Was ist Populismus? Ein Essay 9783518075227

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Was ist Populismus? Ein Essay
 9783518075227

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Jan-Werner Müller

Was ist Populismus? Wer wird heute nicht alles als Populist bezeichnet: Gegner der Eurorettung, Figuren, die fordern, alle Grenzen

Ein Essay

gehörten geschlossen, aber auch Politiker des Mainstream, die meinen, dem Volk aufs Maul schauen zu müssen. Viel-

leicht ist ein Populist aber auch einfach nur ein populärer Konkurrent, dessen Programm man nicht mag, wie Ralf

Dahrendorf einmal anmerkte? Lässt sich das Phänomen schärfer umreißen und seine Ursachen erklären? Worin besteht der Unterschied zwischen Rechts- und Linkspopulismus? Jan-Werner Müller nimmt aktuelle Entwicklungen zum Ausgangspunkt, um eine Theorie des Populismus zu skizzieren und Populismus letztlich klar von der Demokratie abzugrenzen. Seine Thesen helfen zudem, neue Strategien in der Auseinandersetzung mit Populisten zu entwickeln. Jan-Werner Müller, geboren 1970, lehrt Politische T'heorie und Ideengeschichte an der Princeton University. Bei Suhrkamp erschienen zuletzt Das demokratische Zeitalter (2013) und Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie (edition suhrkamp digital).

Suhrkamp

Dieser Band geht zurück auf die /WM-Vorlesungen zu den Wissenschaften vom Menschen 2014. Das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) st ein unabhängiges, internationales Institute for Advanced Studie mit Sitz in Wien. IN

PA

Institut für dıe Wissenschaften vom Menschen Institute for Human Sciences

Inhalt

WWW.IWM.at

Zum Auftakt: Wer ist eigentlich kein Populist? I. Populismus: Theorie ... 2.... und Praxis

Erste Auflage 2016 edition suhrkamp Sonderdruck © Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Originalausgabe Allc Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

3. Vom demokratischen Umgang mit Populisten Schluss: Zusammenfassung in zehn Thesen — und ein Wort zur Zukunft der repräsentativen Demokratie Anmerkungen

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Satz-Offzin Hümnmer GmbH, Waldbüttelbrunn Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt Printed in Germany ISBN 978-3-518-07522-7

Danksagung

Für Heidrun

Müller

Zum Auftakt: Wer ist eigentlich kein Populist?

Populisten, wohin das Auge reicht: 2015 hielt eine Koalition griechischer Links- und Rechtspopulisten nicht nur das eigene Land, sondern ganz Europa in Atem; in Spanien sind die Populisten auf dem Vormarsch, das seit dem Ende des Franquismus bestehende Parteiensystem ıst bereits zertrümmert; in Frankreich ist der Front National

schon lange Teil der etablierten Politik (sein Gründer Jean-Marie Le Pen ist mittlerweile seit sechzıg Jahren Parlamentsabgeordneter), und selbst wenn seine Tochter Marine 2017 nicht Präsidentin der Republik werden sollte, gewinnt der FN doch immer mehr an Einfluss: Nicolas Sarkozy beispielsweise erfindet sich derzeit neu als eine Art »Le Pen light«. Mit Viktor Orbän, Jarostaw Kaczyniski und dem Slowaken Robert Fico sind inzwischen in drei der vier Visegräd-Staaten gemeinhin als Populisten bezeichnete Politiker an der Macht (wobei die Visegräd-Länder einst als Pioniere eines erfolgreichen Übergangs vom Staatssozialismus zu liberaler Demokratie und Marktwirtschaft galten; inzwischen ist vor allem Orbän ein Verfechter einer explizit ılliberalen Vision von Staatlichkeit).! Kein Wunder, dass der ehemalige Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, bereits 2010 warnte: »Die große Gefahr ist der Populismus.«? Offenbar nicht nur in Europa. In den USA ist die Debatte um die oft als »rechtspopulistisch« titulierte Tea

Party zwar abgeflaut, dafür macht Donald Trump als Präsidentschaftskandidat der Republikaner seit Mitte 2015 nicht nur Furore, sondern schlicht Skandal: Seit den sech-

ziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat kein prominenter politischer Akteur so schamlos Minderheiten (und nicht zuletzt: Frauen) verhöhnt, ja zum Teil einfach unflätig beschimpft. Das Label »Populist« ist vielen Kommentatoren inzwischen zu harmlos: Eine ganze Reihe von Beobachtern scheut sich nicht mehr, den Immobilienmilli-

ardär als »Faschisten« zu bezeichnen. Südlich der USA wiederum, in Lateinamerika, mag die

Asien (man denke vor allem an Thailand). Dieser Essay

soll dabei aber weder eine weltumspannende Geschichte des Populismus bieten noch tagespolitischen Aufgeregtheiten nachhecheln. Stattdessen will ich grundsätzlicher fragen, was Populismus eigentlich ist (oder, anders ausgedrückt: wer wirklich ein Populist ıst) und worin das laut Van Rompuy so dringende »Problem« des Populismus denn eigentlich genau besteht. Sind überhaupt alle eingangs erwähnten politischen Akteure Populisten? Wurden nicht immer schon auch Mainstream-Politiker als Populisten bezeichnet? Helmut Kohl ob seiner Volks-

»rosa Welle« populistischer Palaststürmer (mit Hugo Chävez an der Spitze) inzwischen auslaufen. Aber noch halten sich mit Rafael Correa und Evo Morales zwei gemeinhin als »linke Populisten« bezeichnete Politiker an der Macht; wie Chävez in Venezuela haben sie die politischen Systeme ihrer Länder grundlegend umgestaltet; heute gelten sie einigen europäischen Intellektuellen (vor allem in Griechenland und Spanien) als Vorbilder. Letztere wollen eine Art Lateinamerikanisierung Südeuropas, im Zuge derer das pueblo die Oligarchien hinwegfegt.? Und manch einer meint gar, ın Zukunft werde sich die Politik auf dem gesamten alten Kontinent zu einem Kampf zwischen Rechtspopulisten und von lateinamerikanischen Theoretikern inspirierten Linkspopulisten zuspitzen.“ Dieser erste Überblick ist nur ein Schnappschuss, vor allem zeigt er nur einen kleinen Ausschnitt der globalen politischen Szenerie - von den deutschen Zuständen, von Pegida sowie der Alternative für Deutschland (AfD) war noch gar nicht die Rede, auch nicht vom Populismus ın

Topf geworfen werden. Zumal es bei der Debatte um Populismus emotional hoch hergeht. Man hält Populisten ja immer wieder vor, eine Politik der Gefühle (oder gar »aus dem Bauch heraus«) zu betreiben. Allerdings sind die negativen Urteile über den Populismus häufig selbst nicht ohne: Da ist schnell die Rede von »Pathologien«, einer »Entstellung

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tümlichkeit; Gerhard Schröder, der Arbeitern einen »or-

dentlichen Schluck aus der Pulle« gönnen wollte (und vor laufenden Kameras volksnahe Sprüche ä la »Hol mir mal ne Flasche Bier, sonst streik ich hier« klopfte); ja sogar Angela Merkel, die zwar so gut wie nie vom »Volk« spricht, dafür jedoch häufig von »den Menschen«, als sei sie die einzige denkbare Vertreterin des deutschen Teils der Menschheit. Wollen — ja sollen - in der Demokratie nicht alle Politiker dem »Volk aufs Maul schauen«? Wenn politische Urteilskraft, frei nach Hannah Arendt, vor allem darin besteht, Unterscheidungen treffen zu können, ist es

in Europa um die Urteilsfähigkeit vielleicht nicht allzu gut bestellt, da heute umstandslos alles und alle in einen

der Demokratie«, falschem Bewusstsein oder gar »Ochlokratie« (Herrschaft des Mobs); die Verteidiger des Po-

pulismus wiederum kontern, ihre Kritiker litten an nichts Geringerem als »Hass auf die Demokratie« oder »Demophobie« — also Angst vor dem Volk oder gleich vor den »ganz normalen Leuten«. Linke Theoretiker monieren zudem ımmer wieder, die

etablierten Parteien benutzten das »P-Wort« nach Gutdünken,

um

Kritik

an den

herrschenden

neoliberalen

Verhältnissen mundtot zu machen. Ganz ähnlich klingen nationalistische Stimmen in Europa, wenn sie behaupten, jedes »Nein« bei Referenden über EU-Verträge werde von Brüssel automatisch als »populistisch« und damit als ungültig abqualifiziert. Kein Wunder, dass sıch Marine Le Pen das Etikett »Populistin« inzwischen als demokratisches Ehrenabzeichen angesteckt hat — denn Populismus heiße, so Le Pen, das Volk und insbesondere »die

Vergessenen« gegen die Eliten zu verteidigen. Viktor Orbän äußerte sich schon vor Jahren ganz ähnlich. Und Konrad Adam deklarierte auf dem Gründungsparteitag der Alternative für Deutschland in Berlin: Wennunsere Volksvertreter ihre Aufgabe darin sehen, das Volk zu entmündigen, sollten wir selbstbewusst genug sein, den Vorwurf des Po-

pulismus als Auszeichnung zu betrachten. Und alle Welt daran erinnern, dass die Demokratie insgesamt eine populistische Veranstaltung ist, weil sie das letzte Wort dem Volk erteilt: dem Volk, wie gesagt, nicht seinen Vertretern.>

Ist des einen lupenreiner demokratischer Anwalt des Volkes (oder noch spezifischer: der Vergessenen) des ande-

ren Populist? Kann der Vorwurf des »Populismus« gar selbst populistisch sein, wie Ralf Dahrendorf einmal anI2

merkte? Ist »Populist« vielleicht nur ein Kampfbegriff — und für die politische Analyse schlicht nicht tauglich? Diese Schlussfolgerung wäre voreilig. Andere Begriffe sind schließlich ebenfalls heftig umkämpft — man denke nur an »Freiheit« oder auch »Demokratie«. Bei diesen kann man aber letztlich doch Unterscheidungen treffen: Putin mag sich als demokratisch bezeichnen, ist es aber nicht. Solche Unterscheidungen sind jedoch ohne Theorie nicht möglich. Anders gesagt: Wir benötigen so etwas wie eine kritische Theorie des Populismus, und diese wiederum ist nicht ohne eine demokratietheoretische Rückversicherung zu haben. Denn wer über Populismus redet, kann von Demokratie und Liberalismus nicht schweigen. Noch einmal anders gewendet: Wer nicht zu sagen weiß, was demokratisch ist und was nicht, bleibt hılflos

angesichts von Behauptungen, Populismus sei — auch wenn Populisten manchmal über die Stränge schlügen — doch eigentlich urdemokratisch, wenn nicht gar »hyperdemokratisch«. Populismus, so hört man häufig, seı im Zwei-

felsfall vielleicht doch ein »nützliches Korrektiv«, gar »Treibstoff« für eine liberale Demokratie, in der die un-

demokratischen Elemente (sprich: der Liberalismus) irgendwie zu stark geworden seien.® Oder er sei hilfreich, weil Populisten Probleme ansprechen, welche die Bürger wirklich beschäftigen, über die sich aber niemand zu reden traue oder die von den »etablierten Parteien« totgeschwiegen würden.” Kurz: Man müsse sich manchmal die Nase zuhalten, aber »Demokratie braucht Populismus«, wie es der über alle Zweifel

an seiner demokra-

tischen Gesinnung erhabene Bremer Politologe Lothar Probst einmal ausdrückte.* 13

Ja, vielleicht ist die Populismus-Debatte, so ein naheliegender Verdacht, nur ein Symptom. Nämlich dafür, dass sich einerseits Demokraten vor der Vision einer liberalen,

pien, die trotz manch aufgeregten Geredes über Postdemokratie oder postrepräsentative Demokratie weder normativ noch empirisch infrage stehen sollten. Was nicht

de facto »postdemokratischen« Herrschaft ohne wirkliche Volksbeteiligung fürchten, und dass andererseits liberale Eliten Angst haben vor einer Demokratie, in der illiberale Bürger die Mehrheit stellen. Dieses Bild einer strikten Trennung zwischen Liberalismus und Demokratie machen sich inzwischen so unterschiedliche Persönlichkeiten zu eigen wie Viktor Orbän und die belgische Radikaldemokratin Chantal Mouffe — was nicht

tigung oder auch ihre Grenzen immer ganz deutlich bewusst sind. Die Beschäftigung mit dem Thema Populismus kann so indirekt auch zu einer Selbstverständigung darüber führen, was wir von der Demokratie eigentlich erwarten, welchen Herausforderungen sie sich derzeit gegenübersieht — und von welchen Illusionen über die »Volksherrschaft« wir uns möglicherweise verabschie-

heißen soll, dass sich vermeintliche

immer

den müssen, wenn wir den Populisten nicht auf den un-

irgendwo berühren oder dass man plausibel von einer Symmetrie zwischen Links- und Rechtspopulismus sprechen könnte (wie es die sogenannte Extremismusforschung regelmäßig suggeriert). Nur: Um hier Urteile zu treffen, braucht es eben eine adäquate Demokratietheorie. Insofern ist Populismustheorie notwendigerweise Demokratietheorie. Populismus, um die Hauptthese dieses Essays vorwegzunehmen, kann häufig als demokratisch, gar radikaldemokratisch erscheinen. Er kann bisweilen auch positive Effekte für die Demokratie zeitigen. Entscheidend ist je-

demokratischen (und eben nicht nur: illiberalen) Leim gehen wollen. Wir brauchen jedoch noch etwas anderes als Demokratietheorie: Geschichte (wobei sich diese bekanntlich ohne theoretische Unterscheidungen gar nicht erzählen lässt). Oft klingt es in der Diskussion über Populismus so, als gäbe es das Phänomen erst seit einigen wenigen Jahren, als erlebten wir aktuell ein einzigartiges »Zeitalter des Populismus« oder gar eine beispiellose »populistische Situation«.!° Dabei schrieben die Sozialwissenschaftler Ernest Gellner und Ghita Ionescu bereits Ende der sechziger Jahre in der Einleitung zu einem seinerzeıt einflussreichen Sammelband: »Ein Gespenst geht um in der Welt - der Populismus«.'! Der Band war das Ergebnis einer großen Tagung an der London School of Econo-

»Extreme«

doch, dass Populismus an sich nicht demokratisch, ja der

Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch ist.” Um diesen Gedanken, der im Folgenden ausführlich entwickelt werden soll, nachvollziehen zu können, muss man

heißen

soll, dass

uns

diese

Prinzipien,

ihre

Rechtfer-

nicht einer hoch speziellen und deswegen auch umstrittenen Spielart der Demokratietheorie anhängen. Man muss nur einige der Grundprinzipien der modernen repräsentativen Demokratie akzeptieren — Grundprinzi-

schaftler sıch vorgenommen hatten, »Populismus« zu definieren. Es gelang ihnen nicht. Aber das Buch, welches aus der Konferenz hervorging, führte symptomatisch

14

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mics, auf der Historiker, Soziologen und Politikwissen-

vor, dass das Wort »Populismus« schon damals zur Beschreibung verschiedenster Phänomene verwandt werden

konnte,

vom

Maoismus

bis zum

in der Ära

nach

der Entkolonialisierung wichtigen »Entwicklungsnationalismus« sowie einem heute praktisch vergessenen peasantism. Oft schien die Populismus-Diagnose mehr mit den politischen Sorgen und Ängsten der Wissenschaftler zu tun zu haben als mit jenen empirischen Phänomenen, die mit dem Begriff »Populismus« auf einen Nenner gebracht werden sollten; gleichzeitig schleppte das Wort »Populismus« schon damals allerlei historischen Ballast (wie eben die Idee einer Verbindung zur »Bauernschaft«) und normative Konnotationen mit sich herum. Das gilt

bis heute. Was bisweilen »conceptual stretching« oder »Begriffsüberdehnung« genannt wird, ist wissenschaftlich problematisch, denn es erschwert die Erkenntnis; man bekommt

die Phänomene nicht zu fassen.!? Es ist aber auch politisch heikel. Denn zumindest in Europa gilt: Wer einem anderen das Etikett »Populist« ankleben kann, hat politisch schon viel gewonnen. Das Publikum assoziiert den politischen Gegner dann automatisch mit Figuren wie Jean-Marie Le Pen oder Jörg Haider, vor denen viele Bürger — sogar viele, die irgendwie Protest zum Ausdruck bringen wollen — am Ende doch eher zurückschrecken. In den Populismusbegriff lassen sich alle möglichen ideologischen Versatzstücke hineinschmuggeln. So werden beispielsweise Orbän, Kaczyniski und Podemos über einen Kamm geschoren, indem man behauptet, alle spiel-

ren mehr die weißen (sozialistischen) Tasten einsetzen«,

immer mit einer scheindemokratischen Legitimation. Von dieser Gleichsetzung von Schwarz und Weiß (aber eigentlich: Rot) ist es dann nicht mehr weit bis zu folgender Logik: Die

Gefahr

für Bürgerrechte

ist offensichtlich,

wenn

ein Donald

'Irump ein Einreiseverbot für Muslime fordert und osteuropäische Staatschefs allenfalls noch flüchtige Christen aufnehmen wollen. Sie

ist aber auch vorhanden, wenn sich demokratisch scheinlegitimierte Mehrheiten daranmachen, Minderheiten zu drangsalieren. Dazu gehört die Umverteilung von Einkommen und Vermögen im Namen

der »sozialen Gerechtigkeit«.!?

Der Populismusbegriff erlaubt es hier plötzlich, auch die armen Reichen unter die Kategorie »verwundbare Minderheiten« zu subsumieren. Dabei gab es doch bereits — selbst in Lateinamerika, dem angeblichen Paradies der linken Umverteilungsenthusiasten — neoliberale Populisten wie den peruanischen Präsidenten Alberto Fujimori; ja sogar ein nomineller Nachfolger des Erzpopulisten Juan Perön, der argentinische Präsident Carlos Menem,

die einen mehr die schwarzen (nationalen) und die ande-

ist als »neoliberaler Populist« bezeichnet worden.'* Weitgehend vergessen ist auch, dass der Front National einmal marktliberal (sogar proeuropäisch!) war; dasselbe galt einst für die norditalienischen Ligen. Über den Populismus wurde schon oft gesagt, es handele sich um ein »Chamäleon«: Was politische Inhalte und begriffliche Einrahmungen anbelangt, scheint praktisch alles möglich zu sein — anything goes.'5 In diesem Essay soll ein präziser Begriff — oder, wenn man so will: Idealtyp im Sinne Max Webers — entwickelt werden, der zur Unterscheidung real existierender poli-

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ten auf der

»sozialistisch-nationalen

Klaviatur,

wobei

tischer Phänomene tauglich ist. Die demokratietheoretischen und historischen Hintergrundannahmen sollen dabei allerdings, ich habe oben bereits darauf hingewiesen, nicht so spezifisch sein, dass sich mit dem hier

offerierten begrifflichen Fernrohr nuraus einer ganz speziellen normativen Warte etwas erkennen lässt. Meine Hoffnung ist, dass die ersten beiden Kapitel einerseits zum Verständnis dessen beitragen, was Populisten denken und sich unter erfolgreicher Politik vorstellen, und dabei andererseits die Idee plausibel machen, dass Populisten, entgegen einer weitverbreiteten Meinung, durchaus auch in ihrem Sinne erfolgreich regieren können, Gleichzeitig soll deutlich werden, warum ich mir das starke Urteil erlaube, Populismus sei der Tendenz nach |

immer antidemokratisch — und nicht nur eine Ideologie, deren Vertreter, wie man häufig hört, es mit der doch ei-

gentlich urdemokratischen Idee einer direkten Vollstreckungdes Volkswillens ein wenig übertrieben, weswegen dann die Liberalen immer jammerten. Dabei seies in neoliberalen Zeiten durchaus in Ordnung, wenn der Liberalismus gelegentlich etwas Gegenwind bekomme oder zurückgedrängt werde. Insbesondere soll in diesem Essay Folgendes gezeigt werden: Der Populismus ist der Schatten der repräsentativen Demokratie; er ist ein spezifisch modernes Phänomen. Im Athen der Antike gab es keinen Populismus. Demagogie sehr wohl, Volksverführer aller Art, die eine wankelmütige Masse von Mittellosen zu unvernünftiger Politik verleiten konnten, aber keinen Populismus. Populisten behaupten: »Wir sind das Volk!« Sie meinen jedoch — und dies ist stets eine moralische, keine empi18

rische Aussage (und dabei gleichzeitig eine politische Kampfansage): »Wir —- und nur wir — repräsentieren das Volk.« Damit werden alle, die anders denken, ob nun Ge-

gendemonstranten auf der Straße oder Abgeordnete im Bundestag, als ıllegitim abgestempelt, ganz unabhängig davon, mit wie viel Prozent der Stimmen ein offizieller

Volksvertreter iıns Hohe Haus gewählt wurde. Alle Populisten sind gegen das »Establishment« — aber nicht jeder, der Eliten kritisiert, ist ein Populist. Populisten sind zwangsläufig antipluralistisch; wer sich ihnen entgegenstellt und ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch bestreitet, gehört automatisch nicht zum wahren Volk. Demokratie ist ohne Pluralität jedoch nicht zu haben; wie Jürgen Habermas es einmal kurz und bündig formulierte: Das Volk »tritt nur im Plural auf«.!* Und Demokratie kennt am Ende nur Zahlen: Die Stimmanteile entscheiden darüber, wer die Bürger repräsentiert (in den Worten Claude Leforts: Mit der Demokratie tritt die Zahl an die Stelle der Substanz). Das mag wie eine Banalität klingen, ıst aber von entscheidender Bedeutung ın Auseinandersetzungen mit Populisten, die behaupten, den Willen des Volkes zu repräsentieren und zu vollstrecken — ın Wirklichkeit jedoch eine symbolische Repräsentation des angeblich »wahren Volkes« instrumentalisieren, um demokratische Institutionen, die dummerweise

nicht von Populisten dominiert werden, zu diskreditieren. Aus all diesen Gründen folgt das Urteil, dass Populisten zumindest der Tendenz nach antidemokratisch sind. Dieses starke Urteil macht es dann aber auch notwendig, Vorschläge zu der Frage zu präsentieren, wie man mit 19

Populisten in der Praxis umgehen soll - was dann im drittenund letzten Teil des Essays geschieht. Auch diese Debatte ist bekanntlich nicht ganz neu: Seit vielen Jahren schwanken die Empfehlungen zwischen zwei Optionen hin und her: einerseits der Strategie, Populisten konsequent auszugrenzen, andererseits der Vorstellung, es könne sinnvoll sein, Themen und politische Rezepte der Populisten selektiv zu übernehmen und so ihren Einfluss zu verringern. Für beide Vorgehensweisen gibt es erfolgreiche Beispiele, die allerdings oft aus dem spezifischen historischen und kulturellen Zusammenhang gerissen werden. Ich möchte vor allem normativ fragen, auf welche Weise man sich mit Populisten auseinandersetzen kann, ohne ihre Selbststilisierung, sie würden von liberalen Eliten diskriminiert, noch zu verstärken. Es ist ein Fehler, so meine These, den Populismus zu

psychologisieren. Im Hinblick auf Populisten gilt: Anihrem moralischen Alleinvertretungsanspruch —- und nicht an ihren Gefühlslagen — sollt ihr sie erkennen. Wer von vornherein meint, die Anhängerschaft der Populisten setze sich allein aus Modernisierungs- und Globalisierungsverlierern mit all ihren vermeintlichen »Ressentiments«, »Sorgen« und »Ängsten« zusammen, macht es sich zu leicht. Politik verkommt hier zur Gruppentherapie - und man braucht eigentlich gar nicht zuzuhören oder die Argumente der anderen für bare Münze nehmen, da ja ohnehin nur diffuse »Ängste« zum Ausdruck gebracht werden. Man darf denen, die Verteidiger der

im deutschen Kontext, stillschweigend der Antifa zu überlassen, den selbst ernannten »Patrioten fürs Abend-

land« ein blaues Auge zu schlagen). Vor allem: Wenn aus einem populistischen »Wir sind das Volk« soetwas würde wie ein »Auch wir sind das Volk«,

dann wäre dies ein völlig legitimer zivilgesellschaftlicher Anspruch derer, die sich vergessen fühlen oder die de facto ausgeschlossen wurden. So waren es beispielsweise in der amerikanischen Verfassungsgeschichte oft genug die Unterdrückten und Marginalisierten, die sich auf das demokratische »Wir« berufen haben. Allerdings um an das Versprechen einer »more perfect union« zu erinnern und für mehr Gleichberechtigung zu kämpfen — und nicht, um andere auszugrenzen. Konkrete Forderungen von Bürgern kann man dann natürlichimmer noch mit guten Gründen zurückweisen. Fatal wäre es jedoch, auf diese zu reagieren, indem man sagt: »Weil Ihr andere ausschließen wollt, schließen wir

Euch aus«, oder gar: »Weil Ihr Populisten den politischen Diskurs moralisiert, seid Ihr moralisch minderwertig.« Zuletzt droht die Gefahr, dass etablierte Parteien, ın die-

genhöhe mit den Populisten auseinanderzusetzen (anstatt sie von oben herab therapieren zu wollen oder es gar,

ser Hinsicht den Populisten dann gar nıcht so unähnlich, behaupten, sie — und nur sie — verträten die Bürger. Doch auch eine Koalition zweier selbst deklarıerter Volksparteien beispielsweise kann das Volk nicht restlos repräsentieren. In einer Zeit der Globalisierung - sprich: durchlässiger oder gar ganz verwischender Grenzen —- suggerieren die Populisten mit ihrem »Wir« eindeutige Zugehörigkeit und klare Grenzen (»unser Abendland« — und alle »wahren« Deutschen wissen dann schon, was gemeint ist). Die De-

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Demokratie sein wollen, durchaus zumuten, sich auf Au-

mokratie tut sich hingegen mit Eindeutigkeiten schwer, und zwar ganz unabhängig von der Globalisierung. Genau gesagt: Sie kann Grenzen gar nicht demokratisch begründen. Denn um die Grenzen durch den Demos zu bestimmen,

müsste

man

ja schon wissen, wer das ent-

scheidungsberechtigte Volk ist — und genau das war die Frage. Das soll nicht heißen, dass man gegenüber den Populis-

erstritten wird. Insofern ıst die hier vorgeschlagene Diagnose — Populismus ist eine gefährliche Sache für die Demokratie — keine, auf der man sich dann ausruhen kann im Sinne eines: »Jetzt wissen wir ja, mit wem wir es zutun

haben.« Sie soll auch daran erinnern, wie schwierig und nervenaufreibend Demokratie immer wieder ist.

ten am Ende doch das moralische Handtuch werfen muss,

nach dem Motto »Mir san das demokratische Mir« — aber wirklich begründen können wir Zugehörigkeit nicht. Es war wichtig, dass beispielsweise Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, im

Winter 2014/15, als in Dresden die Patrioten marschierten, eindeutig betonte: »Wir alle sind Deutschland« (genau wie der französische Premierminister Manuel Valls im Januar 2015 nach dem Charlie-Hebdo-Massaker die richtigen Worte fand, als er seine Landsleute daran erinnerte, Frankreich ohne Juden sei nicht Frankreich). Aber solche Sätze sind eigentlich keine Argumente, sondern normative Abkürzungen für Gründe, die man als Antwort auf Populisten — auch wenn man dies zu Recht als Zumutung empfinden mag — ausbuchstabieren muss. »Wir alle sind Deutschland« heißt heute zweifelsohne etwas anderes als vor fünfundzwanzig oder gar fünfzig Jahren (einst konnte man bekanntlich ohne ins politische Grü-

beln zu geraten von »ausländischen Mitbürgern« reden). An die Gründe dafür gilt es zu erinnern. Das demokratische »Wir« ist keine Tatsache, die man einfach so kon-

statieren kann, sondern ein anstrengender Prozess, bei dem Zugehörigkeit immer wieder neu ausgehandelt und 22

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ı. Populismus: Theorie ...

Es bleibt immer und zu allen Zeiten ein Gefühl mangelnder

Deckung zwischen öffentlichem und eigentlichem Leben; kann aber überhaupt irgend etwas von öffentlichem Geschehen dessen wahrer Ausdruck sein? Bindennselbst ich Einzelner das, was ich tue, oder ist es ein Kompromiß

zwischen unartikulierten Kräften in mir und bereitstehen-

den, umformenden Formen für die Verwirklichung? Beim Verhältnis zum Ganzen gewinnt diese kleine Differenz vertausendfachte Bedeutung, Robert Musil, »Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit«

Wie schon im 18. Jahrhundert ist das Volk nur ein Konstrukt,

mit dem die politische Theorie Geschlossenheit erreicht. Oder anders: wer würde

es merken, wenn

Niklas Luhmann,

es gar kein Volk gäbe?

Die Politik der Gesellschaft

Was ist Populismus? Die Antworten auf diese Frage offenbaren einen außergewöhnlichen konzeptionellen Defätismus. Nikolaus Werz zum Beispiel schreibt: »Eine definitive Klärung dessen, was Populismus ist, dürfte nicht möglich sein, ım Grund gilt für den Populismus, was Pe-

ter Alter einmal für den Nationalismus festgestellt hat. >Den Populismus gibt es nicht, sondern nur dessen vielgestaltige Erscheinungsformen«.«!7 Hans-Jürgen Puhle, der sich mit vielen Studien, vor allem zu Lateinamerika,

um das Verständnis des Populismus außerhalb Europas verdient gemacht hat, konstatiert, der Begriff »Populismus« sei »ungenau, schillernd und impressionistisch« — nur um letztendlich bei folgender These zu landen: »Der Urgrund für alle populistischen Versuchungen demokratischer Politik liegt schon im Kern der modernen Demo25

kratie: im gleichen Wahlrecht. Politik, die breiter Zustimmung bedarf, tendiert dazu, populistisch zu sein.«!8 Ist moderne Politik demnach immer irgendwie populistisch? Oder nur bestimmte Formen bzw. »Erscheinungsformen«, um das Wort von Werz und Alter aufzugreifen? Doch was genau haben diese Formen dann gemeinsam? Mein Vorschlag wäre, vor der Beantwortung dieser so simpel klingenden wie schwierig zu klärenden Frage erst einmal landläufige, aber letztlich irreführende Kriterien zur Bestimmung von Populismus aus dem Weg zu räumen. In einem zweiten Schritt soll dann eine klare Abgrenzung des Populismus zu anderen Phänomenen stattfinden. Meine These lautet, dass Kritik an Eliten ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für die Bestimmung von Populismus ist. Mit anderen Worten: »Anti-Establishment-Attitüde« greift zu kurz. Zum Anti-Elitären muss noch das Anti-Pluralistische hinzukommen. Was ich als den Kernanspruch aller Populisten bezeichnen möchte, lautet stets ungefähr so: »Wir — und nur wır — repräsentieren das wahre Volk.« Und dies ıst, ich habe be-

reits darauf hingewiesen, als moralische, nicht als empirische Aussage gemeint - ein Punkt, auf den mit der Unterscheidung zwischen symbolischer Repräsentation und der Repräsentation eines politischen Willens noch zurückzukommen sein wird. Wer poltert, simple wirtschaftliche Lösungen anbietet oder auf »die da oben« schimpft, dabei jedoch keinen solchen moralischen Alleinvertretungsanspruch für sich reklamiert, mag ein Demagoge sein oder ein ökonomischer Dilettant — aber ein Populist ist er nicht. Ebenso gilt: Wer auf der Grundlage moralischer Absolutheitsansprüche agiert, sich jedoch 26

nicht über das Kollektivsubjekt Volk legitimiert, ist ebenfalls kein Populist — man denke an islamistische Terroristen, welche über Brückenbegriffe wie »Radikalismus« oder »Extremismus« oder auch nur »Antiliberalismus« oft in einem Topf mit Populisten landen. Terroristen dieser Art mögen an ein als homogen gedachtes Kollektiv, beispielsweise das der Rechtgläubigen weltweit, appellieren, aber sie sehen das Volk gerade nicht als — im Kontrast zu korrupten Eliten — »moralisch rein«, sondern als seinerseits korrumpiert und erweckungs- oder gar erlösungsbedürftig. Dies zeigt auch, dass sich die Unterscheidung zwischen Populismus und Demokratie nicht mit der zwischen Extremismus und einer wie auch immer definierten liberalen Mitte deckt: Vor allem in Mittel- und Osteuropa haben politische Unternehmer mit relatıv moderaten politischen Positionen manchmal gleichzeitigeinen Alleinvertretungsanspruch angemeldet und alle politischen Mitbewerber als illegitim abqualifiziert; ein Begriff wie »Populismus des Zentrums« (Grigore Pop-Eleches) ist daher kein Widerspruch in sich. Ja, man kann sogar mit liberalen Werten wie Freiheit und Toleranz populistische Politik betreiben — bestes Beispiel ist hier Geert Wilders, der diese Werte allein dazu benutzt, von oben herab zu dekretieren,

wer zum wahren niederländischen Volk gehört und wer nicht. Erst auf der Basis eines solchen Populismusverständnisses lassen sich dann auch zumindest jene Bruchteile der modernen Politikgeschichte, welche für die Entwick-

lung des Populismus wichtig zu sein scheinen, richtig verstehen. Vor allem soll gezeigt werden, dass einige der immer wieder als »populistisch« bezeichneten Bewegun27

gen — die von Farmern getragene People’s Party am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in den USA oder die die Bauern idealisierenden Narodniki in Russland — im hier vorgeschlagenen Sinn größtenteils gar nicht populistisch waren. Dies ist insofern nicht unwichtig, als, wie Helmut Dubiel einmal bemerkte, die theoretische Kate-

gorie des Populismus zumindest in der angelsächsischen Soziologie ein »metaphorisches Abziehbild des einen sozialgeschichtlichen Falles der amerikanıschen Agrarier« ist, weshalb sie in den USA bis heute vor allem positive, Ja

explizit progressive Konnotationen hat.!?* Man muss also den Populismusbegriff zunächst einmal von den ursprünglich deskriptiven, in der Folge dann jedoch unterschwellig normativ gewordenen Aspekten reinigen, die er in der Sozialgeschichte häufig hat. Man sollte auch erklären, warum ein Europäer, der Populismus als undemokratisch bezeichnet, in den USA auf erstaunte, wenn nicht gar empörte Gesichter trifft; schließlich, so viele

linke Amerikaner, sei Populismus doch gerade eine Graswurzel-Bewegung für mehr Demokratie oder zumindest eine erzdemokratische Verteidigung der Interessen der »Main Street« gegen jene der »Wall Street«. Das soll nicht heißen, Populismus sei so etwas wie ein zeitloses »Gespenst«, Populismus ist eine spezifische, der modernen repräsentativen Demokratie inhärente Gefahr. Populisten machen sich einige der Versprechen der modernen Demokratie — vor allem die Vorstellungen kollektiver Autonomie — zunutze, ohne diese Versprechen je-

danken plausibel zu machen, sollen in einem dritten Schritt

die Unterschiede zwischen Populismus und Demokratie noch einmal so deutlich wie möglich herausgearbeitet werden. Wobei durchaus zuzugestehen ist, dass Teile der modernen repräsentativen Demokratie in der Tat undemokratische Elemente haben (etwa das Prinzip der Repräsentation) und den normativen Idealen kollektiver Autonomie lediglich mit Abstrichen gerecht werden. Nur ist Populismus der falsche Weg, um einer Verwirklichung dieser Ideale näher zu kommen.

Wie bekommt man Populismus zu fassen®? Einige falsche Fährten Vor allem liberale Beobachter machen es sich zu einfach,

wenn sie Populismus anhand scheinbar eindeutiger soziologischer Kriterien dingfest machen wollen. Besonders beliebt ist die Vorstellung, Populisten ließen sich ohne Weiteres an ihren Wählern erkennen: Diese fänden sich vor allem in der unteren, abstiegsbedrohten Mittelschicht oder, wie es früher etwas unverblümter hieß, im

Populismus als notwendigem Korrektiv einer wie auch immer defekten Demokratie zu sprechen. Um diesen Ge-

Kleinbürgertum. An diese politsoziologische Diagnose schließt sich häufig eine sozialpsychologische These nahtlos an: Die Unterstützer populistischer Parteien wiesen ein eindeutiges sozialpsychologisches Profil auf; sie seien von »Wut«, »Ressentiments« und »Ängsten« vor sozialem Abstieg getrieben. Antisemitismus, bemerkte August Bebel einmal, sei der Sozialismus der dummen Kerls; heute, so ließe sich analog schlussfolgern, wendeten sich die »dümmeren« Mitglieder der Mittel- und Un-

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mals einlösen zu können. Insofern ist es irreführend, von

terschichten dem Populismus zu, anstatt mithilfe sozialistischer Theorien ihren wahren Gegner im Kapitalismus zu erkennen. Und dann stellt sich noch ein weiterer Gedanke fast automatisch ein: Bei populistischen Politikern handele es sich stets um große Vereinfacher, welche den verunsicherten Massen simple Versprechungen machten oder gar so etwas wie Erlösung von allen Alltagssorgen durch politische Willensakte propagierten.” Populisten, so die These,würden stets unterkomplexe, unverantwortliche, wenn

nicht gar gleich unlautere Politikangebote machen oder zu »irrationalem Politikverhalten« einladen (Udo di Fa-

bio). Der Populismus sei einfach, so Ralf Dahrendorfeinmal, die Demokratie jedoch komplex.?! Diese Diagnose ist freilich selbst nicht sonderlich komplex.? Man wird nicht automatisch zu einem Polit-Relativisten, der die Existenz einer Trennlinie zwischen verantwortlicher und unverantwortlicher Politik leugnet, wenn man feststellt, dass sich der Verlauf dieser Trenn-

linie nicht immer ganz so eindeutig bestimmen lässt., Sicherlich gibt es Fälle, wo man kein Experte sein muss, um

stümperhafte, wenn auch symbolisch vielleicht geschickte Politik klar identifizieren zu können. Man denke an

tion, so Maduros Erklärung für dieses Vorgehen, werde allein von »der parasitären Bourgeoisie« verursacht). Ein weiteres Beispiel: In den achtziger Jahren wurde der Front National nicht müde, darauf hinzuweisen, in Frank-

reich gebe es drei Millionen Arbeitslose und drei Millionen Einwanderer — diese mathematische Gleichung konnte jeder lösen: Raus mit den Fremden, und schon haben alle wahren Franzosen einen Job. Populismus-Vorwürfe sind aber auch dann schnell bei der Hand, wenn man missliebige Kritik beispielsweise an Rettungsmaßnahmen für den Euro diskreditieren möchte. Für Politiker ist es viel bequemer, auf die Argumente von einmal als Populisten oder als »Anti-Europäer« abgestempelten Akteuren erst gar niıcht einzugehen. Eine besondere Versuchung besteht darin, die politische Herausforderung durch vermeintliche Populisten sofort als eine Art kollektiven Therapiefall zu behandeln: Natürlich müsse man die Ängste »der Leute« ernst nehmen — was sie sagen, wird dann aber immer nur als Symptom irgendwelcher Sozialpathologien interpretiert, nicht als eventuell doch bedenkenswerte Systemkritik. Wer genau hinhört, vernimmt hier vielleicht noch ein Echo alter, vordemo-

mit niedrigeren Preisen auf die Waren klebten (die Infla-

kratischer Vorurteile über die »Pöbelherrschaft« oder emotionalisierte Massen, die zum Selberdenken grundsätzlich nicht in der Lage sind. Dieser vermeintlich fürsorgliche, de facto aber vor allem herablassende Gestus liberaler Eliten wird echten Populisten in Wahrheit nur weiteren Zulauf verschaffen. Er bestätigt ja gerade den Verdacht, dass »die Leute« nicht als mündige Bürger ernst genommen werden und dass die Politiker glauben, man müsste nur den »Status-

30

31

den venezolanischen Präsidenten Nicoläs Maduro,

den

immer wieder äußerst unglücklich agierenden Erben von Hugo Chävez, der angesichts der sinkenden Unterstützung für das Chävez-Projekt eines »Sozialismus für das 21. Jahrhundert« zunehmend Rückhalt beim Militär sucht. Maduro meinte, Inflation bekämpfen zu können, indem er Soldaten in Geschäfte schickte, wo diese dann Schilder

stress« jener Bürger richtig behandeln, die als anfällig für populistische Botschaften gelten.? Noch bedenklicher: Aus Sicht der Kritiker von Maßnahmen wie der Eurorettungspolitik — bei denen es sich häufig gar nicht um Populisten handelt — legt diese Abwehrreaktion der Eliten die Vermutung nahe, demokratische Systeme seien gar nicht mehr zur Selbstkorrektur fähig. Demokratien bilden sich ja etwas darauf ein, dass sie zwar oft langsamer auf Probleme reagieren als Autokratien und vielleicht sogar mehr Fehler machen, dass sie diese Fehleraber im Gegensatz zu autoritären Systemen zugeben und aus ihnen lernen können.?* Wenn grundlegende Kritik aber immer gleich als »populistisch« abgetan wird, beraubt sich die Demokratie ihres eigenen Lernstoffs. Kein Wunder, dass manche Gegner spezifischer politischer Entscheidungen ihre Kritik dann ein paar Stufen höher fahren und sich im Gebrauch der bei Linken handelsüblichen Slogans von »Postdemokratie« und »Oligarchie« bestätigt fühlen. Letztlich basieren.alle bisher diskutierten PopulismusDiagnosen auf der Modernisierungstheorie (es ist ja auch häufig ausdrücklich von »Modernisierungsverlierern« die Rede). Populisten, so hier die Kernthese, sprächen Menschen an, für die alles irgendwie zu schnell gehe, die bei

linearen und dazu noch unvermeidlichen Prozess konzipieren würden (vielleicht gar niemand mehr ...). Leicht lässt sıch zudem nachweisen, dass viele der gängigen Meinungen über Populismus gerade aus der Hochzeit der Modernisierungstheorie — sprich den fünfziger und sechziger Jahren — stammen, dass diese häufig normativ aufgeladen sind und heute oft unreflektiert von denjenigen übernommen werden, die ansonsten mit dieser Theorie nicht viel zu schaffen haben.? Es waren vor allem liberale, oft an Max Weber (oder präziser: der von Talcott Parsons in die USA importierten Version von Max Weber) geschulte amerikanische Theoretiker während des Kalten Krieges, welche Populismus als Sache politisch paranoider, antimoderner Hinterwäldler identifizierten und in den Anhägern Joseph McCarthys Populisten par excellence vor sich zu sehen glaubten (wobei sie retrospektiv auch die an sich progressive People’s Party, die Ende des 19. Jahrhunderts entstanden war, dem antimodernen Populismus zuschlugen; dazu später mehr). Allerdings sind diese Ursprünge und die zum Teil unbewussten Überbleibsel einer liberal-elitären Theorie noch nicht einmal das größte Problem. Vor allem erweisen sich diese quasisoziologischen Thesen nämlich empirisch oft

Umbrüchen nicht mehr richtig mitkämen, die sich zurück

als unhaltbar. Wie Karın Priester, eine der wichtigsten

in eine einfachere, am liebsten vormoderne Welt flüchten

empirisch

wollten und deswegen auch anfällig seien für populistische Rattenfänger mit ihren einfachen Politikrezepten. Nun mag man sıch streiten, ınwieweit die Modernisierungstheorie wirklich diskreditiert ist, wie es unter Sozialwissenschaftlern häufig heißt. Sicher finden sich nur noch wenige, die Modernisierung als einen homogenen,

Deutschland, betont hat, sind es gar nicht immer die of-

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arbeitenden

Populismus-Forscherinnen

in

fensichtlich Erfolglosen und Abstiegsbedrohten, welche populistische Parteien wählen.? Es können auch arrivierte, sozialdarwinistisch eingestellte Bürger sein, die sich

von Einstellungen leiten lassen wie »Ich hab’s doch geschafft; warum schaffen die’s nicht?« oder »Ich hab mir al33

les hart erarbeitet, ich teile doch nicht mit Leuten, die gar nicht zum Volk gehören!« Um ein Plakat der amerikanischen Tea Party zu zitieren: »Redistribute my work ethic!« — »Verteilt doch bitte erst einmal meine Arbeitsethik um!« Bevor sich hier irgendwer in die soziale Hängematte legen kann, soll man da wohl ergänzen. Eine jJüngst in Flandern durchgeführte Untersuchung kommt zu dem Schluss, es sei nicht die individuelle wirt-

schaftliche Lage (oder auch die Einschätzung der eigenen Lebenssituation insgesamt), welche Wähler populistischer Parteien motiviere, sondern eine Beurteilung der gesamtgesellschaftlichen Zustände.” Es muss einem also gar nicht sonderlich schlechtgehen, man muss persönlich gar nicht von Angstanfällen geplagt werden — entscheidend ist vielmehr die Einschätzung, mit dem Land als Ganzem gehe es bergab, die Eliten kümmerten sich nicht oder seien inkompetent. Dieses Gesamturteil wiederum muss sich gar nicht unbedingt aus schlechten Daten zur wirtschaftlichen oder sozialen Situation speisen, es kann auch (mehr oder weniger deutlich) normativ begründet sein: Eliten machten eine ungerechte Politik, die Zukunft der Kinder werde verspielt, internationale Organisationen hätten zu viel Einfluss etc. Vor allem letzterer Gedanke kann dann zu der Forderung führen: »Wir wollen unser Land zurück!« (Die Rhetorik, wonach das Volk »beraubt«

worden sei,

ist heute bei Populisten wie Geert Wilders besonders beliebt.) Auffällig ist im Übrigen auch, dass Wähler populistischer Parteien etablierten akademischen Eliten gegenüber zwar oft feindlich eingestellt sind, dass sie sich selbst aber keineswegs als antiintellektuell einschätzen oder glauben, 34

mit dem gesunden Menschenverstand ließe sich alles problemloserklären. Manstellt selber Recherchenan, »forscht« ım Internet, schaut hinter die Kulissen der etablierten Medien. Oft ist die Rede von einer Art »Aha-Erlebnis«,

durch das man erkannt habe, dass die populistische Weltsicht die einzig korrekte sei.®% Es stimmt zwar, dass viele populistische Parteien in Europa Zuspruch von Bürgern mit eher niedrigem Bildungsgrad erhalten, dass in einigen Ländern eine Mehrheit der Arbeiterschaft inzwischen Populisten wählt und dass es eine — oft nicht weiter beachtete — »gender gap« gibt (anders als in Lateinamerika, wo sich zwischen den Geschlechtern

keine

großen

Unterschiede

abzeichnen,

wählen in Europa vor allem Männer Populisten).? Aber es gibt eben auch Fälle, in denen all das nicht der Fall ist — und vor allem kann man daraus keine eindeutigen erkennungsdienstlichen Hinweise dazu ableiten, welche Politiker und welche Parteien nun populistisch sind und welche nicht. Neben die empirischen Uneindeutigkeiten tritt schließlich ein offensichtliches theoretisches Problem. Prinzipiell ist es ja zunächst einmal skurril, dass man eine im weitesten (das heißt: neutralen) Sinne ideologische poli-

tische Position wie Populismus allein an den Charakteristika von Wählern festmachen will. Das wäre in etwa so, als würde man die Frage »Was ist Sozialdemokratie?« mit dem Hinweis beantworten, es handele sich dabei um

eine politische Strömung, der vor allem unzufriedene Arbeiter anhängen. Inhalte und normative Ansprüche fallen bei dieser Herangehensweise von Anfang an unter den Tisch. Gleichzeitig werden empirische Diagnosen 35

implizit mit allerlei normativen Annahmen zur Berechtigung der Motive und mit psychologischen Unterstellungen vermengt — man denke nur an die These, Anhänger populistischer Bewegungen wiesen einen »autoritären Charakter« auf oder seien ganz allgemein unangenehme Zeitgenossen mit Persönlichkeitsstrukturen, die sie dazu prädisponierten, Konflikte anzuzetteln und gegen jegliches »Establishment« zu rebellieren.® Politische Sprache ist, wie immer, wichtig. Wer beispielsweise mehr oder weniger gedankenlos von »Ressentiment« spricht, mag der Ansicht sein, eine relativ objektive sozialpsychologische Diagnose zu stellen. Und doch, und doch ... schwingt da immer etwas von Nietzsche und

Ein besonderes Missverständnis: Bauern, »Pops«, Faschisten

Wenn sie das Wort »Populismus« hören, denken heute viele an das Kleinbürgertum, an das, was ın Frankreich

einmal couches populaires hieß, oder auch an die deklassierte Arbeiterschaft (die im amerikanıschen Wahlkampf 2015/16 unverhohlen als »ITrumpenproletariat« bezeichnet wurde). Dabei galt es noch bis in die siebziger, ja sogar zum Teil bis in die achtziger Jahre hinein als ausgemacht, dass Populismus irgendetwas mit Landwirtschaft zu tun hatte. Dies lag vor allem daran, dass die ersten Bewegungen und Parteien, die sich in der Moderne selbst als »po-

Max Weber mit, von Herr und Knecht und von Herren-

pulistisch« bezeichneten, entweder Agrarinteressen ver-

reiter-Attitüde. Denn wer »Ressentiment« sagt, sugge-

traten oder das Landvolk idealisierten. Die russischen Narodniki der sechziger und siebziger Jahre des 19. Jahr-

riert, hier handele es sich um schwache Menschen, die eı-

gentlich nur reagieren, anstatt als selbstbewusste Bürger wirklich etwas aktiv zu gestalten. Um Leute also, die die Starken und Erfolgreichen aus dubiosen (im Zweifelsfall moralisch minderwertigen) Motiven heraus beneideten und sich etwas »einlügen« müssten (Nietzsche), um glück-

hunderts verehrten die Bauern; das Wort »narodnichestvo« — wörtlich übersetzt: »Volk-ismus« —, mit dem ihr

lich zu sein.?! Oder man habe es hier, frei nach Max Sche-

len, die diese Art von »Populismus«

ler, mit passiv-aggressiven Menschen zu tun, deren Hass sie irgendwann selbst zerstören werde.? Nun, wenn man das alles so sieht, kann man es ja so sagen. Andernfalls sollte man mit dem Psychologisieren — das hier immer Moralpsychologisieren ist — aber sehr vorsichtig sein.?

aufs Land (ihr Slogan war »khozhdeniye v narod«: »Zum Volke gehen«); sie propagierten die Formen der Selbst-

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Gedankengut bezeichnet wurde, taucht in vielen historischen und sozialwissenschaftlichen Werken einfach als »Populismus« auf. Die allesamt slawophilen Intellektuelvertraten, strebten

organisation, welche die Bauern entwickelt hatten, als Vor-

bilder für den russischen Staat insgesamt. In Osteuropa waren vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Parteien und Bewegungen, die sich selbst als »Populisten« bezeichneten und angesichts der besonderen Bedingungen in schwach industrialisierten Ländern ihre Hoffnung auf eine politisch gebildete Bauernschaft setzten, 37

oft treibende Kräfte der Demokratisierung und Liberalisierung. Und dann gab es da die bereits erwähnte US-amerikanische People’s Party, die aus der Farmers’ Alliance hervorgegangen war. Ihre Anführer vertraten die Interessen der Farmer gegenüber Banken und den mächtigen Besitzern der Eisenbahnen. Von beiden hingen die Bauern, welche ihr Glück im Westen der USA suchten, besonders ab: Sie brauchten Kredite, um ihre Farmen aufzubauen,

und sie brauchten Züge, um ihre Erzeugnisse in den Osten zu bringen. So setzten sich die Anführer der People’s Party denn vor allem für billiges Geld ein sowie für eine Verbesserung der Infrastruktur (bis hin zur Verstaatlichung der Eisenbahnen). Finanz- und Großkapital — oftmals schlicht als »the interests« bezeichnet — waren die klaren Feindbilder der Kleinproduzenten. Die Rhetorik dieser »Populisten« griff dabei auf die klassisch populistische Gegenüberstellung von Volk und Eliten zurück. So war beispielsweise die Aktivistin Mary Elizabeth Lease nicht gerade zimperlich, als sie schrieb: »Die Wall Street hat das Land übernommen. Wir haben es nicht länger mit einer Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk zu tun, sondern für die Wall Street.

Die großartigen Menschen dieses Landes sind Sklaven, und das Monopol ist ıhr Herr.«** Man wetterte gegen »Plutokraten, Aristokraten und all die übrigen Ratten«; viele Slogans der Populisten könnten auch von Occupy Wall Street stammen: »Ninety and nine in hovels bare, the one in a palace with riches rare« (»99 Prozent sitzen in schäbigen Bruchbuden, das eine Prozent in Palästen voller exquisiter Reichtümer«).” 38

Die amerikanischen Populisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren zudem die Ersten, die sich selber »populists« nannten. Ursprünglich gab es kein von einem Adjektiv abgeleitetes Substantiv, um Mitglieder und Anführer der People’s Party zu beschreiben; die Wörter »pops«, »populites« und »populists« waren alle abwertend gemeint.?® Doch wie so häufig ın der politischen Ideengeschichte (Beispiel: »Neokonservative« in den USA) wurde ein zunächst abwertend gemeintes Label von den Geschmähten ins Positive gewandt: Man schrieb sich das negative Etikett schließlich selbst auf die Fahnen. Daran hat sich in den USA bis heute nicht viel geändert, gerade auf der Linken. »Populists« verstehen sich als Kämpfer für die Interessen der »Main Street« gegenüber einer als übermächtig wahrgenommenen »Wall Street«, In vielen amerikanischen Ohren klingt »populist« wie »progressive« wenn nicht gar linksradikal. So gelten der Bürgermeister von New York City, Bill de Blasıo, sowie

die Senatorin Elizabeth Warren und ihr Kollege Bernie Sanders (der sich selbst als Vertreter eines demokratischen

Sozialismus bezeichnet) als »populists«; ja sogar bei Hillary Clinton meinten manche Beobachter einen »populistischen Kurswechsel« erkennen zu können, als sich die frü-

here Außenministerin für mehr Chancengleichheit in den USA starkmachte. Damit ist die (transatlantische) Verwirrung perfekt.?”

In Europa gilt Populismus gemeinhin als regressiv, ın} den USA als im Zweifelsfall progressiv; in Europa findet sich Populismus vorwiegend rechts und hat mit Ausgrenzung zu tun, in den USA

ist er eher links verortet und 39

wird mit der Inklusion der vom Finanzkapitalismus Mar‘ginalisierten assoziiert (in Lateinamerika wird der Begriff oft ähnlich verwendet wie in den Vereinigten Staaten). Lassen sich diese Widersprüche auflösen? Nicht, solange man in der semantischen Sackgasse umherirrt und meint, die Selbstbezeichnungen politischer Akteure für bare Münze nehmen zu können. Diejenigen Linken, die sich heute in den USA »populist« nennen, sind für europäische Begriffe schlicht Sozialdemokraten (oder, wenn sie einen starken religiösen Einschlag haben, vielleicht gar linke Christdemokraten). Auch die ursprünglichen populists waren im Grunde eine egalitäre Emanzipationsbewegung, die sich vor allem für die Belange der Farmer einsetzte. Es

litische Forderungen, die auf die eine oder andere Weise,

früher oder später auch tatsächlich verwirklicht werden sollten. Nicht zu Unrecht gab der große amerikanische Historiker C. Vann Woodward zu bedenken, man könne

Franklin D. Roosevelts New Deal auch als eine Form von »nco-populism« verstehen.?? Das Bild der People’s Party als Brutstätte des Rassismus, ja gar des Faschismus wurde erst retrospektiv von den liberalen Modernisierungstheoretikern der fünfziger Jahre geschaffen: Wissenschaftler wie der Historiker Richard Hofstadter,

die Soziologen

Edward

Shils, Daniel

Bell

des »Gilded Age« — des »Vergoldeten Zeitalters« (Mark 'Twain), also der Blütezeit der US-Wirtschaft im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, von der vor allem große Finanziers profitierten und in der es zu einem dramatischen Anstieg der Einkommensunterschiede kam —- bisweilen auch antisemitische Züge annahm. Es ist zudem richtig, dass einzelne populists wie Thomas E, Watson später zu hasserfüllten Rassisten werden sollten. Ursprünglich war die People’s Party jedoch eine pluralistische Interessenvertreterpartei, die ım Übrigen keinen Unterschied zwischen den Anliegen von Weißenund von Schwarzen machte und sich auch für die Rechte der Frauen einsetzte (insbesondere für das Wahlrecht).?* Man wollte zudem das Wahlgeheimnis schützen (secret ballot), die Direktwahl der Senatoren sowie eine Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten durchsetzen und drängte nicht zuletzt auf den Aufbau eines modernen Verwaltungsapparats — po-

und Seymour Martin Lipset sahen die populists als Vorläufer des McCarthyismus und der rassistischen John Birch Society;*° Victor C. Ferkiss stellte pauschal fest, die Ideologie des amerikanischen Faschismus sei eine logische Weiterentwicklung der Überzeugungen der Populisten.“! In der politischen Alltagssprache der USA konnten sich diese Ansichten nie durchsetzen - in den Sozialwissenschaften waren sie umso erfolgreicher, und dies zudem global. Wer einen theoretisch anspruchsvollen Begriff von Populismus entwickeln will, darf nicht in die semantische Falle tappen und die Bedingung akzeptieren, dass der Begriff notwendigerweise alle sich selbst als populistisch bezeichnenden politischen Akteure abdecken muss, um gültig zu sein. Dies wäre ungefähr so, als erwartete man, dass ein plausibler Begriff von Sozialismus unbedingt auch das Selbstverständnis der Nationalsozialisten einschließen müsse. Populismus hat eine Geschichte. Aber man darf Populismus nicht auf eine bestimmte Anhängerschaft — ob nun Bauern oder Kleinunternehmer — verengen; noch sollte

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stimmt zwar, dass die Kritik an der Wall Street während

er mit bestimmten anderen »Ismen« gleichgesetzt werden, wie dies Karin Priester in ihrer Analyse des Populismus als einer Spielart von liberal-konservativem, antietatistischem Gedankengut versucht hat.* Populismus kann sich ganz unterschiedlicher Inhalte bedienen, und es ist ein Fehler, den Begriff als »Abziehbild« (Dubiel) einer sozial- oder politikgeschichtlichen Episode zu konzipieren. Das heißt jedoch nicht: Anything goes. Warum dies so ist, soll im nächsten Abschnitt erklärt werden.

Populismus als moralisch-politischer Alleinvertretungsanspruch oder: »Wir sind die einhundert Prozent«

setzt werden; inzwischen möchte sie nur noch »Die Fin-

nen« genannt werden. Insbesondere in der Vorstellungswelt von Rechtspopulisten gehen die Eliten zudem eine unheilige Allianz mit parasıtären

Unterschichten

ein, die

ebenso

nicht

dem

wahren Volk zuzurechnen sind.** Ein Beispiel für eine solche Sichtweise lässt sich gegenwärtig in Osteuropa beobachten, wo die Roma angeblich primär von postkommunistischen, proeuropäischen Eliten unterstützt werden — die ungarische Jobbik-Partei beispielsweise parallelisiert »Politikerkriminalität« und »Zigeunerkriminalıtät«. Nicht-Nationale und Post-Nationale vereinigen sich in dieser Logik gegen die wahre Nation.* In diesem Zusammenhang ist auch die ın den USA verbreitete Idee zu sehen, dass die linken Ost- und Westküsteneliten sich

Was genau ist nun Populismus, und wo verläuft die Trennlinie zwischen Populismus und anderen politischen Phänomenen? Populismus ist kein Anliegen klar identifizierbarer Schichten (oder Klassen), keine Gefühlssache, und ob etwas populistisch ist, lässt sich auch nicht an der Qualität von policy-Angeboten messen. Populismus, so meine These, ist eine ganz bestimmte Politikvorstellung, laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüber_ ’stehen — wobei diese Art von Eliten eigentlich gar nicht wirklich zum Volk gehören.* Diese Gleichsetzung von »gewöhnlichem Volk« und »einzig wahrem Volk« lässt sich manchmal schon am Parteinamen festmachen: Die finnische Partei Perussuomalaiset (dem Wortsinn nach »die gewöhnlichen Finnen«) wollte erst immer mit »Basisfinnen« oder »Wahre Finnen« in andere Sprachen über42

stets für die schwarze Bürgerrechtsbewegung einsetzen würden, eine Allianz, die im Harvard-Absolventen Ba-

rack Obama ihre paradigmatische Verkörperung gefunden habe — vielleicht ein Grund, warum die sogenannten »birthers«, lauthals angeführt von Donald Trump, jahrelang behaupteten, Obama habe das Präsidentschaftsamt usurpiert, denn er sei gar nicht in den USA geboren worden — er gehöre also nicht nur symbolisch, sondern buchstäblich gar nicht dem Volk an (Obama beendete die »Debatte« schließlich mit der Veröffentlichung seiner Geburtsurkunde, deren Echtheit von den »birthers« na-

türlich sofort angezweifelt

wurde;

später zog Trump

dann auch in Zweifel, dass Ted Cruz, ein ın Kanada ge-

borener Rivale im Kampf um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, ein »natural born citizen« sei).*® Die Kritik an Eliten ist jedoch nur ein notwendiges, 43

kein hinreichendes Kriterium populistischer Rhetorik (solange Populisten in der Opposition sind). Hinzukommen muss noch der dezidiert moralische Anspruch, dass einzig die Populisten das wahre Volk vertreten; alle anderen vermeintlichen Repräsentanten der Bürger seien auf die eine oder andere Art illegitim. Insofern reklamieren Populisten nicht so sehr den Satz »Wir sind das Volk« für

auch antipluralistisch.‘® Wenn dem nicht so wäre, müsste an jeglicher Kritik an Eliten automatisch der Populis-

geblich gar nicht vertreten. Christoph Blocher, der außerordentlich erfolgreiche Schweizer Populist, unterschied denn auch einmal ganz offen zwischen »falschen« und »echten« Eliten: »Im demokratischen Staat und in der freien Marktwirtschaft darf nur die Elite anerkannt werden, die ihren Auftrag mit der nötigen Hingabe, Tüchtigkeit und Fähigkeit ausführt« — Eliten, welche diesem Anspruch nicht gerecht werden, gehörten »unverzüglich beseitigt und ausgewechselt«.* Eine drastischere Variante dieses Gedankens ist bisweilen bei Pegida-Veranstaltungen zu vernehmen: Die aktuellen Politiker, so

mus-Vorwurf haften; es ist aber erst der moralische Al-

der Slogan, seien eigentlich keine Volksvertreter, sondern

leinvertretungsanspruch, welcher Populisten wirklich zu Populisten und deren. Verhältnis zur Demokratie so problematisch macht. Populisten sagen somit nicht: »Wir sind die 99 Prozent.« Sie behaupten von sich nichts weniger, als die 100 Prozent zu repräsentieren. Populisten sind damit kein, wie es oft heißt, nützliches »Korrektiv« in einer Demokratie, die einen zu großen Abstand zum gemeinen Volke hält. Insbesondere Theo-

»Volksverräter«, Ein möglicher Einwand könnte an dieser Stelle lauten, dass gerade die Populisten immer wieder nach Volksabstimmungen rufen. Doch wenn Populisten ein Referen-

sich, ihre Botschaft lautet vielmehr: »Nur wir vertreten das Volk«.” Populismus ist also nicht nur antielitär, er ıst

retiker auf der Linken meinen, das Verhältnis zwischen

dum fordern, dann nicht, weil sie einen offenen Diskus-

sionsprozess unter den Wählern auslösen wollen, sondern weil die Bürger bitte schön bestätigen sollen, was die Populisten immer bereits als den wahren Volkswillen erkannt haben (welcher halt von den illegitimen, im Zweifelsfall.am Eigennutz orientierten Eliten perfiderweise nicht umgesetzt wird). Diese Vorstellung eines imperativen Mandats erklärt auch, warum Populisten so gern »Verträge« mit dem Volk schließen — wie beispielsweise die schweizerischen SVP, Jörg Haider, der einen Kon-

Demokratie und Liberalismus oder Rechtsstaat sei aus der Balance geraten und Populisten könnten die demokratische Seite wieder stärken. Diese fromme demokratietheoretische Hoffnung beruht jedoch auf einem grundlegenden Missverständnis: Populisten interessieren sich gar nicht für die Partizipation der Bürger an sich; ihre Kritik gilt nicht dem Prinzip der politischen Repräsentation als solchem (das in der Tat in einem spannungsvollen Verhältnis zur Demokratie steht), sondern den amtierenden Repräsentanten, welche die Interessen des Volkes an-

Berlusconi, welcher einen »Vertrag mit den Italienern« im Angebot hatte. Politik ist dann vermeintlich nur noch Vertragserfüllung (wobei aus dem Blick gerät, dass das Vertragsangebot eben nicht vom »Volke«, sondern von

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trakt mit Österreich

unterzeichnete,

oder auch

Silvio

einer partikularen Partei kam). In den Worten des SVPPolitikers Blocher: »Allein die Erfüllung des Auftrages, die Erzielung des Erfolges ist ın der Führung entscheidend. Der Auftrag steht im Mittelpunkt — und zwar der eigene. Deshalb ist erfolgreiche Führung immer auftragsorientiert.«*° Diese Logik des eindeutigen »Auftrags« (mit den Bürgern als vermeintlichen Auftraggebern, die unzweideutige Anweisungen kommunizieren) erklärt die letztlich ambivalente Rolle, welche das Volk bei den Populisten spielt: an der Oberfläche äußerst aktıv, letztlich jedoch völlig passiıv. Es geht darum, den Volkswillen im Sinne eines imperativen Mandats eins zu eins umzusetzen — aber da das Volk nicht wirklich kohärent mit einer Stimme sprechen kann, bedarf es eben eines Akteurs, der dem

Volk souffliert, was es eigentlich sagen will. Gewöhnlich präsentiert sich der populistische Politiker denn auch als schlichtes »Sprachrohr« (und verschleiert damit seine oder ihre Rolle als immer auch anfechtbarer Interpret der Ideen und Interessen der Bürger). »Er denkt, was Wien denkt«,

hieß es auf einem

Plakat der österreichischen

FPO einmal über ihren Spitzenkandidaten Heinz-Christian Strache. Mit anderen Worten: Der Repräsentant bildet in der populistischen politischen Theorie eigentlich nur ab — ganz anders als beim Repräsentationsverständ-

das vormoderne

Repräsentationsverständnis

von Stän-

degesellschaften nach: Die Vertreter von Körperschaften wie Adel, Klerus oder eben auch dem »gemeinen Volk« artikulieren mehr oder weniger feststehende Interessen; ein dynamischer und deshalb immer auch unvorhersehbarer politischer Prozess ist gar nicht nötig.” Es reicht, (vermeintlich) zu wissen: »ER will, was WIR wollen« — so ein weiterer Strache-Slogan.° Nur, dass es hier gar nicht um Interessen — im legitimen Plural — geht, sondern um ein singuläres, angeblich objektives Interesse eines als homogen gedachten Volkes. Oder vielleicht nicht einmal um ein Interesse, sondern um eine Identität, die sich ver-

meintlich notwendigerweise mit einem bestimmten Interesse verbindet. Denn man muss das wahre Volk ja gar nicht vorher fragen, um zu wissen, was es wirklich will. Insofern ist der häufige Bezug auf Jean-Jacques Rousseau und seine Idee des volonte generale nicht wirklich plausibel. Bei Rousseau mussten die einzelnen Bürger wirklich selber entscheiden, was sie für den allgemeinen Willen (und damit das Gemeinwohl) hielten. Auch diese Konzeption war hoch moralisiert: Wer sich von seinen egoistischen Interessen leiten — aus Rousseaus Sicht de facto: versklaven — ließ, anstatt ernsthaft über das Wohl

nicht das imperative Mandat.>' Zumindest in dieser Hinsicht hallt bei den Populisten

aller zu reflektieren, sollte zu seiner Freiheit gezwungen werden können. Aber dies waren immerhin geregelte politische Prozesse, in denen die individuellen Bürger dazu aufgerufen waren, selbst zu agieren. Der Populist hingegen erkennt das Gemeinwohl der authentischen Nation auch so. Statt um die Repräsentation eines interessegeleiteten Willens geht es um die symbolische Repräsentation des »wahren Volkes« (das man gar nicht mehr direkt befra-

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nis von Linken, Liberalen oder auch Konservativen (man

denke an Edmund Burke), die von Repräsentanten erwarten, dass sie Gebrauch von ıhrer eigenen Urteilskraft machen.

Die moderne

Demokratie

kennt nur das freie,

gen muss).** Kurz gesagt: mehr Volksgeist als volonte generale. Dies erklärt auch, warum Populisten immer Vorbehalte gegen Parlamente als unvermeidlich pluralistische Institutionen haben. Worüber sollte man denn groß reden oder auch streiten? Der angeblich wahre Volkswille liegt schließlich offen zu Tage. Dasselbe gilt sogar für Fernsehduelle der Kandidaten: Viktor Orbän nahm an diesen weder vor den Wahlen 2010 noch vor denen im Jahr 2014 teil, erklärte aber: Debatten über spezifische politische Maßnahmen braucht es jetzt nicht, die Alternativen vor unseren Augen sind offensichtlich [...] Ich bin

sicher, Sie haben schon einmal gesehen, was passiert, wenn ein Baum

auf eine Straße fällt und viele Menschen darum herum stehen. Da fin-

det man immer zwei Arten von Leuten: diejenigen, die großartige Ideen haben, wie man den Baum wegräumen könnte, und den anderen ihre

wunderbaren Theorien mitteilen und Ratschläge erteilen. Andere

merken, dass es das Beste ist, wenn man einfach mal anfängt, den Baum von der Straße zu ziehen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen verstehen, dass zum Wiederaufbau der Wirtschaft keine Theorien notwendig sind, sondern, sagen wir mal, dreißig starke Burschen, die anfangen zu arbeiten und das tun, von dem wir alle wissen,

dass es notwendig ist.?

Es ist im Übrigen irreführend, Populismus automatisch mit charismatischem Führertum zu verbinden — ein Eindruck, der sich angesichts der Geschichte Lateinamerikas im 20. Jahrhunderts verfestigt hat. Jedem steht ein Bild vor Augen, auf dem ein Mann (oder im Fall von Evita eine Frau) von einem Balkon aus die Massen (beispielsweise

felsohne hilft es populistischen Parteien, wenn eine eindrucksvolle, Enthusiasmus weckende, den Alltag vergessen machende Person an ihrer Spitze steht — aber das gilt für andere politische Verbände auch. Entscheidend ist in der populistischen Vorstellungswelt, dass der populistische Führer den singulären Volkswillen richtig erkennt und umsetzt. Dem eigenen Verständnis nach führt er (oder sie) also gar nicht unbedingt, vielmehr folgt er (oder sie) im Sinne von Blochers Ethik der getreuen Auftragserfüllung dem Volk. Und hier kommt dann vielleicht doch wieder ein besonderes Talent ins Spiel, nämlich die Fähigkeit, den Volkswillen zu erkennen und zu erfüllen. An

diesem Punkt gerät die populistische Selbstwahrnehmung plötzlich in die Nähe zu epistemischen Konzeptionen von Demokratie — wird aber nicht mit diesen identisch,

da es dem Populisten Ja letztlich um die korrekte symbolische Repräsentation beispielsweise des sprichwörtlichen »real American« zu tun ist.5® Diese Gedankenfigur ist eine interessante Variante der Konzeption von Repräsentation, die der französische Politikwissenschaftler Bernard Manin mit großer Resonanz in der demokratietheoretischen Diskussion vertritt.” Manin behauptet, Repräsentation sei gar kein demokratisches Prinzip; wer wirklich an demokratische Gleichheit glaube, müsse bei der Besetzung öffentlicher Ämter eigentlich ein Losverfahren bevorzugen, wie es im demo-

hänger Peröns) begeistert. Akklamation durch das versammelte Volk sowie ein plebiszitäres Verständnis von Führung sind aber nicht mit Charisma identisch. Zwei-

kratischen Athen auch größtenteils der Fall war (einige Ämter mit besonderen Anforderungen an Erfahrung und Kompetenz, etwa das des Generals oder strategos, waren allerdings an Wahlen gekoppelt).* Die Institution einer Wahl von Repräsentanten, so Manin, beruhe hingegen

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von descamisados, so nannte man die »hemdlosen«

An-

auf letztlich aristokratischen Vorstellungen, denn bei Wahlen solle ja gerade der oder die »Beste« für das Amt ausgewählt werden. Werden Repräsentanten gewählt, bestätigt dies also, dass »wir« vermeintlich guten demokratischen

geprüfter Nicht-Politiker sein. Natürlich macht es die Kritik an politischen Eliten erst einmal plausibler, wenn man nachweisen kann, dass man selbst nie dazugehört hat. Aber dieses oft sehr bewusst inszenierte Außensei-

Bürger, wenn wir ehrlich sind, eigentlich davon ausgehen,

tertum ist nicht entscheidend, und die Vorstellung, man

dass politische Fähigkeiten letztlich doch ungleich verteilt sind. So bleibt es zwar selbstverständlich den Wahlberechtigten überlassen, welche Fähigkeiten sie als besonders wichtig erachten — entscheidend ist jedoch, folgt

müsse nur darauf hinweisen, dass beispielsweise Geert Wilders eigentlich ein Karrierepolitiker ist (der seit einem Vierteljahrhundert im Binnenhof, dem niederländischen Parlament arbeitet, zuerst ab 1990 als Assistent und dann ab 1998 als Abgeordneter), um den Populisten zu diskreditieren, ist reichlich naiv (genauso naiv übrigens wie der Glaube, jede populistische Partei verschwände irgendwann, weil selbst der charismatischste Gründungsparteiführer am Ende sterblich sei).*! Das Besondere am populistischen leader hat nichts mit

man Manin, dass selbst jene Bürger, die sich als Demokraten deklarieren, die Idee politischer Gleichheit nicht wirk-

lich ernst nehmen. Eine der Pointen von Manins Theorie besteht nun darin, dass der Versuch, eine möglichst »normale« Person (also was im Deutschen etwas altbacken immer noch »Otto Normalverbraucher« heißt und in den USA inzwischen »Joe the Plumber«) wählen zu wollen, an der aristokratischen Natur der Sache rein gar nichts ändert. Denn gerade wer am gewöhnlichsten ist, ist dadurch wiederum etwas Besonderes. Carl Schmitt hatte in seiner Verfassungslehre noch behauptet: »Diejenigen, die regieren,

Charisma oder einem Außenseiterstatus zu tun, sondern

persönlichem Charisma zu tun, wie so häufig angenommen wird; er oder sie muss auch nicht notwendigerweise ein Außenseiter oder ein auf politische Unerfahrenheit

mit der inneren Logik des Populismus. Wie oben gezeigt, ist aus Sicht des Populisten entscheidend, dass angeblich allein er (oder sie) den wahren Volkswillen auf korrekte Weise erkennen und ihn folgerichtig repräsentieren könne. Der Volkswillen wiederum ist per definitionem moralisch rein; ein korruptes Volk kann es im Populismus (anders als beispielsweise bei Marxisten, Leninisten oder auch Liberalen) schlicht nicht geben. Aus dieser Kombination resultiert dann der besondere moralische Alleinvertretungsanspruch der Populisten, der sich ın Slogans wie »India ıs Indira« (Gandhi) und Andreas Papandreous »Pasok im Amt — das Volk an der Macht« oder auch in Verlautbarungen wie jenen von Chävez ausdrückt, der, an »sein Volk« gewandt, behauptete, er sei »ein Stück von euch allen«.®



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sind durch das Volk, nicht vom Volk unterschieden.«> Sie sind es aber, folgt man Manin, eben doch, egal, wie ge-

wöhnlich oder vielleicht ordinär sie sich geben oder sogar sein mögen (und nicht zuletzt sind die Repräsentanten auch dadurch unterschieden, dass sie mehr Macht haben).® Insofern ist letztlich auch der populistische Führer etwas Besonderes, aber diese Besonderheit hat nichts mit

Es wäre verfehlt, aus dieser scheinbaren »Identität« mit

dem Volk eine nationalistische oder rassistische Grundlage des Populismus abzuleiten, wie Schmitt es zu Beginn des Nationalsozialismus mit dem Begriff der »Artgleichheit« tat.° Es mag plausibel sein, dass jemand, der »volksnäher« oder gar »volksähnlicher« ist, eher in der Lage sein wird, den wahren Volkswillen zu erkennen — zwingend notwendig ist dies in der populistischen Vorstellungswelt jedoch nicht. Mit anderen (und deutlicheren) Worten: Der Nationalsozialismus war eine Form von Populismus — aber nicht jeder Populismus mündet in Nationalsozialismus oder einer anderen Form von Totalıtarısmus; zum

Alleinvertretungsanspruch mussten im Kontext der zwanziger und dreißiger Jahre des zo. Jahrhunderts noch Rassismus und die Verherrlichung der Gewalt hinzukommen, damit aus einer populistischen eine spezifisch nationalsozialistische Logik werden konnte.** Populisten müssen also keine Nationalisten oder gar ethnische Chauvinisten oder Rassisten sein. Aber sie brauchen ein moralisches Unterscheidungskriterium, welches das gute Volk von den schlechten Eliten trennt (und das klarmacht, wer eigentlich wirklich zum wahren Volk gehört und wer nicht: Nicht umsonst reden beispielsweise Unterstützer amerikanischer Populisten immer von »real Americans«).® Historisch wurde dabei oft mit moralischen Vorstellungen von Tugend und harter Arbeit operiert; schon der Abb& Siey&s rechtfertigte am Vor-

auch oft mit »producerism« einher, also der Idee, das tugendhafte Volk sei ein Volk der Produzenten (vor allem Kleinproduzenten, deren Arbeit und Produkte man sich relativ problemlos konkret vorstellen kann). Heute finden sich ähnliche Tendenzen bei der Lega Nord mit ihren Slogans wie »Roma ladrona« (>Rom ist eine Räuberin«) — sprich: Im Norden wird hart gearbeitet, im Süden sind alle Diebe. Zu derartigen moralischen Kriterien von Verdienst und Tugendhaftigkeit, welche den Übergang von der empirischen Willensrepräsentation zur symbolischen Repräsentation erst ermöglichen, kommt allerdings automatisch immer noch ein weiteres Unterscheidungsmerkmal: Denn wer die Populisten nicht unterstützt, gehört per definitionem gar nicht zum wahren Volk. Recep Tayyıp Erdogan brachte es auf den Punkt, als er seinen Kritikern ım

Juli 2014 mit folgender Aussage die Stirn bot: »Wir sind das Volk. Wer seid Ihr?« Dieses Muster fand sich bereits bei den französischen Revolutionären, die meinten, das

wahre Volk müsse sozusagen erst einmal aus der empirischen Masse aller Franzosen herauspräpariert werden (so eine treffende Formulierung von Claude Lefort). Anders gesagt: Wer sich den Populisten nicht anschließt, schließt sich selber aus. Und diese Selbst-Disqualifizierung ist für Populisten stets eine moralische — mit gravierenden politischen Konsequenzen.

abend der Französischen Revolution die Idee, der Dritte

Stand sei das wahre französische Volk, mit dem Argument, dass der Dritte Stand im Gegensatz zu Aristokratie und Klerusarbeite. In den USA ging Populismus denn $2

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Keine Parteien wie andere Parteien

Wirklich partizipieren muss das Volk im Populismus also gar nicht. Wichtig ist in der Weltanschauung der Populisten allein, dass der populistische Politiker den einzig wahren moralischen Volkswillen korrekt identifiziert und im Sinne eines imperativen Mandats umsetzt. Man denke nur an Silvio Berlusconi: Zweifelsohne war es eine angenehme Kulisse für den »Cavaliere«, wenn blau bekleidete Massen für Forza Italia skandierten. Aber eine kontinuierliche Beteiligung seiner Anhänger am politischen Willensbildungsprozess wollte Berlusconi ganz sicher nicht (auf dem ersten Kongress von Forza Italia wurde er per Akklamation zum leader erklärt).* Die Partei — hier ist schon die Berechtigung des Begriffs fragwürdig, da es sich eher um einen bloßen »Gefolgschaftsverband« handelte — wurde ausschließlich von Berlusconi kontrolliert.” Die Ästhetik des Fußball-Fanclubs (der

antritt in seinem Büro das Bild des italienischen Präsidenten Giorgio Napolitano ab und begründete dies damit, er fühle sich von diesem Kommunisten nicht repräsentiert; stattdessen hängte er ein Foto des ehemaligen Präsidenten Sandro Pertini auf, der wirklich die Einheit der Nation

verkörpert habe).® Weitere Beispicle für die Besonderheiten populistischer Parteien Jassen sich leicht finden: Geert Wilders’ Partij voor de Vrijheid ist nicht nur de facto eine Ein-MannPartei, weil Wilders bekanntermaßen alles und alle kon-

treten von Berlusconi — besser zu Hause Fernsehen gucken (natürlich bevorzugt einen der Berlusconi-Kanäle); Demokratie wurde zur videocrazıa. Wer sich diesem Idealbild nicht fügte, war offenbar Kommunist oder illegaler Immigrant, sprich jemand, der gar nicht richtig zum italienischen popolo gehörte (ganz ähnlich denken übrigens auch die Politiker der Lega Nord: Der Bürgermeister von Verona, Flavio Tosi, nahm zwei Tage nach seinem Amts-

trolliert — eigentlich wollten Wilders und sein Vordenker Martin Bosma offiziell gar keine Partei, sondern eine Stiftung (was aber rechtlich in den Niederlanden nicht machbar war; so operierte die PVV dann mit genau zwei Mitgliedern: der Stichting Groep Wilders, mit wiederum Wilders als einzigem Mitglied, und Wilders als natürlicher Person; dass der PVV dadurch viel Geld an möglicher Parteienfinanzierung durch den Staat entging, nahm Wilders in Kauf).® Auch die Abgeordneten sind nur Delegierte der Partei (und werden von Wilders jeden Samstag für ihre politischen Aufgaben ausführlich gecoacht).” Diese totale Absage an das, was man — vielleicht etwas naiv - als »innerparteiliche Demokratie« bezeichnet, hatte sicher auch praktische Gründe: Wilders stand das Beispiel der List Pim Fortuyn vor Augen, die nach dem Tod des Gründers in Streitigkeiten versank und sich schließlich ganz auflöste.”! Aber der prinzipielle Antipluralismus passt eben auch genau ins populistische Weltbild: Wenn es nur einen einzigen, klar erkennbaren Volkswillen gibt, den der Führer oder die Führungsmannschaft auch eindeutig identifizieren kann — wozu braucht man

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Slogan »Forza Italia«, etwa: »Auf geht’s, Italien«, stammt

aus der Welt des Sports) sollte dabei helfen, Forza Italia von den »alten Parteien« und ihrer korrupten partıtocrazia abzugrenzen, Und die Bürger? Statt auf der Piazza zu demonstrieren, sollte der ideale Italiener — exklusiv ver-

dann eigentlich innerparteiliche Debatten? Und wozu intermediäre Institutionen, also die sogenannten corps intermediaires, die von Liberalen wie Montesquieu und Tocqueville als wirksame Beschränkungen der Macht gepriesen wurden, der Kommunikation zwischen Volk und populistischem Führer in Wahrheit aber nur im Weg stehen können? Populisten wollen, was Nadia Urbinati mit einem etwas paradox anmutenden Begriff »direkte Repräsentation« genannt hat, und diese Forderung gilt nicht nur für Parteien, sondern idealerweise für das politische System als Ganzes, wo möglichst viele Personalfragen direkt vom Volk entschieden werden sollen.” Insofern gibt es in der Tat einen Zusammenhang zwischen dem Konzept der plebiszitären Herrschaft — denn darauf läuft »direkte Repräsentation« ja hinaus - und Populismus. Es gilt aber daran zu erinnern, dass es sich hier immer noch um

lung angekommen sei.’* Insofern begünstigen die segmentierten Mikroöffentlichkeiten im Internet — in denen sich Mitglieder politischer Völkchen gegenseitig in ihrer moralischen Überlegenheit bestätigen — die Logik des Populismus. Wer immer nur einen Teil der Bevölkerung sieht, hört oder auch nur getweetet bekommt, wird einen populistischen Alleinvertretungsanspruch wohl eher plausibel finden. Denn die vermeintlich demokratische Online-Town-Hall ist ein populistischer Hallraum. Aufgrundihres moralischen Alleinvertretungsanspruchs sind populistische Parteien also keine Parteien wie alle anderen.’* Was die amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Rosenblum »Holismus« genannt hat, die Vorstellung, das Ganze vertreten zu können (eine Idee, die der politischen Fragmentierung einer Gesellschaft entgegengesetzt wird), steht im Widerspruch zur Grundidee einer Partei als etwas Besonderen, Partiellen, Aparten-wie der Name schon sagt, ist man nur ein »Part« und vertritt nicht das Ganze.” Sicher sollte man diesen Punkt nicht überspitzen: In der Praxis verhalten sich populistische Parteien oft genug wie »ganz normale Parteien«, weshalb sie bekanntlich ja auch Koalitionen eingehen. Aber ihrem Selbstverständnis nach sind sie halt doch lieber eine »Front« (National), eine »Bewegung« oder eine Stiftung. Alle anderen sind eben »nur« Parteien — und im Lichte des moralischen Alleinvertretungsanspruchs der Populisten eigentlich illegitime Konkurrenten. Gleichzeitig sind die anderen Parteien aus Sicht der Populisten

Repräsentation handelt, während die Partizipation sich de facto auf Akklamation beschränkt. Genauso wie Populisten einer komplizierten innerparteilichen Demokratie misstrauen, betrachten sie professionelle Journalisten mit Argwohn. In beiden Fällen wird der eine authentische Volkswille »mediatisiert« und damit, ın ihrer Logik, höchstwahrscheinlich verfälscht. Besser, niemand schaltet sich beispielsweise zwischen Beppe Grillo und seine grillini: Über seinen Blog erfährt man, was wirklich passiert, und man kommuniziert scheinbar direkt mit dem einzig nicht korrupten Repräsentanten Italiens. Als die grillinı ins Parlament einzogen, bedeutete das laut Grillos Mitstreiter Gianroberto Casaleggio, einem Internet-Impresario, dass die öffentliche Meinung nun endlich in der italienischen Abgeordnetenversamm-

weswegen Populisten so häufig die Parteinamen der »Etablierten« zusammenfügen, als handele es sich um ein Kar-

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aberauch nur Organisationen der alten, korrupten Eliten,

tell zur Wahrung unrechtmäßiger Privilegien: So ist ın Frankreich etwa von der »UMPS« und in Spanien von der »PPSOE«

die Rede (UMP steht dabei für die Union

pour un mouvement populaire, also die konservative Partei, die mittlerweile unter dem Namen Les Republicains firmiert, PS für die Partie socialiste; PP steht für den kon-

servativen Partido popular, PSOE für die spanischen Sozialisten).

Wie erklärt man

das Unerklärliche®

tielles Volk abseits der Institutionen können wir auf empirisch nachprüfbare Weise jedoch gar nicht kennen. Ja, man kann noch einen Schritt weiter gehen: Das Volk in seiner Gesamtheit lässt sich nie fassen oder gar darstellen; es ist überhaupt nie empirisch auffindbar (Pierre Rosanvallon spricht in seinen Arbeiten vom »peuple introuvable«, demunauffindbaren Volk), denn jede Minute sterben Bürger, und neue werden geboren — schon Hobbes sprach von der »Unbeständigkeit der Zahl«.7® Und dennoch ist die Versuchung groß, ob aufgrund metapolitischer Illusionen oder eines vermeintlichen machtpolitischen Realismus, die Behauptung aufzustellen, man ken-

Auf irgendeine Weise muss ein Populist, solange er oder sie in der Opposition ist, erklären, warum die politische Wirklichkeit - in welcher seine populistische Partei eben keine überwältigenden Mehrheiten auf sich vereinen kann — dem moralischen Alleinvertretungsanspruch zu widersprechen scheint. Dazu gibt es zwei Strategien: Im Zweifelsfall appellieren Populisten an ein Volk »da

ne das Volk in Gänze (Robespierre, in dieser Hinsicht ganz der Herrschaftslogik der französischen Könige fol-

draußen«,

immer gegen Parlamente und andere Institutionen ausspielen können, ohne gleich antidemokratisch zu klingen.”’ Ein vorpolitisches, ım schmittschen Sinne existen-

(wie beispielsweise die phrygische Mütze, eın gekrönter Jüngling oder Herkules) konnten auch nicht überzeugen. Jacques-Louis David wollte auf der Pont Neuf gar eine riesige Statue des Volkes errichten; das Fundament sollte aus zertrümmerten Königsdenkmälern gefertigt, die Bronze der Statue aus eingeschmolzenen Kanonen der Feinde des Volkes gewonnen werden (der Konvent billigte das Projekt, doch es blieb beim Modell). Der vermeintlich wichtigste Akteur der Revolution — das souveräne Volk-wurde zum »Jahwe der Franzosen«, warals solches also nicht repräsentierbar (allein das Wort — sprich das Grundprinzip der Volkssouveränität — konnte sichtbar

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das

sich nicht mittels

Wahlen

oder anderer

konventioneller demokratischer Verfahren artikulieren kann. Noch fast jeder Populist hat Richard Nixons berühmt-berüchtigten Ausspruch von der »schweigenden Mehrheit« bemüht (denn wenn die Mehrheit nicht schwiege, wäre der Populist ja bereits an der Macht).”® Der Rechtstheoretiker Hans Kelsen hat in diesem Zusammenhang von einer »metapolitischen Illusion« gesprochen — einer Fiktion des »Volkes«,

welches die Feinde der Demokratie

gend, rief denn auch einmal aus, er sei das Volk). Zudem ist es bezeichnend, dass die französischen Revolutionäre

nie eine zufriedenstellende ästhetische Form für die von ihnen inaugurierte Volksherrschaft fanden: Das Ganze ließ sich nicht darstellen, und die partikularen Symbole

gemacht werden: So sollten bei Revolutionsfeiern Fahnen mit Zitaten aus Rousseaus Contrat Social herumgetragen werden).”? Demokraten müssen schlicht akzeptieren, dass das Volk als solches sich nie ganz fassen lässt. Die Medien mögen die öffentliche Meinung noch so getreu wiedergeben, die sich gegen gewählte Abgeordnete richtet; noch so viele Bürger können in Massen auf die Straße gehen (und so das »Volk« zum »Ereignis« machen — Pierre Rosanvallon spricht vom »peuple-&venement«), Wutbürger können eine Online-Petition anklicken oder ihre Abgeordneten mit Mails bombardieren — der »wahre Wille« des »wahren Volkes« zeigt sich dadurch nicht. All diese Aktivitäten, all dieses Engagement der Bürger kann, wie Christoph Möllers gezeigt hat, eine demokratische Bedeutung haben und vielleicht auf sich verschiebende Mehrheitsverhältnisse hindeuten — aber es fehlt an einer demokratischen Form, sprich an Verfahren, die die gleiche Freiheit

aller Beteiligten (und nicht nur der besonders Engagierten oder Empörten) sichert. Erst das Verfahren, primär eben Wahlverfahren, so Möllers weiter, kann politische

Willensäußerungen eindeutig genug machen, um kollektiv bindende Entscheidungen für ein Gemeinwesen zu rechtfertigen. Auch diese können sich als falsch erweisen, aber das wird ein demokratischer Politiker immer zugeben. Die Frage ist eher, ob jeder Wutbürger zu der Einsicht fähig ist, dass seine Position vielleicht doch nicht richtig und schon gar nicht der Ausdruck des wahren Volkswillens ist.8° Diese problematische Unterscheidung zwischen konkreter Form und kaum

zu fassender, vielleicht aber ir60

gendwie doch präsentzumachender Substanz gibt es nicht erst, seit Populisten in der repräsentativen Demokratie ihr Unwesen treiben.®! Analog zur Lehre von den zwei Körpern des Königs® entwickelte etwa der mittelalterliche Jurist Baldus eine Theorie, nach der es auf der einen Seite das Volk als empirische, sich ständig ändernde Gruppe gibt und auf der anderen ein ewiges populus als eine Art corpus mysticum.* Und so wie es möglich ist, den sogenannten »king body politic« vom »king body natural« zu unterschieden, ließen sich in dieser Logik »people body politic« (Baldus gebrauchte die Formulierung »hominum collectio in unum corpus mysticum«) und das von Institutionen repräsentierte Volk voneinander abgrenzen — und gegeneinander ausspielen. So wie beispielsweise die Gegner Charles I. von sich behaupteten, sie würden den König im Namen des Königs bekämpfen (»We fight the king to defend the king«), können Populisten die falschen Repräsentanten im Namen des wahren, nicht institutionalisierten Volkes »da drau-

ßen« attackieren.** Das soll nicht heißen, dass ausschließlich gewählte Berufspolitiker oder offizielle Kandidaten einen Anspruch darauf erheben dürfen, repräsentativ zu sein. Aus einem völlig auf staatliche Institutionen verengten Politikverständnis würde ja zum Beispiel folgen, dass Bürger, die gegen eine Regierung demonstrieren möchten, gleich zu Hause bleiben können — schließlich sind sie ja nichts weiter als eine »kleine radikale Minderheit« (ein Ausdruck,

mit dem die westdeutsche Studentenbewegung oft abgekanzelt wurde). In der Demokratie kann buchstäblich jeder für sich den 61

Anspruch erheben, mit seiner politischen Position repräsentativ für andere zu sein, ja, die Demokratie

ermutigt

geradezu die ständige Vermehrung solcher Ansprüche — ganz so wie Pegida-Plakate mit der Aufschrift »Wir sind das Volk« Gegenplakate mit »N6ö, wir sind das Volk« provozieren.® Statt etwas bereits Gegebenes einfach abzubilden, kann ein Anspruch auf Repräsentativität (was Michael Saward einen »representative claım« genannt hat) eine Gruppe überhaupt erst dazu bringen, sich als repräsentationsbedürftig und -würdig zu begreifen und zu konstruieren (und es wäre ein grober Fehler, diesen Prozess unter der Schaffung eines falschen Bewusstseins zu subsumieren).%,

Insofern ist es ırreführend, davon aus-

zugehen, die Interessen von Wählern stünden immer schon irgendwie objektiv fest und man müsste sie nur noch repräsentieren. Nur muss der Anspruch, repräsentativ zu sein, halt auch empirisch immer wieder eingelöst werden,

und das heißt letztlich: durch Wahlen.® A priori kann niemand

den Volkswillen kennen;

wir erfahren ımmer

erst a posteriori von (oft nur relativen) Mehrheiten. Somit besteht ein gravierender Unterschied zwischen der Kritik an amtierenden Politikern sowie ihren Plänen auf der einen Seite und dem Versuch, gewählten Volksvertretern im Namen einer fiktiven Totalität jegliche Legitimität abzusprechen, auf der anderen. Weil Populisten Letzteres tun, zıehen sıe mit den von ihnen moralisch dif-

famierten Mainstream-Politikern immer auch gleich die Prozeduren in Zweifel, die diese Politiker an die Macht

gebracht haben. Irgendetwas, so der Grundgedanke der Populisten, könne mit unserer real existierenden Demokratie ja wohl nicht stimmen, wenn sie die Mehrheit zum

Schweigen verdammt. Tatsächlich bezeichnete Geert Wilders die niederländische Tweede Kamer als ein »Scheinparlament«, nachdem er seine Kollegen immer wieder als »Scheinpolitiker« verhöhnt hatte; Viktor Orbän blieb demonstrativ den Parlamentssitzungen fern, als seine Parteiin der Opposition war; Vertreter der Tea Party monierten stets laut, Obama regiere gegen den Willen der Mehrheit. Hier zeigt sich einmal mehr: Man will gar nicht am Prinzip der politischen Repräsentation an sich rütteln, sondern Verfahren infrage stellen, welche die falschen Repräsentanten hervorbringen. Da ist es dann häufig nur noch ein Schritt bis zu den Verschwörungstheorien (Stichwort: »Lügenpresse«), welche immer wieder ın den Diskursen der Populisten auftauchen — was Richard Hofstadter einmal zu der Beobachtung veranlasste, Populisten pflegten stets einen »paranoiden politischen Stil«.% In einer halbwegs funktionierenden Demokratie ist es also immer populistisch, wenn Demonstranten für sich beanspruchen, das Volk zu sein. Appelle ä la »Wir sind auch das Volk« (vielleicht ergänzt um: »Und Ihr habt uns vergessen!«) können hingegen durchaus zu gehaltvollen demokratischen Auseinandersetzungen beitragen. In der Demokratie darf prinzipiell jeder für sich reklamieren, eine bestimmte Gruppe zu repräsentieren (beispielsweise indem er eine Partei gründet), dafür muss sich aber auch jeder dem einzigen »Volksurteil« beugen, dass sich wirklich empirisch nachweisen lässt: dem Wahlausgang. Ein Populist, der eine Wahl verliert, tut eben dies nicht

und trifft eine für die Demokratie fatale Unterscheidung zwischen einem empirischen und einem moralischen Wahl-

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ergebnis. Als Viktor Orbän sich bei den Parlamentswahlen 2002 unerwartet geschlagen geben musste (was ihn sein Amt als Ministerpräsident kostete), behauptete er, die Nation — offenbar exklusiv von seiner Partei repräsentiert — könne gar nicht in der Opposition sein. Als der mexikanische Linkspopulist Andres Manuel Löpez Obrador 2006 die Präsidentschaftswahlen denkbar knapp verlor, campierten seine Anhänger wochenlang im Zentrum von Mexiko-Stadt und behaupteten, das wahre pueblo zu

sein. Schließlich gestand auch der selbst ernannte Volkstribun >»AMLO« seine Niederlage ein. Er verkündete jedoch, der Sieg der Rechten sei »moralisch unmöglich«, und beharrte darauf, er sei der »legitime Präsident« Mexikos.® Mit anderen Worten: Der Sıeg der »Volksverräter« war eigentlich nur empirisch möglich, und die Empirie rangiert in der Vorstellungswelt der Populisten immer hinter der Moral. Man kann diese Sicht, wonach nicht sein kann, was nicht sein darf, noch zuspitzen, wenn man

das oben bereits diskutierte Argument der Populisten ins Feld führt, wer gegen sie sei, gehöre eigentlich gar nicht wirklich zum Volk. Auch solassen sich der populistische moralische Anspruch und die Wirklichkeit von Populisten in der Opposition wieder in Einklang bringen. Nun mag man einwenden, jeder Politiker, der einen Anspruch auf Repräsentativität erhebe, tue dies im Brustton der Überzeugung, dass er oder sie wirklich bereits große Teile der Bevölkerung vertrete — und ın Zukunft potenziell durchaus noch alle Bürger von der Richtigkeit seiner oder ihrer Positionen überzeugen könne. Drastischer gesagt: Esstellt sich ja niemand hinund sagt, er oder sie repräsentiere nur irgendwelche Sonderinteressen, be64

treibe de facto Lobbyarbeit etc. Nur: Bei demokratischen Politikern ist immer klar, dass diese Ansprüche sich auch als falsch erweisen können:® Leider habe man, heißt es

dann nach dem Urnengang, doch nicht so viele Wähler überzeugen können, wıe man gehofft hatte — nun müsse man halt aus der Opposition heraus weiter Überzeugungsarbeit leisten. Solche weitverbreiteten, fast schon klischeehaften Sprüche sind also demokratietheoretisch gehaltvoller und wichtiger, als man zunächst denken würde: Sie zeigen, dass man bereit ist, die eigenen Ansprüche auf Repräsentativität zu relativieren (statt beispielsweise zu behaupten, man repräsentiere auch weiterhin das wahre Volk und die Eliten, die unerklärlicherweise die Wahl gewonnen haben, hätten dem Volk das Land weggenommen).?! Alle Repräsentation ist vergänglich. Und der Anspruch auf Repräsentativität ist letztlich eine Art Hypothese — die auch falsıfiziert werden kann. Und dann probiert man es eben bei der nächsten Wahl noch einmal. Zusammenfassend lässt sich nun sagen: Nicht an ihren vermeintlich ressentimentgeladenen Wählern sollt ıhr Populisten erkennen — sondern an ihren eigenen Worten.® Damit ist aber nicht nur eine bestimmte Rhetorik als Politikstil gemeint oder eine spezifische Art politischer »Performance«, bei der Politiker direkt an das Volk

appellieren, Krisen heraufbeschwören und im Vergleich zu existierenden Eliten ziemlich »schlechte Manieren« an den Tag legen.?* Zwar kann man schlechte Manieren und derbe Volksnähe durchaus bei so einigen Populisten finden: Der Amerikaner George Wallace trug bewusst 65

billige Anzüge und betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, er konsumiere sein Essen grundsätzlich nur mit Ketchup (ein anderer seiner bekanntesten Sprüche lautete, die einzigen Wörter mit vier Buchstaben, die Hippies nicht kennen würden, seien »Ww-0-r-k« sowie »S-0-a-p«).”* Doch solche Stilfragen wären als Kriterium viel zu sub-

2. ... und Praxis

»Alle Gewalt geht vom Volke aus. Aber wo geht sie hin?« Bertolt Brecht, »Drei Paragraphen der Weimarer Verfassung«

jektiv. Das Sich-Berufen auf das Volk und der Wunsch,

populär zu sein, sind zudem bei so gut wie allen Politikern zu finden. Auf diese Weise würde Populismus, wie schon bei Puhle, mehr oder weniger zu einem Synonym für moderne demokratische Politik oder zumindest auf eine »Mobilisierungsstrategie« reduziert, die sich bei fast allen politischen Akteuren in der ein oder anderen Form finden lässt.® Das entscheidende Kriterium ist vielmehr, dass sich ım

Diskurs der Populisten ein dezidierter Antipluralismus findet und dass sie sich stets auf das Volk als eine eindeutig moralische Größe beziehen.® Populisten sind zudem nicht gegen das Prinzip politischer Repräsentation, sondern nur skeptisch gegenüber allen vermittelnden Institutionen (nicht nur in der Politik, sondern auch in Bezug auf die mediale — und damit eigentlich immer schon vermittelte — Öffentlichkeit). Beim Versuch, Populismus zu definieren, landen wir insofern — trotz des Umstands, dass sie die unterschiedlichsten, bisweilen auch konträre

Inhalte vertreten — also doch nicht im Bereich des anything goes, als sich diese Einordnung an einer strukturellen Logik festmachen lässt, die dem Populismus inhärent ist.

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Es mag nun so scheinen, als lebten Populisten allesamt in

einer Art politischen Fantasiewelt — ein Gedanke, der auch zu der weitverbreiteten Meinung passt, Populisten seien grundsätzlich unfähig zu regieren. Bei populistischen Organisationen, so heißt es, handele es sich immer

um Verweigerungs- oder Protestparteien, und rein logisch könne niemand gegen sich selbst protestieren oder sich in der Regierung dem Regieren verweigern; einmal an der Macht, würden die Eliten-Kritiker ihrerseits Teil der Elite, weshalb ihre moralische Trumpfkarte nicht län-

ger steche. Kurz: Mit Anti-Politik lässt sich keine Politik machen und erst recht kein Staat. Eine andere Variante der These von der prinzipiellen Regierungsunfähigkeit der Populisten besagt, Populisten würden unweigerlich »entzaubert«, sobald sie in der Verantwortung stünden — ihre simplen Versprechungen würden sich im Säurebad des politischen Alltags auflösen. Die Anti-EstablishmentOutsider hätten bei ihren Anhängern dann bald keinerlei Glaubwürdigkeit mehr und würden bald wieder von der politischen Bühne verschwinden. Oder zumindest aus ihrer Fantasiewelt vertrieben und sich in Pragmatiker verwandeln.” So oder so löse sich das Problem von alleine, Auch mit dieser Diagnose machen es sich liberale De67

mokraten zu einfach — und wiegen sich in einer politischen Sicherheit, die es sonicht gibt. Zum einen ist es sehr wohl möglich, an der Macht zu sein und gleichzeitig Eliten zu kritisieren — nämlich die alten, die hinter den Ku-

lissen angeblich auch weiterhin die Strippen ziehen und die Populisten daran hindern, den wahren Volkswillen zu vollstrecken. Man denke nur an Hugo Chävez, der stets dunkle Hintermänner der Opposition am Werke sah, die seinen Sozialismus neuen Typs sabotieren wollten, oder ım Zweifelsfall die USA für Misserfolge der bolivarischen Revolution verantwortlich machte; oder an Recep Tayyıp Erdogan, der sich noch als Underdog darstellte, dem das kemalistische Establishment alle möglichen Knüppel zwischen die Beine werfe, als er schon längst begonnen hatte, alle Macht in seinen Händen zu konzentrieren; oder Jarostaw

Kaczynski,

der argwöhnte,

ein

dunkles »Netzwerk« exkommunistischer Seilschaften sabotiere seine Regierungsarbeit (weswegen dann ın der Regierungsperiode 2005-2007 ständig neue »Geheimagenten« enttarnt werden mussten). Mehrheiten können sich wie verfolgte Minderheiten verhalten, und Repräsentanten solcher Mehrheiten, die durchaus ein Interesse daran haben können, sich als Opfer zu stilisieren und so

von eigenen Misserfolgen abzulenken, können sich diese Selbstwahrnehmung zunutze machen. Polarisieren, die politische Auseinandersetzung extrem moralisieren (in den Augen von Chävez war George W. Bush niemand Geringerer als der Teufel in Person), immer neue Feinde entdecken: Das tun Populisten sowohl in der Opposition als auch dann, wenn sie an der Macht sind; Chävez beispielsweise deklarierte während 68

eines von der Opposition initiierten Generalstreiks ım Jahr 2002, hier gehe es »nicht darum, wer für und wer gegen Chavez« sei, sondernum einen »Kampf der Patrioten gegen die Feinde der Heimat«.°® Kaczynski, wegen seines Versuchs, das politische System zugunsten seiner Partei umzugestalten, seitens der EU unter Druck, attackierte inländische Kritiker als »Polen der schlimmsten Sorte«,

ihnen stecke der Verrat am Vaterland praktisch »in den Genen«.,

Die

Krise

wird

zum

Dauerzustand

stilisiert,

Politik findet nur noch im Modus des permanenten Belagerungszustandes statt.”” Dazu passt, dass Populisten wie Chävez und der ecuadorianische Präsident Raffael Correa das Regieren als eine Art von nie endendem Wahlkampf verstehen (was allerdings auch für manchen demokratischen Politiker gilt). Correa begreift sein Amt denn auch als das eines »Motivators«.!° Populisten verbinden diese Strategie mit zum Teil wöchentlich inszenierter Volksnähe: Viktor Orbän gibt jeden Freitag ein Interview im ungarischen Radio; Hugo Chävez hatte die berühmte Talkshow Al6ö Presidente, bei der einfache

Bürger anrufen und dem Präsidenten von ihren Sorgen und Nöten berichten konnten. Ebenfalls anwesenden Regierungsmitgliedern wurden dann scheinbar spontane Anweisungen erteilt (dem Verteidigungsminister befahl Chävez einmal vor laufender Kamera, zehn Panzerbatail-

lone an die Grenze zu Kolumbien zu schicken). Regelmäßig wurden bei dieser Gelegenheit auch live soziale Wohltaten verkündet;

die Show

dauerte

manchmal

bis

zu sechs Stunden. Correa und Morales haben heute ähnliche TV-Sendungen.!! Man mag solche Dinge als Folklore abtun. Entschei69

dend ist, dass Populisten ganz bestimmte Herrschaftstechniken anwenden beziehungsweise dass sie einen ganz eigenen Regierungsstil pflegen — und dass dieser im Einklang mit ihrem moralischen Alleinvertretungsanspruch steht. Drei Aspekte dieses real praktizierten Antipluralismus stechen besonders hervor: die Vereinnahmung des gesamten Staates; Loyalitätsbeschaffung durch Massenklientelismus; Unterdrückung der Zivilgesellschaft und, wenn möglich, der Medien. An sich nichts

Populisten nehmen den Staatsapparat in Besitz und platzieren ihre Partei- und Gefolgsleute in Positionen, die normalerweise neutrale Beamte innehaben sollten. Man denke nur an Viktor Orbän und seine Fidesz-Partei ın Ungarn oder an Jarostaw Kaczyniski mit seiner Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) in Polen. Eine der ers-

ten Maßnahmen bestand jeweils darin, das Beamtengesetz zu ändern, damit man loyale Mitstreiter in den Behörden unterbringen konnte. Die Regierungen versuchten auch möglichst bald, die Justiz und die Medienaufsicht unter ihre Kontrolle zu bringen, um zu verhindern, dass die Journalisten weiterhin gegen die Interessen der Nation agieren würden (im Fall Polens gerieten auch die Geheimdienste sofort in den Fokus der neuen Regierung, man hatte offenbar weiterhin Angst vor dem »Netzwerk«), Wer diese Maßnahmen kritisierte, wurde als egoistischer Vertreter der alten, korrupten Eliten gebrandmarkt oder gleich als Verräter an der Nation beschimpft. Sicherlich findet sıch dieser Imperativdes »Occupy the State!« auch bei anderen politischen Strömungen, und in der Tat haben Politikwissenschaftler schon vor längerer Zeit darauf hingewiesen, dass Parteien in so gut wie allen Demokratien immer mehr mit dem Staat verschmelzen.!®? Die Besonderheit liegt darin, dass Populisten sich offensiv zu einer ansonsten eher anrüchigen Praxis bekennen können. Sie sind ja ihrem Selbstbild nach die einzigen legitimen Vertreter des Volkes - und warum sollte das Volk seinen Staat nicht in Besitz nehmen und die Vollstreckung seines authentischen Willens durch das richtige Personal sicherstellen? Wer als neutraler Beamter auf Verfahrensregeln pocht oder als Richter auf der Einhaltung von Verfassungsgrundsätzen besteht, kann dann schnell als antidemokratisch hingestellt werden (wobei den Populisten überdies natürlich die normativ nicht ganz so starke Rückzugsoption offensteht, darauf hinzuweisen, dass die anderen ja auch so agieren; genau das taten sie denn auch in

79

71

Besonderes,

könnte

man

da

einwenden,

das

versucht

schließlich jeder umsichtige Architekt eines autoritären Regimes. Das Spezielle an Populisten ist jedoch, dass all diese Maßnahmen sich mit den moralischen Prinzipien des Populismus begründen lassen — und deswegen ganz offen und im Namen scheinbar demokratischer Ideale umgesetzt werden können. Populisten müssen ihre Praktiken nicht verstecken — und gleichzeitig können sie die Priämie

auf

den

Titel

»Demokratie«

einstreichen,

der

trotz aller Probleme noch immer der begehrteste normativ-politische Begriff weltweit ist.

Drei populistische Herrschaftspraktiken (moralische Rechtfertigungen inklusive)

Polen und Ungarn). So wird durch eine Revolution von oben de facto ein Fidesz- beziehungsweise ein PiS-Staat geschaffen. Auf eine ähnliche Logik stößt man oft bei einer Strategie zur Sicherung von Macht, die Politikwissenschaftler als »Massenklientelismus« bezeichnen (in Ecuador und Venezuela wurde diese vom Öl-Boom begünstigt, ja vielleicht sogar erst ermöglicht; in Europa können entsprechende Regierungen EU-Fördergelder als funktionales Äquivalent eines wertvollen, kostenlos zur Verfügung stehenden

Rohstoffes

einsetzen, um

sich die Loyalıität

der Bürger zu sichern).'°® Dabei geht es zweifelsohne um einen machtpolitischen Kuhhandel: politische Unterstützung gegen Vergünstigungen für die gefügigen Bürger (Pöstchen, bevorzugte Behandlung in Behörden usw.). Auch hier gilt, dass Populisten offensiv und guten Gewissens auf eine Strategie setzen können (Jörg Haider verteilte einst öffentlich Euro-Scheine an seine Anhänger), die andere Politiker eher verschämt anwenden. Aus Sicht der Populisten gehören ja nur ganz bestimmte Bürger zum wahren Volk, und diese verdienen dann alle nur erdenklichen Wohltaten. Indem man eine bestimmte Klientel bevorzugt (und die anderen ausschließt), schafft man sich eine loyale Machtbasis und zugleich ein Kollektiv, welches dieses ideale Volk verkörpert: die sogenannte »Boliburguesfa«, die von Chävez’ Bolivarischer Revolution ökonomisch profitierte, die neue anatolische Mittelschicht, die Erdogan immer wieder Mehrheiten an den Wahlurnen sichert, oder bestimmte Gruppen in Ungarn, die mit wirtschaftlichem Erfolg, patriotischer Gesinnung, häufigen Kirchenbesuchen und Kinderreichtum dem or72

bänschen Leitbild einer »christlich-nationalen« Kultur entsprechen.!® Daraus folgt auch, dass Enthüllungen über Klientelismus und Korruption den Populisten nicht automatisch schaden. Aus Sicht ihrer Unterstützer haben die Populisten ja alles für sıe getan.'° Wohl nur solässt sich erklären, dass Erdogan trotz erdrückender Indizien von seinen Wählern auch weiterhin als moralische Führungsfigur verehrt wird oder dass der »Feschist« Haider und seine FPÖ in Kärnten eine ganze Reihe von Skandalen relativ unbeschadet überstanden (Ähnliches gilt für Umberto Bossi und die Lega Nord). Dabei besteht eine Ironie gerade darin—so eine weitere kluge Beobachtung von Karin Priester —, dass Populisten am Ende genau das tun, was sie der alten »Politiker-Kaste« am heftigsten vorgeworfen haben, als sie selbst noch in der Opposition waren.!® Die neue Kaste macht dann genau dasselbe — und das auch noch mit einem offensiven moralischen Anspruch., Damit nicht genug. Wenn sich aus der Zivilgesellschaft heraus (politisch noch so folgenloser) Widerstand gegen regierende Populisten regt, ist es für diese von entscheidender symbolischer Bedeutung, diese Art der Opposition zu diskreditieren. Ansonsten könnte es ja so aussehen, als repräsentierten sie doch nicht das ganze Volk.!?7 Deshalb insistieren populistische Machthaber wie Wladimir Putin oder Viktor Orbän

stets darauf, kritische

Teile der Zivilgesellschaft würden von ausländischen Agenten ferngesteuert. Dies erklärt die harschen Maßnahmen gegenüber Nichtregierungsorganisationen, die beispielsweise in Ungarn tatsächlich von ausländischen Staaten wie etwa Norwegen, zweifelsohne Teil einer li73

beralen Achse des Bösen, unterstützt werden, aber den-

noch unabhängig sind. So schafft sich ein populistisches Regime letztlich genau das Volk, in dessen Namen es immer bereits gesprochen und agiert hat: Zum FideszStaat und PiS-Staat kommen noch ein Fidesz-Volk und ein PiS-Volk.'° Populismus wird zur Selffullfilling Prophecy. Alle drei Herrschaftstechniken (Inbesitznahme des Staates, Klientelismus, Diskreditierung jeglicher Opposition) sind von etwas gekennzeichnet, das bisweilen als »diskriminierender Legalismus« bezeichnet wird. Gegenüber politischen Gegnern wird das Recht bis in die feinsten Details angewandt und, wann immer möglich, buchstabengetreu ausgelegt; gegenüber den politisch Genehmen gilt »normales« Recht beziehungsweise man versucht, Ausnahmeregeln und Vergünstigungen festzuschreiben. Oder wie es in einer englischen Formulierung schön knapp heißt: »Everything for my friends; for my enemies, the

minimiert dies die Kosten der populistischen Herrschaftsstrategie.!!! Wahlen selbst können auch weiterhin formell frei seiın — niemand wirft Fidesz oder Erdogans AKP vor, dass sie Wahlzettel fälschen —, aber frei heißt in diesem

Fall nicht unbedingt fair:!!? Wenn die meisten Medien die Regierung unterstützen, wenn Oppositionelle kaum Möglichkeiten haben, Kritik zu artikulieren und diese dann auch effektiv zu verbreiten, dann leidet hier nicht

»nur« der Liberalismus, wie es die suggestive Formel von der »illiberalen Demokratie« nahelegt.‘!? Schließlich werden für die Demokratie konstitutive Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt oder punktuell entzogen, mit dem Ergebnis, dass die Demokratie an sıch Schaden nimmt. Man sollte also im Gegensatz zu Kritikern, die behaupten, Ungarn unter Orbän

man sich mit Manipulationen, die für Außenseiter nicht ohne Weiteres festzustellen sind, an der Macht halten kann,

oder Polen unter Kaczyüiski seien wieder zum Totalitarismus übergegangen, klar sagen, dass auch populistische Regime an einigen demokratischen Institutionen festhaltenund dass die Rechtsstaatlichkeit nicht über Nacht wegbricht (eher schon greift hier Ernst Fraenkels berühmte Formel vom Doppelstaat, in dem die Regeln zwar weitgehend befolgt werden, in dem das Regime jedoch jederzeit willkürliche politische Maßnahmen ergreifen kann).!!* Allerdings sollte man den Populisten nicht den Gefallen tun, ihnen das Etikett »Demokratie« unwidersprochen zu belassen, da man ihnen sonst ohne Not eine legitimatorische Steilvorlage liefern würde. Dass sie oftmals wirklich populär sind: keine Frage. Orbän und Putin würden vermutlich auch ohne irgendwelche Manipulationen Wahlen gewinnen. Aber das heißt nicht, dass es sich institutionell um funktionierende Demokratien handelt. Ein

74

75

law«.!°

Nun kann man sicherlich fragen, warum Populisten Wahlen und den Rechtsstaat nicht gleich ganz abschaffen und sich stattdessen, vor allem in Anlehnung an das Vorbild

Mussolinis,

zu

demokratisch

legitimierten

Herr-

schernparexcellence erklären.!!? Die Gründe (meine Überlegungen sind hier zugegebenermaßen eher spekulativer Natur) erweisen sich wahrscheinlich vielfältig. Zum einen führt eine eindeutige Abkehr von der Demokratie immer noch zu hohen Verlusten an internationalem Ansehen — wenn auch nicht immer zu effektiven Sanktionen. Wenn

Begriff wie »defekte Demokratie« ist insofern besser geeignet, als er — anders als der Terminus »illiberale Demokratie« — nicht suggeriert, dass es sich lediglich um eine bestimmte legitime Spielart der Demokratie handelt, oder dass man, anstatt zivile und bürgerliche Rechte als »gleichursprünglich« (Habermas) zu verstehen, diese Rechte nach Belieben gegeneinander ausspielen kann.éj %Zudem Jässt sich so der fatale Eindruck einer Art normatıven Arbeitsteilung vermeiden, wonach die Nationalstaaten Demokratie betreiben, während im Gegensatz die EU (und andere internationale Organisationen) für den Liberalismus zuständig sind; ein expliziter Antiliberaler wie Orbän könnte sich in diesem Fall ja sogar noch dafür bedanken, dass er in diesem Schema die Demokratie zugeschlagen bekommt).!!® Damit soll im Übrigen nicht behauptet werden, »illiberale Demokratie« sei stets ein Widerspruch in sich. Zum Beispiel hätten sich viele Christdemokratien während des 19. und 20. Jahrhunderts als Anhänger einer ılliberalen Demokratie bezeichnet und nichts auf ihren strammen

Antiliberalismus

kommen

lassen (man

denke

bei-

spielsweise an den enorm einflussreichen katholischen Philosophen Jacques Maritain, einen der Autoren der UN-Menschenrechtserklärung).!!7 Damit war allerdings nicht gemeint,

dass

Christdemokraten,

einmal

an der

Macht, Andersdenkende (und Andersgläubige) marginalisieren oder gar direkt unterdrücken wollten. Sie waren stolze Antiliberale, weil »Liberalismus« für sie gleichbedeutend war mit Individualismus, Materialismus and

Atheismus. Der Gegensatz war hier also nicht der zwischen liberalen Demokraten, 76

die verwundbare

Minder-

heiten respektieren, und illiberalen Demokraten, welche de facto eine Tyrannei der Mehrheit etablieren wollen;

vielmehr ging es um unterschiedliche philosophische Grundlagen und Rechtfertigungen der Demokratie. Der Respekt, den die Demokratie einzelnen Bürgern als Freie und Gleiche in der Gesellschaft schuldet, wurde von kei-

ner Seite infrage gestellt, ebenso wenig die Anerkennung eines Wahlvolkes als unaufhebbar pluralistisch (auch wenn der Weg zu dieser Anerkennung beispielsweise seitens katholischer Denker oft lang und beschwerlich war). Insofern ist es Augenwischerei, wenn beispielsweise Viktor Orbäns Bekenntnis, einen »illiberalen Staat« errichten zu wollen, von Fidesz-Intellektuellen dahingehend

umgedeutet wird, Orbän schließe nur an die Tradition der europäischen Christdemokratie an.!!8

»Populistische Verfassungen«: ein Widerspruch in sich? Populistische Regime haben ganz allgemein ein Interesse daran, ihre Macht zu perpetuieren - und immer eine Rechtfertigung dafür in petto, denn der vermeintliche eindeutige Volkswille bestehe ja darin, dass die Populisten das Volk repräsentieren sollen. Wenn man diese Logik einmal begriffen hat, ist es auch nicht mehr verwunderlich, dass Populisten versuchen, ausgehend von ihren Prinzipien eigene Verfassungen zu schreiben. Erstaunlich ist dieser Gedanke allerdings immer noch für diejenigen, die meinen, Populisten seien gegenüber allen politischen Institutionen stets feindlich eingestellt und wollten ihren dynamischen Bewegungscharakter bewahren. Wer 77

Populismus allein für eine Mobilisierungsstrategie hält,

wirdes für unwahrscheinlich erachten, dass Populistensich in irgendeiner Weise freiwillig institutionellen Zwängen — denn das heißt Verfassung ja letztlich — unterwerfen. Mittlerweile sollte jedoch deutlich geworden sein, dass die Karikatur der Populisten als prinzipielle »AntiInstitutionalisten« mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat - und zwar nicht einmal im Lateinamerika der caudillos, wo die Vorstellung charismatischer Führer, die sich auf Palastbalkons von den Massen bejubeln lassen, lange Zeit noch am ehesten plausibel war, Populisten können nicht nur Verfassungen kreieren, sie wollen es auch. Nur wollen sie eben eine ganz bestimmte Art von Verfassung, die mit ihren primär antipluralistischen Grundprinzipien übereinstimmen muss.!!? Konkret heißt dies, dass eine gewählte Regierung sich als einzig legitimen Repräsentanten des Volkes und damit auch als einzig legitime verfassunggebende Gewalt darstellen wird. Chävez etwa manipulierte die Wahlverfahren so, dass sie ıhm eine politisch genehme verfassunggebende Versammlung bescherten. Die Fidesz-Regierung in Ungarn ließ Opposition und Zivilgesellschaft bei der parlamentarischen Ausarbeitung einer neuen Verfassung im Jahre 2011 völlig außen vor, eine Tatsache, die auch von internationalen Beobachtern immer wieder heftig kritisiert wurde.!? Zwar gab es einen Fragebogen, der an alle Haushalte verschickt wurde; die Ergebnisse wurden jedoch nie bekannt gemacht (Orbän jedenfalls schlussfolgerte aus der Umfrage, die Bürger wollten nicht nur Rechte,

ten die Bürger ja bereits bei den regulären Parlamentswahlen im April 2010 eine »Revolution an den Wahlurnen« vollzogen und Fidesz beauftragt, eine neue Verfassung zu entwerfen (hier stoßen wir wieder auf die Idee eines imperativen Mandats, das eine Regierung scheinbar vor allen kritischen Nachfragen schützt).!?!! Orbän äußerte denn auch klipp und klar: Das Volk hat dem ungarischen Parlament [...] guten Rat gegeben, eine gute Anweisung erteilt [die Verfassung so auszuarbeiten], die es auch befolgt hat. In diesem Sinne richtet sich Kritik an der ungarischen Ver-

fassung [...] nicht an die Regierung, sondern an das ungarische Volk. [...] Anders als sie uns glauben machen wollen, hat die Europäische Union kein Problem mit der Regierung [...]; die Wahrheit ist: Sie greifen Ungarn selbst an.!??

Diese Gleichsetzungen sind atemberaubend. Und für die Analyse äußerst hilfreich, immerhin führen sie uns die populistische Logik in ihrer reinsten Form vor Augen. So gelang es denn einer Partei, die an den Urnen eigentlich nur etwas weniger als 53 Prozent der Stimmen (bei einer Wahlbeteiligung von rund 65 Prozent; 2,7 von 8 Millionen Wahlberechtigten stimmten für Fidesz) erhalten, wegen des nichtproportionalen Wahlsystems jedoch zwei Drittel der Parlamentssitze errungen hatte, im Alleingang, eine neue Verfassung zu schreiben. Sowohl Chävez als auch Orbän schufen etwas, das Dieter Grimm als »ex-

dum über die neue Verfassung abgehalten— angeblich hat-

klusive Verfassung« bezeichnet hat, also eine Verfassung, die einer Partei (oder Koalition) dient und andere weitestgehend ausschließt.!? Orbän betonte immer wieder, die Vorgängerverfassung sei gar nicht die einer genuinen Demokratie gewesen, Sowohl Orbän als auch sein gelehriger Warschauer

78

79

sondern

auch

Pflichten).

Zudem

wurde

kein Referen-

Schüler Kaczyniski suggerieren, die Revolution von 1989 sei auf halbem Wege steckengeblieben oder von alten kommunistischen Eliten korrumpiert worden, Es bedürfe eines starken politischen Zentrums, das den Übergang zur wahren Demokratie gestalten könne, und letztlich einer neuen Republik (wobei die Bezeichnung »Republik« zum ı. Januar 2012 aus dem offiziellen Namen des Landes verschwand, weil die Fidesz-Intellektuellen »Republik« mit Staatssozialismus assoziierten). Kaczyniskihingegen strebt bekanntlich eine »Vierte Republik« an, und Chävez gelang es relativ rasch, im Zuge der als »Bolivarische Revolution« deklarierten Ausarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung eine »Bolivarische Republik« zu etablieren.!* Und doch kann man fragen, ob eine Verfassung als System von Regeln und Beschränkungen nicht doch ein prinzipielles Problem für Populisten darstellt. Diese wollen ja angeblich einen Volkswillen direkt in Politik umsetzen, und der Volkswille kann sich immer wieder ändern.

Würde ein Mehr an Handlungsfreiheit nicht eher dem »antiinstitutionellen« und »antisystemischen« Charakter populistischer Bewegungen entsprechen, die Ja — wie der Name schon sagt — dynamisch agieren möchten?‘? Nicht unbedingt — wenn man davon ausgeht, dass die Verfassung einem angeblich einheitlichen und ursprünglichen Volkswillen eine dauerhafte Form verleihen soll. Auch hier greift wieder die Logik, wonach allein der populistische Verfassungsgeber diesen Volkswillen repräsentieren kann - de facto aber eine symbolische Repräsentationsleistung vornimmt, die mit den empirisch vorhandenen Vorstellungen einer Mehrheit der Bürger nicht unbedingt 80

etwas zu tun haben muss. Noch einmal das Beispiel Ungarn: Die Fidesz-Verfassung kodifiziert ein ethnisches Selbstverständnis der ungarischen Nation, privilegiert das Christentum und schreibt ein sehr spezifisches (aus Sicht der Kritiker revisionistisches, die Beteiligung Ungarns am

Holocaust

ausblendendes)

Narrativ über die

Geschichte des 20. Jahrhunderts fest. (In einem interessanten Kontrast steht dazu die polnische Verfassung von 1997, die in der Präambel den Pluralismus betont und gerade kein exklusiv katholisches Selbstverständnis der polnischen Nation fixiert.) Zu dieser symbolischen Verengung durch eine exklusive Verfassung im grimmschen Sinne kam in Ungarn der Versuch, den politischen Gestaltungsspielraum zukünftiger Mehrheiten sehr stark einzuschränken. An sich ist das nicht unbedingt verwerflich, schließlich stellen solche Einschränkungen eine der normativen Pointen von Verfassungen an sich dar. Das Besondere war in diesem Fall, dass Fidesz vielen politischen Entscheidungen, die normalerweise Teil der tagtäglichen politischen Auseinandersetzung wären, Verfassungsrang verlich (und dass man vom Verfassungsgericht monierte Gesetze kurzerhand in die Verfassung aufnahm und so den richterlichen Entscheidungen entzog). Zudem wurden Fidesz-nahe Personen in nominell überparteiliche Ämter (etwa an die Spitze der Medienaufsicht) gewählt und mit Amtszeiten ausgestattet, die weit über eine reguläre Legislaturperiode hinausgehen. Bei all diesen Personen handelt es sich um potenzielle »Veto-Spieler«, die einen grundsätzlichen politischen Richtungswechsel verhindern oder im Zweifelsfall Neuwahlen

auslösen könnten, sollte Fidesz einSI

mal nicht mehr die Regierung stellen. Die beiden letzten Punkte sind entscheidend: Selbst wenn die Regierungspartei eine Wahl verlieren würde, käme dies vor dem Hintergrund einer populistischen Verfassung nicht automatisch dem totalen Machtverlust gleich. Der eine authentische Volkswille — wie von Fidesz im Verfassungsprozess 2011 interpretiert — würde auch weiterhin konstitutionell geschützt. Verfassungen dienen gewöhnlich dazu, den Pluralismus zu bewahren und Konflikte zwischen den Parteien sowohl zu ermöglichen als auch zu begrenzen. Populisten, die immer antipluralistisch sind, versuchen diese Funktion einer Verfassung auszuhebeln. Dies heißt nicht, dass die Verfassung immer in ihrem Sinne funktionieren wird. Aber zumindest sind schwere Verfassungskonflikte vorprogrammiert, wenn Nicht-Populisten eine Wahl gewinnen. Man denke an die Situation nach dem Wahlsieg des venezolanischen Oppositionsbündnisses MUD (Mesa de la Unidad

Democrätica,

etwa »Runder Tisch

der demokratischen Einheit«) im Dezember 2015, das sogar eine verfassungsändernde Mehrheit im Parlament erreicht hat. Präsident Maduro drohte zunächst, ohne Parlament (aber mit Militär) zu regieren; zudem setzte

er alles daran, die Legitimität von drei Abgeordneten anzufechten (und so eine verfassungsändernde Mehrheit zu verhindern); die Macht der Exekutive - von Chävez in »seiner« Verfassung bereits enorm erweitert — wurde noch einmal ausgedehnt, so dass Maduro nun ohne Beteiligung des Parlaments über die Einsetzung und Abberufung von Direktoren der Zentralbank entscheiden kann;!?*

Kommunen« eine Art Gegenparlament aufzubauen (nachdem die »Bolivarischen Zirkel«, vermeintlich basisdemokratische Institutionen, schon unter Chävez erheblich an

Bedeutung verloren hatten).!?” MUD wiederum möchte unbedingt ein Referendum über die Absetzung Maduros auf den Weg bringen. Kurz gesagt: Die Verfassung wird vom Rahmen zum Inhalt, ja zum Spielball des politischen Kampfes. Ein derartiges Szenario ist für populistische, exklusive Verfassungen sehr wahrscheinlich, so es den populistischen Kräften nicht gelingt, ihre vermeintlich wahre Volksherrschaft ganz auf Dauer zu stellen.!?

Statt populistischer Verfassungen: partizipative Verfassungspolitik Folgt aus der bisherigen Analyse, dass es für das, was in den USA oft als »populist constitutionalism« bezeichnet wird, normativ gar keinen Platz gibt?!? Muss man alle,

die im Namen von »People Power« auf erst einmal geduldig darüber belehren, einer populistischen Illusion hingeben, mokratisch klingt? Dass, wie Helmut

die Straße gehen, dass sie sich nur die lediglich deDubiel es einmal

sehr schön formulierte, das Volk immer nur auf dem Schreibtisch von Staatsrechtslehrern souverän sei, die den

Akt der Schaffung einer verfassungsmäßigen Ordnung nachträglich konstruieren?!? Wussten also schon die Demonstranten auf den Straßen Leipzigs im Herbst 1989 nicht, was

sie taten, als sıe verkündeten,

sie seien das

schließlich versuchte er, in Form eines »Parlaments der

Volk? Konnte es in Ägypten von Anfang an nur böse enden, als die Volksmassen auf dem Tahrir-Platz Slogans

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riefen wie: »Eine Hand«, »Eine Gesellschaft« oder auch

»Eine Forderung« (wobei es auch sehr kreative Forderungen gab wie beispielsweise: »Wir wollen einen Präsidenten, der sich nicht die Haare färbt«)?!! Sollte man in solchen Fällen dann nicht doch lieber vor Ort westliche politische Bildungsarbeiter einsetzen, damit sie den Demonstranten erklären, dass sie leider sowohl die De-

mokratie als auch den Sinn einer Verfassung als notwendigerweise pluralistisch falsch verstanden haben? Nichts, was bisher gesagt wurde, soll Bürger davon abhalten, existierende Verfassungen zu kritisieren und vor allem ungerechte Formen der Exklusion politisch zu skandalisieren. Die existierenden Verfahren und Kriterien für politische Inklusion können immer hinterfragt werden - wer das ın Zweifel zieht, sollte sich daran erin-

nern, welche moralischen und politischen blinden Flecken, die uns heute als ungeheuerlich, ja eigentlich unbegreiflich erscheinen, in der Vergangenheit in politisch durchaus selbstzufriedenen Zeiten kaum thematisiert wurden. Nur: Diese Art von Kritik muss nicht notwendigerweise die Form eines »Wir - und nur wir — sind das Volk« annehmen. Ja, sie darf es nicht. Wer meint, sıe müs-

se es, um grundlegende Änderungen durchzusetzen, kann seinerseits natürlich ebenfalls auf die Geschichte verweisen: So deklarierte der Dritte Stand der französischen Generalstände sich bekanntlich im Sommer 1789 zur Nation an sich. Nur: De facto waren die anderen Stände dabei mit eingeschlossen; zumindest in der Frühphase der Revolution wurden Adelige und Angehörige des Klerus

an einer neuen Verfassung mitwirken. Zum anderen war das Ancien R6egime alles andere als eine Demokratie: Unter solchen Verhältnissen darf eine Mehrheit natürlich mehr oder weniger deutlich darauf hinweisen, dass sie von der Politik ausgeschlossen ist. Nichts rechtfertigt jedoch die Annahmen, dass in einigermaßen erträglichen demokratischen Verhältnissen allein die Logik eines Pars-pro-toto-Arguments wichtige Veränderungen bewirken kann. Wer meint, ohne die Gleichsetzung von plebs und populus — also von »geme1nem Volk« und »Volk als Ganzem« — sei in der politischen Auseinandersetzung nichts zu machen, muss bitte schön auch erklären, warum unsere Situation mit der des

vorrevolutionären Frankreichs oder der alten römischen Republik vergleichbar sein soll.'*? Es ist schon fast banal, darauf hinzuweisen, dass Kämpfe

um Anerkennung und Inklusion in der Vergangenheit keineswegs auf einem moralischen Alleinvertretungsanspruch beruhten - und dass es vielmehr häufigeinfache Bürger als Verfassungsinterpreten waren, welche die nicht eingelösten Versprechen einer Verfassung thematisiert und auf ihre Verwirklichung gepocht haben.! Die entscheidende Logik war dabei nicht: »Wir sind das Volk«, sondern »Wir sind auch das Volk!« (bzw.: »Wir repräsentieren auch Teile des Volks«). Wie oben bereits erläutert,

ermöglicht eine Demokratie die Vervielfachung der Ansprüche auf Repräsentativität (wobei die Ansprüche eben empirisch irgendwann eingelöst werden müssen).!*

nicht automatisch als Feinde der Nation betrachtet, sie

»Wir sind auch das Volk« heißt nun nicht, dass man ein rein additives Verständnis von Inklusion vertreten muss,

konnten vielmehr, wenn sie ihre Privilegien aufgaben,

wonach immer nur Bestehendes neuen Gruppen sozusa-

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gen de haut en bas zugestanden wird. Der Kampf um Anerkennung kann ein Verfassungsverständnis auch als Ganzes transformieren (man denke an den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Welle des Feminismus: Zuerst wurden bestehende Rechte auch auf Frauen ausgedehnt, dann jedoch wandelte sich das Verständnis von Rechten an sich).! Idealerweise ermöglicht eine Verfassung eine endlose Kette von Ansprüchen (verstanden als claıms) auf Inklusion oder auch Transformation. Ein ursprüngliches »Wir das Volk« (wobei der »Ursprung« bekanntlich immer fiktiver Natur ist) verschwindet nicht in der Verfassung oder im alltäglichen politischen Prozess, sondern bleibt latent. Allerdings nicht im Sinne eines empirisch vorhandenen »Makro-Subjekts« außerhalb der Verfassungsstrukturen, sondern als Möglichkeit, die Frage nach dem »Volk« immer wieder neu zu stellen und zu beantworten. In den Worten Claude Leforts: »Die Demokratie ermöglicht die Erfahrung einer undefinierbaren, unkontrollierbaren Gesellschaft, in welcher es heißt, das Volk sei souverän.

Aber die Identität des Volkes wird immer hinterfragbar sein, wird auf immer latent bleiben.«136 »Volk«, das wussten schon die französischen und ame-

rikanischen Revolutionäre, ist ein gefährliches Wort. Adrien Duquesnoy empfahl 1791 in der Zeitschrift L’Amiı des patriotes, den Gebrauch des Wortes »Volk« durch die Bürger streng zu regulieren.!?” Der spätere Präsident John Adams machte sich keine Mühe, seine Furcht vor den Konsequenzen einer unkontrollierten Verwendung des Volksbegriffs zu verhehlen:

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[...] es ist gefährlich, eine so fruchtbare Quelle von Kontroversenund des Streits zu öffnen [...]. Man käme nie zu einem Ende, Neue Ansprüche würden laut. Die Frauen werden das Wahlrecht verlangen. Burschen im Alter zwischen zwölf und einundzwanzig werden den Eindruck haben, ihre Rechte würden nicht angemessen berücksichtigt, und jeder Mann, der auch nur über einen Viertelpenny verfügt,

wird verlangen, dass seine Stimme

bei allen Angelegenheiten, die

den Staat betreffen, das gleiche Gewicht hat wie die alleranderen auch.

Es würde alle Unterscheidungen verwischen oder auflösen und alle Ränge auf ein gemeinsames Niveau herabziehen.«!

Ja, der Volksbegriff — sogar ein ganz inklusiver — konnte auch von denjenigen in Anschlag gebracht werden, die die große politische Revolution der Moderne letztlich verlieren sollten. So erklärte Bismarck 1873 im Reichstag: Zum Volk gehören wir alle, ich habe auch Volksrechte, zum Volke ge-

hört auch Seine Majestät der Kaiser; wir alle sind das Volk, nicht die Herren, die gewisse alte, traditionell liberal genannte und nicht immer liberal seiende Ansprüche vertreten. Das verbitte ich mir, den Namen

Volk zu monopolisieren und mich davon auszuschließen!!?®

Reinhart Koselleck bemerkte dazu trocken: »Bismarck lieferte eine Ideologiekritik, die er aus dem totalen Volksbegriff unmittelbar ableiten konnte«.!* Somit ermöglicht es die Demokratie also, die Frage nach dem »Volk« immer wieder neu zu stellen — was nicht heißen soll, dass Kämpfe um Inklusion immer gut ausgehen.!*! Bei Weitem nicht. Aber die Demokratie ist dennoch zumindest ein politisches System, das ständig legitimen Dissens produziert und in dem man unter Berufung auf die Grundprinzipien des eigenen Systems die ungenügende Verwirklichung dieser Ideale anprangern kann. In den Worten Sheldon Wolins: »Die Demokratie war und ist das einzige politische Ideal, das seine eigene 87

Unfähigkeit, Gleichheit und Inklusion zu verwirklichen,

verdammt.« Insofern leidet die moderne Demokratie an einer permanenten Repräsentationskrise; es wird immer gute Gründe geben, Interessen und Identitäten der Bürger in ihrer gegenwärtigen Form anzufechten.!® In diesem Sinne kann die Demokratie aber zumindest Becketts berühmte Worte aus Worstward Ho für sich in Anspruch nehmen: »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.« Es sind demnach gerade die Populisten, welche die für die Demokratie konstitutive offene Frage nach dem Volk ein für alle Mal abschließend beantworten wollen. Die Kette von Ansprüchen auf Inklusion und Partizipation wird im Zweifelsfalle von den Populisten abgebrochen, da sie Ja behaupten, definitiv feststellen zu können: Wir — und nur wir — repräsentieren das wahre Volk.!® Und insbesondere weil diese Repräsentation symbolisch aufgeladen und spezifisch ist — Stichwort »real Americans«

—, kann

es schwer

sein, diesen Repräsentations-

anspruch zu bestreiten. Im Lichte dieser Überlegungen können wir die Szenen, die sich 1989 auf den Straßen Leipzigs und 2011 auf dem Kairoer Tahrir-Platz abspielten, dann wie folgt beurtei-

len: »Wir sind das Volk« war gerade kein populistischer Anspruch, sondern eine effektive Art, den in gewisser Weise populistischen Anspruch der Einheitsparteiı SED bzw. Mubaraks anzufechten (ich sage »in gewisser Weise«, weil weder die Staatssozialisten noch der Diktator

das Volk als Quelle der Moral betrachteten; was sıe jedoch mit den Populisten teilten, war der Alleinvertretungsanspruch). In eindeutig autoritären Regimen ist »Wir 88

sind das Volk« somit ein demokratischer und potenziell revolutionärer Ausspruch. Und in populistischen Regimen ist jeder Versuch, den Alleinvertretungsanspruch der Populisten infrage zu stellen, für diese eine enorme Gefahr. Man denke etwa an den »Stehenden Mann« auf dem Taksım-Platz in Istanbul (eine politische Geste, die zu einem weltweiten Trend werden sollte, wie man im Internet unter #duranadam nachvollziehen kann). Der

Mann umging das Demonstrationsverbot, denn er stand ja einfach nur alleine da und sagte nichts (wobei es ihm später viele andere gleichtaten und stundenlang auf dem Platz ausharrten, ohne verbal — soweit man das erkennen

konnte —- irgendwelche politischen Äußerungen zu tätigen; sie wandten sich allerdings demonstrativ dem Bild Atatürks zu).'** Dieser Protest zielte unter anderem dar-

auf, Erdogans Behauptung, die Auseinandersetzungen um den Gezi-Park seien von ausländischen Agenten gesteuert, die Gegner des Regimes seien alle Vagabunden, Gauner oder Söldner ausländischer Mächte etc., empirisch infrage zu stellen (die Protestierenden fochten Erdogans Alleinvertretungsanspruch denn auch an mit Plakaten wie »Wir sind keine politische Partei, wir sınd das Volk«; und als Beweis, dass der Protest viele Bürger einte,

schlossen sich gar die Fans der rivalisierenden Fußballklubs Fenerbahce, Galatasaray und Besiktas zusammen). !® Erdogan setzte in dieser Situation auf eine erzpopulistische Herrschaftstechnik, indem die Regierung versuchte, Erdem Gündüz — so der bürgerliche Name des »Stehenden Mannes« — zu diskreditieren. Gündüz berichtete ım Gespräch mit einer deutschen Zeitung:

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Ein regierungsnaher Journalist, der später zu Erdogans Berater er-

nannt wurde, hat mich beschuldigt, ich sei ein Agent oder ein Mitglied

3. Vom demokratischen Umgang mit Populister

von Otpor, der serbischen Bürgerbewegung, die den Sturz von Milo-

sevic eingeleitet hat. Und Egemen Bagis, der Minister für Europa-Angelegenheiten, hat über Twitter verbreitet, ich habe vor meiner Aktion

drei Tage in der deutschen Botschaft verbracht. Dabei bin ich dort nie gewesen. '

Still zu stehen reichte aus, um den populistischen Alleinvertretungsanspruch zu erschüttern und in einer populistischen Regierung so etwas wie Panik auszulösen.

»It’s not a crisis, I just don’t love you anymore.« Slogan der spanischen Indignados, Juli 201 r »Es ist ein Wir, dem die Wirklichkeit nicht entspricht, Wir Deutsche, das ist die Fiktion einer Gemeinsamkeit

zwischen Handarbeiternund Professoren, Schiebernund Idealisten, Dichtern und Kinoregisseuren, die es nicht

gibt. Das wahre Wir ist: Wir sind einander nichts. Wir

Zusammenfassend lässt sich sagen: Nicht nur als Ideologie hat der Populismus eine identifizierbare Logik; es gibt auch eine typische populistische Praxis. Ideologie und Praxis greifen ineinander und erlauben es den Populisten, ihre Handlungen in einer Sprache zu rechtfertigen, die durchaus demokratisch klingen kann und vor allem in ihren eigenen Augen eine eindeutig moralische Dimension hat. Wer Populisten effektiv herausfordern will, muss diese moralische Dimension des populistischen Weltbildes verstehen und ernst nehmen. Liberale Demokraten geben sich einer Illusion hin, wenn sie glauben, man müsse nur ganz rational argumentieren und den Populisten Klientelismus

sowie

Korruption

nachweisen,

um

mit

derartigen Entlarvungen automatisch moralisch und politisch zu punkten. Im Umgang mit Populisten ist hingegen eine ganz andere Herangehensweise gefragt. Dazu mehr im dritten und letzten Teil dieses Essays.

90

sind Kapitalisten, Proletarier, Geistige, Katholiken ... und in Wahrheit viel mehr in unsere Sonderinteressen

und überalle Grenzen weg verflochten als untereinander. Der deutsche Bauer steht dem französischen Bauern näher als dem deutschen Städter, wenn es darauf an-

kommt, was reell ihre Seelen bewegt.« Robert Musil, »Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit«

»Ever tried, Ever failed. No matter, Try again. Fail again. Fail better.« Samuel Beckett, Worstward

Ho

Es ist wenig an Erkenntnis (und an politischem Einfluss) gewonnen, wenn man Populismus buchstäblich pathologisiert: Populismus ist keine »Krankheit«, auch keine »nor-

male Pathologie« (Cas Mudde) der europäischen Politik, und seine Anhänger sind nicht alle Fälle für politische Therapeuten, oder mit einem Wort: »Pack«, Möchte man sich erfolgreich mit Populisten auseinandersetzen, benötigt man ein besseres Verständnis der Ursachen des Phänomens. Darüber hinaus ist es aber auch wichtig, sich auf demokratische Weise mit Populisten auseinanderzusetzen — selbst wenn Populismus, folgt man der Argumentation dieses Essays, tendenziell antidemokratisch ist.!” Darü91

ber hinaus gilt es zu prüfen, ob es sinnvoll sein kann, mit

einer Art Gegen-Populismus auf Populisten zu reagieren, schließlich ist immer wieder davon die Rede, ein neuer

Linkspopulismus könne eine Antwort auf den vor allem in Europa erstarkenden Rechtspopulismus sein. Zu guter Letzt steht die Idee im Raum, eine allzu liberale, vor allen

Dingen allzu neoliberale Politik bedürfe des Populismus als einer Art Korrektiv. Diese Fragen sollen in diesem Kapitel angegangen werden. Zuerst ist allerdings eine normative Vertiefung einer Reihe von Argumenten notwendig, die ich oben vielleicht etwas zu nonchalant ins Feld geführt habe und die auch in der Diskussion über aktuelle Entwicklungen noch einmal wichtig werden. Sie haben zu tun mit der Legitimität verschiedener Formen politischer Ausgrenzung und mit dem normativen Status von »Pluralismus«.

sätzlich diskriminiert werden. Nur: Welches stichhaltige normative Argument können Demokraten hier eigentlich ins Feld führen, wenn sie nicht bei der empirischen Tatsache stehen bleiben wollen, dass die von den Populisten Ausgeschlossenen dazugehören, weil sie nun einmal Staatsbürger sind (oder, in einer anderen normativen Variante, sich schon lange rechtmäßig im Land aufhalten und von den Entscheidungen einer demokratischen Regierung direkt betroffen sınd)? Wer Staatsbürger ist und wer nicht, hängt letztlich mit historischen Zufällen zusammen (oder brutaler gesagt: damit, wer wann welchen Krieg gewonnen hat); eine wirklich demokratische Begründung dafür, wie der Demos

auszusehen hat, ist mit

aus, dass ohnehin schon verwundbare Minderheiten zu-

der Feststellung »Der hat aber einen Pass« sicherlich noch nicht geliefert. Somit scheinen wir es an dieser Stelle plötzlich mit einer normativ verkehrten Welt zu tun zu haben: Es sind die Populisten, die eine moralische symbolische Unterscheidung in Bezug auf die Zugehörigkeit treffen (wie problematisch auch immer diese Unterscheidung sein mag), während die liberalen Demokraten sich auf das Faktische (und allenfalls noch die normative Kraft des Faktischen) beschränken.!® Man sollte rundheraus zugeben, dass es eine weithin akzeptierte dezidiert demokratische Theorie zur Bestimmung des Demos (und auch zur territorialen Aufteilung der Erde) derzeit schlicht nicht gibt: Die demokratische Entscheidung über den Demos setzt voraus, dass man bereits weiß, wer zum Demos gehört - und genau das war ja das Problem (so dass man es letztlich mit einem unendlichen Regress zu tun hat). Der Nationalismus hat zwar eine relativ klare (und de facto global am weitesten ver-

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Kritik der Kritik am Populismus In meinen bisherigen Ausführungen habe ich einige Hintergrundannahmen als mehr oder weniger selbstverständlich eingeführt, ohne sie groß zu problematisieren. Populisten, so hieß es, müssten das wahre Volk aus der empirischen Gesamtheit der Bevölkerung (um noch einmal

die Formulierung von Lefort aufzugreifen) herauspräparieren und dekretierten zumindest symbolisch ein »Ihr müsst draußen bleiben« oder »Ihr gehört eigentlich gar nicht dazu«.

Das darf und muss man

kritisieren, denn

es läuft gerade bei Rechtspopulisten ja immer darauf hin-

breitete) Antwort auf die Frage anzubieten, wo Grenzen verlaufen sollen. Allerdings gilt auch dies nur dann, wenn wir es mit einem im weitesten Sinne kulturellen Nationalismus zu tun haben; bringen wir hingegen einen politisch-zivilen Nationalismus (oder kürzer gesagt: Verfassungspatriotismus) in Anschlag, landet die Frage auch hier auf ewig in der Wiedervorlage. Am plausibelsten ist deshalb eine Art normatives second-best, das allerdings bei genauerer Betrachtung auch ein Mehr an Demokratie im Sinne tatsächlicher Partizipation seitens der Bürger beinhaltet: Anstatt zu erwarten, dass die politische Theorie sozusagen von oben perfekte Kriterien dafür liefert, wer zum Subjekt der Demokratie gehören soll und wer nicht, sollten wir Demokratie als einen Prozess verstehen, der es ermöglicht, Fragen der

Zugehörigkeit und nach der Definition des Demos immer wieder neu auszuhandeln.!° Dabei können auch offiziell Nicht-Zugehörige neue Kriterien von Inklusion und Exklusion vorschlagen (oder beispielsweise auch Ansprüche darauf stellen, dass sie repräsentiert werden sollten). De facto werden über Änderungen aber natürlich nur die bereits Zugehörigen entscheiden. Insofern bleibt immer ein nicht zu beseitigender Rest an historischem Zufall und, wenn man so will, an historischer Ungerechtigkeit, den die Lebenden in den seltensten Fällen wieder-

gutmachen können, dessen sie aber eingedenk bleiben sollten.!S9

neu ausgehandelt werden — nur ist dies halt das Risiko, das jedem demokratischen Prozess innewohnt. Wer aber im Gegensatz zu den polarisierenden und ihre politischen Gegner diämonisierenden Populisten prinzipiell mehr Inklusion will, muss sich auch eine spezifische Falle des Antipopulismus bewusst machen: Wer das Problem beim Populismus vor allem in seinen Exklusionsimpulsen sieht, wird vielleicht am Ende sagen: »Ihr schließt aus, deswegen schließen wir Euch aus.« Und wer den Pluralismus im Angesicht populistischer Akteure verteidigen möchte, sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass populistische Parteien und Bewegungen (zumindest solange sie in der Opposition sind) den Pluralismus erst einmal erhöhen — während eine Ausgrenzung von Populisten in weniger Pluralismus resultieren würde, Manche Partei führt den pluralistischen Anspruch —- nämlich eine Alternative zu sein — dabei sogar schon im Namen. Auch hier sind jedoch die potenziellen Widersprüche einer demokratischen, pluralistischen Position gegenüber Populisten nicht so fatal, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Erstens sollte man populistische Parteien nicht verbieten — sofern sie nicht eindeutig Volksverhetzung betreiben oder gar zur Gewalt aufrufen (aber dann greift ohnehin das Strafrecht). Populisten sind zwar tendenziell antidemokratisch, da antipluralistisch — und tauchen deswegen auch zwangsläufig auf dem Radarschirm der wehrhaften

Demokratie

auf, zumindest

wendig so etwas wie »Progress« oder Fortschritt bedeutet. Mitnichten wird es automatisch stets zu mehr Inklusion kommen, wann immer Fragen nach Zugehörigkeit

wenn man dem bundesrepublikanischen Verständnis dieses Prinzips der demokratischen Selbstverteidigung folgt. Ein Verbotsantrag ist laut Bundesverfassungsgericht schon dann plausibel, wenn eine Gruppierung eine »aktiv-kämp-

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95

Einmal mehr will ich betonen, dass Prozess nicht not-

ferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung« einnimmt mit dem Ziel, die Demokratie abzuschaffen. Die objektive Gefährdung des Grundgesetzes ist nicht der entscheidende Gesichtspunkt, der antipluralistische Anspruch der Populisten ist eigentlich schon genug, um die Verfassung, die Pluralismus prinzipiell erhalten will, infrage zu stellen. Und wie der zweite Teil dieses Essays hoffentlich gezeigt hat, schädigen Populisten an der Macht, wenn die Umstände für sie günstig sind, die De-

mokratie auch wirklich. Dennoch sollte man mit dem Instrumentarium der wehrhaften Demokratie hier sehr vorsichtig umgehen.!! Die Frage ist, ob man Populisten ım Rahmen demokratischer Debatten nicht doch dazu bringen kann, von ihren Alleinvertretungsansprüchen abzurücken oder sie gar ganz fahren zu lassen. Solange sie de facto den Pluralismus anerkennen und beispielsweise nicht gegen Minderheiten hetzen, sollte man gelassen bleiben und immer wieder die Auseinandersetzung suchen. Skepsis ist auch geboten, wenn andere Parteien oder zivilgesellschaftliche Akteure darangehen, einen cordon sanitaire zu errichten nach dem Motto: »Mit denen reden wir nicht!« Wer Populisten mundtot machen will, bestä-

re nicht beim Wort, sondern betrachtet sie als so etwas

wie soziale Sonden, deren Aufzeichnungen nur die liberale Elite richtig zu interpretieren weiß ...) . All dies heißt jedoch nicht — und dieser Punkt ist entscheidend —, dass man die Problembeschreibungen der Populisten eins zu eins übernehmen muss.!” Man kann zum Beispiel eine Diskussion über Einwanderung nach den Vorgaben eines Geert Wilders rahmen oder auch nicht — die Entscheidung verbleibt bei den übrigen Politikern. Diese sind zwar in den Niederlanden inzwischen dazu angehalten, diese Debatte zu führen — und aus de-

mokratischer Sicht ist dies auch gut so —, aber es liegt an ihnen, inwieweit sıe dabei dem islamophoben Wilders fol-

gen wollen (Wilders bestimmt mit seinen islamfeindlichen Vorgaben bis heute die Richtung der niederländischen Politik — obwohl er nie offiziell Regierungsverantwortung übernahm und die Regierung des rechtsliberalen Ministerpräsidenten Mark Rutte lediglich von 2010 bis 2012 duldete). Ganz ähnlich stellt sich die Situation ın Dänemark dar, wo die Dänische Volkspartei eine auf dem

Papier moderate rechte Regierung unterstützte — de facto aber die Diskussion über Immigration weit nach rechts verschob, weil Premier Anders Fogh Rasmussen sich der Danske Folkeparti immer wieder anpasste. Weiter unten werde ich noch einmal auf den konkreten Umgang mit Populisten zurückkommen. Hier ginges lediglich darum zu unterstreichen, dass eine Antwort auf Populisten nur in der Auseinandersetzung und nicht in automatischem Ausschluss bestehen kann — und sollte. Letztlich gilt aber auch: Pluralismus ist kein Wert wie

tigt allzu leicht ihre These, ein Machtkartell der etablierten Eliten lasse keine Kritik zu - und die Populisten seien die wahren Vertreter liberal-demokratischer Werte wie beispielsweise der Meinungsfreiheit. Dazu kommt, dass die Äußerungen von Populisten und der Zuspruch, den diese Äußerungen finden, wichtige Symptome für real existierende Herausforderungen einer Gesellschaft seinkönnen (auch wenn »Symptome« hier leicht paternalistisch klingen mag; man nimmt die populistischen Akteu-

Freiheit oder Gleichheit, ohne welche Demokratie auch

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97

in einer noch so homogenen Gesellschaft nicht denkbar ist. Pluralismus ist ımmer Pluralismus von irgendetwas — zum Beispiel von Werten oder wirtschaftlichen Interessen oder Lebensstilen.!* Pluralismus in der Demokratie respektieren bedeutet dann normativ, die Vielfalt der Interessen und Identitäten der individuellen Bürger gleich ernst zu nehmen. Pluralismus ist in modernen Gesellschaften unvermeidlich — aber seine Anerkennung gründet eben auf Werten wie Freiheit und Gleichheit und nicht auf der Idee, dass mehr Vielfalt automatisch immer

besser ist.!*

Repräsentationskrise? Oder: Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für eine aktuelle Demokratiediagnose

publikaner zur Folge gehabt habe und derzeit den von Pegida; oder zum Beispiel im Falle Schwedens den Siegeszug der »Schwedendemokraten«, nachdem die konservative Partei sich in Einwanderungsfragen ın die Mitte bewegt habe).! Andere Beobachter sehen die Ursachen eher in einer spezifischen »Krise der politischen Repräsentation«, die vor allem Europa seit den siebziger Jahren durchlebe: Volksparteien, so heißt es immer wieder, seien dem Un-

tergang geweiht; damit verschwinde eine Institution, welche nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa sehr viel fürdieIntegration verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen getan habe. Anders als ım Zentrum, der katholischen Weltanschauungspartei, hätten sich ın der CDU sowohl Protestanten also auch Katholiken wiedergefunden (und schließlich auch Atheisten,

Über die Ursachen des Populismus wird heftig gestritten. Schenkt man einer Reihe politikwissenschaftlicher Modelle Glauben, gibt es so etwas wie eine konstante Nachfrage nach Populismus, und entscheidend ist allein, objemand ein entsprechendes Angebot zur Befriedigung der Nachfrage bereitstellt. Zehn bis fünfzehn Prozent der Wählerstimmen seien für Populisten in Europa immer »drin«, heißt es zum Beispiel. Wenn gemäßigt nationalistische oder konservative Parteien ihre antimultikulturellen Positionen nicht räumten, entstehe auch keine Nische

für Populisten; täten sie dies jedoch (wie etwa die CDU in den späten achtziger Jahren oder wohl auch aktuell durch Angela Merkels Flüchtlingspolitik), sei plötzlich Platz für populistische Konkurrenten (was dann in der alten Bundesrepublik konkret den jähen Aufstieg der Re98

die man

kulant zu Anhän-

gern eines »humanistischen Weltbildes« umtaufte). Dabei waren Volksparteien — trotz des Namens, der das ja durchaus suggerieren könnte — ım hier vertretenen Sinn eben nicht populistisch: Man wollte zwar möglichst viele Schichten und Wählergruppen erreichen sowie zwischen ihren verschiedenen Identitäten und Interessen vermitteln, vertrat aber keinen moralischen Alleinvertretungsanspruch (zumindest ab dem Moment, als die CDU nicht länger versuchte-was in der Frühphase der Bundesrepublik ja durchaus der Fall war —, die Sozialdemokraten als Wegbereiter einer kommunistischen Diktatur zu brandmarken). Die Unterschiede zu der »anderen« Volkspartei wurden zwar klar herausgestellt, ja sogar dramatisiert; dabei war jedoch immer mitgedacht, dass es in Staaten

mit vielen inneren Interessenkonflikten und auch ideo99

logischen Gegensätzen Platz für mehr als eine Volkspartei geben musste. Ein Extrembeispiel dieser Logik war Österreich, wo vor dem Hintergrund der Erfahrung des Bürgerkriegs der Zwischenkriegszeit alle Akteure anerkannten, dass es in der Alpenrepublik eigentlich mindestens zwei legitime »Völker« gab und dass Schwarze und Rote irgendwie miteinander auskommen mussten. Nun ist der Umstand, dass die Volksparteien immer mehr Stimmenanteile

einbüßen,

sicherlich kein Anzei-

chen für eine Krise der Repräsentation an sich. Im Gegenteil: In stabilen liberalen Demokratien bedeutet eine Ausdifferenzierung von Parteiensystemen, in denen die meisten, idealerweise gar alle Parteien sich gegenseitig als legitim anerkennen und zum Teil auch Bündnisse schließen können, einen Zugewinn an Pluralismus — und das auch im normativ gehaltvollen Sinne, weil Interessen und Identitäten differenzierter vertreten werden können. Insofern ist der Aufstieg von sogenannten »Programmparteien« nicht automatisch etwas Schlechtes (oder gar ein Warnzeichen, dass Berlin zu Weimar werden könnte). Man sollte den catch-all parties — den Allerweltsparteien, die über das ganze politische Spektrum hinweg auf Wählerfang gingen — oder den Massenparteien, die möglichst viele Mitglieder auch lebensweltlich an sich binden wollten, nicht allzu viele Tränen nachweinen.!°® Zwar stellten

die Massenparteien für viele Bürger eine Verbindung zum demokratischen System her. Nur: um welchen Preis? Man mag die üblichen soziologischen Thesen von der zunehmenden »Individualisierung« und vom Siegeszug »postmaterieller Werte« ja etwas zu allgemein oder auch normativ problematisch finden, aber kann man sich ernst100

haft eine Rückkehr in die fünfziger Jahre wünschen, als die Milieus festgefügt waren, politische Parteien ganze Parallel-Lebenswelten organisierten und ım Zweifelsfall der pater familias oder der Priester bestimmte, wie gewählt wurde? Natürlich beschränkt sich die Diagnose von der Krise der Repräsentation nicht auf den Niedergang der Volksund Massenparteien. Peter Mair und viele andere Politologen haben darauf hingewiesen, dass die Mitgliederzahlen praktisch aller Parteien dramatisch gesunken seien, dass das Wahlverhalten immer volatiler werde und dass gewisse gesellschaftliche Gruppen — vor allem die Jüngeren und die sozioökonomisch Schwächsten — den Wahlurnen

immer

häufiger

fernblieben.'”7 Unterschichten,

so heißt es häufig, nähmen immer weniger an der Politik teilund ihre Interessen würden immer weniger repräsentiert: ein Teufelskreis. Die Parteien wiederum koppelten sich von der Gesellschaft zusehends ab, ja würden gar zu »Kartellparteien« und verschmölzen mit dem Staat. Das Vertrauen in Parteien (wobei andere staatliche Institutionen oder Institutionen ganz allgemein da nicht dramatisch besser abschneiden) befinde sich im permanenten Sinkflug, die Menschen wollten am liebsten alle politischen Autoritätsfiguren loswerden. Eine Stimmung, die sich in Slogans ausdrückt wie »;Que se vayan todos!« oder »Qu'ils s’en aillent tous!« (»Alle sollen sie abhauen!«), die sich aber auch in den von Beppe Grillo inszenierten »V-Days« Bahn brach (wobei das »V« für »vaffanculo« stand). »Protest« ist beim Guardian inzwischen eine ei-

gene Nachrichtenkategorie.!° Laut Mair könnte es jedoch bald noch deutlich schlimI0I

mer kommen:

Die Anzeichen,

dass Parteien ihre Pro-

gramme in der Regierung auch tatsächlich durchsetzen, würden schwächer. Mit einem von Mair geprägten, leider nicht elegant ins Deutsche zu übertragenden Gegensatz: Parteien seien zunehmend responsible, aber nicht länger responsive. Sie passten sich verantwortungsbewusst Sachzwängen an, seien für die Wünsche der Wähleraber nicht mehr wirklich empfänglich. Daran schließt sich häufig die These an, sogar in ihren Politikidealen würden die Parteien sich immer ähnlicher, die Verantwortungsethik diktiere schon die Zeilen der Grundsatzprogramme und nicht nur das Verhalten in der Praxis. Der Aufstieg von Protestparteien sei dann nur eine logische Folge, wobei nicht jede Protestpartei, ich habe bereits darauf hingewiesen, automatisch eine populistische Partei sein muss. Auffällig ist dabei freilich, dass gerade Protestparteien die Idee eines pluralistischen Parteiensystems nicht mehr ernst nehmen — oder sich gar darüber lustig machen. So signalisierte beispielsweise die satirische »Best Party« in Island, die sich vorübergehend immerhin das Bürgermeisteramt in Reykjavik sichern konnte,

bereits

mit ihrem

Namen,

dass sie den politi-

schen Wettbewerb der Ideen und Interessen für eine Absurdität hielt. Die Welle neugegründeter Parteien, deren Anführer versprechen, den Staat wie ein Unternehmen zu führen, deutet in eine ähnlich antipolitische Richtung: Man denke etwa an das »Team Stronach« in Österreich (initiiert von einem öÖsterreichisch-kanadischen Geschäftsmann, der seine Partei ungefähr so demokratisch führte wie Berlusconi seine Forza Italia) oder die ANO

2011

(»Aktion

der unzufriedenen

Bürger«) \

102

des

tschechischen Unternehmers Andrej Babis (Babi®, seines Zeichens zweitreichster Bürger seines Landes, ist derzeit Vizepremier und Finanzminister der Tschechischen Republik). Dazu kommt dann noch eine Reihe von Bewegungen und Figuren, die am liebsten außerhalb der etablierten politischen Kanäle und Arenen agieren würden: die Indignados in Spanien, Beppe Grillo, bevor er sich zur Teilnahme

an den Parlamentswahlen entschloss, und nicht

zuletzt Pegida in Deutschland — was nicht heißen soll, dass diese Phänomene in normativer Hinsicht etwas gemeinsam haben oder dass sie allein deshalb problematisch wären, weil sie sich explizit als außerparlamentarisch verstehen. Sie verstärken jedoch den Eindruck, dass die Zeit der repräsentativen Politik, wie wir sie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen, zu Ende geht — und wir uns möglicherweise in Richtung einer postrepräsentativen Politik bewegen. Was ist von solchen Diagnosen zu halten? Wie bei vielen »Post«-Begriffen ist die Grundidee desto plausibler, je weniger man über Geschichte weiß., Denn wie beispielsweise der Sozialwissenschaftler Wolfgang Merkel betont hat, ist die Vorstellung von einem Goldenen Zeitalter der Demokratie in Westeuropa eine mehr oder weniger bewusste Geschichtsklitterung (von Osteuropa ganz zu schweigen).!° Die These, früher hätten Bürger mehr partizipiert; die Idee, einst hätte es viel mehr Handlungsspielraum für die Politik gegeben; die Annahme, in der Vergangenheit seien die eindeutig identifizierbaren Wünsche der Wähler von den Parteien schnurstracks umgesetzt worden, sobald sie Regierungsverantwortung über103

nahmen - all dies ist empirisch höchst fragwürdig. Und doch liest man immer wieder Sätze wie: Blickt man aus heutiger Sicht auf die ersten Nachkriegsjahrzehnte zurück, so wird immer deutlicher, dass es sich um eine historische Ausnahmeperiode gehandelt hat — eine Goldene Ära nicht nur des Friedens und des Wohlstands, sondern auch der Demokratie.

Diese hatte

als Massendemokratie eine Form angenommen, in der die normativen

Prinzipien der Souveränität, Teilhabe und Gleichheit optimal zur Geltung kamen,!°

ist ın diesem Zusammenhang das beste Beispiel — nach 1945 einen Siegeszug antraten. Den obersten Gerichten kam in den fragilen Demokratien der Nachkriegszeit schließlich in erster Linie die Aufgabe zu, Minderheiten vor tyrannischen Mehrheiten zu schützen. Insbesondere in Deutschland und Italien sollten sie zudem verhindern, dass die Demokratie durch antidemokratische Parteien,

die auf legalem Weg an die Macht kämen, ausgehöhlt werden könnte (kurz, es ging hier um die wehrhafte Demo-

Wirklich? Die westeuropäischen Eliten, die nach 1945 li-

kratie oder, im Falle Italiens, die democrazia protetta).!®

berale Demokratien

die da aus der Geschichte gezogen wurden, auch wirklich korrekt waren; es geht hier allein um die Wahrnehmung der Zeitgenossen — die beispielsweise Konrad Adenauer seinem Tagebuch anvertraute, wenn sich sein politisches Misstrauen gegenüber den Deutschen wieder einmal regte).!® Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, weshalb Institutionen, deren Spitzen nicht direkt von den Bürgern gewählt werden — das Bundesverfassungsgericht

Der konstitutionelle Rahmen der Politik nach 1945 ist ohne den ausgeprägten Antitotalitarismus der Eliten nicht zu verstehen. Beobachter haben denn auch zu Recht von einer Verfassungspolitik ım Zeichen des kategorischen Imperativs »Nie wieder Totalitarismus!« gesprochen.!6 Anders als im Klischee von den souveränen demokratischen Nationalstaaten auf der einen und den jeder demokratischen Kontrolle enthobenen Brüsseler Bürokraten auf der anderen Seite behauptet, stand die europäische Integration nie ım Widerspruch zu diesem Demokratieverständnis. Vielmehr war Europa eine Art supranationales Dach der antitotalitären europäischen Nachkriegsarchitektur: Auch Europa — in Form des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg — verschrieb sich beispielsweise dem Grundrechtsschutz und schränkte den Handlungsspielraum der einzelnen Völker weiter ein. Auch hier galt: Das Ideal der Volkssouveränität sollte so weit wie möglich heruntergedimmt werden. Bekanntlich geriet dieses relativ restriktive Demokratieverständnis in den späten sechziger und siebziger Jah-

104

10$

errichteten, setzten ihre Hoffnun-

gen gerade nicht auf mehr Bürgerbeteiligung.!*! Im Gegenteil, in den Ländern, in denen Faschisten an die Macht gelangt waren oder während der deutschen Besatzung Unterstützung seitens der Bevölkerung erfahren hatten, betrachtete man das Ideal der Volkssouveränität mit größter Skepsis. Ja mehr noch: Man fürchtete sich sogar vor den möglichen Auswirkungen parlamentarischer Souveränität. Denn war das nicht eine der Lehren aus der Geschichte? Der Reichstag hatte, so dachte man ım Nachhinein, Hitler zum Reichskanzler gemacht; die National-

versammlung

hatte Marschall

Petain

1940 alle Macht

übertragen (was nicht heißen soll, dass die »Lektionen«,

ren unter Druck: Die 68er, vor allem aber die Neuen So-

zialen Bewegungen wollten nicht nur bestimmte inhaltliche Ziele durchsetzen — sie wollten auch eine andere, of-

fenere, weniger etatistische Politik. Insofern lassen sich diese Bewegungen durchaus als eine plausible Antwort auf eine seinerzeit tief empfundene »Krise der Repräsentation« deuten: Außerparlamentarische Opposition war notwendig, weil die Parteien in den Volksvertretungen keine erkennbaren Alternativen anboten; öffentlichkeits-

wirksamer Protest musste sein, weil patriarchalische Führungsfiguren — alte Männer wie Kurt Georg Kiesinger und Charles de Gaulle — nicht einsehen wollten, dass ihre Zeit als Beschützer der fragilen Demokratien vorbei war (wie auch die Väter ın den Familien nicht bereit waren anzuerkennen, dass der pater familias die »Familieninteressen« nie wieder so würde repräsentieren können, wie es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein üblich gewesen war). Alle möglichen Autoritäts- und Repräsentationsverhältnisse mussten neu justiert und vor allem neu autorisiert werden. In gewisser Weise war die westeuropäische Nachkriegsordnung also schon immer anfällig für den auf den ersten Blick »populistischen« Vorwurf, das Volk bleibe eigentlich außen vor. Der Historiker muss zugeben: Ja, genau, aber so war es auch gedacht. Die Eliten betrachteten »das Volk« mit einer gehörigen Portion Misstrauen und pfleg-

wahlen zum Ziel gesetzt hat, den Einfluss des Verfassungsgerichts zu reduzieren. So mancher Populist legt denn auch gern seine Finger in diese Wunde. Viktor Orbän beschreibt die Nachkriegseliten wie folgt: Sie hatten keine Angst mehr vor Kommunismus oder Faschismus, sondern vor den Massen,

besonders

den politisch aktiven Massen.

Weil der Faschismus auf demokratische Weise an die Macht gelangt war, denkt die heutige westeuropäische Elite, dass man mit dem Volk vorsichtig sein sollte, weil die Entscheidungen des Volkes große Schwierigkeiten bereiten können. Also, die Demokratie wird von ihnen als wichtig erachtet, aber noch besser ist es, wenn die Macht nicht

vom Volk ausgeübt wird.!®5

sches Ethos, Und so ist es möglicherweise kein Zufall, dass es in Deutschland bis heute keine bundesweiten Volksabstimmungen gibt. Und dass etrwa Marine Le Pen es sich für den Fall eines Erfolgs bei den Präsidentschafts-

Dabei übersieht er jedoch, dass sich auch das Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften erheblich gewandelt hat. Die politischen Systeme in Europa erwiesen sich als durchaus anpassungsfähig: Neue Parteien wie die Grünen entstanden; Hierarchien und patriarchalische Kulturen der Ehrerbietung änderten sich grundlegend oder lösten sich auf (Niklas Luhmann hat dazu mit seiner unnachahmlichen Lakonie angemerkt: »und plötzlich konnte man über den Rasen laufen«). Es ist also wenig plausibel, mit Blick auf Europa pauschal von einer präzedenzlosen Repräsentationskrise zu sprechen. Nicht zuletzt, weil sich eine solche Diagnose dann ja auch auf irgendeine Weise falsifizieren lassen müsste: Es ist schlechterdings absurd, dass Griechenland bis ca. 2015 als Paradebeispiel für diese Krise (oder auch die Postdemokratie) galt, weil, egal wie die Leute wählten, immer die PASOK oder die Konservativen der Nea Dimokratia an der Macht waren, dass jedoch seit dem Wahlsieg von Syriza immer noch von einer Krise der Reprä-

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ten ein antitotalitäres, wenn man so will: antipopulisti-

der Nachkriegsdemokratie und ihrem Grundprinzip der selbst auferlegten Disziplin darzustellen. Mit anderen Worten: Statt wie beispielsweise Hans Magnus Enzensberger den Exitus der Demokratie per Rettungsmaßnahmen

vom Fiskalpakt wohl kaum sagen - wollte man sich nicht zu der Behauptung versteigen, Schuldenabbau ziele allein darauf, den demokratischen Handlungsspielraum zukünftiger Generationen zu sichern. Zudem sind zwar auch Gewaltenteilung und Grundrechte politisch umstritten, sie können jedoch um einiges leichter demokratisch legitimiert werden als zum Beispiel Richtlinien, laut denen die Gesamtverschuldung eines Landes sechzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen darf. Bei einer solchen Vorschrift handelt es sich um eine höchst kontroverse, von keiner geschichtlichen Erfahrung gedeckte und, wie Kritiker sagen würden, willkürliche Grenzziehung. Und darüber hinaus um eine sich allein am deutschen Patienten orientierende Rezeptur für Rezessionen: Nun sollen auch die anderen auf »interne Abwertung«, eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik und Exportüberschüsse setzen — eine politische Richtungsentscheidung mit weitreichenden Folgen, die während der Eurokrise unter dem Druck der Kreditgeber zustande gekommen ist. Ganz abgesehen davon, dass man die Regeln mithilfe hoch bezahlter Zahlenartisten wohl immer irgendwie umgehen kann.

für den Euro festzustellen, sollte man nüchtern anerken-

Statt also zu folgern, dass sich die Europäer, die ohne-

nen, dass die Europäer schon lange in einem stahlharten Gehäuse eingeschränkter Demokratie leben. Plus ca change, plus c’est la m&me chose? Nun, so einfach liegen die Dinge dann doch wieder nicht. Denn die bisherigen, in den Augen der Bürger legitimen Einschränkungen der Volkssouveränität ließen sich damit begrün-

hin längst an eine eingeschränkte Demokratie und supranationale »Aufsicht« gewöhnt sind, nun eben noch ein

den, dass sie letztlich dem Schutz der Demokratie selbst

wieder neu autorisiert (und das heißt: reguliert) werden. Das gegenwärtige Unbehagen gründet in Erfahrungen

sentation die Rede ist, nun allerdings, weil es sich bei dem

Linksbündnis angeblich um eine populistische, antisystemische Partei handelt. Kann man die Krisendiagnose und das damit einhergehende Unbehagen, möglicherweise in einer reinen »Fassadendemokratie« (Wolfgang Streeck) zu leben, somit kurzerhand vom Tisch wischen? Keineswegs. Die Diagnose muss jedoch auf einer differenzierteren Analyse der gegenwärtigen politischen Situation in Europa aufsetzen. Der Versuch, Haushaltsdisziplin in einer europäischen Verfassung zu verankern, wirkt auf den ersten Blick wie

eine Weiterentwicklung der Grundprinzipien der »eingehegten Volkssouveränität« der Nachkriegszeit. »Schuldenbremsen« in den Verfassungen aller Euroländer, Überwachung nationaler Haushalte durch die Europäische Kommission, »Durchgriffsrechte« für einen Währungskommissar — all das lässt sich sicherlich mit guten Gründen kritisieren, aber es scheint keinen völligen Bruch mit

dienten. Etwas Vergleichbares lässt sich beispielsweise 108

bisschen mehr einschränken müssen, sollte man sich an

eine der Ideen von 1968 erinnern: Märkte sind auch Institutionen, die Macht produzieren — und diese Macht kann man nicht einfach abschaffen, sie muss aber immer

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des Kontrollverlusts und des Ausgeliefertseins, die denen von schikanierten Familienmitgliedern oder von Studenten in einem feudalistischen Universitätssystem gar nicht so unähnlich sind. Das ist der Aspekt, der aktuelle Diagnosen einer Krise der Demokratie mit den Erfahrungen früherer Generationen verbindet. Es geht nicht darum, politische Institutionen radikal umzugestalten, sondern darum, illegitime Macht unter Kontrolle zu bringen. Und ohne Druck von unten wird dies kaum möglich sein. Nur wie und in welcher Form? Ist hier vielleicht doch Platz für einen legitimen Populismus, für einen Populismus von links?

Europas »populistischer Moment«? Einmal mehr ist es wichtig, zwischen der inneren Logik des Populismus und bestimmten, oft als »populistisch« bezeichneten politischen Inhalten zu unterscheiden: Solange Fremdenfeindlichkeit, Skepsis gegenüber der Außenpolitik der Vereinigten Staaten, Kritik an der Eurozone oder am Finanzkapitalismus etc. alle umstandslos als populistisch gelten, wird es uns nicht gelingen herauszuarbeiten, was die aktuelle Situation Europas historisch besonders macht.!® Einerseits gilt: Es gibt einen nicht ganz neuen, aber sicherlich verschärften Interessenkonflikt zwischen denjenigen, die auf mehr internationale Öffnung setzen, und denjenigen, die sich für mehr Abgrenzung starkmachen. Der Politikwissenschaftler Hanspeter Kriesi hat denn auch von einer neuen Konfliktlinie (im Jargon des Fachs:

einer cleavage) gesprochen, die Fürsprecher der »Integration« von Vertretern der »Demarkation« trenne.!” In einem solchen Konflikt kann es primär um wirtschaftliche Interessen gehen, er kann aber auch die Form eines Streits um Werte annehmen. Und der Gegensatz zwischen Öffnung und Abgrenzung ist logischerweise dort stärker ausgeprägt, wo die Integration in globale Strukturen (vor allem den Weltmarkt) weit fortgeschritten ist. Man denke etwa an die Niederlande oder auch an Österreich,

hoch »globalisierte« Länder, in denen sich diejenigen, die von der Öffnung nicht profitieren, in besonderem Maße benachteiligt fühlen (und wo folglich der »Euroskeptizismus« stark ausgeprägt ist).!® Was Interessen und Identitäten angeht, können hier beide Seiten legitime Gründe vorbringen. Die Frage ist allerdings, auf welche Weise dieser Konflikt ausgetragen wird. Man kann hier in zivilisierter Manier sachliche Argumente ins Feld führen und wechselseitig die Berechtigung bestimmter Standpunkte anerkennen.!®® Oder um noch einmal Claude Lefort ins Spiel zu bringen: Die Demokratie gründet auf »der Legitimität einer Debatte darüber, was legitim und was illegitim ist« — eine Debatte, so Lefort,

die weder

einen

Garanten

noch

ein vorherbe-

stimmtes Ende kennt.'” Konkret heißt das: Man sollte als »Kosmopolit« nicht so tun, als habe die Gegenseite überhaupt keine vertretbaren Argumente oder als beantworteten sich alle Fragen nach Gerechtigkeit und Fairness von selbst. Die Einstellung, laut der »mehr EU« stets automatisch moralisch besser ist, und deren Vertreter oft ohne empirische Belege einfach annehmen, dass immer alle von mehr Integra-

bar (zumal dabei nie gefragt wird, was eigentlich aus all den bisherigen Versprechungen der Europäischen Kommission geworden ist: mehr Wirtschaftswachstum durch den Gemeinsamen Markt, Europa als innovativste und wettbewerbsfähigste Region der Welt gemäß der »Lissabon-Agenda«, die irgendwann sang- und klanglos begra-

umeinen Kulturkampf (wie auch Hanspeter Kriesimeint) ? Stehen nicht doch Identitätsfragen (und Wertekonflikte) im Vordergrund, wenn um die Öffnung von Grenzen oder die Richtlinien der Flüchtlingspolitik gestritten wird? Ist Deeskalation überhaupt noch möglich, wenn Behauptungen im Raum stehen wie die, ein ganzes Volk würde per Asylrecht »kollektiven Selbstmord« begehen?'”?

ben wurde, etc.; ganz zu schweigen davon, dass niemand

Nein, Defätismus wäre verfrüht. Mit Sicherheit ist es

sagen kann, ob eine demokratischere EU wirklich eine sozialdemokratischere wäre — auch das wird immer nur stillschweigend unterstellt).!?! Das heißt aber auch: Vertreter der »Abgrenzung« dür-

auf den ersten Blick merkwürdig, wenn Politiker nicht über die zweite Nachkommastelle bei dieser oder jener Agrarsubvention diskutieren, sondern über »Quoten« für

fen den Umstand, dass sie so schnell wahrscheinlich kei-

zipiell lässt sich jedoch auch darüber vernünftig und unter Anerkennung der Pluralität politischer Urteile sprechen. Nicht zu tolerieren ist es hingegen, wenn Flüchtlinge auf menschenverachtende Art als »Fremdkörper« im »Volkskörper« bezeichnet werden oder wenn gar Hass gegen sie geschürt wird — wie dies der angeblich »christlich-nationale« Viktor Orbän tat, als er in Ungarn Plakate aufhängen ließ, auf denen Migranten de facto als assimilationsunwillige Parasiten dargestellt wurden. Wer jedoch als — verkürzt gesagt — »Kosmopolit« diesen Konflikt nicht annimmt und die politischen Gegner von vornherein ausgrenzt, weil mehr supranationale Integration nun einmal progressiv und moralisch besser sein muss, trägt zur Eskalation bei und schadet so poten-

tion profitieren, ist vielmehr ihrerseits durchaus anfecht-

ne Mehrheiten für eine Politik der neuen Demarkationen werden organisieren können, nicht durch eine populistische Strategie verschleiern. Mit anderen Worten: Auch sie dürfen den Konflikt dann nicht moralisieren (nach dem Motto: »Die Kosmopoliten/Integrationsbefürworter verraten die Nation«) oder behaupten, die transnational ausgerichteten Eliten gehörten eigentlich gar nicht zu »unserem Volk« (beziehungsweise hätten dem Volk das

Land »geraubt«). Wobei eine solche Deeskalation sicher einfacher ist, wenn man die Auseinandersetzung um Öffnung und Abgrenzung primär als einen Konflikt um Interessen begreift, anstatt ihn immer wieder neu kulturell aufzuladen — was nicht heißen soll, dass die Kosmopoliten ihn dann automatisch gewinnen würden. Oder ist eine solche Versachlichung des Konflikts nur ein frommer Wunsch? Geht es nicht doch in erster Linie um die Identität, die im Gegensatz zu ökonomischen In-

Menschen, die in der EU »umverteilt« werden sollen. Prin-

ziell auch der Demokratie (und handelt sich irgendwann

teressen nicht ohne Weiteres verhandelbar ist, und also

den von Brecht inspirierten Kommentar ein, die Kosmopoliten sollten sich doch bitte ein anderes Volk wählen). Denn die andere — eben nicht automatisch »völkische« — Seite wird dann wahrscheinlich ebenfalls die

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Anerkennung des Konflikts als grundsätzlich legitim verweigern. Natürlich kann niemand garantieren, dass solche De-

testens aber seit dem Moment, als der Verfassungsvertrag 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt wurde, ist dies nicht länger der Fall. Und die Eurokrise hat dann auch noch dem letzten Europäer klargemacht, dass die gegenseitige Abhängigkeit (zumindest in der Eurozone) überaus real ist: Was ın Grie-

chenland passiert, hat Auswirkungen in Deutschland und umgekehrt. Und dass die Entscheidungen im angeblich »fernen« Brüssel für alle Unionsbürger lebenswichtige Folgen haben können (man denke nur an die jungen Arbeitslosen in Südeuropa). Als fatal erweist sich nun, dass die Lösungen für die Eurokrise stets als alternativlos präsentiert wurden sind. Beobachter haben an dieser Stelle von »policy without politics« (also von technischen Maßnahmen ohne inhaltliche Auseinandersetzung) gesprochen, auf welche die Populisten nun mit so etwas wie Identitätspolitik ohne politische Ideen antworten würden (so die Politikwissenschaftlerin Vivien Schmidt). Wobei der Gegensatz zwischen — sehr verkürzt gesagt — Technokratie und Populismus viel weniger scharf ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte.!”® Schließlich suggerieren die Technokraten, es gäbe nur eine rationale polıcy, während eın Populist behauptet, es gäbe nur einen wahren Willen des Volkes. Anders ausgedrückt: Sowohl Technokratie als auch Populismus sind ihrer inneren Logik nach antipluralistisch. Beide brauchen keine Debatten und keine Parlamente, ın denen über unterschiedliche Optionen diskutiert und in denen möglicherweise überraschende Entscheidungen getroffen werden — denn die richtige Antwort steht ja ohnehin bereits fest. Hier treffen sich also wirklich einmal zwei Extreme — nämlich in einer gemeinsamen antipolitischen Haltung. Wobei bisher immer galt, dass das Moralisieren und das Personalisieren von Konflikten vor allem im populistischen Lager verbreitet waren. In jüngster Zeit scheinen Populismus und Technokratie jedoch einige ihrer Attri-

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II$

batten am Ende immer zu einem Konsens führen, wobei

das Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaft ohnehin nie konfliktfrei sein wird. Ein ziıvilisierter Pluralismus ist aber etwas ganz anderes als ein Konflikt zwischen Demokraten und Populisten, die sich auf ihren moralischen Alleinvertretungsanspruch versteifen und meinen, ein einheitliches, einmaliges — und wahrscheinlich auch einfarbiges — Volk gegen Verschwörungen und allerlei Verräter verteidigen zu müssen. Was bedeutet all dies nun konkret? Eine Besonderheit,

welche die aktuelle Situation in Europa auszeichnet, ist die zunehmende Politisierung der europäischen Integration, wobei diese natürlich Teil des Konflikts zwischen

Integration und Demarkation ist. Bis in die frühen neunziger Jahre hinein war das, was damals noch Europäische Gemeinschaft hieß, keine sonderlich kontroverse Ange-

legenheit — im Rückblick haben Sozialwissenschaftler von einem »permissiven Konsens« gesprochen, den man wie folgt auf den Punkt bringen könnte: Die Bürger fanden es prinzipiell in Ordnung, dass die Integration voranschritt, und ließen die Politiker schalten und walten. Seit den Referenden über den Maastricht-Vertrag, spä-

bute miteinander getauscht zu haben. Die Verfechter der Austerität moralisieren nun über die Südeuropäer, die »selber schuld« seien an der Misere und für vergangene Sünden büßen müssten. Umgekehrt gibt es inzwischen genügend Populisten, die zwar einen Alleinvertretungsanspruch für sich reklamieren, das wahre Interesse des Volkes allerdings dahingehend interpretieren, dass der Staat wie ein Unternehmen und strikt nach der Logik der Sachzwänge geführt werden müsse. Berlusconi sprach schon vor Jahren von der »Azienda Italia«, auch Haider und Blocher verstanden ihr jeweiliges Alpenland als große Firmen, die es mit harter Hand zu führen galt;!7* Frank

Stronach sieht die Regierung als »Management-Team«; Andrej Babi3 schließlich betrachtet die Bürger als so etwas wie die Aktionäre

des Staates (deren Shareholder-

Value folglich maximiert werden soll). Doch selbst jene Teile der ım weitesten Sinne integrationsfreudigen Seite, die sich selbst nicht als technokratisch verstehen, können in eine Logik der Alternativlosigkeit verfallen. Angeblich kann einem jede gallische und jede schwäbische Hausfrau vorrechnen, dass, wer sich D-Mark oder Franc zurückwünscht, für ein Him-

melfahrtskommando eintritt (mancher mag diese Aussage von Claus Leggewie ihrerseits als populistisch verstehen).!75 Sozialwissenschaftler, die sich eingehend mit der Währungsunion beschäftigt haben, sind sich da nicht so sicher. Alles, was man mit Gewissheit sagen kann, ist,

dass die Risiken enorm wären. Und dass man gleichzeitig durchaus darüber diskutieren kann, ob ein Ende mit Schrecken einem (Austeritäts-)Schrecken ohne Ende nicht doch vorzuziehen wäre. !7° Noch so ein Punkt: Immer wie116

der heißt es: Wenn der Euro (oder Schengen) scheitert, scheitert — zumindest symbolisch — Europa. Aber auch das ist keineswegs gesagt. Dass sie nicht einmal bereit sind, über Alternativen auch nur zu diskutieren, zeigt,

wie wenig Vertrauen viele Befürworter der europäischen Integration in das Projekt wirklich haben: Einc falsche politische Maßnahme, und schon ist alles vorbei. Zumindest scheint dies der Erwartungshorizont einer ängstlichen, wenn nicht gar traumatisierten Elite nationaler Eliten zu sein. All dies widerspricht eklatant der Selbstwahrnehmung von Demokratien, die ständig Fehler machen, dabei aber gerade die Fähigkeit zur Selbstkorrektur als ihren Vorteil gegenüber autoritären Systemen preisen. Es mag (noch) kein europäisches Volk geben, das systematisch die politische Richtung vorgeben kann — aber dass alle Kritik am real existierenden Einigungsprozess als unerwünschte Einmischung eines vulgus (so der Begriff, mit dem Hegel die unorganisierte, ungebildete, schlicht unvernünftige Masse vom populus abgrenzt) abgetan wird, zeigt, wie tief die Verunsicherung der proeuropäischen Eliten mittlerweile ist.

Linkspopulismus? Ist in dieser Konstellation ein neuer Linkspopulismus die richtige Antwort? Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe vertritt die These, der neoliberale

Konsens habe den Populismus erst hervorgebracht. Statt zu akzeptieren, dass Politik immer Konflikt bedeute, ha-

be man den Bürgern suggeriert, es gebe eigentlich nur ez117

ne rationale policy oder eine klare Konsensposition, welche sie als Wähler nur noch abzusegnen hätten. Schuld an dieser Entwicklung seien die (heute oft schon vergessenen) Verfechter des »Dritten Weges«, also sozialdemokratische Parteien, die letztlich vor der neoliberalen He-

gemonie kapituliert hätten, aber auch Philosophen wie John Rawls oder Jürgen Habermas, die Politik laut Mouffe als Maschine zur Produktion von Konsens und damit gründlich missverstanden hätten. Die Wahl zwischen Mitte-rechts und Mitte-links, so Mouffe einmal eher flapsig,

sei sowie die zwischen Coke und Pepsi. Und diese »postpolitische« Situation habe dann schließlich den Rechtspopulismus hervorgebracht, dessen Vertreter gegen Migranten ins Feld zögen und die »Einheit des Volkes« durch den Ausschluss der Einwanderer zu konstruileren versuchten.!7 Wobei Kritische Theoretiker früher vermutlich noch deutlich weiter gegangen wären und versucht hätten, den Rechtspopulismus zusätzlich als systemstabilisierend zu entlarven (sonst bleibt schließlich die Frage unbeantwortet, warum die Konvergenz der Parteien zunächst immer Rechtspopulismus gebiert — oder sind die Rechtsaußen einfach bessere politische Unternehmer?). Helmut Dubiel schrieb Mitte der achtziger Jahre: In den Verfahren der autoritär-populistischen Mobilisierung wird das

psychoanalytische Verfahren der Hilfe zur Selbstaufklärung auf den

Kopf gestellt. Kollektive Ängste, Orientierungsunsicherheiten und Regressionsneigungen werden systematisch aufgegriffen und ver-

stärkt. Dass der Patient nicht mündig werde, ist die Bedingung der ei-

genen Machterhaltung.!®

Ein solches Argument, wonach das System die Ressentiments zu seiner eigenen Stabilisierung hervorbringe, trau118

en sich die heutigen Postmarxisten offenbar nicht zu artikulieren. Stattdessen gälte es, den Rechtspopulisten nachzueifern — allerdings unter normativ richtigen Vorzeichen. Man könne den ausschließenden, de facto rassistischen Populismus ablehnen, so Mouffe, und doch gleichzeitig »die populistische Dimension der Demokratie, die den Entwurf

eines Volkes einfordert«, würdigen. Deshalb besteht die Aufgabe darin, einen linken Populismus zu konzipieren. Gemäß der Theorie von Ernesto Laclau hieße dies vor allem, eine Reihe von Forderungen der Bürger, die von der etablierten Politik nicht erfolgreich abgearbeitet werden können, zu einer »Kette der Äquivalenz« zusammenzuschließen und in einer zentralen, symbolisch aufgeladenen Forderung zuzuspitzen. Eine Forderung, die der Staat mit administrativen Mitteln nicht erfüllen kann — und deswegen ein demand, an dem sich ein wirklicher Konflikt entzünden würde. Man solle also mit einer füralle sichtbaren und verständlichen symbolischen Fahne aufs Schlachtfeld ziehen — und die Ordnung auf dem Schlachtfeld müsse so klar wie möglich sein. Die Linke, so Mouffe, solle einen fundamentalen Antagonismus ın

der Gesellschaft deutlich machen — aber nicht den zwischen Volk und Migranten, sondern den zwischen dem Volk und dem, was Mouffe etwas blass »die politischen und ökonomischen Kräfte des Neoliberalismus« nennt. Dies klingt ein wenig wie die »Wrong Address Theory« des großen Sozialwissenschaftlers Ernest Gellner: Als das Handbuch der Befreiung an die Klassen verschickt wurde, sei der Post ein katastrophaler Fehler unterlaufen, weshalb es bei den Nationen landete. Man muss also 119

nur die aktuelle Anschrift des wahren Adressaten herausfinden und die Lieferung dann korrekt zustellen. Mit anderen Worten: Der Populismus ist dummerweise bei den Rechten angekommen, wo er doch für die Linken gedacht war. Diese Position verdient eine differenzierte Auseinandersetzung — und zwar nicht nur deshalb, weil sich beispielsweise Podemos die beiden Theoretiker Laclau und Mouffe zu Parteiideologen auserkoren hat. Wie hoffentlich deutlich geworden ist, stimme ich durchaus mit der Ansicht überein, dass Populismus sich nicht an spezifischen politischen Inhalten festmachen lässt (Laclau warnte denn auch immer wieder vor einer rein »ontischen« Analyse des Populismus). Populismus hat eine innere, strukturelle Logik (oder in Laclaus Worten: eine spezifische »Logik der Artikulation«). Laclau setzt dann jedoch sein ontologisches Verständnis von Populismus

Konstruktion eines »Wir«, das bei Laclau und Mouffe,

anders als bei den in diesem Essay als Populisten titulierten Akteuren, allerdings immer anfechtbar bleibt. So versuchen Mouffe und Laclau einerseits, das Wort

Populismus von dem schlechten Beigeschmack zu befreien, den es in Europa mittlerweile praktisch ausnahmslos hat. Wie imersten Kapitel dargestellt, ist die semantische Situation ın den USA und in Südamerika eine andere — und Laclau blieb wohl zeitlebens nicht nur Sozialist, son-

aber nicht falsch gesagt — Teil des Kampfs um Hegemonje.!80 Wer, so Laclau und Mouffe, die Hegemonie erringt, kanneine politische Kulturals Ganze verändern; das Sagbare und auch das Machbare können sich grundsätzlich verschieben; der »Alltagsverstand« der Menschen, so hoffte schon Antonio Gramsci, kann sich grundlegend wandeln. Populismus wird so vom vermeintlichen »Schmuddelkind« zur politischen Operation par excellence: der

dern auch Peronist (der im Übrigen von den populistischen Kirchners gelegentlich um Rat gebeten wurde).!?! Der springende Punkt besteht darin, dass die Theorie von Laclau und Mouffe, wo sie sich auf die politische Praxis bezieht, entweder einfach eine andere Beschreibung von Demokratie im Sinne Leforts (und im hier verfochtenen Sinne) oder aber eigentlich undemokratisch ist, weil man mit dem Pars pro toto doch ernst macht und die anderen politischen Akteure von der gemeinsamen demokratischen Bühne (Lefort) zu drängen sucht.!®? Demokratie ist immer pluralistisch und konflikthaft, und es ist absurd zu behaupten, Rawls und Habermas hätten mit ihren normativen Theorien an dieser Realität etwas geändert (anders liegen die Dinge ım Hinblick auf die empirische Annahme, die ideologische Konvergenz der großen Parteien schaffe Raum an den politischen Rändern — das ist wohl immer richtig). Gleichzeitig sind Konflikte in der Demokratie stets institutionell eingehegt (Laclau sprach von einem »verwalteten Antagonismus«); die Kontrahenten betrachten sich als legitime Gegner, anstatt einander als Feinde zu bekriegen, die es möglicherweise gar zu vernichten gilt. Genau das ist jedoch das Selbstbild der

120

121

mit dem Politischen an sich in eins — denn »Politik«, so Laclau, bedeute nichts anderes als die »Konstruktion eines

Underdogs als historischem Akteur«, der die bestehende institutionelle Ordnung infrage stellt (oder, um im Bild zu bleiben, das Establishment in die Waden beißt).!”? Diese Attacke auf das Bestehende ist wiederum — verkürzt,

heit auf die Fahnen schriebe? Oder erhofft man sich durch den Begriff »Volk« zusätzliche Mobilisierungs- oder gar Emotionalisierungseffekte? Haben wir es mit einer ver-

Populisten, wie sie hier — anders als bei Laclau — verstanden werden. Wenn Mouffe selbst die Gegner des aus einer linken Perspektive konstruierten Volkes abstrakt als anonyme »Kräfte des Neoliberalismus« bezeichnet (als handele es sich dabei um physikalische Kräfte), deutet dies darauf hin, dass die Theoretiker des linken Populismus eine Personalisierung des »Volksfeindes« bewusst vermeiden wollen. Worin besteht dann aber noch die »Kons-

Wolfgang Streeck im Europa der Gegenwart ein »Staatsvolk« einem »Marktvolk« gegenüberstellt?!® Politik ist Konflikt, aber was genau ist durch diese volkshaften — ich sage bewusst nicht: völkischen - Umschreibungen gewon-

truktion« eines Volkes? Was bedeutet es, wenn ein Volk

nen?

gegen abstrakte »Kräfte« kämpft? Möchte man mit dem »P-Wort« lediglich die Stimmung ein bisschen anheizen? Oder besteht der Gedanke darin, die Leidenschaften der

Bürger, die sich angesichts des neoliberalen Konsenses nicht richtig austoben können, sollten besser nach links als nach rechts gelenkt werden?‘® Oder begegnen wir hier schließlich einer Versuchung wieder, die schon Dubiel angesichts der normativen Untiefen identifiziert hatte, die er bei linken Denkern ausmachte, die mit dem Populismus flirteten: die Tendenz nämlich, eine »instrumen-

telle Einstellung gegenüber den unaufgeklärten Bewußtseinspotentialen beizubehalten und sie lediglich in den Dienst der »richtigen Sache« zu stellen. Aber wäre nicht eine um Aufklärung bemühte >emanzipatorische« BildZeitung ein Widerspruch in sich?«!#

schämten Anleihe bei den Nationalisten zu tun, wenn

Ein demokratisches — nichtpopulistisches — Europa Eın Europa, in dem sich Rechts- und Linkspopulisten, bewaffnet mit ihrem jeweiligen »Volks«-Entwurf gegenüberstehen und sich im Zweifelsfall gegenseitig die politische Legitimität absprechen, ist eine Horrorvision. Was wir stattdessen benötigen, ist eine nüchterne — und eben nicht moralisch aufgeladene - Auseinandersetzung über grundlegende politische Richtungsentscheidungen wie beispielsweise die Alternative zwischen mehr Integration und mehr Abgrenzung. In dieser Hinsicht war es ein kleiner, aber der Idee nach

ökono-

richtiger Schritt, dass es bei den Europawahlen 2014 erstmals Spitzenkandidaten gab, die bestimmte Programme vertraten und dem Wahlkampf so auch inhaltlich Gehalt verliehen. Im Rückblick erscheint das Ganze freilich

misch-politischen Gegenprogramm auch noch »ein Volk

dennoch insofern als Farce, als die vermeintlich so unter-

Es ist nicht evident, wodurch eine Linke sich besser-

stellt, die nicht nur Kritik am — sehr verkürzt gesagt — Neoliberalismus

formuliert,

sondern

neben

einem

ein neues und überzeugendes Programm für mehr Gleich-

schiedlichen Kandidaten sich unmittelbar nach dem Urnengang zu einer großen proeuropäischen Koalition gegen die vermeintlichen Populisten (die gar nicht alle Po-

122

123

entwirft«, wie Mouffe es fordert. Würde es da nicht ausreichen, wenn eine wiederbelebte Sozialdemokratie sich

pulisten waren) zusammenschlossen, die da gerade ins Europäische Parlament geplatzt waren. Zudem fehlen der Kommission bis heute die Kompetenzen und die Instrumente, um wirklich eine europäische Wirtschaftsund Finanzpolitik zu gestalten. Programme durften also miteinander konkurrieren - wirklich umsetzen konnte und wollte seine Vision am Ende dann allerdings niemand,. Hier hängt ein deutlicher Ideologieverdacht ıin der Luft. Eine Politisierung von oben zum Zwecke der Legitimitätsbeschaffung für die EU mag ohnehin grundsätzlich paradox erscheinen - oder zumindest insofern aus demokratischer Sicht problematisch, als man stillschweigend davon ausgeht, dass »die richtige Seite« schon gewinnen wird. Demokratie ist aber institutionalisierte Unsicherheit, auch das ein Gedanke von Claude Lefort — und nur

los als »antieuropäisch« oder »euroskeptisch« zu bezeichnen zeugt von geistiger Faulheit, mangelnder Urteilskraft oder eben auch ideologischen Absichten: Man möchte die »Linkspopulisten« dadurch diskreditieren, dass man ihre Positionen mit denen eines Wilders oder Orbän kurzschließt. Wie oben bereits gesagt: Es gibt keine Garantien, dass das Ganze aus proeuropäischer Sicht gut ausgeht. Also steht nach wie vor die Vermutung im Raum, dass es nicht nur in dem Fall, dass sich Opposition in der EU nicht artikulieren kann, zu Opposition gegen die EU kommt - eine Art Trotzreaktion seitens der Wähler. Selbst nach einer wie auch immer gearteten Demokratisierung der Union wird es genug Europäer geben, die dem ganzen Projekt der Integration feindselig gegenüberstehen. Die Frage ist, wie viele. Wem diese Politisierung von oben — mit scheinbar vorherbestimmtem proeuropäischem Ausgang — allzu manı-

in Nordkorea (und in manchen maßgenau zugeschnittenen Wahlkreisen in den USA) weiß man immer schon im Voraus, wie die Sache ausgehen wird. Eine Öffnung Europas für politische Auseinandersetzungen ıst deshalb — wenn man es ernst meint - auch ein Risiko. Aber so what? Alle bisherigen Erfahrungen lehren, dass die Parteien, die wirklich die Integration systematisch rückgängig machen wollen, keine Mehrheiten organisieren konnten — weder in einzelnen Staaten noch in der EU insgesamt. Ohnehin gilt, um noch einmal auf ein schon mehrmals erwähntes Argument über politische Unterscheidungen (und damit letztlich politische Urteilskraft) zurückzukommen: Man tut sich keinen Gefallen, wenn man derartige Parteien in einen Topf wirft mit solchen, die Europas Integration nur anders gestalten möchten. Sie alle umstands-

che die Integration eigentlich überwinden sollte. Und je länger die Konflikte als nationalstaatliche gerahmt wer-

124

125

pulativ erscheint, den hindert überdies niemand

daran,

Europa von unten aufzumischen. Zweifelsohne ist dies durch die Eurokrise insofern schwieriger geworden, als die Auseinandersetzungen über ihre Lösung fast ausschließlich national kodiert waren (Jürgen Habermas hat gar von einem »Umfälschen« der Konflikte gesprochen). Daheißtesdann Griechenland gegen Deutschland, Norden gegen Süden usw. Ähnliches erleben wir nun in der sogenannten »Flüchtlingskrise«: Hier stehen Wien und Berlin gegen Budapest und Bratislava etc. Die Union reproduziert also genau die Spannungen (vielleicht bald sogar offenen Feindschaften) zwischen Nationalstaaten, wel-

getroffen werden, profitiert die EU nicht von den Krisen: Irgendwie bleibt da auch immer der Eindruck, die Union hätte den Bürgern die verschiedenen Krisen überhaupt

Die »wahren« Europäer, so würde das Argument dann lauten, wollten doch gar keine weitere Integration und schon gar nicht den sprichwörtlichen »Superstaat«; so wie korrupte nationale Eliten die Nationalstaaten an sich gerissen hätten, sei Europa den Europäern von den Eliten geraubt worden, die nun zum Beispiel als Einzige von den offenen Grenzen profitierten. Vor allem Viktor Orbän hat schon mehrmals versucht, eine Art paneuropäischen Kulturkampf anzuzetteln, bei dem sich »nationale, christliche« Europäer öffnungsorientierten liberalen Kosmopoliten entgegenstellen (wobei Orbän 2015 das Ende der Ära des »liberalen Blah-Blahs« gekommen sah; sein polnischer Kollege Witold Waszczykowski glaubt hingegen nach wie vor, gegen einen »neuen Mix von Kulturen und

erst eingebrockt

be-

Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die

kanntlich die treibenden Kräfte hinter der Währungsunion, den Dublin-Abkommen etc.). Nunwird oft behauptet, es sei immerhin tröstlich, dass die Populisten sich nicht über Grenzen hinweg verbündenund die Union systematisch zerstören können. Schließlich heißt es häufig, eine Populistische Internationale (was ungefähr das Gleiche wäre wie eine Nationalistische Internationale) könne es per definitionem nicht geben. Wenn s hieße: »Populisten aller Länder — vereinigt Euch!«, würde keiner kommen. Diese Vorstellung ist allerdings reichlich naiv. Denn wie beispielsweise die Entwicklung nach den Europawahlen 2014 gezeigt hat, können sich nationalistische Parteien über das gemeinsame Feindbild EU sehr wohl untereinander verständigen. Was oft übersehen wird, ist, dass sie dies auch aus ihrer populistischen Logik heraus tun könnten:

nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen« ins Feld ziehen zu müssen). Dass ein solcher Konflikt — so er denn nicht in gegenseitiger Verteufelung endet - dabei nicht unbedingt schlecht für Europa sein müsste, wurde oben bereits gesagt. In jedem Fall gilt jedoch: In ihrer aktuellen institutionellen Konfiguration untergräbt die EU sich langsam, aber sicher selbst. Die Zustimmungswerte für die Union

den, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sich Kräfte

finden, die über Grenzen hinweg andere Lösungen anbieten

können.!®

Die

Ressentiments

fressen

sich fest,

und hier ist das Wort insofern angebracht, als sich in der Eurokrise bisher alle als Verlierer - oder anders gesagt: als die Schwachen — sehen. Die Deutschen meinen, ihnen

würde von den Griechen das Geld aus der Tasche gezogen (mithilfe von Brüssel, Paris und vielleicht auch Rom); die Griechen erleben die europäische Integration inzwischen als eine Form von Kolonialismus. Und obwohl die wichtigsten Entscheidungen in, aber nicht von, Brüssel

(dabei waren

126

die Nationalstaaten

sind zwar in vielen Ländern immer noch erstaunlich hoch,

aber jede Krise scheint eine weitere Lose-lose-Situation herbeizuführen: weniger Vertrauen in Brüssel, die Erfahrung, dass der eigene Nationalstaat die Probleme auch nıcht lösen kann, und zunehmende Animositäten inner-

halb dessen, was früher einmal so schön naiv »europäische Familie« hieß. Es spricht vieles dafür, dass die Europäer nicht alles 127

2(;.le1chzeitig haben können: ökonom ische Integration, nationale Souveränität und Demokr atie. Wenn sie auf 21e1?1 Weg éer?ntegration weiter vor anschreiten wollen, müsSEn sıe eın Stück nationale Demokr atie zugunster£ einer supranationalen Demokratie auf geben (was nicht hieße dass dann sofort ein europäischer Bundesstaat entstehen vyürc#e)!” Aber ob sie dazu wir klich bereit sind und wie ste die Konflikte zwischen Öff nung und Abschließung

Schluss: Zusammenfassung in zehn Thesen — und ein Wort zur Zukunft der repräsentativen Demokratie

b

g

>

l

Erstens: Populismus lässt sich nicht an bestimmten Wählern, sozialpsychologischen Profilen oder einem bestimmten »Politikstil« festmachen. Er ist keine umfangreiche Ideologie (im neutralen, rein deskriptiven Sinn) wie Sozialismus, Liberalismus oder auch Neoliberalismus und

Konservatismus (letzterem wird fälschlicherweise oft eine Verwandtschaft mit dem Populismus nachgesagt, weil auch er begrifflich schwer zu fassen ist). Aber der Populismus hat eine spezifische und identifizierbare innere Logik: Populisten sind nicht nur antielitär, sondern grundsätzlich antipluralistisch. Ihr Anspruch lautet stets: Wir - und nur wir — vertreten das wahre Volk. Und ihre politischen Unterscheidungen laufen unweigerlich auf ein moralisches richtig oder falsch hinaus; nie allein auf rechts und links. Kein Populismus ohne moralisch aufgeladene Polarisierung. Zweitens: Demokratie und Repräsentation sind zwei verschiedene Ideen, Repräsentation ist an sich kein demokratisches Prinzip. Populisten sind keine Feinde des Prinzips der Repräsentation. Solange sie in der Opposition sind, bestehen sie allerdings darauf, dass das Volk derzeit von den falschen, ja korrupten Eliten repräsentiert wird. Drittens: Aus Kritik an den falschen Repräsentanten wird dann schnell Fundamentalkritik an demokratischen 128

129

Institutionen schlechthin. Da Populisten die schweigende Mehrheit (eigentlich: alle) vertreten, kann mit den Institutionen etwas nicht in Ordnung sein, da die Populisten sonst ja längst an der Macht wären. Viertens: Populisten konstruieren das Repräsentationsverhältnis ım Sinne eines imperativen Mandats: Der klar identifizierbare Wille des Volkes muss einfach nur umgesetzt werden. Dieser Eindruck einer Willensrepräsentation ıst jedoch irreführend. Gerade weil es diesen singulären Willeneineshomogenen Volks empirischnicht gibt (und er sich schon gar nicht a priori feststellen lässt), weichen die Populisten auf eine eher symbolische Repräsentationsvorstellung aus: Das wahre Volk muss aus der empirischen Gesamtheit der Bürger erst einmal herauspräpariert werden. Konkret heißt das dann: Nur die Fleißigen, das pxeblo Chävez, die Christlich-Nationalen oder die descami-

sados usw. sind das wahre Volk. Fünftens: Populisten spielen dieses symbolisch konstrulerte Volk systematisch gegen die bestehenden Institutionen aus. Ihre Vorstellung eines wahren, moralisch reinen Volkes ıst empirisch nıcht widerlegbar. Sechstens: Populisten sind keine reinen Protest- oder Verweigerungsparteien und damit keineswegs schon per definitionem unfähig zu regieren. Sie regieren dann freilich gemäß der inneren Logik des Populismus: Sie und nur sie repräsentieren das wahre Volk; so etwas wie eine legitime Opposition kann es gar nicht geben. Siebtens: Konkret heißt dies, dass Populisten den Staat vereinnahmen, checks and balances schwächen oder gar ganz ausschalten, Massenklientelismus betreiben und jegliche Opposition in der Zivilgesellschaft oder den Me130

dien zu diskreditieren suchen. Sie tun all dies mithilfe einer expliziten moralischen Selbstrechtfertigung: In einer Demokratie soll das Volk »seinen« Staat ın Besitz nehmen; Wohltaten sollen an das einzig wahre Volk gehen und nicht an diejenigen, die gar nicht dazugehören; oppositionelle Stimmen ın Medien und Zivilgesellschaft seien das Sprachrohr ausländischer Mächte, was in einer genuinen Demokratie natürlich nicht zulässig seı. Achtens: Die Tendenz von Liberalen, oppositionelle populistische Gruppierungen einfach auszugrenzen, ist problematisch. Denn damit macht man ja genau das, was man den Populisten berechtigterweise selbst vorwirft: Man schließt im Namen der Moral aus, genau wie die Po-

pulisten manche Bürger moralisch vom wahren, homogenen Volk ausschließen. Statt moralisch zu diskreditieren,

sollten liberale Demokraten aber erst einmal diskutieren — und sei es, um Fakten gerade zu rücken. In Fällen, in denen Populisten Volksverhetzung betreiben oder gar zur Gewalt aufrufen, greift das Strafrecht. In allen anderen jedoch — so persönlich unangenehm oder politisch unappetitlich dies auch sein mag - muss man nun mal die Ansprüche, und nicht nur die vermeintlichen Ängste‚

der Bürger ernst nehmen. Mit einem »Aufstand der Anständigen«, die sich ob ihres Anstands gegenseitig auf die Schultern klopfen, ist es nicht getan. Neuntens: Neben Selbstwidersprüchen wie »Schließen wir die aus, die andere ausschließen wollen!« hat die libe-

ral-demokratische Position potenziell aber noch eine viel grundlegendere Schwäche: Sie scheint auf ein »Inklusion über alles!« hinauszulaufen. Aber solange es verschiedene Staaten und Staatsvölker gibt und diese Institutionen 131

Menschen normativ, und nicht nur praktisch, viel bedeuten, scheint das kein sehr überzeugender Imperativ. Die liberalen Demokraten nehmen stillschweigend an, dass wer den Pass eines bestimmten Landes besitzt oder längere Zeit auf einem Staatsgebiet gelebt hat, dazugehören sollte. Somit ist das Inklusionskriterium der Liberal-Demokraten letztlich jedoch eine Sache empirischer Zufälle-während gerade der Populist, so scheint es, hier moralische Substanz anbieten kann (beispielsweise ın Form eines »Nur wer arbeitet, gehört dazu!«). Somit sehen sich liberale Demokraten im Gegensatz zu den Populisten mit einer der schwierigsten philosophischen Paradoxien der Demokratie überhaupt konfrontiert: Fragen der demokratischen Inklusion lassen sich nicht demokratisch entscheiden. Denn wer sagt, die Grenzen der Demokratie sollten vom Demos bestimmt werden, muss ja erst einmal feststellen, wer zum Demos gehört — ... was ja gerade die Frage war. Sind liberale Demokraten hier also, was eine normative

Untermauerung der Demokratie und Argumente gegen Populisten anbelangt, schlicht aufgeschmissen? Nicht unbedingt. Denn die Vorstellung, es müsse ein festes, philosophisch ein für alle Mal unangreifbares Kriterium für politische Zugehörigkeit geben, ist selbst fragwürdig. Keine Demokratie entsteht aus dem Nichts, alle beruhen auf

sprechen; ja, man könnte sogar sagen: Volk wird zum Prozess.!8 Es gibt selbstverständlich keine Garantie, dass diese Prozesse immer in die richtige Richtung laufen. Kein Geringerer als Martin Luther King,Jr. meinte einmal, der Bogen des moralischen Universums sei lang, aber er neige sich Richtung Gerechtigkeit. Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht. Es kommt

eben darauf an, dass es

Bürger gibt, die bereit sind, für Gerechtigkeit einzustehenund beispielsweise klar zu sagen, dass ın einer Demokratie die Parole »Wir sind das Volk« (wie zum Beispiel bei Pegida) in der Tat auf ein »Und Ihr gehört nicht dazu« hinausläuft. Im zweiten Schritt müssen solche Bürger aber auch erklären, warum es eine Sache der Gerechtigkeit und des Anstands — und nicht nur eine empirische Tatsache — ist, dass auch diejenigen dazugehören, welche die Populisten ausschließen wollen. Zehntens: Gibt es in Europa heute besonders viele Populisten? Ja. Wird der Populismus-Begriff von europäischen Eliten (bewusst oder unbewusst) überdehnt, um missliebige Kritik ignorieren zu können? Auch darauf muss die Antwort »ja« lauten. Und die Anforderungen an die politische Urteilskraft werden noch einmal dadurch erhöht, dass manche Politiker, Parteien und Bewe-

gungen zwischen Demokratie und Populismus changieren. Wenn Beppe Grillo die großen italienischen Parteien

historischen Zufällen — und nicht zuletzt vielen Ungerechtigkeiten. Demokratie ist aber auch eine Sache von Verfahren, in deren Rahmen Ungerechtigkeiten korrigiert und neue Kriterien der Zugehörigkeit ausgehandelt werden können. Das Volk erscheint dann im Plural, ist »polyphon« (Pierre Rosanvallon), statt mit einer vox populı zu

stimmen müssen. Wenn er aber fordert, seine Bewegung verdiene hundert Prozent der Sitze im Parlament (sprich: alle anderen politischen Akteure seien eigentlich ıllegitim), agiert er eindeutig wie ein Populist. Insofern ist Po-

132

133

kritisiert, wird man ıhm wohl oder übel in Vielem zu-

pulismus ein Phänomen, das uns dazu zwingt, darüber

nachzudenken, was wir von der Demokratie eigentlich erwarten, was wir mit ıhr erreichen wollen und von wel-

chen Fiktionen sich aufgeklärte Demokraten besser verabschieden sollten (auch eine einstimmige Entscheidung ım Parlament ist nicht »der Volkswille«, genauso wenig wie ein »Volksentscheid«, bei dem einhundert Prozent

der Teilnehmer für einen Vorschlag votieren). Was immer man sonst von ihnen halten mag: Laut der Satzung von Pegida e. V. besteht der Vereinszweck in der »Förderung von politischer Wahrnehmungsfähigkeit«. Und dazu tragen Populisten nolens volens tatsächlich etwas bei. Solange wir in repräsentativen Demokratien leben, wird es Populismus geben, Repräsentation ist kein an sich demokratisches Prinzip (historisch ging dieses Prinzip zudem der modernen Demokratie voraus).!8® Eine funk-

tionierende Demokratie ermöglicht allerdings die Vervielfachung von Ansprüchen darauf, für erwas und jemanden repräsentativ zu sein — auch jenseits des Nationalstaats. Wer zum Beispiel eine andere, weniger am kurzfristigen Interesse der Nationalstaaten orientierte Politik für die EU will, muss auch für andere Repräsentationsverhältnisse in Europa sorgen — sıch also nicht prımär von seiner nationalen Regierung, sondern beispielsweise von einer gewählten Europäischen Kommission vertreten lassen oder von einem Europaparlament mit erweiterten Kompetenzen. Es ist schlicht nicht möglich, die Konfliktlinien innerhalb einer Gesellschaft objektiv richtig abzubilden, aber ein halbwegs intakter politischer Prozess ermöglicht es, gesellschaftlichen Pluralismus in das politische System

134

zu übersetzen. Wobei Pluralismus keine feste Größe ist;

auch er wird immer wieder in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Bürgern geformt, die sich als Freie und Gleiche — aber auch als in ihren Interessen und ldentitäten Verschiedene — wechselseitig anerkennen (Populisten hingegen kürzen diesen komplizierten, anstrengenden Prozess ab und insistieren auf einer einzigen korrekten, letztlich symbolischen Repräsentation eines vermeintlich einheitlichen Volkswillens). Unsere liberalen Demokratien sind keine Demokratien ım Sinne der alten Athener, was vor allem bedeutete: gemeinsames Handeln von Gleichen, ohne Vermittlung,

ohne Repräsentation.!” Aber auch wenn die Erwartungen, so etwas wie kollektive Autonomie herstellen zu können, immer wieder weitgehend enttäuscht werden, ist un-

sere repräsentative Demokratie auch nicht nichts. Solange wir kein Modell einer postrepräsentativen Demokratie haben, die auch wirklich demokratisch ist, sollte man die

repräsentative Demokratie nicht leichtfertig abschreiben.!?! Vorallem sollte man das Feld nicht Populisten überlassen, die so tun, als könnten sie das ursprüngliche Versprechen der Demokratie auf kollektive Autonomie einlösen. Sie können es nicht.

135

Anmerkungen

—m

Zum Auftakt: Wer ist eigentlich kein Populist? Eine englische Übersetzung von Orbäns berüchtigter Rede aus dem Juli 2014, inder erankündigt, er wolle einen »illiberalen Staat« errich-

D

ten (und nicht, wie häufig behauptet, eine »illiberale Demokratie«), ist online verfügbar unter: {http://budapestbeacon.com/public-poli cy/full-text-of-viktor-orbans-speech-at-baile-tusnad-tusnadfurdoof-26-july-2014/ 10592} (Stand Januar 2016). Van Rompuy im Wortlaut: »Die große Gefahr ist der Populismus.

Als Belgier weiß ich, was das heißt.« (Michael Stabenow, »Anlaufstelle für Merkel und Sarkozy«,

Interview mit Herman

Van Rompuy,

in: Frankfurter Allgemeine Zeitung [9. April 2010], online verfügbar unter: {http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/ eu-ratspraesident-van-rompuy-anlaufstelle-fuer-merkel-und-sarko zy-1965888,html} (Stand Januar 2016).

3 Vgl. dazu vor allem die Veröffentlichungen der spanischen Juristen Roberto Viciano Pastor und Ruben Martinez Dalmau. 4 Chantal Mouffe, »Für einen linken Populismus: Unser Gegner sind nicht Migranten, sondern die politischen und ökonomischen

Kräfte

mn

des Neoliberalismus«, in: Internationale Politik und Gesellschaft (30. März 2015), online verfügbar unter: {http://www.ipg-Journal, de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/fuer-einen-linken-populis mus-857/} (Stand Januar 2016).

Adams Rede auf dem Berliner Gründungsparteitag der AfD im April

2013 ist online verfügbar unter: {http://afd-opf.de/konrad-adamauf-dem-gruendungsparteitag-in-berlin/} (Stand Januar 2016). 6 Matthias Dusini, »Volksvertreter, Volksverräter« (18. November 2015), in: Falter 47/2015.

7 Cas Mudde/Crist6bal Rovira Kaltwasser (Hg.), Populism in Europe

and the Americas: Threat or Corrective for Democracy?, New York: Cambridge University Press 2013. 8 Lothar

Probst,

»Demokratie

braucht

Populismus«,

in: Frankfurter

Allgemeine Sonntagszeitung (2. Dezember 2001). 9 Siche auch Koen Abts/Stefan Rummens, »Populism versus democracy«, in: Political Studies 55/2007, S. 405-424. 10 Ivan Krastev, »The populist moment« (18, September 2007), online verfügbar unter: {http://www.eurozine.com/articles/2007-09-18krastev-en.html} ($Stand Januar 2016); Mouffe, »Für einen linken Po-

pulismus«, a.a. O. 137

Ghita Ionescu/Ernest Gellner (Hg.), Populism: Its Meaning and National Characteristics, London: Weidenfeld & Nicolson 1969, 5. 1-5, S. ı. 12 Giovanni Sartori, »Concept misformation ın comparative politics«, in: American Political Science Review 64/1970, S. 1033-1053. 13 Thomas Mayer, »Die Gefahr der Populisten«, in: Frankfurter Allgemeine

Sonntagszeitung

(4. Januar

2016),

online

verfügbar

unter:

2



ı1

der Demokratie — betont Margaret Canovan in ihrem Aufsatz »Trust the people! Populism and the two faces of democracy« (in: Political Studies 47/1999, S. 2-16). Ralf Dahrendorf, »Acht Anmerkungen zum Populismus«, in: Transit: Europäische Revue

25/2003, S. 156-163.

22 Wobei man durchaus sagen kann, dass Populismus oft vereinfachend

ist — aber nicht schlichtweg im Sinne von unterkomplexen policies, Pierre Rosanvallon hat drei Vereinfachungen identifiziert: eine soz10-

{http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mayers-weltwirtschaft/may ers-weltwirtschaft-die-gefahr-der-populisten-13994661.html} (Stand Januar 2016).

logisch-politische (das Kollektivsubjekt »Volk« im offensichtlichen Kontrast zu »den Eliten«), eine prozedural-institutionelle (allein

14 Vgl. Kurt Weyland, »Neopopulism and neoliberalism in Latin Ame-

das Referendum ist demokratisch) und eine Vereinfachung des sozia-

rica: Unexpected affinities«, in: Studies in Comparative International Development 31/1996, S. 3-31; Cristöbal Rovira Kaltwasser, »From right populism in the 19908 to left populism in the 20008 —

len Zusammenhalts (der angeblich schlicht durch homogene Identität hergestellt wird); vgl. Pierre Rosanvallon, »Penser le populisme«, in: La Vie des idees (27. September z011), online verfügbar unter: {http:// www.laviedesidees.fr/Penser-le-populisme.html} (Stand Januar 2016). 23 Was alles nicht heißen soll, dass es Statusstress und Sorgen angesichts zunehmender Ungleichheit (und zwar in Zeiten signifikanten Wirt-

and back again?«, in: The Resilience of the Latin American Rıght, herausgegeben von Juan Pablo Luna und Cristöbal Rovira Kaltwasser, n

Baltimore: Johns Hopkins University Press 2014, S. 143-166. I

So definiert Paul Taggart Populismus angesichts der vermeintlichen inhaltlichen Beliebigkeit als »empty-hearted«, weist aber gleichzeitig darauf hin, dass Populisten das authentische Volk immer mit einem

mythischen »heartland« identifizieren: »Populismus ist ein episodischer, antipolitischer, inhaltsleerer, chamäleonhafter Lobgesang auf die Werte des wahren Landes [heartland], der in Krisenzeiten regelmäßig angestimmt wird.« (Paul Taggart, Populism, Buckingham: Open University Press 2000, S. 5). 16 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 5. 6097.

schaftswachstums) gar nicht gäbe: Das Leiden ist real; vgl. Steffen Mau, Lebenschancen: Wohin driftet die Mittelschicht?, Berlin: Suhr-

kamp 2012; Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände, Folge 10, Berlin: Suhrkamp 2011. 24 Siehe dazu auch David Runciman, T7he Confidence Trap: A History of Democracy in Crisis from World War I to the Present, Princeton: Princeton University Press 2013. 25 Eine extreme Version dieser These findet sich bei Marco D’Eramo, »Populism and the new oligarchy«, in: New Left Review 82/2013, S. 5-28. 26 Karin Priester, Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt am Main: Campus 2012, 5. 17.

27 Mark Elchardus/Bram Spruyt, »Populism, persistent republicanism 1. Populismus:

Theorie ...

17 Nikolaus Werz, »Einleitung: Populismus und Populisten«, in: Popyu-

and declinism: An empirical analysıs of populism as athin ideology«, in: Government and Opposition 51/2016, S. u1-133. 28 Roy Kemmers/Jeroen van der Waal/Stef Aupers, »Becoming politi-

lismus: Populisten in Übersee und Europa, herausgegeben von Niko-

cally discontented: Anti-establishment careers of Dutch nonvoters

laus Werz, Opladen: Leske + Budrich 2003, S. 7-14, S. 13. ı8 Hans-Jürgen Puhle, »Zwischen Protest und Politikstil: Populismus, Neo-Populismus und Demokratie«, in: Populismus: Populisten in Übersee und Europa, herausgegeben von Nikolaus Werz, a.a.O., S. 15-43, S. 17 undS. 42.

and

PVV

voters«,

in: Current

Sociology

18/2015,

S. 1-18; vgl.

auch

Lars Geiges/Stine Marc/Franz Walter, Pegida: Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, Bielefeld: Transcript 2015.

29 Vgl. zu dieser »gender gap«, die es so in Lateinamerika nicht gibt, Cas Mudde/Cristöbal

Rovira Kaltwasser,

»Populism«,

in: The Oxford

Helmut Dubiel, »Das Gespenst des Populismus«, in: Populismus und

Handbook of Political Ideologies, herausgegeben von Michael Free-

Aufklärung, herausgegeben von Helmut Dubiel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 33-50, S. 35. 20 Dieses Erlösungsversprechen — in ihren Augen ein legitimer Aspekt

den et alı, New York: Oxford University Press 2013, S. 493-512. 30 Bert N. Bakker/Matthijs Rooduijn/Gijs Schumacher, »The psychological roots of populist voting: Evidence from the United States, the

138

139

19

Netherlands and Germany«, in: European Journal of Political Re-

Was führte diese Goten und Vandalen in unser Land? Vor allem den Fabrikbesitzern wird man dafür die Schuld geben müssen. Sie wollten billige Arbeiter, und sie scherten sich einen feuchten Dreck darum, wie sehr ihre herzlose Politik unsere Zukunft bedrohen würde.« (Zit.

search (im Erscheinen). Die Autoren schlussfolgern unverblümt: »Populisten wie Marine Le Pen, Geert Wilders, Sarah Palin und Nigel Farage haben das Kunststück fertiggebracht, Wähler mit eher unangenehmen Persönlichkeitsstrukturen zu mobilisieren. Das ist es, was sie über unterschiedliche politische Kontexte hinweg gemeinsam haben, was sie innerhalb des politischen Kontexts von den etablierten

31

3

Nx

32

Parteien unterscheidet und was ihrem möglicherweise überraschenden Erfolg zugrunde liegt.« Einschlägig sind hier die ersten Kapitel der Genealogie der Moral. Max Schelers Gedanken zum Ressentiment harren noch einer Rehabilitierung.

35 36

37

ber 2015}, online verfügbar unter: {http://www.newyorker.com/ma gazine/2015/09/o07/the-populists} [Stand Januar 2016]). 39

C. Vann Woodward, »The populist heritage and the intellectual«, in:

The American Scholar 29/1959-60, S, 55-72. 40 Lipset behauptete unverblümt, populistische und extremistische Bewegungen seien attraktiv für »die Unzufriedenen und die psycho-

logisch Heimatlosen, [...] die persönlich Gescheiterten, die sozial

Ein wichtiger Versuch, sich der Tea Party jenseits kruder sozialpsy-

Isolierten, die wirtschaftlich Prekären,

chologischer Diagnosen zu nähern, findet sich bei Lisa Disch, »The Tca Party: A >»white citizenship movement«?«, in: Steep: The Precipitous Rise of the Tea Party, herausgegeben von Lawrence Rosenthal

und autoritären Persönlichkeiten«

und Christine Trost, Berkeley: 34

nach George Packer, »The Populists«, in: The New Yorker[7. Septem-

University of California Press 2012,

S. 133-151. Zit. nach Margaret Canovan, Populism, New York: Harcourt Brace Jovanovich 1981, S. 33. Ebd,, S. sı£. Laut Tim Houwen wurde das Adjektiv »populistic« zum ersten Mal im Jahr 1896 in einem Artikel in dem Magazin The Nation verwendet (The Non-European Roots of the Concept of Populism, Sussex European Institute, Working Paper Nr. 120). Wobei »Populismus« nicht die einzige politische Vokabel ist, die eine

schrieb: »Ob er [Jefferson] es sıch je hätte träumen lassen, dass sich seine Partei innerhalb von nicht einmal hundert Jahren

42

länger wie Amerikaan, sondern wie Ausland. Die gefährlichsten, zerstörerischsten Horden der Alten Welt sind beiuns einmarschiert. Angesichts der Sünden und des Verbrechertums, deren Saat sie in unserer Mitte ausgestreut haben, erfassen einen Übelkeit und Schrecken.

140

1963,

Karin Priester, Populismus: Historische und aktuelle Erscheinungsfor-

men, Frankfurt am Main: Campus 1998. 43 Hier stimme ıch ım weitesten Sinne mit dem sehr einflussreichen

»ideologischen« Ansatz von Cas Mudde überein — wobei die Unterschiede im Folgenden noch deutlich werden sollen; vgl. beispielswei-

44

se Cas Mudde, sıtion 39/2004, Priester spricht und unten; vgl.

»The populist zeitgeist«, in: Government and OppoS. $42-563. von einem »dualen Schließungsprozess« nach oben Priester, Rechter und linker Populismus, a.a.O.,5. 94.

45 Ich danke Ivan Krastev für viele Gespräche und Hinweise in diesem 46

Zusammenhang. Inzwischen gibt es eine ausführliche rechtswissenschaftliche Litera-

tur zu diesem Thema; vgl. beispielsweise Paul Clement/Neal Katyal, »Onthe meaning of>natural born citizen««, in: Harvard Law Review

für die widerwärtigsten Ziele der Monopole prostituieren würde;

anderer Stelle heißt es: »Der Abschaum der Schöpfung wurde über unsausgeschüttet. Einige unserer wichtigsten Städte fühlen sich nicht

rohen

Lipset, Political

S. 178). 4A1 Victor C. Ferkiss, »Populist influences on American fascism«, in: The Western Political Quarterly 10/1957, S 350-373, S. 352.

38 Watson

dass jüdische Millionäre mit flackernden Augen an der Spitze dieser Partei stehen würden und das die Freiheit und der Wohlstand dieses Landes unablässig und auf korrupte Weise der Gier der Plutokraten geopfert würden, und das auch noch im Namen der jeffersonschen Demokratie?« (Zit, nach Michael Kazin, The Populist Persuasion: An American History, Ithaca: Cornell University Press 1998, S. 10), An

M.

Man: The Social Bases of Politics, Garden City, NY: Doubleday

solche normative Verwirrung produziert; enorme Bedeutungsunter-

schiede gibt es auch bei dem Begriff »Liberalismus«,

für die ungebildeten,

(Seymour

47

128/2014-2015, S. 161-164. Man kann sogar versuchen, den Slogan »Wir sind das Volk« juristisch für sich zu reservieren, Es ist eine skurrile, symbolisch aber doch

nicht ganz unbedeutende Geschichte, dass eine rechtspopulistische Vereinigung vor einigen Jahren versuchte, sich die »Wortmarke« »Wir sind das Volk« als Parteiname (>»WS$DV«) beim Patentamt München schützen zu lassen; vgl. zu den Hintergründen N. N., »Rechts-

populisten sichern sich »Wir sind das Volk««, in: Die

Welt (13. Mai

2013), online verfügbar: {http://www.welt.de/politik/deutschland/ article115838903 /Rechtspopulisten-sichern-sichhtml} (Stand Januar 2016).

141

Wir-sind-das-Volk.

48 Hier gibt es dann doch einige empirische Belcge dafür, dass Wähler

siven Angriffen durch die Migranten ausgesetzt, denen man erlaubt hat, ins Land zu kommen. Silvester war eine Katastrophe. DENKEN SIE NACH!« (Im Original: »Germany is going through massive attacks to its people by the migrants allowed to enter the country. New Years Eve was a disaster. THINK!«, 6. Januar 2016); am 7. Januar ließ er diesen Tweet folgen: »Mann in Pariser Polizeiwache erschossen. Die Behörden haben eben die höchste Terrorwarnstufe verkündet.

populistischer Parteien nicht pluralistisch eingestellt sind, wobei im niederländischen Kontext die linken Populisten noch eher bereit zu sein scheinen, sich andere Meinungen anzuhören; vgl. Agnes Akkerman/Cas Mudde/Andrej Zaslove, »How populist are the people? Measuring populist attitudes in voters«, ın: Comparative Political Studies 47/2014, S. 1-30. 49 Zit. nach Hans Jörg Hennecke, »Das Salz in den Wunden der Konkordanz: Christoph Blocher und die Schweizer Politik«, in: Populis-

'Totales Chaos/große Verbrechen in Deutschland. WACHT AUF!«

mus: Populisten in Übersee und Europa, herausgegeben von Nikolaus

threat is at highest level. Germany ıs a total mess — big crime. GET

und auch nicht die Institution als solche könne einen moralischen Alleinvertretungsanspruch erheben; vgl. Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin: Duncker & Humblot 1974, S. 406-409.

Bernard Manin, 7he Principles of Representative Government, New York: Cambridge University Press 1997.

58

Ebd.; vgl auch Wolfgang Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die

Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt am Maıin: Fischer 2008. 59 Carl Schmitt, Verfassungslehre, Berlin: Duncker & Humblot 1993 [1928], S. 237. 60

Ein Punkt, an dem bekanntlich Jacques Ranci&re und viele andere Kritiker eines etatistisch verengten Demokratiebegriffs ansetzen.

6

Man muss hier zwischen externer und interner leadership unterscheiden. Letztere ist auf die Dauer nicht weniger wichtig als die Ausstrahlung einer charismatischen Gründerfigur: Jemand muss die Partei institutionalisieren und das Charisma »veralltäglichen«; vgl. Sarah L. de Lange/David Art, »Fortuyn versus Wilders: An agency-based approach to radical right party building«, in: West European Politics 34/2011, S. 1229-1249.

62

Repräsentation und das Symbolische, herausgegeben von Paula Diehl und Felix Steilen, a.a. O., S. 23-49. 55 Zit. nach Zsolt Enyedi, »Plebeians, citoyens and aristocrats or Where

is the bottom of the borttom-up? The case of Hungary«, in: Exropean Populism in the Shadow of the Great Recession, herausgegeben von Hanspeter Kriesi und Takis S. Pappas, Colchester: ECPR Press 201$5, S. 235-250, S. 239f. 56 Manche Beobachter sprechen gar von »epistemologischem Populismus«, Eine Besonderheit von Trumps Rhetorik ist das immer wieder-

that terror

SMART!«)

52 Barbara Stollberg-Rilinger, »Vormoderne politische Repräsentation als Abbildung und Zurechnung«, in: Politische Repräsentation und das Symbolische: Historische, politische und soziologische Perspektiven, herausgegeben von Paula Diehl und Felix Steilen, Wiesbaden: Springer VS 2016, 5. 133-55. 53 Priester, Rechter und linker Populismus, a.a.O., S. 55. 54 Einen guten Überblick bietet hier Gerhard Göhler, »Symbolische Repräsentation aus deutscher und französischer Sicht«, in: Politische

shot inside Paris police station. Just announced

57



Werz, a.a.O., S. 145-162, S. 154. 5o Ebd,, S. 150. sı Heute soll ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete bekanntlich alle repräsentieren, nicht nur die Menschen in seinem oder ihrem Wahlkreis, in seiner oder ihrer Partei etc. (ein Gedanke, der auf den Abb& Sieyes zurückgeht). Der Bundestag bietet jedoch keine symbolische Repräsentation des Ganzen, und kein Abgeordneter, keine Partei

(»Man

In der Wahlwerbung der Chävisten hieß es denn auch: »Chävez ist das Volk! Wir sind Chävez! Die Millionen sind Chävez! Auch Du bist Chävez!«

63 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk: Die Dreigliederung der politi64

schen Einheit, Hamburg: Hanseatische Verlagsgesellschaft 1935. Populismus und Totalitarismus sind beides Möglichkeiten, die erst

mit der modernen repräsentativen Demokratie gegeben sind. Lefort schreibt dazu: »Die Demokratie verbindet diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Prinzipien: Einerseits geht die Macht vom Volk aus; andererseits ıst diese Macht niemandes Eigentum. Aus diesem Widerspruch heraus blüht und gedeiht die Demokratie. Sobald dieser

werden, hat aufgrund seiner besonderen geistigen Fähigkeiten etwas

Widerspruch Gefahr läuft, aufgelöst zu werden, oder wenn er wirklich aufgelöst wird, steht die Demokratie unmittelbar vor ihrer Zer-

kehrende

»Think

about

it!«. Trump,

so soll damit

wohl

suggeriert

als Erster begriffen, was eigentlich jeder mit etwas Nachdenken ver-

störung - oder sie ist bereits zerstört. [... ] Wann immer diese Vorstel-

stehen kann. Diese Figur findet sich etwa in Trumps Tweet nach den

lung des Volks verwirklicht wird, wann immer eine Partei von sich

Silvester-Übergriffen in Köln: »Deutschland sieht seine Leute mas-

behauptet, sie sei mit dem Volk identisch, und unter dem Mantel die-

142

143

ser Identifikation die Macht an sich reißen möchte, wird das Prinzip

75 Nancy

of Parties and Partisanship, Princeton: Princeton University Press

(»The logic of totalitarianism«, in: The Political Forms of Modern Society: Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, herausgegeben von

76 Wie Jill Lepore gezeigt hat, bezeichnete der Ausdruck »schweigende

herausgegebenen Sonderband von Totalıtarismus und Demokratie

ton: Princeton University Press 2010, S, 4f. 77 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Aalen: Scientia 1981 [1929], S. 22, n 78 Vgl. zu Schmitts und Rousscaus Strategien für einen Umgang mit dieser Unbeständigkeit Samuel Salzborn, »Schmitt, Rousseau und das Paradox des Volkswillens«, in: Legalität ohne Legimität? Carl Schmitts Kategorie der Legitimität, herausgegeben von Rüdiger Voigt, Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 53-75-

Dieses Phänomen ist eine typische Eigenschaft totalitärer Systeme.«

2008.

Mehrheit« die Toten, bevor Nixon ihn umfunktionierte, um auf eine vermeintlich den Vietnamkrieg unterstützende Mehrheit der Amerikaner hinzuweisen; vgl. Jill Lepore, The Whites of Their Eyes: The

John B. Thompson, Cambridge, Mass.: MIT Press 1986, S. 273-291, S. 280). Weiterführende Überlegungen zu Faschismus und Populismus finden sich in dem von Paula Diehl und Stefano Cavazzo (2/2012). 65 Dan T. Carter, »What Donald Trump owes George Wallace«, in: Nez York Times (10, Januar 2016), online verfügbar unter: {http://www.

nytimes.com/2016/o01/ 10/opinion/campaign-stops/what-donald-

trump-owes-george-wallace.html?_r=o} (Stand Januar 2016). 66

Danicle Albertazzi/Duncan York: Routledge 2015, S. 23.

McDonnell,

Populists

in Power,

New

67 Priester, Rechter und linker Populismus, a.a.O., S. 23.

68 Francesca Bassa, »Tosi toglie Napolitano: >»Metto la foto di Pertini««,

Tea Party’s Revolution and the Battle over American History, Prince-

79 Pierre Rosanvallon, »Revolutionary democracy«, in: Pierre Rosanvallon, Democracy Past and Future, herausgegeben von Samuel Moyn,

in: Corriere della Sera (19. Juni 2007), online verfügbar unter: { http:// www.corriere.it/Primo_Piano/Politica/2007/06_Giugno/19/sindaco-

New York: Columbia University Press 2006, S. 79-97, 5. 79£. John Quincy Adams bemerkte denn auch einmal: »Die Demokratie besitzt

keine Monumente. Sie prägt keine Medaillen. Sie trägt nicht den Kopf

verona-napolitano-pertini,shtml?refresh_ce-cp} (Stand Januar 2016).

Freedom in the Netherlands: A political entrepreneur in the Polder«, in: Exposing the Demagogues: Right-wing and National Populist Parties in Europe, herausgegeben von Karsten Grabow und Florian

Hartleb, Konrad Adenauer Stiftung: Berlin 2013, S. 187-203, online verfügbar unter: {http://www.kas.de/wf/doc/kas_35420-544-2-30. pdf?140519123322} (Stand Januar 2016). Ich bin Koen Vossen für Hin-

weise in diesem Zusammenhang zu Dank verpflichtet. 70 Sarah L. de Lange/David Art, »Fortuyn versus Wilders: An agencybased approach to radical right party building«, in: West European 71

Politics 34/201%, S. 1229-1249. Ich danke Cas Mudde für Hinweise in diesem Zusammenhang. Nadia Urbinati, »A revolt against intermediary bodies«, ın: Constel-

lations 22/2015, S. 477-486. Diese Konzeption ähnelt Pierre Rosan-

vallons Begriff einer »unmittelbaren Demokratie«. 73

Beppe Grillo/Gianroberto Casaleggio/Dario Fo, 5 Sterne: Über Demokratie,

Italien

und

die Zukunft

Europas,

Stuttgart:

Klett-Cotta

2013, S. 107. 74 Die Lega Nord war lange wie ein Familien-Clan organisiert; der FN ist buchstäblich die Partei einer Familie, in der zurzeit eine Tochter

und eine Nichte Jean-Marie Le Pens die wichtigsten Führungsfigu-

ren sind,

144

eines Mannes auf einer Münze., Sie ist ihrem Wesen nach ikonoklas-

»Geert Wilders and the Party for

tisch.« (Zit. nach Jason Frank, »The living image of the people«, in: Theory & Event 18/2015).

80 Christoph Möllers, Demokratie: Zumutungen und Versprechen, Berlin: Wagenbach 2008, S. 33f. $



69 Paul Lucardie/Gerrit Voerman,

72

L. Rosenblum, On the Side of the Angels: An Appreciation

einer Trennung zwischen Staat und Gesellschaft [...] selbst negiert.

Vgl. auch Philip Manow, Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008.

82 Die man bei Populisten allerdings auch wiederfindet: Jüngst ließ ein venezolanischer Politiker verlauten: »Uns Chavisten zu sagen, Chävez ist tot, ist wie Christen zu sagen, Christus ist tot.« (Carl Moses, »Bildersturm in Caracas«, in: Frankfurter Allgemeine Zei-

tung [8. Januar 2016], online verfügbar unter: {http://www.faz.net/ aktuell/politik/ausland/amerika/venezuela-bildersturm-in-caracas14004250-p2. html?printPagedArticle=true#pageIndex_2} (Stand Januar 2016).

83 Ernst H, Kantorowicz, The King’s Two Bodies: A Study in Medieval Political Theology, Princeton: Princeton University Press 1997 [1957]), S. 209. 84 Ebd., S. zı ff. 85 Bryan Garsten, »Representative government and popular sovereignty«, in: Political Representation, herausgegeben von Ian Shapiro,

145

Susan

C. Stokes,

Elisabeth Jean Wood

und

Alexander

2....

S. Kirshner,

und Praxis

New York: Cambridge University Press 2009, S. 90-110, S, 91. 86 Wie beispielsweise bei Thomas Frank, Konservativen das Herz von Amerika 2005 [2004].

Was ist mit Kansas los? Wie die erobern, Berlin: Berlin Verlag

97 Eine weitere Variante besteht in der von Karın Priester vertretenen

Vorstellung, Populismus als Regime sei nicht länger Populismus, sondern führerzentrierter Massenklientelismus. Warum diese wundersame begriffliche Verwandlung stattfindet, erklärt Priester allerdings nicht (vgl. Karin Priester, Populismus: Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt am Main: Campus 1998).

87 Michael Saward, »The representative claim«, in: Contemporary Political Theory 5/2006, S. 297-318. 88 Dieser Stil wird heute in den USA besonders von Donald Trump genie davon spreche,

98 Jose Pedro Züquete, »The missionary politics of Hugo Chävez«, in:

dass man sich im Krieg mit dem radikalen islamistischen Terrorismus

Latin American Politics and Society so/2008, 5. 105. 99 Benjamin Moffitt, »How to perform crisis: A model for understanding the key role of crisis in contemporary populism«, in: Govern-

pflegt. In der Diskussion darüber, warum

Obama

befinde — angeblich ein Zeichen von Feigheit vor dem offensichtlichen Feind —, bemerkte Trump:

»Da läuft irgendetwas mit Obama,

ment and Opposition 5o/201$, S. 189-217.

von dem wir nichts wissen.« 89

Kathleen Bruhn, »To hell with your corrupt institutions!: AMLO

100

and populism in Mexico«, in: Populism in Europe and the Americas: Threat or Corrective for Democracy?, herausgegeben von Cas Mudde

Carlos

de la Torre, Populist Seduction

in Latin

America,

Athens:

Ohio University Press 2010, 5. 188, zor: Was

und Crist6bal Rovira Kaltwasser, New York: Cambridge University

nicht heißen

über einen Kamm

soll, dass man

diese beiden einfach

mit Chävez

scheren sollte: Vor allem Letzterer hat sich um

einc inklusive Verfassungspolitik verdient gemacht. Der constitucio-

Press 2012, S. 88-112.

90 Paulina Ochoa-Espejo, »Power to whom? The people between pro-

nalismo comprometido beinhaltet viele neue Grundrechte (wie zum

cedure and populism«, in: The Promise and Perils of Populism: Global

Beispiel das »Recht auf ein gutes Leben«), aber auch Rechte für die

Perspectives, herausgegeben von Carlos de la Torre, Lexington: University Press of Kentucky 2015, 5. 59-90. 9ı Ebd. 92 Dieses Kriterium ist nicht unbedingt subjektiv. Ein beispielhafter

Natur. Zudem machte Morales Bolivien zu einem »plurinationalen« Staat. ı102 Vgl. Peter Mair, Ruling the Void. The Hollowing of Western Demo-

Versuch, den Grad populistischer Rhetorik anhand von Schlüsselsätzen zu messen, ist Keith Hawkins, »Is Chävez populist? Measuring

cracy, London:

103

Verso

2013,

In den Augen Francis Fukuyamas ist Klientelismus eine Frühform

von Demokratie, da er die Mächtigen zwingt, ihren Klienten gegenüber Rechenschaft abzulegen; vgl. Francis Fukuyama, Political Or-

populist discourse in comparative perspective«, in: Comparative Political Studies 42/2009, S, 1040-1067, 93 So die reichlich schwammigen Kriterien für Populismus als politi-

der and Political Decay, New York: Farrar, Straus & Giroux 2014. 104 Siehe Yolanda Valery, »Boliburguesia: nueva clase venezolana«,

scher Stil bei Benjamin Moffitt und Simon Tormey, »Rethinking po-

online verfügbar unter: {http://www.bbc.com/mundo/economia/

pulism: Politics, mediatisation and political style«, in: Political Studies 62/2014, S. 381-397. Vertreter der Rassentrennung, die er mit den berüchtigten Worten

2009/12/091202_ 1045_venezuela_boliburguesia_wbm.shtml} (Stand Januar 2016). ros Sebastiän L. Mazzuca, »The rise of rentier populism«, in: Journal of Democracy 24/2013, S. 108-22.

beschwor:

94 Wallace war Gouverneur von Alabama und einer der prominentesten Erde

106 Karin Priester, Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein

wandelte, ziche ich eine Linie in den Staub und werfe der Tyrannei den Fehdehandschuh hin. Segregation jetzt, Segregation morgen, Segregation für alle Ewigkeit.«

107 Insofern arbeiten Populisten ständig an der »Formierung« oder, härter gesagt, der politischen Gleichschaltung der Gesellschaft: Der »Volks-

95 Robert S. Jansen, »Populist mobilization: A new theoretical approach to populism«, in: Sociological Theory 29/2011,5. 75-96; Kurt

wille« soll auf Dauer ruhiggestellt werden. Man denke an Orbäns »System der nationalen Zusammenarbeit« oder an Erdogans regel-

»Im

Namen

des

größten

Volkes,

das je auf dieser

Chamäleon, Frankfurt am Main: Campus

2012.

Weyland, »Clarifying a contested concept: Populism in the study of

mäßige Ermahnungen, in der türkischen Gesellschaft müsse jeder

Latin American politics«, in: Comparative Politics 34/2001, S. 1-22. 96 Vgl. dazu die Arbeiten von Keith Hawkins.

seinen Platz und seine Grenzen kennen; vgl. H. Ertug Tombus, »Er-

146

dogan’s Turkey: Beyond legitimacy and legality«, online verfügbar 147

unter:

{http://researchturkey.org/erdogans-turkey-beyond-legiti

macy-and-legality/} (Stand Januar 2016).

108 Das funktioniert besonders gut, wenn alle Unzufriedenen auswandern, wie es vor allem im Falle Ungarns in den vergangenen fünf Jahren zu beobachten ist. Konservative Schätzungen gehen von min-

destens 500 000 Bürgern aus, die sich mehr oder weniger freiwillig aus dem Fidesz-Volk ausgeschlossen haben. 109 Vgl. Kurt Weyland, »The threat from the populist left«, in: Journal of Democracy 24/2013, S. 18-32. ı10 Die hauseigene Rechtfertigung

ı11

des

italienischen

Faschismus

als

schen Fluchtwege aus dem Zeitalter der Extreme«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2/2008, S. 40-54. 118 Vgl. beispielsweise György Schöpflin, »Why western liberals misunderstand Hungary«, in: Politico (10. Oktober 2015), online verfügbar unter: {http://www.politico.eu/article/western-liberals-ha

ve-misunderstood-hungary-migration-geneva-convention/}

(Stand

Januar 2016).

119 David Landau, »Abusive constitutionalism«, in: University of California Davis Law Review, 47/2013, S. 189-260.

120 Vgl. dazu vor allem die Stellungnahmen der Venedig-Kommission des Europarats.

Demokratie lieferte Giovannı Gentile; vgl. beispielsweise »The philosophic basis of fascism«, in: Foreign Affairs 6/1927-1928, S. 290304-

ı21 Vgl. zur neuen ungarischen Verfassung vor allem Renäta Uitz, »Can you tell when an illiberal democracy is in the making? An appeal to

Es gibt noch andere Gründe, warum autoritäre Regime ein Interes-

comparative constitutional scholarship from Hungary«, in: Interna-

se an Wahlen haben können: Sie verschaffen Informationen über die Gesellschaft und sind ein Test für die Stärke der Opposition; vgl. Dawn

Brancati,

»Democratic

authoritarianism:

Origins

and

ef-

fects«, in: Annual Review of Political Science 17/2014, S. 313-326.

ı12 Die OSZE bezeichnete die Parlamentswahlen in Ungarn vom April 2014 ausdrücklich als frei, aber nicht fair. 113 Die Idee der »illiberalen Demokratie« wurde von dem US-Intellektuellen Fareed Zakaria Ende der neunziger Jahre in westlichen po-

tional Journal of Constitutional Law 13/2015, S 279-300; Constitu-

tion for a Disunited Nation: On Hungary’s 201 1 Fundamental Law, herausgegeben von Gäbor Attila Töth, Budapest: CEU Press 2012; Constitutional Crisis in the European Constitutional Area: Theory, Law and Politics in Hungary and Romania, herausgegeben von Armin von Bogdandy/Päl Sonnevend, Oxford: Oxford: Hart 2015.

licy-circles populär gemacht — und war damals bereits Teil der ein-

ı22 Zit. nach Agnes Batory, »Populists in government? Hungary’s >»systemof national cooperation««, in: Democratization 23/2016,5. 283-303, 123 Dieter Grimm, »Types of constitutions«, in: The Oxford Handbook

setzenden Katerstimmung nach der zunächst überschwänglichen Euphorie nach 1989. Damals glaubten viele, Demokratie und Rechts-

of Comparative Constitutional Law, herausgegeben von Michel Rosenfeld und Andräs Sajö, New York: Oxford University Press 2012,

staat seien ein politisches Gesamtpaket, das sich eigentlich alle Menschen wünschen würden und das sich mittelfristig in der ganzen Welt durchsetzen werde; vgl. Fareed Zakaria, »The rise of illiberal democracy«, in: Foreign Affairs (November/Dezember 1997), online verfügbar unter: {https://www.foreignaffairs.com/articles/199711-o1/rise-illiberal-democracy} (Stand Januar 2016). 114 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2001 [1940/41]. 115 Vgl. zum Begriff »defekte Demokratie« vor allem die Arbeiten von

Wolfgang Merkel. 116 Orbäns

Grundsatzrede

S. 98-132.

124 Ich danke Wojciech Sadurski für Hinweise in diesem Zusammenhang. ı125 Priester, Rechter und linker Populismus, a.a.O., S. 14. 126 Vgl. »Ein Schritt in Richtung Demokratie«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (5. Januar 2016), online verfügbar unter: {http://

www.faz.net/aktuell/politik/ausland/amerika/parlament-in-vene zuela-tritt-mit-oppositioneller-mehrheit-zusammen-13999306.html} (Stand Januar 2016). 127 Ebd.

zur Identitätskrise des Liberalismus und

128 Wie es natürlich auch wahrscheinlich ist, dass eine exklusive Verfas-

einem Ende der Ära des »liberalen Gequatsches« ist online verfüg-

sung, die eine liberale Oligarchie begünstigt, irgendwann zum Zankapfel werden muss. Die sozioökonomische Ungleichheit in Lateinamerika — die aber nicht automatisch mit politischer Polarisierung

bar unter: {http://www.kormany.hu/en/the-prime-minister/theprime-minister-s-speeches/viktor-orban-s-speech-at-the14th-kot cse-civil-picnic} (Stand Januar 2016). ı117 Vgl. zu Maritains Wandlung vom antidemokratischen zum pro-

demokratischen Liberalen Jan-Werner Müller »Die eigentlich katholische Entschärfung:

Jacques

Maritain 148

und

die christdemokrati-

einhergehen muss — ist einer der Hauptgründe für exklusive Verfassungen (und politische Praxis). 129 In den USA — hier verweise ich noch einmal auf die Genealogie des Wortes »populism« vor dem Hintergrund der Geschichte der ame149

rikanischen People’s Party — werden in der juristischen und politiktheoretischen Diskussion »popular« und »populist« oft als Synonyme verwendet. Beide Termini verweisen auf die Forderung, die Macht der Gerichte zu verringern (sie bringen also Skepsis gegen-

Susan C. Stokes, Elisabeth Jean Wood und Alexander S. Kirshner, New York: Cambridge University Press 2009, S. 90-110. 135 Siehe auch Robert L. Tsai, America’s Forgotten Constitutions: Defi-

über der Idee der »judicial review« zum Ausdruck). Wer aber statt-

nur der Kongress, dann das Volk auf der Straße, dann irgendwelche »outsider«, Elizabeth Beaumont zum Beispiel schreibt nonchalant:

University Press 2014. 136 Claude Lefort, The Political Forms of Modern Society: Bureaucracy, Democracy, Totalitarianism, herausgegeben von John B. Thompson, Cambridge, Mass.: MIT Press 1986, S. 303f.

»Ich bin so frei und verwende die Begriffe yrepublikanısch« bcivic»populär« mehr oder weniger synonym für das alltagssprachliche Verständnis, Bürger, jedenfalls Civic Visions and cracy, New York:

das darunter so etwas versteht wie normale Leute, keine Amtsträger.« (Vgl. The Civic Constitution: Struggles in the Path toward Constitutional DemoOxford University Press 2014, S. 4). Wichtigster

loszutreten ( Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen: das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, Berlin: Duncker & Humblot 1998). Zum Teil sind die Ansprüche an eine Beteiligung des Volkes dabei so vage formuliert wie in folgendem Zitat: Eine Rolle spiele dabei die kollektive Überzeugung, dass »das amerikanische Volk (und seine gewählten Repräsentanten) dauerhaft daran mitwirken sollten, ein zeitgemäßes Verständnis der Verfassung zu erarbeiten« (Tom Donnelly, »Making popular constitutionalism work«, in: Wisconsin Law Review 159/2012, S. 159-194, S. 161 f.). 130 Helmut Dubiel, »Das Gespenst des Populismus«, und

Aufklärung,

herausgegeben

von

Helmut

Pierre Rosanvallon, »Revolutionary democracy«,

Mass.: Harvard

in: Pierre Rosan-

vallon, Democracy Past and Future, herausgegeben von Samuel Moyn, New York: Columbia University Press 2006,5. 79-97,5. 83f. 138

Zit. nach Frank, Constituent Moments,

a.a.O., S. 2. Der Historiker

Daniel T. Rodgers bemerkte denn auch einmal treffend: »Versucht man, die Karriere des Begriffs »Das Volk« nachzuvollziehen, stößt

Bezugspunkt der jüngsten Debatte ist Larry Kramers Buch The People Themselves (New York: Oxford University Press 2004). Ulrich Haltern hat versucht, in der Bundesrepublik eine ähnliche Debatte

Cambridge,

man auf Männer, die ein Wort mit außergewöhnlichen Bedeutungen aufladen, dann aber in dem Moment, wo andere ihre Deutungs-

hoheit anfechten, vor den Konsequenzen davonlaufen.« (Ebd., S, 3). 139 Zit. nach Reinhart Koselleck, »Volk, Nation, Nationalismus, Mas-

se«, in: Geschichtliche Brunner,

Grundbegriffe,

herausgegeben

von

Otto

Werner Conze und Reinhart Koselleck, Band 7, Stuttgart:

Klett-Cotta 1992, S. 141-431, S. 148. 140 Ebd. 141

Deswegen gilt auch nicht: »Wo »Volk« draufsteht, ist in den meisten

Fällen Manipulation

drin«, wie

der Schriftsteller Marko

Martin

meint. Allein der exklusive Repräsentativitätsanspruch ist notwendigerweise manipulativ; vgl. Marko Martin, »Wir sind das Volk! Von

wegen. Das Volk gibt es nicht«, in: Die Welt [15. März 2015], online

verfügbar

in: Populismus

Dubiel,

am Main: Suhrkamp 1986; S. 33-50, 5. 34. Gilbert Achcar, The People Want: A Radical Exploration of the Arab Uprising, Berkeley: University of California Press 2013, 5. ı. Ernest Laclau, On Populıst Reason, London: Verso 2005. Siehe auch Jason Frank, Constituent Moments: Enacting the People in Postrevolutionary America, Durham: Duke University Press 2010. Die Idee von einfachen Bürgern als »citizen interpreters« oder auch

als »constitutional co-founders« findet sich bei Corey Brettschneider, »Popular constitutionalism and the case for judicial review«, in:

Political Theory, 34/ 2006,5. 516-521; vgl. auch Beaumont, Z7he Civic Constitution, a.a.O.; Peter Häberle, »Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten«, ın: /uristenzeitung (1975), 5. 297-305.

unter:

{http://www.welt.de/debatte/kommentare/arti

cle13843295 7/ Wir-sind-das-Volk-Von-wegen-Das-Volk-gibt-es-nicht. html} (Stand Januar 2016).

Frankfurt 142

Rosanvallon,

»Revolutionary

democracy«,

a.a.O., S. 91.

143 Die Proteste auf dem Tahrir-Platz waren pluralistisch — die Verfassungsgebung durch die Muslimbruderschaft war es bereits nicht mehr:

Die

Brüder

versuchten

mit ihrer exklusiven

Verfassung,

das

Bild des guten moslemischen Ägypters festzuschreiben; für Pluralismus war kein Platz; vgl. auch Gäbor Halmai, »Guys with guns versus guys with reports: Egyptian and Hungarian comparisons« (15. Juli 2013), online verfügbar unter: {http://verfassungsblog.de/ en/guys-with-guns-vs-guys-with-reports-egyptian-and-hungariancomparisons-2/}

(Stand Januar 2016).

134 Bryan Garsten, »Representative government and popular sover-

144 Vgl. zu diesem körperlichen, nonverbalen Protest jüngst auch Judith Butler, Notes Towards a Performative Theory of Assembly, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2015.

150

ISI

eignty«, in: Political Representation, herausgegeben von Ian Shapiro,

145 Ivan Krastev, Democracy Disrupted: The Politics of Global Protest,

losophische Verbindung herzustellen zwischen einem Werteplura-

Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2014, S. 57. 146 »Mir geht es um Respekt«, Erdem Gündüz ım Interview, in: die tageszeitung (7. September 2013), online verfügbar unter: {http:// www.taz.de/ !sos9703/} (Stand Januar 2016).

lismus, wie er von Isaiah Berlin vertreten wurde, auf der einen Seite

3. Vom demokratischen Umgang mit Populisten 147 Ich spare hier die Frage aus, wie sıch andere nationale Regierungen und internationale Organisationen gegenüber populistischen Regimen — wie ich sie im zweiten Kapitel beschrieben habe — verhalten

sollen; ausführliche Überlegungen im europäischen Kontext finden sich dazu in meinem Buch Wo Europa endet: Ungarn, Brüssel und das

right populist parties’ advances — Lessons from the German case 1982-2012«, in: Rising Populism and European Elections: Collection of Selected Contributions, online verfügbar unter: (http://www.ie donline.eu/download/2014/Rising-Populism-European-ElectionsIED-2014.pdf} (Stand Januar 2016), S. 128-152. 156 Heiko Giebler/Onawa Promise Lacewell/Sven Regel/Annika Wer-

Schicksal der liberalen Demokratie (Berlin: Suhrkamp 2013). Die em-

ner, »Niedergang oder Wandel? Parteitypenund die Krise der reprä-

pirische politikwissenschaftliche Literatur ist sich weitgehend darin einig, dass es von linkage (kurz gesagt: Wie stark ist ein Land inter-

sentativen Demokratie«,

national integriert?) und leverage (Welche Druckmittel, beispielsweise durch Sanktionen, haben andere Länder und internationale

Organisationen?) abhängt, ob Dritte ein Regime von außerhalb beeinflussen können; vgl. Steven Levitsky/Lucan A, Way, »Linkage versus leverage. Rethinking the international dimension of regime change«, in: Comparative Politics 38/2006, S. 379-400. 148

und liberalen Prinzipien auf der anderen; vgl. zum Beispiel Robert B. Talisse, »Does value pluralism entail liberalism?«, in: Journal of Moral Philosophy 7/2010, S. 302-320. 154 Siehe auch John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. 155 Timo Lochocki, »Which political processes hamper and benefit

Cristöbal Rovira Kaltwasser, »T'he responses of populism to Dahl’s

stand einer libertären Mittelklasse, der kein positives Programm aufweise, sondern einer »democracy of rejection« den Weg bahnen würde (vgl. Krastev, Democracy Disrupted, a.a. O.). Wenn diese These stimmt, würde der vermeintlich aktive, de facto aber eher passıve Protest einhergehen mit der von Manin und Jeffrey Green beschriebenen »Publikumsdemokratie« (audience democracy); vgl. Manin, The Principles; Jeffrey Edward Green, The Eyes of the People: Democracy in an Age of Spectatorship, New York: Oxford University Press 2010. 159 Vgl. Demokratie und Krise, herausgegeben von Wolfgang Merkel, a.a.0. 160

S. 649-665.

153 Sohates sich denn auch als enorm schwierig herausgestellt, eine phi-

152

A, Jakobsen, »Revolte von

Herausforderung der Zivilgesellschaft durch alte Ideologien und neue Medien, herausgegeben von Frank Decker, Bernd Henningsen und Kjetil A. Jakobsen, Baden-Baden: Nomos 2015, S. 13-25, S. 13. Hier ist sicherlich die Nachfrage erlaubt, ob Deutschland und Italien »souverän« waren und ob Frauen und sexuelle Minderheiten seiner-

16



Abts, »Defending democracy: The concen-

tric containment of political extremism«, in: Political Studies 58/2010,

Frank Decker/Bernd Henningsen/Kjetil

rechts«, in: Rechtspopulismus und Rechtsextremismus in Europa: Die

When the State Speaks, What Should It Say?, Princeton: Princeton University Press 2012. Stefan Rummens/Koen

in: Demokratie und Krise, herausgegeben

Wiesbaden: Springer VS, S. 181-215.

158 Ivan Krastev interpretiert die globale Protestwelle als eine Art Auf-

völkerung abwerten oder gar explizit ausschließen wollen, tatenlos zusehen muss. Der Staat selbst kann eine liberal-demokratische Gegenrede bieten; vgl. zu diesem Gedanken Corey Brettschneider,

152

Merkel,

157 Peter Mair, Ruling the Void. The Hollowing of Western Democracy, London: Verso 2013.



democratic dilemmas«, in: Political Studies 62/2014, S. 470-487. 149 Vgl. zum Prozesscharakter der Demokratie auch Paulina Ochoa Espejo, The Time of Popular Sovereignty: Process and the Democratic State, University Park, Penn.: Penn State University Press 2011. 150 Vgl. auch Jürgen Habermas, »Der demokratische Rechtsstaat — eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien?«, ın: Jürgen Habermas, Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, 5. 133-151. Dass der Staat populistische Parteien nicht verbieten soll, ist eine 15 Sache; daraus folgt jedoch nicht, dass er Populisten, die Teile der Be-

von Wolfgang

zeit der Aussage zugestimmt hätten, dass die Prinzipien der Teilhabe und Gleichheit »optimal« zur Geltung kamen. Eine ausführliche Version dieses historischen Arguments findet sich in meinem Buch Das demokratische Zeitalter: Eine politische Ideengeschichte Europas im zwanzigsten Jahrhundert, Berlin: Suhrkamp 2013.

153

162 Vgl. auch Peter L. Lindseth, »The paradox of parliamentary supremacy: Delegation, democracy, and dictatorship in Germany and France, 1920-19508«, in: Yale Law Journal 113/2004, S. 1341-1415. 163 Vgl. Samuel Issacharoff, Fragile Democracies, New York: Cambridge University Press 2015. Autoren, die Verfassungsgerichte als undemokratisch kritisieren, betonen denn auch, dass es in fragilen Demokratien gute Gründe für »judicial review« geben kann; vgl. Jeremy Waldron, »The core of the case against judicial review«, in: Yale Law Journal 115/2006, S. 1346-1406.

164 Catherine Dupre, »Unconstitutional constitution: A timely concept«, in: Constitutional Crisis in the European Constitutional Area,

herausgegeben von Armin von Bogdandy und Päl Sonnevend, Baden-Baden: Nomos 2015, S. 351-70. 165

Zit. nach Zsolt Enyedi, »Plebeians, citoyens and aristocrats or Where

Post-Crisis: Has Integration Gone Too Far?, Cambridge: Cambridge University Press 2014). 172 Monika Maron, »Merkels kopflose Politik macht die Rechten stark«,

in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14. Januar 2016), online verfügbar unter: {http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/ monika-maron-merkels-kopflose-politik-macht-die-rechten-stark14012515.html} (Stand Januar 2016).

173 Christopher Bickerton/Carlo Invernizzi Accetti, »Populism and technocracy: Opposites or complements?«, ın: Critical Review of International Social and Political Philosophy (2015), http://dx.doi. org/10.1080/13698230.2014.995504 (Stand Januar 2016). 174 Karin Priester, Rechter und linker Populismus: Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt am Main: Campus 2012, S, 22.

is the bottom of the bottom-up? The case of Hungary«, in: European Populism in the Shadow of the Great Recession, herausgegeben

175 Claus Leggewie, »Der Weg in den Angststaat«, in: Frankfurter All-

von Hanspeter Kriesi und Takis S. Pappas, Colchester: ECPR Press

176 Vgl. Claus Offe, Europe Entrapped, Cambridge: Polity 2015; Fitz Scharpf, »Democracy large and small. Reforming the EU to sustain

201$5, S. 235-250, S. 248. 166

talen Optimismus« vor (Majone, Rethinking the Union of Europe

Heinrich

August

Winkler,

»Stunde

der Vereinfacher:

Einheit

der

Gegensätze - Was rechte und linke Populisten verbindet«, in: Die Zeit (19. Februar 2015).

gemeine Zeitung (7. Januar 2016).

democratic legitimacy on all levels«, in: /uncture 21/2015,5. 266-72. 177 Chantal Mouffe, »Für einen linken Populismus:; Unser Gegner sind

nicht Migranten, sondern die politischen und ökonomischen Kräfte

167 Hanspeter Kriesi/Edgar Grande/Romain Lachat/Martin Dolezal/ Simon

Bornschier/Timotheos

Frey, »Globalization

des Neoliberalismus«, in: Internationale Politik und Gesellschaft (30. März 2015), online verfügbar unter: (http://www.ipg-journal.

and the trans-

de/rubriken/soziale-demokratie/artikel/fuer-einen-linken-populis

formation of the national political space: Sıx European countries compared«, in: European Journal of Political Research 45/2006, S, 921-

mus-857/} (Stand Januar 2016).

956.

178 Helmut Dubiel, »Vorwort«, in: Populismus und Aufklärung, a.a.O.,

eine empirisch weitgehend bestätigte These; vgl. Theresa Kuhn, Ex-

179 Ernesto Laclau, »Populism: What’s in a name?«, in: Populism and the Mirror of Democracy, London: Verso 2005, S. 32-49, S. 47. 180 Laclau schreibt: »[M]an [...] sieht schnell, dass die Möglichkeits-

168 Das bedeutet auch, dass es desto mehr Opposition gegen die Union geben wird, je weiter die europäische Integration voranschreitet — periencing European Integration: Transnational Lives and European

S, 7-11, 10.

Identity, Oxford: Oxford University Press 2015; Alina Polyakova/

bedingung des Politischen und die Möglichkeitsbedingung des Po-

Neil Fligstein, »Is European integration causing Europe to become more nationalist? Evidence from the 2007-9 financial crisis«, in: Journal of European Public Policy 23/2016, S. 60-83. 169 Wobei dann zivile Konflikte wiederum zur Integration der Gesell-

pulismus identisch ist: Beide setzen soziale Teilung voraus; bei beiden gibt es ein verschwommenes demos, das auf der einen Seite cin Teil der Gemeinschaft ist (ein Underdog), auf deranderen jedoch ein

schaft

beitragen:

Siehe

Helmut

Dubiel,

»Gehegte

Konflikte«,

Akteur, der sich selbst, auf antagonistische Weise, als die ganze Ge-

meinschaft

in:

Merkur 49/ 1995‚ 5. 1095-1106; sowie Albert O. Hirschman, »Social

170

vid Macey S. 39.

(Minneapolis:

University

of Minnesota

Press,

1988),

171 Giandomenico Majone wirft der EU eine »politische Kultur des to-

154

18



conflicts as pillars of democratic market society«, in: Political Theory 22/1994), S. 203-218. Claude Lefort, Democracy and Political Theory, übersetzt von Da-

inszeniert«

(Ernesto

Laclau,

»Populism:

name?«, in: Populism and the Mirror of Democracy,

What’s

London:

in a Verso

200$, S. 32-49, S. 48). Diego Sehinkman, »La ültima entrevista de Ernesto Laclau con La Nacion«, in: La Nacion (13. April 2014), online verfügbar unter: {http://www.lanacion.com.ar/ 1680549-la-ultima-entrevista-de-er nesto-laclau-con-la-nacion} (Stand Januar 2016). Laclau bezeichnete Mauricio Macri — der die Wahlen im Dezember 2015 gewann — als

155

einen Feind (und nicht nur: Gegner) des Kirchnerismo. Die Analyse

ı91 Vgl. als symptomatisch für die Schwierigkeiten, eine postrepräsen-

der strukturellen Logik des Populismus ist bei Laclau nicht so wert-

tative Konzeption von Demokratie zu formulieren, Sımon Tormey,

frei, wie es den Anschein haben mag: Von der ontologischen Ebene

The End of Representative Politics, Cambridge: Polity 2015.

werden weitreichende Schlüsse für die ontische gezogen, etwa wenn Laclau einfach behauptet, seit den achtziger Jahren sei das »ontologische Bedürfnis«,

soziale Antagonismen

auszudrücken,

bei den

französischen Arbeitern eben größer gewesen als die »ontische Anbindung« an einen linken Diskurs, Oder einfacher gesagt: Die französischen Proletarier wollen immer auf Teufel komm raus einen Konflikt mit den Mächtigen anzetteln; deswegen wählen sie heute den Front National. Laclau (On Popular Reason, a.a.O., S. 88). 182 Mouffe schreibt denn auch: »Ursprünglich war meine Intention ei-

ne >»metaphorische Neudefinition« der liberalen demokratischen Institutionen«

(Chantal

Mouffe,

Agonistik.

Die

Welt politisch den-

ken, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 27); vgl. zur Kritik an Mouffe und vor allem an Laclau Andrew Arato, »Political theology and populism«, in: Soctal Research 8o/2013, S. 143-172; Stefan Rummens, »Democracy as a non-hegemonic struggle? Disambiguating Chantal Mouffe’s agonistic model of politics«, in: Constellations 16/2009,

S. 377-391-

183 »Wird die agonistische, pluralistische Dynamik von einem Mangel an demokratischen Identifikationsformen behindert, so gibt es für Leidenschaften kein demokratisches Ventil.« (Mouffe, Agonistik, a.a.O., S. 30). 184 Dubiel, »Vorwort«, a.a.O., S, 10.

185 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp 2013. 186

Offe, Europe Entrapped,

a.a.0.

187 Brillant analysiert hat dieses »Trilemma« Dani Rodrik in seinem Buch Das Globalisierungsparadox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft, München: C.H. Beck 2011.

Schluss: Zusammenfassung in zehn Thesen — und ein Wort zur Zukunft der repräsentativen Demokratie 188 Dazu auch: Paulina Ochoa Espejo, The Time of Popular Sovereignty: Process and the Democratic State, University Park, PA: Penn State University Press 2011. 189 Monica Brito Vieira/David Runciman, Representation, Cambridge: Polity 2008.

190 Josiah Ober, »The original meaning of democracy: Capacity to do things, not majority rule«, in: Constellations 15/2008, S. 3-9.

156

157

Danksagung

Inerster Linie danke ich dem Institut für dıe Wissenschaften vom Menschen für die Einladung, die IWM Lectures im November 2013 zu halten. Klaus Nellen und seine Kollegen waren wunderbare Gastgeber, und ich habe sehr von den Diskussionen mit ihnen sowie den Zuhörern in jenen Herbsttagen profitiert. Sehr hilfreich war zudem ein weiterer Aufenthalt am IWM im Sommer 2014. Danken möchte ich auch dem Department of Politics in Princeton sowie vor allem dem Center for Human Values der Universität Princeton, das es mir ermöglichte,

2012 eine Tagung — oder besser: ein zweitägiges produktives Gespräch - zum Thema Populismus zu veranstalten.

Ich danke allen, mit denen ich auf dieser Tagung, nach

Vorträgen und in Seminaren über ein Thema diskutiert habe, das Menschen in den USA, Lateinamerika und vor

allem in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts oft besorgt, manchmal aber auch begeistert — und bei dem man oftfeststellt, dass man gar keine gemeinsame Sprachespricht (der Historiker Richard Hofstadter hielt einmal eine Vor-

lesung mit dem vielsagenden Titel »Everyone is talking about populism, but no one can define it« — diesen Eindruck kann man auch heute wieder haben).

Meine Gedanken zu Demokratie und Populismus — for better or for worse — sind vor allem in der kontinujerlichen intellektuellen Auseinandersetzung mit folgenden Freundenund Kollegen geschärft worden (was nicht heißt, dass 158

ich sie alle von meiner Theorie habe überzeugen können): Andrew Arato, Paula Diehl, Gäbor Halmai, Dick Howard, Carlo Invernizzi Accetti, Dan Kelemen, Seongcheol Kim, Alex Kirshner, Mattias Kumm, Cas Mudde, Cristöbal Rovira Kaltwasser, Ivan Krastev, Ralf Micha-

els, Paulina Ochoa Espejo, Kim Lane Scheppele, Baläzs Trencsenyi und Nadia Urbinati. Besonderer Dank an Cristöbal für eine Einladung nach Santiago und eingehende Diskussionen mit ihm und seinen Kollegen. Danken möchte ich zudem Koen Vossen und Ren&e Cuperus für wichtige Hinweise zur Politik in den Niederlanden. Vorüberlegungen, die in diesen Essay eingeflossen sind, finden sich in »Populismus: Theorie und Praxis« (in: Merkur 69/2015, S. 28-37), »Parsing populism. Who is and who is not a populist these days?« (in: Juncture 22/2015, S. 80-89), »The people must be extracted from within the people«: Reflections on populism« (in: Constellations 21/2014,5. 483-493), »Anläufe zu einer politischen Theorie des Populismus« (in: Transıt 44/2013, S. 62-71), »Towards a political theory of populism« (in: Notizie di Politeia 107/2012, S. 19-24) sowie »Ein linkes Projekt« (in: Süddeutsche Zeitung, 7. Juli 2015,5. 11), »Wir ohne die anderen« (in: Süddeutsche Zeitung, 28. Januar 2015, S. 11), »Das Leiden ist real« (in: Süddeutsche Zeitung, 24. Juli 2013, S. ı1), »Das

Unbehagen

an der Demokratie«

(in:

Der Tagesspiegel, 13. Januar 2013, S. 7), »Wir! Sind! Das! Volk!« (in: Die Zeıt, 19. April 2012,S. 13) sowie »Liberaler Populismus?« (in: Neue Zürcher Zeitung, 16. März 2012, S. 22).

Ich bin Heinrich Geiselberger zu besonderem Dank verpflichtet: Für mehr Geduld mit einem Autor, als man 159

legitimerweise erwarten darf, und für eine sehr sorgfältige Lektüre des Manuskripts. Ich stehe in der Schuld meiner Familie. Besonderen Dank auch an Heidrun Müller, die in der Endphase der Niederschrift auf vielerlei Weise geholfen hat.