Physis als bewegte Existenz: Eine Ontologie des Konkreten [1 ed.] 9783428546930, 9783428146932

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Physis als bewegte Existenz: Eine Ontologie des Konkreten [1 ed.]
 9783428546930, 9783428146932

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M ETAPHYSIK UND O NTOLOGIE Band 3

Physis als bewegte Existenz Eine Ontologie des Konkreten

Von

Tina Röck

Duncker & Humblot · Berlin

TINA RÖCK

Physis als bewegte Existenz

Metaphysik und Ontologie Herausgegeben von Paola-Ludovika Coriando und Tina Röck

Band 3

Physis als bewegte Existenz Eine Ontologie des Konkreten

Von

Tina Röck

Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät der Leopold-Franzens Universität Innsbruck hat diese Arbeit im Jahre 2014 als Dissertation angenommen.

Diese Publikation wurde mit finanzieller Unterstützung aus den Fördermitteln des Vizerektorats für Forschung und des Institutes für Philosophie der Leopold-Franzens Universität Innsbruck gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 2363-6793 ISBN 978-3-428-14693-2 (Print) ISBN 978-3-428-54693-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84693-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Für den Abschluss der vorliegenden Arbeit schulde ich vielen Menschen meinen herzlichen Dank. An erster Stelle möchte ich Frau Prof. Dr. Paola-Ludovika Coriando herzlich für die Betreuung dieser Arbeit danken. Sie hat mir viel Unterstützung und Vertrauen entgegengebracht und mich mit ihrer Offenheit gegenüber Neuem und ihren erhellenden Ausführungen und Gedanken immer wieder angeregt und motiviert. Herrn Prof. Dr. Rainer Thurnher gilt mein Dank für die Übernahme des Zweitgutachtens und für seine hilfreichen Kommentare und Anregungen, die im Laufe der Jahre meine Entwicklung und diese Arbeit wesentlich geprägt haben. Großen Dank schulde ich außerdem meinen Kollegen und Mitarbeitern für die Unterstützung und die anregenden Mittagsgespräche, speziell Herrn Prof. Dr. Peter Kügler und Frau Ass.-Prof. Dr. Marie-Luisa Frick. Die Zusammenarbeit mit ihnen war eine wichtige Voraussetzung für das Entstehen und das Gelingen dieser Arbeit. Außerdem möchte ich Frau Ass.-Prof. Dr. Marie-Luisa Frick für die Durchsicht der Arbeit danken. Ein ganz großer Dank gilt auch meinem Kommilitonen und Kollegen Jonathan Jancsary für die Durchsicht des Manuskriptes und die vielen Anmerkungen, Hinweise und Argumente, von denen diese Arbeit profitiert hat. Schließlich wäre ohne die Unterstützung meiner Mutter und Großmutter diese Arbeit nie möglich gewesen. Beiden einen sehr herzlichen Dank. Außerdem habe ich mich auch immer auf die Unterstützung meines Partners, Manuel Pechlaner, verlassen können. Er hat mich immer dann mit freundlichen Worten und einer warmen Mahlzeit bestärkt, wenn ich schon nicht mehr an eine erfolgreiche Fertigstellung dieser Arbeit geglaubt habe. Allen diesen Menschen möchte ich diese Arbeit widmen. Innsbruck, im Frühjahr 2015

Tina Röck

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Erster Teil Propädeutikum

18

Kapitel 1 Methode und Begriffsklärung

18

§1

Methode: Eine Hermeneutik des Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

§2

Die Grundbegriffe der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Der Seinsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die Erfahrung der bewegten Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 20 26 30

Kapitel 2 Das gängige Vorverständnis und das neue Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung §3

§4

31

Das gängige Vorverständnis – Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die theoretischen Ursachen des gängigen Vorverständnisses: die Aporien der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Ein Beispiel der scheinbaren Vermittlung von Sein und Bewegung im gängigen Vorverständnis: Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Nietzsches Kritik am gängigen Vorverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

Die sprachlichen Wurzeln des neuen Vorverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . A. φύσις . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. ‚τὸ ὄν‘ und ‚τὸ εἶναι‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. λόγος . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45 45 54 57

33 36 41

8

Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil Historische Untersuchung

62

Kapitel 3 Vorüberlegungen

62

§5

Der Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

§6

Die Suche nach der ἀρχή . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Kapitel 4 Thales von Milet

66

§7

Traditionelle Deutungsweisen – Wasser als Materialursache oder Prinzip

68

§8

Eine andere Möglichkeit der Deutung – das Wasser als das dynamische Woher des Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Kapitel 5 Anaximander von Milet

77

Das ἄπειρον als ἀρχή . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

§ 10 Das Verhältnis von ἄπειρον und ἀρχή . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

§ 11 Die Beschaffenheit des ἄπειρον . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

§ 12 Ist das ἄπειρον selbst bewegt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

§ 13 Das erhaltene Fragment in mehrfacher Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

88

§9

Kapitel 6 Heraklit von Ephesus

93

§ 14 Heraklits Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

§ 15 Heraklit und die entstehenden Wissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

§ 16 Der Ausgangspunkt des Weges zur Weisheit im Eigenen . . . . . . . . . . . . . 102 § 17 Die besondere Bedeutung des λόγος bei Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 § 18 Exkurs: Das Eigene und das Andere – Weisheit und φύσις . . . . . . . . . . . 110 § 19 Die Gegensätze und ihr Verhältnis zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die begriffliche Verbundenheit der Gegensätze als Dialektik . . . . . . . B. Die ontologische Verbundenheit von νομός und φὐσις . . . . . . . . . . . . C. Die Gegensätze als Implikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 113 115 117

Inhaltsverzeichnis

9

D. Die Gegensätze als Verbundenheit durch Abfolge . . . . . . . . . . . . . . . . 119 E. Die genauere Bestimmung der Verbundenheit der Gegensätze . . . . . . 124 § 20 Führt die Einheit der Gegensätze zu einer Harmonie? . . . . . . . . . . . . . . . . 126 § 21 Das Denken der verbundenen Gegensätze und die Logik . . . . . . . . . . . . . 128 § 22 Bewegung und Stabilität bei Heraklit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die Bewegung der Seienden – die Fluss-Metapher . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Bewegung des Seienden und die sinnliche Wahrnehmung . . . . . . C. Das Feuer – die kosmische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 135 139 140

Kapitel 7 Parmenides von Elea

143

§ 23 Xenophanes als Eleate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 § 24 Parmenides – der große Bruch im griechischen Denken? . . . . . . . . . . . . . 149 § 25 Philosophie als Entrückung und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 § 26 Das Sein ist und das Nichtsein ist nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die ontologische Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die wahrheitstheoretische Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Die aussagenlogische Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Steckt eine Absicht hinter der Unbestimmtheit des ‚es ist‘? . . . . . . . .

157 158 160 161 164

§ 27 Das Denken – νοεῖν . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Denken und Sein – νοεῖν und εἶναι . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Heideggers Kritik an drei Formen der klassischen Deutung des Verhältnisses von εἶναι und νοεῖν als Identität . . . . . . . . . . . . . . . C. Das νοεῖν und das ἐόν . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

166 168 170 173

§ 28 Die Eigenschaften als Zeichen am Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 A. Die Zeichen am Weg als Eigenschaften des ἐόν . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 B. Was kennzeichnet die Göttin in ihrer Rede mit diesen Zeichen? . . . . 180 § 29 Das Meinen der Vielen und die Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 A. Die traditionelle Deutung als Trennung des Sinnlichen vom Denken 184 B. Die andere Deutung – Meinung als mangelnder Einsatz der Sinne . . 188 § 30 Überzeugungskraft und Wahrheit des Lehrgedichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 A. Parmenides als Argumentationstheoretiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 B. Der göttliche Weg zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 § 31 Der Parmenides des Proömiums als Denker des Denkens . . . . . . . . . . . . . 195 § 32 Parmenides’ Lehrgedicht als Wurzel der Trennung von Denken (λόγος) und bewegter Existenz (φύσις) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

10

Inhaltsverzeichnis Dritter Teil Der λόγος περὶ φύσεως als dritter Weg der Forschung

202

Kapitel 8 Der Weg von der ursprünglichen Ambivalenz der bewegten Existenz zum Sein

203

§ 33 Die Wurzeln der gängigen Seinsvorstellung im Denken . . . . . . . . . . . . . . 204 § 34 Zwei klassische Wege zum Sein: Idealisierung und Abstraktion . . . . . . . . 205 A. Erster Weg zum Sein – Platons Methode der Idealisierung . . . . . . . . 205 B. Zweiter Weg zum Sein – Aristoteles’ ἐπαγογή . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 § 35 Das Sein ist dem Denken verbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Kapitel 9 Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

215

§ 36 Die Verbindung von Sein, Urteil und Metaphysik in der klassischen Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 § 37 Der ursprüngliche λόγος als Sammlung und Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 226 § 38 Die Logik des konkreten Seienden – der λόγος περὶ φύσεως . . . . . . . . . . 229 § 39 Ein Beispiel einer möglichen Logik des Bewegten – Heraklit . . . . . . . . . 233 Kapitel 10 Auswirkungen der bewegten Existenz

237

§ 40 Bewegte Existenz als Gegenstand von Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 § 41 Konkrete Anwendungen der bewegten Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 § 42 Zur Begründung dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

Jἔστιν οὖν δὴ κατ᾽ ἐμὴν δόξαν πρῶτον διαιρετέον τάδε· τί τὸ ὂν ἀεί, γένεσιν δὲ οὐκ ἔχον, καὶ τί τὸ γιγνόμενον μὲν ἀεί, ὂν δὲ οὐδέποτε; τὸ μὲν δὴ νοήσει μετὰ λόγου περιληπτόν, ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὄν, τὸ δ᾽ αὖ δόξῃ μετ᾽ αἰσθήσεως ἀλόγου δοξαστόν, γιγνόμενον καὶ ἀπολλύμενον, ὄντως δὲ οὐδέποτε ὄν. Platon, Timaios, 27d Nun müssen wir, meiner Meinung nach, zunächst eine Unterscheidung machen: das immer Seiende, keine Entstehung an sich Habende und das immer Entstehende und niemals Seiende. Das eine kann im Denken durch den λόγος erkannt werden, denn es ist immer gleichermaßen seiend, das andere kann nur mit Hilfe der a-logischen (ἀλόγου) Wahrnehmung vermutet werden, da es immer werdend und vergehend ist, niemals jedoch wahrhaft seiend.

Einleitung Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich mit der Geschichte der Philosophie zu beschäftigen: man kann die Geschichte als Sammlung interessanter Ideen verstehen oder als eine kontinuierliche und zielgerichtete Entwicklung betrachten, sodass gegenwärtige Philosophie zur vollkommensten Form von Philosophie wird. Oder man kann in historischen Positionen den Versuch sehen, etwas Wertvolles über den Menschen und seine Welt in der jeweiligen Sprache und den jeweiligen denkerischen Möglichkeiten einer Zeit auszudrücken. Die zweite Art die Geschichte der Philosophie zu deuten, ist das Verständnis, das dieser Arbeit zugrunde liegt. Zugleich muss aber auch betont werden, dass jene großen Fragen, mit denen wir uns in der Philosophie beschäftigen, im Wesentlichen unverändert bleiben. Dies sind z. B. die Fragen nach dem Wesen des Menschen, der Beschaffenheit der Welt oder nach dem Sinn des Ganzen. Die Art und Weise wie diese Fragen sich zu einer Zeit eröffnen, wie sie zu bestimmten Zeiten gestellt werden und wie sie im Rahmen dieser Zeit behandelt und beantwortet werden, wandelt sich. Die grundlegenden Fragen selbst wandeln sich jedoch nicht wesentlich. Daher ist die Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie nicht eine bloße Geschichtswissenschaft, die das Vergangene erforscht, sondern eine Beschäftigung mit etwas Zeitlosem – Texte aus vergangenen Zeiten können so zur Grundlage für neue und verwandelte Zugänge zu den zeitlosen Fragen der Philosophie werden. Philosophie ist so eine Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der eigenen Zeit anhand von zeitlosen Fragen. Insofern ist es eine wesentliche Aufgabe der Philosophie, uns selbst, unsere Zeit und unsere Möglichkeiten zu reflektieren und kritisch zu bewerten. Eine Form dieser Reflexion besteht darin, vermeintliche Gewissheiten der Gegenwart erneut zu etwas Fragwürdigem zu machen, indem vergangene Möglichkeiten behandelt werden, dieses als gewiss Erscheinende anders zu denken. In diesem Sinne ist die vorliegende Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern nicht eine bloße Darstellung einer vergangenen Position, sondern der Versuch, eine vergangene Möglichkeit der Beantwortung der großen philosophischen Fragen erneut zu eröffnen und für uns heute fruchtbar zu machen. So verstanden hat Philosophiegeschichte Relevanz. Grundlage für diese Arbeit ist die Suche nach einem Seinsbegriff, der das konkrete physische Seiende erfassen kann, und die These, dass sich ein

14

Einleitung

solcher Seinsbegriff in der griechischen Sprache und im Denken einiger Vorsokratiker finden lässt. Das konkrete physische Seiende ist zum einen Existierendes, d. h. ein Seiendes. Seiendes dauert an, es hat Bestand – dieser Aspekt des Seienden muss sich im zu findenden Seinsbegriff niederschlagen. Das Seiende ist aber auch wesentlich durch Bewegung bestimmt (Seiende entstehen, sie verändern sich und sie vergehen). Der gesuchte Seinsbegriff muss also auch den Bewegungen des Seienden Rechnung tragen können. Denn die Bewegung ist das einzige Merkmal des konkreten physischen Seienden, das wir mit Gewissheit erkennen können. Die Frage nach dem konkreten materiellen Seienden ist demzufolge die Frage nach dem Verhältnis von Bewegung und bleibender Existenz. Daher beschäftige ich mich im historischen Teil der vorliegenden Arbeit vor allem mit den Gedanken von Thales, Anaximander, Heraklit und Parmenides.1 Denn die Frage nach dem Verhältnis von bleibender Existenz (Sein) und Bewegung wurde in der Vorsokratik und speziell auch von diesen Denkern in einer ausgezeichneten Weise behandelt. Diese Frage wurde auch nicht leichtfertig zugunsten des Seins entschieden. Liest man die Texte der Vorsokratiker unvoreingenommen, zeigt sich ein stetes Ringen um das Verhältnis von Sein und Bewegung. Weder die Vorsokratiker noch spätere Autoren wie Aristoteles oder Platon beantworten die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewegung so eindeutig, wie das die jeweiligen Interpreten oft unterstellen. Erst in den letzten Jahrhunderten wurde die Antwort der Interpreten, nämlich dass das unbewegliche Sein zumindest für Parmenides und die sokratischen Denker das eigentlich Wirkliche und die absolute Grundlage aller Bewegung ist, mit Hegel und Schelling wieder fragwürdig. Bei Nietzsche und Heidegger sowie bei Bergson, Whitehead und Deleuze finden sich Versuche, die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewegung erneut zu denken und einen Weg zu finden, wie jenes Sein, das der Vernunft zugänglich ist, und die Bewegung, die sich uns in den Sinnen zeigt, verbunden werden können, ohne das sich Bewegende gleich zum bloß Scheinbaren zu machen. Eine solche Möglichkeit eines Verständnisses von Seiendem als bewegte Existenz – zwischen Sein und Bewegung, zwischen eigentlicher Wirklichkeit und bloßem Schein – lässt sich eben schon im griechischen Denken finden. Der griechische Terminus, der die Vorstellung der bewegten Existenz wohl am besten wieder1 Es gäbe noch viele weitere vorsokratische Denker, die sich intensiv mit der Frage nach der Bewegung beschäftigt haben, z. B. Empedokles oder Zenon. Auf diese Denker werde ich jedoch nicht eingehen, da durch eine zu große Menge an diversen Positionen der rote Faden der Untersuchung wohl leichter verdeckt wird. Doch scheint mir die getroffene Auswahl repräsentativ und hinreichend, um das Bestimmungsverhältnis von Sein und Werden im Denken der meisten Vorsokratiker angemessen zu reflektieren.

Einleitung

15

gibt, ist der Begriff der ‚φύσις‘. Denn ‚φύσις‘ verweist sowohl auf das Werden und Wachsen des konkreten Seienden als auch auf seine Existenz, sein (gewordenes) Sein. In dieser ursprünglichen Bedeutung benennt der Begriff ‚φύσις‘ also eine bewegte Existenz, die sowohl jene Aspekte umfasst, die durch die weitere Tradition als ‚Sein‘ oder ‚essentia‘ bestimmt wurden als auch jene Aspekte, die später ‚Seiendes‘ oder ‚existentia‘ genannt wurden. Der Begriff ‚φύσις‘ kann dadurch zum Namen der Bestimmung der Existenzweise des konkreten physischen Seienden als bewegte Existenz werden. Ich werde mich bei der Bestandsaufnahme des griechischen Denkens jedoch nicht nur auf die Fragmente einiger relevanter Vorsokratiker beschränken, sondern auch einflussreiche Interpretationen dieser Fragmente in Betracht ziehen. Denn auch die Interpretationen sind Teil der Mannigfaltigkeit der möglichen Vorstellungen von Bewegung und Sein und deren Verhältnis zueinander. Neben den gängigen Interpretationen werde ich mich vor allem auf die Interpretation von Hegel in seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie, Nietzsches Auslegung in dem Fragment Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen und Heideggers Gedanken stützen. Ich berufe mich gerade auf diese Denker, weil alle drei in ausgezeichneter Weise an den Vorsokratikern und an der hier gestellten Frage nach dem Verhältnis von Sein und Seiendem bzw. Sein und Bewegung interessiert waren. Hegel, Nietzsche und Heidegger sind wohl die prominentesten Denker, welche die Betonung der unbewegten Substanz als Platzhalter für das eigentlich Wirkliche hinterfragt haben und der Bewegung (Hegel), dem Werden (Nietzsche) und dem ontisch-ontologischen Verhältnis von Seiendem und Sein (Heidegger) eine zentrale Rolle im eigenen Denken zugeeignet haben. Das Gemeinsame dieser Denker ist daher, so könnte man sagen, ein gewisser herakliteischer Zug, welcher der zentralen Rolle der Bewegung im Rahmen des Seins Rechnung trägt. Heidegger bemerkt in seinem gemeinsam mit Fink gehaltenen Heraklit-Seminar 1966 / 67: „Der dritte Herakliteer neben Hölderlin und Hegel ist Nietzsche.“2 Man könnte diese Aussage um die Feststellung ergänzen, dass es neben Hölderlin, Hegel und Nietzsche einen vierten Herakliteer gibt, nämlich Martin Heidegger. Die vorliegende Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Im ersten propädeutischen Teil werden die Untersuchungsmethode und die zentralen Begriffe der Untersuchung geklärt. Im zweiten historischen Teil arbeite ich das vorgeschlagene Verständnis des Verhältnisses von Sein und Werden als φύσις anhand einiger konkreter Beispiele heraus. Im dritten systematischen Teil versuche ich die Ergebnisse der ersten beiden Teile noch einmal in einen 2

Eugen Fink und Martin Heidegger, Heraklit, S. 185.

16

Einleitung

systematischen Zusammenhang zu bringen, um aufzuzeigen, welche Folgen und Implikationen eine Philosophie hat, die Werden und Sein nicht gegeneinander ausspielt, sondern im Konzept der φύσις bzw. der bewegten Existenz vereint denkt. Im propädeutischen Teil verdeutliche ich den klassischen Seinsbegriff und schildere die diversen Strategien, die angewandt wurden, um diesen Begriff gegen Bewegungen jeglicher Art abzugrenzen. Durch einen Verweis auf Nietzsches Kritik an diesem klassischen Seinsbegriff zeige ich auf, welche Einschränkungen und Probleme mit diesem Seinsbegriff verbunden sind, um so Raum für einen weiteren, ergänzenden Seinsbegriff zu eröffnen, der diese Probleme nicht mit sich bringt. Dieser umfassendere Seinsbegriff, der nur für jene Fragestellungen hilfreich ist, die das konkrete Seiende betreffen, wird dann unter dem Titel ‚bewegte Existenz‘ bzw. ‚φύσις‘ eingeführt. Diese Einführung beginnt bei der griechischen Sprache, da sich die Betonung von Bewegung und Entstehung im griechischen Denken anhand der Sprache sehr gut aufzeigen lässt. Aus der Untersuchung von philosophisch relevanten Begriffen (‚φύσις‘, ‚τὸ ὄν‘ bzw. ‚τὸ εἶναι‘ und ‚λόγος‘) gewinne ich so den Seinsbegriff der bewegten Existenz, mit dessen Hilfe ich im zweiten Teil eine dynamische Interpretation der Vorsokratiker erarbeite. Im zweiten historischen Teil setze ich also den im ersten Teil gewonnenen Begriff der bewegten Existenz voraus und argumentiere dafür, dass sich die Fragmente der Vorsokratiker unter dem Vorzeichen der bewegten Existenz in einem ganz neuen Licht zeigen. Ich erarbeite auf diese Weise die Position des Thales, Anaximander und Heraklit. Viele der erhaltenen Fragmente lassen sich unter dem Blickwinkel der bewegten Existenz auf fruchtbare Weise neu erschließen. Im Verlauf dieser Untersuchungen zeigen sich gewisse Tendenzen, die mit der Vorstellung der bewegten Existenz verbunden sind. Diese bringe ich im dritten Teil in einen systematischen Zusammenhang, wie z. B. die Tendenz des vorsokratischen Denkens sich mit dem konkreten Einzelnen zu beschäftigen und nach der Genesis des Einzelnen zu fragen, um es zu verstehen. Der nächste Schritt der Untersuchung besteht darin, sich mit jenem Vorsokratiker zu beschäftigen, der als Denker des unbewegten Seins gilt, also mit Parmenides. Es scheint zunächst sehr plausibel, Parmenides’ Lehrgedicht als Gegenargument gegen diese Möglichkeit anzusehen. Denn zumindest für Parmenides scheint Bewegung in keiner Weise zentral zu sein. In der Untersuchung zeigt sich jedoch, dass Parmenides’ Denken kein Gegenbeispiel für die Möglichkeit der bewegten Existenz als Seinsbegriff des konkreten Seienden darstellt, da Parmenides sich eben nicht mit dem Bereich des Seienden befasst, der sich mit Hilfe der bewegten Existenz erschließen lässt, nämlich der Bereich des konkreten und singulären Seienden.

Einleitung

17

Im dritten und letzten Teil versuche ich die in der Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern gewonnenen Einsichten noch einmal systematisch zu ordnen und darzustellen. Es geht in diesem Abschnitt darum, die Implikationen der bewegten Existenz für unser Verständnis von Wirklichkeit und Realität zu erarbeiten. Ziel dieses abschließenden Teils ist es, eine der heutigen Zeit angemessene systematische Behandlung des konkreten Einzelnen zu ermöglichen.

Erster Teil

Propädeutikum Kapitel 1

Methode und Begriffsklärung § 1 Methode: Eine Hermeneutik des Möglichen In dieser Arbeit geht es um die Entwicklung eines möglichen Verständnisses des Verhältnisses von Sein und Bewegung des konkreten Seienden im Denken der Vorsokratiker und damit zugleich um die erneute Eröffnung der systematischen Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewegung und dessen Implikationen für unser heutiges Denken. Die grundlegende These dieser Arbeit ist, dass es ein ursprüngliches Verständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung des konkreten Seienden als bewegte Existenz gibt, das sich wesentlich im Begriff der ‚φύσις‘ zeigt. Dieser Arbeit geht es also erstens um die Erhellung eines anhand der griechischen Sprache gewonnenen Vorverständnisses einer Einheit von Sein und Bewegung. Anhand der Analyse und Auslegung antiker Texte und deren Interpretationen soll daher einsichtig gemacht werden, dass sich im antiken Denken ein solch einheitliches Vorverständnis zeigt. Ein erstes Ziel dieser Untersuchung ist es, zu zeigen, dass es eine Phase des europäischen Denkens gegeben hat, in dem die rigide Trennung von Sein und Bewegung nicht die fundamentale und unbezweifelbare Grundlage aller ontologischen Überlegungen darstellt. Ein weiteres Ziel dieser Arbeit ist es, der Frage nachzugehen, warum dieses ursprünglich einheitliche Vorverständnis zu einer absoluten Zweiheit von Existenz / Sein und zu der Vorstellung von einem bloß scheinbaren, sich bewegenden Seienden geführt hat. Daher kann die vorliegende Untersuchung auch als Untersuchung dessen verstanden werden, was der Begriff ‚φύσις‘, verstanden als bewegte Existenz, bedeutet und wie und warum sich diese Bedeutung allmählich auf zwei Seinsbereiche aufteilt: in den Bereich des Bewegten bzw. des sich verändernden Seienden und in den Bereich des unveränderlichen Seins. Eigentliches Ziel dieser Untersuchung ist es jedoch, die gewonnenen Erkenntnisse systematisch fruchtbar zu machen, um unser heutiges Verständnis von Welt zu erweitern und zu vertiefen.

Kap. 1: Methode und Begriffsklärung

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Die Behandlung der überlieferten Fragmente soll also als Grundlage und Anregung für das Denken dienen und nicht als Vermittler eines objektiven Gehalts, den es nur zu entschlüsseln gilt. Denn „[m]an verstößt aber gegen den Sinn jeder Interpretation, wenn man der Meinung huldigt, es gäbe eine Auslegung, die beziehungslos, d. h. absolut gültig sein könnte. Absolut gültig ist im äußersten Falle nur der Vorstellungsbezirk, innerhalb dessen man den auszulegenden Text zum voraus ansetzt. Die Gültigkeit dieses vorausgesetzten Vorstellungsbezirkes kann nur dann eine absolute sein, wenn ihre Absolutheit auf einer Unbedingtheit und zwar der eines Glaubens beruht.“1 Es geht in dieser Arbeit weder um eine möglichst ausgewogene oder vollständige Darstellung der jeweiligen historischen Positionen noch darum, die eigentliche Bedeutung eines Fragmentes herauszuarbeiten. Auch sollen diese Überlegungen nicht zu einer für uns möglichst einsichtige und möglichst belegbare Lesart einzelner Begriffe oder einzelner Sätze führen.2 Trotzdem sollte die in der Untersuchung gewonnene Interpretation mit den Fragmenten vereinbar sein und sich an den Rahmen des philologisch Möglichen halten.3 Sinn dieser Arbeit ist es, fruchtbare Möglichkeiten des Dialoges zu eröffnen, und zwar indem die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewegung erneut gestellt wird, ohne dabei von den gängigen Vorverständnissen und gängigen Vorentscheidungen geleitet zu werden. Dennoch geht es nicht um eine bloße Destruktion des gängigen Vorverständnisses, sondern vielmehr um die Konstruktion eines neuen Verständnisses der antiken Texte am Leitfaden der Vorstellung der bewegten Existenz. Damit verbunden ist die Konstruktion einer neuen Möglichkeit des Verstehens der heutigen Welt und die Möglichkeit eines neuen Narratives: Die Entwicklung der Vorsokratik kann dann 1

Martin Heidegger, Was heisst Denken, GA 8, S. 181. Es geht hier also eher um eine Hermeneutik als Versuch eines Verstehens, das je schon an einer bestimmten Fragestellung bzw. an einem Vorverständnis orientiert ist. Dieses Vorverständnis und der damit verbundene hermeneutische Zirkel behindert die Untersuchung nicht, da es in der Untersuchung nicht um eine möglichst objektive Erkenntnis oder um ein Wissenwollen geht, sondern um ein eröffnendes Verstehen. Verstehen im hermeneutischen Zirkel ist eher als ein Dialog zwischen Text und Leser zu begreifen, dessen Ziel die Möglichkeit einer ausdrücklichen Auslegung ist und kein bloßes Wissenwollen. Das Wissenwollen strebt danach, das vom Autor eigentlich Gemeinte zu erkennen und verstellt dabei die Möglichkeiten, die der Text uns bietet: „Das Wissenwollen und die Gier nach Erklärungen bringen uns niemals in ein denkendes Fragen. Wissenwollen ist stets schon die versteckte Anmaßung eines Selbstbewußtseins, das sich auf eine selbsterfundene Vernunft und deren Vernünftigkeit beruft.“ Martin Heidegger, Unterwegs zur Sprache, GA 12, S. 95. 3 Diese Problematik wird im vorliegenden Fall dadurch verschärft, dass die untersuchten Texte nicht nur aus einer völlig anderen Zeit stammen, sondern auch noch übersetzt werden müssen. Zur Problematik des Übersetzens vgl. z. B. Ivo De Gennaro, Logos – Heidegger liest Heraklit, S. 62–89. 2

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1. Teil: Propädeutikum

nicht nur als die Entwicklung vom Mythos zum Logos rekonstruiert werden4; sie kann dann ebenso als die Entwicklung von der Vorstellung der bewegten Existenz hin zu einer Vorstellung des Seins als eigentliche Existenz, die vom bewegten Seienden unabhängig ist, verstanden werden.5

§ 2 Die Grundbegriffe der Untersuchung A. Der Seinsbegriff Der Versuch, heute dem Begriff ‚Sein‘ eine einheitliche Bedeutung abzugewinnen, scheint hoffnungslos anachronistisch. Viele Philosophen werden einem solchen Vorhaben wohl mit Argwohn begegnen, da innerhalb dieser Tradition die Meinung vorherrscht, dass der Begriff ‚Sein‘ nichts als ein Pseudo-Konzept mit ambivalenter Bedeutung sei.6 Doch stellt sich die Frage, ob nicht gerade diese Ambivalenz das Wesen des ‚Seins‘ ausdrückt. Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass der Ausdruck ‚Sein‘ verschiedene Bedeutungen hat: ‚ist‘ kann in der logischen Verwendung i) als Kopula oder ii) als Kennzeichen für Identität verwendet werden. Im Rahmen der metaphysischen Verwendung kann der Begriff ‚Sein‘ außerdem iii) eine Existenz oder iv) die essentielle Beschaffenheit eines Seienden bezeichnen. Diese Arbeit beschäftigt sich vor allem mit der metaphysischen Verwendung des Begriffes. Daher soll der Begriff ‚Sein‘ in seiner metaphysischen Verwendung im Folgenden von seiner überkommenen metaphysischen Verkrustung befreit werden, um eine erneute Auseinandersetzung mit ihm zu ermöglichen. Dies geschieht anhand einer Untersuchung der griechischen Vorstellung von Sein. Ziel dieser Auseinandersetzung ist es, die innere Ambivalenz und Vielschichtigkeit der klassischen Prägungen von ‚Sein‘ aufzudecken. Es soll also aufgezeigt werden, dass dieser Begriff immer schon auf 4 Wobei zu beachten ist, dass sich in den Texten dieser Epoche keine Anzeichen für eine Trennung bzw. strenge Unterscheidung von Mythos und Philosophie finden lassen. Vgl. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 390 ff. 5 Es ist auch nicht das Ziel dieser Arbeit, eine möglichst vollständige Übersicht über die vorsokratische Philosophie zu bieten, sondern es geht darum, exemplarisch Fragmente und Autoren herauszustellen, die eine fruchtbare Grundlage für die Erläuterung des neuen Vorverständnisses und sein Verhältnis zum gängigen Vorverständnis bieten. Es geht also nicht darum, möglichst jeden Denker der Vorsokratik zu behandeln, noch geht es darum, jedes einzelne Fragment zu behandeln. Vielmehr soll eine neue Möglichkeit des Verständnisses von Sein erarbeitet werden. Wenn sich diese Möglichkeit nicht in jedem einzelnen Text und nicht bei jedem einzelnen Autor zeigt, wäre das jedoch kein Argument gegen diese Möglichkeit. 6 Vgl. Charles H. Kahn, The Greek Verb ‚to be‘ and the Concept of Being, S. 246.

Kap. 1: Methode und Begriffsklärung

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verschiedene Weisen verwendet wurde, sodass es auch Raum für eine weitere Möglichkeit der metaphysischen Ausdeutung des Seinsbegriffes als bewegte Existenz geben kann. Der erste Schritt der Destruktion des gängigen Vorverständnisses besteht im Aufweis eines Unterschiedes zwischen der Deutung des Seins als bloße Existenz (als reines Vorkommen) und dem klassischen Seinsbegriff, den wir in dieser Form auch in der griechischen Antike finden. Der klassische Seinsbegriff benennt nicht nur die bloße Existenz (das dass-Sein), sondern er drückt außerdem auch ein bestimmtes so-Sein dieses Seienden, also seine wesentliche Beschaffenheit aus. Das ‚Sein‘ des griechischen Denkens hat daher einen ambivalenten Charakter: Es kann zum einen die Existenz des Seienden benennen (das ‚dass‘ des Seienden) und kann dadurch, dass auch alle weiteren essentiellen Eigenschaften eines Seienden im Sein benannt werden, zum anderen auch das ‚Wie‘ der Beschaffenheit des Seienden (sein so-Sein) benennen. Traditionellerweise ist daher sowohl die Tatsache der Existenz des Seienden als auch die wesentliche Beschaffenheit des Seienden durch das ‚Sein‘ benannt und bestimmt. Das Sein ist also keineswegs eine inhaltsleere Feststellung eines bloßen Vorkommens. Es lässt sich daher nicht vom bloßen Sein in demselben Sinne sprechen, in dem von der bloßen Existenz gesprochen werden kann. Die Studien von Charles H. Kahn zum Begriff des ‚Seins‘ in der griechischen Antike können als Beleg für diese doppelte Bedeutung des Seinsbegriffes dienen. Denn er argumentiert überzeugend gegen die strenge Unterscheidung des Existenz-ist vom Prädikations-ist, also gegen die Trennung von dass-Sein und so-Sein im griechischen Denken.7 Kahn führt die Trennung der beiden Aspekte auf die Untersuchung John S. Mills zurück, der behauptet, die Griechen hätten den Doppelaspekt von Existenz und Prädikation übersehen und diese beiden Aspekte unberechtigterweise in ihren Gedanken vermengt.8 Was nach Kahn bei Mill eine neue Entdeckung war, scheint vielen Denkern heute fast schon unbezweifelbar, wird jedoch dem griechischen Denken nicht gerecht. Der genannte Unterschied des Existenz-ist vom Prädikations-ist besteht in syntaktischer Hinsicht. In semantischer Hinsicht lässt sich eine solche Un7 Er argumentiert auch gegen die weitere Unterscheidung des Identitäts-ist, doch dieser Aspekt ist für uns nicht so aufschlussreich wie die Argumentation gegen die strenge Trennung von Existenz und Prädikation. Für die Argumente gegen das getrennte Identitäts-ist vgl. Charles H. Kahn, The Greek Verb ‚to be‘ and the Concept of Being, S. 246 f. oder Charles H. Kahn, The Verb ‚be‘ in Ancient Greek, S. 372, Fußnote 1. 8 Für die gesamte Argumentation vgl. Charles H. Kahn, The Greek Verb ‚to be‘ and the Concept of Being, S. 247.

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1. Teil: Propädeutikum

terscheidung nicht treffen. Denn faktisch hat jedes Vorkommende, also jede Existenz, auch immer ein bestimmtes Wie des Vorkommens. Nichts existiert, ohne zumindest irgendwie bestimmt zu sein, also ohne Eigenschaften. Der Vorwurf, den Mills gegen die griechischen Denker erhebt, also sie hätten den Doppelaspekt von Existenz und Prädikation nicht bedacht, wurzelt nach Kahn daher in einer Verwechslung. Mill verwechselt eine syntaktische Unterscheidung (zwischen der absoluten und prädikativen Konstruktion des Verbs ‚ist‘) mit einem semantischen Unterschied zwischen der Bedeutung existierend und einer anderen an- oder abwesenden Bedeutung (z. B. ‚ist unbewegt‘ bzw. ‚ist nicht bewegt‘).9 Während die Unterscheidung des Existenz-ist vom Prädikations-ist für logisch-syntaktische Untersuchungen angemessen ist, gilt dies nicht für Untersuchungen auf semantischer Ebene. Kahn stimmt Mill also insofern zu, dass sich diese strenge logisch-syntaktische Trennung bei den klassischen Autoren nicht belegen lässt, doch er ist der Meinung, dass diese Trennung dem griechischen Denken auch nicht angemessen wäre: But if we understand the phrase ‚there is‘ as representing a univocal concept of existence for a subject of predication, as distinct from the content of the predication itself – as distinct from the ‚essence‘ of the subject or the kind of thing it is (as we often do, for example, when we read the existential quantifier ‚(x)‘ as ‚there is something of which the following is true‘) – if this generalized positing of a subject as ‚real‘ is what we mean by existence, then I would be inclined to deny that such a notion can be taken for granted as a basis for understanding the meaning of the Greek verb. On the contrary, I suggest that a more careful analysis of the Greek notion of Being might provoke us into some second thoughts about the clarity and self-evidence of our familiar concept of existence.10

Die Trennung des dass-Sein vom so-Sein lässt sich bei den antiken Autoren keinesfalls deshalb nicht finden, weil sie den Unterschied zwischen Existenz und Prädikation nicht kannten, sondern weil dieser Unterschied in der alltäglichen Verwendung des Verbes nicht zum Tragen kam.11 Die Grundbedeutung des εἶναι, die also beide der genannten Bedeutungsaspekte von i) Existenz und ii) prädikativer Bestimmung umfasst, lässt sich nach Kahn daher am besten als ‚es ist der Fall‘ oder ‚es ist so‘ deuten. 9 Vgl. Charles H. Kahn, The Greek Verb ‚to be‘ and the Concept of Being, S. 247. 10 Charles H. Kahn, op.cit., S. 248. 11 Vgl. Charles H. Kahn, The Greek Verb ‚to be‘ and the Concept of Being, S. 249. Als Beleg führt Kahn an dieser Stelle die Unterscheidungen des Begriffes ‚einai‘ bei Aristoteles (Metaphysik Δ) an, die sich eben am alltäglichen Gebrauch orientieren und nicht an logischen oder syntaktischen Überlegungen: „The syntactic distinction between predicative and absolute construction is treated here as of no consequence whatever.“ Charles H. Kahn, loc.cit.

Kap. 1: Methode und Begriffsklärung

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Dieser Begriff drückt somit sowohl das dass des Seienden als auch das so-Sein des Seienden aus und steht in enger Verbindung mit dem Konzept der Wahrheit. Daher kann Kahn auch behaupten, dass „[…] both the existential and the predicative uses of the verb [to be] are special cases of the generalized usage of truth and falsity, for affirmation and denial“12. Was mit dem Begriff ‚εἶναι‘ gemeint ist – Sein eines Seienden – ist daher, zumindest für die griechischen Denker, mehr als seine bloße Existenz. Die Vorstellung, dass der Begriff ‚Sein‘ mit dem Begriff der ‚Existenz‘ gleichzusetzen wäre, scheint also den Griechen völlig fremd. Das Sein wurde nicht als völlig unbestimmt verstanden, sondern es wurde vielmehr als das in ausgezeichneter Weise Bestimmte gedacht. Das Sein verwies auf den Bereich des eigentlich Seienden, der zumindest in der Zeit der Akademie und des Peripatos eindeutig durch folgende Bestimmungen charakterisiert war: intelligibel, unveränderlich (zeitlos-ewig), abstrakt, eigentlich wirklich.13 Doch die meisten antiken Denker, vielleicht mit Ausnahme von Parmenides und einigen seiner Schüler, gingen nicht nur von einem Sein aus, sondern von mehreren Seienden oder gar von ganzen Seinshierarchien. Unabhängig davon, auf welcher Ebene das Sein angesiedelt war und welche anderen Ebenen von Sein es noch gab, jedes Sein war zumindest durch die oben genannten Eigenschaften bestimmt. Das ‚Sein‘ ist somit, zumindest in der griechischen Antike, nicht als bloße Existenz zu denken, sondern als eine ganz bestimmte Weise der Existenz, die alles Seiende bestimmt. Das Sein bezeichnet also letztlich die Art und Weise wie wirkliche Seiende vorkommen bzw. existieren, denn „greek ontology is fundamentally concerned with questions not of ‚existence‘ but of ‚what-ness‘ or essence“14. Mit dieser qualitativen Tendenz des Seinsbegriffes beschäftigt sich auch Erwin Tegtmeier in seinem Buch ‚Zeit und Existenz‘.15 Die grundlegende These Tegtmeiers lautet, dass Parmenides eigentlich darum bemüht war, ein neues Seinsverständnis einzuführen, und zwar als bloße Existenz. Laut Tegtmeier war Parmenides diese Einführung nur dadurch möglich, dass er gewisse Merkmale des Seins erläuterte, die dazu dienten, die Bedeutung des Seinsbegriffes auf die reine Vorhandenheit, also auf die bloße Existenz, zu beschränken. Diese Merkmale des Seins bei Parmenides sind: Ewigkeit, Unveränderlichkeit und Einfachheit. Nach Tegtmeier verwendet Parmenides diese Kennzeichen nur, um das Sein als bloße Existenz fassbar zu machen und so das Verständnis von ‚Sein‘ auf die Bedeutung der bloßen Existenz 12

Charles H. Kahn, op.cit., S. 251. Bei den Platonikern und Neuplatonikern kamen noch die Bestimmungen des Guten und des Einen für das höchste Sein hinzu. 14 A. P. D. Mourelatos, The Route of Parmenides, S. 48. 15 Erwin Tegtmeier, Zeit und Existenz, S. 34 ff. 13

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1. Teil: Propädeutikum

zu reduzieren. Diese Kennzeichen oder Seinsmerkmale sind nach Tegtmeier demnach nicht echte Eigenschaften des Seins, sondern sie kennzeichnen das Sein nur als bloße Existenz. Er ist der Meinung, dass der Unterschied zwischen Sein, Seinsmerkmalen und Existenz nur zu Verwirrungen führt und plädiert deswegen dafür, unser heutiges Seinsverständnis auf bloße Existenz zu beschränken und den Begriff des Seins aus Gründen der Klarheit einfach nicht mehr zu verwenden. Selbst wenn man Tegtmeier in Bezug auf Parmenides und seiner Intention recht gibt, kann im Umkehrschluss gefragt werden, was denn nun ‚Sein‘ eigentlich bedeutet, bevor Parmenides es angeblich auf den Begriff der bloßen Existenz beschränkt. Und weiter kann gefragt werden, ob dieser ursprüngliche und weitere Seinsbegriff nicht der eigentliche Seinsbegriff ist, nach dem wir uns richten sollten. Auch die Überlegungen Tegtmeiers sind ein Indiz dafür, dass der Begriff ‚Sein‘ bei den Griechen, mit der möglichen Ausnahme von Parmenides (wenn man Tegtmeier recht gibt), eben gerade nicht mit der Bedeutung ‚bloße Existenz‘ gleichzusetzen ist. Will man das griechische Denken verstehen, kann ‚Sein‘ nicht als bloße Existenz verstanden werden. Die bloße Existenz ist daher ein bestimmtes Seinsverständnis, aber weder ist es das ursprünglichste noch das einzig mögliche Seinsverständnis. Außerdem ist ungeklärt, ob der Bestimmung der bloßen Existenz überhaupt irgendetwas in der Welt entspricht.16 Es ist also fragwürdig, ob sich die Vorstellung der ‚bloßen Existenz‘ überhaupt auf die konkrete Wirklichkeit bezieht. Kann der Ausdruck ‚bloße Existenz‘ ein konkret Existierendes erfassen? Oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um eine rein verstandesmäßige Bestimmung idealer bzw. abstrakter Gegenstände? Sobald versucht wird, sich ein bloß Existierendes vorzustellen oder ein reines Existierendes in der Welt aufzuzeigen, müssen wir auf konkretere Bestimmungen und Eigenschaften ausweichen, um dieses bloß Existierende überhaupt denken oder aufzeigen zu können. Die bloße Existenz darf aber, um rein zu sein, keinen Inhalt haben und kann daher eigentlich nicht über Bestimmungen aufgewiesen werden. Das Ideal eines völlig unbestimmten Seins im 16 Einen interessanten Versuch das Sein unbestimmt zu denken, findet man auch noch bei Hegel. Er bezeichnet das Sein als das „unbestimmte Unmittelbare; es ist frei von der Bestimmtheit gegen das Wesen sowie noch von jeder, die es innerhalb seiner selbst erhalten kann. […] Weil es unbestimmt ist, ist es qualitätsloses Sein; aber an sich kommt ihm der Charakter der Unbestimmtheit nur im Gegensatze gegen das Bestimmte oder Qualitative zu. Dem Sein überhaupt tritt aber das bestimmte Sein als solches gegenüber; damit aber macht seine Unbestimmtheit selbst seine Qualität aus.“ G. W. F. Hegel, Logik I, S. 82. Doch selbst wenn wir das Sein als völlig unbestimmt denken könnten, würde diese Unbestimmtheit selbst zur Bestimmung des Seins werden.

Kap. 1: Methode und Begriffsklärung

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Sinne einer bloßen Existenz lässt sich also weder in der Vorstellung noch in der Untersuchung der konkreten Wirklichkeit durchhalten. Daher mag der Begriff der ‚bloßen Existenz‘ für logisch-formale Betrachtungen von Vorteil sein, für eine Untersuchung der Beschaffenheit der durch und durch bestimmten, konkret uns begegnenden Wirklichkeit scheint der inhaltlich bestimmte Begriff ‚Sein‘ adäquater. Bisher wurde die Frage gestellt, ob das Sein als bloße Existenz vorzustellen sei. Dies wurde verneint. Dann stellt sich jedoch die Frage, was denn nun unter dem Begriff ‚Sein‘ verstanden werden muss. Anders gefragt: Wenn sich das Sein nicht als Bezeichnung für die bloße Existenz verstehen lässt, sondern auch eine inhaltliche Bestimmung hat, worin besteht diese inhaltliche Bestimmung in ihrer ursprünglichen Form? Martin Heidegger gibt eine mögliche Antwort auf diese Frage, indem er auf die drei Stämme hinweist, welche unsere alltägliche Verwendung von ‚ist‘ prägen. Diese drei Stämme, die sich in unserer Verwendung von ‚Sein‘ noch heute zeigen, sind folgende: ‚Sein‘, ‚ich bin‘ und ‚war‘ bzw. ‚gewesen‘. Jeder dieser Stämme verweist jeweils auf einen eigenen Bedeutungshorizont, und erst zusammengenommen, lassen sie die umfassende Bestimmung von Sein verstehen: Die ganze Abwandlungsmannigfaltigkeit des Verbum ‚sein‘ ist durch drei verschiedene Stämme bestimmt. Die beiden zuerst zu nennenden Stämme sind indogermanisch und kommen auch im griechischen und lateinischen Wort für ‚sein‘ vor. 1. Das älteste und eigentliche Stammwort ist ‚es‘, sanskrit ‚asus‘, das Leben, das Lebende, das, was von ihm selbst her in sich steht und geht und ruht: das Eigenständige. Hierzu gehören im Sanskrit die verbalen Bildungen esmi, esi, esti, asmi. Dem entsprechen im Griechischen ἐιμί und εἶναι im Lateinischen esum und esse. Zusammen gehören: sunt, sind und sein. Bemerkenswert bleibt, daß sich in allen indogermanischen Sprachen von Anfang an das ‚ist‘ (ἔστιν, est …) durchhält. 2. Der andere indogermanische Stamm lautet bhû, bheu. Zu ihm gehört das griechische φύω, aufgehen, walten, von ihm selbst her zu Stand kommen und im Stand bleiben. Dieses bhû wurde bisher nach der üblichen und äußerlichen Auffassung von φύσις und φύειν als Natur und als ‚wachsen‘ gedeutet. Von der ursprünglicheren Auslegung her, die aus der Auseinandersetzung mit dem Anfang der griechischen Philosophie stammt, erweist sich das ‚wachsen‘ als aufgehen, das wiederum vom Anwesen und Erscheinen her bestimmt bleibt. Neuerdings bringt man die Wurzel φυ- in den Zusammenhang mit φα-, φαίνεσθαι. Die φύσις wäre so das ins Licht Aufgehende, φύειν, leuchten, scheinen und deshalb erscheinen (vgl. Zeitschrift für vergl. Sprachforschung, Bd. 59). Desselben Stammes ist das lateinische Perfekt fui, fuo; ebenso unser deutsches ‚bin‘, ‚bist‘, wir ‚birn‘, ihr ‚birt‘ (im 14. Jahrh. erloschen). Länger erhält sich noch neben den gebliebenen ‚bin‘ und ‚bist‘ der Imperativ ‚bis‘ (‚bis mein Weib, sei mein Weib‘). 3. Der dritte Stamm kommt nur im Flexionsbereich des germanischen Verbum ‚sein‘ vor: wes; a. ind.: vasami; germ.: wes an, wohnen, verweilen, sich aufhalten; zu ves gehören: ϝεστία, ϝάστυ, Vesta, vestibulum. Hieraus bildet sich im Deut-

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1. Teil: Propädeutikum

schen: ‚gewesen‘; ferner: was, war, es west, wesen. Das Particip ‚wesend‘ ist noch in an-wesend, ab-wesend erhalten. Das Substantivum ‚Wesen‘ bedeutet ursprünglich nicht das Was-sein, die quidditas, sondern das Währen als Gegenwart, An- und Ab-wesen. Das ‚sens‘ im Lateinischen prae-sens und ab-sens ist verloren gegangen. Meint ‚Dii con-sentes‘ die beisammen an-wesenden Götter? Aus den drei Stämmen entnehmen wir die drei anfänglichen anschaulich bestimmten Bedeutungen: leben, aufgehen, verweilen.17

Die drei Bedeutungsaspekte, die nach Heidegger den Seinsbegriff prägen, sind also Leben und Aufgehen (Bewegtsein und Entstehen), sowie das andauernde Verweilen (ein Vorhandensein oder Existieren). Ein jeder Versuch, das Sein und das Seiende ursprünglich bzw. griechisch zu verstehen, muss also zumindest diese Aspekte in Einklang bringen. B. Die Bewegung Vor Beginn der eigentlichen Untersuchung scheint es außerdem wichtig, eine kleine Übersicht über das Bedeutungsspektrum des Begriffs ‚Bewegung‘ zu geben. Die Dinge unserer Alltagserfahrung sind veränderlich, sie entstehen und vergehen. Diese Verfasstheit nenne ich ganz allgemein Bewegung. Bewegung benennt also jede Form von Veränderung, darunter fallen also u. a. das Werden, der Umschlag, der Wechsel und so weiter. Für diese Arbeit ist es unerlässlich, von der Vorannahme abzurücken, dass das Zuschreiben von Bewegung schon ein Seiendes voraussetzt, das sich bewegt, auch wenn wir den Begriff ‚Bewegung‘ im Alltag meist so verstehen. Denn dieses Verständnis von Bewegung setzt ein als unbewegt-unveränderlich bestimmtes Sein als Träger oder Grundlage der Bewegung schon voraus. Der Begriff ‚Bewegung‘ (κίνησις) darf aus demselben Grund auch nicht so verstanden werden, als ob er eine Bewegung unbewegter Elemente benennen wollte. ‚Bewegung‘ benennt auch nicht eine bloße Ortsveränderung unbewegter Seiender. Heidegger bietet in seinem Aufsatz ‚Vom Wesen und Begriff der φύσις‘ einen hilfreichen Hinweis auf die Gefahren oder unbeabsichtigten Folgen eines solchen Verständnisses von Bewegung: Wir Heutigen sind unter der Vorherrschaft des mechanischen Denkens der neuzeitlichen Naturwissenschaften geneigt, die Bewegtheit im Sinne der Fortbewegung von einer Raumstelle an die andere für die Grundform der Bewegung zu halten und alles Bewegte nach ihr zu ‚erklären‘. Diese Art der Bewegtheit – κίνησις κατὰ τόπον, Bewegtheit hinsichtlich des Ortes und Platzes – ist für Aristoteles nur eine unter anderen und in keiner Weise als die Bewegung schlechthin ausgezeichnet. Überdies gilt es zu beachten, daß der ‚Ortswechsel‘ in gewissem Sinne etwas anderes ist als die neuzeitlich gedachte Lageveränderung eines Massenpunktes im 17

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 75 ff.

Kap. 1: Methode und Begriffsklärung

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Raume. Τόπος ist das ποῦ, das Wo und Dort der Hingehörigkeit eines bestimmten Körpers; Feuriges gehört nach oben, Erdiges nach unten. Die Orte selbst oben – unten (Himmel-Erde) sind ausgezeichnet, durch sie bestimmen sich Abstände und Beziehungen, also das, was wir den ‚Raum‘ nennen, wofür die Griechen weder ein Wort noch einen Begriff haben.18

Es ist also für das Anliegen dieser Untersuchung zentral, dass der Begriff ‚Bewegung‘ im Rahmen dieser Arbeit ganz unverbindlich und ohne philosophisches Vorverständnis behandelt wird. Dieser Begriff verweist also nur darauf, dass ein Werden, ein Wechsel bzw. eine Veränderung stattfindet. Der Begriff ‚Bewegung‘ soll nichts weiter implizieren. Außerdem gibt es eine weitere Unterscheidung, welche die folgende Untersuchung beeinflusst, nämlich die Trennung von genuiner (substanzieller) und von akzidenteller Bewegung. Wenn so etwas wie genuine Bewegung zugestanden wird, sind Werden und Vergehen häufige Beispiele. Farbveränderungen oder Ortsveränderungen hingegen sind klassische Beispiele für akzidentelle Bewegungen. Der wesentliche Unterschied dieser Bewegungsformen liegt darin, wie der jeweilige Vorgang das sich Bewegende berührt. Werden und Vergehen im genuinen Sinne setzen kein unveränderliches Sein voraus, sondern alle Aspekte des Seienden entstehen durch die verschiedenen Bewegungen. So verstanden bringt substanzielle Veränderung das (Wesen des) Seienden erst hervor. Akzidentelle Veränderungen haben weniger weitreichende Folgen. Zumindest wird diese Art der Veränderung traditioneller Weise so verstanden, dass sie das Seiende nicht hervorbringt, sondern nur jene Eigenschaften, die nicht zum Sein des jeweiligen Seienden gehören. Die akzidentelle Bewegung impliziert die Möglichkeit einer strikten Trennung des identischen Seins von den konkreten, sich verändernden Bestimmungen. So werden Identität und Wesen sowie Verschiedenheit und Akzidenz jeweils miteinander verbunden. Doch die Unterscheidung von genuiner Bewegung und akzidenteller Bewegung ist nur dann sinnvoll, wenn ein identisches Sein als unveränderliche Grundlage der akzidentellen Bewegung vorausgesetzt wird, mag sie affirmiert oder geleugnet werden. Wenn wir von der These abrücken, dass das Zuschreiben von Bewegung etwas Bleibendes voraussetzt, kann auch nicht mehr zwischen substanzieller und akzidenteller Bewegung unterschieden werden. Dann wird jede Bewegung zu einer genuinen (bzw. substanziellen) Bewegung – insofern man die Realität von Bewegung zugesteht. Um auch einen historischen Überblick zu ermöglichen, werde ich im Folgenden kurz auf die verschiedenen Begriffe von Bewegung bei den Vorsokratikern, Platon und Aristoteles eingehen. Dies soll dazu dienen, dem 18

Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der φύσις, GA 9, S. 248.

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1. Teil: Propädeutikum

Leser eine knappe Übersicht über die komplexe Geschichte des Begriffes ‚Bewegung‘ in der griechischen Antike zu geben. Die κίνησις (lat. motio) kann jede Art der Veränderung bezeichnen. Parmenides spricht einmal vom ἀκίνητὸν (dem Unbewegten), wenn er das Sein als unbewegt charakterisiert.19 Ein ἀκίνητὸν (lat. immotum) ist dementsprechend als in jeder Hinsicht unveränderlich und selbstident zu verstehen. Auch Zenon verwendet diesen Begriff, um die parmenideische Leugnung der Veränderung zu verteidigen.20 Die ἀλλοίωσις (lat. alteratio) ist eine Veränderung, die nicht das Ding an sich betrifft, sondern nur eine Veränderung an ihm. Platon verwendet wohl zum ersten Mal diesen Begriff im technischen Sinne, wenn er im Theaitetos argumentiert, dass das πάντα ῥεῖ (alles fließt) nicht nur eine Translationsbewegung im Raum (φορά) impliziert, sondern auch ἀλλοίωσις.21 Der Unterschied zwischen φορά und ἀλλοίωσις besteht darin, dass die ἀλλοίωσις keine Ortsbewegung impliziert.22 Als Beispiele für ἀλλοίωσις führt Platon die Verfärbung und die Verhärtung ein.23 Die μεταβολή (lat. transmutatio, mutatio) wird im philosophischen Sinne nur von Platon und Aristoteles verwendet. Sie bezeichnet bei Platon alle Arten von Prozessen, die den Gegenstand verändern.24 Bei Aristoteles findet sich auch hier wieder eine differenzierte Auffassung, auf die ich im Folgenden genauer eingehen werde. Die γένεσις (lat. creatio, generatio) ist wohl eine der ältesten Bedeutungsprägungen von Veränderung und verweist auf das Werden eines Neuen im Unterschied zum Wandel eines schon Vorhandenen. Schon Hesiod verwendet diesen Begriff, um das Gewordensein der Welt auszudrücken. Erst durch Parmenides’ Argumentation wird die grundsätzliche Gewordenheit alles Seienden zweifelhaft. Somit stellt Parmenides hier einen Paradigmenwechsel im Umgang mit der γένεσις alles Seienden dar. Von manchen Eleaten wird Parmenides so gelesen, dass seine Argumente zwar die γένεσις des Seienden als solche leugnen, aber nicht jegliche Veränderung (z. B. Empedokles und Anaxagoras). Das Entstehen und Vergehen wird dann als Mischung und Trennung von Elementen verstanden, also als Ortsbewegung. Auch für Platon nimmt die γένεσις eine zentrale Stellung ein. Denn alles 19 DK28B8 38 (Ich zitiere die Fragmente der Vorsokratiker entsprechend der gängigen Nummerierung von Diels / Kranz). 20 DK29B4. 21 Platon, Theaitetos, 181b ff. 22 Platon, Theaitetos, 181cd. 23 Platon, loc.cit. 24 Platon, Phaidon, 78d sowie Timaios, 57a und Parmenides 162b.

Kap. 1: Methode und Begriffsklärung

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Entstandene, also alles, was eine γένεσις hat, ist vom wahren Sein – also den Ideen – zu unterscheiden. Die φθορά (lat. corruptio) ist der Gegenbegriff zur γένεσις und bezeichnet den Prozess des Vergehens. Bei den Vorsokratikern werden meist beide Konzepte zusammen bedacht, so wie das bei Anaximander der Fall ist. Parmenides hingegen leugnet nicht nur das Werden, sondern konsequenterweise auch das Vergehen. Die φορά benennt in aktivischer Verwendung den Ertrag von Arbeit oder das Reifen von Pflanzen und in passiver Verwendung bezeichnet sie die schwebenden Bewegungen der Himmelskörper. Der Begriff ‚φορά‘ bezeichnet bei Aristoteles die Bewegung im Raum im engeren Sinne.25 Die αὔξησις (lat. auctus) bezeichnet ein Größenwachstum bzw. eine Zunahme und wird erst von Aristoteles in die Reihe der philosophischen Begriffe der Veränderung aufgenommen. Er bezeichnet damit eine Vermehrung oder Verminderung der Quantität.26 Ganz allgemein kann gesagt werden, dass es bei Aristoteles mehrere Termini für verschiedene Aspekte dessen gibt, was wir hier als Bewegung bezeichnen, und dass er mehrere Möglichkeiten vorschlägt, diese Begriffe voneinander zu unterscheiden. Diese Begriffe, die in den meisten Aufzählungen das Bedeutungsspektrum der Bewegung abdecken, sind die ἀλλοίωσις (lat. alteratio), die κίνησις (lat. motus) und die μεταβολή (lat. mutatio). Die ἀλλοίωσις ist für Aristoteles eine Veränderung der Qualität. Diese Bewegung findet dann statt, wenn das wahrnehmbare Ding als Zugrundeliegendes unveränderlich bleibt, dieses sich aber hinsichtlich seiner Eigenschaften verändert.27 Hierbei handelt es sich um eine Veränderung zwischen konträren Gegensätzen (krank-gesund) oder neutralen Eigenschaften (eckig-dreieckig). Dies ist der Begriff der Veränderung, der bei den Vorsokratikern und bei Platon am häufigsten verwendet wurde, sowie jener Begriff der Veränderung, mit der die Seinskonzeption der Kategorienschrift am besten vereinbar ist. Κίνησις hingegen bezeichnet bei Aristoteles eher eine kontinuierliche Veränderung im Sinne einer Bewegung oder eines Prozesses, die etwas Mögliches verwirklicht.28 Ihr Gegenteil ist die Ruhe. Diese Form der Veränderung wird vor allem in der Physik untersucht. Die μεταβολή wiederum bezeichnet die Verwirklichung einer Anlage an einem Gegenstand in der Form eines Umschlagens: Sie ist für Aristoteles der zentrale metaphysische Veränderungsbe25

Aristoteles, Physik, 243a38, De Gen. et Corr., 319b32. Aristoteles, Metaphysik, 1169b11 f. 27 Aristoteles, De Gen. et Corr., 319b10. 28 Zur Kontinuität der κίνησις: Aristoteles, Physik, 219a10. Zur Verwirklichung des Möglichen: Aristoteles, Physik, 201a10. 26

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1. Teil: Propädeutikum

griff. Die μεταβολή kann in vier Arten unterschieden werden, und zwar je nachdem was von ihr betroffen ist. So kann der Ort von der μεταβολή betroffen sein – im Sinne einer Bewegung im Raum (φορά) –, aber auch die Qualität (ἀλλοίωσις), die Quantität (αὔξησις) oder das Wesen im Entstehen und Vergehen (γένεσις und φθορά). Was bei Platon noch die eigentliche Bedeutung der μεταβολή ausmachte – die Veränderung des Gegenstandes –, wird somit für Aristoteles zu einer Form von μεταβολή.29 Aristoteles verwendet diesen Begriff auch, um darauf hinzuweisen, dass das Werden dasjenige, woraus es entsteht, wesentlich verändert oder gar zerstört.30 In der Kategorienschrift definiert Aristoteles die κίνησις als die allgemeine Bezeichnung der Bewegung. Die anderen Begriffe bezeichnen spezifische Formen von κίνησις.31 Diese spezifischen Formen sind das Entstehen (γένεσις), der Untergang (φθορά), das Wachsen (αὔξησις), das Schwinden (μείωσις), der Eigenschaftswechsel (ἀλλοίωσις) und die Ortsveränderung (κατά τόπον μεταβολή). Hier zeigen sich also die ἀλλοίωσις und die μεταβολή als Formen der κίνησις.32 In der Physik hingegen wird die Ortsveränderung (κατά τόπον μεταβολή oder φορά) als die grundlegende Form der Bewegung bestimmt. Das Argument dafür ist, dass keine κίνησις ohne Ortsveränderung vorkommen kann.33 Wie so oft ist auch bei der Frage nach der Veränderung die Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen Begriffe in unterschiedlichen Texten von Aristoteles je etwas anders dargestellt.

C. Die Erfahrung der bewegten Existenz Im Laufe dieser Untersuchung werde ich immer wieder von der Erfahrbarkeit der Bewegung sprechen, also davon, dass sich die bewegte Existenz erfahren lässt. Auch dies bedarf einer Erklärung. Die Erfahrung wird als phänomenologische Betrachtung im weitesten Sinne verstanden. D. h. Erfahrung bezeichnet keine bloße Wahrnehmung, keine momentane Erfassung, die ein unreflektiertes Ergebnis eines bloßen Hinschauens wäre. Die Erfahrung ist weder ein singulärer sinnlicher Eindruck noch eine empirische 29

Aristoteles, Metaphysik, 1069b9–14. Aristoteles, Metaphysik, 1033a22. 31 Interessanterweise wird in der Physik ‚κίνησις‘ zumeist mit ‚Bewegung‘ übersetzt, in den meisten anderen Texten jedoch mit ‚Veränderung‘. Daher ist meine Verwendung des Begriffes ‚Veränderung‘ für jenes Allgemeine, das der Begriff ‚κίνησις‘ meint, nicht so ungewöhnlich wie es zunächst scheint. 32 Aristoteles, Kategorien, 15b. 33 Aristoteles, Physik, 260b15 ff. 30

Kap. 2: Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung

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Behandlung der objektiven Gegebenheiten. Das empirisch-sinnliche Erfassen objektiver Gegenstände fällt unter den Begriff der ‚Wahrnehmung‘. Der Begriff ‚Erfahrung‘ benennt hingegen eine andauernde sinnliche und reflektierende Auseinandersetzung mit dem sinnlich Gegebenen. Ihr Anspruch ist es, sich in dieser Auseinandersetzung so weit als möglich von Vorurteilen oder Hintergrundüberzeugungen zu befreien, um sich auf das Gegebene als solches einlassen zu können. Das Ideal einer Philosophie, die sich auf einen solchen Erfahrungsbegriff beruft, ist es, das Erfahrene in jedem Schritt der Überlegung präsent zu halten und jeden Schritt der Überlegung darauf hin zu überprüfen, ob er der Erfahrung noch entspricht, oder ob sich die Untersuchung von dem erfahrungsmäßig Gegebenen entfernt hat. Außerdem gilt es darauf zu achten, welche theoretischen Konstrukte und Prinzipien die Erfahrung in unserem Denken ver-formen, um sie zu einer Erkenntnis im klassischen Sinne zu machen. Das bedeutet, dass sich eine Erfahrung der Seienden als bewegte Existenz nicht in einem Moment der Beobachtung oder in einem Moment der Wahrnehmung machen lässt. Auf das Momentane beschränkte Beobachtungen führen vielmehr zu Wahrnehmungsurteilen der Art ‚Der Apfel ist rot.‘ Wahrnehmungen dieser Art können keine Erfahrung der bewegten Existenz ermöglichen, da Bewegung sich nur in der möglichst vorurteilsfreien Beobachtung über längere Zeiträume hinweg erfahren lässt. Möglichst vorurteilsfrei sind diese Beobachtungen jedoch nur dann, wenn in der Beobachtung auch die eigenen theoretischen Prämissen immer wieder kritisch hinterfragt werden. So lässt sich z. B. die Bewegung von Landmassen oder Bergen nur erfahren, wenn man zunächst die Möglichkeit einer solchen Bewegung einräumt. Ohne diese Offenheit, die nur in der Distanzierung von den eigenen Vorurteilen entstehen kann, wird man wohl kaum die Erfahrungen und Messdaten von ‚offensichtlich‘ unbeweglichen Landmassen oder Bergen auf die Möglichkeit ihrer Bewegung hin untersuchen.

Kapitel 2

Das gängige Vorverständnis und das neue Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung § 3 Das gängige Vorverständnis – Sein Das gängige ontologische Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung setzt die Trennung eines eigentlich wirklichen und unbewegten Seins von der uneigentlichen und bewegten Welt, die uns alltäglich begegnet, voraus. Die uneigentliche Welt der Bewegung steht dabei in einer on-

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tologischen Abhängigkeitsbeziehung zur eigentlichen Wirklichkeit des Seins. Diese Deutung des Verhältnisses von Sein und Bewegung führt zu der ontologischen Prämisse, dass es ohne Sein kein Werden geben kann. Ohne ein Sein als Grundlage, als Träger oder als Garant der Identität des bewegten Seienden gibt es also keine Bewegung. Das Sein wird in diesem Verständnis zur Grundlage alles Seienden und zum Garanten jeglicher Bewegung, wobei jegliche Bewegung dem Sein rein äußerlich bleibt. Das Sein wird so zum Gegenpol des Werdens – zwischen Sein und Werden gibt es keinen direkten Bezug mehr: Das Sein ‚ist‘, und insofern es ‚ist‘, kann es als solches nicht werden oder vergehen. Martin Heidegger stellt dieses gängige Verständnis folgendermaßen dar: Diese Scheidung und Entgegensetzung [als Sein und Werden] stehen am Anfang des Fragens nach dem Sein. Sie ist auch heute noch die geläufigste Beschränkung des Seins durch Anderes; denn sie leuchtet von einer in das Selbstverständliche verhärteten Vorstellung des Seins her, unmittelbar ein. Was wird, ist noch nicht. Was ist, braucht nicht mehr zu werden. Was ‚ist‘, das Seiende, hat alles Werden hinter sich gelassen, wenn es überhaupt je geworden ist und werden konnte. Was ‚ist‘ im eigentlichen Sinne, widersteht auch allem Andrang des Werdens.34

Das gängige Vorverständnis der Bewegung sieht also in der Bewegung ein abkünftiges, ein sekundäres Phänomen, welches ein ‚Sein‘ voraussetzt. Dieses Verständnis betrifft jede Form der Bewegung, also sowohl Veränderung, Werden und Vergehen als auch Zerfall, Mischung oder Ablösung usw. Jede Form der Bewegung setzt in diesem Vorverständnis etwas Unbewegtes voraus. Dieses Unbewegte kann entweder ein substanzieller Träger sein oder aus grundlegenden unbewegten Elementen bzw. unveränderlichen Atomen bestehen, deren Verbindung und Trennung die in unserer Erfahrung erscheinende Bewegung konstituieren. Diese Notwendigkeit einer unbewegten Grundlage der Bewegung gilt für alle Formen der Bewegung, von der akzidentellen Veränderung und der Vorstellung des Zusammentretens oder der Mischung der Elemente bis hin zur Vorstellung der Bewegung als eine Aktualisierung des Möglichen. Die Veränderung wird dementsprechend entweder als eine akzidentelle Veränderung an einem unbewegten Träger verstanden oder, wie bei Empedokles, als eine bloße Veränderung des Mischungsverhältnisses der unveränderlichen Elemente. Das Werden ist entsprechend entweder ein irgendwie begründetes Zusammentreten von unveränderlichen Elementen oder eine Verwirklichung einer Potenzialität eines identisch sich durchhaltenden Seins. Das Vergehen ist jeweils der umgekehrte Vorgang. Diese gängige Vorstellung der Bewegung steht im Gegensatz zur Vorstellung eines schlechthinnigen Werdens oder einer bewegten Existenz, die 34

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 103.

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nicht als eine Veränderung an einem Träger oder als eine Verwirklichung einer Anlage bzw. als Mischung oder Trennung elementarer Teilchen verstanden werden kann. Dieses genuine Werden wird von Aristotelikern als ‚substanzielle Veränderung‘ bzw. als ‚substanzielle Bewegung‘ bezeichnet und die Möglichkeit eines solchen Verständnisses von Veränderung und Werden wird in den meisten Fällen sofort mit der Begründung abgelehnt, dass jegliche Bewegung ein Sein voraussetzt.35 Denn, so wird meist argumentiert, schon unsere Rede von der Bewegung beweist, dass jede Bewegung ein Etwas als Grundlage voraussetzt, das sich bewegt. Nichtsdestotrotz scheint der Begriff der ‚φύσις‘ in seiner frühen Verwendung auf eine Konzeption der Bewegung zu verweisen, die kein unbewegtes Sein / Seiendes / Element / Atom als Träger voraussetzt. Diese Vorstellung des genuinen Werdens bringt jedoch einige theoretische Probleme mit sich, die im folgenden Abschnitt besprochen werden. A. Die theoretischen Ursachen des gängigen Vorverständnisses: die Aporien der Bewegung Das Problem des genuinen Werdens bzw. der bewegten Existenz besteht vereinfachend gesagt darin, dass unsere Erfahrung uns nichts letztlich Bleibendes zeigt und die Theorie nichts letztlich Bewegtes eindeutig erfassen kann. Dieser problematische Charakter der Bewegung für das Denken zeigt sich in logischer, ontologischer, ätiologischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht. Eine erste Möglichkeit, die Aporie der Bewegung zu behandeln, besteht darin, die logischen Konsequenzen und die impliziten Voraussetzungen von Veränderung bzw. von Werden zu analysieren: Wenn etwas entsteht, muss aus einem (noch) Nichtsein ein Seiendes werden, oder aus einem Seienden muss ein anderes (zuvor noch nicht gewesenes) Seiendes werden. Die Bewegung des Werdens ist widersprüchlich, da ein und demselben Ding als 35 Allerdings gibt es einige Stellen bei Aristoteles, die auf diese Vorstellung der genuinen Bewegung hindeuten. Beispielsweise kann hier das erste Buch der Physik, in dem das Materieprinzip und die Bewegung als grundlegend erachtet werden, sowie das erste Buch von De Gen. et Corr. herangezogen werden. Auch wenn manche Denker der Meinung sind, dass es in De Gen. et Corr. nur um die Frage nach Werden und Vergehen der Mischungen der vier Element geht und nicht um natürliche Seiende wie Menschen und Tiere (z. B. H. H. Joachim). M. F. Burnyeat widerlegt diese Auffassung in seiner Einleitung zu Frans de Haas und Jaap Mansfeld (Hrsg.), Aristotele’s on Generation and Corruption, S. 7 ff. Burnyeat ist der Auffassung, dass die in diesem Text angestellten Überlegungen zumindest auch das Werden und Vergehen der Substanzen betreffen. Er sagt: „The role of GC, we learn once again, is both to consider the elements and their mutual transformation and to study becoming and perishing in general.“ op.cit., S. 13.

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Werdendes sowohl Sein als auch Nichtsein zugesprochen werden muss. Der Vorgang der Veränderung hingegen ist widersprüchlich, weil einer bestimmten Eigenschaft sowohl Sein als auch Nichtsein zugesprochen werden muss. Das Problem der Bewegung kann aber zweitens auch ontologisch dargestellt werden: Wie kann Etwas Identität und somit Sein zugesprochen werden, wenn es durch die Zeit hindurch nicht es selbst bleibt? Die Identität ist ein zentrales Kriterium für das Zusprechen von Existenz. Für ein jedes Seiendes müssen Identitätskriterien angegeben werden können. Es muss also die Frage beantwortet werden können, was dieses Seiende zu genau diesem Seienden macht. Ohne Identität, d. h. ohne die Möglichkeit, dass Etwas ein genau bestimmtes Etwas ist und immer genau dieses Etwas ist, macht es für viele Philosophen keinen Sinn, ihm ein Sein zuzusprechen. Würde sich nun das Seiende in seinem Wesen verändern (im Sinne einer genuinen Bewegung), könnte ihm keine Identität zugesprochen werden und somit müsste zugleich auch seine Existenz als ein bestimmtes Etwas, also sein Sein, geleugnet werden. Die ätiologische Art, die Aporie der Bewegung darzustellen, beschäftigt sich mit der Frage nach dem Ursprung des Entstehenden. Bewegung im Sinne von Entstehen scheint vorauszusetzen, dass aus etwas noch nicht Seiendem, also aus einem Nichts, ein Etwas entsteht. Das würde ein unverursachtes Entstehen, d. h. ein Entstehen aus dem Nichts implizieren. Es ist jedoch notwendig, dass eine Wirkung immer auch eine ihr entsprechende Ursache hat. Um diese Aporie zu lösen, kann nun entweder ein weiteres Sein als Ursache des Entstehens angenommen werden, eine Annahme, die in einem unendlichen Regress endet, oder der Vorgang der Bewegung muss geleugnet bzw. als bloß scheinbar verstanden werden. Anders kann das Problem der Bewegung aus der Perspektive der Möglichkeit von Erkenntnis bzw. als Möglichkeit von Wahrheit dargestellt werden.36 Das Problem der Bewegung führt zu folgender Frage: Wie kann Etwas wahrhaftig erkannt werden, das sich immer weiter bewegt und wandelt? Die phänomenale Welt erscheint veränderlich; diese Tatsache wurde noch von keinem Denker geleugnet. Die Frage, die sich stellt, ist folgende: Welchen Status hat diese Veränderlichkeit? Ist die Veränderlichkeit die grundlegende Bestimmung des Seienden, oder ist sie nur Schein? Denn auch wenn 36 Für eine sehr ausführliche und anschauliche Darstellung dieser Variante des Problems der Veränderung vgl. Platon, Kratylos, 439c ff. Ein ähnliches Argument findet sich auch im Theaitetos. Hier argumentiert Platon, dass von etwas, das nur wird, ohne Überdauerndes an sich zu haben, nicht einmal gesprochen werden kann. Der Begriff eines Werdenden ohne Sein ist daher für Platon inkoherent. Platon, Theaitetos, 182c–183b.

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die Dinge sich verändern, erkennen wir sie wieder und nennen sie beim selben Namen. Das bedeutet, dass die veränderlichen Dinge zumindest in einer gewissen Hinsicht selbst gleichbleibend sein müssen, da sie als diese Dinge wiedererkannt werden. Zugleich gibt es aufgrund der Veränderung einen unleugbaren Unterschied. Weder Zerfall, Mischung, Ablösung oder Veränderung noch das Werden lassen sich klar und widerspruchsfrei denken, wenn diese Bewegungen nicht als bloß scheinhaft oder als Bewegungen an einem unbewegten Träger verstanden werden. Die eigentliche Wirklichkeit bzw. der unbewegte Träger garantieren dann die Identität des eigentlich Seienden, ermöglichen Erkenntnis und Wahrheit und lösen die Probleme des Entstehens aus dem Nichts: Der Träger bzw. das unentstandene Sein wird zur Grundlage des Entstehens. Die akzidentelle Veränderung sowie die Vorstellung des Werdens als einer Mischung oder als Aktualisierung einer Potenzialität oder der Trennung des eigentlichen Seins vom scheinbaren Seienden sind philosophische Ansätze, die u. a. das Ziel verfolgen, das Verhältnis von Sein und Bewegung theoretisch zu vereinen. Das Ziel dieser Versuche der Verbindung von Sein und Bewegung ist es, die Erfahrung der Bewegung theoretisch widerspruchsfrei einzuholen und somit die Erfahrung der Veränderung denkbar zu machen, ohne sich dabei in logische Widersprüche zu verstricken. Diese Versuche der Verbindung von Sein und Bewegung haben also nicht eine Beschreibung der Welt der Erfahrung oder der konkreten einzelnen Seienden zum Ziel, sondern vielmehr eine widerspruchsfreie Theorie. Der Preis, der für die Vereinbarkeit der Erfahrung der Bewegung mit dem Denken zu zahlen ist, ist die Preisgabe der Vorstellung der genuinen Bewegung. Dies hat zur Folge, dass eine Welt jenseits unserer Erfahrung zum Träger und Garanten der bloß scheinbaren Welt der Veränderung wird, die wir erfahren. Der Preis, der für diese Lösung zu zahlen ist, ist also letztlich ein Verlust an Weltlichkeit. Die Vorstellung eines unveränderlichen Trägers bzw. eines zeitlosen Seins löst somit die theoretischen Widersprüche der Bewegung, widerspricht jedoch der erlebten Erfahrung der Welt. Eine jede Philosophie, die unsere alltägliche Erfahrung der Veränderung abwertet, als nicht eigentlich wirklich betrachtet oder gar leugnet, braucht gute Belege für diese These. Diese Belege wurden seit jeher von Vernunft und Logik erbracht und unser Vertrauen in Vernunft und Logik ist so groß, dass wir lieber unserer Erfahrung misstrauen als ihren Prinzipien. So wird die Vernunft zu unserer einzigen Verbindung zum eigentlichen Sein, während uns die Sinne nur eine scheinbare Wirklichkeit zeigen. Diesen Zusammenhang werde ich im Folgenden an dem konkreten Beispiel der platonischen Ideenlehre erläutern. Platon war nämlich in seiner

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Vermittlung von Sein und Bewegung zunächst nicht darum bemüht, die konkreten und bewegten Seienden zu erkennen, sondern er war vielmehr daran interessiert, anhand einer Theorie der Erkenntnis des intelligiblen Seins Gewissheit zu erlangen. Außerdem wurde der platonische Versuch, Erkenntnis zu erlangen, nicht mit Blick auf das konkrete Seiende entworfen, sondern mit Blick auf den menschlichen Charakter / Geist. B. Ein Beispiel der scheinbaren Vermittlung von Sein und Bewegung im gängigen Vorverständnis: Platon In diesem Abschnitt möchte ich mich mit einem klassischen Beispiel für den Versuch einer scheinbaren Vermittlung von Sein und Bewegung beschäftigen. Diese Vermittlung ist bloß eine scheinbare, da der Unterschied von Sein und Bewegung Voraussetzung für die Vermittlung bleibt und in der Vermittlung nicht aufgehoben wird. Mein Beispiel für einen solchen Versuch der Vermittlung ist die platonische Ideenlehre in den früheren und mittleren Schriften.37 Platon scheint hier die parmenideische Trennung von Sein und Wandel beizubehalten. Doch er verbindet diese Bereiche durch die Konzepte von Teilhabe und Wiedererinnerung und ermöglicht so eine Verbindung des Scheinhaften und durch die Sinne Vermittelten mit den unbewegten und durch die Vernunft vermittelten Ideen. Dieser Versuch, Sein und Bewegung zu vermitteln, setzt jedoch den grundlegenden ontologischen Unterschied von unveränderlichem Sein und dem kontinuierlich sich Bewegenden schon voraus. Dieses Verhältnis wird in seiner Platonischen Ausformung jedoch nicht unter Berücksichtigung des konkreten Seienden gewonnen, sondern ist eher als Analogie zum Verhältnis des menschlichen Charakters zu den Handlungen dieses Menschen (als Ausdruck oder Verwirklichung des Charakters) konzipiert. Aristoteles berichtet uns, dass Platon in seiner philosophischen Erziehung immer wieder mit der Frage nach Bewegung und Veränderung in Berührung kam: „Da er nämlich von Jugend auf mit Kratylos und den Ansichten Heraklits bekannt geworden war, nämlich daß alles Sinnliche in beständigem Fluss sei, und daß es keine Wissenschaft davon geben könne, so blieb er auch später bei dieser Annahme.“38 In dieser Beobachtung des Aristoteles zeigt sich die erkenntnistheoretische Problematisierung der Thesen Heraklits 37 In seinen späteren Schriften – v. a. Parmenides, Sophistes und Timaios – macht Platon einen weiteren Versuch der Vermittlung von Sein und Bewegung und betont dabei die Bewegung stärker. Leider kann ich in dieser Arbeit aus Platzgründen nicht in angemessener Weise auf diese platonischen Spätschriften eingehen, die ein ganz anderes und viel dynamischeres Bild der Ideenlehre zeichnen. 38 Aristoteles, Metaphysik, 987a32.

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durch Platon. Platon leugnet zwar die ontologische Realität der Veränderung nicht. Er stößt sich jedoch an den erkenntnistheoretischen Konsequenzen eines solchen Weltverständnisses. Das Problem, das ihn beschäftigt, ist, dass in einer sich verändernden Welt keine gültigen Bestimmungen vorgenommen und daher über diese Welt keine wahrheitsfähigen Aussagen gemacht werden können. Bewegung ist also für Platon nicht primär aus logischen Gründen problematisch (wie für Parmenides), sondern weil Bewegung letztlich die Möglichkeit von gültiger Argumentation und somit auch objektiver Erkenntnis untergräbt.39 Platons Lösung des erkenntnistheoretischen Problems der Bewegung besteht darin, die Welt der Bewegung als eine Welt zwischen Sein und Nichtsein zu definieren, von der es nur Meinung, aber kein Wissen geben kann. So kann Platon der Veränderung eine gewisse Realität zugestehen, ohne dabei die Möglichkeit letzter und gewisser Erkenntnis aufgeben zu müssen. In der Politeia erläutert Platon dieses Verhältnis von Sein und Nichtsein, mit Bezug auf ihre jeweilige Erkennbarkeit, folgendermaßen: – Ἱκανῶς οὖν τοῦτο ἔχομεν, κἂν εἰ πλεοναχῇ σκοποῖμεν, ὅτι τὸ μὲν παντελῶς ὂν παντελῶς γνωστόν, μὴ ὂν δὲ μηδαμῇ πάντῃ ἄγνωστον; […] – Εἶεν·εἰ δὲ δή τι οὕτως ἔχει ὡς εἶναί τε καὶ μὴ εἶναι, οὐ μεταξὺ ἂν κέοιτο τοῦ εἰλικρινῶς ὄντος καὶ τοῦ αὖ μηδαμῇ ὄντος, – Mεταξύ· – Οὐκοῦν εἰ ἐπὶ μὲν τῷ ὄντι γνῶσις ἦν, ἀγνωσία δ᾽ἐξ ἀνάγκης ἐπὶ μὴ ὄντι, ἐπὶ τῷ μεταξὺ τούτῳ μεταξύ τι καὶ ζητητέον ἀγνοίας τε καὶ ἐπιστήμης, εἴ τι τυγχάνει ὂν τοιοῦτον; – Πάνυ μὲν οὖν . – Ἆρ᾽ οὖν λέγομέν τι δόξαν εἶναι; – Πῶς γὰρ οὔ;40 – So wissen wir mit Sicherheit, auch wenn wir es aus allen Richtungen betrachten, dass das vollkommen Seiende auch vollkommen erkennbar ist und, dass das nicht Seiende in keiner Weise erkennbar ist. […] – So. Wenn nun etwas so bestimmt ist, sowohl zu sein als auch nicht zu sein, würde es dann nicht in der Mitte zwischen dem Seienden und dem Nichtseienden liegen? – In der Mitte. – Wenn sich nun die Erkenntnis auf das Seiende bezieht und die Unkenntnis notwendigerweise auf das Nichtseiende, ist für das Dazwischen also etwas zwischen Kenntnis und Unkenntnis zu suchen, wenn es so etwas gibt. 39 40

Vgl. Platon, Kratylos, 439b ff. Platon, Politeia, 477a–b.

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– Sehr wohl. – Nennen wir nun so etwas nicht Meinung? – Wie sollten wir nicht.41

Das Dazwischenliegende, von dem es nur Meinung geben kann, ist zwar nicht letztlich seiend und somit nicht letztlich erkennbar, aber es ist auch nicht völlig unerkennbar und somit nicht Nichtsein.42 Die alltägliche Welt unserer Erfahrung liegt zwischen erkennbarem Sein und unerkennbarem Nichtsein und erschließt uns letztlich bloß ungewisse Meinungen. An einer späteren Stelle der Politeia verknüpft Platon diese Argumentation über den Status der Meinung mit der Frage nach dem Werden: καὶ δόξαν μὲν περὶ γένεσιν, νόησιν δὲ περὶ οὐσίαν: καὶ ὅτι οὐσία πρὸς γένεσιν, νόησιν πρὸς δόξαν […].43 Und die Meinung betrifft das Werden, die Erkenntnis die οὐσία; und wie sich das Sein zum Werden verhält, so verhält sich das Wissen zur Meinung, […].

Eine sich genuin bewegende Welt kann nicht Fundament wahrer Erkenntnis sein, denn Erkenntnis im Sinne der ἐπιστήμη kann nichts Veränderliches als Erkenntnisobjekt haben. Die Erkenntnisobjekte der ἐπιστήμη liegen jenseits des Werdens und damit auch jenseits des bloßen Meinens (δόξα). Platon beschäftigt sich also nicht direkt mit der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewegung, sondern vielmehr mit der Frage nach der Erkennbarkeit, der Beschaffenheit und der Lehrbarkeit von Ideen. Die Frage nach der Bewegung stellt sich daher in den mittleren Dialogen hauptsächlich als ein Aspekt der Frage nach der ἐπιστήμη und nicht als eine Frage nach der Beschaffenheit der konkreten Seienden. Doch wie gelangt Platon zu der Vorstellung, dass die unveränderlichen Ideen als Urbilder der abgebildeten und bewegten Wirklichkeit zur Grundlage von ἐπιστήμη werden können? In seinen frühen, aporetischen Dialogen bespricht Platon zunächst hauptsächlich diverse tugendhafte Handlungen und fragt nach dem Grund, der diese so verschiedenen Handlungen zu Instanziierungen einer einzigen Tugend macht: Warum nennen wir diese und jene Handlung gut? Weil sowohl diese als auch jene Handlung, so lautet Sokrates’ spätere Antwort, dem Was-Sein des Guten entsprechen. Um also auf die Frage ‚Was ist Tapferkeit?‘ antworten zu können, müssen wir jene Handlungen betrachten, die als tapfer gelten, um herauszufinden, was Tapferkeit im eigentlichen Sinne ist. Dahinter steht der Gedanke, dass alles, was mit demsel41 Ich halte mich in der Übersetzung der platonischen Texte weitgehend an die Übersetzung Schleiermachers. Die wenigen Veränderungen, die ich vornehme, dienen nur dazu, missverständliche Begriffe zu vermeiden und die Verständlichkeit zu erleichtern. 42 Vgl. Platon, Politeia, 478e. 43 Platon, Politeia, 534a.

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ben Namen benannt wird, auch etwas Gemeinsames an sich haben muss. Wie unterschiedlich die verschiedenen Handlungen, die tapfer genannt werden, auch sein mögen, in einer Hinsicht müssen sie eine Gemeinsamkeit aufweisen, die mit der Bezeichnung ‚tapfer‘ benannt werden kann. Sobald wir dieses Gemeinsame voll erfasst haben, besitzen wir eine Definition oder einen Begriff der ‚Tapferkeit‘. Diesen Begriff, der für alle Einzelfälle gilt, aber nicht in den Einzelfällen aufgeht, nennt Platon in den frühen Dialogen das ‚was es ist‘ (ὃ ἔστιν) oder ‚was es selbst ist‘ (αὐτὸ ὃ ἔστιν).44 Wenn Sokrates also in den Dialogen nach dem ὃ ἔστιν fragt, fragt er nach jenen Bestimmungen, die auf alle Einzelfälle einer Art zutreffen und die nur auf die Fälle dieser Art zutreffen. Er fragt nach dem Sein der tugendhaften Handlung und nicht nach dem Prozess des tugendhaften Handelns selbst. Es sind somit nicht die konkreten tugendhaften Handlungen, die Platon interessieren, sondern er sucht nach dem Aspekt oder Anteil, der allen tugendhaften Handlungen ihre gemeinsame Qualität verleiht und sie von anderen Arten von Handlungen unterscheidet. Es werden in den frühen Dialogen meist mehrere Bestimmungen des, was es ist‘ der zu untersuchenden ἀρετή vorgeschlagen und dann formal und inhaltlich geprüft, indem Implikationen und Konsequenzen der jeweiligen Definitionsvorschläge ausgearbeitet und kritisiert werden. Dieses Vorgehen ist deswegen erfolgreich, weil wir nach Platon immer schon ein Vorverständnis der zu untersuchenden Tugend haben, an das wir uns mit Hilfe der dialektischen Hebammenkunst wieder erinnern können.45 Es ist uns so, im Fall eines geglückten Dialoges, zumindest möglich, zu beurteilen, ob der 44 Eben dieses ‚was es ist‘ wird in den späteren Dialogen zur Idee im technischen Sinne. Im Euthyphron verwendet Platon den Begriff ‚Idee‘ wohl zum ersten Mal im Sinne der Ideenlehre, und zwar im Zusammenhang mit der Frage nach der Bestimmung der Frömmigkeit. Der Begriff ‚ἰδεα‘ wird hier verwendet, um auszudrücken, dass das Wesen der Frömmigkeit bestimmt werden soll und es nicht darum geht, einzelne Beispiele anzuführen. In den frühen Dialogen wird der Begriff ‚Idee‘ zumeist noch im alltäglichen Sinne verwendet. Der Begriff steht ursprünglich für das Sehen oder Wahrnehmen im Allgemeinen. Der Begriff ‚ἰδεα‘ ist mit der Verbwurzel ἰδ- (Fιδ-) mit der Bedeutung sehen bzw. erblicken verbunden. Platon verwendet außerdem noch die Begriffe ‚ἐιδος‘ (Gestalt, Form), ‚γενος‘ (Geschlecht, Gattung), ‚φυσις‘ (Natur, Wesen) anstelle von ἰδεα, ohne diese Begriffe klar voneinander abzugrenzen. 45 Auch wenn Platon immer wieder danach fragt, ob die Tugend nun ein Wissen sei oder nicht, und somit gleichzeitig fragt, ob sie auch lehrbar sei oder nicht, lässt die Tatsache, dass Platon in dieser Frage zu keinem endgültigen Schluss kommt, die Auslegung zu, dass die ἀρετή dem Menschen zumindest in einem genauer zu bestimmenden Sinn auch in der Seele gegeben sein muss (z. B. als Anlage oder als Möglichkeit zur Erlangung dieser speziellen Form von praktischem Wissen) vgl. Platon, Protagoras.

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jeweilige Begriff unserem Vorverständnis entspricht. In den frühen Dialogen geht es also letztlich darum, uns an unser Vorwissen zu erinnern, es explizit zu machen und es in einen möglichst vollständigen Begriff der jeweiligen ἀρετή zu überführen, also das ὃ ἔστιν der jeweiligen Tugend so gut wie möglich zu erkennen.46 Diese moralisch-epistemische Fragerichtung ist die Grundlage der ontologischen Ideenvorstellung der mittleren Dialoge: Alle Seienden, die eine gemeinsame Qualität bzw. gemeinsame Qualitäten teilen, sind Abbilder der Idee dieser Qualität(en). In der mittleren Periode treten also im Wesentlichen die Ideen als der Gegenstand der Untersuchung an die Stelle der Tugenden. Während zunächst eine Handlung Anteil an einer gewissen Tugend hatte, weil sie von jemandem ausgeführt wurde, der diese Tugend als Charakterzug aufwies (ob diese Tugend nun erlernt wurde oder wesensmäßig angelegt war, ist hier unwichtig), wird nun die Beschaffenheit alles Seienden in strukturell ähnlicher Weise erklärt: Die bewegte Welt wird zum Ausdruck der eigentlich wirklichen Ideenwelt, wobei die Ideen eben jene Qualitäten aufweisen, denen wir abbildhaft in der bewegten Welt begegnen. Dieses Erklärungsmuster ist analog zu dem Verhältnis der tugendhaften Handlung als Ausdruck des tugendhaften Charakters (einer tugendhaften ψυχή) zu deuten. So wie die einzelne tugendhafte Handlung nur konkret-singulärer Ausdruck der eigentlichen charakterlichen Tugend des Handelnden ist, so sind Schönheit, Güte o. Ä. eigentlich in der Idee verortet, und das konkretsinguläre schöne oder gute Seiende ist nur Ausdruck eben dieser Idee. Die Ideenlehre kann also am Leitfaden des Verhältnisses von Charakter und Handlungen verstanden werden, wobei die konkret-singulären Handlungen Ausdruck des jeweiligen Charakters sind. Dieses Muster legt Platon der ontologischen Untersuchung der Wirklichkeit zugrunde, ohne dabei die Parallelisierung von Charakter / Geist und Idee sowie ‚Handlung als Instanziierung der Charaktertugend‘ und ‚abgebildetes Seiendes‘ explizit zu machen. Wird die Ideenlehre so gedeutet, führt dies zu dem Schluss, dass Platons Interesse im Rahmen seiner theoretischen Untersuchungen nicht den konkreten Seienden gilt, sondern der begrifflich exakten Bestimmung von abstrakten Eigenschaften wie Tugend, Schönheit u. Ä. Erst in einem zweiten Schritt wird das Erklärungsmuster, das im Ausgang von einer Reflexion auf den Charakter gewonnen wurde, auf die konkrete Wirklichkeit übertragen. 46 Dies zeigt sich an der engen Verbindung zwischen ἀρετή und Wissen, die in den frühen Dialogen immer wieder anklingt. (So spricht Platon z. B. im Charmides davon, dass die Bessonnenheit ein bestimmtes Wissen sein könnte, 167a.) Die Befähigung tugendhaft zu handeln, hängt also in irgendeiner Weise mit dem Wissen davon, was tugendhaft ist, zusammen. Zur Verbindung von Tugend und Wissen vgl. auch Menon, 87c–89a, Gorgias, 460a f., Laches, 194c ff., oder Protagoras, 360d ff.

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Dies geschieht wiederum nicht, um die konkreten Seienden zu verstehen, sondern um die Möglichkeit einer Verwirklichung des objektiv Idealen (z. B. des idealen Staates) in einer veränderlichen Welt zu begründen. C. Nietzsches Kritik am gängigen Vorverständnis Nachdem nun das gängige Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung behandelt wurde, möchte ich eine Kritik an diesem Denken vorbringen, um genauer aufzuzeigen, welche Schwächen das gängige Verständnis hat und in welchen Bereichen es möglicherweise durch ein anderes Verständnis ergänzt werden sollte. In dieser Kritik orientiere ich mich an Nietzsche, dessen Werk wesentlich durch die Kritik an jeglicher Form des Seinsdenkens, also an jeder Form des Essentialismus, geprägt ist. Hier ein Beispiel der Kritik Nietzsches am gängigen Vorverständnis: Was mich am gründlichsten von den Metaphysikern abtrennt, das ist: ich gebe ihnen nicht zu, daß das ‚Ich‘ es ist, was denkt: vielmehr nehme ich das Ich selber als eine Construktion des Denkens, von gleichem Range, wie ‚Stoff‘ ‚Ding‘ ‚Substanz‘ ‚Individuum‘ ‚Zweck‘ ‚Zahl‘: also nur als regulative Fiktion, mit deren Hülfe eine Art Beständigkeit, folglich ‚Erkennbarkeit‘ in eine Welt des Werdens hineingelegt, hineingedichtet wird.47

Sowohl das Ich als auch die Substanzen, Dinge und Individuen sind für Nietzsche nur regulative Fiktionen, die in eine Welt des Werdens hineingedichtet werden. Sowohl die Vorstellung eines objektiv-unbewegten Seins als Träger der Welt (Substanz u. Ä.) als auch jene Vorstellung eines subjektivunbewegten Seins als Träger der Erfahrung (Ich) verleiten uns nur dazu, der Welt der Bewegung auf eine völlig verdrehte Art und Weise zu begegnen. Durch diesen vom Geist bzw. von der Vernunft verursachten Irrtum geprägt, meinen wir in der beweglich-sinnlichen Welt nur Scheinhaftes zu entdecken. In der Philosophie wird dieser Irrtum der Scheinhaftigkeit des Begegnenden zum (scheinbar) festen Boden und zum Grund, auf dem wir denkend stehen: Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann: – wir finden Gründe über Gründe dafür, die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im ‚Wesen der Dinge‘ verlocken möchten. Wer aber unser Denken selbst, also ‚den Geist‘ für die Falschheit der Welt verantwortlich macht […] ein Solcher hätte mindestens guten Anlass, gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen zu lernen: hätte es uns nicht bisher den allergrössten Schabernack gespielt?48 47 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA Bd. 11, S. 526. 48 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA Bd. 5, S. 52.

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Der Grund unseres Missverständnisses liegt in der Vernunft, im Geist begründet. Dieser ist es, der uns zu Mutmaßungen über das Wesen der Dinge verlockt. Doch woran liegt es, dass uns das Denken eine Welt von Wesenheiten vorgaukelt, wenn alles, was wir erfahren, Veränderung und Werden ist? Nietzsche ist der Meinung, dass es die Grammatik der indoeuropäischen Sprachen ist, die uns dazu verführt, überall nach dem Wesen des Seienden zu suchen. Nietzsche ist der Meinung, dass es die Form des Urteils (‚S ist p‘) ist, die suggeriert, es gäbe ein Zugrundeliegendes, das Träger von Eigenschaften ist. Indem die Grammatik uns zwingt, in der Beschreibung der Welt sowohl Subjekte als auch Attribute zu verwenden, legt sie uns nahe, dass es etwas gibt, das dem Satzsubjekt entspricht und etwas anderes, das den Attributen entspricht. Die Suche nach dem Wesen und der Substanz der Dinge ist eine Suche nach dem, worauf das Satzsubjekt referiert, also nach dem, was dem Satzsubjekt in der Welt entspricht. Doch dieses Problem trifft nicht nur die Philosophen, die sich mit dem aristotelischen Begriff der Veränderung an einem Träger auseinandergesetzt haben. Auch schon im alltäglichen Sprechen über Bewegungen zeigt sich dieses Problem. Sobald ich von der Veränderung von Etwas spreche, unterstellt dieses Sprechen durch seine grammatische Struktur sofort ein Seiendes, das sich im Vorgang der Veränderung befindet, an dem also die Veränderung stattfindet. Die deutsche Sprache scheint also gar nicht dafür geeignet zu sein, ein sich grundlegend Veränderndes auszudrücken. Doch ist es fraglich, ob es wirklich die deutsche Sprache bzw. die indogermanischen Sprachen sind, die einen solchen Ausdruck unmöglich machen. Es könnte doch auch sein, dass unser Verständnis von Sprache als ein Medium zur Informationsvermittlung, welches mit Hilfe von Urteilen die Wirklichkeit abbildet, zu einseitig ist. So gibt es viele Formen des Sprechens, die nicht die Struktur ‚S ist p‘ aufweisen (z. B. Es regnet. Oder: Heute ist Montag.). Außerdem gibt es Weisen des Sprechens (wie z. B. die Dichtung), die nicht notwendigerweise versuchen, Tatsachen mit dem Anspruch objektiver Gültigkeit sprachlich nachzubilden. Solange wir aber nur das so bestimmte abbildende Urteil als Sprache gelten lassen, verstricken wir uns in jene Probleme, auf die Nietzsche hinweist. Das Problem an dieser Vermengung von Urteil, Grammatik, Logik und Vernunft als einziger Weg zur Erkenntnis ist, dass in keinem Denken verbürgt oder bewiesen wurde, dass die Struktur der Grammatik irgendeinen direkten Bezug zur Welt oder zur Wahrheit hat; dass also dem Satzsubjekt – dem bleibenden Träger der Aussage, von dem wechselnde Eigenschaften prädiziert werden können – irgendetwas in der Welt entspricht. Es ist nirgends bewiesen, dass es das Sein als Träger der Bewegung auch außerhalb

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der Sprache gibt – ja, so ein Beweis wurde noch nicht einmal versucht:49 Die Sprache des Logos ist die Sprache der Abstraktion, welche signifikante Merkmale aus ihrem Kontext isoliert; Begriffe wie Kausalität, Raum, Zeit verlieren ihre lebensweltlich-konkrete Ausfüllung, Erfahrungszusammenhänge transformieren sich in Strukturgefüge und Kräfteverhältnisse. Abstraktion ermöglicht Allgemeinheit, die das Vielfältig-Besondere vereinheitlicht.50 Diese Sprache ermöglicht Wissen über allgemeine Zusammenhänge und sie ermöglicht Wissenschaft, aber ob sie eine Erkenntnis des konkreten singulären Seienden ermöglicht oder eine solche Erkenntnis nicht vielmehr behindert, ist für Nietzsche zumindest noch ungeklärt. Und wie sind wir bisher mit diesem Problem umgegangen? Nietzsche meint, dass wir weiterhin einfach an die Grammatik und deren Implikationen glauben, ohne diesen Glauben weiter zu untersuchen: „Grundlösung: wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe, die Sprache ist auf die aller naivsten Vorurtheile hin gebaut, nun lesen wir Disharmonien und Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachlichen Form denken – […].“51 Dieser Glaube an das vernünftige Urteil, an die Logik, welche die Wahrheit des Urteils garantieren soll, und somit der Glaube an eine der Grammatik des Urteils entsprechenden Struktur der Welt ist das große Vorurteil der Philosophen: „Gerade die Philosophen wissen sich am schwersten vom Glauben frei zu machen, daß die Grundbegriffe und Kategorien der Vernunft ohne Weiteres schon ins Reich der metaphysischen Gewißheiten gehören: von Alters her glauben sie eben an die Vernunft als an ein Stück metaphysischer Welt selbst, – in ihnen bricht dieser älteste Glaube wie ein übermächtiger Rückschlag immer wieder aus.“52 Die Struktur der Grammatik prägt unser vernünftig-urteilendes Denken und führt uns zu dem Schluss, dass die Wirklichkeit substanziell verfasst sein muss. Diese Beschreibung der Wirklichkeit widerspricht aber unserer Erfahrung. Denn in der Erfahrung zeigt sich nirgends ein ewig unveränderlich Bleibendes. Angesichts dieser Tatsache müssen wir uns die Frage stellen, welches Medium angemessener ist, um die konkrete Wirklichkeit zu 49 Die einzige Möglichkeit eine Verbindung zwischen der Struktur der Sachverhalte und der Struktur des Urteils herzustellen, ist eine extreme Form der Adäquationstheorie bzw. eine Theorie der Identität der begrifflichen und der substanziellen Formen. Unter der Annahme, dass es zwischen Begriffen und Dingen eine direkte Entsprechung gibt (wie es Aristoteles zumindest in der Kategorienschrift wohl vertreten hat) oder dass die Urteile die Welt (in ihrem Wesen) abbilden, lässt sich für eine Entsprechung der Struktur des Urteils und der Struktur der Welt argumentieren. 50 Emil Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 52. 51 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA Bd. 12, S. 193. 52 Friedrich Nietzsche, op.cit., S. 237 f.

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erkennen: die an Grammatik und Urteil orientierte urteilende Vernunft oder unsere Erfahrung mit dem konkreten Seienden. Wenn wir dann nach der Beschaffenheit des uns nur in der Erfahrung gegebenen konkreten Seienden fragen, sollten wir nicht eher den Ergebnissen der Erfahrung folgen als den Schlüssen aus der Untersuchung von Grammatik und Logik? Diese Orientierung der Untersuchung des konkreten Seienden an der Erfahrung ist jedoch insofern problematisch, als ein Denken nur dann als vernünftiges Denken gilt und als Denken nur akzeptiert wird, wenn es dieser grammatischen Struktur, also der Struktur von Urteil und Vernunft, folgt. Wer dieser grammatischen Struktur der Sprache im Denken nicht folgt und so z. B. nicht das Sein als Grundlage der Veränderung voraussetzt, wie es uns die grammatische Struktur des Urteils nahelegt, sagt Unverständliches. Denn „[d]as vernünftige Denken ist ein Interpretieren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können“53. Bei aller Kritik dieser Seinsvorstellung muss jedoch mit Nietzsche betont werden, dass diese Seinsvorstellung auch lebensnotwendig ist: „Der Glaube an die Grammatik, an das sprachliche Subjekt, Objekt, an die ThätigkeitsWorte hat bisher die Metaphysiker unterjocht: diesen Glauben lehre ich abschwören. […] Wie sehr gewohnt und unentbehrlich jetzt jene Fiktion auch sein mag, das beweist nichts gegen ihre Erdichtetheit: es kann etwas Lebensbedingung und trotzdem falsch sein.“54 Ohne die essentialistische Seinsvorstellung gäbe es weder Wissenschaft noch Erkenntnis, keinen Fortschritt und keine Entwicklung, so wie wir sie kennen. Unsere gesamte Wissenskultur ist auf dem gängigen Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung aufgebaut. Dies wäre nicht möglich, wenn dieses Vorverständnis nicht unglaublich hilfreich und tragfähig wäre. Es ist nun jedoch so, dass wir die längste Zeit an die absolute und uneingeschränkte Gültigkeit und Wahrheit dieses Vorverständnisses geglaubt haben. Wir haben uns und die Welt in Folge ausschließlich nach diesem Vorverständnis gedeutet und geformt. Erst diese Ausschließlichkeit des gängigen Vorverständnisses ist problematisch. Denn eine einseitige Seinsvorstellung wird dann problematisch, wenn alles, auch das, was sich eindeutig diesem Vorverständnis entzieht, wie z. B. die Erfahrungen des konkreten Seienden, nur und ausschließlich durch dieses Vorverständnis gedeutet wird. Die angeführte Kritik an der klassischen Vorstellung von Sein und Werden ist somit keine absolute Ablehnung. Noch ist sie ein Aufruf dazu, jegliche Vorstellung von Sein zu verwerfen und durch die Vorstellung der be53 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA Bd. 12, S. 194. 54 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA Bd. 11, S. 526.

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wegten Existenz zu ersetzen. Eine solche Ersetzung wäre genau so einseitig wie die ursprüngliche Setzung des bloßen Seins. Die Kritik der Substanzvorstellung, die im Rahmen dieser Arbeit vorgebracht wird, zielt also nur darauf ab, dem Glauben an das Sein der Dinge Grenzen aufzuzeigen, ohne ihn dabei völlig zu diskreditieren. Diese kritische Differenzierung soll eine Einschränkung des Glaubens an das Sein in gewissen Bereichen zur Folge haben und somit Raum für andere, ergänzende Vorstellungen der Beschaffenheit von Sein schaffen.

§ 4 Die sprachlichen Wurzeln des neuen Vorverständnisses Griechisches Denken war immer auch genealogisch-bewegtes Denken. Die frühen ionischen Denker fassten weder die einzelnen Dinge noch das Sein der gesamten Welt als etwas Unbewegtes auf. Die Vorstellung eines unbewegten und vollkommenen Seins der Welt war den frühen Griechen Ioniens daher fremd: [Ionian cosmology] described the emergence of the world order as a gradual process of generation or development from an archē, a starting point or ‚what came first of all‘ (Theogony 115). And there is some evidence to suggest that Anaximander, like Empedocles and the atomists later, applied the principle of symmetry to foresee a reversal of the cosmic process, so that the earth which had emerged from the sea would sink into it again, and perhaps the whole world process might begin anew.55

Diese Betonung von Bewegung und Entstehung im griechischen Denken zeigt sich auch in der Sprache – dem Medium des Denkens. Daher werde ich im Folgenden das im kommenden Abschnitt an die Texte herangetragene neue Vorverständnis anhand von einzelnen philosophisch relevanten Begriffen im Kontext des vorsokratischen56 Denkens erarbeiten. Diese grundlegenden Begriffe sind: ‚φύσις‘, ‚τὸ ὄν‘ bzw. ‚τὸ εἶναι‘ und ‚λόγος‘. A. φύσις Der Begriff ‚φύσις‘57 ist ein zentraler Begriff des vorsokratischen Denkens: 55

Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 18 f. Der Begriff ‚Vorsokratik‘ ist natürlich schon an sich problematisch. Für eine ausführliche Darstellung und Kritik des Begriffes ‚Vorsokratik‘ vlg. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 374 ff. 57 Wie sich im Laufe der Argumentation zeigen wird, verstehe ich den Begriff ‚φύσις‘ im Rahmen der Vorsokratik nicht als rein kosmologischen Begriff, sondern als einen Seinsbegriff, der sich am besten als ‚bewegte Existenz‘ übersetzen lässt. 56

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Φύσις is, of course, the catchword for the new philosophy. […] The early philosophers sought to understand the ‚nature‘ of a thing by discovering from what source and in what way it has come to be what it is. This was as true for the detailed study of man and of living things, as for the general theory of the world as a whole. […] Hence it is that φύσις can denote the true nature of a thing, while maintaining its etymological sense of ‚the primary source or process‘ from which the thing has come to be. ‚Nature‘ and ‚origin‘ are combined in one and the same idea.58

Hinweise für diese zentrale Rolle in jener frühen Zeit finden sich vor allem bei den späteren Denkern. So bezeichnet z. B. Aristoteles jene Denker auch als ‚φυσικοί‘59, als Physiker und Schüler der φύσις, sowie als ‚φυσιλόγοι‘60, als Erklärer der φύσις. Platon hingegen kritisiert in Nomoi X die Argumentationsweise jener Denker vor ihm, die der φύσις gemäß argumentieren, denn sie begründen das Seiende nicht durch die Seele bzw. durch ein intellektuelles Prinzip, sondern durch das Natürliche.61 Ein weiterer Hinweis auf die zentrale Rolle der φύσις ist die Tatsache, dass uns die meisten Werke der Vorsokratiker mit dem Titel ‚Περὶ φύσεως‘ überliefert wurden.62 Auch wenn der Titel ‚Περὶ φύσεως‘ vor dem 5. Jahrhundert noch nicht nachweisbar ist und vermutlich auf eine Bibliothektssystematik zurückgeht, die im Peripatos eingeführt wurde,63 ist dieser Buchtitel in seinen beiden Bedeutungsaspekten aufschlussreich: Der Titel ‚Über die Natur‘ (περὶ φύσεως) verweist nicht nur auf eine Behandlung der physischen Natur, sondern vor allem auch auf eine Behandlung der Natur der Dinge als φύσις τῶν ὄντων bzw. als ἱστορία περὶ φύσεως. Die ‚φύσις‘ der Vorsokratiker ist eben nicht bloß eine Bezeichnung für die stumme Materie oder für den Ursprung der Welt, sondern immer auch ein Hinweis auf das Wesen der Welt, des Menschen und des Denkens im Rahmen dieses Ursprunges. Somit beinhaltet der Begriff ‚φύσις‘ nicht nur kosmologische, sondern eben auch epistemologische, metaphysische und anthropologische Elemente, die sich nicht voneinander lösen lassen, ohne 58

Charles H. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, S. 201 f. Vgl. Aristoteles, Physik, 184b15–19. 60 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 986b14, 989b30–1. 61 Platon, Nomoi, 889a ff. 62 Es ist jedoch wohl nicht der Fall, dass diese Titel von den vorsokratischen Verfassern selbst gewählt wurden, sondern es ist vielmehr so, dass die Traktate nur von späteren Denkern mit diesem Titel versehen wurden. Andere übliche Titel für die Werke der Vorsokratiker waren πάντα (alles) und περί τῶν μετρώρῶν (über die Dinge in der Höhe, auch oft mit dem Zusatz ‚und unter der Erde‘ verwendet). Für eine ausführliche Besprechung der Frage nach dem Ursprung des Titels ‚περι φύσεως‘ vgl. Egidius Schmalzriedt, Peri physeos. 63 Vgl. Egidius Schmalzriedt, Peri physeos, Kapitel 7, vor allem S. 81 ff. Für weitere Interpretationen bezüglich der Einführung dieses Titels vgl. Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 16. 59

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dabei dasjenige zu verlieren, um das es den frühesten Denkern in ihren Untersuchungen geht. D. h. ich deute den Begriff ‚φύσις‘ als Seinsbegriff, also als einen Begriff, der das Wesen des Seienden bezeichnet und somit in Analogie zu εἶδος und οὐσία steht. Diese Hinweise sollen also keineswegs implizieren, dass das Denken der Vorsokratiker im Wesentlichen auf eine kosmologische Ebene zu reduzieren sei, wie dies oft getan wird.64 Im Gegenteil, durch den für diese Arbeit zentralen Doppelaspekt von ‚φύσις‘ – i) entstandene Natur und ii) Natur der Dinge65 –, den ich im Folgenden genauer erarbeiten werde, stellt sich bei genauerer Betrachtung heraus, dass im Denken der Vorsokratiker die kosmologische Ebene nicht von der menschlich-geistigen Ebene zu trennen ist. Bevor ich auf die Etymologie und genauere Charakterisierung des Begriffes ‚φύσις‘, wie er im Rahmen dieser Arbeit gebraucht wird, eingehe, folgt noch eine kleine Vorbemerkung. Dieser Begriff wird in der gesamten griechischen Antike verwendet und erhält im Laufe der Entwicklungen und der diversen philosophischen Schulen verschiedene Bedeutungen. So kann der Begriff die wesentlichen Eigenschaften eines Seienden (seine Natur) benennen, außerdem kann er auch die erste Materie benennen, aus der alles entsteht. Im Neuplatonismus wird dieser Begriff zum Synonym für ὔλη und nicht zuletzt wurde der Begriff vor allem in der Stoa verwendet, um die Gesamtheit all jener Seiender, die ihr Bewegungsprinzip in sich tragen (die belebte Natur), zu bezeichnen. Die meisten dieser Verwendungsweisen sind jedoch Entwicklungen, die zumeist erst mit Platon und Aristoteles beginnen. Der Begriff ‚φύσις‘ entstammt der Wortfamilie von φύειν / φύεσθαι, was so viel wie wachsen, entstehen, hervorbringen, erschaffen bedeutet: Als φύσις wird der Vorgang des Wachsens benannt und zugleich sein Ursprung, der als natürliche Anlage die wesentliche Beschaffenheit von Pflanze und Lebewesen bestimmt. Der so beschriebene Entstehungsprozess ist selbsttätig und zielt auf Form und Gestalt.66 64 Diese Reduktion des vorsokratischen Denkens auf die Ebene der Kosmologie findet sich schon bei Cicero, der behauptet, dass sich die Denker vor Sokrates nur mit Zahlen und Bewegungen, mit den Planetenbahnen und der Frage nach dem Woher und Wohin aller Dinge beschäftigt hätten. Sokrates hingegen sei der Erste gewesen, der die Philosophie in „die Häuser geführt“ hätte und sie gezwungen habe, „nach dem Leben, den Sitten und dem Guten und Schlechten zu forschen“. (Socrates autem primus philosophiam devocavit e caelo et in urbibus conlocavit et in domus etiam introducit et coegit de vita et moribus rebusque bonis et malis quaerere.) M. T. Cicero, Tusc., 5,10. 65 Dieser wird manchmal durch einen dritten Aspekt ergänzt, nämlich jenen des Ursprunges. Vgl. z. B. Gerard Naddaf, The Greek Concept of Physis, S. 17. 66 Dieter Bremer, Von der Physis zur Natur. Eine griechische Konzeption und ihr Schicksal, S. 242. Hierzu vgl. außerdem: H. Diller, Der griechische Naturbegriff,

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Außerdem wird der Begriff „in einigen Wortformen dieses Stammes (wie etwa ‚fui‘ im Lateinischen, im Deutschen ‚bin‘) zur Ergänzung der Wurzel *es für ‚Sein‘ oder ‚Wesen‘ herangezogen. Im Ganzen ist der Begriff φύσις deshalb durch die Bedeutungsnähe zu ‚Sein‘, ‚Wesen‘, ‚Substanz‘ einer Sache geprägt, wenn auch die Rückverwiesenheit auf den Weg und die Bedingungen ihrer Entstehung immer konnotiert bleibt und bisweilen sogar im Vordergrund stehen kann.“67 Der Begriff ‚φύσις‘ verweist also sowohl auf den Entstehungsprozess des Seienden als auch auf das Sein des Entstandenen. Er benennt also den Vorgang des Entstehens und das (vorläufige) Ergebnis dieses Vorgangs, das (gerade) Bestehende, ohne dabei einen prinzipiellen Abschluss des Vorgangs des Entstehens zu implizieren.68 Nach Martin Heidegger lässt sich der Begriff ‚φύσις‘ auch für das „Aufgehen im Sinne des Herkommens aus dem Verschlossenen und Verhüllten und Eingefalteten [verwenden, T. R.]. Unmittelbar anschaulich wird uns dieses ‚Aufgehen‘ im Aufgehen des in die Erde versenkten Samenkorns, im Sprossen der Triebe, im Aufgehen der Blüte“69. Bezeichnenderweise beginnt die Geschichte des ‚φύσις‘-Begriffes in Homers Odyssee mit Bezug auf eine Blüte. Homer verwendet den Begriff ‚φύσις‘ in diesem Werk an einer einzigen Stelle: ὣς ἄρα φωνήσας πόρε φάρμακον Ἀργεϊφόντης ἐκ γαίης ἐρύσας, καί μοι φύσιν αὐτοῦ ἔδειξε. ῥίζῃ μὲν μέλαν ἔσκε, γάλακτι δὲ εἴκελον ἄνθος […]70 Dies sagend, gab Argeiphontes mir das Heilkraut, das er aus dem Grund gerissen hatte und zeigte mir seine Natur: Die Wurzel war schwarz, aber die Blüte war wie eine Art von Milch. S. 242 f.; sowie W. Schadewaldt, Die Begriffe ‚Natur‘ und ‚Technik‘ bei den Griechen, S. 908 f. 67 Horn und Rapp, Wörterbuch der antiken Philosophie, S. 345 f. 68 Obwohl die meisten Forscher des vergangen Jahrhunderts diesen Doppelaspekt konzedieren (beispielsweise Mannsperger, Physis bei Platon, S. 51 oder Reichenauer, Thukydides und die hippokratische Medizin: Naturwissenschaftliche Methodik als Modell für Geschichtsdeutung, S. 117), gibt es auch Forscher, die vor allem den seienden Aspekt der φύσις betonen. So meint beispielsweise Harald Patzer in seinem Werk Physis: Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes, dass der Begriff φύσις‘ nur eine bestimmte Form des Werdens bezeichnet, die eher als Selbstentfaltung der Form verstanden werden kann als ein Entstehen aus dem Nichts oder aus etwas anderem. Die φύσις bezeichnet dann ein Werden im Sinne pflanzlichen Wachstums, aber nicht im Sinne von Entstehen. Für das Entstehen aus etwas anderem oder dem Nichts, so Patzer, verwendete man den Begriff ‚γένεσις‘. Thomas Buchheim legt in seinem Aufsatz Vergängliches Werden und sich bildende Form überzeugende Argumente gegen diese einseitige Lesart des Begriffes ‚φύσις‘ vor. 69 Martin Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 87. In diesem Sinne, als Verbindung des Aufgehens mit dem Ergebnis des Aufgehens verstanden, benennt der Begriff ‚φύσις‘ genau das, was ich mit dem Ausdruck ‚bewegte Existenz‘ benennen möchte. 70 Homer, Odyssee, X 302.

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Es scheint so, als hätte Homer an dieser Stelle auch die Begriffe ‚εἶδος‘ oder ‚μορφή‘ verwenden können, die in seinen Texten häufiger vorkommen. Doch die Tatsache, dass er an dieser Stelle den Begriff ‚φύσις‘ verwendet, scheint darauf hinzudeuten, dass Homer eben nicht nur die Form oder das Erscheinungsbild der Pflanze benennen wollte – nämlich die Natur / das Wesen einer Pflanze, die aus der Erde gerissen werden muss, um ihr entstandenes Wesen zu offenbaren. „[…] while eidos, morphē and phuē desigante the form of the physical constitution of a thing, physis designates the process by which the object becomes what it is“71. Allein an der Blüte, dem Ergebnis des Wachstumsvorganges, lässt sich das gewordene Sein der Pflanze nicht ablesen: „Mit Wurzel und Blüte ist die Gestalt der Pflanze als lebendige Struktur beschrieben; an ihrem Wuchs wird sichtbar, wie sie ‚gebaut‘ ist […].“72 Das gewordene Wesen dieser Pflanze lässt sich daher nur zeigend vermitteln, indem man auf den gesamten Entstehungsprozess der Pflanze (von den Anfängen bei den Wurzeln bis zum Abschluss des Werdens durch die Blüte) verweist. Denn nur die Betrachtung der Eigenschaften der entstandenen Pflanze, also sowohl der Wurzeln als auch der Blüte, zeigt uns die Natur des Heilkrautes.73 In Homer, phusis designates the whole process of growth of a thing from its birth to its maturity. This is compatible with a linguistic analysis of the word phusis which shows that the fundamental and etymological meaning of the term is that of ‚growth,‘ and that, as an action noun ending in -sis, it means ‚the (completed) realization of a becoming‘ – that is to say, ‚the nature of a thing as it is realzed, with all its properties.‘74

Die Frage nach der φύσις eines Dinges zielt daher „auf den Ursprung, den Wuchs und den Bau der Dinge, die wir vorfinden. Diese Frage wird im vorphilosophischen Denken gestellt als Frage nach der γένεσις, der Herkunft und Entstehung der Dinge; […].“75 Die Natur der Dinge hängt eng mit ihrer Herkunft, ihrem Entstehen zusammen und lässt sich in diesem Denken nicht unabhängig von ihrer Herkunft begreifen. Dieser Aspekt der φύσις verbindet die entstehende Philosophie eng mit dem Mythos. Denn vor der Philosophie war es der Mythos, der die Frage nach der γένεσις des Seienden beantwortet hatte: Die im Mythos vorgegebene Frage nach der Entstehung der natürlichen Welt, wie sie im Anschluß an Homer von Hesiod in der Theogonie als Werden einer göttlich71

Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 14. Dieter Bremer, Von der Physis zur Natur. Eine griechische Konzeption und ihr Schicksal, S. 243. 73 Für Argumente dafür, dass es zwischen der Verwendungsweise dieses Begriffes bei Homer und den Vorsokratikern eine Kontinuität gibt vgl. Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 14 f. 74 Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 34 f. 75 Dieter Bremer, Von der Physis zur Natur, S. 244. 72

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1. Teil: Propädeutikum

menschlichen Lebensordnung entwickelt wird, bleibt als Frage nach der γένεσις leitend für die naturphilosophische Erkundung der φύσις. Auch wenn der theologische Begründungshorizont zurückgedrängt wird, hält sich die Bindung der φύσις an die aus der mythischen Genealogie stammende γένεσις durch.76

Dies gilt sogar noch für Parmenides, der „von der φύσις kosmischer und biologischer Erscheinungen als ihrer γένεσις“77 spricht.78 Nach Thomas Buchheim zeigen sich in der φύσις eines Seienden nicht nur die zwei Aspekte der Herkunft und des vorläufigen Ergebnisses (Sein), sondern außerdem noch die Aspekte der Singularität des einzelnen Exemplars und der Allgemeinheit des Seienden als Seiendes einer Art. Er ist also der Meinung, dass in der φύσις nicht nur Sein und Werden bzw. Sein und Veränderung eines Seienden vermittelt sind, sondern zugleich auch schon das Individuelle und das Allgemeine. In der φύσις zeigen sich also nach Buchheim vier Aspekte in einem Bild vereint: Das Einzelne, das Allgemeine, das Werden und das Sein. Es zeigen sich also das Einzelne dieser Pflanze (diese spezielle Blüte) und das Allgemein-grundlegende, das alle Pflanzen betrifft (jede Pflanze hat Wurzeln). Denn in der φύσις dieser bestimmten Pflanze ist ein besonderes Eigenes (die milchige Blüte) mit der erdig-braunen Wurzel, die alle Pflanzen besitzen, vereint. Neben diesen Aspekten des Allgemeinen und Singulären, die sich in der φύσις eines Seienden verbinden, zeigt sich, wie schon erwähnt, der Aspekt der Entstehung bzw. des Werdens (nur in Ansehung aller Entwicklungsstadien birgt die Pflanze ihr Wesen) als das geworden-gegenwärtige Wesen der Pflanze. Somit zeigt sich uns das Wesen dieser Pflanze als Ergebnis der Zusammenschau der drei anderen Aspekte.79 Denn der ambivalente Ausdruck ‚φύσις‘ benennt also zumindest bis vor Ende des 5. Jh. v. Chr. nicht nur das Werden bzw. die Genesis des Seienden, sondern eben auch den Effekt oder das Resultat dieses Werdens, das Sein bzw. die Natur des Seienden. Er benennt daher nicht nur das Einzelne, 76 Dieter Bremer, Von der Physis zur Natur, S. 245. Es gibt also eine Art Transformation des Göttlichen durch die Philosophie: Okeanos und Thethys werden bei Thales zu Wasser, Hesiods Chaos findet sich im aperion Anaximanders gespiegelt und das Weise (τὸ σοφὸν) will und will nicht mit dem Namen des Zeus benannt werden (Heraklit, DK 22B 32). 77 Dieter Bremer, loc.cit. 78 Auch bei späteren Kommentatoren findet man noch diese Interpretation der φύσις als γένεσις: „For Lucretius, […], physis, especially as he knew it from the poetry of Empedocles, came alive in its root meaning of birth, genesis, increase (Empedocles B8) and Plutarch’s masterful commentary on physis as genesis in the whole of Empedocles’ poetry, (Adv. Col. IIII I3F, which preserves for us fragments B9, IO, and II of Diels).“ Diskin Clay, De Rerum Natura: Greek Physis and Epicurean Physiologia, S. 33. 79 Vgl. Thomas Buchheim, Vergängliches Werden und sich bildende Form.

Kap. 2: Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung

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sondern auch das vom Einzelnen verkörperte Allgemeine. Daher lässt sich der Seinsbegriff, der im Terminus ‚φύσις‘ vermittelt wird, wohl angemessen als bewegte Existenz oder als werdende Natur bzw. als werdendes Sein beschreiben. Das Sein, das hier benannt wird, ist kein unbewegtes, ideales und abstraktes Etwas, das hinter dem Seienden und ihm zu Grunde liegend die bewegte Natur bestimmt, sondern ein integraler Teil der werdenden und wachsenden Wirklichkeit. Als Seinsbegriff benennt die ‚φύσις‘ also nicht nur das werdende Sein der organischen Natur, sondern die bewegte Existenz alles Seienden: Die Natur eines jeden einzelnen Seienden (φύσις τῶν ὄντων) ist das Ergebnis seines Entstehens und daher lässt sich das frühe περὶ φύσεως auch als metaphysisch-ontologisches περὶ πάντων (über alle Dinge) verstehen.80 Diese Hinweise auf die zentrale Rolle der φύσις für die Vorsokratik sollen also nicht implizieren, dass deren Denken auf die Ebene der Kosmologie zu reduzieren sei, wie dies oft getan wird. Im Gegenteil, durch die Ambivalenz des ‚φύσις‘-Begriffes, die den physischen Werdensprozess des Einzelnen und das allgemeine Sein, d. h. das Wesen des Seienden, miteinander verbindet, zeigt sich, dass im Denken der Vorsokratiker die kosmologische nicht von der menschlich-geistigen Ebene zu trennen ist. Dasjenige Moment des Seienden, das bei späteren Denkern zum Erkennbaren, Idealen und Geistigen am Seienden wird, ist hier das Ergebnis eines physischen Prozesses und somit nicht unabhängig von diesem denkbar. Der Begriff ‚φύσις‘ in seiner Verwendung bei jenen Vorsokratikern, ist also kein bloß kosmologischer, sondern wie εἶδος und οὐσία ein Seinsbegriff, der auf alle Bereiche des Seienden zutrifft. 80 Diese Bestimmung von φύσις als die Bezeichnung alles Seienden ist zwar nicht gängig, aber es sind uns einige explizite Identifizierungen von φύσις und (μὴ) ὄντoς sogar in Buchtiteln vorsokratischer Texte überliefert (mit Bezug auf Melissus und Gorgias). Vgl. DK 30 A 4 (Simplikios, in De Caelo, 557,10, sowie in Phys., 70,16) oder DK 82 B 3, (Sextus Empirikus, Adv. math., 7,65). Besser belegt ist hingegen der Zusammenhang von περὶ φύσεως und περὶ πάντων, wer also περὶ φύσεως sprach, sprach zumeist eben nicht nur über die Natur, sondern über alles. Vgl. Heraklit, DK 22B1 oder Aristoteles, Metaphysik, 988b27. Es finden sich natürlich Argumente gegen die Annahme, dass die Untersuchung der Natur mit der Untersuchung von allem verbunden sei (z. B. Aristoteles, de part. Anim., 641a36–b1, dieser meint nämlich, dass die rationalen Aspekte der Seele keine Bewegung verursachen und daher auch keine φύσις haben). Doch die Art wie Aristoteles die Argumentation führt, weist darauf hin, dass die Vorstellung der Verbindung von περὶ φύσεως und περὶ πάντων ein gewisses Maß an Verbreitung gehabt haben muss, sodass es notwendig war, explizit gegen diese Meinung zu argumentieren. D. h. letztlich ist der „Gegenstand der vorsokratischen Theorien […] buchstäblich „alles“, nicht die „Natur“. Der Naturbegriff bezeichnet keinen Gegenstand, sondern eine charakteristische Fragestellung, der eine charakteristische Methode der Beschreibung und Erklärung entspricht.“ G. Heinemann, Studien zum griechischen Naturbegriff, S. 247.

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1. Teil: Propädeutikum

In der Sekundärliteratur werden zumeist vier grundlegende Deutungsweisen des vorsokratischen Begriffes von φύσις vorgeschlagen: 1. 2. 3. 4.

in in in in

the the the the

sense sense sense sense

of of of of

primordial matter process primordial matter and process origin, process and result.81

Das Verständnis von φύσις, um das es mir in dieser Arbeit geht, ist die vierte der erwähnten Bedeutungen, die φύσις als aufgehend-werdendes Sein versteht, welche ihren Ursprung schon in den indoeuropäischen Wurzeln des Ausdrucks hat. Wobei ich im Gegensatz zu Heidel, Kahn und Naddaf,82 die alle eine ähnliche Deutung des Begriffes vertreten, die drei Aspekte des Ursprunges, des Prozesses und des Resultates nicht scharf voneinander trenne bzw. den Anfang und das Ende des Prozesses nicht streng vom Prozess unterscheide. Denn der Anfang des einen Prozesses kann in einem dynamischen Wirklichkeitsverständnis nur das Ergebnis eines früheren Prozesses sein. Außerdem kann in einem solchen Naturverständnis kein unbewegt-unveränderliches Ergebnis am Ende eines Prozesses stehen. Das Ergebnis ist ein Effekt des Prozesses und hat nur so lange bestand, solange der konstituierende Prozess abläuft. Insofern müsste das hier vorgeschlagene Verständnis von φύσις als jenes Verständnis charakterisiert werden, das unter Punkt 2 genannt wurde. Dies wäre φύσις als Prozess, da ja der Ursprung und das Ziel des Prozesses nur als Effekte von Prozessen Geltung haben können und keinen eigenen Bestand aufweisen. Diese zweite Interpretation, die vor allem von Olof Gigon in den Untersuchungen zu Heraklit vertreten wird, vernachlässigt jedoch oft die Tatsache, dass die werdende φύσις etwas Beharrliches, d. i. etwas kontinuierlich Bestehendes konstituiert. Etymologisch betrachtet ist nämlich der Doppelaspekt von ‚Werden‘ (als Prozess, der seinen eigenen Ursprung in sich trägt) und ‚Sein‘ (als Ergebnis des Woraus und Wie des Entstehens) grundlegend für die Bedeutung von φύσις. Dieser Doppelaspekt prägt nämlich nicht nur diesen Begriff in seiner ursprünglichen Verwendungsweise, sondern auch seine indoeuropäischen Wurzeln.83 Heute wird der Begriff ‚φύσις‘ zumeist mit dem Begriff ‚Natur‘ übersetzt, und wir meinen damit die Gesamtheit der natürlichen Dinge. Diese Bedeu81 Vgl. Gerard Naddaf, The Greek Concept of Physis, S. 17. Für eine systematische Betrachtung der verschiedenen Betrachtungsweisen vgl. op.cit. S. 17 ff. 82 Heidel vertritt eine Position dieser Art in Περὶ Φὺσεως (vor allem S. 129), auch Kahn deutet in seiner Diskussion die Verwendung bei Parmenides und Heraklit ähnlich (Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, S. 201 f.). Naddaf widmet dieser Deutung ein ganzes Buch (The Greek Concept of Nature). 83 Für eine ausführliche Darstellung der indoeuropäischen Wurzeln dieses Doppelaspektes vgl. z. B. Dietrich Mannsperger, Physis bei Platon, S. 38 ff. oder Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 12.

Kap. 2: Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung

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tung von φύσις als Gesamtheit aller Dinge der Natur findet ihre Ursprünge zwar schon bei den Pythagoräern, jedoch setzt sich diese Verwendung als Bedeutung des Begriffes ‚φύσις‘ erst Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. durch. In diesem Sinne beginnt Aristoteles z. B. sein drittes Buch der Physik mit dem Gedanken, dass die φύσις der Anfangsgrund (ἀρχή) von Bewegung und Umschlag ist.84 Doch erst in der Stoa wird diese Bedeutung des Begriffes ‚φύσις‘ als Gesamtheit aller aus sich entstandener Dinge dann zur wesentlichen und zur grundlegenden Bedeutung von ‚φύσις‘.85 Daher kann Dieter Bremer die spätere Verwendung des Begriffes bei Aristoteles mit folgenden Worten charakterisieren: Als φύσις wird dem gemäß das Werden und Wesen alles Seienden gedacht, das – im Unterschied zu den Produktionsprozessen der Kunst und der Technik – den Ursprung der Bewegung in sich selbst trägt. […] Als Ursprung des Werdens und Wachsens ist φύσις der materiale Grund, […], der sich in allen Veränderungen und Vereinzelungen des aus ihm Hervorgehenden durchhält. Zu der Vorstellung des materialen Substrats, aus dem das Werden hervorgeht, treten die Begriffe Form und Gestalt hin zu (μορφή und εἶδος), und zwar als Ziel (τέλος) des natürlichen Werdens. Die Selbstbewegung der Natur ist nicht nur bewirkt (als Kausalität), sondern zugleich gerichtet (als Finalität). Mit dieser teleologischen Perspektive, in der die φύσις an die Stelle der platonischen Weltseele als Bewegungsprinzip getreten ist, findet die griechische Naturbetrachtung ihre sachliche und geschichtliche Vollendung.86

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Frage nach der Rolle der Bewegung im Begriff der ‚φύσις‘ ihren grundlegenden Ausdruck findet. Die φύσις bezeichnet zunächst ein sich veränderndes, d. h. ein gewordenes Sein. Dieses Zugleich von Sein und Bewegung ist bei manchen Vorsokratikern noch stark spürbar. Insofern ist eine Spur der Frage nach der bewegten Existenz auch die Spur der Frage nach der Entwicklung des Begriffes der 84

Aristoteles, Physik, 200b12. Vgl. Horn und Rapp, Wörterbuch der antiken Philosophie, S. 345 f. oder Thomas Buchheim, Vergängliches Werden und sich bildende Form. Damit wird ein weiteres Spannungsfeld des Begriffes der ‚φύσις‘ aufgetan, welches ich hier nur der Vollständigkeit halber kurz erwähne. Dieses zweite Feld ist zwischen Einzelnem und Allgemeinem (Vgl. Thomas Buchheim, op.cit.) aufgespannt und eröffnet sich, sobald der Begriff ‚Natur‘ zum einen alle von selbst entstehenden Dinge und zum anderen das Wesen, die ‚Natur‘ eines Einzelnen benennt. In dieser Verwendung konnotiert Natur zunächst einmal das wirklich Sein und grenzt es vom bloß erfundenen, ausgedachten oder nur scheinbaren ab. Dies geschieht einmal in Bezug auf das wirklich Seiende als Ganzes und einmal in Hinsicht auf das einzelne Seiende. Die Natur des Einzelnen benennt also, dass es wirklich ist und worin diese Welt des wirklichen Seins besteht. Also benennt die ‚Natur des Einzelnen‘ das dass des wirklichen (im Gegensatz zum gedachten) und konkreten Einzelnen und sein so-Sein. 86 Dieter Bremer, Von der Physis zur Natur, S. 249. 85

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1. Teil: Propädeutikum

φύσις. Denn „[…] geschichtlich entwickelt sich der Physis-Begriff aus der Frage nach dem Werden zur Frage nach dem Sein. Die vorsokratische φύσις als ἀρχή und γένεσις findet ihre Vollendung in der platonischen φύσις als εἶδος und οὐσία.“87

B. ‚τὸ ὄν‘ und τὸ ‚εἶναι‘ Selbst im griechischen Begriff für ‚Sein‘ lassen sich noch Verbindungen zur Vorstellung der Bewegung finden, wenn auf die Entwicklungsgeschichte des Begriffes geachtet wird. Das ‚Sein‘ benennen die Griechen mit dem Infinitiv τὸ εἶναι, dessen Partizip τὸ ὄν (das Seiende) lautet.88 Martin Heidegger arbeitet diese Entstehungsgeschichte der Partizipien το ὄν und ὄντα heraus, indem er darauf verweist, dass die ursprünglichen Wurzeln dieser Wörter in ἐον und εὄντα liegen. Diese ursprünglichen Wortformen stellen wohl eine Verbindung des ἐ der Verbformen εἶναι wie ἐς (du bist) und ἐστιν (er / sie / es ist) mit dem Partizip von Sein (ὄν und ὄντα) dar. So wird deutlich, dass das Ursprüngliche ἐον einen substanziellen Aspekt des Seins (ε) und einen partizipialen Aspekt des Vorkommens (einen Vorgang) ausdrückt (ὄν und ὄντα). Diese Bestimmung des ἐον verweist damit, nach Heidegger, stärker als es alle Partizipien ohnehin tun auf eine Verbindung der nominalen und der verbalen Bedeutung. Demzufolge bedeutet ὄν seiner Herkunft nach sowohl auf bestimmte Weise Seiendes sein (im Sinne eines qualitativ bestimmten Vorganges) als auch ein Seiendes, das ist (das Sein im Sinne der Existenz)89: „Wenn daher die anfänglichen Denker schon die Worte τὸ ὄν, τὰ ὄντα, das Seiende, sagen, dann denken gerade sie als Denker im voraus das ‚partizipiale‘ Wort nicht substantivisch, sondern verbal; τὸ ὄν, das Seiende ist gedacht im Sinne des Seiend, d. h. des Seins.“90 Diese Überlegungen weisen darauf hin, dass jene Seinsvorstellung, die in der griechischen Sprache wurzelt, wohl eine gewisse Ambivalenz zwischen dem dassSein (Existenz) und dem wie-Sein (einem qualitativ bestimmten Vorgang des Vorkommens) des Seienden umfassen wird.91 87

Dieter Bremer, op.cit., S. 248. Zu demselben Bedeutungsbereich können in der griechischen Philosophie auch ἔστι (es ist) und οὐσία (Wesen, eigentliches Sein) gezählt werden, auch wenn der Begriff ‚οὐσία‘ keine ethymologische Verbindung zu τὸ εἶναι aufweist. 89 Vgl. Martin Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5. Ähnlich wird dieser Zusammenhang auch in GA 55 (Heraklit) dargestellt. 90 Martin Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 57 f. 91 Um diese Ambivalenz des ἐον in der deutschen Sprache anzudeuten, verwendet Heidegger die Ausdrücke ‚Sein des Seienden‘ oder ‚Seiendes im Sein‘. Martin Heidegger, Moira (Parmenides VIII, 34–41), GA 7, S. 245 f. 88

Kap. 2: Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung

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Sowohl ‚ὄν‘ und ‚ὄντα‘ als auch ‚ἐον‘ und ‚εὄντα‘ verweisen auf ein verbal konnotiertes Sein, dessen Existenz als Vorgang zu bestimmen ist – nämlich als Vorgang des seiend Seins. Seiend zu sein ist daher keine Eigenschaft im klassischen Sinne, sondern der Verweis auf eine Weise des Vorkommens, des Existierens: Seiend zu sein bedeutet zu entstehen, zu bestehen, sich im Bestehen zu verändern und zu vergehen. Wie sollte sich der Vorgang des seiend Seins des Seienden anders verstehen lassen? Doch dieser Vorgang ist verbunden mit einer Beharrlichkeit, die diesem Vorgang Existenz und Bestand verleiht. Daher bietet sich auch in diesem Fall der Begriff ‚bewegte Existenz‘ an, um das Zugleich von Vorgang und Sein auszudrücken, das in den Begriffen ἐον und εὄντα direkt bzw. in den Begriffen ὄν und ὄντα indirekter vermittelt wird. Einen weiteren Hinweis auf die Ambivalenz des ἐον bzw. des ὄν liefert uns die griechische Grammatik. In der griechischen Sprache gibt es eine scharfe aspektive Trennung zwischen dem Präsens-Imperfekt-Stamm, dem Aorist-Stamm und dem Perfekt-Stamm: The difference of verbal stem corresponds to a difference in point of view from which the action or state is considered: the present-imperfect stem represents action as durative, as a state which lasts or a process which develops in time; the aorist represents the action, by antithesis, as nondurative, either as the process pure and simple without regard to time (the unmarked aspect), or at the moment of reaching its end (the ‚punctual‘ aorist). The perfect represents not the process itself but rather a present state resulting from past action.92

Die meisten griechischen Verben weisen alle drei oder zumindest zwei dieser Stämme auf. Das Verb εἶναι ist eines jener kleinen Gruppe von Verben, die nur einen Stamm haben, der die Grundlage aller Tempi (Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) ist. Im Fall des εἶναι ist dieser Stamm der Präsens-Imperfekt-Stamm, also eben jener, der den Aspekt eines andauernden Vorgangs ausdrückt. Dem Verb εἶναι muss also auch in grammatikalischer Hinsicht ein Charakter des Vorgangs bzw. der Dauer zugeschrieben werden. Dennoch drückt das ‚εἶναι‘ immer auch ein Bestehen aus. Daher lässt sich ‚εἶναι‘ nach Charles H. Kahn wohl am besten als eine stabile bzw. eine ewige, vielleicht sogar zyklisch-harmonische Dauer verstehen. Es handelt sich somit bei dieser Bewegung nicht um erratische oder chaotische, sondern um eine kontinuierliche: „The durative aspect, being inseparable from the stem, colours every use of the verb, including every philosophical use. Whatever the real entities are for a philosopher, these are the entities which endure.“93 Das Sein kann nun mit dem Verweis auf die erarbeitete Bedeu92 93

Charles H. Kahn, The Greek Verb ‚to be‘ and the Concept of Being, S. 254. Charles H. Kahn, op.cit., S. 260.

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1. Teil: Propädeutikum

tung von εἶναι als eine stabile und andauernde Bewegung bzw. als bewegte Existenz verstanden werden. Weder benennt das so bestimmte εἶναι eine bloße Existenz oder ein zeitlos-unveränderliches Vorkommen noch benennt es chaotische, zusammenhanglose oder erratische Bewegungen. Die historische Verschiebung von der bewegt-partizipialen Bedeutung des Seins τὸ (ε)ὄν zur Betonung des stabilen Aspektes durch τὸ εἶναι, das in der Philosophie zum unbewegt-idealen Sein wird, hat für die europäische Denkgeschichte weitreichende Folgen. Sie führt zu einer strengen Trennung und Entgegensetzung eines zeitlosen Seins von dem zeitlichen Vorgang des seiend Seins. Eine solche Trennung des Seins von dem Seienden ist weder im Konzept der φύσις noch in der Vorstellung des (ε)ὄν gegeben. In der φύσις sind das Sein und seine Entstehungsgeschichte nicht voneinander geschieden. Erst durch die Trennung von φύσις (als γένεσις) und Sein (im Sinne des eigentlich Wirklichen oder des Wesens) wird jene Unterscheidung zwischen Sein (τὸ εἶναι) und Seiendem (ὄν und ὄντα) – so wie sie die Philosophiegeschichte geprägt hat – möglich. Auch bei Aristoteles lassen sich noch einige Überreste dieser ursprünglichen Bedeutung von φύσις als γένεσις des Seins finden. Wenn wir die Formulierung des Aristoteles für dasjenige, was wir heute oft als die Frage nach dem Sein des Seienden übersetzen, genau betrachten, zeigt sich, dass auch Aristoteles zunächst eigentlich das Vorgängige als Vorgängiges (das Seiende als Seiendes – τὸ ὄν ᾗ ὄν) und nicht das Sein des Seienden betrachtet. Das, was wir das Sein des Seienden nennen (die Seiendheit), nennt Aristoteles οὐσία (lat. ‚substantia‘). Nach dieser οὐσία fragt Aristoteles nicht mit der Frage nach dem Vorgängigen als Vorgängiges (τὸ ὄν ᾗ ὄν), sondern mit der Frage, was es für etwas heißt, genau dieses Etwas zu sein. Der griechische Terminus für das Was-es-heißt-dies-zu-sein ist eine Neuschöpfung des Aristoteles und lautet: τό τί ἦν τό τῷ ἑκάστῳ εἶναι. Wenn wir diesen Ausdruck präzise übersetzen, dann bedeutet er: Was war es dies zu sein für das Einzelne? Oder: Was war das für das Einzelding wesensmäßige Sein? Aristoteles fragt also genau gesehen danach, was das Einzelne immer schon war. Die Antwort, die Aristoteles auf diese Frage gibt, lautet οὐσία. Die οὐσία benennt das Sein des Seienden, also was und wie das Seiende wesentlich ist und immer schon war. Diese οὐσία hängt wiederum mit dem γένος94 (Gattung) des Seienden zusammen.95 Das γένος 94

Vgl. Martin Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 56 f. Das γένος ist nicht mit der οὐσία gleichzusetzen, dennoch gibt es gewisse Ähnlichkeiten oder Parallelen. In der Metaphysik untersucht Aristoteles das γένος als Kandidaten für das eigentliche Sein (vgl. 1028b33 ff.). In der Kategorienschrift wird das γένος als zweite ousia bezeichnet (2b28). 95

Kap. 2: Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung

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des Seienden, das Aristoteles in der Kategorienschrift auch als zweite ousia bezeichnet, bestimmt das Seiende durch ein In-Bezug-Setzen des Seienden mit seiner Entstehung / Abstammung (γένεσις). Die ontologische Bedeutung des Eidos (Genos) liegt darin, daß es das wesentliche Wassein eines wirklichen Einzelwesens ausmacht, d. h. dasjenige ist, wodurch dieses erst ist, was es ist, mit ihm jedoch nicht entsteht und vergeht, sondern ewig fortdauert und somit überzeitlich ist. Denn die Eide erhalten sich über viele Generationen von Individuen, […]96

Die οὐσία ist in gewisser Hinsicht durch ihr γένος bestimmt. Das γένος bzw. εἶδος benennt jene Aspekte einer Art, die über viele Generationen von Individuen immer erhalten bleiben. Insofern ist die οὐσία auch vermittels ihrer Entstehungsgeschichte bestimmt, indem nur das zur οὐσία gehört, das eben im Laufe der Geschichte immer wieder in jedem einer Art zugehörigen Individuum vorzufinden ist. Diese οὐσία, die das Invariante der Entwicklungsgeschichte vieler Individuen einer Art benennt, wird zur Chiffre für die Beschaffenheit des konkreten Seienden. Denn es ist die οὐσία, die das einzelne Seiende als einer Art oder Gattung zugehörig bestimmt und damit dem konkreten Einzelnen also einem γένος, sozusagen einem HerkunftsGeschlecht, zuweist. Deswegen ist die οὐσία auch durch die Umschreibung τὸ τὶ ἦν εἶναι (Was es war dies zu sein) erfassbar. Die οὐσία ist bestimmt durch das, was die Seienden dieser Art immer schon waren, also durch das Woher des Seienden. An dieser Stelle findet die wesentliche Vermittlung des konkreten Seienden und des Seins als Allgemeinem statt: „Weil das Sein die Herkunft ist, der jedes Seiende als solches sich verdankt, ist das Sein im Verhältnis zum jeweiligen Seienden nach Platon und Aristoteles τὸ κοινόν – das Gemeinsame, was καθόλου, d. h. im Ganzen und überhaupt, jedes Seiende angeht.“97 Es bleibt also auch bei Aristoteles das Sein des Seienden von seiner Herkunft nicht schlechthin unberührt. Die Genealogie des Seienden ist noch nicht völlig bedeutungslos.

C. λόγος Etymologisch stammt der Begriff ‚λόγος‘ von λέγω, ‚sammeln‘, ab und bedeutet zunächst ‚aufbewahren‘ oder ‚sammeln‘.98 Ein erster Beleg für diese Bedeutung findet sich zum Beispiel in Homers Odyssee, und zwar in der Beschreibung des Momentes, in dem Agamemnon die von ihm ge96

Dirk Fonfara, Die ousia-Lehren des Aristoteles, S. 35 f. Martin Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 56. 98 Für eine ausführliche Darstellung der diversen Bedeutungsaspekte anhand von Textstellen vgl. Edwin L. Minar, The Logos of Heraclitus, S. 323 ff. 97

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1. Teil: Propädeutikum

töteten Freier seiner Ehefrau in der Unterwelt trifft. Hier spricht Homer von einer Versammlung (λέξαιτο) der edlen Männer.99 Ein anderes Beispiel findet sich in der Illias, nämlich wenn Achilles davon spricht, die Knochen des Patroklos einzusammeln (λεγομέν) und sie dabei wohl von anderen zu unterscheiden (διαγιγνώσκοντες).100 Dieses Sammeln, auf das der Begriff ‚λέγω‘ verweist, ist daher kein beliebiges Zusammentragen von Disparatem. Es ist vielmehr ein Ver-sammeln dessen, das in irgendeiner Weise zusammengehört. „Der Vorgang des Sammelns besteht also darin, Zusammengehöriges von Andersartigem abzusondern, es der Reihe nach aus seiner Zerstreuung aufzugreifen, um ihm einen gemeinsamen Ort und so auch eine gemeinsame Gegenwart zu geben, ohne ihm jedoch durch diese Vereinigung seine Vielfalt zu nehmen.“101 Das Sammeln des λέγειν drückt also nicht nur das Zusammenbringen von mehreren aus, sondern auch, dass diese mehrere unter einer gewissen Hinsicht zusammengehören. Ein jedes Sammeln impliziert also gewisse Kriterien, nach denen unterschieden wird, was zu der Sammlung gehört und was von der Sammlung ausgeschlossen werden muss. Auf ähnliche Weise sieht Edwin L. Milnar in ‚accounting‘ die Grundbedeutung des frühen λόγος-Begriffes. „It will be seen […] that the fundamental idea of λόγος is that of an ‚accounting‘, and that this idea is retained throughout the early history of the word at least as an undertone. At an early period ‚account‘ in the sense related to ‚count‘ passes into the sense related to ‚recount‘ (‚explain, narrate‘).102 Die sammelnde Darstellung der Aufzählung wird im Laufe der Zeit so mehr und mehr zu einer Erklärung bzw. Erläuterung. Aus dieser Grundbedeutung des Sammelns entstehen so die weiteren, uns vertrauteren Bedeutungen des λόγος-Begriffes. So bedeutet λόγος später auch ‚Wort‘, ‚Begriff‘ (als Ausdruck des Gemeinsamen der Versammlung) oder ‚versammelnde Rede‘, ‚vernünftig‘ (Versammeln nach Maßgabe der Ordnung der Vernunft), ‚Relation‘ (das Ins-Verhältnis-Bringen des Zusammengehörigen) und ‚Rechnung‘.103 Die Vernunft bzw. das ver99

Homer, Odyssee, XXIV 107 f. πάντες κεκριμένοι καὶ ὁμήλικες; Οὐδέ κεν ἄλλως κρινάμενος λέξαιτο κατὰ πτόλιν ἄνδρας ἀριστους. 100 Homer, Illias, XXIII 238 ff. […];αὐτὰρ ἔπειτα ὀστέα Πατρόκλοιο Μενοιτιάδαο λέγωμεν εὖ διαγιγνώσκοντες […] 101 Thomas Hammer, Einheit und Vielheit bei Heraklit von Ephesus, S. 47. 102 Edwin L. Milnar, The Logos of Heraclitus, S. 326. 103 Für eine ausführlichere Beschreibung dieser Entwicklungen vgl. W. J. Verdenius, Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides I, S. 81 f.: „Das Wort λόγος bezeichnet ursprünglich die Tätigkeit des λέγειν, d. h. des Sammelns. Diese Grundbedeutung ‚Sammlung‘ verengerte sich zu ‚Zählung‘, und aus dieser Bedeutung

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nünftige Denken selbst jedoch, der νοῦς, wird erst bei späteren Denkern mit dem λόγος verknüpft104: Thus it seems that a clear acknowledgement of a distinct cognitive ability which at the same time, at least unless there is a misfunction, determines what we do, seems to be missing in pre-Socratic thought, though we find antecedents of it. Indeed, Aristotle repeatedly claimed (de An. 404a27-b6, 427a21 ff.; Metaph. Γ 1009b12 ff.) that earlier thinkers had not clearly recognized reason as a distinct cognitive ability, to be distinguished from sense perception.105

Somit scheint klar, dass der λόγος, obwohl er später in einer engen Beziehung zur Vernunft stehen wird, vor allem in seiner frühen Verwendungsweise bei den Vorsokratikern nicht zu rational gedeutet werden darf. Der frühe λόγος steht immer noch in enger Verbindung zu dem, was er ordnet. Daher ist er stark sinnlich geprägt und sein Bezug zur Lebenspraxis ist noch evident. Doch worin besteht nun der Zusammenhang dieser Bedeutungsaspekte eines in solcher weise sinnlich-praktisch bestimmten λόγος und der bewegten Existenz, also der φύσις? So bedeutet λόγος nicht nur das Zählen, sondern auch die Zahl, nicht nur das Erzählen, sondern auch die erzählte Geschichte, nicht nur das Rechnen, sondern auch die daraus resultierende Rechnung, nicht nur die Begründung, sondern auch der Grund, nicht nur die Beziehung in dem Sinne einer subjektiven Tätigkeit, sondern auch in dem Sinne einer objektiven Proportion. Auch die Bedeutung ‚Definition‘ gehört wahrscheinlich hierher, denn die Definition ist ursprünglich, d. h. in der Sokratischen Praxis, das Resultat der Tätigkeit des Rechenschaft gebens. Den Übergang von Tätigkeit zu Resultat findet man in Platons Sophistes, wo es zuerst heisst, dass man sich über das Wesen einer Sache verständigen muss διὰ λόγων (218c), d. h. mittels Begriffsbestimmungen, die im gegenseitigen Rechenschaft geben und Rechenschaft fordern zustande kommen. Später, wenn die ‚Zählung‘ lassen sich alle spezielle Verwendungsarten ableiten. Diese Bedeutungsentfaltung verlief nach zwei Linien: einerseits führte ‚Zahlung‘ zu ‚Aufzahlung‘ und schliesslich zu ‚Erzählung‘, weil die primitive Form der Erzählung eine Aufzählung von Tatsachen ist; auch die Bedeutungen ‚Rede‘ und ‚Ruf‘ (eigentlich die Rede über jemand) sind spezielle Formen der Aufzahlung. Die zweite Linie führte von ‚Zahlung‘ zu ‚Rechnung‘, ‚Berechnung‘, ‚Abrechnung‘ und ‚Rechenschaft‘. Diese Rechenschaft erweiterte sich dann zu ‚Überlegung“, ‚Auseinandersetzung‘, ‚Erörterung‘, ‚Argumentation‘. An die Bedeutung ‚Rechnung‘ schlossen sich noch drei Sonderbedeutungen an: zunächst ‚Rücksicht‘ (man denke an den Ausdruck ‚einer Sache Rechnung tragen‘) und ‚Wertschätzung‘ (eigentlich positive Rücksicht), weiter ‚Begründung‘ und schliesslich ‚Beziehung‘.“ Vgl. außerdem hier § 37. 104 Für aufschlussreiche Untersuchungen zur Entwicklung der Rationalität in der griechischen Antike und deren Verhältnis zum λόγος vgl. M. Frede / G. Striker (Hrsg.), Rationality in Greek Thought. 105 M. Frede, Introduction, in: Rationality in Greek Thought, M. Frede / G. Striker (Hrsg.), S. 22.

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1. Teil: Propädeutikum

Untersuchung zu Ende geführt ist, sagt Sokrates, dass wir nun den λόγος d. h. die objektive Definition, hinreichend erlangt haben (221b τόν λόγον εἰλήφαμεν).106

Ebenso wie der Begriff ‚φύσις‘ ursprünglich nicht nur auf ein vollendetSeiendes verwies, sondern auch auf den Vorgang des seiend Seins, verweist λόγος nicht nur auf das Ergebnis eines Vorganges, sondern auch auf die Tätigkeit selbst, die erst zu diesem Ergebnis führt. Dieser Begriff verweist also sowohl auf den Vorgang des Sammelns und Zusammenbringens des in einer Hinsicht Gemeinsamen als auch auf das Ergebnis dieses Vorganges, also Begriff und Definition. Ebenso wie ‚φύσις‘ und ‚ἐον‘ verweist also auch der frühe ‚λόγος‘ sowohl auf einen Vorgang als auch auf das Ergebnis des Vorganges. Die genannten Beispiele ‚φύσις‘, ‚ἐον‘ und ‚λόγος‘ sind jedoch nicht die einzigen Begriffe des Griechischen, die sowohl einen Vorgang als auch das Ergebnis dieses Vorganges benennen. Zur Ergänzung weitere Beispiele von Verdenius, die er im Anschluss an das vorangehende Zitat behandelt: Dieser Übergang von einer subjektiven Tätigkeit zu einem objektiven Resultat zeigt sich nicht nur bei λόγος, sondern bei manchen griechischen Wörtern. Man denke z. B. an βουλή das nicht nur die Tätigkeit des Beratens bedeutet, sondern auch das Resultat des Beratens, den Rat oder den Plan, oder an λέξις, das ursprünglich die Tätigkeit des Sprechens bezeichnet, aber später auch das einzelne Wort. Eine besonders lehrreiche Parallele ist ὄψις, weil dort zu den beiden genannten Bedeutungsaspekten, Tätigkeit und Resultat, noch ein dritter hinzutritt: ὄψις ist nicht nur die Tätigkeit des Sehens und das daraus resultierende optische Bild, sondern auch das Sehvermögen. Auf ähnliche Weise kann λόγος, wie wir gesehen haben, später auch das Überlegungsvermögen, die Vernunft bezeichnen.107

Bei all diesen Begriffen zeigt sich eine grundlegende Einheit von Sein und Vorgang des Entstehens dieses Seins, also einer Bewegung, deren Ergebnis das Sein ist.108 In den bisherigen Abschnitten hat sich gezeigt, dass das Griechische ursprünglich nicht eindeutig zwischen Vorgang und Ergebnis des Vorganges unterscheidet bzw. diese Aspekte nicht eindeutig voneinander trennt. Man könnte daher dem hier vorgestellten ambivalenten Verständnis der Begriffe ‚φύσις‘, ‚τὸ ὄν‘ und ‚λόγος‘ unsauberes und undifferenziertes Denken unterstellen, da es die Bedeutungen dieser Begriffe nicht unterscheidet oder sie auf eine einheitliche Bestimmung zurückführt, sondern in ihrer Ambiva106

W. J. Verdenius, Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides I, S. 83 f. W. J. Verdenius, op.cit., S. 84. 108 Bei manchen Begriffen kommt sogar noch ein weiterer Bedeutungsaspekt hinzu – nämlich die Fähigkeit, den Vorgang zu durchlaufen (z. B. Vernunftfähigkeit beim λόγος). 107

Kap. 2: Vorverständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung

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lenz stehen lässt. Denn solcherweise ambivalente Begriffe können nicht zu Klarheit und Eindeutigkeit in der Erkenntnis führen. Doch diese Beurteilung des Denkens als ‚unrein‘ oder ‚unklar‘ ist erst eine Folge unseres Verständnisses von ‚reinem‘ oder ‚klarem‘ Denken – eine Folge eines λόγος, der sich einzig und allein an idealen Seienden bzw. dem allgemeinen Sein orientiert. Vielleicht verhält es sich gerade umgekehrt und unser ‚reines‘ und ‚klares‘ Denken, das sich bloß am Idealen orientiert, reduziert die Komplexität der konkreten Welt, des konkreten Seienden viel zu stark, um noch gehaltvolle Erkenntnisse über das konkrete Seiende zu ermöglichen?

Zweiter Teil

Historische Untersuchung „Die Philosophie hat sich seit ihrem Beginn immer auch ihrer Geschichte zugewandt. Und sie hat dabei stets mehr zu gewinnen erhofft als einen Einblick in längst vergessene Wahrheiten. Für die Anfänge des Philosophierens enthielt die Geschichte den Stoff zur Auseinandersetzung. Die Geschichte besaß Relevanz.“ Christoph Asmuth, Interpretation-Transformation

Kapitel 3

Vorüberlegungen § 5 Der Leitfaden Der Leitfaden für den historischen Teil der Untersuchung ist die These, dass sich das Denken in der Vorsokratik immer weiter von der Beobachtung der konkreten Natur und des konkreten Seienden entfernt und stattdessen immer mehr über das allgemein-abstrakte Sein als eigentlich Wirkliches nachdenkt. Verallgemeinernd führt diese These zur Behauptung, dass die Ionier vor allem das konkrete und sich bewegende Seiende und die Struktur der physischen Welt untersuchten, während die spätere Philosophie vor allem nach Wissen über die Natur des Allgemeinen, der eigentlichen Wirklichkeit, d. h. des Seins strebt. Als Leitfaden dieser Untersuchung können somit die Loslösung der Philosophie von der Untersuchung des konkreten Seienden und die Hinwendung des philosophischen Denkens zu immer abstrakteren und damit zugleich absoluteren Erkenntnissen gelten. So gedeutet, könnte man die Entwicklung der Vorsokratik als die Entwicklung von einer diesseitigen Philosophie der wandelbaren und veränderlichen φύσις über immer stärkere Abstraktion hin zu einer Philosophie des transzendenten Seins beschreiben. Emil Angehrn fasst diese Auslegung der Entwicklung von der Weltbeobachtung des Seienden hin zur Weltüberschreitung durch das Sein im Versuch der Philosophie, die Welt zu erklären, sehr eingängig zusammen: „Die Blickwendung vom Welt-Denken der Ionier

Kap. 3: Vorüberlegungen

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zum Seins-Denken der Eleaten bedeutet nicht nur einen Schritt der gedanklichen Abstraktion, sondern einen Akt des Vergessens und Verdrängens. Seinsdenken zeigt sich als eine Abkehr von der Welt, die sich nicht in einer kognitiven Einklammerung erschöpft, sondern vom Impulse des Zurückdrängens der Flucht lebt.“1 Doch muss auch hier betont werden, dass eine solche lineare und zielgerichtete Darstellung von komplexen historischen Entwicklungen, so hilfreich sie in systematischer Hinsicht sein mag, immer zu einseitig ist und der Mannigfaltigkeit und Subtilität der einzelnen Positionen niemals gerecht werden kann.

§ 6 Die Suche nach der ἀρχή Mit der Bezeichnung ‚Vorsokratik‘ benennt man zumeist eine Phase des Aufbruchs und der Neuorientierung im griechischen Denken. Dennoch bleibt die Frage der entstehenden Philosophie jene Frage, die auch schon der Mythos zu beantworten suchte: Dies ist die Frage nach dem Beginn und Ursprung (im Sinne einer Entstehungsgeschichte des konkreten Seienden) bzw. nach der Ursache und dem Prinzip (im Sinne einer Begründung durch ein allgemeines Prinzip) des Seienden. In der Auslegung der Vorsokratiker wird diese Suche nach dem ersten Grund in beiden genannten Hinsichten meist als Suche nach der ἀρχή bestimmt. Mit Hilfe der ἀρχή kann dann sowohl nach dem einheitlichen Ursprung, in dem alle veränderliche Vielheit gründet, gefragt werden als auch nach dem ‚grundlegenden Prinzip‘ oder der ‚ersten Ursache‘ des Seienden. Systematisch betrachtet lassen sich (wiederum verallgemeinernd) drei grundlegende Konzeptionen von ἀρχή in der Vorsokratik ausmachen2: die ἀρχή a) als Materie, b) als ἄτομον und c) als etwas Prinzipielles (als das Unbestimmte / Unbegrenzte, das ἄπειρον bzw. als νοῦς).3 Sowohl die Annahme der Materie als auch die Annahme von unteilbaren und letzten Bestandteilen (ἄτομα) als Ursprung oder erstes Prinzip erklären 1

Emil Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 146. Die andere Möglichkeit nach dem Grundlegenden beziehungsweise dem Ursprünglichen zu fragen, ist die Frage nach dem Letzten, auf das hin sich alles beziehen lässt. Das Einzelne verweist auf das Ganze, ist auf es bezogen und wird dort aufgehoben, integriert oder sublimiert. Solche Untersuchungen haben meist das Allgemeine oder auch das Göttliche zum Untersuchungsgegenstand. Eine solche absolute Allgemeinheit des Letzten ist in der Vorsokratik nicht gegeben. Hier wird meist das Gesetz oder die Einheit als das Letzte gesehen. Hierzu vgl. Emil Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 55 ff. 3 Das ἄπειρον wird oft auch bedeutungsverengend mit dem Begriff ‚unendlich‘ übersetzt. 2

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2. Teil: Historische Untersuchung

die grundlegende Beschaffenheit der Welt auf eine inhaltliche Art. Sie vermitteln so die Frage nach dem inhaltlichen Woher-Woraus des Seienden (Materie bzw. Atome) und die Frage nach dem Grund, einem erklärenden Prinzip oder einer erklärenden Ursache. Materie oder Atome sind nämlich nicht nur abstrakt-formale Bestimmungen des Ursprungs, sie benennen auch das ‚Woraus‘ der Welt und bestimmen es inhaltlich. Dieser Fokus auf das ‚Woraus‘ der Welt, d. h. auf die physische Beschaffenheit, betont die Konkretheit und die Vergänglichkeit des Seienden weit stärker als ein Fokus auf allgemeine und zeitlose Prinzipien: Was materiell bestimmt ist, existiert als Konkretes, ist einmal entstanden und wird einmal vergehen. Durch die Bestimmung mit Hilfe einer konkreten Materialität wie z. B. Thales’ Wasser oder der allgemeinen Materialität der Atome wird die Welt in ihrer qualitativen Beschaffenheit erfassbar gemacht, und zwar indem das ‚Material‘, aus dem sie besteht, aufgezeigt und untersucht wird. Dieses ‚Material‘ erklärt so das Woraus des Bestehenden und dadurch, dass die Eigenschaften und Beschaffenheit dieses ‚Materials‘ untersucht werden, lässt sich zugleich auch etwas über die qualitative Beschaffenheit der Welt erschließen. Die ursprüngliche Frage nach der ἀρχή als materiell bestimmte ἀρχή ist also sowohl die Frage nach der Natur bzw. der Beschaffenheit der entstandenen Dinge als auch die Frage nach dem Ursprung dieser Beschaffenheit. Die Vielfalt des konkreten Seienden kann so auf eine einheitliche Grundlage zurückgeführt werden, die nicht nur als abstraktes Prinzip zu denken ist, das die Qualität der Welt bestimmt, sondern auch als Material der Welt bzw. als der Stoff, aus dem die konkrete Welt besteht. Das Besondere dieser Deutung der ἀρχή ist, dass diese Materie erfahren werden kann. Hier liegt auch der Unterschied zwischen der Bestimmung der ἀρχή als Atom und der Bestimmung durch eine gewisse Materie. Die Bestimmung durch Atome ist von allgemeinerer Natur als die Bestimmung durch eine konkrete Materie. Die Atome sind zwar auch materiell, aber in einem allgemeineren Sinn: sie sind das Material, aus dem die Wirklichkeit besteht. Aber Atome sind jedoch nicht auf jene Weise materiell, also sinnlich wahrnehmbar, wie das Wasser des Thales. Die ἀρχή ist uns in ihrer Manifestation als Stoff noch in der Erfahrung zugänglich und es ist daher noch möglich, durch Erfahrung der Welt grundlegende Einsichten in die Beschaffenheit der Welt zu erlangen. Die eigentliche Welt ist noch erfahrbar. Dies ist die inhaltliche Antwort auf die Frage nach der ἀρχή. Aristoteles betont diese Deutung der ἀρχή bei den Vorsokratikern, wenn auch abwertend, immer wieder: Das Prinzip der Dinge weist nach Aristoteles im Denken der Vorsokratiker also die Seinsweise der Materie auf (ἐν ὕλης εἴδει):

Kap. 3: Vorüberlegungen

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τῶν δὴ πρώτων φιλοσοφησάντων οἱ πλεῖστοι τὰς ἐν ὕλης εἴδει μόνας ᾠήθησαν ἀρχὰς εἶναι πάντων·ἐξ οὗ γὰρ ἔστιν ἅπαντα τὰ ὄντα, καὶ ἐξ οὗ γίγνεται πρώτου καὶ εἰς ὃ φθείρεται τελευταῖον, τῆς μὲν οὐσίας ὑπομενούσης, τοῖς δὲ πάθεσι μεταβλλούσης, τοῦτο στοιχεῖον καὶ ταύτην ἀρχήν φασιν εἶναι τῶν ὄντων, καὶ διὰ τοῦτο οὔτε γίγνεσθαι οὐδὲν οἴονται οὔτ᾽ἀπόλλυσθαι, ὡς τῆς τοιαύτης φύσεως αἰεὶ σωζομένης, […].4 Von den ersten Philosophen hielten die meisten das Stoffartige (ἐν ὕλης εἴδει) für das einzige Prinzip (ἀρχή) alles Seienden; denn das nämlich aus dem alles Seiende ist, und woraus es zuerst entstanden ist, und worin es zuletzt untergeht, wobei das Wesen (οὐσία) bestehen bleibt, und nur die Bestimmungen wechseln, dies ist das Grundelement (στοιχεῖον) und das Prinzip (ἀρχή) des Seienden. Und daher gibt es auch kein Entstehen oder Vergehen von Etwas, da dieselbe Natur immer erhalten bleibt […]

Aristoteles deutet die materiell bestimme ἀρχή sofort in seinem Sinne als ein Zugrundeliegendes, an dem eine Veränderung stattfindet. Daraus schließt er, dass die Natur des Veränderlichen die Veränderung überdauert. Wenn jedoch die materiellen Prinzipien (sei es eines oder seien es mehrere) durch jegliche Veränderung hindurch unverändert bleiben,5 kann nicht im eigentlichen Sinne von Veränderung gesprochen werden, da das eigentlich Wirkliche unverändert aller Veränderung zugrunde liegt. Es ist zu bezweifeln, ob dies eine sachlich angemessene Charakterisierung des Denkens der Vorsokratiker sein kann. Vor allem da die Vorstellung eines Zugrundeliegenden oder Bleibenden als Träger einer Veränderung erst von Aristoteles selbst eingeführt wird. Es scheint vielmehr so, als ob sich Aristoteles in der Formulierung dieses Gedankens sehr von seinen eigenen Überlegungen hatte leiten lassen. Es gibt jedoch auch Vorsokratiker, welche die ἀρχή nicht materiell, sondern prinzipieller als Unbestimmtes / Unbegrenztes oder Ähnliches bestimmen. Diese Bestimmung verweist auf eine ganz andere Vorstellung von ἀρχή, und zwar als die Bestimmung der ἀρχή als Materialität oder als unteilbare und letzte Bestandteile. Hier wird die Frage nach der ἀρχή nicht inhaltlich durch den Verweis auf Erfahrbares oder Materielles beantwortet, sondern durch den Verweis auf ein Prinzip, das sich nicht in der direkten Erfahrung, sondern nur in der Reflexion auf diese Erfahrungen zeigt. In der Beobachtung der Natur zeigt sich den Vertretern dieser Bestimmung von ἀρχή eine gewisse Notwendigkeit und Regelmäßigkeit, die als Prinzipien verstanden werden. Diese Prinzipien beschreiben jene notwendigen Prozesse, Bestimmungen oder Gesetze, welche die gesamte Wirklichkeit prägen und daher als eigentliche ἀρχή des Vielfältigen und sich Verändernden gedacht werden müssen. Diese theoretische Bestimmung der ἀρχή ist nicht 4 5

Aristoteles, Metaphysik, 983b7 ff. ἐξ ὧν γίγνεται τἆλλα σωζομένες ἐκείνης, Aristoteles, Metaphysik, 983b18.

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2. Teil: Historische Untersuchung

mehr so stark mit der Erfahrung des materiellen Seienden verbunden wie die zuvor genannten Bestimmungen. Dennoch sind auch diese Prinzipien immer noch mit Blick auf das konkrete materielle Seiende bestimmt, aber eben nicht mehr wesentlich mit Hilfe von Erfahrung, sondern vor allem vermittels einer Abstraktionsbewegung. Erst in dieser Bestimmung der ἀρχή als allgemeines und abstraktes Prinzip wird die Frage nach der ἀρχή zur Frage nach der ersten Ursache. Es standen also den ἀρχή-ologen noch beide Wege des Verständnisses und der Begründung des Seienden offen: i) der Weg über ewige, unveränderliche, theoretisch-abstraktiv erschlossene Ursachen und ii) der Weg über die Betonung der Erfahrung, die durch eine Beschreibung der grundlegenden materiellen Ursprünge und materiellen Beschaffenheit des konkreten Seienden mehr über die Wirklichkeit zu erfahren sucht. Kapitel 4

Thales von Milet „So schaute Thales die Einheit des Seienden: und wie er sich mittheilen wollte, redete er vom Wasser!“6

Sextus Empirikus ist der Meinung, dass die Philosophie in dem Moment begann, in dem das sinnlich Wahrgenommene mit den Mitteln der Vernunft kritisch befragt wurde.7 Nach diesem Verständnis ist wohl Thales der erste Philosoph, denn er hat im Nachdenken über die Welt das Wasser als alleinige Grundlage des Seienden bestimmt. Auch wenn Thales seine Überlegungen nicht, oder nur zu einem kleinen Teil, schriftlich niedergelegt hat,8 sind seine Gedanken daher als eine Art Weichenstellung des Denkens und als Beginn der Philosophie zu deuten. Der entscheidende Punkt für die Interpreten des Thales ist die Frage nach dem Status dessen, was als das Grundprinzip seiner Überlegungen gilt, dem Wasser. Dabei handelt es sich um das Problem, auf welche Frage ‚das Wasser‘ eine Antwort sein kann. Es gibt zwei gängige Möglichkeiten auf dieses Problem einzugehen: Entweder ist das Wasser die Antwort auf die Frage nach der (Material-)Ursache des Seienden oder die Antwort auf die Frage nach dem Woher des Seienden. Die erste Möglichkeit führt zu der Interpre6 Friedrich Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 817. 7 Vgl. Sextus Empirikus, Adv. math. 7, 89. 8 Vgl. Simplikios, in Phys., 23, 29, oder Diogenes Laertius, I, 23.

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tation, dass alles Seiende aus dem Material Wasser besteht bzw. durch dieses Materialprinzip verursacht ist. Die zweite hingegen führt zu der Vorstellung, dass alles (genealogisch) aus dem Wasser entstanden ist. Die zweite Frage, also die Frage nach dem Woher, fragt nach der Entstehungsgeschichte, nach der konkreten Herkunft des Seienden. Die erste Frage hingegen, das Warum (Ursache) bzw. das Woraus (Materialursache), fragt nach einer prinzipiellen Erklärung und damit je nach Verständnis entweder nach dem Material aus dem das Seiende besteht oder ganz allgemein nach den vier Ursachen, die Aristoteles auflistet.9 Aristoteles ist der Meinung, dass das Wasser die materielle Beschaffenheit alles Seienden, also seine Materialursache, benennen soll. Nietzsche hingegen sieht von der Materialität des Wassers ab und sieht das Wasser als Prinzip, als Name für die einheitliche Ursache alles Seienden. Hegel steht zwischen diesen beiden Deutungen und versteht das Wasser als Metapher, z. B. als eine Idee die zwischen Materialität und Prinzip, zwischen der sinnlichen Erfahrung und dem Denken in Prinzipien vermitteln soll. Keine dieser Deutungen nimmt jedoch das Wasser als die Antwort nach dem entstehungsgeschichtlichen Woher des Seienden wirklich ernst. Das Wasser wird nicht selbst als das Woher des Seienden bestimmt. Das Wasser ist somit nicht als wirkliches Wasser gedeutet, sondern nur als eine Form von Materie, die auch als Chiffre für die Materialursache gelesen werden kann. Nur bei Hippolytos von Rom lassen sich Hinweise auf eine Deutung finden, die das Wasser als Antwort auf die Frage nach dem Woher des Seienden wirklich ernst nimmt. Er deutet das Wasser als ein materielles Bewegungsprinzip, dem alles Sein und alle Bewegung entspringen. Viele der neueren Untersuchungen der Fragmente scheinen außerdem darauf hinzuweisen, dass Thales mit dem Wasser eine Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Seienden geben und nicht die Materie benennen möchte, aus der alles Seiende besteht, wie Aristoteles behauptet.10 Je nachdem welche der eingangs genannten Fragen Thales unterstellt wird und wie seine Antwort (das Wasser) gedeutet wird, kann Thales daher als Metaphysiker des einheitlichen Seins, als Denker der bewegten Existenz oder auch als Denker zwischen diesen beiden Extremen verstanden werden. 9 Genau genommen antwortet die causa finalis auf die Frage nach dem Ziel oder Zweck (Wozu), die causa materialis auf die Frage nach dem Woraus, die causa formalis nach dem Was Etwas ist und die causa efficiens nach der Wirkursache (Warum oder Wodurch). Die Entstehungsgeschichte als Ursache der gegenwärtigen Beschaffenheit scheint also eine weitere Ursache zu sein, die sich keiner der aristotelischen Ursachen eindeutig zuordnen lässt. 10 Vgl. Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie (II), S. 385 ff. oder J. Klowski, Zur Entstehung der Begriffe Sein und Nichts und der Weltentstehungs- und Weltschöpfungstheorien im strengen Sinne, S. 121 ff.

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§ 7 Traditionelle Deutungsweisen – Wasser als Materialursache oder Prinzip Aristoteles meinte, Thales sei der erste Philosoph, weil er das Wasser zum Element (στοιχεῖον) und Prinzip (ἀρχή) aller seienden Dinge gemacht hatte.11 Aristoteles spricht auch davon, dass Thales der Anführer jener Art von Philosophie ist, die den Ursprung des Seienden in einer bestimmten Materialursache verortet.12 Doch die von Thales überlieferte Behauptung ‚das Wasser ist das Prinzip alles Seienden‘ (d. h. das Wasser ist das, woher alles Seiende stammt) bedeutet nicht notwendigerweise dasselbe wie die aristotelische Behauptung, ‚dass alles Seiende letztlich aus Wasser besteht‘ (d. h. Wasser als Materialursache alles Seienden). Diese Deutung des Wassers als Materialursache weist darauf hin, dass Aristoteles Thales’ Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Dinge so gedeutet hat, als würde Thales auf diese Frage mit der Bestimmung der materiellen Beschaffenheit der Dinge antworten.13 Aristoteles liest Thales also als quasi-metaphysischen Denker, der die Materialursache des Seienden entdeckt hat und diese als Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit der Welt vorschlägt. Allerdings gelangte Thales nach Aristoteles nicht bis zur vollständigen Ausformulierung seiner These der Materialursache und blieb bei einer sinnlichen Chiffre für dieses Prinzip, dem Wasser, stehen. Für Aristoteles ist Thales also kein Denker, der sich mit der Frage der Entstehung der Dinge und der daraus resultierenden Beschaffenheit des Seienden beschäftigt, sondern ein Metaphysiker, der eine Materialursache zur Begründung des Seienden anführt. Hegel war der erste moderne Denker, der diesen aristotelischen Ansatz aufnahm und Thales’ Thesen explizit als metaphysische Thesen deutete. Wobei diese metaphysischen Thesen sich nach Hegel nicht auf die Materialursache bezogen, sondern primär die Einheit alles Seienden ausdrücken sollten.14 Das ist eine Deutung, die sich in radikalisierter Form auch bei Nietzsche finden lässt. Sowohl Hegel als auch Nietzsche sind sich darin 11 Aristoteles, Metaphysik, 983b10. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Thales selbst den Begriff der ‚ἀρχή‘ verwendet hat. Er wird wohl eher von πηγαὶ oder ὁρίζαι der Dinge gesprochen haben. Siehe M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 26. 12 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 983b20. 13 Vgl. J. Barnes, The Presocratic Philosophers, 1, S. 10, 39 ff. und M. C. Stokes, One and Many in Presocratic Philosophy, S. 40 ff. oder C. J. Classen, Thales, S. 946. 14 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 201 f. Diese metaphysische Lesart ist immer noch sehr einflussreich. Vgl. Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie, I, S. 35 f., A. v. Schirnding, Am Anfang war das Staunen: Über den Ursprung der Philosophie bei den Griechen, S. 25 oder C. F. Geyer, Einführung in die Philosophie der Antike, S. 2.

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einig, dass Thales noch kein vollständiger Metaphysiker und somit letztlich kein Denker der Materialursache war. Sie deuten Thales als eine Art ProtoMetaphysiker, der sich noch nicht vollkommen von der Erfahrung des Sinnlichen abgewandt und die Erfahrung der sinnlichen Materialität der Welt dementsprechend noch nicht durch ein Materieprinzip ersetzt hat. Interessant ist an dieser Stelle, dass Hegel diese Vorstellung des Wassers als Verweis auf ein konkretes sinnlich-physikalisches Phänomen mit der aristotelischen Vorstellung von Wasser als vorsokratische Chiffre für die einheitliche (Material-)Ursache des Seienden vermittelt.15 Hegel erklärt, dass anhand der Setzung der Welt als Wasser, d. h. der Setzung alles Seienden als im physikalischen Phänomen Wasser gründend, die Welt als einheitlicher Begriff gesetzt werden soll. Thales beginnt daher nach Hegel seine Deutung der Welt mit einem einfachen Allgemeinen, dem Flüssigen überhaupt. Das Flüssige überhaupt wird aber mit einem Begriff benannt, der ein konkret seiendes Allgemeines ist (im Gegensatz zum abstrakten Allgemeinen): Wasser. Der Name ‚Wasser‘ ist somit ein Element der erlebten Welt und benennt dennoch etwas einfach Allgemeines, das Flüssige überhaupt. Wasser bleibt in dieser Deutung Hegels zwar ein sinnliches Prinzip, ein erfahrbares Element, das jedoch in der philosophischen Verwendung durch Thales diese Sinnlichkeit zumindest teilweise verliert und zu einem Begriff wird. Als allgemeiner Begriff existiert das Wasser jedoch auf dieselbe Weise wie die aristotelische Materie, „sie ist, hat gegenständliche Existenz, aber als Begriff“16. Thales ist also Philosoph, weil bei ihm der Begriff ‚Wasser‘ nicht das Besondere, das Sinnliche, die bloße Materie Wasser benennt, sondern weil er mit diesem Begriff einen umfassenderen Gedanken ausdrückt. Nach Hegel ist dieser Begriff so bestimmt, dass in ihm „alle wirklichen Dinge aufgelöst und enthalten sind“. In diesem Gedanken ist das Seiende „also als das allgemeine Wesen gefasst“. Für Hegel ist Thales außerdem noch ein Naturphilosoph, weil er dieses Allgemeine als weltliches und konkretes Seiendes bestimmt und so „also das Absolute als Einheit des Gedankens und Seins“ erreicht.17 Diese Vorstellung des Einheitsgrundes (Wasser) hinter der mannigfaltigen Sinnlichkeit des Seienden ist für Hegel ein Zurücktreten von dem unmittelbar sinnlich gegebenen Seienden, wenn auch nur ein ‚bloßes‘ Zurücktreten und kein reflektiertes. Dieses ‚bloße‘ Zurücktreten von der Unmittelbarkeit ist aber auch immer schon eine Überschreitung des Seienden hin auf ein Allgemeines.

15 16 17

Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 199. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 202. G. W. F. Hegel, loc.cit.

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Hegel sieht so hier schon die Ambivalenz zwischen veränderlichen und einzelnen Seienden (des konkreten Wassers im Fluss oder im Teich) und dem prinzipiellen und allgemeinen Sein (die Idee bzw. der Begriff des Wassers, bzw. das Wasser im Allgemeinen) angelegt. Mit Thales findet also ein erster Schritt in Richtung einer Trennung des Seienden vom Sein statt, aber sicherlich noch keine Transzendenz des konkret Sinnlichen. Das Wasser ist bei Thales zwar eine Abstraktion bzw. eine Verallgemeinerung, jedoch nach Hegel noch keine Transzendenz, denn es gibt kein eigentlich Wirkliches, das völlig unabhängig vom materiellen Seienden existiert. Es gibt nur das eine Seiende (Wasser) und jedes Seiende ist nur als Teil dieses Einen zu verstehen. Insofern ist Thales für Hegel nur ein Proto-Metaphysiker. Auch Nietzsche vertritt eine metaphysische Deutung des Thales, und auch er versucht, zwischen beiden Deutungen des Wassers als konkret sinnlich Seiendes und als Prinzip zu vermitteln. Jedoch betont er den Einheitsaspekt im Denken des Thales viel stärker, als Hegel es getan hatte: Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimten Einfalle zu beginnen, mit dem Satze, daß das Wasser der Ursprung und der Mutterschooß aller Dinge sei: ist es wirklich nöthig, hierbei stille zu stehen und ernst zu werden? Ja, und aus drei Gründen: erstens weil der Satz etwas vom Ursprung der Dinge aussagt und zweitens, weil er dies ohne Bild und Fabelei thut; und endlich drittens, weil in ihm wenngleich nur im Zustande der Verpuppung der Gedanke enthalten ist: alles ist eins. Der erstgenannte Grund läßt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite aber nimmt ihn aus dieser Gesellschaft und zeigt uns ihn als Naturforscher, aber vermöge des dritten Grundes gilt Thales als der erste griechische Philosoph.18

Für Nietzsche ist Thales der exemplarische Denker der Wegkreuzung von Mythos, Wissenschaft und Philosophie, da er alle diese Elemente in seinem Denken noch vereinen kann. Thales versucht nach Nietzsche zwar eine Begründung des Seienden als Ganzes zu leisten, aber nicht durch ein übernatürliches Prinzip, sondern durch ein materielles, d. h. ein in der Weise der Materie Wasser seiendes Prinzip. Das Wasser ist somit bei Nietzsche stärker als materiell-metaphysisches Prinzip gedeutet, als dies bei Hegel der Fall war. Nietzsche geht auch in der Frage, ob Thales ein Denker des Transzendenten ist, weiter als Hegel. Für Nietzsche verdichtet sich Thales’ Denken zu einem transzendent-metaphysischen System, weshalb er Thales letztlich als Metaphysiker des einheitlichen Prinzips, also des Seins, deutet: Die dürftigen und ungeordneten Beobachtungen empirischer Art, die Thales über das Vorkommen und die Verwandlungen des Wassers oder, genauer, des Feuchten, gemacht hatte, hätten am wenigsten eine solche ungeheure Verallgemeinerung erlaubt oder gar angerathen; das, was zu dieser trieb, war ein metaphysischer 18 Friedrich Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 813.

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Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat, und dem wir bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: der Satz ‚Alles ist Eins‘.19

Für Nietzsche entsteht der Gedanke der Einheit mit Thales wie aus dem Nichts und ist im ersten Anlauf schon vollkommen ausgeformt. Dies ist wohl eine zu starke Betonung des metaphysischen Aspektes. Außerdem vergisst diese Darstellung Nietzsches auf den, im ersten Abschnitt erläuterten, dynamischen Grundzug des griechischen Denkens. Die Vorstellung eines bewegten Grundes scheint im griechischen Denken tief verwurzelt gewesen zu sein: „Die Annahme eines unbeweglichen, starren, beharrlichen Elements hätte wohl der den Griechen eigentümlichen Anschauung vom ständigen Werden und Vergehen, vom ständigen Gebären und Sterben kaum entsprochen.“20 Es scheint daher unwahrscheinlich, dass Thales mit einer voll ausgeformten transzendierenden Metaphysik des Einen so plötzlich und unvermittelt die Bühne des griechischen Denkens betritt, wie Nietzsche dies behauptet.

§ 8 Eine andere Möglichkeit der Deutung – das Wasser als das dynamische Woher des Seienden Im vorhergehenden Abschnitt hat sich gezeigt, dass Hegel in seiner Deutung um einiges vorsichtiger und wohl näher am griechischen Denken ist als Nietzsche. Hegel erwähnt sogar die Möglichkeit, das Wasser genealogisch zu deuten, und zwar als Bestimmung des Woher alles Seienden. Nach Hegel meint Thales nämlich nicht bloß das sich sinnlich zeigende Wasser des Flusses oder das Wasser des Meeres, wenn er vom Wasser spricht: Thales verwendet diesen Begriff möglicherweise auch, um auf den einheitlichen Ursprung des Lebens zu verweisen. Bei dieser Vorstellung ist Hegel sicher vom Bild traditionellen griechischen Denken inspiriert worden: Im traditionellen griechischen Weltbild, das von Homer und Hesiod geprägt ist, nimmt nämlich der unendlich bewegte Weltfluss Okeanos, der die Erde umfasst und begrenzt, eine zentrale Rolle ein: Er ist die ewig bewegte Quelle alles sterblichen und unsterblichen Lebens.21 Auch bei Aristoteles lassen sich Überlegungen finden, die in diese Richtung gehen. Aristoteles fragt sich nämlich an einer Stelle, ob Thales möglicherweise das Prinzip des Wassers als Grundlage angenommen habe, weil „er sah, daß die Nahrung aller Dinge feucht ist und das Warme selbst aus 19 20 21

Friedrich Nietzsche, loc.cit. Helmut Seidel, Von Thales bis Platon, S. 41. Homer, Illias, XIV 201, 244, 302.

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dem Feuchten entsteht und durch dasselbe lebt (das aber, woraus etwas wird, ist das Prinzip von allem)“22. In Zeilen, die auf diese Stelle folgen, spricht Aristoteles davon, dass die älteren Denker des Göttlichen wohl ebenso gedacht hätten wie Thales, wenn sie davon sprachen, dass Okeanos und Tethys die Erzeuger alles Entstehenden (τῆς γενέσεως πατέρας) sind.23 Auch Platons Sokrates beschreibt die Meinung der Alten, indem er die Flüsse Okeanos und Thetys den Ursprung von allem nennt und meint, für die alten Weisen hätte es nichts Feststehendes gegeben.24 Es gibt also schon bei Platon und Aristoteles einige Hinweise, die es erlauben, Thales als Denker zu verstehen, der sich mit der Frage der Entstehung der Dinge aus dem Wasser und der resultierenden Beschaffenheit des Seienden beschäftigt. Dies wäre eine Art, die Beschaffenheit der Welt zu deuten, welche noch eng mit der traditionellen Erklärungsform des Mythos verwandt ist, nämlich etwas durch Verweis auf seine Genesis zu bestimmen. Doch Thales wurde auch von antiken Autoren nicht nur als genealogischer Denker gedeutet, wie die Darstellung durch Hippolytos von Rom25 zeigt, sondern auch als Denker einer bewegten Existenz. So meint Hippolytos, dass das Wasser für Thales zwar der Grund des Seienden war, doch war dieser Grund nach Hippolytos nicht unbewegt, sondern vielmehr ein bewegter Grund. Die ἀρχή des Thales war nach Hippolytos der Kreislauf des Werdens, der vom Wasser getragen wird. Hippolytos stellt Thales’ Position u. a. mit den folgenden Worten dar: oὗτος ἔφη ἀρχὴν τοῦ παντὸς εἶναι καὶ τέλος τι ὕδωρ·[…] καὶ τὰ πάντα φύεσθαί τε καὶ ῥεῖν τῇ τοῦ πρώτου ἀρχηγοῦ τῆς γενέσεως αὐτῶν φύσει συμφερόμενα.26 Aus dem Wasser geht alles Seiende hervor und in es kehrt alles Seiende zurück. […] Und alle Dinge bewegen sich und sind im Fluss, weil sie mit der Natur des ersten Urhebers ihres Werdens übereinstimmen. 22 Aristoteles, Metaphysik, 983b24. Einen ähnlichen Gedanken findet man auch bei Simplikios, in Phys., 23, 21 ff., der an dieser Stelle Theophrasts Zusammenfassung der Lehren des Thales wiedergibt (DK 11A13). 23 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 199. 24 Platon, Theaitetos, 152d–e, Kratylos, 402a–d. 25 Hippolytos, der im 2. Jh. nach Christus lebte, ist weder eine sonderlich neutrale noch eine sonderlich vertrauenswürdige Quelle. Er ist nicht neutral, weil seine Untersuchung der Vorsokratiker dazu dienen soll, die Wurzeln der Häresien seiner Zeit im Denken der griechischen Philosophen aufzudecken. Sie ist nicht sonderlich vertrauenswürdig, da Berichte über Denker von denen uns mehr Textmaterial erhalten ist (z. B. Heraklit oder Empedokles) in recht eklektischer Weise dargestellt werden. (vgl. Jackson P. Hershbell, Hippolytus’ ‚Elenchos‘ as a Source for Empedocles Re-examined, S. 101) Für allgemeine Reflexionen über Hippolytos als Quelle vgl. Jackson P. Hershbell, op.cit und Hermann Diels, Doxographi graeci, XI, S. 144 ff. 26 Hippolytos, Refutatio Omnium Haeresium, I. 1.

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Liest man diese zugegebenermaßen schlecht belegte Deutung des Wassers als konkret-materielles Bewegungsprinzip bei Thales, die sich meines Wissens nur bei Hippolytos findet, in Verbindung mit zwei Bemerkungen aus der aristotelischen De Anima, erhält diese Interpretation mehr Gewicht: ἔοικε δὲ καὶ Θαλῆς, ἐξ ὧν ἀπομνημονεύουσι, κινητικόν τι τὴν ψυχὴν ὑπολαβεῖν, εἴπερ τὸν λίθον ἔφη ψυχὴν ἔχειν ὅτι τὸν σίδηρον κινεῖ.27 – Nach dem, was uns von Thales überliefert ist, hat er die Seele als etwas Bewegendes (κινητικόν) verstanden, wenn er sagt, dass der Stein eine Seele habe, weil er Eisen bewegt. καὶ ἐν τῷ ὅλῳ δὲ τινες αὐτὴν μεμεῖχθαί φασιν, ὅθεν ἴσως καὶ Θαλῆς ᾠήθη πάντα πλήρη θεῶν εἶναι.28 – Manche sagen, dass sie (die Seele) im All eingemischt sei, weswegen vielleicht auch Thales glaubte, dass alles voll von Göttern ist. (Dieser Gedanke lässt sich auch in de gener. Anim. 762a21 finden, mit dem Unterschied, dass an der Stelle von ‚θεῶν‘ nun ‚ψυχῆς‘ steht und diese Überzeugung keinem Denker spezifisch zugeschrieben wird.)

Aristoteles scheint also zu vermuten, dass nach Thales die Seele etwas Bewegendes ist und dass die Welt beseelt ist. Beide Aussagen zusammen ermöglichen die Deutung der Welt als von einem Bewegungsprinzip durchdrungen. Wird dieser Zusammenhang durch Hippolytos Fragment ergänzt, lässt sich die These aufstellen, dass Thales von einem Prinzip der Bewegtheit ausgeht, das nach Hippolytos Wasser (ὕδωρ) heißt. Dieser Analogisierung von Wasser und ψυχή (Seele) als bewegendes Prinzip widerspricht jedoch, dass Aristoteles dieses Prinzip der Bewegung bei Thales eindeutig ψυχή nennt und Wasser in diesem Kontext nicht erwähnt. Nun stellt sich natürlich die Frage, was der Begriff der ‚ψυχή‘ in diesem Kontext bedeuten kann. Schon zu Zeiten Homers war klar, dass der Mensch ohne die ψυχή nicht leben kann. Ihr Besitz macht den Unterschied zwischen einem lebendigen Menschen und einer Leiche aus. Die ψυχή war auch jener Teil des Menschen, der den Tod überlebt und eine Schattenexistenz im Hades führt. Im Hades hat die ψυχή zwar noch Eigenschaften, sie kann jedoch nichts Bedeutungsvolles mehr mitteilen, also nicht sinnvoll sprechen.29 Außerdem ist das Leben der ψυχή im Hades niedriger einzuschätzen als das körperliche Leben der Sterblichen.30 Dies ist der Fall, da viele der Eigenschaften, die den lebendigen Menschen ausmachen, gar nicht in der ψυχή verankert sind: Bewusstsein, Denkfähigkeit und Gefühl wurzeln nicht in der ψυχή, sondern dies sind Fähigkeiten, die dem Menschen ursprünglich

27 28 29 30

Aristoteles, De Anima, 405a19. Aristoteles, op.cit., 411a7. Vgl. Homer, Odyssee, XI. Vgl. Homer, op.cit., XI 465–540.

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2. Teil: Historische Untersuchung

unabhängig von der ψυχή zukamen.31 Die einzige bzw. fundamentale Rolle der ψυχή war es, die Lebendigkeit des Lebendigen zu begründen.32 In der Vorsokratik bekommt die ψυχή langsam eine andere als die eben geschilderte und ursprüngliche Bedeutung. Hier benennt dieser Begriff „in erster Linie den Stoff, der Leben und Verstand im Menschen ermöglicht. […] [Der Begriff ψυχή] ist aber auch Synonym für ‚Leben‘ schlechthin.“33 Aristoteles berichtet in diesem Sinn von seinen Vorgängern: „Alle diejenigen also, die das Beseelte mit dem Blick auf das Bewegtwerden betrachten, haben die Seele als das am meisten zur Bewegung Fähige betrachtet […].“34 Doch Aristoteles kritisiert dieses Verständnis von ψυχή bei den Vorsokratikern. Er ist der Meinung, dass dies ein unangemessenes Verständnis von ψυχή ist, denn die ψυχή als etwas Unkörperliches bewegt sich nicht im Sinne der vier körperlichen Bewegungsarten, die Aristoteles an dieser Stelle nennt (φορᾶς – Ortsbewegung, ἀλλοίωσις – Veränderung, φθίσις – Schwinden und αὔξησις – Wachstum).35 Nach Aristoteles’ Definition kann die ψυχή nicht die Ursache der körperlichen Bewegung sein, da sie selbst nicht körperlich ist und daher nicht einsichtig gemacht werden kann, wie sie etwas Körperliches bewegen soll. Die ψυχή übernimmt daher spätestens mit Aristoteles vor allem die Rolle der prinzipiellen Ursache von Lebendigkeit, Gedanken-Bewegung (Erkenntnis) und Intelligenz und verliert den Bedeutungsaspekt der Ursache von Bewegung und Entwicklung des konkreten Lebendigen mehr und mehr. So viel zur Geschichte des Begriffes ‚ψυχή‘. Sowohl die ψυχή als auch das ὕδωρ stehen also zunächst für den Ursprung der Lebendigkeit und die Bewegung des Seienden. Sie sind zudem physisch Seiende bzw. mit dem physischen Seienden eng verbunden. So ist es nicht unmöglich, dass Aristoteles in Bezug auf Thales von der ψυχή spricht, wo Thales das Prinzip der Lebendigkeit und der Bewegung meint. 31

Vgl. Martha C. Nussbaum, Psyche in Heraclitus I, S. 1. Vgl. Martha C. Nussbaum, op.cit., S. 9. Nussbaum argumentiert, dass die ψυχή diese Rolle erst mit Heraklit bekommt, also erst in der Generation nach Thales. Dies widerspricht jedoch nicht der These, dass die Interpreten den Begriff ‚ψυχή‘ verwendeten, um die Vorstellung der Bewegtheit des Lebendigen bei Thales auszudrücken, macht es aber eher unwahrscheinlich, dass Thales selbst dies tat. Nussbaum argumentiert, dass der Begriff ‚ψυχή‘ vor Heraklit jedoch nur die Sterblichkeit der Menschen ausdrückte. In diesem Sinne kann der Begriff von Thales nicht gemeint worden sein, wenn er wirklich selbst von der ψυχή gesprochen hätte. So scheint es sinnvoll anzunehmen, dass Thales von etwas Bewegt-Lebendigem gesprochen hat, das von späteren Autoren mit dem Begriff ‚ψυχή‘ ausgedrückt wurde. 33 M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 342. 34 Aristoteles, De Anima, 404b7. 35 Aristoteles, op.cit., 406a13. 32

Kap. 4: Thales von Milet

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Interpretiert man diese Stellen so, dann verwendet Aristoteles den Begriff ‚ψυχή‘, um ein Prinzip der bewegten Lebendigkeit des Konkreten auszudrücken. Dies ist eine Charakterisierung, die auch auf Thales’ Wasser zutrifft. Die ἀρχή wäre dann von Thales eben nicht als „träge Masse, sondern [als] spontan wirkender ‚Ursprung‘ “ bestimmt.36 Außerdem ist zu bedenken, dass Aristoteles das Wasser schon als Materialursache identifiziert hat und die Materie im Kontext der aristotelischen Lehre das passive und unbewegte Element ist. Es wäre also für Aristoteles unmöglich, das Wasser als Materialursache und zugleich als von sich aus bewegt zu deuten. Doch selbst wenn diese Analogie von ψυχή und Wasser zu weit geht und Thales von der ψυχή unabhängig vom Wasser gesprochen hat, so kann der Begriff ‚ψυχή‘ „bei Thales schwerlich etwas anderes als ‚Leben‘ bedeuten, wie es bei Homer und bei vielen Vorsokratikern der Fall ist“37. Da jedoch auch das Wasser immer wieder, sei es von den ersten Dichtern oder auch von Aristoteles, mit dem Ursprung allen Lebens in Verbindung gebracht wurde, scheint sich eine gewisse inhaltliche Verbindung der beiden Begriffe nicht leugnen zu lassen. Diese Lesart des Verhältnisses von Bewegung, Wasser und ψυχή, erleichtert möglicherweise auch die Deutung der folgenden Stelle bei Diogenes Laertius: „Aristoteles und Hippias sagen, dass bei ihm [Thales] auch die unbeseelten Dinge an der Seele teilhaben, […].“38 Es scheint ungewöhnlich, zu behaupten, dass unbeseelte Dinge an der Seele teilhaben. Wie sollten sie an der Seele teilhaben, wenn sie unbeseelt sind? Dieser Satz wird jedoch sehr viel einsichtiger, wenn man ihn so versteht, dass auch unbeseelte Dinge an der Bewegung des Lebendigen teilhaben. Es ist uns jedoch so wenig Material zu diesen Fragen erhalten, dass sich letztlich nie feststellen lassen wird, ob eine solche Lesart wirklich berechtigt ist. Lässt man diese Zusammenschau der Darstellungen von Hippolytos, Aristoteles und Diogenes jedoch gelten und liest das Wasser als dynamischmaterielles Prinzip der bewegten Lebendigkeit, dann kann gesagt werden, dass „bei Thales Werden und Sein noch begrifflich zusammen [liegen]. Werden und Sein sind ihm convertible Begriffe. Alles, was ist, befindet sich im Werden und nur dasjenige, was sich im Werden befindet, hat Theil am Sein. Durch das Werden allein ist uns das Seiende bekannt und begreiflich. Nun gibt es aber keinen Ausdruck, der so geeignet wäre, diese beiden inei36

Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, S. 38. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 26. 38 Diogenes Laertius, I, 24: „Ἀριστοτέλης δὲ καὶ Ἱππίας φασὶν αὐτὸν καὶ τοῖς ἀψύχοις μεταδιδόναι ψυχῆς, […].“ Es ist wahrscheinlich dass Hippias jene Quelle war, die Aristoteles als Grundlage für seine Bemerkungen über Thales dienen. Vgl. Bruno Snell, Die Nachrichten über die Lehren des Thales, S. 170–182. 37

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2. Teil: Historische Untersuchung

nander übergreifenden Bestimmungen zum Bewusstsein zu bringen, als das Wort φύσις […].“39 Der Begriff ‚φύσις‘ wird hier verwendet, um sowohl das konkrete, werdende Seiende als auch seine Wesensbeschaffenheit, sein Sein, zu benennen. Dieses Sein besteht für Thales dann darin, bewegt lebendig oder werdend zu sein, denn der grundlegende Stoff Wasser selbst ist sowohl im mythologischen Kontext als auch in der Erfahrung der Natur Ursprung des Lebens und damit beweglich und veränderlich. Die stoffliche Grundlage allen Seins wäre somit bei Thales selbst bewegt. Es sind wohl bestimmte Qualitäten des Wassers, die Thales dazu verleitet haben, gerade Wasser als Begriff für das eigentlich Wirkliche zu setzen. Aber, ob Thales den Begriff ‚Wasser‘ verwendete, um die Beweglichkeit des Ursprungs anzudeuten, oder ob es Thales dabei um den Ursprung des Lebendigen ging, oder gar darum, wie Hegel meinte, den spekulativen Ursprung des Lebens aus der Unbestimmtheit und Formlosigkeit anzuzeigen40, ist nicht auszumachen. Eindeutig lässt sich sagen, dass Thales eine Chiffre für das einheitliche Verständnis der Welt einführt, die in einem Bereich liegt, in dem sich Naturbeobachtung und Reflexion überschneiden. Das Wasser kann als Wiege des Lebens, als physische Natur, als Urprinzip der Bewegung des Seienden gedeutet werden. Immer jedoch ist das Wasser auch konkret-sinnliches Prinzip und konkretes Seiendes. Das Wasser als Materie-Prinzip steht zwischen Physik und Metaphysik, zwischen empirischem Befund und rationaler Deduktion. Das Sein des Wassers als Materieprinzip kann also als Ergebnis einer Erfahrung mit dem Seienden, nämlich der Erfahrung des Wassers als Grundlage des Lebens und der Bewegung, verstanden werden. Die Fragmente des Thales können also so gelesen werden, dass sich das Wasser an der Erfahrung mit dem konkreten Seienden orientiert und sich so als Ausdruck einer Vorstellung von bewegter Existenz erweist.

39

Edmund Hardy, Der Begriff der physis in der griechischen Philosophie, S. 14. „Wasser ist bestimmt gegen Erde, Luft, Feuer, – gegen andere; aber gegen diese ist es die Bestimmtheit des Formlosen, Einfachen, – Erde, Punktualität, Luft das Element aller Veränderung, Feuer das schlechthin sich in sich Verändernde.“ G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 201. 40

Kap. 5: Anaximander von Milet

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Kapitel 5

Anaximander von Milet Anaximander entdeckt den widerspruchsvollen Charakter unserer Welt: an ihren Qualitäten geht sie zu Grunde.41

Wie Thales stellt auch Anaximander sich die Frage nach dem Woher des Seienden und die Frage nach der Beschaffenheit alles Seienden. Doch die Antwort, die er auf diese Fragen gibt, hat die Form eines theoretischen Entwurfes. Anaximander war nicht nur der erste philosophische Schriftsteller, sondern auch der erste Denker, der seine Argumente nicht in Gedichtform niederschrieb. Der sinnlich-physische Aspekt, der Thales Gedanken noch wesentlich prägt, geht bei Anaximander weitgehend verloren und wird durch ein abstrakteres Prinzip ersetzt. Auch wenn Anaximander wohl kein Lehnstuhlphilosoph war und seine Thesen durch Untersuchungen seiner Umwelt gewann, ist sein Gedanke, zumindest in dem uns erhaltenen Fragment, von viel abstrakterer Natur, als es Thales’ Gedanken waren. An die Stelle des konkret-sinnlich konnotierten Wassers tritt nun die abstrakte Vorstellung des Unbegrenzten (ἄπειρον) als Prinzip des Seienden. Nach Nietzsche ist Anaximander daher auch der erste Denker, der ein unentstandenes und unvergängliches Prinzip als Grundlage alles Seienden postuliert und damit erstmals das Sein vom Seienden trennt. Anaximander ist daher für Nietzsche nicht nur der erste philosophische Schriftsteller, sondern auch der erste typische Philosoph.42

§ 9 Das ἄπειρον als ἀρχή Die Bestimmung des Begriffes ‚ἄπειρον‘ bei Anaximander ist nicht unumstritten, schon Aristoteles hat fünf mögliche Bedeutungsaspekte dieses Begriffes aufgelistet.43 Auch besitzt dieser Ausdruck eine lange Tradition. Schon in der homerischen Dichtung gab es einiges, was als ἄπειρος, d. h. als räumlich grenzenlos, bestimmt wurde, so wie z. B. das Meer oder die Erde. Etymologisch gesehen besteht dieser Begriff aus einem α-privativum, das auf die Abwesenheit von Etwas hindeutet, und entweder den Begriffen i) ‚πέρας‘ bzw. ‚πεῖρας‘ (Ende, Grenze) bzw. ii) dem Verbstamm περ- (vorwärts, durch), so wie bei πείρω (durchbohren, durchstechen) oder περαάω 41

Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1869–1874, KSA Bd. 7, S. 495. Vgl. Friedrich Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 818. 43 Aristoteles, Physik, 203b15 ff. 42

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2. Teil: Historische Untersuchung

(durchdringen, hindurchkommen). Im ersten Fall würde der Begriff ‚ἄπειρος‘ auf etwas Unbegrenztes, Unbestimmtes und Unendliches hinweisen. Im zweiten Fall hingegen auf etwas, das so beschaffen ist, dass es nicht durchdrungen werden kann.44 Anaximander verwendet diesen Begriff als substantiviertes und neutrales Adjektiv (ἄπειρον), nicht um die Unbegrenztheit von diesem oder jenem zu benennen, sondern um von dem (einen) Unbegrenzten bzw. von der Unbegrenztheit an sich zu sprechen. Im Wesentlichen bedeutet der Begriff bei Anaximander also so viel wie ‚ohne Grenze‘, ‚ohne Bestimmung‘ oder ‚ohne Ende‘, d. h. es ist ‚quantitativ grenzenlos‘ und / oder ‚qualitativ unbestimmt‘.45 Manche Interpreten sind der Meinung, dass die Bedeutung des ἄπειρον auch bei Anaximander ganz auf den räumlichen Aspekt zu beschränken sei, wie das noch bei Homer der Fall ist. Dann müsste das ἄπειρον als ‚quantitativ grenzenlos‘ gedeutet werden.46 Diese Deutung lässt sich mit dem dritten Argument des Aristoteles für die Existenz des Unbegrenzten belegen.47 Dennoch ist diese Deutung nicht mit allen Berichten über das ἄπειρον bei Anaximander so einfach zu vereinen. Speziell die Bestimmungen des ἄπειρον bei Theophrast scheinen dieser Deutung zu widersprechen.48 Hier ergibt sich die Möglichkeit, das ἄπειρον bei Anaximander als qualitativ unbegrenzt zu verstehen, eine Deutung, die sich z. B. bei Simplikios in seinem Physikkommentar findet.49 Auch diese Deutung des ἄπειρον als qualitativ unbestimmt lässt sich schon in der Physik des Aristoteles belegen, wenn er die Meinung der früheren Denker so darstellt, als wollten diese behaupten, dass das ἄπειρον ein unbestimmtes Unendliches sei, aus dem die bestimmten Elemente erst entstehen. Wäre nämlich eines der Elemente unendlich, so sein Argument, würde es aufgrund der Tatsache, dass die Ele44

Vgl. Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 67. Vgl. Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 68 f. oder Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, S. 41. 46 Vgl. z. B. die Verwendung im homerischen Ausdruck ‚ἀπείρονα πόντον‘. 47 Aristoteles, Physik, 203b18–20. „[…], daß wohl nur dann Werden und Vergehen nicht aufhören, wenn der Bestand, aus dem das Entstehende entnommen wird, unbegrenzt ist.“ 48 Vgl. zu dieser Frage auch G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 120. Außerdem gibt es noch eine weitere Deutung des Begriffes ‚ἄπειρον‘, die vor allem auf Aristoteles zurückgeht. Dieser scheint den Begriff ‚ἄπειρον‘ nämlich als ‚Unendlichkeit‘ bzw. als ‚infinite Ausdehnung‘ zu deuten, (vgl. Physik, 203b10 ff. oder Physik, 204b22 ff.). 49 DK 12A9 und B1. In seinem Kommentar zu De Caelo hingegen schreibt er Anaximander wiederum eine quantitative Deutung zu (unendliche Anzahl an Welten, DK 12A17). 45

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mente ja Gegensätze sind, alle anderen Elemente zerstören.50 Die meisten Interpreten halten es daher für wahrscheinlich, dass Anaximander das ἄπειρον sowohl als quantitativ als auch als qualitativ unbestimmt gedacht hatte:51 We have seen that Anaximander’s apeiron can have several meanings and it is likely he employed the term in more than one sense since technical vocabulary was still nascent. […], it would be prudent to say that the term apeiron suggests an enormous mass that is both spatially and qualitatively indefinite and that he choose this word because it was the best he could find to account for the physical phenomena that were too complex to be reduced to a precise element. In sum, the universe emerged from qualitatively and spatially indeterminate physis.52

Dieses Unbegrenzte Anaximanders wird von manchen Autoren auch mit Hesiods χάος (Chaos) in Verbindung gebracht. Das χάος war für Hesiod ἀρχή (das, was zuerst da war)53 und bezeichnet einen neutralen, unbestimmten Ursprung, aus dem alles entsteht. Der Unterschied der beiden Ursprungskonzeptionen besteht darin, dass das ἄπειρον ein theoretisch-abstraktes Konzept ist, während das χάος, wie das Wasser des Thales’, seinen Bezug zur Sinnlichkeit noch nicht verloren hat: Von Hesiod her ist Anaximander zunächst zu verstehen. Dieser hatte das Chaos an den Anfang gestellt, den gestaltlosen Raum von Tag und Nacht. Doch noch im Worte Chaos war hörbar geblieben das Umschlossen sein durch Erdboden und Himmelsdach, die der Absicht nach doch wegzudenken waren. Anaximander überschritt diese letzte Bindung an den anschaulichen Raum und nannte als den Anfang ‚das Unbegrenzte‘ als das, was nach der letzten Abstraktion von allem Gestalteten übrig blieb.54

Doch das ungeformte χάος Hesiods lässt sich nicht nur mit dem unbegrenzten ἄπειρον in Verbindung bringen. Es benennt außerdem den Ursprung, das Woher alles Seienden, also die ἀρχή. Es scheint so, als hätte Hesiod mit dem χάος schon beide Grundbegriffe Anaximanders benannt.

§ 10 Das Verhältnis von ἄπειρον und ἀρχή Anaximander war wohl der erste Philosoph, der den Begriff ‚ἀρχή‘ verwendete und ein Prinzip (das ἄπειρον) als ἀρχή setzte. Wir besitzen drei 50

Aristoteles, Physik, 204b28. Vgl. Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie, Bd. 1, S. 41. Gegen diese These argumentiert H. B. Gottschalk, Anaximander’s ‚Apeiron‘, S. 51 ff. sehr ausführlich. Er listet dabei alle Argumente für die These auf, dass ‚ἄπειρον‘ nicht nur räumlich konnotiert ist und versucht, sie im Einzelnen zu widerlegen. 52 Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 70. 53 Hesiod, Theogonie, 115. 54 Olof Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie, S. 60. 51

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leicht abweichende Überlieferungen eines Textes (von Simplikios, Hippolytos und Pseudo-Plutarch55), in dem Theophrast Anaximanders Thesen schildert und dabei auch den Begriff ἀρχή explizit erwähnt. Die drei genannten Abschriften sind unsere einzige Quelle für die Frage nach dem Verhältnis des ἄπειρον und der ἀρχή bei Anaximander. Wir wissen, dass der Begriff ‚ἀρχή‘ üblicherweise die Bedeutung von ‚Anfang‘ oder ‚Ursprung‘ hat. Hesiod spricht vom χάος als ἀρχή und meint damit dasjenige, was am Anfang war. Bei Anaximander stellt sich jedoch die Frage, ob er mit dem Begriff ‚ἀρχή‘ so etwas wie eine erste Substanz benennen wollte, oder ob es ihm nur darum geht, den Ursprungscharakter des ἄπειρον auszudrücken. Es ist also fraglich, ob man Theophrast so lesen muss, dass Anaximander den Begriff ‚ἀρχή‘ als Spezialterminus für eine ursprüngliche Substanz56 bzw. für ein erstes Woher des Seienden eingeführt hatte.57 Also ist auch das ἄπειρον entweder die Antwort auf die Frage nach dem Warum und Wodurch und benennt ein Prinzip, hier in der Form eines substanziellen Seins. Oder das ἄπειρον ist die Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Seienden (dem Woher und Woraus) und benennt eine Art von Materie, die keine sinnlichen Eigenschaften aufweist. Wie das Verhältnis von ἀρχή und ἄπειρον zu bestimmen ist, lässt sich nicht einfach entscheiden, aber in einem ersten Schritt lässt sich festhalten, dass es zumindest diese beiden Möglichkeiten der Bestimmung gibt.58

§ 11 Die Beschaffenheit des ἄπειρον Einen Hinweis auf die Beschaffenheit des ἄπειρον lässt sich finden, indem untersucht wird, ob das ἄπειρον bei Anaximander noch als ein materielles Prinzip zu verstehen ist, das jedoch seine materielle Sinnlichkeit bzw. seine qualitative Beschaffenheit schon verloren hat, oder ob es schon als ein 55 Die genauen Textstellen sind: DK 12A9 (Simplikios, in Phys., 24, 13), DK 12A11 (Hippolytos, Ref. I.6.1–2) und DK 12A10 (Pseudo-Plutarch). Für einen direkten Vergleich der Stellen siehe G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 116 ff. Zur Frage der Einflüsse auf die Formulierungen in diesen Abschnitten sowie zur Frage der eigentlichen Urheberschaft siehe Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie (I), S. 258 f., G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 115. 56 Vertreter dieser gängigen These ist u. a. Charles H. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, S. 29–32. 57 Weiters kursiert die These, ob Theophrast nicht einfach nur die ἀρχή (in der gängigen peripatetische Bedeutung des Begriffes als erste Ursache) mit dem Namen ‚ἄπειρον‘ belegte. Diese These wurde von J. Burnet in ‚Early Greek Philosophy‘, S. 54, Anm. 2 vorgebracht. 58 Für diese Frage vgl. G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 118 f.

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rein abstraktes Prinzip zu verstehen ist. Es scheint, dass die Textgrundlage weder die eine noch die andere Deutung mit Sicherheit belegen lässt.59 Die bevorzugte Lösung der klassischen Interpreten besteht darin, das ἄπειρον als unbegrenztes materielles Prinzip zu deuten, das aber eine ganz eigene Form der Materialität hat, die ‚zwischen‘ Feuer und Luft oder ‚zwischen‘ Luft und Wasser zu verorten ist. In der Überlieferung der φυσικῶν δόξαι von Diogenes Laertius wird Anaximander in diesem Zusammenhang auch als Monist beschrieben, der ein unbegrenztes Prinzip als Materialursache annahm. Auch Aristoteles ist an manchen Stellen dieser Meinung, wenn er Anaximander als einen der φυσικοί kennzeichnet, die das Unbegrenzte anerkennen: οἱ δὲ περὶ φύσεως πάντες ὑποτιθέασιν ἑτέραν τινὰ φύσιν τῷ ἀπείρῳ τῶν λεγομένων στοιχείων, οἷον ὕδωρ ἢ ἀέρα ἢ τὸ μεταξὺ τούτων.60 Alle, die über die Natur forschten, setzen für das Unbegrenzte als Zugrundeliegendes etwas von anderer Natur an und zwar eines der Elemente, so etwa Wasser oder Luft, oder was als das Mittlere zwischen beiden gilt.

Aristoteles führt diesen Begriff ‚μεταξὺ‘ (das Dazwischen) hier ein, um der einzigartigen Beschaffenheit der Materialität des ἄπειρον bei Anaximander, nämlich als ein Dazwischen (zwischen Feuer und Luft bzw. zwischen Luft und Wasser)61, Rechnung zu tragen. Mit dieser Deutung der Materialität des ἄπειρον als ein Mittleres zwischen zwei uns sinnlich zugänglichen Formen der Materie erklärt Aristoteles, warum das ἄπειρον als Materie verstanden werden kann, obwohl es keine sinnlich-materiellen Qualitäten mehr aufweist.

59 Dem widerspricht z. B. W. Kraus in seinem Aufsatz Das Wesen des Unendlichen bei Anaximander, wenn er meint: „Daß das Unendliche bei Anaximander nicht eigentlich materieller Natur war, ist jetzt allgemein anerkannt.“, S. 364. Als Beleg hierfür führt er Aristoteles, Physik, 203b10 an. Ich führe in der folgenden Argumentation eine etwas frühere Stelle bei Aristoteles an, um dafür zu argumentieren, dass sich die Frage nicht so einfach entscheiden lässt. Diese Probleme entstehen aufgrund einiger Ungereimtheiten in der aristotelischen Darstellung. Für eine ausführliche Darstellung dieses Sachverhaltes vgl. H. B. Gottschalk, Anaximander’s ‚Apeiron‘, S. 37 ff. 60 Aristoteles, Physik, 203a16. 61 Vgl. Aristoteles, De Gen. et Corr., 332a19 und 328b35; Physik, 189b1 f. Es gibt aber auch Textstellen, die gegen eine solche Interpretation Anaximanders durch Aristoteles sprechen (Vgl. Physik, 187a12). Für eine Darstellung dieser Fragen siehe G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 119 ff. oder Charles H. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, S. 44 ff. Für die Probleme, die Aristoteles mit dem Denken Anaximanders hatte und die ihn zu dieser Interpretation Anaximanders führten, vgl. C. J. Classen, Anaximander and Anaximenes: The Earliest Greek Theories of Change?, S. 94 ff.

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Das ἄπειρον wäre also insofern Materie, als es die physische Grundlage des Entstehens bildet, und es wäre nicht materiell, da es nicht sinnlich wahrgenommen und daher auch nicht in seiner Materialität inhaltlich-qualitativ bestimmt werden kann. Diese Bestimmung als ‚Dazwischen‘ erleichtert außerdem die Deutung der Unbegrenztheit des ἄπειρον.62 Etwas Unbegrenztes kann nämlich nicht mit einem der materiellen Elemente identifiziert werden, ohne es dabei durch die anderen Elemente zu begrenzen. Daher muss die ἀρχή, wenn sie unbegrenzt und materiell sein soll, eine eigene Art der Materialität besitzen, damit sie nicht durch andere Arten von Materie begrenzt wird.63 In dieser Deutung verliert diese Materialität als ‚Dazwischen‘ aber jegliche sinnlich-konkrete Qualität und wird zu einem abstrakten Begriff. Ob diese Deutung des Aristoteles die Intention Anaximanders wiedergibt, ist schon seit Simplikios umstritten.64 Eindeutig lässt sich jedoch sagen, dass das ἄπειρον von den meisten Kommentatoren als materielles Prinzip, als Urmaterie oder als materieller Grund verstanden wurde. Doch das ἄπειρον muss nicht nur als Materialursache verstanden werden, es lässt sich auch als monistischer Anfangsgrund alles Seienden und seiner Bewegung deuten. Einen Hinweis auf diese Deutung finden wir bei Aristoteles: Daß diese Untersuchung den Natur-Forschern als Aufgabe zusteht ist somit klar. Aus gutem Grund setzen alle es (das Unbegrenzte) auch als Anfangsgrund […]; nun sei alles entweder (selbst) ursprünglich Anfang oder Folge eines solchen Anfanges, von Unbegrenztem aber kann es keinen Anfang geben, denn der wäre ja schon ein Grenze an ihm. […] Deshalb – wie wir ja sagen – gibt es offenbar von diesem Anfang keinen Anfang, sondern es scheint Anfang alles übrigen zu sein und alles zu umfassen und sämtliches zu lenken, – so sagen es die, welche neben dem ἄπειρον keine weiteren Ursachen ansetzen, wie etwa νοῦς oder φιλία. Und es soll dann auch das θεῖον sein; Denn es sei unsterblich und dem Verderben nicht unterworfen, wie Anaximandros sagt und die meisten der alten φυσιολόγοι.65

Aristoteles betont an dieser Stelle, dass die alten φυσιολόγοι nicht zwischen verschiedenen Ursachen unterschieden haben, während spätere Denker eine eigene Bewegungsursache einführten. „For the Monists, as the 62

Vgl. Aristoteles, Physik, 204b22 ff. Es findet sich bei Aristoteles auch noch eine andere Begründung für die Unbegrenztheit der ἀρχή. Wenn die ἀρχή als etwas Unbegrenztes gedacht wird, müssen Werden und Vergehen nicht geleugnet werden, da es immer genug Material für das Werden gibt. Wobei er die Möglichkeit einräumt, dass das Entstehen des einen als das Vergehen des anderen verstanden werden kann. Dabei ist das Ganze als unbegrenzt zu denken. Vgl. Aristoteles, Physik, 203b15 in Verbindung mit 208a8. 64 Simplikios, in Phys., 25, 9 und 203, 3. 65 Aristoteles, Physik, 203b. 63

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word implies, one archē was sufficient to fulfil the two roles. They believed that matter was literally alive, whence the expression ‚hylozoism‘ to qualify this doctrine.“66

§ 12 Ist das ἄπειρον selbst bewegt? Nach der Überlieferung von Hippolytos beschreibt Anaximander das ἄπειρον als ewig bewegt: Πρὸς δὲ τούτῳ κίνησιν ἀίδιον εἶναι, ἐν ᾗ συμβαίνει γίνεσθαι τοὺς οὐρανούς.67 Außerdem sagte er, dass die Bewegung unendlich sei, in deren Verlauf die Himmel entstehen.

Nach Hippolytos spricht Anaximander also von einer ewigen Bewegung, einer ἀίδιος κίνησις des Unbegrenzten selbst, das in dieser Selbstbewegung alles Seiende hervorbringt. Simplikios hingegen spricht zwar nicht explizit von einer unendlichen Bewegung des ἄπειρον, aber auch er bezeichnet es als ‚κινοὺμενον‘, also als (sich) bewegend:68 […] ἓν καὶ κινούμενον καὶ ἄπειρον […]69 […] ist Eines, in Bewegung und unbegrenzt […]

Pseudo-Plutarch hingegen spricht nicht von einer Bewegung des ἄπειρον selbst, sondern davon, dass es Prinzip und Ursache für alles Werden und Vergehen sei. Pseudo-Plutarch geht also davon aus, dass nach Anaximander alles aus dem Unbegrenzten entstanden ist und dass alles in das Unbegrenzte zurückkehrt, ohne dabei darauf Bezug zu nehmen, ob das Unbegrenzte selbst bewegt ist. Diese widersprüchlichen Darstellungen werfen die Frage auf, inwiefern das ἄπειρον sich bewegt bzw. in Bewegung ist. Dies hängt natürlich auch mit der Frage zusammen, wie die Seienden aus dem ἄπειρον hervorgehen. In De Caelo schlägt Aristoteles vor, diese ewige Bewegung des ἄπειρον als einen Wirbel zu deuten70, sodass die Bewegung des ἄπειρον Stabilität generiert. Doch wie kann der Kosmos aus einer so bestimmten stabilen Bewegung entstehen? Simplikios, der von einer Bewegung des Unbegrenz66

Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 66. DK12A11. 68 Wobei die Überlieferung bei Simplikios wohl dem Original näher ist als die anderen Überlieferungen. Vgl. Charles H. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, S. 33 oder G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 115. 69 DK 12A9. 70 Aristoteles, De Caelo, 295a7. 67

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ten spricht, folgt wohl der aristotelischen Deutung in Physik I 471, wenn er die Bewegung des ἄπειρον als eine Scheidung in gegensätzliche Seiende versteht.72 Simplikios nennt als diese seienden Gegensätze „heiß, kalt, trocken, feucht und die anderen“73. Diese seienden Gegensätze entstehen der aristotelischen Deutung Anaximanders zufolge als Abtrennung (ἔκκρισις) aus der ursprünglichen Einheit des ἄπειρον, das alles in sich enthält.74 Das Entstehen der Gegensätze und die Bewegtheit des ἄπειρον, von der Simplikios und Hippolytos sprechen, stehen also nach Aristoteles, sowie nach Simplikios, in einem engen Zusammenhang.75 Now, how did the opposites manage to separate themselves from the apeiron? The answer is related to the movement of apeiron itself. The doxographies state that the separation was provoked by the eternal movement or vital force of the apeiron. That the movement of the apeiron is said to be ‚eternal‘ (aiōn) is not surprising in itself since it was considered divine. And if the aperion is divine, it is because it is ‚animated,‘ and what is animated is necessarily in movement. The question is: how did the eternal movement of the aperion enable the opposites to separate (or secrete) from the apeiron?76

Hier berühren wir also eine weitere offene Frage der Forschung: In welchem Verhältnis steht das ἄπειρον und seine Bewegung zu den gegensätzlichen Seienden und deren Entstehung? Aristoteles ist, wie gesagt, der Meinung, dass aus der Bewegung des Unbegrenzten, immer verstanden als ein quasi materielles Prinzip, durch Aussonderung77 die Seienden, d. h. die Gegensätze, entstehen. Diese Deutung sieht das ἄπειρον als materielle Grundlage, als eine Art prima materia, aus der alles Seiende entsteht. Es ist 71

Aristoteles, Physik, 187a21 f. Vgl. Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie (I), S. 259 ff. Hölscher argumentiert hier überzeugend dafür, dass diese Stellen über das Werden der Gegensätze bei Simplikios (in Phys., 24, 13) Züge des aristotelischen Schemas der Einteilungen aus Physik I 4 tragen, auf das Theophrast sich in der Doxographie nicht bezog. Es ist daher, nach Hölscher, plausibel zu behaupten, dass die Fragmente in der Überlieferung eher die aristotelischen Gedanken wiedergeben als jene Theophrasts. Vgl. außerdem Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 70 f. 73 ἐναντιότητες δέ εἰσι θερμόν, ψυχρόν, ξηρόν, ὑδρὸν καὶ τὰ ἄλλα. Simplikios, in Phys., 150, 24 (DK 12A9). 74 ἐκ τοῦ ἑνὸς ἐνούσας τὰς ἐναντιότητας ἐκκρίνεσθαι, Aristoteles, Physik, 187a20. 75 Theophrast war der Meinung, dass das Unbegrenzte ewig bewegt und Ursache der unzähligen Welten sei. Nach Hippolytos schrieb er diese Vorstellung auch Anaximander zu. Ob Anaximander wirklich von einer ewigen Bewegung des ἄπειρον gesprochen hat, ist unbekannt. Zur genaueren Analyse der Frage nach der Interpretation der Bewegung des anaximandrinschen ἄπειρον durch Aristoteles und Theophrast vgl. G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 138 ff. 76 Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 71. 72

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jedoch fraglich, ob diese aristotelische Deutung des Werdens als Ausscheidung (ἔκκρισις) von Gegensätzen aus einem Urstoff angemessen ist. 77

Eine weitere Möglichkeit, das Werden der Gegensätze zu verstehen, findet sich bei Anaximenes, der von einem Entstehen durch Verdichtung und Verdünnung spricht. Anaximenes war Schüler (und / oder Freund, die Quellen sind an dieser Stelle nicht eindeutig) des Anaximander. Er hat die ἀέρα (Luft) als ἀρχή und das Entstehen des Seienden als Ergebnis von Verdichtung und Verdünnung der Luft gedeutet.78 Anaximenes Gedanken ähneln jenen Anaximanders so sehr, dass viele Interpreten die Meinung vertreten, dass auch Anaximander beim Entstehen der Gegensätze aus dem ἄπειρον an Verdichtung und Verdünnung gedacht haben muss. Uvo Hölscher ist jedoch der Meinung, dass eine solche Übertragung der anaximenischen Gedanken auf das Verständnis des ἄπειρον bei Anaximander nicht angemessen ist. Er vertritt die Meinung, dass die Bewegung des ἄπειρον eher organisch-dynamisch zu verstehen ist.79 Dies ist die dritte Möglichkeit, die Bewegung des ἄπειρον und das damit verbundene Entstehen des Seienden zu verstehen – als organisches Erwachsen des Seienden aus dem Unbegrenzten: Aber Anaximanders ‚kinesis‘ heißt vor allem Verwandlungskraft, wie noch für Parmenides. Die Verwandlung ist weder eine „qualitative Veränderung“ eines Substrates im aristotelischen, noch eine ‚Aussonderung‘ in Anaximenes’ Sinn: sie ist aber beides, wie das Wachsen der Rinde um den Baum beides ist. Für dieses frühe Denken, das dem Mythos noch nahe verhaftet scheint, ist offenbar der Prozess der Verwandlung eines Urstoffes in andere Stoffe noch kein Problem. Es gab für Anaximander durchaus ein echtes Entstehen.80

77 Für eine Analyse der aristotelischen Interpretation der Bewegung des ἄπειρον als Scheidung der Gegensätze vgl. Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie (I) Aristoteles über die Gegensätze bei Anaximander, S. 261 ff. 78 Vgl. Simplikios, in Phys., 24, 26 ff. (hier referiert Simplikios wieder Theophrasts Darstellung). Vgl. Thales 11A12 oder Anaximenes, 13B2. Auch wenn aristotelische Interpretatoren Anaximenes so lesen, als gäbe es eine Art einheitliche und grundlegende prima materia (in diesem Fall Luft) aus dem alles Seiende besteht. Die Luft ist dann als unveränderliches Prinzip alles Seienden verstanden, das allen Veränderungen zugrunde liegt. Doch muss Anaximenes nicht so verstanden werden. Es scheint auch möglich, ihn so zu verstehen, dass es einen substanziellen Wandel der Seienden gibt. Vgl. die Diskussion um die aristotelische Schrift De Gen. et Corr., bei der sich dieselbe Problemstellung zeigt. Vgl. Frans de Haas und Jaap Mansfeld (Hrsg.), Aristotle: On Generation and Corruption. 79 Unter anderen argumentiert auch Gerard Nadaff für eine biologische Interpretation der Aussonderung. Für detailliertere Überlegungen zu dem Begriff ‚γόνιμον‘ und seiner möglichen Verwendungsweise bei Anaximander vgl. Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 72 f. 80 Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie (I), S. 268.

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Hölscher ist also der Meinung, dass man Anaximander so lesen muss, dass das ἄπειρον selbst sich verwandelt und dass diese Verwandlung des ἄπειρον selbst zum Entstehen der seienden Gegensätze führt. In diese Richtung weist jene Metapher der Rinde, auf die Hölscher sich im obigen Zitat beruft und die uns von Pseudo-Plutarch überliefert wurde. Die Stelle lautet: φησὶ δὲ τὸ τι ἐκ τοῦ αἰδίου γόνιμον θερμοῦ τε καὶ ψυχροῦ κατὰ τὴν γὲνεσιν τοῦδε τοῦ κόσμου ἀποκριθῆναι, καί τινα ἐκ τούτου φλογὸς σφαῖραν περιφυῆναι τῷ περὶ τὴν γὴν ἀέρι ὡς τῷ δένδρῳ φλοιόν.81 Er sagt, aus dem Ewigen habe sich beim Entstehen dieses Kosmos der zeugungskräftige Keim des Heißen und Kalten ausgesondert, welchem eine Feuersphäre entsprang, die um die Erde und Luft herum wuchs, wie Rinde um einen Baum.

Hier entsteht das Seiende weder durch eine Abtrennung der Gegensätze aus dem ἄπειρον noch spricht Pseudo-Plutarch vom Entstehen durch Verdichtung und Verdünnung. Sondern er spricht davon, dass ein γόνιμον (die Leibesfrucht, das Trächtige, der Keim) aus dem ἄπειρον erwächst.82 Das ἄπειρον bringt keine Gegensätze durch bloße Spaltung oder ekkrisis hervor, sondern die Seienden gehen in organischer Weise aus ihm hervor, wobei dieses ἄπειρον sich in diesem Vorgang selbst verwandelt und zu diesen Seienden wird. In dieser Deutung bleibt keine unveränderliche Grundlage als Träger oder als Ursprung der Bewegungen zurück. Vielmehr wird das Unbegrenzte in einer zyklischen Bewegung selbst zu den gegensätzlichen Seienden und wird im Vergehen wohl auch wieder zum Unbegrenzten. Diese Vorstellung der Bewegung des Unbegrenzten und des daraus resultierenden Entstehens der Seienden nimmt sich die Natur zum Vorbild: Das ἄπειρον wird zu den Seienden, so wie aus dem Keim die Pflanze entsteht und der Keim sich dabei vollständig zur Pflanze wandelt, oder wie aus dem Ei das Küken wird. Die Metapher, die Anaximander also nach Hölscher benutzt, ist nicht die einer scharfen Trennung oder Spaltung, keine Wandlung der Eigenschaften eines unveränderlichen Zugrundeliegenden, sondern die Metapher eines organischen Entstehens, des Erwachsens des einen aus dem anderen.83 81 DK 12A10: Für eine eingehende Besprechung dieses Fragmentes vgl. z. B. C. J. Classen, Anaximander and Anaximenes: The Earliest Greek Theories of Change?, S. 91 f. 82 Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie, S. 269 f. Eine ähnliche Meinung vertritt C. J. Classen, wenn er meint, „One is inclined to draw the tentative conclusion that Anaximander described the process of the coming-to-be of a cosmos in terms of birth (natural coming-to-be) and growth; and one feels justified in doing so when one meets with Aëtius’ brief remarks on Anaximander’s zoogony (DK 12A30): when he says that the first living beings were enclosed by prickly coverings (‚barks‘), that later broke off, the parallel with the cosmogonic process is too striking to be accidental.“, in: Anaximander and Anaximenes: The Earliest Greek Theories of Change?, S. 91 f.

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The idea of coming-to-be and of passing-away, […] is what belongs to growth and decay in nature, and not to the physical sciences which know the immediate exchange in two concurrent processes. In other words, the fragment supports the contention that Anaximander speaks of the processes, by which the cosmos comes into being, in terms of natural growth and decay.84 83

Dieser Zusammenhang kann nach Hölscher als ‚echtes Entstehen‘, als eine substanzielle Bewegung verstanden werden. Das ἄπειρον ist dann das lebendig-bewegte Unbegrenzte, das in substanzieller Bewegung alles Seiende hervorbringt.85 Wenn wir Aristoteles’ Deutung des Anaximander folgen, haben wir einen Denker vor uns, der von einer ersten materiellen Ursache ausgeht, die eine verblüffende Ähnlichkeit zur Vorstellung der prima materia aufweist. Beide weisen keine genaueren Bestimmungen auf, sind grenzenlos und die Materialursache alles Seienden.86 In der Interpretation des Aristoteles hat Anaximander also eine unendliche und grundlegende Einheit als Ursprung der Gegensätze gesetzt. Bewegt ist das ἄπειρον in dieser Lesart nur auf eine akzidentelle Weise, nämlich insofern die Gegensätze aus ihm ausgeschieden werden. Auch wenn Gegensätze aus dem ἄπειρον abgesondert werden, das ἄπειρον selbst bleibt die unveränderliche Grundlage dieser Bewegungen. Anaximander selbst scheint das ἄπειρον jedoch nicht unbedingt als prima materia des Entstehens gedeutet zu haben, ebenso wenig wie Hesiods χάος als Prinzip oder prima materia zu deuten ist. Das ἄπειρον (als das Unbestimmte) benennt vielmehr die Eröffnung von Möglichkeiten. Das Unbestimmte ist das, was in einem Prozess der Bestimmung zu etwas Bestimmten, zu etwas Seiendem werden kann. So gedeutet ist der Ursprung alles 83 H. B. Gottschalk meint in Bezug auf diese Metapher bei Theophrast: „From this simile it would appear that Anaximander imagined the formation of the world as an organic process like the growth of a plant or embryo, and the Apeiron as something capable of producing seed; both ἐκκρίνεσθαι and ἀποκρίνεσθαι were regularly used of the bodily secretions, and could have had this sense in Anaximander’s book. The whole matter is very obscure, but at least we can say that these expressions do not necessarily imply that whatever was ‚separated-off‘ from the Apeiron must have existed in it beforehand. If we take the simile at its face value this becomes very unlikely.“ Anaximander’s ‚Apeiron‘, S. 47 f. 84 Vgl. C. J. Classen, Anaximander and Anaximenes: The Earliest Greek Theories of Change?, S. 92 f. 85 Diese Beschreibung erinnert nicht von ungefähr an die mythologische Vorstellung der Genese aus dem Chaos. Uvo Hölscher argumentiert sogar für eine direkte Traditionslinie, die das Chaos des Hesiod mit dem Wasser des Thales und dem ἄπειρον des Anaximander verbindet. Anaximander soll seiner Meinung nach das ἄπειρον in Auseinandersetzung mit der Vorstellung des Chaos gewonnen haben. Siehe: Anaximander und die Anfänge der Philosophie (II), S. 417. 86 Die aristotelische Materie ist dadurch bestimmt, dass sie undefinierbar und unbestimmt ist (vgl. Metaphysik, 1037a27, 1058a23).

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Seienden von Anaximander eher als Keim des Wirklichen bestimmt und nicht als Urstoff oder als Mittleres zwischen anderen Stoffen.87 So verstanden verweist das ἄπειρον weder auf die Vorstellung der Einheit noch der Unbewegtheit oder auf Ähnliches. Daher kann das ἄπειρον als der unbestimmte Ursprung alles Seienden verstanden werden, als eine unbestimmte in sich lebendig-bewegte Quelle, die zu dem werdenden Seienden wird und in die sich das vergehende Seiende zurückwandelt.

§ 13 Das erhaltene Fragment in mehrfacher Deutung Nur eines der uns erhaltenen Fragmente scheint wirklich aus Anaximanders eigener Feder zu stammen:88 (ἐξ ὧν δὲ ἡ γένεσίς ἐστι τοῖς οὖσι, καὶ τὴν φθορὰν εἰς ταῦτα γίνεσθαι)89 κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν; […].90 (Woher die Seienden ihre Entstehung haben, dahin müssen sie,) der Notwendigkeit gemäß, (auch zugrunde gehen); denn sie leisten einander Buße und Sühne für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Ordnung der Zeit; […].

Da uns das Fragment weder den Ursprung noch das Ziel des sich Verändernden verrät, ergeben sich mindestens zwei Möglichkeiten der Auslegung: Das Fragment kann klassisch als Beschreibung einer Transzendenz gedeutet werden. Im Rahmen einer neueren Deutung kann das Fragment aber auch als Beschreibung eines immanenten Prozesses gesehen werden.91 Die transzendente Auslegung geht davon aus, dass die anaximandrische Lehre vom ἄπειρον den Hintergrund dieses Fragmentes bildet und dass das ἄπειρον jener transzendente Ursprung des Seienden ist, von dem im Fragment gesprochen wird. So gedeutet verweist das Fragment auf den transzendenten Ursprung alles Seienden: Die Seienden entstehen aus dem Unbegrenzten und vergehen in es. Diese Deutung setzt natürlich eine aristoteli87 Für eine ausführliche Darstellung des Argumentes, dass Anaximander das ἄπειρον nicht als Mittleres zwischen Gegensätzen verstand, vgl. Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie (I), S. 274 ff. 88 Obwohl neueste Forschung auch die Authentizität dieses Fragmentes in Frage stellt und es für eine Paraphrase hält, die sich einer aristotelischen Terminologie bedient. Vgl. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 54. 89 Dieser Teil des Fragmentes ist nur von Simplikios, in Phys., 24, 18 (DK 12A9) überliefert; siehe Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Band 1, S. 15. 90 DK 12B1. 91 Eine solche transzendente Interpretation findet man bei Friedrich Nietzsche, die im Folgenden beispielhaft dargestellt wird. Für eine immanente Interpretation siehe z. B. Walter Bröckler, Die Geschichte der Philosophie vor Sokrates, S. 17 oder C. J. Classen, Anaximander and Anaximenes: The Earliest Greek Theories of Change?

Kap. 5: Anaximander von Milet

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sche Lesart der Bewegung des ἄπειρον voraus. Das ἄπειρον wäre dann das unbewegte Zugrundeliegende einer jeden Bewegung. Diese Interpretation des Fragmentes rückt Anaximander in die Nähe jener Denker, die hinter dem Wandelbaren, dem sich verändernden Seienden ein ursprünglicheres, ewiges und unveränderliches Sein annehmen, von dem das Seiende erzeugt wird. Ein Denker, der Anaximander auf diese Weise deutet, ist Nietzsche. Nietzsche glaubt außerdem in diesem Fragment eine Abwertung des sich Verändernden zugunsten des ewigen Seins zu entdecken. Nietzsche liest Anaximander daher so, als verstünde Anaximander das Werden als eine strafwürdige Emanzipation vom ewigen Sein, das „als ein Unrecht, […] mit dem Untergang zu büßen […] [hat]“.92 Nach Nietzsche ist es das Gewordene, das Schuld auf sich geladen hat, weil es sich in seinem Werden bzw. in seiner Bewegung vom unbewegt-vollkommenen Ursprung entfernt hat. Das Seiende muss diesen Frevel dann, nach Maßgabe der Zeit, mit seinem eigenen Untergang sühnen. Diese Auslegung Nietzsches entstand in der Anschauung des gesamten angeführten Fragmentes.93 Heute ist die Authentizität von Teilen des Fragmentes umstritten. Es wird im Allgemeinen die Meinung vertreten, dass es sich bei der ersten Zeile des Fragmentes nicht um ein Zitat, sondern um eine Zusammenfassung der Position Anaximanders in peripatetischer Sprache handelt. Es ist daher anzunehmen, dass Simplikios den Kontext des Fragmentes in dieser ersten Zeile paraphrasiert hat. Man beginnt das Fragment daher nun meist mit: κατὰ τὸ χρεών.94 Das so verkürzte Fragment scheint einer transzendenten und wertenden Interpretation wie jener Nietzsches’ weniger Grundlage zu geben als das gesamte Fragment und weist so eher in die Richtung der zweiten gängigen Interpretation, also der immanenten Deutung. Das Fragment lautet in der neuen Fassung wie folgt: κατὰ τὸ χρεών· διδόναι γὰρ αὐτὰ δίκην καὶ τίσιν ἀλλήλοις τῆς ἀδικίας κατὰ τὴν τοῦ χρόνου τάξιν; […].95 der Notwendigkeit gemäß; denn sie (die Seienden) leisten einander Buße und Sühne für ihre Ungerechtigkeit, gemäß der Ordnung der Zeit; […]. 92 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 819. 93 Gegen diese Lesart wird manchmal das ‚einander‘ angeführt. Die vergehenden Seienden leisten einander Buße und nicht dem Unendlichen. Der Hauptbezug bezüglich der Bestrafung besteht also zwischen den Seienden und nicht zwischen dem Seienden und seinem Ursprung bzw. seinem Ziel. 94 Walter Bröckler, Die Geschichte der Philosophie vor Sokrates, S. 16 sowie Martin Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, S. 340. 95 DK 12B1.

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2. Teil: Historische Untersuchung

Wenn allein das gekürzte Fragment betrachtet wird, scheint eine Deutung als transzendente Erläuterung des Woher und Wohin des Seienden weniger naheliegend. Das Fragment zeigt sich nun viel eher als eine immanente Beschreibung der Veränderung nach Maßgabe der Zeit. So beschreibt dieses Fragment die Veränderung als eine Pendelbewegung des innerweltlichen Seienden zwischen Extremen der Existenz, also zwischen Werden und Vergehen. Für eine solche immanente Auslegung spricht u. a. der gegenseitige Bezug des ‚einander‘ im Fragment, „denn sie leisten einander Buße und Sühne für ihre Ungerechtigkeit“. Die Seienden leisten dann nicht einem Transzendenten Buße wie Nietzsche meinte, sondern sich gegenseitig. Die zu büßende Schuld ist also eine rein immanente. Doch was kann in diesem Zusammenhang die Wendung ‚sie leisten einander Sühne und Buße für ihre Ungerechtigkeit‘ bedeuten? Es ist eindeutig, dass es sich hier um moralisch-rechtliche Begriffe handelt. Der notwendige Zusammenhang, auf den das κατὰ τὸ χρεών hinweist, wird daher zumeist als Naturgesetz gelesen. Die Gesetzmäßigkeit des Werdens und Vergehens wird demnach als eine Art moralisches Gesetz interpretiert, dem alles Seiende Folge leisten muss. Die Ordnung des Seienden ist zugleich eine Rechtsordnung, also eine gerechte Ordnung. Martin Heidegger betont dies in seinem Aufsatz Der Spruch des Anaximander, indem er aufzeigt, dass eine strenge Unterscheidung von Naturgesetzlichkeit und moralischer Gesetzlichkeit hier nicht haltbar ist. Anaximander trennt nach Heidegger hier Logisches nicht von Moralischem, Wissenschaft nicht vom Glauben. Daher sollte auch unsere Interpretation diese Bereiche nicht streng unterscheiden, sondern vielmehr versuchen, diese Verbindung von Natur, Moral und Gesetzmäßigkeit, die bei Anaximander anklingt, als solche zu deuten.96 Das Werden und Vergehen, Schuld und Sühne werden so zu einer gerechten Verkettung des natürlichen Seienden. Der immanente Vorgang, den das Fragment darstellen will, kann also auf folgende Weise dargestellt werden: Alles Seiende ist allein aufgrund der Tatsache, dass es ist, verschuldet und diese Verschuldung muss notwendigerweise gesühnt werden. Doch bei wem ist das Seiende verschuldet? Bei anderem Seienden. Die Seienden sind nicht in gegenseitiger Harmonie einander verbunden, sondern durch eine Schuld, die gesühnt werden muss. Das Seiende verschuldet sich gegenüber anderem Seienden, weil es andere Seiende in seinem Entstehen verdrängt und zerstört. Ein Seiendes muss vergehen, um Platz für ein neues Seiendes zu machen. Die Schuld, die ein solches neues Seiendes auf sich lädt, indem es ein altes verdrängt, muss dann, gemäß der Ordnung der Zeit, in selber Münze bezahlt werden. So 96

Martin Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, S. 330 f.

Kap. 5: Anaximander von Milet

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muss auch dieses Seiende wieder vergehen, weil es von einem weiteren neuen Seienden verdrängt wird.97 Auch diese immanente Interpretation des Fragmentes kann mit Hilfe einer organisch-lebendigen Metapher98 verdeutlicht werden, die an dieser Stelle nun jedoch zur Beschreibung des Seienden und nicht zur Beschreibung des Unbegrenzten dient. Das Seiende vergeht nicht einfach, sondern aus ihm wird neues Seiendes. So wie der neue Keim die alten Triebe durchdringt, verdrängt und letztlich zerstört, so zerstört ein jedes neues Seiendes das, was vor ihm Bestand hatte, und es entsteht, indem es die Überreste des zerstörten Seienden in seinem Entstehungsprozess aufnimmt. Dies könnte als eine recht gewaltsame Sicht der Welt verstanden werden. Doch Anaximander sagt uns, auch durch die Verwendung moralisch-rechtlicher Begriffe, dass dies ein gerechter Ablauf der Dinge ist. Auch der Ausdruck ‚τοῦ χρόνου τάξιν‘ (nach der Maßgabe / Ordnung der Zeit) scheint mir in dieser Hinsicht aufschlussreich. Hier findet sich möglicherweise ein Verweis auf den engen Zusammenhang von Zeit, Ordnung und Bewegung, der gut zur immanenten Deutung passt. Denn die Rechtsordnung, von der Anaximander spricht, ist nicht ein bloß abstraktes Prinzip, sondern eine Ordnung, die nach Maßgabe der Zeit abläuft. Anaximander spricht hier von einer zeitlichen Ordnung, von einem maßvoll geordneten Nacheinander der Abläufe und nicht von einem zeitlosen Naturgesetz bzw. einem absoluten (Rechts-) Prinzip. Das überlieferte Fragment kann also entweder als ein Hinweis auf die Gesetzmäßigkeit des Entstehens, die in einem Transzendenten wurzelt, gelesen werden oder als die Beschreibung der gesetzmäßigen Bewegung des innerweltlich Seienden. Die entstandenen Seienden können als Ergebnis der lebendigen Bewegung des ἄπειρον verstanden werden. Diese seienden Ergebnisse der organischen Verwandlung des ἄπειρον sind jedoch selbst auch nicht von Dauer. Sie müssen wiederum vergehen, um Platz für neue Seiende zu machen. So kann mit Blick auf die Seienden gesagt werden, dass das Entstehen des einen das Vergehen des anderen bedingt – Anaximanders Seiende ‚sind‘ nicht, sie sind entstehende und vergehende, also bewegte Existenzen. Eine solche immanente Deutung führt also dazu, dass Anaximander als Denker der Bewegung des Seienden bzw. der bewegten Existenz verstanden werden kann: Was jedoch dergestalt in Ankunft und Abgang sein Wesen hat, möchten wir eher das Werdende und Vergehende, d. h. das Vergängliche nennen, nicht aber das Seiende; denn wir sind seit langem gewohnt, dem Werden das Sein entgegen zu setzen, gleich als ob Werden ein Nichts sei und nicht auch in das Sein gehöre, 97 98

Vgl. Emil Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 86. Vgl. Die vorhergehende Untersuchung zur Bewegung des ἄπειρον, hier § 12.

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2. Teil: Historische Untersuchung

das man seit langem nur als das bloße Beharren versteht. Wenn jedoch das Werden ist, dann müssen wir Sein so wesentlich denken, daß es nicht nur im leeren begrifflichen Meinen das Werden umgreift, sondern daß das Sein das Werden (γένεσις – φθορά) seinsmäßig im Wesen erst trägt und prägt.99

Das Wie dieses Entstehens des Seienden aus der Bewegung des ἄπειρον ist letztlich nicht schlüssig zu bestimmen. Manche Kommentare verweisen auf die Möglichkeit des Zusammenkommens des Ähnlichen und des Auseinanderstrebens des Unähnlichen oder auf Verdichtung und Verdünnung. Eindeutig lässt sich jedoch über das Werden und Vergehen nichts sagen. Mit Uvo Hölscher wurde argumentiert, dass dieses Werden als ein ‚echtes Entstehen‘ zu deuten ist und eben nicht als qualitative Veränderung bzw. als Aussonderung oder Vermischung. Die Bewegtheit, aus der Endliches hervorgeht und in die es zurückgeht, wird zur Bestimmung, die jede Unterscheidung letztlich aufhebt. Was bleibt, ist das sich wandelnde ἄπειρον. Je nachdem, ob man sich stärker auf die antiken Berichte von Aristoteles und Simplikios oder nur auf das Fragment in der heute als authentisch angesehenen Fassung stützt, zeigt sich Anaximander von verschiedenen Seiten. Stützen wir uns vor allem auf die antiken Berichte bei Simplikios oder Aristoteles, dann scheint es so, als hätte Anaximander schon einen Begriff des Zugrundeliegenden, der in Grundzügen dem Materiebegriff des Aristoteles ähnelt. Diese Quellen vermitteln außerdem, dass Anaximander der Meinung sei, dass aus der Einheit des ἄπειρον die Gegensätze entstehen. In dieser Deutung ist das Verhältnis von der Bewegung des Seienden und dem Sein (als unbewegter Grund aller Bewegung) schon klassisch. Anaximander ist in dieser Interpretation ein Denker, der von einem einheitlichen und idealen Sein, dem ἄπειρον, ausgeht, aus dem sich das Seiende löst und in das es Buße tuend wieder zurückkehrt. Es ist jedoch, wie gesagt, sehr fragwürdig, ob es überhaupt angemessen ist, Anaximanders ἄπειρον als unbewegt-bewegt zu deuten, wie es in der Überlieferung geschehen ist. Doch unabhängig von der Frage nach der genauen Bestimmung des Entstehens zeigt sich in den Gedanken Anaximanders schon eine gewisse Loslösung vom Sinnlich-Materiellen und eine Betonung des Prinzipiellen. Die Bestimmung der ἀρχή als ἄπειρον verrät weder etwas über die materielle Beschaffenheit der ἀρχή noch über die Beschaffenheit des entstandenen Kosmos. Das ἄπειρον benennt nur das unbestimmte Woher und dasjenige, woraus alles wurde und schließlich jenes, wohin alles Vergehende zurückkehrt. Die ἀρχή verliert so ihre materielle Bestimmtheit. Mit den Worten Hegels lässt sich Anaximander daher folgendermaßen in die Entwicklungsgeschichte der Philosophie einordnen: Für Anaximander ist das „absolute Wesen nicht mehr ein Einfaches, sondern ein Negatives, Allge99

Martin Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, S. 343.

Kap. 6: Heraklit von Ephesus

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meinheit, eine Negation des Endlichen“100. Bei Anaximander verliert also das Woraus und Woher des Seienden seine sinnliche Bestimmtheit und wird als Absolutes auf die Ebene des bloß negativen Allgemeinen gehoben.101 Das ἄπειρον kann man nicht mehr positiv als Endliches, also sinnlich-materiell, fassen. Es ist uns nur mehr als Gedachtes zugänglich. Kapitel 6

Heraklit von Ephesus ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων. (Verborgene Harmonie ist stärker als offenkundige)102 Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist; und, wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delischen Tauchers. Sokrates über Heraklit (nach Diogenes Laertius, II 22)

Heraklit ist seit der Antike als dunkler Denker bekannt. Schon Cicero berichtet, dass Heraklit wegen seiner sehr poetischen, aber schwer verständlichen Sprache in der Tradition oft ‚der Dunkle‘ (σκοτεινός) genannt wurde.103 Trotz oder gerade wegen dieser dunklen Sprache erlangte Heraklit schon im 4. Jahrhundert v. Chr. den Status eines Klassikers. Es gibt Berichte über mehrere Kommentare zum gesamten Text, die uns leider nicht mehr erhalten sind. Diesen Status des Klassikers hielt Heraklit bis zum Untergang der antiken Zivilisation.104 Die mangelnde Klarheit seiner Sprache hatte also keinen Einfluss auf die Bekanntheit und den Einfluss der Gedanken Heraklits. Diese fast schon aphoristische Sprache Heraklits ist wohl auch einer jener Aspekte an Heraklit, der viele moderne Denker, unter anderem auch Hegel, Nietzsche und Heidegger, an Heraklit faszinierte. Nietzsche selbst sah Heraklit sogar als seinen Vorläufer und Verwandten. Wer sollte daher besser in das aphoristische Denken und die dichtende Sprache Heraklits einführen als Nietzsche? So beginnt meine Darstellung Heraklits mit den Worten, mit denen Nietzsche Heraklit in ‚Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‘ einführt: 100

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 211. Vgl. Uvo Hölscher, Anaximander und die Anfänge der Philosophie (II), S. 418. 102 DK 22B54. 103 M. T. Cicero, De finibus bonorum et malorum, II V-15. 104 Vgl. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 5. 101

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2. Teil: Historische Untersuchung

Mitten auf diese mystische Nacht, in die Anaximander’s Problem vom Werden gehüllt war, trat Heraklit aus Ephesus zu und erleuchtete sie durch einen göttlichen Blitzschlag. ‚Das Werden schaue ich an, ruft er, und niemand hat so aufmerksam diesem ewigen Wellenschlage und Rhythmus der Dinge zugesehen. Und was schaute ich? Gesetzmäßigkeiten, unfehlbare Sicherheiten, immer gleiche Bahnen des Rechts. […] Nicht die Bestrafung des Gewordenen schaute ich, sondern die Rechtfertigung des Werdens. […].‘105

§ 14 Heraklits Schrift Heraklit hat wohl nur eine Schrift verfasst, für die mehrere Titel überliefert sind: ‚Musen‘, ‚Über die ‚Natur‘ (περὶ φύσεως) oder ‚Das scharfe Steuerruder nach des Lebens Ziel‘.106 Die meisten Interpreten, darunter auch Diogenes Laertius, sprechen auch davon, dass möglicherweise das Werk selbst drei Teile hatte, wobei jeder dieser Teile thematisch mit je einem der überlieferten Titel verbunden war. So meint Diogenes Laertius, dass das Werk des Heraklit in drei λόγοι unterteilt ist: Er nennt sie den Logos über das All (περί τοῦ παντὸς), den politischen Logos (πολιτικὸν) und den theologischen Logos (θεολογικόν).107 Auch wenn diese Dreiteilung selbst, ebenso wie die Echtheit eines großen Teiles der Fragmente, immer wieder in Frage gestellt wird, ist man sich zumindest darin weitgehend einig, dass die Fragmente einem einzigen Werk entstammen. Welche Form dieses Werk nun ursprünglich aufwies, ist jedoch umstritten. Hermann Diels, der die überlieferten Fragmente des Heraklit sammelte, nummerierte und 1901 herausgab, war der Meinung, dass Heraklit kein Buch im Sinne einer durchgehenden Abhandlung geschrieben hätte, sondern dass er sein Denken vielmehr in einigen zusammenhängenden Gedanken (γνῶμαι) dargelegt hätte. Dies führte Diels zur Überlegung, dass es sich bei den uns erhaltenen Zeilen nicht um Elemente eines zusammenhängenden Textes handelt, sondern um bloße Notizen oder philosophische Happen, die untereinander nicht verbunden waren. Charles H. Kahn veranlasste diese Charakterisierung der Schrift Heraklits durch Diels zu der kritischen Bemerkung, dass Diels wohl Nietzsches Zarathustra im Kopf hatte, als er diese ungriechische Deutung der Fragmente vorschlug.108 Kahn ist der Meinung, dass es wohl angemessener wäre, Heraklit im Sinne von Pindar und Aischylos zu deuten: 105 Friedrich Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 822. 106 ἐπιγράφουσι δ‘ αὐτῷ οἱ μὲν Μούσας, οἱ δὲ Περὶ φύσεως, Διόδοτος δὲ ἀκριβὲς οἰάκισμα πρὸς στάϑμην βίου, ἄλλοι Γνώμον’ ἠϑῶν, τρόπου κόσμον ἕνα τῶν ξυμπάντων. Diogenes Laertius, IX 12. 107 Diogenes Laertius, IX 5. 108 Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 6.

Kap. 6: Heraklit von Ephesus

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The existant fragments reveal a command of word order, imagery, and studied ambiguity as effective as that to be found in any work of these two poets. I think we can best imagine the structure of Heraclitus’ work on the analogy of the great choral odes, with their fluid but carefully articulated movement from image to aphorism, from myth to riddle to contemporary allusion. Yet the intellectual unity of Heraclitus’ composition was in a sense greater than that of any archaic poem, since its final intent was more explicitly didactic, and its central theme a direct affirmation of unity: hen panta einai, ‚all things are one‘. The content of this perfectly general formula seems to have been filled in by a chain of statements linked together not by logical argument but by interlocking ideas, imagery, and verbal echoes. Theophrastus found the result ‚incomplete and inconsistent‘, but he was looking for a prosaic exposition of physical theories.109

Nach Kahn war Heraklit also sowohl Denker als auch Dichter und daher der erste dichtende Philosoph. Heraklit wird so zu einem Denker, der versuchte, den zentralen Gedanken seiner Arbeit mit poetischen Mitteln auszudrücken, ohne deswegen zum Dichter in der Tradition Homers oder Hesiods zu werden. Herkalit war gegenüber der Tradition der Dichter sehr kritisch eingestellt, er kritisierte ihre Art von Wissen und Wissensvermittlung vehement. Doch missbilligt er nicht nur die Belehrungen der alten Weisen wie Homer und Hesiod,110 sondern auch jene der polemischen Dichter wie Xenophanes und Archilochos sowie jene der Wundermänner und Erzieher seiner Zeit wie z. B. Pythagoras, den er der Vielwisserei und Betrügerei bezichtigte.111 Er kritisierte außerdem die Rhapsoden, die von Stadt zu Stadt zogen, die Gedichte des Homer und Hesiod rezitierten und diese als Vorbilder für enzyklopädisches Wissen darstellten. Heraklit meinte, dass alle diese vermeintlichen Dichter und vermeintlichen Weisen sich nur von der Meinung der Menge belehren ließen.112 Die als weise gefeierten Männer sammelten also nur verschiedene Bruchstücke von Wissen aus mehreren Quellen, ohne sie zu ordnen und ihnen dadurch einen übergeordneten Sinn oder eine übergreifende Bedeutung zu geben: „Von diesem Standpunkt aus konnte Hesiod als ein Sammler von Mythen und von Wissen unterschiedlicher Herkunft angesehen werden. Als solcher galt auch Hektaios, der die Logoi der Griechen, die lokalen mythischen Traditionen, sammelte, um seine Genealogien aufzustellen […]. Auch das Gedicht des Xenophanes konnte als eine Sammlung verschiedener Themen erscheinen.“113 Heraklit bezeichnet diese vermeintlich weisen Männer daher als ‚πολυμαθες‘. Unter Polymathie verstand He109 110 111 112 113

Charles H. Kahn, op.cit., S. 7. Vgl. DK 22B56, DK 22B42, DK 22B57. DK 22B129. Vgl. DK 22B104. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 331 f.

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2. Teil: Historische Untersuchung

raklit ein Wissen, das durch die Sammlung von Material aus verschiedenen Quellen zusammengestellt wird, ohne diesem Wissen eine dem Material entsprechende Ordnung und somit ohne ihm Sinn oder Bedeutung zu geben. Außerdem kritisiert Heraklit neben der Vielwisserei (Polymathie) auch die Erforschungskunst (Historie). Als Vertreter der Methode der Historie werden zur Zeit Heraklits jene Denker verstanden, die nicht die Musen anriefen, bevor sie eine Untersuchung begannen. Diese Denker der Historie nehmen also im Grunde ebenso wie Heraklit eine eher kritische Stellung gegenüber der Mythologie als Medium des Wissenstransportes ein. Anstelle dieser Orientierung an der Dichtung und den Mythen, also der Götterwelt, so vermutet man, tritt bei den Historen die Methode der direkten Erforschung, möglicherweise dem entsprechend, was wir heute empirische Untersuchungen nennen würden. Für diese Deutung spricht die traditionell vermutete Etymologie des Begriffes. Man vermutet, dass der Wurzelbegriff der Historie ‚ἵστωρ‘ ist. Dieser Begriff wird zumeist mit dem Terminus ‚Augenzeuge‘ übersetzt, weil eine etymologische Verbindung zum Begriff ‚ἰδεῖν‘ (sehen) und ‚εἰδέναι‘ (wissen) vermutet wird.114 Folgt man dieser etymologischen Deutung des Begriffes ‚ἵστωρ‘, dann werden die Historen zu Denkern, denen es nicht mehr genügte, bloß Überliefertes zu berichten. Vielmehr mussten die Objekte der Untersuchung wenn möglich mit eigenen Augen gesehen oder überprüft werden. Diese Deutung der Historie scheint jedoch auch dem Forschungsinteresse des Heraklit nahe zu kommen. Daher wäre es verwunderlich, dass Heraklit die Historen so scharf kritisiert hat, wenn diese Deutung der Historie zuträfe. Die neuere Forschung vermutet jedoch eine etwas andere Herkunft des Begriffes ‚ἵστωρ‘. Die These ist, dass der ἵστωρ ein Sammler ist, der Informationen aus mehreren Quellen vereint, um daraus ein Urteil abzuleiten.115 In dieser Deutung wird die enge Verbindung der Historie zur Polymathie deutlich, und es wird auch deutlich, warum Heraklit sich von der Historie distanziert. Ein Beispiel für dieses Verständnis der Historie lässt sich auch anhand eines Heraklit-Fragmentes belegen, das sich auf Pythagoras bezieht. Pythagoras ist für Heraklit ein Beispiel eines Denkers, der sein Wissen aus verschiedenen Quellen zusammenstellt und es als eigenes Wissen ausgibt: πυθαγόρης […] ἱστορίην ἤσκησεν ἀνθρώπων μάλιστα πάντων καὶ ἐκλεξάμενος ταύτας τὰς συγγραφὰς ἐποιήσατο ἑαυτοῦ σοφίην, πολυμαθίην, κακοτεχνίην116 114 Vgl. Herbert Granger, Heraklitus’ Quarrel with Polymathy and ‚Historiê‘, S. 238. 115 Herbert Granger, op.cit., S. 238. 116 DK 22B129.

Kap. 6: Heraklit von Ephesus

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Pythagoras hat am meisten von allen Menschen Forschung betrieben, indem er diese Schriften zusammenlas nahm er sie als seine eigene Weisheit, Vielwisserei und fehlerhafter Gebrauch.

Heraklit lehnt also jeglichen Wissenserwerb, der bloß auf Überlieferung oder übernommenem Wissen beruht, ab und er kritisiert die bloße Ansammlung von Wissensbrocken ohne innere Struktur (ohne eigenen λόγος). Heraklit lehnt also bloß übernommenes Wissen als Grundlage von Forschung ab, und setzt an dessen Stelle ein Erkennen das Ergebnis der eigenen Erfahrung und der Auseinandersetzung mit dem Erfahrenen ist. Wissen aus zweiter Hand oder ein Wissen aus Überlieferung und Offenbarung, das bloß als eigenes Wissen ausgegeben wird, ist für Heraklit nicht Wissen im eigentlichen Sinn. Während die Polymatheis und Rhapsoden typischerweise eine leicht zugängliche deskriptive oder narrative Sprache verwendeten, da sie ihr Wissen einer großen Menge zu vermitteln suchten, wurde Heraklits Sprache, wie schon erwähnt, immer als dunkel charakterisiert. „Da Heraklit von dieser Auffassung der Weisheit und deren Vermittlung entschieden Abstand nimmt, verzichtet er nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Redeform, die typisch für die Polymathie ist.“117 Vor diesem Hintergrund gewinnt die These, dass Heraklit seine dunkle Sprache absichtlich und bewusst wählt, an Plausibilität. Heraklit könnte diesen Weg des dunklen Sprechens absichtlich gewählt haben, um sich von den vermeintlichen Weisen seiner Zeit, den Polymatheis und den Historen, abzugrenzen und um es solchen Denkern schwer zu machen, sich einfach an seinen eigenen Gedanken zu bedienen. Somit wird „[s]eine Sprache […] die des Änigmas, des Rätsels, des Aphorismus, welche durch kurzes Hindeuten eine einfache, aber tiefe, nur wenigen Auserwählten zugängliche Wahrheit aussprechen. Um Orakel zu verstehen und Rätsel zu lösen, bedarf es keiner Polymathie, sondern eines natürlichen Verstandes; Kluge Kinder sind dem weisen Homer überlegen […].“118

§ 15 Heraklit und die entstehenden Wissenschaften Auch wenn Heraklit in einer Zeit der entstehenden Wissenschaften lebt, ist sein eigenes Forschen mehr als eine Suche nach Antworten auf spezifische Fragen über die Beschaffenheit des Kosmos. Heraklits Forschen ist auch mehr als ein bloßes Ansammeln von Fakten oder Mythen. Heraklit sucht nach einer Art von Weisheit, die nicht nur einsichtig ist, sondern 117 118

M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker Bd. 1, S. 332. M. Laura Gemelli Marciano, op.cit., S. 332.

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auch so wirkmächtig, dass sie das Leben des Denkers selbst wesentlich prägt. Diese Art von Lebensweisheit war zu Zeiten Heraklits zumeist noch dem θεῖος ἀνήρ vorbehalten, dem von den Göttern berührten Menschen, da die Suche nach Weisheit und Wissen ursprünglich stark religiös konnotiert war und vor allem von Dichtern und Mythenschreibern betrieben wurde.119 Heraklit verfolgte eben dasselbe Ziel des θεῖος ἀνήρ, sah sich selbst jedoch nicht der Tradition der Dichter und Mythologen verbunden, sondern eher in der Tradition der Weisheitsliebenden (φιλόσοφος ἀνήρ) stehend, insofern diese Tradition nicht auf die naturwissenschaftlichen Fragestellungen beschränkt wird. Denn die Weisheit, nach der Heraklit sucht, ist konkrete Lebensweisheit und kein bloßes Faktenwissen. In ihr geht es um die Erkenntnis dessen, was für das Leben wichtig ist; er fragt nach dem, was der Mensch ist, was der Mensch für ein gelungenes Leben braucht, und er fragt nach der Beschaffenheit des Kosmos, in dem der Mensch lebt. Doch die Art und Weise wie Heraklit diese Fragen stellt und die Antworten, die Heraklit auf diese Fragen gibt, weisen größere Nähe zu den (früheren) philosophischen Denkern auf als zu den Dichtern. Heraklit lebt und arbeitet in einer Zeit wissenschaftlicher Revolutionen. Die ionischen Naturphilosophen erarbeiteten ein neues wissenschaftliches Verständnis des Kosmos und schufen so ein neues Paradigma der Untersuchung der Welt, das sich von einem reinen Zur-Sprache-Bringen des konkreten Seienden abwendet und sich als der Versuch des erklärenden Verstehens kennzeichnen lässt. Der Übergang von der beschreibenden Erzählung zum erklärenden Logos, den Heraklit erlebt, ist auch ein Übergang weg vom darstellenden Denken hin zu einem begründenden Denken, das am Verstehen orientiert ist.120 An die Stelle der Beschreibung der Dinge anhand ihrer Herkunft (im Sinne der Genealogie) tritt so bei den Denkern, denen Heraklit begegnet, der Versuch, ihr Warum zu klären: „Der erste Prototyp rationaler Betrachtung, die Ursachenforschung, hat sich geradezu als eine Transformation des Urmodells mythologischen Denkens, der Genealogie, gezeigt.“121 Die Entstehung dieses wissenschaftlichen Paradigmas der Orientierung an Ursachen und der Abwendung von der beschreibenden Klärung durch die Untersuchung der Herkunft fällt zeitlich mit der Entstehung von geometrischen Modellen zur Beschreibung der Wirklichkeit zusammen. 119

Martina Stemich-Huber, Heraklit – Der Werdegang des Weisen, S. 9. Vgl. G. W. F. Hegel, Einführung in die Philosophie der Geschichte, S. 200. Hegel unterscheidet hier ein „in der Wirklichkeit nachweisen“ von einer begründenden Erklärung. Dieser Unterschied trifft den hier angesprochenen Unterschied sehr gut. 121 Emil Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 50. 120

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Während die früheren babylonischen Wissenschaftler sich mit der Vorhersage und Berechnung astronomischer Ereignisse begnügten, suchen die griechischen Denker nach Erklärungen für diese Ereignisse. Um Heraklit entsteht also nicht nur eine neue Wissenschaft, sondern es entstehen zugleich jene Methoden und Prinzipien, more geometrico, die unsere Wissenschaft bis heute prägen. „The Milesian cosmologies are scientific, in the sense in which for example the world picture of Hesiod is not, because the new view of the kosmos is connected both with a geometric model and with empirical observation in such a way that the model can be progressively refined and corrected to provide a better explanation for a wider range of empirical data.“122 Interessanterweise zeigte Heraklit kein Interesse an Entwicklungen der exakten Wissenschaften seiner Zeit. Er war mehr an älteren, sozusagen vorwissenschaftlichen, Aspekten der milesischen Forschungen interessiert als an der Auffassung, dass die Ordnung des Kosmos eine Ordnung der Gegensätze sei: „[The understanding of the] cosmic order as one of opposition, reciprocity, and inevitable justice, is faithfully taken over by Heraclitus, with all its poetic resonance and association with older, mythical ideas: ‚War is shared (for the killer will be killed in his turn), and (hence) Conflict is Justice.‘ “123 Nietzsche betont Heraklits implizite Ablehnung der geometrischen oder objektiven Wissenschaften stark und deutet diese Ablehnung als ein allgemeines Misstrauen gegen die Möglichkeit einer vernünftigen Erkundung der Wirklichkeit, also als eine allgemeine Abwertung der Fähigkeiten und Möglichkeiten der Vernunft: Heraklit hat als sein königliches Besitzthum die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung; während er gegen die andre Vorstellungsart, die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird, also gegen die Vernunft sich kühl, unempfindlich, ja feindlich zeigt und ein Vergnügen zu empfinden scheint, wenn er ihr mit einer intuitiv gewonnenen Wahrheit widersprechen kann: und dies thut er in Sätzen, wie ‚Alles hat jederzeit das Entgegengesetzte an sich‘ so ungescheut, daß Aristoteles ihn des höchsten Verbrechens vor dem Tribunale der Vernunft zeiht, gegen den Satz vom Widerspruch gesündigt zu haben.124

122 Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 16. Für eine ausführliche Analyse der Folgen, die dieser Wandel in der Beschreibung der Welt mit sich brachte und seine weitreichenden Konsequenzen für unser Weltverständnis vgl. Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, II. Die Ursprungsklärung des neuzeitlichen Gegensatzes zwischen physikalistischem Objektivismus und transzendentalem Subjektivismus, S. 21–107. 123 Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 18. 124 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 823.

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Auch Diels bemerkte diesen Zusammenhang und betonte, dass Heraklit nur im weitesten Sinne an der ionischen Wissenschaft interessiert war und dass sein eigentlicher Ausgangspunkt die Erforschung des Eigenen war: „Die Naturwissenschaft verdankt ihm nichts. Nur die großen, allgemeinen Gedanken der ionischen Physik regen seine Seele auf, wie sie denn in der Seele ihren apriorischen Ursprung haben. ‚Ich erforschte mich selbst‘: das war sein Ausgangspunkt.“125 Heraklit war also weniger an der Natur der Dinge im Sinne der neuen Wissenschaft oder an deren erklärenden Argumentationen interessiert, sondern an dem, was im eigenen Erleben zugänglich wird – er war am menschlichen (Er-)Leben interessiert. Diese Fragestellung nach dem konkreten Leben des Menschen ist mit der Frage nach der Beschaffenheit des Kosmos verbunden, wenn man diese Beschaffenheit des Kosmos eben nicht more geometrico zu behandeln sucht. Denn ein Verständnis dessen, was der Mensch ist und was Leben angesichts der Natur, des Denkens und des Todes bedeutet, kann für Heraklit nur gewonnen werden, wenn es auch eine Einsicht in die Struktur des Kosmos gibt, die alle Gegensätze – auch Geburt und Tod – umfasst und vereint.126 „The war of opposites, the cosmic fire, the divine one which is also wisdom itself or ‚the wise one‘ – all these provide the framework within which human life and death are to be understood, and to be understood means to be seen in their unity, like day and night.“127 Ein gutes Beispiel für diese Verwebung einer wissenschaftlichen Fragestellung nach der Beschaffenheit des Kosmos und der Betonung der menschlichen Erfahrung ist Fragment 126. Hier drückt Heraklit die Veränderung von physikalischen Gegensätzen durch für Menschen erfahrbare Erlebnisse aus: τὰ ψυχρὰ θέρεται, θερμὸν ψύχεται, ὑγρὸν αὐαίνεται, καρφαλέον νοτίζεται – Kaltes erwärmt sich, Warmes kühlt ab, Feuchtes trocknet aus, Dürres wird benetzt. Die hier verwendeten Verben θέρεται und ψύχεται konnotieren keine objektiv-quantifizierbaren Beschreibungen des Seienden, sondern verweisen auf die Weise wie Dinge für eine Person erfahrbar werden. Der Begriff ‚θέρεται‘ kann verwendet werden, um zu beschreiben, wie eine Person sich am Feuer erwärmt. Der Begriff ‚ψύχεται‘ weist schon sprachlich einen Bezug zur menschlichen Seele (ψυχή) auf. So weist dieses Fragment also schon terminologisch die enge Beziehung zwischen ψυχή und φύσις auf und zugleich zeigt es außerdem die Möglichkeit auf, die Natur durch die Untersuchung des Eigenen, der ψυχή, zu erkennen.128 125

Hermann Diels, Herakleitos von Epheseos, S. vii. Vgl. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 21. 127 Charles H. Kahn, op.cit., S. 21. 128 Dieses Argument verdanke ich Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 165. 126

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Die Suche nach einheitlichen Strukturen oder Gründen, welche die Wirklichkeit strukturieren und Gegenstand der theoretischen Erkenntnis sind, verbindet Heraklit mit den Milesiern, „and this sets him apart from the older Wise Men. But he belongs with them in the concern for wisdom as an insight into the pattern of human life and the limits of the human condition. What they did not see – and could not see before the birth of natural philosophy – is that the pattern of human life and the pattern of cosmic order is one and the same.“129 Heraklit spricht also von einer Wahrheit, die im Gegensatz zu der Wahrheit der Milesier nicht zur Abstraktion tendiert, sondern uns Menschen näher ist „than hands and feet, [a truth] which ought to be obvious to every person, but which is in fact devilishly difficult to communicate even to a benevolent reader“130. Diesen Gedanken einer einheitlichen Wirklichkeit bzw. einer einzigen ἀρχή hätte Heraklit ohne den Einfluss der ionischen Naturphilosophen und ihrer Vorstellung von einem einheitlichen Prinzip des Kosmos wohl nicht fassen können. Dasselbe gilt für den Gedanken, dass sich die notwendige Struktur des λόγος in der Beschaffenheit alles Seienden ausdrückt. Ein Beispiel für jene Aspekte, die Heraklit von den Milesiern übernimmt, wäre also die Suche nach dem einen begründenden Prinzip, der ἀρχή, und somit die Suche nach allgemeinen Erklärungen; ein anderes die Ablehnung der mythischen Tradition als Antwort auf die Frage nach der Entstehung und Beschaffenheit des Seienden. In seiner Vorstellung des Feuers als eine Form des λόγος, aber auch als Wärmestoff, der Leben gibt, erhält und zerstört, sowie in seiner Betonung der Weisheit und der Vorstellung, dass menschliche, gesellschaftliche und kosmische Strukturen einander strukturgleich sind, ist er den früheren Denkern verbunden. Auch wenn Heraklit sich nicht explizit für die geometrischen Modelle seiner Zeitgenossen interessierte, ist sein Denken als φιλόσοφος ἀνήρ von den wissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit beeinflusst und kann in gewisser Hinsicht auch als zeitgemäßes, wenn auch konservatives Gegenprogramm zur milesischen Naturphilosophie gesehen werden. Heraklits Denken greift die Themen und manche der Methoden der milesischen Naturphilosophie zwar auf, behandelt sie aber in völlig anderer Form. Denn Heraklit sucht nicht nach einer wissenschaftlichen Beschreibung der Welt, wie das die Milesier tun, sondern er sucht nach jener Wahrheit, die dem Menschen, wenn er wach ist, in der eigenen Erfahrung unvermittelt zugänglich ist.131

129 130 131

Charles H. Kahn, op.cit., S. 22. Charles H. Kahn, op.cit., S. 100. Vgl. DK 22B1.

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2. Teil: Historische Untersuchung

§ 16 Der Ausgangspunkt des Weges zur Weisheit im Eigenen Heraklit ist also auf der Suche nach Weisheit und Wahrheit und beginnt diese Suche, wie er uns in einem Fragment mitteilt, bei sich selbst. Er sucht nach der Wahrheit, nicht im Ausgang von Religion oder im Ausgang von Prinzipien, sondern ausgehend von direkter (sinnlicher) Erfahrung des Eigenen (ψυχή) und des Kosmos. Dieser Gang der Untersuchung ist möglich, da die ψυχή ebenso wie der κόσμος und unsere Erfahrung der Dinge durch den λόγος bestimmt sind.132 Der Einzelne und der Kosmos sind durch den λόγος verbunden, sie ähneln einander: „Heraklit erwähnt die feuerhafte Seele, welche mit dem kosmischen Feuer gleichgeht […]. Im Ergebnis besteht die Erkenntnis des Ephesers in einem Zusammenspiel von Mikro- und Makrokosmischem, das nie gänzlich auf einen Begriff gebracht werden kann.“133 Die Schlüsselstelle,134 in der Heraklit davon spricht, dass er in seiner Suche bei sich selbst beginnt, lautet: ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν.135 Dieses Fragment wird meist mit a) ‚ich habe mich selbst durchforscht‘ übersetzt, kann aber auch als b) ‚ich habe nach mir selbst gesucht‘136 übersetzt werden. Beide Möglichkeiten der Übersetzung verweisen auf das Eigene als wichtigen Aspekt der Suche nach dem λόγος: Entweder muss der Suchende nach der Deutung b) sich selbst finden, um den λόγος zu erkennen, oder a) er kann den λόγος in sich selbst erkennen. Beide Deutungen lassen sich auch miteinander verbinden. Die Deutung durch b) weist dann darauf hin, dass wir uns zunächst selbst finden müssen, um das uns Nächste und Bekannteste nicht aus Unkenntnis selbst zu verstellen, und um dann, wie in a) geschildert, den λόγος in uns zu erkennen. Solange wir uns nicht selbst gefunden haben, können wir auch in uns den λόγος nicht erkennen. Nach Heraklit ist die Wahrheit uns das Nächste und da sie uns so nah ist, uns so grundlegend bestimmt, können wir sie erkennen, wenn wir uns selbst erkennen. Nur wer sich selbst erforscht, sich selbst erkennt, kann für den λόγος offen sein. Diese Selbsterkenntnis ist ebenso jedem Menschen möglich (B116), wie jeder Mensch den λόγος erfahren kann, wenn er auf den λόγος zu hören lernt. 132 Die Parallelisierung von Weltordnung und Seele lässt sich auch an den Fragmenten DK 22B30, 31 und 22B36 ablesen. Die Verwandlungen, die der Weltordnung in 22B30, 31 zugesprochen werden, macht in 22B36 auch die Seele in ähnlicher Form durch. 133 Martina Stemich-Huber, Heraklit – Der Werdegang des Weisen, S. 230 f. 134 Z. B. für Martina Stemich-Huber oder M. Laura Gemelli Marciano. 135 DK 22B101. 136 Diese Übersetzung findet sich z. B. bei Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus.

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Dennoch ist es nicht einfach, den λόγος zu verstehen oder zu erkennen, obwohl der λόγος alles durchdringt. Um den λόγος verstehen zu können, bedarf es zunächst einer gewissen Unvoreingenommenheit, einer gewissen Offenheit des Suchenden. Diese Offenheit nennt Heraklit ‚ἔλπησθαι‘ (B18), also Hoffnung oder Erwartung. Eine der Bedingungen dieser Offenheit ist, wie schon erwähnt, die Selbsterkenntnis von der Heraklit spricht (B101). Eine weitere Bedingung dieser Offenheit ist eine gewisse Beschaffenheit der eigenen ψυχή. Man darf nicht die Seele eines Barbaren haben, also eines Menschen, der die Sprache des λόγος nicht spricht, wenn man den λόγος erfahren will (B107). Die Erkenntnis des λόγος ist also das Ergebnis einer gewissen Offenheit. Aber sie setzt auch eine gewisse Anstrengung und Bemühung um Wissen über das Eigene und über die Welt voraus: χρὴ γὰρ εὖ μάλα πολλῶν ἵστορας φιλοσόφους ἄνδρας εἶναι137 – Männer, die das Wissen lieben, müssen gut darin sein, viele Dinge zu untersuchen. Die Historie ist daher zwar als Methode zur Sammlung von Wissen hilfreich, nur genügt die reine Ansammlung von Wissen allein nicht. Der Weisheitssuchende darf nicht bei der bloßen Ansammlung des Wissens stehen bleiben. Das gesammelte Wissen muss erst durch den λόγος geordnet werden, um wirkliche Erkenntnis zu ermöglichen. Außerdem setzt das Streben nach Wissen und Weisheit weder eine spezielle Offenbarung noch eine philosophische Ausbildung voraus. Es genügt auf den λόγος zu achten, um sich dem λόγος zu nähern: ὅσων ὄψις ἀκοὴ μάθησις, ταῦτα ἐγὼ προτιμέω.138 Das Zeugnis des Gesehenen und Gehörten, also dessen, was aus der Erfahrung stammt (vgl. B17), das ist der Weg, den Heraklit bevorzugt: Die Wahrheit ist also keinesfalls den besonders Gelehrten oder den besonders Begabten vorenthalten, sondern all jenen offen, die sich durch Selbsterkenntnis eine gewisse Offenheit erarbeitet haben und das Erfahrene angemessen ordnen. Doch was ist dieses Eigene in uns, das dem λόγος entspricht und das es uns ermöglicht, den λόγος in uns und in der Welt zu erkennen? Ist es unsere Vernunft, unsere Fähigkeit zu sprechen oder die Fähigkeit zu urteilen? Oder, anders formuliert, was ist dieser λόγος, der uns Menschen und die Welt durchstimmt und Erkenntnis eigentlich erst ermöglicht?

§ 17 Die besondere Bedeutung des λόγος bei Heraklit Der Begriff ‚λόγος‘ ist, wie schon erwähnt, ein sehr ambivalenter Begriff, der sich kaum eindeutig bestimmen lässt. Ebenso problematisch ist 137 138

DK 22B35. DK 22B55.

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eine Bestimmung dieses Begriffes in seiner Verwendung bei Heraklit, da er eine ausgezeichnete Rolle in seinem Denken einnimmt. Wolfgang Röd expliziert die Aspekte, die eine solche Bestimmung des Begriffes bei Heraklit erfassen können muss folgendermaßen: Ein angemessenes Verständnis muss „neben der normativen Komponente (als νόμος) auch die ‚metaphysische‘ Komponente der Einheit in der Gegensätzlichkeit, die religiöse Komponente des Einen und weisen Göttlichen (des ἓν σοφόν) und die kosmologische Komponente des Naturgrundes (der φύσις)“139 umfassen. Die grundlegende Schwierigkeit besteht darin, „to find the way in which the idea of universality must be connected with the normal or possible meanings of λόγος without bringing in semi-mystical concepts of a worldreason or worldsoul“140. Daher beginne ich mit einer Erläuterung der allgemeinen Bestimmung des ‚λόγος‘ zur Zeit Heraklits. In jener Zeit hatte der Begriff ‚λόγος‘ zunächst die Bedeutung von ‚Darstellung‘ oder ‚Bericht‘. Heraklit verwendet den Begriff ‚λόγος‘ an einigen Stellen auch in dieser herkömmlichen Bedeutung, z. B. im Fragment 22B87141: Βλὰξ ἄνθρωπος ἐπὶ παντὶ λόγῳ ἐπτοῆσθαι φιλεῖ. – Der stumpfsinnige Mensch wird bei jedem λόγος erschreckt auffahren. Doch diese Bestimmung des ‚λόγος‘ ist nur bei wenigen Fragmenten hilfreich, denn die meisten anderen Fragmente scheinen einen anderen Begriff des ‚λόγος‘ vorauszusetzen. Eine weitere gängige Bedeutung von ‚λόγος‘ ist ‚Beziehung‘, ‚Proportion‘, ‚Maß‘. Auch diese Bedeutung findet sich in manchen Fragmenten bei Heraklit. Diese „[…] Bedeutung kommt jedenfalls in dem Fr. 31 vor, wo Heraklit sagt, dass die Rückverwandlung der Erde in Wasser nach demselben λόγος geschieht, wie der ursprüngliche λόγος zwischen Wasser und Erde war. Die Bedeutung ‚Proportion‘ finden wir auch im Fr. 115, wo es von der Seele heisst, dass ihr ein λόγος eigen ist, der sich selbst mehrt.“142 Auch dieser Bedeutungsaspekt des λόγος-Begriffes scheint das Besondere des ‚λόγος‘ bei Heraklit nicht zu treffen und vor allem gängige Verwendungsweisen auszudrücken. In seinem Aufsatz Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides kritisiert W. J. Verdenius einige übliche Ansätze zur Deutung von ‚λόγος‘ bei Heraklit, da diese sich in seinen Augen auf eine Verwendungsweise berufen, 139

Wolfgang Röd, Die Geschichte der Philosophie Bd. 1, S. 97. Edwin L. Minar, The Logos of Heraclitus, S. 331. 141 Diese Verwendung von λόγος findet sich auch im Fragment 22B108: Ὁκόσων λόγους ἢκουσα, οὐδείς ἀφικνεῖται ἐς τοῦτο, ὥστε γινώσκειν ὅτι σοφόν ἐστι πάντων κεχωρισμένον. 142 W. J. Verdenius, Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides I, S. 87. Zitat: 22B31: […] θάλασσα διαχέεται καὶ μετρέεται εἰς τὸν αὐτὸν λόγον, ὁκοῖος πρόσθεν ἦν ἢ γενέσθαι γῆ, und 22B115: ψυχῆς ἐστι λόγος ἑωυτὸν αὔξων. 140

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die erst in späterer Zeit üblich wurde: „Die Übersetzungen ‚Sinn‘, ‚Lehre‘, ‚Gesetz‘ und ‚Wahrheit‘ finden in unserem Schema der Bedeutungsentfaltung jedenfalls keine Stütze. Die Bedeutung ‚Rede‘ im Sinne eines Vortrags kommt zuerst bei Thukydides vor. Auch die Bedeutungen ‚Vernunft‘ und ‚Wort‘ scheiden aus, weil sie, wie wir gesehen haben, sich noch später entwickelt haben.“143 Außerdem kritisiert er Autoren, die den herakliteischen λόγος zu stark auf die Bedeutungsaspekte von ‚Formel‘ oder ‚Definition‘ einschränken144, die seiner Meinung nach gerade dasjenige nicht erfassen, was Heraklit ausdrücken wollte. Eine weitere beliebte Deutungsart, die Verdenius kritisiert, ist es, den Begriff ‚λόγος‘ als Denkmuster zu verstehen.145 Da der λόγος allgemein ist, und nicht nur uns, sondern auch die gesamte Welt prägt, deuten manche Interpreten den λόγος in kantischer Manier als Denkform oder Denkverfahren.146 Wird Heraklit als Metaphysiker gedeutet, ist es naheliegend, den λόγος Heraklits wie Olof Gigon als Rede zu deuten, die dem „Sinn des Alls“ entspricht147 oder wie W. Jäger als Wort, das die ewige Wahrheit des Wirklichen ausspricht.148 Diese Deutung des λόγος sieht Heraklits Verwendung des Begriffes wohl zu sehr im Licht der stoischen Logos-Lehre. Durch die enge historisch verbürgte Verbindung zwischen dem stoischen Denken und Heraklit kamen manche Interpreten zu dem Schluss, dass der κοινὸς λόγος bei Heraklit zumindest ähnlich zu deuten sei wie in der Stoa. Auch wenn diese Parallelisierung hilfreich sein mag, erlaubt sie es nicht, die beiden Begriffe von λόγος zu identifizieren. Denn deutet man den λόγος z. B. als Naturgesetz im Sinne der Stoa, so würde der λόγος bei Heraklit jene allgemeinen Gesetzmäßigkeiten benennen, die den Naturerscheinungen zugrunde liegen. Es lässt sich jedoch relativ gut aufweisen, dass eine solche Vorstellung eines allgemeinen Naturgesetzes, also einer alles durchdringenden und bestimmenden abstrakten Kraft, sich erst mit der stoischen Philosophie entwickelt hat und sich bei früheren Denkern in dieser Form noch nicht 143

op.cit., S. 86. Verdenius nennt hier zum Beispiel G. S. Kirk e. a. oder E. Kurz, vgl. W. J. Verdenius, op.cit., S. 88: „Mit der Bedeutung ‚Proportion‘ oder ‚Mass‘ kann man aber in den Fragmenten, wo λόγος sich auf die Gesamtlehre bezieht, wenig anfangen. Zwar hat Kirk die Übersetzung ‚formula of things‘ vorgeschlagen, mit der Begründung, dass in einer solchen Formel der Mass-begriff impliziert ist. Aber der Ausdruck ‚Formel‘ klingt in bedenklicher Weise an ‚Definition‘ an, eine Bedeutung, die wir fur die Zeit Heraklits schon haben abweisen müssen.“ 145 Z. B. Hermann Fränkel oder Wolfgang Schadewaldt. 146 Für eine detailliertere Widerlegung dieser und ähnlicher Deutungen vgl. Edwin L. Milnar, The Logos of Heraclitus. 147 Olof Gigon, Der Ursprung der griechischen Philosophie, S. 201. 148 W. Jäger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, S. 131. 144

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finden lässt. „[…] [V]or der Stoa ist eine irgendwie kosmische Bedeutung von λόγος unbekannt.“149 Auch die Vorstellung des λόγος als einer Art (göttlicher) Vernunft, welche das Universum bestimmt, entwickelt sich erst in der Stoa.150 Soweit zu vielen der gängigen Interpretationen des λόγος, von denen keine letztlich wirklich schlüssig scheint. Nun möchte ich einen anderen Weg einschlagen und versuchen, den Begriff ‚λόγος‘ von jenen Fragmenten ausgehend zu erläutern, in denen der λόγος im Sinne Heraklits verwendet wird. Die wichtigsten Fragmente, die dem Leser ein angemessenes Verständnis des ‚λόγος‘ nahebringen können, sind wohl die Fragmente 22B1151, 22B2 und 22B50. Die ersten beiden werde ich an dieser Stelle nur kurz übersetzen und die für das Verständnis von Heraklits λόγος wichtigen Aspekte herausarbeiten, ohne die Fragmente selbst eingehend zu interpretieren.152 Das dritte Fragment hingegen werde ich genauer besprechen. 22B1 τοῦ δὲ λόγου τοῦδ᾽ἐόντος ἀεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι, καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι, καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον·γινομένων γὰρ πάντων κατὰ τὸν λόγον τόνδε ἀπείροισιν ἐοίκασι, πειρώμενοι ἐπέων καὶ ἔργων τοιούτων, ὁκοίων ἐγὼ διηγεῦμαι, κατὰ φύσιν διαιρέων ἓκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει·τοὺς δὲ ἄλλους ἀνθρώπους λανθάνει ὁκόσα ἐγερθέντες ποιοῦσιν, ὅκωσπερ ὁκόσα εὕδοντες ἐπιλανθάνονται. Auch wenn dieser λόγος ewig ist, wird er von den Menschen nicht verstanden, weder bevor sie ihn gehört haben noch nachdem sie ihn vernommen haben. Obwohl alles diesem λόγος gemäß entsteht, so sind sie doch wie Unerfahrene, wie oft sie sich auch an diesen Worten und Werken versuchen, wie ich sie bespreche, in dem ich ein jedes gemäß seiner φύσις auseinanderlege und erkläre, wie es sich (mit ihm) verhält. Den anderen Menschen bleibt unbekannt, was sie tun wenn sie wach sind und was sie tun wenn sie schlafen. 22B2 δὶο δεῖ ἕπεσθαι τῷ ξυνῷ. Τοῦ λόγου δ᾽ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν. Daher ist es notwendig, dem Gemeinsamen / Allgemeinen zu folgen. Auch wenn der λόγος gemein / allgemein ist, leben die Vielen, als hätte ein jeder eine Einsicht / ein Denken für sich.

149

Olof Gigon, Untersuchungen zu Heraklit, S. 4. Vgl. Edwin L. Milnar, The Logos of Heraclitus, S. 330 f. 151 Dieses Fragment ist auch zentral, um die Rolle der φύσις bei Heraklit zu verstehen. Vgl. den folgenden Exkurs zur φύσις in § 18. 152 Für eine ausführliche Interpretation dieser Fragmente vgl. z. B. Martina Stemich-Huber, Heraklit – Der Werdegang des Weisen, Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, oder Thomas Hammer, Einheit und Vielheit bei Heraklit von Ephesus. 150

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22B50 οὐκ ἐμοῦ, ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι. Hört ihr nicht auf mich, sondern auf den λόγος, ist es weise (damit) übereinstimmend zu sagen, dass alles eines ist.

Eine sehr hilfreiche Zusammenstellung der wichtigsten Aspekte des λόγος-Begriffes, der sich in diesen Fragmenten zeigt, findet sich bei Thomas Hammer153: B 1:

B 2:

1. Der λόγος ist ein bestimmter: ‚dieser λόγος‘. 2. Man kann den λόγος hören. 3. Gemäß dem λόγος geschieht bzw. entsteht alles. 1. Es tut not, den λόγος zu befolgen. 2. Der λόγος ist gemeinsam. (Andere Übersetzung: Der λόγος ist allgemein.)

B 50: 1. Man kann den λόγος hören. 2. Der λόγος wird unterschieden von der Person Heraklits. 3. Der λόγος hat zum Inhalt: ‚Alles ist eins‘. In diesen Fragmenten bestimmt Heraklit den λόγος sowohl als ewig als auch als allem gemeinsam.154 Der λόγος muss also immer schon Bestand haben sowie allen Dingen und allen Geschehnissen zukommen. Er kann außerdem gehört werden, ist also sinnlich erfahrbar. Unabhängig von überliefertem Wissen und Bildung ist der λόγος allen Menschen gleich zugänglich, da er in allem und bei allem hörbar ist.155 Logos und Kosmos sind also in gewissem Sinne äquivalent, so dass der Logos irgendwie in der objektiven Welt anwesend sein muss. Er ist nicht nur die subjektive Argumentation, sondern auch deren objektives Korrelat, nicht nur die Erörterung der Zusammenhänge in der Welt, sondern auch der Weltzusammenhang, die Weltordnung selbst. […] Diese Ambivalenz ist möglich, weil im Bewusstsein Heraklits keine scharfe Grenze bestand zwischen seinem Denken und dessen Gegenstand. Die Weltordnung, die er in seiner Argumentation konstruierte, war ihm identisch mit der vorhandenen Weltordnung, und zwar nicht in dem Sinne, dass er diese Identität als solche behauptete, sondern vielmehr so, dass er sie als etwas Selbstverständliches […] voraussetzte.156

153 154 155 156

Thomas Hammer, Einheit und Vielheit bei Heraklit von Ephesus, S. 72. Vgl. DK 22B1, 22B2. Vgl. DK 22B114 – τῷ ξυνῶ πάντων. W. J. Verdenius, Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides I, S. 91.

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Diese Stelle betont nicht nur die Ambivalenz des λόγος, sondern verweist außerdem noch auf ein wesentliches Charakteristikum des griechischen Denkens, nämlich dass in diesem nicht streng zwischen dem Gedachten und dem Seienden unterschieden wird. Der λόγος ist nicht nur ein Konzept Heraklits zur Weltdeutung, sondern er selbst besitzt Aktualität. „It is more than the ‚opinion‘ of the philosopher; it is the ‚sense‘ which is in the world and which alone gives ‚content‘ to the world. […] It means not only that which man says but that which speaks to man.“157 Angesichts dieser Bestimmungen des λόγος-Begriffes und dieser Struktur des griechischen Denkens ist W. J. Verdenius der Meinung, dass sich der λόγος dieser Fragmente nur im Rahmen des Bedeutungsspektrums von ‚Rechenschaft Ablegen‘ angemessen verstehen lässt. Doch ist dieses Rechenschaft ablegen bei Heraklit sehr speziell bestimmt: „Heraklit unterscheidet sich von der großen Menge dadurch, dass er die Dinge nicht einfach hinnimmt, sondern sich von ihrem Zusammenhang Rechenschaft gibt. Diese Rechenschaftsablage besteht darin, dass er, wie er selbst sagt, jedes Ding auf sein Wesen hin analysiert (Fr. 1 κατὰ φύσιν διαιρέων ἓκαστον).“158 Einen anderen Gang der Rekonstruktion des λόγος-Begriffes, der zu einem ähnlichen, aber in meinen Augen fruchtbareren Ergebnis gelangt wie Verdenius, geht Martin Heidegger. Er deutet in Sein und Zeit den λόγος ursprünglich als Rede. Eine Auslegung, die erst dann ihre volle Berechtigung erlangt, wenn mitbedacht wird, was die Rede selbst besagt, also wovon sie in der Terminologie von Verdenius Rechenschaft ablegen soll: „λόγος wird ‚übersetzt‘, d. h. immer ausgelegt als Vernunft, Urteil, Begriff, Definition, Grund, Verhältnis. Wie soll aber ‚Rede‘ sich so modifizieren können, daß λόγος all das Aufgezählte bedeutet und zwar innerhalb eines wissenschaftlichen Sprachgebrauchs? […] [Λ]όγος als Rede besagt vielmehr soviel wie δηλοῦν, offenbar machen das [sic], wovon in der Rede ‚die Rede‘ ist.“159 In diesem Verständnis verweist der λόγος also auf die Ordnung unter ein Prinzip und stellt zugleich die Inhalte dar, die unter dieses Prinzip geordnet wurden. Die Fragmente Heraklits sind von dem Prinzip des λόγος durchwaltet und stellen so den λόγος dar, ohne notwendigerweise explizit vom λόγος zu sprechen oder ihn zu definieren. Die Ordnung durch den λόγος kann in den Fragmenten daher auch nicht explizit ausgesprochen werden, sondern zeigt sich in den Fragmenten: Zum einen dadurch, dass Heraklit seine Thesen so formuliert, dass sich der λόγος leichter erkennen lässt. Zum anderen beispielhaft dadurch, dass er mal um mal Beispiele schildert, in denen sich diese Ordnung 157 158 159

Edwin L. Minar, The Logos of Heraclitus, S. 333 f. W. J. Verdenius, op.cit., S. 89. Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, S. 43.

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des λόγος am Geordneten zeigt. In beiden Fällen beschreibt Heraklit einen auf bestimmte Weise strukturierten Inhalt. Die Struktur des Inhalts lässt sich nun durch den Inhalt vermittelt erkennen, auch wenn die Struktur selbst nicht expliziter Gegenstand der Rede ist. Eben diese Ambivalenz zwischen dem Sehen-Lassen dessen, von dem die Rede ist (Inhalt), und der Form dieses Inhalts, die ein ordnendes Gesetz oder ein Prinzip erkennen lassen kann, kennzeichnet die Verwendung von ‚λόγος‘ bei Heraklit.160 Durch die Ambivalenz zwischen Ordnung bzw. Strukturierung und dem Sehen-Lassen (als ein Aufzeigen anhand von konkreten Beispielen durch den λόγος) kann in der Untersuchung des λόγος eben das gesehen werden, von dem eigentlich die Rede ist: οὐκ ἐμοῦ ἀλλὰ τοῦ λόγου ἀκούσαντας ὁμολογεῖν σοφόν ἐστιν ἓν πάντα εἶναι – Hört ihr nicht auf mich, sondern auf den λόγος, ist es weise (damit) übereinstimmend zu sagen, dass alles eines ist.161 Es geht also nicht vornehmlich darum, zu hören, was Heraklit sagt, sondern man muss auf das achten, was sich im Gesagten durch den λόγος und als λόγος zeigt. Dieses sich Zeigende ist die grundlegende Einheit (ἓν πάντα εἶναι) – dies ist der Inhalt des λόγος. Dieser Inhalt zeigt sich jedoch nur demjenigen, der die Welt auf eine bestimmte Art und Weise betrachtet. Nämlich demjenigen, der sich in seiner Suche nach Weisheit der Struktur dieses Inhaltes anpasst. I assume that logos means not simply language but rational discussion, calculation, and choice: rationality as expressed in speech, in thought, and in action. (All these ideas are connected with the classic use of logos, logizesthai, epilegein, etc., e. g. in Herodotus.) This is rationality as a phenomenal property manifested in 160 Vgl. Bruno Snell, Die Sprache Heraklits, S. 366: „Dieser Logos ist natürlich zuerst die Lehre des Heraklit, die er vortragen will. Aber dieser Logos hat Wirklichkeit. Er ist mehr als eine Meinung des Heraklit. Es ist der Sinn, der in der Welt liegt, der der Welt erst ihren Gehalt gibt – man mag immerhin mit späterer Terminologie etwas wie eine Weltvernunft darin sehen, muß dabei aber jeden Gedanken an eine gerechte Ordnung oder an die Gesetzlichkeit der Natur fernhalten.“ Außerdem: op.cit., S. 367: „Die Scheidung von Ich und Nicht-Ich, zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, ist von ihm gar nicht vollzogen.“ Sowie C. J. Emlyn-Jones, Heraclitus and the Identity of Opposites, S. 96: „It seems most probable that the Logos is in some sense the principle according to which the world is organised (since one of the basic meanings of the root from which λόγος is derived is ‚gathering‘ or ‚choosing‘, and from which comes the idea of ‚measure‘ or ‚orderly relationship‘) and at the same time the word is associated with the discourse of Heraclitus (since another basic meaning of the root is ‚account‘ or ‚narration‘).“ 161 22B50 – Heidegger übersetzt: „Habt ihr nicht bloß mich gehört, sondern habt ihr (dem λόγος gehörsam) auf den λόγος gehört, dann ist Wissen (das darin besteht), mit dem λόγος das Gleiche sagend zu sagen: Eins ist alles.“ (Heraklit, GA 55, S. 259) Ich finde diese Auslegung sehr treffend, daher führe ich sie hier zur Verdeutlichung an.

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intelligent behaviour, not Reason as some kind of theoretical entity posited ‚behind the phenomena‘ as cause of rational behaviour.162

A. P. D. Mourelatos bringt in dem vorangehenden Zitat die verschiedenen Bedeutungsebenen des λόγος als terminus technicus bei Heraklit auf den Punkt. Dem ‚λόγος‘ entspricht eine menschliche Fähigkeit, nämlich jene des klugen Verhaltens, über die jeder verfügt, die jedoch nur schwer zu verwirklichen ist und daher selten gelebt wird. Diese Fähigkeit muss betätigt werden, um den λόγος zu erkennen – denn sie ist es auch, die dem λόγος entsprechend strukturiert ist. Zugleich verweist der Begriff ‚λόγος‘ aber auch auf das Verhältnis des Menschen zur Welt und damit zugleich auf jenes kosmische Prinzip, das allem gemeinsam ist. In diesem Aspekt zeigt sich die Einheit und Weisheit des λόγος. Denn, dass dem klugen Verhalten des einzelnen Menschen auf kosmischer Ebene jene Gesetzmäßigkeit entspricht, welche die Welt durchdringt und bestimmt, ist Ausdruck einer Einheit, die das Menschliche und das Kosmische übersteigt und umfasst. Wenn nun das Naturgesetz des λόγος dem klugen Verhalten entspricht, dann ist nun der λόγος nicht in unserem Sinn als Naturgesetz zu verstehen, also nicht als absolut gültige und vollkommen rational erschließbare Bestimmungen, sondern als Angemessenheit. Ebenso wie die praktische Vernunft nicht objektive Erkenntnis mit absoluter Gewissheit erschließt, sondern angemessene Handlungsstrategien, ist der λόγος kein absolutes Naturgesetz, sondern eine angemessene Strukturbestimmung des sich zyklisch bewegenden Kosmos. Es ist jedoch genau diese Ambivalenz der Bedeutung von ‚λόγος‘ zwischen dem Bezug zum Leben des einzelnen Menschen und den Strukturen des Kosmos, in denen der Mensch lebt, welche die meisten der erhaltenen Fragmente bestimmt.

§ 18 Exkurs: Das Eigene und das Andere – Weisheit und φύσις Auch wenn Weisheit das eigentliche Ziel Heraklits ist, gehört auch die Beschaffenheit der φύσις163 zu den Gegenständen, die Heraklit in seinen Untersuchungen behandelt. Das wohl berühmteste Fragment Heraklits, das sich mit der φύσις beschäftigt, ist B123 und lautet φὐσις κρύπτεσθαι φιλεῖ, was meist im Ausgang von Diels’ Übersetzung als ‚Die Natur (das Wesen) liebt es 162

Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 102. Zur ambivalenten Bedeutung des Begriffes ‚φύσις‘ bei Heraklit vgl. Ivo De Gennaro, Logos – Heidegger liest Heraklit, S. 123 ff. 163

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sich zu verbergen‘164 übersetzt wird. Gegen diese Übersetzung führt Daniel W. Graham an, dass es keinen einzigen dokumentierten Fall gibt, in dem der Ausdruck ‚φιλεῖν + Infinitiv‘ mit ‚liebt es … zu …‘ übersetzt wird.165 Er stellt überzeugend dar, dass das φιλεῖν + Infinitiv zur Zeit Heraklits sehr verbreitet war und zumeist mit ‚pflegt zu …‘ übersetzt wird.166 Außerdem merkt er an, dass die Struktur Verb + Infinitiv zumeist eine allgemeine Wahrheit ausdrückte.167 Daher scheint es Graham am angemessensten, das Fragment B123 als eine allgemeine Wahrheit zu verstehen und folgendermaßen zu übersetzen: ‚Die Natur pflegt versteckt zu sein.‘ Wenn also die φύσις versteckt zu sein pflegt, kann dies in doppelter Hinsicht gelesen werden, da sowohl der griechische Begriff ‚φύσις‘ wie auch der deutsche Begriff ‚Natur‘ neben der Beschaffenheit des Seienden als solchem auch noch die wesentliche Beschaffenheit eines Einzelnen, im Sinne des Wesens von Etwas, benennen kann. Sowohl die Beschaffenheit der Wirklichkeit (im Sinne der Art und Weise, wie sie aufgeht, wie sie sich uns zeigt) als auch Natur im Sinne des Wesens der einzelnen Dinge pflegt es, verborgen zu sein. Erkennen lässt sich die φύσις daher nur in einer erschließenden Auseinandersetzung: Heraklit gibt – […] – Erklärung von ‚Wörtern und Werken‘, d. h. Sprache und Welt, indem er ‚seiner φύσις gemäß ein jegliches auseinander legt und aufzeigt, wie es sich verhält‘. Die natürliche Beschaffenheit einer Pflanze war es, die Hermes dem Odysseus als φύσις wies; Heraklit zeigt die natürliche Beschaffenheit, indem er jedes Moment von Sprache und Welt seiner gemäß auseinander legt. Die hier genannte φύσις bezeichnet die Struktur, nach der etwas gewachsen oder gebaut ist.168

Zwar pflegt die φύσις verborgen zu sein, was wir jedoch von ihr erfahren und erkennen können, ist die Art und Weise wie φύσις Stabilität hervorbringt, inwiefern sie also Stabilität erzeugendes Werden ist. Thomas Buchheim ist der Meinung, dass sich die Ambivalenz zwischen Sein und Veränderung, welche die φύσις ausdrückt, am besten mit dem Begriff ‚Leben‘ fassen lässt. Heraklit habe nicht nur die „Festigkeit erzeugende Wirkung des bahngeleiteten Werdens“ besonders ins Auge gefasst, „sondern darüber hinaus ein Gesetz“ erkannt, „nach dem alle solchen regenerativen Prozesse organisiert sind, nämlich zwischen Gegensätzen oder besser: in gegenstrebi164

Vgl. Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Daniel W. Graham, Does Nature Love to Hide?, S. 178. 166 Vgl. die Übersetzung des φιλεῖν von DK 22B87 (βλὰξ ἄνθρωπος ἐπὶ παντὶ λόγῳ ἐπτοῆσθαι φιλεῖ) bei Diels: Ein blöder Mensch pflegt bei jedem Wort zu erschrecken. Außerdem gibt der Wortindex bei Diels sowohl für B87 als auch für 22B123 bei φιλεῖν ‚pflegen‘ als Bedeutung an. 167 Vgl. Daniel W. Graham, Does Nature Love to Hide? S. 177 f. 168 Dieter Bremer, Von der Physis zur Natur. Eine griechische Konzeption und ihr Schicksal, S. 243. Das Fragment Heraklits, auf das sich dieses Zitat bezieht, ist 22B1. 165

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gen Tendenzen zu verlaufen“169. Die φύσις wird in dieser Deutung zu einem kontinuierlichen Seienden, das in seiner bewegten Existenz durch eine bestimmte Gesetzmäßigkeit bestimmt ist, die sich im λόγος170 ausdrückt. Während wir zwar die verborgene φύσις selbst nicht erkennen können, können wir diese Gesetzmäßigkeit oder Ordnung, der die φύσις folgt, also den λόγος, sehr wohl erkennen. Es gibt in diesem Zusammenhang noch ein weiteres erwähnenswertes Fragment, das im vorhergehenden Kapitel mit Hinsicht auf den λόγος behandelt wurde und an dieser Stelle mit Hinsicht auf den φύσις-Begriff als bewegte Existenz noch einmal erwähnt werden soll. Zur Erinnerung noch einmal den relevanten Teil des Fragmentes: 22B1 […] κατὰ φύσιν διαιρέων ἓκαστον καὶ φράζων ὅκως ἔχει·[…] – in dem ich ein jedes gemäß seiner φύσις auseinanderlege und erkläre, wie es sich (mit ihm) verhält. Um den Gegenstand zu enthüllen bzw. zu erklären (φράζειν), analysiert Heraklit seine φύσις, also die Art und Weise seines Entstehens. „This expression of Heraclitus suggests that, in contemporary prose, the term φύσις had become specialized to indicate the essential character of a thing as well as the process by which it arose, […].“171 Hätte Heraklit an dieser Stelle nur auf die Struktur von Etwas verweisen wollen, „he could have employed either the word logos or the word kosmos, that is, ‚distinguish each thing according to its logos or kosmos‘ “172.

§ 19 Die Gegensätze und ihr Verhältnis zueinander Die Struktur des λόγος als praktisch-konkrete Angemessenheit zeigt sich am deutlichsten an den Gegensätzen und ihrer Beziehung zueinander. Diese Beziehung konstituiert eine dem λόγος angemessene Einheit, die den antithetischen Elementen zugrunde liegt oder sie umfasst – eine Einheit, die das Gegensätzliche der Gegensätze stehen lässt, also die Gegensätze nicht auflöst, aber dennoch den wechselseitigen Bezug der Gegensätze und somit eine Einheit begründen kann. Doch wie ist das Verhältnis der Gegensätze 169

Thomas Buchheim, Vergängliches Werden und sich bildende Form, S. 41. Der zentrale Begriff, der dieser Rückwendung auf sich selbst entstammt und welcher die Erkenntnis dieses Rückgangs ausdrückt, ist ‚λόγος‘. Dies ist der zentrale Begriff, der verstanden werden muss, um die Gedanken Heraklits zu begreifen. Entsprechend viel ist über diesen Begriff schon gesagt worden. Ich muss mich hier nur auf eine kleine Auswahl von Ansichten über diesen Begriff beschränken. Für eine ausführlichere Liste über Arbeiten zu dem Thema vgl. Thomas Hammer, Einheit und Vielheit bei Heraklit von Ephesus, S. 46. 171 Charles H. Kahn, Anaximander and the Origins of Greek Cosmology, S. 201. 172 Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature, S. 15. 170

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genauer zu bestimmen? Genügt es, die Gegensätze als verbunden zu erachten oder müssen die Gegensätze als mit einander ident verstanden werden? Diese Frage ist prekär, da Heraklit an einigen Stellen davon spricht, dass die Gegensätze τὸ αὐτο sind und an anderen Stellen betont, dass sie ἕν sind, also dasselbe (identisch) oder eines (verbunden). Beginnen wir die Untersuchung der genaueren Beschaffenheit der Beziehung der Gegensätze zueinander bei denjenigen Möglichkeiten, die Heraklit selbst dem Leser anhand der Fragmente anbietet. Es lassen sich drei Grundformen der Bestimmung der Beziehung der Gegensätze zueinander bei Heraklit ausmachen:173 • Was eigentlich nur eines ist, wird von verschiedenen Beobachtern unterschiedlich empfunden / unterschiedlich bewertet. (Diese Verbindung werde ich in zwei Abschnitten behandeln, und zwar als dialektische Einheit und als Einheit von Gesetz und φὐσις.) • Die Gegensätze bedingen sich in ihrer Bedeutung wechselseitig (Einheit als Implikation). • Gegensätze sind insofern eine grundlegende Einheit, als sie aufeinander folgen (die Einheit der Bewegung). Diese Möglichkeiten, die grundlegende Verbundenheit der Gegensätze als Einheit oder Identität zu rekonstruieren, zeigen sich in den Fragmenten Heraklits, wobei die Beziehung der Gegensätze in den meisten Fragmenten auf mehrere oder sogar auf alle diese Weisen rekonstruiert werden können. A. Die begriffliche Verbundenheit der Gegensätze als Dialektik In einer ersten Annäherung kann das Verständnis der Verbundenheit der Gegensätze als eine Art Perspektivismus gedeutet werden. Welche Bedeutung etwas hat, ob etwas positiv oder negativ bewertet wird, oder wie etwas zu verstehen ist, hängt auch von demjenigen ab, der die Bewertung vornimmt bzw. hängt von der Perspektive ab, von der aus bewertet wird. Die Gegensätze unterscheiden sich in dieser Rekonstruktion nur aufgrund unterschiedlicher Perspektiven. Dasjenige, worauf perspektivisch geschaut wird, ist im Grunde identisch. Ein paradigmatisches Beispiel für diese Bestimmung der Einheit der Gegensätze scheint Heraklits Fragment 22B61 zu sein: θάλασσα ὕδωρ καθαρώτατον καὶ μιαρώτατον· ἰχθύσι μὲν πότιμον καὶ σωτήριον, ἀνθρώποις δὲ ἄποτον καὶ ὀλέθριον174 – Meer: das sauberste und 173 Diese Aufstellung verdanke ich in ihren Grundzügen G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 206 f. 174 DK 22B61.

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zugleich das verfaulteste Wasser, für Fische trinkbar und lebenserhaltend, für Menschen nicht trinkbar und tödlich. Ob das Meerwasser der Gesundheit schadet oder sie gar bewahrt, hängt nicht vom Meerwasser ab, sondern von demjenigen, der es zu sich nimmt. Diese erste Möglichkeit, die Verbundenheit der Gegensätze zu verstehen, läuft darauf hinaus, dass etwas von verschiedenen Beobachtern unterschiedlich empfunden (22B61) oder verschieden gewichtet wird (νοῦσος ὑγιείην ἐποίησεν ἡδὺ καὶ ἀγαθόν, λιμὸς κόρον, κάματος ἀνάπαυσιν175), bzw. etwas wird aus verschiedenen Perspektiven beschrieben: ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή.176 – Der Weg hinauf und hinab ist ein und derselbe. Dieser Perspektivismus kann also erklären, warum uns Dinge als vielfältig und verschieden erscheinen, obwohl es sich eigentlich immer um dasselbe handelt, das bloß verschieden gesehen oder empfunden wird. Die einfachste Konklusion, die sich aus dieser Bestimmung der Gegensätze ziehen ließe, ist, dass man über Geschmack nicht streiten kann: In diesen Beispielen gibt es einen positiven Aspekt, der im Allgemeinen von den Menschen angestrebt wird (sauber, trinkbar, Gesundheit, Sättigung) und einen negativen Aspekt, der von Menschen zumeist negativ bewertet und vermieden wird (verfault, nicht trinkbar, Krankheit, Hunger). So gedeutet liegt der Kern dieser Fragmente dann eben darin, dass das, was uns zunächst negativ erscheint, für ein anderes Lebewesen oder aus einer anderen Perspektive positiv zu deuten ist. Kein Gegensatz ist somit an sich positiv oder negativ, sondern immer nur für einen Betrachter bzw. aus einer Perspektive bestimmt. Doch impliziert diese Interpretation keine absolute Beliebigkeit. Denn es ist nicht vom Willen oder den Vorlieben des Urteilenden abhängig, ob ihm Meerwasser schadet oder nützt. Es ist in diesem Fall die biologische Konstitution, die zu den unterschiedlichen Bewertungen führt. Hier herrscht also trotz Perspektivismus keine Beliebigkeit – die Bewertung der Gegensätze liegt eben nicht im Ermessen des Beobachters. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich also die Möglichkeit einer etwas subtileren Lesart der Fragmente, nämlich einer dialektischen Lektüre. Diese Lektüre besteht darin, zu erkennen, dass das für uns Negative nicht an sich negativ ist, sondern in anderen Momenten oder für andere Lebewesen auch positiv sein kann. Die verschiedenen Bewertungen sind dann nicht notwendigerweise den Perspektiven geschuldet, während der betrachtete Gegenstand in sich einheitlich ist, sondern umgekehrt ist der betrachtete Gegenstand in sich mannigfaltig und fragmentiert. Was sich uns perspekti175 DK 22B111. Krankheit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sättigung, Ermüdung das Ausruhen. 176 DK 22B60.

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visch zeigt, ist nicht im Betrachter gegründet, sondern im Gegenstand, im Seienden selbst. Jedes Seiende trägt nach dieser Lesart auch seine eigene Negation, also das eigene Gegenteil als Bestimmung an sich. Diese Ambivalenz gilt auch für die Negativität selbst, denn auch das Negative kann positiv wirken: „It is not that we are mistaken in preferring sweet drinking water and clean baths, any more than we are wrong to prefer health to sickness and satiety to hunger. But the doctrine of opposites is, among other things, an attempt to attain a larger vision by recognizing the life-enhancing function of the negative term, and hence comprehending the positive value of the antithesis itself.“177 In dieser Deutung sind perspektivische Bewertungen nicht willkürlich, sondern bloß einseitig oder eingeschränkt, denn sie erfassen immer nur einen Teil dessen, was sie beschreiben wollen. Wenn wir also die wahre Natur des Meeres erkennen wollen, genügt es nicht, nur zu sehen, dass es uns schadet, sondern wir müssen auch die lebenserhaltende Funktion, die das Meer für die Fische hat, mitbedenken. Denn auch diese positive Negativität gehört zu der Natur des Wassers. Wenn wir also die Natur des Gegenstandes wirklich erkennen wollen, genügt es nicht, sich auf eine Deutungsperspektive zu beschränken und alle anderen Aspekte von der Definition des Gegenstandes auszuschließen. Erst alle Bestimmungen und daraus resultierenden Eigenschaften zusammen können die eigentliche Natur des Gegenstandes ausdrücken, auch wenn diese Bewertungen widersprüchlich und unvereinbar scheinen: So ist es das Wesen des Meereswasser, tödlich und zugleich lebenserhaltend zu sein.178 Die Verbundenheit der Gegensätze zeigt sich in dieser Deutung in der Positivität des Negativen und der Negativität des Positiven. B. Die ontologische Verbundenheit von νομός und φὐσις Diesen Argumenten wird oft entgegnet, dass in ihnen unsere perspektivische Wahrnehmung mit der Beschaffenheit der Seienden verwechselt wird. Die Unterschiede in der Bewertung des Wassers sind nur eine Folge unserer unzureichenden Erkenntnis und nicht eine Folge einer fragmentierten Beschaffenheit des Seienden. Wenn wir um die objektive Beschaffenheit der Welt in angemessenem Ausmaß Bescheid wüssten, so dieser Einwand, gäbe es nur mehr ein umfassendes und widerspruchsfreies Urteil, welches das Wesen des (einheitlichen und widerspruchsfreien) Seienden 177

Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 189. Vgl. DK 22B58. Auch hier geht es um die positiven Effekte, die ein Doktor erreichen kann, indem er seinen Patienten auf schmerzhafte Weise behandelt. Auch wenn der Schmerz normalerweise als etwas Negatives gilt, tritt hier seine positive Seite in den Vordergrund. 178

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voll erfassen würde. Diese objektive Beschreibung des Seienden wäre dann weder dialektisch noch widersprüchlich. Wenn wir das Wesen des Wassers erst richtig verstanden haben, so diese Meinung, wird sich dieser scheinbare Gegensatz aufheben. Wir könnten dann die wirklichen Bestimmungen des Seienden sozusagen direkt aus dem Buch der Natur ablesen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn eine substanzielle Ontologie vorausgesetzt wird. Denn um ein solches Verständnis von Welt zu ermöglichen, muss das Seiende als unveränderliche (daher widerspruchsfreie – denn Veränderung führt in den Widerspruch) Identität gesetzt werden; es ist dann diese unveränderliche Identität, die im eigentlichen Sinne erkannt werden kann, während die perspektivischen Deutungen nur an der (sinnlichen und scheinhaften) Oberfläche des Seienden hängen bleiben und es nicht verstehend durchdringen. Geht man jedoch von einer bewegten Existenz einer sich wandelnden Welt aus, können keine unveränderlich-einheitlichen Bestimmungen der seienden Dinge angenommen werden. Es wandeln sich dann mit dem bewegten Seienden auch die Bestimmungen dieses Seienden kontinuierlichstetig, und es ist nicht möglich, die Dinge eindeutig und widerspruchsfrei auf ein unveränderliches Wesen festzumachen. Das bedeutet jedoch nicht, dass alles sich immer völlig chaotisch verändert und es nichts Kontinuierlich-Bleibendes gibt – es gibt in einer bewegten Welt nur nichts streng Identisches im Sinne einer Identität des Ununterscheidbaren. Die Tatsache, dass es keine substanziell verankerten unbewegten Bestimmungen gibt, impliziert jedoch weder notwendigerweise absolute Relativität noch eine Allmacht des Subjekts, das nun frei entscheiden kann, was wahr ist. Denn nur weil Bestimmungen nicht in einer bleibenden Substanz verankert sind, heißt das noch nicht, dass sie überhaupt nicht ontologisch verankert sind. Ein Beispiel gegen die angenommene Verknüpfung von mangelnder ontologischer Identität / Stabilität und völliger subjektiver Beliebigkeit ist Heraklits eigene Philosophie. Er geht von einer sehr engen Verbindung zwischen Setzung – Gesetz (νομός) und Natur (φὐσις) aus. Die Verbindlichkeit der menschlichen Gesetze und Bewertungen, auch wenn sie nicht ontologisch verankert sind, gelten für Heraklit uneingeschränkt, da er auch den νομός als Ausdruck der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des λόγος sieht. Für Heraklit haben die widersprüchlichen menschlichen Unterscheidungen und Bräuche ebenso wie alles andere ihre Wurzeln im λόγος: τρέφονται γὰρ πάντες οἱ ἀνθρώπειοι νόμοι ὑπὸ ἑνὸς τοῦ θείου179 – Denn alle menschlichen Gesetze werden vom Einen, Göttlichen genährt.

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DK 22B114.

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In der Frage nach dem Verhältnis von der Natur der Dinge und der Konvention war Heraklit also ein sehr konservativer Denker: For him there is no split in principle between nomos and nature. As an institution, law is neither man-made nor conventional: it is the expression in social terms of the cosmic order for which another name is Justice (Dikē). Heraclitus’ political doctrine can be seen as a development of Hesiod’s old insight, that the order allotted by Zeus to mankind is to follow justice and shun violence: ‚for to fish and beasts and winged birds he gave the rule (nomos) that they eat one another, since there is no justice among them; but to human beings he gave justice (dikē)‘. (Works and Days 275 ff.)180

Für Heraklit gibt es also keine fundamentale Dualität zwischen den menschlichen Setzungen (νομός) und der φὐσις, da beide Ausdruck des λόγος sind und durch ihn strukturiert werden.181 C. Die Gegensätze als Implikation In dieser Weise das Verhältnis der Gegensätze zu erschließen, geht es nun nicht mehr um die perspektivische Bewertung von Sachverhalten, sondern darum, dass gewisse Sachverhalte von uns erst dann erfasst werden können, wenn wir auch einen Begriff oder eine Vorstellung ihres Gegenteils besitzen. Die Gegensätze bedingen sich also in ihrer Bedeutung wechselseitig und für das Erkennen ist Wissen um beide Teile des Gegensatzes nötig. So macht nur das Wissen um die Dunkelheit es möglich, das Licht zu erkennen, oder Δίκης ὄνομα οὐκ ἂν ᾔδεσαν, εἰ ταῦτα μὴ ἦν – Wenn es jenes [das Ungerechte] nicht gäbe, würden sie nicht einmal den Namen der Dike [des Rechts] kennen.182 Diese Fragmente können nun so gelesen werden, als ob Heraklit nur die Einheit von Konzepten benennen wollte. Denn nur wer die Bedeutung von ‚ungerecht‘ versteht, kann die Bedeutung von ‚Gerechtigkeit‘ im vollen Sinne verstehen. So gedacht sind die Gegensätze von Recht und Unrecht Momente einer umfassenderen Einheit. Erst das Wissen um die beiden Momente und um ihren Zusammenhang im Begriff der ‚Gerechtigkeit‘ eröffnet die Bedeutung von ‚Gerechtigkeit‘ im vollen Sinne. Dieser Vorgang der Rückbin180

Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 15. Vgl. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 134: „The new philosophical paradox of XXXVII [22B30] is a denial of any fundamental duality between a generated world order and the eternal source from which it arises or the ruling intelligence by which it is organized. Insofar as the kosmos is made, it is self-made; insofar as it is organized, it is self-organized; insofar as it is generated, it is identical with its own eternal source, everliving fire.“ Vgl. auch Charles H. Kahn, op.cit., S. 179 ff. 182 DK 22B23. 181

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dung der Gegensätze in eine Einheit kann nun mit allen möglichen Konzepten oder Begriffen geschehen. Die so erlangten Einheiten könnten in analoger Weise wieder auf eine Einheit gebracht werden und so weiter, bis sich eine letzte grundlegende Einheit zeigt, die sämtliche Gegensätze umfasst. Ob diese rein konzeptuelle Lesart der Verbundenheit als begrifflich-konzeptuelle Einheit Heraklit wirklich angemessen ist, scheint jedoch fragwürdig. Das genannte Fragment zur Gerechtigkeit (B23) lässt sich aber auch auf eine konkretere Weise lesen, wie Charles H. Kahn aufzeigt. Er argumentiert dafür, den Begriff ‚dike‘ in seiner alten Bedeutung als Richter- oder Schiedsspruch zu lesen. Dieser Begriff steht dann nicht mehr für das abstrakte Konzept der Gerechtigkeit an sich, sondern eher für die konkrete Lösung rechtlicher Probleme im Gerichtssaal. Das Fragment verweist in dieser Lesart dann nicht mehr so sehr auf die Begriffe und Konzepte von Recht und Unrecht, sondern auf die Praxis der Rechtsprechung: „[…] [T]he thought is expressed not in terms of concepts but in terms of the name by which Justice is known. If there were no judgments and penalties, men could not know or understand the word dikē that denotes them. But then they would not know the name of Justice.“183 Für diese konkretere Deutung der Verbundenheit durch Implikation spricht auch, dass sich weitere Fragmente, die diese Form der Einheit der Gegensätze ausdrücken, auch ohne Bezug auf abstrakte Konzepte oder Begriffe verstehen lassen: νοῦσος ὑγιείην ἐποίησεν ἡδὺ καὶ ἀγαθόν, λιμὸς κόρον, κάματος ἀνάπαυσιν184 – Krankheit macht Gesundheit angenehm und gut, Hunger Sättigung, Ermüdung das Ausruhen. Nur wer Krankheit aus Erfahrung kennt, kann verstehen, welchen Wert Gesundheit hat und somit, was Gesundheit ist. Hunger ist sogar eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit der Sättigung und Ermüdung muss vorliegen, um sich überhaupt ausruhen zu können. Hier zeigt sich eine Verbindung zwischen Heraklits Fokus auf das konkrete Leben in seiner Weisheitssuche und seinem Versuch, ein grundlegendes Prinzip zu formulieren. Es findet sich also auch hier die Verbindung zwischen seiner Weisheitssuche und seiner Kosmologie der Gegensätze. Hierzu passt auch das folgende Fragment: ἀνθρώποις γίνεσθαι ὁκόσα θέλουσιν οὐκ ἄμεινον185 – Es ist nicht besser für die Menschen alles zu bekommen, was sie sich wünschen. Zusammen lassen sich die beiden Fragmente folgendermaßen rekonstruieren: Es ist nicht weise, allen seinen Wünschen und Begierden nachzugeben, denn das vereitelt die Möglichkeit, wirklichen Wert zu erfahren. Denn wirklichen Wert erfährt man nur, wenn 183

Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 185. DK 22B111. Für eine ausführliche Argumentation dafür, diese Fragmente zusammen zu lesen vgl. Charles H. Kahn, op.cit., S. 181 ff. 185 DK 22B110. 184

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man die Abwesenheit dieses Wertes bzw. sein Gegenteil auch erfahren hat: „Thus it would not be better, it would not even be good, for human beings to get all they want. The structure of desire is irrational in that it is potentially self-destructive; if we got everything we desired, nothing would be desirable. Just as the wish for an end to strife would, if fulfilled, destroy the cosmic order that depends upon opposition […] so the wish that all human desires be satisfied would, if fulfilled, destroy the order of human life by eliminating desire and depriving us of our conception of what is good an precious.“186 Die Weisheit als Folge des Wissens um die Verbundenheit der Gegensätze ermöglicht es uns, hinter den Gegensatz von Begierde und Enttäuschung zu treten und zu sehen, inwiefern das Schmerzhafte und Negative erst die Erfahrung des Positiven ermöglicht. Die Erfahrung von Schmerz und Freude ist also nichts als ein Ausdruck der grundlegenden Struktur der Welt, der Verbundenheit der Gegensätze; ein Ausdruck des kosmischen Widerstreites.

D. Die Gegensätze als Verbundenheit durch Abfolge Diese Art, die Verbundenheit der Gegensätze zu verstehen, findet sich in einer verengten Deutung schon bei Platon und ist eng mit der Deutung Heraklits als Denker einer fließenden Wirklichkeit verbunden. In Platons Theaitetos findet sich diese Verbindung von Bewegung und der in der Bewegung aufeinander folgenden gegensätzlichen Eigenschaften: […], ὡς ἄρα ἓν μὲν αὐτὸ καθ᾽ αὑτὸ οὐδέν ἐστιν, οὐδ᾽ ἄν τι προσείποις ὀρθῶς οὐδ᾽ ὁποιονοῦν τι, ἀλλ᾽ ἐὰν ὡς μέγα προσαγορεύῃς, καὶ σμικρὸν φανεῖται, […]: ἐκ δὲ δὴ φορᾶς τε καὶ κινήσεως καὶ κράσεως πρὸς ἄλληλα γίγνεται πάντα ἃ δή φαμεν εἶναι, οὐκ ὀρθῶς προσαγορεύοντες: ἔστι μὲν γὰρ οὐδέποτ᾽ οὐδέν, ἀεὶ δὲ γίγνεται.187 […] dass nämlich nichts an sich und für sich allein ein Bestimmtes ist, und dass du keinem mit Recht eine bestimmte Eigenschaft zuschreiben kannst, vielmehr, wenn du etwas groß nennst, kann es auch klein erscheinen […]; Sondern durch Vergehen, Bewegung und Vermischung von allem entsteht alles, von dem wir fälschlicherweise sagen, dass es ist, denn nie ist eigentlich irgendetwas, sondern es wird immer.

Platon führt weiter aus, dass alle Weisen, mit der Ausnahme von Parmenides, dieser Meinung waren, und er zitiert an dieser Stelle Homer188, der sagt, 186 187 188

Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 182 f. Platon, Theaitetos, 152d–e. Ὠκεανόν τε θεῶν γένεσιν καὶ μητέρα Τηθύν, Homer, Illias, XIV 201.

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dass Okeanos der Ursprung der Götter ist und Tethys ihre Mutter. Dies bedeutet in den Augen des platonischen Sokrates, dass auch Homer der Meinung war, dass alles aus Fluss und Bewegung entstanden ist.189 Diese Möglichkeit, die Verbundenheit der Gegensätze als Ergebnis der kontinuierlichen Veränderung zu verstehen, nimmt jedoch eine Sonderstellung in Heraklits Werk ein, da es nur ein einziges Fragment (22B28) gibt, in dem Heraklit von dieser Möglichkeit spricht. Dies scheint merkwürdig, vor allem da Heraklits Sprache ansonsten voll von Wiederholungen und Bezugnahmen ist. Heraklit spricht in diesem Fragment von der Verbundenheit der Gegensätze als einer veränderlichen Abfolge von Zuständen. Die Gegensätze sind verbunden, weil sie unaufhörlich aufeinander folgen und / oder weil sie sich gegenseitig voraussetzen. ταὐτό τ᾽ἔνι ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ (τὸ) ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόν·τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι, κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα.190 Es ist als Dasselbe: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes ist umschlagend in dieses.

Dieses Fragment kann zunächst so gelesen werden, dass in ihm behauptet wird, dass die Ursache eine Einheit mit ihrer Wirkung bildet. Das eine kann nur entstehen, wenn das andere schon gegeben ist. So ist Geburt eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Todes. Nur der Mensch, der geboren wurde, kann auch sterben. Ebenso kann nur der Wache einschlafen und nur der Junge alt werden. Wenn man das Fragment jedoch genauer betrachtet, zeigt sich, dass es sich hierbei nicht um die Beschreibung simpler Ursache-Wirkungszusammenhänge handelt. Denn man würde wohl nicht von der Geburt als Ursache des Todes oder von der Wachheit als Ursache des Einschlafens sprechen. Das erste Glied der Gegensatzpaare ist vielmehr jeweils eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit des zweiten Gliedes. So ist die Geburt die notwendige Bedingung für die Möglichkeit des Todes. Dies ist eine mögliche Ebene der Interpretation. Noch spannender wird dieses Fragment jedoch, wenn man zusätzlich noch die Dynamik in den Blick nimmt, von der das Fragment spricht, wenn Heraklit sagt, dass die Gegensätze ineinander umschlagen. Die Gegensätze dürfen daher nicht nur als unbewegte Gegenπάντα εἴρηκεν ἔκγονα ῥοῆς τε καὶ κινήσεως, Platon, Theaitetos, 152e. DK 22B88. Aufgrund der Tatsache, dass Heraklit an keiner anderen Stelle seine Überlegungen noch einmal als theoretische Darstellung zusammenfasst, wie dies im letzten Satz des Fragments geschieht, nehmen manche Interpreten an, dass dieser Satz nicht von Heraklit selbst stammt, sondern eine Erläuterung darstellt. Über den Begriff des ‚Umschlagens‘ (μεταπίπτειν) in diesem Zusammenhang und seine Bezüge zu anderen Denkern wie Melissos siehe C. J. Emlyn-Jones, Heraclitus and the Identity of Opposites, S. 93. 189 190

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satzpaare gedacht werden, die einander verursachen oder ermöglichen, sondern müssen als dynamisch-bewegte, wechselseitig ineinander umschlagende und aufeinander folgende Gegensätze verstanden werden. Ein grundlegendes Problem für die Deutung dieses Fragmentes ist außerdem die Tatsache, dass Heraklit diese bewegten Gegensätze miteinander identifiziert, wenn er sagt: „Es ist als Dasselbe“. Wie kann ineinander Umschlagendes und daher zeitlich aufeinander Folgendes zugleich eines sein? Klaus Held sieht die besondere Schwierigkeit dieses Fragmentes darin, dass Heraklit, genau betrachtet, nicht nur eine Einheit dieser Gegensatzpaare behauptet, sondern sogar ihre Identität.191 Um diese Schwierigkeit zu lösen, plädiert Klaus Held in Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft für eine etwas andere Interpretation des γαρ im Fragment 22B88, welche diese Schwierigkeit der Identität des aufeinander Folgenden lösen könnte. Bei diesem γαρ muss es sich nach Held nämlich nicht um eine logische Begründung handeln. Damit kann auch eine genauere Ausführung eingeleitet werden (im Sinne von ‚das bedeutet‘) wie in dem Satz: Das Tier ist lebendig, denn es atmet und bewegt sich. Demnach könnte der zweite Satz des Fragmentes die genauere Bestimmung dessen sein, was im ersten Satz behauptet wird, ohne dabei eine strenge Identität zu implizieren: „Wenn nun der Wechsel der entgegengesetzten Zustände etwas von ihrer Selbigkeit zum Vorschein kommen lässt, aber nicht selbst die Selbigkeit ist, dann eröffnet er nicht nur, sondern verstellt zugleich auch den Zugang zur Selbigkeit.“192 Mit Held kann das Fragment dann so gelesen werden, dass die eigentliche Einheit und somit auch die Identität durch die Veränderungen verdeckt wird, da uns Veränderung ein Nacheinander dessen vorgaukelt, das eigentlich ein gleichzeitiges Nebeneinander ist. „Das Nacheinander ist die Auflösung der Selbigkeit, obwohl diese, wie das γαρ anzeigt, sich darin noch immer bekundet.“193 Aber der Umschlag verdeckt nicht nur die Einheit der Gegensätze, in diesem Verdecken steckt zugleich auch ein Verweis auf die Gegensätze. Das Umschlagen lässt die Einheit der Gegensätze also erst erscheinen, und zwar indem die Ereignisse sich im Umschlagen wechselseitig begrenzen und sich gegenseitig erst einen Ort einräumen. Das Wach-Sein kann so als ein Nicht-Schlafen verstanden werden: „Das Eigene des Zustandes tritt ausschließlich in Abhebung gegen sein an ihn angrenzendes Gegenteil hervor.“194 Die Ereignisse sind also identifizierbar, insofern sie durch 191 Zu diesem Thema vgl. Klaus Held, Heraklit, Parmenides und der Anfang von Philosophie und Wissenschaft, S. 283. 192 Klaus Held, op.cit., S. 286. 193 Klaus Held, loc.cit. 194 Klaus Held, op.cit., S. 295.

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ihr Gegenteil inhaltlich und ursächlich bestimmt sind. Aufgrund der gegenseitigen Bestimmung kann das eine ohne das andere nicht verstanden werden oder existieren. Eine weitere mögliche Deutung dieses Umschlagens und des Verhältnisses von Umschlag der Gegensätze und Einheit findet sich bei Thomas Buchheim in seiner Arbeit Vergängliches Werden und sich bildende Form. Er betont in seiner Deutung, dass die Gegensätze ebenso wie ihr Umschlagen nur durch einander denkbar sind. „Denn Heraklit blendet die gegenstrebigen Termini eines Werdens unmittelbar übereinander, um so jeweils das Entstehen oder Aufgehen des einen über dem Vergehen des anderen zu denken. So ist […] die Erwärmung oder das sich-Geltendmachen von Wärme ein Prozess über dem simultanen Untergang des Kalten, d. h. kommt zu Vorschein, indem dies vergeht; […].“195 Das Werden eines Neuen ist also nicht ein Entstehen aus dem Nichts, sondern ein Entstehen aus dem jeweils Gegensätzlichen. Das Werden ist dann kein Austausch von gegensätzlichen Bestimmungen mehr, sondern ein (Auf)Zehren des Gegenteiligen oder des Erneuerns. Das Warme entsteht im Aufzehren des Kalten und das Neue entsteht, indem es das Alte aufzehrt. Dadurch, dass das Entstehende sich das Alte sozusagen ‚einverleibt‘, entsteht das Neue und das Alte vergeht, weil es in diesem Entstehungsprozess aufgebraucht wurde. „Das Urbild des Zehrens oder sich-Nährens von etwas, das dabei vergeht und verbraucht wird, ist aber das leuchtende Brennen des Feuers, in dem das Dunkle und Kühle der Kohle zugrunde geht.“196 Die von Heraklit in dem Fragment besprochenen Zustände sind so nur Momente der Bewegung, Phasen in dem kontinuierlichen Prozess der aufzehrenden Bewegung. Charles H. Kahn deutet dieses Fragment ähnlich, liest es jedoch in einem engeren Bezug auf die ψυχή (Seele). Alle in diesem Fragment genannten Gegensatzpaare benennen nämlich Bewegungen der ψυχή. Kahn argumentiert daher, dass Heraklit in diesem Fragment von der ψυχή spricht und jede Bewegung der ψυχή als genuine Veränderung deutet. Jede Bewegung der ψυχή kann dann vergleichbar mit einem Tod bzw. einer Geburt sein.197 So ist der Mensch, der einschlief, nicht identisch mit dem Menschen, der 195

Thomas Buchheim, Vergängliches Werden und sich bildende Form, S. 41. Thomas Buchheim, loc.cit. Ähnlich argumentiert auch Daniel W. Graham, Heraclitus: Flux, Order and Knowledge, S. 172. 197 „The statement of CII (DK 22B36), that the psyche which dies is reborn as water and the water which dies is reborn as earth, can be seen as a generalization of the doctrine of transmigration for the whole cycle of elemental transformations, in which every stage is simultaneously a death and a rebirth.“ Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 221. 196

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jetzt gerade aufwacht. Der eingeschlafene Mensch ist tot, der aufwachende Mensch wurde gerade geboren. Der junge Mensch ist tot, sobald der alte Mensch wirklich ist. Um dieses Fragment als eine Beschreibung der ψυχή verstehen zu können, muss man die Vorstellung eines unbewegten Subjekts als Träger der Eigenschaften und der Veränderungen des Menschen loslassen und sich somit von der Idee der personalen Identität verabschieden. Dies wiederum setzt voraus, dass der Vorgang des Umschlagens nicht als rein akzidenteller Vorgang an einem unveränderlichen Träger (der personalen Identität) gedacht wird. „In reality, neither our bodies nor our psyches are, in the strict sense, ever one and the same from one moment to the next: they are continually undergoing radical transformation, dying and being reborn again at every instant.“198 Der Mensch wird dann nicht mehr als Veränderungen überdauerndes personales Individuum verstanden, sondern als eine bewegte Existenz. Dennoch erfahren wir im Alltag auch eine gewisse Kontinuität von Persönlichkeit. Es gibt eine Kontinuität zwischen der jungen und der alten ‚Person‘, zwischen dem eingeschlafenen und dem aufwachenden ‚Individuum‘. Daher gibt es, ähnlich wie in dem noch zu besprechenden FlussFragment,199 eine gewisse Spannung zwischen der Kontinuität der Person und der materialen oder konkreten Veränderung: […] [T]his coexistence of continuity with massive change is understood in terms of the human experience of a world that is fundamentally stable but never really the same. If you look for strict identity, ‚you cannot step twice into the same river‘. That is to say, the lack of identity between one day or one summer and the next is exactly paralleled by the lack of identity between one moment of our experience and another moment of our experience of ‚the same thing‘.200

Der Schlaf und das Wach-Sein, die Jugend und das Alter und die Behauptung, dass alle diese Eigenschaften identisch seien, ist auch in dieser Auslegung Ausdruck des immer selben Gesetzes der Verbindung der Gegensätze: „This was perfectly understood by Plato, who introduces the doctrine of the rebirth of souls from the dead in the Phaedo as a conclusion from the more general theory concerning ‚all animals and plants and all things that have a coming-to-be (genesis)‘, a theory which argues in impeccable Heraclitean form that in every case ‚they come to be as opposites from opposites, and in no other way‘ (Phaedo 70D-E).“201

198 199 200 201

Charles H. Kahn, op.cit., S. 223. DK 22B12. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 223. Charles H. Kahn, op.cit., S. 223.

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2. Teil: Historische Untersuchung

E. Die genauere Bestimmung der Verbundenheit der Gegensätze Welche Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der Gegensätze zueinander genügt, also ob i) die Vorstellung der Einheit als Bestimmung des Verhältnisses hinreicht oder ob ii) doch die strenge Identität von Gegensätzen behandelt werden muss, hängt auch davon ab, wie die Gegensätze selbst verstanden werden. In vielen Fällen ist es angemessener, die Gegensätze als Kontraste zu interpretieren, denn als kontradiktorische Gegensätze.202 Marcovich z. B. deutet die Gegensätze als Opposita und meint: „[…] [D]ie Opposita sind nicht immer logische Gegensätze, sondern vielmehr Extreme […] oder sogar gar keine Gegensätze.“203 Aber auch wenn die Gegensätze nicht immer logische bzw. kontradiktorische Gegensätze sind, gibt es dennoch Fragmente, in denen die Einheit kontradiktorischer Gegensätze behauptet wird.204 Es gibt zwei wesentliche Strategien, um mit dem Problem der Identität der kontradiktorischen Gegensätze umzugehen. Entweder man interpretiert Heraklit mit Aristoteles als anaximenischen Denker, der das Feuer als Grundstoff und ἀρχή (Ursprung) denkt.205 Jeder Gegensatz, als bloße Manifestation und Ausdruck des Grundstoffes, wäre dann identisch mit jeder anderen Manifestation des Grundstoffes, also auch mit seinen Gegensätzen: Wenn alles letztlich aus Feuer bestünde, dann wären alle anderen Elemente, sowie alle Gegensätze im Allgemeinen, nichts als Manifestationen dieses einen Grundstoffes und somit letztlich (mit Blick auf diesen Grundstoff) identisch. Diese Interpretation des Feuers als materielle Grundlage lässt sich nur schwerlich mit Fragmenten belegen und wird heute von den meisten Interpreten abgelehnt.206 Eine andere Möglichkeit, mit der Frage der Identität der logischen Gegensätze umzugehen, besteht darin, sich eher auf die platonische Lektüre zu stützen, also auf die Flussmetapher207, und die Einheit der Gegensätze als Folge der konstanten Bewegung zu interpretieren: Alles ist zugleich es selbst und sein Gegenteil, weil alles immer in Bewegung ist und sich somit 202

Vgl. Daniel W. Graham, Heraclitus: Flux, Order and Knowledge, S. 174. Miroslav Marcovich, Heraclitus, S. 158 f. 204 Vgl. z. B. DK 22B88. 205 Aristoteles, Metaphysik, 984a7. Vgl. Daniel W. Graham, Heraclitus: Flux, Order and Knowledge, S. 171. 206 Für diese Interpretation spricht wohl nur DK 22B30. Fragmente, die gegen diese Interpretation sprechen, sind z. B. 22B76, 22B36. (Fragment DK 22B30 spricht zwar nicht von dem Tod des Feuers, sondern von der ψυχή, da aber die ψυχή mit dem Feuer identifiziert wird, scheint dieses Fragment eindeutig gegen die aristotelische Interpretation zu sprechen.) 207 Vgl. Platon, Theaitetos, 182c–e. 203

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konstant verändert. Wenn die Seienden sich immer in Bewegung befinden, kann nicht behauptet werden, dass sie bloß durch ein Extrem erfasst werden können: Das Werdende ist seiend und nichtseiend, das Reifende ist unreif und reif, das Ablaufende findet statt und endet. Trotz all der Schwierigkeiten, die sich um die Interpretation der Flussmetapher ranken, lässt sich diese Lesart zumindest besser belegen als die erste Lesart, da sie zumindest durch das besprochene Fragment 22B88, in dem kontradiktorische Gegensätze behandelt werden, gestützt werden kann. Doch selbst wenn wir der Flussmetapher folgen, zeigt sich bei Heraklit keine völlige Identifizierung, d. h. keine völlige Auflösung der seienden Gegensätze. Trotz aller Betonung der Identität bleibt bei Heraklit auch die Gegensätzlichkeit der Gegensätze bestehen. Somit folgt auch der Gegensatz zweiter Ordnung, also der Gegensatz der seienden Gegensätze und ihrer Identität der Bewegung, der gegensätzlichen Struktur des λόγος. Hier schließt sich der Kreis. Die Bewegung der Gegensätze des Kosmos selbst wird somit zu jener Grundlage, aus der die erscheinenden Gegensätze erst entstehen. So wäre die bewegte Existenz des Kosmos selbst jene Grundlage, die ein Entstehen von Gegensätzen ermöglicht. Diese Gegensätze sind nun, dank ihrer gemeinsamen Herkunft, eigentlich identisch. Eine Möglichkeit, über das Verhältnis der Gegensätze zu sprechen, die für alle Formen der Identität und Einheit der Gegensätze Geltung beanspruchen kann, besteht darin, ganz allgemein von der grundlegenden Verbundenheit alles Seienden zu sprechen und offen zu lassen, wie diese Verbundenheit im jeweiligen Fall genau ausbuchstabiert wird. D. h., dass alle bisher besprochenen Formen der Bestimmung qualitativ verschiedene Instanziierungen dieser allgemeinen Relation der Verbundenheit wären. Ein Fragment, das auf die grundlegende Rolle der Verbundenheit hinweist, ist Fragment 41: ἓν τὸ σοφόν, ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων208 – Eines ist weise, den Plan zu kennen, der alle Dinge durch alles lenkt. Die scheinbar unverbundenen singulären Entitäten, die unsere Welt ausmachen, sind in der Welt alle miteinander verbunden und in ihrem Sein verwoben. Verbunden durch eine Ordnung, einen Plan, der alles strukturiert, lenkt und durch alles wirkt.209

208

DK 22B41. Manche Interpreten wie z.B. G. S. Kirk e. a. sehen diese Rückführung der Vielheit auf eine grundlegende (in ihren Augen eigentlich wirkliche) Einheit sogar als den zentralen Aspekt des heraklitischen Denkens an: „Er hatte in der Tat mehr von einem Metaphysiker an sich als seine ionischen Vorgänger und war weniger mit der Mechanik von Entwicklung und Veränderung befasst als mit der Einheit stiftenden Welt, die ihnen unterliegt.“, vgl. G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 204. 209

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2. Teil: Historische Untersuchung

Heraklit ist nicht der Erste, der die Auffassung vertritt, dass der Kosmos durch die Verbundenheit der Gegensätze erklärt werden kann. Diesen Gedanken findet man schon bei Anaximander und Anaxagoras oder auch bei den Pythagoreern. Während das Denken von Gegensätzen, die eine Einheit bilden, zur Zeit Heraklits nichts Ungewöhnliches war, ist es doch so, dass Heraklit dieses Denken verallgemeinert und radikalisiert: „Von einer Verallgemeinerung kann man deshalb sprechen, weil Heraklit seine Lehre von den Gegensätzen auf alle Erfahrungsbereiche ausdehnt. […] Mit dem Begriff der Radikalisierung soll angezeigt werden, daß Heraklit nicht nur die Gegensätzlichkeit der Gegensätze, […]“210 sondern eben auch ihre Verbundenheit betont. Abschließend lässt sich die These aufstellen, dass Heraklits Darstellung der so genannten Einheit der Gegensätze in vielen, wenn nicht allen Fällen, als eine Beschreibung der bewegten Existenz veränderlicher Dinge gelesen werden kann, die im Laufe ihrer Veränderungen mal so und mal anders charakterisiert werden müssen. So steht das Werdende zwischen den Gegensätzen von Sein und Nichts, das Alternde zwischen den Gegensätzen von jung und alt, der Sterbende zwischen den Gegensätzen von Leben und Tod. Die bewegte Existenz des Werdens, Alterns und Sterbens selbst ermöglicht eine Einheit der genannten entgegenstrebenden Gegensätze.

§ 20 Führt die Einheit der Gegensätze zu einer Harmonie? Die Pythagoreer waren der Meinung, dass sich die Gegensätze zu einer Harmonie vereinen oder verbinden lassen. In dieser Verbindung kommen die Gegensätze zur Ruhe und werden so Teil einer harmonisch-stabilen Ordnung. Heraklit ist anderer Meinung. Nach Heraklit entsteht (scheinbare) Harmonie erst dadurch, dass die Gegensätze immerfort auseinanderstreben: καὶ Ἡράκλειτος ἐπιτιμᾷ τῷ ποιήσαντι ‚ὡς ἔρις ἔκ τε θεῶν καὶ ἀνθρώπων ἀπόλοιτο,‘ οὐ γὰρ ἂν εἶναι ἁρμονίαν μὴ ὂντος ὀξέος καὶ βαρέος, οὐδὲ τὰ ζῷα ἄνευ θήλεως καὶ ἄρρενος ἐναντίων ὄντων.211 Und Heraklit weist jenen Dichter zurück, der schrieb ‚Wenn nur jeglicher Widerstreit bei Menschen und Göttern aufhörte‘, denn es gäbe keine Harmonie ohne Höhen und Tiefen, noch Lebewesen ohne die Gegensätze von männlich und weiblich.

210 211

Thomas Hammer, Einheit und Vielheit bei Heraklit von Ephesos, S. 124. Aristoteles, Eudemische Ethik, 1235a25 (= DK 22A22).

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Durch diese ständige Auseinander- und Entgegensetzung der widerstreitenden Gegensätze kann zeitweilig Harmonie entstehen, muss aber nicht eintreten. Die Ursachen für Harmonie oder Gesundheit sind nämlich dieselben wie jene der Disharmonie oder der Krankheit, nämlich das stete Auseinanderstreben der Gegensätze. Das Bestehen von Harmonie ist also ein rein zufälliges Geschehen. Heraklit lehnt daher auch die Abwertung eines Gegensatzes zu Gunsten des anderen Gegensatzes ab. So ist Harmonie für Heraklit nicht wertvoller als Chaos und Gesundheit ist nicht besser als Krankheit: „ ‚Rest and Quiet? Leave them to the dead, where they belong‘ (DK 22A6). Health, peace, rest, he [Heraclitus] says, are in themselves no more good than their opposites, and their goodness only appears when set against these opposites.“212 Käme das Auseinanderstreben der Gegensätze jemals zur Ruhe, würde dies nicht zu allgemeiner Harmonie oder Ruhe im Kosmos führen, sondern zur Auflösung alles Seienden. In diesem Sinne ist das Auseinanderstreben bzw. der Konflikt Vater aller Dinge – denn der Kosmos und alles Seiende bekommt erst durch den Konflikt der Gegensätze Realität und Bestand213: εἰδέναι δὲ χρὴ τὸν πόλεμον ἐόντα ξυνόν καὶ δίκην ἔριν, καὶ γινόμενα πάντα κατ’ ἔριν καὶ χρεών.214 Man muss wissen, dass der Krieg allem gemeinsam ist und dass der Konflikt gerecht ist und dass alles notwendigerweise durch Konflikt wird. Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους.215 Der Krieg ist der Vater von allem und der König von allem, manche hat er zu Göttern gemacht, die anderen zu Menschen, manche zu Sklaven, andere hat er befreit.

Das Auseinanderstreben der Gegensätze ist notwendig und omnipräsent. Der Krieg ist nicht nur der Erzeuger (πατήρ) von allem, sondern er bewahrt und bestimmt auch alles als Herrscher (βασιλεύς) über das Seiende. Dieser Welt-Krieg der Gegensätze hat also nicht nur wie jeder Krieg eine zerstörerische Seite, sondern er wirkt auch hervorbringend und bewahrend. Der hier genannte πόλεμος ist ein vor allem Göttlichen und Menschlichen waltender Streit, kein Krieg nach menschlicher Weise. Der von Heraklit gedachte Kampf läßt im Gegeneinander das Wesende allererst auseinandertreten, läßt Stellung und Stand und Rang im Anwesen erst beziehen. In solchem Auseinandertreten eröffnen sich Klüfte, Abstände, Weiten und Fugen. In der Auseinandersetzung wird 212 213 214 215

W. K. C. Guthrie, Flux and Logos in Heraclitus, S. 199. Vgl. Diogenes Laertius, IX 8. DK 22B80. DK 22B53.

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2. Teil: Historische Untersuchung

Welt. (Die Auseinandersetzung trennt weder, noch zerstört sie gar die Einheit. Sie bildet diese [Welt], ist Sammlung (λόγος). Πόλεμος und λόγος sind dasselbe.)216

Die einzige Illustration der Folgen einer möglichen Unterbrechung des Kampfes der Gegensätze scheint Fragment 22B125: καὶ ὁ κυκεὼν δίσταται μὴ κινούμενος – Auch der Kykeon217 zerfällt, wenn er nicht gerührt wird. Nietzsche deutet dieses Fragment folgendermaßen: „[…] [D]ie Welt selbst ist ein Mischkrug, der beständig umgerührt werden muß. Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten, als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort.“218 Dieses Fragment zeigt außerdem, dass die These einer grundlegenden Einheit der Gegensätze nicht bedeutet, dass die Vielheit, die wir im Alltag erleben, eine nur scheinbare Vielfalt ist. Die Einheit der Gegensätze verweist also nicht notwendigerweise darauf, dass die Einheit oder Verbundenheit ‚grundlegender‘ oder ‚wirklicher‘ ist als die konfliktreiche Welt der Gegensätze, in der wir leben. Denn erst die Konflikte der Gegensätze ermöglichen nach Heraklit Sein und Bestand, ermöglichen Welt und Wirklichkeit. Die Einheit der Gegensätze Heraklits weist bloß darauf hin, dass unsere Welt um einiges weniger substanziell und unbewegt ist, als unser Verständnis von ihr vermuten lässt.

§ 21 Das Denken der verbundenen Gegensätze und die Logik Oft wird Heraklit ein mangelndes Verständnis von Logik unterstellt, u. a. weil er das logische Gesetz des ausgeschlossenen Widerspruchs nicht zu kennen scheint bzw. dieses bei seiner Annahme der Verbundenheit der Gegensätze verletzt.219 Diesen Vorwurf gegen den Gedanken der Einheit der Gegensätze bzw. der Verbundenheit der Gegensätze als Identität findet man schon in den aristotelischen Schriften. Aristoteles schreibt: ἀδύνατον γὰρ ὁντινοῦν ταὐτὸν ὑπολαμβάνειν εἶναι καὶ μὴ εἶναι, καθάπερ τινὲς οἴονται λέγειν 216

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 66. Der Kykeon ist ein Mischtrank, bei dem etwas Wein in Gerste und geriebenen Käse gerührt wurde. Diese lösten sich nun natürlich nicht auf, und so musste die Mischung bis zu dem Moment gerührt werden, in dem es getrunken wurde. 218 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 825. 219 Aristoteles, Metaphysik, 1061b34: ἔστι δέ τις ἐν τοῖς οὖσιν ἀρχὴ περὶ ἣν οὐκ ἔστι διεψεῦσθαι, τοὐναντίον δὲ ἀναγκαῖον ἀεὶ ποιεῖν, λέγω δὲ ἀληθεύειν, οἷον ὅτι οὐκ ἐνδέχεται τὸ αὐτὸ καθ᾽ ἕνα καὶ τὸν αὐτὸν χρόνον εἶναι καὶ μὴ εἶναι, καὶ τἆλλα τὰ τοῦτον αὑτοῖς ἀντικείμενα τὸν τρόπον. 217

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Ἡράκλειτον.220 – Es ist nämlich unmöglich anzunehmen, dass etwas ist und zugleich nicht ist, wie manche Heraklit deuten.221 Doch Heraklits Denken der verbundenen Gegensätze und deren Darstellung in einer mehrdeutigen und paradoxen Sprache kann nicht einfach als eine logische Ungenauigkeit oder als absichtliche Täuschung verstanden werden, ohne dabei das Wesen dieser Sätze zu verkennen.222 Im Folgenden werde ich für die Angemessenheit der widersprüchlichen Darstellung des Widerstreits der Gegensätze sowie für die Angemessenheit der Vielschichtigkeit bzw. Mehrdeutigkeit der Ausdrücke und der Verwendung von Paradoxa als Stilmittel argumentieren. Ein gutes Beispiel, um die Präzision und den bewussten Einsatz von Widersprüchen bei Heraklit zu verstehen, ist Fragment 22B48: τῷ οὖν τὸξῳ ὄνομα βίος, ἔργον δὲ θάνατος – Der Name des Bogens ist Leben, das Werk ist aber der Tod. Zunächst scheint dieses Fragment bedeutungslos. Heraklit scheint damit den scheinbar widersprüchlichen Sachverhalt ausdrücken zu wollen, dass das, was wir Leben nennen, Tod bringt. Um die eigentliche Bedeutung des Fragmentes zu erschließen, müssen wir zunächst wissen, dass der antike Begriff für Leben (βίος) sich kaum von dem Begriff für Bogen unterscheidet (βιός). Hier steht dieselbe Lautfolge, derselbe Begriff (identisch bis auf den Akzent) für Leben und für dasjenige, was Leben zerstören kann. Erst nachdem wir dieses Sprachrätsel von βιός und βίος verstanden haben, zeigt sich die Bedeutung des Widerspruchs, der im Rätsel genannt wird. Da außerdem im griechischen Denken die Verbindung von Begriff und bezeichnetem Gegenstand nicht als rein zufällig verstanden wurde, sondern im Gegenteil sehr bedeutsam war,223 ist es Heraklit möglich, diese begriffliche Ähnlichkeit als ein mögliches Argument für seine Sicht der Dinge vorzubringen. Dieses Fragment ist also kein referierendes Urteil im strengen Sinn. Es versucht nicht, auf einen objektiven empirischen Sachverhalt zu referieren, sondern es versucht, eine Ordnung in der Sprache und damit zugleich die Struktur der Wirklichkeit zu zeigen. Der Spruch darf somit weder als Urteil noch als Argument gelesen werden. Aristoteles’ Einwand, dass Heraklits Argumente den Satz des Widerspruchs verletzen, lässt sich also auf dieses Fragment nicht anwenden, da es sich bei diesem Fragment nicht um ein Urteil über einen Sachverhalt mit der Struktur ‚S ist p und nicht-p‘ handelt. Denn in diesem Fragment gibt es kein S von dem etwas prädiziert bzw. dem 220

Aristoteles, Metaphysik, 1005b23. Diese These impliziert schon, dass es unmöglich ist, das Werden zu denken. 222 Vgl. C. J. Emlyn-Jones, Heraclitus and the Identity of Opposites, S. 98 f. 223 Das bedeutet, dass Zweideutigkeiten, Ambivalenzen und Ähnlichkeiten der Sprache als ein Zeichen für einen entsprechenden ambivalenten Sachverhalt in der Welt gedeutet wurden. Vgl. C. J. Emlyn-Jones, op.cit., S. 98 sowie G. S. Kirk, Heraclitus: The Cosmic Fragments, S. 117–120. 221

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2. Teil: Historische Untersuchung

etwas abgesprochen wird. Das Fragment stellt bloß die Struktur des λόγος dar, wie er sich in der Sprache zeigt. Das Fragment ist daher viel vielschichtiger als eine bloße Prädikation und kann nicht ohne zusätzliche Prämissen in ein logisch analysierbares Argument verwandelt werden. Diese Identität von Leben und Tod ist daher weder eine Konklusion eines rationalen Argumentes noch eine Darstellung empirischer Tatsachen, sondern sie ist Ausdruck einer Struktur der Verbundenheit der Gegensätze, für die Heraklit ein Beispiel in der Sprache findet: Dieses Beispiel besteht in einer Gegenüberstellung von ähnlich klingenden Begriffen, die gegenteilige Bedeutungen haben.224 Die formale Gleichheit der Wörter bei unterschiedlicher bzw. gegenteiliger Bedeutung zeigt die Einheit der Gegensätze, sobald man das Fragment verstanden hat.225 Heraklit selbst macht keinen Versuch, diesen Widerspruch zu erklären oder gar aufzulösen. Heraklit scheint der Meinung zu sein, dass derjenige, der das Fragment versteht, keine Begründung braucht, denn die Identität von Leben und Tod ‚zeigt sich‘ demjenigen, der das Rätsel verstanden hat: „The assertion was, in a sense, its own explanation, since the relationship between opposites was displayed as self-evident in language, which, he believed, reflected the structure of reality. Explanation was neither necessary nor even possible.“226 Sobald das Verhältnis von βίος und βιός aufgeklärt wurde, kommen wir nicht umhin, den Punkt des Fragmentes zu verstehen. Wir können dann das Fragment nicht mehr mit den alten, unwissenden Augen sehen, sondern es zeigt sich immer wieder als das Wortspiel, das darauf verweist, wie ähnlich Tod und Leben sein können. Das grundlegende Problem, das ein solches umkreisendes und aufzeigendes Vorgehen in der Schilderung des λόγος nötig macht, ist, dass sich diese Einheit der Gegensätze weder in der Wahrnehmung zeigt (sie zeigt sich nur in der Erfahrung)227 noch sich streng begrifflich-logisch beweisen lässt. Das heißt, dasjenige, worauf Heraklit hinweisen will, ist weder durch bloßes Hinweisen belegbar noch rational eindeutig fassbar, sondern es ist bloß intuitiv einsichtig. Hier verstehe ich den Begriff der ‚Intuition‘ als dem der ‚Erfahrung‘ eng verwandt – wenn nicht sogar bedeutungsgleich. D. h. eine Intuition ist kein instantanes, momentanes Erfassen der eigentlichen Wirklichkeit, sondern eine intensive und reflektierende Auseinandersetzung mit dem zu Erfahrenden, wobei diese Auseinandersetzung eben dadurch gekennzeichnet ist, dass 224

C. J. Emlyn-Jones, op.cit., S. 98 ff. Ein weiteres Fragment dieses Schemas ist 22B15. Für eine Besprechung dieses Fragmentes vgl. C. J. Emlyn-Jones, op.cit., S. 99 f. 226 C. J. Emlyn-Jones, op.cit., S. 101 f. 227 Für den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Erfahrung vgl. hier § 2, c). 225

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sie nicht sofort nach Antworten und Ergebnissen strebt. Diese Auseinandersetzung folgt also nicht den Schlussregeln der Logik (Analyse) oder den Regeln zur Erkenntniserweiterung der Empirie (Induktion), sondern in dieser Auseinandersetzung wendet man sich zunächst bloß schauend den seienden Dingen zu, ohne dabei gleich erklärende Hypothesen aufzustellen oder sofort Schlüsse zu ziehen.228 Sobald der Gegenstand der Betrachtung jedoch erfasst wurde, sobald also der hermeneutische Schlüssel im Schloss des Denkens gedreht wurde, zeigt sich die Einheit der Gegensätze in Gleichnissen:229 „Das Paradox von der Einheit der Gegensätze war nicht zu beweisen, sondern nur intuitiv zu begreifen. Fragment 18: man findet es nicht als Ergebnis einer Untersuchung, es gibt keine ‚Methode der Forschung‘ (Parmenides: ὁδὸς διζήσιος – Heraklit: ἄτοπον), es ist ‚nicht aufzuspüren‘, sondern stellt sich ‚unverhofft‘ ein. So steht das Gleichnis bei Heraklit an der Stelle des Beweises.“230 Dies ist der Grund, warum Heraklit seine Gedanken nicht mit klaren Argumenten belegt, sondern mit Bildern und Metaphern. Das heißt jedoch nicht, dass die Überlegungen Heraklits beliebig oder gar unsinnig seien. Sie sind nur nicht in dem Sinne eindeutig strukturiert, wie wir es heute für unsere Urteile und Argumentationen gerne fordern. Ebenso wenig bedeutet das, dass es keinerlei Möglichkeit gibt, auf die Berechtigung dieser Thesen hinzuweisen. Denn es gibt gute Gründe und Belege aus der Erfahrung für die Thesen, die Heraklit vorbringt. Der Unterschied besteht darin, dass sich diese Belege nicht durch Analyse erschließen oder durch Induktion herleiten lassen. Diese Belege erlangen erst in der erfahrenden Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit oder mit den Fragmenten Heraklits Gültigkeit, ebenso wie der Satz ‚Der Name des Bogens ist Leben, das Werk ist aber der Tod‘ erst sinnvoll wird, wenn wir die Ähnlichkeit der Begriffe und die gegensätzliche Bedeutung der Worte erfahren und erfasst haben. Dann jedoch hat der Satz eine Art Gültigkeit, die über die Feststellung von semantischer Differenz bei akustischer Identität der Begriffe hinausgeht und kann so jene Struktur der konkreten Wirklichkeit (d. i. der λόγος) erfahrbar machen, die in dem Fragment selbst nicht explizit angesprochen wurde. Die Beschaffenheit dieser allgemeinen Struktur, die an immer neuen Einzelfällen aufgewiesen wurde, lässt sich jedoch nur in einer eingehenden Betrachtung darstellen und erfassen. Diese Ansicht teilt auch Verdenius. Er 228 Ein Beispiel für einen solchen Intuitionsbegriff lässt sich z. B. in Benedetto Croces Aesthetica finden (Benedetto Croce, Ästhetik als Wissenschaft vom Ausdruck und allgemeine Sprachwissenschaft), aber auch Alfred North Whiteheads Konzept der Erfassung im Modus der causal efficacy weist in diese Richtung. 229 Vgl. Fragmente DK 22B123 und DK 22B93. 230 Uvo Hölscher, Anfängliches Fragen, S. 139 f.

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2. Teil: Historische Untersuchung

argumentiert für ein solches Verständnis der Lehre Heraklits unter anderem in Bezug auf Fragment 18: ‚Wenn man das Unerwartete nicht erwartet, wird man es nicht finden, da es unaufspürbar ist und unzugänglich‘. Das bedeutet aber keineswegs, dass das wahre Wesen ‚sich unverhofft einstellt‘, sondern nur, dass man es auf dem Wege der rein empirischen Erkenntnis nicht erreichen kann: es ist ἂπορον, d. h. man kann nicht einfach hingehen, und es ist ἀνεξερεύνητον d. h., man kann es nicht einfach ans Licht bringen. Versucht man es doch auf empirischem Wege zu finden und es sozusagen mit Händen zu greifen, so erfasst man es nie ganz, sondern nur vereinzelt zwischen den Dingen, wie die Goldgräber viel Erde aufwühlen, um hier und dort etwas Gold zu finden (Fr. 22). Wenn man dagegen systematisch über die Erscheinungswelt nachdenkt, kommt man dem Ganzen der wahren Welt, oder wie Heraklit sagt, dem Gemeinsamen näher. Die Erfassung dieses Gemeinsamen ist zwar nicht das unmittelbare Ergebnis einer logischen Deduktion, aber wird doch durch eine systematische Analyse der Erscheinungen vorbereitet.231

Während also die Beispiele, anhand welcher die Struktur der Verbundenheit der Gegensätze aufgezeigt wurde, weder durch empirische Methoden noch durch systematische Analyse ersetzt werden können, muss in einem zweiten Schritt der Untersuchung des allgemeinen Zusammenhangs von dem Konkret-Beispielhaften Abstand genommen werden, um eben allgemeine Zusammenhänge erarbeiten und ausdrücken zu können. Doch auch dieser zweite Schritt der Untersuchung darf sich nun nicht an den Strukturen der klassischen Logik und somit dem urteilenden Sprechen orientieren, da die Untersuchung ansonsten nicht mehr an der versammelnden Ordnung des Konkreten (d. i. des λόγος περὶ φύσεως), die anhand von Beispielen erarbeitet wurde, ausgerichtet ist, sondern eben an der Ordnung von Sprache und Urteil. Auch die Untersuchung auf allgemeinerer Ebene muss sich also an die Strukturierung, die vom Konkreten vorgegeben wird, halten und darf die Art der Versammlung, die das Konkrete vorgibt, nicht zugunsten klarerer Definitionen oder eindeutiger logischer Zusammenhänge aufgeben. Nun zu der zweiten Frage, die eingangs gestellt wurde, nämlich, ob die Vielschichtigkeit der Fragmente ein angemessenes und sinnvolles Stilmittel ist oder ob dies bloß ein billiger Versuch ist, tiefsinnig zu klingen, indem man den Leser unberechtigterweise verwirrt. Ein Beispiel für die typische Vielschichtigkeit der Sprache Heraklits findet sich schon in den ersten Worten des ersten Fragments. τοῦ δὲ λόγου τοῦδ᾽ἐόντος ἀεὶ ἀξύνετοι γίνονται ἄνθρωποι [καὶ πρόσθεν ἢ ἀκοῦσαι καὶ ἀκούσαντες τὸ πρῶτον.]232

Schon Aristoteles weist darauf hin, dass sich nicht entscheiden lässt, worauf sich das Wort ‚ἀεὶ‘ (ewig) in diesem Satz bezieht. Es ist grammati231 232

W. J. Verdenius, Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides I, S. 90. DK 22B1.

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kalisch ebenso möglich, es auf den λόγος zu beziehen als auch auf das Unverständnis der Menschen. Es sind also zwei Übersetzungen möglich: Auch wenn dieser λόγος ewig ist, wird er von den Menschen nicht verstanden. und Auch wenn dieser λόγος ist, wird er ewig von den Menschen nicht verstanden. Die erste Deutung τοῦ δὲ λόγου τοῦδ᾽ἐόντος ἀεὶ spielt auf den homerischen Topos ‚ἐόντος ἀεὶ‘ an, der die unsterblichen Götter und ihr ewiges Leben bezeichnet. Diese Deutung rückt also den λόγος Heraklits in die Nähe des Göttlichen und bezeichnet diesen λόγος als ewig lebendig, also als unsterblich. Auch wenn uns diese Vorstellung einer ewig lebendigen Struktur etwas verwunderlich scheint, so klingt diese Deutung auch in Fragment 22B30 an, in dem das Feuer als ἀείζωον, als ‚ewig lebend‘ bezeichnet wird. „Thus the logos of Heraclitus, though not itself definitely identified as an eternal principle, is presented from the very beginning in such a way as to provide a suggestion of everlasting life.“233 In der zweiten vorgeschlagenen Deutung hingegen wird das ἀεὶ auf den zweiten Teil des Satzes bezogen. Der Satz lautet dann: Auch wenn der λόγος ist, können ihn die Menschen auf ewig nicht verstehen. Diese Deutung lässt das Verb ‚ἐόντος‘ im ersten Satzteil alleine stehen (τοῦ δὲ λόγου τοῦδ᾽ἐόντος –). Zur Erläuterung dieser Deutung sind die Ergebnisse der Untersuchungen des ‚τὸ ‚ὄν‘ und ‚τὸ εἶναι‘ im ersten Abschnitt hilfreich. Zum einen wäre es möglich, hier die wahrheitstheoretische Deutung des ‚ἐόντος‘ als ‚es ist der Fall‘ oder ‚es ist wahr‘ zu verwenden. Der Satz lautet dann, ‚Auch wenn der λόγος wahr ist, können ihn die Menschen auf ewig nicht verstehen‘. Zum anderen ist hier auch die Deutung des ἐόντος als bewegte Existenz möglich. Das Fragment würde dann in etwa Folgendes bedeuten: ‚Auch wenn der λόγος ständig werdend ist, können ihn die Menschen auf ewig nicht verstehen.‘ Wobei die Deutung als bewegte Existenz der weiteren Charakterisierung des λόγος bei Heraklit (z. B. als ewig aufflackerndes und erlöschendes Feuer) in einer Weise Rechnung trägt, welche die andere Deutung nicht leisten kann. Beide Zuordnungen des ἀεὶ sind jedoch grammatikalisch möglich und es scheint willkürlich, für eine und gegen die andere zu argumentieren. Am wahrscheinlichsten scheint es, Heraklit an dieser Stelle Absicht zu unterstellen und beide Bedeutungsaspekte ernst zu nehmen. Die ersten Worte der ersten Zeile sind dann sowohl ein Hinweis auf die ewige Struktur der Welt 233

Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 94.

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als auch auf die Art und Weise, wie diese Struktur vorkommt (als Wahrheit oder als bewegte Existenz).234 Aristoteles hingegen sucht hinter dieser Ambivalenz der Zuordnung des ἀεὶ keine tiefere Bedeutung und meint bloß, dass diese Ambivalenzen ein Verständnis erschweren.235 Wenn die ambivalente Lesart jedoch angemessen ist, bedeutet das, dass die Ambivalenz bewusst gewählt wurde. Grund dieser Wahl wäre dann die Tatsache, dass der λόγος, der besagt, dass alles Eins236 und ein Kampf der Gegensätze ist, selbst ambivalent ist. Eben weil der λόγος ambivalent ist und sich den Gesetzen des urteilenden Denkens bzw. dem Gesetz des ausgeschlossenen Widerspruchs entzieht, können die Menschen ihn nicht verstehen: οὐ ξυνιᾶσιν ὅκως διαφερόμενον ἑωυτῷ ὁμολογέει – Sie verstehen nicht, wie das Verschiedene mit sich selbst übereinstimmt.237 Das Verhältnis von λόγος und der Widersprüchlichkeit der Fragmente wird auch im Fragment 93 indirekt angesprochen: ὁ ἄναξ οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει ἀλλὰ σημαίνει – Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nicht und verbirgt nicht, sondern er gibt Zeichen. Es scheint so, als wolle Heraklit an dieser Stelle darauf hinweisen, dass er, ebenso wie der Herr des Orakels in Delphi, weder im λόγος entbirgt noch verbirgt, sondern nur Zeichen gibt. Diese Deutung wird auch durch die diversen formalen Parallelen zwischen Orakelsprüchen und den Worten Heraklits nahegelegt. Uvo Hölscher nennt als solche Parallelen z. B. die Notwendigkeit gedeutet zu werden, der verborgenen Sinn, der sich hinter der Oberfläche verbirgt und die Paradoxität.238 Die sprachliche Dichte der Sprüche ist ein weiteres Merkmal der Fragmente, das an den Orakelspruch erinnert. Mit einem einzigen Wort oder einem einzigen Satz vermag es Heraklit, zugleich eine Vielfalt von Ideen auszudrücken. Der Unterschied zu den Sprüchen des delphischen Orakels besteht jedoch darin, dass sich bei den Weissagungen des Orakels nach dem Eintreten des Vorhergesagten eine bestimmte Bedeutung als die wahre Bedeutung zeigt, während die Fragmente niemals auf nur eine einzige wahre Bedeutung reduziert werden können: „[T]here can be no single interpreta234 Vgl. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 94 ff. für eine ausführlichere Darstellung und Begründung der Möglichkeit einer doppelten oder ambivalenten Auslegung. 235 Aristoteles, Rhetorik, 1407b11 ff. (DK 22A4). 236 DK 22B50. 237 DK 22B51 – dies ist die unveränderte Überlieferung von Hippolytos. Manche Autoren (z. B. Zeller) ersetzen unverständlicherweise das ὁμολογέει durch συμφέρεται. 238 Vgl. Uvo Hölscher, Anfängliches Fragen, S. 136 ff. Beispiele für Fragmente dieser Art sind u. a. 22, 26, 60, 125.

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tion that is alone correct: the meaning is essentially multiple and complex.“239 Heraklits Fragmente sind außerdem thematisch miteinander verwoben. Die einzelnen Fragmente verweisen aufeinander, da einzelne Bilder oder Themen in verschiedenen Fragmenten immer wieder anklingen. Durch dieses gegenseitige aufeinander Verweisen können bestimmte Themen in mehreren Fragmenten, d. i. anhand mehrerer konkreter Beispiele oder mehrerer Situationen beleuchtet werden. Außerdem spiegelt diese Verwobenheit der Fragmente durch einzelne Themen auch die Verwobenheit der Wirklichkeit durch den λόγος wider. Nietzsche spricht angesichts dieser Bestimmungen der Fragmente von den intuitiven Vorstellungen Heraklits, die Heraklit nach Nietzsche der anderen Vorstellungsart, „die in Begriffen und logischen Combinationen vollzogen wird,“ vorzieht. Diese intuitive Vorstellung umfasst nach Nietzsche einmal „die gegenwärtige, in allen Erfahrungen an uns heran sich drängende bunte und wechselnde Welt“. Dann umfasst die intuitive Vorstellung auch noch „die Bedingungen, durch die jede Erfahrung von dieser Welt erst möglich wird“.240 Der paradoxe Stil Heraklits ist also weder bloße Spielerei noch ein Versuch, zu täuschen oder zu verschleiern: „Es besteht eine Analogie zwischen der Physis der Dinge und dem heraklitischen Stil. Die Dunkelheit der Gleichnis-Sprache […] ist daher keine willkürliche, bloß rhetorische, sondern entspricht dem Rätselcharakter des zu Sagenden. Heraklit redet nicht in Metaphern, um einen an sich klaren Sachverhalt zu verdunkeln, sondern das Gleichnis ist ihm, wie dem Orakel, Mittel, um auf einen verborgenen Sachverhalt hinzuweisen. Paradox ist seine Rede, weil seine Wahrheit paradox ist.“241

§ 22 Bewegung und Stabilität bei Heraklit A. Die Bewegung der Seienden – die Fluss-Metapher Es ist nicht einfach, Heraklits Verhältnis zur Bewegung des innerweltlichen Seienden zu bestimmen. Für Aristoteles war Heraklit ein materieller Monist, der das Feuer als Grundelement der Wirklichkeit setzt. Auf diese Weise konnte Aristoteles einige der Widersprüche, die sich aus der Betonung der Bewegung und der Vorstellung der Verbindung der Gegensätze ergeben, vermeiden. Für Platon hingegen war er der Denker der universalen 239

Vgl. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 91. Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 823. 241 Uvo Hölscher, Anfängliches Fragen, S. 141. 240

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Bewegung, dessen Gedanken sich am besten durch den Ausdruck πάντα ῥεῖ (alles fließt) charakterisieren lassen. Diese Vorstellung des allgegenwärtigen Fließens wird meist so interpretiert, dass alles es selbst und gleichzeitig sein eigenes Gegenteil ist, weil es sich in konstantem Fluss befindet. Platon erwähnt bekanntlich im Kratylos, Heraklit behaupte, dass alles sich bewege und nichts stillstehe und dass dies mit dem Laufe eines Flusses vergleichbar sei.242 Folgendes Fragment könnte die Grundlage für die platonische Interpretation gewesen sein: ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ243 – Wenn wir in Flüsse steigen, dieselben bleibend, fließt anderes um anderes Wasser herbei. Doch in diesem Fragment wird nicht behauptet, dass alle seienden Dinge sich im Fluss befinden. Vielmehr wird in diesem Fragment neben dem Fließen auch eine gewisse Kontinuität behauptet: ‚Wenn wir in Flüsse steigen, dieselben bleibend‘. Wenn das Fragment ernst genommen wird, gibt es also sowohl etwas Fließendes als auch etwas Bleibendes. Da sich also der Gedanke des konstanten Fließens in keinem der uns erhaltenen Fragmente so finden lässt, wird heute allgemein bezweifelt, ob dieser Gedanke wirklich Heraklit zugesprochen werden kann. In der genaueren Betrachtung des genannten Fluss-Fragmentes ist zunächst wohl die sprachliche Dichte und ausgeklügelte Komposition hervorzuheben. Der gesamte erste Teil ist im Dativ, Plural, Maskulin gehalten: ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν; außerdem beginnen bzw. enden drei der fünf weiteren Wörter mit denselben Lauten (ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ). Nach Kahn führt diese Komposition dazu, dass der erste Teil, wenn er laut vorgetragen wird, an das Gurgeln von Wasser erinnert, während der zweite Teil leichter und schneller ausgesprochen werden kann, was zu dem Eindruck des Dahinrauschens führt.244 Außerdem ist auch dieses Fragment wieder doppeldeutig: Die Formulierung ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ermöglicht zwei Lesarten: Entweder bleiben die Flüsse dieselben, oder diejenigen, die in die Flüsse steigen, bleiben dieselben. Liest man das Fragment so, dass die Flüsse dieselben bleiben245, dann deutet die Spannung zwischen ‚denselben‘ und ‚anderes um anderes‘ in dem Fragment auf eine Spannung zwischen dem Fluss selbst und dem Wasser, das in ihm fließt, hin. Wir können also immer wieder in denselben Fluss steigen, nur das Wasser, das uns umspült, ist 242 Platon, Kratylos, 402a. Für eine ähnliche Darstellung der Thesen Heraklits vgl. Theaitetos 152c–e. 243 22B12. Vgl. G. S. Kirk, Natural Change in Heraclitus, S. 36. 244 Vgl. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 167. 245 Man kann das Fragment auch so lesen, dass es darauf verweist, dass die Menschen dieselben bleiben.

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immer ein anderes. Es ist jedoch die wesentliche Bestimmung des Flusses, dass Wasser in ihm fließt, also dass sich in ihm die Wassermassen bewegen. Würde das Fließen des Wassers enden, würde auch die bewegte Existenz des Flusses enden. Solange das Wasser aber fließt, muss dem Fluss jedoch eine gewisse Stabilität zugestanden werden: „Rivers, in fact, are long-lasting organizational states of transitory waters. The structure supervenes on the matter and outlasts it, attaining at least a relative permanence through its channelling of the ephemeral matter.“246 Somit muss die Annahme, dass sich alles in Bewegung befindet, nicht zu der Behauptung führen, dass sich alle Dinge für uns konstant wandeln. Auch wenn alle konkrete Materie, hier das Wasser, sich immer bewegt, können komplexere Objekte bzw. Objekte der Alltagswelt (wie die aristotelischen Substanzen) eine gewisse Kontinuität und somit eine gewisse Stabilität besitzen. Diese Stabilität und Kontinuität der Dinge ist aber nichts als das Ergebnis ihrer Bewegung, so wie der Fluss als solcher nur existiert, solange das Wasser in ihm fließt. Einen ähnlichen Zusammenhang drückt die Metapher des wechselhaften Feuers aus, dessen Existenz darin besteht, das eigene Brennmaterial zu verwandeln. Eine Flamme ist nur solange eine Flamme, solange sie ihr Brennmaterial verwandelt. In diesen Beispielen kommt ein zentraler Punkt zur Sprache, nämlich der Unterschied zwischen abstrakter oder ideeller, also formaler Existenz und konkreter, materieller Verwirklichung. Schauen wir auf die Welt mit Blick auf die generellen Formen, dann findet sich Unbewegtes. So fließt das Wasser des Flusses mehr oder weniger auf demselben Weg, der Fluss behält also, wenn man nicht allzu genau hinsieht, seine Form. Er hat scheinbar Bestand. Dennoch ändert sich die konkret-materielle Bestimmung des Flusses von Moment zu Moment. Nicht nur, weil ständig anderes um anderes Wasser fließt, sondern auch deshalb, weil der Fluss als solcher im Laufe der Zeit langsam seine Form ändert. So verschiebt sich das Flussbett, oder es ändert sich der Lauf des Flusses. Unverändert bleibt nur der Name, die Idee, der Begriff oder das Wesen des Flusses. Das Feuer ist ein weiteres ausgezeichnetes Beispiel für diesen Zusammenhang: „A flame may appear steady and unchanging, as in a candle, but it is constantly renewing itself by the destruction of fuel, and giving off heat and sometimes smoke. The river-statement expresses the same truth, of apparent, or formal, stability coupled with continuous change of material.“247 Dieses Abstrahierte und Bleibende des Flusses oder der Flamme kann im Rahmen einer Substanzontologie, im Rahmen von Logik und Urteil angemessen behandelt werden. Dieser bleibende Aspekt des Seienden ist also dasjenige, worauf sich die 246 247

Daniel W. Graham, Heraclitus: Flux, Order and Knowledge, S. 174. W. K. C. Guthrie, Flux and Logos in Heraclitus, S. 206.

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2. Teil: Historische Untersuchung

Denker des unbewegten Seins berufen, wenn sie von der unveränderlichen Welt oder vom eigentlich Wirklichen sprechen. Außerdem sind diese Beispiele gute Illustrationen für den notwendigen Zusammenhang von Bewegung und Bestand, der bei Heraklit mit Hilfe der Metaphern von Krieg oder Widerstreit behandelt wird. Erst durch den Widerstreit zwischen demselben Fluss und dem immer neuen, fließenden Wasser bzw. durch den Widerstreit der kontinuierlichen Flamme und dem verbrennenden Material können Fluss und Flamme als bewegte Existenz Bestand haben. Der erste Satzteil ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ist jedoch, wie schon bemerkt, ambivalent. Er kann eben auch so verstanden werden, dass Heraklit davon spricht, dass wir, die wir in die Flüsse steigen, dieselben bleiben, während anderes um anderes Wasser um uns herum fließt.248 Auch hier finden wir wieder einen Kontrast zwischen dem bleibenden (dieselben) und dem sich bewegenden Wasser. In dieser Lesart steht das Wasser wohl für unsere Umwelt, für die Welt, in der wir uns befinden, und das Fragment verweist dann darauf, dass wir doch in gewisser Hinsicht dieselben bleiben, auch wenn sich alles um uns herum verändert. In einer freieren Interpretation lässt sich daher behaupten, dass wir gerade deshalb dieselben bleiben, weil wir uns immer neuen Umgebungen und Herausforderungen stellen müssen: „It is the opportunity to react to changing current of life that allows the individual to become a unified person, that constitutes the individual as a person. We see that experience is constitutive for Heraclitus.“249 So gedeutet verweist das Fragment möglicherweise darauf, dass die eigene Identität, die eigene Persönlichkeit ein Ergebnis der Erfahrungen und Auseinandersetzungen ist, genau so wie der Fluss das Ergebnis des fließenden Wassers und die Flamme das Ergebnis der Verwandlung von Brennmaterial ist. Obwohl – oder wohl gerade dadurch, dass – die Persönlichkeit das Ergebnis eines Entstehungsprozesses ist, der durch Widerstreit geprägt ist, hat sie Realität und Bestand. Sowohl die Flüsse als auch die Personen werden durch die sie umspülenden, wechselnden ‚Wasser‘ erst zu bestehenden Seienden. Die Seienden erhalten so ihre Stabilität durch jene Bewegungen, die sie konstituieren. G. S. Kirk äußert in seinem Aufsatz Natural Change in Heraclitus eine ähnliche These. Er ist der Überzeugung, dass diese Flussfragmente dazu dienten, das μέτρον (das Maß) zu illustrieren, das alle Veränderungen durchstimmt und bestimmt, also die zugrunde liegende Harmonie (ἀφανὴς άρμονία). Auch in dieser Interpretation sollen die Flussfragmente nicht das 248 249

Daniel W. Graham, Heraclitus: Flux, Order and Knowledge, S. 180. Daniel W. Graham, loc.cit.

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Fließen alles Seienden aufzeigen, sondern im Gegenteil, sie sollen das Bleibende der Veränderung aufzeigen. Auch wenn das Wasser immer weiter fließt und fließt, bleibt die Ordnung des Fließens bestehen, auch der Fluss selbst ändert sich nicht. Selbst wenn ich nie in dasselbe Wasser steigen kann, der Fluss als Ort der regelmäßigen Bewegung des fließenden Wassers hat Bestand. Die Bewegung des Seienden ist daher auch nicht notwendigerweise als konstante und sichtbarere Verwandlung zu verstehen. Heraklit muss also im Rahmen seiner Überlegungen die Stabilität der Dinge, die sich uns in den Sinnen zeigt, gar nicht leugnen, insofern diese Stabilität nicht als unveränderliche und substanzielle Identität verstanden wird, sondern als Kontinuität: Erst das Fließen des Flusses konstituiert die beständige Existenz des Flusses und erst die Verwandlung des Brennmaterials macht die Existenz der Flamme möglich. Diese sich in den Sinnen zeigende Stabilität der Dinge kann also problemlos als das Ergebnis des grundlegenden Auseinanderstrebens der Gegensätze, also als Ergebnis der maßvollen Bewegung des Seienden, verstanden werden, die im λόγος Ausdruck findet. B. Die Bewegung des Seienden und die sinnliche Wahrnehmung Wird Heraklit jedoch als Denker des reinen πάντα ῥεῖ gedeutet, der dem Bleibenden unserer Erfahrung keine Beachtung schenkt, dann wird er zu einem Metaphysiker, der eine für uns nicht wahrnehmbare eigentlich wahre Welt der Veränderung annimmt, die hinter dem scheinbaren und sinnlich wahrnehmbaren Bestand steht. Diese Lesart hat ihre Wurzel wohl in der aristotelischen Physik. Denn Aristoteles erwähnt, dass es Denker gibt, die der Meinung sind, dass sich alles in Bewegung befinde und diese Bewegung nur dem Wahrnehmungsvermögen verborgen bleibe.250 In dieser Lesart wird Heraklit zu einem auf den Kopf gestellten Metaphysiker, der die Bewegung als das eigentlich Wirkliche setzt und in der Kontinuität, die sich uns in der Erfahrung zeigt, nur Schein entdecken kann. So gedeutet wird Heraklit zu einem Denker, der den erschließenden Wert der sinnlichen Erfahrung abwertet. Doch dem widerspricht Heraklit selbst eindeutig, wenn er sagt, dass er das vorziehe, was man erfahren, hören und sehen kann.251 Er spricht davon, dass der λόγος gemeinsam ist252 und die Menschen ihn nur nicht erfassen können, weil sie schlafwandeln253 oder weil sie lieber an ihre eigenen Überzeugungen glauben als an das, was sie sehen: οὐ γὰρ φρονέουσι τοιαῦτα 250 251 252 253

Aristoteles, Physik, 253b9 f. DK 22B55, 22B101a. DK 22B2, 22B89. DK 22B1, 22B34.

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2. Teil: Historische Untersuchung

πολλοὶ, ὁκοίσοι ἐγκυρεῦσιν, οὐδὲ μαθόντες γινώσκουσιν, ἑωυτοῖσι δὲ δοκέουσι254 – Die meisten Menschen denken die Dinge nicht auf die Weise, in der sie ihnen begegnen, noch erkennen sie, was sie erfahren, sondern sie glauben an ihre Meinungen. Oder, wenn er sagt, dass die Sinne nur dann schlechte Zeugen sind, wenn die Menschen barbarische Seelen haben, d. h. wenn ihre Seelen (ψυχαί) das Zeugnis der Sinne nicht verstehen können: κακοὶ μάρτυρες ἀνθρώποισιν ὀφθαλμοὶ καὶ ὦτα βαρβάρους ψυχὰς ἐχόντων.255 Ebenso wie der Fremde die Bedeutung der griechischen Worte nicht entschlüsseln kann, obwohl die Bedeutung jedem Griechen sofort einsichtig ist, können die Menschen die Sprache der Sinne nicht entschlüsseln, obwohl sie sich jedem, der sie versteht, sofort erschließt. Der Mensch muss also die Sprache der Sinne sprechen, um den λόγος erfahren und erkennen zu können. Er muss sich darauf verstehen, das zu erschließen, was ihm die Sinne zeigen: Die Weltordnung spricht zu den Menschen in einer sinnlichen Sprache. Es sind also die Sinne und die Erfahrung, die uns Zugang zum λόγος ermöglichen. Insofern ist eine Abwertung der Sinnlichkeit und der Erfahrung, wie Aristoteles sie Heraklit und den Heraklitäern unterstellt, wohl nicht in Heraklits Sinne: „[…] [A]pprehension of the Logos is no mystical process but the result of using eyes, ears, and common sense. Our observation tells us that this table is not changing at every instant, even if our experience concedes that it will eventually change. This eventuality is all that is necessary […].“256 C. Das Feuer – die kosmische Bewegung Beobachtet man das Zusammenspiel der Abläufe der Natur, dann zeigen sich diese als immerwährender Wandel, als bewegte Existenz. Hinter den Veränderungen liegt jedoch eine Regelmäßigkeit, ein vereinheitlichendes Maß. Eine Chiffre Heraklits für dieses Maß ist das Feuer. In diesem Sinne beschreibt Fragment B90 das Feuer als eine grundlegende Maßeinheit, die den ‚Tauschwert‘ der Dinge aufzeigt: πυρός τε ἀνταμοιβὴ τὰ πάντα καὶ πῦρ ἁπάντων ὅκωσπερ χρυσοῦ χρήματα καὶ χρημάτων χρυσός.257 Alles ist Gegentausch für Feuer, und Feuer für alles, so wie Waren für Gold und Gold für Waren.

254 255 256 257

DK 22B17. DK 22B107. G. S. Kirk, Natural Change in Heraclitus, S. 41. DK 22B90.

Kap. 6: Heraklit von Ephesus

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Das Feuer stellt hier einen verbindlichen Wert dar und kann gegen alles Seiende getauscht werden. So wie Waren in Gold und Gold in Waren getauscht werden können, ohne dass sich der Wert des Goldes oder der Waren dabei verändert. In dieser Lesart wird das Feuer zu einer quantitativen Maßeinheit der Bewegung der Gegensätze.258 Dieser Zusammenhang ließe sich ontologisch folgendermaßen interpretieren: Das Entstehende bindet sozusagen eine gewisse Menge an Feuer, die wieder frei wird, sobald es vergeht. Es gibt so einen konstanten Austausch zwischen allen Dingen und dem Feuer, wobei das Feuer nur verschiedene Zustände einnimmt, ohne dass sich an der Quantität des Feuers letztlich etwas ändert. In der aristotelischen Tradition259 wurde dieser Zusammenhang hingegen zumeist so gelesen, als wollte Heraklit sagen, dass alle Dinge aus dem Feuer entstehen und in das Feuer vergehen. In dieser Deutung wird Heraklit zum Monisten, der das Feuer als dem Seienden Zugrundeliegendes ansetzt. So als sei das Feuer die verbindliche Grundlage des Seienden, so wie Gold die verbindliche Grundlage von materiellem Wert ist. In dieser Deutung wird das Feuer zu dem Grundelement und Heraklits Lehre in dieser Hinsicht zu einer naturwissenschaftlichen Theorie, ähnlich der Theorien der ionischen Naturphilosophen, die Heraklit so stark kritisiert. Auch wenn das Fragment so eine starke Ähnlichkeit zu den ionischen Kosmologien in der Art des Anaximenes erhält, der die Luft als ein solches Zugrundeliegendes setzt, bleibt ein wesentlicher Unterschied weiterhin bestehen: Denn das Feuer ist, im Unterschied zu Luft oder Wasser, eben eine zerstörerische Kraft, die ihre Grundlage aufbraucht. Das Feuer zehrt vom Brennmaterial, ohne dieses verlischt das Feuer. Dies ist ein zentraler Aspekt, der weder auf die Luft noch das Wasser oder auf Ähnliches zutrifft. Das Einzige, was Feuer hervorbringen kann bzw. zurück lässt, ist Rauch und Asche. Eine Bestimmung, die das Feuer als Zugrundeliegendes denkbar ungeeignet erscheinen lässt. Die meisten Feuer-Fragmente Heraklits lassen sich jedoch auch als Beschreibung einer kosmischen Bewegung lesen, als Beschreibung eines kosmischen Zyklus. Hier stellt sich die Frage, ob die Bewegung des Feuers nun nur innerweltliche Phänomene beschreiben soll oder ob es nicht vielmehr für die Bewegung des Kosmos selbst steht. Für diese Theorie eines kosmischen Zyklus von Untergang und Neuerschaffung wird meist folgendes Fragment als Beleg angeführt: κόσμον τόνδε, τὸν αὐτὸν ἁπάντων οὔτε τις θεῶν οὔτε ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ’ ἦν ἀεὶ καὶ ἔστιν καὶ ἔσται·πῦρ ἀείζωον, ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα.260 258 Diese Lesart vertritt z. B. Eva Brennan in ihrem Buch The Logos of Heraclitus, indem sie den Logos auch als Verhältnis oder Ratio deutet. 259 Vgl. DK 22A5. 260 DK 22B30.

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2. Teil: Historische Untersuchung

Diese Weltordnung, dieselbe für alle, schuf weder ein Gott noch ein Mensch, sondern sie war immer schon und sie ist und wird sein wie immer seiendes Feuer, maßvoll aufflammend und maßvoll erlöschend.

Doch was meint Heraklit, wenn er sagt, dass die Weltordnung, die wie das Feuer ist, immer schon war? Meint er damit eine ewig bestehende Welt, wie z. B. Cherniss261 behauptet, im Rahmen derer sich Bewegungen abspielen, die Heraklit mit der Metapher des Feuers benennen will bzw. deren Grundstoff das Feuer ist? Dann würde Heraklit der damals gängigen Vorstellung der Entstehung des Kosmos (Kosmogonie) explizit widersprechen. „It seems that little thought has been given to how strange, almost unintelligible, would be the dogmatic rejection of cosmogenesis by an archaic thinker. The instinct to explain things by telling how they began and how they developed is not only at the basis of all mythic thought; it also dominates all scientific or philosophic speculation down to and including Plato’s Timaeus.“262 Die Klärung der Welt beinhaltete für die antiken Denker immer auch eine Untersuchung ihrer Genesis. Schon in Hesiods Theogonie bedeutet Klärung der Beschaffenheit eine Klärung der Herkunft. Es ist immer die Geschichte der Entstehung, welche die gegenwärtige Beschaffenheit bedingt und erklärt. Alle Kosmogonien von Hesiod bis hin zu Platons Timaeus erklären die Welt, indem sie diese Welt als ein Ergebnis einer Entwicklung verstehen. Eine jede Kosmogonie ist somit eine Kosmo-genesis mit dem Ziel, gegenwärtige Zustände durch die Untersuchung der Entstehungs- und Entwicklungsprozesse zu erklären und folgt dem Erklärungsmuster von bewegter Existenz, dem λόγος περὶ φύσεως. Muss man angesichts dieser Überlegungen Heraklit nicht doch die Vorstellung eines sich aus dem Feuer entwickelnden Kosmos zusprechen, welcher im Vergehen wieder zum ursprünglichen Feuer wird? In diesem Sinne lässt sich wohl der letzte Teil des Fragmentes (maßvoll aufflammend und maßvoll erlöschend) am einsichtigsten deuten. Diese zyklische Weltentstehung und Weltzerstörung wurde schon in der Stoa mit Verweis auf Heraklit vertreten und auch die meisten einflussreichen Interpreten des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts vertraten diese Position (z. B. Zeller und Diels), bis Karl Reinhardt 1916 sein Buch Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie veröffentlichte. In dieser Abhandlung vertrat er die Meinung, dass sich auf Basis der Fragmente allein keine Kosmologie 261 „This fragment asserts that it is this cosmos that is fire; I cannot believe that it is reconcilable with an ekpyrosis or with worldperiods of any kind.“ Harold Cherniss, Review, S. 415: Ähnliches findet sich z. B. bei G. S. Kirk, Heraclitus: The Cosmic Fragments, S. 336. 262 Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 136.

Kap. 7: Parmenides von Elea

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eines kosmischen Zyklus, also des Werdens und Vergehens der Welt, bei Heraklit ausmachen lässt.263 Letztlich ist wohl auch diese Frage nicht endgültig zu entscheiden und mir scheint, dass Charles H. Kahn recht hat, wenn er behauptet, [i]f we eliminate this cycle of world formation and destruction from his system, the vision of nature will be lacking in completeness and in symmetry, but it will still be essentially the same vision. For the pattern of natural law is the same for macrocosm and for microcosm, for the origins of heaven and earth and their present pattern of transformation: ‚kindled in measures and in measures going out‘ applies to all of these. The great cosmic cycle is only the ordinary cycle of natural change and human life writ large.264

Die kosmische Bewegung ist nur eine weitere Bewegung unter den Bewegungen des Lebens, so wie die Bewegungen von Leben zu Tod oder von Tag zu Nacht. So scheint sich die Vorstellung einer kosmischen Kreisbewegung auf natürliche Weise in das Denken Heraklits einzufügen, sie ist aber kein notwendiges Element.265 Kapitel 7

Parmenides von Elea Parmenides wird seit der Antike als der große Denker des unbewegten Seins gelesen. Nietzsche charakterisiert Parmenides daher als jenen Philosophen, der zum ersten Mal ein Denken schuf, das „durch logische Starrheit“ die Natur „petrificirt“ und sie „fast in eine Denkmaschine“266 verwandelt. Wäre dies die einzig angemessene Deutung des Parmenides, würde dies eine große Hürde für die Möglichkeit der Deutung der φύσις als bewegte Existenz im Denken der frühen Vorsokratiker darstellen. Doch in den letzten Jahren werden jene Stimmen immer lauter, die behaupten, dass diese Deutung des Parmenides als Logiker des unbewegten Seins nicht die einzige mögliche Auslegung der Fragmente ist, und ein wesentliches Argument für diese Interpretation ist die Form des Lehrgedichtes selbst. Neben der logischen Deutung werde ich daher im Folgenden vor allem alternative Möglichkeiten der Interpretation behandeln, die sich auf die Form des Lehrgedichtes berufen und das Proömium als hermeneutischen Schlüssel der 263

Vgl. Karl Reinhardt, Parmenides, S. 176 ff. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 135 f. 265 Für eine detaillierte Darstellung dieser Position und auch der gängigen anderen Positionen vgl. Charles H. Kahn, The Art and Thought of Heraclitus, S. 135 ff. 266 Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd 1, S. 836. 264

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2. Teil: Historische Untersuchung

Deutung verwenden. Diese alternativen Interpretationen werden den meisten Raum einnehmen, da diese nur den wenigsten Lesern vertraut sein werden. Der wesentliche Unterschied der beiden Interpretationen besteht in der Deutung des Gegenstandes, von dem das Lehrgedicht spricht. Während die üblichen Interpretationen das Sein, das Seiende, die Wahrheit oder das Urteil als Gegenstand des Lehrgedichtes ansetzen, sehen jene Interpreten, die vor allem die Form des Lehrgedichtes beachten, im richtigen Denken (des Göttlichen) den eigentlichen Gegenstand des Gedichtes. Parmenides schildert dieser neuen Interpretation zufolge in seinem Lehrgedicht ein Entrückungserlebnis in das Reich des Todes.267 Erst wenn man die Tore zum Jenseits passiert, die von der Göttin der Gerechtigkeit bewacht werden, begibt man sich in das Reich der unveränderlichen Einheit des Denkens, die hinter aller Bewegung und Veränderung unserer alltäglichen Gedanken, also hinter der Vielfalt unseres Lebens und Erlebens, steht. Dieses inhaltlich und formal unbewegt-konzentrierte Denken ist der Weg zur Wahrheit, von dem die Göttin im Lehrgedicht spricht. Parmenides’ Lehrgedicht behandelt in dieser Deutung also nicht das weltlich Seiende oder die Dinge unserer Erfahrung, sondern er spricht von jenem Sein des Göttlichen, das uns im unbewegt-konzentrierten Denken zugänglich wird. Nimmt man diese Deutung des Parmenides anhand des Proömiums ernst, würde das darauf hindeuten, dass Parmenides’ Darstellung gar keine Untersuchung der φύσις in dem hier angestrebten Sinne ist, sondern eine Anleitung, die ein Denken ermöglichen soll, das zu der Erfahrung der Einheit und des Göttlichen führen kann. Das Gedicht besteht in dieser Lesart aus „wundersam ansprechenden“ und nicht mehr aus „durch Leerheit erstaunenden“ Sätzen, wie das noch in der logischen Lesart der Fall war. Diese Ambivalenz zwischen Ergriffenheit und Logik scheint jedoch dem Gedicht selbst geschuldet, denn die Sätze des Lehrgedichtes zeugen zugleich „von tiefer Ergriffenheit und sagen doch nur Tautologien“268. Daneben werde ich, wie gesagt, auch verschiedene gängige (logische) Interpretationen behandeln, um auch im Rahmen dieser Interpretationen die Annahme, Parmenides spräche vom konkreten Seienden und habe somit denselben Untersuchungsgegenstand wie diese Arbeit, zu entkräften. Gelingt mir dies in der Darstellung, ist ein wichtiger Schritt für die Möglichkeit der bewegten Existenz als Lektüreschlüssel antiker Philosophie getan. Parmenides’ Untersuchung hätte dann nämlich keinen unvermittelten Bezug zum 267 Das Proömium gibt mehrere Hinweise darauf, dass Parmenides in das Reich der Toten geführt wurde und dass Persephone die namenlose Göttin ist, von der er spricht. Vgl. u. a. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2 sowie Peter Kingsley, Reality. 268 Karl Jaspers, Die großen Philosophen, S. 641.

Kap. 7: Parmenides von Elea

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Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, also zur Frage nach der Beschaffenheit des konkret-singulären Seienden. Ich werde im Laufe der folgenden Abschnitte die neue Deutungsart des Lehrgedichtes von Parmenides jeweils neben die klassisch-logischen Deutungen stellen, um es dem Leser zu ermöglichen, beide Deutungsarten anhand der Textstellen, auf die sie sich jeweils berufen, miteinander zu vergleichen. Zuletzt werde ich die Deutung des Lehrgedichtes mit dem Proömium als Lektüreschlüssel noch einmal zusammenfassend darstellen, um den Zusammenhang dieser neuen Deutung noch einmal klar ersichtlich zu machen.

§ 23 Xenophanes als Eleate Oft wurde Xenophanes als Begründer des eleatischen Denkens genannt, obwohl er selbst aus Kolphon und nicht aus Elea stammt.269 Für die These, dass Xenophanes Begründer des eleatischen Seinsdenkens ist, sprachen verschiedene doxographische Berichte, die nahelegten, dass Xenophanes einige Zeit in Elea verbracht hatte. Spätestens seit J. Burnets Werk Early Greek Philosophy (1908), der Xenophanes in diesem Werk nicht den Eleaten zuordnete, ist diese Verbindung zwischen Xenophanes und dem eleatischen Denken zumindest fragwürdig geworden.270 Obwohl nicht geklärt ist, ob Xenophanes nun zu den Eleaten gezählt werden muss oder gar als Lehrer des Parmenides gesehen werden kann, wie z. B. Aristoteles berichtet,271 werde ich kurz Xenophanes als Denker der einheitlichen Natur Gottes schildern, bevor ich mich dem bekanntesten Vertreter des Eleatismus, nämlich Parmenides, zuwende. Denn im Zusammenhang mit der Frage, ob Parmenides sich ausgehend vom Proömium als Denker der Einheit deuten lässt, ist bemerkenswert, dass Parmenides’ (angeblicher) Lehrer Xenophanes eben jener Denker ist, der sich am eingehendsten mit der einheitlichen Natur des Göttlichen beschäftigt hat. 269 Vgl. DK 21A29. Auch die einflussreiche pseudo-aristotelische Schrift De Melisso Xenophane Gorgia behandelt Xenophanes als Eleaten (DK 21A28). Die Verlässlichkeit bezüglich Xenophanes ist jedoch sehr fragwürdig (vgl. Wolfgang Röd, Die Geschichte der Philosophie Bd. 1, S. 82). 270 Vgl. G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 180 f. oder M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 254. Wolfgang Röd ist der Meinung, dass diese Frage nicht eindeutig bestimmbar sei. Vgl. Wolfgang Röd, Die Geschichte der Philosophie Bd. 1, S. 81. 271 Vgl. Metaphysik 986b18. Vgl. u. a. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 276. K. Reinhardt war einer der Ersten, der dieses Verhältnis umdrehte und in seinem Werk Parmenides für die These argumentierte, dass Xenophanes der Schüler des Parmenides sei, vgl. K. Reinhardt, Parmenides.

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2. Teil: Historische Untersuchung

Xenophanes verbrachte die meiste Zeit seines Lebens als reisender Dichter272 und hatte weitreichende Interessen: Er schrieb über seine Zeitgenossen, geschichtliche sowie astronomische und meteorologische Ereignisse, über die Beschaffenheit des Kosmos, über die Möglichkeit von Erkenntnis und über Gottesvorstellungen. Am wirkmächtigsten war jedoch sicherlich Xenophanes’ Kritik an den Gottesvorstellungen bei Homer und Hesiod. Xenophanes warf diesen Dichtern vor, dass sie eine anthropomorphe Vorstellung der Götter hätten: Er behauptete, dass wir Menschen uns die Götter nur nach unserem Abbild vorstellen, da wir die Götter nicht eigentlich erkennen können.273 Xenophanes’ Gegenentwurf zu dieser anthropomorphen Gottesvorstellung ist die Vorstellung eines einzigen, letztlich unerkennbaren Gottes.274 Uns sind nur die göttlichen Wirkungen erfahrungsmäßig zugänglich, Gott selbst ist für uns unerkennbar. Daher muss in der Beschreibung Gottes / der Götter nach Xenophanes alle Anschaulichkeit und Vorstellbarkeit ausgeschlossen werden.275 Das Einzige, was sich über diesen Gott sagen lässt, ist daher von folgender Art: αἰεὶ δ᾽ἐν ταὐτῷ μίμνει κινούμενος οὐδέν οὐδὲ μετέρχεσθαί μιν ἐπιπρέπει ἄλλοτε ἄλλῃ276 ἀλλ᾽ἀπάνευθε πόνοιο νόου φρενὶ πάντα κραδαίνει.277 Immer bleibt er (Gott) an derselben Stelle, ohne jede Bewegung; bald hierhin, bald dorthin sich zu bewegen geziemt sich für ihn nicht. Ohne Anstrengung, durch die Regung der Einsicht erschüttert er alles.

Der höchste Gott278 muss sich nicht bewegen, um am Ort des Geschehens eingreifen zu können, denn er bewirkt mühelos Veränderungen durch bloßes Denken.279 272 Während andere zeitgenössische Denker wie Anaximander und Anaximenes ihre Gedanken in Prosaform niederlegten, wählte Xenophanes für alle seine Schriften metrische Formen. 273 DK 21B15. 274 Xenophanes war nicht nur skeptisch in Bezug auf die Möglichkeit, Gott zu erkennen, er war generell skeptisch in Bezug auf die Fähigkeit des Menschen, etwas mit Sicherheit zu wissen (Vgl. Fragmente 21B34 und B35, vgl. außerdem Kathryn A. Morgan, Myth and Philosophy from the Presocratics to Plato, S. 47 ff.). 275 Für eine ausführliche Untersuchung der via negationis bei Xenophanes vgl. Guido Calogero, Xenophanes, Aischylos und die erste Definition der Allmacht Gottes. Hier bespricht Calogero auch die Frage, ob Xenophanes einen Monotheismus vertrat. Zu dieser Frage vgl. auch M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 1, S. 259 f. 276 DK 21B26. 277 DK 21B25. 278 Es lässt sich nicht eindeutig entscheiden, ob Xenophanes einen Monotheismus begründen wollte oder nur von einem höchsten Gott spricht, neben dem es weitere Götter geben kann. Für beide Lesarten lassen sich Belege finden. So spricht er zwar

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Diese Unbeweglichkeit dieses Gottes wird jedoch nicht logisch abgeleitet oder mit Argumenten belegt, sondern Xenophanes argumentiert mit Hilfe einer moralischen Vorstellung: Es geziemt sich für Gott nicht, sich zu bewegen, wie sich die Sterblichen bewegen müssen, wenn sie etwas bewirken wollen. Während Gott also vollkommen ist und es daher nicht nötig hat, sich zu bewegen280, sind die materielle Welt und ihre Bewohner dadurch charakterisiert, dass sie bewegt sind und sich bewegen müssen: 279

ἐκ γαίης γὰρ πάντα, καὶ εἰς γῆν πάντα τελευτᾷ. … alles (wird) aus Erde und alles endet als Erde.281 γῆ καὶ ὕδωρ πάντ᾽ἔσθ᾽ ὅσα γίνοντ᾽ ἠδὲ φύονται. Erde und Wasser ist alles, was entsteht und wächst.282

Die Natur ist, nach Xenophanes, im Gegensatz zum Göttlichen von Entstehen und Vergehen geprägt. Ob nun Erde bzw. Wasser hier als eine Form der ἀρχή gedeutet werden können oder ob Xenophanes zwei Grundprinzipien annahm, ist für uns weniger interessant als die Tatsache, dass die Welt für Xenophanes von Werden und Veränderung geprägt ist, während es sich für Gott nicht geziemt, sich zu bewegen. Bei Xenophanes zeichnen sich also zwei zentrale Entwicklungen ab. Zum einen zeigt sich in dem, was uns von Xenophanes erhalten ist, ein gewisser Skeptizismus gegenüber der Autorität der alten Dichter sowie, damit verbunden, eine gewisse Distanzierung von der mythologischen Tradition. Zum anderen zeigen sich hier die Anfänge einer Abtrennung des Unbewegten in vielen Fragmenten von den Göttern im Plural (vgl. u. a. DK 21B1, B11, B12, B14; vgl. auch Ernst Heitsch, Xenophanes und die Anfänge kritischen Denkens, S. 17 f.), aber seine Rede über die Einheit und Allmächtigkeit des höchsten Gottes weist wiederum in Richtung Monotheismus (DK 21B23, vgl. auch G. S. Kirk e. a. Die vorsokratischen Philosophen, S. 185). Für eine ausführliche Behandlung der Fragestellung vgl. Guido Calogero, Xenophanes, Aischylos und die erste Definition der Allmacht Gottes, S. 284 f. 279 Diese Gottesvorstellung wird oft als eine der originellsten und wirkmächtigsten Ideen bei Xenophanes erachtet, so wird die Ähnlichkeit zum aristotelischen unbewegten Beweger angeführt, um die Wirkung dieser Idee zu illustrieren. Doch nicht nur die Vorstellung eines unbewegten Bewegers, sondern auch die Vorstellung des ‚Seins‘ bei Parmenides scheint von Xenophanes’ Gottesbild angeregt. 280 Es gibt auch Hinweise, die darauf hindeuten, dass Xenophanes Gott mit der Welt identifiziert habe (Platon, Sophistes, 242d oder Theophrast in DK 21A31), doch dies bereitet Probleme in Bezug auf die Unbewegtheit Gottes, der nur mit Hilfe seiner Einsicht bewegt. Wäre Gott mit dem All zu identifizieren, inwiefern wäre er noch unbewegt? Für eine eingehendere Besprechung dieser Fragen vgl. Wolfgang Röd, Die Geschichte der Philosophie Bd. 1, S. 84 f. 281 DK 21B27. 282 DK 21B29.

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2. Teil: Historische Untersuchung

vom Bewegten und einer hierarchischen Ordnung dieser Bereiche: Das Unbewegte wird dem Göttlichen zugeordnet und positiv gewertet, das Bewegte wird negativ gewertet und mit dem Bereich der Natur in Beziehung gebracht. Mehr lässt sich in der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewegung bei den Fragmenten des Xenophanes nicht finden. Anders sieht dies bei den Testimonia aus. Leider sind diese indirekten Überlieferungen so divergent und widersprüchlich, dass sie keine klaren Hinweise geben. So findet sich bei Metrodoros ein Hinweis darauf, dass Xenophanes einen Weltprozess angenommen habe. Xenophanes sei demnach davon ausgegangen, dass alles aus einer Mischung von Wasser und Erde bestehe. Außerdem glaube er, dass sich die Erde im Laufe der Zeit vom Wasser trenne, dass aber eine Zeit kommen werde, in der sich Erde und Wasser erneut verbinden werde. Dann werde das Entstehen neu beginnen. Diese Veränderung ereigne sich zudem in allen Welten.283 Bei Hippolytus hingegen findet sich eine Stelle, in der Xenophanes als Denker dargestellt wird, der jegliche Bewegung leugnet.284 Wie auch immer Xenophanes zum eleatischen Denken und zu Parmenides stand, ob er nun zu den Eleaten zu zählen ist oder nicht; eine inhaltliche Verwandtschaft der beiden Denker ist kaum zu leugnen. Guido Calogero schildert das Verhältnis der beiden Denker mit folgenden Worten: „Was die Natur des idealen Übergangs betrifft, der von Xenophanes zu Parmenides führt, so ist es opinio recepta […] ihn in der Umformung des ἕν ins ἐόν oder direkt ins reine εἶναι zu sehen, d. h. im Herausziehen des Seinsprädikats aus dem xenophaneischen Einen, in der Verabsolutierung dieses Prädikats, und schließlich in der Feststellung der Attribute, welche dieser neuen Realität zustehen mussten.“285

283

Vgl. DK 70A19. Vgl. DK 21A33. 285 Guido Calogero, Studien über den Eleatismus, S. 1. Auch wenn Calogero im Laufe der Untersuchung gegen diese Auslegung argumentiert, gibt es viele Forscher, die diese Auslegung (wenn auch mit Einschränkungen) unterstützen würden, vgl. z. B. Wolfgang Röd, Die Geschichte der Philosophie Bd. 1, S. 82, der jedoch darauf hinweist, dass man den Unterschied zwischen der Ausrichtung auf ein angemessenes Verständnis des Göttlichen bei Xenophanes und der ontologischen Ausrichtung bei Parmenides bei aller Parallelität nicht unterschätzen darf. 284

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§ 24 Parmenides – der große Bruch im griechischen Denken? Wenn nicht Simplikios in seinem Kommentar zu Aristoteles’ Physik große Teile des Lehrgedichts von Parmenides abgeschrieben hätte, um dem Leser einen Vergleich des Originals mit der Darstellung des Aristoteles zu ermöglichen, wäre uns heute wohl nur wenig Wörtliches von Parmenides erhalten.286 Dies, obwohl die Gedanken des Parmenides die Philosophie entscheidend geprägt haben. Denn die Gedanken, dass ‚es ist‘ und dass ‚es nicht nicht sein kann‘, führen „[…], in der an Parmenides anschließenden Naturphilosophie (Empedokles, Anaxagoras, Leukipp und Demokrit), zu der Konzeption der unveränderlichen Stoffe, (…) und hat in der Form des Gesetzes von der Erhaltung des Stoffes und der Kraft bis heute seine Gültigkeit behalten. Die andere Linie führt über die eleatische Schule und die frühsophistische Erkenntniskritik zur logischen Ontologie Platons.“287 Parmenides gilt uns heute als der erste Logiker, der erste rationale Denker. Hegel drückt dieses verbreitete Verständnis des Parmenides mit folgenden Worten aus: „Mit Parmenides hat das eigentliche Philosophieren angefangen; die Erhebung in das Reich des Ideellen ist hierin zu sehen. Ein Mann macht sich frei von allen Vorstellungen und Meinungen, spricht ihnen allen die Wahrheit ab und sagt: Nur die Notwendigkeit, das Sein ist das Wahre.“288 Diese Interpretation sieht in Parmenides’ Denken eine große Veränderung oder eine große Umwälzung im antiken Denken: weg vom ‚physiologischen‘ Denken der Vorsokratiker und hin zu dem völlig neuen Bereich „des sich durch und in Ideen vollziehenden und entfaltenden Denkens“289. Nietzsche spricht sogar von dem großen Bruch des griechischen Denkens in Parmenides’ Philosophie. Mit Parmenides endet für Nietzsche die Zeit des echten griechischen Denkens, und es beginnt das ‚Ungriechische‘ im griechischen Denken: Parmenides hat, wahrscheinlich erst in seinem höheren Alter, einmal einen Moment der allerreinsten, durch jede Welt ungetrübten und völlig blutlosen Abstraktion gehabt; dieser Moment – ungriechisch wie kein andrer in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters – dessen Erzeugniß die Lehre vom Sein ist, wurde für sein eignes Leben zum Grenzstein, der es in zwei Perioden trennte: zugleich aber zertheilt derselbe Moment das vorsokratische Denken in zwei Hälf286 Vgl. Simplikios, in Phys., 144, 25. An dieser Stelle begründet Simplikios die ausführlichen direkten Zitate (fast 100 Verse werden direkt zitiert) damit, dass das Lehrgedicht sehr selten geworden ist. Das Proömium hingegen ist nur durch Sextus Empirikus überliefert, vgl. Adv. math. 7, 111. 287 Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 66. 288 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 290. 289 Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 17.

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ten, deren erste die Anaximandrische, deren zweite geradezu die Parmenideische genannt werden mag. Die erste ältere Periode im eignen Philosophiren des Parmenides trägt ebenfalls noch das Gesicht Anaximander’s; sie brachte ein durchgeführtes philosophisch-physikalisches System, als Antwort auf die Fragen Anaximander’s, hervor. Als ihn später jener eisige Abstraktions-Schauder erfaßte, und der einfachste vom Sein und Nichtsein redende Satz von ihm hingestellt wurde, da war unter den vielen, durch ihn der Vernichtung zugeworfnen älteren Lehren auch sein eignes System.290

Nietzsche nimmt also zwei Perioden des Denkens bei Parmenides an, eine physiologisch-anaximandrinische Jugendphase und eine spätere, abstrakte Periode des reinen Seinsdenkens. Jeder dieser Phasen entspricht für Nietzsche ein Teil des Lehrgedichtes. Heute hingegen werden beide als Teile einer einzigen Untersuchung verstanden. Der erste Teil widmet sich der gängigen Deutung zufolge der Darstellung der absoluten Wahrheit (Seinsdenken) und der zweite Teil enthält die Beschreibung der alltäglichen Erfahrung (für Nietzsche das Anaximandrinische an Parmenides).291 In dieser Deutung stellt Parmenides also metaphysische Erkenntnis und Erkenntnis durch Beobachtung oder Erfahrung gegeneinander, wobei die metaphysische Erkenntnis nur durch den νοῦς, also durch Vernunft und Argument, zugänglich ist und die eigentliche Erkenntnis der Wahrheit darstellt.292 Die Beobachtung hingegen führt nicht zu einer Erkenntnis von Wahrheit, sondern zu Täuschungen. Diese strikte Trennung von sinnlicher Erkenntnis und Vernunfterkenntnis führt dazu, dass die eigentliche Welt nun nicht mehr bloß mit Hilfe von Beobachtung untersucht und im Kontext der Naturphilosophie geklärt werden kann. Die Frage nach der eigentlichen Beschaffenheit der Welt kann nun nur mehr mit Hilfe jener logischen Argumente beantwortet werden, deren Gewissheit im Lehrgedicht durch eine göttliche Macht verbürgt wird. Diese Abwendung von der Beobachtung der Natur und die Hinwendung zu Sprache, Argument und logischem Zusammenhang in der Suche nach Wissen und Wahrheit, die den ersten Teil der Untersuchung des Parmenides ausmacht, ist jener Bruch im griechischen Denken, von dem Nietzsche im eingangs genannten Zitat sprach: Die Erfahrung bot ihm nirgends ein Sein, wie er es sich dachte, aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß es existiren müsse: ein Schluß, der auf der Voraussetzung beruht, daß wir ein Organ der Erkenntniß haben, das in’s Wesen der Dinge reicht und unabhängig von der Erfahrung ist. Der Stoff unseres Den290 Friedrich Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 836. 291 Für die nähere Analyse dieser beiden Aspekte bei Parmenides vgl. Wolfgang Röd, Die Geschichte der Philosophie Bd. 1, S. 118. 292 Vgl. Wolfgang Röd, Die Geschichte der Philosophie Bd. 1, S. 116.

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kens ist nach Parmenides gar nicht in der Anschauung vorhanden, sondern wird anderswoher hinzugebracht, aus einer außersinnlichen Welt, zu der wir durch das Denken einen direkten Zugang haben.293

Doch ist dies wirklich die einzig angemessene Auslegung der Gedanken des Lehrgedichtes? Wenn Parmenides als Vater der rationalen Denktradition gelesen wird, wird dabei gern übersehen, dass er seine Gedanken in der Form des epischen Versmaßes vermittelt hat, sich also jener Form der Dichtung bedient hat, die traditionellerweise nur unter göttlicher Eingebung geschaffen werden kann.294 Für philosophische Abhandlungen wurde hingegen traditionellerweise die Prosaform gewählt, alle ionischen Lehrschriften sind z. B. in Prosa verfasst. Die Tatsache, dass Parmenides dennoch den epischen Hexameter verwendet, um seinen ‚rein logischen‘ Gedanken eine Form zu geben, die jeden Griechen seiner Zeit an Offenbarung und Eingebung denken lässt, wird so äußerst fragwürdig.295 Außerdem wird in der logischen Deutung des Parmenides zumeist nicht explizit bedacht, dass das Gedicht eigentlich aus drei Teilen besteht: „Der erste Teil beschreibt seine [Parmenides’] Reise zu der Göttin, die keinen Namen hat. Der zweite beschreibt, was sie ihn über die Welt lehrte. Der letzte Teil beginnt mit der Göttin, die sagt: Jetzt werde ich dich täuschen; und sie fährt fort und beschreibt in allen Einzelheiten die Welt, in der wir zu leben glauben.“296 Der erste Teil, das Proömium, in dem die Wagenfahrt des Parmenides zur Göttin beschrieben ist, wird in den meisten Auslegun293 Friedrich Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 845. 294 Vgl. Peter Kingsley, Die Traumfahrt des Parmenides, S. 51. 295 Zwar verwendet auch Xenophanes, der vermeintliche Lehrer des Parmenides, den Hexameter, aber eben nicht um philosophische Inhalte zu vermitteln. Uvo Hölscher ist der Ansicht, dass es hier keinen Zusammenhang gibt und dass die literarischen Wurzeln des Lehrgedichtes von Parmenides bei Hesiod zu finden seien. Denn, so argumentiert Hölscher, Parmenides’ Lehrgedicht weist nicht nur formale, sondern auch inhaltliche Ähnlichkeiten zu Hesiods Theogonie auf. So handelt es sich bei beiden Gedichten um eine Offenbarung und um eine Unterweisung durch eine Gottheit. Vgl. Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 64. 296 Peter Kingsley, Die Traumfahrt des Parmenides, S. 51. Während die meisten Interpreten in der Nachfolge des Sextus Empirikus das Fragment 28B1 14 so lesen, dass es die Göttin der Gerechtigkeit (Dike) ist, die den Schlüssel zum Tor besitzt, übersetzt Kingsley diese Stelle folgendermaßen: Und die Schlüssel – die jetzt öffnen und schließen – sind fest gehalten von Gerechtigkeit: sie, die stets aufs Genaueste Vergeltung fordert. (Peter Kingsley, op.cit., S. 55) Daher bleibt für Kingsley die Göttin namenlos. Auch M. Laura Gemelli Marciano (Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 52 f.) und Kathryn A. Morgan (Myth and Philosophy, S. 68) bezweifeln die Identifikation der Göttin, die Parmenides belehrt, mit der Göttin Dike, die das Eingangstor bewacht.

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gen des Parmenides als Logiker als nicht relevant erachtet und daher meist beiseite gelassen. Die meisten deuten das Proömium höchstens als ästhetische Beifügung, Allegorie oder Metapher, die Parmenides seinem Argument vorausschickt, um die gläubige Menge nicht mit seinen revolutionären Gedanken vor den Kopf zu stoßen. Doch es gab auch schon im 18. und 19. Jahrhundert Stimmen, die diese Aspekte des Lehrgedichtes betonten. Erst mit Karl Reinhardts bahnbrechender Untersuchung Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie von 1916 wurde die logische Deutung zur Standarddeutung. Diese Untersuchung führte zu der vollkommenen Abwertung der zuvor noch vertretbaren historischen und religionsgeschichtlich-mystischen Auslegung297, die z. B. von A. Dietrich und A.-J. Festugiere vorgebracht wurde. Die Deutung des Parmenides als Begriffs-Denker, der nur einen „rein begrifflichen, grundsätzlich von aller Erfahrung und Anschauung abstrahierenden“298 Gedankengang geht, wurde mit Karl Reinhardts Untersuchung jedoch zur einzig angemessenen Auslegung des Lehrgedichtes. Eine religionsgeschichtlich-mystische Auslegung, wie sie vor Reinhardt auch möglich war, wurde erst in den letzten Jahrzehnten von Interpreten wie A. P. D. Mourelatos, Kathryn A. Morgan, Laura Gemelli Marciano und Peter Kingsley wieder Gegenstand der Forschung. Alle diese Denker vereint der Ansatz, dass die magischen und mythischen Elemente der griechischen Kultur eine große Rolle in der Entstehung des Lehrgedichtes spielen. Die Auslegung dieser Interpreten verbindet außerdem, dass sie alle die Form des Gedichtes ernst nehmen und dass sie im Proömium den Schlüssel zum Verständnis des Lehrgedichtes sehen. Wird die Form des Gedichtes ernst genommen und das Proömium als Schlüssel zur Auslegung verwendet, zeigt sich ein ganz anderer Parmenides, möglicherweise ein griechischer Parmenides, der weder „durch logische Starrheit“ die Natur „petrificirt“ noch sie „fast in eine Denkmaschine“299 verwandelt, sondern der in der klassischen epischen Form zur Vermittlung der Begegnung von Gott und Mensch von einer Erfahrung des Göttlichen vermittels der Einheit im Denken spricht.300

297

Vgl. Hellmut Flashar e. a., Die Philosophie der Antike, Bd. 1–2, S. 443. Karl Reinhardt, Parmenides, S. 250. 299 Friedrich Nietzsche, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA Bd. 1, S. 836. 300 Die Einheitserfahrung und das damit verbundene Gefühl der Vollkommenheit ist ein gängiges Motiv mystischen Denkens. Vgl. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 66. 298

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§ 25 Philosophie als Entrückung und Dichtung301 Parmenides beginnt sein Lehrgedicht mit einer sehr sinnlichen, plastischen und poetischen Beschreibung einer Wagenfahrt, die ihn vor die Tore der Göttin führen wird: ἵπποι ταί με φέρουσιν, ὅσον τ᾽ ἐπὶ θυμὸς ἱκάνοι, πέμπον, ἐπεί μ᾽ ἐς ὁδὸν βῆσαν πολύφημον ἄγουσαι δαίμονος, ἣ κατὰ πάντ᾽ ἄστη φέρει εἰδότα φῶτα· τῆι φερόμην·τῆι γάρ με πολύφραστοι φέρον ἵπποι ἅρμα τιταίνουσαι, κοῦραι δ᾽ ὁδὸν ἡγεμόνευον.302 Die Pferde, fähig mich zu bringen wie weit mein Sehnen führt, trugen mich auf den vielgerühmten Weg der Göttin (des Daimon) voran, auf den sie mich gebracht hatten, welcher den wissenden Menschen durch alles Unbekannte führt. Also fuhr ich: die aufmerksamen Pferde, die den Wagen zogen, trugen mich und Mädchen zeigten den Weg.

Im Unterschied zu dieser Wagenfahrt, die sehr eindrücklich beschrieben wird, sind die späteren argumentativen Verse, in denen die Göttin Parmenides die Wahrheit und die Meinung der Vielen verkündet, sehr abstrakt und unanschaulich.303 Auch inhaltlich könnten die beiden Abschnitte wohl kaum verschiedenartiger sein: Das Proömium beschreibt ein Entrückungserlebnis, während der argumentative Teil des Lehrgedichtes das ‚es ist‘ mit logischen Mitteln bespricht und im Anschluss die Meinung der Vielen darstellt. Dies sind nur einige der Gründe, warum das Proömium lange Zeit nur als dekoratives Beiwerk gesehen und höchstens allegorisch gedeutet wurde. Die meisten älteren Quellen erwähnen das Proömium nicht einmal. Weder bei Platon noch bei Aristoteles oder Theophrast finden wir einen Hinweis auf das Proömium. Erst Sextus Empirikus gibt das Proömium wieder.304 Doch 301 Aristoteles hat dieses Gedicht als reine Kosmologie, in der Tradition der ionischen Kosmologien stehend, interpretiert. Dies aus mehreren Gründen: Zum einen endet das parmenideische Gedicht mit einer Kosmogonie und zum anderen können die zuvor von der Göttin vorgebrachten Argumente als Grundlegung für diese Kosmogonie gelesen werden. Die gesamte Entrückungserfahrung und die Darlegung der Eigenschaften des Seienden durch die Göttin werden so zu einem Präludium abgewertet, das nur dazu dienen soll, die gegen Ende behandelte Kosmogonie zu verdeutlichen und mit Argumenten zu untermauern. Doch diese wohl sehr einseitige Auslegung bleibt bis heute umstritten. Vgl. z. B. G. E. L. Owen, Eleatic Questions, S. 84 ff. 302 DK 28B1, 1–5. 303 Obwohl der Unterschied zu der einleitenden Passage sehr groß ist, gibt es auch Parallelen in der späteren Rede der Göttin. So ist auch die Rede der Göttin zur Wahrheit noch teilweise bildlich-metaphorisch: So spricht sie z. B. von den Fesseln der Notwendigkeit, mit denen das Seiende festgebunden ist. 304 Vgl. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 49.

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schon jener Denker, auf den sich Sextus Empirikus in der Darstellung des Proömiums beruft, hat dieses allegorisch ausgelegt.305 In den Pferden, die den Wagen ziehen, sieht dieser Autor die vernunftlosen Triebe des Menschen und in der Erfahrung der Entrückung bzw. in der Reise, die Parmenides antritt, sieht er die philosophische Kontemplation.306 Gegen eine solche allegorische Deutung des Proömiums spricht nach Laura Gemelli Marciano jedoch, dass diese Deutung eine ungefähre Kenntnis der Inhalte des Lehrgedichtes schon voraussetzt. Eine allegorische Deutung wird erst nach mehrmaliger Lektüre möglich; die allegorische Bedeutung zeigt sich nicht in einer ersten Auseinandersetzung. „Ein wichtiges Merkmal der archaischen Dichtung ist aber, dass sie nicht für die schriftliche Vermittlung vorgesehen war, sondern für die Rezitation vor einem bestimmten Publikum […]. Von diesem Gesichtspunkt her ist das Proömium, das dem Zuhörer zuerst begegnete und ihm den Weg weisen sollte, der Schlüssel, um die anderen Teile des Gedichts zu verstehen, nicht umgekehrt.“307 Nimmt man diese Charakterisierung der archaischen Dichtung ernst, dann muss das Proömium als hinführende Einleitung zu dem Lehrgedicht verstanden werden, welche es dem Publikum ermöglichen soll, zu verstehen, wovon Parmenides spricht. Dies würde nun bedeuten, dass das Proömium den Lektüreschlüssel zum Verständnis des gesamten Lehrgedichtes liefert: „Nun schafft das Proömium eine Atmosphäre, die durch göttliche Epiphanien und besondere Erfahrungen charakterisiert ist, und setzt einen kulturellen Hintergrund voraus, der von der Orphik, dem Pythagoreismus und den mit diesen Bewegungen eng verbundenen chthonischen Kulturen geprägt ist.“308 Gegen die Angemessenheit der allegorischen Interpretation spricht außerdem, dass die verschlüsselte Allegorie erst in der hellenistischen Zeit, also nach Lebzeiten des Parmenides’, aufkommt. Daher wird von manchen Interpreten wie z. B. Uvo Hölscher vorgeschlagen, dass die Bilder Parmenides’ unmittelbarer zu lesen sind und dass sie an die Tradition und Sujets der Dichter und des Mythos anknüpfen: Gespann und Wagen sind das feierliche Vehikel, von dem auch Pindar sich zum Thema seines Liedes bringen läßt; der ‚Weg der vielen Kunde‘ ist das Lied selber. (Dürfen wir die Gottheit dieses Weges deshalb die Muse nennen?) Aber darein mischt sich ein anderes Bild: von der Schnelligkeit des Gedankens. […] Der Welt305 Bei diesem Kommentator dürfte es sich wohl um Poseidonios von Apameia handeln. Vgl. M. Laura Gemelli Marciano, op.cit., S. 52. 306 Für eine ausführlichere Darstellung verschiedener allegorischer Interpretationen vgl. M. Laura Gemelli Marciano, op.cit., S. 52 ff. 307 M. Laura Gemelli Marciano, op.cit., S. 47. 308 M. Laura Gemelli Marciano, loc.cit.

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erfahrene, der beliebig im Geiste sich hierhin oder dorthin versetzt, ist auch das Motiv des Parmenides. Der Weg des Dichtens wird zum Weg des Denkens: (der Weg seines guten ‚Dämons‘) Der Weg führt vom Dunkel zum Licht. Das ‚Haus der Nacht‘ wird verlassen, ein Tor wird durchfahren, welches das ‚Tor der Bahnen von Nacht und Tag‘ heißt. Das Bild entstammt der alten Mythologie, die sich ein solches Tor an der Wohnung der Nacht denkt: Nacht und Tag begegnen dort einander so, daß nur immer einer der beiden im Hause ist. Vom mythischen Sonnenaufgang leiht die Fahrt des Parmenides ihrer Bilder.309

Obwohl Uvo Hölscher das Proömium bis zu einem gewissen Grad ernst nimmt, stellt es für ihn nur eine dichterische Ergänzung zu dem Eigentlichen des Gedichtes, der logischen Argumentation, dar. M. Laura Gemelli Marciano310 oder Kathryn A. Morgan311 betonen hingegen die Rolle des Proömiums als Lektüreschlüssel312 stärker als Hölscher und plädieren eindringlich dafür, das Proömium nicht nur als ästhetisches Beiwerk oder als Allegorie zu lesen, sondern als eine erschließende Hinführung zu seiner Lehre. Diese Deutung setzt jedoch einen bestimmten Umgang mit dem Text voraus: Das Hauptproblem bei der Interpretation des Proömiums liegt vor allem in den Definitionen und unreflektierten Voraussetzungen, von denen die modernen Interpeten ausgehen. […] Wir nehmen an, dass Welt und sprachliche Darstellung voneinander verschieden sind. Unserer Auffassung zufolge müssen im Bericht über ein ‚wirkliches‘ Geschehenes die sprachlichen Zeichen auf etwas Konkretes verweisen, das Wort ‚Pferd‘ muss ein konkretes Pferd, das Wort ‚Wagen‘ einen konreten Wagen bezeichnen. Wenn dies nicht der Fall ist, nennen wir die Darstellung ‚metaphorisch‘ und ‚literarisch‘, wobei wir voraussetzen, dass der Autor von seinem Text Abstand nimmt […]. Die Perspektive des Parmenides ist aber verschieden: Wie er selbst sagt, ist im Seienden keine Unterscheidung, keine Trennung möglich (II). Wenn er spricht, erlebt er zugleich, was er sagt, und er bringt es mit der Hilfe der Bilder zum Ausdruck, die in seiner Kultur auf eine Reise in die Unterwelt hinweisen […].313

Eine solche Entrückungserfahrung ist nicht ein beliebig wiederholbarer Erkenntnisvorgang, sondern es handelt sich um eine ausgezeichnete Erfahrung. Gegen die Relevanz der metrischen Form im Speziellen und des dichterischen Proömiums im Allgemeinen wird häufig vorgebracht, dass das Lehrgedicht ein sehr holpriges und schlechtes Gedicht sei, das nicht auf der 309 310 311 312 313

Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 69 f. Vgl. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 46 f. Vgl. Kathryn A. Morgan, Myth and Philosophy, S. 67 f. M. Laura Gemelli Marciano, op.cit., S. 47 f. M. Laura Gemelli Marciano, op.cit., S. 55 f.

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Höhe der damaligen Dichtkunst gewesen sei. Viele Interpreten halten Parmenides aufgrund seines scheinbar mangelnden Feingefühls für die dichterischen Standards seiner Zeit für einen unterdurchschnittlichen Dichter. Für diese Interpreten war Parmenides ein großer Denker, ein großer Logiker, der aus unerfindlichen Gründen eine, seinen Fähigkeiten unangemessene, dichterische Form gewählt hat, um seine Gedanken auszudrücken. Aus der mangelnden Qualität des Lehrgedichtes schließen diese Interpreten, dass das Wesentliche des Gedichtes, seine logische Argumentation, unabhängig von seiner gering einzuschätzenden Form314 zu verstehen sei. Als Argument für diese mangelhafte Qualität des Gedichtes wird z. B. die häufige Verwendung derselben Ausdrücke angeführt. Diels nannte das Lehrgedicht in diesem Zusammenhang sogar ausdrucksschwach.315 So wird z. B. der Begriff für ‚tragen‘ in den ersten vier Zeilen viermal verwendet. Ob nun die viermalige Verwendung desselben Begriffes in ebenso vielen Zeilen wirklich nur ein Zeichen mangelnder Ausdruckskraft ist, lässt sich bezweifeln. Diese auffällige Wiederholung lässt wohl eher auf eine Absicht schließen. Für eine absichtliche Verwendung der Wiederholung als Stilmittel spricht außerdem, dass der gesamte Text durch Wiederholungen geprägt ist. Alle zentralen Ideen – dass ‚es ist‘ und nur dieser Weg des Denkens zur Wahrheit führt und dass Nichtsein nicht ist und dass dieser Weg des Denkens nicht begehbar ist – werden im Gedicht wie in einer Formel oder einer Beschwörung durchgehend wiederholt.316 Es gibt daher auch Interpreten, welche die sprachliche Qualität des Lehrgedichtes betonen, und darauf verweisen, dass dies eine Sprache ist, die einen ganz anderen Zweck verfolgt als die Dichtungen Hesiods und Homers und daher anders, aber nicht weniger kunstvoll strukturiert ist.317 Ein weiteres Detail, das gegen die Deutung des Lehrgedichtes als logische Abhandlung, der ein unverständliches Proömium in unausgegorener Metrik vorangestellt wird, spricht, ist die Tatsache, dass das Lehrgedicht notorisch unbestimmt und zweideutig ist.318 Die Aussagen der Göttin erin314

Vgl. G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 265. Hermann Diels, Parmenides Lehrgedicht, S. 22 f. 316 Zur Rolle der Wiederholung mit dem Zweck der magischen Beschwörung vgl. Dodds, The Ancient Concept of Progress, S. 199 f., W. M. Bashear, Magica varia, S. 42 oder M. Dickie, Poets as Initiates in the Mysteries: Euphorion, Philicus and Posidippus, S. 60. 317 Vgl. z. B. A. P. D. Mourelatos, The Route of Parmenides, S. 244 f., zur Frage der Metrik und Komposition des Lehrgedichtes vgl. A. P. D. Mourelatos, op.cit., S. 2 ff. und S. 264–268. 318 So ist z. B. völlig unklar, welches Subjekt das ‚IST‘ im zweiten Fragment hat. Vgl. hier § 26. Für weitere Beispiele dieser Fragwürdigkeit bei Parmenides vgl. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 48. Die wesentlichsten 315

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nern in ihrer Unbestimmtheit eher an die delphischen Orakelsprüche als an philosophische Argumentationen. Der Name der Göttin wird nie genannt, auch der Ort der Belehrung bleibt unbekannt, und es ist über weite Strecken des Gedichtes unklar, wovon die Göttin eigentlich spricht, wenn sie sagt ‚es ist‘. Diese eigenartige Qualität des Gedichtes, die Wiederholungen und Unklarheiten weisen darauf hin, dass die Deutung des Lehrgedichtes als eine logische Abhandlung wohl zu einseitig ist und dass zentrale Aspekte des Lehrgedichtes wohl erst durch eine andere religionsgeschichtlich-mystische Deutung zugänglich werden. Das Lehrgedicht orientiert sich in dieser anderen Deutung primär an Orakelsprüchen und Beschwörungsformeln und nicht an der klassischen Dichtung Homers und Hesiods oder an der klaren Argumentation der ionischen Naturphilosophen. Eine mögliche Begründung dieser Form könnte darin gefunden werden, dass es sowohl die Dichtung als auch der Orakelspruch erlauben, Dinge vermittelt auszudrücken. Diese Stilmittel entheben Parmenides des Zwanges, die Dinge gerade heraus sagen zu müssen und erlauben ihm, durch indirekte und hinweisende Andeutungen zu vermitteln, was eigentlich gesagt werden soll. In diesem Sinne deutet Marciano die Bestimmungen des ἐόν z. B. als Hinweis für Einheit und Unvergänglichkeit nicht als „theoretische Definitionen wie Platon, sondern“ eben als „ ‚Bilder‘ [,] welche eine Erfahrung des Seienden bewirken müssen“319. Parmenides versucht also nach Marciano nicht, uns mit Argumenten zu überzeugen, sondern er versucht vielmehr mit Hilfe von Bildern eine sinnliche Reaktion ähnlich dem Wiedererinnern bei Platon in uns hervorzurufen, also eine Erfahrung zu evozieren. A. P. D. Mourelatos spricht davon, dass Parmenides uns in seinem Lehrgedicht auf eine Suche oder eine Reise mitnehmen möchte, deren Ziel die Wahrheit, das ἐόν, ist. Wenn eine Ausdrucksform geeignet ist, die Erfahrung des nicht wahrnehmbaren, unveränderlichen und ungeteilten ἐόν zugänglich und erfahrbar zu machen, für das es vor Parmenides weder eine Sprache noch ein Bewusstsein gab, so scheint es die Dichtung und der Orakelspruch zu sein.

§ 26 Das Sein ist und das Nichtsein ist nicht Die Göttin erklärt Parmenides, dass sie ihm sowohl die Wahrheit (ἀλήθειαν) als auch das Scheinbare (δοκοῦντα) erklären werde, auf das sich die Meinungen (δόξαι) der Sterblichen beziehen. Interpretationsprobleme lassen sich unter folgenden Stichworten zusammenfassen: Die Rolle des Proömiums, die Bedeutung des ‚Seienden‘ und sein Verhältnis zum ‚Sein‘ und das Verhältnis des Aletheia- zum Doxateil. 319 M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 49 f.

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2. Teil: Historische Untersuchung

Die Göttin beginnt mit der Beschreibung der Methode der Untersuchung, indem sie ihm jene zwei Wege aufzeigt, die der Suchende im Denken gehen kann: αἵπερ ὁδοὶ μοῦναι διζήσιός εἰσι νοῆσαι· ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι, Πειθοῦς ἐστι κέλευθος· (ἀληθείηι γὰρ ὀπηδεῖ·) ἡ δ᾽ὡς οὐκ ἔστιν τε καὶ ὡς χρεών ἐστι μὴ εἶναι, τὴν δή τοι φράζω παναπευθέα ἔμμεν ἀταρπόν· οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐόν·οὐ γὰρ ἀνυστόν· οὔτε φράσαις.320 … welche Wege des Suchens allein für das Denken sind: Der eine: dass es ist und dass nicht zu sein unmöglich ist, ist der Weg der Πειθώ [Überzeugung] (denn sie begleitet die Wahrheit). Der andere: dass es nicht ist und dass dieses nicht zu sein erforderlich ist, ist der Weg, ich zeige dir, von dem keine Einsicht kommt. Denn was eben nicht ist, kannst du wohl weder wahrnehmen, denn das ist nicht durchführbar, noch aufzeigen.

In diesem Fragment ist das Subjekt der Aussage ‚es ist‘ (ἔστι) bzw. der Aussage ‚es ist nicht‘ nicht bestimmt. Im Folgenden werde ich einige der bisher vorgeschlagenen Deutungen des Gegenstandes der Rede der Göttin darstellen und kritisch beleuchten. A. Die ontologische Deutung Die klassische Deutung, die schon Diels vertreten hat, besteht darin, im Seienden (ἐόν) den Gegenstand der Rede der Göttin zu sehen. Betrachten wir das Fragment unter diesem Blickwinkel genauer: Wenn wir Diels’ Argumentation folgen und ‚Seiendes‘ bzw. ‚ἐόν‘ als das Subjekt des ἔστι annehmen, könnte man die zentralen Sätze des Fragmentes folgendermaßen deuten321: ‚Der eine (Weg): dass [das Seiende] ist und dass nicht zu sein nicht ist […]. Der andere (Weg): dass [das Seiende] nicht ist und dass dieses nicht zu sein des Seienden erforderlich ist.‘

Doch diese Deutung scheint den meisten modernen Interpreten – vor allem wegen des zweiten Satzes – nicht einleuchtend. Denn in diesem zweiten Satz scheint mit dieser Einsetzung behauptet zu werden, dass es notwendi320

DK 28B2, 2–8. Eine Interpretation, die Diels wohl vertreten hat, wie er durch die einmalige Ergänzung des ‚Seienden‘ in der Beschreibung des ersten Weges angedeutet hat: Hermann Diels, Parmenides Lehrgedicht, S. 33. 321

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gerweise kein Seiendes gibt. Diesen Weg der Untersuchung würde wohl niemand ernsthaft einschlagen wollen und daher wäre es überflüssig, diesen Weg als Irrweg zu ‚entlarven‘. Es scheint also nicht plausibel, dass Parmenides mit dem ἔστι nur sagen wollte, dass das Seiende ist.322 Ein weiteres Argument gegen diese Lesart besteht darin, darauf zu verweisen, dass Parmenides bis zu dieser Stelle im zweiten Fragment das ἐόν noch gar nicht eingeführt hat: Es wird ja das „ἐόν im Laufe des Gedichtes als Begriff erst gebildet, es ist gleichsam das Ergebnis der Überlegungen zur Seinsfrage und keineswegs eine ganz selbstverständliche Gegebenheit, die als (unausgesprochenes!) Subjekt fungieren könnte“323. Es scheint daher unangemessen, das ἐόν als das Subjekt des ‚es ist‘ vorauszusetzen. Ebenso umstritten ist die These, dass das ‚Sein‘ Subjekt des ἔστι ist und Parmenides sagen wollte, dass ‚das Sein ist‘ bzw. ‚das Nichtsein nicht ist‘. Diese Deutung führt nämlich zunächst dazu, dass Parmenides „der Gedanke: ‚das Sein west‘, im Sinne der essentiellen Aktualität des Seins“324 zugeschrieben werden müsste. Ein Gedanke, der erst bei Heidegger entwickelt wird. Gegen diese Lesart spricht außerdem, dass im weiteren Verlauf der Argumentation immer wieder das Seiende (ἐόν) Subjekt der diversen Prädikationen ist und nicht das Sein (εἶναι bzw. ἔστι). Zuletzt spricht auch die letzte Zeile des zweiten Fragmentes dagegen, das Sein als Subjekt des ἔστι zu lesen, da Parmenides hier explizit vom Seienden spricht. Diese Zeile lautet: „οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐόν […]325 οὔτε φράσαις“326 – Denn was nun nicht (seiend) ist, das kannst du weder wahrnehmen noch aufzeigen. Hier spricht Parmenides explizit vom ‚Seienden‘ (ἐόν), von dem wir jedoch zuvor meinten, es könne nicht das Subjekt des ἔστι sein. Diese Widersprüchlichkeit der ontologischen Deutung sowie ihre weiteren Probleme lassen sich in den Augen vieler Interpreten nicht lösen, daher wird heute sowohl die Deutung des ‚es ist‘ als Seiendes als auch als Sein zumeist abgelehnt.

322 Für ein weiteres Argument gegen diese Möglichkeit vgl. Guido Calogero, Studien über den Eleatismus, S. 19. 323 Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 54. 324 Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 78. 325 Bei Diels Simplikios ist an dieser Stelle die Beifügung οὐ γὰρ ἀνυστόν (in Phys., 116, 32) vermerkt. Bei Proklos hingegen steht im Kommentar zu Timaios an dieser Stelle ἐφικτόν (I, 345,15). 326 DK 28B2, 7–8.

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2. Teil: Historische Untersuchung

B. Die wahrheitstheoretische Deutung Eine weitere Argumentationsstrategie gegen die ontologische Interpretation besteht darin, auf die ursprüngliche Bedeutung des εἶναι, wie sie von Charles H. Kahn erarbeitet wurde, zu verweisen. Kahn betont, dass das griechische εἶναι nicht dieselbe syntaktische Struktur aufweist wie das deutsche ‚Existenz-ist‘. Das εἶναι, wenn es ohne Prädikat verwendet wird, weist im Griechischen eher die Bedeutung des ‚es ist so‘, ‚es ist wahr‘ oder ‚es ist der Fall‘ auf als die Bedeutung ‚es existiert‘.327 Diese für viele Interpreten überzeugenden Argumente Kahns führen dazu, dass heute zumeist eine wahrheitstheoretische Deutung des ‚es ist‘ bei Parmenides bevorzugt wird.328 Doch nun kann man sich die Frage stellen, worauf sich dieses ‚es ist so‘ bzw. ‚es ist wahr‘ bezieht; was ist so, was ist wahr? Eine Möglichkeit, auf diese Frage zu antworten, ist, zu behaupten, dass Parmenides an dieser Stelle absichtlich kein Subjekt angibt und wir auch nicht versuchen sollten, ein angemessenes Subjekt zu finden. Es gibt jedoch auch Denker, die verschiedene Möglichkeiten für das Subjekt des wahrheitstheoretischen ἔστι vorschlagen, z. B. ‚was gedacht / gewusst werden kann‘ oder auch ‚der Gegenstand der Untersuchung‘329. Ich erwähne alle diese Möglichkeiten hier der Vollständigkeit halber, werde aber auf diese Möglichkeiten nicht eigens eingehen,330 denn diese wahrheitstheoretische Interpretation lässt sich sowohl mit der Rekonstruktion des Parmenides als Logiker als auch mit der Rekonstruktion des Parmenides wie er sich zeigt, wenn das Proömium als Lektüreschlüssel verwendet wird, problemlos vereinbaren. Der Unterschied zwischen den beiden Rekonstruktionen besteht dann nur darin, welcher Gegenstand als wahr gelten kann. 327

Charles H. Kahn, The Greek Verb ‚to be‘ and the Concept of Being. Kahns Argument für diese Deutung des ‚es ist‘ bei Parmenides lautet: „His [Parmenides] initial thesis, that the path of truth, conviction, and knowledge is the path of ‚what is‘ or ‚that it is‘ (hōs esti), can then be understood as a claim that knowledge, true belief, and true statement are all inseparably linked to ‚what is so‘ – not merely to what exists but to what is the case. If we understand the verb and participle here as in Herodotus and Protagoras, Parmenides’ doctrine of Being is first and foremost a doctrine concerning reality as what is the case. But if this is a valid interpretation, the familiar charge against Parmenides – that he confused the existential and the predicative sense of ‚to be‘ – is entirely beside the point.“ Charles H. Kahn, The Greek Verb ‚to be‘ and the Concept of Being, S. 251. 329 Diese Möglichkeit wird u. a. von Kirk besprochen. Vgl. G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 269 f. 330 Für eine genauere Untersuchung der diversen Optionen vgl. Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie Bd. 1, S. 119 f., G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 269 ff. oder Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 77 ff. 328

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C. Die aussagenlogische Deutung Die aussagenlogische Interpretation, wie sie z. B. von Guido Calogero vorgeschlagen wurde, sieht im Sein des Parmenides die allgemeine und universelle Form jeder möglichen Qualifikation oder jedes möglichen Prädikates. Denn das Sein „ist nichts anderes als das Sein des Urteils: Nämlich das [Sein] der Affirmation.“331 Calogero liest das οὔτ᾽ ἂν φράσαις – des letzten Satzes von DK 28B2 (οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐόν – […] – οὔτε φράσαις – Denn was nun nicht (seiend) ist, das kannst du weder wahrnehmen – […] – noch aussprechen) als einen Hinweis darauf, dass Parmenides hier nicht von einem „objektiv NichtSeienden“ spricht, denn ein solches ließe sich sehr wohl (sprachlich) aufzeigen – wir können davon sprechen, dass es Einhörner nicht in der physischen Welt gibt, dass heute nicht Montag ist, dass der Tisch nicht im Wohnzimmer ist oder dass der Apfel nicht schwarz ist. Wir können also – wie dieser Absatz beweist – von einem „objektiv Nicht-Seienden“ sprechen. Nach Calogero muss Parmenides hier also vielmehr vom τό μὴ ἐόν im Sinne des in keiner Weise Seienden sprechen, wenn verständlich werden soll, warum wir dieses μὴ ἐόν nicht sprachlich aufzeigen können. Das μὴ ἐόν ist ‚jenes was nicht ist‘ und von dem somit nichts Wahres ausgesagt werden kann, denn man kann nichts Wahres von etwas sagen, das nicht ist, außer natürlich, dass es nicht ist. Somit ist „auch das εἶναι, welches sich in diesem ἐόν verbirgt, kein anderes […] als jenes des Urteils: Jenes εἶναι, das Parmenides als vom Ausdruck des Wahren untrennbar entdeckt, und dessen Gegenteil man mithin (absolut) unmöglich ausdrücken – φράζειν – kann (weil man es, selbst wenn man es ausdrückte, nur aufgrund eines tieferen εἶναι ausdrückt).“332 Das μὴ ἐόν kann daher als solches nicht ausgedrückt werden, weil es nur vermittels der Annahme eines grundlegenderen εἶναι überhaupt erst das Nichtsein behaupten kann. Calogero zufolge ist das von Parmenides Befragte weder das Seiende noch das Sein und es deutet nichts „darauf [hin], daß Parmenides überhaupt etwas vom Sein oder vom Nichtsein ausgesagt hat“333. Der Gegenstand der Untersuchung ist in dieser Interpretation vielmehr das wahre Urteil bzw. das angemessene Denken. Diese Möglichkeit der Deutung erhellen auch die ersten Zeilen des Fragmentes. 331

Guido Calogero, Studien über den Eleatismus, S. 6. Guido Calogero, op.cit, S 20. 333 Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 78. Auch Guido Calogero nennt diese Interpretation als eine der gängigsten, auch wenn er diese Interpretation im Laufe der Argumentation zu widerlegen sucht: Guido Calogero, Studien über den Eleatismus, S. 18 f. 332

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2. Teil: Historische Untersuchung

‚Der eine (Weg): dass es ist und dass nicht zu sein nicht ist […]. Der andere (Weg): dass es nicht ist und dass dieses nicht zu sein des Seienden erforderlich ist.‘

Hier „stehn [sic] die kontradiktorischen Sätze dann als reine Möglichkeiten der Aussage: man kann von etwas entweder sagen: es ist, oder: es ist nicht. Der Ernst dieser Aussagen wird unterstrichen durch die jeweiligen Negationen der Gegenteile: sagt man von etwas: es ist, so kann es auf keine Weise nicht sein; sagt man: es ist nicht, so kann es auf keine Weise sein.“334 In dieser Interpretation wird der von der Göttin beschriebene Weg des Suchens zum Weg des Urteilens. Panagiotis Thanassas verweist auf einige Anachronismen dieser aussagenlogischen Deutung, die in seinen Augen ein tiefes Verständnis des Lehrgedichtes verstellen. Diese aussagenlogische Deutung unterstellt Parmenides nämlich die Reduktion von Sprachlichkeit auf die Form des Urteils und sie unterstellt ein Verständnis von Welt und Sprache, das impliziert, dass wir uns mit Hilfe von Urteilen auf die Welt ‚da draußen‘ beziehen können. „Sein und Sprache bzw. Logos werden“ nach Thanassas in der aussagenlogischen Deutung des Parmenides „nur als Pole einer Opposition erfasst, als zwei Bereiche, deren Vermittlung als unmöglich“ gilt „und bei denen jeder Übergang als ‚logischer Fehler‘ erscheinen muss.“335 Das Lehrgedicht würde also, folgt man der aussagenlogischen Deutung, die Strukturen des ἐόν im λὸγος untersuchen und diese einfach (ohne dafür zu argumentieren) auf die φύσις übertragen.336 Auch wenn solches Vorgehen in der Antike angemessen war, führt es zu der Frage, inwiefern Parmenides dann als der erste große Logiker gelten kann, wenn er schon das prädikative ‚ist‘ (Ebene des Urteils) mit dem existenziellen ‚ist‘ (Ebene der Ontologie) verwechselt und die Eigenschaften des existenziellen ‚ist‘ unvermittelt von der logischen Reflexion auf die Behandlung des Urteils (der Behandlung des prädikativen ‚ist‘) ableitet? Uvo Hölscher trägt diesen Problemen Rechnung, indem er die Meinung vertritt, dass die Wege, welche die Göttin schildert, nicht nur den Gang des Urteilens oder Denkens beschreiben, sondern vielmehr das Verhältnis von Aussage und Sein selbst bestimmen sollen. Wenn ich von etwas aussage, dass es ist, dann darf es nicht gleichzeitig nicht sein (nicht existieren). Wenn ich von etwas jedoch sage, dass es nicht ist, dann ist es eben notwendig, dass es nicht ist. Hölscher versteht in Folge den letzten Satz des Fragmentes (οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐόν οὔτε φράσαις – Denn was nun 334

Uvo Hölscher (Hrsg.), op.cit., S. 78 f. Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 29. 336 Für eine detaillierte Analyse der Probleme und Schwächen der aussagenlogischen Deutung vgl. Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 29 ff. 335

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nicht (seiend) ist, das kannst du weder wahrnehmen noch aufzeigen) im Kontext dieser Deutung folgendermaßen: Man mag wieder an Sätze denken wie: es ist nicht heiß, das Meer ist das NichtHeiße, das Nicht-Graue ist kein Seiendes. Das Argument impliziert, daß nur Seiendes erkannt werden kann. Sein ist die Bedingung des Erkennens. Wenn nun das Argument: ‚Du kannst es nicht erkennen‘, gegen den Satz vorgebracht wird, daß etwas ‚nicht ist‘, dann wird auch umgekehrt die Erkennbarkeit zum Kriterium des Seins. Nur was man erkennen kann, kann sein. Das ist aber genau die Aussage des Fragmentes 3: ‚Denn dasselbe kann erkannt werden und kann sein.‘337

Das dritte Fragment (Denn dasselbe kann erkannt werden und kann sein) wird in dieser Lesart also zur impliziten Prämisse für das zweite Fragment, in dem die Göttin Parmenides die zwei Wege der Untersuchung aufzeigt. Das dritte Fragment erhellt so, nach Uvo Hölscher, die ersten Sätze des zweiten Fragmentes. Der erste Weg: Ich denke: ‚es ist‘ und es ist auch wirklich so, ist der einzig mögliche Gang der Untersuchung, weil das Denken dem Sein entspricht. Der zweite Weg: Ich denke / sage: ‚es ist nicht‘ und es ist in Wirklichkeit nicht, ist zwar logisch möglich, aber eigentlich nicht begehbar, weil das Nichtsein nicht im eigentlichen Sinne gedacht oder gesagt werden kann. Daher kann, worauf die Göttin auch hinweist, auf dem zweiten Weg keinerlei Einsicht gewonnen werden. Diese Form der aussagenlogischen Lesart ist also nur dann angemessen, wenn Fragment 3 als eine simple Identifizierung von Sein und Denken zu lesen ist. Die Deutung dieses dritten Fragmentes ist jedoch zumindest ebenso umstritten wie die Frage nach dem Subjekt des ‚es ist‘. Denn es stellt sich die Frage, wie diese Identifikation zwischen der wahren Aussage, dem Denken und dem Sein genau zu verstehen ist.338 Doch selbst wenn wir diese Schwierigkeit beiseite lassen, ist dennoch nur schwer nachzuvollziehen, warum eine Göttin, welche die Wahrheit verkünden will, Parmenides bloß mitteilt, dass der einzige Weg zur Wahrheit darin besteht, über die Dinge so zu sprechen wie sie sind. Außerdem: Warum sollte das Wissen darüber, wie etwas nicht ist, wenn dies den Tatsachen entspricht, nicht auch wahr sein bzw. uns nicht auch zur Erkenntnis führen? Wir können das Nichtsein von etwas zwar nicht direkt wahrnehmen, aber wir können sehr wohl erkennen, dass etwas nicht rot ist oder dass etwas nicht hier ist. Und: Ist es nicht oft so, dass die meisten Erkenntnisse gewonnen werden, wenn Thesen oder mögliche Bestimmungen ausgeschlossen werden können? Hölscher antwortet, dass der Weg des Nichtseins ausge337 338

§ 27.

Vgl. Uvo Hölscher (Hrsg.), op.cit., S. 81. Auf dieses Fragment werde ich im Folgenden noch genauer eingehen. Hier,

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2. Teil: Historische Untersuchung

schlossen wird, da wir nach Parmenides das Nichtsein nicht denken können. Dem widerspricht Calogero mit dem Argument, dass wir ja gerade in dieser Diskussion vom Nichtsein sprechen und auch verstehen, was damit gemeint ist, also können wir es sehr wohl denken und auch sagen.339 Schon in den frühen antiken Auslegungen zeigte sich diese Spannung zwischen der logischen Klarheit der Argumentation und der Unbestimmtheit dessen, wovon gesprochen wird. Der platonische Sokrates nimmt auf dieses merkwürdige Verhältnis von scheinbarer Tiefe der Erkenntnis bei gleichzeitiger Unklarheit des Gegenstandes der Untersuchung bei Parmenides Bezug, wenn er meint, dass das Einheitsdenken des Melissus und anderer Einheitsdenker zwar leicht entkräftet werden kann, dass man aber Parmenides gegenüber mehr Respekt walten lassen muss: „Denn ich habe den Mann getroffen, als ich noch ganz jung war und er schon alt, und es offenbarte sich mir eine ganz seltene und herrliche Tiefe des Geistes. Ich fürchte daher, daß wir teils, was er gesagt nicht verstanden, teils, was er damit gemeint, noch viel weniger verstanden haben.“340 Obwohl das Lehrgedicht, so scheint Sokrates zu sagen, sehr schwer verständlich ist, sollten wir Parmenides schätzen. Jedoch nicht aufgrund seiner klaren logischen Argumentationen, sondern aufgrund einer Tiefe des Geistes, die sich Sokrates erst in der persönlichen Begegnung zu zeigen schien. D. Steckt eine Absicht hinter der Unbestimmtheit des ‚es ist‘? Eine weitere Möglichkeit, mit dieser Ambivalenz zwischen logischer Darstellung und mangelnder Bestimmung dessen, wovon gesprochen wird, umzugehen, besteht darin, hier eine Absicht zu vermuten.341 So ist z. B. 339 So angemessen und einsichtig die diversen Interpretationen in der einen oder anderen Hinsicht auch scheinen, es fehlt eine letztlich einleuchtende Antwort auf die Frage nach dem Subjekt des ‚es ist‘. Vgl. Daniel W. Graham, Kommentar zu DK 28B2, in: The Texts of Early Greek Philosophy, S. 235 f. Auch der erste Satz des sechsten Fragmentes ist in dieser Beziehung ambivalent. Hier spricht Parmenides vom Seienden (ἐόν), das ist und vom Nichts (μηδὲν), das nicht ist: Χρὴ τὸ λὲγειν τε νοεῖν τ᾽ἐόν ἔμμεναι· ἔστι γὰρ εἶναι, Μηδὲν δ᾽οὐκ ἔστιν·τά σ᾽ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα. (28B6, 1–2) – Es ist richtig, zu sagen und zu denken, dass Seiendes ist, denn zu sein ist; Nichts ist nicht: das, sage ich dir, sollst du dir klarmachen. Eine Möglichkeit der Deutung besteht darin, das ἐόν mit dem Wirklichen gleichzusetzen, also das darunter zu verstehen, was wirklich ist (G. S. Kirk e. a., Die vorsokratischen Philosophen, S. 270 f.), während dann das ἔστιν die Weise der Existenz, also die Art und Weise wie das ἐόν vorkommt, meint. 340 Platon, Theaitetos, 183e–184a. 341 A. P. D. Mourelatos ist sogar der Meinung, dass die Annahme, dass hinter der Auslassung des Subjektes an dieser Stelle eine Absicht steckt, die momentane Standardinterpretation darstellt. Die Absicht, die nach Mourelatos hinter diesem Vorge-

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Laura Gemelli Marciano der Meinung, dass hinter der Unklarheit der Argumentation die eigentliche Absicht des Lehrgedichtes steckt. Der AletheiaTeil dient in ihren Augen nicht dazu, die Wahrheit darzustellen, sondern vielmehr dazu, den Weg des Denkens einzuüben, der als einziger zur Wahrheit führen kann: „Der Schüler bekommt […] keinen besonderen theoretischen Unterricht, sondern ‚lernt‘ durch die eigene geistige Erfahrung. Deshalb ist der Aletheia-Teil trotz seiner scheinbar logischen Struktur und Argumentationsweise so änigmatisch, so unbestimmt.“342 Die Unklarheit und Ambivalenz dieser Zeilen ist nach Marciano nicht aufzulösen, sondern von Parmenides beabsichtigt. Zur Vergegenwärtigung an dieser Stelle noch einmal das behandelte Fragment und die Übersetzung: αἵπερ ὁδοὶ μοῦναι διζήσιός εἰσι νοῆσαι· ἡ μὲν ὅπως ἔστιν τε καὶ ὡς οὐκ ἔστι μὴ εἶναι, Πειθοῦς ἐστι κέλευθος·(ἀληθείηι γὰρ ὀπηδεῖ·) ἡ δ᾽ὡς οὐκ ἔστιν τε καὶ ὡς χρεών ἐστι μὴ εἶναι, τὴν δή τοι φράζω παναπευθέα ἔμμεν ἀταρπόν· οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐόν·οὐ γὰρ ἀνυστόν· οὔτε φράσαις.343 … welche Wege des Suchens allein für das Denken sind: Der eine: dass es ist und dass nicht zu sein unmöglich ist, ist der Weg der Πειθώ [Überzeugung] (denn sie begleitet die Wahrheit). Der andere: dass es nicht ist und dass dieses nicht zu sein erforderlich ist, ist der Weg, ich zeige dir, von dem keine Einsicht kommt. Denn was eben nicht ist, kannst du wohl weder wahrnehmen, denn das ist nicht durchführbar, noch aufzeigen.

Die Göttin spricht hier von den Wegen, die zu denken sind, oder von den Wegen für das Denken. Die Göttin verkündet, wie das Denken bestimmt ist, das zur Wahrheit führt. Der Inhalt des ‚es ist‘ bleibt unbestimmt, denn die Göttin spricht nicht von den Inhalten des Denkens, sie bestimmt die Wahrheit nicht inhaltlich. Vielmehr beschreibt sie dieser Deutung zufolge nur die Art und Weise des Denkens, das uns zur Wahrheit führen kann. Sie beschreibt also welche Form von Denken oder welche Struktur des Denkens uns auf den richtigen Weg führen kann. Der Inhalt des Denkens, der nun wirklich wahr ist, bleibt noch ungenannt. Für diesen steht das ‚es ist‘. hen vermutet werden kann, ist, dass der inhaltliche Bezug des ‚es ist‘ sich erst im Laufe der Untersuchung ergeben soll. Der Leser soll im Laufe des Lehrgedichtes an den Gegenstand des ‚es ist‘ herangeführt werden. Vgl. Some Alternatives in Interpreting Parmenides, S. 3. 342 M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 58. 343 DK 28B2, 2–8.

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2. Teil: Historische Untersuchung

Der erste Schritt dieser Unterweisung besteht darin, zu verstehen, dass alles, was wir denken, sobald wir es denken, für das Denken Sein hat. Sobald wir einen Gedanken haben, ist es unmöglich, dass dieser Gedanke für das Denken nicht ist. Alles Denken ist durch diesen Zug geprägt; egal ob Wunsch, Traum oder Urteil, sobald wir etwas denken, hat es (für das Denken) Sein und zugleich hat es auch für den Denkenden Sein. Dies ist der Grundzug des Denkens, dem wir auf dem Weg zur Wahrheit folgen müssen. Das oft übergangene vierte Fragment macht diese Beschaffenheit des Denkens, das zur Wahrheit führt, noch einmal deutlich: λεῦσσε δ᾽ὁμῶς ἀπεόντα νόωι παρεόντα βεβαίως· οὐ γὰρ ἀποτμήξει τὸ ἐόν τοῦ ἐόντος ἔχεσθαι οὔτε σκιδνάμενον πάντηι πάντως κατὰ κόσμον οὔτε συνιστάμενον.344 Denn siehe die Dinge, die abwesend seiend, in deinem Denken sicher anwesend sind. Denn du wirst nicht das Seiende von seinem Zusammenhang mit dem Seienden abtrennen, weder wenn du es überall gänzlich der Ordnung gemäß zerstreust noch wenn du es zusammensetzt.

Denn im Denken ist alles Gedachte anwesend und diesen Zusammenhang können wir weder durch Analyse noch durch Synthese des Denkens verändern. Es scheint also, als wollte die Göttin mit dem Fragment über das ‚es ist‘ etwas über die Weise des Denkens sagen, das zur Wahrheit führt und nicht über das konkrete Sein der physischen Dinge oder über die wahre Aussage. Das, worüber wir nachdenken können, also das, was für das Denken existiert, so müsste man das Fragment entsprechend deuten, ist. Und es ist unmöglich, dass es für das Denken, das es denkt, nicht ist. Umgekehrt gilt natürlich auch, dass das, was für das Denken nicht existiert, auch nicht gedacht werden kann. Denn sobald wir es denken, ist es auch schon für das Denken.

§ 27 Das Denken – νοεῖν So kommen wir zu einem der zentralen Begriffe des Lehrgedichtes – dem νοεῖν, dem Denken. Der Begriff ‚νοεῖν‘345 bedeutet sowohl wahrnehmen als auch erkennen und denken. Beim νοεῖν (νοῦς) handelt es sich immer um eine Durchdringung – um eine Wahrnehmung, eine Erkenntnis oder ein Denken von 344

DK 28B4. Für eine genaue Bestimmung des Begriffs vgl. Kurt von Fritz, Nous and Noein in the Homeric Poems, sowie ders., Nous, Noein and their Derivatives in PreSocratic Philosophy. 345

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tieferen Zusammenhängen und nicht um eine oberflächliche Wahrnehmung oder eine Erkenntnis des Offensichtlichen.346 Dieser Aspekt des νοεῖν ist wohl im Deutschen am besten mit dem Begriff der ‚Einsicht‘ wiedergegeben.347 Bei Homer ist das νοεῖν vor allem auf die Erhellung einer Situation bezogen – im Unterschied zu γιγνὼσκειν –, denn dieser Begriff „wird also vor allem gesagt, wenn man einen Menschen identifiziert“348. Das νοεῖν bedeutet zunächst nur „eine klare Ansicht von etwas gewinnen“349, also ein Feststellen wie es um die Sache oder den Tatbestand bestellt ist.350 Der Begriff hat aber auch von Beginn an einen engen Bezug zum Sehen oder zur Schau351. Wobei auch bei diesem sinnlichen Aspekt des νοεῖν eine tiefe Durchdringung der Situation angedeutet wird. Das Sehen des νοῦς ist also ein Sehen, das die wahre Beschaffenheit der Dinge ans Licht bringt.352 Das νοεῖν erlaubt uns also einen Blick, der weiter reicht als die oberflächliche Wahrnehmung.353 Daher werden νοεῖν und νόημα auch oft mit ‚Erkennen‘ und ‚Erkenntnis‘ übersetzt.354 In allen Bedeutungsprägungen vermittelt νοεῖν jedoch immer den Versuch, etwas zu erreichen bzw. zu etwas zu gelangen.355 Daher hat νοεῖν immer den Charakter eines auf etwas gerichteten Vorganges. Im νοεῖν klingen also mehrere Aspekte an: Denken, Erkennen, sinnliche Erfahrung und eine durchdringende Qualität dieser Formen von Erkenntnis, die nicht an einer oberflächlichen Erkenntnis hängen bleibt, 346 Kurt von Fritz fasst in Nous, Noein and their Derivatives in Pre-Socratic Philosophy das Verständnis von νοῦς bei Homer und Hesiod folgendermaßen zusammen: „[…] for now we have a nous which still in a way is more penetrating than mere vision or recognition, since it is concerned not with the appearance of things but with the ‚real meaning‘ of a situation and the ‚true character and intentions‘ of the persons involved in it. Yet what the nous ‚sees‘ behind the surface appearance may be all wrong, because the nous, though still functioning with seeming lucidity, is deceived by greed or anger and therefore no longer functioning properly.“, S. 226. 347 Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 19 ff. und S. 223. 348 Bruno Snell, op.cit., S. 22. 349 Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 22. Siehe auch Kurt von Fritz, der den Begriff ähnlich charakterisiert, nämlich als „to realize or to understand a situation“, in: Nous, Noein and their Derivatives in Pre-Socratic Philosophy, S. 223. 350 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 146. 351 Für einen Vergleich mit ἰδεῖν γιγνώσκειν vgl. Kurt von Fritz, Nous and Noein in the Homeric Poems, sowie ders., Nous, Noein and their Derivatives in Pre-Socratic Philosophy, S. 224 und 226. 352 Vgl. Kurt von Fritz, op.cit., S. 226. 353 Vgl. Kurt von Fritz, op.cit, S. 223. 354 Die hier gewählte Übersetzung geht davon aus, dass noein und die Ursachen oder Bedingung für noein dasselbe sind. Für Argumentationen für diese Lesart vgl. Kurt von Fritz, Nous, Noein and their Derivatives in Pre-Socratic Philosophy, S. 238 sowie Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 98. 355 A. P. D. Mourelatos, The Route of Parmenides, S. 164.

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sowie eine bewusste Gerichtetheit auf Etwas, indem man die Oberfläche durchdringt.356 A. Denken und Sein – νοεῖν und εἶναι Parmenides spricht an zwei Stellen explizit vom Verhältnis von εἶναι und νοεῖν – einmal im dritten und einmal im achten Fragment. Das schon einmal genannte dritte Fragment lautet: τό γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι357 Denn dasselbe ist Erkennen / Denken und Sein. Zu Denken und, dass das Gedachte ist, ist dasselbe.358 Denn was für das Denken existiert und Sein, ist dasselbe.359

In den Zeilen 34–37 des achten Fragmentes wird das νοεῖν in ein ähnliches Verhältnis zum εἶναι gesetzt: ταὐτὸν δ᾽ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκέν ἐστι νόημα· οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ὧι πεφατισμένον ἐστίν, 356 Die Stellung des durch den νοῦς Erkannten stellt ein zentrales Problem für die Parmenidesforschung dar. Parmenides spricht nämlich an manchen Stellen von der Möglichkeit, dass das im νοῦς Erkannte auch falsch sein kann. An anderen Stellen identifiziert er den νοῦς mit dem Sein, was Täuschung und Irrtum des νοῦς ausschließen würde. Wenn der νοῦς mit dem Sein identisch ist, kann er niemals falsch sein. Hilfreich ist hier eine Untersuchung von Kurt von Fritz. Er weist darauf hin, dass sich schon in den homerischen Gedichten zwei Ebenen des vom νοεῖν ermöglichten Verständnisses aufweisen lassen. Es gibt ein individuelles νοεῖν, das vom Standpunkt des Denkenden abhängt. Außerdem gibt es die Vorstellung eines allgemeinen νοεῖν, das die letzte Wahrheit erschließt. Vgl. Kurt von Fritz, Nous and Noein in the Homeric Poems, sowie ders., Nous, Noein and their Derivatives in Pre-Socratic philosophy, S. 236 f. In den Fragmenten scheint Parmenides das νοεῖν in beiden Bedeutungen zu verwenden. Die Stellen, in denen der Begriff ‚νοῦς‘ so verwendet wird, dass ein Irrtum möglich ist (Vgl. z. B. DK 28B7, 2), deuten das νοεῖν im individuellen Sinn und dort wird das νοεῖν meist mit Denken oder Gedanken übersetzt. Denn im Denken kann man sich auch irren. Wenn der νοῦς jedoch mit dem Sein identifiziert wird, wie dies im dritten Fragment geschieht, ist ein Irrtum unmöglich. Hier wird der Begriff ‚νοεῖν‘ nach Kurt von Fritz eben in der allgemeinen Bedeutung verwendet, um die eine Wahrheit zu bezeichnen, die hinter allen Erscheinungen und hinter dem individuellen νοῦς steht. Ob diese Interpretation nach Kurt von Fritz wirklich angemessen ist, bleibt umstritten. 357 DK 28Β3. Daniel W. Graham hingegen übersetzt: „[…] for the same thing is there for thinking and for being.“ Vgl. The Texts of Early Greek Philosophy, S. 213. Für eine ausführliche Besprechung der möglichen Übersetzungen und Interpretationen dieses Fragmentes vgl. Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 81. 358 Vgl. Guido Calogero, Studien über den Eleatismus, S. 5. (Er übersetzt: „Dasselbe ist das Denken und das, weswegen dieses ein Denken ist: […].“) Vgl. außerdem Hermann Fränkel, Parmenidesstudien, S. 166 ff. 359 Peter Kingsley, Reality, S. 70.

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εὑρήσεις τὸ νοεῖν· οὐδὲν γὰρ (ἢ) ἔστιν ἢ ἔσται ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος, ἐπεὶ τό γε μοῖρ᾽ ἐπέδησεν οὖλον ἀκίνητόν τ᾽ ἔμεναι.360 Dasselbe aber ist zu erkennen / zu denken und weshalb Erkenntnis / Denken ist. Denn nicht ohne das Seiende, worin eine Aussage ihr Sein hat, wirst du das Εrkennen finden. Denn nichts anderes ist noch, wird sein außer dem Seienden, weil eben dies das Schicksal gebunden hat, ganz und unbeweglich zu sein.

Oft wird die Identität zwischen νοεῖν und εἶναι, zwischen Denken und Sein so verstanden, dass Parmenides die Erkenntnis / das Denken und den Grund bzw. die Ursache dieser Erkenntnis / dieses Denkens miteinander identifizieren wollte: Dasselbe kann gedacht werden und ist der Grund für diesen Gedanken.361 Diese Deutung ist eng mit der ontologischen Deutung des zweiten Fragmentes verbunden. Parmenides wird hier so verstanden, als ob er der Meinung sei, dass nur das Existierende (Seiende / Sein) gedacht werden könne. „Das Sein – οὕνεκεν [dasselbe wie T. R.] der Gedanke ist – erweist sich als der Grund und zugleich als der wesentliche Zielort des Denkens: nur aufgrund des Seins gibt es den Gedanken, und dieser, nachdem Nichtsein sich als undenkbar gezeigt hat, verpflichtet sich ausschließlich diesem Sein. […] Sein ist die Voraussetzung (‚weil‘) des Gedankens; es ist zugleich dasjenige ‚um dessentwillen‘ der Gedanke ist, es ist das einzige zu setzende Ziel des Denkens.“362 Das Denken ist dann dasselbe wie das Seiende, nicht nur weil das Seiende das Denkbare ist (Fragment 3), sondern auch weil das Seiende der Grund für die Gültigkeit dieses Denkens ist (Denken kann nur Seiendes denken), wie Parmenides im Laufe des achten Fragmentes argumentiert.363 „So zeigt sich der Zusammenhang nach vorn und hinten klar: Die Identität des Seienden verbürgt die Wahrheit des Denkens [bzw. der Erkenntnis, T. R.]; es ist schließlich das Seiende selber, das den Gedanken des Seienden und damit die ganze Lehre des Parmenides in ihrem einsamen Paradox garantiert.“364 Dieser Zirkelschluss von der alleinigen Denkmöglichkeit des Seienden zur Affirmation, dass es nur Seiendes gibt, und davon ausgehend zu dem Schluss, dass dieses Seiende wiederum die Wahrheit jenes Denkens garantiert, das zuvor als Beweis für die alleinige Existenz von Seiendem ange360

DK 28Β8, 34–38. Für eine gute Darstellung der engen Verbindung von Erkennen und Sein bei den Vorsokratikern und in diesem Fragment des Parmenides vgl. Thomas Buchheim, Die Vorsokratiker, S. 28 ff. 362 Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 86. 363 Für eine Argumentation des Zusammenhangs von Fragment B3 und B8, 34 vgl. Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 85 ff. 364 Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 99. 361

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führt wurde, führt nie aus dem Bereich des Denkens heraus. Parmenides wird so vom Seinsdenker zum Idealisten. B. Heideggers Kritik an drei Formen der klassischen Deutung des Verhältnisses von εἶναι und νοεῖν als Identität Nach Heidegger wurde das Verhältnis von εἶναι und νοεῖν bei Parmenides in der Tradition meist so interpretiert, dass das „Sein ist, was im reinen anschauenden Vernehmen sich zeigt und nur dieses Sehen entdeckt das Sein“365. Das wahre Sein wird so nur dem anschauenden Vernehmen, also der Theorie und dem νοεῖν zugänglich. Das ‚anschauende Vernehmen‘ bezeichnet jedoch eine ganz spezielle Einstellung zu dem Gegebenen und impliziert eine spezielle Vorstellung des Gegebenen: Diese Interpretation setzt ein wahres Sein hinter der Welt der Erscheinung voraus, das sich nur dem anschauenden Denken erschließt und das nur in Absehung von dem sinnlich Erfahrbaren zugänglich ist. Diese Ein- und Vorstellung ermöglicht im Wesentlichen drei Erklärungen der Identität von νοεῖν und εἶναι. Im Folgenden werde ich mit Heidegger diese Weisen, die Identität von νοεῖν und εἶναι zu verstehen, erläutern und kritisieren. Eine erste Möglichkeit das Verhältnis von εἶναι und νοεῖν bei Parmenides zu deuten, besteht nach Heidegger darin, das Denken selbst als ein Seiendes unter Seienden zu deuten. Heidegger ist der Meinung, dass viele der Deutungen der Einheit von νοεῖν und εἶναι von dem neuzeitlichen Vorurteil geprägt sind, dass das Denken ein vorhandenes Seiendes ist und daher in das übrige Seiende eingeordnet und eingereiht werden kann. Wenn ‚Sein‘ nun als Sammelbegriff für alle Seienden verwendet wird und das Denken ein (ausgesprochenes) Seiendes ist, kann gesagt werden, dass das Denken dasselbe sei wie das Sein und somit dasselbe wie das Seiende: „Dasselbe ist Denken und der Gedanke, daß IST ist; denn nicht ohne das Seiende, in dem es als Ausgesprochenes ist, kannst du das Denken finden. Es ist ja nichts oder wird nichts anderes sein außerhalb des Seienden, da es ja die Moira daran gebunden hat, ein Ganzes und unbeweglich zu sein. […]“366 Heidegger weist darauf hin, dass sich für diese Auslegung bei Parmenides keine Belege finden lassen, denn es ist so, „daß Parmenides nirgends die Rede darauf bringt, das Denken sei auch eines der vielen ἐόντα, des mannigfaltigen Seienden, davon jegliches bald ist, bald nicht ist und darum stets beides zumal, zu sein und nicht zu sein, in den Anschein bringt […]“367. 365

Martin Heidegger, Sein und Zeit, GA 2, S. 227. Martin Heidegger, Moira (Parmenides VIII, 34–41), GA 7, S. 237. Die zitierte Übersetzung stammt von W. Kranz. 366

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Eine zweite Möglichkeit der Interpretation ist die wissenschaftlich-philosophische Auslegung im Rahmen der neuzeitlichen Theorie des Subjektes und der neuzeitlichen Erkenntnistheorie. Diese Auslegung besteht darin, das Denken als Ein-sich-in-Beziehung-Setzen des denkenden Seienden zum Sein zu verstehen: Das wahre Sein kann sich nur im Subjekt, im Bewusstsein des Denkenden zeigen. Das Sein ist nur einer ganz speziellen Form des Denkens zugänglich, und zwar dem Denken als vorstellendes Verstehen. Nur dieses vorstellende Verstehen kann das wahre Sein erschließen. Das vorstellende Verstehen ist ein auf bestimmte Weise durchdringendes Verstehen, das strukturell dem Durchdringungsvermögen des νοῦς analog ist. Diese Durchdringungsvermögen unterscheiden sich lediglich darin, dass der Gegenstand des durchdringenden Verstehens nicht das ontologisch existierende Seiende ist wie beim νοῦς, sondern unsere Vorstellung des Seienden. Der Gegenstand der Untersuchung wird vor-gestellt, um dann durchdringend in der Vorstellung untersucht zu werden. Das Seiende wird in dieser Einstellung zu einem Gegenstand, der uns nur bewusstseinsimmanent, d. h. in unserer Vorstellung, gegeben ist und nur als vorgestellter von uns behandelt werden kann. Denn zum Seienden an sich, das unabhängig von unseren Vorstellungen ist, haben wir in diesem Denken keinen Zugang mehr. Wir haben dann einzig eine Vorstellung (repraesentatio) der objektiven Wirklichkeit als Grundlage der Untersuchung. Denkt man noch an Berkeley, der Sein mit ‚wahrgenommen werden‘ bzw. ‚vor-gestellt werden‘ gleichsetzte (esse est percipi), scheint die wissenschaftlich-philosophische Auslegung eindeutig: Das Sein ist dann das, was vorgestellt wird; das Sein wird so zum Ergebnis der Konstruktionen des Bewusstseins.368 367

Hier wird neuzeitlich das „Sein im Sinne der Vorgestelltheit von Gegenständen als Gegenständigkeit für das Ich der Subjektivität“369 verstanden. „Man versteht das νοεῖν als Denken, das Denken als Tätigkeit des Subjekts. Das Denken des Subjekts bestimmt, was Sein ist. Sein ist nichts anderes als das Gedachte des Denkens. Da nun das Denken eine subjektive Tätigkeit bleibt, Denken und Sein nach Parmenides dasselbe sein sollen, wird alles subjektiv. Es gibt kein an sich Seiendes. Eine solche Lehre aber, so erzählt 367

Martin Heidegger, Moira (Parmenides VIII, 34–41), GA 7, S. 239. Ein erster Einwand gegen diese Darstellung verweist darauf, dass das Wahrnehmen (percipere) höchstens eine Form des Denkens ist, wenn es überhaupt zum Denken gerechnet werden kann, und somit nicht die Stelle des νοεῖν des parmenideischen Spruches einnehmen kann. Diesem Einwand kann entgegnet werden, dass auch der Begriff ‚νοεῖν‘ zwischen Denken, Erkennen und Wahrnehmen oszilliert. Daher scheint mir die begriffliche Differenz zwischen ‚νοεῖν‘ und ‚percipi‘ nur eine Frage der Übersetzung bzw. des Verständnisses von νοεῖν. 369 Martin Heidegger, Moira (Parmenides VIII, 34–41), GA 7, S. 243. 368

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man, finde sich bei Kant und im Deutschen Idealismus.“370 Diese Interpretation der Identität von νοεῖν und εἶναι, bei der das εἶναι zum Konstrukt des νοεῖν wird, setzt also schon die gesamte neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie seit Descartes und Kant voraus. Heidegger fragt sich, ob diese neuzeitliche Auslegung des Parmenides wirklich angemessen sein kann, ob esse = percipi wirklich letztlich dasselbe benennt wie der genannte Teil des achten Fragmentes oder das dritte Fragment (τό γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι). Heidegger beantwortet diese Frage, indem er betont, dass Berkeley das Sein dem Wahrnehmen anvertraut, indem er das Sein als ‚wahrgenommen werden‘ deutet, während umgekehrt Parmenides das Wahrnehmen (Denken) dem Sein anvertraut: „Parmenides überantwortet das Denken dem Sein. Berkeley verweist das Sein in das Denken. In einer Entsprechung, die sich mit dem griechischen Spruch einigermaßen decken könnte, müsste der neuzeitliche Satz lauten: percipi = esse.“371 Es steht also etwas ganz anderes hinter dem Spruch des Parmenides als hinter der Idee Berkeleys. Während für Berkeley das (im Denken vorgestellte) Sein in das Denken gehört, meint Parmenides, dass das Denken in das Sein gehört, jedoch nicht in der Weise eines Seienden unter anderen Seienden, wie in der ersten Interpretation behauptet wurde. Auf die Frage, auf welche Weise das Denken dann in das Sein gehört, wenn es nicht als Seiendes verstanden werden soll, werde ich im Folgenden (§ 27, C.) noch eingehen. Eine dritte klassische Interpretation des Verhältnisses von νοεῖν und Sein, welche sich am platonischen Denken orientiert, wurde vor allem im Rahmen des Neuplatonismus vertreten. Diese Interpretation liest das Verhältnis so, als wolle Parmenides sagen, dass das (eigentliche) Sein, also die Ideen, zum Denken gehört. Denn die Ideen sind uns nicht sinnlich gegeben. Die Ideen sind keine αἰσθητὰ (sinnlichen Gegenstände), wie die gewöhnlichen Seienden, sondern sie sind nur dem νοεῖν, der nicht sinnlichen Schau, zugänglich. Parmenides würde dann behaupten, dass das unbewegte, unveränderliche und ewige Sein nicht zum Sinnlichen und Veränderlichen gehört, sondern zum Bereich des νοεῖν, dem Bereich des Idealen. Auch in dieser Interpretation wird nach Heidegger das Denken betont und von seiner Existenz, seiner ihm eigenen Weise vorzukommen, abgelöst. Dies geschieht allerdings in einer anderen Hinsicht als in der neuzeitlichen Betrachtung: Während das Sein in der neuzeitlichen Tradition als Vorgestelltes, Gedachtes, Wahrgenommenes oder durch die Vernunft Synthetisiertes gedeutet wird, wird es in der sokratisch-platonischen Tradition 370 371

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 145. Martin Heidegger, Moira (Parmenides VIII, 34–41), GA 7, S. 242.

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dem Reich des Intelligiblen zugeordnet, an dem das bewegte Seiende keinen Anteil hat. Diese drei klassischen Interpretationen deuten Parmenides im Ausgang von metaphysischen Vorannahmen. Heidegger versucht nun in seiner eigenen Deutung das Vor-metaphysische in den Gedanken des Parmenides zugänglich zu machen. An die Stelle des νοεῖν als intellektuelles Überschreiten des Scheinbaren hin auf das eigentlich wirkliche (ideale, wahrgenommene, vorgestellte oder synthetisierte) Sein tritt in seiner Deutung das νοεῖν als versammelndes Vernehmen des Seins. Die Identitätsbehauptung des Parmenides soll also nach Heidegger nicht „das Sein im Sinne der Gegenständigkeit für das durchgreifende Vorstellen“372 eröffnen, sondern es erläutert, wie das Denken in das Sein gehört und wie es dem Denken möglich ist, das Sein aufzuzeigen. Parmenides spricht dieser Deutung zufolge also davon, wie das Denken das Sein erfassen und aufzeigen kann. C. Das νοεῖν und das ἐόν Diesen Abschnitt möchte ich mit der Auslegung des ursprünglichen Verhältnisses von εἶναι und νοεῖν bei Parmenides beginnen, die Heidegger in dem Aufsatz Moira (Parmenides VIII, 34–41) vorschlägt. Nach Heidegger drückt das ἐόν, wie in § 4 schon erwähnt, sowohl das reale zeitliche Vorkommen des Seienden (bewegte Existenz) als auch die ideale Bestimmung des Seienden als das Ergebnis dieses Vorganges des Vorkommens aus (Sein bzw. Wesen). Es drückt also sowohl den Vorgang der Existenz eines Seienden als auch das Ergebnis dieses Vorganges, das Sein, aus. Es ist nach Heidegger diese Doppeldeutigkeit des ἐόν, die das Denken verschuldet – die also das Denken ermöglicht und nötig macht. Denn, „[…]: weder das ‚Seiende an sich‘ [die bewegte Existenz der ἐόντα] macht ein Denken erforderlich, noch benötigt das ‚Sein für sich‘ [εἶναι] das Denken. Beide je für sich genommen, lassen niemals erkennen, inwiefern ‚Sein‘ das Denken verlangt. Aber der Zwiefalt beider wegen, des ἐόν wegen, west das Denken.“373 Erst aufgrund der Ambivalenz des ἐόν wird das spezielle durchdringende Denken im Sinne des νοεῖν nötig. 372

Martin Heidegger, Moira (Parmenides VIII, 34–41), GA 7, S. 242. Martin Heidegger, Moira (Parmenides VIII, 34–41), GA 7, S. 248. Parmenides selbst hat diese Ambivalenz zwischen Sein und Seiendem nicht explizit bedacht und ist somit der erste Denker, der die eigentlich ambivalente Bedeutung des Seins vergessen hat: „[D]ie Geschichte des Seins beginnt mit der Seinsvergessenheit, damit, daß das Sein mit seinem Wesen, mit dem Unterschied zum Seienden, an sich hält. Der Unterschied entfällt. Er bleibt vergessen.“ „Die Seinsvergessenheit ist die Vergessenheit des Unterschiedes des Seins zum Seienden.“ Martin Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, S. 364. 373

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Wenn nun das ἐόν die Ambivalenz zwischen Sein und Seiendem benennt und das Denken in dieser Ambivalenz wurzelt, lässt sich daraus nach Heidegger ein Hinweis dafür ableiten, welche Verbindung die Wendung ‚ταὐτόν‘ (dasselbe) zwischen Sein und Denken des achten Fragmentes benennen soll: Dieser Ausdruck benennt dann nämlich die grundlegende Ambivalenz, die sowohl das Anwesende in seinem Anwesen begründet als auch dem Denken zugrunde liegt. Das ταὐτόν deutet in diesem Zusammenhang auf die gegenseitige Vermittlung zwischen Sein und bewegter Existenz hin, die dieses Verhältnis auszeichnet.374 ‚Dasselbe‘ in den beiden Fragmenten meint dann, dass durchdringendes Denken und anwesendes Sein denselben Ursprung, dieselbe Grundlage, dieselbe ἀρχή haben.375 Sie sind dasselbe, weil sie aus demselben Grund entstehen, weil sie denselben Ursprung teilen – die Ambivalenz von Seiendem und Sein, d. h. das ἐόν. „Allein diese [Zusammengehörigkeit] erlaubt nämlich ein Verständnis von Identität, die nicht formal oder gleichsam mathematisch ist; zwei Relata, die ‚zusammengehören‘, werden nicht in ihrer Eigenheit annulliert, sie erscheinen nicht als aus- oder vertauschbar, sondern als gegenseitig verbunden und unzertrennlich.“376 Denken gründet so in der Entfaltung der genannten Ambivalenz des Seins. Denken und Sein sind so aufeinander verwiesen und aufeinander bezogen: ohne durchdringendes Denken kein Sein und ohne Sein kein durchdringendes Denken. Das achte Fragment gibt noch einen weiteren Hinweis auf das wechselseitige Verhältnis von νοεῖν und ἐόν: In Zeile 35 heißt es, νοεῖν sei ‚ἐν ὧι πεφατισμένον‘377 (als Ausgesprochenes / Ausgedrücktes) im Seienden. Dieses Fragment verweist zunächst auf eine typisch griechische Überzeugung. Nämlich, dass Denken und Sprechen in sehr enger Verbindung stehen. Das Denken wurde als jener innere Vorgang verstanden, dessen äußeres Pendant der Vorgang des Sprechens war.378 Sprechen und Denken wurden daher oft zusammen genannt, ohne dass dies jedoch eine strenge Identität implizieren muss. Es ist also nicht verwunderlich, dass Parmenides νοεῖν (Denken) und λεγεῖν (Sagen) häufig zusammen erwähnt und in einen engen Bezug setzt. 374

Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 89. Auch andere Denker lesen dieses ‚dasselbe‘ als Subjekt der beiden Fragmente in dem Sinne, dass sich das τό αὐτὸ nicht auf νοεῖν oder εἶναι bezieht, sondern auf etwas Eigenes. In diesem Sinne wird das Fragment erstmals von Zeller übersetzt: „Denn dasselbe kann gedacht werden und Sein, nur das, was sein kann, lässt sich denken.“ Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Erster Teil, Erste Abteilung, S. 687. Ähnlich übersetzt Uvo Hölscher (in: Parmenides. Vom Wesen des Seienden). 376 Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 84. 377 DK 28B8, 35. 378 Vgl. Platon, Sophistes, 263e oder Theaitetos, 189e. 375

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Dies führte jedoch viele Interpreten dazu, anzunehmen, dass diese Begriffe für Parmenides austauschbar sind.379 Genau betrachtet besagt die genannte Stelle (ἐν ὧι πεφατισμένον ἐστίν)380, dass das Denken in einem Seienden ausgedrückt oder enthüllt wurde.381 Diese Zeile verweist auf den wesentlichen Bezug, den das νοεῖν zur Sprache hat. Vermittelt über die Sprache hat das νοεῖν aber auch einen wesentlichen Bezug zu jenem Seienden, das der Sprache mächtig ist, jedoch nicht notwendigerweise zum sprachlichen Ausdruck.382 D. h. der wesentliche Bezug zur Sprache bedeutet hier nicht notwendigerweise, dass das νοεῖν als Gedachtes ausgesprochen werden muss. Er bedeutet nur, dass das νοεῖν immer auch eine sprachliche Form hat, also einen wesentlichen Bezug zur Sprache besitzt. Mit diesen Überlegungen im Hintergrund lässt sich Fragment DK 28B8, 34 f. auch anders übersetzen und deuten: ταὐτὸν δ᾽ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκέν ἐστι νόημα· οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ὧι πεφατισμένον ἐστίν, εὑρήσεις τὸ νοεῖν·οὐδὲν γὰρ (ἢ) ἔστιν ἢ ἔσται ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος, ἐπεὶ τό γε μοῖρ᾽ ἐπέδησεν οὖλον ἀκίνητόν τ᾽ ἔμεναι· Und was für das Denken existiert, ist dasselbe wie die Ursache des Denkens. Denn du wirst das Denken nicht ohne das Seiende finden, das den Gedanken geäußert hat. Denn es ist nichts und es wird nichts anderes sein, außer Seiendes, denn das Schicksal hat es zu einem Ganzen gebunden; unbeweglich.383

Wenn Parmenides davon spricht, dass das Denken etwas ist, das ‚in‘ einem Seienden ausgedrückt wird, zeigt sich also ein weiterer Aspekt dessen, was mit der Formulierung ‚dasselbe ist Denken und Sein‘ gemeint sein kann. So gelesen läuft diese Stelle darauf hinaus, dass das νοεῖν an das ἐόν gebunden ist. Das νοεῖν benötigt das ἐόν, da es in ihm ausgedrückt und enthüllt ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass das νοεῖν mit dem ἐόν identisch ist. Das Seiende, das die Gedanken hat bzw. ausdrückt, ist von diesen Gedanken nicht abtrennbar. Ohne dieses denkende Seiende gäbe es keine Gedanken. Insofern ist das Seiende und das Denken dasselbe. Dies ist die spezielle Weise, in der Denken auch Seiendes ist, ohne dabei seine eigene Weise des Vorkommens zu verlieren oder dabei zum bloßen Seienden, wie andere Seiende auch, zu werden. Das bedeutet jedoch natürlich nicht, dass das Denken und das denkende Seiende identisch sind, sondern nur, dass das 379 380 381 382 383

Vgl. Peter Kingsley, Reality, S. 568. DK 28B8, 35. Dagegen argumentiert A. P. D. Mourelatos, The Route of Parmenides, S. 171. Vgl. Martin Heidegger, Moira (Parmenides VIII, 34–41), GA 7, S. 248 f. Vgl. Peter Kingsley, op.cit., S. 180.

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Seiende das Medium oder der Ort des Denkens ist – ohne dieses Seiende ist eben kein Denken möglich und nur bei und mit diesem Seienden kann es Denken überhaupt geben. Insofern gehört das Denken ins Sein und insofern ist das Denken dem Sein anvertraut und nicht umgekehrt.

§ 28 Die Eigenschaften als Zeichen am Weg Das achte Fragment beschäftigt sich vor allem mit den Kennzeichen dessen, wovon die Göttin spricht. Obwohl der Gegenstand der Rede im Lehrgedicht immer noch nicht bestimmt wurde, gehen klassische Deutungen meist davon aus, dass dies die Kennzeichen des ἐόν sind. A. Die Zeichen am Weg als Eigenschaften des ἐόν Die Göttin zeigt also Parmenides im achten Fragment den Weg der Wahrheit, indem sie ihm die Kennzeichen des ‚es ist‘ erklärt, die auf diesem Weg Orientierung bieten sollen: … μόνος δ᾽ἔτι μῦθος ὁδοῖο λείπεται ὡς ἔστιν·ταύτηι δ᾽ ἐπὶ σήματ᾽ἔασι πολλὰ μὰλ᾽, ὡς ἀγένητον ἐόν καὶ ἀνώλεθρόν ἐστιν, οὖλον μουνογενές τε καὶ ἀτρεμὲς οὐδ᾽ἀτέλεστον·384 So bleibt nur noch die Rede von dem Weg: (es) ist. Auf ihm gibt es viele Zeichen, dass es ungeworden und unvergänglich ist, ganz und einheitlich und unerschütterlich und vollendet.385

Parmenides spricht hier nicht von den Prädikaten oder von den Eigenschaften des ‚es ist‘, sondern von den σήματα, also von Zeichen, und damit von dem „was im Hinsehen auf das Sein aus ihm her es selbst zeigt“386. Im Umgang mit dem ‚es ist‘ zeigt sich dieses also auf eine bestimmte Weise, welche Parmenides im Folgenden schildern will. Diese σήματα stehen ‚zahlreich am Weg‘ und führen den Suchenden, insofern er sich an sie hält, zur Wahrheit. Diese σήματα sind, dass es a) ungeworden, unvergänglich 384

DK 28B8, 1 ff. Auch hier verwendet Parmenides wieder das ‚es ist‘, um den Weg zu kennzeichnen, der zur Wahrheit führt. Alle weiteren σήματα beziehen sich jedoch auf das Seiende. Dies wird als weiterer Hinweis darauf gelesen, dass mit dem ‚es ist‘ nicht ein (ontologisches) Sein gemeint ist, sondern dass dieses aussagenlogisch gelesen werden muss. Das Fragment kann dann folgendermaßen rekonstruiert werden: Wenn ich von etwas sage, dass es ist, welche Eigenschaften hat dann dieses Seiende, von dem ich gesagt habe ‚es ist‘? 386 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 104. 385

Kap. 7: Parmenides von Elea

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und unzeitlich, b) ganz und einheitlich und c) unbeweglich und vollkommen ist. Im Verlauf des Fragmentes wird nun für die Angemessenheit dieser σήματα argumentiert. Zunächst wird die Frage gestellt, woher das, wovon die Göttin spricht, kommt. Trotz der Probleme, die diese Einsetzung generell mit sich bringt, ist es immer noch üblich, hier das ἐόν einzusetzen und diese Stellen ontologisch zu deuten. Somit wird diese Frage nach dem Woher des Untersuchungsgegenstandes zur Frage nach dem Woher des Sein / Seienden und üblicherweise wird sie zugleich zur Frage nach der (Un-)Möglichkeit von Werden überhaupt. Das Argument beginnt also in dieser Lesart mit der Frage nach der Entstehung des ἐόν: οὐδέ ποτ᾽ ἦν οὐδ᾽ ἒσται, ἐπεὶ νῦν ἐστιν ὁμοῦ πᾶν, ἕν, συνεχές· τίνα γὰρ γένναν διζήσεαι αὐτοῦ; πῆι πόθεν αὐξηθέν; οὒτ᾽ ἐκ μὴ ἐόντος ἐάσσω φάσθαι σ᾽ οὐδὲ νοεῖν·οὐ γὰρ φατὸν οὐδὲ νοητόν ἔστιν ὅπως οὐκ ἔστι. τί δ᾽ ἄν μιν καὶ χρέος ὦρσεν ὕστερον ἢ πρόσθεν, τοῦ μηδενὸς ἀρξάμενον, φῦν; οὕτως ἢ πάμπαν πελέναι χρεών ἐστιν ἢ οὐχί387 Es war nicht und wird nicht erst einmal sein, denn es ist im Jetzt völlig da, eins und zusammenhängend. Denn welche Herkunft willst du für es erfinden? Wie, woher gewachsen? Nicht aus Nichtsein, werde ich dich sagen oder denken lassen; denn dies ist weder sagbar noch denkbar, dass Nichtseiendes ist. Und welche Verpflichtung hätte es auch veranlassen sollen, später oder früher aus dem Nichts beginnend, sich zu bilden? Also muss es entweder ganz und gar sein oder nicht.

Wenn Parmenides hier zeigt, dass das ἐόν nicht geworden ist, will er nicht nur logisch-theoretische Zusammenhänge beschreiben, sondern auch aufzeigen, dass das, was im Alltag als Werden388 bezeichnet wird, nicht Teil des Weges der Wahrheit sein kann. Die Möglichkeit einer Entstehung aus dem Nichts leugnet Parmenides also aus zwei Gründen. Zum einen, weil das Nichtseiende nicht gedacht werden kann und zum anderen, weil es keine Ursache, keinen Grund für ein Entstehen aus Nichtseiendem geben könnte, da das Nichtseiende keine Ursache und kein Grund für ein Entstehen sein kann. Zu betonen ist hier, dass die Untersuchung der Entstehung des ἐόν folgendermaßen endet: οὕτως ἢ πάμπαν πελέναι χρεών ἐστιν ἢ οὐχί. Das Sein muss also entweder vollständig sein oder eben nicht sein, etwas dazwischen, wie die Möglichkeit als 387

DK 28B8, 5–11. Dies gilt für das Werden sowohl im Sinne von Entstehen (es wird Nacht) als auch im Sinne von Veränderung (er wird alt). 388

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2. Teil: Historische Untersuchung

Werdendes zu sein, wird nicht bedacht. Angesichts dieser Argumente schließt Parmenides, dass kein Entstehen des ἐόν aus Nichtsein angenommen werden kann. Der nächste Schritt besteht darin, zu untersuchen, wie es um die Möglichkeit des Entstehens aus einem anderen Seienden bestellt ist. Diese Stelle kann man auf zwei Arten lesen: Entweder als Argumentation dafür, dass es keine zwei Seienden nebeneinander gibt, die es jedoch geben müsste, wenn ein Seiendes aus einem anderen entstanden wäre, oder als Argumentation dafür, dass das Seiende sich nicht verändert und daher aus ihm nichts entstehen kann: οὐδέ ποτ᾽ ἐκ δὴ ἐόντος ἐφήσει πίστιος ἰσχύς γίγνεσθαί τι παρ᾽αὐτό· τοῦ εἵνεκεν οὔτε γενέσθαι οὔτ᾽ ὄλλυσθαι ἀνῆκε δίκη χαλάσασα πέδηισιν, […]389 Die Macht der Gewissheit wird es nicht zulassen, dass je aus einem Seienden irgendetwas über es hinaus wird, daher hat weder zum Werden noch zum Vergehen die Rechtmäßigkeit es seine Fesseln lockernd losgelassen

In der ersten Lesart, in der die Betonung auf der Frage nach dem Entstehen des ἐόν liegt, wird das Argument meist so dargestellt: Wenn das ἐόν aus einem anderen Seienden entstanden wäre, müsste es zwei Seiende geben. Zum einen dasjenige, welches entsteht; und zum anderen dasjenige, woraus es entsteht. Um zwei Seiende von einander unterscheiden zu können, müsste es zwischen ihnen eine Grenze, ein absolut Anderes geben: ein Nichtsein. Doch ein solches Nichtsein kann es nicht geben, also kann es auch keine zwei Seienden geben. Dieses Fragment kann jedoch auch so verstanden werden, dass Parmenides, indem er leugnet, dass sich das ἐόν überhaupt verändert, auch leugnet, dass Seiendes werden und vergehen kann. Dann handelt es sich bei dieser Argumentation um einen Beweis gegen die Vorstellung, dass das Seiende sich verändern könnte. Diese zweite Deutung wird u. a. von Uvo Hölscher vertreten, welcher der Meinung ist, dass das ‚etwas außer ihm‘ im Fragment nicht ein anderes (zweites) Seiendes benennen soll, sondern eine Veränderung des Seins in dem Sinne, dass ‚etwas über es hinaus‘ aus ihm entsteht, d. h. ein Werden oder Vergehen.390 Denn wenn etwas ist, so sagt Parmenides in dieser Deutung, wie könnte es dann vergehen? Wie könnte es geworden sein oder werden?391 Mit Bezug auf das Werden sagt Parmenides: εἰ γὰρ ἒγεντ᾽, οὐκ ἔστ᾽, οὐδ᾽ εἴ ποτε μέλλει ἔσεσθαι – Wenn es nämlich wurde, ist es nicht; ebenso wenig 389 390 391

DK 28B8, 12–15. Vgl. Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 91 f. πῶς δ᾽ ἂν ἔπειτ᾽ἀπόλοιτο ἐόν; πῶς δ᾽ ἄν κε γένοιτο; DK 28B8, 19.

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ist es, wenn es erst zukünftig einmal sein wird.392 Es gibt zwei Möglichkeiten des Werdens, die Parmenides an dieser Stelle untersucht: nämlich das Werden in der Vergangenheit und das Werden in der Zukunft. Wenn etwas in der Vergangenheit wurde, ist es aus etwas Anderem geworden, denn aus dem Nichtsein kann es ja nicht geworden sein, wie wir gesehen haben. Aber das ist nicht möglich, da das ἐόν ‚nichts außer ihm‘ ist. Die Untersuchung der Frage, ob etwas in Zukunft werden könnte, kann ebenso eindeutig beantwortet werden: Wenn etwas erst werden wird, ist es jetzt noch nicht, es ist also kein Seiendes und somit kann uns solches Denken nicht zur Wahrheit führen. Die dritte Möglichkeit eines Werdens in der Gegenwart, eines jetzt gerade Werdenden, untersucht Parmenides gar nicht erst genauer, wohl da seiner Meinung nach die Vorstellung des Werdens immer ein Nichtseiendes einschließt. Doch der einzige mögliche Modus der bewegten Existenz ist die Gegenwart. Das Vergangene ist schon geworden und nur mehr als Ergebnis der Bewegung präsent. Das Zukünftige ist noch nicht bewegt und kann als Möglichkeit höchstens Ziel oder Anreiz der Bewegung sein. Diese zeitlichen Modi von Vergangenheit und Zukunft sowie ihre ontologischen Entsprechungen ‚Sein‘ und ‚Möglichkeit‘ verdecken in der Theorie zumeist die gegenwärtige Bewegung der bewegten Existenz im Jetzt. Im Laufe der weiteren Argumentation des achten Fragmentes werden weitere Bestimmungen des ἐόν herausgearbeitet: „[N]ach der Widerlegung der zeitlichen Diversität“ folgt nun die Widerlegung „der räumlichen“.393 Das ἐόν ist gleichartig (homogen) und zusammenhängend. Parmenides nimmt an, dass das ἐόν alles auf eine homogene Art und Weise ausfüllt. Es ist überall gleichmäßig verteilt, weil es kein mehr oder weniger an Seiendheit geben kann. Etwas kann nur dann weniger seiend sein wie etwas anderes, wenn es mit Nichtsein vermengt wäre. Gibt es jedoch kein Nichtsein, kann es auch kein mehr oder weniger an Seiendheit geben394. Es gibt also im ἐόν keine graduellen Unterschiede des Seins, daher kann auch nicht gesagt werden, dass an einer Stelle das ἐόν vollkommener ist als an einer anderen. Hieraus kann Parmenides auch schließen, dass das ἐόν nicht teilbar ist. Wäre es nämlich teilbar, dann müsste es einen Unterschied oder zumindest die Möglichkeit einer Unterscheidung in sich tragen. Ein solcher Unterschied würde implizieren, dass es graduelle Unterschiede des Seins gäbe. Dies ist eine Annahme, die Parmenides schon widerlegt hat. Also ist es unmöglich, das ἐόν zu unterscheiden oder gar zu teilen.

392

DK 28B8, 20. Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 93. 394 Parmenides lehnt also einen analogen Seinsbegriff, der es einem ermöglicht, mehr oder weniger Seiendheit zuzusprechen, ab. 393

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Aus diesen Überlegungen folgt auch, dass das ἐόν keine Teile besitzt, welche sich im Verhältnis zueinander verändern könnten. Daher ist Veränderung auch innerhalb des ἐόν unmöglich. Und da es kein Seiendes außerhalb des ἐόν gibt, kann es auch keine Veränderung im Verhältnis zweier Seiender geben. Das ἐόν verändert sich also weder in sich noch im Verhältnis zum Außen. Also muss es in sich ruhend und unbeweglich sein: ταὐτόν τ᾽ ἐν ταὐτῶι τε μένον καθ᾽ ἑαυτό τε κεῖται – Als dasselbe in demselben verharrend, ruht es in sich395. Außerdem darf dem ἐόν nichts fehlen, es muss vollendet sein. Wäre es nämlich unvollkommen, könnte es vervollkommnet und somit verändert werden. Etwas ist genau dann nicht vollendet, wenn seine Entstehung oder Entwicklung nicht vollendet ist396 oder wenn ihm ein Teil fehlt. Beides ist den vorangehenden Argumenten zufolge unmöglich, also kann das ἐόν nicht unvollkommen sein. In diesem Abschnitt wurde ein großer Teil des achten Fragmentes so dargestellt, als wäre das Seiende bzw. das Sein der Gegenstand der Rede der Göttin. Diese gängige Interpretation scheint in diesen Abschnitten so einleuchtend, die Zeichen scheinen so eindeutig auf das Sein bezogen zu sein, dass wir uns dieser Interpretation kaum entziehen können. Dennoch ist der Gegenstand der Rede der Göttin immer noch nicht klar. Wir wissen nicht, wovon die Göttin spricht, wenn sie sagt ‚es ist‘. Wir wissen also auch noch nicht, was diese Kennzeichen am Weg denn eigentlich kennzeichnen. Dann stellt sich natürlich die Frage, was denn sonst von den Eigenschaften gekennzeichnet werden kann, welche die Göttin anführt, wenn es nicht das Sein ist. B. Was kennzeichnet die Göttin in ihrer Rede mit diesen Zeichen? Wenn wir den Gedanken ernst nehmen, dass das Subjekt der Rede der Göttin nicht eindeutig bestimmt ist, wovon spricht sie dann? Eine Möglichkeit mit dieser Frage umzugehen, besteht darin, die Zeichen am Weg nicht als Kennzeichen des Zieles dieses Weges zu verstehen, sondern als Kennzeichen, die den Weg des Denkens selbst kennzeichnen. Das Ziel des Weges, das ‚es ist‘, bleibt weiterhin unbestimmt, aber die Kennzeichen helfen uns zu erkennen, wie der Weg des Denkens beschaffen ist, den wir gehen müssen, um zu dem ‚es ist‘ zu gelangen.397 Die Kennzeichen sind dann nicht als Definitionen oder klare Darstellungen zu deuten. Ganz im Gegenteil, es handelt sich in dieser Lesart um Zeichen, die den Weg des Denkens 395

DK 28B8, 29. Für das Fehlen als Unvollkommenheit vgl. Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 96. 397 Vgl. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 65. 396

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zu dem ‚es ist‘ kennzeichnen, ihn erfahrbar und erfassbar machen sollen. Diese Zeichen sind demzufolge Bilder, die zugleich auf „semantischer, syntaktischer, phonetischer und rhythmischer Ebene gezeichnet werden“. „Durch diese wirkungsvollen ‚Bilder‘ zielt die Göttin darauf ab, im Zuhörer kein intellektuelles ‚Erfassen‘, […] herbeizuführen“398, sondern sie zielt darauf ab, eine Erfahrung zu ermöglichen. „Die Zeichen (semata) des Seins sind bei Parmenides nicht die bildhafte Ausschmückung eines abstrakten Gedankens. In ihnen als dem notwendig zu Denkenden ist mit dem Gedanken vielmehr das Sein [das ‚es ist‘] selber da.“399 Das Ziel der Zeichen des Weges ist also in dieser Interpretation eine Erfahrung, nicht eine begriffliche Definition dessen, was ‚es ist‘. Es geht der Göttin darum, aufzuzeigen, dass jegliche Trennung und Unterscheidung uns nur auf dem Denk-Weg zum ‚es ist‘ behindert. Trennung und Unterscheidung, die Grundmomente einer jeden Definition, sind nur scheinhaft, sie zeigen uns das ‚es ist‘ nicht. Alle üblichen Bezugspunkte, durch die wir Sterblichen trennen und unterscheiden – Vergangenheit und Zukunft, Einheit und Vielheit, Entstehen und Vergehen, Veränderung und Bewegung, Geburt und Tod – treffen das eigentliche ‚es ist‘ nicht. Der Weg zum ‚es ist‘ zeigte sich im ersten Schritt der Deutung des Fragmentes im § 26 d) als ein Weg des Denkens zur Wahrheit, der folgendermaßen zu charakterisieren ist: Was gedacht wird, hat für das Denken Sein, und was nicht gedacht wird, kann für das Denken kein Sein haben. Hier gibt es keine dritte Möglichkeit. In diesem Abschnitt weist uns die Göttin auf jene Zeichen hin, die uns erkennen lassen, ob sich unser Denken auch auf dem Weg zur Wahrheit befindet. Diese Kennzeichen zeigen uns den Weg des richtigen Denkens und bringen, wenn man ihnen erfahrend-denkend folgt, das Denken, das durch sie gekennzeichnet ist, hervor. Wenn dieser Weg beschritten wird, führt er zu der Aufhebung jeglicher Trennung und Unterscheidung: Das noch Ungenannte des ‚es ist‘ kann erreicht werden, wenn wir unser Denken auf das Ungewordene und Unvergängliche, das Ganze, Einzige, Unbewegte und Vollendete ausrichten, wenn der Gegenstand unseres Denkens und somit unser Denken durch diese Zeichen bestimmt sind. Denn das Ungewordene und Unvergängliche, das Ganze, Einzige, Unbewegte und Vollendete können wir nur denken, wenn auch unser Denken durch diese Charakteristika bestimmt ist. Daher muss unser Denken gebunden und festgehalten werden, um es denken zu können. Nur wenn wir uns vom nunc stans des ungewordenen und unvergänglichen Vollendeten ablenken lassen, entsteht Trennung und Unterschied, entstehen Vergangenheit und Zukunft, entsteht Differenz – in unserem Denken. 398 399

M. Laura Gemelli Marciano, loc.cit. Karl Jaspers, Die großen Philosophen, S. 642.

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Durch diese Rede, in der uns die Göttin die Zeichen des Weges erklärt, wird also nicht nur das ‚es ist‘ festgehalten, sondern auch das Denken, das sich mit dem ‚es ist‘ befasst. Das Denken wird durch die Monotonie der Gleichklänge und Wiederholungen stabilisiert und konzentriert. Die Methode der Göttin wird nun klar: „[S]ie hat zugleich“ den Gegenstand der Rede, das ‚es ist‘ „und die Gedanken des Autors gefesselt. Somit hat sie es ihm ermöglicht, das wahre Seiende in seiner Unbewegtheit und Vollkommenheit zu erfahren.“400 Das Ziel dieser Fesselung ist die absolute Stille des Denkens, die es erlaubt, die Ruhe des Seins zu erfahren, … τό γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι401 – Denn was für das Denken existiert und Sein, ist dasselbe. Die Göttin spricht in dem Lehrgedicht in dieser Interpretation also weder vom ontologischen Sein noch von den einzelnen Seienden. Sie spricht auch nicht von der Wahrheit, wenn man Wahrheit als sprachliche Beschreibung objektiver Sachverhalte versteht. Die Göttin spricht in dieser Deutung von der Wirklichkeit des Denkens, das alles umfasst. „Hier wird das Seiende nicht als eines im quantitativen Sinne (als ein einziges Ding) aufgefasst, sondern als ein Zustand, in dem die Welt als ein mit sich selbst zusammenhängendes Ganzes empfunden wird, das keine Trennung erfährt (ἕν, συνεχές). Es handelt sich um ein Gefühl der Vollkommenheit, das in den mystischen Texten aller Zeiten und Kulturen weit verbreitet ist.“402 Durch die Göttin hat Parmenides und mit ihm zugleich der Leser des Lehrgedichtes die Stille des Denkens und somit auch die stille Einheit des Seins erfahren. Nun ist es Zeit, sich der Welt der doxa und den trügerischen Worten, die zu Trennung und Unterscheidung führen, zu stellen. Die Göttin beschreibt nun „vom menschlichen Gesichtspunkt aus dieselbe Welt, die Parmenides gerade als Einheit erlebt hat. Die Vollkommenheit muss, um eine solche zu sein, auch die Illusion mit einbeziehen.“403

§ 29 Das Meinen der Vielen und die Sprache Somit endet die Untersuchung des Weges der Wahrheit. Nun beginnt die Göttin mit DK 28B8, 50 die Betrachtung der Meinung der Vielen. Die Göttin warnt uns an dieser Stelle: δόξας δ᾽ἀπὸ τοῦδε βροτείας μάνθανε κόσμον ἐμῶν ἐπέων ἀπατηλὸν ἀκούων – Von nun an lerne die Meinung der Sterbli400 401 402 403

M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 68. DK 28Β3. M. Laura Gemelli Marciano, op.cit., S. 66. M. Laura Gemelli Marciano, op.cit., S. 68 f.

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chen kennen, indem du der trügerischen Ordnung meiner Worte folgst. Die Göttin zeigt sich also an dieser Stelle als eine ehrliche Betrügerin. Der folgende Teil, der jene Welt der Illusionen behandelt, in der wir leben, hat Interpreten immer wieder verwirrt. Wenn die Göttin Parmenides die Wahrheit enthüllt hat, warum sollte sie dann auch noch über die Täuschung sprechen? Welchen Sinn sollte es haben, über etwas zu sprechen, das uns jeden Tag begegnet, vor allem, wenn es schon als bloßer Schein, als Betrug entlarvt wurde? Aristoteles meinte in Bezug auf diese Frage, dass die Beschreibung der Wahrheit bei Parmenides an Wahnsinn grenze: Er ist der Meinung, dass Parmenides wohl vor dem Abgrund des absoluten Seins zurückgeschreckt sein muss und deshalb gegen Ende des Lehrgedichtes versuchen wollte, noch einige bekannte Ideen einzustreuen. Dies tat er wohl auch, um seine Leser davon zu überzeugen, dass er nicht völlig verrückt sei.404 M. Theunissen scheint eine ähnliche Position zu vertreten: „Als etwas, das es gar nicht gibt, ist das nur Seiende ein Wahngebilde. Wie jeder Wahn, so geht auch dieser aus Realitätsverleugnung hervor. Metaphysik im Stil der parmenideischen ist eine Krankheit […].“405 War also jener Denker, dem Sokrates eine ‚seltene und herrliche Tiefe des Geistes‘ zuschrieb, wahnsinnig? Wie kommt es dann, dass er über Jahrhunderte als Logiker und Argumentationstheoretiker, als der erste echte Philosoph gefeiert wurde? Der erste große Logiker erscheint also vielen Interpreten wahnsinnig, wenn man ihm unterstellt, er spreche von der konkreten und erfahrbaren Welt, in der wir leben. Und es ist wohl tatsächlich wahnsinnig, jegliche Veränderung und jegliches Werden in der konkreten Welt zu leugnen. Doch scheint es so, als müsse jeder, der bloß den logischen Grundsätzen folgt und der Meinung ist, mit Hilfe logischer Argumentationen die konkrete Welt angemessen abbilden zu können, letztlich genau eine solche ideal-unbewegte Welt, also eine völlige Trennung von Sein und Bewegung, annehmen. Denn die Logik des Seins schließt streng genommen jedes Werden aus. Dies gilt natürlich nur, solange kein analoger bzw. graduell differenzierbarer Seinsbegriff eingeführt wird. Sobald die Wirklichkeit in eine scheinhafte Welt des Werdens und in die eigentliche Wirklichkeit des Seins unterteilt wird, können die werdende Welt und das logisch bestimmte Sein nebeneinander stehen, ohne zu Widersprüchen oder zu wahnsinnigen Systemen zu führen. Eine andere Art der Vermittlung von Sein und Bewegung wird jedoch bei Parmenides dann möglich, wenn man die Annahme fallen lässt, dass Parmenides’ logische Argumente die ontologische Beschaffenheit der konkreten Welt betreffen. Stattdessen könnte man die Möglichkeit 404 405

Aristoteles, De Gen. et Corr., 325a19 und Metaphysik, 986b27–34. M. Theunissen, Die Zeitvergessenheit der Metaphysik, S. 116.

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in Betracht ziehen, dass Parmenides vielmehr von unserer Erfahrung des Denkens und von dem Verhältnis des Denkens zur Welt und zur Wahrheit spricht. A. Die traditionelle Deutung als Trennung des Sinnlichen vom Denken Wie gesagt gestaltet sich das Verständnis des Verhältnisses des Aletheiaund des Doxa-Teiles schwierig. Schon Aristoteles hat diese Spannung im Denken des Parmenides’ besprochen. An einer Stelle stellt er die Vermutung auf, dass diese Spannung entsteht, weil Parmenides sich mit zwei unterschiedlichen Untersuchungsgegenständen beschäftigt. Der erste Teil ist eine sprachlich-logische Untersuchung der Welt, welche die Wahrheit zum Ziel hat, der zweite Teil eine naturphilosophische Untersuchung der wahrnehmbaren Phänomene. Die Frage, warum es der Göttin jedoch wichtig erscheinen sollte, uns über den Irrtum der Menschen aufzuklären, wird auch an dieser Stelle von Aristoteles nicht beantwortet. Über das Verhältnis der Seinslehre und der Kosmologie bei Parmenides herrscht seit diesen ersten Interpretationsversuchen Uneinigkeit. Obwohl Parmenides auf der einen Seite das Werden und die Veränderung absolut leugnet, scheint die Kosmologie vielen Denkern zu ausgefeilt und zu detailliert, um nur eine Beschreibung eines Irrtums zu sein.406 Im Kontext der traditionellen Interpretation kann ich nur versuchen, die einleitenden Gedanken des Doxa-Teiles zu erläutern, ohne die Frage nach dem Verhältnis der beiden Teile letztlich zu beantworten. Ich gehe also in diesem Abschnitt einfach davon aus, dass die Göttin die Meinungen der Vielen inhaltlich darstellt und erklären will, warum die Menschen dieser Täuschung unterliegen. Die Frage, warum sie das tut, muss im Rahmen dieser Interpretation offen bleiben. Es gibt der Göttin zufolge zwei Gründe für die Täuschung, welche die Menschen dazu führt, Bewegung und Veränderung als real anzusehen: Der erste Grund besteht darin, dass sich die Menschen eher von den Sinnen leiten lassen als von der strengen Implikation des Arguments. Der zweite Grund ist dadurch gekennzeichnet, dass die menschlichen Namen und Benennungen für die Wirklichkeit nicht angemessen sind. Die Welt der Vielen, d. h. die Beschreibung der sinnlichen Welt außerhalb des im vorherigen Abschnitt genannten Zirkels von Sein und Denken, ist der Göttin zufolge ein einziger Irrtum. Daher können uns die Informationen, 406 Für Hinweise in diese Richtung vgl. Karl Reinhardt, Parmenides, S. 5–89 und Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 118 f.

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die wir aus den Sinnen gewinnen, nicht auf dem Weg zur Wahrheit helfen – diese Informationen halten uns vielmehr von der Erkenntnis der eigentlichen Wirklichkeit ab. Im siebten Fragment wird dieser Standpunkt der Göttin scheinbar sehr deutlich: μηδέ σ᾽ ἔθος πολύπειρον ὁδὸν κατὰ τήνδε βιάσθω, νωμᾶν ἄσκοπον ὄμμα καὶ ἠχήεσσαν ἀκουήν καὶ γλῶσσαν, κρῖναι δὲ λόγωι πολύδηριν ἔλεγχον.407 und lass nicht die Gewohnheit der vielen Erfahrung dich auf diesen Weg zwingen, das unsehende Auge umherzulenken und das widerhallende Gehör und die Zunge; sondern beurteile mit dem Denken die schwer zu bestreitende Überlegung.

Die durch Sinnlichkeit gewonnene Erkenntnis ist durch Gewohnheit bestimmt, die durch die Wiederholungen der Erfahrung (ἔθος πολύπειρον408) erlangt wurde. „Die Methode der empirischen Generalisierung führt aber immer nur zu hypothetischen Resultaten (δόξαι), d. h. die naturphilosophische Welterklärung hat prinzipiell nur provisorischen Charakter.“409 Nur eine apriorische, von der Erfahrung unabhängige Argumentation kann zu Gewissheit führen. Dieses Wissen darum, dass es wahre Erkenntnis nur von der logischen Untersuchung des ‚es ist‘ geben kann und dass das Nichtsein sich nicht erkennen lässt, ist unter den Menschen nicht verbreitet. Dies liegt daran, dass die Vielen sich lieber auf ihre Sinne verlassen, als ihr logisches Denken und ihre Urteilskraft zu bemühen. Die Vielen wissen nicht um die eigentliche Wahrheit des logischen Denkens und sie nehmen daher an, dass es auch eine Erkenntnis vermittels der Sinne geben kann. Dies führt dazu, dass die Vielen ein Nichtseiendes, nämlich das Werdende, als möglichen Gegenstand von Erkenntnis annehmen. Doch woher stammt diese Gewohnheit, die Dinge als unterschiedlich zu betrachten, wenn doch die eigentliche Wahrheit in der unveränderlichen Einheit besteht? Die Göttin berichtet von einer ersten Unterscheidung, bei der zwei sinnliche Grundformen (Gestalten) von einander getrennt wurden: das milde, leichte Feuer und die dichte, schwere Nacht. Es wurde infolge dieser ersten Trennung üblich, diese zwei Grundformen mit verschiedenen Namen zu kennzeichnen und entsprechend dieser Eigenschaften alles andere zu benennen. Infolgedessen wurde jedes Seiende aufgrund seiner Eigenschaften entweder der Nacht oder dem Feuer zugeordnet. Aufgrund dieser ersten Trennung und der Zuordnung alles Seienden zu dem einen oder dem anderen Aspekt bestimmt Trennung und Unterscheidung sowohl die Sprache als auch das Leben der Menschen. Der grundlegende Fehler der Menschen 407 408 409

DK 28B7, 3–5. DK 28B7, 3. Wolfgang Röd, Geschichte der Philosophie Band 1, S. 116.

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bestand also darin, dass sie alles Seiende je einer dieser zwei Grundformen zuordneten. Zentral für diese Argumentation ist der Gedanke, dass die Erklärungen der Menschen auf einer Benennung basieren, die nichts mit der wirklichen Verfasstheit der Welt zu tun hat. Unser gesamtes Sprechen ist daher von unangemessenen Unterscheidungen und der Verwechslung von Sein und Nichtsein geprägt. So sagen wir auch oft von etwas, dass es nicht ist, d. h. wir vermengen in diesen Urteilen Sein und Nichtsein. Oder wir behaupten unberechtigterweise, dass ein Seiendes sich verändert, dass es zu einem anderen wird. Alle diese Redeweisen über das Nichtsein verweisen letztlich in gleicher Weise auf ein grundlegendes Sein, das vorausgesetzt werden muss, um eine Negation überhaupt aussprechen zu können, denn „in jeder Prädikation tritt die Tatsache des Seins in den Hintergrund und es wird auf diese oder jene besondere Bestimmung oder Eigenschaft intendiert. Diese in der Sprache nur implizit sich meldende und im Hintergrund bleibende Ontologie versucht Parmenides, mit seiner Rede vom Sein zu explizieren und zu thematisieren.“410 Auf diese grundlegende Verwirrung und Täuschung der Vielen verweist Parmenides im achten Fragment: τῶι πάντ᾽ ὀνόμ᾽εσται411, ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ γίγνεσθαί τε καὶ ὄλλυσθαι εἶναι τε καὶ οὐχί.412 Darum ist alles bloß zugesprochen (ist alles bloßer Name), was die Menschen gesetzt haben, glaubend, dass es wahr ist: zu werden und zu vergehen, zu sein und nicht zu sein.

Das, was die Vielen, also die Sterblichen, als wahr gesetzt haben, sind nur Begriffe, leere Namen, denen keine Wahrheit entspricht. „Der menschliche Irrtum beruht […] [auf dieser] ursprünglichen ‚Benennung‘ oder Namensgebung. Die Benennung erfolgte in unbestimmter Vergangenheit als eine gemeinsame Entscheidung und Stimmabgabe.“413 Dieses Sprechen kann uns nicht zur Wahrheit führen. Die auf der scheinbaren Trennung der Dinge in der Erfahrung beruhenden Benennungen und Begriffe sind ein 410

Panagiotis Thanassas, Die erste ‚zweite Fahrt‘, S. 63. Für diese Stelle bei Simplikios (in Phys. 146, 11) ist sowohl ὀνόμ᾽εσται (Simplikios 86 – D, F) als auch ὀνόμασται (Simplikios 86 – E, W) belegt. Für eine Erläuterung der Argumente für diese Wahl vgl. Peter Kingsley, Reality, S. 573 ff. 412 28B8, 38–40. Übersetzung des ὀνόμασται nach Gregory Vlastos, Names of ‚being‘ in Parmenides. 413 28B8, 53. Für eine ausführliche Argumentation für diese Lesart vgl. Karl Reinhardt, Parmenides, S. 26 f. und Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 103. 411

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Ergebnis des Weges jener Forschung, die der Erfahrung des Werdens folgt und somit zur Unkenntnis führt. Vor diesem Weg hat uns die Göttin schon im sechsten Fragment gewarnt. Dieser Weg wird in der Forschung meist als dritter Weg414 bezeichnet. Dies ist eben jener Weg, den die meisten Sterblichen gehen: χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ᾽ἐόν ἔμμεναι ἔστι γὰρ εἶναι, μηδὲν δ᾽οὐκ ἔστιν· τά σ᾽ἐγὼ φράζεσθαι ἄνωγα. πρώτης γάρ σ᾽ἀφ᾽ὁδοῦ ταύτης διζήσιος (εἴργω) αὐτὰρ ἔπειτ᾽ἀπὸ τῆς, ἣν δὴ βροτοὶ εἰδότες οὐδέν πλάττονται, δίκρανοι·ἀμηχανίη γὰρ ἐν αὐτῶν στήθεσιν ἰθύνει πλαγκτὸν νόον·οἱ δὲ φοροῦνται χωφοὶ ὁμῶς τυφλοί τε, τεθηπότες, ἄκριτα φῦλα, οἵς τὸ πέλειν τε καὶ οὐκ εἶναι ταὐτὸν νενόμισται κοὐ ταὐτόν, πάντων δὲ παλίντροπός ἐστι κέλευθος.415 Richtig ist, zu sagen und zu denken, dass Seiendes bleibt. Denn das Sein ist, das Nichts ist nicht: dies, sage ich dir, sollst du dir einsichtig machen. Dies ist der erste Weg des Suchens, vor dem ich dich warne, dann von dem Weg, auf dem die Sterblichen, die nichts wissenden, umherschwanken, die doppelköpfigen. Denn Ratlosigkeit lenkt in ihrer Brust ihren schwankenden Verstand, und sie treiben dahin, taub und blind, blöde, verdutzte Gaffer, unterscheidungsloser Haufen,416 bei denen Sein und Nichtsein dasselbe gilt und nicht dasselbe; es gibt für sie in allen Dingen einen umgekehrten Weg.

Der Weg der Forschung, bei dem Sein und Nichtsein vermengt werden, führt die Menschen nur in einen hoffnungslosen Zustand der Verwirrung und kann niemals zur Wahrheit führen: „So führt die Frage nach der Entstehung und dem wahren Wesen, kurz: nach der ‚Physis‘ der Dinge zuletzt auf die Lehre vom Seienden. […] [Dem] gegenüber [steht] die Verfallenheit an den Schein: der ‚Glaube‘ (doxa) an das, was unter den Menschen ‚Nomos‘, das heißt ‚Brauch‘ ist, […]. Der Ursprung der sophistischen Antithe414 Der erste Weg wäre der Weg der Wahrheit, der zweite Weg wäre der Weg des Nichtseins, der dritte wäre dann der Weg der Sinnlichkeit (der Vermengung von Sein und Nichtsein). Vgl. Karl Reinhardt, op.cit., S. 36. Manche sehen in der Meinung der Sterblichen den zweiten Weg, der dritte Weg wäre dann die Lehre Heraklits oder anderer Philosophen. Vgl. Hermann Diels, Parmenides’ Lehrgedicht, S. 68 f. 415 DK 28B6. 416 Die Eigenschaften mit denen hier die Sterblichen charakterisiert werden, also nichts wissend, umherschwankend und doppelköpfig, sind Eigenschaften, die in der archaischen Dichtung verwendet werden, um menschliche Wesen in Abgrenzung zu den Göttern zu beschreiben. Auch die Prädikate ‚irren‘, ‚treiben‘ und ‚umkehren‘ werden oft verwendet, um das Menschliche vom Göttlichen zu unterscheiden und dem Göttlichen entgegenzusetzen. Vgl. Jaap Mansfeld, Die Vorsokratiker I, S. 292 f.

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2. Teil: Historische Untersuchung

se von ‚Nomos‘ und ‚Physis‘ dürfte in der Tat bei Parmenides liegen.“417 Diese Setzungen und Bräuche, die Nomoi, bestimmen unser Denken und somit das, was wir als seiend erachten.418 Betrachtet man die Nomoi jedoch genauer, zeigt sich ihre innere Widersprüchlichkeit sowie die Vermengung von Sein und Nichtsein, die sie implizieren. Daher sind sie nicht angemessen, um die eigentliche Wirklichkeit des Seins auszudrücken. Parmenides zeigt also dieser Lesart zufolge in dem Doxa-Teil des Lehrgedichtes auf, dass viele unserer gängigen Vorstellungen von Welt und von Erkenntnis in sich widersprüchlich sind. Und da Widersprüchliches nicht als φύσει existieren kann, muss es sich dabei um eine Übereinkunft (νόμῳ) handeln.419 B. Die andere Deutung – Meinung als mangelnder Einsatz der Sinne Anders stellen sich diese Zusammenhänge dar, wenn man Parmenides nicht als Logiker und Ontologen liest. Die Sätze des siebten Fragmentes können dann auch so gelesen werden, dass uns die Göttin nicht vor dem Gebrauch der Sinne warnt, sondern uns davor bewahren will, die Sinne eben nicht unangemessen zu gebrauchen, indem wir dem üblichen Verständnis und unseren Vorurteilen folgen. Die entscheidenden Abschnitte aus Fragment 7 lassen nämlich auch folgende Übersetzung zu: μηδέ σ᾽ ἔθος πολύπειρον ὁδὸν κατὰ τήνδε βιάσθω, νωμᾶ ἄσκοπον ὄμμα καὶ ἠχήεσσαν ἀκουήν καὶ γλῶσσαν, κρῖναι δὲ λόγωι πολύδηριν ἔλεγχον420 […] und lass die viel-erfahrene Gewohnheit dich nicht zwingen, das unsehende Auge und das widerhallende Gehör und die Zunge auf diesen Weg zu lenken; κρῖναι δὲ λόγωι πολύδηριν ἔλεγχον

In dieser Übersetzung warnt uns die Göttin nicht vor den Sinnen, sondern davor, die Sinne von der Gewohnheit leiten zu lassen und sie daher nicht angemessen zu verwenden. Die Gewohnheit hält uns nämlich nicht nur davon ab, das Wirkliche zu sehen, das sich uns in der Erfahrung des Denkens zeigt, sondern sie zwingt uns auf den Weg der Trennung und Unterscheidung; auf den Weg der Vielen. 417

Uvo Hölscher (Hrsg.), Parmenides, Vom Wesen des Seienden, S. 123. Vgl. Karl Reinhardt, Parmenides, S. 30. 419 Karl Reinhardt, op.cit., S. 31. 420 DK 28B7. Für die Übersetzung vgl. Peter Kingsley, Reality, S. 120. Für eine Diskussion der Übersetzung von κρῖναι δὲ λόγωι πολύδηριν ἔλεγχον vgl. hier § 30 b). 418

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Nun zu der Rekonstruktion der Ursache der Trennung als eine ursprüngliche Benennung, die in der gängigen Interpretation auf die ‚falsche‘ Benennung durch die Menschen zurückgeführt wurde. Die gängige Interpretation lautete, dass uns die Sinne dazu verführen, eine erste Trennung anzunehmen, die dazu führt, viele Seiende zu benennen und ihre bloß scheinbare Trennung in den Sinnen durch eine weitere Trennung im Logos zu verstärken. Die zentrale Stelle lautet: ταὐτὸν δ᾽ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκέν ἐστι νόημα. οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ὧι πεφατισμένον ἐστίν, εὑρήσεις τὸ νοεῖν· οὐδὲν γὰρ (ἢ) ἔστιν ἢ ἔσται ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος, ἐπεὶ τὸ γε μοῖρ᾽ ἐπέδησεν οὖλον ἀκίνητόν τ᾽ ἔμεναι·τῶι πάντ᾽ ὀνόμ᾽εσται, ὅσσα βροτοὶ κατέθεντο πεποιθότες εἶναι ἀληθῆ γίγνεσθαί τε καὶ ὄλλυσθαι εἶναι τε καί οὐχί καὶ τόπον ἀλλάσσειν διά τε χρόα φανὸν ἀμεὶβειν.421 Und was für das Denken existiert ist dasselbe wie die Ursache des Denkens. Denn du wirst das Denken nicht ohne das Seiende finden, das den Gedanken geäußert hat. Denn es ist nichts und es wird nichts anderes sein, außer Seiendes, denn das Schicksal hat es zu einem Ganzen gebunden; unbeweglich. Sein Name soll Alles sein – Jeder einzelne Name, den die Sterblichen erfunden haben, der Überzeugung sie seien alle wahr: Geburt und Tod, Sein, Nichtsein, Ortsbewegung und der Wechsel der hellen Farben.422

Peter Kingsley argumentiert, dass τῶι πάντ᾽ ὀνόμ᾽εσται nicht auf eine Verfehlung der Sterblichen hinweisen kann.423 Die Übersetzung dieser Stelle mit ‚Darum ist alles bloß zugesprochen (ist alles bloßer Name)‘ scheint nur schwer möglich, da sich im Griechischen weder ein kontrastierender Terminus noch ein ‚bloß‘ finden lassen.424 Dieser Ausdruck τῶι πάντ᾽ ὀνόμ᾽εσται verweist hingegen viel eher auf einen Akt der Namensgebung als auf eine bloße Benennung. Genau so wie der Satz ‚τῶι Οδυσσευς ὀνόμ᾽εσται‘ die Bedeutung ‚sein Name soll Odysseus sein‘ hatte, so bedeutet wohl ‚τῶι πάντ᾽ ὀνόμ᾽εσται‘ auch ‚sein Name soll Alles sein‘. Auch der Ausdruck der nächsten Zeile ‚κατέθεντο‘ verweist auf eine Namensgebung. Die Wendung ‚ὀνόμα κατατιθεναι‘ ist eine bekannte Formel425, um einen 421

DK 28B8, 34 ff. Vgl. Peter Kingsley, Reality, S. 190 f. 423 Für die Bedeutung ähnlicher Formulierungen vgl. Homer, Hymne an Aphrodite 198, Odyssee XIX 409 oder Platon, Kratylos, 385d. 424 Vgl. Hellmut Flashar e. a., Die Philosophie der Antike, Bd. 1–2, S. 487. 425 Dies gilt auch für Parmenides selbst, vgl. DK 28B19, 3 und DK 28B8, 53. 422

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2. Teil: Historische Untersuchung

Namen einzuführen.426 Die Göttin gibt an dieser Stelle des Gedichtes also der Wahrheit einen Namen. Nun endlich benennt sie das ‚es ist‘: Dieser Name lautet Alles. An die Stelle der vielen Namen für die vielen Dinge (Sein und Nichtsein, Tag und Nacht, Hell und Dunkel usw.) tritt so der einzig wahre Name: Alles. „Suddenly, instead of seeing and hearing thousand things you only see or hear one.“427 Weder Sein noch Seiendes, Aussagen, Sätze oder Urteile sind der eigentliche Gegenstand des ‚es ist‘; der wahre Name und Gegenstand der Wahrheit, von der die Göttin spricht, ist ‚Alles‘. Dies umfasst auch Täuschung und Vielheit. Deswegen spricht die Göttin im Lehrgedicht von der Täuschung, denn auch die Täuschung ist Teil der Wahrheit und somit Teil von ‚Alles‘. Die Täuschung wird nur dann problematisch, wenn sie allein an die Stelle der Wahrheit tritt. Dies geschieht, wenn wir aufgrund der Täuschung die dahinter stehende Einheit nicht mehr sehen können, weil wir so sehr darauf bedacht sind, unsere Unterscheidungen für absolut wahr zu halten und jedem Element oder Aspekt der einheitlichen und gemeinsamen Wahrheit einen eigenen, unverwechselbaren Namen und Begriff zu geben.

§ 30 Überzeugungskraft und Wahrheit des Lehrgedichtes Doch auf welchem Weg will uns die Göttin dazu bringen, ihre Version der Dinge zu akzeptieren? In den meisten Deutungen wird angenommen, dass es Parmenides im Lehrgedicht eigentlich nur um die Vermittlung seines Argumentes ging. Dieses Argument kleidete er dieser Meinung zufolge in das Gewand eines Offenbarungsgedichtes, um den Menschen den Zugang zur seiner abstrakten Argumentation und deren Konsequenzen zu erleichtern. Wenn dies stimmt, dann kann der Form des Gedichtes selbst keine Bedeutung zugemessen werden. Es ist bloß Grundlage zur Vermittlung eines Gedankens, den wir erfassen sollen. Dann gibt es für uns nur eine einzige Aufgabe, die wir erfüllen müssen, um das Lehrgedicht verstehen zu können, nämlich die Gültigkeit der Argumente zu prüfen – Überlegungen zum Status des Proömiums und zur Form des Gedichtes wären dann überflüssig.

426

Vgl. Peter Kingsley, Reality, S. 573. Peter Kingsley, Reality, S. 195. Ein ähnlicher Gedanke findet sich in den Schriften der hermetischen Tradition, in denen davon gesprochen wird, dass die eine göttliche Realität keinen eigenen Namen im eigentlichen Sinne hat und dass alle Namen sich auf eben diese eine göttliche Realität beziehen. 427

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A. Parmenides als Argumentationstheoretiker Viele Interpreten, die Parmenides als Logiker deuten, meinen, er hätte nie von Aristoteles die Rolle des Logikers zugesprochen bekommen, wenn sich seine Argumentationskraft auf die Offenbarung einer Göttin beschränkt hätte. Nach Verdenius ist es Parmenides ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass die Rede der Göttin nicht bloß wahr ist, weil es sich um eine Offenbarung handelt428, sondern eben auch, weil sich die Göttin auf den λόγος beruft, d. h. auf das rechte Reden. Im siebten Fragment sagt die Göttin nach Verdenius explizit, dass Parmenides sich bei dieser Untersuchung nicht von seinen Gewohnheiten oder sinnlichen Eindrücken leiten lassen solle, sondern: κρῖναι δὲ λόγωι πολύδηριν ἔλεγχον – beurteile erörternd den umstrittenen Beweis.429 Die Behauptungen, die im Gedicht vorgetragen werden, sollen dieser Interpretation zufolge also nicht nur deswegen glaubwürdig sein, weil sie von einer Göttin vermittelt wurden, sondern auch, weil sie von jedem Menschen denkend und argumentierend nachvollzogen und beurteilt werden können. Doch Parmenides folgt dieser Anweisung der Göttin nicht. Er wählt weder die Form des Dialoges noch gewährt er uns irgendeinen anderen Einblick in seine (menschliche) Erörterung dessen, was ihm die Göttin offenbart hat. Hier zeigt sich ein scheinbarer Widerspruch zwischen der Aufforderung der Göttin, das vorgebrachte Argument zu prüfen, und der Tatsache, dass Parmenides die Thesen der Göttin nirgends einer Prüfung unterzieht. Dieser kann dann aufgelöst werden, wenn man das göttliche und das menschliche Wirken als komplementär und nicht als gegensätzlich betrachtet. Nur wenn beides zusammentrifft, die Inspiration der Göttin und der Wille und die Fähigkeit diese zu hören und ihre Weisheit zu erörtern, kann der Denker erkennen: „Die Offenbarung der Göttin und die Beurteilung ihrer Erörterung in einer menschlichen Erörterung sind also nicht zwei aufeinanderfolgende Phasen, sondern gleichzeitige und komplementäre Aspekte desselben Prozesses.“430 Doch wie lässt sich dann das siebte Fragment verstehen, in dem die Göttin Parmenides anscheinend anweist, ihre Offenbarung erörternd zu beurteilen? 428 Diese Meinung scheint D. L. Blank in seinem Aufsatz Faith and Persuasion in Parmenides zu vertreten, wenn er meint „the choice between the roads is the decision of whether or not to have faith in the word of the goddess. By extension, the audience must decide whether or not to have faith in the word of Parmenides“, S. 172. 429 DK 28B7, 5. Verdenius verweist hier darauf, dass der Begriff ‚logos‘ bei Parmenides noch nicht die Bedeutung von Vernunft angenommen hat und schlägt daher vor, hier den Begriff mit ‚Erörterung‘ bzw. mit ‚erörternd‘ zu übersetzen. Vgl. W. J. Verdenius, Der Logosbegriff bei Heraklit und Parmenides II, S. 99 f. 430 W. J. Verdenius, op.cit., S. 109.

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2. Teil: Historische Untersuchung

W. J. Verdenius ist der Meinung, dass die beiden λόγοι, jener der Göttin und jener der Menschen, in einer sehr engen Verbindung stehen und eigentlich identisch sind. Somit ist keine explizite menschliche Erörterung des göttlichen λόγος mehr nötig, sobald der offenbarte λόγος voll erfasst wurde, da sie identisch sind. Als Hinweis auf die enge Verbindung des menschlichen und des göttlichen λόγος deutet Verdenius die Tatsache, dass die Göttin von der Moira spricht, die Parmenides zu ihr geführt hat. Parmenides hat uns jedoch zuvor gesagt, dass die Pferde ihn nur soweit tragen, als sein Wille bzw. sein Sehnen reicht. Daher begibt Parmenides sich aus eigenem Willen auf den Weg, den er den Weg der Göttin nennt, also auf den Weg, den die Göttin geht. Dies kann nach Verdenius so gelesen werden, dass der Weg der Göttin zugleich Parmenides’ eigener Weg des Denkens ist.431 Die Aufforderung der Göttin, dass das Offenbarte vom Hörenden selbst zu überprüfen sei, verweist daher für Verdenius nicht auf einen Unterschied zwischen dem menschlichen und dem göttlichen λόγος, sondern auf die enge Verbindung von Denken und Sprechen und auf die enge Verbindung von Denken und Sein: Rede und Gedanke, Sagen und Denken werden von Parmenides öfters auffällig so untereinander gekoppelt, daß sie fast wie Synonyme erscheinen. (Fr. 2.7 f, 6.1, 8.8, 8.50). Wie immer man die ursprüngliche Identität von Sprechen und Denken anthropologisch beurteilen will, die Rede der Göttin ist nichts anderes als eine folgerechte, begründend fortschreitende Überlegung, ein richtiges Denken. Das richtige Sprechen ist ein vernünftiges Sprechen. Im Begriff des richtigen Sprechens allein hat die parmenideische Argumentation mit dem ‚Sagbaren‘ als dem ‚Denkbaren‘ seinen Grund.432

B. Der göttliche Weg zur Wahrheit Andere Interpreten bezweifeln diese Deutung von κρῖναι δὲ λόγωι πολύδηριν ἔλεγχον als ‚Sondern beurteile erörternd den umstrittenen Beweis‘.433 Der Gedanke, dass Parmenides in das Reich des Todes geführt wurde, um mit der menschlichen Vernunft die Lehre der Göttin zu beurteilen, scheint sehr ungriechisch und anachronistisch. Wie sollten wir Menschen die göttliche Wahrheit mit unserer unzulänglichen Vernunft beurteilen? Die Göttin sagt: κρῖναι λόγωι. Der Begriff ‚λόγωι‘ wird mit Vernunft übersetzt und so gedeutet, als wolle Parmenides sagen, wir sollen die Worte der Göttin mit unserer Vernunft, unserem logischen Denken überprüfen. Zur Zeit des Parmenides bedeutete der Begriff ‚λόγος‘ jedoch vor allem 431 432 433

W. J. Verdenius, op.cit., S. 101 f. Uvo Hölscher (Hrsg.), op.cit., S. 75. DK 28B7, 5.

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noch Rede, Diskussion oder gesprochene Worte. Der λόγος steht noch nicht für die apriorische Gültigkeit rationaler Argumentation und bekommt die uns bekanntere Bedeutung von ‚Rationalität‘ oder ‚Logik‘ erst mit den platonischen Dialogen. Der λόγος als gesprochenes Wort hat für Parmenides zwar Überzeugungskraft, aber eben noch nicht jene Bedeutung der unbestreitbaren Gültigkeit, die mit ‚Logik‘ und ‚Rationalität‘ verbunden werden. Der λόγος ist noch nur ein Medium, mit dessen Hilfe die Überzeugungskraft, die uns zur Wahrheit führt, vermittelt werden kann. Somit müsste die Anweisung der Göttin lauten: ‚Urteile mit Hilfe von Rede‘ bzw. ‚Urteile redend …‘, was jedoch an dieser Stelle wenig Sinn macht, denn Parmenides spricht in den folgenden Zeilen nicht über die Argumente der Göttin, sondern es ist weiterhin die Göttin, die Parmenides belehrt. Der Begriff ‚κρῖναι‘ wiederum bedeutete nicht nur ‚Urteil‘, sondern auch eine ‚Wahl‘, eine ‚Entscheidung für Etwas‘. Der nächste Begriff ‚ἔλεγχος‘ bedeutet nicht nur ‚Beweis‘ oder ‚Argument‘, sondern benennt auch den Prozess der Enthüllung der Wahrheit oder den Prozess des Aufweisens einer Wahrheit.434 Nimmt man diese ursprünglichen Bedeutungsprägungen ernst, lässt sich das κρῖναι λόγωι als Entscheidung für die überzeugenden Worte der Göttin deuten. κρῖναι δὲ λόγωι πολύδηριν ἔλεγχον würde dann bedeuten: Entscheide aber nach der (überzeugenden) Rede des strittigen Vorganges der Enthüllung der Wahrheit.435 Die Göttin sagt Parmenides also an dieser Stelle, dass er sich von ihrer Rede überzeugen lassen soll, dass der Weg zur Wahrheit der Weg der Überzeugung ist. Der λόγος der Göttin ist nur das Medium zur Vermittlung der Überzeugungskraft. Der λόγος ist somit nicht Grund der Überzeugungskraft, sondern nur ihr Träger. Die Überzeugungskraft ist dieser Lesart zufolge ein weiteres zentrales Moment der Untersuchung.436 Die Überzeugungskraft des göttlichen λόγος wird im Fragment DK 28B2 Zeile 4 von der Göttin Πειθώ verkörpert: Πειθοῦς ἐστι κέλευθος (ἀληθείηι γὰρ ὀπηδεῖ) – […] ist der Weg der Πειθώ [Überzeugung] (denn sie begleitet die Wahrheit).437

434

Peter Kingsley, Reality, S. 150. Ich lasse in dieser Übersetzung den Dativ (λόγωι) stehen. Für eine ähnliche Deutung, die dem Vorschlag Burnets folgend von einer Korruption des überlieferten Datives ausgeht und ihn durch den Genitiv ersetzt vgl. Peter Kingsley, Reality, S. 129 ff. 436 Der Begriff ‚πείθειν‘ kommt auch im Proömium vor (DK 28B1, 11–17, die Heliaden überzeugen Dike, das Tor für Parmenides zu öffnen). 437 Auch A. P. D. Mourelatos ist der Meinung, dass es sich bei πειθώ um eine Personifizierung handelt, vgl. The Route of Parmenides, S. 26 und S. 158 f. 435

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2. Teil: Historische Untersuchung

Die Geschichte der Göttin Πειθώ beginnt bei Hesiod, er erwähnt sie als Göttin der Überzeugungskraft.438 In späteren Epen tritt sie vor allem als eine Verkörperung der Aphrodite oder als Begleiterin der Aphrodite auf. Erst in der Dichtung des späten 5. Jahrhunderts v. Chr. gewinnt die Göttin Πειθώ über den Aspekt der erotischen Verführung hinaus auch den Bedeutungsaspekt der rhetorischen Überredung oder Überzeugung. Der Begriff ‚πειθώ‘ (Überzeugungskraft) verweist also nicht notwendigerweise auf eine logische Argumentation oder einen Beweis, sondern kann zu Zeiten des Parmenides auch noch auf eine Überredung hinweisen, die mit Hilfe einer Belohnung lockt: The agent of πείθειν works on the patient not through physical force, and not through punishment or threat of punishment, but by offering rewards (cf. Δῶρα), or gratification, or favours (cf. χάρις). So the salient feature of the causality of πείθειν is consent or assent (ἑκών). The agent and the patient are placed by this verb in a relationship involving expectations of mutually agreeable reciprocity.439

‚Πειθώ‘ ist daher für die frühen Griechen kein Begriff der rationalen Reflexion oder Argumentation, sondern eine göttliche Macht440, die den Menschen immer schon verführt, gezwungen oder gebunden hat. Denn ‚πειθώ‘ drückt vor allem das Ergebnis der Überredung aus, nicht den Vorgang des Überredens selbst.441 In allen Bedeutungsaspekten von ‚πειθώ‘ ist diese eine Fähigkeit oder eine Kraft zu überzeugen, zu beeinflussen, zu überreden. Der Begriff ‚πειθώ‘ hat außerdem einen Bezug zu den lateinischen Ausdrücken für Vertrauen, Treue und Glauben (fido, fidus, fides) und umfasst somit auch den Aspekt des Vertrauens,442 der im Lehrgedicht auch mit dem Begriff ‚πίστις‘ ausgedrückt wird. Der zu Überzeugende muss also der Rede oder der Göttin ein gewisses Vertrauen entgegenbringen, damit er durch die Versprechung von Belohnungen (in diesem Fall ist die Belohnung die Erkenntnis der Wahrheit) überzeugt werden kann. Dieses Vertrauen verlangt die Göttin von Parmenides, wenn sie sagt: κρῖναι δὲ λόγωι πολύδηριν ἔλεγχον. Liest man die Stelle in B2 hingegen mit einem eher epistemologischen Fokus, wie Kathryn A. Morgan es vorschlägt, kann man behaupten, dass Überzeugungskraft etwas ist, das die Wahrheit begleitet.443 Die Wahrheit 438 In der Theogonie (349) ist Πειθώ als eine der Nymphen genannt und in Opera et Dies (73) als göttliche Überzeugungskraft. 439 A. P. D. Mourelatos, op.cit., S. 138. 440 Vgl. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 58. 441 Vgl. A. P. D. Mourelatos, op.cit., S. 137. 442 Vgl. A. P. D. Mourelatos, op.cit., S. 136 und 138. 443 Kathryn A. Morgan argumentiert gegen diese Personifizierung des Begriffes ‚πειθώ‘ und meint, dass dieser Terminus vor allem als epistemologische Bestimmung gelesen werden muss. Dennoch räumt auch sie ein, dass es an dieser Stelle einige mythisch-religiöse Anklänge gibt. Vgl. Myth and Philosophy, S. 71.

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selbst hat dann die göttliche Kraft der Überzeugung, die uns anzieht und überredet: „Truth, in adhering to its bond of πίστις, will exercise a compelling power of allurement over man, both each and all. So the ‚course of Persuasion‘ is also the course pursued by men who are sensitive to the πειθώ which the Goddess Πειθώ herself has bestowed on the real.“444 Was keine Wahrheit besitzt, besitzt auch keine Überzeugungskraft. Was keine Überzeugungskraft besitzt, wie der Weg des Nichtseins, kann somit auch keine Wahrheit besitzen.

§ 31 Der Parmenides des Proömiums als Denker des Denkens An dieser Stelle kehren wir also zum Beginn der Argumentation und zum Proömium als Lektüreschlüssel zurück und beginnen die Untersuchung des Lehrgedichtes diesmal angesichts des Proömiums erneut. Parmenides wurde von den Heliaden auf dem Weg zur Unterwelt begleitet, bis er vor dem Tor steht, das von der Göttin Dike bewacht wird. Die Überzeugungskraft der Heliaden erweicht die Göttin so sehr, dass sie die Torflügel für Parmenides öffnet, der nun das Reich der Toten betreten kann und der ungenannten Göttin begegnet. Die Gerechtigkeit, durch die Göttin Dike verkörpert, bewacht das Tor, das die Lebenden von den Toten trennt. Sie bindet die vielen Dinge in ihrer Unterschiedenheit der Doxa. Erst wenn das Tor, das Dike bewacht, passiert wurde, tut sich die Möglichkeit der absoluten Einheit hinter aller Trennung und Unterscheidung auf: It is precisely because the function of Dike is to make distinctions and ensure that the two sides of any equation balance that her action in opening the gates is meaningful. Even in the proem, the gates over which Dike presides prefigure the bounded completeness of Being in B8. […] The Dike of the proem presides over a boundary (the gates) that is itself bounded. The firmness of the barrier is thus doubly determined and doubly significant, both as a means of separation and as a paradigm of a coherent set of limits. The revelation that the opening of the gates makes possible is one of unity, a unity which negates Dike’s function in the world of mortal opinion.445

Und obwohl Dike – durch die Überzeugungskraft der Heliaden erweicht – die Tore für Parmenides geöffnet hat, sind die Fesseln der Notwendigkeit nicht gelockert: „[…] Dike holds (B8.15) Being, and Ananke (Necessity) encloses it all around (B8.31).“446 Bewegung, Vielheit, Unterschied, Werden, Vergehen – alle diese Aspekte unserer Erfahrungswelt ha444 445 446

A. P. D. Mourelatos, The Route of Parmenides, S. 160. Kathryn A. Morgan, Myth and Philosophy, S. 78. Kathryn A. Morgan, loc.cit.

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2. Teil: Historische Untersuchung

ben nur diesseits des Tores, das Dike bewacht, weiterhin Bestand.447 Jenseits der Tore jedoch herrscht jene absolute Einheit, die uns von der Göttin offenbart und erfahrbar gemacht wird. Erst durch den Tod, sei es ein allegorischer Tod, der philosophische Tod oder der physische Tod, wird uns jenes Tor geöffnet und Zugang zu der Einheitlichkeit der Wirklichkeit gewährt. Die Konzepte von Werden und Vergehen, die Trennung und Pluralität implizieren, und damit jegliche Vielheit ist im Reich der Göttin als ungültig entlarvt worden; jegliche Trennung wurde vom wahren Beweis vertrieben.448 Die unbekannte Göttin regiert das Reich der Einheit und fesselt die Gedanken ihres Schülers durch ihre Argumentation, und zwar indem sie seine Gedanken mit Hilfe der Kraft der Überzeugung bindet und festhält bzw. diese fesselt. Laura Gemelli Marciano weist darauf hin, dass Parmenides in seinem Lehrgedicht sehr häufig Bilder des Fesselns oder des Bindens verwendet – so als gälte es, das Bewegliche und Veränderliche mit Hilfe der Überzeugungskraft der Sprache festzubinden:449 „Dies lässt sich aber vor dem Hintergrund der ‚Methode‘ der Göttin erklären: Sie ‚fesselt‘ allmählich die Gedanken ihres Schützlings, indem sie deren Gegenstand, das Seiende fesselt und zur Unbewegtheit zwingt.“450 Indem sie die Gedanken auf einen Gegenstand ausrichtet, die Bewegung der Gedanken durch Wiederholungen so lange beruhigt, bis das Denken ruhig wird, fesselt sie zugleich Gedanken und den Gegenstand der Gedanken. Die Göttin verbietet ihrem Schüler den Gedanken an Trennung und Unterschied und bindet somit das Denken. Zugleich und ohne Vermittlung ist damit jedoch auch schon das, was wirklich ist (ἐόν) und den Namen Alles tragen wird, mit den Banden der πίστις gebunden: „The rigorous process of logical deduction not only keeps being in its place, but keeps us on the track; given the ordering function of thought, one may assert that these two aspects of Necessity are not markedly different. […] [T]hat the same force both guarantees immobility and changelessness and validates a mental journey which moves toward that immobility.“451 Die Festsetzung der Göttin durch die beschwörenden Wiederholungen derselben Gedanken und derselben Begriffe sowie die rigorose Argumentation umfassen und fesseln sowohl das Seiende als auch das Denken, denn 447

DK 28B8, 26–28. DK 28B8, 56–58. 449 Vgl. DK 28B8, 26, 50–52, 60–62. 450 M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 60. Über die Rolle des Fesselns oder Bindens in der Magie der griechischen Antike vgl. M. Laura Gemelli Marciano, loc.cit. 451 Kathryn A. Morgan, Myth and Philosophy, S. 80. 448

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im Reich der Göttin gibt es auch zwischen Denken und Sein keinen Unterschied. Das Ziel der Göttin ist es, diese absolute Einheit, in der sich nicht einmal Denken und Sein unterscheiden und die sich als eine solche Einheit nicht mehr sprachlich vermitteln lässt, erfahrbar zu machen: So ist der wahre Beweis (πίστις ἀληθής), dass das Nichtseiende nicht existiert und deshalb weder ausgesprochen noch gedacht werden kann, ein ‚performativer‘ Sprechakt: Die Göttin legt in demselben Augenblick, in dem sie spricht, die Gesetze fest, welche das Seiende mit den Fesseln einer strengen Notwendigkeit festhalten. Zugleich aber wirkt sie auf die Gedanken der Zuhörer und hält sie ebenso fest, macht sie unbewegt: Die πίστις wird zur praktischen Erfahrung.452

Die Göttin verwendet für ihre Festlegung das gesamte Spektrum der Möglichkeiten der Überzeugung – von brutaler Gewalt hin zu sanfter Überredung. Dieses Spektrum ist von vier Gesichtern der Göttin dargestellt: als Ἀνάγκη (Notwendigkeit) fesselt und begrenzt sie das ‚es ist‘ (ἐν δεσμοῖσιν πείρατος) und schließt es rundum ein (ἀμφὶς ἐέργει); als Μοῖρα (Schicksal) legt sie ihm die Fesseln des Schicksals an; als Δίκη (Gerechtigkeit) hält (ἔχει) sie es an seinem Ort, ohne die Fesseln zu lockern; als Πειθώ (Überzeugungskraft) hält sie es in den Banden des Glaubens bzw. Vertrauens (πίστιος ἰσχύς) und begleitet uns (ὀπηδεῖ) mit ihrer sanften Kraft der Überzeugung.453 Die Welt der Vielheit, der Gegensätze und der Bewegung steht also nicht im Gegensatz zur eigentlichen Wahrheit Alles, sondern sie ist ein Teil von ihr: „Reality, in all its truth is stillness, is held fast by fetters and bonds. This is the one half. The other half is that we live in a world of illusion: in a cosmos just as deceptive as the goddess’ orderly words. And these two basic traits of existence – reality as held fast in bonds, the world that we live in as a deception – are far from unrelated.“454 Denn die Wahrheit umfasst und beinhaltet auch die Täuschung. Beide Teile des Gedichtes ergeben erst zusammen das volle Bild der Wahrheit und Einheit. Da nichts außerhalb der Einheit steht, kann auch die Täuschung, die Vielheit und die Bewegtheit nicht außerhalb der Einheit stehen, also müssen sie zur wahren Einheit gehören. Es scheint nun aber mehr als nur ungewöhnlich, dass die Göttin Parmenides im Jenseits empfängt, nur um ihm zu sagen, was er durch den Gebrauch seiner Vernunft auch selbst hätte erkennen können. Außerdem waren die griechischen Götter nun nicht gerade für ihre Vernünftigkeit bekannt, im Gegenteil, die Götter hielten sich nie an die menschlichen Gesetze, Gebräuche oder Denkweisen. Es scheint also unwahrscheinlich, dass diese Wahrheit, die uns 452 453 454

M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 59. Vgl. A. P. D. Mourelatos, The Route of Parmenides, S. 160. Peter Kingsley, Reality, S. 291.

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2. Teil: Historische Untersuchung

die Göttin verkündet, bloß in einer Behandlung des Seins besteht, wie es sich der menschlichen Vernunft zeigt. Aber auch wenn die Offenbarung der Göttin daher wohl letztlich nicht das Ideal der modernen menschlichen Logik zu begründen versucht, kann sie uns etwas Wertvolles schenken. Sie kann uns ein Verständnis der Welt offenbaren, das alle Trennung aufhebt: die Trennung zwischen denkendem Seiendem und seinem Denken, zwischen uns und der Welt, zwischen Sein und Schein, zwischen Ideal und Welt – zwischen Leben und Tod. Diese Wahrheit, welche die Göttin offenbart, ist die Ablehnung jeder Trennung für das Denken der Wahrheit. Denn „[d]er Gegensatz von Sein und Nichts ist absolut. Wenn er begriffen wird, ist er kein Gegensatz mehr, denn das Nichts ist nicht, nur das Sein ist. Mit dem wahren Gedanken des einen, vollendeten, gegensatzlosen Seins verschwindet das andere. Mit dem Beschreiten des wahren Weges wird begriffen, daß es der einzige ist, daß es einen anderen in der Tat nicht gibt. Wo Parmenides das Sein denkt, da ist keine Entscheidung mehr. Die Forderung des transzendierenden Denkens zwingt über die Gegensätzlichkeit hinaus ins Gegensatzlose.“455

Außerdem kann das Objekt des Denkens im Gedanken nicht abwesend sein. Die intentionale Struktur des Bewusstseins bedingt notwendigerweise, dass dasjenige, woran gedacht wird, im Denken (als Gedachtes) voll präsent ist. Das Nichtsein kann also nicht gedacht werden. Es gibt im Denken kein Nichts, kein Entstehen und Vergehen. Das Denken ist immer gleich und umfassend präsent. Die Inhalte, die Gedanken mögen kommen und gehen, was bleibt ist das ewige Jetzt des Denkens, das alles umfasst. Dies ist die Wahrheit des Denkens, das auch die vielen Dinge umfasst. Denn das Objekt des Gedankens ist im Gedanken selbst notwendigerweise ganz und voll präsent. Das scheinbar unverbundene, singuläre und wirkliche Ding ist nicht nur getrennt, es ist auch Teil der Einheit des νῦν, ein Teil der Einheit mit dem Namen Alles, wie auch das Denken Teil dieses Alles ist. Die Göttin spricht also von allem: „Das Seiende in seiner Ganzheit, Vollkommenheit, Unbewegtheit und Ewigkeit ist jedes Ding, jede Erscheinung, jeder Prozess, alles, was gedacht und ausgesprochen werden kann. Denn alles sind nur Behauptungen, dass es ‚ist‘.“456 Die Göttin spricht vom großen Ganzen, das Mensch und Welt, Denken und Sein umfasst. Denn alles, sobald es nur gedacht wird, hat für das Denken und für den Denkenden schon Sein. Ταὐτὸν δ᾽ ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκέν ἔστι νόημα· Οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ὧι πεφατισμένον ἐστίν,457 Und was für das Denken existiert ist dasselbe, wie die Ursache des Denkens. Denn du wirst das Denken nicht ohne das Seiende finden, das den Gedanken geäußert hat. 455 456 457

Karl Jaspers, Die großen Philosophen, S. 647. M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 68. DK 28B8, 34 f.

Kap. 7: Parmenides von Elea

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Dieser Weg der Einheit, den die Göttin hier schildert, ist der Weg der Wahrheit. Dieser Weg wird zwar durch eine metaphysisch-logische Argumentation begleitet, deren Gültigkeit jedoch nicht durch ein allgemeines logisches Prinzip begründet wird. Vielmehr garantiert die Göttin seine Gültigkeit, und zwar durch ihre Fähigkeit, den Geist und das Sein zu binden und zu fesseln, und ihre Überredungskunst.

§ 32 Parmenides’ Lehrgedicht als Wurzel der Trennung von Denken (λόγος) und bewegter Existenz (φύσις) Unabhängig davon wie das Lehrgedicht nun zu deuten ist, kann kaum bestritten werden, dass die Deutung des Parmenides als Logiker sehr einflussreich war und weitreichende Folgen hatte. Spätestens in diesen Interpretationen des Lehrgedichtes, wenn nicht gar schon bei Parmenides selbst, geschieht eine Trennung und Gegenüberstellung von λόγος und φύσις, wobei dem λόγος der Vorrang gegenüber dem Seienden gegeben wird. Ein Auseinandertreten von λόγος und φύσις geschieht. Aber dies ist noch kein Heraustreten des Logos. Das will sagen: Der Logos tritt dem Sein des Seienden noch nicht so gegenüber und tritt ihm ‚gegenüber‘ noch nicht so auf, daß er sich selbst (als Vernunft) zum Gerichtshof über das Sein macht und die Bestimmung des Seins des Seienden übernimmt und regelt. Dahin kommt es erst und nur dadurch, daß der Logos sein anfängliches Wesen aufgibt, insofern das Sein als φύσις verdeckt und umgedeutet wird. […] Das langsame Ende dieser Geschichte, in dem wir seit langem mitten innestehen, ist die Herrschaft des Denkens als ratio (als Verstand sowohl wie als Vernunft) über das Sein des Seienden.458

In der Deutung des Parmenides als Logiker wird das Sein zum ersten Mal zum absoluten und zeitlosen Ideal, welches erst in einer völligen Abkehrung von aller Sinnlichkeit und in der Hinwendung zur strengen Argumentation sichtbar wird. Dieser Parmenides wird in den Augen der Interpreten durch die Vernunft und die logische Argumentation dazu gezwungen, jegliche Veränderung der Wirklichkeit zu leugnen. Mit dieser Auslegung des Parmenides wird ein metaphysischer Seinsbegriff geprägt, innerhalb dessen das eigentliche Sein nur dem urteilenden Denken zugänglich ist. Vollkommen und unbewegt steht das Sein – für die meisten unerkennbar – hinter den Täuschungen des Alltags. Nur folgt aus diesem Verständnis von Welt ein zentrales Problem, nämlich das Problem der Rückbindung der gewonnenen Erkenntnisse an die Welt der Erfahrung. Für Parmenides stellt sich dieses Problem noch nicht, da die Welt der Erfahrung in keiner der vorgeschlagenen Lektüren des Lehrgedichtes der 458

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 187.

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2. Teil: Historische Untersuchung

eigentliche Gegenstand des Lehrgedichtes ist. Das eigentliche Objekt seiner Untersuchung ist nicht das konkrete weltliche Seiende, sondern in der ontologischen Deutung ist es das Sein bzw. das Seiende als Allgemeines, in der argumentationstheoretischen Deutung ist der Gegenstand seiner Untersuchung die Sprache und für den Parmenides des Proömiums ist der Gegenstand der Untersuchung das Verhältnis des menschlichen Denkens zur Einheit. Welche Interpretation man auch vertritt, in keiner Interpretation ist Parmenides im logischen Teil seiner Untersuchung am konkreten und bewegten Seienden und dessen Entstehung interessiert, daher kann seine Position nicht als eindeutiger Beleg gegen die Möglichkeit der Beschreibung des Seienden als bewegte Existenz gelten. Festhalten lässt sich, dass sich für viele Interpreten bei Parmenides eine Entscheidung zeigt. Eine ‚ungriechische‘ Entscheidung für das unbewegte Sein, das ein Ergebnis der logischen Untersuchung ist, und eine Entscheidung gegen das uns sinnlich gegebene und erfahrbare Werden. Eine Entscheidung für das begrifflich-argumentative Denken und eine Entscheidung gegen die Erkenntniskraft der Sinne bzw. gegen das beobachtende Denken der Erfahrung. Auch diese Charakterisierung gilt für jede der besprochenen Deutungen: Das Eine, das Sein, die Erkenntnis oder die Wahrheit ist immer ein Ergebnis der Untersuchung des λόγος, denn die Existenz dessen, wofür das ‚es ist‘ steht, ist durch die argumentative Überzeugungskraft der Göttin garantiert und nicht durch die sinnliche Erfahrung. Unabhängig davon wie das ‚es ist‘ verstanden wird, ist das, wovon die Göttin spricht, uns also nicht sinnlich zugänglich. Nur der überzeugende λόγος des Parmenides bzw. der Göttin kann das offenbaren, wovon die Göttin spricht. Doch „[d]ieses Logische ist noch nicht leer, weil noch nicht als logisch gemeint. Daher ist aber auch die Vision nicht Bild, sondern unablösbar von ihrem Gedanken. Es ist in ihm ein Ton, der im logischen Zwingen wie ein Befehl ist, und es ist darin der Jubel der Gewissheit im Grund aller Dinge. Die Begründung des Unbegründbaren ist die Form einer prophetischen Offenbarung.“459 Es scheint die angemessenste Deutung des Lehrgedichtes ungeklärt zu lassen, welche der genannten Deutungen des Lehrgedichtes nun zu vertreten ist, da Parmenides ein Denker der Einheit ist: Seine Gedanken bewegen sich zwischen Logik und Mystik, zwischen Denken und Sein – verbinden und vereinen diese Gegensätze, um der Wahrheit näher zu kommen. Doch diese Einheit ist bei Parmenides noch nicht jene leere, logische und petrifizierende Starrheit von der Nietzsche sprach. „Nicht Parmenides hat das Sein logisch ausgelegt, wohl dagegen hat die Logik, der Metaphysik entsprungen 459

Karl Jaspers, Die großen Philosophen, S. 642.

Kap. 7: Parmenides von Elea

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und sie zugleich beherrschend, dahin geführt, daß der in den frühen Grundworten geborgene Wesensreichtum des Seins verschüttet blieb. So konnte das Sein in den fatalen Rang des leersten und allgemeinsten Begriffes hinaufgelangen.“460

460

Martin Heidegger, Der Spruch des Anaximander, GA 5, S. 352.

Dritter Teil

Der λόγος περὶ φύσεως1 als dritter Weg der Forschung So, wie wir denken, leben wir. Darum ist das Sammeln philosophischer Ideen mehr als ein Studium für Spezialisten. Es formt unsere Art zu leben. Alfred N. Whitehead, Denkweisen

Die große Frage, die im Rahmen dieser Arbeit vermittels einer Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern erneut gestellt wurde, ist die Frage nach der Beschaffenheit der Welt. Diese wird anhand der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewegung der seienden Dinge näher ausgeführt. In der Untersuchung der Vorsokratik hat sich ein mögliches Verständnis dieses Verhältnisses gezeigt, das ich als bewegte Existenz bezeichnet habe. Nun ist es jedoch so, dass die Charakterisierung als bewegte Existenz unvermittelt nur auf die Frage nach dem Woher und auf die Frage nach der Beschaffenheit der konkreten und singulären, also der physischen Seienden antworten kann. Daher verweist der Begriff ‚Welt‘ im Folgenden nur auf die konkreten, singulären physischen Seienden, die uns im Alltag begegnen und die dasjenige der physischen Welt ausmachen, das wir erfahren können. Dieses Frageinteresse klammert vieles, das auch Teil unserer Wirklichkeit ist, wie Gedanken, soziale Entitäten, Möglichkeiten usw., als Untersuchungsobjekt aus oder bedingt die Behandlung dieser Dinge nur am Rande. Dies geschieht nicht, weil diese Dinge keine Seienden wären, sondern weil sie Seiende einer anderen Art sind und uns auf andere Weisen zugänglich sind als die konkreten physischen Seienden. Die konkreten, innerweltlich begegnenden und physischen Seienden zeichnen sich nämlich dadurch aus, dass es die einzigen Seienden sind, die uns zunächst in der Erfahrung, also sinnlich, begegnen. Insofern haben wir dank der sinnlichen Erfahrung einen einzigartigen Zugang zu diesen Seienden. 1 Der Ausdruck ‚λόγος περὶ φύσεως‘ ist vom Buch X der platonischen Nomoi inspiriert. Hier behandelt der Athener die Methode der älteren Denker, die sich mit der Forschung περὶ φύσεως beschäftigten (Platon, Nomoi, 891c). Vgl. auch Gerard Naddaf, The Greek Concept of Nature.

Kap. 8: Der Weg von der bewegten Existenz zum Sein

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Kapitel 8

Der Weg von der ursprünglichen Ambivalenz der bewegten Existenz zum Sein Im vorangehenden historischen Teil wurde anhand von Beispielen versucht, die Entwicklung der Weltdeutung von der bewegten Existenz hin zu einer immer stärkeren Betonung des Seins nachzuzeichnen. In den folgenden Abschnitten möchte ich diese Entwicklung noch einmal systematisch darstellen, zusammenfassen und kritisieren. Emil Angehrn hält in seinem Buch Der Weg zur Metaphysik fest, dass der Begriff ‚Sein‘ ursprünglich auf mannigfaltige Weise verstanden werden konnte und dass im Laufe der Entwicklung der Philosophie eine bestimmte Auslegung des Seins immer stärker in den Vordergrund trat, nämlich das Sein als Existenz. Angehrn verbindet die immer stärkere Betonung der Existenz-Bedeutung des Seins mit einer immer stärkeren Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes der Philosophie auf das Ideale, also das Unzeitliche und Unveränderliche: Der Grund ist nicht mehr das Frühere, das Begründete nicht mehr das Spätere; der Ausblick auf Ursprung und Ziel bildet nicht mehr den selbstverständlichen Rahmen der Seinstheorie. Theorie erzählt keine Geschichte, sie entzieht sich dem Zwang und verweigert sich dem Reiz der Erzählung. […]; der theoretische Diskurs wendet sich ab von der Vorliebe für das Partikulare und Konkret-Individuelle, die zum movens des Geschichtenerzählens gehört.2

Die klassische Metaphysik trennt als Onto-theologie das Seiende von seiner Zeitlichkeit, indem sie es auf das göttlich konnotierte Sein hin transzendiert. Ergebnis dieser Entwicklung der Abstraktion ist eine a-historische und vergegenständlichende Seinsvorstellung. Angehrn schildert den Verlust, den eine solche Verengung des Seienden hin zu einem zeitlosen und weltlosen Sein des Seienden mit sich bringt, mit folgenden Worten: „In ihrer [der Metaphysik] Zentrierung auf die vollendete Form blendet sie die Bezirke der Unbestimmtheit, Materialität und Potenzialität aus und verhüllt damit die Verunsicherung, gegen welche das Denken Halt sucht; so verdeckt sie nicht nur eine tragende Erfahrungsschicht, sondern eine eigene Seite des Gegenstandes, den Anteil an Abwehr in der Fixierung auf Identität und Ordnung.“3 Im Verlauf dieser Entwicklungen wird die Veränderlichkeit und Vergänglichkeit des konkreten Seienden zur bloßen Fußnote der Seinsbestimmung. Erst wenn das Sein des Seienden schon bestimmt ist, wenn das Wesen des 2 3

Emil Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 49. Emil Angehrn, op.cit., S. 63, vgl. außerdem S. 61 f.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

Seins schon geklärt wurde, kommt die Bewegung des Seienden zur Sprache: Wie beiläufig wird dann erwähnt, dass dieses Seiende auch veränderlich ist oder dass es einmal entstanden ist. Die Veränderlichkeit wird jedoch immer als unwesentliche Eigenschaft des Seienden bestimmt, die Veränderlichkeit ist bloß akzidentell. Die sich zeigende Bewegung ist bloßer Schein und berührt das Wesen des Seienden nicht. Doch ist es nicht vielmehr so, dass keine Bestimmung die konkreten Seienden so wesentlich bestimmt und kennzeichnet wie ihre Vergänglichkeit?

§ 33 Die Wurzeln der gängigen Seinsvorstellung im Denken Die klassische Metaphysik ist durch eine zweifache Utopie bestimmt, denn sie versucht „[d]ie Wesensbestimmtheit jedes Einzelnen [d. i. des konkreten Seienden] und die rationale Ordnung des Alls [d. i. das Sein] zu erfassen […]“4. Diese zweifache Erkenntnisutopie wurzelt in der Vorstellung, dass die Untersuchung des Seins angemessen ist, um das Wesen alles konkreten Seienden zu erkennen. Dieses Sein wiederum, das zur Grundlage einer objektiven Erkenntnis der gesamten Wirklichkeit gemacht wird, kann nur vermittels der Vernunft erkannt werden. Nun ist es jedoch so, dass wir in der Erfahrung der Welt das „Sein des Seienden nicht unmittelbar eigens zu fassen vermögen, weder am Seienden, noch im Seienden – noch überhaupt sonstwo“5. Wir müssen uns daher das Sein als Grundlage der Erkenntnis erst erarbeiten – es ist uns nicht unvermittelt zugänglich, sondern zeigt sich uns nur in einer gewissen methodisch-theoretischen Einstellung zum Seienden. Im Folgenden möchte ich die zwei klassischen Wege zu diesem metaphysischen Sein bei Platon und bei Aristoteles nachzeichnen, um zu zeigen, wie das Zusammenspiel von Erkenntnisoptimismus und der Suche nach einer absoluten und rational zugänglichen Ordnung der Wirklichkeit zu einer Metaphysik des Seins führt, die in ihrer Beschreibung der Wirklichkeit die erfahrbare Bewegung als unwesentlich bestimmt. In einem ersten Schritt werde ich hierfür anhand der platonischen Metapher der zweiten Seefahrt den Übergang von der vorsokratischen Methode der Untersuchung der materiellen Herkunft des in der Erfahrung Gegebenen hin zur Untersuchung der Ideen als Ursachen, die Platon bevorzugt, nachzeichnen. Der zweite beispielhafte Übergang von der Untersuchung des Seienden hin zum Sein findet im Rahmen der aristotelischen Konzeption der ἐπαγογή (Herbeifüh4 5

Emil Angehrn, op.cit., S. 30. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 36.

Kap. 8: Der Weg von der bewegten Existenz zum Sein

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rung, Induktion) statt. Dies ist eine Methode, die von der konkreten Bewegung des Seienden abstrahiert, um seine allgemeinen und notwendigen Eigenschaften zu erschließen. Auf beiden Wegen, jenem der Idealisierung und jenem der Abstraktion, zeigt sich das Seiende nach der Vermittlung durch die jeweilige Methode als zeitloses und ideales Sein.

§ 34 Zwei klassische Wege zum Sein: Idealisierung und Abstraktion A. Erster Weg zum Sein – Platons Methode der Idealisierung Sokrates berichtet im Phaidon, dass er als junger Mann bestrebt war, die Ursachen des Werdens, des Vergehens und des Seins anhand der Erforschung der Natur6 zu erkennen. Der junge Sokrates folgte also der Methode der vorsokratischen Naturphilosophen und somit der Methode des λόγος περὶ φύσεως als einer versammelnden Strukturierung des Denkens durch den λόγος, die sich an der bewegten Existenz des Seienden (περὶ φύσεως) orientiert. Diese Untersuchungen führten Sokrates nun jedoch zu keiner Erkenntnis und verwirrten ihn, da die Erklärungen, die sich mit dieser Methode gewinnen ließen, immer nur eine rein physische Ausrichtung hatten: Um etwas zu erklären, wurde einfach auf etwas anderes verwiesen. So wurde z. B. das Denken als ein Produkt des Blutes oder des Feuers erklärt. Oder das Wachstum des Menschen wurde durch die Nahrungsaufnahme erklärt, ohne dabei jedoch zu klären, wie aus der aufgenommenen Nahrung Wachstum entstehen kann.7 Sokrates scheint es daher so, als wollten die Naturphilosophen das Denken oder das Wachstum erklären, indem sie einfach seiende Dinge wie das Blut oder die Nahrung als ihre Ursachen ansetzen. Diese Arten von Erklärungen erweitern für Sokrates das Verständnis der geläufigen Überzeugungen nicht, sondern verstärken nur die Verwirrung, da sie bloß scheinbare Antworten geben, die nichts erklären, sondern nur einen fragwürdigen Umstand durch einen anderen fragwürdigen Umstand ersetzen. Daraus schließt Sokrates, dass diese Methode nicht geeignet ist, um die wahren Ursachen des Seins zu erkennen.8 Die physischen Dinge sind nach Sokrates zwar notwendig für Werden, Vergehen und Sein, aber sie können nicht der wahre Grund, die wahre Ursache dieser (τὸ αἴτιον τῷ ὄντι) sein.9 Platon, Phaidon, 96a, ‚περί φύσεως ἱστορία‘. Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, S. 141 und Platon, Phaidon, 96c–d. 8 Vgl. Platon, Phaidon, 97b. 9 Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, S. 141. 6 7

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

Nun sind diese Fragen, die der platonische Sokrates als Beispiele anführt – die Frage nach der Entstehung des Denkens oder des Wachstums –, so gestellt, dass sie nicht nach dem konkreten Einzelnen fragen, sondern nach dem Denken oder eben dem Wachstum. Daher ist eine Erklärung, die sich an der bewegten Existenz orientiert, für diese Fragen nicht angemessen, auch wenn der Zusammenhang der bewegten Existenz in der Verbindung von Nahrungsaufnahme und Wachstum anzuklingen scheint. Die angeführten Erklärungen folgen daher letztlich weder der Beobachtung der bewegten Existenz der konkreten Seienden, da sie kein konkretes Seiendes beschreiben wollen, noch einer begrifflich-theoretischen Erklärungsweise, wie Platon sie vorschlagen wird, da sie zur Erklärung nicht auf allgemeine Ursachen verweisen, sondern auf die vermeintlich materielle Herkunft bzw. auf die Materialursache.10 Die Erklärungen der Naturphilosophen, so wie Platon sie hier schildert, sind also Mischformen der beiden Methoden, die sich weder an der bewegten Existenz des Einzelnen noch am begrifflichen λόγος der dialektischen Untersuchung orientieren. Diese Weise der Erklärung kann nur zu Unklarheit und Verwirrung führen. Platons Sokrates schließt aus dieser Tatsache, dass diese Erklärungen nur verwirren, dass die Klärung der materiellen Herkunft und damit die Methode der bewegten Existenz als λόγος περὶ φύσεως in keinem Fall zu einer Erkenntnis führen kann. Daher geht er davon aus, dass es besser sei, die λόγοι zu untersuchen, um Erkenntnis zu erlangen, als sich an den ὄντα zu orientieren: Danach entschied ich, sagte er [Sokrates], da ich die Untersuchung des Seienden (τὰ ὄντα) aufgegeben hatte, daß ich Vorsicht walten lassen musste, um nicht jenes Unglück zu erleiden, das diejenigen befällt, welche die Sonne während einer Sonnenfinsternis direkt anschauen. Denn so mancher ruiniert sich so seine Augen, außer er untersucht nur die Reflexion im Wasser, oder in etwas Ähnlichem. Ich dachte an diese Gefahr und befürchtete, dass meine Seele geblendet würde, wenn ich die Dinge mit meinen Augen anschaue und versuchen würde, sie mit einem meiner Sinne zu erfassen. Daher dachte ich, dass ich mich auf λόγοι stützen sollte und die Wahrheit in diesen untersuchen sollte. Dieses Bild ist vielleicht nicht angemessen, denn ich behaupte nicht, dass jener, der die Seienden durch die λόγοι untersucht, diese mehr als Abbilder untersucht, denn derjenige, der die Seienden in den Dingen untersucht. So begann ich, indem ich bei jeder Untersuchung von dem Gedanken ausging, den ich für den stärksten hielt, und dann, was mir mit diesem übereinzustimmen schien, als wahr setzte, ob es sich dabei um Ursachen handelte, oder sonst etwas. Was aber damit nicht übereinstimmte, setze ich als nicht wahr.11 10 Zur Differenz dieser beiden Beschreibungsmethoden und ihrer jeweiligen Gegenstände vgl. William A. Heidel, Περὶ Φύσεως, S. 108 f. 11 ἔδοξε τοίνυν μοι, ἦ δ᾽ ὅς, μετὰ ταῦτα, ἐπειδὴ ἀπειρήκη τὰ ὄντα σκοπῶν, δεῖν εὐλαβηθῆναι μὴ πάθοιμι ὅπερ οἱ τὸν ἥλιον ἐκλείποντα θεωροῦντες καὶ σκοπούμενοι

Kap. 8: Der Weg von der bewegten Existenz zum Sein

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Der stärkste Gedanke, so führt Sokrates weiter aus, von dem er in jeder seiner Untersuchungen ausgehen will, ist jener, dass es eine wahre Ursache für jede Bestimmung gibt. Diese ‚wahre Ursache‘ ist nun nicht selbst etwas materiell Sinnliches, sondern die eigentliche Ursache, die jeweilige Idee: So ist die Idee der Schönheit der eigentliche Grund für das Schöne und nicht die materielle Gestalt oder die sinnliche Farbe des konkreten Seienden, das als schön bestimmt wird. Nun verstehe ich nicht mehr, sagte er [Sokrates] weiter, noch kann ich die anderen gelehrten Gründe begreifen, wenn jemand mir sagt, dass die liebliche Farbe etwas schön macht, oder die Gestalt oder etwas Ähnliches, dann lasse ich all dies los, denn diese Dinge verwirren mich nur, und halte mich einfach und kunstlos und vielleicht naiv daran, dass nichts anderes etwas schön macht, als die Anwesenheit oder Gemeinschaft, nenne es wie du magst, mit der absoluten Schönheit, wodurch und in welcher Weise dies entsteht, darüber will ich noch nichts sagen; aber ich behaupte, dass schöne Dinge nur durch Schönheit schön sein können. Dies scheint mir das Sicherste […].12

Diese neue Methode der wahren Ursachen, die sich nicht an den Seienden orientiert, sondern an den Ideen und den λόγοι, beschreibt Sokrates anhand der Metapher der zweiten Seefahrt. Die erste Seefahrt ist eine Seefahrt mit Wind in den Segeln und entspricht der Erkenntnis durch die Sinne, sie steht für die Methode der Naturphilosophen. Die zweite Seefahrt ist hingegen eine Seefahrt bei Windstille, bei der man sich mühsam selbst fortbewegen muss. Diese Seefahrt steht für das mühsame sich Vortasten im Reich der λόγοι: „Die Segel im Wind der Naturphilosophen waren die Sinne und die Sinneswahrnehmungen, die Ruder der ‚zweiten Seefahrt‘ sind die vernünftigen Begriffe und die hypothetischen Voraussetzungen; gerade auf diese πάσχουσιν: διαφθείρονται γάρ που ἔνιοι τὰ ὄμματα, ἐὰν μὴ ἐν ὕδατι ἤ τινι τοιούτῳ σκοπῶνται τὴν εἰκόνα αὐτοῦ. τοιοῦτόν τι καὶ ἐγὼ διενοήθην, καὶ ἔδεισα μὴ παντάπασι τὴν ψυχὴν τυφλωθείην βλέπων πρὸς τὰ πράγματα τοῖς ὄμμασι καὶ ἑκάστῃ τῶν αἰσθήσεων ἐπιχειρῶν ἅπτεσθαι αὐτῶν. ἔδοξε δή μοι χρῆναι εἰς τοὺς λόγους καταφυγόντα ἐν ἐκείνοις σκοπεῖν τῶν ὄντων τὴν ἀλήθειαν. ἴσως μὲν οὖν ᾧ εἰκάζω τρόπον τινὰ οὐκ ἔοικεν: οὐ γὰρ πάνυ συγχωρῶ τὸν ἐν τοῖς λόγοις σκοπούμενον τὰ ὄντα ἐν εἰκόσι μᾶλλον σκοπεῖν ἢ τὸν ἐν τοῖς ἔργοις. ἀλλ᾽ οὖν δὴ ταύτῃ γε ὥρμησα, καὶ ὑποθέμενος ἑκάστοτε λόγον ὃν ἂν κρίνω ἐρρωμενέστατον εἶναι, ἃ μὲν ἄν μοι δοκῇ τούτῳ συμφωνεῖν τίθημι ὡς ἀληθῆ ὄντα, καὶ περὶ αἰτίας καὶ περὶ τῶν ἄλλων ἁπάντων ὄντων, ἃ δ᾽ ἂν μή, ὡς οὐκ ἀληθῆ. Platon, Phaidon, 99d–100a. 12 οὐ τοίνυν, ἦ δ᾽ ὅς, ἔτι μανθάνω οὐδὲ δύναμαι τὰς ἄλλας αἰτίας τὰς σοφὰς ταύτας γιγνώσκειν: ἀλλ᾽ ἐάν τίς μοι λέγῃ δι᾽ ὅτι καλόν ἐστιν ὁτιοῦν, ἢ χρῶμα εὐανθὲς ἔχον ἢ σχῆμα ἢ ἄλλο ὁτιοῦν τῶν τοιούτων, τὰ μὲν ἄλλα χαίρειν ἐῶ,– ταράττομαι γὰρ ἐν τοῖς ἄλλοις πᾶσι–τοῦτο δὲ ἁπλῶς καὶ ἀτέχνως καὶ ἴσως εὐήθως ἔχω παρ᾽ ἐμαυτῷ, ὅτι οὐκ ἄλλο τι ποιεῖ αὐτὸ καλὸν ἢ ἡ ἐκείνου τοῦ καλοῦ εἴτε παρουσία εἴτε κοινωνία εἴτε ὅπῃ δὴ καὶ ὅπως προσγενομένη: οὐ γὰρ ἔτι τοῦτο διισχυρίζομαι, ἀλλ᾽ ὅτι τῷ καλῷ πάντα τὰ καλὰ γίγνεται καλά. τοῦτο γάρ μοι δοκεῖ ἀσφαλέστατον εἶναι […]; Platon, Phaidon, 100c–e.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

gründet sich die neue Methode.“13 Sokrates will seinen Schülern anhand dieser Überlegungen zeigen, dass man die ‚wahren‘ Ursachen nur mühsam und nach viel Anstrengung erkennen kann. Diese Bemühung ist notwendig, da sich die wahrnehmbaren Dinge nicht wirklich durch andere wahrnehmbare Dinge erklären lassen, sondern nur durch allgemeine Ursachen, die sich jedoch wiederum nicht unvermittelt in den Sinnen zeigen. Sokrates berichtet im Phaidon außerdem, dass Anaxagoras’ Lehre vom νοῦς ihm einen ersten Hinweis auf die Möglichkeit dieser anderen Form der Untersuchung, die er als zweite Seefahrt schildert, gab. Anaxagoras behauptete ja, dass der νοῦς die Ursache und der Ordnungsgrund von allem sei. Doch Anaxagoras blieb nach Sokrates noch zu stark im naturphilosophischen Denken verhaftet, um das wahre Erklärungspotenzial seiner Antwort zu erfassen. Sokrates schildert dieses Vorgehen des Anaxagoras in folgendem Vergleich: Und mir scheint, es sei ihm [Anaxagoras] so gegangen, als wenn jemand sagen würde: Sokrates tut alles was er tut mit der Vernunft, dann aber wenn dieser die Gründe aufzählen würde von allem, was ich tue, dann sagen würde, ich säße hier, weil mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht und die Knochen dicht sind und durch Gelenke voneinander unterschieden, […]. Ebenso, wenn er als Ursachen unseres Gespräches die Töne und die Luft und das Gehör und tausenderlei Ähnliches anführen würde und dabei die wahren Ursachen ganz vernachlässigt, daß es nämlich den Athenern besser gefiel mich zu verdammen, und, dass es auch mir besser schien hier sitzen zu bleiben und gerechter die Strafe geduldig zu ertragen, welche sie angeordnet haben.14

Sokrates entdeckt also bei Anaxagoras erste Hinweise auf die Beschaffenheit der wahren Ursachen und vertieft diesen Gedanken des Anaxagoras, indem er ihn mit dem weiteren Gedanken der ‚wahren Ursache‘ verknüpft. Wobei eine solche wahre Ursache immer nur vermittels des νοῦς erkennbar ist. Auch an dieser Stelle untersucht Platons Sokrates kein konkretes Seiendes oder Wahrnehmbares, sondern es geht ihm um die Klärung der ‚wahren‘ Ursachen seiner Gefangenschaft: die Entscheidung der Athe-

13

Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons, S. 143. καί μοι ἔδοξεν ὁμοιότατον πεπονθέναι ὥσπερ ἂν εἴ τις λέγων ὅτι Σωκράτης πάντα ὅσα πράττει νῷ πράττει, κἄπειτα ἐπιχειρήσας λέγειν τὰς αἰτίας ἑκάστων ὧν πράττω, λέγοι πρῶτον μὲν ὅτι διὰ ταῦτα νῦν ἐνθάδε κάθημαι, ὅτι σύγκειταί μου τὸ σῶμα ἐξ ὀστῶν καὶ νεύρων, καὶ τὰ μὲν ὀστᾶ ἐστιν στερεὰ καὶ διαφυὰς ἔχει χωρὶς ἀπ᾽ ἀλλήλων, […]. καὶ αὖ περὶ τοῦ διαλέγεσθαι ὑμῖν ἑτέρας τοιαύτας αἰτίας λέγοι, φωνάς τε καὶ ἀέρας καὶ ἀκοὰς καὶ ἄλλα μυρία τοιαῦτα αἰτιώμενος, ἀμελήσας τὰς ὡς ἀληθῶς αἰτίας λέγειν, ὅτι, ἐπειδὴ Ἀθηναίοις ἔδοξε βέλτιον εἶναι ἐμοῦ καταψηφίσασθαι, διὰ ταῦτα δὴ καὶ ἐμοὶ βέλτιον αὖ δέδοκται ἐνθάδε καθῆσθαι, καὶ δικαιότερον παραμένοντα ὑπέχειν τὴν δίκην ἣν ἂν κελεύσωσιν. Platon, Phaidon, 98c–98e. 14

Kap. 8: Der Weg von der bewegten Existenz zum Sein

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ner, Sokrates zu verurteilen, und um seine eigene Entscheidung, sich dem Urteil zu stellen. Im gegebenen Beispiel, im Fall von Entscheidungen als Ursachen, mag Sokrates’ Behauptung, dass die wahren Ursachen nur im Geist zu finden sind, uneingeschränkt gelten. Auch für die Schönheit, die Gerechtigkeit und die weiteren Idealisierungen und Substantivierungen mag diese Ursachenfindung allein angemessen sein, doch scheint es nicht angebracht, zu behaupten, dass dies für alle möglichen Gegenstände von Untersuchungen gelten kann oder muss. Denn eine solche Erklärung der ‚wahren‘ geistigen Ursachen erfasst nur allgemeine und notwendige Strukturen und Zusammenhänge. Was eine solche Erklärung jedoch letztlich nicht treffen kann und wohl auch gar nicht treffen will, ist die Klärung der Beschaffenheit der konkreten und einzelnen Seienden, die in diesen Strukturen und Zusammenhängen stehen. Der Gedanke, dass das sinnlich Wahrnehmbare vielleicht auf eine andere Weise zu erklären sei als diese Tugenden, als das ideale und intelligible Sein findet sich bei Platon nicht. Die Idee, dass nur eine unangemessene Anwendung der Methode der Naturphilosophen zu Problemen führt, sucht man bei Platon wohl vergeblich, obwohl sich Ansätze zu Überlegungen dieser Art schon bei Heraklit finden lassen.15 B. Zweiter Weg zum Sein – Aristoteles’ ἐπαγογή An die Stelle des Idealen bei Platon tritt bei Aristoteles ein wesentlichnotwendiges und voll bestimmtes Sein am Seienden. Dieses Sein, die οὐσία, ist das scheinbar unverändert Bleibende des Seienden und dasjenige des Seienden, das es zu einem Individuum und zu einem Exemplar einer bestimmten Art macht. Auch dieses Notwendig-Bleibende des Aristoteles zeigt sich nicht in den Sinnen. Denn auch in der aristotelischen Konzeption zeigt sich das wahre Sein erst, wenn das Seiende durch eine bestimmte Methode vermittelt wurde. Diese Methode ist bei Aristoteles die ἐπαγογή, die abstrahierende Induktion: Das Bleibende ist Ergebnis der Beobachtung und des Vergleiches verschiedener Vorkommnisse einer Art. Was bei allen Vorkomm15 Denn Heraklit zeigt eine Möglichkeit der Ordnung auf, die sich nicht am Ideal orientiert, wenn er meint, dass die bewegliche Natur eine eigene Ordnung (einen eigenen λόγος) hat, die nur durch das beobachtende Denken (φρονεῖν) erkennbar wird. Nur das φρονεῖν ermöglicht den Menschen einen wahrheitsgemäßen Zugang zu den wechselhaften Naturerscheinungen, das Urteil der Vernunft behindert diesen Zugang. Denn „[w]as nicht mit den Sinnen beobachtet und erkannt wird, ist nur ein δοκεῖν, ein Meinen (Fr. 17 und 28)“. (Emanuel Loew, Die Vorsokratiker über Veränderung, Wahrheit und Erkenntnismöglichkeit, S. 104) Vgl. außerdem Uvo Hölscher, Anfängliches Fragen, S. 139 f.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

nissen einer Art durch jegliche Veränderung hindurch erhalten bleibt, muss zum bestimmten Sein eines jeden Seienden dieser Art gerechnet werden und ist dasjenige, was ein Seiendes dieser Art eigentlich ausmacht. Auf diese Weise kann das Sein des Seienden in seinen wesentlichen Bestimmungen erkannt werden. Das Verhältnis des konkreten Seienden und seines voll bestimmten Seins, also seines Wesens, ist jedoch noch um einiges komplexer und verwobener, als es zunächst den Anschein hat. Dieses wechselseitig verwobene Verhältnis von Wesen und konkretem Seiendem zeigt Heidegger am Beispiel des Begriffes ‚Baum‘ anschaulich auf: Wenn wir nun sagen und umgrenzen sollen, was das Wesen des Baumes sei, wenden wir uns von der allgemeinen Vorstellung weg und den besonderen Arten von Bäumen und einzelnen Exemplaren dieser Arten zu. Dieses Verfahren ist so selbstverständlich, daß wir uns fast scheuen, es eigens zu erwähnen. Gleichwohl liegt die Sache so einfach doch nicht. Wie sollen wir überhaupt das viel berufene Besondere, die einzelnen Bäume als solche, als Bäume auffinden, wie sollen wir solches, als welches Bäume sind, überhaupt auch nur suchen können, es sei denn, daß uns schon die Vorstellung dessen, was ein Baum überhaupt ist, voranleuchtet? Wenn diese allgemeine Vorstellung ‚Baum‘ so gänzlich unbestimmt und verworren wäre, daß sie uns im Suchen und Finden keine sichere Anweisung gäbe, könnte es geschehen, daß wir statt dessen Automobile oder Kaninchen als das bestimmte Besondere, als Beispiele für Baum uns zuspielen. Wenn es auch richtig sein mag, daß wir zur näheren Bestimmung der Wesensmannigfaltigkeit des Wesens ‚Baum‘ einen Durchgang durch das Besondere vollziehen müssen, so bleibt doch zum mindesten ebenso richtig, daß die Aufhellung der Wesensmannigfaltigkeit und des Wesens sich nur ins Werk setzt und steigert, je ursprünglicher wir das allgemeine Wesen ‚Baum‘, […], vorstellen und wissen. Wir mögen tausende und abertausende von Bäumen absuchen, wenn uns dabei das sich entfaltende Wissen vom Baumhaften nicht voranleuchtet und aus sich und seinem Wesensgrunde sich nicht zusehends bestimmt, – bleibt alles ein eitles Unterfangen, bei dem wir vor lauter Bäumen den Baum nicht sehen.16

Um das Wesen des Seienden überhaupt bestimmen zu können, müssen wir also schon eine Ahnung haben, wie dieses Wesen bestimmt ist. Denn um verschiedene Exemplare einer Art miteinander vergleichen zu können, muss schon bekannt sein, dass diese Seienden eben Exemplare ein- und derselben Art sind. Um das Wesen dieses Seienden zu erkennen, muss ich also schon wissen, zu welcher Art es gehört, also ungefähr wissen, was an ihm wesentlich und was unwesentlich ist, um angemessene Vergleichsmöglichkeiten zur Bestimmung des Wesens des Seienden zu haben. Das bedeutet wiederum, dass das Wesen des jeweiligen Seienden vor Beginn der Untersuchung schon zumindest so weit bekannt sein muss, dass entschieden 16

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 85 f.

Kap. 8: Der Weg von der bewegten Existenz zum Sein

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werden kann, ob das jeweilige Seiende zu der Art gehört, die jene Exemplare umfasst, deren Wesen bestimmt werden sollen. Denn wie sollen die Seienden einer Art daraufhin untersucht werden, welche Eigenschaften bleibend sind, wenn nicht klar ist, welche Seienden überhaupt zu derselben Art gehören? Um die Methode der ἐπαγογή anwenden zu können, müssen also die zu vergleichenden Seienden schon unter eine Art zusammengefasst sein. Das bedeutet, dass die ἐπαγογή als Methode schon eine gewisse Ahnung des Allgemeinen, des Wesens voraussetzt, das in der Untersuchung eigentlich erst bestimmt werden soll. Eine weitere Schwierigkeit dieser Konzeption besteht darin, dass ‚das Bleibende‘ kein eindeutiges Kriterium zur Unterscheidung der notwendigen von den akzidentellen Eigenschaften ist: Viele Bestimmungen des Seienden sind bleibend und dennoch werden sie zumeist nicht als substanzielle oder notwendige Eigenschaften gesehen. Beispiele hierfür wären alle Formen der Veränderlichkeit, Vergänglichkeit und Bewegtheit – alle Formen von Veränderung und Bewegung werden in der Tradition als akzidentell verstanden und nicht als Wesenseigenschaft gesehen, auch wenn diese Bestimmungen die einzelnen Veränderungsvorgänge überdauern und bei allen Exemplaren einer Art zu finden sind. Wenn ein Seiendes eine der sogenannten essentiellen Eigenschaften ‚verliert‘, wird dies meist nicht als Veränderung bezeichnet, sondern als Privation. Oder es wird auf das Konzept der Möglichkeiten verwiesen, um Veränderungen der essentiellen Eigenschaften umzudeuten: Ist ein Mensch, obwohl er als vernunftbegabtes Wesen bestimmt ist, aus irgendwelchen Gründen nicht mehr fähig, seine Vernunft zu betätigen, ist das keine Veränderung in den wesentlichen Eigenschaften, sondern bloß ein Verlust der Fähigkeit zur Ausübung oder zur Aktualisierung der Vernunft. Als Wesensbestimmung ist die Vernunftfähigkeit in diesem Menschen als Möglichkeit oder Anlage weiterhin vorhanden, nur kann dieser Mensch diese Anlage nicht mehr aktualisieren. Auch der Verlust der Fähigkeit der Aktualisierung der Vernunftanlage ist keine Veränderung, sondern wiederum nur eine Privation. Welches Kriterium erlaubt es nun, alle diese Bewegungen als akzidentelle Bewegungen oder als Privationen zu deuten und nicht als substanzielle Veränderungen? Welches Kriterium erlaubt es, jegliche Beweglichkeit von der Wesensbestimmung auszuschließen? Es muss also neben der Artzugehörigkeit und der Beständigkeit noch mindestens ein weiteres Kriterium geben, das gewisse Eigenschaften oder Bestimmungen vom Wesen des Gegenstandes ausschließt, auch wenn sie für alle Exemplare der untersuchten Art gelten und Veränderungen überdauern. An dieser Stelle kommt das Forschungsinteresse als Leitfaden der Untersuchung ins Spiel. Alle Bestimmungen des konkreten Gegenstandes, die kei-

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

nen unmittelbaren Bezug zu dem Forschungsinteresse aufweisen, werden notwendigerweise zu akzidentellen Eigenschaften. Das bedeutet, dass je nach Frage andere bleibende Aspekte des Gegenstandes für die Untersuchung relevant (und daher substanziell) sind und andere Aspekte, auch wenn sie erhalten bleiben, nicht relevant sind und somit als akzidentell bezeichnet werden. Die klassische Metaphysik fragt nun nach der Ordnung des Seienden, wobei die Ordnung bei Platon durch die Idee des Guten strukturiert wird und bei Aristoteles durch den unbewegten Beweger. Der unbewegte Beweger muss als letztes Ziel einer jeden Bewegung auch gut sein, da nur das Gute Zielursache sein kann. Denn letztes Ziel der theoretischen Forschung und der Metaphysik sind daher auch für Aristoteles das Gute und die Glückseligkeit. Aristoteles’ eigentliches Untersuchungsobjekt ist also die Bestimmung und Ordnung alles Seienden und alles Wirklichen durch das Gute und die Bewegung alles Seienden auf dieses Gute hin. Wenn wir das Sein oder das Wesen eines Gegenstandes innerhalb einer durch das Gute bestimmten Ordnung untersuchen, können wir die Veränderungen, die Vergänglichkeit, den Mangel und die Privation nicht mehr in das Zentrum unseres Untersuchungsinteresses stellen, da diese Aspekte gerade nicht zu unserem Forschungsinteresse (wie das Gute die Wirklichkeit zum Besten ordnet und strukturiert) passen. Doch gerade die konkreten Seienden entziehen sich wegen ihrer Beweglichkeit und Vergänglichkeit faktisch dieser ideal-guten Ordnung. Daher muss das konkrete Seiende so in den Blick gebracht werden, dass es sich als Teil dieser guten Ordnung zeigen kann. Dies gelingt Aristoteles durch Abstraktion, also dadurch, dass das Seiende aus dem weltlichen Zusammenhang gelöst, reduziert und idealisiert wird, so dass es bleibender und erkennbarer Teil der Ordnung durch das Gute werden kann. In der wissenschaftlichen Einstellung nach Aristoteles muss daher nur von aller Entwicklung und von allem Veränderbaren abgesehen werden, um auf dieses unveränderliche Allgemeine am Konkreten zu stoßen. Dieser zeitlos-gegenwärtige Aspekt des reduziert-idealisierten Seienden ist von der Entwicklungsgeschichte und den möglichen zukünftigen Entwicklungen des Gegenstandes gelöst, um das Wesen, also die οὐσία des Gegenstandes, erfassen zu können, das sich nun wunderbar in die harmonische Ordnung durch das Gute bzw. durch den unbewegten Beweger einfügt. Auch wenn die hier skizzierten Zusammenhänge bei Aristoteles selbst nicht so streng gedacht wurden17, wie es in dieser Darstellung scheint, be17 Aristoteles war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass die Bewegung ein wichtiger Aspekt der Wirklichkeit ist, wie die Physik oder De Gen. et Corr. zeigen. In der Kategorienschrift, die bis ins hohe Mittelalter im europäischen Raum die einzige erhaltene Schrift mit metaphysischem Charakter war, finden wir jedoch eine

Kap. 8: Der Weg von der bewegten Existenz zum Sein

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stimmen diese Aspekte die aristotelische Tradition und hatten so einen großen Einfluss auf das metaphysische Seinsverständnis.

§ 35 Das Sein ist dem Denken verbunden Letztlich ist das Sein als das eigentlich Wirkliche also das Ergebnis einer utopischen Suche nach dem Idealen, dem Allgemeinen und universell Gültigen, d. h. nach gewisser Erkenntnis über die bewegliche und veränderliche Welt. Das unbewegte Sein ist ein Ergebnis der Methoden der Idealisierung und der Abstraktion, die am Ideal der absoluten Erkennbarkeit und der guten Ordnung ausgerichtet sind. Sowohl Platon als auch Aristoteles suchen letztlich nicht nach einer Erkenntnis des konkreten Seienden, sondern sie wollen das letztlich Bleibende und die wahren Ursachen finden – das Sein als das Wesen des Seienden.18 Zugänglich ist das Sein für beide nur im νοῦς. Weder die Wahrnehmung noch die Sinne können unvermittelt Aufschluss über das Sein geben. Hier zeigt sich bei beiden Denkern eine sehr enge Verbindung von Denken und Sein – das Sein zeigt sich nur dem Denken, eben gerade weil es Ergebnis der Denkprozesse von Idealisierung und Abstraktion ist. Das Sein als eigentlich Wirkliches und Wesen entsteht also erst im Denken. Das zeitlose Sein ist demnach das Ergebnis bestimmter philosophischer Methoden, die entwickelt wurden, um das Relevante des Seienden mit Sicherheit und Gewissheit erkennen zu können. Das Sein ist Ergebnis einer bestimmten methodisch-gedanklichen Einstellung des Menschen zum Seienden – in diesen Fällen jene der Idealisierung und der Abstraktion. Das klassische Sein der Metaphysik steht also vermittelnd zwischen dem Denken und der Erfahrung. Die metaphysische Erkenntnisutopie, die davon ausgeht, dass eine Untersuchung des Seins des Seienden zu einer vollständigen Erkenntnis alles konkret Seienden führt, verführte die Metaphysiker jedoch auch dazu, in der Untersuchung der konkreten Welt das Sein an die Stelle des Seienden zu setzen. Das Sein wird so seiner Rolle als Vermittler von Seiendem und Denken enthoben und zum eigentlichen Gegenstand der Untersuchung.

starke Betonung des unbewegten Seins auf Kosten der Bewegung. Die Überlegungen der Kategorienschrift wurden dann zur Grundlage der Auslegung der metaphysischen Schriften, die erst später zugänglich wurden. Daher wurde Aristoteles mit einer starken Betonung auf das unveränderlich Zugrundeliegende gelesen, auch wenn sich diese Betonung nicht in allen aristotelischen Schriften so klar und eindeutig zeigt. 18 Aristoteles, Metaphysik, 1078b17 ff.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

Das Sein ist somit eigentlich Vermittler zwischen Denken und konkretem Seiendem und nicht das Andere des Denkens – ein Gedanke, der schon in der am Proömium sich orientierenden Deutung des Parmenides anklingt. Das genuin Andere des Denkens ist das als solches undenkbare, konkrete und singuläre Seiende (individuum est ineffabile) und eben nicht das gedanklich voll erfassbare Sein. Gegen eine solche Verknüpfung des Seins mit dem Denken kann eingewandt werden, dass wir zumeist ja gerade von der gegenteiligen Überzeugung ausgehen, nämlich dass das Sein gerade das Andere des Denkens und streng von ihm zu unterscheiden ist. Das Sein ist ja gerade das eigentlich Seiende, das absolut Objektive, das absolut Wirkliche, somit kann es nicht wesentlich im Denken, also im Subjektiven, verankert sein. Doch liegt hier nicht eine Verwechslung vor? Ist der offensichtliche Unterschied zwischen erlebbarer bzw. ‚objektiver‘ Wirklichkeit und unseren Gedanken nicht eigentlich der Unterschied zwischen den konkreten Seienden und dem Denken? Das konkrete sich bewegende Seiende ist das letztlich Wirkliche und somit das, was als solches nicht durch das Denken erfasst werden kann, was als solches nicht auf den Begriff gebracht werden kann – das Seiende steht dem Denken entgegen, nicht das Sein. Das Sein hingegen ist sehr wohl auch Teil des Denkens. Es ist in den meisten Fällen als Ergebnis von Idealisierung und Abstraktion eben jener Moment, der vermittelnd zwischen dem erfahrbaren konkreten Seienden und dem Denken steht. Aufgrund dieser vermittelnden Rolle ist das Sein für das Denken und für das denkende Seiende, also den Menschen, notwendig und wird auch immer notwendig bleiben. Das Sein als abstrakt-idealisierte Wesensbestimmung ist jedoch nur eine mögliche Form der Vermittlung von Seiendem und Denken, neben der noch andere Formen der Vermittlung durch methodologisch anders konstruierte Seinsbegriffe möglich sind. Auch der Begriff der ‚bewegten Existenz‘ ist ein möglicher Seinsbegriff in diesem Sinne, der jedoch nicht durch Abstraktion oder Idealisierung, sondern mit Hilfe der phänomenologisch-hermeneutischen Methode zu gewonnen wurde. Die Extreme des konkreten Seienden und des Denkens werden im Denken durch das Sein als Seinsbegriff vermittelt. Das Sein19 eröffnet in dieser Vermittlung das Seiende für das Denken, indem es das Seiende auf den Begriff bringt, also es einem λόγος gemäß ordnet und strukturiert und somit denkbar und sagbar macht, wobei dieses vermittelnde ‚Tun‘ des Seins weder einen Weltgeist noch eine Personifizierung des Seins impliziert. Das Sein tut 19 Hier ist das Sein natürlich nicht im ontologischen Sinne unbewegt gedacht, sondern als dasjenige begriffliche Moment, an dem die Darstellung des ontologischen Seienden orientiert ist, also als Seinsbegriff.

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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nichts – ebenso wenig wie unsere Träume, Befürchtungen oder Wünsche Agenten sind, die unser Handeln kausal verursachen. Dennoch sagen wir, dass uns ein Wunsch oder eine Hoffnung dazu gebracht hat, dies oder jenes zu tun. Das Gleiche gilt für eine Befürchtung oder eine Angst. Weder Wunsch noch Traum oder Furcht verursachen oder handeln hervorbringend im Sinne der causa efficiens, dennoch wirken sie strukturierend und ordnend auf uns ein und formen unsere Handlungen, Gedanken und Taten. Hinter der Wirkkraft von Träumen mag man vielleicht eine causa finalis vermuten, doch scheint die Furcht sich dieser Deutung als causa finalis ebenso zu entziehen wie das Sein. Denn das Sein als vermittelnder und eröffnender Seinsbegriff bewegt weder als causa efficiens noch als causa finalis und dennoch tut das Sein etwas: Es gibt die Ordnung vor, nach der die Seienden für das Denken versammelt werden können, d. i. auf den Begriff gebracht werden können, und ermöglicht auf diese Weise vermittelnd ein Erschließen von Welt. Das Sein ordnet und strukturiert die Erfahrung, macht sie begrifflich fassbar und ermöglicht dadurch erst Wissen und Erkenntnis. Gerade die vermittelnde Ambivalenz eines jeden Seinsbegriffes, zwischen dem sinnlichen Seienden und den unbewegten Strukturen des Denkens, kennzeichnet die einzigartige Rolle, die das Sein einnimmt – insofern man das Sein nicht auf eine Deutung einschränkt und diese dann verabsolutiert, wie das mit dem Sein als Wesen oder Essenz geschehen ist. Diese speziellen Seinsweisen als Wesen und Essenz sind eben nur bestimmte Formen der Vermittlung von Seiendem und Denken, die wesentlich durch Idealisierung und Abstraktion geprägt sind – daneben gibt es noch andere mögliche Formen der Vermittlung durch Seinsbegriffe, wie z. B. jenen der bewegten Existenz. Jeder dieser Seinsbegriffe bedingt eine je eigene Ordnung und Strukturierung des Seienden für das Denken und daher bedingt ein jeder dieser Seinsbegriffe eine eigene Logik. Kapitel 9

Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung Es gibt eine enge Verbindung zwischen dem abstrakt-idealen Sein und der klassischen Logik. Die logische Betrachtung von Urteilen führt nämlich zur Vorstellung des unbewegten Seins als Grundlage einer jeden Bewegung. Dieser Verbindung von unbewegtem Sein und logischem Denken möchte ich in den folgenden Abschnitten nachgehen. Es wurde im Bisherigen betont, welche Probleme Logik und die an der Logik orientierte Theorie mit der Beschreibung der bewegten Existenz haben. Dies eröffnet für viele Philosophen die prinzipielle Frage, ob man

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

überhaupt sinnvoll über genuine Bewegung oder bewegte Existenz sprechen kann. Es tut sich demnach die Frage nach dem Verhältnis von Sein, bewegter Existenz und dem Wesen der Sprache bzw. der Logik auf. Damit hängt wesentlich die Frage zusammen, ob es nur eine Form des angemessenen Sprechens über die Welt gibt, nämlich das widerspruchsfreie behauptende oder verneinende Urteil, wie das im klassischen Verständnis der Logik der Fall ist, oder ob es neben dieser auch andere Möglichkeiten der sprachlichen Strukturierung gibt, die zwar auch durch einen Seinsbegriff geordnet und strukturiert sind, der aber eben nicht den unbewegten Seinsbegriff der klassischen Metaphysik darstellt. In einer erneuten Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Bewegung werden auch andere, scheinbar eindeutig geklärte Probleme wieder fragwürdig: So rundweg ist nämlich noch gar nicht entschieden, ob die Logik und ihre Grundregeln überhaupt den Maßstab bei der Frage nach dem Seienden als solchem abgeben können. Es könnte umgekehrt sein, daß die gesamte uns bekannte und wie ein Himmelsgeschenk behandelte Logik in einer ganz bestimmten Antwort auf die Frage nach dem Seienden gründet, daß mithin alles Denken, das lediglich die Denkgesetze der herkömmlichen Logik befolgt, von vornherein außerstande ist, von sich aus überhaupt die Frage nach dem Seienden auch nur zu verstehen, geschweige denn wirklich zu entfalten und einer Antwort entgegenzuführen. In Wahrheit ist es nur ein Schein von Strenge und Wissenschaftlichkeit, wenn man sich auf den Satz vom Widerspruch und überhaupt auf die Logik beruft, um zu beweisen, daß alles Denken und Reden über das Nichts widersprechend und deshalb sinnlos sei. Die ‚Logik‘ gilt dabei als ein von Ewigkeit zu Ewigkeit gesicherter Gerichtshof, den selbstverständlich kein vernünftiger Mensch in seiner Befugnis als erste und letzte Instanz der Rechtsprechung anzweifeln wird. Wer gegen die Logik spricht, wird daher unausgesprochen oder ausdrücklich der Willkür verdächtigt. Man läßt diese bloße Verdächtigung schon als Beweisgrund und Einwand springen und hält sich des weiteren und eigentlichen Nachdenkens für enthoben.20

Nicht nur Heidegger, sondern auch schon Aristoteles ist der Meinung, dass eine am Urteil orientierte Untersuchung von Zusammenhängen nicht die einzige ertragreiche Form der sprachlichen Untersuchung ist. So findet sich schon bei Aristoteles die Idee, dass eine urteils-logische Untersuchung eine andere Weltbeschreibung zur Folge hat als eine naturphilosophische, wenn er über Parmenides’ Lehrgedicht Folgendes sagt: Parmenides scheint hier mit mehr Einsicht zu sprechen [als Xenophanes und Melissos]. Denn er behauptet, dass Nichtsein im Unterschied zu Sein nichts ist, außerdem behauptet er, dass das Sein notwendigerweise Eines ist und es nichts anderes gibt […]; aber unter dem Zwang seine Lehre mit den Phänomenen in Einklang zu bringen, hat er, in der Annahme, dass das Sein dem λόγος nach (κατὰ τὸν λόγον) eines ist, aber vieles in Hinsicht auf die Wahrnehmung, zwei Ursachen 20

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 27 f.

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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oder erste Prinzipien gesetzt, Heiss und Kalt, oder in anderen Worten, Feuer und Erde.21

Der urteils-logischen Betrachtung folgend (κατὰ τὸν λόγον) hat Parmenides eine Einheit als eigentlich wirklich gesetzt. Dennoch musste auch Parmenides seine Philosophie mit den Phänomenen der Veränderung in Einklang bringen (ἀναγκαζόμενος δ᾽ἀκολουθεῖν τοῖς φαινομένοις). In einer zweiten Untersuchung, die nun nicht mehr dem λόγος des Urteils folgt, sondern dem λόγος der Naturphilosophen, hat er nach Aristoteles neben dem Einen auch mehrere Prinzipien angenommen, nämlich Warmes und Kaltes.22 Obwohl die Beschreibung dem λόγος nach also eine völlig andere Darstellung der Wirklichkeit zur Folge hat als die naturphilosophische Betrachtung, sieht Aristoteles hier keinen unüberwindbaren Widerspruch im Denken des Parmenides: „Aristoteles hat offensichtlich keine Kluft zwischen den beiden Teilen des Gedichtes [des Parmenides] gesehen, weil er in ihnen eine Erklärung der wahrnehmbaren Welt unter zwei Gesichtspunkten, dem logischen und dem naturphilosophischen, erkannt hat.“23 Dies soll nun nicht bedeuten, dass die klassische Urteilslogik falsch ist oder in der Erkenntnis der Wirklichkeit nicht hilfreich. Eine solche Behauptung wäre angesichts der theoretischen und praktischen Errungenschaften unserer Zeit, die alle auch Ergebnis des logisch-urteilenden Denkens sind, wohl ebenso wahnsinnig wie die Leugnung jeglicher Bewegung in der Welt unserer Erfahrung. Es ist klar, dass das Urteil und die Logik uns eine gewinnbringende und nützliche Form der Erkenntnis ermöglichen. Doch ist nicht klar, was genau wir mit diesen Mitteln erkennen können – die Welt unserer Erfahrung kann es nicht sein, sonst wäre es dem Logiker Parmenides und seinen Schülern unmöglich gewesen, aufgrund logischer Argumente die Realität der Bewegung, die wir alltäglich erfahren, auch nur anzuzweifeln. Im Folgenden werde ich auf die metaphysischen Voraussetzungen klassischer Logik eingehen, um aufzuzeigen, inwiefern ihr Anwendungsbereich notwendigerweise auf die Behandlung des Ideal-Allgemeinen, d. h. des unbewegten Seins, beschränkt bleiben muss. Dann möchte ich mich der Möglichkeit eines λόγος der Phänomene, also einem λόγος der bewegten Existenz 21 Aristoteles, Metaphysik, 986b27 (DK 28A25). Παρμενίδης δὲ μᾶλλον βλέπων ἔοικέ που λέγειν: παρὰ γὰρ τὸ ὂν τὸ μὴ ὂν οὐθὲν ἀξιῶν εἶναι, ἐξ ἀνάγκης ἓν οἴεται εἶναι, τὸ ὄν, καὶ ἄλλο οὐθέν […], ἀναγκαζόμενος δ᾽ ἀκολουθεῖν τοῖς φαινομένοις, καὶ τὸ ἓν μὲν κατὰ τὸν λόγον πλείω δὲ κατὰ τὴν αἴσθησιν ὑπολαμβάνων εἶναι, δύο τὰς αἰτίας καὶ δύο τὰς ἀρχὰς πάλιν τίθησι, θερμὸν καὶ ψυχρόν, οἷον πῦρ καὶ γῆν λέγων. 22 Aristoteles, Metaphysik, 986b31 (DK 28A25). 23 M. Laura Gemelli Marciano, Die Vorsokratiker, Bd. 2, S. 50.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

als λόγος περὶ φύσεως zuwenden. Beide λόγοι können nebeneinander stehen, da sie ganz andere Frageinteressen und ganz andere Geltungsbereiche haben, auch wenn sie zu ganz anderen, vielleicht sogar widersprüchlichen Darstellungen von Wirklichkeit führen.

§ 36 Die Verbindung von Sein, Urteil und Metaphysik in der klassischen Logik „– Die Kinder der Unschuld, welche an Subjekt Prädikat und Objekt glauben, die Grammatik-Gläubigen, welche noch von unserem Apfel der Erkenntniß nicht gehört haben!“24

Das Medium der Logik ist das Urteil. Das Urteil soll einen gegebenen Gegenstand darlegen, ihn bestimmen, erklären und verständlich machen. Dieses analysierende und begrenzende Bestimmen der Gegenstände im Urteil nennt man Denken, und die Logik ist die Wissenschaft der Grundregeln dieses Denkens. Das Urteil ist jedoch auch ein sprachliches Phänomen und ist somit durch die Regeln der Sprache (d. i. durch die Regeln der Grammatik) bestimmt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Grammatik und die Logik sich gegenseitig bestimmen, denn die Grammatik bestimmt die sprachliche Struktur dessen, was als Urteil gelten kann. Diese Verwebung von Urteil, Grammatik und Logik hat durch ihre enge Verknüpfung dieser Strukturen mit der Metaphysik, die spätestens bei Aristoteles vollendet war, weitreichende Folgen für die Entwicklung der Philosophie. Im Nachwort zu ‚Was ist Metaphysik?‘ geht Heidegger auf diesen Zusammenhang von Logik und Metaphysik ein. Er sagt, „dass die ‚Logik‘ nur e i n e Auslegung des Wesens des Denkens ist, und zwar diejenige, die schon dem Namen nach auf der im griechischen Denken erlangten Erfahrung des Seins beruht“25. Die Logik und mit ihr auch die Sprache der Wissenschaft (das Urteil), die durch diese Logik und Grammatik bestimmt ist, ist jedoch nur eine von vielen möglichen Auslegungen der Sprache, und zwar eine Auslegung, die auf einer gewissen Erfahrung des Seins bzw. auf einer bestimmten Interpretation der Erfahrung des Seienden beruht. Wir haben diese Kontingenz der Weltbeschreibung durch die klassische Logik vergessen: „Wir kommen schon gar nicht mehr auf den Gedanken, daß all das, was wir alle längst und genug kennen, anders sein könnte, daß jene 24 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884–1885, KSA Bd. 11, S. 632 f. 25 Martin Heidegger, Nachwort zu ‚Was ist Metaphysik‘, GA 9, S. 308.

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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grammatischen Formen nicht seit Ewigkeit wie ein Absolutes die Sprache als solches zergliedern und regeln, daß sie vielmehr aus einer ganz bestimmten Auslegung der griechischen und lateinischen Sprache erwachsen sind.“26 Die zentrale Frage ist hier nicht, ob die Bestimmung des Seins zur Grammatik und Logik geführt hat oder ob Grammatik und Logik zu dieser Auslegung des Seins geführt haben – die Beeinflussung ist wohl wechselseitig. Relevant ist bloß die enge Verwebung von Grammatik, Logik und unbewegtem Sein. Das Denken des unbewegten Seins orientiert sich also an den Strukturen des Urteils. Die Ontologie des unbewegten Seins beschreibt die Welt, wie sie in unseren Urteilen über die Welt erscheint; sie beschreibt jedoch nicht die Welt, in der wir leben, sie beschreibt also nicht die Welt, wie wir sie erfahren. Diesen Zusammenhang möchte ich im Folgenden am konkreten Beispiel der aristotelischen Metaphysik genauer darstellen. In der grammatischen Schrift περὶ ἑρμηνείας führt Aristoteles eine zentrale Unterscheidung zwischen Substantiven und Verben ein. Die Ursprünge dieser Unterscheidung finden sich in Platons Sophistes27, der die Hauptwörter (ὄνοματα), also die Zeichen der Dinge, welche durch die Stimme den Handlungen zugesprochen werden, von den Zeichen für die Handlungen unterscheidet (ῥῆμα). Aristoteles definiert denselben Unterschied folgendermaßen: Die ὄνοματα werden als σεμαντικὸν ἄνευ χρόνου (Zeichen ohne Zeitlichkeit) und ῥῆμα als σεμαντικὸν χρόνου (zeitliche Zeichen) definiert.28 In dieser scheinbar harmlosen Definition ist die ganze grammatische Metaphysik des zeitlosen Seins und der Essenzen schon vorgezeichnet. Ergänzt man diese Definitionen nämlich um die These, dass vermittels einer Untersuchung der Sprache die Beschaffenheit der Wirklichkeit erkannt werden kann, ist der Grundstein der klassischen Metaphysik schon gelegt. Die Folgen dieser Überlegungen, die in den genannten Definitionen des περὶ ἑρμηνείας gründen, lassen sich am deutlichsten anhand der aristotelischen Ontologie der Kategorienschrift aufzeigen. Die These, dass die Kategorienschrift eine ontologische Schrift ist, ist nicht unumstritten. Schon Boethius war der Meinung, dass die Kategorienschrift nur Aussagen behandelt und nicht die Seienden: „praedicamentorum tractatus non de rebus, sed de vocibus est.“29 Es gibt für beide Ansätze, sowohl für denjenigen, der davon ausgeht, dass die Kategorienschrift ein metaphysisches Werk ist, als auch für jenen, der davon ausgeht, dass sie eine logische Schrift ist, gute Argumente. Es ist aber auch möglich, beide Ansätze zu vereinen, indem man davon ausgeht, dass es sich bei der Kate26 27 28 29

Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 57. Platon, Sophistes, 261e ff. Vgl. Aristoteles, De Interpretatione, Kapitel 2–4. Boethius, In Categorias Aristotelis, liber primus, 162c.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

gorienschrift um eine Untersuchung unserer Sprechweisen handelt, welche einen Aufschluss über die ontologische Beschaffenheit der Welt geben soll. Aus dieser Perspektive heraus kann das Ergebnis der Kategorienschrift folgendermaßen charakterisiert werden: Aristoteles gewinnt in der Kategorienschrift durch die Untersuchung der Art und Weise wie wir über Dinge reden eine Vorstellung der Beschaffenheit der Wirklichkeit. Das Subjekt unserer Rede über die Welt kann als Grundlage oder Träger der Rede verstanden werden, dem in der Aussage Eigenschaften zu- oder abgesprochen werden. Eine Aussage ist also nur dann eine Aussage, wenn sie etwas von etwas Zugrundeliegendem aussagt. Der Ausspruch ‚ist rot‘ ist insofern keine Aussage, da nicht klar wird, wovon überhaupt die Rede ist. Eine jede wahrheitsfähige Aussage über die Welt (also ein jedes Urteil) besteht daher aus mindestens zwei Elementen: Das eine Element bestimmt den Gegenstand der Aussage, das zweite Element das, was von dem Gegenstand ausgesagt werden soll. Ein Urteil kann nur dann wahr sein, wenn das, was im Urteil behauptet wird, sich auch in der Welt auffinden lässt. Da wir im Alltag immer wieder wahre Urteile über die Welt fällen und sich diese auch pragmatisch bewähren, kann Aristoteles also davon ausgehen, dass etwas in der Welt unserem wahren Urteil über die Welt entsprechen muss. Beide Prämissen zusammen führen zu der These, dass es, wenn es ein Zugrundeliegendes im Urteil gibt und das Urteil wahr ist, dann auch etwas in der Welt geben muss, das dem Zugrundeliegenden im Urteil entspricht. Diese Annahme der strukturellen Entsprechung von wahrem Urteil und dem, wovon es spricht, führt so zu einer Beschreibung der Welt, die aus substanziellen Trägern besteht, welche Eigenschaften an sich haben. Diese anhand der Untersuchung der Sprache gewonnenen Substanzen und Akzidenzien wurden dann in der aristotelischen Metaphysik zu einer vollständigen Beschreibung des Seienden als Seiendes, also zu einer vollständigen Ontologie, ausgearbeitet. Das heißt, dass die grundlegenden Konzepte, mit denen Aristoteles in den metaphysischen Schriften die Welt der Erfahrung untersucht und beschreibt, anhand der Struktur des Urteils gewonnen und unvermittelt auf die Struktur der Welt übertragen wurden. Doch wie konnte Aristoteles von der Untersuchung des Urteils unvermittelt auf die Beschaffenheit der Welt schließen? Zunächst ist zu sagen, dass diese Annahme intuitiv eigentlich sehr plausibel ist, da wir im Alltag, wenn wir über die Welt sprechen und behaupten, dass wir die Wahrheit sagen, auch der Meinung sind, dass es sich in der Welt so verhält, wie wir es im Urteil behaupten. Wenn wir die Wahrheit sagen, heißt das, dass die Welt so ist, wie wir es sagen. Dieses Sprechen, das etwas in der Welt benennt, ist im Alltag zumeist unproblematisch. Wir erfahren im alltäglichen Sprechen auf diese Weise eine gewisse Überein-

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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stimmung unseres Sprechens mit der Welt. Obwohl dieser unvermittelte Bezug von Urteil und Welt heutzutage sehr fragwürdig erscheint, ist unbestreitbar, dass wir diesen Bezug in unserem alltäglichen Umgang mit Welt auch heute noch unterstellen. Bei Aristoteles finden sich sogar explizite Argumente für die Parallelisierung von Urteil und Ontologie, und zwar in Gestalt eines ontologischen Wahrheitsbegriffes. Aristoteles spricht zwar davon, dass nur dem Urteil Wahrheit oder Falschheit zukommen kann und nicht dem Seienden, denn die seienden Dinge können nur sein oder nicht sein.30 Aber obwohl Aristoteles also an manchen Stellen explizit einen Wahrheitsbegriff im Sinne der Urteilswahrheit vertritt, der eine Unterscheidung zwischen dem Prädikations-ist und dem Existenzist voraussetzt, also streng zwischen Urteil und Welt unterscheidet, schwingt bei anderen Überlegungen auch noch ein anderer Wahrheitsbegriff31 mit. Dieser Wahrheitsbegriff gründet in der Intuition, dass das Prädikat ‚ist‘ dem Prädikat ‚wahr‘ im Sinne von ‚es ist der Fall‘ entspricht.32 Von etwas zu sagen, dass es wahr ist, ist dann gleichbedeutend mit der Aussage, dass das, von dem man sagt, es sei wahr, auch existiert.33 Sagt man nun von einem Urteil, dass es etwas Wahres aussagt, behauptet man damit zugleich die Existenz dessen, was im Urteil behauptet wird. Auf diesen zentralen Zusammenhang von Wahrheit, Urteil und Ontologie bei Aristoteles möchte ich im Folgenden noch etwas genauer eingehen. Aristoteles beschäftigt sich an mehreren Stellen mit der Frage, was es bedeutet, wenn wir etwas ‚wahr‘ (ἀληθές) bzw. ‚falsch‘ (ψεῦδος) nennen. Für Aristoteles gibt es wie gesagt zwei mögliche Antworten auf diese Frage. Zunächst ist jenes Urteil wahr, das die wirklichen Sachverhalte abbildet. Also wenn in einem Urteil etwas von etwas ausgesagt wird und es sich in der Welt so verhält, dann ist das Urteil wahr. Verhält es sich in der Welt nicht so, dann ist das Urteil falsch: „[…] [S]o daß der die Wahrheit sagt, der vom Getrennten urteilt, es sei getrennt, von dem Zusammengesetzten, es sei zusammengesetzt, derjenige hingegen, der anders denkt, als sich die Dinge verhalten, ist im Irrtum.“34 Dies ist die klassische Urteilswahrheit des λόγος ἀποφαντικός. Doch wovon handeln diese Urteile, die Träger der Wahrheit sind? 30

Vgl. Aristoteles, De Anima I, 432a11 und De Interpretatione. Zu diesem Wahrheisbegriff bei Aristoteles: Dirk Fonfara, Die ousia-Lehren des Aristoteles sowie Markus Enders / Jan Szaif (Hrsg.), Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit. 32 Vgl. die Arbeiten von Charles H. Kahn zum Seinsbegriff in der griechischen Antike. 33 Vgl. hier § 2. 34 Aristoteles, Metaphysik, 1051b1. 31

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

Nach Aristoteles deckt der λόγος ἀποφαντικός die Wahrheit des Zusammengesetzten auf, indem er das eigentlich Seiende, die οὐσία und ihre wesentlichen oder akzidentellen Eigenschaften, genauer bestimmt. Der λόγος ἀποφαντικός zeigt also nicht das Seiende als solches auf, sondern er zeigt nur „das Seiende in seiner Wesensbestimmtheit und Identität“35 als das Zugrundeliegende auf. Das bedeutet, dass der λόγος ἀποφαντικός des Aristoteles nicht vom Seienden als solchem spricht, sondern er spricht nur von jenem Seienden, das durch den aristotelischen Seinsbegriff strukturiert wurde, nämlich vom zusammengesetzten Seienden, das aus Substanziellem und Akzidentellem besteht. Diese Definition von Wahrheit als Urteilswahrheit kann also nur für zusammengesetztes Seiendes Gültigkeit beanspruchen. Wenn dies wirklich die einzige Möglichkeit von Wahrheit wäre, wäre es unmöglich, etwas Wahres über die bewegte Existenz zu sagen. Doch nach Aristoteles gibt es eben eine weitere Möglichkeit der Wahrheit, die in einer schauenden Berührung dessen besteht, was ist. Aristoteles kommt in seiner Untersuchung zu diesem anderen Wahrheitsbegriff, wenn er danach fragt, wie es sich denn nun mit der Wahrheit des Nicht-Zusammengesetzten verhält. Bei dem Nicht-Zusammengesetzten, sagt Aristoteles, ist das Wahre ein Berühren und Erscheinen Lassen (θιγεῖν καὶ φάναι) und das Nichtwissen ist ein Nicht-Berühren (ἀγνοεῖν μὴ θιγγάνειν), also ein Verfehlen dessen, was ist.36 Das Sagen des Wahren in diesem Sinne hat jedoch nichts mit einem Urteil oder einer Aussage (λόγος ἀποφαντικός) im Sinne des Ab- oder Zusprechens einer Eigenschaft zu tun (οὐ γὰρ ταὐτὸ κατάφασις καὶ φάσις)37, da der Gegenstand dieser Rede kein zusammengesetzter ist. Somit kann er nicht als Zugrundeliegendes verstanden werden, von dem etwas ausgesagt wird. Es gibt also auch für Aristoteles mehrere Bedeutungen des Begriffes ‚Wahrheit‘, die sich gegenseitig nicht ausschließen, da sie das Seiende je auf andere Weise auf den Begriff und in den Blick bringen. Die Angemessenheit des jeweiligen Wahrheitsbegriffes hängt für Aristoteles eben davon ab, wie der Untersuchungsgegenstand bestimmt ist. Je nach Untersuchungsgegenstand ist ein anderer Sinn von Wahrheit angemessen. Die klassische Urteilslogik erweist sich dann als jene Wissenschaft, die nach der Wahrheit des Zusammengesetzten im Urteil fragt. Daher kann 35

Günter Figal, Zu Heidegger – Antworten und Fragen, S. 99. Diese berührende Wesensschau bildet auch den Ausgang der ἐπαγογή, da wir ja, wie schon bemerkt wurde, schon eine Idee des Wesens haben müssen, um den Vorgang der ἐπαγογή überhaupt beginnen zu können. 37 Aristoteles, Metaphysik, 1051b23 f. Dieses zweite Verständnis von Wahrheit ist eben jenes Verständnis von Wahrheit, das Heidegger mit dem Begriff ‚ἀλήθεια‘ meint. Die Wahrheit des Urteils als Richtigkeit ist also nicht mit der ‚ἀλήθεια‘, im Sinne von einer Berührung des Seienden, zu verwechseln. 36

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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man, Heidegger folgend, einen begrifflichen Unterschied zwischen der Wahrheit der klassischen Logik und der anderen genannten Wahrheit einführen: Die klassische Logik als Lehre des richtigen Urteilens strebt nach Richtigkeit in der Bestimmung des Zusammengesetzten, während die an den Phänomenen orientierte Logik der bewegten Existenz als λόγος περὶ φύσεως die Wahrheit des Seienden zu berühren sucht. Die Richtigkeit (ὀρθότης) des Urteils und der Logik betrifft also einen speziellen Bereich, eine spezielle Rekonstruktion der Welt, die zwar nützlich und hilfreich ist, sich aber nicht notwendigerweise mit der sich zeigenden Wahrheit (ἀλήθεια) deckt. Doch dies ist nicht der einzige Bezug zwischen Sprachbetrachtung und Ontologie bei Aristoteles. Auch die ontologischen Untersuchungen in der Metaphysik sind wesentlich an der Weise orientiert, wie wir über die Welt urteilend sprechen. So beginnt nicht nur das Substanzbuch Z der Metaphysik mit einer Bezugnahme auf unser Sprechen: τὸ ὂν λέγεται πολλαχῶς38 – Das Sein wird auf vielfache Weise gesagt / verstanden, sondern die meisten aristotelischen Untersuchungen beginnen auf diese Weise. Aristoteles geht in seinen Untersuchungen oft von der Art und Weise aus wie wir über Dinge sprechen, indem er seine Untersuchungen mit dem Ausdruck ‚πολλαχῶς λέγεται‘ beginnt, worauf dann die Untersuchung der verschiedenen Verwendungsweisen des zu Bestimmenden im Urteil folgt. Die aristotelische Ontologie ist also in gewisser Hinsicht eine Phänomenologie unseres Sprechens, die zu einer metaphysischen Interpretation der Wirklichkeit am Leitfaden des Urteils wird. Die aristotelische Ontologie gründet somit auf einer Explikation der Strukturen des aristotelischen Sprachverständnisses. Oder vielleicht genauer: Die aristotelische Ontologie ist eine mögliche Explikation der Strukturen des Urteils und dessen Verhältnis zur Welt, die im Laufe der Philosophiegeschichte unsere Vorstellung von der Beschaffenheit der Sprache und von der Beschaffenheit der Welt entscheidend geprägt hat. Die strukturelle Übereinstimmung von Substanzontologie, Logik und Sprache liegt also auch darin begründet, dass Aristoteles seine Ontologie nach Maßgabe unseres urteilenden Sprechens über die Welt entworfen hat. Eine Untersuchung der Urteile kann aufgrund der genannten Vorentscheidungen also wieder nur zu einem zugrundeliegenden, einem unbeweglichen Sein führen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass uns die Untersuchung der Sprache der Wissenschaft, also die Untersuchung des Urteils, zunächst eben nicht zu der Erfahrung oder zu den Phänomenen führt, sondern zur Ontologie des diskreten und unveränderlichen Seins. Diese strukturelle Übereinstimmung von Prädikation und Ontologie bleibt bis heute bestehen, meist ohne dass diese Verknüpfung selbst explizit bedacht wird. Daher 38

Aristoteles, Metaphysik, 1028a.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

wurde die Ontologie lange Zeit eben nicht als Auslegung unseres urteilenden Sprechens über die Welt verstanden, sondern als allgemeingültige Beschreibung der Welt an sich, ebenso wie die Untersuchung des Seins als eine Untersuchung des Seienden (miss)verstanden wurde. Die Tatsache, dass dieser Auslegungszusammenhang zwischen klassischer Ontologie und Prädikation und nicht zwischen Ontologie und Welt besteht, wurde erst von Nietzsche bzw. Heidegger entdeckt bzw. explizit gemacht. Die Logik wird jedoch zumeist nicht als ein mögliches Instrument der Untersuchung von Urteilen und Schlüssen verstanden, sondern sie wird zum Ideal und zur Richtlinie von Wissenschaftlichkeit überhaupt. In diesem Sinne definiert Gottlob Frege die Logik „als die Wissenschaft der allgemeinsten Gesetze des Wahrseins“39. Mit dem Begriff ‚logisch‘ kennzeichnet man in Folge die (einzig) vernünftigen Strukturen des Denkens oder den entsprechenden einzig angemessenen Aufbau einer wissenschaftlichen Untersuchung. Der Ausdruck ‚unlogisch‘ ist dann gleichbedeutend mit dem Ausdruck ‚sinnlos‘ und alles was sinnlos ist, ist zugleich für die Wissenschaft oder die Philosophie wertlos. Ein Denken, das nicht durch die Strukturen der am Urteil orientierten Logik geprägt ist, wird als unverständlich und sinnlos abgetan. Solange dies so bleibt, kann natürlich nicht sinnvollerweise von der bewegten Existenz des Seienden gesprochen werden. Die enge Verwebung von Urteil, Grammatik, Logik und Metaphysik gilt jedoch nicht für jede Sprachform und alles Sprechen. Denn nicht jedes Sprechen ist logisch-urteilendes Sprechen. Diese Verwebung gilt für die Sprache der Logik und ihr Medium, das Urteil. Diese Auslegung der Sprache als Urteil ist heute jedoch zu der einzig gültigen Sprache geworden, das heißt zu der einzigen Sprache, die im wissenschaftlichen und zumeist auch im gesellschaftlichen Diskurs akzeptiert wird. Diese einzig gültige Sprache unterscheidet sich jedoch wesentlich von der Struktur der Alltagssprache bzw. von der Sprache überhaupt, die für die Zwecke der Logik und der Wissenschaft meist zu ungenau ist: „Die logische Arbeit ist gerade zu einem großen Teil ein Kampf mit den logischen Mängeln der Sprache, die uns doch wieder ein unentbehrliches Werkzeug ist.“40 Für die Zwecke der klassischen Logik ist die alltägliche Sprache, Frege nennt sie Gebrauchssprache, zu ungenau. Die Gebrauchssprache entzieht sich also der strengen Struktur der Logik. Daher muss sie erst in die eindeutige Sprache des logischen Denkens übersetzt werden. Die Gebrauchssprache zeichnet sich nun nach Frege durch Veränderlichkeit, Etymologie und eine organische Natur aus.41 Diese Eigenschaften kennzeichnen interessanterweise auch die bewegte 39 40 41

Gottlob Frege, Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, S. 39. Gottlob Frege, Nachgelassene Schriften, S. 272. Vgl. Gottlob Frege, Schriften zur Logik und Sprachphilosophie, S. 51–58.

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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Existenz. Vielleicht, so kann man spekulieren, trifft die ungenaue Gebrauchssprache die konkreten Seienden auf eine viel angemessenere Weise als das grammatisch-logisch bestimmte Urteil? Was in der bisherigen Untersuchung noch nicht zur Sprache kam, sind jene Schwierigkeiten, die diese Form des logisch bestimmten Urteilens mit sich bringt, wenn sie auf die seiende Wirklichkeit angewandt werden soll. Das wesentlichste Problem besteht darin, dass allgemeine Urteile konkrete Sachverhalte nur schwer eindeutig zu vermitteln vermögen. Philipp Frank geht sogar soweit, zu behaupten, dass Sätze ab einer gewissen Allgemeinheit gar keinen klaren Bezug zum Konkreten mehr haben: Ein in Worten oder Formeln angeschriebener Satz ist zunächst nur eine Beziehung zwischen Symbolen und kann nicht ohne weiteres als wahr oder falsch bezeichnet werden. Um ihn in eine Aussage zu verwandeln, der die Merkmale ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ zugesprochen werden können, muß genau angegeben werden, welche Beziehung zwischen Erlebnissen durch den Satz behauptet wird. […] Daher kann man ruhig annehmen, daß kurze Sätze von großer Allgemeinheit niemals ohne weiteres als ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ bezeichnet werden können, sondern, daß man dieselben Sätze sowohl als wahr wie als falsch erklären kann und beides mit Recht, je nachdem, in welcher Art man ihnen konkrete Erlebnisse zuordnet.42

Allgemeine Urteile müssen also erst in Bezug zu konkreten Erfahrungen gebracht werden, bevor ihre Angemessenheit zur Beschreibung der jeweiligen konkreten Erfahrung bewertet werden kann. Dies ist nun natürlich eine Forderung, die nicht notwendigerweise Probleme bereitet. Es gibt viele allgemeine Sätze über die Welt, deren Angemessenheit pragmatisch recht einfach feststellbar ist. So scheint ein Abgleich der Aussage „Es regnet gerade.“ mit den momentanen Wetterverhältnissen für mich in diesem Moment recht problemlos möglich. Die Sätze der Philosophie gehören jedoch zumeist nicht zu Sätzen dieser Art und die Beziehung zwischen den Inhalten und Erfahrungen, die der philosophische Satz vermitteln soll (also seinem Sinn) und den konkreten Verhältnissen, die dieser Sinn treffen will (also seiner Bedeutung) muss erst mühsam erarbeitet werden. Hält man sich in der Untersuchung der philosophischen Sätze nicht an die konkrete Bedeutung, die das Urteil vermitteln will, und verwendet Sätze und Begriffe als bloße Symbole, die bis zu einem gewissen Grad unabhängig von ihrem Sinn und ihrer Bedeutung manipuliert werden können, gerät man schnell auf den Weg der reinen Analyse von Sätzen und Begriffen und vergisst so leicht um die konkrete Bedeutung, den konkreten Inhalt der Sätze, also gerade um jenes Seiende und jene Erfahrung, die mit dem Satz eigentlich benannt werden sollten. Hält man sich in der Untersuchung des Satzes jedoch an die Erfahrung oder an das Phänomen, das der Satz vermit42

Philipp Frank, Das Kausalgesetz und seine Grenzen, S. 33.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

teln soll, und verwendet dieses als Prüfstein der Urteile und hält sich somit nicht an den Bedeutungsumfang und die Struktur der Begriffe, sondern an die Erfahrung des Gegenstandes, dann orientiert man sich am konkreten Sinn oder an der konkreten Bedeutung. Wenn die klassische Logik des Urteils dann nicht mehr als die einzig mögliche Form der Ordnung durch die Sprache verstanden wird, kann die Logik wieder ihre ursprüngliche, weitere Bedeutung erhalten. Dann ist die Logik einfach als ein Prinzip der Strukturierung zu verstehen, das ein Denken oder eine Abhandlung ordnet. Diese Ordnung ist keine absolute Ordnung, die für alle Untersuchungsgegenstände gilt, sondern eine Ordnung, die nur dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand und der jeweiligen Untersuchungsfrage angemessen sein muss. Ein in dieser Weise offenes Verständnis von Logik wird jedoch auch dadurch erschwert, dass eine jede Untersuchung, die sich nicht an den Strukturen der Logik des Urteils orientiert, für jene Denker, die diesen Logikbegriff voraussetzen, sinnlos ist, da die Logik oft mit vernünftigem Denken schlechthin gleichgesetzt wird. Dies tun sie, obwohl die Begriffe ‚νοῦς‘ und ‚λόγος‘ zunächst zwei völlig unterschiedliche Konzepte bezeichnen.43

§ 37 Der ursprüngliche λόγος als Sammlung und Ordnung Der Begriff ‚λόγος‘ drückt, wie schon erwähnt, ursprünglich ganz allgemein nur eine Sammlung des Zusammengehörigen im Sprechen oder in der Sprache aus. Eine jede Versammlung des Seienden impliziert schon eine gewisse Ordnung, die darüber bestimmt, wie oder nach welcher Hinsicht das Seiende zur Sprache gebracht wird. Somit hat jede sprachliche Darstellung, sei es in der Alltagssprache oder in einer formallogischen Sprache einen λόγος, also eine Struktur oder ein Prinzip nach dem das Seiende geordnet wird. D. h. jeder λόγος ordnet,44 jeder λόγος ist eine Ordnung, die ein vermittelbares und nachvollziehbares Sprechen über Seiende erst ermöglicht. So ist der λόγος nicht notwendigerweise auf absolut-transzendente Vernunftstrukturen bezogen, sondern bezeichnet zunächst nur eine Methode der Ordnung. Das einzige Bewertungskriterium des λόγος ist zunächst die Angemessenheit der versammelnden Ordnung für das jeweilige Fragen und die jeweils befragten Gegenstände: „Wissenschaftliches, erst recht philosophisches Denken zeichnet sich gegenüber dem Mythos dadurch aus, daß es rational, lo43 Zur Bewertung des Logischen vgl. Winfried Löffler, Einführung in die Logik, S. 36. 44 τάξις δὲ πᾶσα λόγος. Aristoteles, Physik, 252a13.

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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gisch, ist. Diese gängige Ansicht ist vor Missverständnissen zu bewahren. Weder meint sie, daß hier das Logische aus dem Nichts, ohne Antezedenzien entstehe, noch daß dasjenige, was ihm zeitlich vorausgeht, ein schlicht unlogisches oder logikfreies Denken sei. Auch der Mythos hat seinen Logos, […].“45 Doch nicht nur der Mythos hat seinen eigenen Logos, seine eigene Struktur der Darstellung und Mitteilung46, sondern jeder Versuch etwas mitzuteilen, muss einen λόγος haben, also eine Richtschnur der Versammlung, an der man sich als Hörer oder Leser – als Empfänger des λόγος – orientieren kann. Eine jede Mitteilung muss es nämlich dem Empfänger ermöglichen, zu erfassen, nach welchen Kriterien in der Mitteilung versammelt wird, um dem folgen zu können, was in der Mitteilung vermittelt werden soll. Doch diese Ordnung des Seienden durch einen λόγος ist nicht objektiv oder absolut. Der λόγος kann das Seiende immer nur im Blick auf eine gewisse Hinsicht am Seienden ordnen, da das Seiende als das Andere des Denkens sich als solches nicht in seiner vollen Beschaffenheit in Sprache oder Denken fassen lässt; die Versammlung eines jeden λόγος geschieht somit auswählend (im Fall des Seins als Wesen abstrahierend und idealisierend) und ist ein nur „teil-weise In-Besitz-nehmen, weil das zu Besitzende immer das andere bleibt“47. Dennoch ist dieses Versammeln im λόγος auch nicht bloß beliebig oder rein subjektiv. Die Zusammengehörigkeit dessen, was durch den λόγος versammelt und so in ein Verhältnis gebracht wird, ist nicht bloß vom Sammler bzw. Sprecher bestimmt. Vielmehr ist die Versammlung auch durch eine innere Ähnlichkeit, eine Entsprechung am Seienden bestimmt. Wobei bedacht werden muss, dass derjenige, der die Seienden in der Sprache versammelt, sich in seiner Versammlung nur nach jenen Ähnlichkeiten des zu Versammelnden richtet, die als für die Versammlung relevante Ähnlichkeiten bestimmt wurden. Es hängt also auch nicht vom Belieben des Sammlers ab, welche Ähnlichkeiten für die Versammlung relevant sind, sondern von der Fragestellung und dem Zweck, die das Sprechen und somit das Versammeln begründen. Je nachdem welche Frage gestellt wird, sind andere Hinsichten des Seienden für die Versammlung relevant, und je nachdem zu welchem Zweck versammelt wird, sind wiederum andere Hinsichten für die Versammlung relevant. Die relevanten Hinsichten bleiben jedoch konstant, solange sich die Untersuchungsfrage nicht ändert oder solange der Zweck der Versammlung unverändert bleibt. Das, was im λόγος versammelt wird, ist also weder 45

Emil Angehrn, Der Weg zur Metaphysik, S. 50. Für eine Darstellung des λόγος im Mythos vgl. z. B. Karl-Heinz VolkmannSchluck, Mythos und Logos, S. 134. 47 Martin Heidegger, Aristoteles, Methaphysik Θ1–5, GA 33, S. 144 f. 46

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

allein durch die objektiven Gegebenheiten noch bloß durch den Fragenden bestimmt, sondern durch etwas, das zwischen beiden steht: Nämlich die Fragen oder die Zwecke, die zwischen Fragendem und Befragtem stehen. Das, was ein λόγος am Seienden erfasst und in einen sprachlich vermittelbaren systematischen Zusammenhang bringen hilft, ist also immer nur eine Hinsicht auf das Seiende, und zwar jene Hinsicht, nach der wir in der Untersuchung fragen, oder jene Hinsicht, die für unsere Zwecke hilfreich ist. Wenn ich nach der Bewegung des Seienden frage, bringe ich daher eine andere Hinsicht des Seienden in den λόγος als jene, die sich zeigt, wenn ich nach dem Sein des Seienden frage. Das Seiende selbst ist jedoch in keiner dieser Hinsichten erschöpfend erfasst. Das versammelnde Aufzeigen des λόγος orientierte sich im Laufe der Geschichte der Philosophie stärker und stärker am unbewegt-abstrakten Sein und an jener Weise des Versammelns, die von diesem Sein bestimmt ist. Die beiden klassischen Weisen der Versammlung durch das Sein sind entweder als Teilhabe oder als Abbild bei Platon bzw. als Einordnung unter eine Art und Gattung bei Aristoteles zu verstehen. Für Platon hat das Seiende entweder Anteil oder ist Abbild einer gewissen Idee, sonst kann es nicht zu dem gehören, was von dieser Idee versammelt wird. Diese Idee gibt nämlich die dialektische Ordnung der Versammlung vor. Ein Seiendes ist so z. B. genau dann ein Lebewesen, und kann in der Rede unter den Begriff ‚Lebewesen‘ bzw. im Denken unter die Idee ‚Lebewesen‘ gebracht werden, wenn es dem Zusammenhang, welchen die Idee ‚Lebewesen‘ vorgibt, entspricht. Der λόγος, also die strukturelle Bestimmung der Idee ‚Lebewesen‘ gibt vor, wie das bestimmt ist, was unter ihr versammelt werden soll. Es wird also vorgegeben, welche Eigenschaften ein Seiendes notwendigerweise besitzen muss, um zu den Seienden zu gehören, die von der Idee ‚Lebewesen‘, bestimmt werden. Die Versammlung des Seienden folgt bei Aristoteles einer ähnlichen Struktur, nur dass die Versammlung an der οὐσία orientiert ist und vermittels der Versammlung unter Art und Gattung operiert. Dieses am jeweiligen Seinsbegriff (Idee bzw. Wesen) orientierte und ordnende Versammeln der Seienden wird im dialektischen Reden oder im Denken über eine Sache erst explizit und verbindlich. Denn erst in einer dialektischen oder reflektierenden Auseinandersetzung kann das (intelligible) Sein des jeweiligen Seienden überhaupt aufgezeigt werden, indem explizit gemacht wird, was (nach Maßgabe der Strukturierung durch Forschungsfrage und Seinsbegriff) wesentlich zum Seienden gehört. Die Seienden müssen also erst dazu gebracht werden, ihre ‚Wahrheit‘ zu zeigen, damit sie dem Sein gemäß versammelt oder eben aus der Versammlung unter ein bestimmtes Sein ausgeschlossen werden können: „Seiendes kann also aus

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seiner Unentdecktheit, d. h. Verborgenheit, herausgeholt, es kann entdeckt, d. h. unverborgen werden.“48 In diesem Zusammenhang zeigt sich der Bezug zwischen der Bedeutung von ‚λόγος‘ als Versammlung des Seienden gemäß einer Ordnung und von ‚λόγος‘ als die Sprache betreffend. Denn der λόγος bezeichnet jene Ordnung, die im dialektischen Reden aufgezeigt wird oder in solchem Reden erst entsteht. Während der Begriff ‚λόγος‘ bei den Vorsokratikern noch für alles steht, was im weitesten Sinne mit sprechendem Versammeln zu tun hat, wurde diese Bedeutung wohl schon mit Aristoteles auf ‚Wort‘ oder ‚Begriff‘ eingeengt (als das Ergebnis der Versammlung in der dialektischen Rede). Im dialektischen Reden wird also das Wesen des Seienden aufgedeckt, welches sich dann in einer Definition oder einer angemessenen Benennung (Begriff) als Ergebnis dieses Gesprächs aufbewahren und vermitteln lässt. Der λόγος hat sich hier als ein Ins-Verhältnis-Bringen von Sachverhalten und als Gewinnung von angemessenen Begriffen gezeigt. Doch in dieser Bestimmung ist noch nicht entschieden, wonach die Angemessenheit dieses Ins-Verhältnis-Bringen des λόγος bemessen wird.

§ 38 Die Logik des konkreten Seienden – der λόγος περὶ φύσεως Wenn immer wieder von der Möglichkeit einer anderen Logik, also von einer Strukturierung der Versammlung gesprochen wird, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie sich am konkreten und bewegten Seienden orientiert, also die bewegte Existenz als Seinsbegriff voraussetzt, sollte auch angegeben werden, wie eine solche Logik περὶ φύσεως aussehen könnte. Hinweise auf eine solche Logik lassen sich sowohl bei Platon als auch bei Aristoteles ausmachen. So beschäftigt sich Platon im zehnten Buch der Nomoi mit dem λόγος περὶ φύσεως, den er seinen Vordenkern zuschreibt. Dieser λόγος besteht nach Platon darin, dass die besten und schönsten Dinge durch Natur und den Zufall (φύσιν καὶ τύχην) entstehen, während jene Dinge, die durch Kunstfertigkeit (τέχνην) entstehen, weniger Wesentliches hervorbringen, denn die Kunstfertigkeit kann nur mit Hilfe jener Dinge, welche durch Natur und Zufall entstanden sind, die eigenen Gegenstände hervorbringen.49 48

Martin Heidegger, Logik. Die Frage nach der Wahrheit, GA 21, S. 7. ἔοικε, φασίν, τὰ μὲν μέγιστα αὐτῶν καὶ κάλλιστα ἀπεργάζεσθαι φύσιν καὶ τύχην, τὰ δὲ σμικρότερα τέχνην, ἣν δὴ παρὰ φύσεως λαμβάνουσαν τὴν τῶν μεγάλων καὶ πρώτων γένεσιν ἔργων, πλάττειν καὶ τεκταίνεσθαι πάντα τὰ σμικρότερα, ἃ δὴ τεχνικὰ πάντες προσαγορεύομεν. Platon, Νomoi, 889a. 49

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

Das für Platon Problematische an dieser Weltsicht liegt nun darin, dass die besten und schönsten Dinge, die vier Elemente und die aus ihnen bestehenden belebten und unbelebten Körper sowie die Planeten, nur durch Natur und Zufall geschaffen wurden. Ihre Bewegungen sind zufällig und nur durch die jeweiligen inhärenten Eigenschaften bestimmt. D. h. es sind nicht dianoetische Ursachen wie die Götter oder der νοῦς (Geist), die Leben und Existenz ermöglichen und hervorbringen, sondern Natur und Zufall. Unsere Wirklichkeit entstünde dann im Wesentlichen durch spontane Ursachen (αἰτίας αὐτομάτης), wie sich Platon im Sophistes ausdrückt50. Im Laufe dieses Abschnittes der Nomoi X wird der eigentliche Grund, die eigentliche Ursache für die Ablehnung einer Forschung περὶ φύσεως deutlich. Es ist nicht mangelnde Klarheit oder mangelnde Erklärungskraft, die Platon an dieser Stelle dazu bringt, den λόγος περὶ φύσεως abzulehnen, sondern die Tatsache, dass dieses Denken zu Gottlosigkeit und Beliebigkeit führt. Die Götter selbst sowie die Ideale der Schönheit und Gerechtigkeit, die er an dieser Stelle beispielhaft anführt, werden zumindest bis zu einem gewissen Grad zu Setzungen des Menschen, denn sie können als göttliche Seiende ja nicht das Ergebnis der Ordnung der Natur sein. Sie müssen daher durch ein Gesetz, eine Übereinkunft eingesetzt werden, was wiederum dazu führt, dass in einer Kosmologie, die an der Beschaffenheit des konkreten Seienden, also an einem λόγος περὶ φύσεως orientiert ist, nicht nur das Ideale, sondern sogar die Natur der Götter mal so und mal so festgesetzt werden kann.51 Auch hier zeigt sich wieder, dass der λόγος περὶ φύσεως nicht geeignet ist, um mit abstrakten und idealen Gegenständen umzugehen und er daher von Platon abgelehnt wird. Doch aus der Tatsache, dass sich aus einer Betrachtung, die dem λόγος περὶ φύσεως folgt, keine unveränderlichen Ideen oder Götter ableiten lassen, folgt nicht notwendigerweise der Schluss, dass es diese nicht gibt. Es besteht weiterhin die Möglichkeit, dass ein bestimmter λόγος einfach nicht dazu in der Lage ist, alles Seiende zu erkennen und durch andere λόγοι ergänzt werden muss. Gerade bei Platon lässt sich hier ein Vorbild finden, denn er hat öfters verschiedene λόγοι einander ergänzend zur Seite gestellt. Ein besonders deutliches Beispiel ist der Timaios. In diesem Dialog wird u. a. an Stelle des λόγος der εἰκὼς λόγος (wahrscheinliches Argument) gesetzt, dem dann auch noch ein εἰκὼς μῦθος (wahrscheinliche Darstellung) zur Seite gestellt wird, um jenen Schwierigkeiten Rechnung zu tragen, die der Untersuchungsgegenstand, in diesem Fall das Entstehen der konkreten materiellen Wirklichkeit, mit sich bringt. 50 51

Platon, Sophistes, 265c. Vgl. Platon, Nomoi, 889e–890b.

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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Auch Schelling findet in Platons Timaios und an manchen Stellen der aristotelischen Schriften Hinweise auf ein mögliches Logikverständnis, das sich nicht am Urteil oder der Vernunft orientiert, sondern an den konkreten Seienden. So meint der platonische Timaios in Bezug auf die Möglichkeit einer Erkenntnis der abbildhaften und bewegten Wirklichkeit und ihrer Entstehung: Wenn nun also, Sokrates, es uns unmöglich ist, in unserer Behandlung der vielen Fragen über die Götter und die Entstehung des Kosmos, eine Erläuterung zu geben, die immer und in jeder Hinsicht unwidersprüchlich und vollkommen exakt ist, so sei nicht überrascht. Wir sollten vielmehr zufrieden sein, wenn wir diese Fragen mit derselben Wahrscheinlichkeit wie andere Beschreibungen erläutern können, denn wir müssen bedenken, dass sowohl ich, der ich spreche, als auch ihr, die beurteilt nur eine menschliche Natur haben, weshalb es angemessen ist, eine wahrscheinliche Beschreibung anzunehmen, ohne darüber hinaus weiter zu suchen.52

Schelling bezeichnet diese Logik, die sich im Timaios finden lässt, als geschichtlichen λόγος im Gegensatz zum bloß dialektischen λόγος,53 der die platonischen Frühschriften dominiert. Dieser geschichtliche λόγος kennzeichnet das, was Schelling in seinem späten Denken als positive Philosophie bezeichnet, d. i. eine Philosophie, die nicht mit den Vernunftbegriffen beginnt, sondern mit den kontingenten Seienden, und deren Ziel es ist, die Welt, in der wir leben, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erkunden, und nicht rein prinzipielle und absolut gültige Zusammenhänge. In diesem Sinne sagt Schelling: „Wollen wir irgend etwas außer dem Denken Seiendes, so müssen wir von einem Seyn ausgehen, das absolut unabhängig von allem Denken, das allem Denken zuvorkommend ist.“54 Die Behandlung des Seins, das völlig unabhängig von allem Denken ist, das also außerhalb des Denkens steht, lässt sich nicht mit einer Logik vollbringen, welche an der Struktur von Urteilssprache und Grammatik orientiert ist – also einer Logik, die im Versammeln dem Leitfaden des Denkens folgt. Und sie kann auch nicht zu jener Art von Gewissheit führen, nach der die Urteilslogik strebt. Das wahre Logische, wie Schelling sich ausdrückt, ist nicht apriorisch, nicht eine bloß formale, leere Beschreibung der Denkstrukturen, sondern es 52 Platon, Timaios, 29c–d. ἐὰν οὖν, ὦ Σώκρατες, πολλὰ πολλῶν πέρι, θεῶν καὶ τῆς τοῦ παντὸς γενέσεως, μὴ δυνατοὶ γιγνώμεθα πάντῃ πάντως αὐτοὺς ἑαυτοῖς ὁμολογουμένους λόγους καὶ ἀπηκριβωμένους ἀποδοῦναι, μὴ θαυμάσῃς: ἀλλ᾽ ἐὰν ἄρα μηδενὸς ἧττον παρεχώμεθα εἰκότας, ἀγαπᾶν χρή, μεμνημένους ὡς ὁ λέγων ἐγὼ ὑμεῖς τε οἱ κριταὶ φύσιν ἀνθρωπίνην ἔχομεν, ὥστε περὶ τούτων τὸν εἰκότα μῦθον ἀποδεχομένους πρέπει τούτου μηδὲν ἔτι πέρα ζητεῖν. 53 F. W. J. Schelling, Einführung in die Philosophie der Offenbarung, SW Bd. XIII, S. 100. 54 F. W. J. Schelling, op.cit., S. 164.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

„hat in sich eine notwendige Beziehung auf das Seyn, es wird zum Inhalt des Seyns und geht notwendig ins Empirische über“.55 Denn „[d]urch die Natur seines Inhalts selbst also wird das Denken außer sich gezogen“56. Durch die Natur, d. i. die Struktur, seines Inhaltes wird das Denken zu den Seienden extra mentem gezogen, da es sich an der Struktur des Seienden orientiert und nicht an der Struktur des Denkens. Dieses wahre Logische des λόγος περὶ φύσεως ist nicht am Ideal des widerspruchsfreien Urteils orientiert, sondern am konkreten Seienden bzw. an dem, wovon im erforschenden Sprechen und Denken die Rede ist. Nach Schelling ist eine apriorische Logik jedoch nur dann unangemessen, wenn man den Fehler begeht, die Ergebnisse der logischen Untersuchung als angemessene Beschreibung der konkreten, erfahrbaren Welt zu verstehen. Schelling sieht eine solche Ablehnung der rein apriorischen Logik und eines rein dialektischen Argumentierens in gewissen Fragen zugunsten einer positiven, erklärenden Philosophie schon bei Aristoteles vorgezeichnet. Dieser selbst soll schon gegen die apriorische Logik eingewandt haben, dass zwischen der logischen Notwendigkeit und der Welt eine unüberschreitbare Kluft liegt.57 Schelling meint hierzu: „Aristoteles wendet sich vom Logischen ab, sofern es erklärend, also positiv seyn will: λογικῶς, διαλεκτικῶς und κενῶς (leer) sind ihm hier gleichbedeutende Ausdrücke, er tadelt alle diejenigen, die während sie bloß im Logischen (ἐν τοῖς λόγοις) sind, dennoch die Welt begreifen wollen […], denn das führt zu dem Fehler, daß mit etwas, was bloß logische Bedeutung hat, eine reelle Erklärung versucht wird.“58 Schelling fordert also keine völlige Ablehnung der negativen Philosophie oder der apriorischen Logik. Das wäre angesichts der Erfolge, die dank dieser Logik möglich wurden, eine völlig unangemessene Einstellung. Die Kritik der negativen Philosophie soll nur auf eine Begrenzung dessen verweisen, was mit den klassischen logischen Mitteln angemessen behandelt werden kann. Das heißt, dass die Probleme, von denen Schelling spricht, nur dann auftreten, wenn die apriorische Logik in unangemessener Weise verwendet wird, d. h. wenn logische Implikationen so behandelt werden, als würden sie unvermittelt die Beschaffenheit der konkreten Welt beschreiben. Ein Fall, in dem diese Verwechslung geschieht, ist eben jener der bewegten Existenz. Aus der logischen Widersprüchlichkeit der Beschreibung der Bewegung kann nämlich weder geschlossen werden, dass 55 F. W. J. Schelling, Einführung in die Philosophie der Offenbarung, SW Bd. XIII, S. 101 f. 56 F. W. J. Schelling, op.cit., S. 102. 57 F. W. J. Schelling, op.cit., S. 101. 58 F. W. J. Schelling, op.cit., S. 100 f.

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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es keine Bewegung gibt, noch kann aus der Struktur des Urteils unvermittelt abgeleitet werden, dass es einen bewusstseinsunabhängigen unbewegten Träger der Bewegung gibt.

§ 39 Ein Beispiel einer möglichen Logik des Bewegten – Heraklit An dieser Stelle kann Heraklit als konkretes Beispiel dafür dienen, wie eine Argumentation beschaffen sein könnte, die einen λόγος περὶ φύσεως voraussetzt und sich am konkreten Seienden orientiert. Zunächst ist bei der Betrachtung der Fragmente auffällig, dass Heraklit die Sprache nicht verwendet, um Sachverhalte möglichst präzise abzubilden. Diese abbildende Funktion der Sprache steht für Heraklit an zweiter oder gar erst an dritter Stelle. Heraklits Fragmente dienen also nicht primär dazu, die Welt inhaltlich abzubilden, sondern sie sind Zeichen für eine bestimmte erfahrbare Ordnung, die sich in der Welt und in diesen Zeichen zeigt. „Es gilt überhaupt für Heraklit, dass er die Sprache durchaus als ein Empfindender handhabt, sie aber nicht so sehr nach der logischen Klarheit hin entwickelt.“59 Diese empfindbare, erfahrbare Ordnung, an der sich die Sprache Heraklits orientiert, ist die Strukturierung der Wirklichkeit durch den Vorgang der Bewegung der Gegensätze. Diese Bewegung der Gegensätze als Gesetzmäßigkeit lässt sich nun jedoch nicht auf dieselbe Weise direkt sprachlich abbilden, wie sich Sachverhalte (Sie steht auf dem Feld.), Zustände (Es ist heiß.) oder bestimmte Dinge (Der Apfel ist rot.) mit Hilfe der Sprache darstellen lassen. Heraklit spricht von der Bewegung der Gegensätze, aber nicht indem er sie sprachlich abbildet, denn es gibt kein spezielles Beispiel, keine spezielle Situation, auf die Heraklit verweisen könnte, um die Bewegung der Gegensätze auf ausgezeichnete Weise zu kennzeichnen. Denn unabhängig davon, wovon Heraklit spricht und was er beschreibt, immer handelt es sich dabei um Bewegungen der Gegensätze oder um Ergebnisse dieser Bewegungen. Wir lernen und verstehen jedoch nur durch Unterscheidung, Abwesenheit und Differenz. Dasjenige, was auf alles zutrifft und immer da ist, fällt nur selten auf, und wenn es auffällt, dann gelangen wir nur unvermittelt zu dieser Einsicht. Daher geht Heraklit so vor, dass er dem Leser diese durchdringende Ordnung der Bewegung der Gegensätze immer wieder aufzeigt, bis sich die 59

Bruno Snell, Die Sprache Heraklits, S. 357.

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Einsicht in die Bewegung der Gegensätze dem Leser plötzlich erschließt und der Leser erkennt, dass die gesamte Welt durch diese Gesetzmäßigkeit bestimmt ist: We see him [Heraklit] communicating with his audience not, primarily, through extended arguments or appeals to ordinary experience. Rather, he organizes his ideas into verbal representations, logoi, that stand for complex relationships capable of being grasped. The relationships are recognized suddenly (if at all), […]. We perceive suddenly the complexity of the representation, and also its unity. We gain insight, noos.60

Heraklit führt uns also auf induktive Weise an die Einsicht der Bewegung der Gegensätze heran. Durch die Auseinandersetzung mit immer neuen singulären Beispielen, welche die Struktur der Bewegung der Gegensätze aufweisen, erlangen wir irgendwann plötzlich Einsicht in die strukturelle Beschaffenheit der Welt. In einem weiteren Schritt erkennen wir dann, dass sich diese Strukturen in immer weiteren Beispielen immer wieder zeigen. Somit können wir zu dem Schluss gelangen, dass es sich hier wohl um eine allgemeine Struktur der Welt handelt, ohne dies unabhängig von den Beispielen, die uns diese Einsicht ermöglicht haben, belegen zu können. Die allgemeine Struktur, die mittels der Fragmente deutlich werden soll, ist die Einheit der Gegensätze durch ihre Bewegung. Dieser ontologischen Einheit entspricht auf der Ebene der Sprache die Ambivalenz des Sinnes eines Satzes oder eines Begriffes. Daher finden wir in vielen Fragmenten nicht nur einen Sinn, sondern mehrere Ebenen von Sinn, die zwar voneinander verschieden sind, jedoch alle je nach Blickpunkt auftauchen und auf denselben Inhalt, auf dieselbe Bedeutung verweisen. So zeigen diese verschiedenen Ebenen von Sinn, die im Denken aufeinander folgend erschlossen werden, immer nur dasselbe und bilden so die Struktur der Wirklichkeit ab. Die verschiedenen Ebenen des Sinnes vermitteln also bei aller scheinbaren Differenz nur eine Bedeutung, ein- und dieselbe Struktur – den λόγος. Es entsteht der Eindruck des Flimmerns, des Hin- und Herspringens zwischen Ebenen des Sinns, die jedoch alle auf eine Bedeutung verweisen. So wie unsere Augen den Vordergrund oder den Hintergrund scharfstellen können, aber nicht beides zugleich, so springen wir in unserer Aufmerksamkeit von vordergründigem zu hintergründigem Sinn und sehen immer nur dasselbe Bild, dieselbe Bedeutung. Erst wenn wir um den Bezug des Vordergrundes zum Hintergrund wissen, also darum wissen, dass beide nur Erscheinungsformen desselben sind, können wir die Verhältnisse angemessen erschließen. Ein illustrierendes Beispiel für einen solchen Zusammenhang können optische Täuschungen wie z. B. die Hase-Ente-Illusion sein. Eine Figur kann entweder als Hase 60

Daniel W. Graham, Heraclitus: Flux, Order and Knowledge, S. 182.

Kap. 9: Der λόγος des Seins und der λόγος der Bewegung

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oder als Ente gesehen werden. Manche Menschen sind sofort dazu in der Lage, beide Figuren zu sehen, manche sehen nur die eine, andere nur die andere Figur. Den Menschen, die nur eine der Figuren sehen, kann man nur dadurch eine Einsicht in die andere Figur ermöglichen, indem man auf das Bild zeigt und darauf besteht, dass sich hier auch eine andere Figur verbirgt und diesem Menschen aufzeigt, wo Details der anderen Figur verortet sind. Hat man dann beide Figuren erkannt, kann man in der Betrachtung dieser Figur zwischen Ente und Hase umschalten, aber man kann nie wirklich beides zugleich sehen, obwohl beide Figuren aus exakt denselben Linien bestehen. Dem entspricht unsere Wahrnehmung der Gegensätzlichkeit der Gegensätze, die wir nicht als Einheit wahrnehmen können, obwohl sie eigentlich dasselbe sind. Heraklit spricht davon, dass wir nicht erkennen können, solange wir eine barbarische ψυχή61 haben: κακοὶ μάρτυρες ἀνθρώποισιν ὀφθαλμοὶ καὶ ὦτα βαρβάρους ψυχὰς ἐχόντων – Schlechte Zeugen sind die Augen und die Ohren für die Menschen, solange sie barbarische Seelen haben. Solange wir die Sprache der Augen und Ohren nicht sprechen, ihre verborgene Ordnung nicht kennen, erschließt sich uns die Welt nur als unverständliches Gemurmel. Der Ausdruck ‚βάρβαρος‘ hatte zu Heraklits Zeiten noch keinen abwertenden Beigeschmack: Er bedeutete zunächst bloß die (griechische) Sprache nicht zu sprechen oder nicht zu verstehen.62 Doch wie können wir die Sprache unserer Augen und Ohren verstehen lernen? Wie können wir die Sprache der Erfahrung lernen? Dies ist möglich, wenn wir uns an die Ordnung des Konkreten halten, an die sich auch Heraklit in seiner Darstellung hält. Heraklit geht von der Beschaffenheit des konkreten Falles, des konkreten Beispiels aus und richtet sich in seiner Argumentation nach seiner Struktur. Die Argumentation orientiert sich also nicht an allgemeinen Begriffen, Regeln oder Prinzipien, sondern an der Einheit der Gegensätze, wie sie sich in singulären Einzelfällen zeigt. Außerdem verwendet er die Sprache in einer Art und Weise, welche die Struktur dieser Ordnung nachahmt. Daher ist die Logik Heraklits auch nicht eine Logik des Urteils, in der etwas Allgemeines von etwas Singulärem prädiziert wird, sondern eine Logik, die Konkretes darstellt, um eine tiefere Ordnung aufzuzeigen. Wenn Heraklit mit seiner Darstellung erfolgreich ist, erkennen wir schließlich, dass jedes dieser konkreten Beispiele auf einen generellen Zusammenhang verweist, der alles durchdringt und bestimmt. We examine a concrete situation that is pregnant with meaning. We grasp the meaning, for instance that the duck and the rabbit are two aspects of a single 61 62

Vgl. DK 22B107. Vgl. Martha C. Nussbaum, Psyche in Heraclitus I, S. 9 f.

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representation. Under Heraclites’ tutelage we recognize that the road up and down is one and the same, those going into the rivers and the rivers themselves are the same in the face of ever-changing waters. The concrete case becomes a stand-in for a general truth. Life, or experience in general, is like a river or like a road. Heraclitus fashions concrete descriptions of the world to function as emblems of general patterns. […] Heraclitus does not begin from some alleged general truths and then deduce the implications from it, nor does he represent applications. He begins with a concrete situation that embodies or depicts the truth, lets us ‚discover‘ it, and leaves it to us to determine its range of applications. We go from specific to general, from concrete to abstract.63

Der λόγος Heraklits orientiert sich also nicht an allgemeinen, notwendigen oder prinzipiellen Zusammenhängen, sondern am einzelnen konkreten Seienden. Die Struktur der Fragmente simuliert den Zusammenhang der phänomenologisch-entdeckenden Erfahrung der Eröffnung von Bedeutung anhand von sprachlichen Zeichen, deren Sinn ambivalent ist. In der Lektüre der Fragmente kann man die Erfahrung der Eröffnung von Bedeutungen am Beispiel der Sprache erfahren, wie anhand des Fragmentes 22B48 argumentiert wurde.64 Somit gibt uns die Erfahrung mit den Fragmenten einen Leitfaden an die Hand, um der Welt sinnvoll-entdeckend zu begegnen. Diese Begegnungen, die in den Fragmenten vermittelt werden, sind natürlich nur Begegnungen zweiter Hand, aber es sind Erfahrungen, die uns darauf vorbereiten können, die Welt auf ähnliche Weise erfahrend zu entdecken. Genau so wie wir die Worte und ihre Bedeutung immer neu bestimmen müssen, ihnen neue Bedeutungsschattierungen abgewinnen und sie im Lichte neuer Fragmente neu- und umdeuten müssen, wenn wir die ambivalenten Bedeutungen der Fragmente erkennen wollen, müssen wir auf dieselbe Weise unsere Erfahrungen mit der Natur in Verbindung bringen, sie neu arrangieren und sie im Lichte neuer Erfahrungen neu- und umdeuten, um den λόγος zu erkennen, der sich in jeder Aussage, in jedem Fragment, in jeder Erfahrung zeigt. Die Fragmente lehren uns somit, was es heißt, die Sprache unserer Augen und Ohren zu sprechen. Wir können die Fragmente Heraklits daher nicht verstehen, wenn wir ihre Argumentationsstruktur analysieren oder ihre Termini definieren. Diese Vorgehensweise geht am Eigentlichen der Fragmente vorbei. Dennoch sind die Erläuterungen und Erklärungen, die diese Fragmente ermöglichen, nicht a-logisch oder sinnlos, sie setzen nur eben keine allgemeinen Prinzipien und keine apriorisch gültigen Gesetzmäßigkeiten des abstrahierend-idealisierenden Denkens wie den Satz des ausgeschlossenen Dritten oder des ausgeschlossenen Widerspruchs voraus. Die Fragmente folgen einer anderen Struktur, einer an63

Daniel W. Graham, Heraclitus: Flux, Order and Knowledge, S. 182. DK 22B48: τῷ οὐν τὸξῳ ὄνομα βίος, ἔργον δὲ θάνατος – Der Name des Bogens ist Leben, das Werk ist aber der Tod. Vgl. hier § 21. 64

Kap. 10: Auswirkungen der bewegten Existenz

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deren Logik, die dennoch intelligibel und bis zu einem gewissen Grade (wenn auch indirekt) vermittelbar bleibt. Daniel W. Graham spricht an dieser Stelle von einer Logik der rechten Gehirnhälfte oder von synthetischer oder kreativer Intelligenz, die dazu einlädt, induktive Sprünge an die Stelle von induktiven Schlüssen zu setzen: „Philosophical understanding, the only kind of knowledge worth having, results from seeing the significance of everyday experiences – making unusual connections between ordinary events and objects. To do this is to have insight, an intuitive cognition. The student can train his intuition, and intuition is not, after all, irrational: it belongs to the inductive stage of understanding, which is presupposed by the deductive; […]“65 Es sind nicht die Inhalte oder die Informationen der Urteile oder die Menge der Erfahrungen, die darüber entscheiden, ob wir weise sind: πολυμαθίη νόον οὐ διδάσκει· Ἡσίοδον γὰρ ἂν ἐδίδαξε καὶ Πυθαγόρην, αὖτίς τε Ξενοφάνεά τε καὶ Ἑκαταῖον (22B40). Sondern Weisheit besteht in der Erkenntnis des Zusammenhangs der Inhalte, also in der Erkenntnis des Zusammenhangs, welcher durch die Inhalte vermittelt werden soll: [ἓν τὸ σοφόν], ἐπίστασθαι γνώμην, ὁτέη ἐκυβέρνησε πάντα διὰ πάντων66 – Der Weise ist einer, der den Plan kennt, der alle Dinge durch alles lenkt. Um weise zu sein, müssen wir um den Plan, um den Zusammenhang wissen, nicht um die Fakten oder Sachverhalte. Kapitel 10

Auswirkungen der bewegten Existenz In den folgenden Abschnitten werde ich nun versuchen, das bisher Gewonnene für unsere heutige Zeit fruchtbar zu machen. In einem ersten Schritt geht es mir darum, für die Möglichkeit einer Philosophie als Wissenschaft zu argumentieren, die am konkreten Seienden, also an der bewegten Existenz, orientiert ist. In einem zweiten Schritt versuche ich die Veränderungen, welche die Orientierung an der bewegten Existenz für die Philosophie als Wissenschaft mit sich bringt, an möglichst konkreten Beispielen noch einmal explizit auszuarbeiten. Zum Schluss möchte ich meine persönliche Motivation, die mich dazu geführt hat, diese Arbeit zu verfassen, zum Ausdruck bringen.

65 66

Daniel W. Graham, Heraclitus: Flux, Order and Knowledge, S. 183. DK 22B41.

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3. Teil: Der λόγος περὶ φύσεως

§ 40 Bewegte Existenz als Gegenstand von Wissenschaft Bisher wurde nur versucht, den Begriff der ‚bewegten Existenz‘ einzuführen und zu bestimmen, was dieser Begriff bedeutet und welche theoretischen Implikationen er mit sich bringt. Die Frage, ob es auch eine Wissenschaft von diesem Begriff, oder besser, von dem, was dieser Seinsbegriff benennen will, geben kann, wurde bisher noch gar nicht behandelt. Gegen den Versuch einer wissenschaftlichen Untersuchung der bewegten Existenz des konkreten Einzelnen kann man nämlich prinzipiell einwenden, dass es von einem solchen Konkreten gar keine ‚wissenschaftliche‘ Erkenntnis geben kann. Denn Erkenntnis und Wissen gibt es bekanntlich nur vom Allgemeinen. Daher kann auch nur das Allgemeine wissenschaftlich behandelt werden, das Konkrete entzieht sich der wissenschaftlichen Untersuchung. Es mag wohl so sein, dass es vom Konkreten keine absolute Erkenntnis und kein eindeutiges Wissen im Sinne jener Form von Erkenntnis geben kann, die uns von der Wissenschaft und von der Erkenntnis des Allgemeinen her vertraut ist. Dennoch lässt sich auch etwas Generelles67 über die konkreten einzelnen Dinge sagen, nämlich dass sie konkret sind und dass sie sich bewegen. Diese Bewegtheit der konkreten Einzelnen lässt sich also generalisierend und strukturell beschreiben, jedoch nicht inhaltlich erkennen oder erfassen. Eine mögliche Untersuchung der bewegten Existenz läuft daher auf eine Untersuchung struktureller Wiederholungen an empirischen Einmaligkeiten68 hinaus. Das bedeutet, dass eine Untersuchung der bewegten Existenz immer noch eine Untersuchung des Generellen bleibt, nur dass sich diese Untersuchung nicht an der Struktur des abstrahierend-idealisierenden Denkens orientiert, sondern an dem erfahrungsmäßig Gegebenen. So wird das Denken, in den Worten Schellings, durch seine Ausrichtung an der Struktur des Seienden außer sich gezogen.69 Man kann sich natürlich auch die Frage stellen, ob eine solche Untersuchung des ontologischen, konkreten Seienden nicht einen Rückschritt in die 67 Hier ist die Unterscheidung zwischen Abstraktion und Generalisierung zentral. Abstraktion ist immer eine Reduktion von Komplexität und somit eine Reduktion von Information. Generalisierungen hingegen müssen nicht reduzierend sein. Eine Generalisierung liegt dann vor, wenn versucht wird, eine Beobachtung, die anhand eines Einzelfalls gewonnen wird, auf mehrere Fälle anzuwenden. 68 Mit dem Begriff ‚empirische Einmaligkeit‘ meine ich, dass es keine zwei identischen bewegten Existierenden gibt. Jedes konkrete Seiende hat eine einmalige und individuelle Geschichte, die sein Spezifisches konstituiert. Diese Geschichte prägt das Dasein und die Essenz des Seienden. 69 „Durch die Natur seines Inhalts selbst also wird das Denken außer sich gezogen.“ F. W. J. Schelling, Einführung in die Philosophie der Offenbarung, SW Bd. XIII, S. 102.

Kap. 10: Auswirkungen der bewegten Existenz

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klassische Metaphysik bedeutet. Denn zu versuchen, das Seiende direkt, ohne Abstraktion, Synthese o. Ä., also ohne eine erkenntnistheoretische Vermittlung zu erfassen, ist unmöglich. Dennoch fragt die Untersuchung der bewegten Existenz – von der geistigen Verfassung des Menschen wegblickend – nach einer Erkenntnis der Welt, in der sich der Mensch befindet. Diese Ausrichtung auf die Welt hin hat die Untersuchung der bewegten Existenz mit klassischen ontologischen Systemen gemeinsam. Doch als Mensch bin ich immer in die menschlichen Erkenntnisbedingungen eingebunden, die meine Erkenntnis ohne mein Zutun ordnen, strukturieren und synthetisieren. Wie soll da eine Erkenntnis dessen, was jenseits des Bewusstseins liegt, möglich sein? Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet die Methode der Phänomenologie, die für die Möglichkeit einer Wissenschaft der bewegten Existenz vorausgesetzt werden muss. Denn das bewusstseinsmäßig Gegebene ist nicht undifferenziert einfach bewusst – Bewusstseinsinhalte sind qualitativ bestimmt. Somit kann man Bewusstseinsinhalte auch nach ihren bleibenden Qualitäten gruppieren. Es gibt eine ganze Reihe an Bewusstseinserfahrungen, die eine bestimmte Qualität der Realität oder Objektivität aufweisen und entsprechende Bestimmungen, z. B. jene der materiellen Widerständigkeit oder die der sinnlichen Beschaffenheit, auch bei jeder Überprüfung behalten. Gegenstand der Überprüfung ist hierbei nicht die bestimmte Ausformung der sinnlichen Beschaffenheit (also die Qualität der Eigenschaften), sondern nur die Tatsache, dass es als sinnlich Beschaffenes und mehreren Sinnen Zugängliches bleibend gegeben ist. Auch im Dialog mit anderen Menschen können diese Qualitäten bestimmter Bewusstseinsinhalte überprüft und gegebenenfalls bestätigt oder widerlegt werden. Diese Bestimmungen des universalen Korrelationsapriori70 zwischen einem konkret-singulären Erfahrungsgegenstand und seiner Gegebenheitsweise ermöglicht einen phänomenologisch reflektierten Realismus, also eine Eröffnung der Welt, die weder im naiven Glauben an die absolut-objektive Erkennbarkeit der Wirklichkeit verharrt noch zu Skeptizismus oder Relativismus führt. Alles, was solche Qualitäten wie jene der Widerständigkeit und der sinnlichen Beschaffenheit besitzt, behält und außerdem im Prinzip der intersubjektiven Überprüfung standhalten kann, also auch für andere Beobachter Eigenschaften dieser Art hat oder haben kann, kann somit als wirklich angesehen werden. Wenn wir auch die Existenz eines so bestimmten Seienden 70 Das Korrelationsapriori selbst ist das Fundament der phänomenologischen Forschung. Husserl hielt seine Entdeckung 1898 so fundamental für sein Denken, dass er nach eigenen Angaben sein gesamtes Forschen in den Dienst der Ausarbeitung dieses Korrelationsapriori stellte. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften, S. 180 (Fußnote).

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nicht logisch argumentativ belegen können, ist es doch nicht angebracht, an dieser Existenz zu zweifeln. Vor allem weil, wie ich im Folgenden noch einmal systematisch darlegen werde, die Vernunft und die Urteilslogik in der Frage der konkreten Existenz keine Entscheidungshoheit haben. Die einzige Instanz, die in dieser Frage befragt werden kann, ist eben jene der Erfahrung und in der Erfahrung zeigen sich die so bestimmten Gegenstände als reale. Es stellt sich in diesem Kontext die Frage, was denn die Vernunft überhaupt erkennen kann. Normalerweise geht man davon aus, dass das konkrete und sinnliche Einzelne gar nicht mit der Vernunft erfasst werden kann. Diese Tatsache ist mit dem lateinischen Spruch individuum est ineffabile treffend ausgedrückt. Dieser Meinung waren nicht nur Platon und Aristoteles, sondern im Wesentlichen auch Thomas v. Aquin, Francisco Suárez, G. W. Leibniz, Benedictus de Spinoza, G. W. F. Hegel, J. W. von Goethe, J. G. Herder; ähnliche Gedanken finden sich bis heute bei Denkern wie Theodor W. Adorno, Emmanuel Levinas oder Franz von Kutschera. Es scheint also überwiegend die Meinung vorzuherrschen, dass es Erkenntnis im Sinne der ἐπιστήμη (als gesichertes Wissen) nur vom Allgemeinen geben kann. Der vernünftigen Erkenntnis ist nur das Allgemeine zugänglich. Wenn wir uns dann jedoch fragen, was als konkretes Seiendes existiert, so müssen wir aus den oben genannten Argumenten schließen, dass uns die Vernunft hier überhaupt keine Auskunft geben kann, da die Vernunft das konkrete Seiende nicht erfassen kann.71 Die Vernunft kann auf die Frage nach dem konkreten Seienden letztlich gar nicht mit Autorität antworten – das konkrete Seiende liegt außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches. Wenn es also um die Frage geht, ob es die konkreten Seienden wirklich gibt und wie die konkreten Seienden beschaffen sind, muss eine andere Instanz befragt werden als die Vernunft. Bei dieser anderen Instanz kann es sich dann nur um die Erfahrung handeln, die in der Gestalt der Phänomenologie zu einer wissenschaftlichen und philosophischen Methode im vollen Sinne ausgearbeitet wurde. Die erkenntnistheoretische Bewegung einer Wissenschaft der bewegten Existenz ist eine Bewegung zu den Dingen selbst und verdankt sich, wenn es sie geben kann, der theoretischen Fundierung durch die phänomenologische Tradition. Der Preis für diese Bewegung zu den Dingen selbst ist der Verlust der Möglichkeit objektiver und gewisser Erkenntnis und die Abschwächung der Rolle der Vernunft und der Urteilslogik zugunsten der phänomenologisch-hermeneutischen Erfahrung in all jenen Fragen, welche 71 Eine Ausnahme wäre die intellektuelle Anschauung, im Rahmen derer die Vernunft das konkrete Einzelne als solches voll erfassen kann.

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das konkrete Seiende betreffen. Daher impliziert dieses Vorgehen keinen naiven Realismus, der im Sinne einer Adäquationsvorstellung davon ausgeht, dass unsere Erkenntnis oder unsere Erfahrung der Phänomene ein getreues und vollständiges Abbild der Realität liefern. Vielmehr wird nur die realistische These vorausgesetzt, dass in der Erfahrung der Phänomene konkrete Realität überhaupt erst zugänglich wird.72 Ob und inwieweit das, was uns von der Realität zugänglich ist, zu (objektiv bzw. absolut) Erkennbarem werden kann, ist eine ganz andere Frage. Insofern bleibt auch in dieser realistischen Position Erkenntnis eine Vermittlungsbewegung, nur dass sie nicht zwischen dem Wirklichen an sich und dem Bewusstsein als solchem vermittelt, sondern zwischen dem erfahrenen Phänomen und dem rationalen Denken. Gegen den Vorwurf eines möglichen Rückschrittes einer so bestimmten Wissenschaft der bewegten Existenz in vor-kantianische Erkenntnisutopien metaphysischer Systeme kann außerdem vorgebracht werden, dass das konkrete Seiende als Einzelnes auch im Begriff der ‚bewegten Existenz‘ inhaltlich unbestimmt bleibt. Das Seiende an sich kann auch als bewegte Existenz nicht inhaltlich im Sinne der ἐπιστήμη erkannt werden. Es lässt sich also keine inhaltliche Bestimmung des Seienden an sich ableiten, außer dass das Seiende konkret ist und dass es bewegt ist. Der Begriff der ‚bewegten Existenz‘ ermöglicht es zwar, die generelle Struktur des Konkreten zu vermitteln, aber sie ermöglicht nichts darüber hinaus. Die einzige Autorität in Fragen, die das Konkrete betreffen, also die phänomenologische Erfahrung, zeigt uns nämlich nirgends etwas Notwendiges, Unveränderliches oder Absolutes. Gegen den Einwand, dass eine Untersuchung der bewegten Existenz sinnlos ist, da sie sich nur in Aporien verstrickt, kann daher auch eingewandt werden, dass Veränderung und Bewegung nur dann ein Problem für das Denken sind, wenn Denken zum abstrahierend-idealisierenden Denken und somit als rein begrifflich-logisches Erschließen verstanden wird. Das Phänomen der Bewegung ist in der Beschreibung der Welt nur dann problematisch, wenn wir der Erkenntnisutopie der klassischen Metaphysik nachhängend der Meinung sind, dass die Welt vollkommen erkennbar sein muss. Für die Erfahrung, für das konkrete Leben und Erleben ist Veränderung hingegen kein Problem. Das bedeutet, dass uns Veränderung und Bewegung nur solange als problematische Konzeptionen erscheinen, solange wir uns an der Struktur des Urteils, der begrifflichen Analyse orientieren und eben nicht an der Ordnung der Welt, in der wir als körperliche und bewegte Wesen leben. 72 Diese erkenntnistheoretische Position entspricht auch in der Voraussetzung der phänomenologischen Methode weitgehend Nicolai Hartmanns kritischem Realismus. Vgl. Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis.

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§ 41 Konkrete Anwendungen der bewegten Existenz In diesem Abschnitt möchte ich der Frage nachgehen, was der Begriff der ‚bewegten Existenz‘ leisten kann. Der Begriff der ‚bewegten Existenz‘ erfüllt zumindest zwei Aufgaben. Zum einen benennt er die Art und Weise wie konkrete Seiende vorkommen. Zum anderen beinhaltet der Begriff der ‚bewegten Existenz‘ eine methodologische Anleitung, um das konkrete Seiende angemessener zu beschreiben, als es mit Hilfe der Methoden der Abstraktion oder der Idealisierung möglich ist. In der ersten, ontologischen, Hinsicht impliziert der Begriff der ‚bewegten Existenz‘ nur, dass jedes konkrete Seiende nicht etwas substanziell Zeitloses ist, sondern das Ergebnis seiner eigenen Entwicklung. Jedes innerweltliche Seiende, das jetzt begegnen kann, ist eine Konsequenz bzw. eine Folge all jener vergangenen Entwicklungen, die dieses Seiende hervorgebracht haben. Das konkrete Seiende ist letztlich also nicht durch einen unveränderlichen und unbewegten Kern bestimmt, sondern durch seine Entstehungsgeschichte. Biologische Organismen sind wohl zu offensichtliche Belege für diese These und daher nicht sehr aussagekräftig, denn wer würde bestreiten, dass diese Pflanze oder dieser Hund Ergebnis seiner eigenen Entstehungsgeschichte ist? Heraklit hatte die Beispiele vom Feuer und vom Fluss vorgebracht, um die Vorstellung einer Existenz zu erleichtern, die wesentlich durch Bewegung bestimmt ist. So konstituiert nach Heraklit erst das Fließen des Wassers im Fluss die beständige und bewegte Existenz des Flusses. Der Fluss ist nichts als das Ergebnis seiner Bewegungen. Ähnliches gilt für das Feuer: Erst die beständige Verwandlung des Brennmaterials macht die Existenz der Flamme möglich. Doch auch diese Beispiele Heraklits scheinen tendenziös, da Feuer und Flüsse offensichtlich bewegt sind und diese Bewegung offensichtlich die Existenz des Flusses bzw. der Flamme bedingt. Doch auch anorganische und beständige Entitäten wie Berge lassen sich als bewegt existierend verstehen. Die Alpen, wie wir sie jetzt vor uns sehen, sind das Ergebnis einer beständigen Verschiebung und Aufschüttung von Gesteinsmassen durch die Bewegung der architektonischen Platten. Die Alpen sind in ihrer konkreten Existenz das Ergebnis einer Entwicklung. Sie sind also von den Ereignissen und Entwicklungen ihrer Vergangenheit bestimmt. Viele dieser Ereignisse haben Spuren hinterlassen, die es uns heute ermöglichen, die Geschichte der Alpen in groben Zügen nachzuverfolgen. Nun ist diese Entstehungsgeschichte aber immer schon vergangen, wenn wir ein Seiendes jetzt untersuchen. Die Entstehungsgeschichte ist somit zwar unwiederbringlich vergangen, aber sie kann anhand von Spuren (zumindest teilweise) rekonstruiert werden. Doch eine solche Rekonstruktion

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wird wohl nie vollständig oder abschließbar sein – individuum est ineffabile. Denn obwohl das konkrete Seiende noch Spuren so mancher Entwicklungen an sich tragen wird, die sich bei einer phänomenologischen Untersuchung sehr wohl zeigen, wird es auch viele Entwicklungen geben, die jetzt nicht mehr erscheinen. So lässt z. B. eine erblühte Blume keine oder nur sehr beschränkte Rückschlüsse auf die Ereignisse zu, die dem Keim widerfahren sind. Dennoch ist die Blume durch eben diese Entwicklungen wesentlich bestimmt – sie ist somit das Ergebnis dieser Entwicklungen des Keimes und natürlich noch vieler weiterer Entwicklungen, die sich im Laufe der Zeit ergeben haben. Es gibt außerdem einige alltägliche Intuitionen und Erfahrungen, die sich nur verstehen lassen, wenn die Entstehungsgeschichte wesentlich für die Beschaffenheit des Seienden ist. So scheint es im Allgemeinen sehr naheliegend zu sein, zwischen Original und Fälschung zu unterscheiden, auch wenn die zwei Exemplare, die vor uns liegen, völlig gleich erscheinen. Welchen relevanten Unterschied außer eben seiner Entstehungsgeschichte gibt es in diesem Fall zwischen Original und Fälschung? Die Entstehungsgeschichte bestimmt somit das Seiende auch dann, wenn sich zunächst keine Unterschiede zeigen. Oft ist es aber auch so, dass wir am Ergebnis einer Entwicklung Unterschiede feststellen, deren Ursachen sich nicht unabhängig von der Entstehungsgeschichte ausmachen lassen. So wird ein Gericht, selbst wenn alle Zutaten und alle Vorgänge im Wesentlichen die gleichen sind, unterschiedlich schmecken, wenn es von verschiedenen Köchen zubereitet wird. Ähnliches gilt für Nahrungsmittel. Die Art und Weise des Anbaus beeinflusst das Ergebnis, auch wenn die beteiligten Faktoren (Samen, Erde, Maß an Licht und Wasser) äquivalent sind. Auch diese Unterschiede im Ergebnis lassen sich nur verstehen, wenn in Betracht gezogen wird, dass die Art und Weise des Entstehens, d. h. das Wie des Entstehens, das Was des konkret Bestehenden wesentlich beeinflusst. In allen diesen Fällen ist also das Wie der Entstehung mindestens ebenso relevant wie das (scheinbar) zeitlose Was des Seienden, wenn nicht sogar relevanter. Mit der Bestimmung der Seinsweise des konkreten Seienden als bewegte Existenz ist also auch ein methodologisch-epistemologischer Anspruch verbunden. Wenn das konkrete Seiende als bewegte Existenz gedeutet wird, müssen auch Methoden zur Verfügung gestellt werden, um dieses Verständnis des Seienden zumindest für philosophische Untersuchungen fruchtbar zu machen. D. h. es muss Ansätze geben, wie die bewegte Existenz auf den Begriff gebracht werden kann bzw. wie diese Struktur auch in der philosophisch-sprachlichen Behandlung so gut wie möglich bewahrt werden kann. Hier müssen die klassischen Ideale der Begriffsbildung, nämlich im Begriff das unveränderliche Wesen des Seienden in seiner Wahrheit mit Gewissheit zu erfassen, aufgegeben werden und z. B. durch eine narrative Erfassung

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ersetzt werden. Die Methode der narrativen Beschreibung der bewegten Existenz erlaubt jedoch nur eine Annäherung an das Seiende, eine Orientierung am Seienden, nie aber eine letzte Erfassung oder ein ‚Begreifen‘ und Besitzen des Seienden. Drei ausgezeichnete Beispiele der Generation von Begriffen, die sich an der narrativen Beschreibung durch die bewegte Existenz orientieren, wurden im propädeutischen Teil angeführt, nämlich die Begriffe ‚φύσις‘, ‚λόγος‘ und ‚τὸ ὄν‘ bzw. ‚τὸ εἶναι‘, die ich im Folgenden noch einmal zusammenfassend darstellen werde. Der Begriff der ‚φύσις‘ zielt „auf den Ursprung, den Wuchs und den Bau der Dinge, die wir vorfinden“73. Die gegenwärtige Natur der Dinge hängt daher eng mit ihrer Herkunft, ihrem Entstehen zusammen und lässt sich nicht unabhängig von ihrer Herkunft verstehen. Ebenso wie der Begriff ‚φύσις‘ ursprünglich nicht nur auf ein vollendetes Seiendes verwies, sondern auch auf den Vorgang des seiend Seins, verweist λόγος nicht nur auf das Ergebnis eines Vorganges der Versammlung, sondern auch auf die Tätigkeit der Sammlung selbst, die erst zu diesem Ergebnis führt. Der Begriff ‚λόγος‘ verweist also sowohl auf den Vorgang des Sammelns und Zusammenbringens des in einer Hinsicht Gemeinsamen als auch auf das Ergebnis dieses Vorganges, also Begriff und Definition. Ebenso wie ‚φύσις‘ verweist also auch ‚λόγος‘ sowohl auf einen Vorgang als auch auf das Ergebnis des Vorganges. Wenn also die φύσις oder der λόγος eines Seienden bestimmt werden sollen, kann nicht einfach eine zeitlose Definition gegeben werden. Die wesentlichen Momente der Entstehung müssen Teil der Definition bleiben. Auch wenn die Momente der Entstehung nicht immer explizit genannt werden, müssen sie in der Behandlung der φύσις oder des λόγος des Seienden immer mitbedacht werden.74 Ein Beispiel für diese Vorgangsweise kann diese Arbeit sein: Im Versuch das Verhältnis von Sein und Bewegung des konkreten Seienden zu bestimmen, habe ich die diversen Bestimmungen und Verhältnisse geschildert und sie dann in eine systematische Bestimmung einfließen lassen. Die systematische Bestimmung kann nun unabhängig von der historischen Untersuchung, von der Beschreibung der Entstehungsgeschichte behandelt werden, aber die systematische Bestimmung würde dadurch einiges an Substanz und Bestimmtheit verlieren. Die Begriffe ‚ὄν‘ und ‚ὄντα‘ als ‚ἐον‘ und ‚εὄντα‘ sind, wie ich gezeigt habe, verbal konnotiert und bezeichnen ein Sein, dessen Existenz als Vorgang zu bestimmen ist – nämlich der Vorgang des seiend Seins. Seiend zu sein ist keine Eigenschaft im klassischen Sinne, sondern der Verweis auf eine Weise des Existierens als Vorgang: Seiend zu sein bedeutet zu entstehen, zu beste73

Dieter Bremer, Von der Physis zur Natur, S. 244. Diese Bestimmung des λόγος hat hier eine offensichtliche Parallele in der Hegelschen Begriffslogik. 74

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hen, sich im Bestehen zu verändern und zu vergehen. Zu jedem Zeitpunkt ist das entstandene, bestehende, sich verändernde und vergehende Seiende als τὸ εἶναι jedoch nichts als das Ergebnis der vorhergehenden Entwicklungen. Nimmt man diese Ambivalenzen zwischen der Bezeichnung eines Vorganges und der Bezeichnung des Ergebnisses des Vorganges dieser Begriffe ernst, kann man weder das Wesen noch den Begriff oder das Sein eines konkreten Seienden ohne Verweis auf die Entstehungsgeschichte dieses konkreten Seienden ausdrücken. Wenn wir dennoch nach dem τί ἐστι des konkreten Seienden fragen, können wir nicht auf Allgemeines verweisen, ohne zugleich von dem konkreten Seienden zu abstrahieren. Wenn das konkrete Seiende jedoch Gegenstand der Untersuchung bleiben soll, bleibt uns nur die Möglichkeit, auf die uns wesentlich unbekannte und sich nur in Spuren zeigende Entstehungsgeschichte des Seienden bzw. auf das Ergebnis der Entstehungsgeschichte, das jetzt bestehende Seiende, zu verweisen. Wobei das jetzt bestehende Seiende nicht als abstrakter Gegenstand bzw. als zeitlos Essentielles in den Blick kommt, sondern als konkret Entstandenes. Der Unterschied in den Untersuchungsgegenständen und den Untersuchungsmethoden, den diese unterschiedlichen Betrachtungsweisen zur Folge haben, zeigt sich heutzutage wohl am deutlichsten in dem Unterschied zwischen der analytischen Methode und der phänomenologisch-hermeneutischen Methode der Philosophie.

§ 42 Zur Begründung dieser Arbeit Ziel dieser Arbeit war es, anhand klassischer Texte und deren Interpretationen ein Verständnis des Verhältnisses von Sein und Bewegung herauszuarbeiten, das uns heute neue Denkwege und ein neues Verständnis der Welt eröffnen kann. Es ging also darum, sowohl neue Möglichkeiten des Verständnisses der Texte als auch neue Möglichkeiten im Umgang mit der erlebten Welt zu eröffnen. Wie Hegel bin auch ich der Meinung, dass jedes Denken der Versuch ist, eine Antwort auf die grundlegendsten Fragen der jeweiligen Epoche zu finden. Platons Ideen sind der Versuch, Sicherheit und Gewissheit in einer Welt des Umbruchs zu bringen, Thomas’ Lesart der aristotelischen Texte will Klarheit und Verstehbarkeit in einer Welt des Mystizismus und des Glaubens erreichen. Die idealistische Konzeption Hegels (einer monistischen Philosophie, in der nur das Ganze das Wahre ist) ist ein Versuch, auf die immer tiefer gehende Differenzierung aller Lebensbereiche zu antworten. So ist die Metaphysik eines jeden Denkers immer der Versuch einer Antwort auf die grundlegenden Fragen und Probleme einer Gesellschaft. Dies gilt auch für die Ontologie, die den Versuch darstellt, die Welt in der wir leben zu erhellen. Insofern haben Metaphysik und Ontologie immer einen Bezug zur Lebenswelt.

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Die Welt in der wir leben ist veränderlich, das war sie immer schon und das wird sie auch immer sein. Bewegung und Dynamik begegnen uns jeden Tag. Jedoch haben die meisten Philosophen, mit Ausnahme einiger weniger wie Schelling, Bergson, Whitehead und Deleuze, die Welt auf der Ebene der Ontologie oder der Natur nicht als etwas Dynamisches ausgelegt. Es gab viele Ziele der Philosophie, die Beschreibung der konkreten und bewegten Welt war jedoch nur selten ein Ziel der philosophischen Bemühungen. Nun leben wir heute in einer Welt, die in einem viel stärkeren Maße durch Bewegung und Veränderung bestimmt ist als die Welt der Griechen. Unsere Welt ist auch auf gesellschaftlicher Ebene durch Bewegung, konstante Anpassung und Flexibilität geprägt. In unserer heutigen Welt liegt die Betonung nicht mehr auf dem materiellen Bestand, auf Gegenständen, Land oder anderen sogenannten ‚Sicherheiten‘. Wir haben heute andere Werte. Im Normalfall brauchen wir heute keinen Landbesitz, keinen Hof mehr (urspr. Bedeutung von οὐσία), um uns und unsere Familien zu ernähren. Heute brauchen wir Wissen, Anpassungsfähigkeit und Flexibilität, um in der gegenwärtigen Arbeits-, Leistungs- und Unterhaltungswelt bestehen zu können. Die Welt der Dinge wurde für unsere und wohl auch für die kommenden Generationen zu einer Welt der Potenziale, der Beziehungen und der Veränderungen. Eine solche Welt lässt sich nicht mehr hinreichend im Rahmen des Substanzdenkens erfassen oder verstehen. Vielmehr muss das Substanzdenken notwendigerweise von dem absehen, was diese, unsere, heutige Welt gerade ausmacht. Dies soll nun keine Argumentation dafür sein, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben, im Gegenteil erscheinen mir viele dieser Entwicklungen problematisch. Aber unabhängig von der Bewertung der gegenwärtigen Entwicklungen werden neue Werkzeuge des Denkens benötigt, um diese neue Wirklichkeit, vor der wir stehen und in der wir leben, zu bedenken und einen angemessenen Umgang mit ihr zu ermöglichen. Eines dieser Werkzeuge kann eine Ontologie der bewegten Existenz sein. Ein Aspekt, für den die Vorstellung der bewegten Existenz relevant sein kann, ist unser Umgang mit Welt, Natur und Umwelt – mit Leben im Allgemeinen. Wie oft geschieht es uns, dass wir aus Lebewesen starre Elemente eines Systems machen; dass wir aus lebendig-bewegtem Seienden unbewegte, zählbare Dinge machen? Die Tiere werden zum Viehbestand, die Universität als Beziehungsnetz von Lehrern und Schülern wird zur Bildungseinrichtung, deren Qualität vollständig bezifferbar ist, Fähigkeiten und Talente werden zu Kompetenzen, die hinsichtlich ihrer Nützlichkeit vollständig quantifizierbar sind. Konkrete und singuläre Fälle werden zu messbaren Instanziierungen des Allgemeinen. Einzelnes bewegtes Leben, einzelne dynamische Beziehungen und einzelne wechselhafte Eigenschaften werden standardisiert, d. h. auf die Aspekte

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reduziert, die als wesentlich bestimmt wurden. Mit dem Ergebnis, dass wir Einzelnes so behandeln, als sei es nur eine Manifestation des Allgemeinen, bloß ein durchschnittliches Seiendes, eine zeitlose Manifestation des Durchschnittlich-Allgemeinen. Die Einzigartigkeit und die konkrete Entwicklungsgeschichte des Einzelnen; seine Potenzialität, die Möglichkeiten, welche das Einzelne abseits der standardisierten und durchschnittlichen Aspekte vielleicht auch noch hätte, werden in diesem Vorgang völlig außer Acht gelassen. Was, wenn nun die bewegte Existenz eines jeden Lebewesens, eines jeden Menschen so einzigartig ist, wenn viele Talente in einem hohen Maße singulär sind, so dass eine Normierung und Standardisierung wesentliche Potenziale verdrängt und ungreifbar macht? Systematisch betrachtet habe ich mich in dieser Arbeit mit der Frage beschäftigt, auf welche Weise konkrete Seiende vorkommen. Zum einen weil gerade diese Seienden für lange Zeit als bloßer Trug, als Schein, als Illusion bezeichnet wurden, obwohl unsere Erfahrung und Interaktion mit der Welt von diesen Dingen bestimmt ist. Zum anderen scheint es heute großes Interesse an der Untersuchung des konkreten physischen Seienden zu geben. Angefangen von den Strömungen des spekulativen Realismus über Naturalismus und Reduktionismus scheinen wir in einer Zeit zu leben, die sich vor allem mit den konkreten Dingen, dem konkreten Seienden beschäftigt. Doch diese Beschäftigung mit dem konkreten Seienden ist in den meisten Fällen eine bloß vermeintliche Beschäftigung mit dem Konkreten. Sowohl der spekulative Realismus, der Materialismus als auch der Physikalismus beschäftigen sich mit der Idee des konkreten physischen Seienden, mit dem idealen materiellen Seienden, so wie man es sich losgelöst von seiner konkreten Existenz, losgelöst von seinem Entstehungsprozess und seinen mannigfaltigen Interaktionen mit anderen Dingen denkt – mit einem Satz: Sie beschäftigen sich mit dem ‚Ding‘, dem ‚Objekt‘ oder dem ‚Gegenstand‘, jedoch nicht mit dem konkreten und singulären Seienden. In diesen Strömungen wird also das Seiende wiederum bloß unter idealisierten Bedingungen untersucht. Die philosophische Chiffre für diese Idee, das allgemein Verbindliche des Seienden, also das ideale Seiende, zu untersuchen, war philosophiegeschichtlich immer die Untersuchung des ‚Seins als Seiendes‘. Das Seiende unter idealisierten Bedingungen zu untersuchen, läuft also auf eine Untersuchung des Seins hinaus, und geht am eigentlichen und konkreten Seienden vorbei. Es ist natürlich so, dass die historischen und die möglichen zukünftigen Entwicklungen des konkreten Seienden wenig relevant sind, wenn ich das Wesen oder die Essenz des Baumes an sich, dieses Textes oder des Lebewesens Mensch untersuchen und bestimmen will. Wenn ich das Seiende als Seiendes untersuchen will, muss ich notwendigerweise von der Entstehung und Entfaltung der einzelnen Seienden absehen, wenn ich in meinen For-

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schungen vorankommen will. Sobald es aber um die Untersuchung der konkret-empirischen Welt geht, sobald ich den einzelnen Menschen, diese Buchstaben als bestimmten, materiell manifesten Text und diese Pflanze als konkreten Baum untersuchen will, ist eine Untersuchung, die sich nur auf ein zeitloses Ideal bezieht und von der bewegten Existenz des Einzelnen absieht, unzureichend. Für den Bereich des Konkreten gilt: Die Vergangenheit ist die Bedingung der Gegenwart und die Zukunft ihre notwendige Folge. Geschichtlichkeit und Materialität sind auf der Ebene konkreter Seiender zentrale Faktoren der Bestimmung, von denen nicht abgesehen werden kann, ohne dabei wichtige und für das konkrete Seiende relevante Aspekte zu übersehen. Das Konzept der bewegten Existenz kann eine solche Orientierung am konkreten Seienden leisten und somit das Seinsdenken der Abstraktion und des Ideals im Versuch, uns und unsere Welt zu verstehen, vervollständigen.

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Sachwortverzeichnis Ambivalenz 20, 51, 54, 55, 60, 70, 108–110, 112, 115, 134, 144, 165, 174, 215, 234 Anfangsgrund 53, 82 Bewegung 26, 27, 29–31, 38, 41, 45, 54, 73–76, 82, 86, 91, 92, 119, 120, 122, 125, 135, 137–139, 143, 144, 148, 179, 181, 184, 196, 197, 204, 212, 215, 216, 240–242, 246 – akzidentelle 27, 32, 87, 123, 204, 211 – andauernde 26 – Aporie der 33, 34, 241 – gesetzmäßige 91 – Ortsbewegung 26, 29, 30 – substanzielle 27, 87 Bewegungsprinzip 47, 53, 67, 73 Bewusstseinsphilosophie 172 Denken 31, 35, 42, 62, 67, 70, 94, 98, 102, 106, 126, 143, 144, 149, 150, 152, 158, 163, 165–171, 173–175, 179, 181, 182, 185, 188, 192, 197–200, 203, 205, 206, 213–215, 226, 230, 234, 238, 241, 245 – angemessenes 162 – eleatisches 145, 148 – griechisches 14, 15, 24, 45, 63, 71, 129 – logisches 185 Entstehungsgeschichte 54, 56, 57, 63, 67, 242–245 Erfahrung 31, 33, 41, 43, 64–66, 76, 97, 102, 103, 118, 119, 130, 131, 135, 139, 140, 144, 150, 152, 154, 155, 157, 165, 181, 184, 185, 189, 200, 202, 204, 213, 215, 217, 240, 241, 247

– der Welt 200, 220 – sinnliche 67, 69, 102, 168 – Sprache der 235, 236 Existenz 15, 20, 22, 23, 54, 69, 139, 170, 173, 200, 203, 230, 244 – bewegte 15, 16, 18, 19, 21, 31–33, 45, 51, 54–56, 67, 72, 76, 92, 112, 116, 123, 125, 126, 134, 137, 138, 140, 142–144, 173, 174, 179, 200, 202, 203, 206, 214–216, 222, 225, 233, 237–244, 246–248 – bleibende 14 – bloße 21, 23–25, 56 – Existenz-ist 21, 22, 221 – konkrete 240, 242, 247 Gegensatz 114, 124, 147 – Einheit der Gegensätze 124 – Identität der Gegensätze 124 – Verbundenheit der Gegensätze 113–115, 119, 120, 125, 126, 128, 130, 132 Gegenstand 30, 112, 115, 160, 171, 180, 245, 247 Grammatik 42–44, 218, 224, 231 – griechische 55 Grundprinzip 66 Herkunft 49, 50, 54, 57, 67, 80, 96, 97, 99, 125, 142, 204, 206, 244 Identität 20, 27, 32, 34, 35, 116, 121, 123, 124, 128, 130, 131, 138, 139, 170, 172, 174, 175, 203, 222 – von νοεῖν und εἶναι 169 intuitive Vorstellung 135 Kosmologie 51, 118, 142, 184

Sachwortverzeichnis Kosmos 84, 93, 98–102, 110, 127, 141, 142, 146, 231 Leben 25, 26, 71, 73–76, 94, 98, 100, 101, 110, 112, 118, 126, 130, 131, 133, 143, 144, 149, 186, 198, 230, 241, 246 – konkretes 100 Logik 43, 44, 128, 131, 132, 137, 144, 198, 201, 215, 217, 231, 232 – andere 229, 237 – der bewegten Existenz 223 – des Urteils 240 – klassische 215, 217, 223, 224, 226 Logos 43, 94, 105, 140, 162, 189 – erklärend 98 Materie 46, 47, 63–65, 67, 69, 70, 75, 76, 80–82, 137 materielles Prinzip 75, 80–82, 85 Metaphysik 71, 76, 201, 203, 204, 212, 213, 216, 218–220, 223, 224, 239, 241, 245 Metaphysiker 44, 67, 68, 70, 105, 139, 213 Natur 25, 46, 47, 49, 50, 52, 53, 62, 64, 65, 72, 76, 77, 81, 82, 87, 90, 94, 100, 101, 111, 115–117, 140, 143, 145, 147, 148, 150, 152, 205, 209, 224, 229, 232, 236, 244, 246 Ontologie 116, 149, 162, 186, 219, 220, 221, 223, 245, 246 Philosophie – als Wissenschaft 237 – negative 232 – positive 231, 232 physisch 74 Prädikation 22, 130, 186, 223 Prädikations-ist 21, 221 prima materia 85, 87, 88 Seiende 27, 66, 68, 70, 84, 86, 88, 89, 91, 92, 115, 116, 127, 141, 144, 159,

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161, 169, 170, 173, 176, 178, 180, 186, 189, 196–198, 200, 203–205, 209, 214, 222, 228, 230, 239, 243, 245 – als bewegte Existenz 14 – als Denkbares 169 – bewegte 173 – bewegtes Seiendes 62 – Grundlage des Seienden 66 – konkretes Seiendes 14–16, 18, 36, 38, 44, 57, 61, 62, 64, 69, 76, 98, 171, 204, 206, 208, 212, 213, 225, 231, 236, 240, 241–243, 245, 247 – natürlich Seiendes 90 – werdendes Seiendes 76 Sein 23, 24, 28, 48, 50, 52, 54, 55, 63, 70, 89, 121, 125, 126, 144, 149, 159, 161–163, 166, 171–174, 177–180, 182, 185, 186, 188, 190, 198, 203, 205, 209, 212–215, 223, 244, 245 – abstraktes 62, 228 – allgemeines 51 – als intelligibles 23, 36, 173, 209, 228 – als Träger von Bewegung 32, 42, 92 – Denken und Sein 172, 174, 175, 192, 197, 198 – der Vernunft zugänglich 14, 35 – gewordenes 49, 53 – metaphysisches 204 – substanzielles 80 – Trennung von Sein und Seiendem 77 – unbewegtes 16, 31, 56, 143, 200, 213, 215, 217, 219 – unentstandes 35 – unveränderliches 18, 27, 89 – Verhältnis von Sein und Bewegung 14, 15, 18, 19, 31, 35, 38, 44, 148, 202, 216, 244, 245 – Vermittlung von Sein und Bewegung 36 – wahres 29 – werdendes 51 – Wesen des Seins 20

262

Sachwortverzeichnis

– zeitloses 23, 35, 56, 203, 205, 213, 219 Seinsbegriff 14, 16, 21, 24, 26, 47, 51, 183, 199, 214, 216, 222, 228 Seinsbereiche 18 Sprache 18, 43, 45, 93, 97, 129, 132, 135, 150, 156, 157, 162, 175, 186, 196, 200, 204, 219, 229, 233, 235 – alltägliche 224 – der Sinne 140 – grammatische Struktur 44 – griechische 14, 54, 55 Substanz 41, 42, 48, 116, 244 – unbewegt 15 Trennung des Seienden vom Sein 70 Trennung von Sein und Bewegung 18, 183 Ursache 34, 63, 64, 66, 67, 69, 74, 83, 99, 120, 127, 178, 189, 204–206, 208, 209, 213, 230 – des Seins 205 – des Werdens 205 – Materialursache 87, 206 – wahre 207–209 Ursprung 34, 46, 47, 49, 63, 64, 68, 71, 72, 74–76, 79, 80, 86–89, 120, 174, 244 Urteil 42–44, 97, 108, 116, 129, 132, 137, 162, 166, 193, 209, 216–218, 220–225, 231 Vergehen 27–30, 32, 71, 83, 86, 90, 142, 147, 179, 181, 196, 198, 205 Vernunft 41, 42, 44, 58, 66, 100, 104–106, 108, 110, 150, 173, 192, 193, 198, 199, 204, 211, 231, 240 Verwirklichung 30, 137 Vorverständnis 18, 19, 27, 31, 32, 39, 40, 44 – gängiges 41 – neues 45 wahr 116, 133, 160, 163, 166, 190, 191

Wahrheit 23, 35, 42, 43, 98, 101–103, 105, 111, 134, 135, 144, 149, 150, 153, 156–158, 163, 165, 166, 170, 176, 177, 179, 181–186, 188, 190, 192–195, 197, 198, 200, 222, 228, 243 – sich zeigende 223 Wahrnehmung 30, 31, 116, 130, 167, 213 Werden 15, 27–30, 42, 50, 54, 83, 89, 90, 122, 128, 147, 177, 179, 184, 196, 205 – der Gegensätze 85 – erfahrbar 200 – Stabilität erzeugendes 112 – ständiges 71 Wesen 26, 27, 30, 42, 46, 48, 49, 51, 108, 111, 115, 116, 137, 173, 203, 210–213, 215, 229, 241, 245, 247 – unveränderliches 243 Widerspruch 135 Wissen 43, 62, 95, 97, 98, 103, 107, 117, 118, 150, 163, 185, 215, 238, 246 Zufall 229 ἀρχή 53, 54, 63–66, 68, 72, 75, 79, 80, 82, 85, 93, 101, 124, 147, 174 εἶναι 16, 22, 25, 37, 54–56, 65, 72, 73, 83, 103, 107, 109, 119, 126, 128, 133, 148, 158–161, 164, 168, 170, 172, 174, 187, 207, 216, 244, 245 εόν 148, 157–159, 161–163, 173–180, 196 λόγος 57–60, 97, 101–106, 108–110, 112, 113, 117, 125, 130, 131, 133–135, 139, 140, 191, 192, 206, 214, 217, 226, 228, 229, 234, 236, 244 – der bewegten Existenz 59, 218 – des Urteils 217 – versammelnder 58, 205, 226–228 – περὶ φύσεως 142, 205, 229, 230, 232, 233

Sachwortverzeichnis

263

νοεῖν 167, 168, 170, 172–175 νοῦς 226

φύσις 15, 18, 25, 33, 45–49, 50–53, 56, 59, 60, 62, 101, 104, 111, 112, 143, 144, 162, 199, 244

οὐσία 47, 51, 54, 56, 57, 209, 212, 222, 228, 246

ψυχή 40, 73–75, 101–103, 122, 123, 235