das, dass ich die entsprechenden Dinge mit niemandem teilen muss und dass ich (und nur ich) über sie verfügen kann. Mit einigem Stolz behaupten einige Menschen auch, sie hätten sich zu bestimmten Fragen eine eigene Meinung gebildet oder in bestimmten Dingen ihren eigenen Stil gefunden – und auch hier scheint das zu bedeuten, dass man sich von anderen unterscheidet und ihnen gegenüber etwas exklusiv Eigenes darstellt.

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Für hilfreiche Hinweise danke ich Lukas Kübler, Daniel James und Gustav Falke.

Seine eigenen Gründe haben (können)

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Nicht-Exklusivität von Gründen Bei Gründen scheint das anders zu sein. Exklusiv, jedenfalls im oben beschriebenen Sinne, können Gründe wohl nicht sein. Gründe haben wir im Gegenteil mit anderen gemeinsam. Das gilt umso mehr, je besser die Gründe sind. Jemand mag mich zum Beispiel dabei beobachten, wie ich sorgfältig vermeide beim Gehen auf die Begrenzungen zwischen den Fußbodenplatten zu treten und nach exakt jedem vierten Schritt eine Drehung um mich selbst vollführe. Auf irritierte Nachfragen kann ich einen Grund für meine Handlungsweise angeben: »Ich laufe deshalb in so seltsamen Zick-Zack-Schritten über den Bürgersteig, weil ich mit meinem kleinen Sohn das Spiel ›nicht die Striche berühren‹ spiele. Das ist dann mein Grund dafür, etwas so oder anders zu tun, also der Grund, der mich in genau dieser Situation dazu bewegt, zu tun was ich tue. Dieser Grund ist aber nicht in dem Sinne mein eigener, in dem mein Fahrrad mein eigenes ist. Er schließt nämlich – anders als der Anspruch auf mein eigenes Fahrrad – andere nicht prinzipiell aus. Für die zufällig auf der Straße entlanglaufende Freundin, die sich unserem Spiel anschließt, gibt es nämlich, sofern sie jetzt mitspielt, denselben Grund dafür, sich in seltsamen Schrittfolgen fortzubewegen. Ihr Grund dafür so seltsam zu laufen unterscheidet sich – als Grund – nicht von meinem.2 Und der Grund wird dadurch, dass wir ihn jetzt teilen, auch nicht weniger. Das wäre beim Fahrrad anders: Wenn ich mich entschlösse, dieses mit einer Freundin zu teilen, dann wäre es nicht mehr mein eigenes Fahrrad und ich könnte es nur noch jeden zweiten Tag benutzen. Was sich hier andeutet, ist folgendes: Gründe besitzt man nicht in demselben Sinne wie Gegenstände, sie sind einem nicht auf dieselbe Weise privativ »zu eigen«. Das zeigt sich schon daran, dass sie ohne Verlust teilbar sind und dass man andere von ihnen gar nicht ausschließen kann.3 Es bleibt also erläuterungsbedürftig, in welchem Sinne Gründe eigene sein können sollen und dennoch Gründe bleiben.

Gemeinsamkeit und Verallgemeinerbarkeit: Die Praxis des Gründegebens Um diese Problematik weiter zu beleuchten, will ich im Folgenden einige Implikationen unserer Praxis des Gründegebens skizzieren, also das, was wir tun, wenn wir uns selbst oder jemandem gegenüber Gründe für unsere Überzeugungen oder Handlungsweisen geben. (Es geht also hier also nicht darum, was Gründe oder gar gute Gründe sind, sondern um die Rolle, die Gründe in unserer Lebens- und Verständigungspraxis spielen.) In diese Praxis des Gründegebens treten wir vor allem dann ein, wenn es einen durch die

Das gilt selbst dann noch, wenn es andere Gründe als meine sein sollten, die sie dazu bewegen, überhaupt an unserem Spiel teilzunehmen. 3 Das gilt auch für die oben erwähnte »eigene Meinung«: Wenn jemand meine Meinung übernimmt hat er mir nichts weggenommen, auch habe ich wenig Anlass, ihn vom Gebrauch meiner Meinung auszuschließen. 2

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Störung von Handlungs- und Verständigungsvollzügen verursachten Erklärungsbedarf gibt. (Wenn mich jemand fragend ansieht, weil ich Zick-Zack laufe, sage ich zum Beispiel: »Das ist nur ein Spiel«; wenn ich gedankenverloren selbst nicht mehr genau weiß, warum ich gerade die fünf Treppen zu meiner Wohnung noch einmal hoch gelaufen bin, mag ich mich daran erinnern: »Ach ja, ich wollte den vergessenen Fahrradhelm holen«. Eine »Störung« in diesem Sinn stellt aber auch das anspruchsvollere konfliktuöse Szenario dar, das sich einstellt, wenn jemand meine Handlungsweise kritisch hinterfragt und ich sie mit Gründen rechtfertige.4) Von dieser Praxis des Gründegebens – des Spiels des »Gebens und Nehmens von Gründen« – möchte ich nun (ohne hier ins Detail gehen zu können) Folgendes behaupten: Erstens: Gründe – auch eigene – sind in einem entscheidenden Sinn öffentlich und nicht-ausschließend. Und umgekehrt: Gründe, über die ich alleine verfüge, und die auf prinzipielle Weise nur mir selbst zugänglich wären, sind keine Gründe im Vollsinn. Unsere Praxis des Gründegebens ist auf Mitteilbarkeit und Teilbarkeit dieser Gründe angelegt und auf sie angewiesen. Wenn ich (m)eine Meinung nicht nur habe, meine Handlungen nicht nur ausführe, sondern diese explizit begründe, mache ich diese – und sei es für mich selbst – zugänglich. Die Welt der Gründe ist, anders gesagt, eine gemeinsame Welt. Und es lässt sich sogar behaupten, dass man (auch) durch das Geben und Nehmen von Gründen die Welt zu einer gemeinsamen macht. Zweitens: Wenn ich jemandem gegenüber einen Grund für meine Handlungsweise angebe, so können andere diesen teilen oder ihm widersprechen.5 Ich ermögliche ihnen damit eine Reaktion. Ich muss dann damit rechnen, dass die anderen meine Gründe auch nicht teilen können, mich nach weiteren Gründen fragen oder die von mir genannten Gründe in Zweifel ziehen und nicht gelten lassen wollen. In diesem Spiel des »Gebens und Nehmens von Gründen« treten Gründe gewissermaßen als Kandidaten auf, die immer nur so lange im Rennen sind, bis ein Gegengrund auftaucht, der nicht entkräftet werden kann. Es scheint dann zum Haben von Gründen zu gehören, dass man sie auch anderen gegenüber geben kann. Und zum Geben von Gründen gehört, dass man diese auf die beschriebene Weise angreifbar – also widerlegbar durch Gegengründe – macht. (Man gibt sie also buchstäblich »aus der Hand« und setzt sie damit der Kritik aus.) Drittens: Die bisher angedeuteten Implikationen der Praxis des Gründegebens werfen nun ein besonderes Licht auf eine Unterscheidung, die auf der Hand liegt. Ich habe bisher schlicht von Gründen gesprochen, ohne zwischen Gründen und »guten Gründen« zu unterscheiden. Es scheint aber einen Unterschied zu machen, ob jemand einen Grund zu haben glaubt oder ob er einen Grund hat. Wenn jemand glaubt, dass es bald »In diese Schule würde ich mein ja nicht geben. Warum tust Du das?« »Ich halte das für eine exzellente Schule, außerdem halte ich im Gegensatz zu Dir nichts von Privatschulen und finde es wichtig, dass das Kind in der Nachbarschaft bleibt.« 5 Umgekehrt zielt die Aufforderung, einen Grund für eine bestimmte Handlung oder Einstellung zu nennen darauf, den Boden einer potentiellen Gemeinsamkeit herzustellen, und das gilt selbst da noch, wo auf dieser Grundlage vor allem eine inhaltliche Differenz deutlich wird, Gegengründe aufkommen. 4

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anfängt zu regnen, ist das der Grund dafür, dass er sich eine Regenjacke anzieht. Stellt sich allerdings heraus, dass es gar nicht regnet (und dass es auch keinen Anlass dafür gab, das zu vermuten) dann wird man sagen, dass es gar keinen Grund dafür gab, die Regenjacke anzuziehen. Oder man denke an jemanden, der als Grund für die seltsamen Zick-Zack-Bewegungen, mit denen er über die Straße läuft, nicht etwa seine Absicht, an einem Kinderspiel teilzunehmen, nennt, sondern behauptet, dass eine Stimme aus dem All ihm diese Bewegungsfolge vorschreibe. Die Bürgersteigplatten, so erläutert er, drohen zu explodieren, sobald er die Striche berühre und vernachlässige, sich nach jedem vierten Schritt einmal um sich selbst zu drehen. Auch diese Person hat einen Grund für ihr seltsames Verhalten. Die Angst vor den Mächten aus dem All und die daraus folgenden Überzeugungen sind tatsächlich das, was es leitet. Dennoch wird es den meisten von uns vermutlich so vorkommen, als ob es in diesem Fall (anders als beim Kinderspiel) eigentlich keinen Grund dafür gibt, »nicht die Striche zu berühren« – einfach weil wir nicht glauben, dass Stimmen aus dem All existieren. Wir werden entsprechend – abhängig von weiteren Umständen – versuchen, die betreffende Person davon zu überzeugen, ihre Verhaltensweise aufzugeben. Hier zeigt sich eine Art von Doppeldeutigkeit in der Rede von Gründen, so dass man geneigt sein mag, zwischen verschiedenen Arten von Gründen zu differenzieren. Joseph Raz unterscheidet mit Blick auf diesen Umstand zwischen explanatory reasons und guiding reasons6. Derselbe Unterschied lässt sich aber auch als der zwischen »Beweggründen« und »normativen Gründen« fassen, wie beispielsweise Michael Smith es tut7. Im einen Fall wird gefragt, welchen Grund jemand für eine bestimmte Handlungsweise hat; im anderen danach, ob es tatsächlich einen Grund für eine solche gibt. Der eine Grund erklärt, warum jemand etwas tut.8 Der andere rechtfertigt dieses Tun. Damit lässt sich also die Frage stellen, ob es einen guten Grund für den Grund gibt, ob der Grund also seinerseits begründet ist. (Oder eben ob der erklärende oder der Beweggrund auch als normativer, als leitender Grund gelten kann.9) In Bezug auf die von mir geschilderte Praxis des Gründegebens stellt sich nun die Frage, wie sich erklärende und leitende Gründe (oder Beweggründe und normative Gründe) eigentlich zueinander verhalten. Handelt es sich hier einfach um zwei Klassen von Gründen (oder um eine simple Äquivokation)? Meine Vermutung ist, dass erklärende und leitende Gründe, wenn wir es von der Praxis des Gründegebens aus betrachten, intern aufeinander verweisen. Erklärende Gründe oder Beweggründe (wie ich sie einfachhin habe und zur Erklärung meiner Handlungen anbringen kann) erheben nämlich, sobald sie innerhalb der Praxis des Gründegebens geäußert werden, den Anspruch, leitende (oder normative) Vgl. Joseph Raz: Introduction, in: Practical Reasoning, ed. by Joseph Raz, Oxford 1988, 2. Michael Smith: The Moral Problem, Oxford 1994. 8 Dafür, dass auch das, selbst wenn es kein guter Grund ist, ein Grund sein kann, spricht, dass es sich von Tun ohne Grund oder bloß kausal verursachtem Geschehen unterscheiden lässt. Man sieht das auch daran, dass man mit Psychotikern manchmal durchaus bindende agreements treffen kann, sofern man sich auf »ihre Welt der Gründe« einlässt. 9 Vgl. dazu Christian Seidel in diesem Band. 6 7

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Gründe zu sein. Oder anders: Erklärende Gründe wollen – jedenfalls da, wo sie zur Beseitigung von Handlungshemmnissen und Irritationen vorgebracht werden – immer auch gute Gründe sein. Im Fall des Zick-Zacklaufenden Psychotikers zu sagen: »Der hat eben seine eigenen Gründe« (auch wenn wir diese nicht teilen können) ist also einerseits angemessen: Er hat ja Gründe, und diese lassen sich sogar sehr exakt beschreiben. Auch lässt sich sein durch Gründe geleitetes Verhalten von anderen Typen des Verhaltens klar unterscheiden. Eine solche Aussage unterläuft andererseits aber den mit Gründen einhergehenden Anspruch auf intersubjektive Geltung. In diesem Sinne signalisiert der Hinweis »er hat seine eigenen Gründe«, dass wir ihn aus der Gemeinschaft der einander Gründe gebenden ohnehin schon ausgeschlossen haben. Die Gründe desjenigen, dem Stimmen aus dem All einen seltsamen Zack-Kurs befehlen, sind tatsächlich nur seine eigenen Gründe10 und er lebt mit diesen eigenen Gründen gewissermaßen in seiner eigenen Welt11. Damit aber handelt es sich in entscheidender Hinsicht nicht mehr um Gründe. Die Gemeinschaft der einander Gründe Gebenden wäre dann so verfasst, dass wir voneinander nicht nur Gründe, sondern gute Gründe (nicht nur erklärende, sondern auch normative Gründe) erwarten. Das, was ich oben als Verfahren des Öffentlichmachens, des Zur-Debatte-Stellens und der Überprüfung skizziert habe, lässt sich jetzt so verstehen, dass wir, selbst wenn wir uns nicht immer unmittelbar auf der Ebene der normativen oder leitenden Gründe befinden, in einem solchen Prozess schrittweise und ggf. konflikthaft überprüfen, ob die in einer bestimmten Situation vorgebrachten Beweggründe als leitende Gründe gelten können.

Szenarien des Gründegebens Ein Blick auf die verschiedenen Szenarien des Austauschs von Gründen und Gegengründen kann diese Behauptung verdeutlichen. In einem solchen Austausch können: a) normative (oder leitende) Gründe auf normative Gründe treffen: Nehmen wir an, ich fände die Ausbreitung von Privatschulen gesellschaftspolitisch verheerend und träfe auf eine Gesprächspartnerin, die dagegen hält, dass eine gewisse Selektion einfach realistisch und dem Fortkommen der eigenen Kinder zuträglich sei. Dabei wirft sie mir vor, meine politische Überzeugung über das Wohl des Kindes zu stellen. Ich mag zunächst meine politischen Gründe weiter erläutern, ihr dann aber weiterhin entgegnen, dass es auch pädagogische Gründe gegen Privatschulen gibt: Kinder in sozial allzu homogenen Gruppen (wie sie in Privatschulen zusammenkommen) machen entscheidende Erfahrungen nicht, die ihrerseits für deren Entwicklung wichtig sind. Außerdem sei es Allerdings kann es sein, dass wir »seine Gründe« erst nachvollziehen müssen, um ihn in einem langwierigen Prozess von der Nichtigkeit überzeugen zu können. In diesen – therapeutischen – Fällen verzichten wir auf die Überprüfung des Geltungsgehalts eines erklärenden Grundes und versuchen stattdessen, entlang einer Kette von erklärenden Gründen Gründe für die Gründe zu finden. 11 Das soll nicht diskriminierend klingen, ist aber vielleicht doch auch phänomenal keine ganz unzutreffende Beschreibung. 10

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nicht ausgemacht, dass diese Schulen qualitativ wirklich besser als die staatlichen seien. Diese Gründe kann meine Gesprächspartnerin sich nun zu eigen machen oder nicht und die Diskussion geht dann weiter oder sie ist beendet. Alle die hier geäußerten Gründe sind – auch wenn über sie (noch) keine Einigkeit erzielt werden konnte – leitende oder normative Gründe oder besser: Gründe mit dem Anspruch darauf, zu gelten, also normativ begründet zu sein. Ich erläutere hier nicht nur, warum ich etwas tue, sondern warum man es, meiner Auffassung zufolge, so tun sollte. (Also nicht nur, welches meine Gründe sind, sondern dass diese auch für andere gelten sollen.) Zur Debatte steht nun, ob diese Gründe intersubjektiv zu überzeugen vermögen. b) In manchen Situationen fängt die Praxis des Gründegebens aber auch damit an, dass jemand schlicht auf seinen Beweggrund verweist – und häufig ist mehr auch nicht verlangt. Wenn ich dem auf der Straße Hinzutretenden erläutere, dass das Zick-Zacklaufen Teil eines Spiels ist, wird dieser vermutlich nicht weiterfragen. Die Erläuterung meiner Beweggründe reicht in diesem Fall aus um die aufgetretene Irritation zu beheben und es ist wenig wahrscheinlich, dass jemand diese hinterfragen wird. Es ist allerdings denkbar. c) Es kann nämlich auch der Fall eintreten, dass der Hinzutretende entgegnet: »Und warum spielst Du überhaupt mit Deinem Kind, statt Dich zu beeilen?« oder dass er mir brüsk entgegnet: »Solche Spiele sind doch total dämlich, warum machst Du das?« Am weiteren Verlauf der nun folgenden Auseinandersetzung zeigt sich, dass auch Beweggründe so etwas wie den »Index« eines Geltungsanspruchs mit sich führen. Stellt jemand sie in Frage, werden wir sie entweder aufgeben oder – als normativen Grund – verteidigen. Mein Beweggrund dafür, mich seltsam über den Bürgersteig zu bewegen (»weil ich ein Spiel spiele«) ist dann aber nicht etwa ein ganz anderer (oder etwas ganz anderes) als der »leitende« oder normative Grund, den ich in dieser Situation zu meiner Verteidigung anführen mag (dass nämlich Spielen nicht dämlich, sondern toll ist und man Zeitverluste im Umgang mit Kindern nicht fürchten, sondern einrechnen soll). Er ist mit diesem verbunden, er ist – im Normalfall – gültig so lange er auch normativ gerechtfertigt ist, oder vielleicht besser: solange ich ihn auch normativ für gerechtfertigt halte. (Stelle ich nämlich beim Blick auf die Uhr fest, dass wir tatsächlich gerade keine Zeit mehr zum Spielen haben, werde ich mir den Einspruch meines Gegenübers zu eigen machen.) Anders gesagt: Der Beweggrund bewegt mich so lange wie ich ihn – auf Befragen – auch als leitenden Grund verstehen und verteidigen kann. In Situationen, in denen unsere Beweggründe in Frage gestellt12 werden, gehen wir also von der Ebene der Beweggründe über zu der der diese implizit tragenden normativen bzw. leitenden Gründe. Was bedeutet das für die Unterscheidung von erklärenden und leitenden Gründen, von Beweggründen und normativen Gründen? Jedenfalls aus Sicht der Praxis des Gründegebens kann es sich nicht um bloße Äquivokation handeln, dass wir sowohl den Umstand, dass wir Zickzacklaufen, um ein Spiel zu spielen einen Grund nennen, als auch die im Konfliktfall hinzugefügte (und hoffentlich überflüssige) Erläuterung, dass 12 Natürlich kann man auch in Frage stellen, dass jemand den richtigen Beweggrund für sein Handeln angibt aber solche Missverständnisse lassen sich schnell auflösen.

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wir das Spielen mit Kindern für eine gute Sache halten. Von der Dynamik des Gründegebens her gedacht ist ein erklärender Grund, der nicht zum leitenden werden könnte (ein Beweggrund, der normativ nicht zu verteidigen ist) nicht lange ein Grund. Eine Änderung in der normativen Geltungsgrundlage führt (wieder: im Normalfall) zu einer Aufhebung des Beweggrunds. Es handelt sich dann genau genommen nicht einmal um eine »Doppeldeutigkeit« unserer Rede von Gründen, sondern schlicht um zwei Dimensionen einer Sache. Auch wenn wir uns manchmal – so wie bei der einfachen Nachfrage nach den Gründen für mein Zick-Zacklaufen – nur auf eine der beiden Dimensionen beziehen (weil uns eben in manchen Fällen die Erläuterung der Beweggründe auf der Basis schon geteilter normativer Gründe) sind doch stets beide mit im Spiel. (Das sieht man in den oben angedeuteten Fällen, in denen beides auseinander tritt bzw. kein geteilter normativer Hintergrund vorhanden ist.) Ob etwas ein erklärender oder ein normativer Grund ist, ist dann, pragmatisch betrachtet, eine Frage der Perspektive. Die erklärende ist die Perspektive der ersten Person; die leitende oder normative ist diejenige, die ins Spiel kommt, wenn diese Perspektive auf die anderen hin überschritten werden soll und Gründe zu intersubjektiven, öffentlich geltenden (gemacht) werden sollen13. Gründe, die wir haben, wollen demnach immer auch gute Gründe sein und bleiben nur Gründe, wenn sie diesen Anspruch mindestens erheben (können).

Ausräumung des Rationalismusvorwurfs Um den naheliegenden Verdacht eines übertriebenen Rationalismus entgegenzutreten, muss ich an dieser Stelle auf zwei Punkte hinweisen: Erstens zielen meine Bemerkungen (entsprechend meinem pragmatistischen Ausgangsinteresse) nur auf den Fall, dass es einen Anlass dafür gibt, das Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen überhaupt zu eröffnen. Solche Anlässe können ganz verschiedener Natur sein, sie können in Handlungshemmnissen oder (Deutungs-)konflikten bestehen. Und selbstverständlich kann es gute Gründe dafür geben, Gründe in einer bestimmten Situation nicht zu nennen, sie nicht publik machen zu wollen (und manchmal müssen sie sich zu veröffentlichungsfähigen Gründen auch erst formen oder klären.) Unterstellt wird hier also nicht die permanente Transparenz und Zugänglichkeit aller verfügbaren Gründe. Und problematisch ist auch nicht jede Art der Unzugänglichkeit von Gründen, sondern nur eine, die sich als praktisch bedeutsame Störung unseres Selbst- und Weltverhältnisses auswirkt. Zweitens geht es in meinem Beitrag um die Explikation dessen, was eigene Gründe sind und ich habe mich nicht auf die Position verpflichtet, dass alle unsere Handlungen, Wünsche und Einstellungen sich auf solche zurückführen lassen. Insofern geht es hier um eine Klärung dessen, wie eigene Gründe zu verstehen sind, sofern es sich um 13 Dem steht nicht entgegen, dass es sich dabei auch um ein inneres Zwiegespräch, um die Rechtfertigung eines Grundes »vor sich selbst« handeln kann.

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Gründe handelt. Und hier ist die Behauptung, dass eine solche Explikation des Motivs der eigenen Gründe nicht sinnvoller Weise zum Resultat haben kann, dass diese sich der Pragmatik des Gründegebens (wie ich sie für den »Normalfall« von Gründen behauptet habe) vollständig entziehen.

II. Partikulare Gründe Ich habe bisher die Öffentlichkeit und den nicht-privativen Charakter von Gründen betont. Aus dieser Sicht scheint die Rede von den »eigenen Gründen« als irreführend zurückgewiesen werden zu müssen. Gründe sind Gründe. Ob man sich diese aber »zu eigen machen« kann bzw. sollte oder nicht, hängt davon ab, ob es gute oder schlechte Gründe sind. Das wiederum sind sie nicht für mich allein. Hat aber unsere Rede von den eigenen Gründen nicht doch einen guten Sinn? Gibt es nicht Gründe, die in diesem Sinne meine eigenen sind, dass nur ich sie verstehen und nur ich sie mir zu eigen machen kann? Kann nicht jemand »gute Gründe« für eine gegebene Handlungsweise haben, die dennoch niemand anders teilen oder nachvollziehen kann und die man weder veröffentlichen möchte, noch auf die Weise zur Disposition stellen kann, wie ich es oben von der Praxis des Gründegebens beschrieben habe?

Eigene als partikulare Gründe Nehmen wir meinen Freund Werner. Er hat eine allen seinen Freunden ganz unerklärliche Vorliebe für offenkundig kitschige Holzengel, die er mit Hingabe sammelt und für die er viel Geld ausgibt. Die Bemerkung »das ist doch aber purer Kitsch« tangiert seine Vorliebe ganz offenbar nicht – und sie ist auch irgendwie unangemessen. Schließlich hat er nicht behauptet, dass es sich bei den Holzengeln um große Kunst handelt. Allerdings sagt er auch nicht einfach: Sie gefallen mir eben – und Schluss. Die Holzengel gefallen ihm, so erläutert er, weil sie ihn an seine Großmutter erinnern, die solche Engel immer zu Weihnachten aufgestellt hat.14 Sie evozieren für ihn eine ganze Flut von Erinnerungen an Lebkuchenduft, Kerzen, Weihnachtslieder und Geschenke, aufgerufen werden hier also komplexe sinnlich-affektive Dispositionen und Bewertungen. Inwiefern handelt es sich in diesem Fall um eigene Gründe? Es scheint sich hier um Gründe zu handeln, die nur für diese bestimmte Person gelten – und dennoch Gründe sind. Hier hätten wir also jetzt tatsächlich einen Fall von etwas, das beides ist: eigen und ein Grund. Sofern der Betreffende überhaupt Gründe für seine Vorliebe geltend macht (die Erinnerung an Großmutter und Lebkuchenduft) geht er davon aus, dass

Er nennt also selbst durchaus Gründe und nimmt seine Vorliebe nicht als letzte Instanz oder pures desire. Das ist in meiner Deutung ein Hinweis darauf, dass er in das Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen eintritt und mit seinem Grund den Anspruch des Begründetseins erhebt (also ihn vom erklärenden zu einem Kandidaten für einen leitenden Grund macht.) 14

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er diese prinzipiell anderen verständlich machen kann und dass diese auf irgendeine Weise nachvollziehbar sein können. Geltend macht er allerdings nicht, dass es verallgemeinerbare Gründe dafür geben könne, Holzengel schön zu finden, also Gründe, die für alle anderen auch gelten müssten. Man kann diese Art von Gründen partikulare Gründe nennen bzw. diese Art des »jemandem zu eigen Seins« von Gründen deren Partikularität. Partikulare Gründe sind die besonderen Gründe, die jemand z. B. auf dem Hintergrund einer spezifischen Lebensgeschichte und einer spezifischen Abfolge von Eindrücken und Prägungen15 für bestimmte Einstellungen und Handlungsweisen haben mag. Und es mögen solche Gründe sein, die unseren Handlungen und Überzeugungen, unserer Lebensführung im Ganzen eine spezifische Färbung geben. Die so beschriebene Konstellation lässt sich nicht für jeden reproduzieren – und genau das ist es, was die »Eigenheit« dieser Gründe ausmacht. Es sind also im Falle meines Freundes Werner seine eigenen Gründe, weil es seine Lebensgeschichte ist, die zu den entsprechenden Vorlieben geführt hat und weil nur er sein Leben lebt bzw. gelebt hat. Solche Gründe sind aber, wie ich im Folgenden ausführen werde, als partikulare nicht notwendigerweise privativ oder exklusiv im oben entwickelten Sinn, sondern auf zu erläuternde Weise dennoch verallgemeinerbar.

Nachvollziehbarkeit partikularer Gründe auf zweiter Ebene Ich mag nämlich Werners Gründe nicht teilen und es mag auch sein, dass niemand auf der Welt sie teilt. Dennoch reagieren wir auch auf die Angabe partikularer Gründe im Zweifelsfall nicht so, dass wir sie einfach hinnehmen. Gerade weil mich ansonsten viel mit meinem Freund verbindet (und ich ihn grundsätzlich für vernünftig halte), werde ich versuchen, mir seine für mich zunächst unerklärliche Vorliebe zu erklären. Wir überprüfen partikular eigene Gründe üblicherweise, indem wir versuchen, sie für uns nachvollziehbar zu machen. Gegebenenfalls stellt sich dann heraus, dass Werner auch aus meiner Sicht einen guten Grund hat, die erwähnten Engel zu sammeln, auch wenn ich mir selbst diesen Grund nicht zu eigen machen kann oder will. (Das unterscheidet seine Gründe von denen des oben erwähnten Psychotikers.) Sind nämlich Werners Gründe dafür, Holzengel zu mögen, von mir nicht in dem Sinne teilbar, dass auch ich sie übernehmen könnte – meine Großmutter hatte keine

15 Man kann neben der historischen (lebensgeschichtlichen) Dimension solcher Prägungen natürlich auch partikulare Konstellationen anderer Art anführen. Jemand kann sich z. B. vor Fleisch ekeln und deshalb Vegetarier sein, ohne dafür die allgemeinen oder politischen Gründe anzugeben, die für Vegetarismus sprechen mögen. Auch dies wäre dann ein partikularer Grund (eine körperlich-konstitutionsmäßige partikulare Verfasstheit), der sich nicht wie der oben beschriebene auf diachroner, sondern auf situativ-synchroner Ebene zu bewegen scheint. Auch solche Fälle unterscheiden sich vom Fall des Psychotikers und nur unter bestimmten Umständen (wie dem drohenden Verhungern z. B.) würde man in solchen Fällen die Rationalität des Gegenübers anzweifeln. Hier scheint es sich also um partikulare Gründe anderer Herkunft zu handeln. (Ich verdanke diesen Hinweis Lukas Kübler.) Allerdings ließen sich ggf. auch für solche Dispositionen lebensgeschichtliche Erklärungen finden.

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Holzengel! – so mag ich mich dennoch daran erinnern, dass auch ich mich zu bestimmten alltäglichen Gegenständen auf für andere schwer nachvollziehbare Weise hingezogen fühle, weil bereits meine Großmutter diese Gegenstände benutzt hat. Ich kann dann gewissermaßen auf einer Ebene zweiter Ordnung – einer Meta-Ebene – nachvollziehen, warum jemand Gründe für eine Einstellung oder Handlungsweise hat, auch wenn ich selbst für diese keine Gründe habe. Teilen tue ich in einem solchen Fall lediglich den übergeordneten Gesichtspunkt.16

Verstehen, nachvollziehen, teilen An dieser Stelle nun lassen sich verschiedene Modi der Teilbarkeit von Gründen unterscheiden: – Verstehen kann ich auch die Gründe des Psychotikers, d. h. ich weiß, was es bedeuten würde, Stimmen aus dem All zu hören und was die angemessene Reaktion auf Stimmen aus dem All wäre, falls es sie gäbe, und ich kann, sobald ich erfahre, dass er glaubt, Stimmen aus dem All zu hören, sein Verhalten deuten, auch wenn ich glaube, dass seine Gründe keine guten Gründe sind und vermute, dass sie der Nachfrage nicht standhalten. (Es gibt demgegenüber auch Gründe, die nicht einmal verständlich wären oder die in Bezug auf das, was sie begründen sollen gänzlich unpassend wären.17) – Nachvollziehen allerdings kann ich seine Gründe nicht. Als Nachvollziehen von Gründen will ich in dieser kleinen Typologie eine Haltung bezeichnen, in der man die Gründe des anderen für gerechtfertigt, sie für gute Gründe hält, ohne sie sich deshalb selbst zu eigen zu machen. (Die Haltung also, die wir dem Holzengelsammler gegenüber einnehmen.) Das kann, muss aber nicht immer die Form annehmen, dass man seine Gründe wie oben beschrieben auf einer zweiten Ebene – einer Meta-Ebene – teilen kann. – Gründe zu teilen wiederum – als stärkste Form – bedeutet, sich diese Gründe zu eigen zu machen, sie für gute Gründe zu halten und dieselben Gründe für sich auch wirksam werden zu lassen. Dass Gründe prinzipiell verallgemeinerbar sind, wie oben behauptet, bedeutet dann nicht, dass wir alle immer dasselbe set von Gründen haben müssten, sondern dass sie überhaupt von der Art sind, dass sie als öffentlich, vor anderen akzeptable »gute Gründe« fungieren können, ob nun im Modus des Nachvollzugs oder in dem des Teilens. Eine andere Weise, denselben Punkt zu machen wäre der Hinweis, dass solche partikularen Gründe eben nicht nur für diese Person gelten, sondern für eine jede Person in derselben Art von Situation. So etwas meint zum Beispiel auch Kant, wenn er von der »Mitteilbarkeit« ästhetischer Urteile (»Du solltest genauso urteilen, wenn Du in meiner Situation wärst«) spricht. In dieser Hinsicht sind partikulare Gründe dann tendenziell verallgemeinerbar. Gründe, die »mitteilbar« oder »nachvollziehbar« sind, lassen sich doch insofern verallgemeinern, als dass sie von jeder Person in derselben Situation geteilt würden. Und die Nicht-Gründe des Psychotikers unterscheiden sich von partikularen Gründen dann, insofern niemand in genau seiner Situation ist oder sein könnte. 16

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Öffentlichkeit partikularer Gründe Ich habe oben eigene als partikulare Gründe aufgefasst – und damit die von den eigenen Gründen nicht über deren Exklusivität, sondern über die besondere Konstellation von Erfahrungen, die denjenigen, der solche Gründe hat, auszeichnen, bestimmt. Jemand, der »eigene Gründe« hat, hat schlicht seine Gründe dafür, etwas zu tun, Gründe, die in einer bestimmten Situation, Position und Lebensgeschichte ihren Ursprung haben. Diese sind damit aber nicht privativ, sondern müssen sich, wenn sie Gründe bleiben wollen, dem Versuch der anderen, sie nachzuvollziehen und zu bewerten, aussetzen können. Auch partikular-eigene Gründe sind dann aber, das wird jetzt deutlich, nicht einfach wie sie sind, sondern erheben Geltungsansprüche (wenn auch einer besonderen Art), die wiederum bewertet und gegebenenfalls zurückgewiesen werden können. Damit sind auch partikulare Gründe Gründe, deren interne Struktur der oben beschriebenen Struktur von Gründen entspricht und die eine entsprechende Rolle im »Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen« einnehmen können. Ob sie »gut« oder »schlecht« sind (und das bedeutet ja jetzt: als guiding reasons akzeptabel sind oder nicht) entscheidet sich an der Frage, ob sie auf zweiter Ebene nachvollziehbare oder nicht nachvollziehbare Gründe sind. Es ist diese Praxis des (möglichen) Prüfens auf Nachvollziehbarkeit, die partikulare Gründe zu echten Gründen macht – zu Kandidaten also für gute Gründe. Anders gesagt: Auch partikular-eigene Gründe sind (jedenfalls der Anlage nach) öffentliche Gründe. Man sieht das im Unterschied zum Psychotiker, der auf Stimmen im All verweist. Dieser lebt mit seinen »eigenen Gründen« (die aber, wie wir gesehen haben, keine Gründe im Vollsinn sind) in seiner eigenen Welt, also in einem Netz von Bedeutungen und Gründen, die für uns nicht nachvollziehbar sind.18 19 Derjenige dagegen, der partikulare Gründe für etwas hat, lebt seine eigene Geschichte in einer geteilten Welt.20 Wenn ich sage: »Ich esse ein Leberwurstbrot weil ich klassische Musik mag«, so ist diese Äußerung, anders als der Verweis des Psychotikers auf die Stimmen aus dem All, auf den ersten Blick jedenfalls noch nicht einmal verständlich. 18 Er lässt sich im pathologischen Fall überhaupt nicht rational »widerlegen« weil es sich nicht um einen kognitiven Irrtum handelt. Er lässt sich allenfalls – z. B. psychoanalytisch – »durcharbeiten«. Wohlgemerkt: Meine Behauptung, dass die Gründe des Psychotikers – die in einem so prägnanten Sinne nur seine eigenen sind – in Wahrheit keine Gründe sind (also nur auf den ersten Blick so aussahen wie Gründe) bezieht sich nicht auf den Umstand, dass ich sie nicht für gerechtfertigt halte, sondern darauf, dass sie sich der Prozedur einer solchen Rechtfertigung gar nicht unterziehen (können). Solange er also versucht, durch weitere Gründe meine Position zu widerlegen (»Siehst du nicht die Antennen an den Dächern? Von dort aus sprechen sie zu mir«) sind es noch Gründe. Erst der Umstand, dass diese Gründe sich als nicht widerlegbar herausstellen, das Begründungsspiel irgendwann abbricht und er nicht anders kann als so zu handeln wie er es tut, egal welche Gegengründe es geben mag, ist ein Indiz dafür, dass es sich nicht mehr um Gründe handelt, die ihn motivieren. Zu Gründen gehört eine Art von Disponibilität, die Bereitschaft, sie aufs Spiel zu setzen, die ich oben beschrieben habe. 19 Nebenbei: Die Frage, ob gute Gründe diejenigen sind, die geteilt werden, sich also in einer relevanten Gemeinschaft von Gründegebenden behaupten können oder ob es darüber hinaus diejenigen sind, die auf irgendeine Weise mit sachlichen Grundlagen in der Welt zusammenpassen, ist hiermit noch nicht vorentschieden. 20 Nun könnte man sagen, dass es hier fließende Übergänge gibt. Je mehr partikulare Gründe je17

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Hier stellt sich die Frage, ob die Gegenüberstellung von allgemeinen und partikularen Gründen nicht immer noch zu kurz greift. Eignen wir uns nicht alle allgemeinen immer schon im Lichte partikularer Perspektiven an, damit diese überhaupt für uns zu Gründen werden? Konstituiert sich nicht die geteilte Welt aus solchen eigenen Geschichten? Und würde alles andere nicht zu einem falschen Rigorismus – und einem entsprechend farblosen Leben – führen? Wenn aber alle Gründe letztlich in diesem Sinn auch eigene sind und umgekehrt die eigenen (verstanden als partikulare) Gründe immer auch (auf der Metaebene) verallgemeinerungsfähig, dann wird es wiederum fraglich, welche praktischen Konsequenzen die Markierung von Gründen als eigene haben könnte. Eigene Gründe als Kommunikationsabbruch Nun lässt sich eine praktische Reaktion auf die Deklaration von Gründen als »eigene« jedenfalls beobachten. Wir scheinen – selbst wenn wir ihren nicht-privaten Charakter annehmen – mit solchen Gründen im Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen anders zu verfahren als mit Gründen überhaupt. Wenn jemand in einer Diskussion sagt: »Ich habe eben meine eigenen Gründe für diese Position«, scheint das als ein (jedenfalls manchmal auch tolerierter) Kommunikationsabbruch zu fungieren. Und so gestehen wir in manchen Fällen jemandem zu, »seine eigenen Gründe« zu haben, ohne dass das bereits die Implikationen hätte, die ich oben in Bezug auf den außerirdischen Mächten Hörigen angedeutet hatte, ohne also, dass wir denjenigen damit aus unserer Welt der Gründe ausschließen. Eigene Gründe wären dann in einem besonderen Sinne geschützt und scheinen innerhalb der Praxis des Gründegebens einen besonderen Status zu genießen.21 Dieser Umstand reflektiert offenbar (ohne dass man deshalb solche Gründe gleich für idiosynkratisch-privativ halten müsste) die Tatsache, dass wir den Punkt der Übereinstimmung auf einer Meta-Ebene oft nicht so schnell finden wie in meinem Beispiel vorgeführt. Und auch die Formulierung, »jeder, der an dieser Stelle wäre, würde auch so urteilen«, findet seine Grenze daran, dass es diese spezifische Stellung in der Welt in Bezug auf manche Fragen eben – unvertretbar – nur einmal gibt. Auch scheint es Fälle zu geben, in denen Gründe genau deshalb gute Gründe sind, weil sie meine sind, weil ich sie eben habe, weil ich mich (mit Harry Frankfurt gesagt) »mit ihnen identifizieren kann« und weil sie zu mir und meiner Lebensgeschichte gut passen. Solche Gründe

mand hat und je weniger Menschen mit diesen auf zweiter oder einer weiteren Ebene übereinstimmen desto näher rückt es an die geschlossene Welt des Psychotikers heran. Darüber will ich hier nicht streiten. Festzuhalten ist auch, dass ich hier kein Angemessenheitskriterium für gute Gründe etabliert habe. Allerdings ließe sich auch behaupten, dass psychische Krankheit sich genau darin manifestiert und daraus herleitet, dass lebensgeschichtliche Prägungen nicht nur partikular sondern unzugänglich geworden sind. 21 Zur Auffassung der eigenen Gründe als besonderem Status vgl. auch Christian Seidel in diesem Band.

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sind, so die Vermutung, verwoben mit der faktisch-kontingenten und in bestimmter Hinsicht unverfügbaren Identität von Personen. Diese Position formuliert das, was ich die Authentizitätsvermutung in Bezug auf eigene Gründe nennen will, eine Vermutung, die, wie angedeutet, in engem Zusammenhang mit der Vorstellung der Unhintergehbarkeit solcher Gründe steht. Nun glaube ich, dass diese Konnotation einen wichtigen Charakterzug der Rede von den eigenen Gründen enthüllt. Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Kann die so evozierte Authentizität von Gründen nicht auch täuschen? Können nicht auch partikulare Gründe, die mit unserer Lebensgeschichte und Identität verwoben sind, in bestimmter Hinsicht nicht-eigen, nämlich fremd sein? Eigene stehen dann im Gegensatz nicht mehr zu öffentlichen, auch nicht zu allgemeinen, sondern zu fremden Gründen. Und erst mit dieser Wendung wird der Zusammenhang zwischen den »eigenen Gründen« und der Fähigkeit, ein eigenes Leben zu leben – und damit eine praktisch bedeutsame Weise, von eigenen Gründen zu sprechen, deutlich.

III. Eigene vs. fremde Gründe Was aber bedeutet es, dass Gründe, die man hat (und selbst partikulare, mit der eigenen Identität verbundene Gründe) fremd sein können? Das ist ein Motiv, das mindestens so schwer zu erläutern ist, wie das der eigenen Gründe. Ich möchte diesem Motiv nachgehen, indem ich das oben angedeutete Problem der Kritisierbarkeit eigener Gründe weiter verfolge. Die These von der Unhintergehbarkeit und Nicht-Kritisierbarkeit eigener Gründe werde ich dabei im Folgenden zurückweisen, um schließlich ein Verständnis eigener Gründe als auf eine bestimmte Weise nichtfremde (weil angeeignete) Gründe vorzuschlagen.

Die Kritisierbarkeit eigener Gründe Macht nämlich der Umstand, dass manche Gründe aus einer bestimmten (lebensgeschichtlichen) Konstellation resultieren, sie wirklich unhintergehbar und undiskutierbar? Tatsächlich behandeln wir (und das gilt vor allem für die oben erwähnten Emanzipationsprozesse) auch diese Gründe in manchen Fällen als solche, die befragt und hinterfragt werden können; wir kritisieren sie. Gerade die Art und Weise aber in der Kritik hier vorgehen kann, enthüllt etwas über das Problem der Fremdheit eigener Wünsche. Sehen wir uns, um zu verstehen, was hier auf dem Spiel steht, solche Fälle von Kritik an. So ist es zwar, bezogen auf die diskutierte Vorliebe für Holzengel, kein möglicher Kritikpunkt, dass sie als Kunstgegenstand wertlos sind, sofern es ja ausdrücklich nicht die Behauptung objektiven ästhetischen Werts, sondern vielmehr die lebensgeschichtliche Bindung an diese ist, die hier den Grund geben soll. Man kann aber – oder jeden-

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falls steht es zur Debatte, ob man das kann – auch die Bindung selbst als infantil und regressiv kritisieren, als etwas also, das aus einem auf problematische Weise undurchschauten und unzugänglichen Verhaftetsein an eine frühe Phase der eigenen Prägung resultiert. Möglich ist auch, dass wir die angeführte Bindung als Resultat einer unbewussten Verkehrung dechiffrieren, in der beispielsweise die Großmutter, die man eigentlich gehasst und auch Zeit ihres Lebens schlecht behandelt hat, aus Gründen des schlechten Gewissens nachträglich sentimentalisiert wird. Eine andere kritische Deutung bestünde in der Vermutung, dass die in Frage stehende emotionale Bindung auf dem beruht, was Wendy Brown so treffend wounded attachment genannt hat22, eine Bindung also, die Resultat einer erfahrenen Verletzung und Kränkung ist, und ihre Stärke und Bindungskraft gerade aus diesem Umstand und nicht aus den vorgeblichen positiven Erinnerungen bezieht. Und schließlich lässt sich hinterfragen, ob die Rührung angesichts von Holzengeln nicht einem Klischee verfällt das weniger »eigensinnig« ist als man denken mag und ob die durch diese ausgelöste Bereitschaft zum Ergriffensein nicht einer generellen gesellschaftlichen Tendenz zur Vergemütlichung des Lebens angesichts der grassierenden »bürgerlichen Kälte« (wie Adorno es genannt hat) verfällt – und damit auf eine ebenfalls kritisierbare Weise kompensatorisch wirkt. Natürlich sind das nur einige der naheliegenden Motive einer Infragestellung »eigener Gründe«, und es bedürfte genauerer Ausführungen und einer Untersuchung ihrer Implikationen, um zu entscheiden, ob sie sich begründet anführen lassen. Meine skizzenhafte Illustration solcher Möglichkeiten von Kritik sollte aber plausibilisieren, dass auch »eigene Gründe« nicht nur manchmal schlechte Gründe sein können, sondern auf spezifische Weise fremde Gründe, Instanzen einer Macht, die nicht in jeder Hinsicht »wir selber« sind. Welches sind nun die Implikationen der oben aufgeführten Modi der Kritik? Sie unterscheiden sich offenbar von herkömmlichen Formen der Zurückweisung einer Position (eines Grundes) auf der Basis eines behauptet besseren Grundes. Während wir bei dem Mann mit den Stimmen aus dem All sagen können: »Aber es gibt doch keine Stimmen aus dem All«, beruhen die hier (gegen die Holzengel) skizzierten Einwände nicht darauf, dass hier ein Sachverhalt verkannt worden wäre. (Die Kritik lautet nicht: Du hast doch gar keine Großmutter gehabt; und auch nicht: die Dinger sind doch hässlich.) Sie richtet sich also weniger auf die Falschheit (den unzutreffenden Charakter) als auf die Fremdheit von Gründen. Man sieht das, wenn man sich das Vorgehen einer solchen Kritik vergegenwärtigt. Kritisiert werden hier nicht mehr nur die einzelnen Gründe, sondern auch deren Kontexte und Wirkungen: die genetische Bedingung der Entstehung der infragestehenden Bindungen und Gründe und ihre funktionale Wirkung.23 Sind nämlich partikularWendy Brown: States of Injury, Princeton 1995. Vgl. zu solchen Mustern der Kritik Raymond Geuss: Die Idee einer kritischen Theorie, Bodenheim 1988, Kapitel 2. 22 23

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eigene Gründe fundiert in einer individuellen Lebensgeschichte oder einer partikularen sozialen Situation, so stellt man, wenn man diese in Frage stellen will, jene offenbar mitsamt ihrer Kontexte und Wirkungen sowie die Bedingungen der Formierung der entsprechenden Gründe in Frage. Diese sind defizitär, sofern sie Effekte erzielen, die von uns weder gewollt noch verantwortet werden können, sofern sie von uns undurchschaut sind und uns in unserem Leben unzugänglich bleiben. Und genau in dieser Form sind solche Gründe in bestimmter Hinsicht fremd, »nicht unsere eigenen«. Ebenso (und vielleicht auf ebenso rätselhafte Art) wie uns manche unserer eigenen Gefühle, Handlungen und Wünsche fremd sein können – von uns als fremde Eindringlinge empfunden werden können24 – können also offenbar auch Gründe, die wir haben wie Eindringlinge wirken. Im Zusammenhang mit Klischees, wounded attachments oder Verkehrungen entstandene Gründe sind in deshalb keine eigenen Gründe – auch wenn wir es sind, die diese Gründe haben und auch (oder gerade) wenn es unsere partikulare Lebensgeschichte ist, die zur Aneignung dieser Gründe geführt hat. Deshalb ist für die oben erwähnte emanzipatorische Perspektive eine solche Kritik an eigenen Gründen vor dem Hintergrund des Verdachts auf Fremdheit wichtig, bezieht sich doch das Verlangen nach Emanzipation klassischer Weise auf Fälle, in denen es gilt, durch partielles Transparentmachen und die partielle Revision sozialisatorischer Prägungen die »fremden Mächte« – oder jedenfalls manche davon – aus dem eigenen Leben zu vertreiben. Diese Überlegungen haben Konsequenzen für die Frage der eigenen Gründe: Diese sind dann nicht schon deshalb (in diesem Sinne der Nicht-Fremdheit) eigene, weil sie unhintergehbares Resultat einer partikularen Lebensgeschichte und Prägung wären. Sie werden es erst durch weitere Qualifikation, dadurch nämlich, dass diese Prägungen und Identifikationen selbst »eigen« sind. Für diese Qualifikation spielt die Rezeptivität für gute Gründe eine (wenn auch nicht die alleinige) Rolle. Ein eigenes Leben zu führen bedeutet dann eigenen Gründen zu folgen, aber auch Gründen zu folgen (was u. a. bedeutet, nicht gegen Kritik immunisiert zu sein.) Aber wie lassen sich auf diesem Hintergrund »eigene« von fremden Gründen unterscheiden? Ich möchte das im nächsten Abschnitt mit folgender These erläutern: Es handelt sich hier um Gründe, die der Betreffende sich nicht auf angemessene Weise hat aneignen können oder deren Aneignung defizitär war. Auch partikular-eigene Gründe können in diesem Sinne fremde Gründe sein. Umgekehrt bedeutet »eigene Gründe« zu haben Gründe zu haben, die man sich auf angemessene Weise hat aneignen können.

»Our life as we lead it is just our life, except that some elements in it seem like intruders, interpolators. Some thoughts we have, emotions we feel, some of our beliefs, desires, and actions are experienced as not really ours. It is as if we lost control, as if we were taken over, possessed by a force which is not us.« (Joseph Raz: Engaging Reason. On the Theory and Value of Action, Oxford 1999.) 24

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IV. Eigene als angeeignete Gründe Was bedeutet nun dieses »sich zu eigen Machen« oder »sich Aneignen« von Gründen? Hier lassen sich unterschiedlich anspruchsvolle Fälle unterscheiden: Erstens: Angeeignete sind Gründe, die ich unabhängig von fremdem Diktat gewonnen habe und die mir nicht aufoktroyiert worden sind. Eigene Gründe sind das in dem sehr schlichten Sinn, dass nicht jemand anders für mich entschieden hat, dass ich diesen oder jenen Beruf ergreifen/diesen oder jenen Lebensweg einschlagen soll, sondern ich selbst, ganz unabhängig davon, wie qualifiziert der Vorgang war, der mich zu dieser Wahl geführt hat.25 Zweitens: Etwas anspruchsvoller lässt sich die Aneignung von Gründen als eigenständiges Prüfen von Gründen im Licht möglicher Alternativen und mit dem Anspruch größtmöglicher Eigenständigkeit und Reflektiertheit in Bezug auf diese Wahl verstehen. Meine eigenen (mir angeeigneten) Gründe wären das, sofern ich sie mir nicht nur nicht habe vorschreiben lassen, sondern sie auch selbstständig überprüft habe. Dazu gehört sowohl die aufgeklärte-rationale Abwägung (das Einbeziehen möglicher Gegengründe) als auch das Ausschließen unangemessener Quellen der Fremdeinwirkung, wie auch der Versuch, die Entscheidung mit meinen sonstigen Einstellungen und Plänen konsistent zu machen. Angeeignete Gründe sind dann in einem weiten Sinne rationale oder aufgeklärte Gründe. Drittens: Nun lässt sich der Anspruch an den in Frage stehenden Aneignungsprozess noch etwas stärker formulieren, wenn man zu den hier beschriebenen Modi der Ergreifung und Überprüfung von Gründen noch das Moment der Identifikation hinzunimmt. Wirklich angeeignet wären Gründe dann, wenn ich mich mit ihnen identifizieren könnte. Angeeignete Gründe wären dann nicht nur eigenständig und selbstbestimmt-reflektiert ergriffene Gründe, sondern auch »authentische«, d. h. in entscheidender Hinsicht zu mir passende Gründe. Entscheidend ist aber, dass es hier nicht nur um Identifikation per se, sondern um angemessene, rationale Identifikation gehen muss. Meine These ist, dass man nur, wenn alle drei Momente zusammenkommen von Aneignung – als einem praktischen Vorgang, der uns ein zwangloses Verfügenkönnen über das Angeeignete ermöglicht – sprechen kann.

Sich-Zueigenmachenkönnen von Gründen An dieser Stelle ist es hilfreich, auf einige generelle Implikationen der Rede von der Aneignung (von Gründen) hinzuweisen: (1) In der Rede von Aneignung ist ein Moment von Distanz impliziert: Aneignen kann und muss ich mir nur etwas, das mir nicht ohnehin zu eigen ist. Aneignung ist Ich folge hier der Bestimmung von Autarkie nach S.I. Benn, der damit auf eine basale Selbstständigkeit im Unterschied zur ansprichsvolleren Autonomie hinauswill. Vgl. Stanley I. Benn: A Theory of Freedom, Cambridge 1988. 25

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also ein Prozess der Integration, des sich zu eigen Machens von etwas, und kann als solcher auch misslingen. (Das gilt dann auch noch für die »authentisch«-partikularen Bindungen und Gründe, die »mich ausmachen.«) (2) Nun lässt sich ja fragen, warum man sich Gründe überhaupt »aneignen« müssen soll (und was die Aneignung von Gründen von deren schlichter Übernahme oder dem Für-wahr-halten von Gründen unterscheiden soll.) Gelten Gründe nicht einfach – oder eben nicht? Kann oder muss ich sie mir anders »zu eigen« machen als indem ich sie eben für wahr halte, in ihrer Geltung akzeptiere? Aneignung ist offenbar mehr als ein kognitiver Vorgang, ein nicht nur theoretisches, sondern praktisches Verhältnis, das sich auf ein Geflecht von Erfahrungen stützt oder in einem solchen bewegt.26 Aneignung bezeichnet dabei – im Gegensatz zur bloßen Übernahme von etwas – ein aktives Verhältnis zum jeweiligen Gegenstand. Denkt man etwa an Aneignung in Bezug auf den Wissenserwerb, so bedeutet diese über das Verstehen hinaus auch die praktische Durchdringung und das Umgehen-Können mit Inhalten, die einem dann praktisch zur Verfügung stehen. Das geht einher mit der Verinnerlichung und im Zweifelsfall eigensinnigen Transformation des vorgefundenen Materials. Aber wie drückt sich das in Bezug auf die Aneignung von Gründen aus? Was bedeutet die praktische Aneignung von (praktischen27) Gründen – wenn es mehr als die selbstbestimmt prüfende Übernahme sein soll? Aufgeworfen wird hier die Frage nach dem Verhältnis von Rationalität und Identifikation, die in solchen Aneignungsvorgängen wirksam sind. Ich will dazu eine doppelte These formulieren: – Zur gelingenden Aneignung gehört die Konsistenz oder Vereinbarkeit mit der spezifischen Konstellation (meiner Persönlichkeit, meiner Lebensgeschichte). Aneignung bleibt, anders gesagt, bei der Prüfung »im Lichte allgemeiner Gründe« nicht stehen, sondern muss gegebenenfalls die oben diskutierte partikulare Konstellation integrieren können. Angeeignete Gründe müssen »lebbar« sein. – Wenn andererseits auch partikulare Gründe nicht einfach gegebene, sondern angeeignete Gründe, Gründe denen (implizite) Aneignungsvorgänge vorausgehen, sind, dann müssen sich diese umgekehrt auch da, wo Handlungsbedarf entsteht (also im Zweifels- d. h. im Konfliktfall) an allgemeinen Gründen ausrichten. Gründe müssen also nicht nur eigene, sondern auch gute Gründe sein, um im beschriebenen Sinne emphatisch eigene, wirklich angeeignete Gründe zu sein. Umgekehrt aber müssen gute Gründe auch eigene sein. Gründe müssen, anders gesagt, zu uns passen, umgekehrt aber auch wir zu ihnen.

Vgl. zum Begriff der Aneignung in meinem Buch Entfremdung, Frankfurt/M. 2005). Dieser unterscheidet sich von der autonomietheoretischen Version der Aneignung, die eher ein kognitivistisches Reflexionsmoment bezeichnet. 27 Man kann sich das auch in Bezug auf theoretische Gründe fragen, das ist hier aber nicht mein Thema. 26

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Resumee: Angeeignete und fremde Gründe Was ergibt sich aus meinen Überlegungen für angeeignete als spezifisch eigene (nämlich: nicht fremde) Gründe? Nach bisher Gesagtem ist klar, dass eigene (verstanden als angeeignete) nicht einfach »Gründe, die die anderen nicht haben« sind und dass umgekehrt nicht-eigene, fremde oder fremd bleibende Gründe nicht einfach die »Gründe der Anderen« sind. Angeeignete Gründe sind Gründe, die ich mir auf eine Weise zu eigen gemacht habe, in der ich – auf mehr oder weniger anspruchsvolle Weise – nicht lediglich von anderen gelenkt sondern selbst involviert bin. Mit dem Motiv der Aneignung hat sich die Frage nach den »eigenen Gründen« also verschoben. »Eigen« bezeichnet jetzt weder einen Besitzmodus oder den Modus des Ausschlusses, noch einen bestimmten Typ von Gründen, sondern bezieht sich auf den Modus des Erwerbs der entsprechenden Gründe: es geht jetzt um den gelingenden Vollzug des Prozesses des Sich-zu-eigen-Machens von Gründen. Und genau anhand dieses – des gelingenden oder defizitären Vollzugs – sind Gründe auch kritisierbar. Wie sich oben angedeutet hat, gibt es dabei für die Pathologien solcher Aneignungsprozesse nicht nur die offenkundigen Kandidaten. Nicht nur da, wo man uns zwingt oder wo wir geradezu heteronom wären, ist ein solcher Prozess defizitär. Ob sich nun die oben erwähnten Modi der Kritik an Gründen rechtfertigen lassen, entscheidet sich daran, ob wir die hier skizzierten Motive (von wounded attachment, Regression oder Reaktionsbildung) als Facetten defizitärer Aneignungsverhältnisse dechiffrieren können. Hatte ich zunächst lapidar behauptet, es gäbe gar keine eigenen Gründe, so hat sich jetzt gezeigt, dass man erstens der Rede von den eigenen Gründen einen unproblematischen Sinn geben kann, und dass sich zweitens die Überprüfung von Gründen auf die Frage nach ihrem eigenen oder nicht-eigenen Charakter einen Phänomenbereich eröffnet, der für die eingangs gestellte Frage nach der Emanzipation von fremden Mächten von großer Relevanz ist. Das Vermögen, nach im emphatischen Sinne »eigenen Gründen« zu leben wäre dann in vielerlei Hinsicht und manchen Fällen nur möglich durch den Prozess, den ich als »Emanzipation« bezeichnet habe. Emanzipation ist, so verstanden, ein Prozess, in dem die Fremdheit des nur vorgeblich »Eigenen« weggearbeitet werden und der Raum der Gründe erweitert werden kann. Eigene Gründe würden also genau dann zu wirklich eigenen wenn sie angeeignet werden. Und das bedeutet auch, unsere eigenen Gründe – da wo es zu Problemen kommt – nicht also privativ und unhintergehbar zu behandeln, sondern sie im Lichte von weiteren guten Gründen zu prüfen und uns auf dieser Basis zugänglich zu machen.

Eigene Gründe – wozu eigentlich? Einige Überlegungen in Richtung einer deflationären Auffassung Christian Seidel

Wenn man beginnt, der Idee eigener Gründe auf den Grund zu gehen, so wird man ihr bald ambivalent gegenüber stehen: Einerseits nämlich scheint die Vorstellung von Gründen, die in einem emphatischen Sinne »unsere eigenen« sind, für das Verständnis einiger wichtiger Phänomene der praktischen Philosophie zentral zu sein. Andererseits aber beschleicht einen schnell das Gefühl, dass es sich um eine keineswegs wohlkonturierte, sondern um eine unscharfe, schwer fassbare und womöglich irreführende Idee handelt: Weder scheint die Rede von »Gründen, die wirklich unsere eigenen sind« gut in unserem normalen Sprachgebrauch verankert zu sein, noch scheint es so etwas wie eine einheitliche, distinkte Rolle zu geben, für welche diese Idee philosophieimmanent (d.h. auf theoretischer Ebene) eingesetzt wird. Die folgenden Überlegungen sind von dieser Ambivalenz angetrieben. Sie sind ein Versuch, der Idee eigener Gründe einen »eigenen«, stimmigen Platz in unserem praktischen Denken zuzuweisen. Dazu werde ich in Abschnitt 1 zunächst den Grund für mein eingangs angeführtes Unbehagen erklären: Die Idee eigener Gründe erfüllt in der philosophischen Literatur häufig den Zweck eines Explikats für andere Ideen, doch diese Ideen sind untereinander recht verschieden. Das wirft die Frage auf, ob die Idee eigener Gründe eigentlich in sich stimmig und scharf genug bestimmt ist – es erzeugt einen Explikationsbedarf für das Explikat. Diesen Bedarf kann man auf zwei Weisen stillen: Man kann zum einen versuchen, eigene Gründe anhand anderer Arten von Gründen verständlich zu machen. Diese »reduktionistische Strategie« wird in Abschnitt 2 diskutiert und letztlich zurückgewiesen. Man kann zum anderen aber auch versuchen, eigene Gründe als Gründe eigener Art auszuzeichnen und Bedingungen dafür anzugeben, dass ein Grund ein eigener ist. Ich werde in Abschnitt 3 zwei Spielarten dieser »nicht-reduktionistischen Strategie« unterscheiden und auf damit verbundene Probleme aufmerksam machen. Schließlich möchte ich in Abschnitt 4 einen Perspektivenwechsel vorschlagen und die Frage in den Vordergrund rücken, welchem distinkten Zweck die Idee eigener Gründe eigentlich dient. Mein Vorschlag lautet, dass diese Idee eine normative Funktion im Umgang mit anderen Personen erfüllt. Dieser Vorschlag führt letztlich zu einer »deflationären« Auffassung von der Natur eigener Gründe, derzufolge es gar nichts an den Gründen ist, das sie zu eigenen macht. Wenn ich recht sehe, so übernimmt die Idee eigener Gründe damit zwar eine weniger anspruchsvolle, aber darum nicht unbedingt verzichtbare Rolle in unserem praktischen Denken.

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1. Eine mehrschichtige Idee Wir kennen gute und schlechte Gründe, doch die Rede von »eigenen« (und »fremden«) Gründen ist nicht besonders geläufig. Ich möchte daher zunächst an einigen Beispielen verdeutlichen, welches Phänomen (bzw. welche Phänomene) Philosophinnen üblicherweise im Blick haben, wenn sie von »eigenen Gründen« sprechen: Beispiel Umweltschutz: Eine junge Umweltaktivistin engagiert sich für den Schutz von Regenwald und Klima. Als sie anstelle ihrer Schwester eine kostenlose Flugreise auf die Malediven antreten könnte, lehnt sie ab, weil sie dies nicht mit ihren Idealen vereinbaren könne. Man kann sagen, dass sie »ihre eigenen Gründe« dafür hat, auf die Reise zu verzichten. Beispiel Studienwahl: Ein junger Abiturient wird gefragt, warum er eigentlich Medizin studieren wolle. Er antwortet, sein Grund sei, dass sein Vater Medizin für ein gutes Studienfach halte. Hier würde man sagen, dass der Abiturient keine »eigenen Gründe« für seine Studienwahl hat. Beispiel Glaubensgründe: Eine Christin setzt sich aufgrund ihres Glaubens für sozial benachteiligte Menschen ein und engagiert sich in der Schwangerschaftskonfliktberatung. In einer kritischen Diskussion mit einer Atheistin wird deutlich, dass sich die Christin viele Gedanken über die Grundlage ihres Glaubens gemacht hat und ihre darauf fußenden Ansichten zu sozialer Gerechtigkeit und zum Schwangerschaftsabbruch mit Argumenten begründen kann. Am Ende gesteht die Atheistin zu, dass die Christin »wirklich ihre eigenen Gründe« für ihren Glauben und ihre darauf fußenden Ansichten hat und weder den Glauben noch ihre Ansichten einfach von ihren Eltern übernommen hat. Man bekommt nun vielleicht eine vage Vorstellung davon, was es mit eigenen Gründen auf sich haben könnte. Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings die Frage, was diese Beispiele zusammenhält und ob es sich bei dem, was darin mit »eigenen Gründen« jeweils benannt wird, stets um ein und dasselbe Phänomen handelt. Im Umweltschutz-Beispiel etwa geht es eher um eine besondere Art von Normativität, die sich allein aus der Perspektive der betroffenen Person erschließen lässt (und die man darum auch »erst-personale Normativität« nennen könnte): Wie uns aus Kontexten, in denen sich Personen zur Begründung ihres Tuns oder Unterlassens auf ihr Gewissen, ihre religiösen Ansichten oder ihr Selbstverständnis berufen, vertraut ist, gibt es allem Anschein nach praktische Gründe für oder gegen Handlungen, die (in einem erläuterungsbedürftigen Sinn) direkt in persönlichen Idealen oder Projekten, besonderen Bindungen an Dinge oder Personen, in der eigenen Identität oder dem eigenen Selbstverständnis wurzeln. Und man könnte solche Gründe »eigene Gründe« nennen, denn oft ist damit die Vorstellung verbunden, dass diese Gründe nur für denjenigen bestehen, der auch den Standpunkt dieser Person teilt (und dasselbe Projekt verfolgt, dasselbe Selbstverständnis hat, an dieselben Dinge gebunden ist etc.). Genau diese Auffassung von eigenen Gründen findet sich bisweilen auch in der Literatur: »In our day-to-day practices, we sometimes express ourselves in ways that suggest that the ›force‹ or the ›strength‹ of some reasons can only be appreciated or fully acknowledged from the first-person

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perspective. […] Hereafter, when we speak of reasons of one’s own we mean reasons that can be seen as reasons only from this first-person perspective. Phenomena related to reasons-of-one’s-own talk are those in which personal integrity is involved, cases in which we allow for conscientious objectors, and cases in which people claim to act out of personal vocation.«1 Im Studienwahl-Beispiel scheint es hingegen um etwas anderes zu gehen: Hier steht nicht in Frage, ob eine Entscheidung auf einer besonderen persönlichen Bindung oder einem persönlichen Projekt basiert, sondern es ist gerade diese persönlich Bindung (an die Eltern), an der – im Hinblick auf die Frage nach »eigenen Gründen«– etwas faul zu sein scheint. Dass die Gründe, die der Abiturient für seine Studienwahl anführt, nicht seine eigenen sind, drückt in diesem Zusammenhang nämlich eher aus, dass nicht er selbst bestimmt, sondern dass seine Entscheidung »fremdbestimmt« ist. Es scheint in diesem Beispiel also eher um (fehlende) Autonomie zu gehen als um eine besondere Art von erst-personaler Normativität. Tatsächlich findet sich auch diese Vorstellung von eigenen Gründen in der Literatur: »[A]utonomy confers normative authority over one’s life; the authority to make decisions of practical importance to one’s life, for one’s own reasons, whatever those reasons might be.«2; »[A]gents place a value on autonomy in the sense of acting for reasons of their own.«3 Das Glaubensgründe-Beispiel weist auf den ersten Blick beide zuvor angesprochenen Dimensionen von eigenen Gründen auf: Die Verwurzelung des eigenen Tuns in religiösen Grundsätzen verweist auf den Aspekt der erst-personalen Normativität, die Abgrenzung zu »fremden Gründen« (unkritische Übernahme des Glauben von den Eltern) hingegen verweist auf den Aspekt der Autonomie. Es kommt jedoch noch ein weiterer Gesichtspunkt ins Spiel: Die Bemühungen der Atheistin scheinen nämlich darauf abzuzielen, genauer zu prüfen, ob die Christin (durch rationale Rechtfertigung) eine besondere Art der Verantwortung für das Engagement übernehmen kann, das von religiösen Gründen motiviert ist. Wenn man hier von »eigenen Gründen« redet, dann meint man damit eher, dass die handelnde Person für ihr Tun »gerade stehen« und es rechtfertigen kann. Auch dieses Verständnis eigener Gründe wird bisweilen vertreten: »[M]aking up one’s mind is a matter of turning some of the reasons into reasons of one’s own. […] But sometimes making up one’s mind is a normative enterprise in which we take seriously our responsibility for our own motivational profile.«4

1 Kirsten Endres und Maureen Sie: Reasons of One’s Own: A Problem? A First Exploration, in: Reasons of One’s Own, hg. von Maureen Sie, Marc Slors und Bert van den Brink, Aldershot 2004, 21–37, 21 f. 2 Catriona Mackenzie: Relational Autonomy, Normative Authority and Perfectionism, in: Journal of Social Philosophy 39 (2008), 512–533, 512. 3 Patricia Greenspan: The Problem with Manipulation, in: American Philosophical Quarterly 40 (2003), 155–164, 158. 4 Jan Bransen: Anticipating Reasons of One’s Own, in: Reasons of One’s Own, hg. von Maureen Sie, Marc Slors und Bert van den Brink, Aldershot 2004, 87–106, 87 f.

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Die Idee eigener Gründe wird also zu mindestens drei verschiedenen Ideen in Beziehung gesetzt; etwas schematisch und vereinfachend kann man dies auf drei Thesen zuspitzen: 1. Autonom zu sein heißt (unter anderem), aus eigenen Gründen zu handeln. 2. Die besondere Art von (erst-personaler) Normativität, die in persönlichen Projekten, Bindungen oder der eigenen Identität wurzelt, ist die Normativität eigener Gründe. 3. Wenn man sein Handeln rechtfertigen und auf diese Weise dafür Verantwortung übernehmen kann, handelt man aus eigenen Gründen. Ich möchte diese Mehrschichtigkeit im normal- und fachsprachlichen Gebrauch der Idee eigener Gründe nicht weiter vertiefen, sondern nur darauf hinweisen, dass die Ideen »Autonomie«, »erst-personale Normativität« und »Verantwortung durch Rechenschaftsfähigkeit« nicht unbedingt identisch sind: Es scheint Fälle zu geben, in denen unsere persönlichen Projekte, unsere Bindungen oder unsere Identität unserer Autonomie eher im Weg stehen (z. B. dann, wenn eine Frau ihrem Mann so ergeben ist, dass ihre Identität diese Ergebenheit widerspiegelt und sie sich selbst als jemand begreift, dessen einziges Projekt es ist, für ihn da zu sein, so dass sie sich schließlich selbst völlig aufgibt). Autonomie scheint zudem manchmal mehr zu beinhalten als die Übernahme von Verantwortung durch Rechenschaft – was man daran sieht, dass es möglich ist, richtige Dinge aus den richtigen Gründen zu tun und dennoch nicht vollends dahinter zu stehen (»Du warst ja gerade in Deiner Abschiedsrede voll des Lobes über Deinen Ex-Kollegen.«–»Ja, er hat einfach gute Arbeit geleistet und hat es sich einfach verdient. Jetzt fühle ich mich aber schon ein wenig falsch, denn am liebsten hätte ich ihm den Abschied ordentlich verdorben; ich kann ihn und sein Grinsen nämlich eigentlich nicht ausstehen.«). Und schließlich kann man über sein Handeln auch Rechenschaft ablegen und dafür Verantwortung übernehmen, indem man Gründe anführt, die nicht unbedingt in der eigenen Identität, persönlichen Projekten oder Bindungen wurzeln (»Warum hast Du dem Obdachlosen denn 10 Euro zugesteckt? Kennst Du ihn? «–»Nein, das nicht, und eigentlich mache ich das auch nie; überhaupt verstehe mich nicht gerade als Wohltäter. Aber in diesem Fall dachte ich einfach, es sei richtig.«). Es ist somit keineswegs klar, dass all die Ideen »Autonomie«, »erst-personale Normativität« und »Verantwortung durch Rechenschaftsfähigkeit« in eins zusammenfallen. Eben dies ist der Grund für mein Unbehagen gegenüber eigenen Gründen: Es handelt sich offenbar um eine nicht besonders scharf konturierte Idee, die im philosophischen Fachgebrauch für unterschiedliche Zwecke – zur Erläuterung unterschiedlicher anderer Ideen – eingesetzt wird. Damit wird sie aber in zwei Hinsichten selbst erläuterungsbedürftig: Erstens fragt man sich, ob es sich in all diesen Zusammenhängen stets um dieselbe Idee handelt oder ob damit nicht jeweils etwas ganz anderes gemeint ist; das ist eine Frage nach der distinkten Funktion eigener Gründe. Zweitens fragt man sich aber auch, was genau eigentlich (jeweils) gemeint ist und unter welchen Bedingungen ein Grund ein eigener ist; das ist eine Frage nach der Natur eigener Gründe.

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2. Das reduktionistische Verständnis eigener Gründe Man könnte zunächst versuchen, beide Fragen zu beantworten, indem man eigene Gründe verständlich macht anhand einer anderen Art von praktischen Gründen, die für sich genommen bereits bekannt und hinreichend klar umrissen ist. Der Unterschied zwischen »eigenen Gründen« und »nicht-eigenen« (»fremden«) Gründen fiele dann zusammen mit einer anderen Unterscheidung innerhalb des Bereichs praktischer Gründe und damit hätten eigene Gründe dieselbe Natur und Funktion, die diese andere Art von praktischen Gründen hat. Für diese andere, die Idee eigener Gründe erläuternde Unterscheidung gibt es verschiedene Kandidaten. Erstens liegt es vielleicht zunächst nahe, die Rede von »eigenen Gründen« mit der Idee des Eigentums in Verbindung zu bringen. »Eigene Gründe« wären dann Gründe, die man selbst »besitzt«; insofern Eigentum mit dem Recht einhergeht, andere von der Nutzung des Besitzes ausschließen zu können, würde man den Unterschied zwischen »eigenen« und »fremden« Gründen als einen Unterschied im Exklusivitätsgrad von Gründen konzipieren: »Eigene Gründe« sind private, exklusive Gründe, zu denen nur eine Person Zugang hat. Diese Auffassung ist mit zwei Problemen konfrontiert: Zum einen ist, wie Rahel Jaeggi in ihrem Beitrag5 betont, unklar, ob es so etwas wie private, exklusive Gründe überhaupt geben kann; denn Gründe scheinen stets in eine (geteilte) Praxis des Begründens eingebettet zu sein und haben insofern öffentlichen Charakter. Doch selbst wenn man sinnvollerweise einen Unterschied zwischen privaten, exklusiven Gründen auf der einen und öffentlichen, geteilten Gründen auf der anderen Seite machen könnte, so wäre zum anderen dieser Unterschied gar nicht deckungsgleich mit dem Unterschied zwischen eigenen und fremden Gründen. Denn das würde bedeuten, dass geteilte, öffentliche Gründe stets fremde Gründe sind. Doch das scheint nicht das zu sein, was wir mit dem Kontrast »eigen/fremd« in Bezug auf Gründe vor Augen haben: Wenn es so etwas wie geteilte, öffentliche Gründe (im Unterschied zu privaten, exklusiven Gründen) gibt, dann wäre vermutlich die Tatsache, dass das Instrument der Kurzarbeit die Arbeitslosigkeit zumindest kurzfristig mindert, ein solcher öffentlicher, geteilter Grund. Doch zu diesem Grund kann eine Person ganz unterschiedlich stehen: Er kann ihr egal sein (und wäre dann vermutlich kein eigener Grund), er kann ihr Ansporn sein, sich im Parlament für die Kurzarbeit einzusetzen (und wäre dann vermutlich schon ein eigener Grund) oder er kann auch unreflektiert übernommen worden sein und unkritisch nachgebetet werden (und wäre dann vermutlich ein fremder Grund). Wenn man aber innerhalb des Bereichs der geteilten, öffentlichen Gründe noch immer zwischen »eigenen« und »fremden« Gründen unterscheiden kann, dann können die Unterscheidungen »eigen/fremd« und »privat/öffentlich« (bzw. »exklusiv/geteilt«) nicht zusammenfallen. Ein zweiter Versuch versteht den Unterschied zwischen »eigenen« und »fremden« Gründen als einen Unterschied in der Eigentümlichkeit von Gründen. Eigentümliche Rahel Jaeggi: Seine Gründe haben (können). Überlegungen zum Verhältnis von Aneignung, Fremdheit und Emanzipation, in diesem Band 968–985, insbes. 969. 5

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(oder idiosynkratische) Gründe kommen dort ins Spiel, wo eine »gewöhnliche« Handlung auf »ungewöhnliche« Weise begründet wird: A: »Warum nimmst du den Regenschirm mit? « B: »Weil die NASA auf ihren Satellitenaufnahmen nicht erkennen kann, wer ich bin, wenn ich den Regenschirm aufspanne.« In diesem Fall könnte man sagen, dass B »seine eigenen Gründe« hat, den Regenschirm mitzunehmen. Dabei scheint man zu meinen, dass Bs Antwort insofern eigentümlich ist, als die übliche Antwort auf As Frage wohl eher so etwas wie »Weil es regnet« oder »Weil es sicherlich regnen wird« wäre. Bs tatsächliche Antwort könnte leicht als Ausdruck einer krankhaften Wahnvorstellung interpretiert werden; dann wäre die von B angeführte Tatsache gar kein Grund. Wenn B jedoch ein weltweit gesuchter Terrorist ist, erscheint die Antwort schon weniger paranoid und obwohl Bs Grund für eine gewöhnliche Handlung noch immer ungewöhnlich ist, bleibt die angeführte Tatsache dennoch ein Grund. Allerdings kann man mit diesem Verständnis von eigentümlichen Gründen nicht das Phänomen »eigener« Gründe charakterisieren. Denn wenn eigene Gründe durch Tatsachen konstituiert würden, die nur in sehr speziellen Kontexten als Gründe für gewisse Handlungen gelten können, unter normalen Umständen aber Ausdruck einer Pathologie – und damit gar keine Gründe – wären, so gäbe es nur sehr selten Handlungen aus eigenen Gründen. Und damit wären auch jene in Abschnitt 1 erwähnten Phänomene selten, zu deren Verständnis eigene Gründe wesentlich scheinen: Autonomie, eine besondere Art erst-personaler Normativität oder eine Form der Verantwortung durch Rechenschaftsfähigkeit. Doch vortheoretisch scheinen diese Phänomene keineswegs selten oder marginal zu sein. Und darum können Gründe nicht aufgrund ihrer Eigentümlichkeit zu eigenen Gründen werden. Drittens könnte man den Unterschied zwischen »eigenen« und »fremden« Gründen gleichsetzen mit dem Unterschied zwischen der explanatorischen und der rechtfertigenden Dimension von Gründen. Unsere Redeweise von Gründen ist bekanntlich doppeldeutig: Einerseits meinen wir damit häufig »Beweggründe«, also Erwägungen, die aus Sicht einer Person für etwas sprechen und sie zum Handeln bewegen, ihr Motiv für die Handlung sind; Beweggründe sind die Gründe, die wir anführen, wenn wir, eine Handlung erklären und sie aus Sicht der handelnden Person verständlich machen wollen. Andererseits meinen wir manchmal auch »normative Gründe«, also Erwägungen, die tatsächlich für oder gegen eine Handlung sprechen – und zwar unabhängig davon, ob sie dies auch aus Sicht der Person tun; normative Gründe sind die Gründe, die wir anführen, wenn wir eine Handlung rechtfertigen wollen. Folglich wird innerhalb des Bereichs der Gründe häufig unterschieden zwischen Beweggründen und normativen Gründen.6 Diese Unterscheidung ist jedoch nicht äquivalent zu der Unterscheidung 6 Diese Unterscheidung hat verschiedene Namen, z. B. wird zwischen motivierenden und normativen Gründen (Michael Smith: The Humean Theory of Motivation, in: Mind 96 (1987), 36–61), erklärenden und rechtfertigenden Gründen (G. F. Schueler: Desire: Its Role in Practical Reason and the Explanation of Action, Cambridge, Mass., London 1995, 46 f.) oder zwischen explanatory und guiding reasons (Joseph Raz: Practical Reason and Norms, Oxford 1999, 15–19) unterschieden.

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zwischen »eigenen« und »fremden Gründen«:7 Wenn man eine Handlung betrachtet und fragt, ob die betreffende Person aus eigenen oder fremden Gründen handelte, dann interessiert man sich offenbar für die Erwägungen, die aus ihrer Sicht für die Handlung sprachen; von diesen will man wissen, ob es im emphatischen Sinne eigene waren oder nicht. Das Studienwahl-Beispiel verdeutlicht dies: Die Frage nach den Gründen für das Medizinstudium zielt ja nicht auf Erwägungen, die für sich genommen – also ganz unabhängig davon, was der Abiturient als Gründe ansieht – für oder gegen das Medizinstudium sprechen und damit normative Gründe für das Medizinstudium sind (etwa die Tatsache, dass man damit Menschen helfen kann, dass es zu einem »sicheren« Beruf führt oder Ähnliches); vielmehr geht es um die Erwägungen, die aus seiner Sicht relevant sind – eben seine Beweggründe. Die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Gründen ist also eine Unterscheidung innerhalb des Bereichs der Beweggründe (oder erklärenden Gründe) und kann darum nicht zusammenfallen mit der Unterscheidung zwischen Beweggründen und normativen Gründen.8 Ausgehend von dem Verweis auf eine besondere Art von erstpersonaler Normativität in Abschnitt 1 könnte man viertens den Unterschied zwischen eigenen und fremden Gründen auch anhand des Unterschieds zwischen akteursrelativen und akteursneutralen Gründen verständlich machen. Unter akteursrelativen Gründen kann man in diesem Kontext solche Tatsachen verstehen, die erst vor dem Hintergrund zwischenmenschlicher Beziehungen, spezieller Bindungen, persönlicher Projekte und Ähnlichem Gründe für eine bestimmte Person generieren. Wer beispielsweise das Projekt verfolgt, den Regenwald zu schützen, hat möglicherweise einen akteursrelativen Grund, an einem verregneten Nachmittag in der Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt Flugblätter mit dem Aufruf zu Spenden oder politischem Engagement zu verteilen; dieser Grund besteht aber scheinbar nicht für eine Person, die kein entsprechendes Regenwaldschutz-Projekt verfolgt – insofern handelt es sich um einen Grund, der »relativ zu einem bestimmten Akteur« besteht. Die Gleichsetzung von eigenen mit akteursrelativen Gründen ist allerdings aus zwei Gründen nicht überzeugend: Zwar ist es notorisch schwierig, die Unterscheidung zwischen akteursrelativen und akteursneutralen Gründen philosophisch befriedigend auszubuchstabieren,9 aber es scheint zum einen

Das betonen auch Marc Slors, Maureen Sie und Bert van den Brink: Introduction: The Problem of Reasons of One’s Own, in: Reasons of One’s Own, hg. von Maureen Sie, Marc Slors und Bert van den Brink, Aldershot 2004, 1–20. 8 Es ist natürlich denkbar, dass ein Beweggrund nur dann ein eigener ist, wenn der Sachverhalt, der aus Sicht der Person für eine Handlung spricht, auch tatsächlich für diese Handlung spricht (auf diesen Vorschlag komme ich in Abschnitt 3 noch zu sprechen). Man könnte dann von »gut« bzw. »schlecht begründeten Motiven/Beweggründen« reden. In diesem Fall wäre die Tatsache, dass der Beweggrund einen normativen Grund abgibt, ein Kriterium, um zwischen eigenen und fremden Gründen zu unterscheiden. Dennoch würde man damit eigene und fremde Gründe innerhalb des Bereichs der Beweggründe unterscheiden, und nicht eigene mit normativen Gründen sowie fremde Gründe mit Beweggründen gleichsetzen. 9 Vgl. dazu Toni Rønnow-Rasmussen: Normative Reasons and the Agent-Neutral/Relative Dichotomy, in: Philosophia 37 (2009), 227–243. 7

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doch klar, dass es dabei um zwei unterschiedliche Arten von normativen Gründen geht; sowohl akteursrelative als auch akteursneutrale Gründe sind Gründe, die tatsächlich – und nicht nur aus Sicht der Person – für etwas sprechen. Die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Gründen scheint hingegen, wie gerade gezeigt, eher im Bereich der Beweggründe angesiedelt zu sein. Darum kann sie sich gar nicht mit der Unterscheidung zwischen akteursrelativen und akteursneutralen Gründen decken. Zum anderen würde eine derartige Gleichsetzung implizieren, dass akteursneutrale Gründe fremde Gründe sein müssen,10 und dass folglich eine »Vollblut-Konsequentialistin« undenkbar wäre: Eine solche identifiziert sich voll und ganz mit dem Prinzip, dass stets jene Handlung die alles in allem betrachtet beste (und moralisch gebotene) ist, die die besten Konsequenzen hervorbringt, und handelt entsprechend. Damit handelt sie aus konsequentialistischen Gründen, die gemeinhin als das Paradebeispiel für akteursneutrale Gründe gelten. Wäre die vorgeschlagene Gleichsetzung richtig, so müsste es sich folglich um fremde Gründe handeln. Aber die Tatsache, dass sich die Vollblut-Konsequentialistin voll und ganz mit dem konsequentialistischen Prinzip identifiziert, ihm in Forschung und Lehre besondere Aufmerksamkeit widmet und ihr Leben daran ausrichtet, spricht eher dafür, dass es sich um im emphatischen Sinne eigene Gründe handelt. Also kann die Gleichsetzung von eigenen und akteursrelativen (bzw. fremden und akteursneutralen) Gründen nicht richtig sein. Schließlich könnte man fünftens meinen, eigene und fremde Gründe unterschieden sich einfach in ihrer Qualität: Eigene Gründe sind gute Gründe, fremde Gründe sind schlechte Gründe. Ich bin nicht sicher, wie genau man der Idee schlechter Gründe Sinn abgewinnen kann. Denn entweder spricht eine Tatsache für oder gegen eine Handlung – dann ist sie ein praktischer Grund. Oder sie spricht eben nicht dafür oder dagegen – dann ist sie kein praktischer Grund. In diesem Bild ist gar kein Platz für eine Abstufung der Qualität von Gründen.11 Dennoch gibt es Situationen, in denen von »schlechten Gründen« gesprochen wird: A: »Warum hast du dein Versprechen nicht gehalten? « B: »Weil ich keine Lust hatte.« A: »Das ist aber ein schlechter Grund.« Die Rede von »schlechten Gründen« lässt sich hier am ehesten so verstehen, dass B glaubt (oder vorgibt), dass eine bestimmte Erwägung – in diesem Fall: die fehlende Lust – ein normativer Grund ist, der dafür spricht, etwas zu tun oder zu lassen, obwohl dies tatsächlich gar nicht der Fall ist (denn dass man keine Lust hat, ein Versprechen zu halten, ist ja kein Grund, es nicht zu halten). Gute Gründe wären umgekehrt dann solche, von denen man glaubt, dass sie für eine Handlung oder Unterlassung sprechen,

10 Beate Roessler: Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen, in diesem Band 934–950, 937. 11 Gründe können vielleicht unterschiedliches Gewicht haben, aber dann sollte man besser von »starken« und »schwachen« Gründen reden, je nach dem, wie leicht sie von anderen Gründen überwogen werden können.

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und die dies auch tatsächlich tun. Doch wenn man den Unterschied zwischen guten und schlechten Gründen so versteht, dann ist er nicht deckungsgleich mit dem Unterschied zwischen eigenen und fremden Gründen. Denn zum einen können auch in diesem Sinne »schlechte« Gründe eigene Gründe sein: Die Tatsache, dass der Mond aufgegangen ist, scheint beispielsweise kein Grund zu sein, der dafür spricht, sich eine Zigarette anzuzünden. Ein Genussraucher, der es liebt, sich in besonders stimmungsvollen Momenten eine Zigarette anzuzünden, könnte diese Tatsache jedoch als einen solchen Grund ansehen; er hätte dann im erläuterten Sinne einen »schlechten« Grund (er hält etwas für einen normativen Grund, obwohl es dies gar nicht ist). Dieser schlechte Grund scheint aber in einem emphatischen Sinne sein eigener zu sein, er ist Ausdruck seiner persönlichen Vorlieben und seines Selbstverständnisses als Genussraucher. Zum anderen hätte die Gleichsetzung von guten und eigenen Gründen die Konsequenz, dass man immer auch aus fremden Gründen handelt, wenn man aus schlechten Gründen handelt. Da aber wohl die meisten Formen unmoralischen Handelns aus schlechten Gründen geschehen, würde dies bedeuten, dass (fast) jede unmoralische Handlung eine Handlung aus fremden Gründen ist. Und das hieße, dass einem bei unmoralischem Handeln auch die besondere Form der Verantwortung für die eigenen Motive, die mit eigenen Gründen verknüpft zu sein scheint (s. Abschnitt 1), abginge. Die vorgeschlagene Gleichsetzung hätte also die merkwürdige Konsequenz, dass es für jeden moralischen Fehler einen Entschuldigungsgrund gäbe (denn man könnte stets darauf verweisen, dass man aus fremden, da schlechten Gründen handelte). Das ist m. E. eine reductio ad absurdum des fünften Vorschlags. Die fünf diskutierten Versuche gleichen sich darin, dass sie eigene Gründe auf eine andere Art von Gründen zurückführen wollen und insofern »reduktionistisch« sind. Wie die Diskussion der naheliegenden Kandidaten, die für diese Reduktion in Frage kommen, gezeigt hat, scheitert ein solcher reduktionistischer Zugang zu eigenen Gründen: Der Unterschied zwischen eigenen und fremden Gründen lässt sich weder auf den Exklusivitätsgrad von Gründen zurückführen, noch auf ihre Eigentümlichkeit, ihre explanatorische oder rechtfertigende Funktion, ihre Akteursrelativität und auch nicht auf ihre Qualität. Wenn man die Funktion und Natur eigener Gründe verständlich machen kann, dann kann dies also nur gelingen, indem man sie als eine eigenständige Art von praktischen Gründen konzipiert.

3. Das nicht-reduktionistische Verständnis eigener Gründe Genau dies versuchen nicht-reduktionistische Zugänge zu eigenen Gründen. Eigene Gründe sind demnach als eine eigene Kategorie von praktischen Gründen zu verstehen. Die Herausforderung besteht dann darin, genauer anzugeben, wie sich diese Kategorie eigener Gründe von anderen Kategorien praktischer Gründe abgrenzt – was genau also die Bedingungen sind, die einen (Beweg-)Grund zu einem »eigenen« machen. Wie nicht zuletzt auch die Beiträge von Beate Roessler und Rahel Jaeggi in diesem Band verdeutlichen, gibt es in der philosophischen Debatte zwei Tendenzen, dieser Heraus-

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forderung zu begegnen: Auf der einen Seite gehen manche Konzeptionen davon aus, eigene Gründe seien jene Teilklasse von Beweggründen, die sich durch ein besonderes Verhältnis zur handelnden Person auszeichnen. Man kann dies die »nach innen gerichtete Tendenz« nennen, denn in diesem Verständnis hängt die Frage, ob ein Beweggrund ein eigener ist, davon ab, wie es »im Inneren« einer Person aussieht und ob der Beweggrund im richtigen Verhältnis zu diesem »Inneren« steht. Demgegenüber betonen andere nicht-reduktionistische Konzeptionen, dass nicht (oder nicht in erster Linie) ein besonderes Verhältnis zur Person, sondern ein bestimmtes Verhältnis zur äußeren Welt – die Erfüllung von gewissen äußeren Normen – einen Beweggrund zu einem eigenen macht. Die kann man die »nach außen gerichtete Tendenz« nennen. Ich möchte nun beide Tendenzen genauer erläutern und kritisch diskutieren. Der ersten, nach innen gerichteten Tendenz zufolge werden eigene Gründe durch einen »Akt der Beschäftigung mit sich selbst« konstituiert: Man macht sich Gründe zu eigen(en), indem man in sich schaut, über sich reflektiert, zu Einstellungen über sich selbst gelangt, sich selbst versteht oder sonst etwas mit sich macht. Diese Vorstellung ist in der Literatur recht verbreitet. Jan Bransen beispielsweise beschreibt den Prozess der Aneignung von Gründen als ein Sich-Klar-werden: »In making up our mind we might be said to be engaging in a process of appropriating some of the reasons that figure in the situation in which we find ourselves. That is, making up one’s mind is a matter of turning some of the reasons into reasons of one’s own.«12 Die Auffassung, dass man sich Gründe durch einen Akt der Selbstbeschäftigung aneignet, klingt auch in Beate Roesslers Beitrag an; sie hat – zu Recht – darauf aufmerksam gemacht, dass die Aneignung eigener Gründe häufig erst im Nachhinein geschieht: Manchmal erkennen wir erst, wer wir sind und was wir wirklich wollen, manchmal verstehen wir uns selbst erst, nachdem wir gehandelt haben.13 Nach Roesslers Auffassung ist das herkömmliche Verständnis des Aneignungsprozesses – man beginnt mit einer feststehenden Identität, reflektiert über diese und entschließt sich dann zum Handeln – verfehlt hinsichtlich der zeitlichen Reihenfolge der einzelnen Bestandteile, nicht aber hinsichtlich der Bestandteile selbst: Eine gelungene Aneignung von Beweggründen – und damit in Roesslers Verständnis auch Autonomie – bemisst sich nach wie vor daran, dass man am Ende weiß, wer man ist und was man will, und dass man am Ende sich selbst versteht (auch wenn dieses Ziel häufig erst ex post erreicht wird). Sie schreibt: »Erst im Handeln selbst realisieren wir die ›richtige‹ Beziehung zwischen Identität und Motiv und erst im Handeln selbst sehen wir, was wir offenbar wollten, und müssen uns und unser angenommenes Selbstbild, unsere Identität, dann gegebenenfalls korrigieren.«14 Dass sich eine

Jan Bransen: Anticipating Reasons of One’s Own, in: Reasons of One’s Own, hg. von Maureen Sie, Marc Slors und Bert van den Brink, Aldershot 2004, 87–106, 87. 13 Die stärkere These, dass das immer so ist, scheint nicht überzeugend angesichts der Tatsache, dass es Personen gibt, die bereits im Vorfeld ganz genau wissen, wo sie stehen, was sie wollen und wer sie sind. Auch in diesen Fällen kann man von eigenen Gründen reden. 14 Beate Roessler: Autonomie und die Frage nach dem Handeln aus eigenen Gründen, in diesem Band 934–950, 943. 12

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gelungene Aneignung in Roesslers Konzeption der Tendenz nach an einem besonderen Verhältnis zum Innern der Person bemisst, sieht man auch an den relevanten »Gegenphänomenen« – also an Fällen misslungener oder fraglicher Aneignung von Beweggründen, wie sie in den Beispielen von Thomas Mann und Revolutionary Road deutlich werden:15 Es sind Fälle der Ambivalenz, des Zauderns oder der fehlenden Selbstgewissheit – kurzum: Fälle eines gestörten »Verhältnisses zu sich selbst«. Ein Problem an der nach innen gerichteten, nicht-reduktionistischen Auffassung eigener Gründe wird deutlich, wenn man sich fragt, wann denn die Beschäftigung mit sich selbst eigentlich in dem Sinne erfolgreich ist, dass sie wirklich zu eigenen Gründen führt. Denn wie das Studienwahl-Beispiel aus Abschnitt 1 zeigt, ist ein intaktes Verhältnis zu sich selbst nicht hinreichend dafür, dass man eigene Gründe hat: Auch der Abiturient, der den Vorstellungen seines Vaters folgt, kann schließlich genau wissen, wer er ist, wo er steht und was er will – er will es seinem Vater recht machen. Man kann sich leicht vorstellen, dass der Abiturient völlig mit sich im Reinen ist und alle Bedingungen erfüllt, die aus Sicht einer nach innen gerichteten Perspektive einschlägig sind, und dennoch nicht aus eigenen Gründen handelt. Ebenso führt auch nicht jede Überwindung eines gestörten Verhältnisses zu sich selbst bereits zu eigenen (bzw. angeeigneten) Gründen oder zu Autonomie: Wenn das junge Paar aus Revolutionary Road beispielsweise seine Ambivalenz einfach durch einen Münzwurf auflöst oder sich resigniert doch für das konventionelle kleinbürgerliche Leben entscheidet, sich selbst als ein eben spießiges Paar begreift, so weiß es zwar am Ende, wer es ist und was es will – das ehemals gestörte Verhältnis zu sich selbst ist »repariert«, wenn man so will. Doch man würde das Ganze aufgrund der Art und Weise, wie dies zustande gekommen ist, eher als eine Kapitulation vor den gesellschaftlichen Normen deuten. »Eigentlich«, so ist man versucht zu sagen, »wollen sie doch nach Paris, sind sie doch Bohemiens«. Doch das heißt, dass die Beschäftigung mit sich selbst, die nach der ersten nicht-reduktionistischen Spielart konstitutiv für eigene Gründe ist, gewissen weiteren Kriterien genügen muss. Und diese weiteren Kriterien haben weniger mit der inneren Beschaffenheit der Person zu tun, sondern es sind »äußere« Kriterien: Kriterien, die etwas damit zu tun haben, dass die Auflösung von Ambivalenz gewissen Maßstäben genügt (und nicht bloß durch Willkür oder Resignation geschieht) oder dass das Selbstverständnis, zu dem man schlussendlich gelangt, nicht von äußeren, fremden Vorstellungen (wie z. B. denen des Vaters) beeinflusst sein darf. Beginnt man also, der nach innen gerichteten Tendenz im nichtreduktionistischen Verständnis eigener Gründe auf den Zahn zu fühlen, so wird schnell deutlich, dass es argumentativen Druck in Richtung weiterer, äußerer Kriterien gibt, an denen sich der für die gelungene Aneignung von Beweggründen konstitutive Akt der »Beschäftigung mit sich selbst« bemessen muss. Eben dies ist der Ausgangspunkt der zweiten, nach außen gerichteten Tendenz. Demnach ist es nicht ein besonderer Bezug auf das Innere einer Person, der bestimmte Beweggründe zu eigenen macht, sondern vielmehr ein Bezug auf Bedingungen, die unabhängig von der inneren Verfassung einer Person sind: Nicht die Tatsache, dass eine 15

Vgl. ebd., 945–949.

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Person sich selbst versteht, ist entscheidend für eigene Gründe, sondern die Tatsache, dass sie sich auf die richtige Weise versteht; nicht die Tatsache, dass man eine bestimmte Einstellung zu sich selbst ausgebildet hat, macht Beweggründe zu eigenen, sondern die Tatsache, dass diese Einstellung gut begründet ist. Und was in diesem Zusammenhang »richtig« oder »gut begründet« ist, bemisst sich nicht am Innenleben einer Person, sondern an von ihr unabhängigen – und insofern »äußeren« – Maßstäben.16 Man könnte z. B. die Auffassung vertreten, dass man nur dann von eigenen Gründen sprechen kann, wenn die Beweggründe einen Prozess der rationalen Identifikation durchlaufen haben. Wichtig ist dabei der Zusatz »rational«, denn erst dies schließt einige pathologische Fälle aus, in denen eine Person sich zwar mit ihren Beweggründen identifiziert, wir aber dennoch nicht von eigenen Gründen sprechen würden: Der (zwanghafte) Antrieb, sich die Hände zu waschen, bis sie blutig sind, oder die paranoid-psychotische Neigung, im Zickzack über den Gehweg zu laufen, weil es einem außerirdische Stimmen so befohlen haben, gelten nämlich auch dann nicht als eigener (Beweg-)Grund, wenn sich der oder die Betreffende damit identifiziert – und das liegt dieser Auffassung zufolge gerade daran, dass sich diese Identifikation nicht rational begründen lässt, also unvernünftig ist. Umgekehrt sei rationale Identifikation konstitutiv dafür, dass man eigene Gründe hat. In diesem Bild sind die relevanten Gegenphänomene – Fälle misslungener oder fraglicher Aneignung von Beweggründen – anders als bei der nach innen gerichteten Tendenz nicht Fälle von Ambivalenz, Zaudern oder fehlender Selbstgewissheit, sondern eher Fälle von Irrationalität und Unvernunft. Eigene Gründe sind in diesem Bild also Beweggründe, die eine bestimmte Qualität haben: Sie müssen einen »Test« bestehen, einer Norm (der Rationalität) genügen – und dieser Test bzw. diese Norm haben nichts mit der Person zu tun, sondern sind von ihr unabhängig und insofern etwas »Äußeres«. Das Problem an dieser Auffassung ist, dass es schwierig ist, solche von der Person unabhängigen Normen zu formulieren, ohne den Spielraum für eigene Gründe auf unangemessene Weise zu beschneiden. Dies lässt sich gut am Begriff der rationalen Identifikation verdeutlichen: Je aufgeladener man nämlich die zugrunde liegende Konzeption von Rationalität macht, desto restriktiver wird die Norm und desto eher werden eigene Gründe letztlich zu guten Gründen – doch wir haben bereits in Abschnitt 2 anhand des Genussrauchers gesehen, dass eigene Gründe und gute Gründe nicht äquivalent sind: Der Genussraucher tut von ganzem Herzen etwas, wofür es keine guten Gründe gibt (denn es ist sicher nicht vernünftig, die Tatsache, dass der Mond soeben aufgegangen ist, als einen Grund anzusehen, eine Zigarette zu rauchen). Zwar identifiziert sich der Genussraucher mit seinem Beweggrund, aber diese Identifikation ist nicht rational (jedenfalls nicht bei einer starken Konzeption von Rationalität), insofern dafür keine guten Gründe sprechen. Aber darum scheint es dennoch nicht unbedingt ein fremder Grund zu sein. Dasselbe Problem hat man auch bei einem kettenrauchenden Extrembergsteiger oder bei der wohlüberlegten Christin: Vielleicht ist es letztlich irrational, extreme Risiken einzugehen oder an Gott zu glauben. Dann wäre eine rati16

Diese Tendenz deutet sich, wie mir scheint, ein wenig in Rahel Jaeggis Beitrag an.

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onale Identifikation mit dem Ausreizen von Grenzen oder mit der eigenen Religion gar nicht möglich, denn eigentlich gäbe es keine guten Gründe, sich damit zu identifizieren. Das würde aber bedeuten, dass man weder von dem kettenrauchenden Extrembergsteiger noch von der Christin sagen könnte, dass sie aus eigenen Gründen handeln; dabei scheinen beide zunächst Paradebeispiele für Handeln aus eigenen Gründen zu sein. Das Problem des nach außen gerichteten, nicht-reduktionistischen Verständnisses eigener Gründe ist somit, dass die Formulierung von äußeren Kriterien – Normen, denen Beweggründe genügen müssen, um eigene Gründe zu sein – den Spielraum beschneidet, der für »das Eigene« an eigenen Gründen dann noch verbleibt: Immer wenn jemand aus ganzem Herzen etwas Irrationales tut, würde man aus fremden Gründen handeln. Das scheint einfach nicht angemessen. Innerhalb des nicht-reduktionistischen Verständnisses eigener Gründe gibt es damit die folgende Instabilität: Versteht man eigene Gründe ausgehend von einen besonderen Verhältnis »nach innen«, dann muss man dies um ein besonderes Verhältnis »nach außen« ergänzen. Und beginnt man umgekehrt bei einem besonderen Verhältnis der Beweggründe »nach außen«, dann benötigt man weitere, »nach innen« gerichtete Kriterien. Keine der beiden Tendenzen im nicht-reduktionistischen Lager überzeugt damit für sich genommen. Angesichts der Tatsachen, dass nicht ganz klar ist, welche Funktion eigene Gründe in unserem praktischen Denken eigentlich spielen (vgl. Abschnitt 1) und dass weder reduktionistische noch nicht-reduktionistische Auffassungen von der Natur eigener Gründe überzeugen (vgl. Abschnitte 2 und 3), scheinen eigene Gründe vor allem eines zu sein: ziemlich eigenartig. Man könnte nun eine skeptische Schlussfolgerung ziehen und die Idee eigener Gründe als unverständlich verwerfen. Diese Schlussfolgerung möchte ich nicht ziehen, sondern einen neuen Anlauf wagen. Dabei setze ich im Folgenden noch einmal explizit bei der Frage an, wozu genau man die Idee eigener Gründe denn nun eigentlich brauchen könnte.

4. Ein Perspektivenwechsel: die normative Funktion eigener Gründe Dazu sollte man sich zunächst klar machen, was von der Frage, ob eine Person aus eigenen Gründen handelt oder nicht, eigentlich abhängt: Was ändert sich, wenn eine Person aus eigenen Gründen handelt, wo sie vormals aus fremden Gründen handelte (oder umgekehrt)? Die Antwort darauf lautet meines Erachtens: Es ändert sich etwas in den normativen Beziehungen zu dieser Person.17 Damit ist gemeint, dass die Tatsache, dass eine Person aus eigenen statt aus fremden Gründen handelt, sich auf das berechtigte Verhalten gegenüber dieser Person auswirkt: Wenn A aus eigenen Gründen handelt, dann hat

Das ist natürlich vereinbar damit, dass dabei noch mehr geschieht – etwa dass sich beispielsweise auch das (normative) Verhältnis der Person zu sich selbst ändert. Ich möchte im Folgenden lediglich auf eine – wenngleich, wie mir scheint, zentrale – Funktion der Idee eigener Gründe aufmerksam machen. 17

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B Gründe für oder gegen bestimmte Verhaltensweisen (oder Unterlassungen), die nicht bestehen, wenn A aus fremden Gründen handelt. Ich möchte das an den anfänglichen Beispielen verdeutlichen: 1. Einmal angenommen, im Umweltschutz-Beispiel würde die Aktivistin »fremde Gründe« für den Verzicht auf die Flugreise anführen – und beispielsweise sagen, sie habe gehört, auf den Malediven seien die Leute kriminell und unfreundlich, oder sagen, ihre Mutter lasse nicht zu, dass sie allein in ein fremdes Land reist. In diesen Fällen würde man der Aktivistin vermutlich nahelegen, die Reise doch anzutreten, um sich ein »eigenes Bild« von Land und Leuten zu machen oder um die »eigene Unabhängigkeit« gegenüber der Mutter zu stärken; vielleicht würde man sogar weiter gehen und sie auffordern, sich nicht von Vorurteilen leiten zu lassen oder ihr Verhältnis zu ihrer Mutter zu überdenken. Im ursprünglichen Fall hingegen, in dem die Umweltaktivistin aus eigenen Gründen auf die Flugreise verzichtet – Gründe, die in ihren persönlichen Idealen und ihrem Selbstverständnis wurzeln –, scheinen derartige Überzeugungs- und Einmischungsversuche sowie wiederholte Nachfragen unangemessen und man sollte (zumindest ein Stück weit) davon Abstand nehmen – und zwar gerade weil die Aktivistin aus eigenen Gründen handelt. 2. Im Studienwahl-Beispiel entscheidet sich der Abiturient aus fremden Gründen für das Medizinstudium, indem er den Vorstellungen seines Vaters folgt. Hier scheint ein gewisses Maß an Nachfragen und Aufklären durchaus legitim: Man sollte (jedenfalls sofern sonst keine weiteren Erwägungen dagegen sprechen) den Jungen dazu animieren, doch auch einmal etwas anderes auszuprobieren, seine Talente und Interessen zu entdecken. Einen solchen Vorschlag zu unterbreiten wäre aber verfehlt, wenn der Abiturient aus eigenen Gründen handelt (und z. B. Medizin studiert, weil ihm Wohl und Gesundheit anderer Menschen am Herzen liegt oder weil ihn die biologischen Grundlagen des Lebens faszinieren). Würde man in einem solchen Fall versuchen, den Abiturienten umzustimmen, oder würde man ihn auffordern, es sich »noch einmal ganz genau zu überlegen«, so könnte der Abiturient sich solche Einmischungsversuche zu Recht verbitten und berechtigterweise fordern, ihn gefälligst nicht zu beeinflussen. 3. Im Glaubensgründe-Beispiel wird der Atheistin im Verlauf der Diskussion klar, dass die Christin tatsächlich eigene Gründe für ihren Glauben hat und ihn nicht einfach von den Eltern übernommen hat. Entsprechend schreibt sie ihr auch eine besondere Verantwortung zu für Handlungen, die in ihrem Glauben gründen. Würde sich die Christin beispielsweise aus religiösen Gründen selbst gegen den Abbruch einer (ungewollten) Schwangerschaft entscheiden, würde man von ihr auch verlangen, die Konsequenzen dieser Entscheidung zu tragen. Das sieht man, wenn man ihren Fall mit dem Fall einer jungen Frau vergleicht, die von ihrem streng katholischen Umfeld dazu gedrängt wurde, ein (ungewolltes) Kind auszutragen: Wenn sich diese Frau auf religiöse Gründe beruft, so scheint es sich gerade nicht um eigene Gründe zu handeln und entsprechend würde man ihr auch nicht in gleicher Weise die Verantwortung für den Verzicht auf den Schwangerschaftsabbruch zusprechen. In diesem Fall scheint es etwa zulässig (wenn nicht gar geboten), ihr den Kontakt zu einer unabhängigen Beratungs-

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stelle zu geben oder auch das Umfeld der Frau zur Rede zu stellen – Handlungen, die im Fall der Christin, die tatsächlich ihre eigenen Gründe hat, eher zu unterlassen wären. Wie deutlich wird, hat die Antwort auf die Frage, ob eine Person aus eigenen Gründen handelt oder nicht, Auswirkungen auf unseren berechtigten Umgang mit ihr: Die Legitimation für Nachfragen, Überzeugungsversuche, Verantwortungszuschreibungen, Eingriffe und Ratschläge verändert sich, wenn eine Person aus eigenen Gründen handelt. Die Idee eigener Gründe hat also insofern eine normative Funktion, als man mit Personen, die aus eigenen Gründen handeln, (pro tanto) anders umgehen sollte als mit Personen, die nicht aus eigenen Gründen handeln: Wenn A aus eigenen Gründen handelt, dann gibt dies einen Grund für B, bestimmte Handlungen gegenüber A zu unterlassen, den es nicht gibt, wenn A aus fremden Gründen handelt. Man kann auch sagen: Eine Handlung oder eine Entscheidung aus eigenen Gründen erfordert von anderen Personen eine gewisse Form des Respekts. Wenn diese These richtig ist, dann drückt die Idee eigener Gründe eigentlich einen normativen Status aus: Handlungen aus eigenen Gründen genießen insofern einen gewissen »Schutz«, als man von Nachfragen, Überzeugungsversuchen, Eingriffen, Belehrungen, Ratschlägen und Ähnlichem – jedenfalls ein Stück weit – Abstand nehmen sollte. Diese (normative) Funktion der Idee eigener Gründe hat eine wichtige Konsequenz für die Frage nach der Natur eigener Gründe: Denn die Frage nach der Natur eigener Gründe – unter welchen Bedingungen handelt jemand aus eigenen Gründen? – wird damit zu der Frage nach den Bedingungen dafür, dass eine Person bzw. ihre Handlung diesen normativen Status hat; es ist also eigentlich eine Frage nach der Grundlage, auf der dieser normative Status beruht. Damit ist natürlich nichts darüber gesagt, was diese Grundlage ist – was also nun die Natur eigener Gründe ist. Allerdings legt der vorgeschlagene Perspektivenwechsel eine neue Sichtweise auf diese Frage offen. Um dies zu sehen, möchte ich zunächst auf eine Gemeinsamkeit in den beiden diskutierten Strängen des nicht-reduktionistischen Verständnisses eigener Gründe aufmerksam machen: Der nach innen gerichteten Tendenz zufolge sind eigene Gründe jene Beweggründe, die sich durch ein besonderes Verhältnis zur handelnden Person (bzw. zu ihrem »Inneren«) auszeichnen. Bei Beate Roessler war dies z. B. die Eigenschaft der Beweggründe, zu dem zu passen, was man wirklich will oder was man wirklich ist. Nach Auffassung der nach außen gerichteten Tendenz hingegen sind eigene Gründe jene Beweggründe, die sich durch ein besonderes Verhältnis zur äußeren Welt auszeichnen. Bei der in diesem Zusammenhang zuvor diskutierten Auffassung war dies z. B. die Eigenschaft der Beweggründe, gewissen Normen der Rationalität zu genügen. Bei allen Unterschieden teilen beide nicht-reduktionistischen Auffassungen somit die Annahme, dass es eine Eigenschaft der Beweggründe ist, die sie zu eigenen Gründen macht: Ob ein Beweggrund G ein eigener ist oder nicht, hängt von einer Eigenschaft von G ab (nämlich seinem Verhältnis zur handelnden Person bzw. zur äußeren Welt). Die geteilte Grundannahme im nicht-reduktionistischen Verständnis eigener Gründe besagt also, dass eigene Beweggründe eine bestimmte Eigenschaft haben, die »fremde« Beweggründe nicht haben.

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Wenn man den obigen Vorschlag – demzufolge die Idee eigener Gründe einen normativen Status ausdrückt – ernst nimmt, so könnte es sich bei dieser geteilten Grundannahme um ein Missverständnis handeln. Denn dem Vorschlag zufolge bringt eine Zuschreibung wie A handelt aus eigenen Gründen letztlich so etwas wie As Handlung genießt einen gewissen Schutz vor Eingriffen, Nachfragen, Ratschlägen etc. zum Ausdruck. In diesem zweiten, transformierten Satz ist von As Beweggründen gar nicht mehr die Rede. Und das legt die Möglichkeit nahe, dass es vielleicht gar nicht eine Eigenschaft der Beweggründe ist, die uns zwischen »eigenen« und »fremden« Gründen unterscheiden lässt. Denn der normative Status einer schützenswerten Handlung, den die Idee eigener Gründe ausdrückt, muss nicht auf irgendeiner Eigenschaft der Beweggründe, sondern könnte auch auf etwas ganz anderem beruhen – etwa der Art und Weise, wie die handelnde Person mit ihrer Umwelt interagiert. Ob man aus eigenen Gründen handelt oder nicht, hätte dann nichts damit zu tun, wie die Beweggründe beschaffen sind, sondern eher damit, ob man sich gegen Vereinnahmungen des sozialen Umfelds zur Wehr setzen kann (das konnte der Abiturient in Bezug auf seine Studienwahl nicht), ob man seine Umwelt und Lebenswelt mitgestalten kann oder ihr nur passiv gegenübersteht (das war ein Thema beim Paar aus Revolutionary Road) oder ob man seine Angelegenheiten – Anforderungen, die das Leben an einen stellt und in diesem Sinne von außen an einen herangetragen werden – regeln und bewältigen kann (daran hätte man beispielsweise bei Personen mit einem Waschzwang oder mit der paranoid-psychotischen Neigung, den Befehlen außerirdischer Stimmen zu gehorchen, seine Zweifel). Vielleicht ist es also gar nichts an oder in den Beweggründen, das darüber entscheidet, ob man von eigenen Gründen reden kann. Ich kann an dieser Stelle nicht weiter ausführen, wie man diese »andersartige« Grundlage für den normativen Status, den die Idee eigener Gründe ausdrückt, genauer fassen könnte.18 Davon unberührt ist aber der Kerngehalt der »befreienden Idee«: Betrachtet man die Idee eigener Gründe nämlich als eine normative Idee – als etwas, das einen normativen Status ausdrückt –, dann ist die geteilte Grundannahme der nichtreduktionistischen Auffassung eigener Gründe nicht länger zwingend. Es ist also nicht unbedingt eine Eigenschaft der Beweggründe, nach der man sucht, wenn man klären will, was eigene Gründe sind.

An anderer Stelle habe ich in Bezug auf das Phänomen personaler Autonomie etwas detaillierter beschrieben, was die Interaktion zwischen handelnder Person und ihrer Umwelt, auf der der normative Status beruht, auszeichnet; vgl. Christian Seidel: Personale Autonomie als praktische Autorität, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), 897–915. 18

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Auf den ersten Blick bekräftigt dieser Vorschlag den bereits zuvor geäußerten Verdacht, dass eigene Gründe vor allem »ziemlich eigenartig« sind, und es ist nicht unmittelbar einsichtig, inwiefern der Vorschlag die Natur eigener Gründe zu erhellen vermag. Allerdings zerstreuen sich diese Zweifel, wenn man sich vor Augen führt, dass es auch andere, weitaus weniger eigenartige Begriffe wie »gefährdete Tierart«, »berühmt sein« oder »integriert sein« gibt, die ganz ähnlich zu funktionieren scheinen: Es ist nichts an oder in einer Tierart, das darüber entscheidet, ob sie vom Aussterben bedroht ist und unter Artenschutz steht – vielmehr ist es der Grad an menschlichen Eingriffen in Ökosysteme, der für eine Gefährdung ausschlaggebend ist. Und ebenso wenig ist es etwas an oder in der Person, das darüber entscheidet, ob sie berühmt oder integriert ist – ausschlaggebend ist eher das, was andere Personen mit ihr tun (ob sie die berühmte Person in der Öffentlichkeit erkennen und um Autogramme bitten bzw. ob sie die integrierte Person in gemeinschaftliche Aktivitäten einbinden). Man sagt mit Begriffen wie »gefährdete Tierart«, »berühmt sein« oder »integriert sein« also weniger über die Entität, von der diese Begriffe ausgesagt werden, als vielmehr etwas über andere Entitäten. So gesehen ist uns die Vorstellung, dass man mit »eigenen Gründen« eigentlich gar nichts über die Beweggründe (bzw. eine besondere Eigenschaft derselben) aussagt, sondern über etwas anderes spricht, nicht gänzlich unvertraut. Der hier unterbreitete Vorschlag lässt sich auch so auf den Punkt bringen: Aussagen über eigene Gründe haben nicht, wie die beiden diskutierten Stränge im nicht-reduktionistischen Verständnis glauben, die logische Form Person P handelt genau dann aus eigenen Gründen, wenn es einen Grund G gibt, aus dem P handelt, und G die Bedingung(en) B erfüllt. sondern eher die Form Person P handelt genau dann aus eigenen Gründen, wenn es einen Grund G gibt, aus dem P handelt, und φ. wobei der Satz φ (der weitere zu erfüllende Bedingungen enthält) frei ist von G, also nichts über den Beweggrund G aussagt.19 Das ist letztlich eine deflationäre Konzeption eigener Gründe: Man behauptet mit »Der Grund G, aus dem P handelt, ist ein im emphatischen Sinn eigener Grund« eigentlich nichts über die Gründe, die P zum Handeln bewegen – so wie man nach Auffassung deflationärer Wahrheitskonzeptionen mit »Der Satz ›Schnee ist weiß‹ ist wahr« auch nichts über den Satz behauptet (sondern nur behauptet, dass Schnee weiß ist). Im Fall deflationärer Wahrheitskonzeptionen muss der Satz, von dem gesagt wird, er sei wahr, also eigentlich gar keine zusätzliche Eigenschaft erfüllen – und ebenso müssen die Gründe, von denen gesagt wird, sie seien eigene, gar

19 Der Satz φ kann aber natürlich etwas über die Person P aussagen. Die Behauptung ist lediglich, dass nicht eine Eigenschaft der Beweggründe darüber entscheidet, ob man von eigenen oder fremden Gründe sprechen kann. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Die Bedingung »P ist mit sich zufrieden« wäre eine zulässige Instanz von φ, die Bedingung »P identifiziert sich mit ihrem Beweggrund« hingegen nicht, denn letztere sagt etwas über G aus, erstere nicht (jedenfalls nicht unmittelbar).

Eigene Gründe – wozu eigentlich?

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keine zusätzliche Eigenschaft erfüllen. Es liegt eben nicht an oder in den Gründen, ob sie unsere eigenen sind oder nicht. Insbesondere entscheidet weder ein besonderes Verhältnis der Beweggründe zum Inneren der Person, noch ein besonderer Verhältnis zur äußeren Welt darüber, ob man aus eigenen Gründen handelt oder nicht. In dieser Hinsicht grenzt sich die deflationäre Konzeption von den beiden nicht-reduktionistischen Tendenzen ab. Sie grenzt sich aber auch von reduktionistischen Auffassungen ab. Denn die Klasse eigener Gründe wird in diesem Vorschlag individuiert durch eine spezifische – nämlich normative – Funktion; eigene Gründe sind demnach jene Beweggründe, für die gilt: Dass man aus ihnen handelt bedeutet, dass die entsprechende Handlung einen gewissen Schutz vor Eingriffen, Nachfragen, Ratschläge und Ähnlichem genießt. Diese normative Funktion scheint nicht in den anderen Arten von Gründen angelegt zu sein, die als Kandidaten für eine Reduktion eigener Gründe in Frage kamen (vgl. Abschnitt 2): Weder für exklusive/private Gründe, noch für eigentümliche/idiosynkratische Gründe, noch für alle Beweggründe, noch für akteursrelative Gründe, noch für alle guten Gründe ist es wesentlich, dass die entsprechende Handlung einen schützenswerten Status genießt und anderen einen Grund gibt, Nachfragen, Eingriffe, Überzeugungsversuche und Ratschläge zu unterlassen. Die erläuterte normative Funktion ist somit charakteristisch für die Idee eigener Gründe. Und das erklärt, weshalb die reduktionistischen Auffassungen eigener Gründe unbefriedigend sind: Denn wenn sich eigene Gründe durch eine spezifische normative Funktion auszeichnen, diese Funktion aber nicht wesentlich für andere Arten von Gründen ist, dann können eigene Gründe nicht identisch sein mit einer anderen Art von Gründen. Eigene Gründe stellen also tatsächlich eine eigenständige und wohlkonturierte Kategorie von Gründen dar. Ebenso wie in der Debatte um die Triftigkeit deflationärer Wahrheitskonzeptionen legt auch die vorgeschlagene »Deflation« eigener Gründe den Einwand nahe, dass die Idee eigener Gründe damit eigentlich verzichtbar wird: Ginge es dann nicht auch ohne eigene Gründe? Die Antwort darauf lautet meines Erachtens: Nein. Dies hat wiederum mit der normativen Funktion eigener Gründe zu tun: Auf die Vorstellung, dass Handlungen unter bestimmten Umständen einen gewissen Schutz vor Nachfragen, Eingriffen, Überzeugungsversuchen und Ratschlägen genießen, wollen wir in unserem praktischen Denken vermutlich nur ungern verzichten – zu fest verankert ist die Intuition, dass man Personen, die aus eigenen Gründen handeln, ein Stück weit anders behandeln sollte als Personen, die dies nicht tun. Damit sind natürlich keineswegs alle Fragen, die sich in Bezug auf Natur und Funktion eigener Gründe stellen, geklärt. Zum einen habe ich lediglich ansatzhaft skizziert, wie die andersartigen Bedingungen für das Vorliegen eigener Gründe aussehen könnten. Zum anderen wäre genauer zu klären, wie die deflationäre Konzeption das Verhältnis zwischen eigenen Gründen und den Ideen »Autonomie«, »erst-personale Normativität« und »Verantwortung durch Rechenschaftsfähigkeit« bestimmt. Erst wenn man diese offenen Punkte angeht, wird sich zeigen, ob die deflationäre Konzeption unserem Verständnis von eigenen Gründen vollumfänglich gerecht wird. Mir ging es an

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Kolloquium 20 · Christian Seidel

dieser Stelle lediglich darum aufzuzeigen, dass sie eine Perspektive liefert, wie man die anfängliche Ambivalenz gegenüber der Idee eigener Gründe auflösen kann: Denn mit der deflationären Konzeption erhalten eigene Gründe einen distinkten, klar umrissenen und – wie mir scheint – nicht unwichtigen Platz in unserem praktischen Denken.20

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Für äußerst hilfreiche Kommentare zu diesem Aufsatz möchte ich Monika Betzler herzlich danken.

KOLLOQUIUM 21

Die Logik von Gründen – Gründe in der Logik Kolloquiumsleitung: Hans Rott

Hans Rott Einführung Pascal Engel Wie man einer Schildkröte widersteht John F. Horty Gründe als Defaults

Einführung Hans Rott Prozesse in der Natur versuchen wir in ihren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu begreifen und nehmen oft an, dass sie von dem Kausalprinzip regiert werden. Man würde daher erwarten, dass der Begriff der Ursache in der grundlegenden Naturwissenschaft, der Physik, eine herausragende Rolle spielt. Dies ist aber bekanntlich nicht der Fall. Im Gegenteil, in dem Maße, in dem die Physik zu ihren neuzeitlichen Erfolgen angesetzt hat, scheint sie sich vom Begriff der Ursache verabschiedet zu haben. Bertrand Russell hat dies schon vor 100 Jahren spöttisch kommentiert »The law of causality, I believe, like much that passes muster among philosophers, is a relic of a bygone age, surviving, like the monarchy, only because it is erroneously supposed to do no harm.«1 Es gibt Kräfte und Felder in der Physik, Energie und Impuls sowie Differentialgleichungen, die die Dynamik regeln, aber den Begriff der Ursache sucht man in physikalischen Lehrbüchern vergebens.2 Prozesse des Denkens und Schlussfolgerns versuchen wir in Grund-Folge-Zusammenhängen zu verstehen und postulieren dabei gerne, dass sie von Prinzipien der Begründung regiert werden. Wenn man davon ausgeht, dass die grundlegende Wissenschaft des Denkens oder Schlussfolgerns die Logik ist, dann würde man erwarten, dass der Begriff des Grundes in der Logik eine herausragende Rolle spielt. Überraschenderweise ist dies nicht der Fall. Ist es vielleicht auch hier so, dass die Logik in dem Moment eine erfolgreiche Wissenschaft wurde, in dem sie sich vom alltagssprachlichen Konzept des Grundes löste? Gilt analog zur mathematischen Physik, dass die reglementierte Terminologie von Prämissen und Konklusionen, Axiomen und Schlussregeln, Syntax und Semantik einen präziseren wissenschaftlichen Zugang zu Denk- und Schlussfolgerungsprozessen liefert, der die Rede von Gründen obsolet macht? Die Beiträge von Pascal Engel und John Horty zum vorliegenden Band können dahin gehend interpretiert werden, dass diese nahe liegende Vermutung nicht zutreffend ist. Während wir heutzutage sicher sagen können, dass die Physik sich tatsächlich besser ohne einen systematisch tragenden Begriff der Ursache entwickelt hat und diesen Begriff deshalb auch nicht prominent stellen sollte, würde man doch sehr zögern, Gleiches für die Logik zu behaupten. Wäre es nicht schön, wenn der Begriff des Grundes innerhalb der Wissenschaft der Logik einen Platz zugewiesen bekäme, der seiner herausragenden Stellung im alltagssprachlichen Reden über Denken und Schlussfolgern entspräche? Die folgenden beiden Beiträge zeigen jedoch, aus zwei ganz unterschiedlichen Blickwinkeln, dass die-

Russell (1913, S. 1). Diese Sottise hat Russell nicht daran gehindert, sich 35 Jahre später an einer eigenen Theorie »kaulaser Linien« zu versuchen (Russell 1948, 399–405, 429–434). 2 Diese Darstellung ist natürlich holzschnittartig. In Wirklichkeit ist die Debatte längst nicht entschieden, siehe z. B. Norton (2007) und Frisch (2012). 1

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Kolloquium 21 · Hans Rott

ses Ziel jedenfalls dann nicht erreichbar ist, wenn man sich auf die Ressourcen der heute »klassisch« genannten, im wesentlichen auf Frege zurückgehenden Logik beschränkt. Die Autoren reden keiner Elimination des »Grund«-Begriffs aus der Logik das Wort; sie zeigen aber auf, dass die klassischen Konzepte der Logik erweitert oder korrigiert werden müssen, wenn der eben formulierte Wunsch eine Chance auf Realisierung haben soll. Indirekt erklären sie damit, warum der Begriff des Grundes keinen so prominenten Status in der gegenwärtigen Logik haben kann, wie wir es erwarteten. Es versteht sich, dass in den beiden Aufsätzen nur zwei für das Titelthema relevante Aspekte angesprochen werden. Doch handelt es sich um wichtige, philosophisch tief gehende Überlegungen, die mit großer Originalität und in beträchtlichem Detail ausgeführt werden. Pascal Engel diskutiert in seinem Aufsatz »Wie man einer Schildkröte widersteht« Probleme logischen Schließens anhand einer kurzen Geschichte von Lewis Carroll aus dem Jahre 1895.3 Es geht um das folgende Argument: (A) Sind zwei Dinge einem dritten gleich, so sind sie einander gleich. (B) Die zwei Seiten dieses Dreiecks sind einer weiteren gleich. (Z) Die zwei Seiten dieses Dreiecks sind einander gleich. In provokanter Manier behauptet die Schildkröte, die Prämissen (A) und (B), aber nicht die Konklusion (Z) als wahr zu akzeptieren.4 Sie weigert sich sogar bewusst, (Z) zu akzeptieren. Dies verwirrt Achilles ebenso sehr wie die heutigen Leser, die wir doch erkennen, dass der folgende Konditionalsatz wahr ist: (C) Wenn (A) und (B) wahr sind, muss (Z) wahr sein. Auch die Schildkröte gesteht dies zu, akzeptiert also (C). Dennoch bleibt sie bei ihrer Weigerung, die Konklusion (Z) zu akzeptieren. Achilles versucht, das Problem in einem weiteren Schritt durch die Betrachtung des Konditionalsatzes (D) Wenn (A) und (B) und (C) wahr sind, muss (Z) wahr sein. zu lösen. Doch die Schildkröte, die jetzt gerne die Wahrheit von (D) zugesteht, weigert sich weiterhin, (Z) zu akzeptieren. Weitere Konditionalsätze wie (E) Wenn (A) und (B) und (C) und (D) wahr sind, muss (Z) wahr sein. helfen nicht weiter, ebenso wenig wie der sich nun abzeichnende unendliche Regress mit immer weiteren Konditionalsätzen. Sätze oder Propositionen sind, auch wenn sie als wahr akzeptiert werden (d. h. wenn sie Überzeugungen darstellen bzw. deren Gehalt bilden), nicht von der Art, dass sie einen Übergang von Prämissen zur Konklusion Der vorliegende Beitrag ist die deutsche Übersetzung einer von Engel für diesen Band angefertigten Kombination aus Engel (2005) und Engel (2007). 4 Statt vom »Akzeptieren« könnte hier immer auch vom »Glauben« die Rede sein. Carroll selbst spricht im Original von »accepting as true«, während Engel häufiger das Verb »to believe« als das Verb »to accept« verwendet (aber auch von letzterem reichlich Gebrauch macht). Abhängig davon, ob sich logisches Schlussfolgern auf Akzeptieren oder auf Glauben bezieht, könnte Engels Hauptfrage ganz verschiedene Antworten erhalten. Vgl. Cohen (1992). 3

Einführung

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motivieren können. Die Logik, so eine offensichtliche Moral aus Carrolls Geschichte, vermag es nicht, die Schildkröte zur Annahme einer logisch zwingenden Konklusion zu bewegen. Es muss noch etwas hinzukommen, das die Schlussfolgerung in Gang setzt. Was ist in dieser Situation zu tun? Engel gibt eine Übersicht über vier verschiedene Deutungsmöglichkeiten dieser so genannten Paradoxie und konzentriert sich auf die letzte.5 Es geht ihm um die normative Kraft logischer Regeln. Dass die Konklusion aus den Prämissen logisch folgt, ist eine objektive Tatsache (deren Natur hier nicht Gegenstand der Diskussion ist). Sie gibt, in Jonathan Dancys (2000) Terminologie, einen normativen Grund für den Übergang von den Prämissen zur Konklusion ab. Wie es aber geschehen kann, dass dieser normative Grund zu einem motivierenden Grund wird, der das tatsächliche Ziehen einer konkreten Schlussfolgerung hervorbringt, ist zunächst nicht zu sehen. Engel lässt drei Lösungsmöglichkeiten Revue passieren: (i) Nach der Platonistischen Theorie führt ein direktes Erfassen objektiv-logischer Zusammenhänge (etwa durch Einsicht oder Intuition) dazu, dass wir uns ihnen gemäß verhalten. (ii) Nach der Humeanischen Theorie ist es eine Gewohnheit des Schlussfolgerns, auf der ein bestimmter Übergang von Prämissen zur Konklusion beruht. (iii) Nach dem reflektiven Internalismus ist es das bewusste Wissen über die Gültigkeit logischer Regeln, das zu den partikulären Schlüssen führt.6 Keine dieser Optionen ist nach Engel befriedigend. Er vergleicht die Situation mit der Durchfahrt zwischen Skylla und Charybdis. Einerseits dürfe begründetes Schlussfolgern nicht blind-mechanisch vonstatten gehen, sondern müsse irgendwie auf der Anerkennung der Gültigkeit von bestimmten Schlussformen beruhen. Wenn diese Anerkennung aber auf reflektierende Weise erreicht werden soll, lande man im Carrollschen Regress. Engels eigene Idee, wie man mit der einerseits normativen und andererseits motivierend-kausalen Rolle von Gründen (und insbesondere von logischen Gründen) zurecht kommen kann, stützt sich auf die Möglichkeit, über Wissen zu verfügen, das im Moment seiner Anwendung nicht aktualisiert oder im Geiste präsent sein muss. Dieses stillschweigende Wissen besteht in einer kausalen Struktur, welche die formale Struktur von gültigen Argumenten widerspiegelt und die Basis von (Schlussfolgerungs-)Dispositionen erster Stufe bildet. Hinzukommen müssten aber noch rationale Dispositionen zweiter Stufe, die mentale Zustände (insbesondere Überzeugungen) erster Stufe zum Gegenstand haben. Dispositionen von dieser Art bleiben beim gewöhnlichen Schlussfolgern ebenfalls unbewusst, können aber bei Bedarf ins Bewusstsein geholt, aktualisiert und bearbeitet werden. Wie genau das vor sich geht, muss Engel am Ende seines Beitrages offen lassen. Dass die klassischen Mittel der Logik nicht genügen, um die Praxis des Begründens zu erklären, führt Engel vor Augen, indem er die Schwierigkeit aufzeigt, die darin liegt, die In Engels Beitrag spielen der Regressgedanke und die Idee eines kategorialen Unterschieds zwischen Konditionalsätzen und Schlussregeln keine große Rolle. 6 Zum reflektiven Internalismus gehört nach Engel auch, dass dieses Wissen inferenziell erworben ist. Auch die Position des nichtreflektiven Internalismus, die eine unmittelbare Einsicht in die oder Anschauung von der Gültigkeit einer Schlussregel annimmt, wird von Engel kurz betrachtet, schneidet aber nicht besser ab. 5

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Kolloquium 21 · Hans Rott

Logik als normative Wissenschaft in einem konkreten, tatsächlich ablaufenden kognitiven Prozess der Begründung wirksam werden zu lassen. Von einer ganz anderen Seite her beleuchtet auch John Horty in seinem Aufsatz »Gründe als Defaults«,7 dass die klassischen Mittel der Logik zu kurz greifen. Solange wir uns auf deduktive Schemata der Art (A)-(B)-(Z) beschränken, gibt es keine Chance, die Komplexität und Reichhaltigkeit unserer tatsächlichen Begründungsverfahren logisch zu erfassen. Wie Horty an einer ganzen Reihe von Beispielen illustriert, können verschiedene Gründe miteinander in Konflikt stehen, sind manche Gründe stärker als andere, und gibt es Gründe, die andere Gründe unterminieren. Zu keinem dieser Phänomene hat die klassische Logik etwas zu sagen. Anders als Engel legt Horty aber nicht nahe, den engen Bereich der Wissenschaft der Logik zu verlassen und sich auf genuin philosophische sowie kognitionswissenschaftliche Fragestellungen zu verlegen. Hortys Idee ist es, die Logik selbst zu erweitern und zu revidieren. Horty skizziert zunächst ein System des anfechtbaren (defeasible) oder »nichtmonotonen« Schlussfolgerns. Solche Systeme sind seit den 1980er Jahren in den Forschungen zur Künstlichen Intelligenz und Wissensrepräsentation entwickelt worden.8 Eine Default-Regel (oder kurz: ein Default) ist ein syntaktisches Objekt der Form A→B, das es uns erlaubt »per Default« auf B zu schließen, wenn A gesichert ist. »Per Default« soll hier soviel heißen wie »wenn keine komplizierenden Faktoren intervenieren«, eine Klausel, die häufig auch Ceteris-paribus-Bedingung genannt wird. Das Schlussfolgern mit Default-Regeln ist in dem Sinne nichtmonoton, dass neu hinzukommende Prämissen früher erlaubte Konklusionen über den Haufen werfen können – nämlich dann, wenn sie direkt oder indirekt die Information vermitteln, dass irgendwelche komplizierenden Faktoren vorliegen. Hortys System des Default-Schließens erlaubt eine (entweder fest vorgegebene oder selbst im Prozess des Schlussfolgens zu etablierende) partielle Ordnung von Defaults gemäß ihrer Stärke oder Priorität, die sich intuitiv etwa nach der Zuverlässigkeit der Informationsquellen oder der Spezifität der Defaults richten kann. Wenn jemand anfängt, Schlüsse zu ziehen, geht er von einer Menge W von Fakten und einer partiell geordneten Menge D von Defaults aus. Alles zusammen bezeichnet man als eine Default-Theorie. Ein Szenario besteht aus einer Teilmenge S von D, die intuitiv die Menge derjenigen Defaults auszeichnet, die eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt der Deliberation auf der Grundlage einer gegebenen Default-Theorie für anwendbar hält. Defaults sind keine Aussagen, sondern Regeln für das Schlussfolgern. Sind Gründe nun mit Aussagen oder mit Defaults zu identifizieren? Nach Horty ist dies eine Frage der Reifikation von Gründen, die nur mit einer gewissen Künstlichkeit zu beantworten Der vorliegende Beitrag ist die deutsche Übersetzung einer von Horty für diesen Band angefertigten, auf einen neueren Stand gebrachten Kurzfassung von Horty (2007). Die autoritative Fassung seiner Theorie liegt inzwischen in der Monographie Horty (2012) vor. 8 Zu den frühen nichtmonotonen Systemen, die explizit Gründe verarbeiten, gehören auch die so genannten Reason maintenance systems. Der Pionier John Doyle hatte selbst sehr schnell erkannt, dass sein ursprünglicher Terminus Truth maintenance systems nicht nur verdächtig nach Orwellschem Neusprech klingt, sondern die gemeinte Sache auch nicht trifft. Siehe Doyle (1979, 1992) sowie Bry und Kotowski (2008). 7

Einführung

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sei, doch er entscheidet sich dafür – anders als der Titel seines Beitrags vermuten lässt –, Gründe als die Prämissen von (in einem bestimmten Szenario) ausgelösten Defaults zu bestimmen. Dass Bubi ein Vogel ist, ist der Grund dafür, dass er fliegt. Der Default, dass Vögel (normalerweise) fliegen, ist nicht der Grund selbst. Der Default ist, wenn er denn ausgelöst wird, vielmehr dasjenige, was die Tatsache, dass Bubi ein Vogel ist, als Grund für die Konklusion, dass Bubi fliegt, ausweist. Die relevanten (»bindenden«) Defaults sind diejenigen, die auf der Grundlage eines Szenarios ausgelöst (und auch nicht unterminiert) werden, denen aber nicht durch andere Defaults widersprochen und die nicht von stärkeren Defaults geschlagen werden. Die technischen Details dieser Begriffe können an dieser Stelle übersprungen werden, wichtig ist aber: Gute Gründe sind diejenigen, die als Vordersätze solcher bindenden Defaults auftreten. Ein geeignetes Szenario für eine bestimmte Default-Theorie ist eine Menge S von Defaults, in der die mittels S erhaltenen Konklusionen dafür sorgen, dass genau die in S enthaltenen Defaults ausgelöst werden und auch bindend sind. Geeignete Szenarien sind diejenigen, in denen vollkommen rationale Personen landen könnten.9 Hortys Theorie ist besonders raffiniert, weil in der Objektsprache über die verschiedenen Stärken von Defaults gesprochen und hierdurch die Stärke von Defaults variiert werden kann. Ob ein Default einen anderen übertrumpft – dies wird »Schlagen durch Widerlegung« (rebutting defeat) genannt –, ergibt sich in diesem Rahmen also erst als Resultat eines Schlussfolgerungsprozesses. Alternativ kann sich auch ergeben, dass die Stärke einer Default-Regel unter einen gewissen Grenzwert fällt und diese nicht mehr ausgelöst wird, ohne dass es eine stärkere Regel geben müsste, die sie übertrumpft; dies wird »Schlagen durch Unterminierung« (undermining defeat) genannt. Während im ersteren Fall die Prämisse eines Defaults ein Grund bleibt, der sich nur nicht durchsetzen kann, verliert im letzteren Fall die Prämisse eines Defaults den Status eines Grundes. Horty illustriert den Unterschied an einem Beispiel mit epistemischen Gründen aus der Wahrnehmungstheorie: Wenn jemand eine Droge genommen hat, die Rot und Blau vertauscht, dann wird die Default-Regel, nach der das rote Aussehen eines Gegenstands ein Grund für das Rotsein dieses Gegenstands ist, von der spezifischeren und stärkeren Default-Regel geschlagen, nach der das rote Aussehen eines Gegenstands nach Einnahme dieser Droge ein Grund für das Blausein des Gegenstands ist. Wenn man hingegen eine Droge genommen hat, nach deren Einnahme alles rot aussieht, so wird die Default-Regel, nach der das rote Aussehen eines Gegenstands ein Grund für das Rotsein des Gegenstands ist, unterminiert, das heißt sie wird unanwendbar.10 Hortys Beitrag schließt mit einer philosophischen Anwendung seiner Theorie. Dancy (2004) hat argumentiert, dass ein Holismus der Gründe, wonach eine Proposition, die Es kann für eine einzige Default-Theorie mehrere geeignete Szenarien geben. Der kognitive Prozess, durch den eine Person in einem bestimmten Szenario landet, wird in den Theorien nichtmonotonen Schließen (und auch von Horty) nicht beschrieben. 10 Gegen Ende seines Aufsatzes gibt Horty allerdings eine Interpretation, nach der auch im ersten Fall besser von einer Unterminierung auszugehen ist. Ansonsten wäre Horty nämlich darauf festgelegt zu sagen, dass in diesem ersten Fall das Rotaussehen ein Grund für das Rotsein bliebe. Dies ist aber kontraintuitiv. 9

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Kolloquium 21 · Hans Rott

in einem Kontext ein Grund für etwas ist, in einem anderen Kontext ein Gegengrund für dasselbe sein kann, eine auf allgemeinen Prinzipien basierende Ethik ausschließt. Horty hält dagegen, dass das von ihm vorgestellte System einen Holismus der Gründe unterstützt und dennoch auf allgemeinen Prinzipien beruht. Insoweit anfechtbare Defaults à la Horty als allgemeine Prinzipien gelten können, ist Dancys Argument also ungültig. Die beiden Beiträge gehen, wie erwähnt, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven an die Aufgabe, die Lücke zwischen dem klassischen Gebrauch der Logik und der Realität unserer Begründungspraxis zu schließen. Dennoch gibt es in einem sehr zentralen Punkt eine auffällige, ja überraschende Gemeinsamkeit, die vermutlich nicht zufällig ist und in ihrer Reichweite weit über die konkreten Ansätze von Engel und Horty hinausweisen könnte. Sowohl Engel als auch Horty legen großen Wert darauf, dass eine enge Verwandtschaft besteht zwischen den von ihnen betrachteten Problemstellungen und Methoden der Logik einerseits und Problemstellungen und Methoden aus dem Bereich der Praktischen Philosophie andererseits. Beide Autoren betonen mit Nachdruck, dass die Frage »Was darf ich glauben« mit der Frage »Was soll ich tun« viel mehr Verwandtschaft hat, als sich Logiker traditionell vorgestellt haben. Die Nähe zwischen theoretischem und praktischem Schließen zeigt sich zunächst schon an den Terminologien: Hortys unterminierende Gründe wurden als »ausschließende Gründe« schon in Joseph Raz’ Buch Practical Reason and Norms (1975) diskutiert, die von Engel intensiv in Anspruch genommene Unterscheidung zwischen normativen und motivierenden Gründen spielt zum Beispiel in Dancys Buch Practical Reality (2000) eine große Rolle. Doch geht die Analogie zwischen Logik und praktischer Vernunft nicht nur an die terminologische Oberfläche, sondern manifestiert sich auch in zentralen Gedankengängen. Engel weist darauf hin, dass die Erkenntnis, dass eine Option die beste oder zu bevorzugende ist, ein Subjekt nicht unbedingt dazu bewegt, diese Option auch auszuwählen. Es muss noch »etwas anderes, […] das nicht unter der Kontrolle der Tatsachen und der Vernunft ist« (Blackburn 1995), dazu kommen, um die entsprechende Entscheidung in Gang zu setzen. Ansonsten kann die rationale Wahl oder Handlung auch unterbleiben. Engel setzt dieses Phänomen analog zur »logischen Willensschwäche« (logical akrasia) der Schildkröte, die den Schluss von (A) und (B) auf (Z) nicht vollzieht, obwohl sie die Gültigkeit der Argumentationsform eingesehen hat. Horty vergleicht systematisch eine epistemische Interpretation mit einer praktischen Interpretation von Default-Regeln: Defaults können empfehlen, aus vorliegenden Prämissen ceteris paribus eine bestimmte Schlussfolgerung zu ziehen; alternativ können sie empfehlen, in einer vorliegenden Situation ceteris paribus eine bestimmte Handlungen auszuwählen. Epistemische Gründe (Gründe als Evidenz) und praktische Gründe (Gründe als Ratschläge) sind in Hortys Theorie gleichzeitig abgedeckt. Tatsächlich wechselt er auch in der Wahl seiner Beispiele immer wieder ab zwischen Gründen, etwas zu glauben, und Gründen, etwas zu tun. Zusammengefasst: Pascal Engel und John Horty zeigen aus verschiedenen Blickwinkeln auf, in welchen Hinsichten die Logik, so wie sie traditionellerweise verstanden wird, zu ergänzen und korrigieren ist, damit sie sich auf den Weg zu einer Theorie der Gründe im

Einführung

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theoretisch-kognitiven Bereich begeben kann. Engel untersucht, wie die (als gegeben vorausgesetzten) normativen Gründe der Logik auch motivierende Gründe sein können. Er ergänzt die Logik hierzu durch genuin philosophische und auch kognitionswissenschaftliche Überlegungen. Horty modelliert, wie die bescheidenen Argumentationsformen der traditionellen Logik zu ergänzen und modifizieren sind, wenn Stärkedifferenzen und Konflikte zwischen verschiedenen Gründen zu verarbeiten sind. Er baut die klassische Logik hierzu zu einem leistungsfähigen System der Priorisierten Default-Logik aus. Beide Autoren arbeiten eine überraschend enge Verwandtschaft ihrer theoretisch-logischen Fragestellungen mit Fragestellungen aus der Praktischen Philosophie heraus. Anders als in der Physik, die sich um den Begriff der Ursache weiterhin nicht zu scheren braucht, ist es wünschenswert, dass die Logik den Begriff des Grundes in Zukunft mehr in das Zentrum ihres Interesses rückt. Literatur: Simon Blackburn: Practical Tortoise Raising, in: Mind 104, no. 416 (1995), 696–711. François Bry und Jakub Kotowski: Reason Maintenance – State of the Art, Projekt KiWi »Knowledge in a Wiki«, public deliverable, LMU München 2008. Abrufbar auf http:// www.kiwi-project.eu/images/stories/deliverables/d2_3.pdf Lewis Carroll (C. L. Dodgson): What the Tortoise said to Achilles, in: Mind 4, no. 14 (1895), 278–280. L. Jonathan Cohen: An Essay on Belief and Acceptance, Oxford 1992. Jonathan Dancy: Practical Reality, Oxford 2000. –: Ethics Without Principles, Oxford 2004. Jon Doyle: A Truth Maintenance System, in: Artificial Intelligence 12 (1979), 231–272. –: Reason Maintenance and Belief Revision – Foundations vs. Coherence Theories, in: Belief Revision, hg. von Peter Gärdenfors, Cambridge 1992, 29–51. Pascal Engel: Logical Reasons, in: Philosophical Explorations 8 (2005), 21–28. –: Dummett, Achilles and the Tortoise, in: The Philosophy of Michael Dummett, hg. von Randall Auxier und Lewis Hahn, Chicago 2007, 725–746. Mathias Frisch: Kausalität in der Physik, in: Philosophie der Physik, hg. von Michael Esfeld, Frankfurt 2012, 411–425. John Horty: Reasons as Defaults, in: Philosophers’ Imprint 7 (April 2007), 56 Seiten. Abrufbar auf http://hdl.handle.net/2027/spo.3521354.0007.003. –: Reasons as Defaults, Oxford 2012. John Norton: Causation as Folk Science, in: Causation, Physics and the Constitution of Reality: Russell’s Republic Revisited, hg. von Huw Price und Richard Corry, Oxford 2007, 11–44. Joseph Raz: Practical Reason and Norms, London 1975. Bertrand Russell: On the Notion of Cause, in: Proceedings of the Aristotelian Society 13 (1913), 1–26. –: Human Knowledge, New York 1948. (Seitenangaben nach der Routledge Classics Edition, London 2009.)

Wie man einer Schildkröte widersteht Pascal Engel

Lewis Carrolls Paradox von Achilles und der Schildkröte wird häufig das »Paradox der Schlussfolgerung«1 genannt. Es scheint viele Fragen aufzuwerfen. Im folgenden behandle ich einige dieser Fragen, ohne den Versuch zu unternehmen alle Implikationen dieser berühmten Geschichte nachzuzeichnen. Mein besonderes Augenmerk gilt der Analogie zwischen theoretischem und praktischem Schließen, die uns die Geschichte zu bilden erlaubt. Lediglich für letztere schlage ich eine Lösung vor.

1. Lewis Carrolls rätselhaftes Stück (Carroll 1895) präsentiert Achilles, wie er der Schildkröte drei Sätze vorlegt: (A) Sind zwei Dinge einem dritten gleich, so sind sie einander gleich. (B) Die zwei Seiten dieses Dreiecks sind einer weiteren gleich. (Z) Die zwei Seiten dieses Dreiecks sind einander gleich. Die Schildkröte akzeptiert (A) und (B), aber nicht (Z), obwohl sie folgenden Satz akzeptiert, den Achilles ihr präsentiert: (C) Wenn (A) und (B) wahr sind, muss (Z) wahr sein. Auf das Drängen von Achilles hin ist die Schildkröte bereit zu akzeptieren, dass, wenn (A), (B) und (C) wahr sind, auch (Z) wahr sein muss, aber sie weigert sich immer noch (Z) zu akzeptieren, und die Geschichte legt nahe, dass dieser Regress niemals aufhört. Die Geschichte weist zwei bemerkenswerte Merkmale auf. Das erste ist, dass die Schildkröte (C) akzeptiert, weil sie der Ansicht ist, dass (C) eine logische Wahrheit ausdrückt.2 Das zweite besteht darin, dass die Schildkröte ihre Akzeptanz von (C) davon abhängig macht, ob (C) als eine weitere Prämisse des Arguments fungiert. Das Rätselhafte hierbei ist: Wie ist es möglich, dass sie, gegeben diese Fakten, (Z) nicht akzeptiert? Es ist nicht leicht zu sagen, was die Bedeutung der Erzählung sein könnte. Es gibt mindestens vier Lehren, unabhängig davon, ob Carroll seine Geschichte selbst so verstanden wissen wollte. So beispielsweise in einer neueren Sammlung von Paradoxa, Clark (2002). Es ist jedoch nicht klar, ob dieses Rätsel ein echtes Paradox in dem üblichen Sinn darstellt, in dem eine Menge von akzeptablen Prämissen über anscheinend akzeptable Schlussregeln zu einer inakzeptablen Konklusion führen, da in unserem Fall überhaupt nichts aus den Prämissen gefolgert wird. 2 Siehe Simchen (2001). Die Schildkröte stimmt Achilles zu, dass (Z) »logisch aus (A) und (B) folgt«, und dass »die Sequenz [die von (C) ausgedrückt wird] gültig« ist. 1

Wie man einer Schildkröte widersteht

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1) Die Lehre, die am üblichsten ist, konzentriert sich auf das zweite Merkmal der Erzählung: Die Tatsache, dass die Schildkröte den Konditionalsatz (C) als eine stützende Prämisse braucht, zeigt, dass sie nicht imstande ist, zwischen den Sätzen (A) und (B) auf der einen und der logischen Wahrheit (C) auf der anderen Seite zu unterscheiden, und allgemeiner, dass sie nicht unterscheidet zwischen einer Prämisse und einer Schlussregel.3 Dies ist auch Carrolls eigene Diagnose, wie sie aus einer Erklärung seines Artikels dem Herausgeber von Mind gegenüber hervorgeht: »Mein Paradox beruht auf der Tatsache, dass in einem Konditionalsatz [hypothetical] die Wahrheit der Protasis, die Wahrheit der Apodosis und die Gültigkeit der Sequenz drei verschiedene Aussagen sind.«4 Anders formuliert können wir eine Schlussregel wie den Modus ponens (MP) weder als einen Konditionalsatz, noch als eine Prämisse behandeln. Sobald wir diese Unterscheidung beherzigen, kann Carrolls Regress nicht in Gang kommen. 2) Die zweite Lehre betrifft die Epistemologie des Verstehens. Sie kann folgendermaßen formuliert werden: »Understanding and accepting premises of the form P, and if P then Q, but not accepting the corresponding proposition Q describe nothing at all« (Black 1970: 21).5 Die fragliche Person versteht entweder die Bedeutung dieser Sätze oder die der Wörter, die diese Sätze enthalten, (insbesondere das logische Wort wenn) nicht, oder ihre Akzeptanz der Prämissen ist nicht aufrichtig oder nur vorgetäuscht. Derselbe Punkt kann auch in Bezug auf den Begriff des Wissens ausgedrückt werden: »A man knows that if P, then Q if, when he knows that P, he is able to see that, consequently, Q: If a man knows that P, but cannot see that Q, this is just what shows him not to know that if P, then Q« (Brown 1954: 175). Die Schildkröte scheint so jemand zu sein. Daher weiß sie nicht, was »wenn P, dann Q« bedeutet, oder sie versteht es nicht. Eine bestimmtere Art und Weise, um zu einer ähnlichen Diagnose zu kommen, besteht darin zu sagen, die missliche Lage der Schildkröte veranschauliche, dass die Art von Wissen, um die es in diesem Fall geht, nicht von einem Satz wie (C) ausgedrückt werden könne. Unser Wissen von der Regel ist kein Wissen-dass, oder propositionales Wissen, sondern eine Art von Wissen-wie, oder praktischem Wissen. Das war tatsächlich Ryles Reaktion auf das Paradox, die eng mit seinem oben erwähnten Artikel von 1950 in Verbindung steht.6 Die Geschichte könnte ebenso als eine Version von Wittgensteins »Skeptizismus« in Bezug auf Regeln gelesen werden, so wie sie von Kripke (1981) interpretiert wird. Nach dieser Interpretation legt die Weigerung der Schildkröte, die Konklusion zu akzeptieren, nahe, dass es keinen guten Grund dafür gibt, die Sequenz (A)–(B)–(Z) als einen gewöhnlichen Fall des Modus ponens zu interpretieren und nicht als einen Fall, der

Derartig gelagerte Reaktionen auf Carrolls Paradox sind etwa Peirce (1902) (Collected Papers 2.27), Russell (1903: 35), Fußnote, Ryle (1945–46), Brown (1954), Geach (1965), Thomason (1960), Smiley (1995). 4 Dodgson (1977: 472). Zitiert in Smiley (1995). [Übersetzung DH] 5 Zitiert in Stroud (1969): das ist im Wesentlichen Strouds Lesart des Paradoxes. 6 Ryle (1945–46, 1949). 3

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Kolloquium 21 · Pascal Engel

unter die abweichende Regel des Schmodus ponens (z. B. »schließe aus P und ›wenn P, dann Q‹ auf Q, es sei denn, P und Q sind Sätze aus der Geometrie, in welchem Fall Q nicht zu akzeptieren ist«) fällt. Zugegebenermaßen ist diese Interpretation, wenn man bedenkt, dass weder Carroll noch die Schildkröte von Kripke gehört hatten, weit hergeholt, aber es bestehen klare Ähnlichkeiten mit Wittgensteins Problem. Wittgenstein weist darauf hin, dass einer Regel folgen keine Deutung ist. Die Bedeutung einer Regel kann nicht festgelegt werden, indem man fortlaufende, möglicherweise unbestimmte Deutungen der Regel in der Form von Konditionalsätzen anführt. 3) Die dritte Lesart betrifft die Rechtfertigung logischer Gesetze. Obwohl es klar ist, dass dies über Carrolls Geschichte hinaus geht, könnten wir sie als ein Argument zur Rechtfertigung logischer Regeln lesen: Nehmen wir an, logische Regeln können durch die Tatsache gerechtfertigt werden, dass wir allgemeine Konventionen akzeptiert haben. Nehmen wir insbesondere an, solche Konventionen haben folgende Form: Für jedes x, y und z gilt: Wenn x und y in der MP-Relation zu z stehen, dann implizieren x und y z. Nehmen wir nun an, dass die bestimmten Sätze ›P‹ und ›Wenn P, dann Q‹ in der MP-Relation zu ›Q‹ stehen. Implizieren ›P‹ und ›Wenn P, dann Q‹ ›Q‹? Wenn wir folgendermaßen schließen: (a) ›P‹ und ›Wenn P, dann Q‹ stehen in der MP-Relation zu ›Q‹. (b) Wenn ›P‹ und ›Wenn P, dann Q‹ in der MP-Relation zu ›Q‹ stehen, dann implizieren ›P‹ und ›Wenn P, dann Q‹ ›Q‹. (c) Also implizieren ›P‹und ›Wenn P, dann Q‹ ›Q‹. Aber die Frage, ob (c) aus (a) und (b) geschlossen werden kann, erweist sich als eben die Frage, ob es wahr ist, dass für jedes x, y und z gilt: Wenn x und y in der MP-Relation zu z stehen, dann implizieren x und y z. Anders ausgedrückt, wenn wir die Natur logischer Wahrheiten oder Regeln mit Hilfe von Konventionen erklären wollen, dann müssen wir diese logischen Wahrheiten und Regeln voraussetzen, um sie aus den Konventionen abzuleiten, und unsere Ableitung ist somit zirkulär. Das ist tatsächlich Quines berühmtes Argument gegen Carnaps Konventionalismus in Bezug auf die Logik in »Truth by Convention«. Quine zieht sein Argument unter explizitem Bezug auf Lewis Carrolls Regress auf.7 Eine stärkere Variante dieser Lesart wäre, dass die Schildkröte nicht so sehr einen bestimmten Ansatz zur Rechtfertigung logischer Regeln zurückweist, als vielmehr ihrer Skepsis gegenüber jeglicher Art von deren Rechtfertigung Ausdruck verleiht. Wie bereits vermerkt, bestreitet sie weder die Gültigkeit der »Sequenz« (C), noch die Gültigkeit des Schlusses von (A) und (B) auf (Z). Ihre Weigerung, die Konklusion (C) zu akzeptieren, könnte jedoch Ausdruck ihrer Skepsis gegenüber logischen Wahrheiten oder logischen Regeln im allgemeinen sein. Mit anderen Worten: Die Schildkröte wäre dann ein radikaler Skeptiker gegenüber der Deduktion, so wie Hume ein Skeptiker in Bezug auf Induktion ist.

7

Quine (1936), in (1976: 104, Fußnote 21). Die Darstellung oben ist von Harman (1996: 395).

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4) Im Gegensatz zu den anderen Lesarten steht bei der vierten Lesart nicht das zweite Merkmal der Geschichte – das Hinzufügen einer weiteren Prämisse – im Vordergrund, sondern das erste: die Schildkröte akzeptiert (C). Warum akzeptiert sie unter diesen Umständen nicht (Z)? Wieder stimmt sie vollkommen der Auffassung zu, dass (C) eine logische Wahrheit ist. Also sieht das Problem so aus: Wie ist es möglich, dass jemand, der eine logische Wahrheit oder eine logische Regel akzeptiert, nicht dementsprechend schließt? Eine Antwort könnte sein, dass sie in Wirklichkeit die logische Wahrheit (C) gar nicht akzeptiert, weil sie die Bedeutung von (C) nicht richtig versteht. Damit wären wir wieder bei der Lesart 2). Eine andere Antwort wäre, dass die Schildkröte (C) akzeptiert, dessen Bedeutung vollkommen erfasst, aber dennoch den angemessenen Schluss nicht ziehen kann oder sich möglicherweise weigert, ihn zu ziehen. Es wäre demnach ihre Absicht, eine andere Form der Skepsis zu vermitteln, welche die normative Kraft logischer Gesetze oder Regeln zum Gegenstand hätte. Nach dieser Lesart ist sich die Schildkröte im Klaren darüber, dass (C) eine logische Wahrheit oder eine gültige Schlussregel ist. Aber sie zieht den Schluss nicht, weil sie die Regel oder das Gesetz nicht als verbindlich und dazu in der Lage ansieht, sie zu dem entsprechenden Schluss zu bewegen. Entweder ist sie eine Art Akratiker im Bereich des logischen Schließens, die erkennt, was sie folgern sollte, aber sich nicht danach richtet, oder sie bezweifelt explizit die normative Kraft des logischen Müssens. Die Schildkröte erkennt an, dass (Z) »logisch« aus (A) und (B) folgt. Sie erkennt an, dass »jeder, der (A) und (B) akzeptiert, (Z) als wahr akzeptieren muss«, und dass »das kleinste Kind in einem Gymnasium […] das zugeben [wird]«. Trotz allem weigert sie sich immer noch, (Z) zu akzeptieren und fordert Achilles heraus »sie mit Mitteln der Logik dazu [zu] zwingen, (Z) als wahr zu akzeptieren«. Das ist der Grund dafür, warum ihrer Anerkennung der Authorität der Logik ein ironischer Zug anhaftet: »Was immer die Logik mir freundlicherweise sagt, verdient es, aufgeschrieben zu werden«.8 Sie schreibt es zwar auf, handelt aber nicht danach. Hume wird häufig als Skeptiker in Fragen des praktischen Schließens dargestellt: Die Vernunft oder Überzeugungen als solche können uns nicht zum Handeln veranlassen, dies können lediglich die Leidenschaften oder Wünsche.9 Parallel dazu wäre die Schildkröte dann skeptisch, was das Vermögen logischer Gründe angeht, uns dazu zu zwingen, von irgendeiner Konklusion überzeugt zu sein. Sie wäre ein Skeptiker in Bezug auf die Kraft logischer Gründe. Die Frage lautet: »Wie kann die Logik den Verstand zu etwas veranlassen?«10

8 9 10

Lewis Carroll (1895: 49). Vgl. Korsgaard (1986). Blackburn (1995), Engel (1998).

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2. Man muss in Carrolls Geschichte dreierlei unterscheiden:11 (1) Implizieren die zwei Prämissen (A) und (B) die Konklusion (Z)? (2) Angenommen man hat gute Gründe zu glauben, dass (A) und (B) wahr sind, ist es vernünftig zu glauben, dass (Z) wahr ist? (3) Angenommen es ist vernünftig, auf der Basis von (A) und (B) zu glauben, dass (Z), was soll unseren Verstand dazu bewegen zu glauben, dass (Z)? (1) steht, wie wir gesehen haben, außer Frage. Ebenso wie (2), wenn wir über eine geeignete Rechtfertigung unserer Schlussregeln verfügen. Der springende Punkt bei der Skepsis bezüglich der Kraft logischer Gründe ist, dass weder eine positive Antwort auf (1), noch auf (2) eine positive Antwort auf (3) liefern kann. Ein Skeptiker dieser Art wird ungerührt bleiben, egal wie sehr er bereit ist die Gültigkeit des Schlusses anzuerkennen und selbst wenn er bestens über eine vollständige Rechtfertigung deduktiven Schließens im allgemeinen verfügt. Wie ich bereits weiter oben angedeutet habe, ist es zum Verständnis der Herausforderung interessant, diese mit einer parallel gelagerten Herausforderung aus dem Bereich des praktischen Schließens zu vergleichen. Insbesondere Simon Blackburn (1995) zeigt in seinem Essay anlässlich der Hundertjahrfeier von Carrolls Text in Mind, dass ein ähnliches Problem, wie es Carroll aufwirft, auch im Fall des praktischen Schließens entsteht: (P) Ich mag Salat lieber als Suwlaki. (B') Der Moment der Entscheidung steht an. (Z') Ich entscheide mich dafür, Salat statt Suwlaki zu essen. Egal wie viele Prämissen der Form (P*) Es ist richtig (gut, wünschenswert, rational etc.), Salat Suwlaki vorzuziehen. auch angeführt werden, die Schildkröte handelt nicht danach. Blackburn argumentiert für eine »Humesche Konklusion« für das Problem der Skepsis bezüglich praktischen Schließens: »There is always something else, something that is not under the control of fact and reason, which has to be given as a brute extra, if deliberation is ever to end by determining the will« (1995: 695). Selbstverständlich gibt es gewichtige Unterschiede zwischen praktischem Schließen auf der einen und theoretischem und logischem Schließen auf der anderen Seite: Gemäß der Standardauffassung führt ersteres von Überzeugungen und Wünschen zu Intentionen oder Handlungen, während letztere von Überzeugungen zu Überzeugungen führen; Wünsche haben nicht dieselbe »Ausrichtung« wie Überzeugungen, und diese unterliegen im allgemeinen nicht, so wie Handlungen, der Willenskraft. Aber die Form der skeptischen Herausforderung bezüglich der Kraft logischer Gründe ähnelt sehr stark jener im Bereich des praktischen Schließens. Denn nehmen wir einmal an, dass die Schildkröte nicht nur (C), sondern auch das scheinbar stärkere( C*) akzeptiert hätte: 11

Vgl. Schueler (1995).

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(C*) Es ist eine Norm für korrektes deduktives Schließen, dass, wenn man Schlüsse des Typs MP als gültig akzeptiert, man angesichts eines konkreten Falles von MP auch die Konklusion akzeptieren sollte. Nehmen wir darüber hinaus an, dass die Schildkröte (I) anerkannt hätte, (I) Die Sätze (A), (B) und (Z) stehen in der MP-Relation zueinander. würde sie somit nicht zwangsläufig (Z) akzeptieren müssen? Nein. (I) kommt hier dieselbe Rolle zu wie dem Untersatz des praktischen Schlusses (P) – (Z') weiter oben. Aber obwohl die Schildkröte dessen Wahrheit erkennt und (C*) akzeptiert, wird sie nicht dazu bewegt (Z) zu akzeptieren. Dies würde sich nicht ändern, selbst wenn wir (C*) folgendermaßen verstärken würden: (C**) Es gibt absolute rationale Rechtfertigungen für die Norm korrekten deduktiven Schließens, dass, wenn man Schlüsse des Typs MP als gültig akzeptiert, man angesichts eines konkreten Falles von MP auch die Konklusion akzeptieren sollte. Und so weiter. Egal ob wir nun sagen, dass unsere Normen für Schlussfolgerungen gerechtfertigt sind, weil sie metaphysisch notwendig sind, oder weil sie dem entsprechen, wovon ideale Akteure unter idealen Umständen überzeugt wären, sie wären nicht in der Lage uns dazu zu zwingen, ihnen gemäß zu schließen. Es ist wichtig, diese Skepsis (Typ (4)), die durch die Weigerung der Schildkröte, die offensichtliche Konklusion zu akzeptieren, hervorgerufen wurde, von der Skepsis in Bezug auf Rechtfertigung (Typ (3)) zu unterscheiden. Der Skeptiker bezüglich der Kraft logischer Gründe räumt ein, dass wir gute Gründe haben und gerechtfertigt sind gemäß einer bestimmten Schlussregel zu schließen. Im Anschluss an die in der Literatur über praktisches Schließen geläufigen Terminologie nenne ich diese Gründe normative Gründe.12 Zu behaupten, dass diese Gründe normativ sind, bedeutet nun, zu behaupten, dass sie zumindest prima facie so geartet sind, dass ein Subjekt, das sie als Gründe anerkennt, bereit wäre, ihnen gemäß zu handeln oder, im gerade betrachteten Fall, zu schließen. Ein Subjekt kann jedoch gute Gründe haben, eine Handlung zu vollziehen oder eine bestimmte Überzeugung zu haben, und dennoch nicht danach handeln, sondern nach anderen Gründen, die womöglich keine guten Gründe sind. Derartige Gründe erklären unsere Handlung und motivieren sie, aber sie stimmen nicht notwendigerweise mit unseren normativen Gründen überein. Sie können motivierende Gründe genannt werden. Selbstverständlich impliziert die Unterscheidung von normativen und motivierenden Gründen nicht, dass diese nicht auch identisch sein können. Im normalen Fall, wenn sozusagen alles gut geht, sind die Gründe für eine bestimmte Handlung oder Überzeugung eben die Gründe, warum man so gehandelt oder so eine Überzeugung gehabt hat. Aber die zwei Arten von Gründe können auseinanderfallen. Fälle von

Vgl. z. B. Dancy (2000). Für eine detailliertere Parallele zwischen praktischem und theoretischem Fall siehe Engel (2005). 12

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Akrasie sind wohlbekannte Beispiele dafür, dass normative Gründe nicht handlungsmotivierend sein müssen, es gibt jedoch einfachere Beispiele für die Unterscheidung. Um ein altbekanntes Beispiel anzuführen: Ich habe Gründe, das mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllte Glas vor mir nicht auszutrinken, weil es, ohne dass ich das weiß, Benzin enthält, obwohl ich einen Grund habe, es auszutrinken, wenn ich glaube, dass es Wasser enthält. In dem uns betreffenden Fall, in dem jemand Gründe hat, eine bestimmte Konklusion aus bestimmten Prämissen zu ziehen, verhält es sich ähnlich. Jemand, der sowohl glaubt, dass P, als auch, dass wenn P, dann Q, hat einen normativen Grund, zu glauben, dass Q – da die letztere Überzeugung logisch aus den beiden anderen Überzeugungen folgt –, aber es könnte immer noch sein, dass er nicht glaubt, dass Q. Denn er könnte, aufgrund anderer Gründe, einfach davon überzeugt sein, dass nicht-Q (beispielsweise könnte er seiner Mutter geschworen haben, niemals Q zu glauben). Er könnte aber auch, wie erwartet, glauben, dass Q, jedoch aus anderen Gründen, die nichts mit P zu tun haben (Q ist sein Lieblingssatz: Jedes Mal, wenn er auf ihn stößt, behauptet er ihn). Die Modus-Ponens-Regel ist ein Satz der Logik. Als solche ist sie es wert, aufgeschrieben zu werden. Aber sie verrät einem nicht automatisch etwas über die Überzeugungen, die man hat. Sie sagt einem, dass wenn P, und ,wenn P, dann Q‘ Q implizieren, aber sie sagt einem nicht, dass, wenn man sowohl glaubt, dass P, als auch, dass wenn P, dann Q, man dann auch glaubt, dass Q.13 Ähnlich ist es, wenn wir ein Buch über Logik aufschlagen; wir sehen dann bloß ein paar niedergeschriebene Sätze. Die Tatsache, dass sie sich in dem Buch befinden, bewegt uns nicht automatisch dazu, dass wir logisch schließen. Nichtsdestotrotz könnte es der Fall sein, dass wir die MP-Regel als normative Anforderung ans Schlussfolgern und Glauben formulieren wollen. Dann würden wir sie als normativen Grund für das Haben von Überzeugungen formulieren und dafür den deontischen Ausdruck »soll« verwenden: (O1) Du sollst (glauben, dass Q, wenn du glaubst, dass P, und dass wenn P, dann Q) (O1) stellt lediglich eine Umformulierung von (C*) dar. Aber das »soll« in diesem Satz hat weiten Skopus: Es bezieht sich auf einen Konditionalsatz. Aus (O1) kann man weder auf (O2) schließen, noch kann man (O2) davon aber trennen, (O2) Du sollst glauben, dass Q.14 Und zwar aus dem eben genannten Grund. Unsere normative Überzeugung (O1) sagt uns nicht, welche bestimmte Überzeugung wir in Bezug auf Q ausbilden sollen, sie sagt uns nur, dass wir (O1) als einen normativen Grund anerkennen. Gemäß der gerade diskutierten Lesart des Paradoxes ist es die Absicht der Schildkröte, uns an diesen einfachen, aber sehr wichtigen Punkt zu erinnern. Wenn wir diese Lehre aus Carrolls Geschichte ernst nehmen, dann ist die wichtige Frage: Was ist die Beziehung zwischen normativen und motivierenden Gründen, wenn 13 14

Harman (1986) führt dieses Argument an. Broome (2000, 2002) betont diesen Punkt.

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es um bestimmte Überzeugungen geht? Normalerweise sollte man erwarten, dass normative Gründe einen irgendwie dazu bewegen können, bestimmte Überzeugungen anzunehmen und bestimmte Schlüsse zu ziehen, das heißt, dass sie in bestimmte Arten psychologischer Zustände eingehen können. Es ist deshalb naheliegend, sich diese Beziehung als eine Kausalbeziehung vorzustellen. Wie jedoch können normative Gründe, von denen angenommen wird, dass sie objektiv und unabhängig von den bestimmten mentalen Zuständen eines Akteurs sind, in der Lage sein, unseren Verstand auf eine bestimmte Weise zu bewegen?15

3. Wenn wir Carrolls Geschichte so lesen, wie soll eine Antwort darauf dann aussehen? Die Antworten liegen zwischen zwei Extremen. Eine extreme Sichtweise ist, eine Form des Platonismus in Bezug auf logische Gründe anzunehmen. Das war Freges Ansicht: Wenn wir erst einmal einsehen, dass ein bestimmter Satz eine logische Wahrheit ist, ein »Gesetz des Wahrseins«, dann haben wir keine andere Wahl als dementsprechend zu schließen. Logische Gesetze als solche sind normativ, sowohl in dem Sinn, dass sie absolut richtig sind, als auch in dem Sinn, dass sie uns dazu motivieren ihnen gemäß zu schließen. Als ewige Gesetze der Wahrheit verraten uns die logischen Gesetze nichts über unsere Psychologie oder über mentale Repräsentationen. Aber wir stehen dennoch in einer bestimmten Beziehung zu ihnen, die Frege, wie die meisten Platoniker, als eine Art intuitiven Fassens charakterisiert.16 Somit ist es das direkte, intuitive Fassen der Gültigkeit von Modus ponens, das hinreichend ist, um unseren Verstand dazu zu bewegen, dementsprechend zu schließen. Auf dem Gebiet der praktischen Vernunft haben diese Ansicht Autoren wiederaufleben lassen, die normative Gründe als bestimmte objektive Tatsachen charakterisieren, deren intuitives Erkennen einen Akteur direkt dazu veranlassen soll, die angemessene Handlung zu vollziehen. Diese Ansicht kann auf logische Gründe übertragen werden.17 Das offensichtliche Problem an dieser Ansicht ist gerade jenes, an das die Schildkröte nach unserer gerade diskutierten Lesart der Geschichte Achilles erinnern soll (der, was das betrifft, ein strammer Platonist zu sein scheint): Ein Fregescher Gedanke oder eine Platonische Tatsache haben keinerlei kausale Wirkung auf unseren Verstand, und das intuitive Fas-

Simchen (2001) formuliert diese Art der Skepsis gut, aber seine Analyse des Paradoxes konzentriert sich auf die Frage, ob eine Regel handlungsleitend sein kann, besonders, wenn sie angeführt wird. Ich kann hier auf diese spezielle Lesart des Paradoxes nicht näher eingehen. 16 Im Vorwort zu Grundgesetze der Arithmetik argumentiert Frege, dass man zwei Sinne von »Gesetz« unterscheiden sollte, wenn man über die Gesetze des Denkens spricht: den normativen und den kausalen Sinn. Der Psychologismus vermischt diese zwei Sinne. Für Frege sind die Gesetze des Denkens insoweit normativ, als sie ein Drittes Reich beschreiben. Vgl. Dummett, »Frege’s myth of the Third Realm«, in Dummett (1991a). 17 Vgl. Engel (2005). Die platonistische Position in Bezug auf den praktischen Fall wird von Dancy (2000) verteidigt. 15

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sen Platonischer Tatsachen scheint sogar noch geheimnisvoller zu sein als die Idee eines kausalen Kontakts von Gesetzen des Wahrseins mit unserem Verstand. Die andere extreme Auffassung liegt am entgegengesetzten Ende des Spektrums. Sie besagt, dass allein ein psychologischer Zustand die kausale Rolle übernehmen kann, den Verstand zu bewegen. Dies stellt ein Äquivalent zur Humeschen Lösung dar, die Blackburn für den praktischen Fall vorschlägt. Nach einer solchen Sichtweise kann die Existenz objektiver Gründe niemals »den Verstand zu etwas bewegen«. Wenn es darum geht, auf den Vorgang des Abwägens eine Handlung folgen zu lassen, oder den Vorgang des Schließens mit der Bekräftigung einer Konklusion abzuschließen, dann wird der Verstand immer von einem »rohen Extra« motiviert. Im Fall einer Handlung muss dies für einen Humeaner ein Wunsch oder eine Leidenschaft sein, die die einzigen psychologischen Zustände sind, die handlungsmotivierend sein können. Im Fall des Schlussfolgerns von Überzeugungen zu Überzeugungen muss dies ebenfalls ein psychologischer Zustand sein. Es kann jedoch keine Überzeugung sein, denn zumindest im Einklang mit der offiziellen Humeschen Lehre veranlassen uns Überzeugungen an sich nicht zum Handeln. Sie können keine motivierenden Gründe sein. Daher muss das »rohe Extra« etwas anderes sein. Der plausibelste Vorschlag wäre, dass es sich bei diesem Extra um eine Gewohnheit handelte. Wir könnten diese Ansicht auf die Weise verstehen, wie Hume eine »skeptische Antwort« auf seine »skeptischen Zweifel« am Begriff der Induktion gibt, nämlich indem er die Macht der Gewohnheit und des Brauchs hervorhebt; oder auf eine Wittgensteinische Art, indem wir sagen, dass an einem bestimmten Punkt keine Gründe mehr gegeben werden können, und dass das Ziehen einer Konklusion aus Prämissen anhand von Schlussregeln »einfach etwas ist, das wir tun«. Es ist ein rohes Faktum unserer Praxis, dass wir auf diese Weise schließen.18 Das Problem hierbei ist, dass diese Auffassung uns zwar eine plausible Antwort auf die kausale Frage nach der normativen Kraft von Gründen zu geben scheint, das aber auf Kosten der rechtfertigenden Natur von Gründen tut. Nach dieser Auffassung verlieren wir die Frage aus den Augen, warum logische Gründe gute Gründe sind und wie sie objektiv sein können. Dummett etwa erinnert uns daran, dass die Auskunft, dass wir die Praxis oder die Gewohnheit haben, auf eine bestimmte Weise zu schließen, und dass Schlussfiguren wie der Modus ponens Teil dieser Praxis sind, uns nicht bei der Beantwortung der Frage hilft, ob wir an dieser Praxis festhalten sollen – wenn wir denn der Theorie glauben schenken, wonach die Kraft von Gründen ausschließlich in der Existenz dieser Praxis besteht.19 Die Art von Antwort, die Wittgenstein gibt, besteht

Auf gewisse Weise würde dies im Einklang stehen mit, wie Kripke (1981) es nennt, Wittgensteins »skeptischer Antwort« auf sein »skeptisches Paradox« der Regeln. Dummett spielt auf dieses »rohe Faktum« in seiner Erläuterung von Wittgensteins Position an: »We do, by and large, agree on what the consequences are, what follows from what, what is a valid proof and what is not […]. On Wittgenstein’s view, it is a brute fact: nothing explains it« (»Wittgenstein on necessity: Some reflections«, in Dummett 1996: 449). Zu Wittgensteins Positionen zur Logik siehe auch Lear (1982: 387) (welcher sich für eine Interpretation stark macht, die sich von der Dummetts ziemlich unterscheidet), sowie Railton (1999). 19 Dummett »Wittgenstein on necessity: some reflections«, in Dummett (1996: 446). 18

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einfach darin, dass er die Normativität logischer Gründe in Frage stellt. Er ist berühmt dafür, dass er sagte: »F. P. Ramsey hat einmal im Gespräch mit mir betont, die Logik sei eine ›normative Wissenschaft‹. Genau welche Idee ihm dabei vorschwebte, weiß ich nicht; sie war aber zweifellos eng verwandt mit der, die mir erst später aufgegangen ist: daß wir nämlich in der Philosophie den Gebrauch der Wörter oft mit Spielen, Kalkülen nach festen Regeln, vergleichen, aber nicht sagen können, wer die Sprache gebraucht, müsse ein solches Spiel spielen.« (Philosophische Untersuchungen, § 81) Dies stellt uns jedoch vor ein Rätsel: Woher kommt es, dass wir die Gründe für unsere Überzeugungen und insbesondere die Gründe, die wir für unsere Schlussfolgerungen haben, als zufriedenstellend und sogar zwingend erachten? Wir sollten uns nicht zufrieden geben, über irgendeine Eigenheit unserer sprachlichen Praxis zu sagen, »Das ist einfach das, was wir tun«.20 Dieser Standpunkt beraubt logische Gründe nicht nur jeglicher Normativität, er verrät uns auch nicht, was diese leisten. Es gibt aber auch Antworten, die sich zwischen diesen beiden Extremen befinden. Sofern wir uns darauf einigen, dass es irgendeinen psychologischen Zustand geben muss, der den Verstand dazu veranlasst, auf eine Konklusion zu schließen, wäre die naheliegendste Antwort, dass dieser fragliche Zustand eine Überzeugung in Bezug auf die Gültigkeit der Regel ist. Das aber ist ganz genau die Position, auf die Carrolls Paradox abzielt. Ich möchte diese Position reflektiven Internalismus nennen.21 Dieser besagt, dass das Subjekt dadurch Schlüsse zieht, dass es Überzeugungen mit dem Inhalt hat, dass eine bestimmte Regel gültig ist und dass es einen konkreten Anwendungsfall dieser Regel vor sich hat. Es schließt dann folgendermaßen: (i) Jeder Schluss der Form MP ist gültig. (ii) Dieser konkrete Schluss (von (A) und (B) auf (Z)) hat die Form MP. (iii) Also ist dieser konkrete Schluss (von (A) und (B) auf (Z)) gültig. Solche Überzeugungen wären nicht nur reflektiv in dem Sinn, dass sie Überzeugungen über Überzeugungen sind, sondern sie wären auch inferentiell, da (i) – (iii) ein Schluss ist. Die Pointe an Carrolls Geschichte ist aber, dass gerade diese Art von reflektiver Überzeugung uns den wohlbekannten Regress einhandelt. Dies bedeutet nicht, dass, wenn wir von P auf Q schließen, wir solche Überzeugungen wie wenn P wahr wäre, dann wäre Q wahr oder P impliziert Q nicht haben könnten, sondern nur “that even if the person is said to believe or accept some statement R linking things he already believes with his conclusion, we still must attribute to him something else Dummett (1973: 309). Diese eben beschriebene Position ist derjenigen recht ähnlich, die Boghossian (2003) »einfachen inferentiellen Internalismus« nennt (vgl. auch dessen Artikel von 2002, in dem er eine etwas andere Formulierung wählt). Hier verwende ich nur teilweise Boghossians Formulierung, da es ihm in seinem Aufsatz um die Frage der Rechtfertigung von Schlussregeln geht und nicht um die Frage nach deren normativer Kraft. 20 21

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in addition if we are to represent his belief in that conclusion as based on those other beliefs. That additional factor cannot be identified as simply some further proposition he accepts or acknowledges. There must always exist some ›non-propositional‹ factor if any of his beliefs are based on others.” (Stroud 1979: 188 f.) Die Diagnose von Stroud kommt hier Blackburns Humescher Position recht nahe. Er bestreitet weder, dass manche Überzeugungen auf anderen basieren, noch, dass es eine Überzeugung reflektiver Art gibt, die als »Bindeglied« fungiert,22 bestreitet aber, dass die betreffende Überzeugung zum Inhalt des Grundes gehört. Reflektiver Internalismus ist das psychologische Gegenstück zu Carrolls Geschichte. Reflektive Überzeugungen über die Gültigkeit unserer Schlussregeln können ebenso wenig unseren Verstand bewegen wie die Tatsache, dass in der Geschichte neben den Anfangsprämissen weitere hinzugefügt werden. Wie Boghossian in einer Diskussion dieses Punktes sagt: “At some point it must be possible to use a rule in reasoning in order to arrive at a justified conclusion, without this use needing to be supported by some knowledge about the rule one is relying on. It must be possible simply to move between the thoughts in a way that generates justified belief, without this movement being grounded in the thinker’s justified belief about the rule of the reasoning.” (Boghossian 2002: 37) Der reflektive Internalismus behauptet, dass unsere Überzeugung, die Regel sei gültig, das Ergebnis eines Schlusses ist, (i)–(iii). Aber vielleicht könnten wir trotzdem die Idee akzeptieren, dass wir in gewissem Sinn Zugang zu dem Gedanken, dass der Schluss gültig ist, haben müssen, ohne dass dieser Zugang inferentiell oder auch nur reflektiv ist. Wir könnten sagen, dass dies ein direkter Zugang ist, der es uns ermöglicht, mittels einer Einsicht oder Intuition von den Prämissen zur Konklusion über zu gehen und nicht durch einen Akt der Reflexion und einen Schluss. Laurence BonJour beispielsweise beschreibt dies folgendermaßen (anhand des disjunktiven Syllogismus, aber dieser ist natürlich in der Form nicht-P oder Q, nicht nicht-P, also Q äquivalent zu MP): “I am invited to assess the cogency of inferring the conclusion that David ate the last piece of cake from the premises, first, that either David ate the last piece of cake or else Jennifer ate it and, second, that Jennifer did not eat it. […]The obvious construal of this case from an intuitive standpoint is that if I understand the three propositions involved, I will be able to see or grasp or apprehend directly and immediately that the indicated conclusion follows from the indicated premises, that is that there is no way for the premises to be true without the conclusion being true as well. It is obvious, of course, that I might appeal in this case to a formal rule of inference, namely the rule of disjunctive syllogism. But there is no good reason to think that any such appeal is required in order for my acceptance of the inference as valid to be epistemically justified. Nor […]is there any reason to think that such a rule would not itself

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Der Begriff einer Überzeugung als »Bindeglied« findet sich auch bei Broome (2002).

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have to be justified either by appeal to the same sort of apparent a priori insight at a more abstract level or else to other rules or propositions for which an analogous sort of justification would be required.” (BonJour 1998: 105 f.) BonJour betont an dieser Stelle, dass rationale Einsicht »von keinem weiteren ratiozinativen Prozess« und auch von keinem reflektiven Erfassen der Regel abhängt. Ich nenne diese Position nicht-reflektiven Internalismus. Freilich wäre in unseren post-Wittgensteinischen Zeiten eine naheliegende Reaktion auf diesen Vorschlag, Wittgensteins Bedenken bezüglich der Intuition zu rehabilitieren: Wenn sie mich in die eine Richtung führen kann, dann kann sie mich auch in eine andere Richtung führen, und sie stellt mir keine Möglichkeit bereit zu unterscheiden, was bloß richtig zu sein scheint und was tatsächlich richtig ist. Der Verfechter der Idee der rationalen Einsicht hat jedoch einen Punkt, wenn er meint, dass der mentale Zustand, der beim Erkennen eines bestimmten Musters als Instanz eines gültigen Arguments im Spiel ist, weder reflektiver noch inferentieller Art ist: Falls er es nicht ist, dann scheint kein Regress der Carrollschen Art zu entstehen.23 Wir können diesen Punkt zugestehen, ohne damit diese Art der Beschreibung des Geschehens bei einfachen Schlussfolgerungen weniger problematisch zu finden als die Berufung der Platonisten auf ein Vermögen der Intuition.24 Keiner dieser Lösungsansätze – Platonismus, Humeanismus, reflektiver Internalismus, nicht-reflektiver Internalismus – ist zufriedenstellend. Es ergeben sich jedoch folgende Gesichtspunkte. Erstens sind an Schlussfolgerungen der deduktiven Art, bei denen von Prämissen ausgehend auf die Konklusion geschlossen wird, keinerlei Überzeugungen über die normativen Regeln, denen man dabei folgt, beteiligt. Wenn wir schließen, dann bewegen wir uns nicht von einer Überzeugung zur nächsten aufgrund irgendeines Satzes über die Verbindung zwischen unseren Überzeugungen, sondern wir bewegen uns direkt vom Inhalt bestimmter Überzeugungen zu anderen Inhalten. In diesem Sinn ist unser Schließen (zumindest bei einfachen Arten von Schlussfolgerung) nicht-reflektiv und »blind«.25 Zweitens aber ist unser Schließen trotz allem nicht blind in dem Sinn, dass es lediglich ein kausaler Prozess wäre, der uns von bestimmten Über-

In seinem Kommentar zu Boghossian (2002) schlägt Crispin Wright etwas Derartiges vor (Wright 2002: 83). Er nennt es »einfachen Internalismus«. Wright (2002: 78 f.) behauptet auch, dass der Regress, wie ihn Boghossian darstellt, womöglich nicht vitiös, sondern ungefährlich ist. Ich kann an dieser Stelle diesen Punkt nicht weiter behandeln, der mehr mit dem Rechtfertigungsproblem zu tun hat, das hier nicht mein direktes Anliegen ist. Eine ähnliche Sichtweise wird von Bill Brewer vertreten: »There is more to grasping the laws of logic or mathematical argument than simply being disposed to have one’s beliefs mirror the moves they prescribe. Epistemologically productive reasoning is not a merely mechanical manipulation of belief, but a compulsion in thought by reason, and as such involves conscious understanding of why one is right in one’s conclusion.« (Brewer 1995: 242) Brewer spricht von »causation in virtue of rationalisation«. Aber in meinen Augen gibt er damit dem Problem bloß einen Namen, ohne es zu lösen. 24 Boghossian (2003: 235 f.). 25 Boghossian (2003), eine Weiterführung von Wittgensteins berühmter Bemerkung: »Ich folge der Regel blind«. 23

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zeugungen zu anderen führen würde. Es muss irgendwie die Ausübung einer rationalen Fähigkeit sein, kein rohes kausales Faktum.

4. Lewis Carrolls Paradox, so wie es hier dargestellt wurde, stellt uns vor eine Charybdis und vor eine Skylla. Die Charybdis besteht darin, dass eine Denkerin, um begründet auf eine Konklusion zu schließen, nicht blind einen Mechanismus ausführen oder so disponiert sein darf, eine Regel zu befolgen, die sie gar nicht erfasst. Das bedeutet, dass sie irgendwie die Rationalität der Denkschritte, die sie gerade ausführt, erkennen muss, und deswegen in der Lage sein muss darüber nachzudenken. Denn sonst könnte die Gültigkeit der Schlussform nicht ihr Grund sein das zu folgern, was sie tatsächlich folgert. Tim Scanlon schlägt so eine Position vor, wenn er »urteilsabhängige Einstellungen« charakterisiert als “attitudes that an ideally rational person would come to have whenever that person judged there to be sufficient reasons for them and that would, in an ideally rational person, ›extinguish‹ when that person judged them not to be supported by reasons of the appropriate kind.” (Scanlon 1998: 20) Nehmen wir nun an, wir sagen, dass die Denkerin über die Gültigkeit der Schlussform, die ihrem Argument zugrunde liegt, nachdenken muss. Dies bedeutet, dass die Denkerin dadurch die Konklusion ihres deduktiven Schließens erkennt, dass sie über die Gültigkeit der Schlussform nachgedacht hat. Damit aber sind wir wieder bei dem möglichen Regress gelandet, den Carrolls Paradox aufzeigen sollte.26 Das ist die Skylla. In einem Artikel, in dem er an genau dieses Problem herangeht, bemerkt Bill Brewer (1995), dass das Subjekt, welches eine rationale Fähigkeit hat, inferentielle deduktive Übergänge zwischen Gedanken zu vollziehen, nicht einfach blind diejenigen Normen des Denkens, die es befolgt, abbilden darf, sondern sie auch wahrnehmen muss. Das impliziert eine Art von Bewusstsein dessen, was man tut, wenn man einen Satz aus anderen folgert. Dieses Bewusstsein kann jedoch nicht reflektiv sein. Denn wäre es das, dann müsste das Subjekt sich selbst die explizite allgemeine Regel vor Augen führen, der es folgt. “There is more to grasping the laws of logic or mathematical argument than simply being disposed to have one’s beliefs mirror the moves they prescribe. Epistemologically productive reasoning is not a merely mechanical manipulation of belief, but a compulsion in thought by reason, and as such involves conscious understanding of why one is right in one’s conclusion.” (Brewer 1995: 242) Diese Form der Nötigung durch die Vernunft stellt, so Brewer, die passende Verbindung zwischen Vernunft und Verursachung her. Sie ist »Verursachung aufgrund von Rationalisierung«, bei der man ganz einfach sieht, warum man recht hat.27 26 27

Vgl. ebenso Railton (1997, 2003: 316–317). Eine ähnliche Sichtweise wie die von Brewer wird auch von Boghossian (2003) vertreten, wenn er

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Brewer betont die enge Verbindung, die zwischen dem Haben eines Grundes zum Ziehen eines Schlusses und dem Bewegtwerden zum Akzeptieren dieser Konklusion besteht. Aber das macht die Angelegenheit nicht weniger rätselhaft. Denn wie kann die Tatsache, dass man mit Hilfe einer nicht-reflektiven Form des Bewusstseins sieht, dass man richtig liegt, zugleich die Ursache dafür sein, dass man von den Prämissen zur Konklusion gelangt? Wie soll diese Sichtweise den Humeschen Einwand entkräften, nach dem ein bloß kognitiver Zustand, sei es nun eine Überzeugung oder ein nicht-reflektives Bewusstsein, den Verstand zu nichts veranlassen kann? Um diesen Punkt noch einmal auf etwas rhetorische Weise zu wiederholen: Selbst wenn es wahr ist, dass »man sich nicht selbst als kraftlos denken kann« und wenn »Gründe verstehen heißt, ihre Kraft in der Anwendung auf das eigene Denken zu verstehen« (Brewer 1995: 251), wie kann es sein, dass uns Gründe zu etwas bewegen? Die Beschreibung legt nahe, dass gerade unser Bewusstsein von Gründen als unsere Gründe und von evaluativen Normen für Überzeugungen und Handlungen als zu uns gehörig schon für sich ausreicht, um uns »unmittelbar« zu den entsprechenden Überzeugungen und Handlungen zu führen. Aber ist das wirklich der Fall? Gewiss kann jemand einsehen, dass R einen guten Grund darstellt, um die Handlung A auszuführen, und zugestehen, dass es sein Grund ist, und zudem über den Begriff des Ichs verfügen, und immer noch nicht von R zu dieser Handlung bewegt sein. Das ist schließlich die missliche Lage, in der sich die Schildkröte befindet. Die kognitivistische Lösung scheint daher gar keine Lösung zu sein, denn sie macht Motivation durch Gründe zum Rätsel. Sie rehabilitiert lediglich unser anfängliches Problem. 5. Logische Akrasie und rationale Dispositionen Wir sind bei folgender Position angekommen: (1) Um das Grund-Verursachungs-Problem in Bezug auf deduktives Schlussfolgern zu lösen, dürfen wir die Art von Wissen, welches ein Subjekt hat, oder seine logischen Gründe nicht als explizites Wissen auffassen, denn dies würde uns in den bekannten Carrollschen Regress führen. (2) Wir können jedoch nicht einfach unser Wissen über logische Regeln mit einer Form von Praxis oder einer Menge von Dispositionen gleichsetzen, denn dies würde den objektiven Charakter von Gründen gefährden, und es würde keine Erklärung dafür liefern, wie Gründe die Ursache für unsere rationalen Gedankenschritte sein können. von »blind reasoning« spricht, aber er konzentriert sich eher auf das Problem der Rechtfertigung und nicht auf das der Erklärung, um das es mir hier geht. Wie weiter oben schon angedeutet, ist es dennoch schwierig, diese zwei Arten von Problem auseinander zu halten, wenngleich ich hier diesen Zusammenhang nicht näher behandeln kann. In Engel (2001) habe ich, Peacocke (1993) folgend, eine Sichtweise auf die Rechtfertigung der logischen Konstanten vorgeschlagen, die zugleich mit einer psychologischen Konzeption von Schlussfolgern verbunden ist, die sich auf mentale Modelle beruft.

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Ein Reinfall wäre die Idee zuzugeben, dass Vernunft und Verursachung nichts miteinander zu tun haben und dass es unmöglich ist zu verlangen, dass normative Gründe zugleich auch motivierende Gründe, oder dass objektive Gründe zugleich auch Ursachen sein sollen. Die harte kognitivistische Linie, die Gründe als Tatsachen auffasst, die eine Fernwirkung auf uns ausüben, veranschaulicht einfach, wie unplausibel diese Darstellung der Relation zwischen der normativen und der kausalen Ordnung ist. Sie wäre aber eine Leugnung des Problems und keine Lösung. Um diesen Schluss zu untermauern, möchte ich nochmals zum anfangs gezogenen Vergleich zwischen normaler, praktischer Akrasie und logischer Akrasie zurück kommen. Praktische Akrasie wird üblicherweise als die Fähigkeit eines Akteurs definiert, absichtlich und frei das zu tun, was er seiner Beurteilung nach nicht tun sollte. Obwohl die Beschreibung des Phänomens häufig variiert, möchte ich im Anschluss an David Owens (2002) die erste Bedingung die Kontrollbedingung und die zweite die Urteilsbedingung nennen. Wenn man epistemische Akrasie als das Vermögen definiert, frei und absichtlich etwas zu glauben, das man seiner Beurteilung nach nicht glauben sollte, dann müssten zwei parallele Bedingungen erfüllt sein. Wenn wir nun logische Akrasie als einen Sonderfall von epistemischer Akrasie ansehen, dann können wir jene als das Vermögen definieren, frei und absichtlich auf etwas zu schließen, auf das man seiner Beurteilung nach nicht schließen sollte, oder alternativ – wie im Fall der Schildkröte –, das Vermögen nicht auf etwas zu schließen, auf das man seiner Beurteilung nach schließen sollte. Als wir den Fall der Schildkröte beschrieben haben, haben wir angenommen, dass so eine logische Akrasie möglich ist. Aber ist sie das? Nach der Urteilsbedingung ist logische Akrasie überhaupt nur möglich, wenn eine Person das Vermögen besitzt, ein Urteil zweiter Ordnung zu fällen, dass sie auf einen bestimmten Satz aufgrund der Sätze (A), (B), …und einer Anzahl weiterer Prämissen schließen sollte, und wenn sich dieses Urteil zweiter Ordnung von ihrem Urteil erster Ordnung unterscheidet: (a) Ich sollte aufgrund von (A), (B), …etc. schließen, dass (Z), aber nicht-(Z). Oder um, wie weiter oben, den Begriff eines Grundes zu verwenden: (a') Ich habe jeden guten logischen Grund, aufgrund von (A), (B), …etc. zu schließen, dass (Z), aber nicht-(Z). Das scheint ein Fall von Moores Paradox zu sein: »P, aber ich glaube, dass nicht-P« oder »P, aber ich glaube nicht, dass P«. Wenn man es für unmöglich hält, Gedanken dieser Form zu haben, dann würde dies automatisch (a) oder (a') ausschließen. Aber selbst wenn man Gedanken dieser Form für unmöglich hält, scheinen (a) oder (a') nicht unmöglich zu sein. Beispielsweise könnte man sich weigern, (Z) zu akzeptieren, weil man einfach andere Gründe als logische Gründe hat, (Z) nicht zu glauben. Die Schildkröte könnte zugeben, dass sie nicht vernünftig ist, und könnte hier einfach in den sauren Apfel beißen, wie wir es eben manchmal tun. Um eine echte Inkohärenz hervorzurufen, muss man die Glaubensgründe im Kontext von (a) oder (a') auf logische Gründe beschränken. Bei einem rationalen Denker sind logische Gründe solche, die

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sein Voranschreiten von einem Gedanken zum anderen leiten sollen, wenn er versucht, logisch zu sein. Anders ausgedrückt besteht die normale Weise, eine Überzeugung durch Schlussfolgern zu gewinnen, im Herausfinden, ob sie aufgrund ihres Folgens aus anderen Überzeugungen, die man hat, wahr ist. Deshalb ist es inkohärent, wenn man zwar anerkennt, dass diese Methode der Überzeugungsbildung vernünftig ist, aber diese Methode nicht annimmt. Aber auf diese Forderung zu bestehen, um damit (a) oder (a') auszuschließen, heißt nur wieder, auf die in Abschnitt 4 so genannte Bedingung des reflektiven Bewusstseins zu bestehen. Und das führt geradewegs zum üblichen Carrollschen Regress.28 Die zweite Bedingung für die Möglichkeit logischer Akrasie ist, dass das Subjekt irgendwie die Kontrolle über seine Überzeugungen hat, das heißt, dass der Glaube an die Konklusion eines Schlusses frei und absichtlich gebildet wurde. An dieser Stelle bricht natürlich die Parallele zwischen dem praktischen und dem logischen Fall zusammen, denn man scheint nicht sinnvoll davon sprechen zu können, dass man frei und absichtlich einen Schluss ziehen, oder willentlich entgegen der Gründe, die man für eine Schlussfolgerung hat, schließen kann – genauso wie man nicht sinnvoll davon sprechen kann, dass wir, zumindest direkt, willentlich etwas glauben können. Das Thema ist in der Tat komplex und umstritten, aber ich werde hier einfach davon ausgehen, dass es eine solche Kontrolle nicht gibt. Und wenn es keine solche Kontrolle gibt, dann ist logische Akrasie unmöglich.29 Diese kurzen Gedanken zur Möglichkeit von logischer Akrasie sagen uns nicht, wie die normative Kraft logischer Gründe einen kausalen Einfluss auf unseren Verstand haben kann. Sie legen aber eine Lösung nahe. Um jemand zu sein, der logisch schließt, ist es nicht notwendig, dass man über ein reflektives Bewusstsein dessen verfügt, was man aus seinen gegenwärtigen Überzeugungen schließen sollte. Wie wir gesehen haben, landen wir automatisch beim Carrollschen Paradox, wenn wir annehmen, dass wir die Normen unseres Schließens in Form von Urteilen zweiter Ordnung über das, was wir glauben sollen, beachten müssen, um P auf der Grundlage von anderen Überzeugungen und durch einen Prozess des Schließens zu glauben. Wir verfügen nicht über das, was Scanlon »urteilsabhängige« Überzeugungen nennt, verstanden als das, was eine ideal rationale Person glauben sollte, wenn sie urteilte, dass es genügend Gründe gäbe etwas zu glauben. Wir schlussfolgern nicht auf der Gundlage solcher Überzeugungen zweiter Ordnung über unsere Überzeugungen. Wir schlussfolgern

Ich habe den Eindruck, dass der Carrollsche Regress die Unmöglichkeit der Urteilsbedingung für logische Akrasie veranschaulicht. Owens (2002) argumentiert hingegen dafür, dass die Urteilsbedingung möglich und die Kontrollbedingung unmöglich ist. 29 Williams (1973) ist hier der Locus classicus. Das zentrale Argument von Williams ist, dass eine Akteurin nicht in der Lage ist, gleichzeitig P glauben zu wollen und von sich anzunehmen, dass sie das glaubt, denn sie würde sowohl glauben, dass sie P nicht glaubt (nach Hypothese), als auch wollen, dass sie als Ergebnis einer ihrer Handlungen glauben wird, dass P — sie müsste also sowohl glauben, dass P, als auch, dass nicht-P, und sich dessen bewusst sein. Ich gehe hier nicht weiter auf die Literatur zur Möglichkeit der Kontrolle von Überzeugungen ein und nehme wie die meisten Autoren an, dass direkte Kontrolle über Überzeugungen unmöglich ist. Siehe Engel (2002). 28

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jedoch auf der Gundlage des Inhalts unserer Überzeugungen. Übergänge in Gedanken sind nicht in diesem Sinn reflektiv. Wenn ich glaube, dass Q aufgrund von P und wenn P, dann Q, dann glaube ich, dass Q, weil ich glaube, dass P und weil ich glaube, dass wenn P, dann Q, aber nicht, weil ich glaube, dass ich erstere aus den letztgenannten Überzeugungen schließen sollte, wenn ich rational wäre, oder weil ich eine weitere Überzeugung ähnlicher Form habe. Was in der Geschichte mit der Schildkröte schief läuft, ist, dass sie uns dazu veranlasst, den Vorgang des Schließens auf diese Art zu verstehen. Hieraus folgt jedoch nicht, dass das Schlussfolgern eine Angelegenheit roher Kraft ist oder einer bloß kausalen Disposition zu glauben, dass Q, wenn ich glaube, dass P und dass wenn P, dann Q. Ich bin mir dessen bewusst, was ich tue, selbst wenn ich nicht auf meine Gründe achte. Ich nenne das die Vordergrundbedingungen für mein Schlussfolgern. Es gibt aber auch Hintergrundbedingungen. Wir können davon ausgehen, dass sie von zweierlei Art sind: Zum einen müssen sie uns etwas über die psychologischen Zustände sagen, die eine kausale Rolle bei unseren Schlüssen spielen, und zum anderen müssen sie uns etwas über die rationale Rolle dieser Schlüsse sagen. Die erste Bedingung ist erfüllt, wenn wir unsere logischen Gründe so verstehen, dass sie auf stillschweigendem Wissen (tacit knowledge) von den Schlussformen basieren, die unsere logischen Argumente leiten. Dieses Wissen ist implizit, aber nicht einfach in dem Sinn, dass es dispositional ist. Es muss in dem Sinn implizit sein, dass es eine kausale Struktur im Denken instanziiert, die irgendwie die formale Struktur unserer Argumente widerspiegelt. Dieses Erfordernis haben Evans (1985) und Davies (1987) dem Begriff des stillschweigenden Wissens auferlegt. Stillschweigendes Wissen dieser Art muss ein Zustand oder eine Menge von Zuständen im Gehirn sein. Sie sind vollständig kausale Zustände. Der Punkt ist, dass es einen Mechanismus geben muss, der im allgemeinen zuverlässig ist und auf dem unsere inferentiellen Dispositionen gründen. Auf einer subpersonalen Ebene (Davies 2000) müssen die Übergänge in Gedanken instanziiert sein, und dies muss dem Subjekt nicht bewusst sein. Ich gehe davon aus, dass diese Bedingungen durch geeignete Untersuchungen in der Psychologie des Schließens bestimmt werden. Diese Forschungen werden uns beispielsweise sagen, ob bestimmte Schlussschemata denjenigen, die die Logik gestattet, nahe kommen oder nicht; sie werden uns sagen, ob einige »natürlicher« oder einfacher zu verarbeiten sind als andere.30 Ich behaupte, dass diese psychologischen Fakten notwendig sind, um unsere psychologischen und kausalen Bedingungen zu erfüllen. Derartiges stillschweigendes Wissen reicht aber natürlich nicht aus, um uns Gründe für das Ziehen eines Schlusses an die Hand zu geben, denn ein blinder kausaler Mechanismus ist, selbst wenn er stillschweigend erkannt wird, kein Grund. Eine Voraussetzung hierfür ist, dass wir uns der Argumentationsschritte auf der personalen Ebene bewusst werden können. Also brauchen wir eine weitere Bedingung, nämlich dass solches Wissen explizit werden kann. Dies erfordert den Besitz rationaler Dispositionen zusätzlich zum Besitz des erforderlichen stillschweigenden Wissens von Regeln. Rationale Dispositionen sind nicht 30

Siehe Engel (2001).

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von derselben Art wie kausale Dispositionen oder Zustände stillschweigenden Wissens. Sie sind Dispositionen, über die eigenen Zustände erster Ordnung zu reflektieren. Damit müssen wir nicht den Ansichten des nicht-reflektiven Kognitivismus widersprechen, die weiter oben in Abschnitt 4 dargestellt wurden: “Having a judgement sensitive attitude involves a complicated set of dispositions to think and react in specified ways. For example, a person who believes that P will tend to have feelings of conviction about P when the question arises, will normally be prepared to affirm P and use it as a premise in further reasoning, will tend to think of P as a piece of counterevidence when claims incompatible with it are advanced, and so on.” (Scanlon 1998: 21) Aber der Punkt ist, dass dies Dispositionen sind, die nicht in allen Fällen des Schlußfolgerns hervorgerufen werden müssen und die in den meisten Fällen an unseren normalen Schlüssen nicht beteiligt sind. Ich schlage daher vor, dass unsere logischen Gründe auf Zuständen stillschweigenden Wissens basieren, die als Dispositionen erster Ordnung aufzufassen sind. Der Umstand, dass sie darauf basieren, heißt jedoch nicht, dass sie auf solche Zustände reduziert werden könnten. Unsere logischen Gründe basieren auch auf rationalen Dispositionen, die Dispositionen zweiter Ordnung sind, reflektive Zustände von unseren Zuständen erster Ordnung und Überzeugungen zu haben. Es ist hier wesentlich, dass letztere Dispositionen sind und nicht systematisch mit ersteren während des psychologischen Vorgangs des Schließens assoziiert werden. Um empfänglich für einen logischen Grund zu sein, ist es nicht nötig, sich dessen bewusst zu sein und darüber im Modus der zweiten Ordnung zu reflektieren. Man kann ein rationaler Denker sein ohne in der Lage zu sein, seine Denkschritte konzeptualisieren zu können und ohne darüber zu reflektieren. Rationalität im logischen Schließen erfordert nicht, dass man weiß, welchen Gedankenschritten man folgt, und noch weniger, dass man weiß, dass man dies weiß. In der Terminologie von Williamson gesprochen, ist Rationalität nicht »transparent« (Williamson 2000). Nichtsdestotrotz können wir uns unserer Rationalität bewusst werden und uns Urteile zweiter Ordnung über unsere Art und Weise des Schließens bilden. Aber die Gründe müssen, sollen sie wirksam sein, in irgendeiner Weise gewusst werden. Die Anforderungen an logische Rationalität sind derart, dass sie nicht alle dem Subjekt zugänglich sein müssen. Man kann ein im logischen Sinn rationaler Denker sein, ohne ein bewusster Denker zu sein. Es ist noch zu zeigen, wie nach diesem quasi-psychologischen Ansatz unsere logischen Gründe objektiv sein können. Hier kann ich eine Analyse dieses Merkmals lediglich andeuten. Ein Subjekt, das über rationale Dispositionen verfügt, befolgt nicht einfach Regeln, die zu seiner psychologischen Konstitution gehören. Es ist sich der Regeln, die es befolgt, bewusst, bezieht Stellung dazu, und ist in der Lage, sie gelegentlich zu revidieren. Es versteht seine Regeln als Normen oder als Leitprinzipien. In diesem Sinn kann es über sie kritisch nachdenken. Diese Handlungen des Vergleichens und Bewertens erlauben es ihm, seine Regeln als objektiv aufzufassen. Unsere Beschreibung der rationalen Dispositionen eines Denkers muss sich hier nicht von dem unterscheiden,

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was Scanlon »urteilsabhängige Einstellungen« und was Burge »ein kritischer Denker sein« nennt.31 Man könnte vielleicht denken, dass die Reflexion über die Regeln, zu deren Befolgung man eine rationale Disposition hat, uns wieder die Schwierigkeiten des reflektiven Kognitivismus einhandelt, die ich weiter oben angeführt habe. Aber dem ist nicht so. Es besteht ein himmelweiter Unterschied darin, ob man in der Lage ist über die Regeln, die man befolgt, zu reflektieren oder ob man tatsächlich beim Schlussfolgern an diese denkt. Logisches Schließen ist keine derartige reflektive Aktivität und benötigt diese auch nicht. Aber um zu verstehen, wie unsere Schlussregeln Gründe sein können, braucht man diese Form der Reflexion. Wir müssen Gründe nicht als Tatsachen auffassen, um diese Objektivität logischer Gründe sicherzustellen. Dieser Abriss einer Theorie der kausalen und rationalen Kraft unserer logischen Gründe ist sicherlich unvollständig. Er verrät uns weder, was die Basis für diese Dispositionen ist, noch, wie sie ausgelöst werden. Er sieht sich natürlich mit den üblichen Schwierigkeiten einer dispositionalen Analyse konfrontiert, aber er scheint mir dennoch auf einem besseren Weg zu sein als die Analysen, die ich hier untersucht habe.32

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Die Unterscheidung, an die ich hier denke, kommt derjenigen zwischen Intentionalität und Denken nahe, die von Philip Pettit (1993) vertreten wird, obwohl ich nicht behaupte, dass die Objektivität von Regeln mit ihrer sozialen Natur einhergeht. 32 Eine Version dieses Aufsatzes wurde bei der 4. Konferenz der Europäischen Gesellschaft für Analytische Philosophie vorgetragen, die im Jahr 2002 an der Universität Lund abgehalten wurde. Für die Diskussion einer anderen Version, die bei der Konferenz zu Mind and Action III im Jahr 2001 in Lissabon vorgetragen wurde, bin ich Antonio Marques, Fred Dretske und Donald Davidson zu Dank verpflichtet. Eine weitere Version wurde im Jahr 2002 in St. Andrews vorgetragen. Und noch eine andere Version des Aufsatzes wurde an den Universitäten von Stockholm und Oslo während meiner Beschäftigung im Rahmen eines Fellowships der norwegischen Akademie der Wissenschaften im Jahr 2004 vorgetragen. Ich danke dem Centre for Advanced Study und meinen Kollegen in Oslo, insbesondere Olav Gjelsvik, für ihre Gastfreundschaft und für ihre Kommentare. Die vorliegende Version ist schließlich mehr oder weniger jene, die im Januar 2005 an der UEA vorgetragen wurde. Ich danke John Skorupski, John Broome, Michael Smith, Jacob Elster, Peter Pagin, Dag Prawitz und Tim O’Hagan für ihre Unterstützung und Diskussion. Die vorliegende Version wurde von Engel (2005) und Engel (2007) adaptiert. – Die Übertragung des englischen Textes ins Deutsche wurde von Daniel Hartenstein, Regensburg, besorgt. 31

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–: und Timothy Williamson: Blind reasoning, in: Proceedings of the Aristotelian Society 77/1 (2003), 225–248. Bill Brewer: Compulsion by reason, in: Proceedings of the Aristotelian Society, sup. vol. LXIX, 237–254. John Broome: Normative requirements, in: Normativity, ed by. Jonathan Dancy, Oxford 2000. –: Practical reasoning, in: Reason and Nature, ed. by José Bermudez und Alan Millar, Oxford 2002, 85–111. D. G. Brown: What the Tortoise taught us, in: Mind 63/250 (1954), 170–179. Tyler Burge: Reason and the first person, in: Knowing Our Own Minds, ed. by Crispin Wright, Barry Smith und Cynthia McDonald, Oxford 1998, 243–270. Michael Clark: Paradoxes from A to Z, London 2002. Lewis Carroll (C. L. Dodgson): What the Tortoise said to Achilles, in: Mind 4/14 (1895), 278–280. Deutsch zitiert nach der Übersetzung »Was die Schildkröte zu Achilles sagte«, in: Douglas R. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach – Ein Endloses Geflochtenes Band, Stuttgart 1985, 18. Auflage 2008, 47–49. Jonathan Dancy: Practical Reality, Oxford 2000. –(ed.): Normativity, Oxford 2000a. Martin Davies: Tacit knowledge and semantic theory: can a five percent difference matter?, in: Mind 96, 441–462. –: Persons and their underpinnings, in: Philosophical Explorations 3 (2000), 43–62. Daniel Dennett: Brain writing and mind reading, in: Brainstorms, Cambridge, Mass. 1978. Charles Lutwidge Dodgson: Lewis Carroll’s Symbolic Logic, ed. by William Bartley III, New York 1977. Michael Dummett: Frege, Philosophy of Language, London 1973. –: The justification of deduction, British Academy Lecture (1973a), repr. in: Truth and Other Enigmas, London 1978. –: The Logical Basis of Metaphysics, Harvard 1991. –: Frege and Other Philosophers, Oxford 1991a. –: The Seas of Language, Oxford 1996. Pascal Engel: The Norm of Truth, Hemel Hampstead 1991. –: Davidson et la Philosophie du Langage, Paris 1994. –: Philosophie et Psychologie, Paris 1996. –: La logique peut elle mouvoir l’esprit?, in: Dialogue XXXVII (1998), 35–53. –: L’antipsychologisme est-il irrésistible?, in: Frege, Logique et Philososophie, publ. par Gareth Evans. Semantic theory and tacit knowledge, in: Collected Papers, Oxford 1985, 321–342. Mathieu Marion und Alain Voizard, Paris 1998a. –: Logica, ragionamento e constanti logiche, in: Ragionamento, Psicologia e Logica, a cura di Paolo Cherubini, Pierdaniele Giaretta und Alberto Mazzocco, Florenz 2001, 108–127. –: Logical Reasons, in: Philosophical Explorations 8/1 (2005), 21–28.

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Gründe als Defaults John F. Horty

1. Einleitung Ein Großteil der gegenwärtigen Literatur über Gründe konzentriert sich auf einen bekannten Bereich von Fragestellungen, der beispielsweise das Verhältnis zwischen Gründen und Motivation, Wünschen und Werten, die Frage nach Internalismus versus Externalismus in einer Theorie von Gründen, oder die Objektivität von Gründen umfasst. Diese Abhandlung beschäftigt sich mit einer anderen, orthogonalen Menge von Fragen: Was sind Gründe, und wie stützen sie Handlungen oder Konklusionen? Gegeben eine Sammlung von individuellen Gründen, die möglicherweise konfligierende Handlungen oder Konklusionen stützen: Wie können wir bestimmen, welche Handlungsweise oder welche Konklusion durch die Sammlung als Ganzes gestützt wird? Was ist der Mechanismus der Stützung? Die Antwort, die ich vorschlage, ist, dass Gründe durch Defaults1 bestimmt werden und dass sie in Übereinstimmung mit der Logik des Default-Schließens Konklusionen stützen. Das Ziel dieses Textes ist es, diese Antwort verständlich zu machen und zu entwickeln. Obwohl es keine einzelne Theorie gibt, von der wir jetzt sagen können, dass sie die korrekte Logik für Default-Schließen bereitstellt, beginne ich mit einer Beschreibung dessen, was mir eine besonders nützliche Weise der Entwicklung einer solchen Theorie zu sein scheint. Diese Logik wird hier nur so detailliert präsentiert, wie es nötig ist, um zu zeigen, dass hier wirklich eine konkrete Theorie am Werk ist, und um eine Vorstellung von der Form dieser Theorie sowie der Fragen, die damit in Verbindung stehen, zu geben. Nach der Darstellung dieser Default-Logik zeige ich, wie sie ausgearbeitet werden kann, um mit bestimmten Fragen umgehen zu können, die mit der Entwicklung einer stabileren Theorie von Gründen in Verbindung stehen. Ich konzentriere mich hier auf zwei solcher Probleme: erstens Situationen, in denen die Prioritätsrelationen zwischen Gründen oder Defaults selbst durch Default-Schließen gebildet zu werden scheinen; zweitens die Behandlung des »Schlagens« von Gründen durch Unterminierung und die Behandlung von ausschließenden Gründen. Schließlich zeige ich in einer Anwendung, wie der resultierende Ansatz eine Thematik innerhalb der Theorie von Gründen erhellen kann, welcher in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde: Jonathan Dancys interessantes und einflussreiches Argument, das von einem GründeHolismus zu einer Form des extremen Partikularismus in der Moraltheorie führt.

Das englische Substantiv »default«, welches im Deutschen mit »Vorannahme« oder »Standardregel« nur unzureichend wiedergegeben wäre, bleibt in diesem Aufsatz unübersetzt. (Anm. des Übersetzers) 1

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2. Eine Theorie des Default-Schließens 2.1 Default-Theorien und Szenarien Wir nehmen als Hintergrund eine gewöhnliche aussagenlogische Sprache mit den üblichen Junktoren , ,  und ¬ und mit als einer speziellen Konstante, die das Verum repräsentiert. Das Zeichen ⵫ steht für gewöhnliche logische Folgerung. Vor diesem Hintergrund wollen wir jetzt mit einem Standardbeispiel beginnen, das als »Tweety-Dreieck« bekannt ist.2 Wenn einem Akteur nur gesagt wird, dass Tweety ein Vogel ist, wäre es natürlich für den Akteur zu schließen, dass Tweety fliegen kann. Unsere alltäglichen Schlussfolgerungen scheinen durch einen allgemeinen Default geleitet zu werden, gemäß welchem Vögel in der Regel fliegen können; und nach dem Ansatz, der hier vorgeschlagen wird, ist es dieser auf Tweety angewandte Default, der einen Grund für die Folgerung bereitstellt, dass Tweety fliegen kann. Aber nehmen wir an, dass dem Akteur zusätzlich gesagt wird, dass Tweety ein Pinguin ist. Es gibt auch einen Default, gemäß welchem Pinguine in der Regel nicht fliegen können, der jetzt einen Grund für eine konfligierende Konklusion bietet. Weil der Default für Pinguine stärker ist als derjenige für Vögel, ist es natürlich anzunehmen, dass der erste dieser Gründe vom zweiten geschlagen wird, so dass der Akteur sein anfängliches Urteil überdenken und statt dessen schließen sollte, dass Tweety nicht fliegen kann. Wenn A und B Formeln aus der Hintergrundsprache sind, repräsentiert A → B die Default-Regel, die uns erlaubt, per Default auf B zu schließen, wann immer festgestellt ist, dass A. Zur Illustration: Wenn V für die Aussage steht, dass Tweety ein Vogel ist, und F für die Aussage steht, dass Tweety fliegen kann, dann ist V → F die Regel, die uns erlaubt per Default zu schließen, dass Tweety fliegen kann, wenn festgestellt ist, dass Tweety ein Vogel ist. Dieser spezielle Default kann als Tweety-Instanz des allgemeinen Defaults Vogel(x) → Fliegt(x) interpretiert werden, der uns sagt, dass Vögel in der Regel fliegen können (um von diesem allgemeinen Default zur speziellen Instantiierung V → F zu kommen, stellen Sie sich V als eine Abkürzung der Aussage Vogel(Tweety) und F als Abkürzung für Fliegt(Tweety) vor). Wir gehen von zwei Funktionen – Prämisse und Konklusion – aus, die die Prämissen und Konklusionen von Default-Regeln herausgreifen: Wenn δ zum Beispiel der Default A → B ist, dann ist Prämisse(δ) die Aussage A, und Konklusion(δ) ist die Aussage B. Die zweite dieser Funktionen wird auf offensichtliche Weise von individuellen Defaults auf Mengen von Defaults erweitert, so dass wir, wenn D eine Menge von Defaults ist, Konklusion(D) = {Konklusion(δ) : δ

∈ D}

als die Menge ihrer Konklusionen bekommen. Es wird aufgrund seiner dreieckigen Gestalt so genannt, wenn es in einem Vererbungs-Netzwerk, einer grafischen Repräsentation von Default-Relationen zwischen Klassen von Entitäten, dargestellt 2

Gründe als Defaults

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Wie wir gesehen haben, haben einige Defaults eine größere Stärke oder eine höhere Priorität als andere; einige Gründe sind besser als andere. Um diese Information zu repräsentieren, führen wir eine Ordnungsrelation < auf der Menge von Defaults ein, wobei δ < δ′ bedeutet, dass der Default δ′ eine höhere Priorität besitzt als δ. Wir nehmen an, dass diese Ordnung der Prioritäten von Defaults transitiv (δ < δ′ und δ′ < δ′′ implizieren δ < δ′′), und auch irreflexiv (δ < δ ist immer falsch) ist; solch eine Ordnungsrelation nennt man eine strikte partielle Ordnung. Die Prioritätsrelationen zwischen Defaults können verschiedene Quellen haben. Im Tweety-Dreieck hat die Priorität des Defaults für Pinguine vor dem Default für Vögel zum Beispiel mit Spezifität zu tun: ein Pinguin ist eine spezifische Art von Vogel, und deshalb haben Informationen über Pinguine im Besonderen Vorrang vor Informationen über Vögel im Allgemeinen. Aber es gibt auch Prioritätsrelationen, die nichts mit Spezifität zu tun haben. Verlässlichkeit ist eine andere Quelle. Sowohl der Wetterbericht als auch die Arthritis in meinem rechten Knie geben halbwegs verlässliche Vorhersagen für kommenden Niederschlag, aber der Wetterbericht ist verlässlicher. Und wenn wir uns von epistemischen zu praktischen Gründen bewegen, dann ist Autorität noch eine weitere Quelle für Prioritätsrelationen. Europäische Gesetze sind typischerweise Landesgesetzen übergeordnet, und neuere Gerichtsentscheidungen haben höhere Autorität als ältere. Unmittelbar erteilte Befehle haben Vorrang vor langfristig geltenden Befehlen, und Befehle des Obersts sind Befehlen des Majors übergeordnet. Wir beginnen diesen Abschnitt, indem wir den Spezialfall betrachten, in dem alle Prioritätsrelationen zwischen Defaults im Voraus festgesetzt sind, so dass wir weder die Quelle dieser Prioritätsrelationen, noch die Art und Weise, wie sie festgestellt werden, beachten müssen, sondern nur ihre Wirkung auf die Konklusionen, die man durch Default-Schließen zieht. Formal definieren wir, wenn D eine Menge von Defaults mit der strikten partiellen Ordnung < ist und wenn W dazu eine Menge von gewöhnlichen Formeln ist, eine Default-Theorie mit fester Priorität als eine Struktur der Form  W, D, < . Eine solche Struktur – eine Menge von gewöhnlichen Informationen zusammen mit einer geordneten Menge von Defaults – repräsentiert das, was dem Akteur als Basis für seine Schlussfolgerungen zu Anfang gegeben ist. Der größte Teil der Forschung in nichtmonotoner Logik ist durch die epistemische Interpretation von Defaults motiviert und konzentriert sich so auf das Problem der Charakterisierung der Mengen von Meinungen oder Überzeugungen,3 die durch DefaultTheorien gestützt werden. Die Defaults selbst werden als Regeln betrachtet, nach welchen die aus einer Menge von Formeln ableitbaren Überzeugungen über ihre klassischen Konsequenzen hinaus erweitert werden. Aus diesem Grund werden die Überzeu-

wird; Vgl. mein (1994) für einen Überblick über nichtmonotones Schließen durch Vererbungsrelationen. 3 Das pluralisierbare englische Substantiv »belief« wird in diesem Aufsatz wahlweise mit »Überzeugung« oder »Meinung« oder »Überzeugung oder Meinung« wiedergegeben, obgleich »Überzeugung« tendenziell zu stark und »Meinung« tendenziell zu schwach ist. Ein genaues Äquivalent zu »belief« gibt es im Deutschen nicht. (Anm. des Übersetzers)

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Kolloquium 21 · John F. Horty

gungsmengen, die durch Defaults gestützt werden, häufig als Extensionen bezeichnet. Wir werden uns hier allerdings nicht auf die Extensionen selbst konzentrieren, sondern auf Szenarien, wobei ein Szenario, das auf einer Default-Theorie  W, D, <  basiert, einfach als eine bestimmte Teilmenge S der Menge der Defaults D definiert ist, die in der Theorie enthalten ist. Intuitiv soll ein Szenario die Menge derjenigen Defaults repräsentieren, die vom Akteur an irgendeiner Stelle des Schlussfolgerungsprozesses akzeptiert werden und hinreichende Unterstützung für seine Konklusionen bereitstellen. Das Konzept eines Szenarios besitzt sowohl für die epistemische als auch für die praktische Lesart von Default-Regeln eine natürliche Interpretation. In der epistemischen Lesart kann man den Akteur, der ein Szenario wählt, so verstehen, dass er diejenigen Defaults wählt, die er benutzen wird, um seine Anfangsinformationen zu einer vollen Menge von Glaubensinhalten auszuweiten: Wenn S ein auf  W, D, <  basierendes Szenario ist, können wir die von diesem Szenario generierte Überzeugungsmenge definieren als die Menge von Formeln, die aus seinen Konklusionen und den Anfangsinformationen des Akteurs ableitbar sind – das heißt, die aus W ∪ Konklusion(S) ableitbare Menge von Formeln. In der praktischen Lesart, in der Defaults eher als Handlungsempfehlungen denn als Stützungen von Propositionen verstanden werden, kann die Menge von Konklusionen der Defaults, die zu einem Szenario S gehören – das heißt, die Menge Konklusion(S) –, als die Menge der Handlungen verstanden werden, für die sich der Akteur entschieden hat. Unsere erste Aufgabe ist es, geeignete Szenarien zu definieren, wie wir sie nennen werden. Dies sind diejenigen Mengen von Defaults, die letztlich von einem idealen schlussfolgernden Akteur auf der Basis der Informationen akzeptiert werden könnten, die in einer geordneten Default-Theorie enthalten sind. Mit dieser Idee im Hinterkopf können die Extensionen von Default-Theorien – ideale Überzeugungsmengen – als diejenigen Mengen von Überzeugungen definiert werden, die von geeigneten Szenarien generiert werden. Von einer praktischen Perspektive aus gesehen, kann ein geeignetes Szenario als eines verstanden werden, das eine Menge von Handlungen spezifiziert, für deren Ausführung sich ein rationales Individuum entscheiden könnte.

2.2 Bindende Defaults Wir beginnen mit dem Begriff eines bindenden Defaults. Wenn Defaults Gründe liefern, dann sollen bindende Defaults diejenigen repräsentieren, die im Kontext eines bestimmten Szenarios gute Gründe liefern. Der Begriff eines bindenden Defaults wird mittels dreier vorläufiger Ideen definiert, denen wir uns zunächst zuwenden – dem Auslösen, dem in-Konflikt-Stehen und dem Schlagen. Natürlich ist nicht jeder Default in jedem Szenario anwendbar. Beispielsweise liefert der Default, dass Vögel fliegen, überhaupt keinen Grund für einen Akteur zu schließen, dass Tweety fliegt, wenn sich der Akteur nicht bereits auf die Proposition festgelegt hat, dass Tweety ein Vogel ist. Die ausgelösten Defaults, nämlich die, die in einem bestimm-

Gründe als Defaults

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ten Szenario anwendbar sind, sind einfach diejenigen, deren Prämissen durch dieses Szenario impliziert werden – das heißt diejenigen Defaults, deren Prämissen aus den Anfangsinformationen des Akteurs und den Konklusionen der Defaults, die der Akteur bereits akzeptiert hat, folgen. Definition 1 (Ausgelöste Defaults) Wenn S ein Szenario ist, das auf der Default-Theorie mit fester Priorität  W, D, <  basiert, dann sind die Defaults aus D, die in S ausgelöst werden, diejenigen, die zu der Menge AusgelöstW,D,