Was ist gute Kunst? 3775724222, 9783775724227

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WAS IST GUTE KUNST? H r s g . von W o l f r a m V ö l c k e r

Mit B e i t r ä g e n von Katja A l b e r s u n d K a t h r i n B e c k e r Klaus Bußmann

ehemals Westfälisches Landesmuseum, Münster

Alexander Dückers Matthias Härder

Neuer Berliner Kunstverein

ehemals Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

Helmut Newton Stiftung, Berlin

Christoph Heinrich

Hamburger Kunsthalle

Wulf Herzogenrath

Kunsthalle Bremen

Gudrun Inboden

Staatsgalerie Stuttgart

Jeremy Lewison

ehemals Täte, London

Friedrich Meschede Andreas Schalhorn Michael Semff Urs Stahel

HATJE CANTZ

DAAD

Berlin

Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett

Staatliche Graphische Sammlung München

Fotomuseum Winterthur

Inhalt

7

Vorwort Gerard A. Goodrow

8

Einleitung Wolfram Völcker

I Q u a l i t ä t in d e r M a l e r e i 12

Qualität in Zeiten des Überflusses. Einige persönliche Ü b e r l e g u n g e n aus der kuratorischen Praxis Christoph

22

Heinrich

Interview mit Gudrun Inboden

II Qualität in d e r Z e i c h n u n g 32

Das Rohe und das Gekochte. Betrachtungen zu den Qualitäten gelungener Zeichnungen Andreas

uu

Schalhorn

Interview mit Michael Semff

III Q u a l i t ä t i n d e r D r u c k g r a f i k 58

W i e m a n die Q u a l i t ä t e i n e r D r u c k g r a f i k b e s t i m m t Jeremy

72

Lewison

Interview mit Alexander Dückers

IV Qualität in d e r V i d e o k u n s l 85

H o w to w a t c h a v i d e o t a p e / H o w to j u d g e a v i d e o l a p e . Kleiner Leitfaden zur Qualität in der Videokunst Katja Albers und Kathrin Becker

100

Interview mit Wulf Herzogenrath

V Q u a l i t ä t in d e r F o t o g r a f i e 110

Interview mit Urs Stahel

117

Interview mit Matthias Härder

VI Qualität in der S k u l p t u r 134

Die D i a l e k t i k d e r D i m e n s i o n e n d e s R a u m e s Friedrich

Meschede

145

Interview mit Klaus B u ß m a n n

162

Autorenkurzbiografien

164

Bild- und Fotonachweis

Vorwort Gerard A. Goodrow

In Zeiten eines rasant boomenden Kunstmarktes mit ebenso schitternden wie »lauten« Veranstaltungen, »prominenten« Käufern und immer neuen Rekordmeldungen gilt es, einen hohen Anspruch an Qualität in der Kunst bewusst zu etablieren und beizubehalten. Die Kunst selbst und nicht unmittelbar der Kunstmarkt muss im Mittelpunkt des Interesses stehen. Denn es sollte stets im Auge behalten werden, dass am Ende immer die Kunstwerke und Künstler in die Kunstgeschichte eingehen werden, die die höchste Qualität aufweisen. Zweitrangige Werke werden dagegen durch das engmaschige Raster fallen und auf lange Sicht keine Bedeutung erlangen. Die Konzentration auf qualitativ besonders hochwertige Kunst wird auch dem Bildungsauftrag gerecht, den Galerien und Kunstmessen für die breite Öffentlichkeit leisten und in dessen Folge wir das Interesse der Menschen an Kunst wecken und bewahren. Ich bin der Überzeugung, dass die Hilfe engagierter Galeristen und Fachleute zum Aufbau einer hervorragenden Kunstsammlung notwendig ist. Das vorliegende Buch kann dazu einen Beitrag leisten. Die Publikation liefert viele Informationen für eingefleischte Kunstsammler und wichtige Anregungen für noch »unbefleckte« Messeund Museumsbesucher auf ihrem Weg zum Kunstliebhaber und -Sammler. Sei es zu den klassischen Genres Malerei, Zeichnung, Grafik und Skulptur oder zu den sogenannten Neuen Medien Fotografie und Videokunst: Die international anerkannten Autoren bieten fundierte Informationen und wissen davon zu überzeugen, dass Kunst bei aller individueller Entfaltung doch generellen Qualitätsmaßstäben unterliegt und nach solchen beurteilt werden kann. Mit diesem geschärften Blick findet sich der Leser im Labyrinth der Kunst viel leichter zurechl und kann besser beurteilen, was ihm gefällt und was nicht.

Einleitung Wolfram Völcker

Dieses Buch richtet sich an alle Ausstellungsbesucher und Kunstinteressierte, die sich auf einer der zahllosen Vernissagen oder Ausstellungen zeitgenössischer bildender Kunst eine der folgenden Fragen stellen: Wie lassen sich gute Kunstwerke von schlechten unterscheiden? Was genau macht ein bestimmtes Bild wertvoll? Worin liegt die starke Anziehungskraft, die manche Kunstwerke ausüben, und w a r u m sind viele andere Arbeiten langweilig? Was macht ein Meisterwerk meisterlich? Mit einem Wort: Was ist Qualität in der Kunst? Eine einigermaßen befriedigende Antwort ist gar nicht leicht zu finden. Weder in den zahlreich erschienenen Ratgebern für junge Kunslsammler noch in der einschlägigen kunsthistorischen Fachliteratur wird auf Qualität näher eingegangen. Allenfalls die philosophischen Ästhetiker wie beispielsweise Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno geben theoretische Anhaltspunkte. Das reicht für hilfreiche Antworten in der Praxis nicht. Gespräche mit Insidern der Kunslszene liefern da eher erste Hinweise: Für einige Experten ist Kunst »reine Geschmackssache«, und deshalb ist gute Kunst das, was gefällt. Für andere ist gute Kunst nur die, die in Museen ausgestellt wird, und nicht wenige sind der Ansicht, Qualität in der Kunst lasse sich überhaupt nicht definieren und auch nicht messen. Kunst kenne keine Regeln. Es sei nicht einmal ganz klar, was Kunst überhaupt ist, und schon gar nicht lasse sich das Unsagbare, der Zauber, der von bestimmten Kunstwerken ausgeht und sie zur herausragenden Arbeit macht, in Worte fassen. Das gewisse »plus x« in der Kunst, so nennt es Matthias Härder hier an späterer Stelle, lasse sich nicht analysieren, nicht definieren und damit auch nicht reproduzieren und schon gar nicht in einem Buch wie dem vorliegenden diskutieren. Kaum jemand schreibt etwas zu einem Thema, über das man nichl einmal vernünftig reden kann. Und doch. Es gibt Indizien. Die große Schnittmenge von Künstlernamen in den Sammlungen internationaler Museen kann kein Zufall sein. Die seltsame Einigkeit von Experten in Jurys, in Galerien, auf Auktionen und in der weltweiten Ausstellungsindustrie ist nicht abgesprochen. Immer dieselben Namen. Oft dieselben Werke. Meistens die gleiche Meinung. Und: Generationen von Ausstellungsbesuchern stehen

vor denselben »Bildern« und b e w u n d e r n Dürer, Matisse oder Baselitz. Und schließlich w e r d e n täglich h u n d e r t e von E n t s c h e i d u n g e n über Qualität getroffen: Künstler geben nur ihre »besten« Werke zu A u s s t e l l u n g e n ; M u s e u m s d i r e k t o r e n und S a m m ler t r e f f e n die W a h l , d a s » s t ä r k s t e « u n d » w i c h t i g s t e « W e r k a u s e i n e r G r u p p e von Arbeiten zu kaufen; Kuratoren richten nur einem ganz b e s t i m m t e n Künstler eine A u s s t e l l u n g ein; Galerien und A u k t i o n s h ä u s e r legen u n t e r s c h i e d l i c h e Preise für v e r gleichbare K u n s t w e r k e fest; und Kritiker loben oder verreißen eine neue Ausstellung. Alle verwenden dabei irgendwelche Maßstäbe. I m m e r wird letztendlich Qualität bewertet. Es m u s s sich also etwas m e h r über Qualität herausfinden lassen. » K a n n ich a u s z e i t l i c h e n G r ü n d e n n i c h t m a c h e n , Ihre B u c h i d e e ist p r i m a « , m o t i v i e r t K a s p e r König. » M a c h e ich g e r n e mit«, schreibt W u l f H e r z o g e n r a t h . I n s g e s a m t folgen zwölf M u s e u m s k u r a t o r e n d e m A u f r u f des H e r a u s g e b e r s , ein B u c h z u m T h e m a z u m a c h e n . J e d e r E i n z e l n e ist e i n i n t e r n a t i o n a l a n e r k a n n t e r E x p e r t e s e i n e s F a c h e s . Die » F ä c h e r « sind nach M e d i e n u n t e r t e i l t . Dazu z ä h l e n Malerei, Z e i c h n u n g , D r u c k grafik, S k u l p t u r . Fotografie und Video. Zu j e d e m dieser Gebiete liegen im vorlieg e n d e n B a n d j e e i n Text u n d ein I n t e r v i e w vor. J e z w e i M e i n u n g e n z u r Q u a l i t ä t u n d z u g u t e r u n d s c h l e c h t e r K u n s t . D i e s e d i s k u r s i v e F o r m ist d e r T a t s a c h e g e s c h u l d e t , d a s s die F r a g e n a c h g u t e r u n d s c h l e c h t e r K u n s t k o n t r o v e r s ist. W a s ist ü b e r h a u p t Q u a l i t ä t i n d e r K u n s t ? G u d r u n I n b o d e n s t e l l t s i c h d a s i n i h r e m B e i t r a g a l s e i n e » i n « d e r K u n s t w i r k e n d e K r a f t vor. E i n e I m p u l s e , A n s t ö ß e g e b e n d e K r a f t . Ein F l u s s von w i e d e r k e h r e n d e n V e r ä n d e r u n g e n . Eine a n d a u e r n d e K a t h a r s i s , m ö c h t e m a n sagen. I n b o d e n w e i s t d a r a u f hin, m a n k ö n n e n u r n a c h d e r Qualität »von« Kunst fragen und nicht nach Qualität »in« der Kunst. Im Verlauf der Beiträge s c h e i n t es, d a s s die A u t o r e n h i e r beide P e r s p e k t i v e n z u e i n e r v e r s c h m e l z e n : Q u a litäten oder mit e i n e m anderen Wort Eigenschaften »von« Kunst d r ü c k e n sich »in« d e m Werk selbst aus und lassen sich deshalb auch beschreiben. W e n n C h r i s t o p h H e i n r i c h R e c h t h a t , d a n n ist Q u a l i t ä t i m P r i n z i p e i n b r e i t e r K o n s e n s zwischen Künstlern und Publikum. Weitergedacht wäre dann alles von hoher künstl e r i s c h e r Qualität, w a s ein großes P u b l i k u m hat. K u n s t w ä r e a m Ende w i r k l i c h reine Geschmacksache. Auch Urs Stahel vermutet »allgemeingültige Qualitätsmerkmale« als Konsens einer großen Gruppe. Alexander Dückers wird d e m w o h l nicht z u s t i m m e n , denn er w ü n s c h t sich eine strengere A u s w a h l unter den künstlerischen » H e r v o r b r i n g u n g e n der Zeit« und nennt Maßstäbe wie Eigenständigkeit und Neuartigkeit, d e r e n B e u r t e i l u n g bei i h m d o c h ein g e w i s s e s - nicht u n b e d i n g t v e r b r e i t e t e s Fachwissen voraussetzt. Diese Kriterien w i e d e r u m interessieren Heinrich offenbar a u c h , w e n n i h n E r f i n d u n g s r e i c h t u m u n d O r i g i n a l i t ä t bei e i n e r K ü n s t l e r i n f a s z i n i e r e n . Heinrich v e r m u t e t einen Grundsatz von Qualität, w e n n Kunst a u c h nach J a h r e n der Betrachtung, nach wiederholter Rezeption, d e m Betrachter noch Neues, Ungesehenes offenbart. Er nennt Kriterien wie Entschiedenheit und Wahrhaftigkeit und vermutet, Qualität könne der »untrennbare Z u s a m m e n s c h l u s s von (malerisch)

Notwendigem« sein. Das klingt nach einer künstlerischen Strategie im Herstellungsprozess. Für Andreas Schalhorn ist die Tragfähigkeit eben dieser künstlerischen Strategie eine entscheidende Größe bei der Bewertung von Qualität. Schalhorn nennt auch noch Stringenz, Glaubwürdigkeit, Eigenständigkeit und Konsequenz als Qualitätsfaktoren. Wulf Herzogenrath betont in unserem Interview zur Videokunst, dass Qualität etwas sehr Subjektives, etwas stark vom eigenen Betrachtungswinkel und der Intention des Betrachters Abhängiges ist. Auch er fächert den Qualitätsbegriff weiter auf und nennt ebenfalls Innovation, Konstanz und konsequentes Weiterentwickeln der künstlerischen Ideen als Kriterien für Qualität. Herzogenrath weist übrigens auf einen besonders qualitätvollen Künstler hin, der allerdings überhaupt kein großes Publikum hatte. Das widerspricht dem obigen Postulat Heinrichs. Auch Michael Semff sieht nicht einen einzelnen Begriff, der für Qualität steht. Für ihn kommen in unserem Interview bei der Zeichnung eine Reihe von Konditionen dazu. Zum Beispiel ikonografische, zeitliche und stilistische Dimensionen. Semff bemisst den Rang eines Künstlers auch daran, inwieweit dieser auf der Suche ist. Das immer weitere Verstricken des Künstlers in die Materie, in den Gegenstand seines Interesses, und die damit einhergehende Zuspitzung, die dann, allerdings nur bei sehr Begabten, also solchen, denen »etwas zuwächst«, zum Gipfel führt. Qualität entsteht für Klaus Bußmann aus dem Vergleich vergleichbarer Kunstwerke, also solcher der gleichen Entwicklungslinie. Griechische Skulptur lässt sich nur mit griechischer Skulptur vergleichen und nicht etwa mit expressionistischer Skulptur oder den Readymades Marcel Duchamps. Aus dieser Qualitätsauffassung entspringt der Grund, warum sich oft erst mit zeitlichem Abstand und nach Abschluss der gesamten Entwicklungslinie, also aus historischer Perspektive, die Qualität eines Werkes bestimmen lässt. Und wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum sich oft und überraschend eindeutig - in einer Gruppe von einigen wenigen, direkt vergleichbaren Arbeiten das Werk mit der höchsten Qualität bestimmen lässt. Auch Jeremy Lewison definiert in seinem Text zur Druckgrafik Qualität zunächst immer in Relation von einem Kunstwerk zu einem anderen. Allerdings kann bei ihm ein weiteres Kriterium für Qualität auch losgelöst vom Kunstwerk selbst sein und zum Beispiel die ganze Sammlung betreffen. Ein einzelnes Werk - oder eine einzelne Grafik, um bei Lewisons Beispiel aus der Sammlung der Londoner Täte zu bleiben kann auf diesem Wege die Qualität einer ganzen Sammlung verändern. Eine Erweiterung des Qualitätsbegriffs um eine zusätzliche Dimension findet sich in dem Beitrag von Friedrich Meschede. Bei der Qualitätsbeschreibung von Skulpturen muss zusätzlich noch ihr Verhältnis zum umgebenden Ort betrachtet werden. Das gilt wahrscheinlich über die Skulptur hinaus für alle raumgreifenden Kunstwerke. Auch sehr große, wand- oder raumfüllende Installationen und Tafelbilder »funktionieren« je nach örtlichen Gegebenheiten höchst unterschiedlich. Katrin Becker

und Katja A l b e r s w e i s e n in i h r e m Beitrag darauf hin, dass dieser Z u s a m m e n h a n g a u c h f ü r die P r ä s e n t a t i o n von Videos gilt. U r s S t a h e l e r w e i t e r t den Q u a l i t ä t s b e g r i f f quantitativ: Für ihn bemisst sich Qualität in der zeitgenössischen Kunst heute nicht m e h r sosehr am eigenen Werk, der »Hardware«, wie er sich ausdrückt, »sondern a u c h a n d e r S o f t w a r e , a n d e r Intervention, die d e r K ü n s t l e r i n u n s e r e m D e n k e n v o r nimmt.« Trotz der Meinungsvielfalt fallen in den v o r l i e g e n d e n Beiträgen zahlreiche G e m e i n s a m k e i t e n auf. D u r c h alle Texte h i n d u r c h e n t s t e h t eine A r t K a n o n s e h r d i f f e r e n z i e r t e r E i g e n s c h a f t e n o d e r Qualitäten, die sich die A u t o r e n von g u t e n K u n s t w e r k e n w ü n s c h e n . A n h a n d d i e s e s K a n o n s t r e f f e n sie ihre E n t s c h e i d u n g e n f ü r die M u s e e n , f ü r die S a m m l u n g e n , die sie b e t r e u e n , o d e r in J u r y s , d e n e n sie beisitzen. An d i e s e n A n t w o r t e n k a n o n kann sich der geneigte Ausstellungsbesucher oder K u n s t s a m m l e r z w e c k s O r i e n t i e r u n g i n d e r F r a g e , w a s d e n n n u n g u t e K u n s t ist, a n l e h n e n . A l l e r d i n g s nicht, o h n e s e l b s t die A u g e n z u ö f f n e n u n d vielleicht a u c h e i n m a l ein K u n s t w e r k , das Gefallen findet, einfach n u r zu genießen. Zuviel Fachwissen, das lässt sich aus d e m Beitrag von Christoph Heinrich lernen, verstellt n ä m l i c h auch m a n c h m a l den Blick für gute Kunst.

I Q u a l i t ä t in d e r M a l e r e i

Qualität in Zeiten des Überflusses. Einige persönliche Überlegungen aus der kuratorischen Praxis Christoph

Heinrich

Das Z a u b e r w o r t und T o t s c h l a g a r g u m e n t zugleich: Qualität! I m m e r w e n n m a n nicht m e h r weiter weiß, holt m a n das große Wort aus der Tasche. Wenn es d a r u m geht, ein P u b l i k u m zu interessieren, eine A n k a u f s k o m m i s s i o n zu ü b e r z e u g e n , eine Position auf d e m P o d i u m zu verteidigen, dann greift m a n auf das K r i t e r i u m der Qualität z u r ü c k . U n d w e n n e s d e r » K u n s t e x p e r t e « ist, d e r die Q u a l i t ä t b e g r ü n d e t , d a n n w i r k t es auch, das Zauberwort. N i c h t von Qualität i m S i n n e e i n e r g r u n d l e g e n d e n E i g e n s c h a f t s o l l hier die Rede sein - diese zu benennen, w ä r e ja zunächst e i n m a l ganz w e r t n e u t r a l , zu fragen also d a n a c h , ob das Bild groß o d e r klein, h e l l o d e r d u n k e l , die Farbe dick o d e r d ü n n a u f g e t r a g e n ist. A u c h n i c h t d i e Q u a l i t ä t e n , h i e r e t w a die m a l e r i s c h e n Q u a l i t ä t e n , die einen erfahrenen, gekonnten U m g a n g mit d e m M e d i u m Malerei offenbaren, etwa w e n n m a n b e o b a c h t e n k a n n , w i e die Farbe g e s e t z t w i r d , w i e ü b e r e i n a n d e r l i e g e n d e Farbschichten der Fläche Lebendigkeit verleihen oder der Untergrund mitspricht. N e i n , Q u a l i t ä t m e i n t h i e r die k l a r e W e r t u n g , d a s G ü t e s i e g e t . Viel z u s e l t e n s t e h t e i n e r auf und fragt, w a s das d e n n bitte sei, Qualität? Wie l a n g e m a n i m Dienst sein müsse, um das zu entscheiden? Man kann davon ausgehen, dass Qualität - und ebenso ihr Antagonist, der Kitsch ein m e h r o d e r m i n d e r breit a b g e s t ü t z t e r K o n s e n s z w i s c h e n P r o d u z e n t e n / K ü n s t l e r n u n d E n d v e r b r a u c h e r n / P u b l i k u m ist. D a r ü b e r n a c h z u d e n k e n , f ü h r t u n m i t t e l b a r i n den B e r e i c h der Ä s t h e t i k , i n g r u n d s ä t z l i c h e Ü b e r l e g u n g e n ü b e r die S c h ö n h e i t d e r K u n s t , ü b e r i h r e N o t w e n d i g k e i t u n d W a h r h a f t i g k e i t . M a n ist bei d e n h ö c h s t e n G ü t e r n u n d l e t z t e n W a h r h e i t e n , die z u v e r t e i d i g e n e i n e m i n n e r s t e s A n l i e g e n ist. E s g e h t u m das ureigene Wesen von Kunst. Und spätestens an diesem Punkt w ü r d e m a n nun g e r n die a l t e n u n d n e u e n V o r d e n k e r der ä s t h e t i s c h e n T h e o r i e zu Hilfe h o l e n - F r i e d rich Schiller, Georg W i l h e l m Friedrich Hegel, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, N e l s o n G o o d m a n u n d vielleicht P e t e r Sloterdijk. A b e r s p i e l e n die i n m e i n e m A l l t a g , i n d e m M o m e n t , i n d e m ich ü b e r Qualität o d e r B e l a n g l o s i g k e i t e n t s c h e i d e n m u s s . e i g e n t l i c h m i t ? K a n n ich sie a n r u f e n u n d u m ihr U r t e i l bitten, w e n n e s d a r u m g e h t , K u n s t von Kitsch zu u n t e r s c h e i d e n ? Hilft m i r d a n n ein F u ß n o t e n a p p a r a t , in d e m

nach W e r k a u s g a b e n zitiert wird, weiter? An e i n e m verregneten S o n n t a g n a c h m i t t a g w i l l ich d a r ü b e r n a c h d e n k e n , w a s f ü r m i c h als M u s e u m s m e n s c h u n d A u s s t e l l u n g s m a c h e r Q u a l i t ä t e i g e n t l i c h b e d e u t e t . B e i e i n e r K a n n e Tee - u n d g a n z o h n e F u ß n o t e n .

More Love

Hours

Than

Can

Ever Be Repaid[ 1987) v o n

Mike

K e t t e y ( g e b . 1954)

und

Pink ß o w ( 1 9 9 6 ) v o n J e f f K o o n s ( g e b . 1955) s i n d z w e i m e i n e r L i e b l i n g s w e r k e - i h r e Q u a l i t ä t w ü r d e i c h v o r j e d e m G ü t e k o n t r o l l g e r i c h t b e z e u g e n u n d v e r t e i d i g e n ( A b b . 1 , 2). Doch wie kann m a n das chaotische K o n g l o m e r a t aus g e s t r i c k t e n Puppen, z e r k a u t e n Teddybären und fleckigen Stoffdecken von Kelley g l e i c h e r m a ß e n qualitätvoll finden wie das hochglänzende, fremdgefertigte, verführerisch strahlende G e m ä l d e aus Jeff Koons'

Celebration-Serie?

Beide

sind

m i t t l e r w e i l e zu

Meisterwerken

avanciert,

es

s i n d B i l d e r von zwei K ü n s t l e r n , die w i e n u r w e n i g e die K u n s t d e r letzten zwei J a h r zehnte geprägt haben. Kelleys Werke haben i m m e r etwas Provisorisches, weich und l a p p i g i n i h r e m M a t e r i a l s c h e u e n sie w e d e r A b s t o ß e n d e s n o c h E f f e m i n i e r t e s , s i n d P r o v o k a t i o n e i n e r s i c h a l s D o m ä n e d e s M ä n n l i c h e n g e r i e r e n d e n K u n s t . More Love Hours b e s c h ä f t i g t d a s A u g e m i t e i n e r d u r c h g e a r b e i t e t e n , S t r u k t u r e n u n d M u s t e r g e g e n e i n a n d e r s e t z e n d e n Oberfläche - Malen nicht mit Pinsel und Farbe, s o n d e r n mit G e n ä h t e m und G e s t r i c k t e m , G e f l i c k t e m und B e f l e c k t e m . Kelley opponiert in seinen

1 Mike Kelley More Love Hours Than Can Ever Be Repaid. 1987 Stofftiere und Hakeldecken auf Leinwand montiert 244x323x 1 5 c m

I Qualität in der Malerei

13

Werken gegen Festgefügtes, gegen Selbstgefälligkeit und ideologische Borniertheit. D a g e g e n s e t z t J e f f K o o n s d i e H ü l l e a b s o l u t , d i e V e r p a c k u n g ist d e r I n h a l t - e i n e a f f i r m a t i v e H a l t u n g , w i e m a n sie s c h o n bei A n d y W a r h o l ( 1 9 2 8 - 1 9 8 7 ] b e o b a c h t e n k o n n t e u n d a n d e r m a n sich die Z ä h n e a u s b e i ß e n w i r d . D e n n kein Z w i n k e r n , keine den Glanz b r e c h e n d e Ironie sucht das Einverständnis mit d e m a u f g e k l ä r t e n B e t r a c h ter. S t a t t d e s s e n p r o v o z i e r e n K o o n s ' W e r k e d u r c h die a b g r ü n d i g e F r a g e , o b s i c h h i n ter der Fassade des von Medien gesteuerten, durch Medien geprägten Verhaltens ü b e r h a u p t noch E l e m e n t a r e s und Vitales e r h a l t e n hat - etwas, das d e m L e b e n n ä h e r k o m m t a l s die H ü l l e a u s Pose, S u r r o g a t und N a r z i s s m u s . Hier das S e n t i m e n t a l e , die von K ö r p e r f l ü s s i g k e i t e n d u r c h t r ä n k t e n E r s a t z s t o f f e u n d S t a t t h a l t e r f ü r e m o t i o n a l e N ä h e , d o r t die a b s o l u t gesetzte Fassade. So u n t e r s c h i e d l i c h i h r e f o r m a l e n Q u a l i t ä t e n s i n d , i h r e g e m e i n s a m e Q u a l i t ä t ist i n i h r e r R a d i k a l i t ä t zu suchen, in der Entschiedenheit ihres künstlerischen Plans, der übrigens in beiden Fällen nicht eigenhändig v o m Künstler umgesetzt w e r d e n muss. Malerische Qualitäten - nach Jahrzehnten des grundsätzlichen Infragestellens des Bildes hört m a n wieder i m m e r häufiger diesen Begriff. Nach F o r m z e r t r ü m m e r u n g ,

2 Jeff Koons Pink Bow. 1996 Öl auf Leinwand 271x346 cm

Ausstieg aus d e m Bild, endlosen Jahren des »Bad Painting« kehrt gegen Ende der 1 9 9 0 e r - J a h r e d i e M a l e r e i m i t d e n W e r k e n v o n G e r h a r d R i c h t e r ( g e b . 1932), G e o r g B a s e l i t z ( g e b . 1938), S i g m a r P o l k e ( g e b . 1941) u n d e i n e r j u n g e n , d a m a l s i n i h r e n D r e i ß i g e r n s t e h e n d e n G e n e r a t i o n v o n M a l e r n w i e N e o R a u c h ( g e b . 1960) u n d D a n i e l R i c h t e r ( g e b . 1962), K a t h a r i n a G r o s s e ( g e b . 1961) u n d F r a n z A c k e r m a n n ( g e b . 1963) zurück. So global alle diese Künstler auch agieren, so könnte m a n doch von so etwas w i e e i n e r » d e u t s c h e n S c h u l e « s p r e c h e n . J e d e d i e s e r P o s i t i o n e n ist s o u n t e r s c h i e d lich, dass sich ein Vergleichen d e r Positionen m i t e i n a n d e r eigentlich verbietet, m a n einen Qualitätsmaßstab eigentlich nur innerhalb des einzelnen Werkes anlegen kann. In Vorbereitung einer großen, monografischen Ausstellung des Werkes von Daniel R i c h t e r blättere ich d u r c h die O r d n e r u n d Kataloge, f r a g e m i c h , w e l c h e s Bild m i r die Q u a l i t ä t R i c h t e r s a m o f f e n s i c h t l i c h s t e n z e i g t . I c h s t o ß e a u f Dog Pianet ( 2 0 0 2 ; A b b . 3), d a s i n m e i n e n A u g e n e i n e s s e i n e r s t ä r k s t e n B i l d e r ist - e i n e P h a l a n x v o n b e h e l m ten, v e r m u m m t e n Gestalten, die rot l e u c h t e n d e H u n d e a n d e r L e i n e halten. Eine M a u e r von M ä n n e r n m i t S c h l a g s t ö c k e n - ein S c h l ä g e r t r u p p o d e r d o c h vielleicht die

3 Daniel Richter Dog Planet. 2002 Ol und Lack auf Leinwand 280x350cm

I Qualität in der Malerei

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G S G 9 ? R i c h t e r s f l i e ß e n d e r D u k t u s , die e n t s c h i e d e n e n K o n t u r e n , d a s U m k r e i s e n d e r Figuren mit leuchtenden Linien scheinen m i r hier besonders klar ausgeprägt. Als s e h e m a n u n t e r die O b e r f l ä c h e u n d k ö n n t e w i e m i t e i n e r W ä r m e b i l d k a m e r a k ö r p e r liche

E n e r g i e n a b l e s e n . Dog Planet z e i c h n e t s i c h d u r c h s e i n e e i g e n t l i c h e h e r z u r ü c k -

haltende Palette aus: Andere Bilder Richters w i r k e n viel farbiger, hier scheint alles reduziert auf den Klang S c h w a r z b l a u / B r a u n r o t . Diese R e d u k t i o n u n d der starke Kontrast z w i s c h e n den Figuren u n d d e m Gegenlicht des H i n t e r g r u n d s stehen für die geradezu plakative Kraft dieses Gemäldes. D o c h w a s d a s B i l d m a l e r i s c h s o i n t e r e s s a n t m a c h t , ist d i e V i e l f a l t d e r S t r u k t u r e n , s i n d die D e t a i l s - in j e d e r P a r t i e s c h e i n t ein e i g e n e s F a r b l e b e n zu s t e c k e n . Die Figuren bestehen aus einer Vielzahl von » B i n n e n f o r m e n « , und w a s unsere Augen i n n e r h a l b d e r F i g u r e n , a n i h r e r O b e r f l ä c h e b e s c h ä f t i g t , ist u n g l a u b l i c h r e i c h , v i b r i e r e n d i n d e n T ö n e n u n d N u a n c e n , w e c h s e l t die S t r u k t u r e n u n e n t w e g t , ist l e t z t l i c h f ü r d i e p u l s i e r e n d e W i r k u n g d e s B i l d e s v e r a n t w o r t l i c h - ist s e i n e Q u a l i t ä t . » E i n d u r c h gearbeitetes Bild«, w ü r d e vielleicht ein Malerkollege a n e r k e n n e n d nickend sagen. Ein G e m ä l d e , das i n j e d e r Partie m e h r hält, als e s z u n ä c h s t v e r s p r i c h t . K ö n n t e h i e r ein g r u n d s ä t z l i c h e r K e r n f ü r die Qualität von M a l e r e i l i e g e n ? Ein G e m ä l d e hat ganz g r u n d s ä t z l i c h eine Qualität, w e n n e s die b e i d e n Z e i t a s p e k t e des S e h e n s v e r b i n d e t u n d u n s auf d e n e r s t e n B l i c k bei u n s e r e m R u n d g a n g d u r c h d a s M u s e u m i n n e h a t t e n l ä s s t : » D a s ist j a s t a r k , v o n w e m ist d a s ? « U n d a u f d e n z w e i t e n , d r i t t e n , h u n d e r t s ten Blick, der unsere Augen auch noch nach Jahren der Beschäftigung mit e i n e m Werk füttert,

N e u e s e n t d e c k e n lässt, bislang

n i e W a h r g e n o m m e n e s . Dog Planet

ist s i c h e r e i n B i l d , d a s e i n e m B e t r a c h t e r a u c h bei g r ö ß t e r V e r t r a u t h e i t s t e t i g N e u e s , n o c h nicht G e s e h e n e s o f f e n b a r t . Die h e r a u s r a g e n d e Q u a l i t ä t v o n R i c h t e r s M a l e r e i liegt in d i e s e m s c h e i n b a r m ü h e l o s e n Verbinden von großer Linie und v i b r i e r e n d e r Farbhaut, von vehement aufeinanderknallenden, leuchtenden Farben und einer aquarellhaften, m a n c h m a l ganz zarten Struktur ihrer Binnenformen. D o c h die Qualität eines B i l d e s von D a n i e l R i c h t e r zu b e n e n n e n u n d zu v e r t e i d i g e n , scheint ein e i n f a c h e s Spiel, längst gibt es einen K o n s e n s , dass er zu den h e r a u s r a g e n d e n M a l e r n seiner Generation zählt, häufig in e i n e m A t e m z u g mit Peter Doig ( g e b . 1959) u n d N e o R a u c h g e n a n n t . V i e l i n t e r e s s a n t e r w i r d e s , o h n e N e t z u n d d o p p e l t e n B o d e n v o r z u g e h e n : K u r a t o r in d e r Z i r k u s k u p p e l , ratlos! Bei e i n e r P a r a l l e l veranstaltung zur Berliner Kunstmesse, d e m Kunstsalon in der Arena, fielen m i r vor zwei J a h r e n die g r o ß f o r m a t i g e n G e m ä l d e e i n e s B e r l i n e r M a l e r s auf; sie fielen m i r nicht n u r auf, s o n d e r n sie h a u t e n m i c h r e g e l r e c h t u m . Auf e i n e m k l e i n e n Zettel an der Wand standen der N a m e und eine H a n d y n u m m e r . Falls m a n m e h r erfahren w o l l e , d ü r f e m a n den K ü n s t l e r g e r n a n r u f e n . Keine Galeristen, die e i n e n von d e r Qualität ü b e r z e u g e n w o l l t e n , keine k l i n g e n d e n N a m e n s l i s t e n , in w e l c h e n S a m m l u n g e n sich die B i l d e r d e s K ü n s t l e r s bereits b e f i n d e n , s o n d e r n das W e r k u n d eine Telefonn u m m e r . I c h l e r n t e s o J o n a s B u r g e r t ( g e b . 1969) u n d s e i n C E u v r e k e n n e n , v o n d e s s e n

Qualität ich zutiefst ü b e r z e u g t bin. So ü b e r z e u g t , d a s s ich sein

Bild

Milch bleichen

(2004; A b b . 4 ) f ü r die S a m m l u n g d e r H a m b u r g e r K u n s t h a l l e e r w o r b e n habe. Die m a l e r i s c h e n Q u a l i t ä t e n d i e s e s V o l l b l u t m a l e r s s i n d o f f e n s i c h t l i c h . Dies w ü r d e n selbst seine ärgsten Kritiker nicht in Abrede stellen: Wie etwa das i m m e r wieder ins G r a u g e b r o c h e n e W e i ß d e s H i n t e r g r u n d s v o n Milch bleichen v i b r i e r t , w i e d i e

Farb-

haut f ö r m l i c h a t m e t , wie in jeder Partie des Bildes ein Dahinter s p ü r b a r wird. Nichts ist a n g e s t r i c h e n , a n g e m a l t , a u s g e m a l t - a l l e s ist a u f F a r b e a u f g e b a u t . F a r b e w i r d hier als ein W i r k l i c h k e i t e r z e u g e n d e s M a t e r i a l erfahrbar. Der K l a n g d e r F a r b e n hat eine große Klarheit, ohne dabei m o n o t o n zu sein: Blau und Orange sind Protagonist und Antagonist des Bildes, klar gegeneinandergesetzt und doch in Zwischentönen g e b r o c h e n und z u e i n e m k o m p l e t t e n O r g a n i s m u s ergänzt d u r c h das l e u c h t e n d e Rot d e r z e n t r a l e n Kugel, durch G r ü n und Gelb. Das ganze F a r b s p e k t r u m findet sich hier a u s g e b r e i t e t , o h n e dabei a u c h n u r i m A n s a t z G e f a h r z u laufen, b u n t z u sein. Ein m i m e t i s c h e s Nachspüren der Oberflächen, das im Vertrocknen begriffene P a l m e n blatt, d a s s t r u p p i g e Fell der Affen, die s p r ö d e O b e r f l ä c h e d e s v e r s t e i n e r t e n N a u t i l u s , dabei j e d o c h n i r g e n d w o penibel, keine s a u e r a n m u t e n d e »Fleißarbeit«. Eine B a l a n c e a u s präzise u m r i s s e n e m Detail u n d g r o ß z ü g i g d u r c h g e a r b e i t e t e m Ganzen, die in meinen Augen »große« Malerei ausmacht. Und eine solche Balance findet sich in der Fläche des Bildes wieder, in der K o m p o sition. Die große Linie, d e r B i l d a u f b a u w i r d d u r c h die S y m m e t r i e d e r M i t t e l a c h s e b e s t i m m t . Die F r e i t r e p p e m i t d e r s i c h i n e i n e L a n d s c h a f t ö f f n e n d e n T ü r ist d a s G e r i p p e des Bildes. Gegen diese a r c h a i s c h e Axialität des B i l d e s a r b e i t e n j e d o c h die L a n z e n u n d F a h n e n , die T ü c h e r u n d R e q u i s i t e n u n d nicht zuletzt die a u s d e r Mitte g e s c h o b e n e n A f f e n an. S o d a s s die A u g e n des B e t r a c h t e r s s t ä n d i g in B e w e g u n g gehalten werden, ständig Beziehungen zwischen den dargestellten Elementen hers t e l l e n - e i n e v i b r i e r e n d e U n r u h e s t i f t e n d . L ä n g s t h a b e n w i r bei d i e s e n B e o b a c h t u n g e n die f o r m a l e Ebene verlassen, sind m i t t e n im Inhalt der Malerei. Und das Motiv? Haben w i r doch gelernt, dass Fahnen und P a l m e n b l ä t t e r spätestens seit H a n s M a k a r t (1840-1884) f ü r die M a l e r e i v e r l o r e n sind, das m e n s c h l i c h d r e i n b l i c k e n d e Tiere ins Reich von C o m i c u n d Z e i c h e n t r i c k f i l m g e h ö r e n - dass alt das in d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n K u n s t h ö c h s t v e r d ä c h t i g ist. A l s o b d a s n i c h t g e n u g sei, w i r d hier noch das g e s a m t e A r s e n a l der barocken Vanitas a u f g e t ü r m t . Nicht von ungef ä h r k r ä u s e l t e m a n c h e r V o r s t a d t k r i t i k e r die Lippen, zog s c h n e l l das » K - W o r t « a u s d e m Halfter, um damit wild um sich zu schießen. Als könnte m a n sich in der Kunst auf einfache Gleichungen berufen: V e r m u m m t e r Schläger + Schlagstock + Hund = K u n s t - w o h i n g e g e n : A f f e + S c h ä d e l + F a h n e = K i t s c h . Es ist a b e r e b e n n i c h t so l e i c h t , wie w u n d e r b a r ! Wenn wir als Kinder der N a c h m o d e r n e eines gelernt haben, dann doch, dass in der K u n s t a l l e s m ö g l i c h ist - w e n n e s n u r m i t E n t s c h i e d e n h e i t u n d W a h r h a f t i g k e i t v e r treten wird. Entschiedenheit und Wahrhaftigkeit - könnten diese nicht ganz zentrale

K r i t e r i e n f ü r Q u a l i t ä t s e i n ? D a s A u t h e n t i s c h e ist f ü r u n s d o c h i m m e r die G e w ä h r f ü r Qualität, i h m g l a u b e n wir. Das A u t h e n t i s c h e u n d G l a u b w ü r d i g e i n e i n e r k l e i n e n Z e i c h n u n g , i n d e r A u f z e i c h n u n g e i n e s M o m e n t s z u f i n d e n , ist e i n f a c h . A b e r i n e i n e m großen Gemälde, das per se kalkulierter, geplanter, sich über Wochen hinziehend e n t s t a n d e n ist, w i e s o l l bei e i n e m s o l c h e n P r o z e s s e t w a s w a h r h a f t E m p f u n d e n e s nicht zur Pose e r s t a r r t sein? W ä r e es nicht ein W u n d e r ? Vielleicht handelt Qualität von d i e s e m W u n d e r , dass etwas Geplantes sich Mal aufs Mal neu formuliert - und s e i n e N o t w e n d i g k e i t i n d i e s e m E n t s t e h u n g s p r o z e s s b e h ä l t . U n d v i e l l e i c h t ist d a s I n s t r u m e n t a r i u m der Malerei gerade besonders geeignet, diese Offenheit beizube-

4 Jonas Burgert Milch bleichen. 2004 Öl auf Nessel 300 x280 cm

h a l t e n ; nicht von u n g e f ä h r s c h ä t z e n w i r e t w a die l o c k e r e n P i n s e l s t r i c h e eines F r a n s H a l s [ u m 1582/83-1666), die den G e g e n s t a n d des P o r t r ä t i e r t e n t r a n s p o r t i e r e n - u n d dabei d u r c h und d u r c h freie Geste sind. J e d e r Pinselstrich eines Bildes m u s s sich fragen lassen: Was m a c h s t Du da? Wozu b r a u c h t es Dich? Bist Du nicht ü b e r f l ü s s i g ? Ein g u t e s B i l d ist e i n e V e r z a h n u n g a u s s o l c h e n m a l e r i s c h n o t w e n d i g e n E n t s c h e i dungen, Qualität könnte also der untrennbare Z u s a m m e n s c h l u s s von N o t w e n d i g e m sein. A l s T o m m a A b t s ( g e b . 1967) i n d i e s e m W i n t e r d e r T u r n e r P r i z e v e r l i e h e n w u r d e , w a r dies von der Jury ein deutliches B e k e n n t n i s für eine u n g e g e n s t ä n d l i c h e , nicht

5 Tomma Abis Ehme.

2002

A c r y l und Öl auf L e i n w a n d 48x38 cm

I Qualität in d e r M a l e r e i

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abbildende Malerei - und sicher auch eine »politische« Entscheidung vor d e m Hinterg r u n d eines nach w i e vor b o o m e n d e n M a r k t e s für figurative Malerei, die a u c h s c h o n von d e r Jury, w e l c h e die N o m i n i e r t e n festlegte, nicht b e a c h t e t w u r d e . D i e s m a l also d a s G ü t e s i e g e l » T u r n e r P r i z e - T r ä g e r « f ü r eine Position, die r a d i k a l und h ö c h s t k o n s e q u e n t ist, i n d e r L i n i e u n d F a r b h a u t a u f s E n g s t e m i t e i n a n d e r v e r s c h w e i ß t s i n d [ A b b . 5J. E s s i n d k l e i n e B i l d e r v o n g r o ß e r P r ä z i s i o n i n i h r e r m a k e l l o s e n U m s e t z u n g und ihren zarten A b s t u f u n g e n von Farben und Variationen. »Die S e l i g s p r e c h u n g der T a p e t e « , ä t z t e N i k l a s M a a k i n d e r FAZ, w a s m a l w i e d e r d e u t l i c h m a c h t e , d a s s m a n über Qualität i m m e r trefflich streiten kann, aber auch, dass m a n fünfzig Jahre nach d e m H o f e r - G r o h m a n n - S t r e i t u n d d e m e r b i t t e r t e n Krieg d e r A b s t r a k t e n g e g e n die F i g ü r l i c h e n n i c h t u n b e d i n g t d i f f e r e n z i e r t e r g e w o r d e n ist - g e h ö r t e d o c h d a s T a p e t e n a r g u m e n t i m m e r s c h o n z u r N a h k a m p f a u s r ü s t u n g d e r » I n h a l t s f r a k t i o n « , w e n n sie m a l w i e d e r gegen die » F o r m a l i s t e n « z u m A n g r i f f blies. Was mich, der k a u m im Verdacht steht, ein b r e n n e n d e r Verfechter des » N e o - F o r m a l i s m u s « zu sein, an den kleinen ( i m m e r 48 x 3 8 cm formatigen), höchst kunstfertigen L e i n w ä n d e n von T o m m a A b t s b e r e i t s f a s z i n i e r t e , als sie m i r i n e i n e r u m f a s s e n d e n Ausstellung in der Basler Kunsthalle z u m ersten Mal begegneten, war neben der Präzision ihrer m a k e l l o s e n A u s a r b e i t u n g vor a l l e m ihr E r f i n d u n g s r e i c h t u m und ihre Originalität. I m m e r s i n d e s K o n s t e l l a t i o n e n , die n a c h nicht s o f o r t z u e n t s c h l ü s s e l n den Regeln funktionieren. Strukturen von sich wiederholenden, aufeinander reagier e n d e n Linien, die j e d o c h i n i h r e r r ä u m l i c h e n O r d n u n g auf r a f f i n i e r t e A r t v e r s c h r ä n k t und v e r w o b e n sind. Vorder- und H i n t e r g r u n d w e c h s e l n sich in einer b i l d i m m a n e n ten, a b e r nicht z w a n g s l ä u f i g u n s e r e n r ä u m l i c h e n E r f a h r u n g e n e n t s p r e c h e n d e n Logik ab. L i n i e n m u l t i p l i z i e r e n s i c h z u e i n e m R h y t h m u s , d e r j e d o c h nie z u r e i n g ä n g i g e n W i e d e r h o l u n g wird, s o n d e r n i m m e r etwas Individuelles behält. Bei so gänzlich reduzierten M i t t e l n ein nicht enden w o l l e n d e r E r f i n d u n g s r e i c h t u m , darin könnte die unaufgeregte, völlig u n s p e k t a k u l ä r e Qualität der kleinen Arbeiten von T o m m a Abts liegen. D a r i n k ö n n t e a u c h die Relevanz i h r e r A r b e i t e n b e s t e h e n , das, w a s sie n e b e n i h r e r Ü b e r z e i t l i c h k e i t a u c h a k t u e l l u n d z e i t g e n ö s s i s c h m a c h t - ist d a s E r k e n n e n , dass eine b e s t i m m t e k ü n s t l e r i s c h e Position f ü r die Z e i t g e n o s s e n von B e d e u t s a m k e i t ist, d o c h i m m e r e n g v e r k n ü p f t m i t d e m E r k e n n e n i h r e r Q u a l i t ä t . Kürzlich ü b e r r a s c h t e m i c h ein ä l t e r e r M u s e u m s k o l l e g e , Kustos u n d zeitweise Direktor eines M u s e u m s , mit e i n e m sehr entschieden gefällten Urteil: Nach zwanzig Minuten Aufenthalt in einer Ausstellung mit Werken chinesischer Gegenwartskunst, die w i r i n d i e s e m W i n t e r i n d e r H a m b u r g e r K u n s t h a l l e gezeigt haben, w u s s t e e r m i r z w i s c h e n T ü r u n d A n g e l z u z u r a u n e n , e s sei u n s b e i d e n j a s o w i e s o k l a r , d a s s dies h i e r a l l e s n u r K i t s c h sei. M i r w a r d a s in d e n v e r g a n g e n e n zwei J a h r e n , in d e n e n ich m i c h mit dieser A u s s t e l l u n g befasst hatte, nicht so klar g e w o r d e n , und ich staunte über die N o n c h a l a n c e dieses Urteils, das m a l eben nach e i n e m ersten, f l ü c h t i g e n B e t r a c h t e n e i n i g e r W e r k e ü b e r die m e h r als h u n d e r t K ü n s t l e r d i e s e r A u s s t e l l u n g

gefällt w u r d e . Von e i n e m r u n d dreißig J a h r e älteren Kollegen, der sich sein L e b e n lang mit Kunst beschäftigt hat, w ü r d e m a n gern solch ein Urteil ernst n e h m e n . Hat e r d o c h viel m e h r g e s e h e n als ich, hat e r d o c h viel m e h r G e l e g e n h e i t g e h a b t , sein Auge zu schulen, Kriterien zu entwickeln. Wenn ihm doch dabei nicht A n m a ß u n g und S e l b s t g e f ä l l i g k e i t a u s j e d e m K n o p f l o c h geblitzt h ä t t e n ! Ich s p ü r t e keine K e n n e r schaft, s o n d e r n lediglich den Gefallen an der Macht, aufgrund seiner Erfahrung und s e i n e r B e r u f s j a h r e e n t s c h e i d e n z u d ü r f e n , w a s g u t u n d w a s s c h l e c h t ist. W e n n das Wort »Qualität« auftaucht, d ü r f t e es häufig schlicht und ergreifend um Einfluss und Besitzstandswahrung gehen. Etwa w e n n Kunsthändler und S a m m l e r von Qualität sprechen, wobei das existenzielle Bezugssystem dann allerdings meistens relativ offen vor e i n e m liegt. S c h w i e r i g e r , w e n n K u r a t o r e n und K ü n s t l e r h i n z u k o m m e n u n d w e n n e s d a n n u m N e t z w e r k e geht, die v o m K o n s e n s leben, sich d u r c h das U r t e i l , w a s q u a l i t ä t v o l l ist u n d w a s n i c h t , v e r s t ä n d i g e n u n d s i c h i h r e s Z u s a m m e n halts v e r s i c h e r n . U n d s p ä t e s t e n s an d i e s e m P u n k t w i r d die Offenheit und N e u g i e r in der Kunstbetrachtung a l l e m a l wichtiger als das vielbesungene Qualitätsbewusstsein. Die Offenheit, sich bei j e d e m K ü n s t l e r auf neue, eigene K r i t e r i e n e i n z u l a s s e n , s i c h bei j e d e m G e m ä l d e e r n e u t z u f r a g e n , w e l c h e n W e g d e r M a l e r h i e r e i g e n t l i c h geht, und ob das Bild einlöst, w a s der Künstler mit ihm wollte. D a h e r a u f g e m e r k t ! W e n n e s u m Qualität geht, g e h t e s oft u m M a c h t . U n d die m a c h t ja bekanntlich blind: blind für das Neue, Neugedachte, Neugeformte, Neuerfundene. A u c h die G e n e r a t i o n , die m i t d e n E r z ä h l u n g e n von d e n A n f e i n d u n g e n g e g e n ü b e r d e n I m p r e s s i o n i s t e n g r o ß g e w o r d e n ist, f ü r die V i n c e n t v a n G o g h s (1853-1890) v e r zweifelter Kampf um A n e r k e n n u n g ebenso zur Basis ihres Kunstbegriffs beigetragen hat w i e die von g a n z e m H e r z e n b e t r i e b e n e W i e d e r g u t m a c h u n g g e g e n ü b e r d e r » E n t a r t e t e n K u n s t « , ist v o r s o l c h e r B l i n d h e i t n i c h t g e f e i t . U n d s o s o l l t e j e d e r K u n s t m e n s c h in sein Nachtgebet mit einschließen: Herr, erhalte meine Neugier, damit ich lerne, Qualität u n v o r e i n g e n o m m e n zu e r k e n n e n .

D a s Fazit? E s ist n i c h t e i n f a c h , e i n e S c h l u s s f o l g e r u n g z u z i e h e n ; e s f ä l l t s c h w e r , die strahlende, anbetungswürdige »Qualität« genau zu bestimmen, ebenso schwer wie ihre nächtliche Gegenseite, den grell herausgeputzten, verlogenen B r u d e r »Kitsch«. N i m m t m a n beide K a t e g o r i e n ernst, s o w i r d m a n i m m e r ein g a n z e s B ü n d e l von einzelnen B e o b a c h t u n g e n s c h n ü r e n m ü s s e n . Nie w i r d ein K r i t e r i u m reichen, u m sich ü b e r die Qualität von M a l e r e i zu v e r s t ä n d i g e n o d e r g a r ein U r t e i l fällen zu k ö n n e n . T r o t z d e m k ö n n e n beide K a t e g o r i e n h ö c h s t hilfreich sein, w e n n sie a m A n f a n g stehen: als A u s g a n g s p u n k t eines Gesprächs, als Steilvorlage für einen Schlagabtausch und damit als Möglichkeit, sich über W a h r n e h m u n g und B e u r t e i l u n g von Kunst a u s z u t a u s c h e n und über die u n t e r s c h i e d l i c h e n Kriterien d e r B e u r t e i l u n g zu d i s k u t i e r e n für ein e i n i g e r m a ß e n e r n s t zu n e h m e n d e s , gar ein a b s c h l i e ß e n d e s U r t e i l a l l e r d i n g s taugen beide Kategorien nicht.

Interview mit Gudrun Inboden Die F r a g e n s t e l l t e W o l f r a m Völcker.

Was verstehen Sie altgemein unter »Qualität« in der Kunst?

M a n g l a u b t z u w i s s e n , w a s m i t d i e s e r F r a g e g e m e i n t ist, a b e r m a n z ö g e r t d a n n d o c h m i t d e r A n t w o r t . W a r u m ? W e i l , w a s Q u a l i t ä t i n d e r K u n s t ist, s i c h n i c h t d e f i n i e r e n tässt. W i e d e n n a u c h , w e n n K u n s t s e l b s t n i c h t d e f i n i e r b a r ist. W o h l g e r a d e d e s h a l b verwenden wir diesen an sich nichts sagenden Begriff »Qualität«, w e n n wir über Kunst etwas aussagen wollen. Erlaubt er uns doch, vielsagend im Dunkeln zu lassen, w a s w i r nicht w i s s e n . Die Philosophie des M i t t e l a l t e r s s c h e u t e sich nicht vor d e m N i c h t - W i s s e n u n d belegte E r s c h e i n u n g e n , f ü r die e s keine E r k l ä r u n g gab, m i t d e m Begriff der »qualitas occulta«. N u r hatte »qualitas« d a m a l s in der Kategorienlehre einen b e s t i m m t e n Stellenwert, während wir heute das Bedeutungsfeld eines Begriffs jeweils i m m e r erst neu eingrenzen m ü s s e n , bevor w i r ihn verständlich platzieren können. W e n n T h o m a s von Aquin schreibt: » M a n lobt den K ü n s t l e r als solchen nicht w e g e n der Absicht, mit der er das Werk vollbringt, s o n d e r n nur w e g e n der Qualität des W e r k e s « , d a n n ist q u a E i n s c h r ä n k u n g k l a r , w a s e r u n t e r Q u a l i t ä t v e r s t e h t : e i n e s p e zifische u n d b e s c h r e i b b a r e E i g e n s c h a f t , in d i e s e m Falle die A r t und Weise d e r A u s f ü h r u n g , die n e b e n T e c h n i k n o c h N a t u r l r e u e , G e l e h r s a m k e i t , R h e t o r i k e t c e t e r a u m f a s s e n kann. Und tatsächlich bedeutet ja Qualität Beschaffenheit, Eigenschaft und als Kategorie unter a n d e r e m a u c h Substanz. Wie sehr uns heute ein begriffliches Leitsystem fehlt, zeigt sich an u n s e r e r Frage. D a m i t f r a g e n w i r n ä m l i c h nicht nach der besonderen Eigenschaft »von« Kunst, s o n d e r n ganz a l l g e m e i n nach der Eigenschaft »in« der K u n s t - eine begriffsstutzige Frage, die uns a u t o m a t i s c h j e d e r verbindlichen Antwort enthebt. Doch so nebulös für uns das Wort »Qualität« und so ungeregelt sein Gebrauch auch sind, so liegt vielleicht gerade darin seine »Qualität«: Es eignet sich n ä m l i c h so ganz u n d gar nicht dazu, der Kunst ein b e s t i m m t e s Sosein zu- o d e r gar v o r z u s c h r e i b e n . N e h m e n w i r » Q u a l i t ä t « a l s o s o v a g e , w i e sie ist, u n d d e n k e n w i r sie n i c h t a l s verlässliche, unveränderliche, statische Konstante, s o n d e r n als eine »vage«, nicht

b e r e c h e n b a r e , d y n a m i s c h e Variable, die t a t s ä c h l i c h »in« d e r K u n s t ihr W e s e n treibt. Wir können uns Qualität dann vorstellen als eine »in« der Kunst wirkende, »substanzielle« Kraft: nicht als eine Energie, die e t w a s B e s t i m m t e s produziert - d e n n d a n n k ö n n t e n o d e r m ü s s t e n w i r w i e d e r » d e f i n i e r e n « - , v i e l m e h r a l s e i n e K r a f t , die I m p u l s e gibt, die anstößt, auslöst, in Gang setzt. Qualität als ein nicht g e r a d l i n i g e r , m ä a n d e r n d e r E n e r g i e f l u s s , der, w a s e r m i t sich reißt, s u b s t a n z i e l l v e r w a n d e l t , nie g e w a l t s a m , nie z i e l g e r i c h t e t , m e i s t nicht e i n m a l i n t e n d i e r t . U n d e i g e n t l i c h liegt diese Art von Kraft oder Qualität in der Natur der Sache. Ihrem Wesen nach Mimesis, w i e d e r h o l t d i e K u n s t , u n d i n d e m s i e w i e d e r h o l t , v e r w a n d e l t s i e . Sie k o p i e r t d a s W i r k liche nicht, s o n d e r n w i e d e r h o l t es in e i n e m gewissen zeitlichen Abstand und vers e t z t es in e i n e n z e i t l i c h e n F l u s s , v e r f l ü s s i g t es, ja - m a n k ö n n t e s a g e n - l ä u t e r t es, und z w a r nicht hin zu einer v e r ä n d e r t e n Wirklichkeit, s o n d e r n z u m Schein. N a c h H e g e l ist d i e s e A r t L ä u t e r u n g » h ö c h s t e V e r w a n d l u n g « - w i r w ü r d e n s a g e n : » h ö c h s t e Qualität« - , n ä m l i c h ein E r h ö h e n / S u b l i m i e r e n der s i n n l i c h e n Welt, oder, w i e Rainer Maria Rilke sagt, die » R e t t u n g des S i c h t b a r e n ins U n s i c h t b a r e « .

Was verstehen Sie unter einem Gemälde?

Diese Frage habe ich m i t den letzten S ä t z e n b e r e i t s b e a n t w o r t e t . S p e z i e l l f ü r die Malerei wäre ihr Scheinhaftes vielleicht besonders hervorzuheben.

Gibt es a l l g e m e i n g ü l t i g e Q u a l i t ä t s m e r k m a l e in der Malerei?

U m das z u bejahen, m ü s s t e ich aus i r g e n d e i n e r K a t e g o r i e n l e h r e s c h ö p f e n k ö n n e n , w a s ein A n a c h r o n i s m u s w ä r e , o d e r ich m ü s s t e Regeln a u f s t e l l e n u n d w ü r d e dabei v e r g e s s e n , dass m a n d a s n u r f ü r m e c h a n i s c h e T ä t i g k e i t e n k a n n . Die K u n s t k e n n t k e i n e R e g e l n , s o n s t l i e ß e s i e s i c h l e i c h t v o n j e d e r m a n n e r l e r n e n . U m g e k e h r t ist d i e B e g e g n u n g mit der Kunst eine Sache m o m e n t h a f t e r Erfahrung oder des Schocks, und a u c h dafür gibt es keine Regeln. W e n n der v e r w a n d e l n d e E n e r g i e s t r o m der K u n s t nicht n u r die » w i e d e r h o l t e « s i n n l i c h e Welt, s o n d e r n a u c h den B e t r a c h t e r s e l b s t e r f a s s t u n d m i t s i c h r e i ß t , d a n n ist d a s e i n E r e i g n i s u n d a l s E r e i g n i s u n v o r h e r s e h b a r und nicht in R e g e l n zu fassen. U n v e r s e h e n s w i r d der B e t r a c h t e r ein a n d e rer, ja er wird sich g e w i s s e r m a ß e n s e l b e r unsichtbar. A u g e n b l i c k l i c h verliert er sein Bezugssystem und seine Identität aus d e m Auge; das F u n d a m e n t seiner Gewissheiten, M e i n u n g e n u n d U r t e i l e w i r d zutiefst e r s c h ü t t e r t . Genau w i e i n d e r Liebe, die b e k a n n t l i c h »blind m a c h t « . D e m M y t h o s zufolge liegt d e r U r s p r u n g der Malerei j a a u c h i n d e r Liebe. Das eine M a l e r f i n d e t sie sich a u s d e m W u n s c h h e r a u s , die Gestalt des scheidenden Geliebten festzuhalten: im Schattenriss, der den N i c h t a n w e s e n d e n

a n w e s e n d s e i n l ä s s t . Das a n d e r e M a l ist e s d a s S p i e g e l b i l d d e s s e l b s t v e r l i e b t e n Narziss, das am Anfang der Malerei steht. Beide Male handelt es sich um ein v o m sinnlichen Begehren ausgelöstes und sinnliches Begehren weckendes Trugbild; beide Male um eine Verdoppelung beziehungsweise W i e d e r h o l u n g im Schein der Oberfläche, der durch Wegfall der dritten Dimension sein Urbild z u m Gegenstand g r ö ß t e n s i n n l i c h e n V e r l a n g e n s m a c h t . S p e z i e l l die M a l e r e i b e h e r r s c h t das S p i e l der Oberflächen und Trugbilder mit ihrem Paradox aus Mangel an Wirklichkeit und Ü b e r f ü l l e a n S i n n l i c h k e i t - d a s S p i e l m i t B e g e h r e n u n d V e r f ü h r e n . D i e » K u n s t ist d e r d u n k l e W u n s c h a l l e r D i n g e « (Rilke). Sie ist d a s u n e r h ö r t e s t e S i n n e s a g g r e g a t , m e s s b a r n u r in Graden von Intensität, w o f ü r es aber keinerlei I n s t r u m e n t e gibt.

Welches sind für Sie spezifische Quatitätsmerkmale der Malerei, die f ü r andere Medien so nicht gelten?

Eben g e r a d e die Intensität j e n e r a n d e r e n , nicht d r i t t e n D i m e n s i o n , e b e n j e n e r D i r n e n sion d e r O b e r f l ä c h e , die eine a n d e r e I l l u s i o n als die d e s R a u m e s e r z e u g t : e b e n die U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t der Malerei, aus d e r w e s e n t l i c h e Fragen k o m m e n . Große M a l e r e i k a n n , w e i l sie die s i n n l i c h s t e d e r K ü n s t e ist, die I l l u s i o n ( i m m e r z u v e r s t e h e n als Steigerung, Erhöhen) der Anwesenheit (Präsenz) von etwas N i c h t a n w e s e n d e m b e z i e h u n g s w e i s e die » R e t t u n g des S i c h t b a r e n ins U n s i c h t b a r e « - o d e r die E r f a h r u n g des schlechthin anderen - zu solcher Unmittelbarkeit treiben, wie es anderen Medien i m m e r d a n n g e l i n g t , w e n n s i e s i c h d e r M a l e r e i a n n ä h e r n . Ich d e n k e b e i s p i e l s w e i s e f ü r die B i l d h a u e r e i des letzten J a h r h u n d e r t s an A l b e r t o G i a c o m e t t i (1901-1966) o d e r R i c h a r d S e r r a ( g e b . 1939) u n d f ü r d a s K i n o , d a s , o b g l e i c h e i n e g r o ß e B i l d e r v e r f ü h rerin, im A l l g e m e i n e n das U n s i c h t b a r e n o c h zu w e n i g f ü r sich e n t d e c k t hat, an Ozu Yasujiry o d e r A b b a s K i a r o s t a m i . Diese beiden a r b e i t e n m i t der Zeit im Sinne des malerischen M o m e n t s der zeitlich versetzten »Wiederholung«: in der unendlichen D e h n u n g eines a u g e n b l i c k l i c h e n G e s c h e h e n s bis z u m S t i l l l e b e n u n d d e m Eröffnen eines unendlichen Zeithorizonts im für wenige M o m e n t e stillgestellten Bild einer Landschaft - o d e r der V e r w a n d l u n g des Sichtbaren ins Fragen.

Welches K r i t e r i u m ist für Sie persönlich f ü r die Qualität eines Gemäldes am wichtigsten?

M a u r i z i o C a t t e l a n ( g e b . 1960) s a g t i m K a t a l o g d e r 4 . B e r l i n B i e n n a l e : » W i r h a s s e n d a s W o r t K r i t e r i e n ; d a s k l i n g t s o , a l s g i n g e e s bei d e r K u n s t u m e i n e n W e t t b e w e r b o d e r e i n e P r ü f u n g . « Ich g l a u b e , e s i s l i n u n s e r e m G e s p r ä c h d e u t l i c h g e w o r d e n , d a s s Kriterien auch a u s u n s e r e n Ü b e r l e g u n g e n ganz von allein ausscheiden. Man benutzt sie als M a ß s t a b von W a h r h e i t u n d G e w i s s h e i t , von a l l d e m , w a s die K u n s t j a g e r a d e

ausschließt beziehungsweise verwandelt in das Nichtbestimmte, Ungewisse und Offene, in das Fragen. Peter H a n d k e kleidet diese M e t a m o r p h o s e in s e i n e m j ü n g s t e n B u c h in den Satz: »Ich gebe dir e t w a s zu b e d e n k e n . «

Welchen Stellenwert messen Sie Ihrem persönlichen Geschmack bei der Beurteilung von Qualität zu?

D a d i e K u n s t e i n e S a c h e d e r E r f a h r u n g , u n d d a s h e i ß t , d e r V e r w a n d l u n g , ist, s p i e l t natürlich auch das » K r i t e r i u m « des persönlichen Geschmacks, der ja i m m e r a u f e i n U r t e i l a u s i s t , bei d e r B e g e g n u n g m i t d e r K u n s t k e i n e R o l l e . D e n k e n S i e a n M a r c e l D u c h a m p s (1887-1968) » B r u c h m i t d e m G e s c h m a c k « . Die B e g e g n u n g m i t e i n e m K u n s t w e r k ist s t e t s z u f ä l l i g u n d u n e r w a r t e t , s i e ist i m m e r e i n - n i c h t p l a n bares - Ereignis, ein »coup de foudre«, a u c h w e n n ich gezielt in ein M u s e u m gehe o d e r eine A u s s t e l l u n g besuche. Alle Vorlieben, Vorurteile, Maßstäbe b r e c h e n kläg-lich in sich z u s a m m e n , sobald eine solche B e g e g n u n g stattfindet.

Woran erkennen Sie ein herausragendes Werk?

An s e i n e r »qualitas occulta«, die m i r » e t w a s zu b e d e n k e n gibt«.

Können Sie m i r anhand eines Beispiels von besonders hoher Qualität und anhand eines Bildes von g e r i n g e r Qualität Ihre K r i t e r i e n und Ihren Ansatz e r l ä u t e r n ?

P r ä s e n z und E r f a h r u n g k a n n m a n nicht abbilden. D a h e r lässt sich ein s o l c h e r Vergleich nicht herstellen, z u m a l m a n mit » K r i t e r i e n « und » A n s ä t z e n « die B e r e i t s c h a f t z u m Verführtwerden und zur M e t a m o r p h o s e ablehnt und so den Zugang zur Frage nach der Qualität verbaut.

Worauf sollte ein Betrachter oder S a m m l e r bei der Beurteilung eines Gemäldes besonders achten?

Auf das, w a s z w i s c h e n i h m u n d d e m G e m ä l d e g e s c h i e h t : auf die E n e r g i e m e t a m o r p h o s e bei d i e s e r B e g e g n u n g .

Spielt auch das Sujet eine Rolle oder das »Was«, oder geht es in der Malerei n u r um das »Wie«?

Ich m e i n e , diese F r a g e hat s i c h s o z u s a g e n von s e l b s t e r l e d i g t . Ich v e r w e i s e auf T h o m a s von Aquin, der eine d e r a r t i g e U n t e r s c h e i d u n g treffen konnte, w e i l sich u n t e r d e r P r ä m i s s e , d a s s die K a t e g o r i e n (das »Was«) d e m K ü n s t l e r a p r i o r i g e g e b e n w a r e n , der B e g r i f f d e r Qualität einzig u n d allein auf die A u s f ü h r u n g (das »Wie«) bezog. Da w i r d a s » W a s « n i c h t h a b e n , ist e s m ü ß i g , n a c h d e m » W i e « z u f r a g e n .

Es folgen drei Beispiele für Qualität, verstanden als V e r w a n d l u n g des W a h r s c h e i n l i c h e n ins U n w a h r s c h e i n l i c h e : d u r c h den S c h o c k d e r J e t z t - E r f a h r u n g bei B a r n e t t N e w m a n ( 1 9 0 5 - 1 9 7 0 ) ; d u r c h d a s R ä l s e l bei M a r c e l B r o o d t h a e r s ( 1 9 2 4 - 1 9 7 6 ) ; d u r c h » K o n s t r u k t i o n u n d K l a r h e i t « b e i G e r h a r d M e r z ( g e b . 1947).

Barnett N e w m a n

Das G e m ä l d e

Who's Afraid of Red.

Yellow and Blue II (1967; A b b . 1) e n t s t a n d a l s

zweite von vier V e r s i o n e n mit d e m s e l b e n Titel in den G r u n d f a r b e n Rot, Gelb u n d Blau. Es ordnet einer b l a u e n M i t t e l a c h s e seitlich je ein g e l b e s B a n d s y m m e t r i s c h zu u n d ist d a m i t d a s e i n z i g e i n d e r R e i h e , d a s a u f d i e A x i a t i t ä t v o n Onement I (1948), d e m f ü r N e w m a n s Schaffen e n t s c h e i d e n d e n f r ü h e n Bild, direkt z u r ü c k g r e i f t . Obgleich w ä h r e n d des M a l p r o z e s s e s m i t K l e b e b a n d gesichert, sind die F a r b g r e n z e n unruhig, verwischt und schwankend. Am Widerspruch der optisch flirrenden Farbb ä n d e r u n d i h r e r s t a t i s c h e n S y m m e t r i e s c h e i t e r t die S i c h t auf d a s Rot a l s h o m o gene Fläche, und es überwiegt der Eindruck einer kontinuierlichen Ausbreitung, ja g r e n z e n l o s e n A u s d e h n u n g des Rots, n a c h J o h a n n W o l f g a n g von Goethe die Farbe des E r h a b e n e n u n d des S c h r e c k e n s und d o c h a u c h die e d e l s t e Farbe, die alle a n d e r e n e n t h ä l t . N e w m a n n a n n t e d i e V e r t i k a l e n a b 1966 » z i p s « , u m i h r e T e m p o r a l i t ä t , ihr e i n e m abgeschossenen Pfeil gleich k o m m e n d e s Sirren hervorzuheben. Wie den H i m m e l z e r r e i ß e n d e Blitze d u r c h t r e n n e n die Streifen m o m e n t h a f t d e n u n e n d l i c h e n F a r b r a u m , verzeitlichen und aktualisieren ihn z u m Schauplatz eines e r h a b e n e n G e s c h e h e n s . D e r a r t » e l e k t r i s c h « a u f g e l a d e n , n i m m t die e n t g r e n z t e rote Farbe s e l b s t die D i m e n s i o n des Ü b e r s i n n l i c h e n an, die, o b j e k t i v n i c h t d a r s t e l l b a r , d o c h d e r u n m i t t e l b a r e n E r f a h r u n g i m J e t z t z u g ä n g l i c h ist. I m U n t e r s c h i e d z u r r u h i g e n K o n t e m p l a t i o n d e s z e i t l o s e n S c h ö n e n » b e w e g t « die E r f a h r u n g d e s E r h a b e n e n o d e r d e s C h a o s »das G e m ü t « ( I m m a n u e l Kant) d u r c h seine Furcht e i n f l ö ß e n d e u n d e r s c h ü t ternde Ü b e r m a c h t , i n d e m es das sinnliche Erfassungsvermögen übersteigt. Der

1

Barnett Newman

Who 's Afraid ot Red. Yellow and Blae II. 1967 Acryl auf Leinwand 305x258cm

I Qualität in der Malerei

27

1

Barnett Newman

Who s Afraid ol Red. Yetlow and Blue II. 1967 Acryl auf Leinwand 305x258cm

I Qualität in der Malerei

27

jüdische Glaube denkt das sich j e d w e d e r Repräsentation entziehende Erhabene als den d r a m a t i s c h e n Ausdruck göttlicher Macht. In i h m wird der schöpferische Akt selbst g e g e n w ä r t i g , wie er sich a u s s p r i c h t im »Es w e r d e Licht« oder im »Sei«, das N e w m a n s e i t 1949 h ä u f i g a l s B i l d t i t e l iBel v e r w e n d e t e . D a m i t l e g t e e r d e n A k z e n t a u f den Anfang, der im vom Erhabenen ausgelösten Schock der Jetzt-Erfahrung mits c h w i n g t . Die s c h ö p f e r i s c h e H a n d l u n g steht v o r a u s s e t z u n g s l o s s t e t s a m A n f a n g u n d setzt e i n e n A n f a n g . A l s ü b e r w ä l t i g e n d e s E r e i g n i s b r i c h t sie e r u p t i v i n die W e l t d e r Repräsentation ein und e r s c h ü t t e r t deren relationales R a u m - Z e i t - G e f ü g e . Das Erhabene als das s c h l e c h t h i n Undarstellbare, nicht zeitloser Gegenstand r u h i ger Kontemplation, s o n d e r n bewegendes Ereignis im Jetzt, läuft der ästhetischen K a t e g o r i e des S c h ö n e n den Rang ab. Es löst das Bild a u s den Grenzen d e r A n s c h a u lichkeit und befreit es v o m Zwang der Ähnlichkeit mit den Dingen, sodass sich nicht m e h r die F r a g e n a c h m i t t e l b a r e r S y m b o l i k s t e l l t . S e l b s t die a b s t r a k t e M a l e r e i e i n e s Piet M o n d r i a n (1872-1944) m i t i h r e r S u c h e n a c h d e m e l e m e n t a r e n , H a r m o n i e s t i f t e n den Bezug von Linien, G r u n d f a r b e n und Fläche w a r f ü r N e w m a n noch i m m e r eine d e m Schönen, der Synthese und der Repräsentation verpflichtete Kunst.

Marcel Broodthaers

Das

Ensemble des Plaques ( 1 9 6 8 - 1 9 7 2 ; A b b . 2)

ist d a s e i n z i g e n o c h n a h e z u v o l l s t ä n -

dige a u s d e r u r s p r ü n g l i c h e n Edition von sieben. B r o o d t h a e r s n a n n t e die Tafeln » p o e m e s i n d u s t r i e l s « ( » i n d u s t r i e l l e Gedichte«) u n d b e z e i c h n e t e sie a l s » B i l d e r r ä t s e l « . Ihr hybrider, ja paradoxer C h a r a k t e r u n d ihre N i c h k l a s s i f i z i e r b a r k e i t w a r e n i h m o f f e n b a r w i c h t i g . A l s G e d i c h t e s i n d s i e S p r a c h k u n s t w e r k e , a b e r e s f e h l t i h n e n Text u n d A u t o r ; a l s I n d u s t r i e p r o d u k t e k e n n z e i c h n e t sie ihre M a c h a r t , d o c h zielen sie auf k e i n e n b e s t i m m t e n N u t z e n o d e r V e r b r a u c h e r . A l s S c h i l d e r t r a g e n sie S y m b o l e u n d Hinweise, o h n e freilich w i r k l i c h auf e t w a s G e m e i n t e s zu v e r w e i s e n ; als B i l d e r r ä t s e l k e t t e n sie D i n g b i l d e r , B u c h s t a b e n u n d B o g r i f f e a n e i n a n d e r , n u r bleibt a m E n d e die L ö s u n g aus. Das Puzzle ergibt kein Sinnganzes, d e n n es weist viel zu viele u n a u s f ü l l b a r e L e e r s t e l l e n auf, u n d w e d e r l a s s e n sich die e i n z e l n e n B a u s t e i n e f u g e n l o s z u s a m m e n s e t z e n , noch lässt sich das E n s e m b l e schlüssig lesen und verstehen. In i h r e n u n v e r b i n d l i c h e n u n d a n s c h l u s s l o s e n Z w i s c h e n r ä u m e n p a r o d i e r e n die S c h i l d e r die k o n s t r u i e r t e s y m m e t r i s c h e Logik von Lesen und Sinn, von Zeigen und B e n e n n e n , von D a r s t e l l e n u n d Sagen, von N a c h a h m e n und B e d e u t e n ; kurz, sie s p r e n g e n das S y s t e m der R e p r ä s e n t a t i o n , das auf d e m n a h t l o s e n I n e i n a n d e r g r e i f e n der A n a l o g i e n z w i s c h e n D i n g e n , B i l d e r n u n d W ö r t e r n s i c h a u f b a u t . Die L ü c k e n u n d A u s l a s s u n g s z e i c h e n w e c k e n Z w e i f e l a n d e r L e s b a r k e i t d e r Welt, a b e r sie e r m ö g l i c h e n z u g l e i c h ein a n d e r e s als das strikt lineare D e n k e n der Beziehung von Ding, Bild und Sprache. I n d e r R ä t s e l h a f t i g k e i t d e r Z e i c h e n v e r b i n d u n g e n d e r Plaques v e r d i c h t e t s i c h d a s

unendliche Potenzial eines anderen Sinns, einer poetischen Enträtselung der Welt die allen lexikalischen E n t z i f f e r u n g e n und e n z y k l o p ä d i s c h e n E r k l ä r u n g s m o d e l l e n a b s c h w ö r t und s t a t t d e s s e n ein freies, m e h r d e u t i g e s Spiel m i t Fiktionen, eine a u s sagelose B e w e g u n g von Signifikanten ohne Signifikat in Gang setzt.

Gerhard Merz

C h a r a k t e r i s t i s c h f ü r die A r b e i t v o n G e r h a r d M e r z ist die V e r b i n d u n g v o n M a l e r e i u n d Architektur (»Archipittura«), wobei der Künstler unter U m s t ä n d e n - wie in diesem Fall (Abb. 3) - beide Teile z u g l e i c h v e r a n t w o r t e t . G e w i n d e s t a n g e n u n d e i n e a r c h i t e k t o n i s c h e R a h m u n g h e b e n , s t ü t z e n u n d t r a g e n die g r o ß f o r m a t i g e m o n o c h r o m e M a l e rei u n d f ü h r e n d i e e n o r m e , d u r c h d a s h o h e s p e z i f i s c h e G e w i c h t d e s K a d m i u m r o t s b e d i n g t e S c h w e r e d e s B i l d e s g e r a d e z u d e m o n s t r a t i v vor. S o k a n n d i e I l l u s i o n e i n e r s c h w e r e l o s e n , i m m a t e r i e l l e n F a r b w e l t o d e r die e i n e r » e r f ü l l t e n L e e r e « (hier u n d i m F o l g e n d e n M e r z ) , e t w a i m S i n n e e i n e s Yves K l e i n ( 1 9 2 8 - 1 9 6 2 ) , g a r n i c h t e r s t a u f k o m m e n . V i e l m e h r r e k u r r i e r t die » w i r k l i c h e L e e r e « d e r » k a l t e n « M o n o c h r o m i e von M e r z auf den » h i s t o r i s c h v e r b l i e b e n e n S p i e l r a u m « der Kunst d e r M o d e r n e , auf das Erbe eines Kasimir Malewitsch (1878-1935) oder Mies van der Rohe (1886-1969). Anstatt etwas Neues erfinden zu wollen, wiederholt Gerhard Merz deren Fragen nach d e n i n n e r e n G e s e t z e n d e r K u n s t i n r a d i k a l i s i e r t e r F o r m u n d stellt sie d a m i t neu. » K o n s t r u k t i o n und K l a r h e i t « sowie » B a u e n und E r h e l l e n « t r e t e n so an die Stelle von R e p r ä s e n t a t i o n u n d Schein. Das S c h ö n e u n d E r h a b e n e h ö r e n auf, m e t a p h y s i s c h e Begriffe zu sein. In einer »agnostischen«, allein der architektonischen G r a m m a t i k von » M a ß , F o r m u n d L i c h t « v e r p f l i c h t e t e n , k l a s s i s c h e n S p r a c h e stellt sich die M o n o c h r o m i e von Merz als objektiviertes Wissen gleichsam quer zur transzendentale Erkenntnis verheißenden Kunst Barnett N e w m a n s . Statt der Ü b e r w ä l t i g u n g des Subl i m e n bei N e w m a n hat das E r h a b e n e bei M e r z die W i r k u n g von D e s i l l u s i o n i e r u n g : Es e r h e l l t - d e n S t a n d p u n k t d e r V e r n u n f t -, a b e r es gibt kein V e r s p r e c h e n . Einzig die o b j e k t i v i e r b a r e W a h r h e i t d e r K u n s t , die » k a l t e D e m o n s t r a t i o n d e s s e n , w a s [ihre] z u g e s p i t z t e n M i t t e l a l s D e n k p r o z e d e r e l e i s t e n k ö n n e n « , ist n a c h M e r z i n d e r L a g e , den »Möglichkeitshorizont einer anderen geistigen Landschaft« zu entwerfen.

2 Marcel Broodthaers L Ensemble des Plaques. 1968-1972 68 vakuumgeformte Plastikschilder, bedruckt unterschiedliche Maße Auflage 7

3 Gerhard Merz Ohne Titel. 1996 P i g m e n t I K a d m i u m o r a n g e l auf Leinwand, vier Gewindestangen 360 x 7 2 0 c m I n s t a l l a t i o n m i t Gewindestangen: 3 6 0 x 1 0 5 0 c m

I Qualität in d e r M a l e r e i

31

II Qualität in d e r Z e i c h n u n g

Das Rohe und das Gekochte. Betrachtungen zu den Qualitäten gelungener Zeichnungen Andreas Schalhorn

W i e es a u s s i e h t , hat die z e i t g e n ö s s i s c h e Z e i c h n u n g in den letzten J a h r e n im A u s s t e l l u n g s b e t r i e b b e s o n d e r e k u r a t o r i s c h e A u f m e r k s a m k e i t erfahren, die a u c h auf den Kunstmarkt ausstrahlte.

Die

Kunstzeitung e t w a w i d m e t e

der gehäuften

Zahl von

Themenausstellungen zur Zeichnung unter der Überschrift »Comeback der Zeichn u n g . Ein A u s s t e l l u n g s r e i g e n ü b e r z i e h t die R e p u b l i k « die g e s a m t e T i t e l s e i t e i h r e r O k t o b e r a u s g a b e d e s J a h r e s 2004. A u c h w e n n d e r A u s s t e l l u n g s b e t r i e b n u n w i e d e r a n d e r e S c h w e r p u n k t e g e f u n d e n hat ( m a n denke beispielsweise an den C h i n a - B o o m ) , hat die Z e i c h n u n g als - bezogen auf F o r m a t e u n d Preise - s c h e i n b a r »kleine« S c h w e s t e r d e r » g r o ß e n « G a t t u n g e n M a l e r e i u n d S k u l p t u r (zu d e n e n s i c h a l s m a r k t relevante V e r w a n d t e noch Foto- oder M e d i e n k u n s t gesellen) auf den K u n s t m e s s e n und in den Galerien ihre S p i e l r ä u m e g e f u n d e n und etabliert. Ehe m a n sich um Qualitätsfragen in der zeitgenössischen Zeichenkunst Gedanken m a c h t , sollte u n a b h ä n g i g aller M o d e n des K u n s t b e t r i e b s klar sein, dass die Zeichnung,

wie

etwa

der

übersichtliche

Schnellkurs Zeichnung von

Carmela

Thiele

(Köln

2006) l e h r t , die » B a s i s t e c h n i k « b i l d l i c h e r A r t i k u l a t i o n d e s M e n s c h e n s c h l e c h t h i n w a r u n d ist - v o n d e r l i n e a r g e p r ä g t e n H ö h l e n m a l e r e i b i s h i n z u m C o m p u t e r A i d e d D e s i g n . Da die Z e i c h n u n g das G e s t a l t e n in a n d e r e n k ü n s t l e r i s c h e n M e d i e n »vord e n k e n « k a n n (in F o r m v o n A r c h i t e k t u r - u n d B i l d h a u e r z e i c h n u n g e n , v o n E n t w ü r f e n z u G e m ä l d e n o d e r I n s t a l l a t i o n s s k i z z e n b e i V i d e o s k u l p t u r e n ) , ist s i e - w i e i n d e r Kunsttheorie der italienischen Renaissance z u m Postulat erhoben - nicht eigentlich »Schwester«, sondern »Mutter« aller bildenden Künste. Auch nach allen technischen R e v o l u t i o n e n (von d e r F o t o g r a f i e bis z u m D i g i t a l f i l m ) bleibt die Z e i c h n u n g - ä h n l i c h der handschriftlichen Notation - wichtiges Instrument und erstes Zeugnis künstlerischen Denkens. Dies belegt in der N a c h k r i e g s k u n s t eindrucksvoll etwa der Kosm o s a n Z e i c h n u n g e n bei J o s e p h B e u y s (1921-1986). Der » E m p f i n d l i c h k e i t « der Z e i c h n u n g , sofern auf licht- und k l i m a e m p f i n d l i c h e m Papier geschaffen, e n t s p r i c h t auf der k ü n s t l e r i s c h e n Seite ihre b e s o n d e r e Sensibilität u n d V i e l s e i t i g k e i t . A l s G a t t u n g ist s i e d a h e r f ü r v i e l e K ü n s t l e r , die a u c h i n a n d e r e n Gattungen arbeiten, nicht nur von vorbereitender Funktion, s o n d e r n ein g l e i c h w e r -

tiger und eigenständiger Parallelstrang innerhalb ihres Schaffens. Dass sich gerade bei s o l c h e n K ü n s t l e r n Z e i c h n u n g e n a l s » s p o n t a n e r « , » f r e i e r « , » e r f i n d u n g s r e i c h e r « o d e r » m u t i g e r « e r w e i s e n als ihre im H e r s t e l l u n g s p r o z e s s m e i s t a u f w e n d i g e r e n G e m ä l d e u n d S k u l p t u r e n , ist n i c h t n u r ein e r s t e s K r i t e r i u m f ü r das, w a s eine g u t e Zeichnung prinzipiell a u s m a c h e n kann, sondern auch - und gerade deshalb - eine B e h a u p t u n g , die b e s o n d e r s g e r n von den W i s s e n s c h a f t l e r n g r a f i s c h e r S a m m l u n g e n zur Legitimation ihrer Arbeit angeführt wird. Und trotz der Gefahr der Floskelhaftigkeit besitzt diese B e h a u p t u n g , s o f e r n sie auf e n t s p r e c h e n d e r B e o b a c h t u n g fußt, einen w a h r e n Kern. Dass sich der besondere Genius eines Künstlers in der Zeichnung zu manifestieren weiß, verdeutlicht etwa eine Ä u ß e r u n g von Klaus Albrecht Schröder, d e m Direktor der Albertina in Wien. Er formulierte in seinem Vorwort des Ausstellungskatalogs

Pop

Art

&

Minimalismus.

The

Serial

Attitüde

(Albertina

2004):

»So groß der U n t e r s c h i e d z w i s c h e n einer Z e i c h n u n g A l b r e c h t D ü r e r s und einer Pablo P i c a s s o s i n z e i t l i c h e r u n d k ü n s t l e r i s c h e r H i n s i c h t a u c h sein m a g , e s v e r b i n d e t sie

1

Dieter Rolh

Ohne

Titel ISouvenirI.

1973

Bleistift auf Papier 67x75cm

42x30cm II Qualität m d e r Z e i c h n u n g 33

d o c h ein d u r c h g ä n g i g e r B e g r i f f von Z e i c h n u n g , d e r von d e r Idee d e r s u b j e k t i v e n k ü n s t l e r i s c h e n H a n d s c h r i f t l i c h k e i t g e t r a g e n ist, u n d z u d e m s i c h d i e E i g e n s c h a f t e n der Spontaneität und Einzigartigkeit, auch der kapriziösen Launenhaftigkeit oder m e i s t e r h a f t e n Virtuosität gesellen.« D e m z u f o l g e v e r w u n d e r t a u c h die g e g e n ü b e r d e m V e r f a s s e r g e ä u ß e r t e B e m e r k u n g d e r K u n s t b e r a t e r i n f ü r die b e t u c h t e n K u n d e n e i n e r S c h w e i z e r B a n k n i c h t : Sie p r ü f e d a s k ü n s t l e r i s c h e N i v e a u e i n e s M a l e r s a n h a n d s e i n e r Z e i c h n u n g e n . In diesen finde sie o f t m a l s den M a ß s t a b f ü r die Qualität eines Künstlers, da eine Z e i c h n u n g im Gegensatz zu e i n e m G e m ä l d e nur sehr bedingt überarbeitet w e r d e n könne. (Doch gibt es natürlich a u c h gute Maler und Bildhauer, die nicht s o n d e r l i c h gut z e i c h n e n können.) Den grundsätzlichen Rang der Zeichnung im Geflecht der Kunstgattungen und im W e r k eines K ü n s t l e r s m a c h e n die b i s h e r i g e n A u s f ü h r u n g e n d e u t l i c h - doch k a n n m a n k o n k r e t v o n e i n e r » g u t e n « Z e i c h n u n g r e d e n ? Die B e t r a c h t u n g u n d A b b i l d u n g » s c h l e c h t e r « Z e i c h n u n g e n z e i t g e n ö s s i s c h e r K ü n s t l e r , die sich m e i s t als o b e r f l ä c h liche Attitüden, als unreflektierte N a c h a h m u n g erfolgreicher Positionen b e i m cleveren S c h w i m m e n im M a i n s t r e a m oder als wichtigtuerische Exerzitien fleißiger Handwerklichkeit erweisen, kann hier aus Anstands- und vielleicht auch Rechtsg r ü n d e n n i c h t e r f o l g e n . [ H i e r a n s o l l e n s i c h die K o l l e g e n d e r K u n s t k r i t i k die Z ä h n e ausbeißen.) Vielleicht aber wird es aus der Besprechung einiger guter Beispiele »ex p o s i t i v o « d e u t l i c h , w o r a u f z u a c h t e n ist. S o l ä s s t s i c h d a n n a u c h ein G e f ü h l f ü r schlechte Zeichnungen entwickeln. A l s b e i n a h e s c h o n k l a s s i s c h e s B e i s p i e l f ü r e i n e Z e i c h n u n g , die d e s w e g e n g u t ist, w e i l sie i m e b e n s o s p o n t a n - i m p u l s i v e n w i e k o n t r o l l i e r t e n Z e i c h e n g e s t u s b u c h s t ä b l i c h k r e i s e n d d a s g a n z e W e l t b i l d e i n e s K ü n s t l e r s v e r k ö r p e r t , sei D i e t e r R o t h s ( 1 9 3 0 - 1 9 9 8 ) W e r k Ohne

Titel [Souvenir! a u s d e m J a h r 1973 ( A b b . 1 )

Grundlage

für

den

farbigen

Siebdruck

Selbstbild,

genannt. als

Das

Hundehauf in

Blatt diente als Stuttgart

(1973)

und als nachträgliches »Souvenir« für den Stuttgarter Drucker Frank Kicherer. Es w ä r e falsch, das Werk nur als Vorstudie begreifen zu wollen, bedarf es in seiner Aussage und Wirkung doch keineswegs der weiteren farbigen Ausgestaltung oder der d r u c k g r a f i s c h e n V e r v i e l f ä l t i g u n g . I m G e g e n t e i l e r w e i s t sich die D r u c k g r a f i k n u r als meisterhafte Variante der komplett aus der Bleistiftlinie entwickelten Zeichnung, die f ü r e r s t e r e die k o s t b a r e » R o h f o r m « d a r s t e l l t . Sie liefert die e x q u i s i t e n » Z u t a t e n « f ü r die D r u c k g r a f i k als das gut » G e k o c h t e « / In d e m J a h r , in d e m D i e t e r Roth s e i n e Z e i c h n u n g s c h u f , die ihn a l s R ü c k e n f i g u r m i t m a r k a n t e m kahlen Schädel z u m Dreh- und Angelpunkt eines Globus macht, k a m i n S t u t t g a r t A n d r e B u l z e r z u r W e l t . E r ist e i n e r d e r P r o t a g o n i s t e n e i n e r j ü n g e r e n , figurativ und subjektiv-mythologisch arbeitenden deutschen Malergeneration. An Papierarbeiten gibt es von Butzer - neben d r u c k g r a f i s c h e n W e r k e n u n t e r s c h i e d l i c h e r Güte - f a b e l h a f t e A q u a r e l l e u n d B l e i s t i f t z e i c h n u n g e n , die es s c h a f f e n , die b e k l e m m e n d e und aggressive Dynamik seiner kryptischen Figurenerfindungen der großen

2 Andre Butzer Im

Friedensgebirge.

2001

Bleistift auf Papier 42x30cm

II Qualität m d e r Z e i c h n u n g

35

Gemälde in kleinerem Format und mit reduzierten künstlerischen Mitteln zu bündeln. W ä h r e n d B u t z e r i n G e m ä l d e n u n d A q u a r e l l e n die F i g u r e n a u s d e r Farbe e n t w i c k e l t , e n t b e i n t er sie in den Z e i c h n u n g e n zu labilen L i n i e n g e r i p p e n . Seine Bleistiftzeichnung

I m Friedensgebirge ( A b b . 2 )

ist e i n e k i n d l i c h

anmutende,

kraftvolle

und schnelle

Setzung mit breitem Bleistift, dabei in e i n e m Stil gehalten, der in seiner Sprödheit alles Kunstvoll-Exaltierte der Dieter Roth-Zeichnung vermeidet. Was nun aber eben nicht heißt, dass m a n hier eine g e g e n die a n d e r e Z e i c h n u n g a u s s p i e l e n k a n n : Verschiedene künstlerische Idiome und Temperamente führen zwangsläufig zu unterschiedlichen Ausdrucksweisen. Es wäre vorschnell und falsch, Butzers Zeichnungen als weniger »elegant« oder »souverän« abzuqualifizieren. Unter Kenntnis der künstl e r i s c h e n Strategie ihres S c h ö p f e r s und des k ü n s t l e r i s c h e n K l i m a s , in d e m sie e n t s t a n d e n ( m a n d e n k e a n J o n a t h a n M e e s e [ g e b . 1970] o d e r A n d r e a s H o f e r [ g e b . 1963]), e n t p u p p e n sie sich v i e l m e h r als s e h r intensive, ü b e r z e u g e n d e Z e i c h n u n g e n , die der Malerei an Radikalität in nichts nachstehen. K o m m e n wir auf das bereits verwendete Gegensatzpaar v o m »Rohen« und »Gekocht e n « z u r ü c k : Die Z e i c h n u n g ist n i c h t n u r , w i e bei D i e t e r R o t h o d e r bei A n d r e B u t z e r , k ü n s t l e r i s c h e r R o h d i a m a n t , d a s u n g e h o b e l t e , a u t h e n t i s c h e K u n s t w e r k . Sie k a n n a u c h s e l b s t » G e k o c h t e s « sein, d a sie nicht z w a n g s l ä u f i g a l s u n m i t t e l b a r e , u n v e r s t e l l t e

3 Frank Badur Ohne Titel. 2004 Bleistift, Alkydfarbe. Pigmente 120x160cm

4

Malte Spohr

s.n.-ea VI. 2003 Bleistift und Farbstift auf B ü t t e n 84x59 cm

42x30cm II Qualität m d e r Z e i c h n u n g 37

Spur künstlerischen Denkens glänzen muss, sondern auch als minutiös ausgeführtes, e v e n t u e l l d u r c h v o r b e r e i t e n d e S t u d i e n g e s t ü t z t e s Elaborat a u f t r e t e n kann. Eine solche »gekochte« Z e i c h n u n g b e a n s p r u c h t vielleicht - ähnlich e i n e m G e m ä l d e - eine längere g e d a n k l i c h e und gestalterische Vorbereitung und eine s y s t e m a t i s c h e A u s f ü h r u n g . M a n d e n k e etwa an die e l a b o r i e r t e n F a r b z e i c h n u n g e n des B e l g i e r s M i c h a e l B o r r e m a n s ( g e b . 1963] o d e r - a u f d e m g a n z a n d e r e n F e l d d e r K o n k r e t e n K u n s t a n d i e P a p i e r a r b e i t e n v o n F r a n k B a d u r ( g e b . 1944]. W e n n g l e i c h a u f B a d u r s g r o ß f o r m a t i g e m B l a t t v o n 2 0 0 4 , d a s k e i n e n T i t e l t r ä g t ( A b b . 3), » w e n i g « z u s e h e n i s t , s o i s t d i e s e s » W e n i g e « d o c h s e h r viel, n ä m l i c h d a s w u n d e r b a r a u s p o n d e r i e r t e Z u s a m m e n s p i e l e i n e r r e c h t e c k i g e n s c h w a r z e n Fläche, die e t w a s m e h r a l s d a s o b e r e D r i t t e l des q u e r f o r m a t i g e n B l a t t e s e i n n i m m t u n d wie ein s t e r n e n l o s e r H i m m e l ein feines, subtil s c h w i n g e n d e s Gitterwerk an Bleistiftlinien über d e m leicht getönten Grund d e s B l a t t e s ü b e r f ä n g t . D a s W e r k ist i n b e i n a h e m u s i k a l i s c h e m S i n n e K o m p o s i t i o n unter d e m maßvollen, bedächtigen und doch energiegeladenen Einsatz einfachster Mittel: s c h w a r z e r u n d h e l l e r F l ä c h e n u n d feiner g r a u e r Bleistiftlinien, die e i n m a l als Gitter mit d e m Lineal, ein a n d e r e s M a l als F ü l l u n g des ersten Gitters m i t der freien Hand gezogen sind. B a d u r s trotz aller A b s t r a k t i o n l a n d s c h a f t l i c h e s Blatt »erzieht« den, d e r sich auf seine Elemente einlässt, z u m Innehalten, z u m wiederholten Betrachten und visuellen Messen des Gesehenen. Wenn eine - nicht nur eine abstrakte - Zeichnung diese Erziehung z u m Hinsehen forciert, vielleicht auch zur Ü b e r w i n d u n g anfänglicher Reserve, d a n n ist sie e i n e g u t e Z e i c h n u n g . Bei e i n e m s c h w a c h e n B l a t t , d a s o h n e S p a n n u n g ist, w ü r d e das Auge abrutschen, sich schnell Langeweile einstellen. Auch w e n n Badurs Zeichnung auf den ersten Blick vielleicht nicht für jeden »trendy« a n m u t e t (was ohneh i n j a k e i n K r i t e r i u m f ü r g u t e K u n s t ist), s o i s t s i e d o c h a u s g e s p r o c h e n » c o o l « i n ihrer P r ä s e n z - eine Qualität, die in den G e m ä l d e n B a d u r s g e m ä ß e i n e r d o r t a n d e r e n Maltechnik und Bildoberfläche einem ganz anderen ästhetischen Auftritt weicht und das Einmalige und Lebendige seiner Zeichnung nur noch e i n m a l bestätigt. W e n n m a n nach g e l u n g e n e n Z e i c h n u n g e n sucht, liegt es nahe, b e s o n d e r s an die »reinen« Z e i c h n e r z u denken, die d e m Einsatz a n d e r e r k ü n s t l e r i s c h e r M e d i e n k o m p l e t t e n t s a g e n . A u c h w e n n d i e Z e i c h n u n g s c h o n s e i t d e n Wall Drawings v o n S o l L e W i t t ( g e b . 1928) v o m E n d e d e r 1 9 6 0 e r - J a h r e s o e x p a n d i e r t i s t , d a s s i m E x t r e m f a l l viele k ü n s t l e r i s c h e S e t z u n g e n , g e r a d e w e n n sie in i r g e n d e i n e r F o r m » l i n e a r « sind, außerhalb des konventionellen Blattes Papier zur zeichnerischen Spur zu gerinnen vermögen2, so stehen im Z e n t r u m heutiger Zeichenkunst doch noch i m m e r Künstl e r i n n e n u n d K ü n s t l e r , die sich auf das Geviert d e s b e s a g t e n B l a t t e s zu b e s c h r ä n ken wissen, um hier besondere Energien freizusetzen. Zu denken wäre etwa in der f i g u r a t i v e n a m e r i k a n i s c h e n K u n s t a n R a y m o n d F . P e t t i b o n ( g e b . 1957), i m d e u t s c h e n S p r a c h r a u m an stilistisch und generationsmäßig so unterschiedliche Künstler wie H a n n s S c h i m a n s k y ( g e b . 1949), B e a t e T e r f l o t h ( g e b . 1958), N a n n e M e y e r ( g e b . 1953),

M a r c B r a n d e n b u r g ( g e b . 1965), A m e l i e v o n W u l f f e n ( g e b . 1966), A l e x a n d e r R o o b ( g e b . 1956) o d e r K a t h a r i n a H i n s b e r g ( g e b . 1967). Z u diesen r e i n e n Z e i c h n e r n g e h ö r t a u c h der B e r l i n e r K ü n s t l e r M a l t e S p o h r [geb. 1958). E r e n t w i c k e l t i n d e n 2 0 0 2 b i s 2 0 0 3 e n t s t a n d e n e n , j e w e i l s a u s z w e i B l ä t t e r n z u s a m m e n g e f ü g t e n Z e i c h n u n g e n d e r S e r i e s.n.-ea ( A b b . 4 ) l i n e a r e S p e i c h e r b e s o n d e r e r A r t . Die W e r k e s i n d B i l d g e w o r d e n e V e r d i c h t u n g , P r o z e s s e p e n i b l e r u n d d u r c h d a c h t e r A u s a r b e i t u n g - a b e r e b e n n i c h t i m S i n n e e i n e r t u m b e n F l e i ß a r b e i t . Die b e s o n d e r e Q u a l i t ä t d e r A r b e i t e n S p o h r s ist es, die L i n i e a l s M i t t e l d e r Z e i c h n u n g i n systematischer Verdichtung so einzusetzen, dass Abbildcharakter und Abstraktionsgrad einer »reinen« Zeichnung z u s a m m e n f a l l e n : Denn auf der einen Seite fühlt m a n sich s c h e m e n h a f t a n die D a r s t e l l u n g l a n d s c h a f t l i c h e r F o r m a t i o n e n a u s e x t r e m e r Höhe e r i n n e r t , w i e m a n sie von Satellitenfotos k e n n t (auch der v e r r ä t s e l t k a r t o g r a fische Titel w e i s t in diese Richtung), auf der a n d e r e n Seite k a n n m a n das Blatt a u c h als gegenstandsfreie Zeichnung goutieren, bestehend aus d e m feinen, intensiven Z u s a m m e n s p i e l der waagerecht geführten Linien und ihrer inselartigen K o m p r i m i e r u n g e n . L e g t m a n d e n A k z e n t bei d e r B e t r a c h t u n g a u f d e n A b b i l d c h a r a k t e r , s o ist ü b e r den A u f b a u d e r L a n d s c h a f t a u s Linien die E r i n n e r u n g a n die B i l d g e n e r i e r u n g a n B i l d s c h i r m e n u n d M e s s g e r ä t e n g e g e b e n . W i e d e r ist e s n i c h t die s p o n t a n e , » r o h e « Linie, s o n d e r n das l a n g s a m e , zeitintensive S e d i m e n t i e r e n horizontal mit d e m Lineal gezogener Linien, das b e h u t s a m e B ü n d e l n von g r a u e n Bleistift- und indigofarbenen B u n t s t i f t l i n i e n z u s a m m e n m i t d e m gleichfalls ins L i n e a r e m u t i e r e n d e n Ton des Papiers, der nur m e h r in streifenförmigen Z w i s c h e n r ä u m e n sichtbar wird. D e r i n B e r l i n u n d D e n H a a g l e b e n d e M a r c e l v a n E e d e n ( g e b . 1965) h a t s i c h a l s Z e i c h ner in den 1990er-Jahren der wahrlichen Lebensaufgabe verschrieben, nicht nur j e d e n Tag m i n d e s t e n s e i n e Z e i c h n u n g a n z u f e r t i g e n , s o n d e r n a u c h n u r s o l c h e f o t o g r a f i s c h e n B i l d e r i n s e i n e K u n s t z u ü b e r t r a g e n , d i e v o r d e m 2 2 . N o v e m b e r 1965, s e i n e m G e b u r t s t a g , e n t s t a n d e n . Diese »tote« Zeit vor s e i n e r Zeit hält er fest, i n d e m er den häufig anonym w i r k e n d e n fotografischen Bildfundus aus Zeitschriften und B ü c h e r n mit breitem, extrem d u n k l e m Bleistift in subtile Zeichnungen überträgt und in ein a n d e r e s B i l d m e d i u m und in neue, oft d u r c h T e x t i n f o r m a t i o n e n g e s c h a f f e n e Zusammenhänge Horst Schön

rückt.

und seine

So

Hobbys

sind (Abb.

die Vorlagen 5-10)

der Zeichnungen

unterschiedlichen

zu

Der Schauspieler

Bildquellen

entnom-

m e n - und nicht d e m Artikel einer DDR-Zeitschrift, in d e m van Eeden den Titel seiner Serie fand. D e m K ü n s t l e r g e l i n g t es, eine v e r g a n g e n e , oft triviale B i l d w e l t a u s d e m Reservoir d e r M a s s e n m e d i e n neu zu aktivieren, als w ü r d e er sich an die einzelnen Szenen, die er nie e r l e b t hat, e r i n n e r n w o l l e n . J e d e Z e i c h n u n g hat d e n C h a r a k t e r eines m i t der Zeit n a c h g e d u n k e l t e n , aber i m m e r n o c h (abwesendes, vergangenes) Leben melancholisch spiegelnden Filmstills. Van Eedens Leistung besteht darin, dass er im M e d i u m der Z e i c h n u n g d u r c h kontinuierliche Produktion einen Zeit- und Bildspeicher schafft, der nur aus d e m Gefüge

Der

Schauspieler

HORST

SCHÖN

Der S c h a u p i e l e r HORST

5 - 1 0 M a r c e l van Eeden 6

B l ä t t e r a u s der Serie

und seine Hobbys, 2006 N e g r o s t i f t auf B ü t t e n je 19x28 cm

Der Schauspieler Horst Schön

und

seine

Hobbys

S C H O N u n d seine HoDbys

Der Schauspieler HORST SCHÖN und seine Hobbys

Der Schauspieler HORST SCHON und seine Hobbys

Oer

Schauspieler HORST SCHÖNund

seine Hobbys

von Hell- und D u n k e l w e r t e n des Papiers und des Negrostifts, von Licht- und Schatt e n z o n e n u n d den v e r b i n d e n d e n m i t t l e r e n G r a u w e r t e n gebildet w i r d - seit n e u e s t e m a u c h i m V e r b u n d m i t f a r b i g e n Partien, die a b e r g l e i c h f a l l s eine » v e r g a n g e n e « L e u c h t kraft auszustrahlen scheinen.3 Z u d e m sind - aus anderen Z u s a m m e n h ä n g e n - gez e i c h n e t e Texte b e i g e f ü g t . W i e a u c h M a l t e S p o h r s Z e i c h n u n g e n b e l e g e n sie, d a s s die beharrliche und inspirierte Arbeit als reiner Zeichner nicht bedeutet, in selbstverliebten G l a s p e r l e n s p i e l e n z u v e r h a r r e n u n d die e i g e n e » L i n i e « b e z i e h u n g s w e i s e j e d e n Hauch einer zeichnerischen Ä u ß e r u n g wie eine M o n s t r a n z vor sich herzutragen, s o n d e r n die der Z e i c h n u n g i n n e w o h n e n d e n M ö g l i c h k e i t e n , R ä u m l i c h k e i t u n d B i l d lichkeit auf spezifisch eigene Weise auszureizen. Dabei w i r d das fotografische Bild in seinem Bildcharakter gleich mitreflektiert. Van E e d e n s W e r k e v e r d e u t l i c h e n a u c h , d a s s Z e i c h n u n g nicht den k l a s s i s c h e n l i n e a ren M o d u s u m f a s s e n m u s s , s o n d e r n g r u n d s ä t z l i c h - auf den Kontrast von hellen und dunklen Partien bauend - auch malerische Techniken mit einbeziehen kann. Es sei n u r h i n g e w i e s e n a u f die f a r b i g e n , t e i l w e i s e a l l e n f a l l s p o s t k a r t e n g r o ß e n Z e i c h n u n g e n v o n F r a n z A c k e r m a n n ( g e b . 1963), s e i n e Mental Maps, d i e a l s b i l d h a f t e V e r d i c h t u n g e n von m e n t a l e n u n d g e s e h e n e n R ä u m e n b e s t e n s f u n k t i o n i e r e n , i n d e m sie d e r e n P e r s p e k t i v e n i n e i n a n d e r v e r s c h r ä n k e n . E s ist b e z e i c h n e n d , d a s s d i e s e B l ä t t e r häufig nicht nur den Ausgangspunkt, sondern das S i n n z e n t r u m größerer R a u m installationen des Künstlers bilden. A l l d i e s e B e o b a c h t u n g e n m a c h e n d e u t l i c h , d a s s bei d e r F r a g e n a c h d e r Q u a l i t ä t i m m e r die j e w e i l s g e w ä h l t e k ü n s t l e r i s c h e S t r a t e g i e i n ihrer T r a g f ä h i g k e i t z u b e d e n k e n ist. N a t ü r l i c h e r s c h w e r t die m e d i a l e u n d t e c h n i s c h e W a n d l u n g s f ä h i g k e i t d e r Z e i c h nung, ganz gleich, ob sie auf d e r Linie, auf f a r b i g e n F l ä c h e n o d e r g e g e b e n e n f a l l s auf c o l l a g i e r l e n E l e m e n t e n besteht, die F e s t s c h r e i b u n g b e s t i m m t e r K r i t e r i e n . D e n n o c h spielen unabhängig davon künstlerische Stringenz, Glaubwürdigkeit, Eigenständigkeit u n d K o n s e q u e n z a l s Q u a l i l ä t s f a k l o r e n eine w i c h t i g e Rolle. Das P a l e n t r e z e p t f ü r die eine gute Z e i c h n u n g gibt es in d e r G e g e n w a r t s k u n s t nicht. Das sich im S e h e n und Hinterfragen in seinem Geschmack schulende und an Kritikfähigkeit gewinnende A u g e , d a s a u f G e n u s s n i c h t v e r z i c h t e n s o l l , ist h i e r d i e R i c h t s c h n u r . E r k l ä r u n g e n u n d Erläuterungen eines Kurators, Künstlers oder Galeristen sollten jedenfalls nur im » M i x « m i t e i g e n e r R e f l e x i o n bei d e r U r t e i l s f i n d u n g b e r ü c k s i c h t i g w e r d e n . E i n e Z e i c h n u n g ist i n j e d e m F a l l d a n n e i n e g u t e Z e i c h n u n g , w e n n d e r s i e s c h a f f e n d e K ü n s t l e r die » M e s s a g e « seiner K u n s t ü b e r z e u g e n d in d i e s e m M e d i u m zu e n t w i c k e l n w e i ß (die g e s t a l t e r i s c h e n V o r z ü g e d e r Z e i c h n u n g n u t z e n d u n d a u f i n d i v i d u e l l e W e i s e bis z u r p r o v o k a t i v e n N e g a t i o n a u s r e i z e n d ) , s o f e r n e r ü b e r h a u p t ein i n F o r m e n s p r a c h e und Gedanken einmaliges, individuelles und ästhetisch schlüssiges Konzept vorweisen k a n n : Dabei geht es nicht d a r u m , dass die Z e i c h n u n g dieses K o n z e p t i l l u s t r i e r t , s o n d e r n dieses in ihr in für den B e t r a c h t e r sinnfälliger F o r m erst w i r k l i c h und w i r k s a m wird.

I n m a n c h e n W e r k e n (siehe F r a n k B a d u r ] e r h e b t s i c h die Z e i c h n u n g i n g e w i s s e r W e i s e selbst z u m T h e m a , sofern sie ihre e i g e n e n G e s t a l t u n g s m i t t e l abbildet. D o c h a u c h w e n n die Z e i c h n u n g e t w a s a b b i l d e t o d e r e r f i n d e t , w a s a u ß e r h a l b des B l a t t e s liegt, w i e bei A n d r e B u t z e r , M a l t e S p o h r u n d M a r c e l van E e d e n - i h r e Q u a l i t ä t w i r d d a n n e r k e n n b a r , w e n n m a n m i t u n d über den i n h a l t l i c h e n Bezug die Z e i c h n u n g a u c h als kreativen Gestaltungsakt per se genießen kann. Wo dieser » M e h r w e r t « einer Zeichn u n g , d e r d e r S o u v e r ä n i t ä t d e s g u t e n K ü n s t l e r s ( a n e i n e m g u t e n Tag) e n t s p r i n g t , fehlt, neigt die Z e i c h n u n g dazu, im Status eines u n i n s p i r i e r t e n , g l e i c h s a m toten A r t e f a k t s z u v e r h a r r e n - sie ist w e d e r F i s c h n o c h F l e i s c h u n d d a h e r w e d e r r o h n o c h gekocht zu genießen.

1 Die Metapher vom »Rohen« und »Gekochten« ist frei übernommen - nicht zum ersten Mal und daher ohne den Anspruch besonderer Originalität - von einer Publikation des französischen Anthropologen Claude Levi-Strauss, auf Deutsch erstmals publiziert in: Mythologica 1: Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt am Main 1971. 2 Vgl.

die

äußerst

anregende

Ausstellung

Gegen

den

Strich.

Neue

Formen

der Zeichnung.

Staatliche

Kunsthalle Baden-Baden 2004, s. den gleichnamigen Katalog, hrsg. von Markus Heinzelmann, Nürnberg 2004. 3 Vgl.www.marcelvaneeden.nl.

Interview mit Michael Semff Die F r a g e n s t e l l t e W o l f r a m Völcker.

Was verstehen Sie a l l g e m e i n unter »Qualität« in der Kunst?

Ich m ö c h t e F o l g e n d e s v o r a u s s c h i c k e n : Das W o r t » Q u a l i t ä t « k o m m t von d e m lateinis c h e n B e g r i f f » q u a l i t a s « : W i e ist e t w a s b e s c h a f f e n ? I m G r u n d e h e i ß t d a s , d a s s e s [bei d i e s e m B e g r i f f ] n u r u m d a s » W i e « d e r B e s c h a f f e n h e i t g e h t . U n d n a t ü r l i c h s i n d d a n n die F a k t o r e n , von d e n e n d a s a b h ä n g t , vielfältig. Das s i n d i k o n o g r a f i s c h e , zeitgemäße, stilistische Faktoren, alles Mögliche. Also k o m m t zu diesem Qualitätsb e g r i f f e i n e F ü l l e a n K o n d i t i o n e n ; e s ist a l s o n i c h t ein e i n d i m e n s i o n a l e r B e g r i f f . D a s m a c h t e s s o s c h w i e r i g . A l l e r d i n g s hat sich i m W o r t g e b r a u c h e i n g e b ü r g e r t , dass m a n sagt: » N a , h i e r sieht m a n d o c h die Qualität, eine s c h l e c h t e , eine g u t e Qualität, e i n e b e s s e r e u n d e i n e m i s e r a b l e ...« D a s ist e i n A l l g e m e i n p l a t z g e w o r d e n .

Sie sind aber der Ansicht, es w i r d schon unterschieden nach, wie Sie es nennen, »Konditionen«, die man auch spezifizieren könnte?

Ja, u n d e s gibt Z e i c h n u n g e n , die z u m B e i s p i e l u n t e r b e s t i m m t e n B l i c k w i n k e l n d u r c h a u s ihre eigene Qualität haben, die a b e r in ihrer A r t d a n n u n v e r g l e i c h b a r sind m i t der Qualität einer anderen Zeichnung und trotzdem nicht »negligeable« oder leichthin w e g z u d i s k u t i e r e n . Das ist d a s H a u p t p r o b l e m . Sie h a b e n g e s a g t , m a n m ü s s t e d a s a n B e i s p i e l e n f e s t m a c h e n - d a ist e s w a h n s i n n i g s c h w i e r i g , die D i n g e g e g e n e i n a n d e r a u s z u s p i e l e n . Sie k ö n n e n eine w i r k l i c h ganz m i s e r a b l e Z e i c h n u n g n e h m e n - u n d die gibt es ja, z a h l l o s e K a t a l o g e k a n n m a n da durchblättern - und halten eine Zeichnung von e i n e m Meister daneben: Da sieht m a n s c h o n , e s gibt b e s t i m m t e U n t e r s c h i e d e . N e h m e n w i r m a l n u r die L i n i e n z e i c h n u n g e n . Ich k a n n s a g e n , d i e L i n i e v o n e i n e m J e a n - A u g u s t e - D o m i n i q u e I n g r e s ( 1 7 8 0 - 1 8 6 7 ) h a t diese Sicherheit und hat diese Setzung, u n d ein m e d i o k r e r K ü n s t l e r hat das nicht. Also, es gibt s c h o n g e w i s s e K r i t e r i e n , a b e r d e n n o c h w a r n e ich davor, dies a l l z u e i n seitig zu b e t r a c h t e n . Es gibt n i c h t ein e i n z e l n e s Indiz, das f ü r Q u a l i t ä t steht.

Ich glaube, dass man durchaus zwischen verschiedenen Aspekten bezüglich Zeit und Medium differenzieren muss. Was kann man a l l g e m e i n sagen, gibt es irgendwelche Q u a l i t ä t s m e r k male speziell f ü r die Zeichnung? Also zum Beispiel: Es muss schon ein gewisses Novum oder authentisch sein.

J a b l o ß , w a s ist a u t h e n t i s c h ? N e h m e n w i r m a l e i n B e i s p i e l : W e r n e r T ü b k e ( 1 9 2 9 2 0 0 4 ) . U m s t r i t t e n e r K ü n s t l e r . Ich s t a n d b i s h e r d i e s e n D i n g e n i m m e r ä u ß e r s t f e r n , w e i l ich ein e k l e k t i z i s t i s c h e s E l e m e n t i m m e r als ein i m k ü n s t l e r i s c h e n Sinne nicht s o e r s t r e b e n s w e r t e s o d e r w i c h t i g e s e r a c h t e . Ich g l a u b e , d a s s d e r E k l e k t i z i s m u s u n d d a s k ö n n e n Sie g a n z d r a s t i s c h f o r m u l i e r e n - d e r Tod j e d e r K u n s t ist. Ganz s o kann m a n das natürlich nicht sagen, weil es in der m o d e r n e n und auch in der postm o d e r n e n K u n s t E r s c h e i n u n g e n gibt, die sich mit Vorliebe dieses E l e m e n t s bedienen. T ü b k e lebt von d i e s e m E k l e k t i z i s m u s , u n d ich m u s s g e s t e h e n , ich k a n n jetzt, n a c h d e m diese Ausstellung in Schleswig mit einer sehr schönen A u s w a h l von TübkeZeichnungen stattfand', einigen Blättern in diesem rückwärtsgewandten, eklektizistischen Zug d u r c h a u s e t w a s a b g e w i n n e n . U n d ich k a n n Ihnen ja v e r r a t e n , ich habe s o g a r eine L a n d s c h a f t a u s den 1 9 7 0 e r - J a h r e n g e k a u f t ; fast im Stile C a s p a r David F r i e d r i c h s (1774-1840). W e i l ich e i g e n t l i c h finde, m a n k a n n sich das als Leiter eines Kupferstichkabinetts nicht so ganz leisten, all diese Dinge mit einer s c h n ö d e n Nonchalance zu missachten. I c h m u s s s a g e n , b e i T ü b k e ist e s s e h r a u f s c h l u s s r e i c h f ü r m i c h g e w e s e n . M e i n d a m a l i g e r Chef an der G r a p h i s c h e n S a m m l u n g der Slaatsgalerie Stuttgart, Heinrich Geissler, w a r ein v o r z ü g l i c h e r , i n t e r n a t i o n a l r e n o m m i e r t e r K e n n e r der d e u t s c h e n Z e i c h n u n g d e s 16. u n d f r ü h e n 17. J a h r h u n d e r t s . A b e r e r w a r a u c h s e h r i n t e r e s s i e r t an d e r zeitgenössischen Kunst und hat da einen b e s t i m m t e n B l i c k w i n k e l gehabt. U n d e r h a t m i r i m m e r g e s a g t : » H e r r S e m f f , s c h a u e n Sie s i c h m a l d i e s e f a b e l h a f t e T ü b k e - Z e i c h n u n g a n ! « U n d d a m a l s h a b e i c h e r w i d e r t : » H e r r G e i s s l e r , d a s ist f ü r m i c h also w i r k l i c h keine g e n u i n e S a c h e ! « Und k o m i s c h e r w e i s e v e r s u c h e ich jetzt, zwanzig Jahre später, zu lernen, selbst hier gewisse Qualitäten zu e r k e n n e n . Vielleicht sollte m a n von Qualitäten s p r e c h e n , b e s s e r als von e i n e r Qualität. Und w e i l w i r g e r a d e s c h o n m a l dabei sind, da gibt es ein u r a l t e s T h e m a von m i r , ü b e r das ich s c h o n n ä c h t e l a n g g e s t r i t t e n habe: H o r s t J a n s s e n (1929-1995). Bitte, w a s m a c h e n w i r m i t H o r s t J a n s s e n ? E s ist ü b e r h a u p t k e i n e F r a g e , d a s s J a n s s e n e i n g e n i a l begabter Zeichner war, dennoch interessiert er m i c h nicht besonders oder er interessiert m i c h nicht in d e m Maße wie beispielsweise A n t o n i n A r t a u d (1896-1948). V e r s t e h e n S i e , e s ist e i n f a c h s o . U n d d a k a n n i c h n u r s a g e n , v i e l l e i c h t v e r ä n d e r t m a n s e i n e n B l i c k w i n k e l o d e r s e i n e » B r i l l e « i m L a u f e d e r Zeit. A b e r a u c h bei J a n s s e n s t ö r e n m i c h d a s E k l e k t i z i s t i s c h e u n d d a s b r i l l i e r e n d e M o m e n t . Ich g l a u b e , e i n Z e i c h n e r d a r f n i c h t d a u e r n d v i r t u o s v o r z e i g e n , w a s e r k a n n . U n d J a n s s e n ist e i n s o b l e n d e n d v i r t u o s e r Z e i c h n e r . Die S e l b s t b i l d n i s s e , die viele L e u t e n a t ü r l i c h a l s e r s c h ü t -

ternde Selbstdiagnosen entziffern, sind für mich - ehrlich gesagt - dann doch nur ein leeres R e p e r t o i r e von Z e i c h e n k u n s t , die zur S c h a u g e t r a g e n wird. Einer m e i n e r L e h r m e i s t e r , der m i r d a f ü r die A u g e n geöffnet hat, w a r der K ü n s t l e r K a r l B o h r m a n n (1928-1998), von d e m es w u n d e r b a r e A p h o r i s m e n z u r Kunst der Z e i c h n u n g gibt.2 D a s ist m i t d a s B e s t e , w a s e s z u d i e s e m T h e m a g i b t . D a v e r s u c h t e r g e n a u , s i c h a l s Künstler in diese Lage zu versetzen. Und er meint, es darf eben keinen Strich geben, der in dieser Weise vorgewusst und sozusagen als Blendwerk, als Könnerschaft i n Szene g e s e t z t w i r d . H i e r k a n n ich i h m v o l l s t ä n d i g folgen. U n d w e n n Sie m i c h p e r s ö n l i c h f r a g e n - u n d d a s t u n Sie j a - , d a n n b e m i s s l s i c h f ü r m i c h d i e Q u a l i t ä t o d e r der Rang einer Z e i c h n u n g bereits daran, inwieweit ein K ü n s t l e r s o z u s a g e n f ü r sich auf d e r S u c h e ist u n d n i c h t v e r s u c h t , s i c h m i t e i n e m v i r t u o s e n G e w a n d z u t a r n e n , das er nach a u ß e n zeigt. S e l b s t ü b e r A l b e r t o G i a c o m e t t i (1901-1966) gibt e s bei B o h r m a n n e i n m a l eine fabelhafte B e m e r k u n g : F r ü h e r hat e r G i a c o m e t t i f ü r s e i n e n s u c h e n d e n , n e r v ö s e n S t r i c h b e w u n d e r t u n d p l ö t z l i c h m e r k t er, dass a u c h da viel A u t o m a t i s m u s - ja A n g e l e r n t e s - ist. D a s s s o z u s a g e n die H a n d b e w e g u n g v o n G i a c o m e t t i a m S c h l u s s a u c h e i n e r g e w i s s e n K ö n n e r s c h a f t u n t e r l i e g t . E s ist i n t e r e s s a n t , w e n n m a n s i c h d a s v o r A u g e n h ä l t , s e l b s t bei g r o ß e n K ü n s t l e r n w i e G i a c o m e t t i . I c h g l a u b e , i n d i e s e r R e g i o n ist unser Thema angesiedelt.

Sehr gut, dann sind w i r schon bei einer Subqualität, nennen w i r es Nichtvirtuosität. Also, kein Strich ist überflüssig oder w i r d nur als schmückendes Beiwerk verwendet.

J a , w o b e i d a s d u r c h a u s o r n a m e n t a l s e i n k a n n , bei M a t i s s e ( 1 8 6 9 - 1 9 5 4 ) z u m B e i s p i e l . Bei d e n b e d e u t e n d e n Z e i c h n u n g e n von Matisse gibt es keinen ü b e r f l ü s s i g e n S t r i c h . An

unserer Zeichnung

Interieur aux poissons rouges ( A b b . 1)

kann

ich

Ihnen

das

z e i g e n , s i e ist f ü r m i c h e i n B e i s p i e l f ü r d i e Ö k o n o m i e d e r L i n i e . U n d d a s i n d w i r a u c h s c h o n b e i m T h e m a . Ich g l a u b e , e i n w e s e n t l i c h e s K r i t e r i u m f ü r d i e Z e i c h n u n g ist n u n m a l die Linie. D e n n s o l a n g e M e n s c h e n ü b e r h a u p t e t w a s g e z e i c h n e t , e t w a s a u f gezeichnet h a b e n - ob das die H ö h l e n m a l e r e i oder, noch f r ü h e r , i r g e n d w e l c h e Z e i c h e n w a r e n - , s o ist e s e i n e L i n i e n g e s c h i c h t e g e w e s e n . U n d d e s w e g e n h a t d i e Linie bis heute ihre Rolle nicht e i n g e b ü ß t , w i e w i r ja k ü r z l i c h auf e i n e m S y m p o s i u m in D r e s d e n u n i s o n o f e s t g e s t e l l t haben.3 Da hat sich k e i n e r g e g e n die G e d a n k e n m e i n e s Vortrags aufgelehnt, dass m a n der Linie solches Gewicht geben m u s s . A u c h w e n n m e i n Kollege H e i n - T h e o S c h u l z e A l t c a p p e n b e r g m i r e n t g e g n e t hat, dass e s ja a u c h a q u a r e l l i e r t e Z e i c h n u n g e n u n d G o u a c h e n gibt. A b e r d a r a u f w o l l t e ich nicht a u c h n o c h a b h e b e n , u m n i c h t a b z u s c h w e i f e n . Ich w o l l t e n u r die L i n i e n z e i c h n u n g mit besonderem Nachdruck diskutieren.

Was ist Ihnen persönlich am wichtigsten, w e n n Sie eine Zeichnung betrachten?

D a s ist e i n d e u t i g d a s s u c h e n d e E l e m e n t . Ich k a n n d a s g e r a d e j e t z t a u s d e r E r f a h r u n g m i t d e r A I T a y l o r - A u s s t e l l u n g 4 sagen, u n d das b e t r i f f t gar n i c h t n u r die Z e i c h n u n g , das betrifft die k ü n s t l e r i s c h e H a l t u n g a l l g e m e i n . M a n k a n n es ja n u r o f t m a l s d u r c h V e r g l e i c h e d e u t l i c h m a c h e n : Ich bin v o r e i n i g e r Zeit i n d e r Stadt g e w e s e n u n d h a b e da in e i n e m G a l e r i e s c h a u f e n s t e r eine Z e i c h n u n g in Öl auf P a p i e r von G e r h a r d R i c h t e r ( g e b . 1932) g e s e h e n , e i n e d i e s e r F u j i - Z e i c h n u n g e n a u s d e r J a p a n - S e r i e , w i r h a b e n ü b r i g e n s a u c h z w e i i m H a u s . D i e j a i n d e r Tat ä s t h e t i s c h s i n d , b r i l l a n t d a h e r k o m m e n , da s t i m m t die Setzung und so weiter. Und d a n n gibt es das Taylor-Erlebnis, das m i c h j e t z t w o c h e n l a n g b e s c h ä f t i g t h a t . U n d d a g e s t e h e i c h , ist m i r e i n T a y l o r (1948 — 1999] t a u s e n d m a l lieber. In d e r K a t e g o r i e des K ü n s t l e r s e i n s , d e r sich Taylor a u s g e s e t z t hat, d e r s i c h in D i n g e g l e i c h s a m h i n e i n z i e h e n ließ, die er s e l b s t e r f u n d e n hat, in die e r s i c h g e r a d e z u » h o f f n u n g s l o s « v e r s t r i c k e n ließ, i n seine s e l b s t g e s t e l l t e n A b s u r d i t ä t e n , d e n e n e r m i t e i n e r u n a u f h a l t s a m e n N o t w e n d i g k e i t g e f o l g t ist. O h n e R ü c k sicht, ohne neben sich zu schauen. Ohne sich zu fragen, w a s m a c h t denn der Brice M a r d e n ( g e b . 1938), d e r R i c h a r d A r t s c h w a g e r ( g e b . 1923). D a s ist T a y l o r v o l l k o m m e n e g a l , a u c h w e n n das a l l e s g l e i c h z e i t i g d a g e w e s e n ist. D a b e i k o m m t e r z u e i n e r v o l l k o m m e n e i g e n e n u n d individuellen H a n d s c h r i f t . Das finde ich einfach g r o ß a r t i g u n d d a ist m i r e i n K ü n s t l e r w i e G e r h a r d R i c h t e r s o u n e n d l i c h l a n g w e i l i g , r e p e t i t i v , e s w ä c h s t i h m ü b e r h a u p t n i c h t s z u . F ü r m i c h ist e i n K r i t e r i u m f ü r e i n e n K ü n s t l e r , d a s s ihm etwas zuwächst. Wie im Übrigen auch einem Schreiber, der an einem Wort form u l i e r t , d e m m u s s e t w a s z u w a c h s e n , s o n s t ist e r e i n f a c h z u u n b e g a b t . D a r a n k a n n m a n gewisse Kriterien des Ranges einer Zeichnung schon einschätzen. Zu Richter gibt es s i c h e r vieles zu s a g e n und ich finde die f r ü h e n Dinge s e h r s p a n n e n d . W a s er d a v e r s u c h t h a t , d a m i t ist e r n o c h a u f e i n e m g e w i s s e n W e g , a b e r e s h a t s i c h d a n n v i e l e s v e r s c h l i f f e n . U n d d a n n ist e i n k l e i n e r S t r i c h v o n T a y l o r s o v i e l w i t z i g e r , h i n t e r g r ü n d i g e r u n d g e n u i n e r . D a f e h l e n m i r e i n f a c h die W o r t e . Bei Taylor k o m m t a l l e s v o m S e h e n , v o m B e o b a c h t e n . D a s ist v i e l l e i c h t a l t m o d i s c h , u n d s e i n Z u g r i f f a u f d i e D i n g e u n d w i e e r s i e z u r K u n s t m a c h t , ist s e h r a m e r i k a n i s c h u n d t y p i s c h f ü r d i e s e G e n e r a t i o n v o n K ü n s t l e r n , a b e r e s ist e i n e i n h ö c h s t e m M a ß e a r t i s t i s c h e u n d ä s t h e t i s c h e , l y r i s c h e R i c h t u n g , d i e n i c h t u m s o n s t e i n e n K ü n s t l e r w i e C y T w o m b l y ( g e b . 1928) begeistert, der hier einfach Wahlverwandtschaften fühlt.

Wenn Sie nun für das Museum, für die S a m m l u n g Zeichnungen betrachten, wie wichtig ist hierbei Ihr eigener Geschmack?

Den k a n n ich ü b e r h a u p t nie a u s b l e n d e n .

Aber w e n n Sie sagen, wie bei dieser Tübke-Zeichnung: Dem kann ich mich als Institution nicht verschließen?

Ich g l a u b e , w e n n S i e d i e E r w e r b u n g e n d e r j e w e i l i g e n P e r s o n e n , d i e v e r a n t w o r t l i c h f ü r ein R e s s o r t sind, b e t r a c h t e n , d a n n s p i e g e l t sich in e r s t e r Linie die Vorliebe, der Gusto o d e r a u c h die A f f i n i t ä t d i e s e r L e u t e z u b e s t i m m t e n D i n g e n wider. A b e r ich finde, m a n sollte s c h o n in e i n e m M u s e u m - mit der V e r a n t w o r t u n g f ü r ein solches Haus w i e d e m u n s e r e n - eine gewisse A u s g e g l i c h e n h e i t w a l t e n lassen. Dass Dinge die vielleicht nicht u n b e d i n g t d e m p e r s ö n l i c h e n G e s c h m a c k e n t s p r e c h e n - u n d ich

1 Henri Matisse Interieur aux potssons rouges.

1915

Feder in Schwarz 31 x 2 5 c m © Succession H. Matisse/VG Bild-Kunst, Bonn 2007

kann w i r k l i c h von m i r sagen, dass ich m i r selbst keine T ü b k e - Z e i c h n u n g kaufen w ü r d e -, t r o t z d e m in ein s o l c h e s H a u s g e h ö r e n . D e s w e g e n bin ich s c h o n bestrebt, eine gewisse Balance zu pflegen. Sie w e r d e n e s n i c h t g l a u b e n , ich h a b e z u m B e i s p i e l e i n m a l eine A r n o B r e k e r - Z e i c h nung aus Privatbesitz und für nicht viel Geld e r w o r b e n . M a n c h e Leute w ü r d e n m i c h d a f ü r l y n c h e n . E s ist e i n e s e h r i n t e r e s s a n t e Z e i c h n u n g , w e i l s i e a u s e i n e r Z e i t s t a m m t , als Breker (1900-1991) noch in Paris e n g s t e n s befreundet w a r mit all diesen L e u t e n w i e A r i s t i d e M a i l l o l (1861-1944) u n d C h a r l e s D e s p i a u (1874-1946) u n d vielen a n d e r e n K ü n s t l e r n . E s w a r s c h o n eine a n f ä n g l i c h e B e g a b u n g da, die n a t ü r l i c h d a n n in ein g ä n z l i c h f a l s c h e s F a h r w a s s e r geriet. A b e r w e n n ich Ihnen das so gestehe, f ü g e ich hinzu: G e r a d e B r e k e r , M ü n c h e n , die g a n z e Nazizeit, d a k a n n m a n m a l f ü r w e n i g Geld so ein Ding kaufen. A u c h d a h i n g e h e n d , dass ich ja letztlich g a r n i c h t s d a m i t am H u t h a b e . E h e r a l s e i n e A r t D o k u m e n t . D i e Z e i c h n u n g w u r d e 1942 i n B r e k e r s g i g a n t i s c h e r Retrospektive in Paris a u s g e s t e l l t , die ü b r i g e n s kein G e r i n g e r e r als M a i l l o l e r ö f f n e t h a t . Ich b i n u m G o t t e s w i l l e n k e i n B r e k e r - A d e p t . N u r w i l l i c h I h n e n e r k l ä r e n , dass ich m a n c h m a l a u c h völlig a u ß e r h a l b d e r Reihe Z e i c h n u n g e n kaufe. D u r c h g e h e n d m ö c h t e ich also s c h o n m e i n e n , d a s s j e d e r e i n e n F o k u s auf b e s t i m m t e Dinge hat. Und m a n k a n n nicht von sich b e h a u p t e n , dass m a n a l l g e m e i n g ü l t i g alles r i c h t i g m a c h t . J e d e r hat L ü c k e n , m a c h t Fehler.

Man sagt ja auch von privaten S a m m l u n g e n , dass sie die Handschrift des S a m m l e r s tragen. Wir spachen eben schon über den überflüssigen Strich, aber ist denn g e n e r e l l nur das »Wie« von Interesse oder auch das »Was«?

Inhalt und Form sollten in keinem wirklichen K u n s t w e r k - gleich welchen J a h r h u n d e r t s - zu t r e n n e n sein. B e i m ersten Blick sind m e i n e A u g e n aber eindeutig auf das »Wie«, auf die F o r m , g e r i c h t e t . M i c h i n t e r e s s i e r t z u n ä c h s t e i n f a c h die Z e i c h n u n g als s o l c h e . I c h f r a g e e i g e n t l i c h n i e i n e r s t e r L i n i e n a c h d e m , w a s d a r g e s t e l l t ist. A l l e r d i n g s g e b e i c h z u , d a s s i n d e m B e r e i c h , d e n i c h b e t r e u e , a l s o i m 20. J a h r h u n d e r t u n d vor a l l e m in der G e g e n w a r t , die I k o n o g r a f i e u n v e r z i c h t b a r , ja v o r d r i n g l i c h sein k a n n . Es gibt d e n n o c h viele Dinge, die m a n jetzt nicht w i e ein W i s s e n s c h a f t l e r , d e r ü b e r das 17. J a h r h u n d e r l a r b e i t e t , g e n a u a n a l y s i e r e n m u s s , d a s ist w e g e n e i n e s b e s t i m m t e n G r u n d e s s o g e z e i c h n e t u n d d a s ist d i e s e s o d e r j e n e s . B e i a l t e n Z e i c h n u n g e n l i e g e n die V e r h ä l t n i s s e z u w e i l e n s c h o n e t w a s a n d e r s . Ich bin a b e r der M e i n u n g , die a l t e Z e i c h n u n g - w i e a u c h d i e n e u e - ist i m G r u n d e m i t d e n g l e i c h e n A u g e n z u s e h e n . U n d S i e k ö n n e n n i c h t I h r e K r i t e r i e n a b ä n d e r n , b l o ß w e i l e t w a s v o n R e m b r a n d t ist u n d a u s d e m 17. J a h r h u n d e r t u n d e s d a n n i m 20. J a h r h u n d e r t v ö l l i g a n d e r e D i n g e g i b t . B e i v i e l e n m e i n e r K o l l e g e n , bei d e n e n h ö r t e s , s a g e n w i r m a l , m i t P a u l C e z a n n e (1839-1906) auf, w a s m i r i m m e r u n v e r s t ä n d l i c h war. Die k ö n n e n m i t d e m S p ä t e r e n

ü b e r h a u p t n i c h t s m e h r a n f a n g e n . I n d e r e n A u g e n ist d a n i c h t s m e h r a n S u b s t a n z . D a s k a n n i c h n i c h t n a c h v o l l z i e h e n . Ich k o m m e v o m 20. J a h r h u n d e r t . M e i n e A u g e n s i n d j a v o n h e u t e . U n d s o s c h a u e i c h a u c h e i n e m i t t e l a l t e r l i c h e S k u l p t u r a n . Ich h a b e i m Ü b r i g e n ü b e r d a s 12. J a h r h u n d e r t p r o m o v i e r t , w a s I h n e n s c h o n z e i g t , d a s s i c h d a k e i n e U n t e r s c h i e d e m a c h e . Ich h a b e z w i s c h e n M i t t e l a l t e r u n d G e g e n w a r t f ü r m i c h s e l b s t k o m i s c h e r w e i s e nie U n t e r s c h i e d e a u s m a c h e n k ö n n e n .

Das ist ein interessanter Aspekt, w e i l natürlich oft behauptet wird, besonders hinsichtlich der Qualitäten, dass man etwa zwischen M i t t e l a l t e r und Neuzeit unterscheiden müsse. Aber Sie betrachten alles durch dieselbe » B r i l l e « ?

Die Indizien, m i t d e n e n die D i n g e d a n n z u b e m e s s e n s i n d u n d i n e i n e h i s t o r i s c h g l a u b w ü r d i g e B e u r t e i l u n g f a l l e n , d i e s i n d s e l b s t v e r s t ä n d l i c h bei d e r a l t e n K u n s t a n d e r e a l s i m 20. J a h r h u n d e r t . D a s i n d w i r w i e d e r bei d e n v e r s c h i e d e n e n K o n d i t i o n e n , a b e r die A u g e n s i n d h i n g e g e n d i e s e l b e n . U n d ich m ü s s t e d o c h von j e d e m M e n s c h e n e i g e n t l i c h v e r l a n g e n k ö n n e n , dass er nicht eine Z e i c h n u n g von H e n r i Matisse m i t a n d e r e n A u g e n s i e h t a l s e i n e v o n L u c a C a m b i a s o ( 1 5 2 7 - 1 5 8 5 ) . D a s ist j a g e r a d e z u l ä c h e r l i c h . I m G e g e n t e i l , C a m b i a s o u n d M a t i s s e s i n d s o g a r g l e i c h m o d e r n , w e n n Sie so w o l l e n . Viele von d e n D i n g e n in d e r a l t e n K u n s t s e h e ich d u r c h m e i n e B r i l l e des 20. J a h r h u n d e r t s u n d d a f ü r w e r d e i c h a u c h o f t v o n m e i n e n K o l l e g e n g e s c h o l t e n , d i e d a n n s a g e n : » D u s i e h s t d a s j a v o l l s t ä n d i g v o m 20. J a h r h u n d e r t a u s . « N a t ü r l i c h s e h e i c h d a s a u s g e h e n d v o m 20. J a h r h u n d e r t . W i e a n d e r s ? I c h l e b e d o c h n i c h t 1520. M i r k a n n d o c h k e i n e r s a g e n , d a s s e r m i t H o l b e i n s (1497/98—1543) A u g e n s e h e n k a n n . U n m ö g l i c h ! Die M o d e r n i t ä t d i e s e r L e u t e , die A k t u a l i t ä t , die G ü l t i g k e i t b e m i s s t s i c h j a g e r a d e d a r i n , d a s s sie f ü n f h u n d e r t J a h r e s p ä t e r i n u n s e r e n A u g e n g e n a u die g l e i c h e A k t u a l i t ä t b e s i t z e n , d i e s i e i m 16. J a h r h u n d e r t b e s a ß e n .

Ihre Kollegen sagen das ja deshalb, w e i l sie der Meinung sind, man könne Hans Holbein nur »verstehen«, wenn man den historischen H i n t e r g r u n d der Zeit, in der die Zeichnung entstanden ist, auch kennt. Vor diesem müsse man die Zeichnung beurteilen.

D a h a b e n Sie recht, d a k o m m e n w i r auf die k u n s t h i s t o r i s c h e B e u r t e i l u n g . S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k a n n ich nicht ü b e r H a n s H o l b e i n a r b e i t e n , w e n n ich nicht d e n h i s t o r i s c h e n H i n t e r g r u n d k e n n e , a l l die P e r s ö n l i c h k e i t e n , die e r p o r t r ä t i e r t hat, den p o l i t i s c h e n Kontext - a b e r d e n n o c h k a n n ich ein H o l b e i n - P o r t r ä t völlig losgelöst von all diesen D i n g e n a u c h a l s p u r e Z e i c h n u n g g e n i e ß e n . D a s ist u n v e r r ü c k b a r u n d w i r d s e i n e n Rang nie v e r l i e r e n . Nie! N u r der Blick auf die g r o ß e n G e s c h e h e n w a n d e l t sich zu a l l e n J a h r h u n d e r t e n u n d sie e r s c h e i n e n j e d e r G e n e r a t i o n i n n e u e m L i c h t .

Noch m a l zurück zum »Was«. Bei Terry Winters (geb. 1949] zum Beispiel, den Sie ja ausgestellt haben, 5 geht es um naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Spielt da die Frage des »Was« eine größere Rolle?

Sie m e i n e n d a s r e i n I n h a l t l i c h e ? I c h g l a u b e , d a s s e s a u c h bei T e r r y W i n t e r s n i c h t e n t s c h e i d e n d ist. A l l d i e s e D i n g e , die e r u m s e t z t - a u c h ü b r i g e n s T a y l o r - , s i n d v o n einer gewissen Pseudowissenschaftlichkeit.

Die

Wave Series v o n T a y l o r o d e r a u c h

die a n v i r t u e l l e C o m p u t e r b i l d e r e r i n n e r n d e n Z e i c h n u n g e n von W i n t e r s sind i n W i r k lichkeit natürlich keine exakten Dinge. Winters bedient sich unterschiedlichster I n s p i r a t i o n s q u e l l e n , um seinen eigenen Horizont auf eine Ebene zu heben, die i h m v o r h e r nicht m ö g l i c h war. U n d d a r a u s schafft er ja a u c h höchst ä s t h e t i s c h e Gebilde. D a s ist g e r a d e d a s S p a n n e n d e a n W i n t e r s , d a s s e r a u s d i e s e m w i s s e n s c h a f t l i c h e n , die digitalen M e d i e n u m s p a n n e n d e n A n l i e g e n e t w a s A r t i s t i s c h e s , Ä s t h e t i s c h e s m a c h t . D a s ist e i g e n t l i c h d a s E n t s c h e i d e n d e . I c h h a b e e s ü b r i g e n s n i e b i s a u f d e n G r u n d v e r s t a n d e n , w a s e s g e n a u ist, w a s W i n t e r s d a u m s e t z t . A b e r ich h a b e v e r s t a n d e n , dass er in einer gewissen Art und mit einer gewissen Perspektive zeichnet - w e n n m a n i h m auf die H a n d s c h a u t - , u m einen a n d e r e n R a u m z u b e k o m m e n . Dann intere s s i e r t m i c h d a s n a t ü r l i c h ; u n d w i e e s i n e i n e L i n i e n s p r a c h e u m g e s e t z t ist. A b e r das, w a s als Ding dahintersteht, interessiert m i c h letztlich weniger. In den ganz f r ü h e n Arbeiten, in denen er mit P i g m e n t e n arbeitet - noch in den 1 9 8 0 e r - J a h r e n - , hat e r bereits U n t e r s u c h u n g e n angestellt, w a s auch mit J a s p e r J o h n s ( g e b . 1930] z u s a m m e n h ä n g t . D a k a n n m a n s c h o n m e h r R e c h e r c h e n i n d i e i n h a l t l i c h e R i c h t u n g m a c h e n . D a hat e r sich a u c h a n e i n e m F o r m e n a r s e n a l g e n ä h r t , d a s v o n b o t a n i s c h e n S t u d i e n d e s 18. J a h r h u n d e r t s b i s z u K a r l B l o s s f e l d t s ( 1 8 6 5 - 1 9 3 2 ] Pflanzenvergrößerungen reicht. Also in d i e s e m Fall durchaus, aber das alles nicht im engsten wissenschaftlichen Sinne. Man m u s s den Gegenstand nicht in extenso kennen, um den Rang der Z e i c h n u n g zu e r k e n n e n . Das w ü r d e ich in Abrede stellen.

Welche Eigenschaft unterscheidet die Zeichnung von den anderen Medien? Worauf muss man als S a m m l e r besonders achten?

F ü r m i c h ist d i e Z e i c h n u n g n a c h w i e v o r d i e n a c k t e s t e K u n s t f o r m . H i e r ist d e r K ü n s t ler z u n ä c h s t m a l w i r k l i c h a m e i n s a m s t e n , auf d e m w e i ß e n Papier. A l l e r d i n g s m u s s m a n k l a r s e h e n : M a n k a n n nicht m e h r der Theorie folgen, dass die Z e i c h n u n g d e r s e i s m o g r a f i s c h e N i e d e r s c h l a g d e r P s y c h e ist, w i e e s j a i n d e r M o d e r n e i m f r ü h e n 20. J a h r h u n d e r t a n g e n o m m e n w u r d e . S o n d e r n m a n m u s s s c h o n k o n s t a t i e r e n , d a s s n a c h d e n 1 9 6 0 e r - J a h r e n e i n B r u c h e i n g e t r e t e n ist u n d d i e Z e i c h n u n g e i n e k o n z e p luelle Ebene e r l a n g t hat, auf d e r a n d e r e K r i t e r i e n w i c h t i g sind. Dass es e b e n ü b e r h a u p t nicht m e h r d a r u m geht, E m o t i o n e n u n d s e i s m o g r a f i s c h e B e f i n d l i c h k e i t e n auf

d e m P a p i e r a u s z u d r ü c k e n , s o n d e r n die F o r m e n sind e b e n z u m Teil n u r n o c h R e p e t i t i o n e n v o n K r i t z e l e i e n . T w o m b l y s S e i s m o g r a m m e u m 1960 s i n d e i g e n t l i c h n u r d i e leere, a u t o m a t i s c h e W i e d e r h o l u n g d e r Hand, d e r d a n n s o z u s a g e n ein Zittern und eine gewisse r a u n e n d e Aura z u w a c h s e n , w a s über viele Jahre h i n w e g quasi T w o m b l y s M a r k e n z e i c h e n g e b l i e b e n ist. M a n k a n n a l s o n i c h t b e h a u p t e n , d a s s e s i m 20. J a h r h u n d e r t n u r m e h r u m d i e s e U n m i t t e l b a r k e i t d e r H a n d s c h r i f t g e h t . D a s ist i n j ü n g e r e r Z e i t o b s o l e t g e w o r d e n . U n d d e n n o c h m ö c h t e i c h m e i n e n , w e n n Sie m i c h n a c h d e m K r i t e r i u m d e r Z e i c h n u n g f r a g e n , dass die S e t z u n g e i n e r Linie auf d e m Papier i m U n t e r s c h i e d z u a n d e r e n M e d i e n die n a c k t e r e , n ü c h t e r n e r e S a c h e ist. A l s o i m U n t e r s c h i e d e t w a z u r M a l e r e i , wo m a n indirekter lavieren oder einen farbigen B i l d r a u m in der Fläche suggerieren k a n n . D a s ist v i e l l e i c h t a b e r a u c h f r a g w ü r d i g . D a b i n i c h m i r s e l b s t i m m e r w i e d e r im Unklaren.

Fragwürdig ist das n a t ü r l i c h alles, weil, wie Sie vorhin schon sagten, es doch sehr stark von der persönlichen Sichtweise abhängig ist, und damit b e k o m m e n b e s t i m m t e K r i t e r i e n m e h r Gewicht als andere.

J a , u n d i c h g l a u b e , e s h ä n g t a u c h v o n d e r G e n e r a t i o n u n d v o m A l t e r a b . T a y l o r ist j a , w e n n Sie s o w o l l e n , m e i n G e n e r a t i o n s g e n o s s e . T a y l o r ist J a h r g a n g 1948, i c h b i n J a h r g a n g 1950. I c h g l a u b e s c h o n , d a s s e s n i c h t s e l t e n e t w a s d a m i t z u t u n h a t , d a s s b e s t i m m t e A n t e n n e n b e s o n d e r s stark auf e t w a s gerichtet bleiben.

Das ist ja auch bei privaten S a m m l e r n oft so, dass von K ü n s t l e r n ihrer Generation Fragen gestellt und beantwortet werden, die sie selbst auch umtreiben. Man fühlt sich dort sehr gut verstanden und autgehoben.

D u r c h a u s ! Was ich allerdings vorhin z u m C h a r a k t e r des K ü n s t l e r i s c h e n gesagt habe, d a r a n halte ich s c h o n fest, g e r a d e a u c h im Vergleich z w i s c h e n R i c h t e r u n d Taylor, dass das zwei u n t e r s c h i e d l i c h e Typen von K ü n s t l e r n sind, wobei ich f ü r m i c h selbst e i n d e u t i g die W e r t s c h ä t z u n g auf die Seite Taylors legen w ü r d e . A u c h als Z e i c h n e r , völlig a u ß e r Frage. O b w o h l ich a u c h m a n c h e r Z e i c h n u n g von R i c h t e r e t w a s a b g e w i n nen k a n n . D e n n o c h m ö c h t e ich nicht v e r h e h l e n : Die A u s s t e l l u n g i n W i n t e r t h u r , die Dieter S c h w a r z organisierte, hat m i c h in dieser Fülle, dieser ü b e r b o r d e n d e n Fülle s c h l i c h t w e g g e l a n g w e i l t . 6 D a s ist e i n f a c h i m m e r d e r s e l b e S t r i c k s t r u m p f , d a s i m m e r gleiche, vom Oberlehrer durchdeklinierte Alphabet.

Worauf muss man achten, w e n n man als j u n g e r S a m m l e r eine Mappe mit Zeichnungen betrachtet? Wie konzentrieren Sie sich darauf? Auf was schauen Sie?

E i n R e z e p t d a f ü r g i b t e s n i c h t . E s ist w i e m i t d e m E s s e n - f ü r s K o c h e n g i b t e s R e z e p t e , a b e r w i e Sie d a s E s s e n d a n n r i e c h e n o d e r s c h m e c k e n , d a s ist e i n e a n d e r e S a c h e . I c h g l a u b e , e s ist s e h r i n d i v i d u e l l . Ich k ö n n t e k e i n e m j u n g e n S a m m l e r k o n krete R a t s c h l ä g e geben, ich k a n n h ö c h s t e n s s a g e n : S c h a u dir e i n m a l das an. A b e r m a n muss unbedingt seinen Augen und seiner eigenen Nase trauen. Anleitungen d a z u gibt es nicht. In d e r A n g s t , die v e r m e i n t l i c h n e u e s t e n T r e n d s zu v e r p a s s e n , sollte m a n bloß nicht n u r m i t den O h r e n h e r u m l a u f e n ! Wie m a n das lernen kann? Eigentlich nur i m m e r wieder durch Schauen und durch g e w i s s e M e n s c h e n , die e i n e m ein F e u e r w e i t e r g e b e n . Das k ö n n e n K ü n s t l e r sein, das k ö n n e n F r e u n d e i n e i n e m b e s t i m m t e n A l t e r sein. Bei m i r w a r e n das z u m B e i s p i e l zwei M a l e r in d e r Familie, die m i c h s e h r auf d e n Weg g e b r a c h t h a b e n . A l s o - es gibt keine Rezepte.

Harald Szeemann ist e i n m a l gefragt worden, wie er zwischen den vielen Sachen unterscheide, die er zugeschickt b e k o m m t . Szeemann antwortete, er versuche herauszufinden, ob eine Arbeit authentisch sei, ob einer es ernst meine oder nur so tue als ob.

D a s ist g a n z s i c h e r e i n K r i t e r i u m . I c h w ü r d e s a g e n : d i e G l a u b w ü r d i g k e i t . M a n s i e h t d a s j a oft s c h o n bei d e r E i n l a d u n g z u e i n e r A u s s t e l l u n g . I m Falle d e r r u s s i s c h e n K ü n s t l e r i n D a s h a S h i s h k i n [ g e b . 1977), d i e bei G r i m m / R o s e n f e l d v o r e i n e m J a h r i h r e e r s t e E i n z e l a u s s t e l l u n g h a t t e , h a b e ich eine E i n l a d u n g auf d e m T i s c h g e h a b t , die hat m i c h gleich interessiert. Es w a r eine R a d i e r u n g , die da r e p r o d u z i e r t w u r d e , ein F r a g m e n t d a r a u s . S o f o r t h a b e ich g e s a g t : D a m u s s ich hin. Ich bin d a n n n o c h v o r der E r ö f f n u n g - w a s ich ganz selten m a c h e - nach S c h w a b i n g , habe m i r die A r b e i t e n a n g e s c h a u t u n d g l e i c h die g a n z e M a p p e g e k a u f t . E s sind d a n n a l s o a u c h s e h r s p o n t a n e E n t s c h e i d u n g e n , u n d ich m ö c h t e e r g ä n z e n , e s s i n d a u c h Preise, die m a n sich n o c h l e i s t e n k a n n . Ich k a n n d a j a k e i n e 2 0 . 0 0 0 E u r o a u s g e b e n , a b e r e i n p a a r T a u s e n d . U n d d a s habe ich sofort g e m a c h t u n d m i c h a u c h nicht g e t ä u s c h t . Das hat m i c h u n mittelbar affiziert, um es e i n m a l so geschwollen auszudrücken. W a r u m d a s s o i s t ? D a s ist s i c h e r d i e G l a u b w ü r d i g k e i t , d a w ü r d e i c h H e r r n S z e e m a n n r e c h t g e b e n . M i c h i n t e r e s s i e r t e a l l e i n d i e G r o ß e d e r P l a t t e n . Ein g e w i s s e s F a s z i n o s u m geht von Radierungen mit der Kaltnadel und allen m ö g l i c h e n technischen Raffinem e n t s aus, die u n g e h e u e r fein und filigran sind und dazu groß. Vielfigurig und groß. Das habe ich in dieser E i n d r i n g l i c h k e i t seit l a n g e r Zeit nicht m e h r erlebt. Da habe i c h g e n a u h i n g e s c h a u t u n d g e d a c h t : Ist d a s n u r e i n e M a s c h e ? G i b t d a j e m a n d n u r vor. a u t h e n t i s c h zu sein?

A u t h e n t i z i t ä t s p i e t t e i n e R o t t e . D a s ist a b e r e i n e G e f ü h l s s a c h e . D a s s n i c h t s o z u s a g e n g e t a n w i r d a l s ob, s o n d e r n s i c h j e m a n d e r n s t h a f t i n ein T h e m a v e r s t r i c k t u n d dies technisch bewältigt. Technisch jetzt nicht im ureigensten Sinne, s o n d e r n dass aus der Technik etwas Künstlerisches wird. D i e s e s S i c h - v e r l i e r e n - K ö n n e n , d a s ist e i n K r i t e r i u m . A b e r d a s i n d w i r s c h o n w i e d e r bei e i n e r s e h r p r i v a t e n V o r l i e b e . W e i l e s a u c h L e u t e g i b t - u n d d i e m u s s m a n e b e n s o z u i h r e m Recht k o m m e n l a s s e n - , die e h e r die k ü h l e , k o p f g e s t e u e r t e K u n s t o d e r K o n z e p t u e l l e s m ö g e n , die h a b e n d a n n j a a u c h die M ö g l i c h k e i t , sich auf v e r s c h i e d e n e K o n z e p t k ü n s t l e r o d e r S c h r i f t k ü n s t l e r u n d a l l e s M ö g l i c h e z u k o n z e n t r i e r e n . A b e r bei d e r Z e i c h n u n g , d a i n t e r e s s i e r t m i c h e i n d e u t i g die a n d e r e Sparte. W i e g e s a g t , das ist j a e i n e F r a g e a n m i c h p e r s ö n l i c h , u n d i c h k a n n j a n i e m a l s b e h a u p t e n , d a s s m e i n e A n t w o r t a l l g e m e i n g ü l t i g ist.

Es geht ja d a r u m , etwas Licht in die Sache zu bringen. Könnten w i r jetzt vielleicht im Anschluss eine Zeichnung betrachten und konkret sagen, w o r i n deren Qualitäten liegen?

E i n e s d e r b e d e u t e n d s t e n B l ä t t e r , d i e i c h b i s h e r e r w o r b e n h a b e , ist d i e b e r e i t s e r w ä h n t e M a t i s s e - Z e i c h n u n g [ A b b . 1). M a t i s s e ist j a e i n e r d e r g r o ß e n Z e i c h n e r d e s 20. J a h r h u n d e r t s . E s h a n d e l t s i c h u m e i n B l a t t m i t e i n e m I n t e r i e u r . E s h e i ß t Interieur aux poissons rouges u n d i s t v o n 1915.

Das B l a t t ist, um es i n h a l t l i c h zu d e f i n i e r e n ,

eine P a r a p h r a s e auf ein Ö l g e m ä l d e i m C e n t r e P o m p i d o u g l e i c h e n Titels. Und w e n n S i e d a s B l a t t i m V e r g l e i c h a n s c h a u e n , d a n n h a b e n Sie h i e r e i n e v o l l k o m m e n g e w a n delte Struktur. Matisse hat oft nach bereits v o r h a n d e n e n B i l d e r n n o c h e i n m a l gezeichnet, um eben das T h e m a e r n e u t zu d u r c h l e u c h t e n und sich zu fragen, ob i h m n o c h e t w a s N e u e s dazu gelingt. Was ich a n d e r Z e i c h n u n g b e w u n d e r e u n d eben als e i n e K a t e g o r i e v o n g r o ß e r Z e i c h e n k u n s t e r a c h t e , ist d i e A r t , w i e h i e r d i e L i n i e n g e geneinander austauschbar werden. Dieses

Prinzip bringt er in

s e i n e n papiers collees

in d e n 1 9 5 0 e r - J a h r e n in e x t e n s o z u r B l ü t e . Das V e r t a u s c h e n d e r Teile von L i n i e n , die d i e s e s u n d j e n e s g l e i c h e r m a ß e n b e n e n n e n k ö n n e n . I n d e m Fall s e h e n Sie h i e r das Goldfischglas, m a n sieht s c h e m e n h a f t , dass es ein mit W a s s e r g e f ü l l t e s Glas ist. D i e F i s c h e s i e h t m a n n u r f l ü c h t i g . U n d w i r h a b e n s t a t t d e s G l a s e s n u r u n t e n d i e s e n B o g e n . D e r B o g e n w i e d e r h o l t s i c h d a n n . E s ist i m m e r e i n e R e p e t i t i o n . D a g i b t e s d e n B r ü c k e n b o g e n a n d e r S e i n e , d e n n e s ist e i n A u s b l i c k a u f d i e S e i n e , a u f d e n B o u l e v a r d St. M i c h e l - d a h a t d a s A t e l i e r v o n M a t i s s e g e l e g e n . U n d d a s M e i s t e r h a f t e a n d e m B l a t t ist, w i e e r A u ß e n w e l t u n d I n n e n w e l t m i t e i n a n d e r v e r s c h r ä n k t m i t ein und d e r s e l b e n Linie, mit ein und d e r s e l b e n W e r t i g k e i t von Linie. Er b r a u c h t ü b e r haupt keine Schraffur, er b r a u c h t keine Lavierung, er braucht keine A n d e u t u n g von M a t e r i a l i t ä t , v o n S t o f f l i c h k e i t . A l l e s ist e i n K l a n g . U n d d a s ist e i n e M e i s t e r s c h a f t , bei d e r e b e n kein S t r i c h z u viel o d e r z u w e n i g ist, s o n d e r n j e d e s k l e i n s t e o r n a m e n t a l e

Detail dieses Fenstergitters hat z u m Beispiel seine E n t s p r e c h u n g e n irgendwo. Dieser Schlüssel, der da hängt, der Stiel von d e m Apfel, alles könnte s o z u s a g e n in die andere F o r m h i n ü b e r w a c h s e n , und es gibt diese grenzenlose, kristalline Transparenz, die i n s o l c h e i n e m B l a t t s c h i e r z u m p u r e n L i c h t w i r d . Das ist e i n f a c h ein M e i s t e r s t ü c k , u n d w i r hatten bis zu d i e s e m A n k a u f keine einzige Z e i c h n u n g von Matisse. D e s h a l b h a b e n w i r ja so viel Geld f ü r dieses Blatt a u f g e w e n d e t - u n d ich sage Ihnen, das bringt eine ganze S a m m l u n g p a r t i e l l nach oben. Weil so viele N a c h b a r s c h a f t e n , die d a m i t a n k l i n g e n , m i t g e h o b e n w e r d e n . Das g e h l bis z u u n s e r e n Z e i c h u n g e n von D a v i d H o c k n e y ( g e b . 1937) a u s d e n 1 9 7 0 e r - J a h r e n , d i e s i c h s t a r k a u f M a t i s s e b e r u f e n . U n d d e s h a l b ist d i e s e Z e i c h n u n g ein g a n z f u n d a m e n t a l e s W e r k v o m A n f a n g d e s 20. J a h r h u n d e r t s , d a s v i e l e s S p ä t e r e v o r w e g n i m m t . S i e w ü r d e i c h a l s b e i s p i e l h a f t f ü r e i n e g r o ß e Z e i c h n u n g d e s 20. J a h r h u n d e r t s e r a c h t e n .

Haben Sie noch eine ganz aktuelle Zeichnung? Von einem lebenden, j ü n g e r e n Künstler?

D a s ist n a t ü r l i c h s c h w i e r i g , d a j e t z t e i n e n h e r a u s z u g r e i f e n . S i e k e n n e n j a G e r m a n S t e g m a i e r ( g e b . 1959), d e n i c h s e h r s c h ä t z e u n d d e n i c h j a q u a s i z u m e r s t e n M a l v o r z e h n J a h r e n h i e r g e z e i g t h a b e ( A b b . 2). D e n k a n n m a n j e t z t n i c h t i n e i n e m A t e m z u g m i t Matisse n e n n e n , aber t r o t z d e m finde ich das n a c h w i e vor toll, w i e S t e g m a i e r h i e r d e n R a n d b e s e t z t , w i e e r d a s o z u s a g e n d a s B l a t t z u m K ö r p e r m a c h t . B e i i h m ist e s o f t m a l s d e r Fall, dass die Dinge g a n z a m Rand sitzen, d e n Rand b e r ü h r e n , das B l a t t m i t e i n s p a n n e n . Die E i n s p a n n u n g d e r L i n i e n , d a s hat m i c h i m m e r i n t e r e s s i e r t . Genau w i e das Radieren, das N o c h - s i c h t b a r - L a s s e n von Spuren. Diese fast p a l i m p s e s t a r t i g e W i r k u n g , d a s s m a n i m m e r n o c h s p ü r t , d a ist n o c h e t w a s d a r u n t e r , d a s i n d n o c h a n d e r e S c h i c h t e n . D a w i r d e n d l o s d a r ü b e r g e g a n g e n , bis e s f ü r d e n K ü n s t l e r z u e i n e r l e t z t e n d l i c h g ü l t i g e n L ö s u n g k o m m t . D a s i n t e r e s s i e r t m i c h bei e i n e m Z e i c h n e r s e i n e r G e n e r a t i o n . D a s ist n i c h t d e r W e i s h e i t l e t z t e r S c h l u s s , a b e r e s i s t , s a g e n w i r m a l , e i n e d u r c h a u s a u t h e n t i s c h e Ä u ß e r u n g . Oft b i n i c h g e f r a g t w o r d e n : » J a , ist d e n n d a s n i c h t d i e M a s c h e v o m S t e g m a i e r , d i e s e s Z ö g e r l i c h - Z a u d e r n d e ? « A b e r w e n n i c h d a n n d e n K ü n s t l e r k e n n e n l e r n e u n d m i t i h m r e d e , d a n n ist e r g e n a u s o w i e s e i n e Z e i c h n u n g e n . D a s ist k e i n e M a s c h e . D a s ist s o ! S o k a n n m a n s i c h n i c h t v e r s t e l l e n , s o ist e r e i n f a c h . E s g i b t e t w a s M a t h e m a t i s c h e s , e i n s e h r k l a r e s D e n k e n i n s e i n e n Z e i c h n u n g e n . E r ist j a u r s p r ü n g l i c h M a t h e m a t i k e r g e w e s e n . I c h h a b e m i t M a t h e m a t i k n i c h t s z u t u n , a b e r die A r t , w i e die B l ä t t e r g e t e i l t w e r d e n , die V e r m e s sung in der Proportion der Blätter - das interessiert mich einfach. U n d a u c h da hatte ich ein E r l e b n i s . Ich w a r g e r a d e h i e r in M ü n c h e n a n g e s t e l l t , u n d da lagen zwei, drei A b b i l d u n g e n von S t e g m a i e r auf m e i n e m Tisch. Mein Vorgänger, W o l f g a n g H o l l e r , d e r j a n a c h D r e s d e n g e g a n g e n ist, hat g e s a g t : » K ü m m e r e d i c h m a l d a r u m , der S t e g m a i e r w o l l t e s c h o n vor M o n a t e n e t w a s zeigen.« Da bin ich sofort

2 German Stcgmaier Ohne Titel. 1993/94 Bleistift auf Papier 27x 19cm

2 German Stcgmaier Ohne Titel. 1993/94 Bleistift auf Papier 27x 19cm

h i n g e f a h r e n u n d h a b e e t w a s g e k a u f t , n o c h a m s e l b e n Tag i m Atelier. D a s I n t e r e s s e f ü r diese S a c h e n hat sich ü b e r die J a h r e fortgesetzt, u n d ich bin n o c h nicht zu d e m P u n k t g e k o m m e n , a n d e m ich s a g e n m u s s , jetzt k a n n ich das nicht m e h r s e h e n . E s ist j e t z t w i r k l i c h z u f ä l l i g , m a n h ä t t e a u c h e i n e n a n d e r e n n e h m e n k ö n n e n , H e i n e r B l u m e n t h a l ( g e b . 1 9 5 6 ) , S t e p h a n B a u m k ö t t e r ( g e b . 1958) o d e r a u c h C a m i l l L e b e r e r ( g e b . 1953).

J e d o c h bei L e b e r e r n i c h t alles, bei w e i t e m n i c h t alles. D a m a g ich a u c h

die n ü c h t e r n e n Z e i c h n u n g e n viel m e h r als diese t h e a t r a l i s c h e n , in d e n e n er laviert u n d m i t F a r b e a r b e i t e t . D a s ist a b e r eine p e r s ö n l i c h e V o r l i e b e , u n d m e i n N a c h f o l g e r oder m e i n e N a c h f o l g e r i n k a n n e i n m a l s a g e n : » M e i n Gott, d e r S e m f f hat j a i m m e r n u r die m i n i m a l i s t i s c h e n S a c h e n g e k a u f t . « Klar, da interessiert m i c h d a s völlig Z u r ü c k g e n o m m e n e , die S p a r s a m k e i t , d e r s p a r t a n i s c h e Zug, sich nichts z u e r l a u b e n . W e n n Sie sich e i n m a l u n s e r e n K a t a l o g a n s c h a u e n : Das w a r j a a u c h eine Frechheit v o n m i r , A s t r i d S t r i c k e r ( g e b . T964) n e b e n M a x S l e v o g t ( 1 8 6 8 - 1 9 3 2 ) z u s e t z e n . 7 M a n c h m a l s i n d d a s V e r w a n d t s c h a f t e n i m Geiste bei K ü n s t l e r n , die n i c h t s m i t e i n a n d e r z u t u n haben, die k e n n e n sich nicht e i n m a l . A b e r ich finde, m a n darf i m A u g e s c h o n s o spielerisch sein, um das in seiner Welt z u s a m m e n z u b r i n g e n . A u c h w e n n es keinen k u n s t h i s t o r i s c h t i e f s c h ü r f e n d e n G r u n d g i b t , d a s z u k o n f r o n t i e r e n . E s ist r e i n a s s o ziativ. Ich l i e b e A s s o z i a t i o n e n , m e i n g a n z e s B l i c k f e l d ist a s s o z i a t i v . A u c h w e n n ich a m B a h n h o f s p a z i e r e n g e h e , s a g e i c h m i r : D a s s c h a u t j a a u s w i e d a s u n d d a s ... A l s o s c h a u e ich. I c h w i l l m i c h j e t z t n i c h t z u m A r t i s t e n s t e m p e l n , a b e r e s ist s c h o n e i n e p e r s ö n l i c h e Vorliebe o d e r S e h w e i s e , die j e d e r K u r a t o r hat. Das liegt ja in d e r N a t u r d e r Dinge. Ich h a s s e das W o r t » P o s i t i o n « in d e r K u n s t . M a n c h e r e d e n von »Position e n « . W a s ist d e n n e i n e » P o s i t i o n « ? M i c h i n t e r e s s i e r e n u n t e r s c h i e d l i c h e D i n g e , a b e r keine »Position«, in so einer Schubladenweise. Das interessiert m i c h überhaupt nicht an der Kunst.

1 Vgl. Werner Tübke. Musterblätter, hrsg. von Eduard Beaucamp. Ausst.-Kat. Schleswig-Holsteinisches L a n d e s m u s e u m Schloß Gottorf, Schleswig u.a., München 2004. 2 Karl Bohrniann, Notizen. 1972-1986, mit einem Nachwort von Hannes Böhringer, Frankfurt am Main 1988. 3 Zeichnung heute

Max Lehrs zu Ehren, Symposium, organisiert vom Verein der Freunde des

Kupferstich-Kabinetts Dresden, Residenzschloss, Dresden, 12.12.2005. U

Vgl.A/ Taylor. Drawings/Zeichnungen, hrsg. von Michael Semff, Staatliche Graphische S a m m l u n g München, Ostfildern 2006

5 Vgl. Terry Winters. Drawings/Zeichnungen, hrsg. von

Michael Semff, Staatliche Graphische S a m m l u n g

München, München 2003. 6 Vgl.

Gerhard

Richter.

Aquarelle/Watercolors

1964-1997,

Ausst.-Kat.

Kunstmuseum

Winterthur,

o.O. 1999. 7 Ein

Bildhandbuch.

Staatliche

Graphische

Sammlung

München.

Meisterwerke

des

15.

-20.

Jahrhun

derts, hrsg. von Michael Semff, Kat. zur Eröffnungsausstellung, Pinakothek der Moderne. München 2002.

III Q u a l i t ä t i n d e r D r u c k g r a f i k

Wie man die Qualität einer Druckgrafik bestimmt Jeremy

Lewison

1988 e m p f a h l ich d e m n e u e n D i r e k t o r d e r Täte Gallery, w i r s o l l t e n eine D r u c k g r a f i k von Max Ernst (1891-1976) kaufen. Seine A n t w o r t fiel negativ a u s : U n t e r den geg e b e n e n U m s t ä n d e n sei e s u n v e r a n t w o r t l i c h , d e n n e s h a n d e l e sich dabei u m eine Druckgrafik, welche nicht der höchsten Qualität entspreche. Er besaß d a m a l s nur ein w e n i g d e t a i l l i e r t e s W i s s e n ü b e r die g r a f i s c h e S a m m l u n g d e r Täte, a u ß e r d e m w a r e r a u c h kein Spezialist für Grafik. D o c h ich b e h a r r t e auf m e i n e n Ü b e r z e u g u n g s v e r s u c h e n , i n d e m ich e r k l ä r t e , d a s s ich v e r s u c h e n wolle, den N a c h k r i e g s b e s t a n d v o n D r u c k g r a f i k e n i n d e r T ä t e a u s z u b a u e n (die S a m m l u n g w u r d e i m J a h r e 1 9 7 5 g e g r ü n d e t u n d basierte z u m größten Teil auf S c h e n k u n g e n eines b r i t i s c h e n Verlegers). D e s h a l b b e s t a n d d e r B e d a r f , die S a m m l u n g - i n s b e s o n d e r e d u r c h a u s l ä n d i s c h e W e r k e - zu e r w e i t e r n . Eine D r u c k g r a f i k von Max Ernst w ä r e hilfreich, um die gesamte Entwicklung von grafischen Blättern zu repräsentieren und müsste im Z u s a m m e n h a n g m i t J e a n F a u t r i e r ( 1 8 9 8 - 1 9 6 4 ) , K a r l - O t t o G o e t z ( g e b . 1914), J o a n M i r o (1893 1983), M a u r i c e E s t e v e ( 1 9 0 4 - 2 0 0 1 ) , E m i l S c h u m a c h e r ( 1 9 1 2 - 1 9 9 9 ) , J e a n D u b u f f e t (1901-1985) u n d a n d e r e n a u s d e m f l o r i e r e n d e n Feld d e r D r u c k g r a f i k d e r N a c h k r i e g s zeit g e s e h e n w e r d e n . N a c h d i e s e n E r l ä u t e r u n g e n w u r d e die A k q u i s i t i o n a b g e s e g n e t u n d die A r b e i t fand E i n g a n g in die S a m m l u n g . D i e s e E p i s o d e d e m o n s t r i e r t , d a s s Q u a l i t ä t s e h r r e l a t i v ist u n d n u r d u r c h v i e l e u n t e r schiedliche Kriterien b e s t i m m t w e r d e n kann. Es existiert nicht so etwas wie eine absolute Qualität. So kann eine Arbeit in Relation zu anderen Werken aus der S a m m l u n g Qualität besitzen; sie k a n n e i n e n A s p e k t i n d e r K u n s t r e p r ä s e n t i e r e n , w e l c h e r i n a n d e r e n W e r k e n n i c h t v o r h a n d e n ist; sie k a n n a b e r a u c h i n e i n e m b e s o n d e r s inte r e s s a n t e n V e r f a h r e n g e d r u c k t w o r d e n sein o d e r die Qualität d e s D r u c k s a n sich kann technisch h e r a u s r a g e n d sein. M a n c h e D r u c k e r sind beispielsweise besonders talentiert im Erzielen e i n e r b e s o n d e r e n Tiefe in den Farbtönen, w ä h r e n d a n d e r e sehr einfallsreich in der A n w e n d u n g neuer Techniken sind. Das Konzept der Arbeit kann genial sein oder der Druck k a n n eine hohe e m o t i o n a l e W i r k u n g hervorrufen. Die F r a g e n , die m a n a l s o s t e l l e n w ü r d e , l a u t e n : K o m m u n i z i e r t die D r u c k g r a f i k die I n t e n t i o n e n d e s K ü n s t l e r s e r f o l g r e i c h u n d w i e passt sie i n die f r a g l i c h e S a m m l u n g ?

Die b e s t e n D r u c k g r a f i k e n v e r b i n d e n k o n z e p t i o n e l l e Ideen m i l e i n e r a d ä q u a t e n E r f ü l l u n g i h r e r I n t e n t i o n e n . D i e A n g e m e s s e n h e i t ist a l s o e i n e S c h l ü s s e l f r a g e , u m Q u a l i t ä t bestimmen zu können. U m die Idee von Q u a l i t ä t i n H i n b l i c k auf A n g e m e s s e n h e i t z u v e r s t e h e n , m u s s m a n einige Hintergründe zur Geschichte der Druckgrafik kennen. Bereits vor der Mitte d e s 19. J a h r h u n d e r t s w u r d e d i e D r u c k g r a f i k a l s e i n e F o r m a n g e s e h e n , d i e d e r V e r breitung von B i l d e r n aus a n d e r e n Medien dienen sollte. Es w a r ein M i t t e l der M a s s e n k o m m u n i k a t i o n . Gewiss gab es A u s n a h m e n von dieser Regel: Künstler w i e D ü r e r ( 1 4 7 1 - 1 5 2 8 ) , R e m b r a n d t 1 1 6 0 6 - 1 6 6 9 ) u n d Goya ( 1 7 4 6 - 1 8 2 8 ) e r f o r s c h t e n d i e D r u c k m e d i e n , u m die i h n e n i n h ä r e n t e n C h a r a k t e r i s t i k a a u s z u s c h ö p f e n . D o c h d a m a l s galt d e r D r u c k g r ö ß t e n t e i l s als r e i n e s R e p r o d u k t i o n s w e r k z e u g . Die Qualität d e s r e p r o d u z i e r e n d e n D r u c k s lag i n d e r F ä h i g k e i t des K u p f e r s t e c h e r s , die Effekte e i n e s M e d i u m s i n d a s a n d e r e z u ü b e r s e t z e n . Die D r u c k g r a f i k w a r k e i n e R e p r o d u k t i o n a n sich, d a j e d e s M e d i u m - d i e M a l e r e i e t w a - e i g e n e Q u a l i t ä t e n b e s i t z t . Sie w a r s o m i t e i n e » i n t e r p r e t i e r e n d e « Übersetzung. Das Bild, das d a r a u s resultierte, w a r nicht das W e r k des ursprünglichen, sondern des reproduzierenden Künstlers. Reproduzierende D r u c k g r a f i k e n w u r d e n i n u n l i m i t i e r t e n E d i t i o n e n p r o d u z i e r t u n d die H e r s t e l l e r von D r u c k g r a f i k e n v e r s u c h t e n , die E r h a l t u n g d e r D r u c k p l a t t e m i t a l l e n M i t t e l n - w i e beis p i e l s w e i s e d u r c h die V e r s t ä h l u n g - zu sichern, um in h o h e n A u f l a g e n d r u c k e n zu können. Der Begriff, eine D r u c k p l a t t e » d u r c h z u s t r e i c h e n « - also ein Bild zu zerstören, i n d e m m a n durch e s durchritzt - , w a r eine d a m a l s noch u n b e k a n n t e Praxis. M a n c h e D r u c k p l a t t e n besaßen eine Stahloberfläche, sodass m e h r e r e Auflagen hergestellt w e r d e n konnten. Gewiss, der Stahlbelag führte zu e i n e m bedeutenden Qualitätsverlust, w e n n beispielsweise der Künstler mit der Kaltnadel gearbeitet hatte und der leichte Grat auf diese Weise i m S t a h l b e l a g v e r l o r e n ging. D o c h w e n n e s n u r u m die H e r s t e l l u n g des Bildes ging, dann w a r dies günstig verfügbar. M i t t e d e s 19. J a h r h u n d e r t s - i n d e r Z e i t d e s i n d u s t r i e l l e n A u f s c h w u n g s - b e g a n n sich die D r u c k t e c h n i k z u v e r ä n d e r n . S o w o h l K ü n s t l e r als a u c h D r u c k e r s t e l l e r b e g a n n e n die r e p r o d u z i e r t e n D r u c k e z u s i g n i e r e n . D a m i t l i m i t i e r t e n sie die E d i t i o n e n , u m e i n e n k o m m e r z i e l l e n M a r k t z u k r e i e r e n . D a r ü b e r h i n a u s b e g a n n e n sie, die D r u c k e in u n t e r s c h i e d l i c h e n P r o d u k t i o n s s t a d i e n zu veröffentlichen. Als es die M ö g l i c h k e i t einer f o t o m e c h a n i s c h e n R e p r o d u k t i o n gab, w u r d e der Prozess des R e p r o d u z i e r e n s m i t s e i n e m z e i t a u f w e n d i g e n A b l a u f ü b e r f l ü s s i g . Das w a r d e r M o m e n t , i n d e m die K ü n s t l e r sich für das D r u c k e n als ein Mittel »originärer« Bildproduktion zu interess i e r e n b e g a n n e n . I m G r u n d e h a n d e l t e n sie k o n t r ä r z u d e r d a m a l s f o r t s c h r e i t e n d e n M e c h a n i s i e r u n g , i n d e m sie deren i n d u s t r i e l l e W e r k z e u g e und S y s t e m e nutzten, u m d a m i t jedoch auch gleichzeitig ihre Fließbandproduktion zu u n t e r m i n i e r e n . Whistler (1834-1903) sowie später Gauguin (1848-1903) und M ü n c h (1863-1944) stellten beis p i e l s w e i s e D r u c k g r a f i k e n m i t e i n z i g a r t i g e n F a r b t o n n u a n c e n u n d - V a r i a t i o n e n her. A u c h Picasso (1881-1973) hatte Gefallen d a r a n , die H o l z s t ö c k e u n t e r s c h i e d l i c h s t a r k

einzufärben.

wie

zum

Beispiel

in

der Arbeit

Büste

de jeune

femme

de

trois

quarts,

w e l c h e e r s t m a l i g 1906 u n d s p a t e r , r a d i k a l v e r ä n d e r t , i m J a h r e 1933 n a c h g e d r u c k t wurde. Zu behaupten, ein E x e m p l a r w ü r d e eine höhere Qualität als ein anderes besitzen, w ü r d e Picassos Ansatz falsch deuten, d e n n die u n t e r s c h i e d l i c h e E i n f ä r b u n g sollte bewusst unterschiedliche S t i m m u n g e n und Intentionen erzeugen. M a n c h m a l , i n s b e s o n d e r e w e n n K ü n s t l e r R e l i e f d r u c k e p r o d u z i e r e n w o l l t e n , s t e l l t e n sie e i n e n Abzug her, um nach der weiteren Bearbeitung der Platte schließlich den zweiten Abzug anzufertigen. Das Motiv variierte folglich von D r u c k v o r g a n g zu Druckvorgang. In den 1 9 3 0 e r - J a h r e n arbeitete Ben N i c h o l s o n (1894-1982) auf diese Weise, w ä h r e n d h e u l e i n d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n K u n s t G e o r g B a s e l i t z ( g e b . 1938) u n d J ö r g I m m e n d o r f f ( g e b . 1945) d i e s e T e c h n i k f ü r s i c h a d a p t i e r t h a b e n . D a d e r P r o z e s s d e s D r u c k e n s e n g a n d a s d e m W e r k z u g r u n d e l i e g e n d e K o n z e p t g e b u n d e n ist, w i r d d e r K ü n s t l e r i n d i e s e n Fällen m ö g l i c h e r w e i s e d i e s e l b e P e r s o n sein, die s o w o h l die D r u c k e r s t e l l u n g a l s a u c h die K o n z e p t i o n d e s W e r k e s d u r c h f ü h r t . D e r H o c h d r u c k ist d a r ü b e r h i n a u s relativ s i m p e l und verlangt n u r w e n i g technologischen A u f w a n d , vergleicht m a n ihn beispielsweise mit den Mysterien des Tiefdrucks oder der Lithografie. Auch w e n n d e u t s c h e K ü n s t l e r d i e L i t h o g r a f i e i n d e n e r s t e n J a h r z e h n t e n d e s 20. J a h r h u n d e r t s bereits e r h e b l i c h nutzten, w u r d e sie erst n a c h d e m Z w e i t e n W e l t k r i e g z u m bevorzugt e n M e d i u m d e r K u n s t s c h a f f e n d e n . Meist blieb sie j e d o c h r e p r o d u z i e r e n d e s M e d i u m : Der Künstler lieferte in der Regel d e m Druckhersteller eine Gouache als lithografische Vorlage und signierte anschließend den Druck, obgleich er diesen nicht selbst h e r g e s t e l l t h a l t e . Die Praxis, G r a f i k a l s r e p r o d u z i e r e n d e T e c h n i k z u v e r w e n d e n , hielt n o c h J a h r e an: Davon z e u g e n die D r u c k e F r a n c i s B a c o n s (1909-1992), die reine Reproduktionen seiner G e m ä l d e sind. A l l m ä h l i c h b e g a n n e n die K ü n s t l e r die L i t h o g r a f i e als ein M e d i u m z u begreifen, w e l ches in seinen eigenen Möglichkeiten noch ausgeschöpft werden konnte. Insbesondere in den USA belebte sich in den späten 1950er- und 1960er-Jahren das Interesse an diesem Medium und es wurde damit beträchtlich experimentiert. I n d e n f r ü h e n 1 9 6 0 e r - J a h r e n w u r d e die k o m m e r z i e l l e Praxis des S i e b d r u c k s von vielen K ü n s t l e r n r e a k t i v i e r t , da sie diese a l s i d e a l e s M i t t e l f ü r die I n t e g r a t i o n von Fotog r a f i e n i n die D r u c k k u n s t b e w e r t e t e n , o h n e d a s s sie dabei g e n a u s o k o s t s p i e l i g w i e die F o t o g r a v ü r e war. P o p - A r t - K ü n s t l e r , die die k o m m e r z i e l l e K u n s t n a c h a h m t e n , s c h ä t z t e n d e n S i e b d r u c k als h i l f r e i c h e s M e d i u m . Die a u t o g r a f i s c h e K e n n z e i c h n u n g w a r nicht m e h r von p r i m ä r e r W i c h t i g k e i t , u n d s o w a r e n f ü r die H e r s t e l l u n g von r e p r o d u z i e r b a r e n D r u c k e n w i e d e r die Fertigkeiten des D r u c k e r s von B e d e u t u n g . Mit e i n e m kleinen Unterschied: Der Künstler galt als Erschaffer des originären Bildes, der D r u c k e r n u r a l s N a c h a h m e r e i n e s b e r e i t s b e s t e h e n d e n W e r k e s . Die G r a f i k w a r R e s u l tat d e r Z u s a m m e n a r b e i t z w i s c h e n K ü n s t l e r u n d D r u c k e r . I n d i e s e r H i n s i c h t w a r die Arbeit von Edouardo Paolozzi (1924-2005) b a h n b r e c h e n d . Der S i e b d r u c k konnte ein komplexer Prozess sein und kein D r u c k e r konnte den Künstler k o m p e t e n t e r anleiten

als Chris Prater v o m Kelpra Studio in London, wo viele d e r besten S i e b d r u c k e der 1960er-Jahre hergestellt wurden. Angesichts der unterschiedlichen Medien und der variierenden Produktionsmethoden, mit deren Hilfe D r u c k g r a f i k e n hergestellt w e r d e n können, ergeben sich m e d i u m s i m m a n e n t e Kriterien zur B e w e r t u n g von Druckqualitäten. D a r ü b e r hinaus kann eine Grafik, a u c h w e n n sie auf die g l e i c h e W e i s e h e r g e s t e l l t w u r d e , i n n e r h a l b e i n e r Edition a u f g r u n d eines d i f f e r i e r e n d e n » F i n i s h s « variieren. Dies gilt i n s b e s o n d e r e bei Tiefu n d - a l s M ö g l i c k e i t - a u c h bei H o c h d r u c k , bei d e n e n die F a r b e p e r H a n d a u f g e t r a gen wird. Es bedarf eines besonders begabten Druckers, um in einer Auflage eine durchweg gleichförmige Farbgebung zu garantieren. Diese k u r z e E i n f ü h r u n g s o l l t e a u s r e i c h e n , u m d e n L e s e r z u ü b e r z e u g e n , dass die Qualität einer Grafik d u r c h ihre t e c h n i s c h e P r o d u k t i o n b e s t i m m t wird. Letzten Endes k o m m e n h e u t z u t a g e viele K ü n s t l e r erst b e i m Signieren d e r Grafik m i t ihr in B e r ü h r u n g . Ein k o n z e p t i o n e l l e s W e r k k a n n a l l e i n a u f d e r B a s i s v o n h a n d s c h r i f t l i c h e n Ins t r u k t i o n e n v o m D r u c k e r s t e l l e r produziert w e r d e n . Doch solch ein R ü c k s c h l u s s w ä r e i r r i g : W a s e i n e n h o c h w e r t i g e n D r u c k a u s m a c h t , ist die K o i n z i d e n z v o n k o n z e p t i o n e l l e r Idee u n d t e c h n i s c h e r Exzellenz. W e n n ein K ü n s t l e r gestische, a b s t r a k t e B i l d e r h e r s t e l l e n m ö c h t e , b e n ö t i g t e r i m P r o d u k t i o n s p r o z e s s die M ö g l i c h k e i t e i n e r freien Arbeitsweise. Wenn er fotografische Bilder integrieren möchte, sind Siebdruck und F o t o g r a v ü r e n o d e r a u c h H e l i o g r a v ü r e n v e r m u t l i c h die b e v o r z u g t e n M e d i e n . A n d y W a r h o l (1928-1987), d e s s e n b e r u f l i c h e r H i n t e r g r u n d die W e r b u n g w a r , befand den S i e b d r u c k als ideal f ü r seine B e d ü r f n i s s e . E r w a r ein K ü n s t l e r , für d e n die t e c h n i s c h e Perfektion nicht so wichtig war. Insbesondere in seinen Malereien spielte er gern mit den Unzulänglichkeiten des Siebdrucks. Andere Künstler oder Drucker hätten vielleicht seine Bilder aufgrund der Druckqualität abgelehnt, er hingegen schätzte ihre Unzulänglichkeiten. Unschärfe, s c h w a c h e A b d r ü c k e und Versehen w u r d e n von W a r h o l akzeptiert. Diese ästhetischen Charakteristika w a r e n in seinen Blättern willk o m m e n , g a r Teil d e r e i g e n t l i c h e n A r b e i t . A n g e s i c h t s d e r g r o ß e n Editionen, die von den Drucken angefertigt w u r d e n , w a r es wichtig, diese Unfälle oder Unzulänglichk e i t e n m i n u t i ö s r e p l i z i e r e n z u k ö n n e n . D i e 1971

e n t s t a n d e n e D r u c k g r a f i k Electric

Chair w a r s o m i t g e r a d e w e g e n i h r e r n i e d r i g e n D r u c k q u a l i t ä t s e f f e k t e i n d e r L a g e , g e n a u das a u s z u d r ü c k e n , w a s W a r h o l e r z i e l e n w o l l t e , w ä h r e n d sie f r ü h e r m ö g l i c h e r weise aufgrund eines fehlerhaften Fokus oder einer Unschärfe abgelehnt worden wäre. Doch d e r fehlerhafte C h a r a k t e r der Arbeit a n t w o r t e t e genau auf seine konzeptionellen Ideen. Ein K ü n s t l e r , d e r d e n H o c h d r u c k als ideale M e t h o d e f ü r die U m s e t z u n g s e i n e r Visionen befand, w a r Georg Baselitz. Seine Malereien und S k u l p t u r e n aus den 1960erund 1970er-Jahren w a r e n beinahe k ö r p e r l i c h . Ihre F o r m e n w a r e n w e i t e s t g e h e n d skizzenhaft, seine S k u l p t u r e n grob. Im Linol- und Holzschnitt schließlich fand Baselitz die idealen Mittel, u m D r u c k g r a f i k e n ä h n l i c h e n C h a r a k t e r s h e r z u s t e l l e n . A n d e r s als

der Kupferstich sind Linol- und Holzschnitt direkte, ungefilterte Methoden der Drucke r s t e l l u n g . V e r g l e i c h b a r m i t d e r B e a r b e i t u n g d e s H o l z e s bei d e r E r s c h a f f u n g e i n e r S k u l p t u r , b e a r b e i t e t d e r K ü n s t l e r a u c h die D r u c k p l a t t e . E r k a n n u n m i t t e l b a r die Effekte s e i n e s S t e c h b e i t e l s s e h e n , w ä h r e n d d e r R a d i e r e r z u n ä c h s t die Platte in ein S ä u r e b a d g e b e n u n d e i n e n P r o b e d r u c k v o r n e h m e n m u s s , u m die Effekte s e i n e r Arbeit

abschätzen

zu

können.

In

Weiblicher Akt auf Küchenstuhl

(1977-1979;

A b b . 1)

vollzog Baselitz neben feinen E i n r i t z u n g e n tiefe, breite Schnitte. I n d e m er b e t r ä c h t liche Keile aus d e m L i n o l e u m hieb, e n t w i c k e l t e er eine aggressive M e t h o d e der D r u c k f o r m h e r s t e l l u n g . Diese Aggressivität w u r d e durch seine Rebellion gespiegelt, die sich i n d e r Inversion des B i l d e s s o w i e s e i n e r A b l e h n u n g g e g e n ü b e r a m e r i k a n i s c h e r K u n s t u n d s e i n e r R ü c k b e s i n n u n g auf die d e u t s c h e H o c h d r u c k t r a d i t i o n e n zeigte. Die Q u a l i t ä t s o l c h e r D r u c k e liegt n i c h t n u r i n d e r k o n z e p t i o n e l l - t e c h n i s c h e n A n g e m e s s e n h e i t , s o n d e r n a u c h i n der S t ä r k e u n d V e r w e g e n h e i t des Bildes, die a u s einer partiell bewussten Grobheit resultiert. Vergleichbar mit den Brücke-Künstlern A n f a n g d e s 20. J a h r h u n d e r t s , s c h ö p f t e B a s e l i t z d i e s e E n e r g i e e h e r a u s d e m U r sprünglichen denn d e m Verfeinerten.

Er adaptierte, wie im

Holzschnitt

Großer Kopf

v o n 1966, i h r I n t e r e s s e f ü r d a s D r u c k e n v e r s c h i e d e n e r F a r b e n n u r m i t t e l s e i n e r D r u c k p l a t t e : I m e r s t e n S c h r i t t w u r d e n z u n ä c h s t die F a r b t ö n e u n d i m z w e i t e n S c h r i t t schließlich die K o n t u r e n d e r Figur g e d r u c k t . Was Baselitz' Holzschnitte von d e n e n a n d e r e r K ü n s t l e r u n t e r s c h e i d e t , ist d i e K r a f t d e s B i l d e s , d i e a u s s e i n e r K e n n e r s c h a f t d e m M e d i u m g e g e n ü b e r resultiert. Baselitz' H o c h d r u c k e haben eine s k u l p t u r a l e Qualität, die i h m n u r dieses M e d i u m liefern konnte. Verglichen d a m i t sind seine Radierungen zwar meisterhaft, aber weniger kraftvoll. W e d e r m ü s s e n H o l z s c h n i t t e i m m e r r o h e Kraft v e r m i t t e l n , n o c h s i n d sie auf die D a r s t e l l u n g d e u t l i c h e r Gesten b e s c h r ä n k t . Zwei K ü n s t l e r i n n e n , die e i n e n r a d i k a l a n d e r e n Z u g a n g a l s B a s e l i t z e n t w i c k e l t e n , s i n d V i j a C e l m i n s ( g e b . 1938) u n d C h r i s t i a n e B a u m g a r t n e r ( g e b . 1967). S i e z e i g e n , d a s s d e r H o l z s c h n i t t e i n e s d e r s e n s i b e l s t e n M e d i e n s e i n k a n n . 1980 v e r b r a c h t e C e l m i n s e i n J a h r d a m i t , W e l l e n i n d e n h ö l z e r n e n D r u c k s t o c k e i n z u r i t z e n . K l e i n e D e t a i l s e i n e s i m m e n s e n G e g e n s t a n d e s : Ocean i s t e i n e d e r ü b e r z e u g e n d s t e n m e d i a l e n D a r s t e l l u n g e n d e s M e e r e s . Die R e p r o d u k t i o n ä h n e l t einer Fotografie - sie basierte tatsächlich a u c h auf einer -, d o c h das Bild, w e l c h e s s i c h d a r a u s e r g a b , ist k e i n e K o p i e , s o n d e r n e h e r e i n e v ö l l i g n e u e D a r s t e l l u n g . Die Herstellung eines Holzschnitts bezieht den Körper und nicht ausschließlich das Auge m i t ein; a u c h w i r d bei d e r B e t r a c h t u n g d e s B i l d e s die m e n s c h l i c h e M i t w i r k u n g d e u t lich. Die O b e r f l ä c h e ist k e i n e f o t o g r a f i s c h e S c h i c h t , s o n d e r n s p r i c h t v o n m e n s c h l i c h e r W ä r m e u n d B e r ü h r u n g . Die u n g e h e u r e W e i t e d e s M e e r e s w i r d z u e i n e r I n t i m i t ä t verdichtet, w e l c h e nur durch liebevolle V e r m i t t l u n g erzielt w e r d e n kann. Christiane B a u m g a r t n e r arbeitet ebenfalls auf der G r u n d l a g e von f o t o g r a f i s c h e m M a t e r i a l . H ä u f i g ist i h r e B a s i s V i d e o m a t e r i a l , d a s sie s e l b s t a u f n i m m t u n d m i t P h o t o s h o p bearbeitet, bevor sie es auf einen H o l z s c h n i t t ü b e r t r ä g t . Ihre T h e m e n sind bei-

nahe banal: eine asphaltierte Strecke, eine v o m W i n d u m w e h t e Farm, eine Straße. All diese M o m e n t e enthalten in ihrer Detailgenauigkeit etwas Unheimliches. Indem B a u m g a r t n e r sich auf die R ä n d e r d e s Videos f o k u s s i e r t , k a n n sie Dinge s i c h t b a r m a c h e n , die w i r bei e i n e r s c h n e l l e n B e t r a c h t u n g v e r m u t l i c h ü b e r s e h e n w ü r d e n . Sie erzielt eine b e w u n d e r n s w e r t detaillierte Darstellung einer Landschaft oder einer Straße. Bei n ä h e r e r B e t r a c h t u n g e r s c h e i n t das Bild aus e i n e m Geflecht von a b s t r a k ten h o r i z o n t a l e n Linien zu b e s t e h e n . A u s d e r Distanz fließen die Linien zu e i n e m Bild z u s a m m e n . Dies v e r d e u t l i c h e n die u n t e r s c h i e d l i c h e n t e c h n i s c h e n Prinzipien zwis c h e n C e l m i n s ' auf einer kleinen Fläche a u s g e a r b e i t e t e n W e r k e n und B a u m g a r t n e r s g r o ß f o r m a t i g e n Arbeiten. C e l m i n m ö c h t e ihre D r u c k e aus n ä c h s t e r N ä h e betrachtet wissen, B a u m g a r t n e r hingegen nicht. Die B e t r a c h t u n g einer Grafik von

B a u m g a r t n e r w i e b e i s p i e l s w e i s e Brügge I ( 2 0 0 5 )

ruft r e t i n a l - e m o t i o n a l e R e a k t i o n e n hervor. D u r c h die B i l d t h e m e n »Observation« und »Kontrolle« wird sich der Betrachter angesichts einer körnigen Unschärfe und der beängstigenden Dimensionen u n w o h l und überwältigt fühlen. Kontrastierend dazu w i r k t die W a h l d e s H o l z s c h n i t t s bei a n d e r e n K ü n s t l e r n h ä u f i g g r o b , o b g l e i c h i h r e m e d i a l e W a h l w e s e n t l i c h f ü r i h r e K o n z e p t i o n d e s W e r k e s ist. A n f a n g d e r 1 9 8 0 e r Jahre w a r Holzschnitt teilweise w e g e n seiner expressionistischen Ästhetik en vogue. Der d e u t s c h e E x p r e s s i o n i s m u s e r f u h r eine W i e d e r e n t d e c k u n g und viele K ü n s t l e r n a h m e n dies z u m Anlass, um zu dieser einfachsten Technik der Bildproduktion zur ü c k z u k e h r e n . R i c h a r d B o s m a n ( g e b . 1944) w a r e i n e r v o n v i e l e n , u n d s e i n Man Overboard [ W l ] i s t e i n k l a s s i s c h e s B e i s p i e l d a f ü r , w i e m a n d e n Z e i t g e i s t n i c h t ü b e r l e b t . H a u p t s ä c h l i c h a u f g r u n d des neuen Interesses am d e u t s c h e n E x p r e s s i o n i s m u s zielte er darauf ab, die E m p f i n d s a m k e i t v e r b u n d e n m i t der Technik des H o l z s c h n i t t s zu parodieren: Er schuf eine Arbeit, die zwei J a h r z e h n t e s p ä t e r w e n i g B e d e u t u n g j e n seits der als bloßes Z e i t d o k u m e n t besitzt. Ihr b e w u s s t e r P r i m i t i v i s m u s u n d die g r o b e B e a r b e i t u n g k o n n t e n n u r die Ebene d e s K l i s c h e e s e r r e i c h e n , die e r d o c h z u v e r s p o t t e n s u c h t e . V i j a C e l m i n s , C h r i s t i a n e B a u m g a r t n e r u n d F r a n z G e r t s c h ( g e b . 1930; v g l . S . 84, A b b . 7 ) h a b e n g e z e i g t , d a s s d e r H o l z s c h n i t t n i c h t z w i n g e n d e i n I n s t r u m e n t z u r D a r s t e l l u n g f i e b r i g e r S e e l e n z u s t ä n d e ist, s o n d e r n - K e n n e r v o n D ü r e r s W e r k w i s s e n dies - von Präzision, Feinheit und Ausgeglichenheit. Diese M e r k m a l e w e r d e n mit d e m Werk zweier Künstler assoziiert, deren Beitrag für die letzten f ü n f z i g J a h r e d e r D r u c k g r a f i k h e r a u s r a g e n d ist: R i c h a r d H a m i l t o n (geb. 1922) u n d B r i c e M a r d e n ( g e b . 1938). Z w e i A r b e i t e n k o m m e n e i n e m d a b e i i n d e n S i n n , die auf d e n e r s t e n

Blick diametral entgegengesetzt erscheinen:

Meninas ( 1 9 7 3 ;

2)

Abb.

und

Brice

Mardens

Cold Mountain Series,

Hamiltons

Picasso's

Zen S t u d y 2 [ 1 9 9 1 ;

A b b . 3). E b e n s o w i e d e r B o s m a n - D r u c k ist H a m i l t o n s D r u c k g r a f i k e i n e P a r o d i e , d o c h w i e v i e l s u b t i l e r sie d o c h ist. S e i n B i l d b e s c h ä f t i g t s i c h m i t D i e g o V e l ä z q u e z ' ( 1 5 9 9 - 1 6 6 0 ) b e r ü h m t e m G e m ä l d e der spanischen königlichen Familie aus der Sicht Picassos, der

1 Georg Baselitz Weiblicher Akt

auf

Küchenstuhl.

Linolschnitt auf Papier 202 x 137 c m Auflage 7

1977-1979

ebenfalls eine Serie von Arbeiten zu d i e s e m T h e m a anfertigte. H a m i l t o n produziert keine N a c h e m p f i n d u n g Picassos, sondern entwickelt seine Arbeit in den verschiedenen Stilen

P i c a s s o s . A n s t e l l e v o n V e l ä z q u e z ' Las Meninas s t e h t

Picasso, ein k o m m u -

nistisches Ehrenabzeichen tragend, an der Staffelei. Zu seiner Linken, anstelle der Infantin, des Höflings und des Zwergs, lässt H a m i l t o n Figuren aus Picassos Gemälde auftreten, quasi seine eigene »Familie« oder seinen »Hof«. Jede arbeitet er in ihrem eigenen Stil aus. Rosa Periode, Analytischer K u b i s m u s , Neoklassik und der postkubistische Stil aus den späten 1930er-Jahren gehören zu den a u s g e w ä h l t e n Stilen; z u d e m f i n d e t s i c h d e r g e i s t r e i c h e T a u s c h von H u n d g e g e n Stier. I n d e m s i c h i m H i n t e r g r u n d b e f i n d l i c h e n S p i e g e l s i n d nicht d e r König u n d die K ö n i g i n von S p a n i e n , s o n d e r n R i c h a r d H a m i l t o n u n d s e i n e Frau, Rita D o n a g h , z u s e h e n . W ä h r e n d m a n i n Las Meninas V e l ä z q u e z b e i m M a l e n d e s K ö n i g s u n d d e r K ö n i g i n i m B e i s e i n d e r I n f a n tin und der königlichen M e n a g e r i e sieht, w i r d Picasso b e i m P o r t r ä t i e r e n von H a m i l t o n und Donagh dargestellt. H a m i l t o n s H o m m a g e besteht aus einer Fantasie von Picasso, die i h m , i n d e m e r sein P o r t r ä t m a l t , A n e r k e n n u n g zollt. E r s c h u f ein M e i s t e r w e r k an konzeptioneller Klarheit. Mit seiner H o m m a g e an Veläzquez hatte Picasso ebenfalls d e n g l e i c h e n K a m p f bei d e r B e a r b e i t u n g vieler V a r i a t i o n e n von

Las Meninas

geführt. I n d e m er dieses Motiv w ä h l t e , ehrte H a m i l t o n beide Meister. Die V e r b i n d u n g von T h e m a und Stil gab d e m W e r k seine konzept i onel l e Dichte. Die v e r d i c h t e t e K o n z e p t i o n a l l e i n m a c h t d i e s e s W e r k n i c h t z u e i n e r b e s o n d e r e n D r u c k g r a f i k . E s ist v i e l m e h r d i e A r t u n d W e i s e , i n d e r e s g e d r u c k t w u r d e . H a m i l t o n s u c h t e f ü r die Z u s a m m e n a r b e i t d e n M e i s t e r d r u c k e r A l d o C r o m m e l y n c k aus. C r o m m e l y n c k h a t t e a l l e R a d i e r u n g e n H a m i l t o n s v o n d e r 3 4 7 - S e r i e a n g e d r u c k t , e r ist einer der besten Techniker hinsichtlich der Vorbereitung und des Drucks von Aquat i n t a r a d i e r u n g e n . Die fein a b g e s t i m m t e n G r a u - und S c h w a r z t ö n e sind das Resultat e i n e r p e r f e k t e n Z u s a m m e n a r b e i t v o n z w e i a n s p r u c h s v o l l e n M e n s c h e n . Die D e l i k a t heit d e r A q u a t i n t a ä t z u n g , die w i e e i n e f e i n e S t r ö m u n g e r s c h e i n t , ist m e i s t e r h a f t . D u r c h seine W a h l von C r o m m e l y n c k als D r u c k e r zeigt H a m i l t o n seine V e r e h r u n g für Pablo Picasso. Brice M a r d e n s Werk, w e l c h e s ebenfalls A q u a t i n t e n umfasst, entwickelt eine andere Ä s t h e t i k . Eine S e r i e v e r s c h r ä n k t e r L i n i e n - zu B e g i n n s c h e i n b a r i n h a l t s l o s - ist ein faszinierendes Bild von feinen v a r i i e r e n d e n Schlingen, das a u g e n b l i c k l i c h den persönlichen

Inhalt, ja

die

Klarheit

Mardens sichtbar macht.

Die

Cold Mountain-

Druckgrafiken wurden nach d e m berühmten chinesischen Poeten der Tang-Dynastie Kalter Berg benannt. Seine Gedichte evozieren bergige Landschaften mit wirbelnden Strömen, Teppichen wilder B l u m e n , tosenden Wasserfällen, widerhallenden S c h l u c h t e n und z w i t s c h e r n d e n Vögeln, in d e n e n er vor d e m kaiserlichen Hof Zuflucht suchte. Auf seine U m g e b u n g w i e ein Echo a n t w o r t e n d , w a r Kalter Berg ein intuitiver Poet. M a r d e n s e i g e n e r Z u g a n g zur N a t u r ä h n e l t d i e s e m . Er stellt nicht N a t u r dar, sondern entwickelt seine eigenen intuitiven A n t w o r t e n auf ihre R h y t h m e n und Kadenzen,

2 Richard Hamilton Picasso's Menmas.

1973

Hartgrund . Weichgrund- und punktierte Radierung, Pinselätzung und Aussprengverfahren mit Aquatinta, Gravüre, Kaltnadel und Polierung auf Papier 57x49 cm Auflage 120

die Hitze oder die Kälte, die G e r ä u s c h e und F o r m e n . W ä h r e n d er seine A r b e i t e n erstellt, schwebt er in einem Zustand der Kontrolle und Anarchie. Damals begann M a r d e n die ihn faszinierende c h i n e s i s c h e Kalligrafie in sein W e r k zu integrieren. D i e Cold M o u n f a / n - B l ä t t e r b a s i e r e n a u f d e n F o r m e n v e r t i k a l e r k a l l i g r a f i s c h e r R e i m paare, die M a r d e n g r a d u e l l v e r ä n d e r t , o h n e d a s s sie die F o r m d e r o r i g i n ä r e n Gitter verlieren. M a r d e n e n t w i c k e l t e seine eigene V e r f a h r e n s w e i s e für die E r s t e l l u n g dieser F o r m e n , i n d e m e r f e i n e Z w e i g e v e r w e n d e t e . G l e i c h z e i t i g ist i n M a r d e n s D r u c k g r a f i k e n e b e n s o viel k o n z e p t i o n e l l e P r ä g n a n z w i e bei H a m i l t o n z u s e h e n . W ä h r e n d H a m i l t o n die v i e l f ä l t i g e n Stile von Picasso v e r w e n d e t e , u m seine H o m m a g e a n d e n g r o ß e n Meister zu formulieren, verwendet Marden chinesische Kalligrafie und Intuition. Um einem chinesischen Naturpoeten seine Ehrerbietung zu erweisen, verwendet er passend dazu Werkzeuge aus der Natur. Die u n t e r s c h i e d l i c h e Qualität z w i s c h e n H a m i l t o n s und M a r d e n s A r b e i t e n e i n e r s e i t s s o w i e e i n e m K ü n s t l e r w i e b e i s p i e l s w e i s e G e o r g e S h a w ( g e b . 1966) a n d e r e r s e i t s , d e r w e n i g E r f a h r u n g m i t D r u c k v e r f a h r e n b e s i t z t , ist s o f o r t o f f e n k u n d i g . S h a w s W e i c h g r u n d r a d i e r u n g e n - w i e fein sie a u c h w i r k e n - s i n d nicht m e h r a l s Z e i c h n u n g e n , die als R a d i e r u n g e n u m g e s e t z t w u r d e n . Bei der H e r s t e l l u n g e i n e r W e i c h g r u n d r a d i e r u n g zeichnet der K ü n s t l e r lediglich auf ein Papier, w e l c h e s ü b e r e i n e r Platte a u s W a c h s

3 Brice Marden Cold Mountain Series. Zen Study 2.

1991

( Z u c k e r t u s c h e - ) A u s s p r e n g v e r f a h r e n und A q u a t i n t a auf Papier 53x69 cm A u f l o g e 35

III Qualität in dor D r u c k g r a f i k 67

liegt. Der D r u c k des Stifts auf d e m Papier h i n t e r l ä s s t seine S p u r e n im Wachs. Es gibt s o m i t w e n i g U n t e r s c h i e d e z w i s c h e n d e n F ä h i g k e i t e n , d e r e r e s b e d a r f , u m eine D r u c k g r a f i k b a s i e r e n d auf e i n e r W e i c h g r u n d r a d i e r u n g o d e r einer Z e i c h n u n g z u e r s t e l l e n . D e r einzige G r u n d f ü r s o l c h eine A r b e i t s w e i s e - es sei d e n n , d e r K ü n s t l e r m ö c h t e e i n e b e s t i m m t e W i r k u n g e r z i e l e n - ist d a s A n l i e g e n , e i n M u l t i p l e a n s t e l l e einer einzigartigen Zeichnung herstellen zu wollen. Während Hamilton und Marden w i s s e n , w i e sie die C h a r a k t e r i s t i k a des von i h n e n g e w ä h l t e n M e d i u m s a u s s c h ö p f e n , zeigt S h a w n u r w e n i g Interesse f ü r die E r k u n d u n g d e r M ö g l i c h k e i t e n . W a s e r tut, m a c h t e r g u t , d o c h e s ist l i m i t i e r t . F ü r e i n e n g r o ß e n G r a f i k e r ist die N e u g i e r a n d e r E r k u n d u n g d e s M e d i u m s , i n d e m e r seine M ö g l i c h k e i t e n s o w e i t w i e m ö g l i c h a u s s c h ö p f t , c h a r a k t e r i s t i s c h . E r o d e r sie wird begreifen, dass m a n nicht lediglich ein multiples Bild herstellt, s o n d e r n dass es die M ö g l i c h k e i t gibt, mit d e m M e d i u m e t w a s E i n z i g a r t i g e s zu realisieren. Das bedeutet also ein Bild, w e l c h e s auf keine a n d e r e Weise hergestellt w e r d e n » k a n n « . A u s d i e s e m G r u n d e sind etwa Francis B a c o n s D r u c k g r a f i k e n w e r t l o s . Von Fotografien s e i n e r M a l e r e i e n hergestellt, sind sie einfach pure, k o m m e r z i e l l e R e p r o d u k tionen. I n d e m d e r H e r s t e l l e r sie in l i m i t i e r t e n A u f l a g e n veröffentlicht, k a n n er den P r e i s h o c h t r e i b e n . D e r K ü n s t l e r hat bei d e r H e r s t e l l u n g k e i n e n E i n f l u s s , a u ß e r d a s s e r d a s B l a t t s i g n i e r t . V e r g l i c h e n m i t d e r A r b e i t v o n T e r r y W i n t e r s ( g e b . 1949] i s t d e r Unterschied in der Qualität sofort ersichtlich. Schon zu Beginn seiner Karriere sah W i n t e r s d a s P o t e n z i a l d e r v i e l f ä l t i g e n S t r u k t u r e n , die die L i t h o g r a f i e e r m ö g l i c h t . Er z e i c h n e t e

Double Standard ( 1 9 8 4 )

mit

einer öligen,

schwarzen

Lithografiekreide.

Indem er ihre Dichte variierte, erzeugte er unterschiedliche Intensitätsgrade von S c h w a r z . Bei d e r H e r s t e l l u n g von L i t h o g r a f i e n skizzierte W i n t e r s z u n ä c h s t auf Papier, um das Bild dann mithilfe von L ö s u n g s m i t t e l n oder Schablonen in Stein oder Alub e z i e h u n g s w e i s e Zinkplatten zu t r a n s f e r i e r e n . Er zeichnete s o l a n g e auf d e m Stein o d e r d e r Platte, bis er mit d e m Bild z u f r i e d e n war. Dieser Prozess u n t e r s c h e i d e t sich von d e m v o n M a t i s s e f a v o r i s i e r t e n l i t h o g r a f i s c h e n U m d r u c k v e r f a h r e n , bei d e r ein a u f Papier g e z e i c h n e t e s , fertiges Bild auf eine S t e i n p l a t t e t r a n s f e r i e r t w i r d . Eine d u r c h U m d r u c k v e r f a h r e n erstellte Lithografie erscheint flach, w ä h r e n d Winters' Oberflächen eine m a t e r i e l l e Präsenz innehaben. Die A u s d r u c k s m ö g l i c h k e i t e n , die ein K ü n s t l e r i n d e r L i t h o g r a f i e p r o d u z i e r e n k a n n , sind b e t r ä c h t l i c h : Die O b e r f l ä c h e k a n n reich u n d w a c h s a r t i g , d ü n n u n d fluid o d e r t r o c k e n u n d v e r k r u s t e t s e i n . D i e L i t h o g r a f i e n v o n H o w a r d H o d g k i n ( g e b . 1932) e t w a b e s i t z e n e i n e v o l l s t ä n d i g a n d e r e G r i f f i g k e i t a l s d i e v o n W i n t e r s ( A b b . 4). I n d e m e r für seine Formen lithografische Tusche sowie Handkolorierungen verwendet, haben seine Druckgrafiken Ähnlichkeiten mit Malereien. Seine Bilder rufen angestaute M o m e n t e und Emotionen hervor und haben ihren eigenen Stil gestischer Kunst. Jede G e s t e ist d a b e i w o h l ü b e r l e g t . U m z u g e w ä h r l e i s t e n , d a s s s i e » u n e m o t i o n a l « a u f g e t r a g e n w e r d e n , f ü h r t ein A s s i s t e n t die H a n d k o l o r i e r u n g e n g e m ä ß H o d g k i n s A n w e i s u n -

gen aus, beinahe m e c h a n i s c h , o h n e dabei j e d o c h die individuelle Note zu verlieren. Eine D r u c k g r a f i k , die m i t h i l f e d e r traditionellen M e t h o d e n w i e Lithografie, Tief- oder H o c h d r u c k h e r g e s t e l l t w u r d e , ist e i n p h y s i s c h e s O b j e k t . W e n n sie k e i n e k ö r p e r l i c h e P r ä s e n z b e s i t z t , ist s i e m ö g l i c h e r w e i s e n i c h t v o n h o h e r Q u a l i t ä t . E i n S i e b d r u c k o d e r ein digitaler D r u c k hat eine Flachheit, der den s t a r k e n A u s d r u c k von Materialität verneint. E s m ü s s e n a n d e r e K r i t e r i e n wie die K l a r h e i t des D r u c k s h e r a n g e z o g e n w e r den, um ihre Qualität zu bewerten. Der Siebdruck kann so nah wie m ö g l i c h an eine Reproduktion heranreichen, um gleichzeitig seine verbleibenden Grenzen zu zeigen. Siebdrucke können fotografische Bilder mit per Hand ausgeschnittenen Schablon e n k o m b i n i e r e n . R o b e r t R a u s c h e n b e r g ( g e b . 1925) h a t h ä u f i g b e i d e s m i t e i n a n d e r verknüpft.

Die

Demoiselles

d'Avignon

vues

de

dernere

(1999)

von

Patrick

Caulfield

(1936-2005) sind h i n g e g e n ein g u t e s Beispiel für einen relativ e i n f a c h e n S i e b d r u c k . Der Druck w u r d e in Stufen aufgebaut, jede Farbe wurde getrennt gedruckt, indem die a n d e r e n B e r e i c h e d e r F l ä c h e a b g e d e c k t u n d nicht b e d r u c k t w u r d e n . C a u l f i e l d m a g diesen D r u c k nicht selbst hergestellt haben, doch er verstand es perfekt, die M ö g l i c h k e i l e n des M e d i u m s a u s z u n u t z e n : die Fähigkeit e i n e r r e i c h e n , e i n h e i t l i c h e n F a r b g e b u n g , klare lineare Exaktheit und flache Oberflächen, die m e n s c h l i c h e Expressivität v e r m e i d e n d . Seine D r u c k e sind keine R e p r o d u k t i o n e n von Malereien, s o n d e r n Bilder, die a u s d r ü c k l i c h für d e n D r u c k g e m a c h t w u r d e n . W ä h r e n d die Qualität von C a u l f i e l d s D r u c k g r a f i k e n auf i h r e r Einfachheit b a s i e r e n , k a n n e i n S i e b d r u c k a u c h h o c h k o m p l e x s e i n . R i c h a r d H a m i l t o n s Release (1972) f o r d e r t e a c h t z e h n P r ü f s t u f e n , u m d a s B i l d z u k o m p l e t t i e r e n . D e r S i e b d r u c k ist ein d u r c h u n d d u r c h additiver Prozess, m i t d e m Ziel, die Essenz u n d die K l a r h e i t e i n e s B i l d e s zu erhalten. Der Druckprozess m u s s sorgfältig im Vorfeld geplant werden. Viele K ü n s t l e r h a b e n den S i e b d r u c k f ü r die I n t e g r a t i o n von f o t o g r a f i s c h e n B i l d e r n a u s geschöpft. Fotogravüre w i r d ebenfalls für diesen Z w e c k v e r w e n d e t , hat j e d o c h eine ganz unterschiedliche Qualität. Per Siebdruck hergestellte Fotografien haben einen w e i c h e n , e h e r k o m m e r z i e l l e n Look; die F o t o g r a v ü r e p r o d u z i e r t i n i h r e m A b l a u f ein t e x t u r i e r t e s , d u r c h s c h e i n e n d e s E r g e b n i s . Sie s t a t t e t d a s B i l d m i t Tiefe a u s . Die Cartographic Series ( 2 0 0 0 ; A b b . 5 ) v o n

Olafur Eliasson

( g e b . 1967)

haben

eine

punkt-

g e n a u e Schärfe, die die m i l i t ä r i s c h e n S a t e l l i t e n a u f n a h m e n d e r i s l ä n d i s c h e n L a n d schaft vollständig wiedergibt. Allerdings sind diese Drucke keine direkten Abschriften. E l i a s s o n m a n i p u l i e r t e sie d i g i t a l u n d e r m ö g l i c h t e d e n W e i ß - u n d G r a u t ö n e n vorsichtig, ihre Plausibilität zu reduzieren und ihr abstraktes Erscheinungsbild zu v e r s t ä r k e n . D u r c h die V e r w e n d u n g von F o t o g r a v ü r e stattete e r sie m i t e i n e m H a u c h von Körperlichkeit aus. In den letzten J a h r z e h n t e n h a b e n K ü n s t l e r oft, e r m u t i g t d u r c h die m i t i h n e n z u s a m m e n a r b e i t e n d e n D r u c k e r , die Grenzen d e r D r u c k g r a f i k e r w e i t e r t . Der D r u c k e r K e n n e t h Tyler, der mit G e m i n i GEL z u s a m m e n a r b e i t e t e und d a n n seine eigene W e r k statt gründete, w a r bekannt für seine Erfindungsgabe.

Eine Grafik k a n n jetzt von e i n e m digitalen Bild im I r i s - P r i n t - V e r f a h r e n hergestellt werden. Künstler kombinieren Drucktechniken, um unterschiedliche Texturen zu erh a l t e n . Roy L i c h t e n s t e i n (1923-1997) n u t z t e d i e s e M ö g l i c h k e i t b e i s p i e l s w e i s e i n seiner Arbeit

Painting i n

Cold Frame (1984),

die

Holzschnitt, Siebdruck,

Lithografie

und Collage kombinierte. In m a n c h e n druckgrafischen Projekten denken Künstler jenseits der Konventionen:

Untitled (Netsl (2002) v o n

Rachel Whiteread

( g e b . 1963)

ist i n s i c h n i c h t d a s E r g e b n i s e i n e s D r u c k p r o z e s s e s , s o n d e r n e h e r d e r R e s t e i n e r D r u c k p l a t t e , n a c h d e m die Z w i s c h e n r ä u m e z w i s c h e n d e n g r a v i e r t e n L i n i e n i n e i n e m S ä u r e b a d a u f g e l ö s t w u r d e n . I n i h r e r S k u l p t u r ist W h i t e r e a d a m N e g a t i v r a u m i n t e r e s s i e r t u n d i n i h r e m D r u c k p r o j e k t bleibt sie d i e s e m A n l i e g e n t r e u . Die K u p f e r s t i c h p l a t t e ist d a s N e g a t i v z u i h r e m g e d r u c k t e n Bild. Die A b s t ä n d e z w i s c h e n d e n L i n i e n sind das Negativ dieser Linien. Whiteread zelebriert in einer äußerst originären Weise die U m k e h r u n g , die d e m D r u c k e n i n h ä r e n t ist. O b e s s i c h d a b e i u m M u l t i p l e s o d e r Originalgrafik h a n d e l t , bleibt fraglich, d o c h h i n s i c h t l i c h d e r Tatsache, dass sie in Druckgrafikausstellungen gezeigt und von D r u c k g r a f i k s a m m l e r n erstanden werden, zeigt, w i e erfolgreich W h i t e r e a d Fragen an das M e d i u m gestellt hat.

L Howard Hodgkin Moonlight.

1980

Lithografie auf Papier. Wasserfarbe und Gouache 112x141 cm Auflage 100

Die F r a g e n a c h d e r Q u a l i t ä t ist - w i e g e z e i g t w u r d e - m i t S c h w i e r i g k e i t e n v e r k n ü p f t , d o c h ist A n g e m e s s e n h e i t d e r k ü n s t l e r i s c h e n M i t t e l s c h l i e ß l i c h d e r S c h l ü s s e l dafür. W ä h r e n d m a n g e n e r e l l eine hohe Qualität in d e r P r o d u k t i o n e r w a r t e t , gibt es Fälle, in

welchen

diese

dem

Druckprojekt

nicht

angemessen

ist.

Die

Inflammatroy Essays

( 1 9 7 9 - 1 9 8 2 ) v o n J e n n y H ö l z e r ( g e b . 1950) b e i s p i e l s w e i s e w u r d e n i n e i n e m C o p y shop gedruckt, um Agitprop zu ähneln und um wie Flugblättern gleich in der Stadt verteilt zu w e r d e n . Eine Serie von w u n d e r s c h ö n g e d r u c k t e n B l ä t t e r n w ü r d e J e n n y H o l z e r s A n l i e g e n z u w i d e r l a u f e n . Eine A b g l e i c h u n g von Konzeption, M e d i e n w a h l und Druckqualität b e s t i m m e n also, ob eine Druckgrafik erfolgreich und von h o h e r Q u a l i t ä t ist.

5 Olafur Eliasson Cartographic Senes I.

2000

25 Fotogravüren auf Papier je 4 6 x 4 9 c m Auflage 16

III Qualität in dor D r u c k g r a f i k 71

Interview mit Alexander Dückers Die F r a g e n s t e l l t e W o l f r a m Völcker.

Was verstehen Sie ganz a l l g e m e i n unter »Qualität« in der Kunst?

M i r liegt d a r a n , z u n ä c h s t auf die h e u t e oft a n z u t r e f f e n d e Tendenz zu v e r w e i s e n , bein a h e alles u n d j e d e s als w i c h t i g e n A u s d r u c k d e r Zeit zu v e r s t e h e n , in d e r es e n t s t a n d e n ist. B i s z u e i n e m b e s t i m m t e n G r a d m a g m a n d i e s e r V o r s t e l l u n g j a a u c h e t w a s a b g e w i n n e n , a b e r p r o b l e m a t i s c h w i r d es, w e n n d a r a u s d e r S c h l u s s g e z o g e n w i r d , alles sei a u c h e r h a l t e n s - u n d a u f b e w a h r e n s w e r t , w e i l e s e b e n s y m p t o m a t i s c h f ü r s e i n e E n t s t e h u n g s z e i t sei. A m d e u t l i c h s t e n b e g e g n e t m a n d i e s e r A u f f a s s u n g i n d e r h e u t i g e n D e n k m a l p f l e g e , a b e r a u c h g e g e n ü b e r d e r b i l d e n d e n K u n s t w i r d sie, wie m i r scheint, z u n e h m e n d sichtbar. Diese Position, m i t d e r m a n es sich s e h r einfach m a c h t , k a n n ich k e i n e s f a l l s teilen. E i n m a l schon aus d e m vielleicht allzu schlicht erscheinenden, m i r als M u s e u m s m a n n aber am Herzen liegenden Grund, dass man z u m Aufbewahren bekanntlich a u c h O r t e b e n ö t i g t . S o d a n n a b e r , u n d d a s ist n a t ü r l i c h d a s e n t s c h e i d e n d e K r i t e r i u m , weil der Mensch als Kulturwesen regelrecht abdankt, w e n n er darauf verzichtet, M a ß s t ä b e zu setzen o d e r z u m i n d e s t a n z u s t r e b e n . U n d das heißt hier: u n t e r den H e r v o r b r i n g u n g e n d e r Zeit eine A u s w a h l e n t s p r e c h e n d ihrer B e d e u t u n g z u treffen. Um Maßstäbe zu gewinnen, bedarf es allerdings offenkundig gewisser Kenntnisse. M i r e r s c h e i n t es e i n l e u c h t e n d , Qualität d a n n f ü r g e g e b e n zu halten, w e n n ein K u n s t w e r k in h e r v o r r a g e n d e m Maß als eigenständig und u n v e r w e c h s e l b a r zu bezeichnen ist. Das v e r m a g m a n a b e r w o h l n u r d a n n z u k o n s t a t i e r e n , w e n n m a n s i c h , s i m p e l gesagt, a u c h a u s k e n n t auf d e m Feld, d e m das W e r k e n t s t a m m t . Eigenständigkeit und Neuartigkeit vermag man nur zu erkennen, wenn man z u m einen weiß, w i e die e n t s p r e c h e n d e n v o r a n g e h e n d e n W e r k e a u s s e h e n , und z u m a n d e ren einen Einblick in das zeitgenössische U m f e l d hat.

Was verstehen Sie unter einer Grafik?

Bekanntlich kann der Begriff »Grafik« s o w o h l eng als a u c h weit gefasst werden. Wird e r u m f a s s e n d v e r s t a n d e n , d a n n s i n d Z e i c h n u n g e n u n d D r u c k g r a f i k g e m e i n t . Ich h i n g e g e n beziehe ihn allein auf die D r u c k g r a f i k , setze ihn also von d e r Z e i c h n u n g ab. Z u r U n t e r s c h e i d u n g beider M e d i e n m ö c h t e ich a b e r n o c h eine B e m e r k u n g m a c h e n : Nicht selten w e r d e n Z e i c h n u n g e n als Originale etikettiert, und dabei schwingt mit, d a s s s i e O r i g i n a l e s e i e n i m G e g e n s a t z z u W e r k e n d e r G r a f i k . D a s ist n a t ü r l i c h , u m e s deutlich zu sagen, N o n s e n s , denn original, das heißt von nichts a n d e r e m hergeleit e t , s i n d a u c h d i e W e r k e d e r G r a f i k , d i e h i e r i n R e d e s t e h e n . G e m e i n t ist j a n i c h t d i e s o g e n a n n t e R e p r o d u k t i o n s g r a f i k , die i n f r ü h e r e n J a h r h u n d e r t e n , als e s n o c h n i c h t die f o t o g r a f i s c h e n M e t h o d e n der Vervielfältigung gab, d e r W i e d e r g a b e von G e m ä l d e n diente. Und k e i n e s w e g s sind a u c h die heute a n z u t r e f f e n d e n P r a k t i k e n eines d e r artigen Reproduzierens g e m e i n t . Der a n g e m e s s e n e Begriff, um eine Z e i c h n u n g von e i n e r G r a f i k z u u n t e r s c h e i d e n , ist v i e l m e h r d e r T e r m i n u s » U n i k a t « , d e n n e i n e Z e i c h n u n g g i b t e s i n d e r Tat n u r e i n e i n z i g e s M a l . O r i g i n a l a b e r s i n d b e i d e F o r m e n d e r Kunst auf Papier. A u c h eine Grafik, e t w a eine L i t h o g r a f i e von H e n r i T o u l o u s e - L a u t r e c ( g e b . 1 8 6 4 - 1 9 0 1 ) o d e r e i n H o l z s c h n i t t v o n G e o r g B a s e l i t z ( g e b . 1938), ist e i n O r i g i n a l , aber eines, das es m e h r f a c h gibt. So wie auch von einer B r o n z e s k u l p t u r in der Regel mehrere Exemplare angefertigt werden.

Gibt es a l l g e m e i n g ü l t i g e Q u a l i t ä t s m e r k m a l e in der Grafik?

I m P r i n z i p g i b t e s b e i d e r G r a f i k k e i n e r l e i a n d e r e K r i t e r i e n a l s bei s o n s t i g e n K u n s t w e r k e n . A l l e r d i n g s s p i e l e n bei d e r Grafik die t e c h n i s c h e n V e r f a h r e n z u r H e r s t e l l u n g e i n e s W e r k e s e i n e g r ö ß e r e R o l l e a l s b e i s p i e l s w e i s e bei d e r Z e i c h n u n g . U n d d a d i e ä s t h e t i s c h ü b e r z e u g e n d e V i s u a l i s i e r u n g d e r Bildidee s i c h e r ebenfalls als ein Qualit ä t s m e r k m a l z u g e l t e n h a t , ist d i e B e h e r r s c h u n g d e r t e c h n i s c h e n M i t t e l s e l b s t v e r s t ä n d l i c h a u c h bei d e r Grafik a l s eine V o r a u s s e t z u n g f ü r die Güte e i n e s W e r k e s a n z u s e h e n . A l l e r d i n g s ist die t e c h n i s c h e L e i s t u n g n u r i m K o n t e x t m i t d e r k ü n s t l e r i s c h e n A b s i c h t z u b e w e r t e n . F ü r sich allein g e n o m m e n k a n n die h a n d w e r k l i c h e B r a v o u r kein Gütesiegel sein.

Welches sind für Sie spezifische Qualitätsmerkmate der Grafik, die f ü r andere Medien so nicht gelten?

Zuvorderst m ö c h t e ich nicht von Q u a l i t ä t s m e r k m a l e n s p r e c h e n , s o n d e r n von bes t i m m t e n F o r m m ö g l i c h k e i t e n , die a l l e i n d e r Grafik e i g e n s i n d . Mit d e r Grafik - sei

e s d e r K u p f e r s t i c h , die R a d i e r u n g , d e r H o l z s c h n i t t , die L i t h o g r a f i e o d e r d e r Siebd r u c k - k ö n n e n F l ä c h e n s t r u k t u r e n e r z e u g t w e r d e n , die m a n in k e i n e m a n d e r e n M e d i u m a n t r i f f t . D a s s e l b e gilt f ü r die G e s t a l t d e r L i n i e n : f ü r ihre S c h ä r f e i m K u p f e r stich, ihre Feinheit und Fragilität in der R a d i e r u n g oder f ü r ihre Robustheit im Holzschnitt. Zuweilen kann m a n hinsichtlich des Charakters der Farben von e i n e m S p e z i f i k u m d e r G r a f i k s p r e c h e n , e t w a bei d e n L e u c h t f a r b e n , die n u r i m S i e b d r u c k , nicht aber in der Malerei oder der Zeichnung d e n k b a r sind. E i n e w e i t e r e F o r m m ö g l i c h k e i t , d i e a l l e i n d i e G r a f i k b e s i t z t , ist d e r S c h i c h t e n a u f b a u der Bildgestalt, der sich i m m e r dann einstellt, w e n n von m e h r e r e n Platten gedruckt w i r d . Das dient oft d e r A u s g e s t a l t u n g d e r F a r b g e b u n g , a b e r d a m i t k ö n n e n a u c h u n t e r s c h i e d l i c h e f o r m a l e E b e n e n v e r g e g e n w ä r t i g t w e r d e n , die e i n a n d e r d u r c h d r i n g e n und ü b e r l a g e r n . M a n k a n n aber a u c h v e r s c h i e d e n e Platten oder Holzstöcke, die ursprünglich gar nicht z u s a m m e n g e h ö r t haben, miteinander zu neuen Bildern k o m b i n i e r e n . B e i s p i e l e f ü r d i e s e V o r g e h e n s w e i s e f i n d e n s i c h h e u t e e t w a bei P a c o K n ö l l e r ( g e b . 1950) u n d b e i M a t t h i a s M a n s e n ( g e b . 1958). K n ö l l e r s p r i c h t i n d i e s e m Z u s a m menhang sehr anschaulich vom »Baukastenprinzip«. A l l das s i n d C h a r a k t e r i s t i k a , M ö g l i c h k e i t e n , Potenziale, die es in a n d e r e n B i l d g a t t u n gen nicht gibt. M a n w i r d also Grafiken, die diese Potenziale intensiv a u s s c h ö p f e n und augenscheinlich machen, sicher zunächst einmal mit einem besonderen Maß an Aufmerksamkeit und Zuneigung betrachten. Allerdings wird man auch das Wirks a m w e r d e n dieser Potenziale für sich g e n o m m e n nicht s c h o n für einen A u s w e i s von Q u a l i t ä t h a l t e n k ö n n e n . Die g e n a n n t e n F o r m m ö g l i c h k e i t e n b e r u h e n auf b e s t i m m t e n Verfahren, die einzelne K ü n s t l e r s e h r gut und andere w e n i g e r gut zu nutzen wissen. Aber m a n kann aus einer sehr guten oder sogar virtuosen Beherrschung einer grafischen Technik und der anderen Möglichkeiten des M e d i u m s noch nicht den Schluss z i e h e n , d a s s sie m i t N o t w e n d i g k e i t M e i s t e r w e r k e h e r v o r b r i n g e n m ü s s t e . Die T e c h n i k m u s s i m m e r die Dienerin d e r Bildidee bleiben. W e n n sich die V i r t u o s i t ä t n ä m l i c h v e r s e l b s t s t ä n d i g t , d a n n e n t s t e h e n oft s e h r p e i n l i c h e E r z e u g n i s s e . Die Technik e r s c h e i n t d a n n w i e ein e l a b o r i e r t e r , p r a c h t v o l l e r R a h m e n , d e r e i n m e d i o k r e s B i l d u m g i b t . M a n s o l l t e a l s o bei d e r G r a f i k n i c h t v o r r a n g i g n a c h der Handhabung der Technik fragen, so wie m a n auch einen Maler nicht deshalb besonders schätzt, weil er den Bildgrund so mustergültig anzulegen weiß. Radierung e n v o n R e m b r a n d t ( 1 6 0 6 - 1 6 6 9 ) , Goya ( 1 7 4 6 - 1 8 2 8 ) o d e r P i c a s s o (1881-1973) w e r d e n zwar zu Recht auch w e g e n des U m g a n g s mit d e m grafischen Verfahren bewundert, aber es sind die im Gedächtnis h a f t e n d e n Bildideen u n d deren U m s e t z u n g in gültige F o r m , die diese K ü n s t l e r z u g r o ß e n M e i s t e r n g e m a c h t h a b e n . Der ü b e r l e g e n e Einsatz der T e c h n i k u n d d e r F o r m p o t e n z i a l e , die i m m e r a u c h A u s d r u c k s p o t e n z i a l e sind, k a n n nicht als P r i m ä r l e i s t u n g v e r s t a n d e n w e r d e n . W e n n sie a b e r von K ü n s t l e r n g e n u t z t w e r d e n , die ü b e r innovative B i l d i d e e n v e r f ü g e n , d a n n k ö n n e n a u c h W e r k e v o n w a h r e r E i n z i g a r t i g k e i t e n t s t e h e n . E s ist d e s h a l b - d a s m ö c h t e

ich d o c h h i e r e r w ä h n e n - n u r a l s S k a n d a l zu b e z e i c h n e n , w e n n die L o n d o n e r Frieze A r t , w i e j ü n g s t g e s c h e h e n , die G r a f i k von d e r M e s s e a u s s c h l i e ß t . S o l c h e i n e E n t s c h e i d u n g ist n i c h t n u r h ä n d l e r i s c h k u r z s i c h t i g , w e n n m a n a n e i n j u n g e s P u b l i k u m u n d a n d i e h ä u f i g n o c h m ä ß i g e n P r e i s e f ü r G r a f i k e n d e n k t , s i e ist a u c h v o n k e i n e r l e i Sachkenntnis getrübt.

Welches K r i t e r i u m ist f ü r Sie persönlich f ü r die Qualität einer Grafik am wichtigsten?

E s fällt m i r s c h w e r , ein K r i t e r i u m z u n e n n e n , das f ü r m i c h P r i o r i t ä t bei d e r B e w e r t u n g hätte. W i e g e s a g t , s e h e ich die E i g e n s t ä n d i g k e i t u n d die U n v e r w e c h s e l b a r k e i t eines W e r k e s als die w e s e n t l i c h e n Q u a l i t ä t s m e r k m a l e an, u n d das gilt f ü r jede k ü n s t l e r i s c h e G a t t u n g . Ich w i l l a b e r n i c h t v e r h e h l e n , d a s s e s m i r a u ß e r o r d e n t l i c h e Freude bereitet, w e n n ich die zuvor a n g e d e u t e t e n Potenziale v e r w i r k l i c h t s e h e oder e t w a d i e e i g e n t ü m l i c h e n F l ä c h e n s t r u k t u r e n e n t d e c k e , d i e s i c h bei d e r L i t h o g r a f i e einstellen können. Aber diese Freude kann nun e i n m a l allein nicht ausreichend sein f ü r ein positives U r t e i l ü b e r ein g r a f i s c h e s W e r k , s o n d e r n sie steht u n t e r d e m Vorbehalt der übrigen, entscheidenden Gesichtspunkte. D e n n e s g i b t j a o h n e Z w e i f e l ü b e r r a g e n d e G r a f i k e n , bei d e n e n d i e d e m M e d i u m i n n e w o h n e n d e n b e s o n d e r e n Potenziale von keinerlei oder von n u r sehr g e r i n g e m Belang sind.

M a n d e n k e e t w a a n d i e F o l g e Graphic Tectonicvon J o s e f A l b e r s ( 1 8 8 8 - 1 9 7 6 )

a u s d e m J a h r 1942 (Abb. 1 , 2). I n d i e s e n a c h t S c h w a r z - W e i ß - L i t h o g r a f i e n w i r d e t w a der in der Grafik mögliche Schichtenaufbau überhaupt nicht genutzt, w e i l er nichts b e i g e t r a g e n hätte z u r V e r a n s c h a u l i c h u n g des R a u m e s , d e n A l b e r s hier auf ganz e r staunliche Weise allein mit Horizontalen und Vertikalen zu evozieren versteht. Auch die g e n a n n t e F l ä c h e n s t r u k t u r hat e r g e w i s s b e w u s s t v e r m i e d e n , d e n n d e r e n U n r e g e l m ä ß i g k e i t hätte die K l a r h e i t der B i l d g e s t a l t s e h r e m p f i n d l i c h g e s t ö r t . A n d e r e r s e i t s k a m e n diese Unregelmäßigkeiten der lithografisch hervorgebrachten Bildflächen e i n e m K ü n s t l e r w i e W i l l e m de K o o n i n g (1904-1997) o f f e n b a r ideal e n t g e g e n , da sie sich seiner aus d e m Abstrakten Expressionismus herleitenden Bildvorstellung w u n derbar einpassten. Das s i n d n u r zwei B e i s p i e l e f ü r die Tatsache, d a s s die K r i t e r i e n f ü r die Qualität sich i m m e r an der künstlerischen Haltung, an den künstlerischen Absichten zu orient i e r e n h a b e n . Das heißt a b e r a u c h , d a s s die K r i t e r i e n n i c h t s t e t s d i e s e l b e n s e i n k ö n nen, s o n d e r n sich oft e r h e b l i c h v o n e i n a n d e r u n t e r s c h e i d e n , w e i l sie f ü r j e d e s W e r k oder jede W e r k g r u p p e neu zu eruieren und zu entwickeln sind.

Welchen Stellenwert messen Sie Ihrem persönlichen Geschmack bei der Beurteilung von Qualität zu?

Dazu e r l a u b e ich m i r , auf die A r t h i n z u w e i s e n , in d e r ich m o d e r n e Grafik f ü r das Berliner K u p f e r s t i c h k a b i n e l l g e s a m m e l t habe. Ob das Pop-Art oder M i n i m a l Art w a r , u m zwei w e i t v o n e i n a n d e r e n t f e r n t e K u n s t h a l t u n g e n z u n e n n e n , ich habe beide, w i e m i r scheint, in b e s o n d e r s intensiver Weise g e s a m m e l t , z u m a l beide auch eine s t a r k e A f f i n i t ä t z u r Grafik b e s a ß e n . Ich k ö n n t e a u c h n i c h t s a g e n , d a s s m i r eine d e r b e i d e n R i c h t u n g e n m e h r liegt a l s die a n d e r e . A u c h h i e r gilt, d a s s m a n sich i n die B e w e g g r ü n d e , i n die B i l d v o r s t e l l u n g e n d e r K ü n s t l e r h i n e i n v e r s e t z e n sollte, u m d a n n

1 Josef Albers Ascension, aus der Folge Graphic Tectonic. 1942 Lithografie 62x49 cm Auflage 30

die e i n z e l n e n W e r k e a n i h r e n i n n e r e n V o r a u s s e t z u n g e n z u m e s s e n . P e r s ö n l i c h e Vorl i e b e n h a b e ich v i e l l e i c h t a b e r a u c h i n s t i n k t i v z u r ü c k g e d r ä n g t - bis sie s o z u s a g e n nicht m e h r vorhanden w a r e n -, w e i l eine große öffentliche S a m m l u n g wie das Berliner Kabinett g e r a d e z u von N a t u r aus ein m ö g l i c h s t breites S p e k t r u m an Grafik zu besitzen und in A u s s t e l l u n g e n und d e m S t u d i e n s a a l v o r z u f ü h r e n hat. Das Kabinett ist a u c h i m B e r e i c h d e r ä l t e r e n K u n s t n i e m a l s e i n S p e z i a l m u s e u m i n d e m S i n n e g e w e s e n , dass es sich auf b e s t i m m t e Richtungen, Epochen oder K u n s t l a n d s c h a f t e n b e s c h r ä n k t hätte, etwa - um n u r ein Beispiel h e r a u s z u g r e i f e n - auf die d e u t s c h e n o d e r die i t a l i e n i s c h e n Grafiker, die i m m e r h i n s o große U n t e r s c h i e d e a u f w e i s e n , d a s s m a n ihre H e r k u n f t in den a l l e r m e i s t e n Fällen sofort e r k e n n t . Diese Tradition oder, besser gesagt, diesen A n s p r u c h m ö g l i c h s t g r o ß e r Vielfalt galt es m i t h i n a u c h für die jüngsten Epochen aufrechtzuerhalten und auf N o r d a m e r i k a auszudehnen. In m e i n e m F a l l w a r u n d ist d e r p e r s ö n l i c h e G e s c h m a c k a l s o , s o w e i t ich d a s e r k e n n e n k a n n , n i c h t von b e s o n d e r e m B e l a n g . Ein P r i v a t s a m m l e r a b e r w i r d w a h r s c h e i n l i c h ganz a n ders vorgehen.

2 Josef Albers Sanctuary, aus der Folge Graphic Tectonic, 1942 Lithografie 49x62 cm Auflage 30

III Qualität in der Druckgrafik

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3 BarneU Newman Carito II. aus der Folge 18 Cantos. 1963/64 Lilhograf.e 41 x 4 0 c m ; Bildgröße: 3 7 x 3 2 c m Auflage 18

f/ii

4 Barnott Newman Canto III. aus der Folge 18 Cantos. 1963/64 Lithografie 5 0 x 3 5 c m ; Bildgröße: 3 7 x 3 2 c m Auflage 18

III Qualität in der Druckgrafik

Woran erkennen Sie ein herausragendes Werk?

M i t d e n v o r a n g e h e n d e n B e m e r k u n g e n ist d i e F r a g e v i e l l e i c h t i n m a n c h e r H i n s i c h t s c h o n b e a n t w o r t e t , a b e r sie gibt m i r G e l e g e n h e i t , a n e i n e m w e i t e r e n B e i s p i e l die Wichtigkeit des Kontextes zu verdeutlichen, in d e m natürlich auch grafische Werke stehen. Zu den u n g e w ö h n l i c h s t e n und eindruckvollsten Grafikzyklen der letzten J a h r zehnte g e h ö r e n s i c h e r die

1 8 Cantosvon B a r n e t t N e w m a n 1 1 9 0 5 - 1 9 7 0 ) a u s d e n J a h -

r e n 1 9 6 3 / 6 4 (Abb. 3 , 4). A u f a l l e A s p e k t e d e r F o l g e k a n n m a n i n d i e s e m R a h m e n n i c h t eingehen, a b e r gewiss fällt j e d e m B e t r a c h t e r s c h n e l l auf, dass alle B i l d f l ä c h e n der a c h t z e h n F a r b l i t h o g r a f i e n j e w e i l s i d e n t i s c h groß sind, w ä h r e n d sich die F o r m a t e d e r P a p i e r b o g e n , auf d e n e n die B i l d e r e r s c h e i n e n , e r h e b l i c h v o n e i n a n d e r u n t e r s c h e i d e n . E r k l ä r b a r ist d a s , w e i l w o h l k e i n K ü n s t l e r s o i n t e n s i v ü b e r d i e T a t s a c h e r e f l e k t i e r t hat, d a s s b e i m D r u c k e n auf e i n e m P a p i e r b o g e n r i n g s u m die B i l d f l ä c h e R ä n d e r e n t stehen. Für N e w m a n , der sich zuvor w e n i g mit der Grafik beschäftigt und erst in einer persönlichen Krisensituation zu ihr gefunden hatte, bedeutete das eine ganz b e s o n d e r e H e r a u s f o r d e r u n g . I n d e r M a l e r e i v e r f o l g t e e r das Ziel, seine V e r t i k a l s t r e i fen so w i r k m ä c h t i g zu m a c h e n , d a s s s e i d e a l i t e r ü b e r die r e i n e n B i l d f l ä c h e n h i n a u s r e i c h e n , d a s s s i e d i e B i l d f l ä c h e n ü b e r s t r a h l e n (vgl. S . 27, A b b . 1). M i t d e n R ä n d e r n d e r L i t h o g r a f i e n hatte sich die B i l d f l ä c h e , die e s z u ü b e r s t r a h l e n galt, m i t h i n u m ein i r r i t i e r e n d e s E l e m e n t e r w e i t e r t . Die R ä n d e r e i n f a c h a b z u s c h n e i d e n , l e h n t e N e w m a n a b , d e n n d i e s sei e i n e L ö s u n g d e s P r o b l e m s » d u r c h V e r s t ü m m e l u n g « . S c h l i e ß l i c h fand e r eine d e m M e d i u m v o r z ü g l i c h e n t s p r e c h e n d e A n t w o r t , i n d e m e r die P a p i e r f o r m a t e je nach der Zahl, der Breite und der Position der Streifen sowie nach d e m Charakter und der Intensität der Farben variierte. E r k e n n e n k a n n m a n d i e s e s p e z i f i s c h e Q u a l i t ä t d e r Canlos a u c h d u r c h e i n e i n g e h e n des B e t r a c h t e n der Blätter. A b e r das Wissen u m den Z u s a m m e n h a n g mit N e w m a n s Malerei eröffnet der ästhetischen E r f a h r u n g eine zusätzliche D i m e n s i o n . Vergleichb a r ist d a s m i t d e m G e w i n n , d e r s i c h z u m B e i s p i e l a u c h bei A l b e r t o G i a c o m e t t i (1901-1966) e i n s t e l l t , w e n n sich die pure A n s c h a u u n g m i t d e m W i s s e n u m s e i n g e s t a l t e r i s c h e s K o n z e p t v e r b i n d e t . Seine s c h m a l e n , h o c h a u f r a g e n d e n F i g u r e n - die s i c h bei i h m n i c h t n u r i n S k u l p t u r e n , s o n d e r n a u c h i n G r a f i k e n f i n d e n - w e r d e n s i c h w o h l e h e r erschließen, w e n n m a n weiß, dass e r nicht n u r die Figur als solche w i e d e r g e b e n w o l l t e , s o n d e r n a u c h die Distanz, die i n der r e a l e n Welt z w i s c h e n e i n e m B e t r a c h t e r und d e m von i h m ins Auge gefassten G e g e n ü b e r besteht.

Können Sie m i r anhand eines Beispiels von besonders hoher Qualität und anhand eines Werkes von geringer Qualität Ihre K r i t e r i e n und Ihren Ansatz e r l ä u t e r n ?

Beispiele für grafische Werke von besonders hoher Qualität sind in m e i n e n Augen, a b g e s e h e n v o n d e n b e r e i t s g e n a n n t e n , d i e R a d i e r u n g e n v o n A r n u l f R a i n e r ( g e b . 1929) u n d d i e H o l z s c h n i t t e v o n F r a n z G e r t s c h ( g e b . 1930). I n s e i n e r S e r i e d e r g r o ß f o r m a t i g e n Kreuze d e c k t R a i n e r d i e B i l d f l ä c h e e n t s p r e c h e n d s e i n e m K o n z e p t d e r » Z u m a l u n g e n « i m m e r w e i t e r z u m i t e i n e m G e s p i n s t f e i n s t e r r a d i e r t e r L i n i e n ( A b b . 5). I h r C h a r a k t e r , d e r s i c h u n v e r k e n n b a r d e r T e c h n i k d e r R a d i e r u n g v e r d a n k t , ist R a i n e r s V o r g e h e n adäquat, denn das Z u m a l e n versteht er als einen kontemplativen Akt, der d e m Bild z u m » a l l m ä h l i c h e n E i n g e h e n i n die Ruhe und U n s i c h t b a r k e i t « v e r h i l f t . D a r ü b e r hinaus zeigt jede dieser Radierungen eine neue, w e i t e r f o r t g e s c h r i t t e n e Stufe des Vorgangs, w ä h r e n d in seinen Malereien naturgemäß allein das Endergebnis des Zumalens sichtbar wird. Ein g a n z w e s e n t l i c h e r A s p e k t d e r m e i s t m o n u m e n t a l e n B l ä t t e r v o n G e r t s c h ist die M o n o c h r o m i e , die i n d i e s e r W e i s e e b e n f a l l s n u r m i t d e n M i t t e l n d e r Grafik z u e r z i e l e n ist ( A b b . 7). W e g e n d e s e i n h e i t l i c h e n F a r b b i l d e s w e r d e n d i e B l ä t t e r v o n e i n e r S p a n n u n g b e s t i m m t , die n i c h t laut i n E r s c h e i n u n g t r i t t , a b e r t r o t z d e m e i n z i g a r t i g ist. Bei G e r t s c h liegt d e m Motiv, sei es eine L a n d s c h a f t o d e r ein P o r t r ä t , s t e t s eine Fotog r a f i e z u g r u n d e , d e r e n H a u p t m e r k m a l n a t u r g e m ä ß die F l ü c h t i g k e i t ist. S o f o r t n a c h vollziehbar wird das etwa in der zufälligen und leicht sich v e r ä n d e r n d e n F o r m u n g von Haaren und vielleicht m e h r noch in der u n a u f h ö r l i c h e n B e w e g u n g eines W a s s e r laufs. Dieser Flüchtigkeit stellt sich das m o n o c h r o m e Farbbild j e d o c h entgegen. Die F a r b e löst d e n G e g e n s t a n d a u s d e r S p h ä r e u n s e r e r n o r m a l e n , a l l t ä g l i c h e n E r f a h rung heraus und verleiht d e m Motiv stattdessen den Charakter von Überzeitlichkeit u n d von Dauer. Die G r a f i k e n von G e r t s c h s i n d f ü r m i c h g r o ß a r t i g e Beispiele, w i e eine k ü n s t l e r i s c h e Idee z u r A n s c h a u u n g g e b r a c h t , w i e sie g e r a d e z u l e i b h a f t i g w e r d e n kann. Zu den Voraussetzungen gehört, dass Gertsch mit der Technik des Holzschnitts auf w a h r h a f t a t e m b e r a u b e n d e Weise zu v e r f a h r e n weiß, um die f o t o g r a f i s c h e Vorlage in ein g r a f i s c h e s Bild zu ü b e r s e t z e n . Das f ü r die A u s s a g e g r u n d l e g e n d e Sujet w i r d m i t h i l f e d e r T e c h n i k i n die g e w ü n s c h t e G e s t a l t t r a n s f o r m i e r t . Die t e c h n i s c h e B r a v o u r a b e r d r ä n g t sich n i e m a l s vor, sie w i r d nie z u m S e l b s t z w e c k . Genau dies a b e r scheint m i r - um a u c h auf die Frage nach e i n e m Beispiel für g e r i n g e Qualität zu a n t w o r t e n - d e r Fall zu sein bei d e m von v i e l e n so h o c h g e s c h ä t z t e n H o r s t J a n s s e n (1929-1995). Seinen r a d i e r t e n L a n d s c h a f t e n k a n n ich m a n c h e s M a l n o c h e t w a s a b g e w i n n e n , a b e r d a s L i n i e n g e k r ä u s e t s e i n e r B i l d n i s s e ist i n m e i n e n A u g e n zur blutleeren Manier geronnen, erscheint m i r selbstverliebt und einer falschen Geniepose geschuldet.

5 Arnulf Rainer Blaues Kreuz. 1980/81 Radierung 133* 62 c m Auflage 35

Worauf sollte ein Betrachter oder S a m m l e r bei der Beurteilung einer Grafik besonders achten?

A b g e s e h e n von d e m , w a s s c h o n ü b e r die Qualität von K u n s t i m A l l g e m e i n e n z u sagen war, sollte m a n sich auf jeden Fall fragen, ob m a n es tatsächlich mit einer o r i g i n ä r f ü r die Grafik k o n z i p i e r t e n k ü n s t l e r i s c h e n L e i s t u n g zu t u n hat. Dass es sich also nicht um eine Reproduktion in der zuvor g e n a n n t e n Art handelt, um ein Druckerzeugnis, das auch noch in anderer Gestalt, etwa als Aquarell oder als Zeichnung, existiert.

In w e l c h e m Verhältnis stehen Preis und Qualität von Grafiken?

Oft s t e h e n s i e g o t t l o b i n e i n e r v e r n ü n f t i g e n R e l a t i o n . A u ß e r d e m s p i e l t d i e S e l t e n h e i t e i n e r A r b e i t n a t ü r l i c h b e i m Preis eine Rolle. S e l t e n h e i t o d e r , b e s s e r g e s a g t , die g e r i n g e A u f l a g e e i n e s g r a f i s c h e n B l a t t e s ist j a a u c h f ü r d i e Q u a l i t ä t , i n d i e s e m F a l l f ü r d i e D r u c k q u a l i t ä t , b e i m a n c h e n T e c h n i k e n v o n B e l a n g , e t w a bei H o l z s c h n i t t e n

6

Richard H a m i l t o n

Kent Stale. 1970 Siebdruck 72x102 cm A u f l a g e 5.000

I Qualität in der D r u c k g r a f i k

83

u n d R a d i e r u n g e n . E i n e K u p f e r p l a t t e o d e r e i n H o l z s t o c k ist e b e n n i c h t u n e n d l i c h strapazierfähig, sodass sich keine große Zahl von D r u c k e n in gleicher Güte herstellen lässt. A n d e r e r s e i t s m ü s s e n eine s e h r hohe A u f l a g e und ein d a m i t e i n h e r g e h e n d e r n i e d r i g e r P r e i s k e i n e s w e g s B e l e g e f ü r g e r i n g e Q u a l i t ä t sein. Bei S i e b d r u c k e n n i m m t die B r i l l a n z d e s D r u c k s a u c h bei s e h r g r o ß e r A u f l a g e n i c h t ab. Ein B e i s p i e l ist d e r F a r b s i e b d r u c k Kent State a u s d e m J a h r 1970 v o n R i c h a r d H a m i l t o n ( g e b . 1922; A b b . 6). D i e A u f l a g e b e t r u g 5 . 0 0 0 E x e m p l a r e , u n d d e r P r e i s w a r , w e n n i c h m i c h r e c h t e n t s i n n e , 300 DM. W e d e r die A u f l a g e n h ö h e n o c h d e r Preis k o n n t e n d e m R a n g d e s Blattes etwas anhaben.

7 Franz Gertsch Triptychon

Schwarzwasser,

1991/92

Holzschnitt 3 Platten, je 237 x185 cm Handabzug Nr. 6 auf Kumohadamashi Japanpapier von Ivano Heizaburo Farbe: Nachtblau Auflage 6 (jede in einer anderen Farbe]

IV Qualität in d e r V i d e o k u n s t

How to watch a videotape/How to judge a videotape. Kleiner Leitfaden zur Qualität in der Videokunst Katja Albers und Kathrin Becker

Video u n d Qualität? Die F r a g e s t e l l u n g m a g auf den e r s t e n B l i c k irritieren, w a r e n dies doch im Grunde lange unvereinbare Größen. Videokunst blieb weit über ihre Anfänge h i n a u s ein g e s c h m ä h t e s u n d oft u n v e r s t a n d e n e s M e d i u m , d a s ü b e r J a h r z e h n t e i m »Keller« oder bestenfalls in der »Bastelecke des Kunstbetriebs« zu finden war. Auf der anderen Seite verstand sich Video selbst in seinen A n f ä n g e n gerade als Antithese z u m m u s e a l e n K u n s t w e r k . Video w o l l t e m i t viel k r i t i s c h e m S t ö r p o t e n z i a l g e g e n die g r o ß e n V e r w a n d t e n F i l m u n d F e r n s e h e n a u f t r e t e n . A u c h w o l l t e n die V i d e o k ü n s t l e r a n fangs mit ihren W e r k e n w e d e r ins M u s e u m noch ins Kino, s o n d e r n sich jenseits dieser T e m p e l e i g e n e R ä u m e u n d W e g e b a h n e n , die d i c h t e r a m A l l t a g , a m P u l s d e r Zeit u n d ihrer Betrachter existierten. Und Videokunst wollte mit unlimitierten Auflagen beding u n g s l o s d e n R a h m e n u n d d a m i t a u c h die d a m a l i g e n Q u a l i t a t s k r i t e r i e n des K u n s t betriebs s p r e n g e n , in d e s s e n Mitte der A u f m e r k s a m k e i t sich gerade die m i n i m a l i s t i s c h e A v a n t g a r d e u m D o n a l d J u d d [ 1 9 2 8 - 1 9 9 4 ] u n d S o l L e W i t t ( g e b . 1928) f a n d . Die A n t i f o r m d e r n e u e n A u t h e n t i z i t ä t hieß: f l i m m e r n d e , f l u k t u i e r e n d e B i l d e r auf k l o bigen F e r n s e h s c h i r m e n , ein chaotisches Gewirr von Kabeln, das sich b a n d w u r m a r t i g über den gesamten Boden der Ausstellung schlängelte, und lebhafte Diskussionen u m die F r a g e n , w a s e i n M e d i u m u n d w a s W i r k l i c h k e i t ist u n d w i e m a n i h r e W a h r n e h m u n g d e n n k ü n s t l e r i s c h r e f l e k t i e r e n k a n n . A l s d i e e r s t e t r a g b a r e V i d e o k a m e r a 1965 auf den M a r k t k a m und K ü n s t l e r sich d a m i t auf den Weg m a c h t e n , stellte sich ihnen die Frage n a c h Qualität nicht. Dieses neue Spielzeug ersetzte oder ergänzte vielfach das Skizzenbuch, in das kleine Realitätsfetzen und Selbstbeobachtungen gekritzelt wurden. Fußnoten des Alltags sozusagen oder Bilderschnipsel, herausgerissen aus d e m u n e n d l i c h e n S t r o m visueller I n f o r m a t i o n und e r f r i s c h e n d neu k o m b i n i e r t . Erst l a n g s a m e n t w i c k e l t e n sich K r i t e r i e n , die den ä s t h e t i s c h e n W e r l eines W e r k e s beschreiben können, den w i r hier als »Qualität« bezeichnen möchten. Generell haben sich diese Kriterien i m m e r in e n g e r A n b i n d u n g an die t e c h n i s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n von K a m e r a und Abspielgeräten sowie später a u c h von digitaler N a c h b e a r b e i t u n g s s o f t w a r e w e i t e r e n t w i c k e l t u n d w u r d e n f ü r j e d e f o l g e n d e D e k a d e n e u d e f i n i e r t . Die Qualität eines Werkes beruht jedoch unabhängig der historischen und t h e m a t i s c h e n

Trends i m m e r auf e i n e m g e l u n g e n e n U m g a n g mit technischen, ästhetischen und e m o t i o n a l e n Details. Es genügt nicht, eine K a m e r a einfach irgendwo hinzuhalten u n d die rote R e c o r d - T a s t e z u d r ü c k e n . Der a m e r i k a n i s c h e K o n z e p t k ü n s t l e r J o h n B a l d e s s a r i ( g e b . 19311 h a t d i e s b e r e i t s 1977 t r e f f e n d f o r m u l i e r t , i n d e m e s f ü r e i n e n V i d e o k ü n s t l e r eben nicht reiche zu sagen: »Ich m a c h e gerade ein Videotape«, sondern; »Das k a n n ich am besten m i t e i n e m Videotape a u s d r ü c k e n . « Wie a u c h für a n d e r e k l a s s i s c h e Genres gilt in der Flut von a l l t ä g l i c h e n Bildern, die t e c h n i s c h e n Besonderheiten und historischen Bedingungen des M e d i u m s zu bedenken, interessante Motive in e n t s p r e c h e n d e n Einstellungen zu wählen, diese dann in der N a c h bearbeitung zu kombinieren, zu v e r f r e m d e n oder in eine Geschichte und damit eine visuelle K o m p o s i t i o n einzubinden und anschließend eine z u m Sujet passende Präsentation - als Projektion im R a u m oder auf e i n e m oder m e h r e r e n Monitoren als skulpturales Ensemble - festzulegen. In der Fülle der heute zur Verfügung stehenden digitalen Techniken m ü s s e n Künstler w i e K ü n s t l e r i n s i c h d e r M i t t e l , die sie f ü r ihr Sujet e i n s e t z e n m ö c h t e n , s e h r b e w u s s t sein. W o l l e n sie i h r e m G e g e n s t a n d h a u t n a h zu Leibe r ü c k e n , so s o l l t e n sie sich f ü r eine kleine, h a n d l i c h e M i n i D V - K a m e r a e n t s c h e i d e n , w o l l e n sie j e d o c h k i n e m a t i s c h e Bildqualität erreichen, um ihrer Arbeit einen f i l m i s c h e n Effekt zu verleihen, so sollten sie sich f ü r eine Digital B e t a c a m o d e r g a r eine s ü n d h a f t t e u r e H D T V - K a m e r a entscheiden. Letztere sind in der hochauflösenden Glattheit ihrer Bilder k a u m m e h r v o m K i n o f o r m a t zu u n t e r s c h e i d e n . Doch die Technik allein definiert n i e m a l s die G e s a m t q u a l i t ä t e i n e s W e r k e s . Sie s o l l t e d e m I n h a l t v e r p f l i c h t e t bleiben. A u c h h i e r k o m m t H o c h g l a n z vor d e m Fall. Ebenso s o l l t e die T r i c k k i s t e d e r N a c h b e a r b e i t u n g s i n n v o l l g e n u t z t w e r d e n . Die A n e i n a n d e r r e i h u n g von » A f t e r E f f e c t s « , d e m d i g i t a l e n Z a u b e r k a s t e n , ist d u r c h a u s v e r z i c h t b a r . W e n i g e r ist m e h r : E i n e k l a r e , g u t e r z ä h l t e Geschichte oder eine audiovisuelle K o m p o s i t i o n d r i n g e n viel tiefer ins B e w u s s t s e i n als ein lauter, e f f e k t h a s c h e r i s c h e r K l a m a u k . Doch w a s sind n u n die t e c h n i s c h e n B e s o n d e r h e i t e n u n d h i s t o r i s c h e n B e d i n g u n g e n , d i e e s bei d e r P r o d u k t i o n w i e a u c h d e r B e t r a c h t u n g z u b e r ü c k s i c h t i g e n g i l t ? W a s ist das Geheimnis des gelungenen videografischen Pinselslrichs?

1. Ich ist ein anderer: Video, die Kunst der Selbstbeobachtung

Kein a n d e r e s k ü n s t l e r i s c h e s M e d i u m e r m ö g l i c h t eine solch einfache und direkte Form der Realitätsbeobachtung und vor a l l e m der Selbstreflexion. Anders als der F o t o a p p a r a t o d e r die F i l m k a m e r a b e d e u t e t Video die M ö g l i c h k e i t d e r d i r e k t e n A u f n a h m e und Wiedergabe. Diesen Kreislauf der kurzgeschlossenen Bilder zwischen K a m e r a und K o n t r o l l s c h i r m haben vor a l l e m die a u s d e m Bereich der P e r f o r m a n c e k u n s t s t a m m e n d e n Künstler und Künstlerinnen produktiv für sich genutzt.

Die Q u a l i t ä t d i e s e s U r m o t i v s d e r S e l b s t b e o b a c h t u n g liegt z u m e i n e n i n d e r i n t e n s i v e n r i t u a l i s i e r t e n S e l b s t i n s z e n i e r u n g vor l a u f e n d e r K a m e r a , g e r a d e w e n n sie in beabs i c h t i g t q u a l v o l l e r D a u e r die E i n s a m k e i t d e s A k t e u r s , die g l e i c h z e i t i g e A u s l i e f e r u n g u n d H i n g a b e b e i n h a l t e t , i n k l a r e n , e i n f a c h e n B i l d e r n d a r s t e l l t . J e i n t i m e r die A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r K a m e r a ist, d e s t o i n t e n s i v e r u n d d a m i t u n w e i g e r l i c h w e r t voller das E r l e b n i s f ü r u n s als Betrachter. Eine a u f g e z e i c h n e t e P e r f o r m a n c e von B r u c e N a u m a n ( g e b . 1941), d e r u n e r m ü d l i c h s e i n k a r g e s S t u d i o a b s c h r e i t e t ( A b b . 1), o d e r v o n M a r i n a A b r a m o v i c ( g e b . 1946), d i e s i c h s e l b s t k ö r p e r l i c h v e r a u s g a b e n d a n den Rand d e r E r s c h ö p f u n g bringt, hat auch nach ü b e r dreißig J a h r e n nichts an ihrer exzessiven K r a f t v e r l o r e n , w e i l sie ü b e r die K a m e r a eine u n g l a u b l i c h e k ö r p e r l i c h e Präsenz mit unvergänglicher Aussage erzeugen.

2. Video, die Kunst mit der F l i m m e r k i s t e

Die V e r w a n d t s c h a f t z u r F e r n s e h t e c h n i k , a b e r v o r a l l e m d e r k u l t u r e l l v o r b e l a s t e t e F e r n s e h a p p a r a t als e r s t e P r ä s e n t a t i o n s m ö g l i c h k e i t m u s s t e die K ü n s t l e r z w a n g s l ä u fig z u e i n e r k r i t i s c h e n H a l t u n g z u d i e s e m M a s s e n m e d i u m h e r a u s f o r d e r n . S p i e l e r i s c h

1 Bruce Nauman Slow Angle Wölk IBecken Watkl.

1968

1-Kanal-Videoinstallation. Schwarz-Weiß. Ton [Mono) 56 mtn

IV Qualität in der Videokunst

87

w i r k s a m e A t t a c k e n auf die F l i m m e r k i s t e u n d ihre u n g e b r e m s t triviale B i l d e r f l u t g e h ö r t e n z u m g u t e n Ton d e r f r ü h e n J a h r e . Ein w i c h t i g e s Q u a l i t ä t s m e r k m a l d i e s e s Ansatzes besteht nun aber nach wie vor darin, das k o m m e r z i e l l e »found footage«1 der Fernsehbilder gekonnt a u s e i n a n d e r z u n e h m e n und, der Pop-Art vergleichbar, aus d e m Nonsens neue kritische und bisweilen sehr humorvolle Z u s a m m e n h ä n g e zu k o n s t r u i e r e n . O d e r a u c h die N ä h e z u m F e r n s e h e n z u nutzen, u m g e r a d e b e w u s s t m i t der nüchternen Hässlichkeit des Apparates zu spielen, um z u m Beispiel das Monströse o d e r a u c h die z a u b e r i s c h e Illusion i n n e r h a l b des G e h ä u s e s z u s u c h e n . E i n W e r k , d a s b e i d e A s p e k t e h e r v o r r a g e n d v e r b i n d e t , i s t d a s 1982 e n t s t a n d e n e V-yramid d e s t e c h n i k v e r s e s s e n e n V i d e o p i o n i e r s

Nam

June

Paik

(1932-2006).

Wir

sehen uns einer riesigen, vertikal aus alten Fernsehern unterschiedlichen Fabrikats a u f g e t ü r m t e n Pyramide gegenüber. In j e d e m der Gehäuse f l i m m e r t ein anderes Bild, das v o m Künstler in seiner typischen Weise v e r f r e m d e t w u r d e , bunt, wirbelnd, v e r f ü h r e r i s c h u n d a b s t o ß e n d z u g l e i c h . Die V i d e o p y r a m i d e ist e i n B e i s p i e l f ü r P a i k s spielerisch dekonstruktive Fernsehkritik, aber auch eine w u n d e r b a r e Metapher für den m o n u m e n t a l e n Turmbau eines Medienbabels mit einer k a u m m e h r w a h r n e h m b a r e n F l u t g l e i c h z e i t i g e r Bilder. Die h e u t e s e l t s a m a n t i q u i e r t a n m u t e n d e n G e h ä u s e e r i n n e r n z u d e m an die rasant a l t e r n d e Technik u n d lassen u n s an einen Gerätefriedhof denken, dessen C h a r m e d e m a l t m o d i s c h e n Design e n t s p r i n g t , dessen A u s s a g e a b e r eine zeitlos a k t u e l l e K r a f t besitzt. U n d o b w o h l k e i n e s d e r e i n z e l n e n Teile f ü r sich g e n o m m e n ästhetischen Wert und damit Qualität b e a n s p r u c h e n könnte, so überzeugt das skulpturale Ensemble in seiner Anlage als audiovisuelles G e s a m t k u n s t und

Bildfeuerwerk.

Einen wichtigen Akzent in der aktuellen Verbindung zwischen Videokunst und den F o r m e n d e s » l o w « , d e r m a s s e n t a u g l i c h e n U n t e r h a l t u n g s i n d u s t r i e u n d d e m TV, s e t z t a u c h B j ö r n M e l h u s ( g e b . 1966). V i e l f a c h » s e z i e r t « d e r K ü n s t l e r a u s H o l l y w o o d f i l m e n o d e r T V - U n t e r h a l t u n g s p r o g r a m m e n e i n z e l n e E l e m e n t e w i e e i n e n Dialog o d e r die F u n k t i o n e n und ä u ß e r e n E r s c h e i n u n g s f o r m e n b e s t i m m t e r P r o t a g o n i s t e n , die e r i n eine für ihn typisch surreale, c o m i c a r t i g uberzeichnete, neue Welt setzt. A u c h bes c h ä f t i g t er sich in s e i n e n V i d e o a r b e i t e n m i t der Frage n a c h Identität, die von den V e r f ü h r u n g e n u n d B i l d r e i z e n e i n e r m e d i a t i s i e r t e n R e a l i t ä t g e p r ä g t ist, u m auf g l o b a l e gesellschaftliche und sozio-psychologische Z u s a m m e n h ä n g e zu verweisen. In seiner A r b e i t The Oral Thing ( 2 0 0 1 ; A b b . 2 ) w e r d e n t y p i s c h e U S - a m e r i k a n i s c h e F e r n s e h formate wie Predigersendungen und legendäre amerikanische Daytime-Talkshows wie z u m Beispiel die von M a u r y Povich i n e i n a n d e r v e r w o b e n . M e l h u s arbeitet die sich i m m e r wiederholenden Elemente dieser Talkshow stereotypisch heraus und ü b e r h ö h t sie gleichzeitig. D e r T a l k m a s t e r w i r d z u r i r i s i e r e n d e n L i c h t g e s t a l t , die von e i n e r g i g a n t i s c h e n Treppe i n seine S e n d u n g s c h w e b t , u m d o r t s e i n e n T a l k g ä s t e n die » B e i c h t e « a b z u n e h m e n und ü b e r Gut und Böse zu richten. In d r a m a t i s c h e r C h o r e o grafie w e r d e n die sexuellen A u s s c h w e i f u n g e n eines G e s c h w i s t e r p a a r s v e r h a n d e l t .

Wie a u c h i n a n d e r e n A r b e i t e n ü b e r n i m m t M e t h u s hier atte Rollen, die des T a l k m a s t e r s , der Talkgäste u n d des P u b l i k u m s selbst, sodass die Dialoge, die d u r c h w e g aus d e m technisch verfremdeten Originalton einer solchen Povich-Talkshow besteh e n , z w a n g s l ä u f i g ins L e e r e l a u f e n , d a j e d e s G e g e n ü b e r z u g l e i c h e i n A l t e r Ego ist. K o n s e q u e n t ist d i e A r b e i t a l s L o o p a n g e l e g t , a l s E n t s p r e c h u n g f ü r d i e u n e n d l i c h e W i e d e r h o l u n g und die K o n f o r m i t ä t d e r a r t i g e r S e n d u n g e n und der in ihnen v e r h a n d e l t e n T h e m e n von s c h m u d d e l i g e m Sex, p s y c h i s c h e r D e f o r m a t i o n u n d l a t e n t e r G e w a l t tätigkeit. Die Arbeit besticht in ihrer t e c h n i s c h e n Qualität brillant g e s c h n i t t e n e r S e q u e n z e n , die i n i h r e r R e i h u n g u n d D r a m a t u r g i e H o h l h e i t u n d S i n n e n t l e h r u n g des F e r n s e h e n s g e k o n n t p a r o d i e r e n . Bei a l l e r Kritik bleibt M e l h u s ' Ton h u m o r v o l l . Z u d e m holt e r u n s g e n a u dort ab, w o w i r selbst vor d e m F e r n s e h e r j e g l i c h e i n t e l l e k t u e l l e Distanz verlieren und vor der Banalität des bösen Alltags lustvoll e r s c h a u e r n .

3. Video, die Kunst, zu sehen, was man nicht sieht

Video, das s c h o n im W o r t s i n n auf das eigene Sehen anspielt, bedeutet von B e g i n n an, W a h r n e h m u n g s f o r s c h u n g zu b e t r e i b e n . Die F r a g e s t e l l u n g - w i e f u n k t i o n i e r t das Sehen, w i e s e h e ich m i c h selbst, die ä u ß e r e s i c h t b a r e w i e a u c h die i n n e r e u n s i c h t bare Realität und ihre P h ä n o m e n e , ihre Schönheit wie ihre Absonderlichkeiten, und w i e k a n n ich diese E r f a h r u n g e n in zeitlicher D a u e r ä s t h e t i s c h u n d t e c h n i s c h ü b e r z e u g e n d u m s e t z e n ? - ist f r e i l i c h n i c h t n e u . E r f r i s c h e n d n e u , d i r e k t u n d e i n f a c h w a r aber zu Beginn das M e d i u m selbst. Qualitativ hochwertige U n t e r s u c h u n g e n der W a h r n e h m u n g b e e i n f l u s s e n und v e r ä n d e r n u n s e r e Sicht auf u n s selbst u n d u n s e r eigenes körperliches Empfinden tatsächlich. B i l l V i o l a ( g e b . 1951) i s l e i n e r d e r e r s t e n K ü n s t l e r , d i e s i c h f a s t m a n i s c h m i t d e r menschlichen W a h r n e h m u n g wie auch der bildlichen U m s e t z u n g psychischer Zustände beschäftigen. Er nutzt den dunklen Raum, um uns mit Bildern aus d e m Dunkel der Erinnerung, des T r a u m s und des T r a u m a s zu konfrontieren. Nicht seilen greift er dabei auf eine B i l d s p r a c h e z u r ü c k , die sich kollektiver k u l t u r g e s c h i c h t l i c h e r S y m b o l e bedient. U n t e r s t ü t z t von einer k l a n g l i c h perfekt a u s t a r i e r t e n Akustik, d r i n g e n d i e s e B i l d w e l t e n b i s t i e f i n s U n t e r b e w u s s t s e i n vor. S o z u m B e i s p i e l i n s e i n e r früheren Video- Klanginstallation

The Sleep of Reason v o n

1988 (Abb. 3). D e r B e t r a c h -

ter betritt einen leeren hellen R a u m , an dessen Stirnseite eine K o m m o d e steht, d a r a u f eine L a m p e , eine digitale U h r u n d eine Vase m i t w e i ß e n Rosen, d a z w i s c h e n ein k l e i n e r T i s c h m o n i t o r , auf d e m i n S c h w a r z - W e i ß die N a h s i c h t eines s c h l a f e n d e n M a n n e s z u s e h e n ist. L e i s e h ö r t m a n i h n tief a t m e n . P l ö t z l i c h g e h t d a s L i c h t i m R a u m a u s u n d d e r R a u m fällt i n totales D u n k e l , bis u n e r w a r t e t r i e s e n h a f t e B i l d e r g r o ß f o r m a t i g auf den drei W a n d f l ä c h e n e r s c h e i n e n . Es sind Bilder eines außer K o n t r o l l e g e r a t e n e n B r a n d e s , B i l d e r von K a m p f h u n d e n , die sich b ö s a r t i g auf d e n

Betrachter zu stürzen scheinen, dunkle Baumwipfel in wilder Bewegung, Röntgena u f n a h m e n a n i m a l i s c h e r K ö r p e r u n d eine a u f g e s c h r e c k t e w e i ß e Eule, die a u s t i e f e m D u n k e l mit heftigem Flügelschlag in helles Licht fliegt. N a c h w e n i g e n S e k u n d e n verschwinden diese Szenen abrupt und der R a u m entlässt den Betrachter mit d e m b e n o m m e n e n Gefühl, aus e i n e m bösen T r a u m e r w a c h t zu sein, w i e d e r ins Helle. Die B i l d i n t e r v a l l e s i n d v o l l k o m m e n u n v o r h e r s e h b a r . Die A u f n a h m e n e n t s t a m m e n alle e i n e m Video, d o c h e r s c h e i n e n sie in der D r e i f a c h p r o j e k t i o n u m s o b e d r o h l i c h e r , da sie d e n B e t r a c h t e r von fast a l l e n Seiten u m g e b e n u n d ihn so fast v o l l k o m m e n in d e n R a u m und d a m i t a u c h in die Bildillusion e i n t a u c h e n lassen. Denkt m a n an Goyas (1746-1828)

Radierung gleichnamigen Titels aus seinen

Caprichos, d a n n

m ö c h t e m a n sich h i e r i n m a n c h e m M o m e n t a u c h s c h a u d e r n d die A u g e n z u h a l t e n , d o c h ist V i o l a s I n s t a l l a t i o n k e i n S p i e l m i t d e m w i l d e n S p e k t a k e l , s o n d e r n d e r k ü n s t lerisch gelungene Versuch, den Betrachter aus seiner A l l t a g s w a h r n e h m u n g herauszuholen, seine W a h r n e h m u n g nach innen zu lenken und ihn mit seinen m ö g l i c h e n T r a u m b i l d e r n zu k o n f r o n t i e r e n . Die B l a c k b o x o d e r ein v e r g l e i c h b a r v o m Rest d e r A u s s t e l l u n g a b g e t e i l t e r , d u n k l e r R a u m ist f ü r d i e s e s U n t e r f a n g e n n i c h t n u r w i e g e s c h a f f e n , s o n d e r n u n a b d i n g b a r . Die b e s o n d e r e Q u a l i t ä t d i e s e r A r b e i t liegt i n i h r e r perfekt inszenierten Gesamtkomposition aus räumlichen, bildlichen und akustischen

2 Björn Melhus The Oral Thing, 2001 Videoslills. Farbe. Ton IStereo] 8 min. Loop

Details. Sie n i m m t u n s g e f a n g e n u n d e n t f a l t e t eine f a n t a s i e v o l l e E i g e n d y n a m i k . N i c h t s ist v o r h e r s e h b a r . Sie l ä s s t u n s f ü r e i n e n k u r z e n M o m e n t m i t e i n e r F ü l l e e i g e n e r E m o t i o n e n - E r s c h r e c k e n , E r s c h a u e r n , E r l e i c h t e r u n g - allein. In ihrer zeitlosen P r ä g nanz f u n k t i o n i e r t sie z u d e m a u c h u n a b h ä n g i g von S p r a c h e n u n d K u l t u r k r e i s e n .

Video, die Kunst bewegter Bilder im Raum

W ä h r e n d die P r ä s e n t a t i o n von V i d e o k u n s t a n f a n g s a n den M o n i t o r g e b u n d e n bleibt, befreit sie sich a b d e m Ende der 1 9 8 0 e r - J a h r e m i t d e r i m m e r besser und e r s c h w i n g licher werdenden Projektionstechnik z u n e h m e n d aus dieser Zwangslage. Und o b w o h l der Monitor nach wie vor eine Möglichkeit der s k u l p t u r a l e n Inszenierung d a r s t e l l t , e r f r e u t sich die g r o ß f o r m a t i g e , oft w a n d f ü l l e n d e P r o j e k t i o n h e u t e w e s e n t lich größerer Beliebtheit. I m m e r lichtstärkere Projektoren, i m m e r h o c h a u f l ö s e n d e r e digitale K a m e r a s und eine i m m e r a u s g e t ü f t e i t e r e A k u s t i k e r m ö g l i c h e n d e m K u n s t b e t r a c h - t e r ein a u d i o v i s u e l l e s Erlebnis, das d e m K i n o b e s u c h k a u m m e h r n a c h s t e h t . Um dieses Erlebnis denn auch so perfekt wie möglich zu gestalten, m u s s jedoch f ü r j e d e s W e r k nicht s e l t e n ein e i g e n e r R a u m gebaut w e r d e n , w i e d e r eine eigens f ü r das Video e r r i c h t e t e Kiste, die s o g e n a n n t e B l a c k Box, ein nach a u ß e n i s o l i e r t e r S c h w a r z r a u m , d e r m e i s t n u r d u r c h e i n e n K o r r i d o r e r r e i c h b a r ist. Diese l a b y r i n t h i schen D u n k e l k a m m e r n e r m ö g l i c h e n jedoch erst das rechte r ä u m l i c h e und zeitliche E i n l a s s e n des B e t r a c h t e r s auf d a s W e r k . N a c h a u ß e n hin s t e l l e n sie j e n a c h Fantasie des Ausstellungsarchitekten und der örtlichen Situation des A u s s t e l l u n g s r a u m e s m e i s t s p e r r i g e U n g e t ü m e d a r , i n die s i c h oft n u r t r a u t , w e r a u c h a l s K i n d auf d e r K i r m e s a m l i e b s t e n i n d i e G e i s t e r b a h n g e g a n g e n ist o d e r i n K i r c h e n z u e r s t i n d i e K r y p t a s t e i g t . G a n z u n b e r e c h t i g t ist d i e S c h e u v o r d i e s e n p l a t o n i s c h e n H ö h l e n n i c h t , d e n n die A b g e s c h l o s s e n h e i t d i e s e r S c h w a r z r ä u m e k a n n d u r c h a u s e t w a s i n t e n s i v

3 B i l l Viola The Sleep ol Reason.

1988

M u l t i m e d i a i n s t a l l a t i o n . Farbe. Schwarz-Weiß. Ton (Stereo)

IV Qualität in d e r V i d e o k u n s t

91

Geheimnisvolles bergen, einen Anspruch, d e m jedoch nur wenige Werke wirklich gerecht werden. Eine K ü n s t l e r i n , die die M ö g l i c h k e i t e n d i e s e s R a u m e s i m R a u m auf b e s o n d e r e Weise u m s e t z t , i s t d i e i r a n i s c h - a m e r i k a n i s c h e K ü n s t l e r i n S h i r i n N e s h a t ( g e b . 1957). V e r gleichbar mit der Intensität Bill Violas, sind T r ä u m e und b e d r o h l i c h - t r a u m a t i s c h e Erfahrungen i m m e r w i e d e r k e h r e n d e r Gegenstand ihres Werkes. Im Mittelpunkt s t e h e n die Frauen, ihr Glaube, ihre Sexualität, ihre t r a d i t i o n e l l e Rolle und die d a m i t v e r b u n d e n e n S c h w i e r i g k e i t e n , a b e r a u c h S t ä r k e n . Die P r o t a g o n i s t i n n e n i h r e r V i d e o s s c h w a n k e n z w i s c h e n B e d r o h u n g , U n t e r d r ü c k u n g u n d o h n m ä c h t i g e r D u l d u n g bis hin z u r A u f l e h n u n g , z u m d r a m a t i s c h e n A u f b r u c h o d e r z u m V e r s i n k e n i n die p a t h o l o g i s c h e n Zustände. A u c h w e n n N e s h a t meist auf literarische Vorbilder - etwa aus den W e r k e n von Scharnusch Parsipur - und Traditionen und Mythen des Islam und ihres H e i m a t l a n d e s Iran zurückgreift, so s p r e c h e n die Videos a u f g r u n d ihrer m e t a p h o r i schen U m s e t z u n g und des Verzichts auf das gesprochene Wort doch eine universelle S p r a c h e . I n s b e s o n d e r e die e r g r e i f e n d e und intensive, alle W e r k e b e g l e i t e n d e M u s i k zieht den B e t r a c h t e r in einen a u ß e r g e w ö h n l i c h e n Bann. In N e s h a t s b e e i n d r u c k e n d e r Arbeit

Tooba v o n 2 0 0 2 , d i e e r s t m a l s a u f d e r D o c u m e n t a 1 1 g e z e i g t w u r d e , b e t r i t t m a n

den R a u m seitlich, sodass m a n u n w i l l k ü r l i c h zwischen den auf zwei gegenüberliegende Wände projizierten Bildern steht. Der eigene Blick pendelt zwischen den Proj e k t i o n s f l ä c h e n , auf denen eine E r z ä h l u n g aus zwei f i l m i s c h e n Perspektiven zu sehen ist. W ä h r e n d auf d e r e i n e n Seite e i n e ä l t e r e F r a u a n e i n e m B a u m s t a m m l e h n t , z e i g t die a n d e r e Seite eine große G r u p p e von s c h w a r z g e k l e i d e t e n J u n g e n u n d M ä n n e r n , die sich m i t s t e i g e r n d e r D r a m a t i k d e r Frau, d e m B a u m u n d s e i n e r e i n e m P a r a d i e s g a r t e n ä h n e l n d e n U m z ä u n u n g n ä h e r n , bis sie a n d i e s e r M a u e r i n n e h a l t e n u n d e i n e n Blick in das Innere des Gartens wagen. In dieser Arbeit verweist Neshat e r s t m a l s auf m e h r als die reine K o n f r o n t a t i o n d e r G e s c h l e c h t e r u n d d e r i s l a m i s c h e n Traditionen m i t der M o d e r n e . Ohne auf die ihr eigene D r a m a t u r g i e und S y m b o l s p r a c h e zu v e r z i c h t e n , g e l i n g t d e r K ü n s t l e r i n m i t Tooba e i n e e r g r e i f e n d e , s p a n n u n g s v o l l e U m s e t z u n g e i n e s v i e l s c h i c h t i g e n T h e m e n f e l d e s , d a s von Tod, T r a u e r u n d E i n s a m k e i t , von B e d r o h u n g u n d O h n m a c h t , v o m irdischen Gefängnis bis hin z u m Paradies u n d alttestamentarischen Mythen reichen kann. Das Assoziationsfeld dieser mit hochw e r t i g s t e r F i l m t e c h n i k u m g e s e t z t e n A r b e i t ist n a h e z u u n b e g r e n z t u n d g e r a d e d a s intensiviert ihr Erlebnis, denn w i r werden, gefangen zwischen den Bildachsen, a u g e n blicklich in die D y n a m i k d e r E r z ä h l u n g e i n g e b u n d e n und sind an ihrer E n t s c h l ü s s e l u n g p e r m a n e n t b e t e i l i g t . G e d r e h t ist die A r b e i t a u f h o c h a u f l ö s e n d e m 3 5 m m - F i l m material. Neshat nutzt mit unglaublicher Präzision filmische Einstellungen wie N a h a u f n a h m e n , l a n g s a m e K a m e r a f a h r t e n hin zur Totale und u n t e r m a l t die e r z ä h l e rische Dynamik mit einer auf den Punkt hin k o m p o n i e r t e n Musik, dessen d r a m a t i s c h e r R h y t h m u s p e r f e k t i m R a u m p l a t z i e r t ist u n d u n s a u f d i e s e W e i s e u n b e w u s s t e m o t i o n a l e i n f ä n g t . D a r i n liegt u n w e i g e r l i c h die große Qualität d i e s e r A r b e i t .

5. Video, die Kunst der sichtbaren Zeit (nicht nur ein kurzes Werk ist ein gutes Werk)

Solch v o l l k o m m e n abgedunkelte P r o j e k t i o n s k a m m e r n sind dank der i m m e r lichtstärker w e r d e n d e n Projektoren jedoch nicht m e h r zwingend notwendig, sodass Videoarbeiten inzwischen auch in nur teilweise verdunkelten R ä u m e n präsentiert w e r d e n können. A n d e r e r s e i t s trägt das H a l b d u n k e l b e d e u t e n d zur K o n z e n t r a t i o n auf d a s W e r k bei. E s m a c h t u n s d a s Ü b e r s c h r e i t e n d e r G r e n z e z w i s c h e n v e r t r a u t e r A l l tagsrealität und d e m Kunstwerk wesentlich bewusster und erleichtert gleichzeitig das zeitlich intensive Einlassen auf das Werk, das sich nun e i n m a l nicht so leicht im Vorbeigehen wie ein Gemälde, eine Fotografie oder eine Z e i c h n u n g erfassen lässt. Ein Video e r f o r d e r t - ä h n l i c h d e m K i n o b e s u c h - ein V i e l f a c h e s an Zeit. Es e r l a u b t u n s gleichzeitig ein M e h r a n Freiheit, selbst z u e n t s c h e i d e n , w a n n w i r den R a u m betreten möchten und w a n n wir genug gesehen haben. Der nicht-chronologische U m g a n g m i t d e r Z e i t a l s M a t e r i a l ist e i n w e s e n t l i c h e s M e r k m a l , e i n e s s e n z i e l l e s G e s t a l t u n g s p r i n z i p u n d a u c h Q u a l i t ä t s k r i t e r i u m des Genres an sich. Für die Videokunst trifft Andrej Tarkovskis B e m e r k u n g über Film als eine F o r m des »Sculpting in T i m e « u m s o p r ä g n a n t e r zu. N i c h t n u r , w e i l ein Video q u a s e i n e r t e c h n i s c h e n E n t stehungsbedingungen der permanent fließenden elektronischen Signale ohnehin in u n e n t w e g t e r z e i t l i c h e r B e w e g u n g b e g r i f f e n i s t , s o n d e r n w e i l es, a n d e r s a l s d e r F i l m , n i c h t a n e i n e n c h r o n o l o g i s c h - l i n e a r e n S p a n n u n g s b o g e n g e b u n d e n ist. A u c h w e n n die a k t u e l l e V i d e o k u n s t sich d e m n a r r a t i v e n E r z ä h l k i n o i m m e r m e h r a n n ä h e r t , bed i e n e n sich die K ü n s t l e r d o c h e i n e r a n d e r e n B i l d s p r a c h e . Ihre E r z ä h l u n g e n s i n d meist als Loop angelegte Endlosschleifen, ohne w i r k l i c h e n Anfang und ohne definitives Ende. Ihre b e s o n d e r e e r z ä h l e r i s c h e D i m e n s i o n und ihre k ü n s t l e r i s c h e Qualität i n A b g r e n z u n g z u m K u r z f i l m o d e r z u m k o m m e r z i e l l e n K i n o l i e g e n a b e r bei W e i t e m nicht nur in einer zeitlich gebrochenen Erzählweise, sondern auch in ihrer Fähigkeit, Zeit s i c h t b a r und h ö r b a r z u m a c h e n und d a m i t die visuelle Z e i t e r f a h r u n g z u e r w e i tern und unsere vom Alltag überforderte W a h r n e h m u n g wirklich zu bereichern. Gerade i m H i n b l i c k auf die S c h n e l l l e b i g k e i t z e i t l i c h e r S e q u e n z e n und i h r e r b i l d l i c h e n D a r s t e l l u n g i n F i l m , F e r n s e h e n u n d W e r b u n g e r f o r d e r t d a s E i n l a s s e n auf die L a n g samkeit künstlerischer Bilder einiges an Kraft und Geduld. Wie rasch entsteht da b e i m B e t r a c h t e n dieser W e r k e - vor a l l e m in u m f a n g r e i c h e r e n A u s s t e l l u n g e n - die L u s t a u f n e u e B i l d e r u n d w i e g r o ß ist d i e V e r s u c h u n g , i n n e r l i c h v o r s p u l e n z u w o l l e n oder gleich den V o r f ü h r u n g s r a u m zu verlassen, rastlos z u m nächsten Werk zu hasten, statt zu verweilen. Ein U m s t a n d , auf d e n die S c h i r n K u n s t h a l l e F r a n k f u r t u n l ä n g s t m i t e i n e r A u s s t e l l u n g von 3 - M i n ü t e r n reagierte.' Zehn V i d e o k ü n s t l e r von Rang und N a m e n w a r e n eing e l a d e n , ein s o l c h a b s o l u t e s K u r z w e r k z u p r o d u z i e r e n . Die A r b e i t e n w u r d e n i n e i n e r 3 0 - m i n ü t i g e n Vorführung hintereinanderweg gezeigt, in e i n e m eigens dafür eingerichteten Kino, auf dessen harten m i n i m a l i s t i s c h e n H o l z b ä n k e n m a n es auch k a u m

l ä n g e r a u s g e h a l t e n h ä t t e . D e r U m g a n g m i t V i d e o k u n s t i n g r o ß e n A u s s t e l l u n g e n ist i m m e r problematisch, nicht nur aufgrund ihrer räumlichen und technischen, sondern eben vor allem wegen ihrer zeitlichen Disposition. Schaltet m a n aber alles kurz hintereinander, läuft m a n einem ungeduldigen P u b l i k u m hinterher, das m a n a m Ende nur von hinten sieht und das z u d e m mit e i n e m f l i m m e r n d e n Bandsalat im Kopf den Raum verlässt. Es überfordert den Betrachter und es schadet d e m Werk, wenn es so präsentiert wird, dass m a n sich nicht in Ruhe darauf einlassen kann. A u c h w e n n eine große Zahl v o n V i d e o w e r k e n s o a n g e l e g t ist, d a s s a u c h d e r f l a n i e r e n d e B e t r a c h t e r sie w i e i m Vorbeigehen erfassen oder i m m e r w i e d e r dahin z u r ü c k k e h r e n kann, so gibt es d e n n o c h W e r k e , die G e s c h i c h t e n e r z ä h l e n , die i m V o r b e i g e h e n u n v o l l s t ä n d i g bleiben o d e r die e i n f a c h G e d u l d u n d K o n z e n t r a t i o n v e r l a n g e n . Vielleicht, w e i l sie e t w a s s o S e n s i b l e s w i e d a s S e h e n s e l b s t zeigen, die W a h r n e h m u n g d e s S i c h t b a r e n o d e r a u c h das in der Hektik des Alltags n o r m a l e r w e i s e Nichtsichtbare. D e r b e l g i s c h e K ü n s t l e r D a v i d C l a e r b o u t ( g e b . 1969) e r z e u g t s o l c h m a g i s c h e M o m e n t e mit m i n i m a l e n Handlungsabläufen. Seine Videoinstallationen beruhen neben gefilmten B i l d e r n a u c h auf f o t o g r a f i s c h e n Vorlagen, in d e n e n er einige Bereiche so perfekt a n i m i e r t , d a s s sie d a s G e s a m t b i l d t ä u s c h e n d e c h t z u m L e b e n e r w e c k e n . Wie ein zeitlich g e d e h n t e s Vexierbild pendeln seine Bilder zwischen Stillstand und B e w e g u n g . Der r e d u z i e r t e B i l d a u s s c h n i t t s e i n e r A r b e i t e n e r i n n e r t a n die k a r g e n B ü h n e n b i l d e r Becketts, dessen Stücke ebenfalls zwischen schwerer Langeweile und d e m angespannten Warten

in d e r Stille v e r h a r r e n .

I n s e i n e r A r b e i t American Car ( 2 0 0 4 ; A b b . 4 )

lässt C l a e r b o u t d e n P r o t a g o n i s t e n , a b e r a u c h u n s die Zeit s p ü r b a r z w i s c h e n d e n Fingern zergehen, zäh und dickflüssig. Wir beobachten zwei Herren mittleren Alters in s c h w a r z e n A n z ü g e n i n e i n e m a l t m o d i s c h e n A u t o sitzend. Sie b l i c k e n auf eine öde W i e s e n l a n d s c h a f t , die sich i m N i e s e l r e g e n n e b e l v e r h a n g e n vor d e r W i n d s c h u t z s c h e i b e a u s b r e i t e t . Sie w a r t e n auf e t w a s U n b e s t i m m t e s . Mit k r i m i n a l i s t i s c h e r N e u g i e r w a r ten w i r mit ihnen - ungewiss, unsicher, ungeduldig, z u n e h m e n d m i s s m u t i g . N u r ab u n d z u w e c h s e l t d e r B l i c k w i n k e l d e r K a m e r a . Die A r b e i t ist e i n e s t i l l e u n d g r o ß a r t i g e Reflexion über das Sehen und das Betrachten von Wirklichkeit, über E r w a r t u n g e n u n d E n t t ä u s c h u n g e n , ü b e r das V e r g e h e n von Zeit u n d d a m i t a u c h ü b e r V e r g ä n g l i c h keit. Mit d e n zwei s t u m m e n M ä n n e r n sitzen w i r als B e t r a c h t e r e b e n s o g e f a n g e n i n unserer kleinen Lebenskiste und gucken nach draußen auf eine verregnete B ü h n e o h n e d a s s w i r k l i c h e t w a s p a s s i e r t . I m G r u n d e ist d a s , w a s d i e ä s t h e t i s c h e Q u a l i t ä t von C l a e r b o u t s A r b e i t e n i n s g e s a m t a u s m a c h t , i n e i n e r Zeit d e r p e r m a n e n t e n v i s u e l len Reizüberflutung Sand in das laute Getriebe der B i l d m a s c h i n e n zu w e r f e n , innez u h a l t e n und die kleinen, leisen sowie profanen M o m e n t e s p r e c h e n zu lassen.

4 David Claerbout American Car. 2004 2-Kanal-Videoprojcktion, Farbe. HD Cam transferiert auf Festplatte. Ton I2-Kanal Monol 2 3 : 3 2 m i n und 9:31 min Installationsansicht aus dem Kunstbau des Lenbachhauses, München

IV Qualität in der Videokunst

95

6. Video, die Kunst, sich das Kino einzuverleiben (Annäherungen an das Kinematische)

W ä h r e n d ein Großteil d e r a k t u e l l e n V i d e o k u n s t sich e n t w e d e r d e m g e s e l l s c h a f t s kritischen D o k u m e n t a r f i l m oder d e m Erzählkino Hollywoods annähert - beiden Tendenzen fehlt meist der künstlerische Horizont -, gelingt es nur w e n i g e n K ü n s t lern, die f i l m i s c h e D i m e n s i o n u n d B i l d s p r a c h e i m M e d i u m Video i n k o n z e n t r i e r t e , ästhetisch anspruchsvolle Bilderzählungen umzusetzen. W e r sich a n H o l l y w o o d v e r s u c h t , s o l l t e a b e r m e h r a n b i e t e n a l s die e n d l o s e A n e i n a n d e r r e i h u n g ikonischer Zitate aus d e m Bildrepertoire der T r a u m f a b r i k . Auch w e n n e s b e i m e r s t e n B e t r a c h t e n a m ü s a n t ist, w e n n h u n d e r t a u s t a u s c h b a r e D i v e n i n r a s c h e r S c h n i t t f o l g e h i n t e r e i n a n d e r » I love y o u « h a u c h e n u n d a n s c h l i e ß e n d h u n d e r t fach auf ihr Liebesobjekt einschlagen, es zielsicher erschießen und das Bild dann t ü r e n s c h l a g e n d v e r l a s s e n - s p ä t e s t e n s bei d e r d r i t t e n A d a p t i o n d i e s e r w i e d e r a u f g e w ä r m t e n S e q u e n z i e r u n g w e n d e t m a n sich g e l a n g w e i l t ab. Um hier nun abschließend nicht in den Verdacht zu geraten, nur intellektuell s c h w e r v e r d a u l i c h e Kost m i t d e m Prädikat » w e r t v o l l « auszustatten, s o l l z u m Ende des Qualitätskanons noch ein k ü n s t l e r i s c h e s W e r k beleuchtet w e r d e n , d e m m a n sich s c h w e r entziehen kann, das jeden R a h m e n sprengt und jegliche Grenzen überschreitet.

Es geht

um

den

Cremaster-Zyklus v o n

M a t t h e w B a r n e y ( g e b . 1967).

Schon

a l l e i n d e r T i t e l ist b r i s a n t . W e r , w e n n n i c h t d e r v e r h i n d e r t e M e d i z i n e r B a r n e y , h ä t t e sich getraut, e i n e m g a n z e n W e r k k o m p l e x die g l e i c h e r m a ß e n banale wie pikante Überschrift »Hodenheber« zu geben? Aber hinter dem Wort und seiner Aussprache s c h e i n t s i c h e i n w e i t e r e s z u v e r b e r g e n : » C r e a m M a s t e r « . U n d B a r n e y ist z w e i f e l s ohne der »Sahnemeister« unter den zeitgenössischen Künstlern. Sein fünfteiliger Zyklus lässt sich im Grunde mit W o r t e n nicht beschreiben. M a n m u s s ihn gesehen haben, u n d z w a r auf d e r g r o ß e n L e i n w a n d im Kino. Da w i l l und g e h ö r t er hin. B a r n e y s P r o d u k t i o n e n sind ü b e r b o r d e n d e k a l e i d o s k o p i s c h e B i l d r e v u e n , die das g e s a m t e Inventar der abendländischen Kulturgeschichte durcheinanderwirbeln. Im Grunde geht es hier um einen Schöpfungsmythos, in dessen Mitte sich der große Künstler i m m e r wieder neu selbst gebiert und erfindet, m a l als bocksbeiniges Zwitterwesen, m a l als raubärtiger Cowboy und m a l als dunkler Zauberer. In hochglänzenden Bildern, perfekten Einstellungen und durchkomponierten Sequenzen erschafft Barney i n d i e s e n f ü n f T e i l e n , d i e z w i s c h e n 1994 u n d 2 0 0 2 e n t s t a n d e n s i n d , e i n s u r r e a l e s Paralleluniversum, das zwischen m ä r c h e n h a f t e r Naturidylle und aseptischen Kunstw e l t e n a n g e s i e d e l t i s t . D a s g e s a m t e I n v e n t a r ist b i s i n d i e K a p i l l a r e n v o m K ü n s t l e r in u n g l a u b l i c h e r Fantasie und Detailverliebtheit selbst e n t w o r f e n : die A r c h i t e k t u r , die A u s s t a t t u n g , die K o s t ü m e . V e r s u c h t e m a n , die H a n d l u n g e n und C h o r e o g r a f i e n nachzuerzählen, w ü r d e m a n sich nur halllos verstricken und überdies vielleicht auch ihr G e h e i m n i s e n t z a u b e r n . Es sei n u r so viel v e r r a t e n , m a n w i r d nicht e n t t ä u s c h t w e r d e n . W e n n e i n e r die Fähigkeit besitzt, i n u n s e r e r von B i l d e r n ü b e r s ä t t i g t e n Welt

dieser Flut etwas w i r k l i c h B i l d m ä c h t i g e s entgegenzusetzten, i n d e m er dabei auch n o c h die M e c h a n i s m e n des g r o ß e n K i n o s g l e i c h e r m a ß e n v e r s c h l i n g t w i e v e r a c h t e t , s o ist e s M a t t h e w B a r n e y . I h n a l s V i d e o k ü n s t l e r z u b e z e i c h n e n , ist i m G r u n d e v i e l z u kurz gegriffen und wird seinem Werk und Anspruch schwer gerecht. Vergleichbar w ä r e dies u n g e f ä h r d a m i t , B e u y s (1921-1986) e i n e n F i l z k ü n s t l e r z u n e n n e n . Ä h n l i c h d i e s e r a u r a t i s c h e n F i g u r d e r K u n s t g e s c h i c h t e ist a u c h B a r n e y v i e l e s z u g l e i c h , e i n A k t e u r intensiver P e r f o r m a n c e s , ein B i l d h a u e r r ä t s e l h a f t e r S k u l p t u r e n und Interieurs, ein präziser Z e i c h n e r , ein o r g a n i s a t i o n s w ü t i g e r Regisseur und ein u n e r m ü d l i c h e r A r c h i t e k t s e i n e s e i g e n e n M y t h o s . S e i n e Q u a l i t ä t l i e g t bei a l l e r k i t s c h i g e n C r e m i g k e i t der Oberfläche in der stringenten Präzision und fantasievollen Bildgewalt seiner W e r k e . S e l t e n ist m a n m i t B i l d e r n s o s c h a m l o s v e r f ü h r t w o r d e n u n d h a t s o l ä s s i g a l l s e i n e n k r i t i s c h e n A n s p r u c h a n die K u n s t ü b e r B o r d g e w o r f e n .

7. Video, die Kunst, den K o m m e r z zu v e r d a m m e n und doch erfolgreich zu sein (von Rechten, Fetischen und Limitierungen)

S p ä t e s t e n s m i t B a r n e y ist d i e V i d e o k u n s t d o r t g e l a n d e t , w o s i e n i e h i n w o l l t e . D o c h a u c h v o r i h m w a r sie b e r e i t s a u s k a u m e i n e r A u s s t e l l u n g z u r G e g e n w a r t s k u n s t w e l t w e i t w e g z u d e n k e n , die g r o ß f o r m a t i g e n L e u c h t p r o j e k t i o n e n n e h m e n i n z w i s c h e n sogar ganze R ä u m e für sich ein und d o m i n i e r e n das Profil großer Museen. Sollte dieser U m s t a n d vielleicht das ein oder a n d e r e K a u f i n t e r e s s e w e c k e n , so seien d e m g e n e i g t e n S a m m l e r a b s c h l i e ß e n d ein paar p r a g m a t i s c h e H i n w e i s e a n die H a n d gegeben, denn auch beim Erwerb der Videokunst gelten mittlerweile Qualitätsstandards und a l l g e m e i n verbindlichere Kriterien für ihre M u s e a l i s i e r u n g und k o m m e r z i e l l e A u s w e r t u n g , die trotz der bereits 4 0 - j ä h r i g e n Existenz der V i d e o k u n s t a b e r erst i n d e r u n m i t t e l b a r e n V e r g a n g e n h e i t e n t w i c k e l t w e r d e n k o n n t e n . Bei d e r H e r a u s bildung solcher Kriterien haben sich im deutschen R a u m neben öffentlichen Institutionen - wie d e m ZKM in K a r l s r u h e - auch große P r i v a t s a m m l e r und Galeristen wie d i e F r a n k f u r t e r i n A n i t a B e c k e r s h e r v o r g e t a n . W ä h r e n d bei T e i l e n d e r S a m m l e r d i e V i d e o k u n s t a n g e s i c h t s ihres u n k l a r e n M a r k t w e r t s lange Zeit ein L a d e n h ü t e r blieb, w a r vor a l l e m bei den P r o d u z e n t e n u n k l a r , w i e d e r V e r k a u f e i n e s V i d e o b a n d e s z u h a n d h a b e n s e i : S o l l t e e t w a d i e V i d e o k a s s e t t e ( s p ä t e r d a n n d i e DVD) e i n e F e t i s c h i s i e rung erfahren und durch originelle Gestaltung und Signierung der Etiketten auf den T a p e s o d e r d e n C o v e r s B e g e h r l i c h k e i t e n bei d e n S a m m l e r n w e c k e n ? O d e r s o l l t e n die W e r k e nicht w e i t e r h i n wie i m F i l m g e s c h ä f t v e r t r i e b e n und den K ü n s t l e r n f ü r öffentliche Präsentationen ein H o n o r a r gezahlt w e r d e n , wie es j a h r e l a n g Usus w a r ? Erst die H i n w e n d u n g z u r Frage der R e c h t e an d e r A r b e i t - v o r b e r e i t e t a u c h d u r c h die Praxis d e r g r o ß e n V i d e o d i s t r i b u t i o n e n w i e das Electronic A r t s I n t e r m i x i n N e w York, die V i d e o d a t a B a n k in C h i c a g o und das Lux in L o n d o n - b r a c h t e die e n t s c h e i d e n d e

E r k e n n t n i s in der H a n d h a b u n g von Videoarbeiten. Die m e i s t e n hochpreisig g e h a n delten Videoarbeiten erfahren heute in der Regel eine L i m i t i e r u n g 3 auf w e n i g e (meist fünf] E x e m p l a r e , sodass m i t h i n quasi f ü n f m a l d e r E r w e r b der Rechte für die A r c h i v i e r u n g , die private und ö f f e n t l i c h e P r ä s e n t a t i o n , den Verleih des W e r k e s f ü r Ausstellungen, der Weiterverkauf sowie seine Präsenz im Internet und Fernsehen zur Disposition stehen. Käufer und Verkäufer regeln üblicherweise vertraglich, welche Rechte mit der Veräußerung des W e r k e s auf den Käufer übergehen, verbunden a u c h m i t A n g a b e n z u E n t s t e h u n g s d a t u m , W e r k t y p u s , F o r m a l , L ä n g e , A n z a h l d e r Teile, A n g a b e n z u Farbe u n d Ton d e s W e r k e s s o w i e d e r B e s c h r e i b u n g s e i n e r m ö g l i c h s t o p t i m a l e n t e c h n i s c h e n P r ä s e n t a t i o n 4 u n d d e r Ü b e r g a b e von e i n e r DVD u n d e i n e r auf e i n e m stabileren M e d i u m a b g e s p e i c h e r t e n Version, z u m Beispiel auf D i g i t a l - B e t a cam.3 Neben dieser sukzessive allgemein durchgesetzten Form des Handels mit Videowerken existiert selbstverständlich nach wie vor a u c h das unlimitierte, niedrigpreisige W e r k sowie L i m i t i e r u n g e n in a n d e r e n G r ö ß e n o r d n u n g e n . Grundsätzlich gilt: je n i e d r i g e r die A u f l a g e , desto h ö h e r der Preis, a b e r gleichzeitig a u c h die E x k l u s i vität der Rechte. Denn b e i m Kauf einer Videoarbeit e r w i r b t der S a m m l e r n u r anteilig Rechte an einem ästhetisch wertvollen Code, deren U m f a n g vertraglich zertifiziert w e r d e n m u s s , und eben kein mit Signatur versehenes, auratisiertes Original in einer h ü b s c h e n Schachtel. Ohne ein Zertifikat, das die Rechte aller am Kauf Beteiligten e r k l ä r t u n d v o r a l l e m a u c h d i e E c h t h e i t d e s W e r k e s b e s t ä t i g t , ist d i e s e s i m G r u n d e w e r t l o s . Ein K ü n s t l e r o d e r G a l e r i s t , d e r d e m S a m m l e r n u r e i n e DVD a u s h ä n d i g t , ist entweder ahnungslos oder unseriös. I m m e r h i n w u r d e die Videokunst a b e r e n t g e g e n ihres a n f ä n g l i c h e n Protestes bereits im Alter von vierzig Jahren mit den ehrenvollen m u s e a l e n und k o m m e r z i e l l e n Weihen a u s g e z e i c h n e t , w ä h r e n d i m 20. J a h r h u n d e r t e t w a d a s t e c h n i s c h e M e d i u m d e r F o t o grafie g e r a d e z u G r e i s i n n e n a l t e r e r r e i c h e n m u s s t e , u m sich v o m K a t z e n t i s c h a n die zentrale Tafel des K u n s t b e t r i e b s zu bewegen.

1 Als »found footage« bezeichnet man gefundenes Material aus Filmen. Nachrichten oder auch dem Internet. Es muss sich dabei nicht unbedingt um Filmmaterial handeln, sondern Bilder aller Gattungen können als solches wieder verwendet und in der Videokunst verarbeitet werden. 2 Vgl. 3'. Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt. Frankfurt am Main 2004. 3 Talsächlich gab es auch in den 1980er-Jahren bereits einmal die Tendenz zur Limitierung, die sich aber damals noch nicht durchsetzen konnte. Neben der heute limitierten Auflage existiert das Masterband des Künstlers, die erste fertig editierte Arbeil. die dem Originalbcgritf anderer Gatlungen wohl am nächsten kommt. Dieses Masterband verbleibt in der Regel beim Künstler bzw. seinem Rechtsnachfolger. U Zu klären sind hierbei neben Beschreibungen des derzeit verfügbaren technischen Equipmenls auch installative Einzelheiten, ob das Werk etwa wandfüllend auf eine Fläche aufprojiziert werden soll oder aber als horizontales Rechteck, dessen umgebende Wand entweder weiß oder schwarz zu streichen ist. wo der Ton positioniert werden soll usw. 5 Die Haltbarkeit des Trägermaterials von Videowerken ist seit geraumer Zeit ein hitziges Thema auf Fachtagungen von Restauratoren und Museumsmitarbeitern. Das analoge Magnetband der frühen Videokunsl begann nach schon fünfzehn Jahren zu altern und empfindliche Fehler (»Drop Outs«l aufzuweisen. Insofern sollte die zeitlich begrenzte Hallbarkeit des Werkes auch heute bedacht werden, denn auch DVD oder Digital-Betacam sind keineswegs unsterblich. Rechtzeitige Übertragung auf das beste, nächsthaltbarere Medium sollte deshalb ebenfalls vertraglich geregelt sein.

Interview mit Wulf Herzogenrath Die F r a g e n s t e l l t e W o l f r a m Völcker.

Was verstehen Sie a l l g e m e i n unter »Qualität« in der Kunst?

Q u a l i t ä t ist s i c h e r n o c h s c h w e r e r z u d e f i n i e r e n a l s K u n s t a l l g e m e i n . U n d s e l b s t d e r große Max Bense (1910-1990) scheiterte, als er in den 1960er-Jahren eine F o r m e l f ü r d i e S c h ö n h e i t i n d e r K u n s t a u f s t e l l e n w o l l t e . U n d b e i m S p o r t ist e s j a a u c h n i c h t s o e i n f a c h : Ein g r o ß e r S p o r t l e r lässt sich n u r d a n n p r ä z i s e d e f i n i e r e n , w e n n e s u m Höhe, Weite oder Schnelligkeit geht, also um genau m e s s b a r e Werte. Aber wird ein »guter« Fußballer, der in einer S e k u n d e eines 9 0 - M i n u t e n - S p i e l s ein einziges M a l e i n e n A u s s e t z e r hat, d a m i t z u e i n e m » s c h l e c h t e n « S p i e l e r u n d die u n a u f f ä l l i g e n w e r d e n z u » g u t e n « ? Q u a l i t ä t ist e t w a s s e h r S u b j e k t i v e s . S i e ist v o n d e r e i g e n e n E r f a h r u n g , z u m B e i s p i e l o b m a n K u n s t h i s t o r i k e r , S a m m l e r o d e r J o u r n a l i s t ist, a b h ä n g i g . Grundsätzliche Einstellungen sind prägend, beispielsweise ob m a n eher Emotionales o d e r e h e r das K o n s t r u k t i v e schätzt, Subjektives o d e r S t r u k t u r e l l e s f ü r ein K u n s t w e r k f o r d e r t o d e r g e f ö r d e r t s e h e n w i l l . A l t e s dies b e s t i m m t die h ö c h s t u n t e r schiedlichen

Qualitätskriterien.

A l s K u n s t h i s t o r i k e r , d e r ich n u n e i n m a l bin, b e w e r t e ich vor a l l e m die k u n s t h i s t o r i s c h e B e d e u t u n g - u n d d a m i t s i n d w i r bei d r e i K r i t e r i e n : I n n o v a t i o n , K o n s t a n z u n d die K o n s e q u e n z , e t w a s w e i t e r z u e n t w i c k e l n . E t w a s a l s K ü n s t l e r z u e n t d e c k e n , ist z w a r s c h ö n , w e n n m a n a b e r n i c h t v e r s t e h t , w a s e s ist u n d e s n i c h t w e i t e r e n t w i c k e l t , d a n n hat m a n n i c h l s davon. In den 1 9 5 0 e r - J a h r e n h a b e n K ü n s t l e r bereits w e i ß e Bilder g e m a l t , dann aber das, w a s darin stecken könnte, nicht w e i t e r e n t w i c k e l t . Erst die K ü n s t l e r u m Zero h a b e n i n d e r z w e i t e n Hälfte d e r 1 9 5 0 e r - J a h r e dies e r k a n n t und w e i t e r e n t w i c k e l t . E s k o m m t also nicht n u r darauf an, i r g e n d e t w a s m a l als Erster g e m a c h t , s o n d e r n a u c h k o n s e q u e n t w e i t e r e n t w i c k e l t zu haben, die Potenziale zu sehen und dann auch selbst weiter voranzugehen. A u ß e r d e m besteht ein g r o ß e r U n t e r s c h i e d z w i s c h e n einer Qualität auf d e m K u n s t m a r k t und einer im Museumsbereich, und um es noch weiter zu differenzieren: Es gibt h o c h w e r t i g e K ü n s t l e r , die von den E i n f l ü s s e n a n d e r e r K ü n s t l e r b e e i n f l u s s t sind, die a b e r auf d e m K u n s t m a r k t nicht r e ü s s i e r e n . Den V i d e o k ü n s t l e r A I R o b b i n s

(1901-2000), u m m a l ein B e i s p i e l z u n e n n e n , hat N a m J u n e Paik (1932-2006) s e h r b e w u n d e r t . Für eine spezifische Künstlerszene w a r er ein hochinteressanter, anregender, w i c h t i g e r und eben qualitätvoller Künstler, aber auf d e m K u n s t m a r k t und s e l b s t bei d e n w i c h t i g e n A u s s t e l l u n g e n w a r ( u n d ist) A I R o b b i n s k a u m g r e i f b a r .

Gibt es eine a l l g e m e i n g ü l t i g e Definition f ü r das, was Sie unter Videokunst verstehen? Ist das eine Installation, eine Projektion oder ist das noch offener zu fassen?

W i c h t i g ist e r s t e i n m a l , d i e V i d e o k u n s t o f f e n z u d e f i n i e r e n : D i e T e c h n i k w i e d i e e l e k t r o m a g n e t i s c h e Bildaufzeichnung und Bildwiedergabe kann es allein nicht sein, d e n n i n d e r Zeit vor den 1 9 7 0 e r - J a h r e n w u r d e n z u m B e i s p i e l die m e i s t e n W e r k e des Videogaleristen Gerry S c h u m noch mit d e m M e d i u m Film hergestellt oder auch das w o h l e r s t e V i d e o b a n d k u n s t w e r k , Sun in Your Head 1963 v o n W o l f V o s t e l l

(1932-1998),

das sogar zwei Jahre vor der Einführung der ersten tragbaren Sony-Kamera, natürlich m i t F i l m , h e r g e s t e l l t w u r d e . Die W e r k e von Vostell u n d S c h u m k o n z e n t r i e r t e n sich auf das F e r n s e h g e r ä t als Ort d e r W i e d e r g a b e s o w i e auf ihre V e r b r e i t u n g d u r c h das Fernsehen als S t r u k t u r und den Fernseher als Medium. Wir sollten also auch solche Arbeiten als »Videokunst« definieren, welche für den Fernsehschirm gedacht sind o d e r K o m m e n t a r e z u m F e r n s e h e n d a r s t e l l e n . Dies halte ich f ü r eine viel s i n n vollere D e f i n i t i o n als die rein auf das M a t e r i a l u n d die T e c h n i k a b z i e l e n d e . Dies gilt m i n d e s t e n s e b e n s o f ü r die W e r k e , die i m letzten J a h r z e h n t e n t s t a n d e n sind, d e n n d a g e h e n die t e c h n i s c h e n M ö g l i c h k e i t e n w e i t ü b e r das k l a s s i s c h e V i d e o b a n d h i n a u s , u n d k a u m e i n V i d e o w e r k ist o h n e D i g i t a l i s i e r u n g o d e r z u m i n d e s t d i g i t a l e B e a r b e i tung

entstanden.

Auch

unsere

Edition

40jahrevideokunst.de1

enthält

bewusst

viele

Mischformen und neuere Technologien. D a s e i g e n t l i c h E n t s c h e i d e n d e f ü r d i e A k z e p t a n z v o n V i d e o k u n s t ist d i e I n t e n t i o n d e s K ü n s t l e r s , s e i n e Sicht auf die W i e d e r g a b e f o r m u n d die G e s t a l t u n g d e r I n h a l t e s o w i e d e r Bildfolge, ü b e r die w i r r e d e n u n d die u n s i n t e r e s s i e r t . I n z w a n z i g J a h r e n w e r den w i r dies u n s d a n n auf e i n e m uns heute u n b e k a n n t e n , n e u e n M e d i u m X a n s e h e n , a b e r die B i l d - T o n f o l g e - das, w a s d a s K u n s t w e r k g e g e n ü b e r s e i n e m m a t e r i e l l e n Träger auszeichnet - wird erhalten bleiben. Wenn wir es dann noch interessant finden und w e n n w i r darin n o c h die Qualität sehen, d a n n w e r d e n w i r Wege finden, das W e r k wieder abzuspielen. Es gibt die N ä h e z u r b i l d e n d e n K u n s t m i t i h r e n » I s m e n « u n d Ideen, es gibt die N ä h e zu Qualitäten der unterschiedlichen F i l m f o r m e n und natürlich auch des Fernsehens in all seinen unterschiedlichsten Formen wie Talkshows, Nachrichten und Werbung oder Musikclips - in allen Bereichen sind auch spannende Videokunstwerke entstanden, seit u n g e f ä h r zwanzig J a h r e n v e r s t ä r k t m i t Z i t a t m a t e r i a l aus den F i l m e n und F e r n s e h p r o g r a m m e n der ganzen Welt.

Gibt es denn spezifische Q u a l i t ä t s m e r k m a l e der Videokunst, die sich von anderen Medien unterscheiden? Der Präsentationskontext ist dann doch auch wichtig?

D a s E n t s c h e i d e n d e ist d i e G e s t a l t u n g d e r B i l d e r f o l g e i n d e r Z e i t . D e s h a l b f i n d e i c h d e n s c h ö n s t e n B e g r i f f d a f ü r : » Z e i t m e d i e n « . W e i l V i d e o k u n s t e i n M e d i u m ist, d a s nicht als »still«, als Standbild, existiert. Jede Z e i c h n u n g , jedes Bild, jede S k u l p t u r a u c h w e n n s i e d r e i d i m e n s i o n a l ist - ist s o z u s a g e n f e r t i g , f i x i e r t . S e l b s t w e n n s i c h d a s B i l d n i c h t b e w e g t u n d d e r T o n v i e l l e i c h t s o g a r g l e i c h b l e i b t , ist a b e r b e i m V i d e o w e r k d e r A b l a u f d e r Zeit e t w a s K o n s t i t u i e r e n d e s . Das z w e i t e w i c h t i g e E l e m e n t ist die T o n s p u r - G e r ä u s c h e , K l a n g , M u s i k o d e r die realen T ö n e w ä h r e n d d e r A u f n a h m e - , all dies s c h a f f t eine g e s t a l t e r i s c h e Einheit mit d e m Bild. Eine spezifische M ö g l i c h k e i t des Videos sei h i e r g l e i c h a n g e f ü g t : die C l o s e d C i r c u i t - V i d e o i n s t a l l a t i o n e n , die die Livebegegnung mit d e m realen Bild in der Gegenwart schafft; das Abbild erscheint ( z u m i n d e s t f ü r d a s A u g e ) z e i t g l e i c h m i t d e r a b g e f i l m t e n R e a l i t ä t . Ich k a n n m i r selbst in den Closed Circuit-Videoinstallationen begegnen und in den künstlerischen S e t z u n g e n e i n e s P e t e r C a m p u s ( g e b . 1937), B r u c e N a u m a n ( g e b . 1941) o d e r D a n G r a h a m ( g e b . 1942) m e i n e e i g e n e n , n e u e n E r f a h r u n g e n m a c h e n . Z u m e r s t e n M a l ist d e r B e t r a c h t e r s e l b s t I n h a l t d e r K u n s t . S i c h e r l i c h ist a u c h die V e r ä n d e r u n g d e r

1. 2 Bjern Melhus No Sunshine. 1997 Videostills. Farbe, Ton IStereol 6 : 1 5 m i n , Loop

T V - R e a l i t ä t , s i n d die Zitate a u s F i l m e n u n d F e r n s e h e n , die W e r k e also, die mit »found footage« a r b e i t e n , ein seit m e h r als e i n e m J a h r z e h n t a t t r a k t i v e s Feld f ü r die V i d e o k u n s t . Die V e r f r e m d u n g d e s s c h e i n b a r b e k a n n t e n M a t e r i a l s , d a s S p i e l , die Ironie, n e u e N a r r a t i o n s f o r m e n - alles dies sind spezifische F o r m e n des V i d e o k u n s t werkes.

Bei dieser Beurteilung der Arbeiten - welchen S t e l l e n w e r t messen Sie Ihrem persönlichen Geschmack bei?

E s ist n a t ü r l i c h s c h o n ein U n t e r s c h i e d , o b m a n a l s M u s e u m s p e r s o n u r t e i l t o d e r a l s Privatmann. Denn in den Museen versuchen w i r innerhalb der Möglichkeiten doch i m m e r , ein breiteres S p e k t r u m a b z u d e c k e n als n u r das, w a s m a n vielleicht den » p e r s ö n l i c h e n G e s c h m a c k « n e n n e n k ö n n t e . U n d d o c h ist e s a u c h d a w i c h t i g , d a s s g e r a d e bei V i d e o u n d d e r V i e l z a h l d e r W e r k e u n d d e r K ü n s t l e r s o w i e u n t e r s c h i e d licher n a t i o n a l e r E n t w i c k l u n g e n m a n sich auf die i n f o r m i e r t e n N e t z w e r k e v e r l a s s e n k a n n . K e i n e r k a n n i n d i e s e m d i f f u s e n F e l d u m f a s s e n d i n f o r m i e r t s e i n . D e s h a l b ist die Z u s a m m e n s e t z u n g d e r j e w e i l i g e n J u r y b e s o n d e r s w i c h t i g : o b i n M a r l b e i m D e u t -

sehen Videopreis, d e r n u n seit ü b e r zwanzig J a h r e n alle zwei J a h r e j u r i e r t wird, o d e r bei d e r D o c u m e n t a 5 u n d 8, w ä h r e n d d e r w i r die w i c h t i g s t e n f ü n f z i g i n t e r n a t i o n a l e n Videobänder ausgewählt haben, oder wie jetzt schließlich mit sieben höchst unterschiedlichen

Juroren

bei

40jahrevideokunst.de.

Für welche Videoarbeiten interessieren Sie sich für die Kunsthalle? Welche Werke w ü r d e n Sie gern e r w e r b e n ?

E i n e k u n s t h i s t o r i s c h e L i n i e ist d a n a t ü r l i c h s e l b s t v e r s t ä n d l i c h v o r h a n d e n , w e n n m a n Video in einen t r a d i t i o n s r e i c h e n M u s e u m s k o n t e x t einfügen w i l l - und s c h o n eine w u n d e r b a r e S a m m l u n g i m B e r e i c h d e r V e r v i e l f ä l t i g u n g s k ü n s t e w i e a u c h bei U n i k a t e n d e r M a l e r e i o d e r S k u l p t u r v o r h a n d e n ist. D e r V a t e r d e r V i d e o k u n s t , N a m J u n e Paik, stand nicht nur am Anfang, s o n d e r n er w a r in den letzten dreißig Jahren auch i m m e r A n r e g e r f ü r v i e l e E n t w i c k l u n g e n u n d h a t w i c h t i g e W e r k e g e s c h a f f e n , e r ist n a t ü r l i c h s e l b s t v e r s t ä n d l i c h f ü r die S a m m l u n g . W i r h a b e n m i t t l e r w e i l e sechzig A r b e i t e n auf P a p i e r u n d v i e r g r o ß e , w i c h t i g e I n s t a l l a t i o n e n o d e r S k u l p t u r e n - w i e i m m e r Sie d a s jetzt n e n n e n w o l l e n . Ich m ö c h t e a u c h g e r n die d e u t s c h e Szene d a r s t e l l e n . Die g r o ß e a m e r i k a n i s c h e Szene mit Bruce N a u m a n oder Dan G r a h a m können w i r aus finanziellen G r ü n d e n nicht m e h r darstellen, a b e r das W e r k von Peter C a m p u s h a b e n w i r dafür u m s o u m f a s s e n d e r g e s a m m e l t , ebenso wie kleine, aber entscheidende Werke v o n G a r y H i l l ( g e b . 1951) u n d B i l l V i o l a ( g e b . 1951), a u c h e i n e w i c h t i g e P o s i t i o n d e r j ü n g e r e n G e n e r a t i o n w i e D i a n a T h a t e r ( g e b . 1962). U l r i k e R o s e n b a c h ( g e b . 1943), K l a u s v o m B r u c h ( g e b . 1952), M a r c e l O d e n b a c h ( g e b . 1953) o d e r I n g o G ü n t h e r ( g e b . 1957), e i n i g e d e r » V ä t e r « u n d » M ü t t e r « , d i e s e i t z w a n z i g J a h r e n W i c h t i g e s a u f d i e s e m G e b i e t g e s c h a f f e n h a b e n , g e h ö r e n z u r S a m m l u n g w i e a u c h d e r S c h w e i z e r Yves N e t z h a m m e r ( g e b . 1970), d i e J a p a n e r i n M a r i k o M o r i ( g e b . 1967) u n d d i e j ü n g e r e G e n e r a t i o n , e t w a C h r i s t i a n J a n k o w s k i ( g e b . 1968), d i e B r ü d e r v o n W e d e m e y e r ( g e b . 1970 u n d 1974) o d e r A s t r i d N i p p o l d ( g e b . 1973).

Woran e r k e n n e n Sie ein herausragendes Werk?

Innovation und Konsequenz, eine eigenständige Entwicklung und sicher auch eine eigene Handschrift. Wobei eine Handschrift auch sein kann, keine zu haben. Kippenb e r g e r (1953-1997) ist d a j a ein w u n d e r b a r e s B e i s p i e l . J e d e n f a l l s ist die E r k e n n b a r k e i t e i n e s K o n z e p t e s e i n e w i c h t i g e S a c h e . E i n e B e u r t e i l u n g ist u m s o s c h w i e r i g e r , w e n n e i n e r n u r e i n e i n z i g e s W e r k g e m a c h t hat, d a s h e r a u s r a g e n d ist. A b e r a u c h d a s g i b t e s : I m i K n o e b e l ( g e b . 1940) h a t e i n e i n z i g e s V i d e o b a n d g e m a c h t , d a s e i n f a c h h e r v o r r a g e n d ist. M a n m u s s v o r s i c h t i g s e i n , feste R e g e l n a u f z u s t e l l e n .

Es ist ja so: Wenn man sich für Videokunst interessiert, t r i f f t man zum Beispiel auf Nam June Paik. Das ist kein Zufall. Hängt dies außer mit seiner Pionierleistung nicht auch mit dem z u s a m m e n , was das Band tatsächlich zeigt? Und wie k o m m t man eigentlich an solche Bänder?

Es gibt hier w i r k l i c h ein ganz g r o ß e s P r o b l e m , d e n n w i e k a n n ein Interessent ü b e r haupt ein Videoband eines d e u t s c h e n K ü n s t l e r s k e n n e n l e r n e n ? D e s w e g e n bin ich so

dankbar,

dass die

Bundeskulturstiftung

mit

40jahrevideokunst.de j e t z t

den

ersten

Stein ins W a s s e r g e w o r f e n hat. Endlich sind n e u n u n d f ü n f z i g w i c h t i g e Videowerke zugänglich. D a s P r o b l e m ist a l s o , d a s s V i d e o e i n M e d i u m i s t , d a s e i g e n t l i c h r e p r o d u z i e r b a r i s t , a b e r a u f g r u n d d e s U r h e b e r r e c h t s e b e n d o c h s c h w e r e r z u g ä n g l i c h ist, w e i l e s e i n Z e i t m e d i u m ist - i m G e g e n s a t z z u e i n e r S k u l p t u r o d e r e i n e m B i l d , d a s i c h i m m e r h i n i n e i n e r R e p r o d u k t i o n e i n i g e r m a ß e n e r k e n n e n k a n n . A b e r bei e i n e m V i d e o b a n d b r a u c h e ich w e n i g s t e n s einen 2 - M i n u t e n - A u s s c h n i t t , sonst w e i ß ich nicht, w a s diese drei, vier S t a n d b i l d e r , die ich da habe, inhaltlich w o l l e n , o d e r w i e die Gestaltung, wie d e r Z e i t r h y t h m u s ist, w i e d e r T o n e n t s t a n d e n i s t . Zu

dem

B u c h 40jahrevideokunst.de g i b t e s e i n e DVD, d i e

neben

immerhin 2-Minuten-

Ausschnitten der ausgewählten Werke der neunundfünfzig Künstler und ihrer präzisen t e x t l i c h e n D a r s t e l l u n g w e i t e r e Teile a n d e r e r W e r k e b e i n h a l t e t . U n d a u ß e r d e m ist e i n e S t u d i e n e d i t i o n d e r k o m p l e t t e n W e r k e f ü r I n s t i t u t i o n e n e r s c h i e n e n , d i e d i e s e W e r k e n u n m e h r sichtbar w e r d e n lässt.

Können Sie m i r zwei Beispiele f ü r qualitativ sehr hochwertige Videokunst nennen?

B j ö r n M e l h u s ( g e b . 1966) ist e i n K ü n s t l e r , d e r m i t d e m F e r n s e h e n a u f g e w a c h s e n i s t . E r s p i e l t s e l b s t a l l e s e i n e e r f u n d e n e n R o l l e n (vgl. S . 90, A b b . 2). H i n s i c h t l i c h d e s T e c h n i s c h e n ist d i e s s e h r e i n f a c h . M a n m u s s k e i n H i g h t e c h s t u d i o h a b e n , u m g u t e K u n s t z u m a c h e n . I m m e r ist d i e I d e e d i e w i c h t i g s t e G r u n d t a g e . D a s S p a n n e n d e i s t , dass er kurze Passagen aus Popsongs oder alten Filmen neu z u s a m m e n s e t z t und r h y t h m i s i e r t . E s ist e i n e U m k e h r u n g : H i e r e n t s t a n d d i e T o n s p u r z u e r s t , u n d d i e Bilder entwickelt er dazu später. Es entsteht auch ein ironischer K o m m e n t a r zur P o p m u s i k , a b e r a u c h , w i e i n N o Sunshine ( A b b . 1 , 2), z u m K l o n e n , d e m V e r d o p p e l n von Bildern, von Realitäten. D i e K ö l n e r i n C o r i n n a S c h n i t t ( g e b . 1964) n u t z t e i n e e i n z i g e K a m e r a f a h r t v o n u n g e f ä h r a c h t M i n u t e n ( A b b . 3 , 4). D a s ist e h e r a u f w e n d i g u n d w i r k t f a s t w i e e i n F i l m i n d e r g a n z e n t e c h n o l o g i s c h e n P r ä z i s i o n u n d D u r c h f ü h r u n g . Sie e n t d e c k t e e i n e n w u n d e r baren Ort u n d hat d a f ü r eine eigenartig s u r r e a l e Geschichte e n t w i c k e l t . Es beginnt mit der Fahrt eines Segelboots, dessen Spielzeuggröße m a n aber erst dann bem e r k t , w e n n das U m f e l d ins Bild k o m m t . Ein S c h w e n k ü b e r banale F e r i e n h a u s e r ,

die alle gleich a u s s e h e n , w i r s e h e n in eine leere, s c h e i n b a r k ü n s t l i c h e Welt, und der Schwenk

endet

in

einem

Zimmer,

in

dem

Das schlafende

Mädchen v o n

Vermeer

(1632-1675) als große R e p r o d u k t i o n h ä n g t und ein Vertreter auf d e m A n r u f b e a n t w o r ter nervende, u n a n g e n e h m e , uns allen bekannte Sprüche loslässt, sodass m a n b r u t a l in die banale Realität z u r ü c k g e h o l t w i r d . J e d e r dieser K ü n s t l e r gibt eine eigene, völlig u n t e r s c h i e d l i c h e Sicht auf Realität w i e der: eine selbst gespielte, mit bekannten Tönen rhythmisierte oder scheinbar aus d e m g r o ß e n M e d i u m F e r n s e h e n b e k a n n t e F i l m t e c h n i k , die aber auf d i e s e m kleinen B i l d s c h i r m a u c h o f f e n lässt, o b d a s n i c h t a l l e s i m S t u d i o a u f w e n d i g g e b a u t ist. W i r k e n n e n T h o m a s D e m a n d ( g e b . 1964), d e r i n s e i n e n F o t o g r a f i e n d i e r e a l e n W e l t e n n o c h m a l i n Klein k ü n s t l i c h n a c h b a u t . Hier s i n d die Q u a l i t ä t e n , von d e n e n w i r v o r h i n sprachen.

3. 4 Corinna Schnitt Das schlafende Mädchen, 2001 Farbe. Ton IStereo] 8:20min

Sehen Sie irgendeinen Zusammenhang zwischen der qualitativen Bedeutung eines Videos und dem K u n s t m a r k t ?

D a s ist e i n w i c h t i g e s T h e m a u n d b e r ü h r t d e n K o m p l e x , d e n i c h v o r h i n a n s p r e c h e n w o l l t e , als ich sagte, es gibt s e h r qualitätvolle, w i c h t i g e K ü n s t l e r , die g r o ß e n Einfluss auf a n d e r e K ü n s t l e r haben, a b e r auf d e m K u n s t m a r k t k a u m b e k a n n t sind bezieh u n g s w e i s e k a u m a n g e m e s s e n e P r e i s e e r h a l t e n . Ich n a n n t e f ü r d e n V i d e o b e r e i c h A I R o b b i n s , m a n k ö n n t e a u c h T o m a s S c h m i t ( g e b . 1943) n e n n e n , d e r e b e n » n u r « kleine Zeichnungen m a c h t und deshalb für den hochpreisigen K u n s t m a r k t ebenso h e r a u s f ä l l t w i e ein Großteil d e r M e d i e n k u n s t . D e n n a u c h die g r o ß e n S t a r s w i e N a m June Paik sind g e m e s s e n an i h r e m k u n s t h i s t o r i s c h e n Rang und der Attraktivität ihres W e r k e s eigentlich viel zu preiswert, w e n n w i r dies mit den Tafelbildmalern vergleichen u n d d a n n noch b e d e n k e n , wie viele v e r g l e i c h b a r e W e r k e es j e w e i l s von den K ü n s t l e r n gibt. A u c h die i n n e r h a l b der M e d i e n k u n s t t e u e r s t e n K ü n s t l e r wie Bill Viola oder Gary Hill sind p r e i s w e r t e r als alle vergleichbaren Malerstars, deren Kurzlebigkeit w i r nicht erst seit d e m A u f s t i e g und Fall d e r J u n g e n W i l d e n e r l e b t h a b e n . Die

wirklich entscheidenden Personen in der Medienkunst werden sicher noch große S t e i g e r u n g e n e r l e b e n : Denn die Z u k u n f t w i r d zeigen, ob w i r die P r o b l e m e des 21. J a h r h u n d e r t s w i r k l i c h m i t s t a t i s c h e n , i n Ö l g e m a l t e n B i l d e r n d a r g e s t e l l t e r l e b e n k ö n n e n und wollen, oder ob dies nicht doch mit den m e d i a l e n Bildern des Films, des Fernsehens und der Videokunst geschieht.

Spielt eigentlich auch das Thema eine Rolle, das »Was«? Oder geht es i m m e r nur d a r u m , wie der Künstler das eigentlich gemacht und umgesetzt hat?

E s w i r d i m m e r M e n s c h e n geben, die sich v o m H a n d w e r k l i c h e n , d e m T e c h n i s c h e n bee i n d r u c k e n lassen. Es kann einen staunen lassen, wie j e m a n d eine vielfigurige Szene auf e i n e m K i r s c h k e r n m a l e n k a n n o d e r w i e ein t e c h n i s c h n e u e r Gag n e u e B i l d e r i n Zeit u n d R a u m e n t s t e h e n lässt - d o c h i m m e r w i r d die k ü n s t l e r i s c h e Vision, w e r d e n die Inhalte das E n t s c h e i d e n d e sein. H a n d w e r k l i c h g e k o n n t m a l e n w i e R e m b r a n d t kann jeder Kopist, aber diese existenziell uns heute noch b e r ü h r e n d e Sicht auf den M e n s c h e n und unsere Probleme - das m a c h t den Rang eines R e m b r a n d t aus. Und s o ist e s a u c h i n d e r V i d e o k u n s t : D e r t e c h n i s c h e G a g e i n e s » B l u e b o x - E f f e k t s « a l l e i n m a g v e r b l ü f f e n , so w i e ihn Peter C a m p u s in

Three Transitions 1973 e i n g e s e t z t h a t .

das m a c h t das Sehen dieses Tapes zu e i n e m unvergesslichen Ereignis.

Die Technik ist also nicht so wichtig?

Die T e c h n o l o g i e m u s s » s t i m m e n « u n d d e m I n h a l t a n g e m e s s e n s e i n , w i e bei e i n e m Ö l b i l d , e i n e r Z e i c h n u n g , e i n e r D r u c k g r a f i k . E i n Ö l b i l d v o n C y T w o m b l y ( g e b . 1928) mit diesen zarten Linienbündeln kann m a n nicht als Siebdruck umsetzen, sondern a l s L i t h o g r a f i e - u n d t r o t z d e m ist d i e g r a f i s c h e T e c h n i k n i c h t d a s , w a s w i r d a n n a n Twomblys Bild bewundern. Es wird also deutlich, dass b e s t i m m t e technische, techn o l o g i s c h e B e s o n d e r h e i t e n b e i m Video zu b e a c h t e n sind. A b e r die k ü n s t l e r i s c h e S e i t e ist i m m e r d a s S p a n n e n d e , d a s B e w e g e n d e .

Worauf sollte man als S a m m l e r von Videoarbeiten achten?

W i e a u c h bei d e n a n d e r e n k ü n s t l e r i s c h e n M e d i e n u n d W e r k e n : E s m u s s e i n e m e t w a s »sagen«, es m u s s einen »ansprechen«, es m u s s e i n e m wichtig sein. Kunst als K a p i t a l a n l a g e ist s e l t e n ein g u t e r A n s a t z - a u c h w e n n e s n o c h s o viele B e i s p i e l e gibt, d i e b e l e g e n , w i e W e r k e - o b n u n v o n N e o R a u c h ( g e b . 1960) o d e r M a u r i z i o C a t e l l a n ( g e b . 1960) - i n n e r h a l b w e n i g e r J a h r e i h r e n W e r t v e r z e h n f a c h e n . W e r i s t d e r K ü n s t -

Ler, h a t e r e i n e k ü n s t l e r i s c h e B i o g r a f i e , h a t e r a n w i c h t i g e n A u s s t e l l u n g e n t e i l g e n o m m e n , bei g u t e n W e t t b e w e r b e n P r e i s e g e w o n n e n , ist e r v o n g u t e n M u s e e n a n g e k a u f t oder dort ausgestellt? All dies hilft natürlich, einen gewissen Rang festzustellen. Der K u n s t h ä n d l e r b e z i e h u n g s w e i s e d e r K ü n s t l e r s o l l t e n die E d i t i o n s h ö h e des Videow e r k e s in e i n e m Zertifikat festlegen und sie sollten sich bereit e r k l ä r e n , zu reinen t e c h n i s c h e n K o s t e n a u c h i n Z u k u n f t die j e w e i l s beste, n e u e m e d i a l e F o r m z u liefern, die d a n n g e b r ä u c h l i c h ist. Ein s o l c h e s Z e r t i f i k a t ist h i l f r e i c h u n d n ü t z l i c h f ü r beide S e i t e n . N o c h e i n m a l : Die t e c h n i s c h e , m a t e r i e l l e Seite m u s s b e d a c h t w e r d e n , a b e r d i e i n h a l t l i c h e , f o r m a l e , k ü n s t l e r i s c h e ist d i e e n t s c h e i d e n d e K o m p o n e n t e .

1

Vgl.

40jahrevideokunst.de

-

Digitales

Erbe:

Videokunst

in

Deutschland

von

1963

bis

heute,

hrsg.

Rudotf Frieting und Wulf Herzogenrath, Ausst. Kat. Kunsthalle Bremen u.a., Ostfildern 2006.

von

V Q u a l i t ä t in d e r F o t o g r a f i e

Interview mit Urs Stahel Die F r a g e n s t e l l t e W o l f r a m Völcker.

Was verstehen Sie ganz altgemein unter »Qualität« in der Kunst?

Gleich z u B e g i n n e i n e s I n t e r v i e w s die Frage n a c h L e b e n u n d Tod? Q u a l i t ä t w i r d genährt durch Präsenz, Inhaltlichkeit, Stimmigkeit. Komplexität eines Werkes und e i n i g e s m e h r . E s e x i s t i e r e n w e r k i m m a n e n t e K r i t e r i e n f ü r Q u a l i t ä t . W i c h t i g ist a b e r a u c h die S i l u i e r u n g e i n e s W e r k e s im Kontext, in d e r G e s e l l s c h a f t , in d e r Zeit. A u c h darin liegt Qualität. Qualität findet sich also nicht n u r im W e r k selbst, s o n d e r n a u c h zwischen den Werken, zwischen d e m Werk und der Welt, zwischen d e m Künstler u n d s e i n e r H a l t u n g u n d d e m g e s t a l t e t e n W e r k u n d d e r W e l t . Ein W e r k m u s s z u m B e i s p i e l ein b e s t i m m t e s Maß a n A k t u a l i t ä t e n t h a l t e n , d a m i t die B e t r a c h t e r die Qualität eines W e r k e s in einer b e s t i m m t e n Zeit a u c h e r k e n n e n k ö n n e n . Und gleichzeitig hoffen wir, dass es neben den offen d a l i e g e n d e n a u c h v e r b o r g e n e Qualitäten a u f w e i s t , die es die Zeit ü b e r d a u e r n lassen.

Was verstehen Sie unter einer Fotografie?

E i n e F o t o g r a f i e ist d a s R e s u l t a t e i n e s o p t i s c h e n u n d c h e m i s c h e n P r o z e s s e s , r e a l i siert mit einem Lichtaufzeichnungsapparat und mit chemischen Entwicklungsprozessen, die e s z u s a m m e n e r l a u b e n , die p e r s p e k t i v i s c h e W a h r n e h m u n g d e r Welt, w i e sie seit d e r R e n a i s s a n c e k o n s t r u i e r t w i r d , z u fixieren. Optik u n d C h e m i e g e h e n h i e r Hand in Hand, um ein W a h r n e h m u n g s m i t t e l mit großer W i r k u n g zu erzeugen. Nach dieser einfachen Beschreibung wird es komplexer, je nachdem, ob wir in w a h r n e h mungstheoretischer, in semiotischer, in weltanschaulicher oder mcdientheorelischer Hinsicht das P h ä n o m e n »Fotografie« beschreiben wollen. Jedenfalls kann es ebenso als ein b a n a l e r A l l t a g s g e g e n s t a n d , als ein g e s e l l s c h a f t l i c h - k u l t u r e l l e s P h ä n o m e n wie auch als Kunstgegenstand im engeren Sinne betrachtet und verstanden werden. Und je nach G e b r a u c h der Fotografie, je nach Kontext v e r ä n d e r n sich a u c h die Kriterien ihrer W a h r n e h m u n g und Wertschätzung, mithin ihrer Qualität.

Gibt es a l l g e m e i n g ü l t i g e Q u a l i t ä t s m e r k m a l e in der Fotografie?

»Allgemeingültige« Qualitätsmerkmale können w o h l i m m e r nur bedeuten: Kriterien, die zu e i n e r b e s t i m m t e n Zeit i n t e r s u b j e k t i v , das heißt von m e h r e r e n S u b j e k t e n , von e i n e r Gruppe, von vielen als g ü l t i g u n d w i c h t i g e r a c h t e t w e r d e n . Diese Relativität d e r Qualität gilt f ü r alle K u n s t . In d e r Fotografie g e s e l l t sich e b e n e r s c h w e r e n d hinzu, d a s s F o l o g r a f i e f ü r die u n t e r s c h i e d l i c h s t e n Z w e c k e e i n g e s e t z t w i r d . Die G r u p p e d e r gewerblichen Fotografen wird sich mit fotokünstlerischen Äußerungen besonders s c h w e r tun, w e n n die von ihnen e r l e r n t e n , g e s c h ä t z t e n und v e r w e n d e t e n Kriterien der richtigen Grauwertverteilung, der korrekten Farbwiedergabe gemäß der Kodakoder Fuji-Farbskala, der Schärfe des fotografischen Korns nicht erfüllt sind. Für einen K ü n s t l e r h i n g e g e n kann es gerade e n t s c h e i d e n d sein, all diese V o r s t e l l u n g e n ü b e r B o r d z u w e r f e n . Ein B e i s p i e l a u s d e r F o t o g e s c h i c h t e m a g d i e s e P r o b l e m a t i k n o c h e t w a s v e r d e u t l i c h e n : Die P i k t o r i a l i s t e n , V e r t r e t e r e i n e r v o r h e r r s c h e n d e n Stilr i c h t u n g u m 1900, w e h r t e n s i c h g e g e n d e n V o r w u r f a n d i e F o t o g r a f i e , s i e sei e i n e m e c h a n i s t i s c h e D a r s t e l l u n g , i n d e m sie m i t a l l e n m ö g l i c h e n M i t t e l n ein s a n f t e s , a t m o s p h ä r i s c h e s Bild e r z e u g t e n . Fotografien, m i t G u m m i u n d B r o m ö l auf w e i c h e s , offenes A q u a r e l l p a p i e r g e d r u c k t , v e r w a n d e l t e n j e d e s s c h a r f e Negativ in ein m a l e r i s c h e s , r o m a n t i s c h e s oder impressionistisches Bild - bläulich, bräunlich oder olivgrün eing e f ä r b t . Die m o d e r n e F o t o g r a f i e j e d o c h b e g a n n s i c h seit d e n 1 9 2 0 e r - J a h r e n auf ihre e i g e n e n M i t t e l z u b e s i n n e n . Sie w u r d e s e l b s t b e w u s s t e r , e n t w i c k e l t e ein e i g e n e s f o r s c h e n d e s Sehen der Welt, ein direktes, s c h n ö r k e l l o s e s E r k u n d e n der sichtbaren Wirklichkeit aus verschiedenen Perspektiven, ohne in den Fundus der Malereigeschichte zu greifen. Fotografie w u r d e »straight«, scharf und klar, mit der Verpflichtung, i m m e r das volle Negativ, also alles Gesehene, zu belichten. Hier haben sich G e s t a l t u n g s - u n d d a m i t a u c h Q u a l i t ä t s k r i t e r i e n s e h r d e u t l i c h i n n e r h a l b von z e h n bis zwanzig J a h r e n ins Gegenteil verkehrt.

Welche sind für Sie spezifische Q u a l i t ä t s m e r k m a l e der Fotografie, die für andere Medien so nicht gelten?

E i n k l a s s i s c h e s Q u a l i t ä t s m e r k m a l d e r F o t o g r a f i e ist d i e P r i n t q u a l i t ä t . D e r B e g r i f f »Fine A r t of P h o t o g r a p h y « u n t e r s t r e i c h t den Kult des g u t e n A b z u g e s , d e r fein verteilten, reichen Grauabstufungen, der liefen Schwärzen, der perfekt gesetzten Spitzlichter. Auf Auktionen manifestiert sich diese Fetischisierung sehr deutlich. Vor l a u t e r K o n z e n t r a t i o n auf diese Q u a l i t ä t e n w i r d leicht d e r Inhalt, d e r G e h a l l des B i l d e s ü b e r s e h e n . Diese A u s r i c h t u n g auf die Fotografie a l s A r t e f a k t f u n k t i o n i e r t a b e r n u r bei a l l e n S i l b e r g e l a t i n e a b z ü g e n . F a r b a b z ü g e a u f P l a s t i k p a p i e r u n d z e i t g e nössische Digitalprints erlauben diesen Fetischismus nicht m e h r in g l e i c h e r w e i s e .

D e n n o c h : In d e r (klassischen) Fotografie hat sich ein Rest h e r k ö m m l i c h e r Q u a l i t ä t s v o r s t e l l u n g e n e r h a l t e n , die i n d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n K u n s t s o nicht m e h r v o r h a n d e n sind, w e i l heute Eingriffe ins Leben im V o r d e r g r u n d stehen, Situierungen, K o m m e n tierungen, Stellungnahmen und so weiter, und dadurch der Aspekt der qualitätvollen G e s t a l t u n g sein Q u a l i t ä t s p r i m a t e i n g e b ü s s t hat. Eine w e i t e r e B e s o n d e r h e i t der Fotografie liegt im Z u s a m m e n s p i e l von v o r h a n d e n e r Realität und d e m Gestalten von f o t o g r a f i s c h e r Realität. Dieser W e s e n s z u g des M e d i u m s b e g r ü n d e t a u c h ein z e n t r a l e s Q u a l i t ä t s m e r k m a l : W i e g e l i n g t es, die v o r g e f u n d e n e Realität i n eine g e s t a l tete Bildrealität u m z u s e t z e n ?

Welches K r i t e r i u m ist für Sie persönlich f ü r die Qualität einer Fotografie am wichtigsten?

Ich g e b r a u c h e o f t d e n B e g r i f f » P r ä s e n z « , s p r e c h e v o n » v o r h a n d e n e r « o d e r v o n » m a n g e l n d e r P r ä s e n z « e i n e r Fotografie. Der Begriff lässt sich auf B i l d e r a l l g e m e i n , ja s e l b s t auf die Kraft e i n e s A u f t r i t t s in der Ö f f e n t l i c h k e i t a n w e n d e n . Er hat a b e r e i n e n b e s o n d e r e n S t e l l e n w e r t i m E r f a h r e n v o n F o t o g r a f i e . F o t o g r a f i e ist i m m e r u n d a u s s c h l i e ß l i c h f l a c h , a u ß e r g e w ö h n l i c h f l a c h s o g a r . Sie h a t k e i n e g r e i f b a r e , s o n d e r n e i n e a b w e i s e n d e , oft g l ä n z e n d e , s p i e g e l n d e O b e r f l ä c h e . D a s hat z u r Folge, d a s s j e d e Fotografie, w i l l sie w a h r g e n o m m e n , e r f a h r e n w e r d e n , m i t g r o ß e r b i l d n e r i s c h e r P r ä senz dieses A b w e i s e n d e u b e r s c h r e i t e n und hinter sich lassen muss. Erst mit dieser Präsenz im R a u m , erst mit d i e s e m visuellen » i m p a c t « k a n n sich das Bild die A u f m e r k s a m k e i t s e i n e r B e t r a c h t e r s i c h e r n . Erst d u r c h sie w i r d eine W e c h s e l w i r k u n g v o m Bild z u m Betrachter und zurück, wird eine inhaltliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g m ö g l i c h . E n t s p r e c h e n d z e n t r a l ist d i e s e s M e r k m a l , v o r a l l e m b e i B i l d e r n , d i e a u s g e s t e l l t , die in e i n e n R a u m g e h ä n g t sind. Doch w i r sollten i m m e r g e w a h r sein, dass für jedes K r i t e r i u m auch i m m e r sein G e g e n t e i l z u t r e f f e n kann. In d i e s e m Falle w ä r e das ein s e h r stilles Bild, das k a u m auf sich a u f m e r k s a m m a c h t , das erst, w e n n ich es in d e n H ä n d e n halte, w e n n ich m i c h lange d a m i t beschäftige, sein G e h e i m n i s v o r t r ä g t , e n t w i c k e l t u n d teilweise lüftet.

Welchen Stellenwert messen Sie Ihrem persönlichen Geschmack bei der Beurteilung von Qualität zu?

Der persönliche G e s c h m a c k spielt i m m e r mit. Doch als K u r a t o r und Autor, der tagaus, t a g e i n m i t F o t o g r a f i e b e s c h ä f t i g t ist, s o l l t e e s m i r m ö g l i c h sein, d e n p e r s ö n l i c h e n G e s c h m a c k z u m i n d e s t so weit zu läutern, dass ich eher von m e i n e m » E r k e n n t n i s i n t e r e s s e « a l s n u r v o m b l o ß e n » G e s c h m a c k « r e d e n k a n n . Ich s o l l t e m e i n e V o r l i e b e n

k e n n e n u n d a u c h k r i t i s c h h i n t e r f r a g e n können, d a m i t sie m i r b e i m B e t r a c h t e n und B e u r t e i l e n von W e r k e n nicht i m W e g e stehen, d a m i t ich fähig bin, s e h r u n t e r schiedliche A r t e n von Fotografie zu beurteilen, ihre Qualität zu e r k e n n e n - selbst w e n n es sich um Fotografie handelt, die m i c h p e r s ö n l i c h nicht so s t a r k interessiert. D e u t l i c h e r n o c h , i c h s o l l t e f ä h i g s e i n z u s a g e n : D a s ist e i n s e h r g u t e s W e r k , d o c h e s o p e r i e r t i n e i n e m F e l d , d a s m i c h n i c h t s e h r i n t e r e s s i e r t . U n d g l e i c h z e i t i g ist m i r bewusst, dass das nie vollständig g e l i n g e n kann.

Woran erkennen Sie ein herausragendes Werk?

Ich m ö c h t e auf zwei s e h r v e r s c h i e d e n e W e i s e n a n t w o r t e n . Z u m einen: Zuallererst geht es w o h l nicht um ein Erkennen, v i e l m e h r um ein Spüren, ein A h n e n . Ich stehe vor e i n e m W e r k und w i l l nicht m e h r w e i t e r g e h e n . Es steht in einer Reihe mit a n d e r e n W e r k e n und doch lässt genau dieses W e r k m i c h nicht m e h r los. Ich k e h r e i m m e r w i e d e r z u r ü c k , b e g i n n e e s z u e r f o r s c h e n . D i e s e r e r s t e n g r o ß e n Anziehungskraft folgend, beginnt das genaue Betrachten und Erforschen des Bildes. Schritt u m Schritt, B e d e u t u n g s s c h i c h t u m B e d e u t u n g s s c h i c h t . Mit d e r Zeit e r k e n n e ich d e n A u f b a u des W e r k e s , begreife ich seine V i e l s c h i c h t i g k e i t . Mit d e r Zeit m e i n e i c h , d a s B i l d z u k e n n e n . W e n n e s d a b e i b l e i b t , d a n n ist e s w o h l e i n g u t e s , v i e l l e i c h t a b e r kein h e r a u s r a g e n d e s W e r k . Ein h e r a u s r a g e n d e s W e r k zieht m i c h i m m e r w i e d e r von N e u e m an, stellt i m m e r w i e d e r seine Fragen ein w e n i g anders, lässt m i c h nicht in Ruhe. Z u m a n d e r e n : Mit dieser Art der B e s c h r e i b u n g von Qualität zielen w i r an e i n e r w e s e n t l i c h e n E n t w i c k l u n g der G e g e n w a r t s k u n s t vorbei. Diese B e s c h r e i b u n g konzent r i e r t sich auf d a s e i n z e l n e W e r k , s u c h t die Qualität n u r i n n e r h a l b des v o r u n s l i e g e n d e n , v o r u n s h ä n g e n d e n W e r k e s . Sie s p r i c h t u n a u s g e s p r o c h e n v o m » M e i s t e r w e r k « und v e r k e n n t , dass sich seit den 1 9 6 0 e r - J a h r e n die Qualität e i n e r k ü n s t l e r i s c h e n Intervention s e h r s t a r k v o m Einzelwerk entfernt hat u n d sich a n d e r s m a n i f e s t i e r t : in einer Reihe, einer Serie von Werken, in einer Haltung, einer inhaltlichen A u s e i n a n dersetzung, in e i n e m Statement, K o m m e n t a r , einer visuellen S t e l l u n g n a h m e . Dabei bemisst sich Qualität nicht m e h r am »Werk« im h e r k ö m m l i c h e n Sinne, nicht m e h r n u r an d e r H a r d w a r e , s o n d e r n a u c h an der Software, an d e r Intervention, die der Künstler, der Fotograf, in u n s e r e m Denken, im Netzwerk der K o m m u n i k a t i o n vorn i m m t . W a s i c h i n d e n H ä n d e n h a l t e , ist d a n n o f t n u r d e r k l e i n e T e i l e i n e r k o m p l e x e n H a n d l u n g , die v o l l z o g e n w o r d e n ist u n d die a l s G e s a m t e s z u b e u r t e i l e n ist. W a s ich d a m i t a u c h s a g e n w i l l : U n s e r S t a n d p u n k t ist i n B e w e g u n g g e r a t e n , oft f i n d e t s i c h die Qualität g a r n i c h t m e h r da, w o w i r sie v e r m u t e n . U n d w i r e r k e n n e n sie n u r , w e n n wir uns selbst bewegen, w e n n w i r nicht mit der Sicherheit des Kenners, ruhig und sakrosankt, vor Bildern stehen und Urteile abgeben.

Können Sie m i r anhand eines Beispiels von besonders hoher Qualität und anhand eines Werkes von g e r i n g e r Qualität Ihre K r i t e r i e n und Ihren Ansatz e r l ä u t e r n ?

U n g e r n . G e n a u s o u n g e r n , w i e ich m i c h ö f f e n t l i c h ü b e r die E i g e n s c h a f t e n d i e s e s o d e r j e n e s M e n s c h e n ä u ß e r n m ö c h t e , a u ß e r e s ist v o n g e s e l l s c h a f t s p o l i t i s c h e r Relevanz. Zwei w e i t e r e Gründe, auf diese Frage nicht direkt e i n z u g e h e n , sind folgende: Jede B e s c h r e i b u n g von Qualität passt s o w o h l auf ein g u t e s als a u c h auf ein s c h l e c h t e s B i l d . E s i s t w i e bei W e i n b e s c h r e i b u n g e n : D i e W o r t e , d i e d a g e f u n d e n u n d g e w ä h l t werden, haben wenig mit d e m gemein, was wir schließlich in der Nase riechen und im M u n d s c h m e c k e n . Und: Für jedes K r i t e r i u m von Qualität, das wir aufzählen k ö n n e n , f i n d e n w i r i m m e r a u c h s e i n G e g e n t e i l . Ich h a b e d a s z u v o r s c h o n e r w ä h n t , deshalb hier konkreter zwei Beispiele dazu: 1. A l s k l a s s i s c h e s K r i t e r i u m f ü r eine g u t e S c h w a r z - W e i ß - F o t o g r a f i e gilt die A u s g e wogenheit der Hell-Dunkel-Werte. Überall sollten w i r noch Zeichnung im Bild sehen, s o w o h l in d e n h e l l e n a l s a u c h in d e n d u n k l e n S t e l l e n . W e d e r die h e l l e n n o c h die d u n k l e n S t e l l e n ü b e r w i e g e n s t a r k . E s ist a b e r l e i c h t , h e r v o r r a g e n d e F o t o g r a f i e n z u f i n d e n , die g e n a u das G e g e n t e i l v e r k ö r p e r n , die f l ä c h e n d e c k e n d e n t w e d e r s e h r d u n k e l , ja d ü s t e r , o d e r a b e r ganz hell, fast w e i ß sind. 2. In E r g ä n z u n g dazu g e l t e n a u c h die Schärfentiefe, das feine Korn, die F a r b e c h t h e i t d e m L i e b h a b e r k l a s s i s c h e r Fotografie als w i c h t i g e K r i t e r i e n . Viele s p a n n e n d e , w i c h tige, gute Fotografien spielen aber mit d e m Gegenteil, sind unscharf, u n a n g e n e h m verblitzt, rotzig und u n s a u b e r vergrößert - und erhalten g e r a d e d a d u r c h ihre einziga r t i g e Qualität. Ü b e r e i n h u n d e r t J a h r e lang hat sich das f o t o g r a f i s c h e Bild e n t w i c k e l t , ist i m m e r d e l i k a t e r g e w o r d e n , p e r f e k t e r i n d e n A b s t u f u n g e n - u n d d a n n b e g i n n e n die K ü n s t l e r in den 1960er- und 1 9 7 0 e r - J a h r e n Fotografie in ihrer rohen, d i r e k t e n F o r m einzusetzen, ohne Rücksicht auf Fine-art-Gestaltungsprinzipien, und revolution i e r e n d a m i t die D i s k u s s i o n ü b e r u n d d e n U m g a n g m i t Fotografie. Die » F o t o - F o t o g r a f i e « m u s s t e m ü h s a m e r l e r n e n , d a s s die g e s t a l t e r i s c h e n M i t t e l u n d ihr Einsatz von inhaltlichen Zielsetzungen abhängen und nicht einen Selbstwert darstellen. Die Q u a l i t ä t d e r F o t o g r a f i e a l s F o t o g r a f i e u n d die Q u a l i t ä t d e r F o t o g r a f i e a l s K u n s t passen nicht i m m e r in das gleiche Paar Schuhe, w e i l die A n s p r ü c h e , die K r i t e r i e n zu verschieden sind.

Worauf s o l l t e ein Betrachter oder S a m m l e r bei der Beurteilung einer Fotografie besonders achten?

Z u a l l e r e r s t s o l l t e n B e t r a c h t e r u n d S a m m l e r d a r a u f a c h t e n , d a s s sie sich auf D i n g e k o n z e n t r i e r e n , die i h n e n w i r k l i c h g e f a l l e n , die sie a n z i e h e n , g e f a n g e n n e h m e n , ü b e r die sie v o r u n d n a c h e i n e m Kauf l a n g e n a c h d e n k e n . U n d z w a r u n a b h ä n g i g davon,

w a s g e r a d e a n g e s a g t ist, w a s m a n k e n n e n u n d k a u f e n s o l l . E s s i n d oft d i e j e n i g e n S a m m l u n g e n b e d e u t e n d u n d a u c h f i n a n z i e l l k o s t b a r g e w o r d e n , bei d e n e n s i c h e i n S a m m l e r getraut hat: getraut, das zu kaufen, w a s ihn persönlich nicht loslässt. Dann sollte ein S a m m l e r ein S t ü c k Geduld m i t b r i n g e n . Weil K e n n e r s c h a f t sich erst m i t der Zeit e n t w i c k e l n k a n n u n d w e i l s i c h W e r k e oft e r s t m i t d e r Zeit e r s c h l i e ß e n . G e r a d e k o m p l e x e W e r k e v e r l a n g e n Zeit, v e r l a n g e n , dass w i r u n s lange u n d intensiv m i t ihnen a u s e i n a n d e r s e t z e n . Q u a l i t ä t ist e i n m ö g l i c h e r S c h n i t t p u n k t z w i s c h e n K ü n s t l e r u n d B e t r a c h t e r , W e r k u n d Käufer. B e i m H a n d s c h l a g sind sich zwei P e r s o n e n einig, dass es » u m Qualität« geht. A n d e r e S c h n i t t p u n k t e sind etwa Freundschaft oder Status. Wir m ü s s e n uns bewusst sein, dass sich »Qualität« h o c h s c h a u k e l n lässt und sich p l ö t z l i c h a l s g e s e l l s c h a f t l i c h e r B e g r i f f e n t p u p p t . Die n ä c h s t e G e n e r a t i o n s c h ü t t e l t dann m ö g l i c h e r w e i s e den Kopf d a r ü b e r oder vergisst diese Werke und Künstler, ohne i h n e n eine Träne n a c h z u w e i n e n . Bei d e r Fotografie m u s s ein S a m m l e r i m m e r bes o n d e r s darauf achten, in w e l c h e m Z u s t a n d sich die Fotografie befindet. Fotografie ist e i n t e c h n i s c h h e r g e s t e l l t e s , a b e r l e i d e r s e h r h e i k l e s E r z e u g n i s , d a s l e i c h t k n i c k t , a u s s i l b e r t , vergilbt, ausbleicht, die Farben v e r ä n d e r t , w e n n es u n s a c h g e m ä s s b e h a n d e l t w o r d e n ist.

In w e l c h e m Verhältnis stehen Preis und Qualität von Fotografien?

Fotografie hat sich in den v e r g a n g e n e n zwanzig, dreißig J a h r e n als m ö g l i c h e s M e d i u m im Kontext Kunst etabliert, ja einen B o o m erlebt. Entsprechend haben sich d i e P r e i s e e n t w i c k e l t . W u r d e n u m 1980 f ü r F o t o g r a f i e n n o c h b e s c h e i d e n e P r e i s e bezahlt

- eines

der damals teuersten

Bilder,

Moonrise

over Hernandez v o n

Ansei

A d a m s (1902-1984), e r r e i c h t e k n a p p 50.000 D o l l a r , die m e i s t e n F o t o g r a f i e n w u r d e n j e d o c h f ü r 500 b i s 5 . 0 0 0 D o l l a r v e r k a u f t - , s o w e r d e n h e u t e d e u t l i c h h ö h e r e P r e i s e v e r l a n g t u n d b e z a h l t . Die t e u e r s t e n F o t o g r a f i e n s i n d n u n w e i t ü b e r 2.000.000 D o l l a r w e r t . Die Preise e n t w i c k e l n sich a b e r a u c h hier n a c h d e m P r i n z i p von A n g e b o t und N a c h f r a g e : E s r e i c h e n zwei P e r s o n e n , die d a s g l e i c h e Foto bei e i n e r A u k t i o n u n b e d i n g t h a b e n w o l l e n , u n d d e r P r e i s s t e i g t i n s U n e r m e s s l i c h e - m a n c h m a l ist d a s f ü r A u ß e n s t e h e n d e nicht nachvollziehbar. Es belegt auch, dass »Qualität« nicht ein f a k t i s c h e r , o b j e k t i v e r , s o n d e r n e i n k o m m u n i k a t i v e r W e r t ist. I n d e r R e g e l a b e r e n t w i c k e l t sich der Preis e n t s p r e c h e n d der Ü b e r e i n k u n f t , w i e hoch die Qualität eines W e r k e s e i n z u s c h ä t z e n ist. E s s i n d j a o f t K e n n e r - P r i v a t s a m m l e r , M u s e u m s l e u t e - , die k a u f e n , M e n s c h e n also, die das W e r k des F o t o g r a f e n , d e r F o t o g r a f i n k e n n e n u n d es auch im internationalen Vergleich zu beurteilen vermögen.

Spielt auch das Sujet eine Rolle, also das »Was«, oder geht es in der Fotografie eher um das »Wie«?

Fotografie i m Kontext Kunst w ü r d e sich w e h r e n , attestierte m a n ihr, e s gehe u m das S u j e t . D a s S u j e t s p i e t e , s e l b s t bei d e r W e r t s t e i g e r u n g , k e i n e R o l l e . Sie w ü r d e d a s z u Recht tun, denn es geht doch s t ä r k e r um das »Wie« als um das »Was«, auch w e n n e s , v o r a l l e m bei d e r F o t o g r a f i e , l e t z t l i c h i m m e r e i n W e c h s e l s p i e l i s t . I n d e r F o t o g r a f i e g a n z a l l g e m e i n h i n g e g e n g e h t e s o f t n u r u m d a s S u j e t . Ein f i k t i v e s B e i s p i e l d a z u : W e n n e s n u r e i n F o t o v o n N a p o l e o n III. g ä b e , d a n n s p i e l t e b e i d e r W e r t s c h ä t z u n g d i e s e r Fotografie das Sujet, die E i n z i g a r t i g k e i t eine w e i t w i c h t i g e r e Rolle als die gestalterische Kraft. Fotografie handelt i m m e r mit »Realien«, mit real Vorhandenem o d e r vor die K a m e r a H i n g e s t e l l t e m . E n t s p r e c h e n d spielt d i e s e s » D a s da« i m m e r eine g e w i s s e Rolle. Diese Eigenschaft e r l a u b t es Fotografien auch, »gut zu altern«, das heißt eine W e r t s t e i g e r u n g zu erfahren, die nicht n u r auf ihrer W e r k g e s t a l t u n g , s o n d e r n auf d e r Zeit, auf d e m V e r g e h e n von Zeit b e r u h t .

Interview mit Matthias Härder Die F r a g e n s t e l l t e W o l f r a m Völcker.

Was verstehen Sie a l l g e m e i n unter »Qualität« in der Kunst?

Die m e i s t e n von u n s n ä h e r n sich K u n s t w e r k e n i n t e l l e k t u e l l , e m o t i o n a l o d e r intuitiv. Vor d e r D e f i n i t i o n s t e h e n die R e z e p t i o n u n d das E r k e n n e n von Q u a l i t ä t . Ein e r s t e s K r i t e r i u m für eine b e s t i m m t e Qualität k ö n n t e sein, w e n n w i r von e i n e m K u n s t w e r k auf Anhieb gefesselt sind, auch w e n n w i r es vielleicht nicht ganz verstehen. Wenn w i r beispielsweise f o r m a l e o d e r inhaltliche A s p e k t e e n t d e c k e n o d e r e r s p ü r e n , die uns in der jüngeren Kunst- oder Fotografiegeschichte bislang verborgen geblieben sind. Ich n e n n e das f ü r m i c h p e r s ö n l i c h i m m e r das » p l u s x« in e i n e m Bild, einer S k u l p t u r o d e r e i n e m Video. W e n n es m i c h e m o t i o n a l o d e r intuitiv fasziniert, d a n n b e s c h ä f t i g e i c h m i c h a u c h i n t e l l e k t u e l l m i t d i e s e m K u n s t w e r k . I n d e r F o t o g r a f i e ist es s e h r häufig n a t ü r l i c h der B i l d g e g e n s t a n d , der einen in den B a n n zieht, das heißt also, nicht das »Wie« s o n d e r n das »Was« in der A u f n a h m e .

Das ist ein entscheidender Punkt, es geht also nicht nur um die Art und Weise, wie fotografiert w i r d , sondern auch um den Gegenstand, um das »Was«!

S e l b s t v e r s t ä n d l i c h , a b e r i n s b e s o n d e r e u m die I n s z e n i e r u n g des »Was«, a l s o u m die K o m b i n a t i o n . Es gibt einen Fotografen, d e r m o m e n t a n m e i n e s E r a c h t e n s zu Recht s t a r k r e z i p i e r t w i r d : G r e g o r y C r e w d s o n ( g e b . 1962). E r i n s z e n i e r t s e i n e I n t e r i e u r s u n d Exterieurs sehr aufwendig, wie am Filmset, mit perfekter Ausleuchtung. Darin folgt e r u n t e r a n d e r e m J e f f W a l l ( g e b . 1946). B e i d e n g e l i n g e n A u f n a h m e n , d i e u n s a u f g r u n d ihrer sonderbaren B i l d s t i m m u n g faszinieren, sofern wir dieses Genre m ö g e n - das sei s t e t s v o r a u s g e s c h i c k t . D i e M e n s c h e n d a r s t e l l u n g i n d e r F o t o g r a f i e ist w o h l d a s a m h ä u f i g s t e n v e r w e n d e t e Genre in allen seinen A b s t u f u n g e n . W e n n ein Fotograf es schafft, uns B e t r a c h t e r nicht n u r ü b e r das Exotische im Bildinhalt zu faszinieren, s o n d e r n d u r c h die D a r s t e l l u n g des A l l t ä g l i c h e n , d a n n h a b e n w i r m ö g l i c h e r w e i s e s c h o n ein i n t e r e s s a n t e s Bild vor uns, ein W e r k , das uns ü b e r einen l ä n g e r e n Z e i t r a u m b e s c h ä f t i g e n k a n n .

Das ist ein wichtiger Aspekt. Denn oft ist es eben so, dass w i r eine Fotografie bewundern, w e i l der ganze Bildinhalt aus einem anderen Kontext s t a m m t und deshalb exotisch w i r k t . »Zieht« man die Exotik von dieser Arbeit »ab«, bleibt oft nur eine langweilige Fotografie übrig. Gibt es a l l g e m e i n gültige Q u a l i t ä t s m e r k m a l e in der Fotografie?

G r u n d s ä t z l i c h gilt e s z u u n t e r s c h e i d e n z w i s c h e n d e m G e s a m t w e r k e i n e s F o t o g r a f e n oder Künstlers einerseits und der Entwicklung innerhalb seines Ansatzes andererseits. In der Arbeit eines j e d e n Fotografen gibt es s c h w ä c h e r e und stärkere Werke. F o t o g r a f e n w i e H e l m u t N e w t o n ( 1 9 2 0 - 2 0 0 4 ) o d e r I r v i n g P e n n ( g e b . 1917) h a b e n ü b e r einen Z e i t r a u m von e i n e m halben J a h r h u n d e r t Tausende von Bildern fotografiert und publiziert, in den unterschiedlichsten Feldern: Mode, Werbung, Porträt, Akt und Stillleben; von d e n e n haben Dutzende o d e r gar H u n d e r t e eine Relevanz für das e i g e n e W e r k u n d d u r c h a u s a u c h f ü r die F o t o g e s c h i c h t e . Bei b e i d e n gibt e s rote F ä d e n , die sich d u r c h das j e w e i l i g e W e r k ziehen. B e i d e s i n d Zeit ihres L e b e n s i n t e r e s s i e r t am Abbild der Frau, und mit Blick auf ihre Fotos k ö n n e n w i r nachvollziehen, wie sich die g e s e l l s c h a f t l i c h e Rolle d e r F r a u i m L a u f e d e r D e k a d e n g e ä n d e r t hat. A b e r a u c h B r ü c h e i m e i g e n e n W e r k k ö n n e n i n t e r e s s a n t sein: Mit B l i c k auf das B i l d w e r k von H e r b e r t List (1903-1975) gibt es b e i s p i e l s w e i s e s e h r h e t e r o g e n e Bereiche, die m i t e i n a n d e r n i c h t s z u t u n z u h a b e n s c h e i n e n : Fotografia m e t a f i s i c a , S t i l l l e b e n , R e p o r t a g e , P o r t r ä t s . E s g i b t bei L i s t g e w i s s e r m a ß e n e i n W e r k v o r d e m K r i e g u n d e i n a n d e r e s i n den 1 9 5 0 e r - J a h r e n . N a c h K r i e g s e n d e e n t w i c k e l t e sich r a s a n t die Zeitg e i s t s t r ö m u n g e i n e s » h u m a n interest«, p l ö t z l i c h w a r e n a n d e r e A u f n a h m e n f ü r die V e r ö f f e n t l i c h u n g i n d e n M a g a z i n e n e r f o r d e r l i c h als zuvor. Die m e i s t e n F o t o g r a f e n m ü s s e n sich so i m m e r w i e d e r neu erfinden, um im Geschäft zu bleiben und ihre Zeitgenossen visuell zu prägen. Diejenigen, denen dies gelingt, schreiben an der K u n s t und Fotogeschichte mit.

Sie meinen, s o w o h l der zeitliche als auch der inhaltliche Kontext ist bei der Beurteilung einer Fotografie wichtig?

Um eine Fotografie richtig verstehen zu können, m u s s m a n zunächst nach der Intention fragen. Wenn w i r ein Bild kontextlos vor A u g e n haben, beispielsweise in e i n e m Magazin als bloße Illustration publiziert, dann fällt es s c h w e r zu urteilen. Der Kontext ist i m m e r w i c h t i g e r g e w o r d e n , u m f o t o g r a f i s c h e B i l d e r r i c h t i g e i n o r d n e n z u k ö n n e n . Viele F o t o g r a f e n a r b e i t e n in Serien. W e n n w i r d o r t ein Bild h e r a u s r e i ß e n w ü r d e n , enlsteht nicht n u r ein f o r m a l e s Problem. N e h m e n w i r j e m a n d e n wie Stefan Moses [ g e b . 1928), d e r s e i n e P o r t r ä t b e o b a c h t u n g e n t e i l w e i s e i n S e q u e n z e n z e r g l i e d e r t h a t ; da m a c h t es keinen Sinn, etwas herauszulösen. Hier haben w i r eine visuelle, quasi f i l m i s c h e Abfolge und nicht m e h r die i n h a l t l i c h e wie f o r m a l e V e r d i c h t u n g einer Situa-

tion im Einzelbild a la Henri C a r t i e r - B r e s s o n (1908-2004) vor uns. Es fällt schwer, diese beiden Bereiche des Fotografischen m i t e i n a n d e r zu vergleichen. Zeitgenössische Fotografen im K u n s t k o n t e x t wie die bereits g e n a n n t e n Jeff W a l l u n d Gregory C r e w d s o n n e h m e n den A s p e k t d e r V e r d i c h t u n g auf u n d p o i n t i e r e n ihn. W e n n w i r die Idee d e s » e n t s c h e i d e n d e n M o m e n t s « o d e r d e n B e g r i f f d e s » g r o ß e n s t i l l e n B i l d e s « i n d e r Fotografie, d e n ich p e r s ö n l i c h s e h r p a s s e n d finde, g e g e n ü b e r s t e l l e n d e m des Sukzessiven des F i l m s oder des Videos, d a n n haben w i r ganz u n t e r s c h i e d l i c h e A n sätze in der W i r k l i c h k e i t s w a h r n e h m u n g , der W e l t a n e i g n u n g und W e l t k o n s t r u k t i o n innerhalb der fotografischen Bildwelt. Und Qualität findet m a n hier wie dort.

Wie wichtig ist die Technik f ü r die Fotografie? Gibt es eine Abgrenzung zur digitalen Bildwelt?

E s gibt A r b e i t e n , die a n d e n G r e n z e n des M e d i u m s » s c h o n « Fotografie o d e r » n o c h « Fotografie sind. Der Produktionsprozess verläuft in vielen Bereichen des M e d i u m s heute vorwiegend digital, mit Unterstützung bildverarbeitender P r o g r a m m e wie P h o t o s h o p . S o w e r d e n B i l d e r e r z e u g t , die m e i n e s E r a c h t e n s i m w e i t e s t e n Sinn d e n noch in den Bereich des Fotografischen gehören. Es gibt ja im K u n s t d i s k u r s seit vielen Jahren einen Disput, ob m a n digitale Fotografie überhaupt Fotografie nennen d ü r f e , u n d v i e l e v e r n e i n e n d a s . Ich b i n d a o f f e n e r ; f ü r m i c h h a n d e l t e s s i c h s c h l i c h t um eine fototechnische Weiterentwicklung und m i c h persönlich interessiert es nicht, o b d i e B i l d i n f o r m a t i o n a u f e i n e m N e g a t i v g e s p e i c h e r t ist o d e r a l s D a t e n s a t z . A b e r d i e Puristen sind da weitaus strenger. Gewiss, in d e m M o m e n t , wo das Negativ wegfällt, handelt es sich nicht m e h r um das ursprüngliche fotografische Verfahren. Also m ü s s e n w i r die Definition m o d i f i z i e r e n o d e r e r w e i t e r n . W e n n w i r ü b e r Fotografie s p r e c h e n , haben w i r einen der größten Bereiche unserer visuellen Kultur vor uns; künstleris c h e F o t o g r a f i e , ü b e r die w i r u n s h i e r u n t e r h a l t e n , ist h i n g e g e n n u r ein k l e i n e r " e i l .

Ich glaube, das gilt auch f ü r andere Medien. Beispielsweise reden w i r i m m e r von Videokunst, aber sie k o m m t letztlich heute auf DVD daher. »Video« ist der Oberbegriff, und dann gibt es v e r schiedene Techniken. Wird das in der Fotografie auch so sein?

E s ist d u r c h a u s v e r g l e i c h b a r : A l s d a s M e d i u m V i d e o M i l t e b i s E n d e d e r 1 9 6 0 e r - J a h r e a u f k a m , mit N a m J u n e Paik (1932-2006) und anderen, w u r d e diese F o r m elektronisch-visueller Bildsprache ja zunächst noch z u m experimentellen Film gezählt. Doch i n z w i s c h e n k a n n m a n k a u m m e h r b e h a u p t e n , Video sei g r o b i n d e n ü b e r g e o r d n e t e n Bereich des Films einzuordnen. Wenn Künstler heutzutage mit digitalen Camcordern a r b e i t e n , w a s j a n u n die m e i s t e n m a c h e n , u n d DVDs e r z e u g e n statt V H S - B ä n d e r , d a n n ist d a s m e i n e s E r a c h t e n s z e i t g e m ä ß u n d d e m B e r e i c h V i d e o z u z u o r d n e n . D i e s

g e s c h i e h t a n a l o g z u r F o t o g r a f i e . Eine D e f i n i t i o n ist a u c h h i e r s c h w i e r i g ; o d e r w e r w ü r d e es w a g e n , Fotografie - jenseits eines B r o c k h a u s - E i n t r a g s - zu definieren? N a t ü r l i c h gibt es gängige und gute B e s c h r e i b u n g e n oder E r k l ä r u n g e n , e t y m o l o g i s c h e beispielsweise: Das Wort k o m m t aus d e m Griechischen. »Phos« bedeutet »Licht« u n d » g r a p h e i n « » s c h r e i b e n « . M i t W i l l i a m H e n r y Fox T a l b o t s ( 1 8 0 0 - 1 8 7 7 ) Pencil o f Nature m a c h t e d i e N ä h e z u m h e r k ö m m l i c h e n B e g r i f f n o c h S i n n . D o c h w e n n w i r uns später mit d e m B e g r i f f s u r s p r u n g auseinandersetzen, bleibt im Grunde n u r das Licht übrig - als Faktor, um Negative zu belichten oder Silbersalze im Fotopapier zu s c h w ä r z e n . Dies fällt nun, w e n n die m e i s t e n Fotografen mit D i g i t a l k a m e r a s , Scannern und Tintenstrahldruckern arbeiten, auch weg. Bereits in der F o t o g r a m m t e c h n i k d e r 1 9 2 0 e r - J a h r e w u r d e die Frage diskutiert, w e l che Bestandteile n o t w e n d i g seien, um ein fotografisches Bild herzustellen; denn Kameras und Negative w u r d e n mit dieser avantgardistischen Neuentwicklung überflüssig. In d e m Moment, wo m a n innerhalb der Entwicklung der Fotografiegeschichte in der Lage w a r , die Idee d e r C a m e r a o b s c u r a e n t s c h e i d e n d w e i t e r z u e n t w i c k e l n , i n d e m m a n in den 1820er- und 1 8 3 0 e r - J a h r e n ein Bild und s o m i t die m e n s c h l i c h e W a h r n e h m u n g k o n s e r v i e r e n u n d v e r m i t t e l n konnte, w a r e n die G r u n d v o r a u s s e t z u n g und g l e i c h z e i t i g das H a u p t c h a r a k t e r i s t i k u m f ü r die Fotografie g e s e t z t , z u m i n d e s t f ü r einige Jahrzehnte. So gibt es in den unterschiedlichen Dekaden der bald 200-jährigen Geschichte der Fotografie i m m e r wieder neue Ansätze, naturwissenschaftlicher, t e c h n i s c h e r , g e s e l l s c h a f t l i c h e r o d e r k ü n s t l e r i s c h e r A r t . D a s ist i m R ü c k b l i c k e b e n s o s p a n n e n d w i e die h e u t i g e E n t w i c k l u n g .

Wo steht die künstlerische Fotografie?

S i e ist n u r e i n T e i l a s p e k t . D o c h w e n n w i r d i e k ü n s t l e r i s c h e F o t o g r a f i e i n u n s e r e n Fokus n e h m e n , m ü s s e n w i r mit Blick auf das konkrete Bild einen künstlerischen Ansatz h e r a u s l e s e n können, etwa einen Ansatz, mit d e m kein u n m i t t e l b a r e s Ziel v e r f o l g t w i r d . D o c h g l e i c h z e i t i g gibt es M o d e f o t o g r a f i e , die s p ä t e r völlig zu Recht m u s e a l i s i e r t w u r d e , o b w o h l sie z u n ä c h s t i m A u f t r a g e n t s t a n d e n war. O d e r n e h m e n Sie d i e b e r ü h m t e n A u f t r a g s w e r k e v o n D o r o t h e a L a n g e ( 1 8 9 5 - 1 9 6 5 ) u n d W a l k e r E v a n s (1903-1975) f ü r die F a r m Security A d m i n i s t r a t i o n in den 1 9 3 0 e r - J a h r e n , die als D o k u m e n t a t i o n der L e b e n s b e d i n g u n g e n im M i t t l e r e n W e s t e n d e r USA e n t s t a n d e n und heute als Klassiker hochpreisig auf d e m K u n s t - u n d A u k t i o n s m a r k t g e h a n d e l t w e r den. O d e r die W e r b e b i l d e r f ü r S c h o k o l a d e in d e r B a u h a u s - Z e i t , die i n z w i s c h e n e b e n falls i n die i n s t i t u t i o n e l l e n S a m m l u n g e n a u f g e n o m m e n w u r d e n ; a u c h sie g e h ö r e n o h n e j e d e n Z w e i f e l z u r k ü n s t l e r i s c h e n F o t o g r a f i e , d a sie p a r a d i g m a t i s c h u n d s t i l i s tisch den Zeitgeist visualisiert haben.

Wobei diese Künstler durchaus mit ihrer Arbeit einen Zweck verfolgten.

H i e r ist S i n n g e f r a g t , n i c h t Z w e c k . D i e K u n s t s t e h t z u n ä c h s t f ü r s i c h , s i e r e p r ä s e n t i e r t a b b i l d h a f l d e n G e g e n s t a n d , w e n i g e r die P r o m o t i o n . W e n n w i r u n s den s c h ö n e n , aber schwierigen Begriff des »autonomen Bildes« herauspicken, nähern wir uns d e m B e r e i c h d e r k ü n s t l e r i s c h e n Fotografie. Seit vielen J a h r e n gibt e s K ü n s t l e r , die F o t o g r a f i e a l s M e d i u m n u t z e n , u n d es existieren e b e n s o viele F o t o g r a f e n , die Fotografie k ü n s t l e r i s c h einsetzen. Dabei besteht ein k a u m w a h r n e h m b a r e r , aber g r u n d legender Unterschied. W i r leben n u n e i n m a l in Zeiten des C r o s s - o v e r ; viele K ü n s t l e r bedienen sich für ihre Z w e c k e u n t e r s c h i e d l i c h e r Medien. Für die inhaltliche T r a n s f e r l e i s t u n g s u c h e n sie ein ganz b e s t i m m t e s M e d i u m , sei es F i l m o d e r Fotografie, sei es Malerei, Installation oder w a s auch immer. W e n n w i r Bilder, die a u s den u n t e r s c h i e d l i c h e n A n s ä t z e n r e s u l t i e r t e n , n e b e n e i n a n derlegen, scheint es so zu sein, dass d e r j e n i g e , der die Fotografie n e b e n a n d e r e n Medien benutzt, freier mit d e m M e d i u m umgeht. Der Protagonist unseres Gedankene x p e r i m e n t s ist g e s c h u l t i m B i l d a u f b a u , i n d e r Z e i c h n u n g o d e r i m U m g a n g m i t d e r d r i t t e n D i m e n s i o n ; g e l e g e n t l i c h leidet m a n c h m a l die Technik darunter. A n d e r e r s e i t s fallen e i n e m in Zeitschriften, in Galerien o d e r auf M e s s e n all die Fotografen auf, die m e d i a l - s e l b s t v e r l i e b t zu s e h r auf die t e c h n i s c h e n Dinge a c h t e n . In den letzten J a h r e n h a b e n w i r viele nette F o t o e x p e r i m e n t e g e s e h e n , die m i t d i g i t a l e n H i l f s m i t t e l n und mit Nachbearbeitung entstanden sind: uninteressante, teilweise g r a u s a m e Ergebnisse. Interessant w i r d e s dann, w e n n w i r keine bloß f o r m a l e n Spielereien vor u n s haben, s o n d e r n die F o r m d e m Inhalt e n t s p r i c h t o d e r i h m i n t e l l i g e n t w i d e r s p r i c h t .

Sollte das nicht i m m e r so sein? Müssen Technik und Mittet nicht dem Zweck entsprechend eingesetzt werden, ähnlich wie bei der Druckgrafik?

E s g a b v i e l e E x p e r i m e n t e i n d e r k ü n s t l e r i s c h e n F o t o g r a f i e , bei d e n e n g a n z b e w u s s t m i t V e r w i s c h u n g e n u n d U n s c h ä r f e n g e a r b e i t e t w o r d e n ist, i n d e n 1 9 2 0 e r - J a h r e n e b e n s o w i e s p ä t e r b e i S i g m a r P o l k e ( g e b . 1941) o d e r bei G ü n t h e r F ö r g ( g e b . 1952). D i e t e c h n i s c h e n S c h w i e r i g k e i t e n u n d d a s b e w u s s t e t e c h n i s c h e M i s s l i n g e n f a l l e n bei d e n K ü n s t l e r - F o t o g r a f e n g e l e g e n t l i c h i n eins. Ein s o l c h e s R a f f i n e m e n t e n t d e c k e n w i r l e i d e r s e l t e n e r bei d e n F o t o g r a f e n - F o t o g r a f e n , w e n n w i r d i e s e e i n m a l s o n e n n e n w o l l e n . Sie s i n d h ä u f i g z u v o r s i c h t i g i m U m g a n g m i t d e n t e c h n i s c h e n M ö g l i c h k e i t e n , die sie b e h e r r s c h e n .

Ein gutes Beispiel für technisches Misslingen ist der tschechische Künstler Miroslav Tichy (geb. 1926). Technik im engeren Sinne setzt er gar nicht ein. Ihm ist technisch gesehen eigentlich alles misslungen. Trotzdem oder gerade deshalb haben die Fotos eine subversive Kraft und den Reiz des Obsessiven. Da baut sich Tichy seinen eigenen Kosmos auf, der nachher als Fotografie daherk o m m t . Die Technik spielt da gar keine Rolle, im Gegenteil. Die Bilder leben davon, dass sie ohne Technik entstanden sind.

I n d e r Tat. D a g i b t e s z a h l r e i c h e B e i s p i e l e , e t w a v o n A n t o i n e D A g a t a ( g e b . 1961), d e r mit U n t e r b e l i c h t u n g in seiner Fotografie arbeitet und ganz bewusst keinen Blitz eins e t z t , b e i s p i e l s w e i s e b e i d e n B i l d e r s e r i e n i n T o k i o o d e r St. P a u l i , w o e r r ä t s e l h a f t e S t i m m u n g e n e r z e u g t u n d die V e r r u c h t h e i t d e s N ä c h t l i c h e n u n d d e r S e x i n d u s t r i e e i n fängt - sozusagen auf deren Spuren w a n d e l t und das mithitfe der Fotografie t r a n s p o r t i e r t . O d e r d e n k e n S i e a n S t e v e n G i l l ( g e b . 1971) u n d s e i n e B i l d s e r i e Hackney Wiek. D a s ist e i n S t a d t t e i l v o n L o n d o n , i n d e m e s e i n e n r i e s i g e n T r ö d e l m a r k t g i b t . Dort k a u f t e sich Gill m e i n e s W i s s e n s eine billige K a m e r a u n d b e n u t z t e sie, u m e b e n d i e s e n Ort z u d o k u m e n t i e r e n , w o sich s k u r r i l e Typen u n d G e s t r a n d e t e der L o n d o n e r Gesellschaft z u s a m m e n f i n d e n und die u n g l a u b l i c h s t e n Dinge anbieten. So bleibt er s e h r nah am T h e m a . Er hält der Situation und d i e s e m L e b e n s u m f e l d einen Spiegel vor, in F o r m u n d mithilfe einer einfachen K a m e r a , die m ö g l i c h e r w e i s e einen d e f e k t e n V e r s c h l u s s hatte. S o l c h e A s p e k t e , w i e e t w a die ganz b e w u s s t e V e r w e n d u n g von Fehlern, b e r e i c h e r n die k ü n s t l e r i s c h e Fotografie.

Ich fasse den Begriff der künstlerischen Technik auch so weit, dass er die künstlerische Haltung oder das zugrunde liegende Konzept mit einschließt. Hier ist Technik dann eher die Herangehensweise an dieses Thema, nicht im engeren Sinne die Fotografietechnik.

Exakt. E s gibt s t e t s eine s p e z i f i s c h e Technik, die z u m T h e m a passt, w o d e r B e g r i f f der Authentizität zutreffend sein kann. Dass wir in der Fotografie k a u m m e h r Authentizität vorfinden, dass die m e i s t e n B i l d e r - selbst im J o u r n a l i s m u s - a r r a n g i e r t sind, d a m i t m ü s s e n w i r u n s seit e i n i g e r Zeit a n f r e u n d e n . S o g a r R o b e r t Capa (1913-1954) hat die Situation mit d e m e r s c h o s s e n e n Soldaten im S p a n i s c h e n B ü r g e r k r i e g 1936 v e r m u t l i c h n a c h g e s t e l l t . D e n n o c h b l e i b t d i e s e s B i l d w e i t e r h i n g e r a d e z u eine Ikone innerhalb der Geschichte der Kriegsfotografie. A u c h heute, w a h r s c h e i n lich m e h r denn je, sind w i r konfrontiert mit W a h r h e i t s d e h n u n g und Manipulation in der Fotografie - auch in der journalistischen Bildberichterstattung.

Wenn Sie sich jetzt die anderen künstlerischen Medien vor Augen halten, gibt es aus Ihrer Sicht ein Q u a l i t ä t s k r i t e r i u m ganz allein und speziell f ü r die Fotografie?

E s ist n o c h i m m e r , t r o t z a l l d e r v i s u e l l e n M a n i p u l a t i o n e n , d i e I d e e d e s A u t h e n t i s c h e n . Vor einigen J a h r e n titelte eine A u s s t e l l u n g s e h r passend

mit

Reste des Authen-

tischen, u n d g e n a u i n d i e s e m Ü b e r g a n g b e f i n d e n w i r u n s . O d e r b e i m B e r l i n P h o t o g r a p h y Festival hieß die z e n t r a l e A u s s t e l l u n g 2005 i m B e r l i n e r M a r t i n - G r o p i u s - B a u b e z e i c h n e n d e r w e i s e After the Fact. E s g i b t d i e D o k u m e n t a t i o n i n d e r F o t o g r a f i e n o c h i m m e r , w e n i g e r i m j o u r n a l i s t i s c h e n a l s v i e l m e h r i m k ü n s t l e r i s c h e n Sinne. Die Fotografen und Künstler spielen heute mit d e m Dokumentarischen, mit d e m Authentischen. Es m u s s nicht real sein, w a s als Realität dargestellt wird. N e h m e n w i r Loretta L u x ( g e b . 1969) m i t i h r e n v e r z e r r t e n G e s i c h t e r n , w o i r g e n d e t w a s n i c h t s t i m m e n k a n n . W e n n w i r d a s e r s t e M a l e i n L u x - P o r t r ä t s e h e n , ist d a s e i n e f a s z i n i e r e n d e E r f a h r u n g . D a s g l e i c h e g i l t f ü r I n e z v a n L a m s w e e r d e ( g e b . 1963) m i t d e n s o n d e r b a r v e r s c h l o s senen K ö r p e r ö f f n u n g e n der von ihr Porträtierten. Weitere Beispiele für interessante und meines Erachtens qualitätvolle Fotoarbeiten i m B e r e i c h P o r t r ä t u n d G e n r e s t a m m e n v o n M a r k u s S c h i n w a l d ( g e b . 1973) o d e r E r w i n W u r m ( g e b . 1954). M i c h f a s z i n i e r e n s t e t s d i e A b s u r d i t ä t i m A l l t ä g l i c h e n u n d e i n subtiler Bildwitz.

Was ist denn für Sie persönlich bei der Qualität einer Fotografie am wichtigsten? Sie haben ja schon etwas angedeutet: Wenn es einen gewissen Bildwitz hat?

Genau, aber auch w e n n Fotografen in i h r e m gewählten Bereich f o r m a l wie inhaltlich w i r k l i c h p e r f e k t s i n d , w i e e t w a H a n s H a n s e n ( g e b . 1940) i n d e r P r o d u k t f o t o g r a f i e oder H e l m u t N e w t o n in der Mode u n d Irving Penn im Porträt.

Also die ultimative Beherrschung der Technik für den Bereich, in dem sie angewendet w i r d .

Das k a n n z u h e r a u s r a g e n d e n B i l d l e i s t u n g e n f ü h r e n , a b e r n u r , w e n n die Essenz d e r D i n g e e r f a s s t w i r d . Ich h a b e k ü r z l i c h e i n e i n t e r e s s a n t e A u s s t e l l u n g i n e i n e r B e r l i n e r P r o d u z e n t e n g a l e r i e g e s e h e n , v o n V i k t o r i a B i n s c h t o k ( g e b . 1972), e i n e r e h e m a l i g e n M e i s t e r s c h ü l e r i n v o n T i m m R a u t e r t ( g e b . 1941) i n L e i p z i g . S i e h a t S c h a t t e n u n d Spuren a u f w ä n d e n von Innenräumen fotografiert und im Großformat gedruckt. Aus der Einladungskarte ging visuell nur hervor, dass es sich um eine verwischte Schneelandschaft mit d e m Blick aus d e m Fenster eines Zuges handeln könnte. Über den A r b e i t s h i n t e r g r u n d hat m a n schließlich auch den B i l d g e g e n s t a n d e r k a n n t : H a n d - und Fußabdrücke von w a r t e n d e n M e n s c h e n in einem Berliner Arbeitsamt, fotografiert

im

menschenleeren

Raum

und

schlicht

als

Die Abwesenheit

der Antragsteller be-

t i t e l t [ A b b . 1 , 2). E i n e s t a r k e S e r i e , d i e i m G r u n d e n i c h t s u n d d o c h a l l e s ü b e r H a r t z I V zeigt. In d i e s e r V e r d i c h t u n g , die die Fotografie in sich t r ä g t , liegt m e i n e s E r a c h t e n s die große m e d i a l e Qualität.

Wenn Sie jetzt im Kontext Ihrer Institution Fotografien auswählen - welchen Stellenwert messen Sie dann Ihrem Geschmack bei der Beurteilung zu?

Vielleicht s o l l t e m a n e s e h e r » I n t u i t i o n « als » G e s c h m a c k « n e n n e n . D o c h ich bin i n der glücklichen oder u n g l ü c k l i c h e n Lage, hier für das M u s e u m keine Bilder e r w e r -

ben zu m ü s s e n respektive zu dürfen. Wir haben im Stiftungsbesitz oder in deren Verw a l t u n g A r b e i t e n von H e l m u t N e w t o n und seiner Frau June, die u n t e r d e m N a m e n Alice S p r i n g s selbst ein b e d e u t e n d e s P o r t r ä t w e r k g e s c h a f f e n hat. N u n haben w i r a u c h begonnen, anderen Fotografen und K ü n s t l e r n ein F o r u m zu bieten: zunächst V e r a L e h n d o r f f ( g e b . 1939) a l i a s V e r u s c h k a , m i t d e r N e w t o n m e h r f a c h a l s M o d e l g e a r b e i t e t hat. Solche G e g e n ü b e r s t e l l u n g e n g e s c h e h e n in N e w t o n s Sinne - er hatte

1. 2 Viktoria Binschtok Wand 7, aus der Serie Die Abwesenheit der Antragsteller, 2006 C-Print. Acryl 120x160 cm Auflage 3 + 1 a.p.

sich seinerzeit in den Stiftungszielen dahingehend geäußert - und sind auch meines E r a c h t e n s sinnvoll. Eine u n s e r e r A u s s t e l l u n g e n w a r zwei b e d e u t e n d e n a m e r i k a n i s c h e n F o t o g r a f e n v o r b e h a l t e n , J a m e s N a c h t w e y ( g e b . 1948) u n d D a v i d L a C h a p e l l e ( g e b . 1963), d i e i n d e r K o m b i n a t i o n e i n e s e h r s t a r k e S p a n n u n g b i l d e t e n . U n d d i e s e S p a n n u n g r e f l e k t i e r t a u c h die u n t e r s c h i e d l i c h e n A s p e k t e i n N e w t o n s W e r k . I n e i n e m I n t e r v i e w hat e r e i n m a l g e s a g t , e r sei i n t e r e s s i e r t a n d e n B e r ü h m t e n u n d B e r ü c h t i g t e n - u n d an d e n B e r ü c h t i g t e n n o c h ein b i s s c h e n m e h r . S o l c h e I n t e n t i o n e n , die sich in s e i n e m Werk abzeichnen, beabsichtigen w i r in unseren Ausstellungen sichtbar zu machen.

Woran erkennt man denn dann eine herausragende Fotografie auf einer Messe, einer Auktion oder in einer Galerie?

Zunächst an einer Kombination aus einer f o r m a l perfekten Bildlösung und einer i n h a l t l i c h e n S p a n n u n g . Viele Bilder w e r d e n a l l e r d i n g s erst auf den zweiten o d e r dritten Blick interessant: Fotografien, die w i r erst zu kontextualisieren haben, wo

w i r den E n t s t e h u n g s z u s a m m e n h a n g o d e r die Intention des K ü n s t l e r s erst e r k e n n e n m ü s s e n , w i e bei d e r b e r e i t s g e n a n n t e n V i k t o r i a B i n s c h t o k . F ü r m i c h ist d a s w i e i n d e r P h i l o s o p h i e bei e i n e m p l a t o n i s c h e n D i a l o g . D e n k a n n m a n auf A n h i e b verstehen, a b e r es gibt a u c h eine zweite Ebene. W e n n m a n da hinein steigt, w i r d e s n o c h i n t e r e s s a n t e r ; e s e r ö f f n e n sich i m m e r m e h r Bezüge und es bleibt doch nachvollziehbar. Schließlich existiert n o c h eine w e i t e r e Ebene, auf der die m e i s t e n von u n s nicht m e h r f o l g e n k ö n n e n , s o n d e r n n u r die w i r k l i c h e n E x p e r t e n , e t w a die auf die g r i e c h i s c h e P h i l o s o p h i e s p e z i a l i s i e r t e n P r o f e s s o r e n . Auf d i e s e m i n h a l t l i c h e n Niveau tritt m a n i n d e n w a h r e n p h i l o s o p h i s c h e n D i s k u r s ein. Diese vers c h i e d e n e n E b e n e n , die i n d e n p l a t o n i s c h e n D i a l o g e n e n t h a l t e n sind, k a n n m a n d u r c h a u s mit der Fotografie insofern vergleichen, als eine Fotografie auf Anhieb v i s u e l l z u v e r s t e h e n ist, u n d z w a r v o n f a s t a l l e n R e z i p i e n t e n . D a r ü b e r h i n a u s g i b t e s bei m a n c h e n F o t o g r a f i e n a b e r a u c h d i e z w e i t e o d e r g a r e i n e d r i t t e E b e n e . U n d w e n n w i r K u r a t o r e n o d e r B i l d r e d a k t e u r e , die w i r eine M e n g e Fotos g e s e h e n h a b e n , i m m e r noch eine Ebene m e h r entdecken können, dann handelt es sich meist um gute Bilder.

Was ich noch interessant finde, ist, dass Sie sagen, der Inhalt, das »Was«, spielt eine große Rolle in der Fotografie. Das ist teilweise k o n t r ä r zu anderen Medien wie Zeichnung oder Grafik, bei denen es eher d a r u m geht, wie der Künstler das gemacht hat und wie er das künstlerische Problem gelöst hat.

Es m u s s i m m e r beides z u s a m m e n k o m m e n , in allen künstlerischen Medien, so a u c h in der Fotografie. A b e r hier geht es um die W e l t a n e i g n u n g m i t h i l f e eines t e c h n i s c h e n I n s t r u m e n t a r i u m s , nicht n u r u m die I n t e r p r e t a t i o n , s o n d e r n a u c h u m die I n s z e n i e r u n g des G e s e h e n e n o d e r A r r a n g i e r t e n : von d e r D o k u m e n t a t i o n ü b e r die Interpretation zur Inszenierung. Mich p e r s ö n l i c h interessieren alle drei Aspekte und vor a l l e m die u n z ä h l i g e n Z w i s c h e n f o r m e n , so a u c h der A s p e k t der D o k u m e n t a t i o n , e t w a i m B e r e i c h d e r P o l i z e i f o t o g r a f i e . Ein B e i s p i e l : Seit e i n i g e n J a h r e n t a u c h t auf K u n s t m e s s e n d e r N a m e A r n o l d O d e r m a t t ( g e b . 1925) a u f . E r h a t v o r v i e l e n J a h r e n a l s Verkehrspolizist in der Schweiz in knochentrockener Schilderung Verkehrsunfälle f o t o g r a f i e r t ( A b b . 3). D o c h d i e t e i l w e i s e a b s u r d k o m i s c h e n A u f n a h m e n h a t d e r h u n g rige B i l d e r m a r k t für sich und seine S a m m l e r entdeckt, als K o m m e r z i a l i s i e r u n g eines d o k u m e n t i e r t e n Desasters. Der Bildwitz w a r nicht intendiert, Ziel für Odermatt w a r eine möglichst detailgetreue, d o k u m e n t a r i s c h e Beschreibung der Unfälle m i t h i l f e d e r K a m e r a . D a s G e s c h e h e n a u f u n d a b s e i t s d e r S t r a ß e ist z e i t l o s - z e i t g e n ö s sisch, k a n n als Stellvertreter f ü r andere Situationen stehen und bleibt gleichzeitig h i s t o r i s c h e Quelle. Eine solch f a s z i n i e r e n d e V e r b i n d u n g gibt e s w o h l n u r i m M e d i u m Fotografie.

Jetzt w ä r e n w i r an einer Stelle, an der w i r e i n m a l konkrete Beispiele diskutieren könnten.

In der H e l m u t Newton Stiftung haben w i r letztes Jahr Newtons Ausstellungsprojekt Yellow Press g e z e i g t . B e t r a c h t e n w i r e i n B i l d n ä h e r : E s ist T e i l d e r S e r i e

The Woman

Who Lives on Level d. E i n e n a c k t e F r a u s t e h t u n t e r e i n e r s c h l i c h t e n N e o n l a m p e u n d ist m i t e i n e r M e t a l l g l i e d e r k e t t e s o g e f e s s e l t , d a s s s i e d i e A r m e a n g e w i n k e l t h a t u n d m i t d e n H ä n d e n i h r G e s i c h t v e r b i r g t . D i e N a c k t h e i t ist a u f d i e s e W e i s e e b e n s o v e r b o r g e n w i e ihr Gesicht, und so hat N e w t o n s o w o h l eine P o r t r ä t - als a u c h eine A k t d a r s t e l l u n g v e r m i e d e n . Das sind b e k a n n t l i c h die beiden Bereiche, in d e n e n er s e i n e b e d e u t e n d s t e n B i l d l e i s t u n g e n e r b r a c h t h a t . G l e i c h z e i t i g ist d a s B i l d m ö g l i c h e r w e i s e eine ironische P a r a p h r a s e auf einen a n d e r e n großen A k t f o t o g r a f e n : Nobuyoshi A r a k i ( g e b . 1940], d e r u n t e r a n d e r e m m i t d e n s o g e n a n n t e n B o n d a g e - B i l d e r n f ü r F u r o r e s o r g t e . I n J a p a n gilt die F e s s e l u n g d e r F r a u e n m e i n e s W i s s e n s a l s e r o t i s c h e s Stimulans. O d e r n e h m e n Sie d i e l e t t i s c h e F o t o g r a f i n I n t a R u k a [ g e b . 1958). Sie l e b t i n R i g a u n d b e s u c h t r e g e l m ä ß i g eine e n t l e g e n e R e g i o n a n d e r r u s s i s c h e n Grenze, w o sie die B e w o h n e r eines kleinen Ortes porträtiert, in Schwarz-Weiß, mit einer alten, unhandlichen

3 Arnold Odermatt Buochs,

1965

Silbergelatineabzug 30x40cm s i g n i e r t , d a t i e r t und bezeichnet verso Auflage 8

V Qualität in der Fotografie

127

G r o ß f o r m a t k a m e r a , u n t e r a n d e r e m Iveta Tavare, die sie e r s t m a l s z w e i j ä h r i g u n d k ü r z l i c h a c h t z e h n j ä h r i g f o t o g r a f i e r t h a t ( A b b . 4). W a s m i c h h i e r f a s z i n i e r t , s i n d d i e r e d u zierte B i l d k o m p o s i t i o n u n d d e r B l i c k des M ä d c h e n s . Inta R u k a a r b e i t e t m i t d e m n a t ü r l i c h e n , v o r h a n d e n e n Licht, das d u r c h ein Fenster des b e s c h e i d e n d e n H a u s e s eindringt. Das M ä d c h e n stützt sich mit den H ä n d e n auf ein Bett und blickt u n m i t t e l b a r i n die K a m e r a , i h r G e s i c h t ist m i t t i g ins B i l d g e s e t z t . W i r h a b e n h i e r z w e i A s p e k t e , Genre u n d Porträt, vor uns: Ü b e r die u n m i t t e l b a r e , visuelle K o n t a k t a u f n a h m e e r f a h ren w i r d u r c h d e n w e i t e n K a m e r a w i n k e l a u c h e i n i g e s ü b e r die U m g e b u n g u n d die

4 Inta Ruka Iveta Tavare, Balvi Latvia, 1984, aus der Serie My Counlry People Silbergelatineabzug auf Barytpapier. Vintage 35x34 cm signiert, datiert und bezeichnet verso Auflage 7

L e b e n s u m s t ä n d e d e r j u n g e n Iveta. D e r i n t e n s i v e B l i c k w e c h s e l z w i s c h e n M o d e l u n d Fotografin hat auf A u g e n h ö h e des M ä d c h e n s s t a t t g e f u n d e n , u n d so b e f i n d e n a u c h w i r uns in der s p ä t e r e n B i l d b e t r a c h t u n g auf d i e s e m Niveau und blicken nicht von o b e n a u f die P r o t a g o n i s t i n h e r a b . K u r z u m , e s ist e i n i n t e n s i v e s S c h w a r z - W e i ß - P o r t r ä t m i t s t a r k e n K o n t r a s t e n , d a s e i n g e b u n d e n ist i n e i n e g r ö ß e r e B i l d s e r i e . D a h i n t e r s t e c k t ein konzeptioneller Ansatz, das Leben der M e n s c h e n über einen längeren Z e i t r a u m zu begleiten und zu dokumentieren, ohne Schnörkel, unmittelbar. Als weiteres Beispiel für eine meines Erachtens überzeugende, gelungene Fotografie m ö c h t e ich g e r n n o c h j e m a n d g a n z a n d e r e n a n f ü h r e n : die B e r l i n e r F o t o g r a f i n C a t r i n O t t o ( g e b . 1964). S i e k o m b i n i e r t d i e u n t e r s c h i e d l i c h s t e n D i n g e z u s o n d e r b a r e n , s t i l l l e b e n h a f t e n A r r a n g e m e n t s , m e i s t Ton in Ton, b e i s p i e l s w e i s e P l a s t i k l a s c h e n , die sie auf F l o h m ä r k t e n findet, m i t e i n e m P V C - P l a s t i k b o d e n als u n s c h a r f e m H i n t e r g r u n d . W e i t e r h i n b e l e b e n F l a s c h e n r e i n i g e r u n d u n d e f i n i e r b a r e a n d e r e Dinge die Szenerie, d i e w i e e i n e U n t e r w a s s e r l a n d s c h a f t w i r k t ( A b b . 5). W a s i c h h i e r f o r m a l s p a n n e n d f i n d e , ist die U p s i d e - d o w n - S i t u a t i o n ; e s l ä s s t s i c h k e i n k o n k r e t e s O b e n n o c h U n t e n a u s m a c h e n , w i r s c h a u e n in die Taschen hinein, w a s sich plötzlich zu e t w a s Obsessivem oder A n z ü g l i c h e m w e n d e n kann. Es sind faszinierende und eigenständige K o m p o s i t i o n e n , die Catrin Otto e r s c h a f f t , und sie öffnet sich in i h r e m k ü n s t l e r i s c h e n W e r k seit e i n i g e r Zeit a u c h d e r I n s t a l l a t i o n . Sie k o m m t u r s p r ü n g l i c h von d e r M a l e r e i u n d b e n u t z t die Fotografie n u n a u c h d r e i d i m e n s i o n a l . N e u e r d i n g s bespielt sie g a n z e R ä u m e , a r r a n g i e r t die Objekte, die sie f ü r ihre F o t o g r a f i e b e n u t z t , u n d d e r e n A b bilder a u c h i m A u s s t e l l u n g s r a u m . Das u n t e r s c h e i d e t sie von K o l l e g e n wie T h o m a s D e m a n d ( g e b . 1964). O d e r b e t r a c h t e n w i r a b s c h l i e ß e n d n o c h e i n B i l d v o n H e r b e r t L i s t a u s d e m J a h r 1937:

Schatten der Säulen des Poseidontempels in Kap Sunion (Abb. 6).

Ihn

interessiert

hier nicht die Säule als Inbegriff des Klassischen, s o n d e r n schlicht ihr S c h a t t e n w u r f . S o k e h r t e r d e r v i e l b e s u n g e n e n g r i e c h i s c h e n K l a s s i k s p r i c h w ö r t l i c h d e n R ü c k e n zu, eine a u ß e r g e w ö h n l i c h e Position in der Fotografie d i e s e r Zeit. A n d e r e Fotografen h a b e n die T e m p e l m o n u m e n t a l i s i e r t , List hat sie f r a g m e n t i e r t . H i n z u k o m m t , d a s s diese Säulen Schatten spenden in der m e d i t e r r a n e n S o m m e r h i t z e , g l e i c h s a m ein romantischer Aspekt: der Wanderer, der nach Hellas k o m m t und sich im Schatten d e s r u i n ö s e n T e m p e l s m i t B l i c k i n die L a n d s c h a f t b e i d e n D i n g e n w i d m e t . S o e t w a s k a n n m a n n u r v i s u a l i s i c r e n , w e n n m a n die Dinge t h e o r e t i s c h und geistig d u r c h d r u n g e n hat. Gleichzeitig isl dieser subtile Bildansatz voller B r ü c h e , raffiniert und intelligent. Diese Bildbeispiele illustrieren unterschiedliche Aspekte des Zeigens und Inszenierens, in der unmittelbaren M e n s c h e n d a r s t e l l u n g und im Verbergen, als künstlerische Dokumentation oder als Symbol.

5 Catrin Otto Ohne Titel, 1996 C-Print 50x40 cm Auflage 20

6 Herbert List Schatten

der Säulen

in Kap Sunion. 1937

des

Poseidontempels V Qualität in der Fotogralie

131

Worauf sollte ein S a m m l e r bei der A u s w a h l einer Fotografie besonders achten?

Das W i c h t i g s t e ist, d a s s m a n ein G e s p ü r f ü r d a s M e d i u m F o t o g r a f i e e n t w i c k e l t u n d anschließend für einen konkreten Fotografen, der einen, aus w e l c h e m Grund auch i m m e r , fasziniert. In dieser Beschäftigung wird m a n unweigerlich über Bilder s t o l p e r n , die e i n e n b e s t ü r z e n o d e r e r f r e u e n , s t u t z i g o d e r n e u g i e r i g m a c h e n . S o w i r d m a n im fortgeschrittenen Stadium der Betrachtung und Beurteilung Fotografien e n t d e c k e n , bei d e n e n i m T r a n s f e r d e r A u ß e n w e l t i n s z w e i d i m e n s i o n a l e A b b i l d e t w a s nicht s t i m m t . Aus solchen Bildern können w i r m ö g l i c h e r w e i s e m e h r lernen als d u r c h u n s e r e n e i g e n e n B l i c k auf die W e l t .

Und das ist ja ein ganz wichtiger Anspruch der Kunst: einen neuen B l i c k w i n k e l zu v e r m i t t e l n .

In den 1920er-Jahren gab es den Ausspruch: »Der Fotografie-Unkundige wird der A n a l p h a b e t der Z u k u n f t sein.« Dieser Satz hat sich teilweise b e w a h r h e i t e t . W i r sind von so vielen Fotografien u m g e b e n , dass w i r sie f ü r u n s f i l t e r n u n d K r i t e r i e n e n t wickeln müssen, etwa ob w i r d e m konkreten Bild als Informationsquelle trauen können. Es w e r d e n i m m e r m e h r Bilder produziert, insbesondere digital, doch gleichzeitig gibt es nicht i m m e r m e h r gute Bilder.

In w e l c h e m Verhältnis steht denn der Marktpreis einer Fotografie zur Qualität?

D a s ist s c h w e r z u b e a n t w o r t e n , d a v i e l e g u t e F o t o g r a f e n n o c h g a r n i c h t e n t d e c k t w o r d e n sind und die j u n g e n Kollegen auf d e m K u n s t m a r k t noch s e h r g ü n s t i g ang e b o t e n w e r d e n . D e m g e g e n ü b e r gibt e s die K l a s s i k e r w i e M a n Ray (1890-19761, Edward Weston (1886-1958), Tina Modotti (1896-1942) oder Paul Outerbridge (18901958), d i e a u f d e n g r o ß e n A u k t i o n e n i n L o n d o n o d e r N e w Y o r k f ü r e r s t a u n l i c h h o h e Preise gehandelt werden. Neuerdings erzielen auch zeitgenössische Fotografen wie A n d r e a s G u r s k y ( g e b . 1955) o d e r R i c h a r d P r i n c e ( g e b . 1949) T r a u m r e s u l t a t e a u f d e n A u k t i o n e n , v o n d e n e n sie s e l b s t a l l e r d i n g s n u r i n d i r e k t p r o f i t i e r e n . D i e E i n l i e f e r e r s i n d a n g e h a l t e n , bei d e r n ä c h s t e n A u k t i o n ä h n l i c h e B i l d e r e i n z u l i e f e r n , u m d i e P r e i s e stabil zu halten. So verschiebt sich das komplexe Gefüge zwischen Künstler, Verm i t t l e r und M a r k t i m m e r m e h r in Richtung Auktion. Dies isl eine s p e k t a k u l ä r e E r s c h e i n u n g s f o r m d e s M a r k t e s . Ä h n l i c h e s ist b e k a n n t l i c h i n d e r j u n g e n d e u t s c h e n Malerei mit Provenienz Leipzig zu beobachten.

Aber es ist f ü r einen j u n g e n S a m m l e r nicht möglich, eine Fotografie von außergewöhnlicher Qualität zu einem günstigen Preis zu erlangen?

I n d e r Tat. D e r k o n s e r v a t i v e T i p p w ä r e : M a n s o l l t e s i c h a u f e i n e n A s p e k t , e t w a e i n Genre, k o n z e n t r i e r e n , auf eine Zeit o d e r Region, um eine z u s a m m e n h ä n g e n d e und in sich s t i m m i g e S a m m l u n g a u f z u b a u e n . Es gibt a b e r a u c h a n d e r e Wege: Ich s a h v o r e i n i g e n J a h r e n e i n e i n t e r e s s a n t e F o t o g r a f i e a u s s t e l l u n g i m N e w Y o r k e r M e t r o p o l i t a n M u s e u m o f A r t , e i n e n Teil der S a m m l u n g von T h o m a s W a i t h e r , m i t a n o n y m e n Schnappschüssen, begleitet von e i n e m opulenten Bildband. Was m a n d o r t hat l e r n e n k ö n n e n , w a r s e h r i n t e r e s s a n t : I n der A m a t e u r f o t o g r a f i e v o m B e g i n n d e s 20. J a h r h u n d e r t s h a t e s e i n e P a r a l l e l i s i e r u n g , t e i l w e i s e e i n e V o r w e g n a h m e vieler a v a n t g a r d i s t i s c h e r Ideen d e r folgenden, für die F o t o g r a f i e g e s c h i c h t e so w i c h t i g e n Zeit g e g e b e n . Ich g e h e e i n m a l davon aus. d a s s d e r S a m m l e r f ü r diese B l ä t t e r , w o a u c h i m m e r e r sie g e f u n d e n hat, s i c h e r keine U n s u m m e n bezahlt hat. M a n k a n n a u c h auf u n g e w ö h n l i c h e n W e g e n eine b e d e u t e n d e S a m m l u n g b e g r ü n d e n u n d die Fotografiegeschichte individuell erzählen. Nicht jede qualitativ hochwertige Fotografie m u s s t e u e r s e i n u n d n i c h t j e d e s t e u r e B i l d i s t g u t .

VI Qualität in der S k u l p t u r

Die Dialektik der Dimensionen des Raumes Friedrich

Meschede

Die B e s c h ä f t i g u n g m i t d e r K u n s t d e r S k u l p t u r b e z i e h u n g s w e i s e d e r P l a s t i k u n d h i e r i m e n g e r e n S i n n e die A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e r B e w e r t u n g i h r e r Qualität setzt K r i t e r i e n u n d B e g r i f f e v o r a u s , d e r e n B e d e u t u n g s e h r a b s t r a k l ist u n d d e r e n V i s u a l i s i e r u n g a b e r z u g l e i c h a u c h i m m e r s e h r k o n k r e t ist. S k u l p t u r u n d e i n e i n d i e s e r K u n s t f o r m g e s c h a f f e n e D a r s t e l l u n g ist i m m e r d r e i d i m e n s i o n a l , sie ist h a p t i s c h u n d auf ihre p h y s i s c h e P r ä s e n z begrenzt, u n a b h ä n g i g j e d w e d e r M a t e r i a l i t ä t . Zählt m a n i n e i n e m e r w e i t e r t e n Ansatz die Gattung der P e r f o r m a n c e o d e r des Tanzes hinzu, wie e s f ü r B i l d h a u e r w i e R o b e r t M o r r i s [ g e b . 1931) u n d R o b e r t R a u s c h e n b e r g ( g e b . 1925) v o n B e d e u t u n g ist, d a n n b e s t e h t d i e s e D r e i d i m e n s i o n a l s t a u c h i n e i n e r i m e u k l i d i schen R a u m agierenden Figur und in deren B e w e g u n g im R a u m als der Steigerung der Intention von S k u l p t u r , einen K ö r p e r oder ein Objekt im W e c h s e l v e r h ä l t n i s u n d z u u n t e r s c h i e d l i c h e n M o m e n t e n i n s e i n e r U m g e b u n g d a r z u s t e l l e n . Die D r e i d i m e n s i o n a l s t e i n e r S k u l p t u r trifft i m m e r a u c h auf die D r e i d i m e n s i o n a l s t eines a r c h i tektonischen Raumes, einer Urbanen Situation oder gar einer landschaftlichen Weite, sodass beide K u n s t f o r m e n in e i n e m Verhältnis z u e i n a n d e r gesehen w e r d e n m ü s s e n . Darin liegt die S c h w i e r i g k e i t der Q u a l i t ä t s b e s c h r e i b u n g von S k u l p t u r , dass nicht n u r ein W e r k an sich isoliert betrachtet w e r d e n muss, s o n d e r n i m m e r auch sein V e r h ä l t n i s z u m u m g e b e n d e n Ort. In Höhe, Breite und Tiefe besitzt jede S k u l p t u r , u n a b h ä n g i g von ihrer i n h a l t l i c h e n , t h e m a t i s c h e n D a r s t e l l u n g , bereits die V o r a u s s e t z u n g e n , die a l s R a h m e n b e d i n g u n g i h r e r W a h r n e h m u n g b e d a c h t u n d b e t r a c h t e t werden

müssen.

In der S k u l p t u r m a n i f e s t i e r t sich ihre jeweilige Qualität an d e r v o m B i l d h a u e r bes t i m m t e n Proportion, der Maßstäblichkeit und Dimension des Dargestellten. Aber wie lassen sich diese abstrakten Begriffe und Kriterien definieren7 W o r a u s besteht Innovation in der Bildhauerei, w e n n gerade mit d e m Mittel der Proportion, der Maßstäblichkeit u n d D i m e n s i o n ein v e r m e i n t l i c h e r K a n o n ignoriert w i r d ? In d e r k l a s sischen, v o r n e h m l i c h figurativen B i l d h a u e r e i gab es bereits seit Polyklet ( u m 4 8 0 410 v . Chr.) s e l b s t v e r s t ä n d l i c h d i e s e n K a n o n s o w i e a n d e r e , d i e a m m e n s c h l i c h e n M a ß o r i e n t i e r t w a r e n . S i c h t b a r e r A u s d r u c k d e s s e n ist d i e b e r ü h m t e P r o p o r t i o n s -

S t u d i e L e o n a r d o d a V i n c i s (14-52-1519) a u s d e n J a h r e n U 8 5 - 1 4 9 0 , d i e i n d e r G a U e r i a dell' A c c a d e m i a in Venedig v e r w a h r t w i r d und der Illustration d e r v i t r u v s c h e n H a r m o n i e l e h r e d i e n t e . I n z w i s c h e n ist d i e s e S t u d i e d u r c h z a h l r e i c h e R e p r o d u k t i o n e n b i s h i n zur Verwendung in der Werbung zu einer der populärsten Abbildungen der Renaissance g e w o r d e n und w i r k t in d i e s e r V e r k ü r z u n g bereits w i e ein P i k t o g r a m m f ü r das Maß zwischen M e n s c h und g e o m e t r i s c h e m Körper. Heute steht Leonardos Motiv gar f ü r die b i l d n e r i s c h e Identität Italiens i n n e r h a l b E u r o p a s u n d e r s c h e i n t als P r ä g u n g auf d e r R ü c k s e i t e d e r 1 - E u r o - M ü n z e : Eine nackte, m ä n n l i c h e Gestalt s t e h t m i t a u s gebreiteten A r m e n und Beinen im Z e n t r u m geometrischer Figuren und versinnbildlicht d a m i t das A n t h r o p o m e t r i s c h e der an ihr entwickelten Figuren von Kreis und Q u a d r a t ( A b b . 1). H i e r a u s k a n n e i n n a c h w i e v o r g ü l t i g e s K r i t e r i u m a b g e l e i t e t w e r d e n , dass d a s »Maß des M e n s c h e n a l l e r Dinge Maß ist«. Dieses D i k t u m g e h t in s e i n e r Z u s c h r e i b u n g b e r e i t s a u f P r o t a g o r a s (5. J h d . v . Chr.) z u r ü c k . I n d i e s e m S i n n e w a r d a s menschliche Maß in der Antike architektonische Grundlage für den Bau der Tempel; im Mittelalter S y m b o l für das metaphysische Verhältnis zwischen Mensch und Kathedrale; in der Renaissance schließlich Grundlage für eine rationale B e g r ü n d u n g von Schönheit.

Der erste Kubus der Skulpturgeschichte des 20. J a h r h u n d e r t s

D e r a m e r i k a n i s c h e A r c h i t e k t , M a l e r u n d B i l d h a u e r T o n y S m i t h ( 1 9 1 2 - 1 9 8 0 ) h a t 1962 m i t d e r S k u l p t u r Die d e n e r s t e n d r e i d i m e n s i o n a l e n K u b u s d e r m o d e r n e n S k u l p t u r g e s c h i c h t e geschaffen, a n h a n d dessen die Fragen nach Maß, D i m e n s i o n u n d P r o p o r t i o n a n s c h a u l i c h w e r d e n ( A b b . 2). D i e S k u l p t u r b e s t e h t a u s s e c h s z u e i n e m K u b u s g e s c h w e i ß t e n S t a h l b l e c h e n m i t d e m K a n t e n m a ß v o n s e c h s a m e r i k a n i s c h e n Fuß. Mit d i e s e r Z a h l m i t d e r M a ß e i n h e i t Fuß, die nicht a n d e r m e t r i s c h e n N o r m o r i e n t i e r t ist, w i r d auf ein m e n s c h l i c h e s K ö r p e r m a ß B e z u g g e n o m m e n . D a h i n t e r v e r b i r g t s i c h i n d e r U m r e c h n u n g i m D e z i m a l s y s t e m d a s M a ß v o n 183 Z e n t i m e t e r n , d a s w i e d e r u m i n d i e s e r z u n ä c h s t w i l l k ü r l i c h e r s c h e i n e n d e n M a ß a n g a b e exakt die Größe d e s M e n -

l Leonardo Da Vinci Proportionsstudie zu Vilruv. U85-U90 heute u n t e r a n d e r e m auf d e r 1 - E u r o - M ü n z e Italiens. Revers

VI Q u a l i t ä t in der S k u l p t u r

135

s e h e n i s t , d i e L e C o r b u s i e r ( 1 8 8 7 - 1 9 6 5 ) i n s e i n e m P r o p o r t i o n s s c h e m a d e s Modulor i m J a h r e 1950 a l s d a s M a ß f ü r e i n e n a u f r e c h t s t e h e n d e n M e n s c h e n e n t w i c k e l t h a t t e . L e C o r b u s i e r h a t t e z u n ä c h s t 175 Z e n t i m e t e r a l s e i n m e n s c h l i c h e s D u r c h s c h n i t t s m a ß z u g r u n d e g e l e g t , s i c h d a n n a b e r f ü r 183 Z e n t i m e t e r e n t s c h i e d e n , w e i l d i e s e Z a h l n a h e z u exakt s e c h s a m e r i k a n i s c h e Fuß ergibt (6 Fuß = 182,88cm). So bezieht sich T o n y S m i t h , d e r b i s z u r K o n z e p t i o n v o n Die a u s s c h l i e ß l i c h a l s A r c h i t e k t u n d M a l e r gearbeitet hatte, direkt auf ein innerhalb der A r c h i t e k t u r g e s c h i c h t e entwickeltes M a ß s y s t e m , u m e s auf die B i l d l i c h k e i t von S k u l p t u r z u ü b e r t r a g e n . D e r a b s t r a k t e n F i g u r d e s K u b u s ist d a m i t d a s m e n s c h l i c h e M a ß - g l e i c h e r m a ß e n n a c h a l l e n S e i t e n hin - eingeschrieben.

2 Tony Smith Die. 1962 Stahl 183x183x183 cm Autlage 3

A m 3 0 . J u l i 1791

hatte die f r a n z ö s i s c h e N a t i o n a l v e r s a m m l u n g i m N a c h w i r k e n d e r

R e v o l u t i o n die M a ß e i n h e i t M e t e r e i n g e f ü h r t , die sich in ein e i n f a c h e r zu r e c h n e n d e s Dezimalsystem in Zentimeter und Millimeter unterteilt beziehungsweise auch weiter in Kilometer. Es diente a b e r a u c h dazu, sich von M a ß e i n h e i t e n , die sich w i e Fuß, Elle, K l a f t e r a n A b m e s s u n g e n m e n s c h l i c h e r K ö r p e r t e i l e o r i e n t i e r t e n , z u d i s t a n z i e ren, z u m a l e s a u c h i m m e r w i e d e r regional bedingte I n d i v i d u a l m a ß e m i t u n t e r s c h i e d lichen M a ß e i n h e i t e n gab. M a n w o l l t e ein E i n h e i t s m a ß , das n u n a u s d e m E r d u m f a n g abgeleitet w u r d e , 1 M e t e r gilt a l s der 4 0 - m i l l i o n s t e Teil davon. In P r e u ß e n w u r d e d e r M e t e r e r s t 1868 e i n g e f ü h r t , a b 1871 w a r e r d a n n G e s e t z i m D e u t s c h e n R e i c h . ' Der Rückgriff von Tony S m i t h auf das a n t h r o p o m e t r i s c h e Maß als G e s t a l t u n g s m i t t e l s e i n e r g e o m e t r i s c h e n G r u n d f o r m ist v o n d i e s e m W e r k a n G r u n d l a g e w e i t e r e r S k u l p turen, die wie nach e i n e m M o d u l e n t w i c k e l t w e r d e n , o h n e dabei a n t h r o p o m o r p h z u e r s c h e i n e n . D i e S k u l p t u r Die v o n T o n y S m i t h a u s d e m J a h r e 1962 s t e l l t i n d i e s e m Z u s a m m e n h a n g ein ideales, heute vielleicht a u c h idealisiertes Beispiel von S k u l p t u r dar, das als Konzept n u r auf diese Weise e i n m a l g e s c h a f f e n w e r d e n kann. Wie s e h r aber gerade dieser konzeptionelle Ansatz, Geometrie in nicht-metrischen Maßeinheiten z u d i m e n s i o n i e r e n , S c h u l e g e m a c h t hat, zeigen die V a r i a t i o n e n d e r A l u m i n i u m boxen von Donald J u d d (1928-1994) im texanischen Marfa. J u d d w ä h l t e als seine G r u n d f o r m das Rechteck, weil es eine Gerichtetheit der F o r m aufweist. Er orientierte sich a n d e m von d e r I n d u s t r i e v o r g e g e b e n P l a t t e n m a ß e n , die e b e n f a l l s auf Fuß u n d Inch basieren. Judd wollte diese »spezifischen Objekte« von allen Seiten aus betrachtet w i s s e n , nicht w i e b e i m K u b u s von S m i t h , s o n d e r n auf die Vielfältigkeit g e r i c h t e t . Das größte Maß ergibt eine a b n e h m e n d e Proportion, sodass ein B e t r a c h t e r jedes R e c h t e c k e i n s e h e n k a n n , d e n n j e d e A l u m i n i u m b o x m i s s t 4 1 x 5 1 x 7 2 I n c h e s . Die V o r g ä n g e r s e r i e von f ü n f z e h n Boxen aus S p e r r h o l z w a r mit 5 x 5 x 3 Fuß b e r e c h n e t . I m Unterschied zu diesen i m m e r im Innenraum befindlichen Werken kalkulierte Judd die m o n u m e n t a l e n B e t o n g u s s f o r m e n , die sich abseits der a r c h i t e k t o n i s c h e n A n l a g e in der endlosen Steppenlandschaft befinden, in Metern. S c h l i e ß l i c h b a s i e r e n die G r ö ß e n v e r h ä l t n i s s e d e r m e i s t e n S k u l p t u r e n von U l r i c h R ü c k r i e m ( g e b . 1938), d i e d i e s e r f ü r s o w o h l I n n e n - a l s a u c h A u ß e n r ä u m e g e s c h a f f e n h a t , auf d e m M a ß s t a b s e i n e s K ö r p e r s . Die A b m e s s u n g v o n T e i l u n g z u T e i l u n g e r g i b t M a ß e i n h e i t e n , die d e m g e g e b e n e n B l o c k e n t n o m m e n s i n d u n d R ü c k r i e m m i t d e r H a n d , d e m A r m , d e m U m s p a n n e n beider A r m e b e m e s s e n hat. Eigentlich m ü s s t e n die W e r k e R ü c k r i e m s i n s o a l t e n M a ß e i n h e i t e n w i e Elle u n d K l a f t e r v e r m e s s e n w e r d e n , e n t s p r e c h e n d den M a ß b e g r i f f e n , die d e m K ö r p e r des M e n s c h e n e n t l e h n t w u r d e n .

Kategoriale B e s t i m m u n g

Im Hinblick auf dieses g e n a n n t e Beispiel d e r j ü n g e r e n S k u l p t u r g e s c h i c h t e seit den 1 9 6 0 e r - J a h r e n gilt eine Definition von Max I m d a h l a l s die f ü r die G a t t u n g d e r S k u l p t u r p r ä g n a n t e s t e : » F ü r d i e k a t e g o r i a l e B e s t i m m u n g d e r P l a s t i k ist e s s e h r w i c h t i g , d a s s sie die D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t s e l b s t a b g i b t , die d e r G e g e n s t a n d , d e n sie d a r s t e l l t , a u c h b e s i t z t . « I m d a h l f ä h r t i n d i e s e m Text, d e r a l s E i n f ü h r u n g e i n e r S k u l p t u r e n a u s s t e l l u n g i m S t ä d e l i n F r a n k f u r t 1978 d i e n t e , f o r t : » D i e P l a s t i k u n t e r s c h e i d e t s i c h kategorial von der Malerei dadurch, dass m a n sich - um mit Sartre zu reden - der Plastik n ä h e r n kann, dass die Plastik sich im p h y s i k a l i s c h e n R a u m befindet. Auf einen p l a s t i s c h e n Kopf k a n n m a n z u g e h e n , nicht a b e r auf einen g e m a l t e n . Hier k a n n m a n n u r auf das Bild z u g e h e n . « 2 H i n t e r d i e s e m typischen Zitat in Z u s a m m e n h a n g mit Max I m d a h l s Art zu Denken verbirgt sich e r n e u t das P r o b l e m der Proportionalität von S k u l p t u r i m R a u m . I n d e m I m d a h l d e u t l i c h auf J e a n - P a u l S a r t r e verweist u n d dessen Philosophie des Existenzialismus in seiner Interpretation mitdenkt, erweitert e r s e i n e n B l i c k von d e r g e o m e t r i s c h e n S k u l p t u r , die i n d e r F r a n k f u r t e r A u s s t e l l u n g t h e m a t i s i e r t w u r d e , auf die D a r s t e l l u n g des M e n s c h e n , w i e es f ü r ihn und S a r t r e in d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n F o r m e n s p r a c h e n u r bei A l b e r t o G i a c o m e t t i ( 1 9 0 1 - 1 9 6 6 ) g ü l t i g war. Darauf bezieht sich das »sich der Plastik n ä h e r n « . Mit d e m Begriff » P l a s t i k « statt » S k u l p t u r « betont I m d a h l Giacomettis a r b e i t s t e c h n i s c h e M e t h o d e des additiven Modellierens und der darin angelegten Möglichkeit des Korrigierens der plastischen Darstellung im Unterschied zu d e m von e i n e m V o l u m e n w e g s c h n e i d e n d e n Verfahren im engeren Sinne des Begriffs »Skulptur«. Imdahl artikuliert mit der Betonung dieser Tätigkeit das » S i c h n ä h e r n « als ein e n t s c h e i d e n d e s M o m e n t der W a h r n e h m u n g v o n P l a s t i k r e s p e k t i v e S k u l p t u r : Sie m u s s a k t i v m i t d e m g a n z e n K ö r p e r w a h r g e n o m m e n und erlebt werden. Es genügt I m d a h l nicht, Plastik analog zu e i n e m Bild » n u r « zu b e t r a c h t e n , die D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t , die j e d e S k u l p t u r selbst abgibt, m u s s z u s ä t z l i c h a l s Distanz z u ihr i m R a u m e r f a h r e n w e r d e n . Der B e t r a c h t e r hat nicht n u r mit d e m einen Sinn seiner optischen W a h r n e h m u n g umzugehen, er m u s s zusätzlich die S i n n e a k t i v i e r e n , die die K ö r p e r l i c h k e i t d e r S k u l p t u r in ein V e r h ä l t n i s zu s e i n e r eigenen Körperlichkeit setzen. Genau das w a r das zentrale T h e m a der künstlerischen A r b e i t von A l b e r t o G i a c o m e t t i , w e s h a l b sein W e r k p a r a d i g m a t i s c h i m m e r n u r die Variation der Fragen nach Proportion, Distanz, Größe und M o n u m e n t a l i t ä t gestaltet u n d dabei die z u n ä c h s t lesbare F i g u r a t i o n e i n e s m e n s c h l i c h e n K o p f e s o d e r s e i n e r Ges t a l t i n d e n H i n t e r g r u n d t r i t t . Die A b s t r a k t i o n u n d K o m p l e x i t ä t d e r W e r k e G i a c o m e t t i s liegen also nicht allein in der für ihn charakteristischen Modellierung seiner Figuren, s o n d e r n v i e l m e h r in der V i s u a l i s i e r u n g dieser a b s t r a k t e n Begriffe » P r o p o r t i o n « , »Dimension«, »Distanz«, »Größe« und »Monumentalität«. Das W e s e n s m e r k m a l von Plastik und S k u l p t u r verbirgt sich hinter diesen a b s t r a k t e n B e g r i f f e n , f ü r die e s nicht die eine D e f i n i t i o n gibt, s o n d e r n i m m e r eine B e g r i f f s -

g e s c h i c h t e , die a b e r i m S i n n e I m d a h l s d u r c h ihre » k a t e g o r i a l e B e s t i m m u n g « definiert wird. Es sind Begriffe - u n d für u n s e r A n l i e g e n hier - B e u r t e i l u n g s k r i t e r i e n , die i h r e r s e i t s ein h o h e s Maß a n A b s t r a k t h e i t b e i n h a l t e n u n d s c h l i e ß l i c h z u m s p r a c h lichen A u s d r u c k bringen. Z u g l e i c h m e i n e n sie e t w a s s e h r K o n k r e t e s , e t w a s s e h r H a p t i s c h e s , n ä m l i c h die Plastizität d e r D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t , die die Plastik in ihrer Materialität selbst abgibt. Diese W i d e r s p r ü c h e als Qualität in der S k u l p t u r zu erfassen, ist die H e r a u s f o r d e r u n g d i e s e r G a t t u n g u n d i h r F a s z i n o s u m . Die P o l a r i t ä t v o n ganz s p e z i f i s c h e r M a t e r i a l i t ä t des z u r D a r s t e l l u n g G e b r a c h t e n , die m e s s b a r e n G r e n zen und die i m G e g e n s a t z d a z u g a n z u n d g a r i m m a t e r i e l l e V e r a l l g e m e i n e r u n g d i e s e r S c h l ü s s e l b e g r i f f e , die S k u l p t u r b e s c h r e i b e n , m a c h e n S k u l p t u r e n b e s o n d e r s . Die B e g r i f f s b i l d u n g i n n e r h a l b d e r B i l d h a u e r k u n s t ist e i n e m S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s a u s g e setzt, das zwischen A b s t r a k t i o n und K o n k r e t i s i e r u n g , z w i s c h e n G e g e n ü b e r i m R a u m u n d e i g e n e r K ö r p e r l i c h k e i t a u s z u l o t e n ist. Erst in d i e s e m u m f a s s e n d e r e n Sinne g e w i n n e n das P i k t o g r a m m Leonardos, der K u b u s von S m i t h u n d die F i g u r a t i o n e n von G i a c o m e t t i a n B e d e u t u n g . Sie b e s t i m m ten das Maß des Menschen als mögliches und denkbares Qualitätskriterium von Skulptur. Und w i e d e r u m w a r es Max Imdahl, der in einem nach wie vor gültigen Aufsatz

über das

Phänomen

von

Pose

und Indoktrination,

so

der Titel des Aufsatzes

v o n 1988, d i e P e r v e r t i e r u n g d i e s e r a u f d e n M e n s c h e n b e z o g e n e n M a ß s t ä b l i c h k e i t a m Beispiel der S k u l p t u r , die u n t e r d e m N a z i r e g i m e als S t a a t s k u n s t geschaffen w u r d e , artikuliert. Zur Nobilitierung der Werke Arno Brekers [1900-1991) w u r d e dessen 1937

entstandene

Plastik

Bereitschaft m i t

dem

1501

vollendeten

David M i c h e l a n g e l o s

(1475-1564) verglichen. I m d a h l greift diesen Bildvergleich auf, um a n h a n d seiner Beobachtungen und den daraus resultierenden sprachlichen Formulierungen den Unterschied einer zur Pose gestellten Manipulation, der »Entindividualisierung des P o s i e r e n d e n « , g e g e n eine D a v i d - F i g u r z u m A u s d r u c k z u b r i n g e n , die » w e d e r ein i n E r s t a r r u n g g e f r o r e n e s Z w a n g s g e b i l d e n o c h e i n e a r r a n g i e r t e G l i e d e r p u p p e ist, u n d k e i n e s f a l l s k a n n sie die V o r s t e l l u n g von e i n e m g e z ü c h t e t e n R o b o t e r e r w e c k e n . Sie i s t d a s l e b e n s v o l l e B i l d e i n e s M e n s c h e n . D i e F i g u r M i c h e l a n g e l o s ist s o g e b i l d e t , d a s s D a v i d e t w a s v o n s i c h s e l b s t a u s s t r a h l t . « 3 I n d e r F a c h t e r m i n o l o g i e ist h i e r d e r Begriff der Kommensurabilität beziehungsweise der Inkommensurabilität anzuführen. B r e k e r s m o n u m e n t a l i s t i s c h e W e r k e w u r d e n nie i n B e z u g auf den M e n s c h e n g e s c h a f f e n u n d s i n d d e s h a l b im V e r h ä l t n i s zu i h m i m m e r - ü b e r die i n s z e n i e r t e Pose hinaus - i n k o m m e n s u r a b e l , das meint, mit m e n s c h l i c h e m Maß unter seinesgleichen nicht messbar. Vergleichbare M a ß v e r h ä l t n i s s e hingegen, also die nachvollziehbare Messbarkeit der Kommensurabilität, schafft den Ausdruck harmonischer Proportion e n , w i e e s s i c h a m B e i s p i e l d e s m o n u m e n t a l e n David b i s h i n u n t e r z u d e r V a r i a t i o n d e r m i n i a t u r i s t i s c h e n Serie d e r A b s i n t h g l a s - A s s e m b l a g e n von Picasso (1881-1973) a u s d e n J a h r e 1906 b i s 1914 n a c h v o l l z i e h e n l ä s s t ; G l a s , L ö f f e l u n d d e r Z u c k e r w ü r f e l d a r a u f e n t s p r e c h e n e i n a n d e r i m M a ß s t a b und e r z i e l e n die H a r m o n i e dieses Gebildes.

Konzepte und ihre Dimensionen

In d e m bisher Gesagten w u r d e n Aspekte der Materialität, gar der »Ma.terialgerechtigk e i t « , w i e e s e i n A u s d r u c k G o t t f r i e d S e m p e r s ( 1 8 0 3 - 1 8 7 9 ) a u s d e m 19. J a h r h u n d e r t f o r m u l i e r t e , a u s g e s p a r t , w e i l e s u n t e r d e m A s p e k t der W e r k s t o f f e , die heute z u r V e r w e n d u n g von S k u l p t u r und Plastik dienen, s p ä t e s t e n s seit den A b s i n t h g l ä s e r n u n d d e m D i k t u m d e s n a c h f o l g e n d e n f u t u r i s t i s c h e n M a n i f e s t s a u s d e m J a h r e 1909 e i n e u n t e r g e o r d n e t e Rolle s p i e l t , w e l c h e r W e r k s t o f f z u r A n w e n d u n g g e l a n g t . Die klassischen Materialien wie Holz und Stein sowie Bronze existieren gleichwertig n e b e n a l l e n n u r d e n k b a r e n a n d e r e n Stoffen, die j e m a l s e n t w i c k e l t u n d g e s c h a f f e n w u r d e n . In der Vielfalt liegen Möglichkeiten, aber keine a l l g e m e i n e n Qualitätskriter i e n b e g r ü n d e t . U n d w e n n e s s i c h u m d i e i n D o s e n a b g e p a c k t e merda d'artista h a n d e l t , d i e P i e r o M a n z o n i ( 1 9 3 3 - 1 9 6 3 ) i m M a i 1961 i n n e u n z i g D o s e n z u j e d r e i ß i g G r a m m a b p a c k e n ließ, d a n n h a n d e l t e s s i c h dabei u m eine s o e i n d i m e n s i o n a l e inhaltliche Bedeutung des Stofflichen, das alle anderen Kriterien untergeordnet w e r den. In v o r a n g e g a n g e n e n P e r f o r m a n c e s , die er » M a n i f e s t a t i o n e n « nannte, hatte M a n z o n i 1961 e i n M o t i v d e r S k u l p t u r a u f g e g r i f f e n u n d O b j e k t e o d e r M e n s c h e n a u f e i n e n S o c k e l g e l e g t b e z i e h u n g s w e i s e g e s t e l l t . A u f d i e s e r Base Magica w a r e n d i e O b j e k t e s o l a n g e S k u l p t u r , w i e sie s i c h auf d e m S o c k e l b e f a n d e n . H i e r liegt die W e i t e r f ü h r u n g j e n e r K a t e g o r i e v o m »object trouve« vor, die M a r c e l D u c h a m p (1887-1968) u m 1914 e i n g e f ü h r t h a t t e u n d d i e s e i t d e m v o r a l l e m d e n P r ä s e n t a t i o n s k o n t e x t z u m k o n s t i t u t i v e n T e i l e i n e s W e r k e s w e r d e n l ä s s t . S o ist a u c h d e r K u b u s v o n M a n z o n i , d e r 1962 i m P a r k H e r n i n g i n D ä n e m a r k p l a t z i e r t w u r d e , n u r a u f g r u n d s e i n e r B e s c h r i f t u n g z u v e r s t e h e n - a u f d e m K o p f s t e h e n d ist z u l e s e n : » s o c l e d u m o n d e « . E s b l e i b t offen, o b sich M a n z o n i m i t d i e s e r K u b u s s k u l p t u r auf die B e r e c h n u n g des M e t e r s i m V e r h ä l t n i s z u m E r d u m f a n g b e r u f e n hat, j e d e n f a l l s w ä r e dies f ü r d i e s e n » S o c k e l d e r W e l t « eine anschauliche Deutungsebene. Hier liegen Beispiele einer Skulpturens p r a c h e vor, die D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t f ü r die V e r k ö r p e r l i c h u n g e i n e s G e d a n k e n s n u t z e n , d e r a u c h a l s s p r a c h l i c h e s K o n z e p t z u e r f a s s e n ist. A n s t e l l e v o n d e n o b e n genannten Kriterien der Dreidimensionalität treten hier der H u m o r und der Glaube a n die K u n s t a l s M o m e n t hinzu.

Ein Solitär als Missverständnis

A n d e r s v e r h ä l t e s s i c h j e d o c h bei e i n e r b e r ü h m t e n S k u l p t u r , d i e h i e r a l s B e i s p i e l f ü r die n i c h t g e l u n g e n e P r o p o r t i o n u n d M a ß s t ä b l i c h k e i t a n g e f ü h r t w e r d e n soll, g e r a d e auch deshalb, weil ihr Autor als Maler und Grafiker, als Künstler im A l l g e m e i n e n ü b e r j e d e n Z w e i f e l a n s e i n e r K u n s t e r h a b e n ist. G e m e i n t ist d e r Bröken Obelisk v o n B a r n e t t N e w m a n ( 1 9 0 5 - 1 9 7 0 ) a u s d e n J a h r e n 1963 b i s 1969 ( A b b . 3). Z u s e h r ist d i e s e

K o m b i n a t i o n z w e i e r A r c h i t e k t u r z i t a t e auf ihre t e c h n i s c h e M a c h b a r k e i t - die V e r b i n d u n g z w e i e r spitz z u l a u f e n d e r P u n k t e - reduziert und i n h a l t l i c h auf die Illustration v o n G e g e n s ä t z e n - P y r a m i d e v e r s u s O b e l i s k - b e g r e n z t w o r d e n , a l s d a s s die e i g e n t lichen P h ä n o m e n e von Skulptur, n ä m l i c h ihr V o l u m e n und ihre Proportion, hier im B e s o n d e r e n a u c h die P o n d e r a t i o n d e r F o r m e n u n d d e r e n D i m e n s i o n e n , s i n n f ä l l i g w ü r d e n . Bröken Obelisk s t e h t a u c h

im

Kontext der a n d e r e n S k u l p t u r e n von

Newman

s o w o h l i n n e r h a l b s e i n e s k ü n s t l e r i s c h e n CEuvre a l s a u c h i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e r S k u l p t u r g e s c h i c h t e d e s 20. J a h r h u n d e r t s a l s e i n S o l i t ä r d a . N e w m a n z e i g t d e n Bruch mit einem Bruch, er illustriert diesen, indem er den zenitwärts gewandten Obelisken auf einer P y r a m i d e n s p i t z e b a l a n c i e r e n lässt u n d ihn e n t s p r e c h e n d oben mit einer g e b r o c h e n e n Kante abschließen lässt. D a m i t s u g g e r i e r t N e w m a n eine von ihm gedachte Fortsetzung des Motivs jenseits der Bruchstelle. Er orientiert sich am Bildgedanken der Offenheit, wie er es in seinen G e m ä l d e n vor Augen führt; in d i e s e n J a h r e n e n t s t e h t z e i t g l e i c h die v i e r z e h n t e i l i g e Serie

Stations of the Cross. W a s

i n d i e s e n G e m ä l d e n m e t a p h y s i s c h w i r k t u n d i n d e r K o m p o s i t i o n a n g e l e g t ist, k a n n a b e r ü b e r die p h y s i k a l i s c h e Grenze d e r S k u l p t u r nicht h i n a u s g e d a c h t w e r d e n , o h n e u n g l a u b w ü r d i g zu w e r d e n .

N e w m a n d e n k t d i e S k u l p t u r Bröken Obelisk e b e n a l s

» I m a g e « . Dies e r k l ä r t z u g l e i c h die h o h e P o p u l a r i t ä t d e r S k u l p t u r als Foto, n e b e n d e r R o t h k o - K a p e l l e i n H o u s t o n o d e r i m S k u l p t u r e n g a r t e n des M o M A i n N e w York r e p r ä s e n t i e r t sie b i l d n e r i s c h die b e d e u t u n g s v o l l e n Orte w i e ein i k o n o g r a f i s c h e s A t t r i b u t , d a s f ü r die a m e r i k a n i s c h e M o d e r n e a n sich steht. Solche A b b i l d u n g e n b e l e g e n d a m i t z u g l e i c h a u c h , d a s s d r e i d i m e n s i o n a l e S k u l p t u r e n , die ihre k a t e g o r i a l e B e s t i m m u n g i m Sinne I m d a h l s b e h a u p t e n , sich s c h l e c h t a l s z w e i d i m e n s i o n a l e s Foto r e p r o d u z i e r e n l a s s e n , a n d e r s a u s g e d r ü c k t : Eine g u t e S k u l p t u r lässt sich k a u m a n g e m e s s e n fotografieren.

Bröken Obelisk ist i n G e s t a l t g e o m e t r i s c h e r F i g u r a t i o n d a s , w a s

mit d e m Wissen um Max I m d a h l s Begriff als »Pose« in Gestalt abstrakter Gebilde bezeichnet werden könnle.

Dialektik von S k u l p t u r und Ort

Die B e n e n n u n g v o n Q u a l i t ä t s k r i t e r i e n i n d e r S k u l p t u r hat s i c h bis h i e r h e r a n B e i s p i e l e n d e r M o d e r n e o r i e n t i e r t , g e n a u e r g e s a g t , a n W e r k e n j e n e r Epoche, die n a c h d e m Zweiten W e l t k r i e g die w e l t w e i t e » S p r a c h e der A b s t r a k t i o n « h e r v o r g e b r a c h t hat. F ü r diese Epoche w a r e n die G r u n d l a g e n n i c h t g e g e n s t ä n d l i c h e r A b s t r a k t i o n vorn e h m l i c h i n d e r M a l e r e i i n d e r e r s t e n H ä l f t e d e s 20. J a h r h u n d e r t s g e l e g t w o r d e n . A b e r g e r a d e w e i l S k u l p t u r d i e s e s M e d i u m ist, d a s i n d e r D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t s e i n e » G e g e n s t ä n d l i c h k e i t s e l b s t d a r s t e l l t « , k o n n t e die sich auf g e o m e t r i s c h e G r u n d f o r m e n berufende Abstraktion im M e d i u m S k u l p t u r eine so b e d e u t s a m e Phase in der Skulpt u r g e s c h i c h t e h e r v o r b r i n g e n . Die E i g e n s c h a f t e n von W e r k s t o f f e n , die M ö g l i c h k e i t e n

p h y s i k a l i s c h e r B e d i n g u n g e n u n d die Tatsache, dass die D r e i d i m e n s i o n a l s t von S k u l p t u r darin eine sich ü b e r s c h n e i d e n d e Eigenschaft mit der D r e i d i m e n s i o n a l s t des sie u m g e b e n d e n R a u m e s besitzt, ließen sie zu einer A u s d r u c k s f o r m reifen, die in d e r B e r e i t s t e l l u n g g r o ß e r R ä u m e u n d G e b ä u d e bis heute b e s o n d e r e Orte h e r vorgebracht hat, d e n e n m a n sich n ä h e r n m u s s , u m S k u l p t u r k ö r p e r l i c h z u erfahren. D a ist d i e C h i n a t i F o u n d a t i o n i n M a r f a / T e x a s m i t D o n a l d J u d d s I n s t a l l a t i o n e n s o w i e m i t d e n W e r k e n a n d e r e r B i l d h a u e r w i e J o h n C h a m b e r l a i n ( g e b . 1927) u n d D a n F l a v i n (1933-1996), die eine g e g e n s ä t z l i c h e F o r m g e b u n g v e r f o l g e n . Da s i n d die R ä u m e W a l t e r d e M a r i a s ( g e b . 19351 nierung des

Bröken Kilometer.

i n M a n h a t t a n , d e r s o g e n a n n t e Earthroom o d e r d i e I n s z e -

Es sind die n e u e n A n l a g e n von

Dia:Beacon nördlich

von N e w York, m e h r n o c h a b e r die w i e a u s e i n e r a n d e r e n Zeit s t a m m e n d e n H a l l e n für N e u e Kunst in S c h a f f h a u s e n in der Schweiz. Und w e r die E r f a h r u n g m a c h e n möchte, wie sehr das Abschreiten der eigenen W a h r n e h m u n g sich als R a u m e r l e b n i s erschließt, der m u s s sich in den S k u l p t u r e n p a r k von Otterlo in den N i e d e r l a n d e n b e g e b e n , u m i n m i t t e n d e r S t a h l p l a t t e n v o n R i c h a r d S e r r a ( g e b . 1939) m i t d e m T i t e l Spin-out;

dedicated

to

Robert Smithson

aus

dem

Jahre

1973

in

diesem

Moment

zu

e r f a h r e n , w i e k o m p l e x D r e i d i m e n s i o n a l s t die M o t o r i k d e s K ö r p e r s u n d die E r k e n n t nis in B e w e g u n g versetzt. Das Bild, das diese G e n e r a t i o n von B i l d h a u e r n a b g e g e b e n hat und bis heute als g ü l t i g e n M a ß s t a b f ü r S k u l p t u r ü b e r l i e f e r t , ist die D a r s t e l l u n g u n d E v o k a t i o n v o n R a u m und s e i n e m Erleben als ein i m m e r in der Gegenwart des W a h r n e h m e n s stattfindend e r P r o z e s s , i n d e m die I d e n t i t ä t d e s W a h r n e h m e n d e n e r f a h r e n w i r d . S k u l p t u r ist s o i m m e r a u c h A u s d r u c k einer Dialektik, s o w o h l für K ö r p e r w i e f ü r Geist. Im Hinblick auf A u s d r u c k s f o r m e n d e r S k u l p t u r , die nach dieser letzten großen k u n s t h i s t o r i s c h e n E p o c h e z w i s c h e n 1961 u n d 1975 e n t s t a n d e n s i n d , f ä l l t e s s c h w e r e r , Kriterien der Qualität zu e n t w i c k e l n , w e n n sich die D a r s t e l l u n g e n absichtsvoll diesen K r i t e r i e n zu e n t z i e h e n s u c h e n , i n d e m sie das Bild, die i n h a l t l i c h e I l l u s t r a t i o n , in d e n V o r d e r g r u n d s t e l l e n . N a c h 1980 s e t z t e i n e P h a s e e i n , i n d e r e r n e u t M a l e r , w i e s c h o n z u r Zeit A u g u s t e R o d i n s (1840-1917), die H a u p t w e r k e h e u t e e x i s t i e r e n d e r S k u l p t u r und Plastik schaffen und d a m i t i m m e r zunächst ein Bild, eine Illustration und eine Geschichte in drei D i m e n s i o n e n im V o r d e r g r u n d stehen. Viele D a r s t e l l u n g e n s u c h e n z u n ä c h s t die i n h a l t l i c h - i k o n o g r a f i s c h e B o t s c h a f t z u m A u s d r u c k z u b r i n g e n , die a b e r einer D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t m ö g l i c h e r w e i s e nicht z w i n g e n d n o t w e n d i g bedarf. Mit e i n e m B l i c k auf die j ü n g e r e n E n t w i c k l u n g e n d e r K u n s t w i s s e n s c h a f t m a g die V e r l a g e rung der Beurteilungskriterien parallel auch in der Verlagerung der Forschungsa s p e k t e b e g r ü n d e t liegen. Heute versteht sich die K u n s t g e s c h i c h t e i m m e r m e h r als eine Bildwissenschaft. Der z u m Schlüsselbegriff m u t i e r t e »iconic t u r n « bringt es p r ä g n a n t z u m A u s d r u c k : E s gilt, die B e d e u t u n g s e b e n e n j e n e r B i l d e r z u v e r s t e h e n , die in d e r Z w e i d i m e n s i o n a l i t ä t e i n e r Fläche k o m p o n i e r t und a u s s c h l i e ß l i c h in dies e m M e d i u m verbreitet werden. Dies geschieht nicht nur in den klassischen Medien

,

3 Barnett Newman Bröken Obelisk. 1963-1969 lExhibition copy 2005I Stahl 7 7 4 . 6 x 3 2 0 * 3 2 0 cm

VI Qualität in der S k j l p t u r

143

der bildenden Kunst, in den Produktionen der Fotografie, sondern vor allem an den F l a c h b i l d s c h i r m e n d e r PCs, die i m G e w a n d k l a s s i s c h e r R e n a i s s a n c e p e r s p e k t i v i t ä t D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t p e r f e k t i o n i s t i s c h i l l u s i o n i e r e n . R a u m e r f a h r u n g ist h e u t e r e d u ziert auf die V o r g a b e n p r o j i z i e r t e r B i l d e r u n d die I m m a t e r i a l i t ä t des W o r l d W i d e Web, d i e j e d o c h w e i t v o n j e n e r » d e m a t e r i a l i z a t i o n o f t h e a r t o b j e c t « e n t f e r n t ist, d i e L u c y R . Lippard in ihrer b e r ü h m t e n Anthologie der Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre vor A u g e n h a t t e / ' M i t L a w r e n c e W e i n e r ( g e b . 1942] h a t e i n b e d e u t e n d e r V e r t r e t e r d e r Kunst, der j e n e Konzepte d a m a l s m i t e n t w i c k e l t hat, w ä h r e n d e i n e r P o d i u m s d i s k u s sion den Konflikt z u m A u s d r u c k g e b r a c h t , mit einer Prägnanz, die n u r das Englische so zu a r t i k u l i e r e n v e r m a g : »A Website is not a site!« D e r S k u l p l u r b e g r i f f , d e r s i c h a u f R ä u m e b e z i e h t , l ä s s t s i c h i m m e r n o c h bei j e n e n K ü n s t l e r n a u s m a c h e n , die die K r i t e r i e n von V o l u m e t r i e , M a t e r i a l i t ä t u n d P r o p o r t i o n abseits medialer Bilder ausloten. Im Verhältnis zu den derzeit dominierenden Ausd r u c k s f o r m e n m u l t i m e d i a l e r Bilder erscheinen solche Bildwerke, um einen altertümlichen Ausdruck für Skulptur selbstironisch anzuführen, bisweilen konservativ u n d sie s i n d e s f ö r m l i c h , w e i l sie d e n V e r s u c h u n t e r n e h m e n , e t w a s z u b e w a h r e n u n d zu überliefern, was sich allgemeiner Erfahrungsbereiche i m m e r stärker entzieht. W a s S k u l p t u r a u s z e i c h n e t , ist m i t e i n e r E n t s c h e i d u n g ü b e r P r o p o r t i o n , Maß u n d Dimension eines Werkes zu setzen, wo andere Medien von den offenen Möglichkeiten s p r e c h e n u n d V i r t u a l i t ä t a n b i e t e n . S k u l p t u r ist e x i s t e n z i e l l u n d e x i s t i e r t i n n e r h a l b b e s t i m m t e r und b e s t i m m b a r e r Entscheidungen in der F o r m in e i n e m Material, das von e i n e m R a u m und unserer A u f m e r k s a m k e i t darin Besitz ergreift.

1 Vgl. dazu mit umlangreichen Quellenangaben Paul von Naredi-Rainer, Architektur und Harmonie. Zahl, Mali und Proportion in der abendländischen Baukunst, Köln 1982, hier S. 106. 2 Zit.

n

z.B.

Skulptur:

Beuys,

Lee

U

Fan,

Rabinowitch.

Reusch,

Rückricm,

Scrra,

Spagnuto,

Ausst.-Kat.

Städtische Galerie im Stadeischen Kunstinstitut, Frankfurt am Main 1978, S. 5. 3 Max Imdahl, »Reflexion, Theorie, Methode«, in: Gesammelte Schriften, 3 Bde., Frankfurt am Main 1996, III. S. 579 f. A Lucy R. Lippard, Six Yearz: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972. New York 1973.

Interview mit Klaus Bußmann Die F r a g e n s t e l l t e W o l f r a m Völcker.

Was verstehen Sie ganz a l l g e m e i n unter »Qualität« in der Kunst?

D a s ist n a t ü r l i c h d i e s c h w i e r i g s t e F r a g e . E i g e n t l i c h k a n n m a n d a s g a n z k o n k r e t n u r an b e s t i m m t e n Dingen f e s t m a c h e n . Es gibt keine a b s t r a k t e n Begriffe von Qualität, es gibt n u r Qualität in der Sache. M a n k a n n d u r c h a u s in H i n b l i c k auf S k u l p t u r o d e r Malerei sagen, dass es einen b e s t i m m t e n Ansatz gibt, der w i r d verfeinert, kultiviert, w i r d r a f f i n i e r t e r . B e i d e r S k u l p t u r ist e s a m l e i c h t e s t e n , w e n n m a n s i c h d i e E n t w i c k l u n g a n s i e h t , die w i r in Europa ü b e r s c h a u e n k ö n n e n - also n u r in den B e r e i c h e n , von denen w i r etwas verstehen. Es gibt aber auch Bereiche, von denen w i r gar nichts verstehen. Innerhalb dessen, was wir kennen, meinetwegen innerhalb der griechis c h e n S k u l p t u r , k a n n m a n f r a g e n , w i e e s g e n a u a n f i n g : m i t fast a b s t r a h i e r e n d e n K ö r p e r f o r m e n , d a n n g i n g e s z u r K l a s s i k ü b e r ( P h i d i a s , 5 0 0 - 4 3 2 v . Chr.) u n d d a n a c h folgle eine g e s a m t e E n t w i c k l u n g s l i n i e auf der Basis eines e n t w i c k e l t e n Modells. D a k a n n m a n die Q u a l i t ä t s u n t e r s c h i e d e s c h o n g e n a u f e s t s t e l l e n . D a k a n n m a n ganz g e n a u s a g e n - wie die G r i e c h e n es ja a u c h g e m a c h t h a b e n -, d a s s das d e s w e g e n b e s s e r ist, w e i l d e r H i n t e r n b e s s e r g e f o r m t ist, w e i l die P r o p o r t i o n e n b e s s e r s t i m m e n , w e i l die Z u s a m m e n s c h a u von v e r s c h i e d e n e n N a t u r e r f a h r u n g e n i n e i n e m K ö r per die b e s t e n K o m b i n a t i o n e n ergibt. Das s i n d d a n n ganz g e n a u e K r i t e r i e n .

Für Sie ist also »Qualität« i m m e r die Qualität von einer speziellen Sache?

Ja, a n d e r s geht es nicht - w e i l Qualität, a b s t r a k t b e t r a c h t e t , k e i n e n Sinn m a c h t . Qualität entsteht i m m e r n u r im Vergleich. Es m a c h t also keinen Sinn, eine Arbeit von P h i d i a s m i t e i n e r von H e n r y M o o r e (1898-1986) z u v e r g l e i c h e n . S o k a n n m a n auf keinen Qualitätsbegriff k o m m e n .

Warum?

Weil es u n t e r s c h i e d l i c h e K u l t u r e n sind, die a u f g r u n d ihrer S t r u k t u r e n zu a n d e r e n P r o d u k t e n k o m m e n , u n d w e i l e s u n m ö g l i c h w i r d z u s a g e n , o b d a s e i n e b e s s e r ist a l s das andere. F ü r d i e ä l t e r e K u n s t g e s c h i c h t e ist e s r e l a t i v ü b e r s c h a u b a r : E s g i b t b e i s p i e l s w e i s e d a s P h ä n o m e n d e r E n t w i c k l u n g d e r r o m a n i s c h e n S k u l p t u r , bei d e r m a n g e n a u s a g e n k a n n : D a w i r d e s s p a n n e n d , d a ist e i n M o d e l l e n t w i c k e l t w o r d e n , d a s v e r f e i n e r t w i r d . D a r ü b e r gibt es V e r g l e i c h s s t u d i e n . In B u r g u n d , in d e r Abtei Cluny, w a r d a m a l s d e r a b s o l u t e H ö h e p u n k t . D a n a c h w i r d e s ein b i s s c h e n b a r o c k e r u n d d a n a c h ist e s a u s . Es folgt ein B r u c h in der E n t w i c k l u n g , die d a n n mit C h a r t r e s , m i t d e r f r ü h e n gotis c h e n S k u l p t u r ganz neu w i e d e r beginnt. Und w a s die r o m a n i s c h e und gotische S k u l p t u r a n g e h t , ist d e r R e s t d a n n e i n - i m F r a n z ö s i s c h e n s a g t m a n » s o u s - p r o d u i t « A b f a l l p r o d u k t . Das hören K u n s t h i s t o r i k e r ja nicht gern, aber die g e s a m t e d e u t s c h e r o m a n i s c h e u n d g o t i s c h e S k u l p t u r ist e i n A b f a l l p r o d u k t . D i e w a r e n d a m a l s f ü n f z i g Jahre zurück und haben kopiert, was andere bereits kopiert hatten. Der Beginn der R e n a i s s a n c e s k u l p t u r in Italien fällt mit einer N e u o r i e n t i e r u n g in der s p ä t g o t i s c h e n S k u l p t u r i n F r a n k r e i c h u n d D e u t s c h l a n d z u s a m m e n . Die h a b e n e i g e n e M e n s c h e n m o d e l l e e n t w i c k e l t , die auf den ersten Blick nichts mit der Renaissance in Italien zu t u n haben, aber d e n n o c h das Interesse f ü r den n a t ü r l i c h e n m e n s c h l i c h e n Körper zeigen, den das Mittelalter nicht kannte. Und Claus Stüter (1340/50-1405/06] i n D i j o n ist w a h r s c h e i n l i c h g e n a u s o i n t e r e s s a n t w i e L o r e n z o G h i b e r t i ( 1 3 7 8 - 1 4 5 5 ] i n F l o r e n z . N u r h a t t e n sie a n d e r e A n s ä t z e : Die e i n e n k a m e n a u s d e r A n t i k e , die a n d e ren k a m e n mit einer neuen Definition aus einer Neubelebung der mittelalterlichen Tradition heraus. Daher m a c h t es hinsichtlich der Qualität auch gar keinen Sinn, das eine gegen das andere auszuspielen.

Was versteht man denn eigentlich unter einer S k u l p t u r , auch in der Abgrenzung zur Plastik?

Diese T r e n n u n g m a c h t i m G r u n d e nicht v i e l Sinn. E s gibt n a t ü r l i c h die t r a d i t i o n e l l e Unterscheidung, dass m a n unter »Skulptur« das versteht, w a s aus e i n e m Steinblock h e r a u s g e a r b e i t e t w o r d e n ist; das e n t s p r i c h t e i n e r Idee von M i c h e l a n g e l o (1475-1564), d e r g e s a g t hat: »In e i n e m S t e i n - o d e r M a r m o r b l o c k s e h e ich s c h o n die F i g u r , ich m u s s s i e n u r h e r a u s h o l e n . « D a s ist n a t ü r l i c h s e h r m u t i g . D i e a n d e r e P o s i t i o n i s t : M a n n i m m t e i n e n H a u f e n L e h m u n d k n e t e t d a r a u s e i n e » P l a s t i k « . D i e s e M e t h o d e ist n a t ü r l i c h s e h r v i e l ä l t e r . E s ist w a h r s c h e i n l i c h , d a s s m a n d a m i t a n g e f a n g e n h a t . I n d e r Steinzeit hat m a n w a h r s c h e i n l i c h e h e r mit d e r Plastik b e g o n n e n . A b e r i m G r u n d e ist e s d o c h w o h l s o , d a s s d i e U n t e r s c h e i d u n g i n H i n b l i c k a u f d a s M e d i u m n i c h t e n t s c h e i d e n d ist, w e i l d a s E r g e b n i s i n b e i d e n F ä l l e n e i n e d r e i d i m e n s i o n a l e S k u l p t u r ist.

Können Sie das gegen eine Installation abgrenzen?

D a s ist n a t ü r l i c h e i n e S a c h e , d i e s e h r m o d e r n i s t . D a s W o r t » I n s t a l l a t i o n « h ä t t e n w i r j a f r ü h e r nie g e b r a u c h t , o b w o h l das i m d a m a l i g e n Kontext n a t ü r l i c h a u c h s i n n v o l l gewesen wäre. Man kann beispielsweise auch sagen: Der S k u l p t u r e n s c h m u c k einer g o t i s c h e n K a t h e d r a l e ist Teil d e r I n s t a l l a t i o n . E s hat j a i m m e r b e i d e D i n g e g e g e b e n : d i e f r e i s t e h e n d e u n d d i e g e b u n d e n e S k u l p t u r . U n d d a s w a r b i s i n s 19. J a h r h u n d e r t auch ganz selbstverständlich, dass beides nebeneinander existieren konnte und dabei dasselbe Existenzrecht hatte. Eine B a u s k u l p t u r wie a u c h ein Relief w a r e n in e i n e m b e s t i m m t e n Kontext genauso wichtig wie eine freistehende Skulptur, doch p r o z e n t u a l gibt e s viel m e h r B a u s k u l p t u r . A l l e r o m a n i s c h e n S k u l p t u r e n , bis auf die M a d o n n e n u n d die K r e u z e , w a r e n B a u s k u l p t u r e n . I n der R e n a i s s a n c e fing e s d a n n mit Donatello (1386-1466) und der freistehenden S k u l p t u r an. Das w a r aber in der Antike ja bereits so: Es gab in den T e m p e l n S k u l p t u r e n von Zeus o d e r Minerva; a b e r es gab nie die K o n k u r r e n z z w i s c h e n B a u s k u l p t u r u n d f r e i s t e h e n d e r S k u l p t u r , es w a r i m m e r d i e s e l b e I d e e . D i e L o s l ö s u n g d e r S k u l p t u r a u s d e m K o n t e x t ist l e t z t l i c h i n d e r M o d e r n e v o l l z o g e n w o r d e n . B e i m B a u h a u s hat die S k u l p t u r k e i n e n Platz m e h r g e h a b t . H i e r setzt eine E n t w i c k l u n g ein, die es v o r h e r in d e r G e s c h i c h t e nicht g e g e b e n hat: n ä m l i c h dass die S k u l p t u r a u t o n o m w i r d u n d t h e o r e t i s c h nicht m e h r von d e r A r c h i t e k t u r a b h ä n g t o d e r von i h r d o m i n i e r t w i r d , s o n d e r n s t e h e n k a n n , w o sie w i l l u n d w o sie als e i g e n s t ä n d i g w a h r g e n o m m e n w i r d . Das s i e h t m a n b e i s p i e l s w e i s e bei O s k a r S c h l e m m e r ( 1 8 8 8 - 1 9 4 3 ) , d e r j a n o c h bei d e m b e r ü h m t e n H a u s v o n Dr. R a b e in Z w e n k a u bei Leipzig den V e r s u c h u n t e r n o m m e n hat, R e l i e f s in die A r c h i t e k t u r z u i n t e g r i e r e n . D o c h l e t z t l i c h ist d a n n e i n t o t a l e r B r u c h n a c h d e m B a u h a u s u n d L e C o r b u s i e r (1887-1965) erfolgt. Dieser radikale B r u c h w a r n a t ü r l i c h a u c h gleichzeitig e i n e B e f r e i u n g f ü r die S k u l p t u r . Die E n t w i c k l u n g d e r m o d e r n e n S k u l p t u r k o m m t a u s d e r B e f r e i u n g . Die f i g u r a t i v e S k u l p t u r ist i m G r u n d e seit A u g u s t e R o d i n (1840-1917) o b s o l e t g e w o r d e n . Die a b s t r a k t e S k u l p t u r ist e i g e n t l i c h n u r d e n k b a r , ohne mit e t w a s v e r b u n d e n zu sein. Der M e n s c h als Gegenstand der Kunst existiert heute nur noch in einem ironisierenden Kontext. Man kann dies mit den Beispielen v o n S t e p h a n B a l k e n h o l ( g e b . 1957) o d e r M a r k u s L ü p e r t z ( g e b . 1941) b e l e g e n : D a s ist K u n s t f ü r L e u t e , d i e n i c h t d i e C o u r a g e h a b e n z u s a g e n , d a s s s i e m o d e r n e K u n s t hassen. A u c h in d e r Malerei s i n d m a n c h e S a c h e n o b s o l e t g e w o r d e n - d u r c h die Fotografie. Es m a c h t e keinen Sinn m e h r , N a t u r fotorealistisch zu m a l e n , w e n n die Fotografie das besser konnte. Oder a u c h die hilflosen V e r s u c h e der K u b i s t e n u n d Futuristen, B e w e g u n g ins Bild z u b r i n g e n , w a r e n e i g e n t l i c h Unsinn, d e n n das m a c h t d e r F i l m v i e l b e s s e r . E s g i b t a l s o b e s t i m m t e T h e m e n i n d e r a l t e n K u n s t , d i e u m 1900 d u r c h neue Technologien abgelöst wurden.

Bleibt denn dann überhaupt etwas f ü r die zeitgenössische Kunst übrig?

K l a r , das w a r eine totale B e f r e i u n g . Die ganze E n t w i c k l u n g d e r m o d e r n e n a b s t r a k t e n S k u l p t u r ist e r s t a u f g r u n d d e r B e f r e i u n g v o n d e r B i n d u n g a n d i e A r c h i t e k t u r m ö g lich geworden. Und da gibt es verschiedene Stränge in der Reduktion von K ö r p e r s p r a c h e o d e r K ö r p e r t e i l e n . W i e bei H e n r y M o o r e , i n d e s s e n A r b e i t e n i m m e r n o c h d i e E r i n n e r u n g a n die m e n s c h l i c h e F i g u r v o r h a n d e n ist. U n d e s gibt d e n V e r s u c h - d e r e i g e n t l i c h w i d e r s p r ü c h l i c h ist - , m i t a b s t r a k t e n M i t t e l n R ä u m l i c h k e i t e n i m K o n t e x t m e n s c h l i c h e r Figuren zu entwickeln. Wobei der K u b i s m u s ja Dreidimensionalität in der Malerei wollte, also m a c h t es gar keinen Sinn, das im Dreidimensionalen zu entwickeln. A b e r t r o t z d e m gibt es hier faszinierende Arbeiten, auch w e n n es eigentl i c h ein H o l z w e g ist. Die S k u l p t u r h a t t e auf e i n m a l M ö g l i c h k e i t e n , die sie z u v o r n i c h t h a t t e . D i e E n t w i c k l u n g d e r m o d e r n e n u n g e g e n s t ä n d l i c h e n S k u l p t u r ist e i n e s d e r s p a n n e n d s t e n K a p i t e l d e s 20. J a h r h u n d e r t s , w e i l d i e s e a l s e r s t e d i e M ö g l i c h k e i t e n t w i c k e l t hat, einen R a u m u n a b h ä n g i g von der A r c h i t e k t u r zu definieren und z u d e m , parallel zur Malerei, Erfahrungen der abstrakten Art zu machen, im Grunde neue Dinge z u e n t d e c k e n : das N i c h t s u n d d a s Sein. Das s i n d a l l e s Dinge, die m a n z u v o r s o ü b e r h a u p t nicht hatte f o r m u l i e r e n können, w e i l m a n i m m e r a n eine vorgegebene A u f g a b e g e b u n d e n war. D e s h a l b hat sich n a t ü r l i c h d a n n der Begriff d e r S k u l p t u r i m m e r m e h r ausgeweitet. Streng g e n o m m e n , macht der Unterschied zwischen » P l a s t i k « u n d » S k u l p t u r « h e u t e k e i n e n S i n n m e h r , » S k u l p t u r « ist n u r n o c h e i n H i l f s b e g r i f f f ü r Dinge, die ü b e r h a u p t n i c h t s m e h r m i t e i n a n d e r z u t u n h a b e n .

Aber die Dreidimensionalität ist ein K r i t e r i u m .

J a , D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t ist e i n e A b g r e n z u n g z u r M a l e r e i u n d z u r G r a f i k . A b e r s c h o n i m V e r g l e i c h z u r A r c h i t e k t u r s i n d die Ü b e r g ä n g e f l i e ß e n d . U n d e s gibt z u m B e i s p i e l von Architekten einige der wichtigsten Beiträge zur Entwicklung der abstrakten S k u l p t u r , w i e e t w a die D e n k m ä l e r von W a l t e r G r o p i u s (1883-1969) o d e r M i e s van d e r R o h e (1886-1969). D a s ist w i e b e i m D e s i g n . Die b e s t e n D e s i g n e r w a r e n i n d e r R e g e l Architekten und deren Objekte waren dann wieder gute Skulpturen. Der b e r ü h m t e S e s s e l v o n A l v a r A l t o ( 1 8 9 8 - 1 9 7 6 ) ist e i n D e s i g n o b j e k t , g l e i c h z e i t i g a b e r a u c h e i n e t o l l e a b s t r a k t e S k u l p t u r . D a s i n d die G r e n z e n f l i e ß e n d . A u c h d a d u r c h , d a s s die K ü n s t ler es e i g e n t l i c h s c h o n seit den 1 9 2 0 e r - J a h r e n nicht m e h r a k z e p t i e r t haben, m a t e r i a l g e b u n d e n z u d e n k e n . Sie a r b e i t e t e n n i c h t m e h r i n M a r m o r , B r o n z e o d e r Ton, s o n d e r n b e r ü c k s i c h t i g t e n - a u c h in K o m b i n a t i o n - die v e r s c h i e d e n s t e n m e d i a l e n Möglichkeiten, sodass der Begriff »Skulptur« heute eigentlich tatsächlich nur noch d u r c h das E l e m e n t der D r e i d i m e n s i o n a l i t ä t definiert w e r d e n k a n n . Ich habe e i n m a l eine A u s s t e l l u n g m i t Z e i c h n u n g e n von Eduardo Chillida (1924-2002) g e m a c h t und

i h r d e n T i t e l Zeichnung als Raum g e g e b e n .

D e n n es sind z w a r Z e i c h n u n g e n

und da-

m i t z w e i d i m e n s i o n a l e W e r k e , aber e i g e n t l i c h sind sie r ä u m l i c h gedacht. Das Einzige, w a s t a t s ä c h l i c h ü b r i g g e b l i e b e n ist, s i n d F l ä c h e u n d R a u m .

Wie auch bei Fred Sandback (1943-2003) z u m Beispiel. Gibt es denn eigentlich a l l g e m e i n g ü l t i g e Q u a l i t ä t s m e r k m a l e für die Skulptur? Manche Autoren nennen da die Unverwechselbarkeit der Idee oder die Bewertung der Absicht.

E s gibt b e s t i m m t e K ü n s t l e r , die e i n e n r a d i k a l e n B r u c h g e g e n ü b e r d e m b i s l a n g D e n k b a r e n v o l l z o g e n haben. Dazu g e h ö r t Pablo Picasso (1881-1963) als Bildhauer. Ich g l a u b e , d a s s P i c a s s o a l s B i l d h a u e r g e n a u s o w i c h t i g ist w i e a l s M a l e r . O d e r H e n r i Laurent (1844-1902), also diese Generation. Und danach gab es eine Reihe von K ü n s t lern, die d e r e n A n s ä t z e i m m e r w e i t e r r e p r o d u z i e r t h a b e n ; die w ü r d e ich a l l e i n d e s h a l b f ü r z w e i t r a n g i g h a l t e n . A b e r d a n n gab e s z u m B e i s p i e l bei den K o n s t r u k t i v i s t e n R u s s l a n d s o d e r i n H o l l a n d e i n e n ganz n e u e n A n s a t z , die h a b e n w i r k l i c h m i t d e m K u b i s m u s g e b r o c h e n . Die w ä r e n o h n e K u b i s m u s n i c h t d e n k b a r , a b e r d a m i t hat i h r e K u n s t n i c h t s m e h r z u t u n , u n d d a k a n n m a n a u c h s a g e n : D a s s i n d P i o n i e r e . D a s ist a l l e r d i n g s n i c h t d i e e i n z i g e Q u a l i t ä t , d a s s m a n P i o n i e r ist u n d e t w a s N e u e s g e m a c h t hat, s o n d e r n n a t ü r l i c h auch, wie m a n es g e m a c h t hat. Dass m a n Standards a u f g e s t e l l t hat, die d a n n die N a c h f o l g e r e n t w e d e r p e r f e k t i o n i e r t h a b e n , w a s s e l t e n d e r F a l l ist, o d e r r e p e t i e r t h a b e n , w a s d a n n w e n i g e r i n t e r e s s a n t i s t . D a s w ä r e d a n n a b e r n u r ein Q u a l i t ä t s k r i t e r i u m .

Was wäre ein zweites Q u a l i t ä t s k r i t e r i u m ?

Es gibt diesen b e r ü h m t e n S p r u c h von Mies van der Rohe: »Ich k a n n nicht jeden M o n tag eine neue A r c h i t e k t u r entwickeln.« Das gilt z u m Beispiel f ü r Leute wie Chillida: Der hat n a c h m ü h s a m e n A n f ä n g e n b e s t i m m t e Dinge e n t w i c k e l t , die e r e i g e n t l i c h bis z u m L e b e n s e n d e v e r f o l g t h a t . U n d d a s ist d e s w e g e n Q u a l i t ä t , w e i l e s e i n e u n g l a u b liche D i f f e r e n z i e r u n g der M ö g l i c h k e i t e n bedeutet - aber i m m e r auf e i n e m s e h r h o h e n Niveau. D a n n w i e d e r u m gibt e s Leute, die e i n f a c h n u r ganz l a n g w e i l i g W i e d e r h o l u n gen p r o d u z i e r t h a b e n u n d bei d e n e n m a n s a g e n w ü r d e : Die e n t s c h e i d e n d e P h a s e kennt m a n , aber den Rest kann m a n vergessen. Und das dritte K r i t e r i u m w ä r e für m i c h schon, innerhalb der g e g e b e n e n A u f g a b e eine gewisse Perfektion zu erhalten. F r ü h e r w a r das d u r c h t e c h n i s c h e Qualität definiert. M e i n e t w e g e n Gianlorenzo B e r n i n i s (1598-1680) t e c h n i s c h e B e a r b e i t u n g von M a r m o r ist u n ü b e r t r o f f e n - rein die h a n d w e r k l i c h e B e w ä l t i g u n g , w i e auf e i n m a l a u s M a r m o r Stoff o d e r Fleisch w i r d , d a s hat e i n f a c h v o r h e r u n d n a c h h e r k e i n e r s o ge-

k ö n n t . D a k a n n m a n s a g e n : Okay, d a s ist e i n h a n d w e r k l i c h e s P r o b l e m . A b e r B e r n i n i hat d a s a l s M i t t e l b e n u t z t , u m b e s t i m m t e I d e e n a u s z u d r ü c k e n , u n d d e s h a l b ist e s m e h r als nur H a n d w e r k . Das H a n d w e r k spielt ja in der m o d e r n e n K u n s t p r o d u k t i o n e i n e e h e r u n t e r g e o r d n e t e R o l l e , e s w i r d e h e r a b g e w e r t e t . D e s w e g e n ist d a s P r o b l e m v o n v i e l e n K u n s t s c h u l e n u n d A k a d e m i e n , d a s s sie d a r a u f ü b e r h a u p t k e i n e n W e r t m e h r legen, a b e r nicht begreifen, dass ein b e s t i m m t e s h a n d w e r k l i c h e s K ö n n e n es einem auch erlaubt, dieses w i e d e r u m zu überwinden, also daraus m e h r als reines H a n d w e r k z u m a c h e n . Viele K ü n s t l e r h a b e n z w a r g u t e Ideen, a r b e i t e n a b e r t r o t z d e m dilettantisch. Doch diesen Widerspruch kann m a n heute nicht m e h r auflösen. J o s e p h B e u y s (1921-1986) w a r ein toller Z e i c h n e r , d e r k o n n t e ja w i r k l i c h zeichnen, aber seine S k u l p t u r e n haben damit wenig zu tun. Unter h a n d w e r k l i c h e n Gesichtsp u n k t e n w ü s s t e ich g a r nicht, w i e m a n s o e t w a s e i n o r d n e n sollte. W a s von Beuys d a n n ü b r i g bleibt, sind R e l i k t e e i n e r W e l t a n s c h a u u n g , die o h n e s e i n e n Geist u n d s e i n e P e r s ö n l i c h k e i t e b e n n u r n o c h R e l i k t e s i n d . D a s ist t o t e M a t e r i e . D i e s e r g a n z e B e u y s - R a u m im H a m b u r g e r Bahnhof - ich k a n n m i r nicht vorstellen, dass i r g e n d w e r d a v o n i n s p i r i e r t ist. E s ist z w a r a b s o l u t i n s i c h s t i m m i g , w i e e r e s m a c h t e , w i e e r es produzierte, vorführte und in Szene setzte und zu w e l c h e m Zweck er das machte. A b e r d a s P r o b l e m ist: W a s bleibt e i g e n t l i c h v o n B e u y s ? M a n k a n n n i c h t b e s t r e i t e n , d a s s h e u t e die h a n d w e r k l i c h e S o r g f a l t bei d e r A u s f ü h r u n g von S k u l p t u r e n so gut wie keine Rolle m e h r spielt oder sogar negativ bewertet w i r d m i t g u t e n G r ü n d e n , w e i l n a t ü r l i c h die v i e l e n K o p i s t e n (die e b e n d a s k o p i e r t h a b e n , w a s a n d e r e vordachten) n u r h a n d w e r k e n konnten. D e s h a l b gibt es da eher Vorbehalte gegen handwerkliche Sorgfalt. A b e r e s k a n n j u n g e n K ü n s t l e r n n i c h t s c h a d e n , w e n n sie k l a s s i s c h a u s g e b i l d e t w e r d e n , d a s b e h e r r s c h e n - u n d d a n n m e i n e t w e g e n a u c h w i e d e r v e r g e s s e n . D a s ist n a t ü r l i c h m e i n e p e r s ö n l i c h e Einschätzung, d e n n m a n lebt in s e i n e r Generation und w i r d groß mit d e m , w a s m a n b e w u n d e r t hat, als m a n j u n g war. Das hält sich, a u c h w e n n m a n o f f e n ist g e g e n ü b e r a l l e m , w a s n e u h i n z u k o m m t ; m a n hat t r o t z d e m d e n Reflex z u s a g e n : D e j ä vu, d a s ist j a w i e d i e s e r o d e r j e n e r . A b e r d a n n hat e s a n d e r e Qualitäten, die ü b e r das B e k a n n t e h i n a u s g e h e n , u n d das finde ich a u c h ganz s p a n n e n d . M a n t e n d i e r t s c h o n d a z u z u s a g e n : D a s ist j e t z t d e r d r i t t e o d e r v i e r t e A u f g u s s . Da m u s s m a n aufpassen, sich selbst kontrollieren. Es m u s s ja a u c h nicht sein, dass m a n mit 65 jede Woche einen neuen Künstler kennenlernt und sich jeden neuen K ü n s t l e r m e r k t . M a n m u s s das a u c h nicht alles k e n n e n . D e n n ich g l a u b e nicht, d a s s m a n d a n n i n d e r L a g e ist, f ü r d i e a k t u e l l e K u n s t d e r g a n z j u n g e n L e u t e a d ä q u a t e K r i t e r i e n z u e n t w i c k e l n . Ich n e h m e k e i n e m ä l t e r e n K u n s t h i s t o r i k e r o d e r K u n s t k r i t i k e r ab, d a s s e r w i r k l i c h n o c h v e r s t e h t , w a s d a g e n a u läuft.

Z u m a l die Künstler i m m e r sehr stark reflektieren, was in dieser Gesellschaft a k t u e l l läuft, und man mit 65 nicht weiß, was die 30-Jährigen denken.

D i e M o d e r n e ist e b e n f a l l s n o c h n i c h t w i r k l i c h a n g e n o m m e n w o r d e n , d a s ist a u c h s o ein P h ä n o m e n . I n M ü n s t e r h a b e n w i r das n o c h bei d e r S k u l p t u r e n a u s s t e l l u n g erlebt. Der erste große Skandal, den w i r hatten, w a r mit einer Skulptur, von der wir d a c h t e n , das sei ein ganz h a r m l o s e r Einstieg f ü r B i l d u n g s b ü r g e r , die m a n n i c h t s c h o c k i e r e n w i l l . W i r h a t t e n e i n e A r b e i t v o n G e o r g e R i c k e y [1907 — 2002) g e k a u f t : d i e s e q u a d r a t i s c h e n P l a t t e n , die sich im W i n d d r e h e n . Rickey lebte d a m a l s in B e r l i n , die A r b e i t s t a n d i n d e r N e u e n N a t i o n a l g a l e r i e i m G a r t e n u n d m a n k o n n t e sie k a u f e n . D a gab es in M ü n s t e r einen richtigen Volksaufstand, w e i l für so vier kleine Stahllappen, d i e s i c h i m W i n d d r e h e n , 120.000 D M b e z a h l t w e r d e n s o l l t e n . D a s w a r d e r P u n k t , a n d e m w i r g e d a c h t h a b e n : Die L e u t e m ü s s e n l e r n e n , die K l a s s i s c h e M o d e r n e z u rezip i e r e n . F ü r v i e l e L e u t e i s t P i c a s s o n o c h r e v o l u t i o n ä r . Ich w ü r d e s o g a r s a g e n , i n d e n 1970er- und 1980er-Jahren lehnten achtzig Prozent der K u n s t h i s t o r i k e r noch Henry M o o r e ab. Ich w e i ß noch, dass die Universität d a m a l s eine Arbeit von M o o r e hatte kaufen w o l l e n , die heute als Arbeit d e r K l a s s i s c h e n M o d e r n e g e l t e n w ü r d e . Da gab es ein G u t a c h t e n von P r o f e s s o r e n ü b e r die Z e r s t ö r u n g des M e n s c h e n b i l d e s bei M o o r e . Die A r b e i t w u r d e d a n n n i c h t g e k a u f t . Das k a n n m a n s i c h h e u t e n i c h t m e h r vorstellen. Aber das w a r für mich eine Lektion zu sagen: Wenn m a n älter wird, soll m a n die K l a p p e h a l t e n ; das L e b e n s g e f ü h l von j u n g e n L e u t e n , a u s d e m die a k t u e l l e K u n s t j a k o m m t , d a s hat m a n nicht. Ich h a b e z u m B e i s p i e l bei m i r i m M u s e u m i m m e r d a f ü r g e s o r g t , d a s s f ü r die G e g e n w a r t s k u n s t j u n g e L e u t e e n g a g i e r t w u r d e n .

Das ist auch bei Galeristen oft so. Sie betreuen oft ihre Generation, sie verjüngen ihr P r o g r a m m nicht alle fünf oder zehn Jahre.

Auf d e r a n d e r e n Seite m u s s m a n a b e r a u c h s a g e n , d a s s die m o d e r n e K u n s t i m m e r s t ä r k e r s e l b s t r e f e r e n z i e l l ist. W e n n m a n s i c h v o r s t e l l t , w i e viele G e n e r a t i o n e n ü b e r M a r c e l D u c h a m p (1887-1968) n a c h g e d a c h t haben und das v e r s u c h t h a b e n z u w i d e r l e g e n , u m s c h l i e ß l i c h d i e W i d e r l e g u n g z u w i d e r l e g e n ...

Ich finde es persönlich ja langweilig, wenn Kunst selbstreferenziell ist und sich i m m e r w i e d e r an Vorbildern abarbeitet. Duchamp ist leider i m m e r noch Avantgarde.

D a s P r o b l e m ist, d a s s d a s P u b l i k u m d e n E i n d r u c k h a t : I r g e n d w i e k e n n e n w i r d a s j a d a s ist d a n n d i e f ü n f t e V a r i a t i o n . O d e r d a s G e g e n t e i l p a s s i e r t , i c h h a b e d a s s e l b s t i n den f r ü h e n 1 9 8 0 e r - J a h r e n m i t d e m F o t o r e a l i s m u s e r l e b t . Das w a r die t y p i s c h e R e a k -

tion eines P u b l i k u m s , das der m o d e r n e n abstrakten Malerei überdrüssig w a r : Da sah m a n t r o t z d e m etwas Neues und das w a r auch modern. Nach fünf Jahren w a r der F o t o r e a l i s m u s d a n n v e r g e s s e n . G e o r g B a s e l i t z ( g e b . 1938) w i e d e r u m h a t j a Q u a l i t ä ten, den h a l t e ich f ü r s e r i ö s e r u n d o r i g i n e l l e r a l s L ü p e r t z . A b e r die w i r k l i c h g u t e n u n g e g e n s t ä n d l i c h e n K ü n s t l e r sind i m m e r n u r von e i n e r k l e i n e n Elite v e r s t a n d e n w o r d e n . U n d s e l b s t w e n n s i e d e n K u n s t m a r k t b e l e b e n , ist d a s n u r e i n e F r a g e d e s I m a g e s u n d d e s M a r k e t i n g s . D e n n z u m B e i s p i e l die A r b e i t e n von E l l s w o r t h Kelly ( g e b . 1949) o d e r d i e g u t e n A r b e i t e n v o n R i c h a r d S e r r a ( g e b . 1939) k a n n m a n n u r v e r stehen, w e n n m a n das W e r k sehr genau kennt. Auf den ersten Blick sind das einfache F o r m e n . Man weiß dabei j e d o c h nicht, w i e sich alles entwickelt hat u n d w i e k o m p l i z i e r t d a s ist, w a s d i e d a t u n . D i e s e M ü h e g i b t s i c h d e r K o n s u m e n t k a u m , u n d d e r K u n s t m a r k t w i r d j a i n e r s t e r Linie von K o n s u m e n t e n bedient. Die w i r k l i c h g u t e n S a m m l e r sind ja eine Minorität. Der K u n s t m a r k t m u s s von einer Menge von Leuten leben, die sich a u f g r u n d g u t e r B e r a t u n g oder a l l g e m e i n e r P r e s t i g e e r w a r t u n g ganz m o d e r n zeigen w o l l e n und dann solche Dinge kaufen. Das sind ja neunzig Prozent des K u n s t m a r k t e s . M i r ist d a s i n P a r i s z u m B e i s p i e l a u f g e f a l l e n . I n D e u t s c h l a n d g i l t e s b e i v i e l e n F i r m e n als schick, sich mit m o d e r n e r Kunst zu u m g e b e n ; kein großer F i r m e n c h e f w ü r d e s i c h e i n B i l d a u s d e m 19. J a h r h u n d e r t i n s e i n B ü r o h ä n g e n . I n P a r i s h i n g e g e n i s t e s s e l b s t v e r s t ä n d l i c h , d a s s die g r o ß e n Bosse L o u i s - q u a t o r z e - M ö b e l o d e r E m p i r e h a b e n u n d d o r t e i n N a p o l e o n » r u m h ä n g t « . Ich h a b e b e i k e i n e m m o d e r n e K u n s t g e s e h e n , d a s ist d o r t k e i n P r e s t i g e g e w i n n . D e r h ä n g t v o n d e r j e w e i l i g e n G e s e l l s c h a f t a b . U n d n u n ist j a g e r a d e F r a n k r e i c h i n d i e s e m B e r e i c h e x l r e m k o n v e n t i o n e l l .

In Frankreich sind auch diese Traditionen noch ausgeprägter und lebendiger.

Georges P o m p i d o u z u m Beispiel wollte radikal m o d e r n sein, seine Frau verstand ja e t w a s d a v o n , u n d d e r K ü n s t l e r P i e r r e R e s t a n y ( g e b . 1930) h a t i h n a u c h b e r a t e n a b e r w a s m a n h e u t e s i e h t , ist g r a u e n v o l l . B e u y s hat i r g e n d w a n n e i n m a l g e s a g t , d a s s u n s e r e i g e n t l i c h e r Feind d a s D e s i g n sei, a l s o d e r Feind d e r w i r k l i c h i n t e r e s s a n t e n K u n s t . Die k o m m l d a n n z w a r g a n z u n t e n an, a b e r d a s ist d a n n n i c h t m e h r w i r k l i c h g u t . U n d w a s w i r k l i c h i n e i n e r b e s t i m m t e n Z e i t g u t ist, i s t d a n n i m m e r s o p r o v o k a t i v , dass ein e t a b l i e r t e r M e n s c h , der r e p r ä s e n t i e r e n will, m i t so e t w a s ü b e r h a u p t nicht existieren kann. Diesen W i d e r s p r u c h kann m a n nicht auflösen, er hängt z u s a m m e n m i t d e r t o t a l e n F r e i h e i t d e r K u n s t h e u t e . Die K ü n s t l e r s i n d die E i n z i g e n , die e s s i c h leisten k ö n n e n , Dinge z u d e n k e n , die n i c h t s mit d e m e t a b l i e r t e n S y s t e m z u t u n h a b e n .

... sogar verpflichtet sind, das zu tun.

J a , u n d d a s , f i n d e i c h , ist d i e w a h n s i n n i g e C h a n c e d e r K u n s t , t h e o r e t i s c h a u c h d e r M u s e u m s l e u t e : d i e s e n F r e i r a u m z u n u t z e n . Dinge z u t u n , die m a n nicht tut. O d e r die m a n a u c h nie v o r h e r gesagt hat.

Was ist denn mit dem Aspekt der Neuartigkeit? Wenn j e m a n d etwas ganz Neues macht?

I c h f i n d e n i c h t , d a s s e i n K r i t e r i u m f ü r Q u a l i t ä t d e r N e u i g k e i t s a s p e k t ist - a b e r d i e E n t d e c k u n g n e u e r W e l t e n . D i e F r a g e ist n a t ü r l i c h : M i t w e l c h e n a n d e r e n K r i t e r i e n kann m a n in der Qualitätsbeschreibung vorgehen? Was vorher niemand gemacht h a t . ist e i n K r i t e r i u m . A b e r r e i c h t d a s s c h o n , u m z u s a g e n : D a s ist g u t ? D a w i r d e s heikel.

Es ist ja in der Zeichnung und in der Malerei auch so. Natürlich können die Leute nicht m e h r impressionistisch oder expressionistisch malen.

Ich f i n d e n u r , d i e Z e i c h n u n g e n h a b e n e s d a l e i c h t e r , w e i l h i e r a u c h e i n u n g e ü b t e s A u g e i m m e r n o c h d i e Q u a l i t ä t d e r B e w ä l t i g u n g e i n e r F l ä c h e s i e h t . D a s ist f ü r u n s v i e l l e i c h t e r n a c h z u v o l l z i e h e n . D a s D r e i d i m e n s i o n a l e ist k o m p l i z i e r t e r .

Gibt es denn da als K r i t e r i u m für Qualität nicht so etwas wie die Beherrschung des Raumes?

J a , d a s h a t m i c h 2 0 0 6 i m H a m b u r g e r B a h n h o f ü b e r r a s c h t : F e l i x S c h r a m m ( g e b . 1970). Auf den ersten Blick sah das nicht o r i g i n e l l aus, aber er hat es geschafft, einen R a u m , d e r g a n z s c h w i e r i g ist, z u d o m i n i e r e n u n d n e u z u i n t e r p r e t i e r e n - u n d e s f u n k t i o n i e r t e . D a s f i n d e i c h e i n e Q u a l i t ä t . M a n m e r k t , S c h r a m m ist i n d e r L a g e , m i t d e m R a u m u m z u g e h e n . D a s ist n a t ü r l i c h a u c h d a s P r o b l e m m i t m o d e r n e r S k u l p t u r , dass sie a u s d e r B e f r e i u n g von d e r A r c h i t e k t u r h e r a u s e i n e n e u e B i n d u n g m i t d e m f r e i e n R a u m e i n g e g a n g e n ist. U n d g e r a d e K u n s t f ü r d e n ö f f e n t l i c h e n R a u m ist i n d e m D i l e m m a , dass sie auf e i n e n b e s t i m m t e n v o r g e g e b e n e n Kontext reagiert, von d e m a b e r n i c h t s i c h e r ist, o b e r l a n g f r i s t i g e x i s t i e r e n k a n n . Ich h a b m i c h d a r ü b e r e i n m a l m i t C l a e s O l d e n b u r g ( g e b . 1929) u n t e r h a l t e n . I c h h a t t e m i r s y s t e m a t i s c h seine Arbeiten angesehen, fand, dass einige nicht gut funktionierten, und habe i h m d a s a u c h g e s a g t . D a s a g t e er, ja, bloß s e i n P r o b l e m sei, dass, w e n n e r b e i s p i e l s w e i s e einen B a s e b a l l s c h l ä g e r von 22 M e t e r hinstellte, das absolut fantastisch im Kontext sei - a b e r auf e i n m a l k o m m e ein 550 M e t e r h o h e s G e b ä u d e d a n e b e n ; d a sei d o c h

der B a s e b a l l s c h l ä g e r w i e d e r l ä c h e r l i c h . Das heißt also, e i g e n t l i c h m ü s s t e m a n kritisch vieles w i e d e r w e g r ä u m e n , w e n n der Kontext nicht m e h r s t i m m t .

Absolut, ja, der Kontext s t i m m t auch m a n c h m a l für die Zeit nicht mehr. Ich bin ja i m m e r der Meinung, man müsste e i n m a l in Frankfurt vor diesen ganzen Hochhäusern aufräumen, dort stehen ü b e r a l l diese S t a h l s k u l p t u r e n davor. Die w a r e n ja vielleicht e i n m a l ganz witzig, aber heute sind sie oft ein Ärgernis.

D a s ist j a i m m e r d a s P r o b l e m , w a s K u n s t i m ö f f e n t l i c h e n R a u m a u s m a c h e n k ö n n t e d i e p r ä z i s e D e f i n i t i o n e i n e s R a u m e s , d e r v o n A r c h i t e k t u r u m g e b e n ist. U n d w e i l die S k u l p t u r s o a b h ä n g i g ist von d e m . w a s sie u m g i b t , s t i m m e n bei d e r k l e i n s t e n V e r ä n d e r u n g d e r P r o p o r t i o n e n d i e B e z i e h u n g e n n i c h t m e h r . A b e r d i e A l t e r n a t i v e ist t r o t z d e m n i c h t e i n S k u l p t u r e n p a r k , i n d e m m a n sie e i n f a c h a u f d i e g r ü n e W i e s e stellt.

Wenn Sie jetzt e i n m a l an die Arbeit von Wolf Vostell (1932-1998) am Ende des K u r f ü r s t e n d a m m s in B e r l i n denken - die f u n k t i o n i e r t nur, solange um sie h e r u m auch Autos fahren.

A b e r sie f u n k t i o n i e r t gut, w ä h r e n d die S e r r a - S k u l p t u r a n der P h i l h a r m o n i e ü b e r haupt nicht f u n k t i o n i e r t . Da fragt m a n sich w i r k l i c h : W a r u m steht das Ding dort? Denn es gibt keine K o r r e s p o n d e n z , w e d e r z u r A r c h i t e k t u r noch z u m Rest des R a u m e s . U n d S e r r a ist e i n e r , d e r i m m e r b e h a u p t e t h a t , e r s e i s o e x t r e m v o m K o n text a b h ä n g i g . A l l e s a n d e r e m a c h t i n d e r K u n s t k e i n e n S i n n . A b e r K u n s t i m ö f f e n t l i c h e n R a u m ist w i e e i n S c h n e e m a n n : Sie v e r s c h w i n d e t i r g e n d w a n n i m B e w u s s t s e i n . M a n n i m m t sie a m A n f a n g w a h r u n d d a n n n i c h t m e h r . W i r h a b e n z u m B e i s p i e l e i n m a l den Chillida eingeladen, eine Arbeit in Berlin zu m a c h e n . Er hat sich d a n n entschlossen, eine Arbeit für den offenen Innenhof des neuen A u ß e n m i n i s t e r i u m s g e g e n ü b e r d e r F r i e d r i c h s w e r d e r s c h e n K i r c h e z u g e s t a l t e n . D e r I n n e n h o f ist v e r g l a s t . Chillida ging davon aus, dass d e r ganze Hof frei bliebe, u n d w o l l t e eine k o m p a k t e S t e i n s k u l p t u r m a c h e n , die in sich k o n z e n t r i e r t sein sollte. A b e r d a n n gab es auf einm a l die E i n l a d u n g v o m B u n d e s k a n z l e r a m t u n d w i r sind z u s a m m e n d o r t h i n gefahren. Chillida fand die A r c h i t e k t u r ganz f u r c h t b a r . U n d d a d a s K a n z l e r a m t s k u l p t u r a l g e d a c h t ist, f a n d d e r A r c h i t e k t a u c h , d a s s e r h i e r k e i n e S k u l p t u r g e b r a u c h e n k ö n n e , d a c h t e e r d o c h , e r s e l b s t sei d e r g r o ß e B i l d h a u e r . W e i l die E i n l a d u n g a b e r s o e h r e n voll w a r , w o l l t e Chillida nicht a b l e h n e n und b e s t a n d darauf, dass die S k u l p t u r d r a u ßen a u f d e n Platz k o m m t , w o alle L e u t e d u r c h g e h e n , a l s o v o r d a s Gitter. M a n hat s i e a b e r i n d e n K ä f i g g e s e t z t u n d h e u t e ist s i e l ä c h e r l i c h . S i e k a n n s i c h n i c h t g e g e n die A r c h i t e k t u r b e h a u p t e n . U n d d a b e i ist sie m o n u m e n t a l , ich h a b e sie s e l b s t i n

San S e b a s t i a n g e s e h e n , als sie fertig w u r d e - eine w i r k l i c h m o n u m e n t a l e A r b e i t , die jetzt wie ein » G a r t e n z w e r g « aussieht. Auf d e r a n d e r e n Seite habe ich die E r f a h r u n g g e m a c h t , d a s s a u c h ein nicht v o r g e b i l d e t e s P u b l i k u m i n d e r L a g e ist, a u f K u n s t z u r e a g i e r e n , d i e n i c h t i m M u s e u m i s t . I m M u s e u m ist d i e W a h r n e h m u n g d e r K u n s t e i n e g a n z a n d e r e . D a g e h t m a n e r s t e i n m a l davon aus, dass die A r b e i t e n dort geheiligt sind. Das Risiko setzt d a n n ein, w e n n m a n n a c h d r a u ß e n geht, w e n n m a n k o n f r o n t i e r t w i r d mit L e u t e n , die n i c h t s m i t K u n s t am Hut haben. U n d da bin ich ganz sicher, dass m o d e r n e K u n s t eine w a h n s i n n i g e Chance hat. W i r haben das ja in M ü n s t e r in den S k u l p t u r e n a u s s t e l l u n g e n ü b e r dreißig J a h r e l a n g v e r s u c h t , K ü n s t l e r i n e i n e r t o t a l e n Freiheit z u l a s s e n , j e d e r k o n n t e m a c h e n , w a s er w o l l t e - f ü r w e l c h e n Ort, mit w e l c h e m Material, mit w e l c h e m T h e m a . Der Künstler w a r sein eigener Auftraggeber, er m u s s t e selbst sein T h e m a finden, und das setzte voraus, dass er sich mit der Situation vertraut machte, dass er auch verstand, in w e l c h e r Stadt er lebte, in w e l c h e m k u l t u r e l l e n U m f e l d . Das w a r d a n n s c h o n d e r e r s t e S c h r i t t z u m V e r s t ä n d n i s d e r B e v ö l k e r u n g , d a s s sie s i c h auf e i n m a l s e l b s t w i e d e r f a n d . A u c h w e n n sie m i t d e n f o r m a l e n F a k t o r e n n i c h t viel a n f a n g e n konnte, gab es da eine direkte Beziehung. Das Ganze fand mithilfe vieler S t u d e n t e n statt, die m i t d e n L e u t e n d i s k u t i e r t h a b e n , w a s a m Ende d a z u f ü h r t e , d a s s die S k u l p t u r p r o j e k t e 1997 w i e e i n V o l k s f e s t w u r d e n : D i e L e u t e k a m e n m i t K i n d u n d K e g e l j e d e s W o c h e n e n d e m i t i h r e m F a h r r a d u n d h a t t e n S p a ß d a b e i . D e r S p a ß f a k t o r ist nicht u n b e d i n g t d e r w i c h t i g s t e , a b e r die L e u t e w a r e n d a n n i n d e r Lage z u s a g e n : Das m a g ich nicht, o d e r a b e r : Das finde ich u n h e i m l i c h a u f r e g e n d , a u c h w e n n ich es nicht v e r s t e h e . Ich d e n k e , dass das P u b l i k u m e i n f a c h i m m e r u n t e r s c h ä t z t w i r d . U n d da hat die S k u l p t u r vielleicht g e r a d e b e s s e r e C h a n c e n .

Gibt es denn eine Besonderheit bei S k u l p t u r , die für andere Medien nicht gilt?

E i n w i c h t i g e r U n t e r s c h e i d u n g s g r u n d ist n a t ü r l i c h s c h o n d i e M ö g l i c h k e i t d e r S k u l p t u r , e i n e n R a u m z u d e f i n i e r e n . D a s P r o b l e m bei d e r G e g e n w a r t s s k u l p t u r i s t . d a s s v i e l e Künstler in diesen Grenzbereich der Architektur gehen - und nach meiner Meinung die i n t e r e s s a n t e r e n A r b e i t e n a l s die A r c h i t e k t e n m a c h e n . Sie b e g e b e n s i c h d a n n n a t ü r l i c h in K o n k u r r e n z zu d e n L e u t e n , die d a s M o n o p o l auf die Definition d e s R a u m e s haben. U n d w e n n m a n sich das g e n a u e r ansieht (was leider nie g e m a c h t w o r d e n ist), m e r k t m a n , d a s s v i e l e z e n t r a l e I d e e n d e r m o d e r n e n A r c h i t e k t u r v o n d e n K ü n s t l e r n k o m m e n . M a n m ü s s t e eigentlich e i n m a l s y s t e m a t i s c h die E n t w i c k l u n g d e r m o d e r n e n A r c h i t e k t u r im Vergleich zu d e r E n t w i c k l u n g d e r K ü n s t l e r s e h e n - ich bin s i c h e r , d a s s d a u n g l a u b l i c h v i e l g e k l a u t w o r d e n ist. B i l d h a u e r k ö n n e n h ä u f i g b e s s e r r ä u m l i c h d e n k e n a l s A r c h i t e k t e n . Das K a n z l e r a m t ist e i n e S k u l p t u r , ich f i n d e , k e i n e b e s o n d e r s g u t e , a b e r e s ist e i n e S k u l p t u r D o c h e s h e r r s c h t e i n e t o t a l e D i s -

krepanz zwischen der äußeren »grandezza« und d e m Inneren mit seinen popeligen R ä u m e n , d e n g r o ß e n T r e p p e n h ä u s e r , d i e z u n i c h t s f ü h r e n . E s ist e i n f a c h n u r e i n e große Geste m i t vielen Zitaten a u s d e r g r o ß e n e u r o p ä i s c h e n A r c h i t e k t u r , die a b e r ü b e r h a u p t nicht v e r s t a n d e n w o r d e n sind. Hier sind die B i l d h a u e r radikaler, w e i l sie f r e i e r sind. A r c h i t e k t e n m ü s s e n K o m p r o m i s s e m a c h e n , u n d w e n n sie keine m a c h e n , d a n n e n t w i c k e l n s i e h ä u f i g e i n e A r c h i t e k t u r , d i e m e n s c h e n u n w ü r d i g ist, w ä h r e n d Künstler Dinge und räumliche Fantasien entwickeln können.

Was finden Sie persönlich an einer S k u l p t u r interessant?

Alles, w a s m i c h ü b e r r a s c h t , f i n d e ich i n t e r e s s a n t . W e n n ich Dinge s e h e , auf die ich n i e g e k o m m e n w ä r e u n d bei d e n e n i c h n i c h t d e n k e : D a s h a b e i c h s c h o n z e h n m a l g e s e h e n . D a n n f a n g e i c h j e d e n f a l l s e r s t e i n m a l a n , d a r ü b e r n a c h z u d e n k e n . D a s ist nicht u n b e d i n g t ein a b s o l u t e s Q u a l i t ä t s k r i t e r i u m , aber es hängt s c h o n m i t der Entw i c k l u n g d e r m o d e r n e K u n s t z u s a m m e n , d a s s sie F r e i h e i t e n hat, die sie i n die L a g e versetzen, uns ein paar S c h r i t t e v o r a u s zu sein. I n S e o u l b a u t e n sie ein M u s e u m auf, d a g a b e s e i n e n Teil f ü r die w e s t l i c h e u n d e i n e n Teil f ü r die ö s t l i c h e K u n s t . Ich w a r z u s t ä n d i g f ü r A m e r i k a u n d E u r o p a s o w i e N a m J u n e Paik (1932-2006). Für m i c h w a r allein s c h o n faszinierend, d a s s ich ü b e r h a u p t kein K r i t e r i u m f ü r die W a h r n e h m u n g ö s t l i c h e r K u n s t hatte, w e i l ich nicht e i n m a l i n d e r L a g e w a r z u s a g e n , o b s i e a u s d e m J a h r 2001 o d e r a u s d e m J a h r 1809 w a r - e s s a h a l l e s g l e i c h a u s . D a s ist d o r t a b e r e i n e Q u a l i t ä t , d a s s m a n b e s t i m m t e K o n v e n t i o n e n w e i t e r f ü h r t u n d n a h e a m V o r b i l d b l e i b t . Ich s o l l t e f ü r d a s M u s e u m e i n e n A r c h i t e k t e n v o r s c h l a g e n u n d s p o n t a n f a n d i c h T a d a o A n d o ( g e b . 1941) g a n z t o l l . M e i n e koreanischen Kollegen schauten jedoch völlig entgeistert. Das w a r n ä m l i c h so - wie ich n a c h h e r erst g e m e r k t habe -, als hätte ich in J e r u s a l e m A l b e r t S p e e r (1905-1981) v o r g e s c h l a g e n . D a die J a p a n e r i n Korea B e s a t z u n g s m a c h t g e w e s e n w a r e n , w a r A n d o für die K o r e a n e r undenkbar. Dort gibt es a u c h ein N a t i o n a l m u s e u m , ein riesiger Bau, d e r u m 1910, w ä h r e n d d e r B e s a t z u n g , v o n d e n J a p a n e r n g e b a u t w o r d e n w a r , v o n e i n e m ganz b e r ü h m t e n Architekten, der a u c h den Leipziger B a h n h o f gebaut hat. Und die K o r e a n e r s a g t e n m i r , ihr n ä c h s t e s p o l i t i s c h e s Z i e l sei es, d a s s d a s Ding d o r t w e g k o m m e und an seiner Stelle wieder der alte Königsplatz entstehe. Und das haben s i e g e m a c h t , d a s h a t M i l l i a r d e n g e k o s t e t , d o c h d a s ist f ü r s i e k e i n P r o b l e m . W e n n e i n T e m p e l m o r s c h ist, d a n n w i r d e r n e u g e b a u t . D a s ist f ü r u n s n i c h t n a c h v o l l z i e h b a r . A b e r d a s i s t e i n k u l t u r e l l e s P h ä n o m e n , a u c h bei A m e r i k a n e r n : D i e s i n d n i c h t i n d e r Lage, N e u g o t i k von Mittelalter zu unterscheiden. U n d d a n n k o m m t z u r Q u a l i t ä t s f r a g e e t w a s W i c h t i g e s hinzu: die E r f a h r u n g d e s A u g e s , das i n n e r h a l b des W e r k e s eines K ü n s t l e r s , das ja H ö h e n und Tiefen hat, sofort sieht, w a s e i n e h e r a u s r a g e n d e A r b e i t ist u n d w a s M i s t . E s gibt auf j e d e n F a l l d u r c h p e r -

m a n e n t e s Vergleichen eine S c h u l u n g des Sehens. Wenn m a n nicht sehen kann, dann k a n n m a n n u r d e m M a i n s t r e a m f o l g e n u n d d a s k a u f e n , w a s a l l e k a u f e n . Das ist d a s P r o b l e m d e r f r a n z ö s i s c h e n K o l l e g e n , die j a s e h r viel w e n i g e r s e l b s t s t ä n d i g s i n d als wir. Die w e r d e n in P a r i s g e s c h u l t , g e d r i l l t , s i n d a b e r nicht in d e r Lage, s e l b s t ein P o t e n z i a l z u e n t w i c k e l n , a u c h w e n n e s n a t ü r l i c h A u s n a h m e n gibt. Ich h a b e z u m B e i s p i e l N a m J u n e P a i k u n d H a n s H a a c k e ( g e b . 1936) i n V e n e d i g i m d e u t s c h e n P a v i l l o n gezeigt. Für Haacke w a r , als er den Bau dort sah, sofort klar, w a s er m a c h e n w ü r d e . Paik sagte: »Ich bin d e r totale Kapitalist und Haacke der totale K o m m u n i s t . « Er sagle g a n z o f f e n : » I c h m a c h e > c o m m e r c i a l art