Was gilt: Über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll 9783787339389, 9783787339372

Wilhelm Vossenkuhl stellt in seinem neuen Buch die für die Philosophie zentrale Frage nach der Geltung. Seine These laut

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Was gilt: Über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll
 9783787339389, 9783787339372

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Was gilt

Über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll Wilhelm Vossenkuhl

Meiner

Wilhelm Vossenkuhl

Was gilt Über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll

Meiner

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3937-2 ISBN eBook 978-3-7873-3938-9

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2021. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspei­cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, s­ oweit es nicht §§  53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­druck­­papier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt cogito . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Was gilt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

1.1 Ob es ein ontologisches Bedürfnis gibt . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1.2 Ob wir glauben, was wir wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1.3 Ob es nicht-reflexive und reflexive Gewissheiten gibt . . 41 1.4 Ob es das Gute gibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1.5 Ob es ideale Maßstäbe der Geltung gibt . . . . . . . . . . . . . . . 59 1.6 Ob Geltung teilbar ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1.7 Ob das, was gilt, existiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1.8 Ob wir das Mögliche vom Wirklichen her verstehen . . . 77 1.9 Ob die Existenz von etwas mehrere Bedeutungen haben kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1.10 Ob es Kriterien der Identität von Bedeutungen gibt . . . . 86 1.11 Ob Prinzipien offene Bedeutungen haben . . . . . . . . . . . . . 93 2. Ob die Geltung von etwas ontologische  Voraussetzungen hat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

2.1 Ob Kants Geltungstheorie erfolgreich ist . . . . . . . . . . . . . . 104 2.2 Ob Freges Geltungstheorie erfolgreich ist . . . . . . . . . . . . . . 120 2.3 Ob es eine objektive Geltung gibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2.4 Ob das Nicht-Reflexive reflexiv erfasst werden kann . . . 140 2.5 Ob das, was sich zeigt, etwas Vor-Sprachliches ist . . . . . 148 2.6 Ob es die Asymmetrie des Nicht-Reflexiven gibt . . . . . . . 157 2.7 Ob das Nicht-Reflexive ontologisch relativ ist . . . . . . . . . . 164 2.8 Ob Normen wie Prinzipien gelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

2.8.1 Ob die Geltung aus der Genese ableitbar ist . . . . . . . . . . . 174 2.8.2 Ob Kant die Geltung von Moral und Recht ohne Genese ­begründen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2.8.3 Ob Kants rein moralisch begründete Geltung erfolgreich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2.9

Ob eine diskursiv begründete Geltung möglich ist . . . . 192

2.10 Ob eine naturrechtlich begründete Geltung möglich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist . . . . . . . . . . . . . . . 223

3.1

Ob der Rechtspositivismus geltungstheoretisch erfolgreich ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

3.1.1 Ob es Legalität ohne Legitimität gibt . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 3.1.2 Ob Recht und Staat eine Einheit bilden . . . . . . . . . . . . . . . 236 3.1.3 Ob eine rein positive Rechtsgeltung möglich ist . . . . . . . 239 3.1.4 Ob die Interpretation des Rechts seine Geltung begründet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3.1.5 Ob Recht nur geltendes Recht ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 3.2

Ob sich in der Praxis zeigt, was gilt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

3.2.1 Ob die Geltung von Begriffen und Prinzipien reflexiv ­uneinholbar ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3.2.2 Ob die Menschenwürde reflexiv uneinholbar ist . . . . . . 269 3.2.3 Ob Kants Würde-Konzept reflexiv einholbar ist . . . . . . . 279 3.3

Ob das, was gilt, vom Willen abhängig sein kann . . . . . 292

3.3.1 Ob Wille und Sprache vergleichbar sind . . . . . . . . . . . . . . 294 3.3.2 Ob der Wille irrational ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 3.3.3 Ob der Wille darüber entscheiden kann, was gilt . . . . . . 302 3.3.4 Ob die Willensbildung einem Gemeinsinn folgt . . . . . . 308 3.3.5 Ob das, was gilt, exemplarisch gilt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 3.3.6 Ob das, was exemplarisch gilt, gut ist . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Ein Blick zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 6 | Inhalt 

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Inhalt | 7

Für Dodo 13. 09. 1949  – 13. 12. 2015 •

C O G ITO C O G ITO omnia mutantur, nihil interit (Ovid, Metamorphosen)

D  

as was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie«, schreibt Hegel in der Vorrede seiner Rechtsphilosophie.1 So ist es, denke ich. Genau dies ist die Aufgabe der Philosophie. Und Hegel ergänzt, »denn das was ist, ist die Vernunft«. Das kann aber wohl kaum sein, es sei denn, dass das, was ist, etwas ganz anderes ist als das, was uns als Wirklichkeit erscheint. Der unbeherrschte Wandel aller natürlichen und sozialen Lebensbedingungen scheint doch das zu sein, was wirklich ist. Ein äußeres Kennzeichen dieses Wandels ist die Flut von Informationen, die es uns erschwert, Wahres von Falschem und Wissen von Irrtum zu unterscheiden. Es wäre widersinnig anzunehmen, dass diese Wirklichkeit mit allen ihren Erscheinungen »ihren Bildungsprozeß vollendet« hat, wie Hegel sagt.2 Das, was ist, kann nicht nur Wandel und Veränderung sein. Sonst könnten wir nicht zwischen ›ist‹ und ›ist nicht‹ unterscheiden, und das, was ist, nicht von dem, was nicht ist, trennen. Was ist, muss Bestand haben, damit wir es denken und wissen können. Damit es Bestand hat, muss etwas gelten, was die Unterscheidung zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, möglich macht. Das geltende Maß für diese Unterscheidung ist die Widerspruchsfreiheit. Sie ist nur eine Form für das, was als tatsächlich existierend gelten kann, weil sie nicht sagt, was es alles gibt. Würde sie nicht gelten, könnten wir nicht zwischen ›ist‹ und ›ist nicht‹ unterscheiden. Ohne diese Unterscheidung könnten wir auch nichts über die Wirklichkeit wissen. Also muss dieses Maß gelten, damit wir wissen können, was es gibt. Es ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung dieses Wissens. Mindestens die Widerspruchsfreiheit muss gelten, damit wir wissen können, was es gibt. Nun gibt es aber viel Widersprüchliches, was jenes Mindestmaß nicht erfüllt, wie Irrtümer, Unwahres und Lügen. All das sollte  9

nicht sein. Wenn wir begreifen wollen, was wirklich ist, aber nicht sein sollte, muss mehr als die Widerspruchsfreiheit gelten. Es muss möglich sein, Wahres von Unwahrem und Falschem zu unterscheiden. Was wahr ist, ist selbst ein Maß für die Unterscheidung des Wahren von Falschem. Es ist aber kein Maß für die Unterscheidung dessen, was ist, von dem, was nicht sein sollte. Für diese Unterscheidung benötigen wir ein weiteres Maß, das Gute. Nur was gut ist, sollte sein. Das Schlechte und Widersprüchliche existiert aber dennoch. Dagegen können wir uns mit dem, was gilt, wehren. Es gibt Unterschiede zwischen der Geltung der eben erwähnten Maße. Sie zeigen sich, wenn wir überlegen, woran wir zweifeln können. Es hat keinen Sinn, am Maß der Widerspruchsfreiheit und an dem der Wahrheit zu zweifeln, weil wir beide Maße benötigen, um zweifeln zu können. Wir benötigen beide Maße auch, damit wir einen Zweifel aufheben können. Anders verhält es sich mit dem Maß des Guten. An diesem Maß können wir leicht zweifeln. Wir können daran zweifeln, dass es dieses Maß gibt, und wir können uns fragen, ob wir es benötigen, um zu begreifen, was wirklich ist. Wer glaubt, dass Wissen wertfrei sein sollte, wird diese Frage verneinen. Unklar bleibt dann aber, wie wir beurteilen können, was ist, aber nicht sein sollte. Wir müssten uns dieses Urteils enthalten. Wenn wir die Wirklichkeit begreifen wollen, müssen wir verstehen, was gut und was schlecht ist, und dies hängt von dem ab, was gilt. Nur so können wir unterscheiden, und für diese Unterscheidung muss das, was gut ist, im Wandel Bestand haben. Dieser Gedanke scheint aus der Zeit zu fallen, weil er selbst beständig sein soll und sich nicht wandeln darf. Andererseits muss er sich in der Zeit behaupten und kann nicht davor gefeit sein, sich zu wandeln. Dieser Gegensatz zwischen dem, was Bestand hat, und dem, was sich wandelt, wäre ein unhaltbarer Widerspruch, wenn nichts gelten würde, was den Gegensatz aufhebt. Das, was gilt, zu untersuchen, bedeutet nicht, darüber zu belehren, was alles gelten sollte. Zu wissen, was nicht gelten sollte, bedeutet nicht zu wissen, was gelten sollte. Eine philosophische Belehrung, »wie die Welt sein soll«, käme immer zu spät, wie Hegel in der erwähnten Vorrede schreibt. Er hat Recht. Es kann schon deswegen nicht um eine Belehrung darüber gehen, wie die Welt sein sollte, weil das, was gilt, ja schon in irgendeiner Form exis10 | cogito  

tiert, wenn überhaupt etwas gilt. Außerdem ist das, was gilt, kein Resultat der Philosophie. Es ist etwas, was in der mannigfachen menschlichen Praxis zustande kommt, in der sozialen, politischen und ökonomischen Praxis, in der Praxis der Rechtsprechung, in der religiösen und kulturellen Praxis und nicht zuletzt in der Praxis der Wissenschaften. Deswegen ist es wichtig zu verstehen, was ›Praxis‹ bedeutet. Was gilt, ist Resultat einer Praxis und nicht einer Theorie. Dies ist freilich selbst eine theoretische Aussage. Unser theoretisches Verhältnis zur Praxis ist selbst ein Problem, das zu klären ist. Die Praxis des Sprachgebrauchs zeigt, wie das Problem geklärt werden kann. Was in einer Praxis gilt, enthält viele begründete und nicht begründete Ansprüche. Ein Anspruch, der begründet sein kann, ist, dass das, was gilt, auch tatsächlich gelten soll. Wenn aber das, was gilt, existiert und gleichzeitig gelten soll, fallen Sein und Sollen zusammen. Sie fallen nicht zusammen, wenn das, was ist, nicht gelten soll, wie das Unrecht, das Unglück und die Unmenschlichkeit. Dann sind Sein und Sollen getrennt. Die beiden Begriffe ›Sein‹ und ›Sollen‹ haben eine philosophische Geschichte. Sie spricht seit langem dagegen, dass diese Begriffe überhaupt zusammenfallen können. Wenn sich unsere Lebenswelt tatsächlich fortwährend wandelt, bedeutet dies ja nicht, dass sie sich wandeln soll. Wenn aber etwas gilt, existiert dies nicht nur, sondern es soll auch befolgt werden. Auch die Naturgesetze, die es ermöglichen, das, was ist, zu beschreiben, gelten und verbinden Sein und Sollen. Wenn wir sie nicht als verbindlich ansehen, können wir die Natur nicht zuverlässig beschreiben und nicht wissen, was ist. Mit der bloßen Behauptung, es gebe einen Dualismus von Sein und Sollen, dürfen wir uns im Hinblick auf das, was gilt, nicht abfinden. Das umstrittene Maß für das, was gelten soll, ist  – wie eben erwähnt  – das Gute. Was gilt, sollte gut, zumindest aber nicht schlecht sein. Wir Menschen wollen dem, was gilt, vertrauen können. Auch das Gute hat eine philosophische Geschichte. Viele tun sich schwer mit der Frage, was das Gute ist und was ›ist gut‹ bedeutet, weil diese Prädikate nicht definierbar sind. Das Gute erscheint uns heute wie ein Konto aus der Vergangenheit, von dem wir nichts mehr abheben können, weil wir den Zugangscode verloren haben. Dieses Konto ist aber nicht leer. Wir können es genauso aktiviecogito | 11

ren wie Platon, der noch im Staat für das Gute nur Gleichnisse anbietet, in seinem späten Werk Nomoi aber sagt, dass das Gute die »Kraft des gemeinsamen Werdens«3 ist. Er deutet diese Kraft wie eine menschliche Naturanlage. Es geht darum, die Bedeutung dieser Kraft für das, was ist, zu verstehen. Es geht auch darum zu zeigen, dass es das Gute gibt und dass wir ein Bedürfnis danach haben. Das Gute gibt es nicht als etwas Vollendetes, sondern als Werdendes. Nach dem Werden des Guten in der Praxis unserer Lebenswelt haben wir ein Bedürfnis. Wenn von ›Geltung‹ die Rede ist, denken wir meist an Gesetze oder Regeln. Wir erwarten, dass das, was gilt, begründet ist. Der Anspruch auf Begründung ist zumindest seit der Epoche der Aufklärung eng mit dem Anspruch auf Rationalität verbunden, weil er sich gegen autoritäres Denken und Handeln richtet. Wir wollen einer Überzeugung nur dann folgen, wenn sie gut begründet ist. Wir halten eine Überzeugung für irrational, für die es keine Begründung gibt. Die rationale Begründung ist ein Anspruch an uns selbst als mündige Bürger in einer offenen Gesellschaft zur Abwehr autoritären Denkens und Handelns. Begründungen sind nur dann erfolgreich, wenn sie sich auf Prinzipien berufen können. Ein Beispiel für ein einleuchtendes Prinzip ist die erwähnte Widerspruchsfreiheit. Würden wir diesem Prinzip nicht folgen, wären weder wahre Aussagen noch rationale Begründungen möglich. Wir könnten uns dann auf nichts verlassen und könnten irrationalen und autoritären Verhältnissen nichts entgegensetzen. Ein anderes Prinzip, auf das wir uns in einer liberalen Gesellschaft berufen, ist die Menschenwürde. Ohne dieses Prinzip wüssten wir nicht, wie die Unmenschlichkeit und das Unrecht geächtet werden könnten, die unsere jüngere Geschichte zwölf lange Jahre beherrschten. Für die beiden eben genannten Prinzipien gibt es keine rationalen Begründungen. Die Hinweise darauf, was mit ihrer Geltung vermieden werden kann, sind keine Begründungen, sondern Motive, die Prinzipien anzuerkennen. Die Prinzipien gelten ohne Begründung und das bedeutet, sie gelten unabgeleitet. Wir halten dennoch am Anspruch auf rationale Begründung mit Hilfe dieser und anderer Prinzipien fest. Offenbar müssen wir unterscheiden zwischen den Ansprüchen, die begründbar, und denen, die nicht 12 | cogito  

begründbar sind. Es geht darum zu zeigen, wie wir beiden Ansprüchen gerecht werden können. Die Beispiele in dieser Untersuchung sind die eben genannten, die Widerspruchsfreiheit und die Menschenwürde. Die Philosophie ist keine Naturwissenschaft 4 , kann aber dennoch das, was ist, begreifen, weil das Denken ihre Praxis ist. Der Satz des Parmenides, Denken und Sein sei dasselbe5 , wurde in der jüngeren Philosophiegeschichte angezweifelt, weil Denken auf Sprache angewiesen ist. Die Sprache erlaubt uns sowohl zu sagen, was ist, als auch, was nicht ist, unabhängig davon, ob dies tatsächlich so ist oder nicht. Die Sprache ersetzt aber nicht das Denken, mit dem wir diesen Unterschied beurteilen und erkennen. Wir erfassen erst etwas mit unserem Denken, drücken es in einer Sprache aus und beurteilen dann, ob es ist und was es ist. Unser Denken ist auf das angewiesen, was wir erfassen können. Die Philosophie kann nur dann die Aufgabe haben, zu begreifen, was ist, wenn der Satz des Parmenides in einer bestimmten Weise zutrifft. Der Satz des Parmenides präsentiert noch keinen Gegenstand. Wenn er zutrifft, können wir annehmen, dass das Denken die Fähigkeit ist, zu begreifen, was wirklich ist, was ist und was nicht ist. Die Einsicht, im Denken den Ansprüchen von Wissenschaften beim Begreifen dessen, was ist, gerecht zu werden, müssen wir selbst denkend gewinnen. Sonst können wir das, was wir denken, nicht verantworten. Wir benötigen zweifellos die Naturwissenschaften, wenn es darum geht, die Wirklichkeit zuverlässig zu beschreiben. Die Naturwissenschaften können das, was ist, aber nur beschreiben, wenn die Naturgesetze gelten. Das, was ist, ist aber dann nicht naturwissenschaftlich beschreibbar, wenn es um Prinzipien wie die Widerspruchsfreiheit oder die Menschenwürde und deren Bedeutung für unser Leben und Denken geht. Die Philosophie ist eine Prinzipienwissenschaft und damit auch eine Geltungswissenschaft. In den Rechtswissenschaften geht es um das geltende Recht. Diese Wissenschaften können erklären, was ›Geltung des Rechts‹ in allen Arten von Gesetzen bedeutet. Ob es in diesen Wissenschaften auch um den Zusammenhang zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, geht, hängt davon ab, wie sie den Zusammenhang zwischen Sein und Sollen verstehen. Geltungsfragen begegnen uns cogito | 13

nicht nur im Recht, sondern in allen Bereichen des Denkens und Handelns. Es geht in diesen Fragen um das, was in allem Wandel Bestand hat. Wenn wir wissen, was Bestand hat, wissen wir, was ist und was nicht ist. Deswegen müssen wir verstehen, was gilt. Was gilt, hilft uns zu verstehen, was ist und was nicht ist, und zwischen beidem zu unterscheiden. Wenn nichts gelten würde, könnten wir zwischen beidem nicht unterscheiden. Wer behauptet, dass nichts gilt, widerspricht sich selbst, weil dies auch für seine eigene Behauptung gelten würde. Die Philosophie muss begreifen, was gilt, um begreifen zu können, was ist.

14 | cogito  

EINLEIT UNG EINLEIT UNG

D  

ie Frage, was gilt, stelle ich unvermittelt, und mit der Antwort falle ich in gewisser Weise mit der Tür ins Haus. Meine Antwort ist, dass das, was gilt, einen Zusammenhang herstellt zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Das, was gilt, hebt die Trennung von Sein und Sollen auf. Die Antwort auf die Frage, was gilt, begründe ich im ersten und im zweiten Kapitel dieses Buches. Mein Anspruch dabei ist allgemein, weil es mir um alle Arten theoretischer und praktischer Geltung geht. Diesen Anspruch zu stellen, ist nur möglich, wenn der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, tatsächlich allen Arten der Geltung zugrunde liegt. Die Frage, was gilt, beschäftigte mich schon in meinem Buch Die Möglichkeit des Guten (2006). Dort beschränkte ich mich darauf, das Verhältnis zwischen Geltung, Rechtfertigung und Anerkennung zu analysieren. Das Gute verstand ich dabei unabhängig vom Konzept der Geltung als Leitidee und als Maßstab für die Integration der Güter in einer Gesellschaft. Danach erst wurde mir klar, dass der Zusammenhang zwischen der Geltung und dem Guten sehr viel enger ist, als ich in dem Buch annahm. Wir können das eine vom anderen nicht trennen, weil das, was gut ist, und das, was gilt, zusammen ein menschliches Grundbedürfnis bilden. Wir wollen uns auf das, was gilt, verlassen können, und dies sollte immer etwas Gutes sein. Es sollte nicht irgendetwas sein und vor allem nichts, was schlecht ist und uns schadet. Nur das, was gut ist, sollte gelten, und zwar möglichst dauerhaft und zuverlässig. Dann können wir uns darauf verlassen. Dem Guten können wir vertrauen. Dieses Bedürfnis ist so sehr mit unserem Dasein und unserer Natur verbunden, dass ich es ein ›ontologisches Bedürfnis‹ nenne (Kap. 1.1). Außerdem nenne ich es so, weil es nicht ausgedacht und erfunden ist, sondern weil wir es in unserem Leben erfahren und finden. Es ist ein Gegenstand und kein Konstrukt unseres Denkens, deswegen nenne ich es ›nicht-reflexiv‹. Weil es kein Konstrukt unEinleitung | 15

serer Reflexion ist, ist es auch nicht wegzudenken, was immer wir für ›gut‹ halten. Die Wörter ›gut‹ und ›das Gute‹ bezeichnen nun aber nichts, was wir definieren und mit Gewissheit wissen können. Außerdem versteht jeder etwas anderes darunter. Aus diesen Gründen habe ich mich in dem eben erwähnten Buch noch auf die Möglichkeit des Guten und auf das Gute als Leitidee beschränkt, ohne dafür zu argumentieren, dass es das Gute gibt. Nunmehr behaupte ich aber, dass es das Gute gibt. Dafür argumentiere ich, was angesichts des eben erwähnten Risikos, dass wir nicht genau wissen, was es ist, waghalsig erscheinen mag. Der Hinweis darauf, dass Platon Ähnliches versucht, ersetzt keine Argumente. Ich will zeigen, dass es das Gute gibt, obwohl wir nicht genau wissen, was es ist. Für das Wissen, dass es etwas gibt, wovon wir nicht wissen, was es ist, ist das Gute ein besonderes Beispiel, aber nicht das einzige. Freiheit und Leben sind andere Beispiele, auch die Gravitation ist eins. Wir wissen von alledem und von vielem anderem nicht, was es ist, zweifeln aber nicht daran, dass es existiert. 6 Für manches in der Natur, wie die Gravitation, gibt es einen messbaren Nachweis und damit ein Kriterium der Identität. Für anderes, wie das Gute, gibt es nur den Begriff, aber keinen messbaren Nachweis und auch kein Kriterium der Identität seiner Bedeutung. Ähnliches trifft für die Freiheit zu. Für das Leben in seinen vielfältigen Formen gibt es wie für die Gravitation zuverlässige Nachweise. Wir können verstehen, wie und seit wann Leben auf der Erde möglich ist. Wir wissen auch, dass z. B. die Homöostase ein klares biologisches Kriterium des Lebens ist. Dieses Kriterium erklärt, dass alles, was lebt, Energie aufwenden muss, um sich gegen die Umwelt abzugrenzen. Homö­ ostase ist ein Kriterium für den Erhalt des Lebens.7 Es erklärt, warum das, was lebt, lebt. Damit können wir das, was lebt, identifizieren. Es erklärt aber nicht, was ›Leben‹ bedeutet. Der Umgang mit Begriffen ist nicht von Kriterien ihrer Identität abhängig. Ich argumentiere sprachphilosophisch dafür, dass es für die Identität mancher – nicht aller – Bedeutungen keine Krite­ rien ihrer Identität gibt. Dies trifft vor allem auf die Bedeutung von Prinzipien zu. Wir können dennoch sicher sein, dass es sie gibt und dass sie eine Bedeutung haben. Wir gebrauchen viele Bedeutungen, ohne dass uns ein Kriterium ihrer Identität zur Verfügung steht. 16 | Einleitung  

Dies fällt uns gewöhnlich nicht auf. Wenn es uns dann, wie beim Prinzip der ›Menschenwürde‹, auffällt, sind wir ratlos, wenn wir nach einem Kriterium der Identität dieses Prinzips suchen, aber keines finden. Die Suche nach einem Kriterium der Identität von Prinzipien ist aussichtslos und deshalb verfehlt. Die Bedeutung von Prinzipien ist offen (Kap. 1.10). Ich bezweifle mit dem eben erwähnten Argument die allgemeine Brauchbarkeit des Kriteriums der Analytizität von Bedeutungen, das in der analytischen Philosophie von Rudolf Carnap und anderen für die Identität von Begriffen beansprucht wird (Kap. 1.9). Wenn es keine Identitätskriterien für bestimmte Begriffe gibt, kann das Risiko des Irrtums beim Nachdenken über ihre Bedeutungen nicht ausgeschlossen werden. Umso wichtiger ist es, sich darüber im Klaren zu werden, dass es das, was die Begriffe bezeichnen, tatsächlich gibt. Wenn es dies gibt, können wir die Frage nach dem, was ›Geltung‹ bedeutet, in den ontologischen Rahmen unseres Daseins stellen. Es wird möglich zu sagen, dass es das, was gilt, tatsächlich für uns gibt. Das ist der Anspruch, mit dem das ontologische Bedürfnis nach dauerhaft und vertrauenswürdig Gutem befriedigt werden kann. Unsere These ist: Was gilt, existiert. Es ist nicht einfach erfunden oder aus funktionalen Gründen konstruiert oder fiktiv oder ein Irrtum oder eine nützliche Illusion. Weil es nicht konstruiert ist, sollte das, was gilt, auch nicht relativistisch verstanden werden. Meine Ablehnung des Relativismus hat nicht zuletzt rechtsphilosophische Folgen, die in meiner Diskussion von Hans Kelsens Geltungstheorie im dritten Kapitel des Buches (Kap. 3.1) deutlich werden. Unterstützt wird der eben erhobene Anspruch, dass das, was gilt, existiert, von Argumenten, die Saul Kripke in seinen John ­Locke Lectures (1972) entwickelt (Kap. 1.6). Er entwirft mit logischen Argumenten eine Ontologie, die auch auf abstrakte Gegenstände und auf den Bereich des Fiktionalen anwendbar ist. Es wird damit möglich zu sagen, dass Hamlet, Sherlock Holmes und Moses existieren, so abwegig dies auf den ersten Blick erscheinen mag. Wir können über diese literarischen Personen Wahres und Unwahres sagen. Ganz und gar nicht abwegig ist seine Argumentation, dass auch abstrakte Gegenstände wie ›Nation‹ existieren, wenn sie bestimmte Wirkungen haben. Natürlich will ich das Gute mit Kripkes ArguEinleitung | 17

menten nicht fiktionalisieren. Vielmehr sind auch das Gute, die Freiheit und Prinzipien wie die Menschenwürde oder die Widerspruchsfreiheit abstrakte Gegenstände, die über das menschliche Denken real wirksam werden können. Kant hält ›Existenz‹ für kein ›reales Prädikat‹. Wir werden seine Argumente prüfen. Wenn sie zutreffen, können wir nicht behaupten, dass das, was gilt, existiert. Die Behauptungen, dass es das Gute gibt und dass das, was gilt, existiert, ließen sich oberflächlich gesehen damit begründen, dass das Gute ein idealer Maßstab der Geltung ist. Diese Begründung ist aus mehreren Gründen aber nicht möglich (Kap. 1.5). Außerdem kann das Gute kein Maßstab für das, was gilt, sein, wenn wir nicht wissen, was es ist. Da wir kein Wissen davon haben, haben wir auch kein wahres Wissen davon. Nicht nur das Gute, auch die Wahrheit scheiden bei näherer Prüfung als Maßstäbe der Geltung aus. Damit wird allerdings auch fraglich, was Wissen ist und was als Wissen gelten kann. 8 Das Risiko, von etwas zu behaupten, dass es gilt und existiert, ohne zu wissen, was es ist, stellt den kognitiven Anspruch dieser Untersuchung in Frage. Es sieht so aus, als würde ich über etwas nachdenken, wovon ich nichts weiß. Das ist Grund genug, es gerade deswegen zu tun.9 Das eben erwähnte Risiko führt notgedrungen zu der Frage, was überhaupt gewiss ist. Es gibt, wie ich denke, zwei Arten der Gewissheit, die nicht-reflexive und die reflexive (Kap. 1.3). Eine nicht-reflexive ist z. B. die Gewissheit des Todes. Sie ist kein Konstrukt unseres selbstbewussten Nachdenkens, sondern selbst im Zeitalter scheinbar beliebiger Lebensverlängerung unabweisbar. Wir erfahren den Tod anderer Menschen. Diese Erfahrung gehört zu unserem Dasein und zu unserer endlichen Natur. Die reflexive Gewissheit ist diejenige Descartes’, dass ich denkend existiere. Beide Gewissheiten verbinden wir reflexiv und subjektiv. So kann das, was als ›Wissen‹ gelten kann, im subjektiven Denken entstehen, aber dennoch objektiv gelten kann (Kap. 2.3). Das reflexive und subjektive Wissen ist der einzige Zugang zum Nicht-Reflexiven. Jenseits dessen, was wir reflexiv mit Hilfe von Begriffen denken können, gibt es nichts, was wir wirklich denken und wissen können. Diese Grenze hat Auswirkungen auf das, was gilt. Wenn das, was gilt, existiert, und wir wissen, dass es existiert, aber nicht wissen, was es ist, können wir dessen Geltung nur reflexiv erfassen. Was 18 | Einleitung  

dies bedeutet, ist ein Thema des zweiten Kapitels (Kap. 2.4 – 2.7). Die Grenze des Wissens wird mit den Geltungstheorien von Immanuel Kant (Kap. 2.1) und Gottlob Frege (Kap. 2.2) erkennbar. Kant entwirft als Erster mit seiner »transzendentalen Deduktion« in der Kritik der reinen Vernunft eine anspruchsvolle Geltungstheorie. Er erkennt den subjektiven Charakter des reflexiven Erfassens der erfahrbaren Wirklichkeit und glaubt nachweisen zu können, dass die Begriffe, mit denen wir dies tun, a priori gelten. Dieser Nachweis könnte aber nur gelingen, wenn die nicht-reflexiven Grundlagen seines Nachweises reflexiv und a priori vollständig erfassbar wären. Nicht-reflexive Grundlagen der Deduktion sind die Urteilstafel, die Einbildungskraft, die Apperzeption, das ›Ich denke‹, die Spontaneität und die Synthesis des Verstandes, alles, was er ›synthetischapriori‹ nennt. Kant versteht diese von ihm reflexiv aufgefundenen Grundlagen so, als ob sie Ergebnisse seiner Deduktion wären. Sie sind aber deren unabgeleitet geltende Voraussetzungen. Da die Grundlagen der Deduktion aber nicht gleichzeitig nicht-reflexiv und reflexiv sein können, steht Kants Nachweis in Frage. In Frage steht damit auch sein Versuch, eine transzendentale Geltungstheorie ohne Ontologie und die Geltung von Begriffen frei von Erfahrung, aber für die Bildung objektiven Wissens zu entwerfen.10 Auch die Geltung von Begriffen stellt einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was erkannt werden soll, her. Das Ergebnis ist wahres Wissen von dem, was ist. Frege erkennt und akzeptiert anders als Kant die nicht-reflexiven Voraussetzungen seiner logischen Analyse. Es geht ihm um die Geltung wahrer Sätze, genauer gesagt um die Grundlagen der Berechtigung des Fürwahrhaltens wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Wahrheit dieser Erkenntnis ist das normative Ziel seiner Logik. Sie stellt den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Frege erkennt, dass es nicht möglich ist zu definieren, was ›ist wahr‹ bedeutet. Dessen ungeachtet geht es ihm um die Gesetze des Wahrseins. Er spricht ausdrücklich davon, dass es ihm dabei um »ein Sein« gehe. Dieses Sein könne nur gefasst und erfasst, aber nicht deduziert oder begründet werden. Freges Beispiele für dieses Erfassen sind das, was er »Gedanken« nennt, also z. B. Naturgesetze. Sie sind nicht-reflexiv, nicht-subjektiv, gelten als wahr und sind »unzeitlich«. Frege ist überzeugt, dass alles Einleitung | 19

das, was als wahr gilt, also Gedanken, auch existiert und deswegen nur erfasst, aber nicht konstruiert werden kann. Gedanken existieren und gelten als wahr, ohne dass sie eine psychische oder eine quantifizierbare raumzeitliche Präsenz hätten. Sie gelten unzeitlich und physisch nicht quantifiziert. Frege schärft damit den Unterschied zwischen der zeitlichen Genese des Erfassens von Gedanken, etwa von Naturgesetzen und ihrer unzeitlichen Geltung. Er entwirft die Grundlagen einer Theorie objektiver Geltung. Das Manko seiner Geltungstheorie ist, dass er nicht erklärt, wie die nicht-reflexiven Gedanken reflexiv und subjektiv und individuell erfasst werden können. Er erklärt nicht, wie wir mit Hilfe der Logik den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellen. Da es eine begrifflich nicht überbrückbare Asymmetrie zwischen dem Nicht-Reflexiven und Reflexiven gibt (Kap. 2.4 – 2.6), kann dieses Manko theoretisch nicht vollständig behoben werden. Wir müssen einsehen, dass keine Theorie der Geltung dieses Manko beheben kann, weil das Nicht-Reflexive reflexiv nicht vollständig erfasst werden kann. Man könnte nun vorschnell vermuten, dass nichts objektiv gelten kann. Dies ist nicht der Fall, wie die Theorien von Tyler Burge und Wolfgang Spohn zeigen (Kap. 2.3). Burge rekonstruiert die nicht-reflexiven Grundlagen der Objektivität wahrnehmungspsychologisch und baut darauf die Wahrheitsansprüche objektiver Erkenntnis auf. Spohn geht angelehnt an Hume von den nichtrefle­x iven, zunächst nur scheinbar geltenden Wahrnehmungen aus und entwickelt dann eine probabilistische Theorie der Bildung von Überzeugungen, die unterschiedlich hohe Ansprüche auf Wahrheit erheben können. Beide Autoren zeigen, dass der theoretische Anspruch auf Geltung sehr weit reicht, obwohl der Anspruch selbst nicht vollständig begründet werden kann. Das, was der theoretischen Geltung zugrunde liegt, zeigt sich in beiden Theorien und ist selbst nicht konstruiert oder deduziert. Erst in der Forschungspraxis zeigt sich das, was theoretisch gilt. Der Gedanke, dass erst die Praxis zeigt, was gilt, ist für diese Untersuchung grundlegend. Der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, ist ein praktischer. Ludwig Wittgenstein hat den Gedanken, dass die Praxis zeigt, was gilt, geprägt und zunächst mit der Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen 20 | Einleitung  

im Tractatus erläutert. Dieser Gedanke bleibt über den Tractatus hinaus ein integraler Bestandteil seines Denkens. In seinen Phi­ losophischen Untersuchungen verbindet er den Unterschied zwischen Sagen und Zeigen mit der Praxis des Sprachgebrauchs. In dieser Praxis zeigt sich das, was als richtig und falsch gilt, und dies gilt nicht nur für die sprachliche Praxis. Die Praxis des Sprachgebrauchs kann als Modell jeder Praxis, einschließlich der Forschungs- und der politischen Praxis, verstanden werden. Dies ist ein sehr weit reichender Anspruch, der in meiner Untersuchung allerdings nicht im Einzelnen geprüft und begründet wird. Die sprachliche Praxis hat selbst einen nicht-reflexiven Charakter. Deswegen zeigt sich das, was als richtiger und falscher Sprach­ gebrauch gelten kann, in der Praxis, ohne dass es für die Richtigkeit Argumente oder Kriterien gibt. Wittgenstein ist überzeugt, dass es keine Theorie des richtigen und falschen Sprachgebrauchs geben kann.11 Wittgensteins Überlegungen zur Praxis des Sprachgebrauchs haben eine gewisse Ähnlichkeit mit der These des frühen Carl Schmitt, dass sich die Richtigkeit eines Urteils in der Praxis richterlicher Entscheidungen zeigt (Kap. 3.1.3). Hinter die Praxis des Sprach- und Begriffsgebrauchs können wir nicht zurückgehen. Dies haben aber ernst zu nehmende Denker versucht. Sie haben das Vor-Sprachliche und das Vor-Begriffliche zum Thema gemacht. Martin Heidegger ist einer dieser Denker (Kap. 2.5). Er deutet den Satz von Leibniz ›Nichts ist ohne Grund‹ so, als wäre das Grundlose, das in diesem Satz, wie er meint, zum Ausdruck kommt, nicht das letzte Wort. Er glaubt, dass der Satz darauf hinweist, wie das ›Sagen vom Sein‹ möglich ist. Heidegger unterscheidet nicht zwischen Sagen und Zeigen. Er spricht zwar auch davon, dass sich das Sein zeigt, glaubt aber, dass er ›das Sein‹ auch sagen kann. Er glaubt sogar, dass dies die Aufgabe seines Denkens ist. Wenn das, was existiert, aber nicht-reflexiver Natur ist, kann es reflexiv nicht gesagt werden. Das Vor-Sprachliche kann nicht sprachlich repräsentiert und deswegen auch nicht gedacht und begrifflich repräsentiert werden. Aus dem gleichen Grund scheitert auch der Solipsismus, den Wittgenstein noch im Tracta­ tus vertritt. Damit ist der theoretische Teil dieser Untersuchung abgeschlossen. Ich konzentriere mich dann auf moral- und rechtsphilosophiEinleitung | 21

sche Ansätze. Mit Ausnahme des Naturrechts stellt keiner dieser Ansätze die Frage, was ›Geltung‹ bedeutet, in einen Zusammenhang mit dem, was ist. Sie setzen den Dualismus von Sein und Sollen voraus, als ob er selbstverständlich wäre. Einige Vertreter dieses Dualismus berufen sich auf Kant, ohne dies begründen zu können. Die Geltung des Moralgesetzes will Kant nicht mit einer transzendentalen Deduktion nachweisen, sondern mit Argumenten, die auf dem Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Freiheit beruhen. Wenn dieser Zusammenhang so unauflöslich ist, wie Kant glaubt, gelingt der Geltungsnachweis ohne Ontologie. Die entscheidende Voraussetzung dieses Zusammenhangs ist Kants Überzeugung, dass das Moralgesetz ein ›Faktum der Vernunft‹ ist, etwas Unabweisbares und Nicht-Reflexives. Wir prüfen diese Überzeugung und versuchen, die Bedeutung der Freiheit in diesem Zusammenhang zu klären. Kant will auch nachweisen, dass Moral und Recht im Prinzip der Freiheit eine gemeinsame Grundlage haben, dass beide als Gesetze der Freiheit gelten. Die Diskurstheorie von Jürgen Habermas enthält geltungstheoretische Ansprüche, die auf Kant zurückgehen. Habermas meidet aber Kants Apriorismus und dessen transzendentalphilosophische Voraussetzungen (Kap. 2.12). Trotz der geltungstheoretischen Defizite der erwähnten Ansätze ist die Auseinandersetzung mit ihnen lohnend. Sie vermitteln im Ergebnis die Einsicht, dass der Anspruch auf Geltung reflexiv und rein begrifflich ebenso wenig gesichert werden kann wie kommunikativ und argumentativ. Das Naturrecht geht anders als die Moraltheorien davon aus, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Diesem Zusammenhang liegen im Naturrecht aber theologische Prämissen zugrunde, die Gott eine Garantenstellung für den Zusammenhang einräumen. Damit kann der Zusammenhang nur in theologischer Hinsicht gelten. Die theologischen Prämissen werden in der Ontologie von Thomas von Aquin erkennbar. Sie zeigt, welche direkte und indirekte Bedeutung die theologischen Grundlagen seiner ­Onto­logie für einige neuere naturrechtliche Ansätze hat (Kap. 2.12). Die Diskussion der unterschiedlichen geltungstheoretischen Ansätze zeigt, dass die Ansprüche auf Geltung jeweils unabgeleitete Voraussetzungen haben. Ich spreche deswegen von ›unabgeleiteter Geltung‹ im Unterschied zu allem, was daraus argumentativ und 22 | Einleitung  

in Verfahren abgeleitet und begründet werden kann. ›Unabgeleitet‹ bedeutet, dass es keine weiteren, allgemeineren Grund­lagen für den Anspruch gibt, dass etwas gilt. Alle theoretischen und praktischen Prinzipien gelten unabgeleitet. Als Beispiele dafür dienen mir an vielen Stellen der Untersuchung, stellvertretend für theoretische und praktische Kontexte, das Widerspruchsprinzip und die Menschenwürde. Normen gelten dagegen nicht unabgeleitet. Sie können aus Prinzipien abgeleitet und mit ihrer Hilfe argumentativ begründet werden. Sie gelten deswegen nicht so wie Prinzipien (Kap. 2.8). Der Anspruch der Normativität ist nicht identisch mit dem Anspruch auf Geltung, sondern diesem untergeordnet. Mit den Beispielen des Widerspruchsprinzips und der Menschenwürde will ich die geltungstheoretischen Gemeinsamkeiten von Theorie und Praxis betonen. Es gibt aber auch Unterschiede. Ich argumentiere, wie erwähnt, dafür, dass es für Prinzipien keine Identitätskriterien gibt und sie deswegen offene Bedeutungen haben. Wir haben zu dieser Offenheit aber ein unterschiedliches reflexives Verhältnis. Aristoteles macht in der Nikomachischen Ethik12 mit einem Bild diesen Unterschied verständlich. Es kommt, wie er bemerkt, darauf an, ob wir von Prinzipien ausgehen oder zu ihnen aufsteigen. Im Fall des Widerspruchsprinzips gehen wir von einer der Bedeutungen des Prinzips aus. Im Fall der Menschenwürde steigen wir zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Prinzips auf. Dies ändert allerdings nichts daran, dass beide Prinzipien offene Bedeutungen haben. Wir erkennen sie nur aus verschiedenen Perspektiven. Für den weiteren Gang der Untersuchung kommt es darauf an, die begrenzte Tragfähigkeit des Gedankens, dass die Praxis zeigt, was gilt, zu erkennen. Wenn sich das, was gilt, in einer Praxis zeigt, wissen wir lediglich, dass das, was sich zeigt, nicht Ergebnis einer Theorie oder begrifflichen Erklärung ist. Damit erkennen wir die Qualität dessen, was sich zeigt, noch nicht. Es kann etwas sein, was nicht gut oder gar schädlich ist. Das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem befriedigt keine Praxis schon allein deswegen, weil sich in ihr zeigt, was gilt. Es gab und gibt auch die verwerfliche Praxis des Unrechts und auch in ihr zeigt sich, was ihren schlechten oder gar unmenschlichen Maßstäben nach gilt. Wenn das, was gilt, tatsächlich einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, Einleitung | 23

was sein soll, herstellt, sollte in dem Rahmen, den die menschliche Praxis dafür bietet, nicht gelten, was beliebig und schlecht ist. In liberalen, rechtsstaatlich verfassten Demokratien ist es die Aufgabe des Rechts, eine Praxis des Unrechts zu verhindern. Die Geltung des Rechts soll dafür sorgen. Im dritten Kapitel geht es um die Frage, was ›Geltung des Rechts‹ bedeutet. Hans Kelsen beantwortet diese Frage mit seiner Reinen Rechtslehre. Er vertritt einen Dualismus von Sein und Sollen und argumentiert dafür, dass die Geltung des Rechts nicht nur unabhängig ist von allem, was es gibt, sondern eine eigene, in sich geschlossene und kohärente Begründung hat. Kelsen glaubt nicht, dass das Recht selbst unabhängig von der Moral ist.13 Er glaubt aber, dass die Rechtsgeltung unabhängig von Sein und moralischem Sollen ist.14 Das Recht generiert seine eigene Positivität. Kelsens Rechtspositivismus diskutiere ich im Vergleich mit zwei anderen, aber anders argumentierenden Vertretern dieser rechtsphilosophischen Tradition, nämlich Herbert Hart und Joseph Raz (Kap. 3.1). Das Ergebnis meiner Überlegungen, die da und dort von Ronald Dworkins Argumenten (Kap. 3.1.4) unterstützt werden, ist, dass es keine rein rechtliche Geltung geben und dass der Rechts­ posi­tivismus keine argumentativ geschlossene Geltungstheorie sein kann. Das Scheitern der Argumente für eine reine Rechtsgeltung macht aber nicht alle Einsichten Kelsens obsolet. Rechtstheoretisch überzeugend sind seine klare Unterscheidung zwischen der Genese und der Geltung des Rechts und seine Einsicht in die sich selbst generierenden Kräfte der Rechtsordnung. Den Unterschied zwischen Genese und Geltung diskutiere ich ausführlich am Beispiel zweier Kommentare zum ersten Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Der Satz sagt, dass die Menschenwürde unantastbar ist. Die Kommentare stammen von Horst Dreier und Matthias Herdegen (Kap. 3.2.2). An deren Beispiel versuche ich zu zeigen, welche Folgen die These hat, dass es keine Identitätskriterien für Prinzipien gibt. Das Ergebnis meiner Überlegungen ist, dass das Prinzip der Menschenwürde reflexiv uneinholbar ist und deswegen in einer Art ständigem Aufstieg zur Bedeutung dieses Prinzips immer wieder neu bestimmt werden muss, wenn seine Geltung in Gefahr gerät. Der Vergleich der beiden Kommentare 24 | Einleitung  

zeigt dies. Es wird auch deutlich, dass das, was gilt, in eine fortdauernde Genese eingebettet ist und dass die Geltung nicht das Ende einer Genese sein kann. Die beiden eben erwähnten Kommentare zum ersten Satz des Grundgesetzes lassen offen, wie sich Kants Würde-Konzept zum Prinzip der Menschenwürde verhält. Es lohnt sich, dieser Frage nachzugehen, weil Kant die Würde weder als Prinzip noch als absoluten Wert versteht. Vor allem erlaubt es sein Würde-Konzept nicht, die Würde einem Träger physisch zuzuschreiben. Es ist möglich, auf der Grundlage seiner Überlegungen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten der Würde sowohl einen inneren als auch einen äußeren Wert zu geben und sie argumentativ bei ethisch schwierigen Entscheidungen etwa in der Transplantationsmedizin oder in der Forschung mit embryonalen Stammzellen anzuwenden. Kants Würde-Konzept kann dazu beitragen, umstrittene verfassungsrechtliche Wertzuschreibungen zu korrigieren. Die Ergebnisse der Untersuchung ergeben bis dahin noch kein Gesamtbild. Wir haben dafür argumentiert, dass die Praxis zeigt, was gilt, und dies auch für die Praxis der Rechtsprechung angenommen. Wenn die Praxis aber nicht garantieren kann, dass das, was gilt, gut und menschenwürdig ist, müssen wir fragen, wovon dieser Anspruch abhängig ist. Es geht um den Zusammenhang zwischen dem, was in der Praxis der Fall ist, und dem, was der Fall sein soll, zumindest aber nicht der Fall sein sollte. Es liegt nahe anzunehmen, dass es Argumente sind, die den Zusammenhang herstellen. Selbst wenn die Kompetenz derer, die entscheiden, und deren Integrität vorausgesetzt sind, bedarf es ihres Willens, den Zusammenhang in einer bestimmten Weise herzustellen. Argumente allein sind keine Akteure und richten von allein nichts aus, wenn sie niemand vertreten will. Es liegt zwar auf der Hand, dass der Wille derer, die entscheiden, eine Bedeutung hat, es ist aber unklar, welche. Zum einen geht es darum zu verstehen, was mit ›Wille‹ gemeint ist, zum anderen, wie sich der Wille bildet (Kap. 3.3). Schopenhauer und Nietzsche argumentieren, dass der Wille grundlos und keine Ursache ist. Wäre er selbst eine Ursache, wäre er seinerseits verursacht; dann wäre er auch determiniert, wie viele meinen. Wenn der Wille grundlos ist, ist er wirklich frei und unbestimmt. Dann stellt sich die Frage, Einleitung | 25

wie die Willensbildung zu verstehen ist. Einerseits soll der Wille orientieren, andererseits bedarf er der Orientierung, vorzugsweise durch die Vernunft. Damit stehen wir vor einem Dilemma. Dieses Dilemma lässt sich mit Hilfe von Kants Konzept der Urteilskraft auflösen (Kap. 3.3.3 – 3.3.5). Sein Konzept ermöglicht ein Verständnis der Willensbildung, das weder voluntaristisch noch rationalistisch ist. Die Willensbildung ist eine Urteilsbildung, die einen Gemeinsinn voraussetzt, den wir – unabhängig von Kant – als Sympathie für die Anderen verstehen, aktives und nicht nur passives Mitfühlen mit der Freude und dem Leid der Anderen. Über die so verstandene Willensbildung kann das ontologische Bedürfnis, dass das, was gut ist, dauerhaft und vertrauenswürdig gelten soll, die menschliche Praxis bestimmen. Das, was gilt, kann, wenn wir Kants Konzept der Urteilskraft folgen, nur exemplarisch, aber nicht universal gelten. Obwohl sich das Dilemma der Willensbildung auflösen lässt, gibt es keine Garantie dafür, dass sich das, was gut ist, in der kollektiven Willensbildung durchsetzt und gilt. Ohne eine Willensbildung, die sich von den Idealen der Vorurteilsfreiheit, der Intersubjektivität und der Kohärenz leiten lässt, kann das, was gut ist, nicht dauerhaft gelten. Dann ist die Geltung der Menschenwürde und anderer Prinzipien der Moral und der Politik gefährdet. Die Untersuchung folgt unterschiedlichen argumentativen Methoden. Einige Argumente sind sprachphilosophischer und analytischer, andere sind hermeneutischer und phänomenologischer Natur. Analyse, Erklärung und Interpretation sollen sich ergänzen. Die Methoden entsprechen der Sache, um die es geht, und nicht umgekehrt.

26 | Einleitung  

1. WAS G ILT ? WAS G ILT ? In der Philosophie liegt die Schwierigkeit darin, nicht mehr zu sagen, als wir wissen. (Ludwig Wittgenstein)

E 

s geht in dieser Untersuchung um das, was gilt. Der Grundgedanke ist, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Dieser Zusammenhang ist aber nicht offensichtlich. Behauptungen scheinen doch einfach deswegen zu gelten, weil das, was behauptet wird, der Fall ist. Es scheint aber nur so, als würde das, was ist, allein für die Geltung von Behauptungen ausreichen. Tatsächlich gelten sie aber nur, wenn sie wahr sind. Aussagen sollten wahr sein, damit sie als Behauptungen gelten können. Behauptungen stellen also doch einen Zusammenhang her zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Anders scheint es sich zu verhalten, wenn es nur um das geht, was ist, ohne dass darüber etwas behauptet wird. Könnten wir nicht wenigstens dann sagen, dass das, was ist, gilt, ohne in einem Zusammenhang mit dem, was sein soll, zu stehen? Denken wir an die vielen Entdeckungen über die Natur und ihre Gesetze. Was entdeckt wurde, zeigt doch, dass es schon vorher so war. Naturgesetze gelten ja nicht erst, nachdem sie gefunden wurden. Ohne Zweifel. Sie können aber erst dann als Naturgesetze gelten, wenn sie überprüfbar, bestätigt und wahr sind. Sie stellen deswegen so wie andere Behauptungen einen Zusammenhang her zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Wiederum anders scheint es sich zu verhalten, wenn nur etwas behauptet wird, was sein soll, ohne dass es einen Bezug zu dem gibt, was tatsächlich der Fall ist. Dann gibt es keine wahren und überprüfbaren Gründe für das, was ›Gesetz‹ genannt und durchgesetzt wird, außer der willkürlichen Macht und Gewalt. Deren reale, alles überwältigende Existenz verhindert die Überprüfung des Zusammenhangs zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Unmenschliche, rassistische und diskriminierende Gesetze  27

sind dafür Beispiele. Sie sollten nicht als gültig anerkannt werden, auch wenn sie dem Wortsinn nach ›gesetzt‹ sind. Es fällt uns nicht leicht, den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, für das, was gilt, zu erkennen. Ein Grund dafür ist, dass wir das, was ist, gewöhnlich auf wahrnehmbare materielle Dinge in Raum und Zeit beziehen. Was auf wahrnehmbare Weise raumzeitlich existiert, hat keinen unmittelbar erkennbaren Bezug zu dem, was sein soll. Sobald wir aber über das, was ist, nachdenken und etwas jenseits der Grenzen unserer Sinne erkennen wollen, können wir den Zusammenhang herstellen. Wir bemühen uns dann, dass unser Erkennen mit wissenschaftlichen Mitteln dem, was ist, angemessen ist. Es soll dem, was ist, angemessen sein, damit es als Wissen gelten kann. Ob dies so ist, hängt von den Hilfsmitteln und Begriffen ab, die wir dabei gebrauchen. Sie existieren zwar nicht so wie die Dinge in Raum und Zeit. Sie existieren aber im Denken und Erkennen und damit ebenfalls in Raum und Zeit. Es scheint dann so, als ob wir über zweierlei Arten von ›Existenz‹ sprechen, über die Existenz der Dinge und über die Existenz des Denkens. Das wäre unglücklich, weil dann das eine mehr, das andere weniger existent wäre. Tatsächlich könnten wir die beiden Arten der Existenz, wenn es sie gäbe, nicht klar unterscheiden, weil wir nur mit Begriffen beschreiben können, was im raumzeitlichen Sinn der Fall ist. Die Begriffe und Gesetzmäßigkeiten, mit denen wir das, was ist, beschreiben, existieren sowohl in unseren Beschreibungen als auch in dem, was wir ›äußere Wirklichkeit‹ nennen. Sie normieren das, was wir über die Wirklichkeit denken, und sie gelten dabei. Sie gehören dann nicht nur zu dem, was wir beim Denken und Beschreiben tun, sondern auch zu dem, was ist. Naturgesetze gelten, weil sie wissenschaftlich erklärt werden können. Wir sollten sie beachten, wenn wir die Natur verstehen und beschreiben. Mit Naturgesetzen können wir das Wissen von der Natur begründen. Dieses Wissen stellt, wenn es wahr und begründet ist, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Leichter zu verstehen ist der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, bei jedem Versprechen. Wenn jemand etwas verspricht, existiert dieses Versprechen. Damit gilt die 28 | Was gilt?  

Verpflichtung, es einzuhalten. Ohne die Einsicht in die Verbindlichkeit des Versprechens, ohne den Willen, es zu erfüllen, und ohne das Wissen, wie dies am besten getan wird, kann es aber nicht erfüllt werden. Das Versprechen begründet mit diesem Wissen und Wollen seine eigene Geltung. Offensichtlich ist der Zusammenhang auch bei Verkehrsregeln oder bei Gesetzen für den Umweltschutz. Der Straßenverkehr gefährdet Menschen, sie sollen aber sicher daran teilnehmen können. Deswegen gelten Verkehrsregeln. Die Zerstörung des Lebensraums der Arten, die Vergiftung der Böden und der Erdatmosphäre gefährden das Leben insgesamt. Dies sollte verhindert werden. Deswegen gelten Gesetze, die genau dies verhindern sollen. Auch das Widerspruchsprinzip stellt einen Zusammenhang her zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Etwas ist oder ist nicht, es soll aber nicht beides gleichzeitig vom selben in der gleichen Hinsicht behauptet werden. Die Aussagen über das, was ist, sollen sich nicht widersprechen. Wahres Wissen ist nur möglich, wenn dieses Gesetz beachtet wird. Der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, ist im Denken der Antike und des Mittelalters durch das Gute gesichert. Die Moderne bezweifelt diesen Zusammenhang und bringt ihn mit dem, was gilt, nicht mehr in Verbindung. Was zusammengehören könnte, ›Sein‹, ›Sollen‹ und ›Geltung‹, oder was mit diesen Worten gemeint ist, zerfällt in der Moderne. Auf einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, scheint es für das, was gilt, nicht mehr anzukommen. Es scheint sogar so, als ob eine rationale Begründung dessen, was gilt, überhaupt erst möglich wird, wenn jene Bereiche streng voneinander unterschieden werden. Eine Folge davon ist der Glaube an den Dualismus von Sein und Sollen, eine weitere Folge ist die Trennung zwischen theoretischer und praktischer Geltung und die noch weiter gehende Trennung der Geltungen von Recht und Moral. Ein Grund für die strenge Unterscheidung der Bereiche ist das häufig unglückliche, immer wieder enttäuschte Wissen von dem, was den Zusammenhang ursprünglich sichern sollte, vom Guten. Wir kommen aber nicht umhin über das, was gut ist, und das, was wir darüber wissen können, nachzudenken. Wir tun dies wohl wissend, dass wir selbst nicht genau sagen können, was es ist. Es gäbe Was gilt? | 29

aber keinen Grund darüber nachzudenken, wenn wir nicht wissen könnten, dass es das Gute wirklich gibt. Dafür benötigen wir aber Argumente. Bei Versprechen, Verkehrsregeln, dem Umweltschutz und dem Widerspruchsprinzip unterstellen wir, dass es gut ist, dass sie gelten, ohne dass wir an die Existenz des Guten denken oder an ihr zweifeln. Die Identifikation dessen, ›was sein soll‹, mit dem Guten, liegt auf der Hand, darf aber nicht auf das moralisch Gute eingeschränkt werden. Wir denken mit Hilfe von Begriffen und Gesetzmäßigkeiten und halten uns bei dem, was wir tun, an Normen oder auch nicht. Sie gelten und normieren das, was wir erkennen und tun. Es ist gut, dass sie gelten und wir uns an ihnen orientieren. Es ist gut, weil sie den Zusammenhang unseres Denkens und Handelns mit dem herstellen, was ist. Deswegen existieren sie, obwohl sie keine materiellen, sondern abstrakte Gegenstände sind. Sie existieren durch das, was wir denken und tun, in dem Raum, in dem etwas überhaupt gut sein kann. Das moralisch Gute ist darin enthalten, bestimmt diesen Raum aber nicht insgesamt. Ein weiterer Grund für die erwähnten scharfen Unterscheidungen ist, dass das, was in Raum und Zeit existiert, seit langem ein Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften ist. Ohne an deren Wissen immer teilhaben zu können oder an deren Kompetenzen zu zweifeln, müssen wir aber die Frage, was es gibt, in unserem Leben ständig selbst beantworten. Wir kommen nicht umhin, dies zu tun, auch wenn wir uns häufig irren. Von manchem glauben wir, dass es existiert, obwohl dies nicht der Fall ist. Irrtümer dieser Art können leicht aufgeklärt werden. Weniger leicht aufgeklärt werden kann der Irrtum, dass das, wovon wir nichts wissen, auch nicht existiert. Es kommt also darauf an, wovon wir mit guten Gründen sagen können, dass es existiert. Noch ein Grund für die Unterscheidungen ist, dass die Frage, was gilt, seit einiger Zeit den Rechtswissenschaften überlassen wird. Dort stellt sich die Frage in gewisser Weise von selbst, aber gewöhnlich unter dem dualistischen Vorbehalt, dass das gesetzliche ›Sollen‹ vom ›Sein‹ getrennt und unabhängig ist. Dabei ist der Zusammenhang dessen, was gilt, mit dem, was ist, und was sein soll, im Recht und in der Praxis der Rechtsprechung offensichtlich. Die Rechtsordnung stellt genau diesen Zusammenhang her. Dun30 | Was gilt?  

kel und begrifflich undurchsichtig scheint für diesen Zusammenhang die Bedeutung des Willens zu sein. Diese Bedeutung müssen wir aber für das, was gilt, verstehen, wenn informierte Argumente und rationale Begründungen allein die Geltung nicht begründen können. Es spricht einiges gegen den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, obwohl er in allem, was gilt, erkennbar ist. Der Zusammenhang zeigt sich besonders klar und unabweisbar in der menschlichen Praxis. Die Praxis unseres Sprechens und Handeln zeigt, wie wir urteilen und was wir denken, wie wir miteinander umgehen und woran wir uns dabei orientieren. Sie zeigt, was wir für gut und für schlecht halten, wonach wir streben und was wir für verbindlich und gültig halten. Die Frage, was ›Geltung‹ bedeutet, wird in der Ethik Kants durchaus mit dem menschlichen Willen in Verbindung gebracht, nicht dagegen in seiner Erkenntnistheorie. Kants erkenntnistheo­ retische Auffassung von ›Geltung‹ hat aber viele Vertreter der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie geprägt. Erkennbar ist dieser Einfluss an zwei Unterscheidungen, derjenigen zwischen ›Geltung‹ und ›Genese‹ und derjenigen zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Beide Unterscheidungen werden im Denken, das Kant verpflichtet ist, nicht in Frage gestellt.15 Wir wollen den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, verstehen, weil er bei allem, was gilt, eine ähnliche Bedeutung hat wie bei einem Versprechen. Außerdem haben wir ein Bedürfnis nach Gutem, und dieses Bedürfnis ist mit der Frage nach dem, was ist, verbunden. Es ist, wenn man so will, ein ontologisches Bedürfnis, das Bedürfnis, dass das, was gut ist, nicht nur existiert, sondern dauerhaft existiert. Was gut ist, soll beständig sein, sei es in Form von Gesetzen oder in Form von Erkenntnissen. Je unbeständiger es ist, desto größer ist das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem. Wir wünschen uns das Gute als etwas Dauerhaftes, obwohl wir nicht genau wissen, was es ist. Das mangelnde Wissen kann uns verleiten, daran zu zweifeln, dass es das Gute gibt. Wir wissen aber häufig, was nicht schlecht ist, und davon wüssten wir nichts, wenn wir wirklich am Guten zweifeln müssten. In Literatur und Kunst, Geschichtsschreibung, Museen und im eigenen Leben gibt es viele Beispiele für das, was gut, nicht schlecht  – und schlecht  – ist. Wir wissen, dass Anerkennung, Was gilt? | 31

Liebe, Glück, eine verlässliche Partnerschaft, Gesundheit, Arbeit, Eigentum, Sicherheit, eine faire Rechtsordnung, gerechte soziale Verhältnisse, Friede und der Schutz der natürlichen Umwelt zu einem guten Leben gehören. Was und wie viel von alledem das Gute ausmacht, wissen wir aber nicht. Das Gute kann uns als teilbar, aber auch als unteilbar, als etwas Absolutes und als etwas Relatives erscheinen. Für alle diese Merkmale gibt es Beispiele, obwohl sie sich eigentlich wechselseitig ausschließen müssten. Gerade weil wir so viele Beispiele kennen, wissen wir, dass das Gute möglich ist. Jeder hat selbst schon Gutes erfahren und hofft auf mehr. Fragen nach dem, was ist, was sein soll und was gut ist, sind seit jeher Wissensfragen. Mit den Antworten auf diese Fragen können wir begründen, was gilt und gelten sollte. Daran orientieren wir uns. Wir wollen als Erstes wissen, wie wir das, was wir ›ontologisches Bedürfnis‹ nennen, verstehen können. 1.1 Ob es ein ontologisches Bedürfnis gibt

Die Gründe, die wir Menschen für das, was gilt, erkennen, sind nicht immer so zuverlässig wie bei Naturgesetzen, Versprechen und Verkehrsregeln. Wir verbinden das, wovon wir glauben, dass es ist, mit dem, was wir für gut halten und deswegen sein soll. Wir können über beides irren. Das, was wir für gut halten, ist nicht immer gut, wie wir häufig erfahren. Nicht einmal der Friede oder die Liebe sind immer gut, geschweige denn dauerhaft. Den Unterschied zwischen dem, was gut ist, und dem, wovon wir glauben, dass es gut ist, sollten wir kennen, bevor etwas gelten soll. Wir kennen den Unterschied aber nicht genau, auch wenn wir uns sicher sind, dass wir uns nicht täuschen. Deswegen können wir mit dem Unterschied auch nicht argumentieren und das Wissen nicht gegen den Glauben ausspielen. Mehr als glauben, dass etwas existiert und gut ist, können wir nicht, wohl wissend, dass wir uns täuschen können. Menschen haben ein Bedürfnis nach dauerhaft Gutem, selbst wenn sie nicht wirklich wissen, was es ist.16 Beides wird ihnen bewusst, wenn es ihnen nicht gut und anderen besser geht. Was für die einen gut ist, kann anderen fehlen. Deswegen muss das, was für 32 | Was gilt?  

die einen gut ist, nicht für alle gut sein. Was gut und gerecht für die einen ist, kann für andere ungerecht und ein Grund für Neid, Missgunst und Hader sein. Das eigene Bedürfnis nach dauerhaft und verlässlich Gutem ist daher zwiespältig und kein Maßstab für das, was für alle gut ist. Manche haben dieses zwiespältige Bedürfnis gerade dann, wenn sie sich das, was für sie selbst gut ist, auch selbst erworben haben. Dann glauben sie, dass ihr Bedürfnis, dass das, was für sie gut ist, dauerhaft so bleibt, auch gerecht ist, obwohl es anderen schlecht geht. Es läge nahe, das Bedürfnis, dass das, was gut ist, so bleibt, ›egoistisch‹ zu nennen, weil es zwiespältig ist. Das wäre vorschnell und unbedacht. Denn dieses Bedürfnis ist keine Einstellung, die gegen bessere Einsicht zu Lasten der anderen gewählt wird. Das Bedürfnis ist natürlich und hat einen nicht-reflexiven Charakter.17 ›Nichtreflexiv‹ bedeutet, dass es zwar gedacht wird, aber nicht durch das eigene Denken entsteht und auch nicht Ergebnis des Nachdenkens über sich selbst, über andere und die Welt ist. Es ist einfach da, es ist vielfältig, und jede Person hat es. Wir können dieses Bedürfnis auch korrigieren. Dies ist bei einem anderen natürlichen Bedürfnis, demjenigen, Schmerz zu vermeiden und Lust zu empfinden, nicht so. Dieses Bedürfnis kann von vornherein nicht dauerhaft befriedigt werden; es ist auch nicht zwiespältig, weil die Lust des einen nicht der Schmerz des anderen sein muss. Das Bedürfnis nach Lust darf mit dem Bedürfnis nach bleibend Gutem nicht verwechselt werden. Der Zwiespalt des Bedürfnisses nach bleibend Gutem ist im Verhalten von Individuen und Gruppen zueinander und in den Konflikten und Spannungen zwischen ihnen erkennbar. Menschen können aber auf einen Teil dessen, was sie für gut halten, zugunsten anderer verzichten, wenn sie erkennen, dass es anderen fehlt. Als natürliche Einstellung ist das ontologische Bedürfnis nach dauerhaft Gutem weder egoistisch noch ein Bedürfnis nach Lust. Auch kranke und behinderte Menschen haben das Bedürfnis, dass das, was für sie gut ist, dauerhaft so bleibt, auch wenn es ihnen schlechter als anderen geht. Es geht um den Zusammenhang zwischen dem, was ist, mit dem, was sein soll, durch das, was gilt. Das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem, das ontologische Bedürfnis, stellt zwar bei jedem einWas gilt? | 33

zelnen Menschen jenen Zusammenhang her, ist aber zwiespältig und kann nicht für alle gelten. Deswegen kann das individuelle ontologische Bedürfnis nach dauerhaft Gutem das, was für alle gelten kann, weder begründen noch dauerhaft sichern. Dafür müssen äußere Bedingungen für alle gelten, und diese Bedingungen müssen so dauerhaft und verlässlich wie eine Verfassung sein, die einer Gesellschaft ihre Ordnung gibt. Ohne solche äußeren Bedingungen, die dem Leben einer ganzen Gesellschaft Stabilität geben, können Menschen nicht gut leben, unabhängig davon, was sie für gut halten. Das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem wäre ohne solche Bedingungen für alle enttäuschend und von vornherein eine Illusion. Die Stabilität äußerer Lebensbedingungen ist aber kein Garant für die Qualität dieser Bedingungen. Was gerecht und gut für die einen und ungerecht und schlecht für die anderen ist, kann durch eine äußere Ordnung dauerhaft so sein. Wenn es dabei bleibt, ist die Ordnung schlecht und die Menschen leben nicht mehr in einer, sondern in mehreren, unverbundenen Wirklichkeiten. Eine schlechte Ordnung ist für viele Menschen, die in ihr leben müssen, keine Ordnung, sondern Unordnung und Unrecht und Ursache ihrer Leiden. Kann eine schlechte Ordnung dennoch gelten? Sie kann offenbar in Kraft sein, wie die Geschichte zeigt, sollte aber nicht gelten. Der Zwiespalt des Bedürfnisses nach dauerhaft Gutem kann sich einerseits in dem, was gilt, fortsetzen. Andererseits kann nur das, was gilt, die ungute Wirksamkeit des zwiespältigen Bedürfnisses nach dauerhaft Gutem kontrollieren und einschränken. Wenn die geltende Ordnung selbst gut ist, kann das Bedürfnis aller nach bleibend Gutem befriedigt werden, so hoffen wir. Wäre das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem nicht zwiespältig, würden wir alle nach demselben Guten streben. Daraus könnte unmittelbar eine gute Ordnung für alle erwachsen, eine natürliche gute Ordnung sozusagen. Da es aber einen Unterschied zwischen dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem und dem, was für alle gelten kann, gibt, kommt es auf das an, was tatsächlich gilt. Denn nur das, was gilt, kann jenen Unterschied korrigieren und den Zwiespalt der Bedürfnisse entschärfen. Es kommt auf das an, was gilt, damit die existierenden zwiespältigen Bedürfnisse nach Gutem in eine Ordnung integriert werden können, die für alle gut ist. So kann 34 | Was gilt?  

der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, durch das, was gilt, hergestellt werden. Um dies zu verstehen, könnten wir die geltenden Ordnungen betrachten, die unser gegenwärtiges Leben bestimmen. Es sind Ordnungen der Politik, des Rechts und der Moral, die wir als liberale Ordnungen schätzen und für unverzichtbar halten. Wir schätzen sie, weil es Ordnungen sind, welche die Freiheit des Einzelnen und das Leben aller sichern können. Die Liberalität dieser Ordnungen ist ein Gut, das dauerhaft sein soll. Es ist ein ontologisches Bedürfnis aller Menschen in einer Gesellschaft wie der unseren. Ohne die Dauerhaftigkeit dieses Guts kann das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem, das wir als Einzelne und als Mitglieder einer Gesellschaft haben, nicht befriedigt werden. Deswegen wollen wir wissen, wie die Geltung einer liberalen Ordnung dauerhaft gesichert werden kann. Die liberalen Ordnungen sagen uns aber ähnlich wenig über das, was ›Geltung‹ bedeutet, wie uns der Geschmack eines guten Gerichts sagt, warum es uns schmeckt. Wir müssen in beiden Fällen Maßstäbe kennen, um urteilen zu können. Das Rezept, nach dem gekocht wurde, enthält Maßstäbe des Geschmacks, die allerdings nicht für jeden gelten. Die geltenden Ordnungen enthalten die Maßstäbe ihrer Liberalität, die unabhängig vom individuellen Geschmack für alle gelten sollten. Es sind vor allem Freiheits- und Menschenrechte, der Rechtsstaat, soziale Gerechtigkeit und die demokratische Ordnung, Arbeit und Einkommen, die eine liberale Ordnung ausmachen und ein gutes Leben ermöglichen. Um die Geltung dieser Bedingungen zu verstehen, genügt es nicht, sie aufzuzählen und zu beschreiben. Wir müssen prüfen, ob der Zusammenhang zwischen dem, was ist – dass diese Maßstäbe gelten –, und dem, was sein soll – was sie bedeuten –, durch die geltende Ordnung auf ähnliche Weise hergestellt wird wie bei einem Versprechen. Eine Ordnung enthält tatsächlich, wenn wir uns die genannten Maßstäbe anschauen, nicht nur ein, sondern viele Versprechen, auf deren Erfüllung die Menschen einen Anspruch haben. Das große Versprechen jeder guten Ordnung ist, dass das ontologische Bedürfnis aller Menschen einer Gesellschaft erfüllt wird. Nur eine Ordnung, die dieses Bedürfnis erfüllen kann, sollte gelten. Wir nehmen an, dass eine liberale Ordnung diesem BeWas gilt? | 35

dürfnis gerecht werden kann, weil sie das, was ist, mit dem, was sein soll, auf bestmögliche Weise verbindet. Die Prinzipien dieser Ordnung existieren. Sie sagen auch, was sein soll, wenigstens dem Namen nach. Daran, dass sie gelten, zweifeln wir nicht. Was genau sie bedeuten, können wir nicht sagen. Dies kann uns zu der irrigen Annahme verleiten, dass sie gar nicht existieren. Das Muster dieses Irrtums ist, dass das, was wir nicht sagen können, auch nicht existiert. Was wissen wir wirklich? Anders als bei einem Versprechen gibt es bei einer liberalen staatlichen Ordnung keinen Sprecher, der sie in Geltung setzt, indem er sagt, was er genau versprochen hat. Deswegen können wir die Geltung ihrer Prinzipien auch nicht – wie in nicht-liberalen, autoritären Ordnungen – auf den Willen einer oder mehrerer Personen zurückführen. Wir verstehen deswegen noch nicht, was ›Geltung‹ für eine liberale Ordnung bedeutet, weil wir nicht wissen, worauf wir sie zurückführen können. Wir verstehen auch noch nicht, was es bedeutet, dass die Prinzipien einer solchen staatlichen Ordnung existieren, und wir wissen nicht, was sie genau sagen. Dies alles versuchen wir aufzuklären. Nur wenn uns dies gelingt, können wir verstehen, wie das, was gilt, den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellen kann. Wir gehen davon aus, dass das, was gut für das Leben aller ist, zuverlässig gelten sollte. Die Zuverlässigkeit setzt die genannten Maßstäbe und deren Versprechen voraus. Einen dieser Maßstäbe, die Menschenwürde, werden wir später genauer betrachten. Gemessen an dem ontologischen Bedürfnis jedes Einzelnen nach dauerhaft Gutem sind die Maßstäbe einer liberalen Ordnung und deren Geltung aber noch weit weg. Wir sollten erst verstehen, was uns näher als alles andere ist. Es ist das, was wir als zwiespältiges Bedürfnis nach dauerhaft Gutem bezeichneten. Es ist etwas NichtReflexives, etwas, was wir nicht wählen und uns nicht ausdenken, sondern auffinden. Deswegen fragen wir, welche Bedeutung dieses Bedürfnis trotz seiner Zwiespältigkeit im Leben jedes Einzelnen hat. Wir werden sehen, dass sich ein bereits erwähnter Zwiespalt erneut auftut. Es ist der Zwiespalt zwischen Nichtwissen und Wissen, der uns schon beim Guten begegnet. Ludwig Wittgenstein versucht, uns mit dem grundlosen Glauben vertraut zu machen. Er schreibt in einem der letzten Texte, an 36 | Was gilt?  

denen er gearbeitet hat: »Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.«18 Es geht ihm nicht um den reli­giö­ sen Glauben, sondern um den, der von den Naturwissenschaften durch Experimente in Laboratorien gestützt und Teil unseres Wissens und Weltbilds wird. Er prüft die Rolle naturwissenschaftlicher Experimente bei der Bildung des Wissens und kommt zum Schluss: »Was ich weiß, das glaube ich«19, und für diesen Glauben gibt es keine Rechtfertigung. Wenn wir glauben, was wir wissen, haben wir keinen anderen Grund zu glauben als den Glauben selbst. Das ist gemeint, wenn wir ihn als ›grundlos‹ bezeichnen. 1.2 Ob wir glauben, was wir wissen

Jeder einzelne Mensch hat das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem als Lebender, aber nicht jedes Leben ist gut. Wenn es schlecht ist, soll es gut werden. Wenn es immer schlechter wird, wissen viele nicht, wie es weitergeht. Sie verzweifeln dann vielleicht und verabscheuen ihr Leben, vor allem dann, wenn es anderen offensichtlich besser geht. Viele halten ihr Leben für gut, obwohl sie behindert sind oder an einer schweren Krankheit leiden. Andere schätzen ihr Leben nicht und verachten es, obwohl es ihnen gut geht. Sie verachten vielleicht auch das Leben der anderen. Sie können sich nicht vorstellen, was in ihrem Leben dauerhaft gut sein könnte, selbst wenn es ihnen nicht schlecht geht. Wer das Leben verachtet, kümmert sich weder um das, was ist, noch um das, was sein soll, und am allerwenigsten um das, was gilt. Offenbar ist das bloße biologische Leben nicht selbst schon gut oder schlecht. Es ist eine notwendige Voraussetzung für das eine wie das andere, mehr nicht. Die Biologie hat einen wesentlichen Anteil am menschlichen Leben, legt aber nicht unverrückbar fest, wie gut oder schlecht es ist. Sie ermöglicht Leben. Sie ist notwendig dafür, dass Menschen – gut oder schlecht – leben können, und sie begleitet das Leben vom Anfang bis zum Ende. Sie ist ein Teil der menschlichen Natur, aber nicht die ganze. Seit einiger Zeit verfügt die Medizin über das nötige Wissen, um den Zeitpunkt von Geburt und Tod beeinflussen zu können. Wir sind von diesem Wissen unmittelbar betroffen und überzeugt, Was gilt? | 37

dass jenes Wissen immer dann gut ist, wenn damit Leben ermöglicht oder gerettet wird. Davon sind wir überzeugt, wenn wir glauben, dass das Leben gut und der Tod schlecht ist. Wir wissen zwar nicht, warum wir das glauben können. Dennoch hat jeder auf die Warum-Frage seine eigene Antwort. Viele glauben, dass der Tod eine Bedingung des Lebens und deswegen für die Natur im Ganzen gut ist. Für den Tod jedes Einzelnen ist dies kein Trost, und nur begrenzt für denjenigen, der an ein Leben nach dem Tod glaubt. Manche glauben, dass der Tod derer gut ist, die anders denken und etwas anderes glauben als sie selbst. Fragen dazu können sie keine haben, sonst würden sie das nicht glauben. Letztlich verachten sie das Leben. Wer sich fragt, ob das Leben gut und der Tod schlecht ist, wird einsehen, dass keine Antwort das Fragen beendet. Wenn ich sage, dass das Leben gut ist, weil es mir Freude macht, kann ich mich fragen, warum es mir Freude macht. Auf jede Antwort ist wieder eine Warum-Frage möglich. Jedem Einzelnen von uns genügen seine eigenen Antworten, auch wenn keine Antwort für andere verbindlich ist. Natürlich glaube ich nur so lange, dass das Leben gut ist, solange es mir Freude macht. Wenn es mir keine Freude mehr macht, hoffe ich einen anderen Grund dafür zu finden. Der Grund für den Zwiespalt des Bedürfnisses nach dauerhaft Gutem liegt nicht im Egoismus, sondern darin, dass wir nicht klar zwischen dem, was gut, und dem, was schlecht für unser Leben ist, unterscheiden können. Unser Unwissen in diesen Fragen mag uns nicht weiter auffallen. Wir sollten aber erkennen, dass es keinen allgemein verbindlichen Grund gibt zu glauben, dass das Leben gut und der Tod schlecht ist. Wir wissen nicht, warum das eine gut und das andere schlecht ist und ob es überhaupt so ist. Wir wissen nicht einmal, was Leben ist und was es bedeutet, wie sollen wir dann wissen, ob es wirklich gut ist? Wenn wir dies nicht wissen, wie sollen wir dann wissen, was gut für uns selbst ist? Dieses Unwissen über Fragen des Lebens ist enttäuschend und irritierend. Der Zwiespalt des Bedürfnisses nach dauerhaft Gutem setzt sich im Zwiespalt zwischen dem eben beschriebenen Unwissen und dem, was wir sonst alles wissen und nicht wissen, fort. Wir wissen zwar nicht, was ›Leben‹ bedeutet, wir wissen aber sehr viel über Gesundheit und Krankheit. Dieses Wissen ist groß und wächst. 38 | Was gilt?  

Es sagt uns nicht, warum das Leben gut und der Tod schlecht ist. Es sagt uns aber, dass Gesundheit gut und Krankheit schlecht für uns ist. Das medizinische Wissen dient der menschlichen Gesundheit und hilft Krankheiten zu heilen. Eine Voraussetzung dieses Dienstes am Leben ist der Glaube, dass das Leben gut und der Tod schlecht ist. So können wir das Unwissen über Leben und Tod durch medizinisches Wissen vergessen. Das Leben ist aber für viele eine Qual und der Tod kann eine Erlösung sein. Spätestens dann macht sich das Unwissen bemerkbar, wenn das medizinische Wissen an seine Grenzen stößt. Der kognitive Zwiespalt zwischen dem Unwissen über Leben und Tod und dem Wissen über Gesundheit und Krankheit fällt uns nicht weiter auf, solange wir gesund und unsere Krankheiten heilbar sind. Wir dürfen deswegen daran glauben, dass es gut ist, dem Leben, wo immer dies möglich ist, den Vorzug zu geben, auch mit biomedizinischer Hilfe. Die Biomedizin kann helfen, den Wunsch nach einem Kind zu erfüllen, wenn er auf herkömmliche Weise nicht erfüllt werden kann. Wir sind auch überzeugt, dass die Wahl des Zeitpunkts einer Geburt gut ist, wenn dadurch das Leben der Mutter oder des Kindes gerettet wird. Wer würde es nicht für gut halten, das Leben eines kranken oder lebensgefährlich verletzten Menschen zu retten, wenn dies möglich ist? Wenn dies nicht möglich ist, wollen viele den Wunsch eines Sterbenden respektieren, das Leiden mit ärztlicher Hilfe oder selbst zu beenden. Viele halten dies für gut und das Gegenteil für schlecht, obwohl niemand weiß, warum das Leben gut und der Tod schlecht ist. Wir lassen uns von diesem Unwissen offenbar nicht beirren. Ähnlich lassen wir uns auch nicht vom Mangel an Wissen über das, was für uns alle gut ist, beirren. Der doppelte Zwiespalt der Bedürfnisse und des Wissens fällt uns meistens nicht auf. Wir wollen dennoch, dass das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem erfüllt wird. Dass wir nicht wissen, was gut für uns ist, stellt das Bedürfnis nicht in Frage. Den Zwiespalt zwischen Unwissen und Wissen versuchen wir durch ein starkes Bedürfnis nach Wissen unwirksam zu machen. Wir glauben, dass uns Wissen hilft, überall zwischen dem, was gut, und dem, was schlecht ist, zu unterscheiden und unsere zwiespältigen Bedürfnisse zu korrigieren. Wir glauben auch, dass Wissen uns hilft, den Zwiespalt zwischen dem, was gut für uns und Was gilt? | 39

schlecht für andere ist, zu überwinden. Wir glauben schließlich, dass Wissen uns hilft, das, was gut für uns alle ist, wählen zu können.20 Wenn es so ist, kann es dem, was gilt, zugrunde liegen. Dann stellt das Wissen den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Der Glaube an die Kraft des Wissens gipfelt in dem Glauben, dass wir uns nur dessen gewiss sein können, was wir wirklich und zuverlässig wissen. Wir glauben, dass wir dieses Wissen benötigen, wenn wir lebenswichtige Entscheidungen als gut rechtfertigen oder als schlecht verwerfen wollen. Damit glauben wir, dass das Bedürfnis nach dauerhaft und verlässlich Gutem mehr voraussetzt als diesen Wunsch, nämlich wirklich zu wissen, dass es gut ist, dies zu wünschen. Glauben und Wissen hängen enger zusammen als gedacht. Der Glaube an das Wissen soll das Unwissen des bloßen Glaubens vergessen machen. Wir glauben deswegen an die Macht des Wissens und hoffen auf sie. Die Suche nach Wissen dient dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem, auch wenn wir daran, fasziniert von den Möglichkeiten des Wissens, nicht mehr denken. Das Wissen soll den doppelten Zwiespalt dieses Bedürfnisses selbst und das Unwissen über Leben und Tod unwirksam machen. Daran müssen wir uns erinnern, wenn wir der Suche nach Wissen einen Sinn geben wollen. Am Ende sieht man dem Wissen nicht mehr an, dass es ursprünglich um das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem geht. Das Wissen wird zum Bedürfnis seiner selbst, und wir vergessen unser Bedürfnis nach dauerhaft Gutem. Wir wollen vor allem die Welt verstehen und wissen, was es gibt. Es geht nicht mehr um das, was gut ist, sondern um das, was ist, was tatsächlich existiert. Dies wollen wir wissen, und dieses Wissen dient in besonderer Weise dem Bedürfnis nach Sicherheit und Gewissheit. Wir glauben sogar, dass wir ohne dieses Wissen auch nicht sagen können, was dauerhaft gut für alle ist und gelten sollte. Dieses reflexive Wissens-Bedürfnis von der Welt ist mit dem nicht-reflexiven Bedürfnis nach verlässlich Gutem eng verbunden. Es folgt nicht unmittelbar aus dem nicht-reflexiven Bedürfnis, sonst gäbe es den Zwiespalt dieses Bedürfnisses nicht, ergänzt es aber reflexiv, wenn wir darüber nachdenken, wie der Zwiespalt überwunden werden kann. Die Frage, ob das, was wir selbst für gut 40 | Was gilt?  

halten, wirklich gut für alle ist, können wir nur entscheiden, wenn wir etwas über die Welt und uns selbst wissen. Wir müssen unsere Welt verstehen, um uns sicher in ihr bewegen zu können. Es gibt also zwei sich ergänzende Bedürfnisse nach Gewissheit, ein nichtreflexives und ein reflexives. Beim einen geht es um das, was gut ist und sein soll, beim anderen um das, was überhaupt ist. Der Erwerb von Wissen soll helfen, dem ersten Bedürfnis in einer Weise gerecht zu werden, die dessen Zwiespältigkeit überwinden kann. Es sieht so aus, als könnten wir den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, nur auf der Grundlage von Wissen herstellen, dessen wir uns gewiss sind. Dann wäre das Wissen das, was gilt. 1.3 Ob es nicht-reflexive und reflexive Gewissheiten gibt

Es gibt offenbar zwei Bedürfnisse, das nach dauerhaft Gutem und das nach Wissen. Wie hängen sie zusammen? Das zweite folgt zwar nicht unmittelbar aus dem ersten, sondern nur reflexiv, wenn wir über das erste nachdenken und den Zwiespalt überwinden wollen. Obwohl das erste vor dem zweiten ist, gibt es – so widersinnig dies auch erscheinen mag – eine Abhängigkeit des ersten vom zweiten. Dies leuchtet in gewisser Weise ein. Wie könnten wir, ohne zu wissen, was gut ist, wissen, was gut für alle ist? Erst mit diesem Wissen können wir uns doch sicher sein, dass das, was wir für gut halten, auch wirklich gut ist, und zwar nicht nur für uns selbst. Das Bedürfnis nach verlässlich Gutem scheint erst dann erfüllbar für alle zu sein, wenn zuerst das Bedürfnis nach Wissen erfüllt ist. Wir gehen davon aus, dass das nicht-reflexive Bedürfnis nach dauerhaft Gutem, das ontologische Bedürfnis, das erste ist und dann das reflexive Bedürfnis nach dem Wissen von dem, was wirklich gut ist, darauf folgt. Dieses Vorher-Nachher verkehrt sich aber, wenn es um die Abhängigkeit des einen vom anderen und die Gewissheit des Zusammenhangs geht. Die Frage, ob wir wissen können, was gut ist, ohne zu wissen, was überhaupt ist, erschwert die Frage zusätzlich. Sie legt nahe, dass wir das Vorher-Nachher der beiden Bedürfnisse umkehren. Können wir aber wirklich wissen, was ist und was gut ist? Diese Frage stellt sich vor allem, wenn wir – Was gilt? | 41

wie eben behauptet – nicht wissen, warum das Leben gut und der Tod schlecht ist. Wir haben das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem, auch wenn wir nicht wissen, was ist, und ob das, was wir für gut halten, wirklich gut ist. Das nicht-reflexive Bedürfnis geben wir nicht auf, selbst dann, wenn das reflexive, kognitive Bedürfnis nach Wissen unerfüllt bleiben sollte. Der Zwiespalt des natürlichen Bedürfnisses ist aber nicht oder nur schwer zu korrigieren, wenn wir kein zuverlässiges Wissen über das, was wirklich gut ist, haben. Denn nur mit diesem Wissen können wir, wie wir annehmen, den Zwiespalt zuverlässig korrigieren. Wir sollten uns deswegen mit dem, was ›Wissen‹ bedeutet und was wir wissen können, auseinandersetzen. Wir sollten dies, weil sich das, was wir in unserem Leben häufig für gut halten, irgendwann als schlecht herausstellen kann und umgekehrt. Wir meinen, wir wüssten, was gut ist, und täuschen uns. Meinen ist eben nicht Wissen, und Wissen ist, wie Platon lehrt, nicht nur mehr, sondern etwas anderes als richtige Meinung. Sokrates sagt, dass das Wissen »von höherem Wert« als die »richtige Meinung« sei und dass deswegen ›richtige Meinung‹ und ›Wissen‹ zwei verschiedene Dinge seien.21 Platon bestimmt den Unterschied nicht näher, weil er das wahre Wissen nicht für definierbar hält. Er nimmt offenbar an, dass es nur vom Guten wahres Wissen geben kann. Platon sieht keinen Unterschied zwischen dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem und dem Wissen, was es wirklich gibt, weil er glaubt, dass das Gute wirklich ist. Mit Platon verstehen wir, dass das Bedürfnis nach Gutem ein ontologisches Bedürfnis ist. Es ist identisch mit dem Bedürfnis zu wissen, was ist. Was ist und was sein soll, gibt es für ihn nur im Zusammenhang. Wie eng dieser Zusammenhang ist, beschreibt er in den Nomoi, seinem umfangreichen späten Werk. Dort nennt er das Gute »die Kraft des gemeinsamen Werdens«22 , eine Kraft, die wirksam sein sollte für das Werden des Ganzen der Wirklichkeit, eines Ganzen, in dem die Ordnung der Gesetze gilt und den Sieg der Tugenden über das Schlechte ermöglicht. Platon sagt nicht, was das Gute ist, aber dass es das Gute als eine Kraft gibt und wie diese Kraft wirksam werden kann. Da wir nicht wissen, was das Gute ist, müssen wir uns mit dem Unterschied zwischen dem, was wir für gut halten, und dem, was der 42 | Was gilt?  

Fall ist, auseinandersetzen. Sonst können wir den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, nicht verstehen. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, müssen wir den Unterschied zwischen dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem und dem Bedürfnis nach Wissen klären. Es gibt einen Unterschied der Gewissheiten dieser beiden Bedürfnisse. Wir können nämlich nicht sinnvoll am nicht-reflexiven Bedürfnis nach dauerhaft Gutem zweifeln. Wir können aber an allem, was wir wissen, zweifeln, auch daran, dass wir das reflexive Bedürfnis nach Wissen wirklich befriedigen können. Das Wissen von dem, was ist, könnten wir nur dann nicht bezweifeln, wenn es keinen Unterschied zwischen Meinen und Wissen gäbe. Dann wüssten wir auch, was gut ist, und wir könnten uns die Frage danach sparen. Platon ist überzeugt, dass das, was ist, was wahr und was schön ist, im Guten seinen Grund hat. Er trennt deswegen im Hinblick auf das Gute auch nicht zwischen dem, was wir denken, erkennen und wissen können. Fragen der Ontologie, der Wissens- und Erkenntnistheorie, der Ethik und Ästhetik können im Blick auf das Gute – wenn wir Platon folgen – unterschieden, aber nicht getrennt werden. Alles zusammen ist das, was später ›Metaphysik‹ genannt werden wird. Platon versteht das Gute also weder werthaft noch moralisch, sondern als das, was allem, was ist, was erkennbar ist und gewusst werden kann, auf nicht-reflexive Weise zugrunde liegt.23 Wir müssen uns dies vor Augen führen, um die missliche Lage zu erkennen, in der wir uns ohne diese Voraussetzungen befinden. Aus dieser Lage können wir uns aber nicht einfach befreien, weil viel für eine Auflösung der Metaphysik in Teilbereiche und eine Trennung der Ontologie von der Erkenntnistheorie und von der Ethik spricht. Aristoteles ist der Erste, der für die Trennung argumentiert. Was ›gut‹ bedeutet, wird gewöhnlich dualistisch im Unterschied zu dem, was ›schlecht‹ bedeutet, verstanden, als moralisch wertendes Prädikat von Handlungen. Weil ›gut‹ einfach und sprachanalytisch nicht weiter zerlegbar ist, ist es – wie G. E. Moore argumentiert – nicht definierbar.24 Die Argumente für diese Annahmen gelten in dem von Moore vorausgesetzten begrifflichen Rahmen, aber nicht darüber hinaus. Gegen solche Einschränkungen sprechen das Was gilt? | 43

Bedürfnis nach dauerhaft Gutem und das Bedürfnis zu wissen, was wirklich gut ist. Wir können uns, was dieses Bedürfnis angeht, an Platon orientieren. Er lässt sich von der Nicht-Definierbarkeit des Guten nicht irritieren und denkt noch in den Nomoi über das Gute nach. Sein Nachdenken kann unseres aber nicht ersetzen. Wir müssen uns überlegen, wie wir das Problem des Zweifels am Wissen und an dessen Gewissheit praktisch lösen können. Wir sahen schon, dass wir über Leben und Tod wenig wissen. Es gibt aber das medizinische Wissen, das uns hilft zu entscheiden, was gut und was schlecht für uns ist. Dieses Wissen hilft, dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem gerecht zu werden, weil es uns hilft, das Leben für dauerhaft gut halten zu können. Wir wüssten – anders als Sokrates – auch nicht, was es bedeuten würde, den Tod für dauerhaft gut zu halten.25 Selbst wenn der Tod eine Erlösung ist, halten wir nicht den Tod selbst, sondern die Erlösung von Schmerzen und Leiden mit Hilfe medizinischen Wissens für gut.26 Wir wissen also, dass das Gute am Tod die Erlösung von Schmerzen und den Leiden im Diesseits ist. Dies klingt vieldeutig, wenn wir die Schmerzen und Leiden, von denen wir erlöst werden, in dem Gedanken einklammern. Wir können uns also mit guten Gründen für das Leben entscheiden, wohl wissend, dass auch das Leben das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem nur eine begrenzte Zeit erfüllen kann, eben nur solange wir leben. Das Bedürfnis ist nicht schlecht, nur weil es von begrenzter Dauer ist. Auch das ist gewiss. Und diese Gewissheit haben wir, weil wir wissen, dass der Tod unausweichlich ist und wir sterben können, weil wir irgendwann geboren wurden. Die Gewissheit des Todes ist eine Gewissheit vom Ende des Lebens her. Sie gibt der eigenen Lebenszeit eine Geschlossenheit, Einmaligkeit und Identität. Ich weiß ganz sicher, in welcher Zeit ich das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem habe, selbst wenn ich darauf hoffe, dass es noch ein anderes Leben gibt. Es gibt die Gewissheit des Anfangs, dass jeder Mensch – mindestens27 – eine Mutter und einen Vater hat, ob bekannt oder unbekannt. Diese Gewissheit begründet aber keine anderen Gewissheiten. Genau dies tut aber die Gewissheit vom unausweichlichen Ende her. Kein anderer Gedanke bietet mehr Gewissheit 28 als der vom Ende her. Es ist deswegen weder nötig noch aussichtsreich, nach einem noch höheren 44 | Was gilt?  

Grad an Gewissheit zu suchen. Es gibt keinen, jedenfalls nicht in diesem Leben. Die Gewissheit des Todes ist unbezweifelbar, und sie ist nichtreflexiv, also kein Produkt unseres Denkens. Wir erfassen sie denkend, ohne sie durch unser Denken zu schaffen.29 Wäre sie ein Produkt unseres Denkens, wäre sie reflexiv und wir könnten sie so wissen wie eine begriffliche Wahrheit. Die Gewissheit des Todes gilt unabhängig von dem, was wir über uns selbst und die Welt wissen oder nicht wissen. Es ist die Gewissheit, die dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem einen zeitlichen Rahmen gibt, der – je nach Perspektive – relativ und absolut ist. Innerhalb dieses Rahmens beurteile ich nicht nur das, was gut ist, sondern auch das Gute, was ich selbst getan oder nicht getan habe. Nicht nur ich selbst beurteile das. Dies tun auch diejenigen, mit denen ich lebe und gelebt habe, und dazu gehören auch alle die, denen es nicht gut geht. Die Gewissheit des Endes macht es möglich, eine Bilanz des eigenen Lebens zu ziehen, und zwar nicht erst an dessen Ende, sondern auf dem Weg dahin.30 Ohne die Gewissheit des Endes hätten wir keinen zwingenden Grund für diese Bilanz. ›Gewissheit‹ bedeutet zwar nicht ›Sicherheit‹, kann aber Sicherheit geben. Die Gewissheit des Todes gibt aber keine Sicherheit, weil wir nicht wissen, wann er eintreten wird. Die Gewissheit der Endlichkeit unseres Lebens gibt keine Sicherheit im Leben selbst. Der Umstand, dass die Gewissheit des Todes keine Sicherheit über dessen Zeitpunkt gewährt, macht es aussichtslos, das Leben gegen den Tod, und absurd, den Tod gegen das Leben zu versichern. Der Tod erscheint nur denjenigen, die leben, als Schadensfall. Das lebenspraktische Bedürfnis nach Sicherheit kann in unserem Leben trotz der Gewissheit des Todes nicht befriedigt werden. Die Gewissheit, die Descartes31 lehrt, dass ich denkend bin, ist keine vom Ende her, sondern eine reflexive. Sie ist als reflexive Gewissheit Modell für das, was eine ›analytische Wahrheit‹ genannt werden kann. Sie ist Modell für die Gewissheit, die wir begrifflich, durch unser eigenes Denken, erreichen können. Diese reflexive Gewissheit hat eine nicht-reflexive, ontologische Grundlage, die Descartes in seinem Grundsatz »Ich bin, ich existiere« zum Ausdruck bringt. Reflexiv ist der Zugang zu dieser nicht-reflexiven Grundlage. Die reflexive Gewissheit existiert nur aufgrund Was gilt? | 45

der nicht-refle­x iven Voraussetzung der eigenen Existenz. Wir erkennen durch unser eigenes Denken, was ›Gewissheit‹ bedeutet, können ihre Grundlage aber dadurch nicht selbst herstellen. Die Gewissheit des Denkens setzt die Gewissheit der Existenz voraus, obwohl wir sie nur durch unser Denken erkennen. Die eine Gewissheit ist von der anderen ähnlich abhängig wie unser Denken von unserem Bewusstsein. Denn ohne Bewusstsein können wir nicht denken. Die reflexive Gewissheit gibt es nur in einem Leben, das sich seiner selbst bewusst ist. Das reflexive Bewusstsein ist ein Selbstbewusstsein. Seine Gewissheit ist nicht zu bezweifeln, trägt aber nichts zu unseren Bedürfnissen bei. Es ist neutral gegenüber dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem. Obwohl es nichts zu diesem Bedürfnis beiträgt, ist es dennoch unverzichtbar, weil wir so wenigstens sicher wissen, dass wir denkend existieren. Wir haben also zwei nicht-reflexive Gewissheiten, eine vom Ende des Lebens her und eine, die der reflexiven Gewissheit, dass wir denkend existieren, zugrunde liegt. Es ist die Gewissheit ›Ich bin, ich existiere‹. Wir wissen, dass wir denkend existieren, ohne zu wissen, in welchem zeitlichen Rahmen wir existieren. Die reflexive Gewissheit sagt uns nichts über unsere ebenfalls gewisse eigene zeitliche Relativität. Ihre Abhängigkeit von der nicht-reflexiven Gewissheit der eigenen Existenz können wir leicht am eigenen Bewusstsein erkennen. Wenn ich nicht – oder nicht mehr – weiß, wer ich bin, gibt es die reflexive Gewissheit nicht. Als Dementer weiß ich – vielleicht – nicht mehr, wer ich bin und wer die anderen sind, denke und existiere aber noch. Wenn dies so ist, kann es eine Selbst-Gewissheit auch nur vor diesem Ende geben, wenn die Demenz wirklich ein Ende des Selbstbewusstseins sein sollte. Das Selbstbewusstsein kann vor dem Tod eines Menschen enden. Der Mensch mit Selbstbewusstsein kann also tot sein, bevor er als leiblich existierende Person gestorben ist.32 Das Selbstbewusstsein ist die reflexive Grundlage unseres Wissens von der Welt und von uns selbst. Eine Quelle des Wissens von der Welt ist das reflexive Selbstbewusstsein, also dass ich weiß, dass ich denkend bin, jedoch nicht. Auch das lehrt Descartes. Descartes verdanken wir das Modell des selbstbewussten und selbstsicheren Umgangs mit Begriffen, deren Gehalt wir – so seine 46 | Was gilt?  

ideale Forderung – klar und deutlich erkennen können. Diese beiden Bestimmungen, die Klarheit und die deutliche Unterschiedenheit der Begriffe, mit denen wir erkennen, sind – vorausgesetzt wir können diesen Idealen entsprechen – reflexiver Natur. Sie bieten eine durch das Selbstbewusstsein begrenzte Sicherheit für unser Wissen von dem, was es gibt. Ist mit dem Wissen, dass das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem zeitlich durch den Tod begrenzt ist, und mit dem Wissen, dass wir denkend existieren, nicht schon der Zweifel an der Möglichkeit des Wissens, was gut ist, überwunden? Wir wissen doch, dass wir das natürliche Bedürfnis nach dauerhaft Gutem haben, und wir wissen, in welchem zeitlichen Rahmen wir dieses Bedürfnis haben. Wir wissen aber nicht, ob dieses Bedürfnis nur für uns oder wirklich für alle gut ist. Selbst wenn wir dies wüssten, wäre das Bedürfnis nur zeitlich begrenzt zu erfüllen. Was immer wir über das, was gut für uns und für alle anderen ist, wissen, es ist nur in einem zeitlichen Rahmen gültig. Dieser Rahmen erlaubt uns nicht, klar zwischen dem vorläufigen und dem endgültigen Charakter dieses Wissens zu unterscheiden. Was heute vorläufig ist, kann morgen endgültig sein, weil wir nicht wissen, wann es für uns selbst endgültig sein wird. Darüber irren wir nicht. Die Ungewissheit des Lebensendes beurteilen wir reflexiv, wenn wir an das eigene Leben und das Leben der anderen denken. Dieser Ungewissheit steht die reflexive Gewissheit gegenüber, dass wir denkend existieren. Wir halten uns an dieser Gewissheit fest, solange wir können und bei allem, was wir können, vor allem im Umgang mit den Begriffen, mit denen wir erkennen, was ist. Wir können erkennen, dass die Gewissheit des Todes und die Gewissheit der eigenen Existenz den begrenzten zeitlichen Rahmen bilden, in dem wir leben. Die eine Gewissheit ist von der anderen unabhängig, weil beide Gewissheiten jeweils eine nichtreflexive Grundlage haben. Wir können beide denkend erkennen; sie existieren aber beide nicht durch unser eigenes Denken. Alles, was wir als Nicht-Reflexives erfassen, ohne es damit beeinflussen oder verändern zu können, ist wirklich gewiss. Auch Naturgesetzte und physikalische Konstanten erfassen und finden wir, ohne sie zu erfinden, und auch sie sind gewiss. Dass wir sie erfassen können, hängt aber auch von unserem Wissen ab, Was gilt? | 47

weil wir ohne Wissen nichts finden. Ohne die Fortschritte in der Mathematik wären wir kaum über das ptolemäische Weltbild hinausgekommen. Die Gewissheit wissenschaftlicher Entdeckungen ist deswegen relativ zu unseren reflexiven Fähigkeiten und deshalb irrtumsanfällig. 33 Was von unserem Wissen abhängig ist, kann nicht so gewiss sein wie der Tod oder die eigene Existenz. Die beiden nicht-reflexiv begründeten Gewissheiten sind der Rahmen, in dem wir wissen können, was ist und was sein soll. In diesem Rahmen ist der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, möglich, denkbar und erkennbar. Innerhalb dieses Rahmens können wir Gründe für das finden, was gelten kann. Diese Gewissheiten liefern aber selbst kein positives Wissen. Sie sind aber auch der Rahmen für das negative Wissen von dem, was nicht schlecht ist. Wir können uns mit dem zufrieden geben, was nicht schlecht ist. Dies kann wenigstens vorläufig gelten. Dazu müssen wir weder wissen, was ist, noch, was sein soll oder was gut ist. Was uns als ›nicht schlecht‹ und als ›nicht falsch‹ erscheint, kann sich natürlich als schlecht und falsch erweisen und muss spätestens dann bezweifelt werden. Was nicht schlecht ist, kann aber bis dahin gelten. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, wird damit scheinbar überflüssig. 1.4 Ob es das Gute gibt

Dieses magere Ergebnis, dass das, was gelten kann, nicht schlecht ist, entspricht dem, was wir Menschen aus unserer Geschichte lernen. Unser Wissen über das, was gut für uns – und die Natur – ist, hat sich immer wieder als unzuverlässig und zwiespältig erwiesen. Wir haben gelernt, mit dem zu leben, von dem wir glauben, dass es wenigstens nicht schlecht ist und nicht schadet. Damit können wir dem ontologischen Bedürfnis nach dauerhaft Gutem nur vorläufig mit dem, was hypothetisch gut ist, gerecht werden. Dies ist unbefriedigend, weil es scheint, als würden wir den Wissensmangel durch Scheinwissen ausgleichen. Dem könnten wir nur entgehen, wenn wir wirklich wüssten, was gut ist. Der, den wir dazu befragen können, ist Platon. Seine Idee des Guten ist ein Konzept, das – wie erwähnt – keinem der von Aristo48 | Was gilt?  

teles getrennten Bereiche der Erkenntnistheorie, der Moral und der Ästhetik zugeordnet ist. 34 Mit Platon können wir uns das dauerhaft Gute als etwas vorstellen, was nicht nur in einem jener methodisch getrennten Bereiche beheimatet ist. Wir wüssten gar nicht, in welchem. Was gut ist, soll nicht nur zuverlässig erkannt werden können, sondern auch tatsächlich in Gestalt des guten Lebens und Handelns existieren. Es soll auch moralisch gut sein und es soll uns gefallen und schön sein. Deswegen ist das dauerhaft Gute im Sinne Platons jenseits von modernen begrifflichen Unterscheidungen zwischen dem Normativen und Deskriptiven, Sein und Sollen, zu verstehen. 35 Dementsprechend sind auch die Zweifel an dem, was wir für gut halten, Zweifel, mit denen wir leben, keinem der getrennten Bereiche zugeordnet. Sie sind immer sowohl kognitiv als auch moralisch, politisch und auch ästhetisch. Wir werden später allerdings der Frage nach dem, was gilt, in den methodisch getrennten Bereichen nachgehen. Zunächst geht es darum, ob wir über das Gute mehr als nur Vorläufiges – das, was nicht schlecht ist – wissen können. Wenn nicht, wie wollen wir dann wissen, dass es das Gute überhaupt gibt? Wir gehen davon aus, dass das ontologische Bedürfnis nach dauerhaft Gutem von seiner Zwiespältigkeit in einer Ordnung, die für alle gilt, überwunden werden kann. Wenn die Gründe, die für diese Ordnung sprechen, lediglich nicht schlecht sind, kann sie nur vorläufig gelten. Wir müssen uns eingestehen, dass diese Vorläufigkeit den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, kennzeichnet, und damit auch das, was gilt. Es kann aber nicht kennzeichnend für alles sein, was gilt. Schließlich gelten auch die eben beschriebenen nicht-reflexiven Gewissheiten. Beide Gewissheiten gelten nicht nur vorläufig. Sie gelten auch ohne weitere Begründung. Sie stehen modellhaft für das, was wir ›unabgeleitete Geltungen‹ nennen. Daran, dass diese beiden Gewissheiten ohne Gründe gelten, erkennen wir ihren Grenzcharakter. Sie bilden den Rahmen, innerhalb dessen wir Gründe für den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, erkennen können. Für diesen Rahmen kann es keine Gründe geben. Die beiden nicht-reflexiven Gewissheiten stellen keinen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Sie bilden den äußeren Rahmen für die Was gilt? | 49

mögliche Einsicht in diesen Zusammenhang und geben ihr Halt. Gäbe es diesen Rahmen nicht, würde das, wovon wir wollen, dass es gelten sollte, beliebig und haltlos. ›Nicht-reflexiv‹ nennen wir die Gewissheiten des Todes und der eigenen Existenz, weil sie unabhängig von allem sind, was wir Menschen über uns selbst, über die anderen und über die Welt denken und wissen oder nicht wissen. Deswegen können wir sie auch nicht verändern, in Frage stellen oder begründen. ›Nicht-reflexiv‹ ist alles, was ähnlich unabhängig von uns ist, also alles, was ist und wovon wir wissen, dass es ist. Wir können nur nicht all das, was sonst noch dazu gehört, wissen. Wir wissen aber, dass die Gewissheit, dass wir denkend existieren, dazu gehört. Sie ist das Modell unseres Wissens von allem, was ist. Wir haben dieses Wissen, weil wir die Gewissheit der eigenen Existenz denkend erfassen und erkennen können, dass es sie gibt. Wir erfassen die Existenz von allem ähnlich wie die eigene. Wir sind selbst Teil dessen, was ist. Da das Selbstwissen die eigene Existenz nicht-reflexiv voraussetzt, ist es nicht widersprüchlich, dass wir uns selbst reflexiv als nichtreflexiven Teil der Wirklichkeit, all dessen, was ist, erkennen. Das reflexive Verhältnis zu uns selbst als Teil des Nicht-Reflexiven zeigt, wie wir alles, was ist, erfassen können. Wir wollen untersuchen, wie das, was gilt, den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Wir nehmen an, dass es für das, was gilt, Gründe gibt und dass nur das, was gut für uns und die Natur ist, gelten sollte. Wir mussten eingestehen, dass wir nicht wissen, was das Gute ist. Platon kann uns, wie erwähnt, mehr über das Gute sagen. Das Gute, wie er es versteht, ist das, was mehr als alles andere wirklich existiert. Er nennt es das »größte Wissen«36 , kann es aber zunächst nur in Gleichnissen beschreiben und nicht definieren, was es ist. 37 Er weiß aber, dass es ist, auch wenn er nicht sagen kann, was es ist. Er weiß jedoch, was es nicht ist. Es ist nämlich nicht das, was wir vom Guten zu wissen meinen. Meinungen ohne Wissen seien vom Übel, sagt Platon. Wenn wir nur Meinungen über das Gute und kein Wissen davon hätten, müssten wir auch nicht mehr darüber nachdenken. Dann würden wir uns, Platons Gedankengang folgend, mit dem Sichtbaren zufriedengeben und auf das Denkbare als Zugang zum Wissen verzichten. Dies wäre falsch, weil wir auch das, was wir nicht 50 | Was gilt?  

wissen, aber denken können, benötigen, um das, was wir wissen, beurteilen zu können. Dies klingt zunächst widersinnig, sollte aber gleich klarer werden. Wir benötigen das, was wir denken, aber nicht wissen können, im grammatischen Sinn konjunktivisch nach dem Muster ›was wäre, wenn‹. Wir denken dann im Konjunktiv, aber dennoch vernünftig. Was wäre, wenn wir wüssten, was das Gute ist? Wenn wir das wüssten, wüssten wir nicht nur, was es wirklich gibt, wir könnten auch sagen, welche unserer Meinungen darüber richtig und welche falsch sind. Solche Überlegungen sind kontrafaktisch, weil sie sich nicht auf tatsächliches, sondern auf mögliches Wissen beziehen. An einem Beispiel wird klarer, was ›kontrafaktische Überlegungen‹ sind. Wenn ich wüsste, welche Zahlen im nächsten Lottospiel gezogen werden, könnte ich gewinnen. Ich kann mir überlegen, ob ich am Lottospiel teilnehme, obwohl die Chance zu gewinnen sehr gering ist, wenn ich die Gewinnzahlen nicht kenne. Aber selbst dann, wenn ich die Zahlen wüsste, wäre unklar, wie hoch mein Gewinn ist, weil ja viele dieselben Zahlen getippt haben könnten und der Gewinn für mich dann nicht groß wäre. Wenn ich dennoch am Spiel teilnehme, dann deswegen, weil ich mir vorstellen und denken kann, was wäre, wenn ich doch gewinnen würde. Ich habe die reelle Wahl, weil ich einerseits weiß, dass es nur eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit gibt zu gewinnen. Andererseits ist ein Gewinn nicht unmöglich, und ich kann mir denken, was es bedeuten würde, wenn ich gewinnen würde. Was haben solche kontrafaktischen Überlegungen mit dem Guten zu tun? Wenn wir wüssten, was das Gute etwa in Gestalt eines guten Lebens ist, könnten wir uns nicht nur denken, wie unser Bedürfnis nach dauerhaft Gutem in unserem Leben befriedigt werden könnte. Wir wüssten auch, was sein sollte, und dementsprechend, was in unserer Gesellschaft gelten sollte. Wie in einer Lotterie haben wir die Wahl, kontrafaktisch über das Gute nachzudenken. In einer Lotterie gewinnt immer irgendjemand, vielleicht eine Person, vielleicht mehrere. Beim kontrafaktischen Nachdenken über das Gute ist es in zwei Hinsichten anders. Anders ist es, zum einen, weil wir im Lotto nach jedem Spiel die Zahlen kennen, die gewinnen. Ein ähnlich Was gilt? | 51

konkretes Wissen haben wir beim kontrafaktischen Nachdenken über das Gute nicht. Wir können uns allerdings denken, wie ein gutes Leben aussehen könnte. Unser Denken bleibt im Konjunktiv, ist aber dennoch realistisch. Nicht nur die Möglichkeit des Guten, sondern auch die Wirklichkeit des Guten ist – kontrafaktisch – denkbar, etwa in Gestalt des guten Lebens in einer liberalen Gesellschaft, in der die Freiheitsrechte garantiert sind. Weil dies denkbar ist, können wir auch wissen, was gelten sollte, damit das gute Leben möglich ist. Es ist, zum zweiten, anders als in einer Lotterie, weil wir beim Nachdenken über das Gute alle gewinnen können. Es ist gut für uns alle, bei dem, was wir tun und worüber wie nachdenken anzunehmen, dass es das Gute in Gestalt eines guten Lebens oder in anderen Gestalten gibt, jedenfalls ist es besser als anzunehmen, dass es das Gute nicht gibt. Würden wir von vornherein die Irrealität des Guten annehmen, wäre unser ontologisches Bedürfnis nach dauerhaft Gutem töricht und wir würden notwendig enttäuscht, wenn wir es ernst nähmen. Es wäre dann gut, zumindest besser, sich keine Gedanken über das Gute zu machen, sei es in Gestalt des guten Lebens oder in anderer Gestalt. Es kann aber nicht gut oder besser sein, sich keine Gedanken über das Gute zu machen, wenn wir das ontologische Bedürfnis nach dauerhaft Gutem haben. Wir könnten dieses Bedürfnis natürlich leugnen und als Irrtum, als Hirngespinst oder gar als krankhaft abtun. Wenn wir aber eine nicht-reflexive Gegebenheit wie jenes Bedürfnis reflexiv leugnen, können wir alles, einschließlich des Urknalls, leugnen. Die Wissenschaftsgeschichte der Kosmologie kennt dafür seit Ptolemäus Beispiele. Wir müssen sie aber nicht bemühen. Es genügt den Widerspruch zu erkennen, den wir zuließen und nicht auflösen könnten. Es ist ein Widerspruch, das Nachdenken über das Gute und das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem gleichzeitig für gut und für nicht gut zu halten. Nun haben wir aber das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem, also ist es ein Widerspruch, wenn wir gleichzeitig annehmen, dass es nicht gut ist, darüber nachzudenken. Ähnlich wie bei einer Lotterie haben wir beim Nachdenken über das Gute eine Wahl. Wir können den eben beschriebenen Widerspruch erkennen, ihn auflösen und mitspielen, indem wir über das 52 | Was gilt?  

Gute nachdenken und das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem ernst nehmen. Wir können den Widerspruch auch nicht erkennen und nicht mitspielen, weil wir von vornherein glauben, dass es gut ist, nicht über das Gute nachzudenken und das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem für ein Hirngespinst zu halten. Wir könnten verlangen, dass der Widerspruch erst einmal nachgewiesen wird, bevor wir uns entscheiden mitzuspielen und über das Gute nachzudenken. Wir könnten die Möglichkeit eines Widerspruchs in dieser Sache von vornherein ablehnen, weil wir jenes Nachdenken für irrtümlich, verworren oder krankhaft halten. Was den Widerspruch angeht, können wir nicht mehr tun, als ihn beschreiben. Seine Widersprüchlichkeit können wir nicht beweisen, weil ein Widerspruch und das ihm zugrunde liegende Prinzip nicht begründet, sondern nur anerkannt werden kann.38 Es kann auch nicht nachgewiesen werden, dass jenes Nachdenken irrtümlich, verworren und krankhaft wäre. Nehmen wir aber an, es wäre doch so, dann wäre es ja gut, nicht darüber nachzudenken, und der Widerspruch bliebe erhalten. Nicht mitzuspielen, also nicht über das Gute nachzudenken, ist daher im Unterschied zur Teilnahme an einer Lotterie keine vernünftige, jedenfalls keine widerspruchsfreie Option. Wir dürfen annehmen, dass unser Bedürfnis nach dauerhaft Gutem und unser Nachdenken über das Gute weder irrtümlich noch krankhaft sind. Den möglichen Widerspruch erkennen wir anhand der kontrafaktischen Überlegung, was wäre, wenn es das Gute geben oder nicht geben würde. Dass wir nicht wissen, was das Gute ist, ist kein Argument dafür, dass es das Gute nicht gibt. Es wäre aus diesem Grund auch nicht gut, nicht darüber nachzudenken. Wir würden uns damit selbst widersprechen. Wir wissen nicht, was das Gute ist, können aber nicht daran zweifeln, dass es das Gute in Gestalt eines guten Lebens und in vielen anderen Gestalten gibt, gegeben hat und in Zukunft geben kann. Wir können uns daran erinnern und darauf hoffen, es wieder zu erlangen, wenn wir glauben, es verloren zu haben. Wir sind damit keinen Schritt weiter als Platon. Wir wissen, dass es das Gute gibt, aber nicht, was es genau ist. 39 Damit wissen wir aber auch, dass es das Gute geben kann und was  – dies vorausgesetzt – in unserer Gesellschaft gelten sollte. Wir können Was gilt? | 53

den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, kontrafaktisch herstellen. Dies ist für das Nachdenken über das, was gelten sollte, unverzichtbar. Natürlich wissen wir über das Gute weniger Genaues als über die Lottozahlen nach der Ziehung. Kontrafaktische Überlegungen zeigen, dass wir etwas ›gut‹ nennen können, was sich auch als schlecht erweisen könnte. Es ist dann nicht wirklich, sondern der Möglichkeit nach gut. Etwas ›der Möglichkeit nach gut‹ zu nennen, hat aber nur Sinn, wenn es auch wirklich gut sein könnte. Zu wissen, dass dies möglich ist, bedeutet nicht, dass wir wissen, was das Gute tatsächlich ist. Wir können aber kontrafaktisch wissen, was es bedeuten würde zu wissen, was das Gute in Gestalt des guten Lebens tatsächlich ist. Dann wüssten wir auch, was sein sollte und was gelten sollte. Wir denken und urteilen zuverlässig, wenn wir kontrafaktisch urteilen. Für die Geltung unserer Urteile sind kontrafaktische Überlegungen unverzichtbar. Kehren wir zu dem zurück, was wir wissen. Wir wissen, dass etwas als gut gelten, was sich als schlecht erweisen kann; sonst könnten wir uns weder selbst betrügen und irren noch von anderen betrogen werden und auf Irrtümer hereinfallen. Vieles von dem, was heute unsere Umwelt zerstört, galt einmal als gut. Dass ein Urteil über etwas gilt, garantiert also nicht dessen haltbar gute Qualität. Sie garantiert weder dessen Güte noch dessen Haltbarkeit, weil wir auch an dieser Stelle nicht klar zwischen ›vorläufig‹ und ›endgültig‹ unterscheiden können. Und das bedeutet, dass wir im zeitlichen Sinn auch nicht klar zwischen ›kontingent‹ und ›absolut‹ unterscheiden können. Das, was gilt, und das, was wir als geltend annehmen, kann auf Sand gebaut sein. Diese Irritation wäre unerträglich, wenn nichts gelten würde. Dies stellt den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, scheinbar auf den Kopf, so als käme es zuallererst auf das an, was gilt, und dann erst auf das, was ist und sein soll. Die Grundmauern – was ist und was sein soll – würden, in einem Bild Wittgensteins, vom ganzen Haus getragen.40 Was notwendig, also immer gut ist, wissen wir streng genommen ebenso wenig wie Platon. Spekulativ müsste es etwas sein wie Gott, also etwas, wovon wir zeitunabhängig nicht einmal denken können, dass es schlecht sein könnte. Was könnte das – au54 | Was gilt?  

ßer Gott41 – sein, fragen wir uns ratlos. Es fällt uns kein anderes Beispiel ein, denn selbst bei der Liebe ist es ungewiss, ob sie immer und in jeder ihrer Erscheinungsweisen gut ist. Welche Mutter würde nicht ihren Sohn lieben und schützen wollen, wohl wissend, dass er Übles getan, vielleicht sogar gemordet hat? Ist diese Mutterliebe blind und schlecht, weil sie alles verzeiht? Es ist schwer zu bestreiten, dass es Liebe ist, obwohl der Sohn Schlimmes getan hat. Ähnlich nicht-enttäuschbar stellen wir uns die Liebe Gottes zu den Menschen vor. Wenn wir  – ohne Spekulation  – etwas als nicht-reflexiv festgelegt und unbezweifelbar annehmen wie das Gesetz des Widerspruchs, gilt dies genau deswegen notwendig für uns. Dieses Gesetz verdankt seine Geltung keiner Begründung. Es gilt in dem oben beschriebenen Rahmen der Gewissheiten, in dem wir es auffinden und anerkennen können. Dieser Rahmen ist von den beiden Gewissheiten unseres Denkens begrenzt. Das Gesetz gilt also genau genommen ebenfalls nur in diesen Grenzen, und es gilt nicht-refle­ xiv, unabgeleitet, weil wir es auffinden und nicht selbst reflexiv festlegen und begründen. Das eigene Denken ist für das Erfassen des Gesetzes des Widerspruchs aber unverzichtbar. Wir tragen durch unser eigenes Denken zu den Bedingungen der Geltung des Gesetzes bei. Dies müssen wir auch, weil wir zwar wissen, dass das Gesetz gilt, aber nicht, was genau es besagt. Mit den Bedingungen, die wir selbst beitragen, legen wir fest, was das Gesetz bedeutet. Eine dieser Bedingungen ist, dass es nur zwei Wahrheitswerte, nämlich ›wahr‹ und ›falsch‹, gibt. Nur dann gilt die Behauptung, dass ein Satz nicht gleichzeitig wahr und falsch sein kann. Wenn wir aber, wie Aristoteles 42 , diese Bedingungen ontologisch verstehen, dann bedeutet der Widerspruch, dass etwas nicht im gleichen Sinn sein und nicht sein kann. Wir können für die Geltung des Widerspruchsprinzips aussagenlogische oder ontologische Bedingungen annehmen. Das Ziel ist dasselbe, das Falsche und das Übel des Irrtums durch Widersprüche zu vermeiden. Wir haben innerhalb der Grenzen unserer Gewissheiten einen Spielraum für Bedingungen, die wir selbst für die Geltung eines Gesetzes festlegen. Wie wir Menschen die Unzuverlässigkeit und die mangelnde Haltbarkeit unseres Wissens durch die Vermeidung von SchlechWas gilt? | 55

tem und die Bewahrung vor Schaden ausgleichen können, ist oft unklar und strittig. Dies liegt zum einen daran, dass wir uns in lebenswichtigen Fragen ganz und gar nicht einig sind und darüber streiten, was gut, schlecht und nicht schlecht, falsch oder nicht falsch ist. Es liegt zum andern daran, dass der Mangel an haltbarem Wissen selbst umstritten ist, schließlich fliegen Flugzeuge, Raketen, Satelliten und eine Raumstation im All, es werden menschliches und tierisches Leben ermöglicht und gerettet, und wir können alles Mögliche hier und im Kosmos berechnen, gänzlich unabhängig davon, dass wir nicht wissen, ob all das gut für uns und die Welt, in der wir leben, ist. Deswegen glauben viele, dass es jenen Mangel – in der Welt von Wissenschaft, Technik und Mathematik – gar nicht gibt, zumindest nicht für alle geben muss und in einer fernen Zukunft vielleicht auch für niemanden mehr geben wird. Einigen können wir uns leicht, wenn wir den Mangel an halt­ barem Wissen nicht allzu ernst nehmen, wenn es etwa darum geht, die Geltung der Verfallsdaten für Lebensmittel oder Kosmetika festzulegen. Die Entscheidung, wie lange Lebensmittel und Kosmetika gut sind, überlassen wir großzügig und vertrauensvoll anderen, ohne sicher zu sein, dass sie mehr wissen als wir selbst. Den Mangel an eigenem Wissen ignorieren wir, wenn es uns nicht vordringlich erscheint, etwas für schlecht zu halten und einen möglichen Schaden zu vermeiden. Diese Haltung kann fahrlässig und nicht nur uninformiert, sondern töricht sein. Es geht aber nicht immer darum, dass wir nicht wissen, was gut für uns ist. Oft wissen wir auch nicht, was wahr und richtig ist. Dann fällt uns auf, dass wir nicht wissen, welche Kriterien für die Wahrheit einer Behauptung erfüllt sein müssen. Dieser Mangel und das Schlechte daran oder der mögliche Schaden, der entstehen kann, werden uns spätestens dann interessieren, wenn wir selbst von der Wahrheitsfrage betroffen sind, weil uns niemand glaubt oder weil eine unwahre Behauptung für uns nachteilig und schlecht sein kann. Wenn wir schon nicht genau wissen, was eine Behauptung wahr macht, wüssten wir doch gerne, wie ihre Unwahrheit nachgewiesen werden kann. Nicht nur vor Gericht, sondern auch zu Hause kann dieses Wissen wichtig sein und Schlechtes, Sorgen und Ärger verhindern. 56 | Was gilt?  

Wer wollte bestreiten, dass es besser ist zu wissen, ob etwas nicht schlecht, nicht falsch ist und nicht schadet, wenn wir schon nicht wissen, ob es gut oder wahr und richtig ist. Oft kann dann, wenn das Wissen ungewiss ist und die Ungewissheit Schaden anrichten würde, das geltende Recht helfen. Es hilft immer dann, wenn es möglich ist zu sagen, was nicht schlecht und nicht falsch ist. Wenn es sich herausstellt, dass das geltende Recht selbst schlecht ist oder nicht ausreicht, um Schlechtes und Schaden zu verhindern, kann es durch Besseres ersetzt, angepasst und reformiert werden. Das Recht gilt immer vorläufig. Es gilt vor Gericht aber meist auch endgültig und hilft zu verstehen, was es bedeutet, dass etwas gilt. Wir können auch in diesem Fall nicht klar zwischen ›vorläufig‹ und ›endgültig‹ unterscheiden. Denn das vorläufig geltende Recht kann endgültig darüber entscheiden, ob einer Klage stattgegeben wird oder nicht, ob jemand schuldig ist und verurteilt wird oder nicht. Das geltende Recht und die Verfassung bilden eine Ordnung und ermöglichen, dass der Rahmen unseres gemeinsamen Lebens eine gewisse Zeit verlässlich ist. Die Rechtsordnung in einer Gesellschaft ist gut, wenn sie überprüfbar ist und den Maßstäben der Menschlichkeit entspricht, die in einer demokratischen, liberalen Verfassung enthalten sind. Nicht jede rechtliche Ordnung ist gut, wie uns die eigene Geschichte lehrt. Deswegen ist eine geltende Ordnung kein Garant dafür, dass unser Bedürfnis nach verlässlich Gutem von ihr auch dauerhaft gestillt werden könnte. Es gibt gute und schlechte, menschliche und unmenschliche Ordnungen. Ihre Stabilität und Dauer sind keine hinreichenden Maßstäbe für ihre Güte. Manche glauben, in der Natur Vorbilder für zuverlässige, sich selbst erhaltende, spontane Ordnungen erkennen zu können. Ob diese Ordnungen wirklich stabil sind und sich selbst erhalten können, ist aber ungewiss und eher zu bezweifeln. Zumindest tragen wir selbst dazu bei, jene Ordnungen zu stören, vielleicht sogar unwiederbringlich zu zerstören. Das geltende Recht ist – unabhängig von der Ordnungs-Frage – eine unverzichtbare Hilfe, wenn es darum geht, dass unser Wissensmangel nicht schlecht und nicht falsch für unser Leben ist. Auch in einer so schwierigen Frage wie der, ob es gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, das Leben von Menschen zu erhalten oder nicht, gleicht das geltende Recht den Mangel an Wissen aus, indem Was gilt? | 57

es erlaubt, dass auf lebensverlängernde Maßnahmen verzichtet werden darf, wenn das Leben eines Menschen nicht gerettet oder geschützt werden kann. Es gilt zumindest als nicht schlecht, in diesem Fall auf den Lebensschutz zu verzichten. Wenn wir aber in Fällen wie dem Apallischen Syndrom und dem Wachkoma nicht wissen, ob ein Patient noch ein Bewusstsein hat, kann es schlecht sein, auf den Lebensschutz zu verzichten. Das geltende Recht trägt in besonderer Weise dazu bei, dass unser Bedürfnis nach dauerhaft Gutem nicht immer enttäuscht wird, wenn wir nicht wissen, was wirklich gut, richtig oder wahr ist. Häufig dienen Vereinbarungen und Festlegungen wie etwa Maße und Gewichte dazu, den Mangel an Wissen über die Verhältnisse der Mengen und Größen der Dinge des Lebens gar nicht erst wirksam werden zu lassen. Niemand würde annehmen, dass es sie nicht wirklich gibt. Und jedermann glaubt, dass diese Festlegungen gut sind und gelten sollten. Dass sie gelten, stellt den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her, ohne dass es uns auffällt. Es wäre schlecht für unser tägliches Leben, wenn es sie nicht geben würde und sie nicht gelten würden. Vieles legen wir fest, weil uns an der Geltung dieser Festlegungen allein schon deswegen gelegen ist, weil ohne sie alles Mögliche auf verwirrende Weise ständig anders sein könnte. Wir wollen, dass diese Festlegungen genauso bleibend existieren wie alles andere, was es gibt. Dazu gehört so Wichtiges wie Versprechen, Spielregeln, Skalen, die Uhrzeit, Wechselkurse und viele Konventionen und so Unwich­ tiges, für viele aber Vergnügliches oder Enttäuschendes wie Wetten. Wir wüssten ohne solche Festlegungen nicht, was wann gelten würde. Ihre Geltung schützt uns vor vielen Ungewissheiten, die das tägliche Leben erschweren würden. Die Geltung hält den Zweifel und die Ungewissheit in Schach. Unwahrheit, Irrtum und Betrug werden dadurch aber nicht ausgeschlossen oder verhindert. Es kann sogar etwas gelten, was einen Betrug erst möglich macht. Dass der Zweifel in Schach gehalten wird, kann auch für den Betrug ausgenutzt werden.

58 | Was gilt?  

1.5 Ob es ideale Maßstäbe der Geltung gibt

Es ging um die Frage, wie wir, ohne zu wissen, was gut ist, wissen können, was gut für alle ist. Wir haben gesehen, dass wir zwar nicht wissen, was das Gute ist, aber kontrafaktisch verstehen können, dass es das Gute gibt und dass es in Gestalt eines guten Lebens denkbar und erfahrbar ist. Bliebe es bei diesem Raum von Denkbarem und Möglichem, könnten wir von dem, was gilt, nur Negatives, nämlich nur die Vermeidung von Schlechtem und Falschem erwarten. Das wäre unbefriedigend, weil uns dies zwar hilft, Ungewissheiten in Schach zu halten. Die reflexive Gewissheit macht uns selbstbewusst im Umgang mit Begriffen. Deswegen glauben wir, den Raum des Denkbaren mit positivem Wissen restlos ausfüllen zu können. Wir können aber weder bestätigen noch widerlegen, dass dieser Glaube begründet ist. Wir haben behauptet, dass die beiden Gewissheiten  – die des Todes und der eigenen Existenz – den Rahmen bilden, innerhalb dessen wir überhaupt etwas wissen können, und dass es für diesen Rahmen keine Gründe gibt. Wir haben auch behauptet, dass es für das, was gilt, Gründe geben muss. Sie stellen den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Es ist selbstverständlich, dass diese Gründe gut und wahr sein sollten, weil es sonst keine zuverlässigen Gründe wären. Deswegen wollen wir wissen, ob es nicht doch eine zuverlässige begriffliche Grundlage für das, was gut und wahr ist, gibt. Mit diesem Wissen könnten wir das, was gilt, solide begründen und rechtfertigen. Dies würde der Auffassung vieler entsprechen, dass es bei der Geltung um einen Rechtfertigungszusammenhang geht, der direkt oder indirekt einen Bezug zur Wahrheit hat.43 Wenn wir zuverlässige Grundlagen der Rechtfertigung hätten, müssten wir uns nicht mit der Vermeidung von Schlechtem und Falschem zufriedengeben. Es wäre auch kein Wille nötig, damit etwas gilt. Die zwingende Kraft rechtfertigender Begriffe würde dafür ausreichen. Das Haus dessen, was gilt, würde, um das Bild Wittgensteins wieder aufzunehmen, von seinen Grundmauern getragen und nicht die Grundmauern vom ganzen Haus. Ein zusätzliches Motiv für diesen Versuch ist die Unsicherheit, ob Schlechtes zu vermeiden wirklich immer gut ist. Eine schlechte Arbeit kann besser sein als keine. Natürlich kommt es darauf an, Was gilt? | 59

was es für eine Arbeit ist, denn nicht jede schlechte Arbeit ist menschenwürdig. Auf der sicheren Seite wären wir, wenn nur das, was wirklich gut ist, und das, wovon wir genau wissen, dass es wahr ist, auch gelten würde. Dann wüssten wir immer, was als ›gut‹ und was als ›wahr‹ gelten kann. Unter diesen wünschenswert erscheinenden idealen Bedingungen wäre es überflüssig, davon zu sprechen, dass etwas ›als gut‹ oder ›als wahr‹ gilt. Es würde genügen zu sagen, dass wir wissen, dass es wirklich gut und wahr ist. Wir würden damit gleichzeitig sagen, dass es gilt, und müssten nicht erst nach Gründen suchen, ob und warum es gilt. Das Gute und die Wahrheit wären die eigentlichen, letzten und zuverlässigen Gründe der Geltung. Es gäbe keine zwiespältigen Auffassungen über das, was gut ist. Wir würden über ideale Maßstäbe der Geltung verfügen. Hinter der Intuition, dass das, was gut und wahr ist und genau deswegen auch gilt, weil es so ist, steht die naheliegende Vermutung, dass das Gute und die Wahrheit tatsächlich die idealen Maßstäbe der Geltung von Urteilen sind. Das würde bedeuten, dass diese Maßstäbe unabgeleitet gelten würden und ihrerseits keiner Geltung und Begründung bedürften. Sie könnten unabgeleitet die Urteile über das, was gilt, begründen. Das Gute und die Wahrheit wären die Grundlagen der Urteile und hätten damit Vorrang vor deren Geltung. Nehmen wir Urteile der Art ›X ist gut‹ und ›Y ist wahr‹. Dann würde das Gute begründen, warum ›X‹ als gut, und die Wahrheit würde begründen, warum ›Y‹ als wahr gelten kann. Dazu müssten wir aber wissen, was das Gute von ›X‹ und was die Wahrheit von ›Y‹ ist, sonst könnten wir das Gute und die Wahrheit nicht als Maßstäbe für die Begründung von Urteilen heranziehen. Dies scheint plausibel zu sein, ist es aber nicht. Wenn wir das Handeln einer Person als gut und das, was sie sagt, als wahr beurteilen, ist die Geltung der Urteile von Kriterien abhängig. Es geht deswegen zunächst um die Frage, welche Kriterien wir benötigen und ob diese Kriterien gelten. Eine Handlung beurteilen wir vielleicht als gut, weil sie ein Gebot erfüllt oder jemandem nützt. Dann wären das Gebot oder der Nutzen die Kriterien der Beurteilung. Ob jenes Gebot wirklich gilt oder der Nutzen wirklich ein Kriterium sein kann, wären dann die nächsten Fragen. Wenn wir eine Aussage als wahr beurteilen, nehmen wir dafür vielleicht die Bestätigung durch Zeugen oder die eigene Wahr60 | Was gilt?  

nehmung oder eine Theorie in Anspruch. Dann wäre die nächste Frage, ob dies geeignete Kriterien für die Wahrheit der Aussage sind. Wir kommen in beiden Fällen nicht umhin, die Geltung von Kriterien zu prüfen. Diese Prüfung wird kaum unstrittig sein, weil die Wahl von Kriterien ihrerseits Gründe voraussetzt. Der Streit darüber, welche Kriterien gelten, kann kein Ende haben. Ob uns etwas zwingt, bestimmte Kriterien als unbezweifelbar letzte anzunehmen, können wir im Zusammenhang mit Freges Geltungs­t heo­ rie besser beantworten als hier. Wir werden dann auch prüfen, was die Geltung mit der Wahrheit zu tun hat, nicht zuletzt deswegen, weil viele – gerade im Anschluss an Frege  – diesen Zusammenhang für grundlegend halten. Es ist aber schon jetzt klar, dass die eben erwähnte Intuition, dass das Gute und die Wahrheit ideale Maßstäbe der Geltung sind, unergiebig ist. Für die Geltung des Rechts können wir weder das eine noch das andere als Ideal voraussetzen. Kein Gesetz können wir auf sinnvolle Weise als ›wahr‹ bezeichnen. Es kann nur wahr sein, dass es gilt.44 Die Geltung des Gesetzes macht diese Wahrheit erst möglich. Gut kann ein Gesetz nur für bestimmte Zwecke sein. Was ›gut‹ über diesen Zweckzusammenhang hinaus für ein Gesetz bedeuten könnte, wissen wir nicht genau. Gesetze halten wir für gut zur Förderung und Sicherung eines gerechten, freiheitlichen und friedlichen Lebens in einer Gesellschaft, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse und des allgemeinen Wohls. Auch das sind Zweckzusammenhänge, die das Urteil, dass die Gesetze gut sind, erst ermöglichen. Die Geltung hat – bei Gesetzen – Vorrang vor dem Guten der jeweiligen Zwecke. Dies sind zusätzliche Gründe dafür, der Intuition, dass die Wahrheit und das Gute die idealen Maßstäbe der Geltung sind, nicht zu folgen. Die intuitive Vermutung, dass die Wahrheit und das Gute die Maßstäbe der Geltung sind, ist in gewisser Weise irreführend. Wer dies noch nicht glauben mag, möge versuchsweise das Gegenteil annehmen, dass also die intuitive Vermutung doch richtig ist. Dann müsste er oder sie auch annehmen, dass all das, was wahr ist, nur gilt, weil es wahr ist, und dass alle Tatsachen genau deswegen als solche gelten, weil sie Tatsachen sind. Ebenso würden er oder sie intuitiv annehmen müssen, dass das Gute gilt, weil es gut ist. Was wäre damit erreicht? Was gilt? | 61

Auf das Wörtchen ›weil‹ folgt gewöhnlich ein Grund für das, was unmittelbar vorher gesagt wurde, aber nicht in den eben erwähnten Sätzen. Wir können das Wörtchen auch weglassen und erkennen dann, dass alle jene Annahmen bloße Tautologien sind. Tautologien erklären nichts. Sie sagen etwas Wahres, aber was sie sagen, entzieht sich einer Prüfung. Dass Tautologien immer unwiderlegbar wahr sind, hilft uns nicht weiter. Es wäre enttäuschend, wenn wir über das, was gilt, nicht mehr sagen könnten als Tautologisches, einschließlich der Tautologie, dass etwas gilt, weil es gilt. Wir werden später sehen, dass diese Tautologie durchaus das letzte Wort haben kann, nämlich genau dann, wenn es wirklich keine erklärenden Gründe mehr gibt oder geben kann für das, was gilt. Dann ist es eben so. Es bleibt dabei, wir wissen nicht, was wahr und was gut ist, und richten stattdessen das Wissens-Bedürfnis auf die reflexive Klärung dessen, was gilt. Wir können Wittgensteins Einsicht auf seiner Suche nach Gewissheit folgen, dass die Grundmauern der Geltung, das, was ist, und das, was sein soll, vom ganzen Haus der Geltung getragen werden. 1.6 Ob Geltung teilbar ist

Vieles, was gilt, scheint auf den ersten Blick mehr und anderes weniger, vieles nur kurzfristig, anderes länger zu gelten. Wechselkurse gelten selten lang, dagegen sollten die Menschenrechte dauerhaft gelten. Die Geltung von Verkehrsregeln scheint weniger bedeutsam zu sein als die Geltung der Menschenrechte oder ein Artikel unserer Verfassung. Geltung wäre, wenn es so ist, teilbar, je nach dem, was wie gilt. Wenn Geltung teilbar wäre, würde tatsächlich etwas im Raum dessen, was überhaupt gelten kann, mehr, anderes weniger gelten. Dieser Gedanke enthält viel Unwägbares. Unwägbar ist, ob wir von einem solchen Raum überhaupt sprechen können. Das Wort ›Raum‹ unterstellt ein geschlossenes, begrenztes Ganzes. Dann wäre der Raum der Geltung sein solches Ganzes, und was jeweils gelten würde, wäre etwas Einzelnes. Das Einzelne hätte einen größeren oder kleineren, bedeutenderen oder weniger bedeutenden 62 | Was gilt?  

Anteil am Raum der Geltung insgesamt. Gegenüber dieser Annahme ist Vorsicht geboten, weil wir dem Wort ›Geltung‹ eine Eigenbedeutung geben würden, die das Wort nicht hat. Es gibt nichts, weder einen abstrakten noch einen konkreten Gegenstand, der mit ›Geltung‹ bezeichnet werden könnte. Der Grundgedanke dieser Untersuchung ist, dass das, was gilt, einen Zusammenhang herstellt zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Dieser Zusammenhang ist selbst kein einheitlicher Gegenstand, der zutreffend mit ›Geltung‹ bezeichnet werden könnte. Es gibt viele sehr unterschiedliche Zusammenhänge. Es existieren z. B. Staaten, Institutionen und Personen und die Staaten und Institutionen sollen die Freiheit, das Leben und vieles mehr der Personen gewährleisten und schützen, die in ihnen leben. Dies ist nur möglich, wenn Gesetze gelten, die einen Zusammenhang zwischen den im Staat existierenden Personen und dem, was der Staat für sie tun soll, herstellen. Es gibt Märkte, die Arbeit und Einkommen ermöglichen, und Menschen, die Arbeit suchen. Menschen sollen nicht ausgebeutet werden und für ihre Arbeit einen gerechten Lohn erhalten. Um dies zu gewährleisten gelten andere Gesetze. Diese Beispiele zeigen, wie das, was ist, mit dem, was sein soll, in einen Zusammenhang gebracht wird. Die Gesetze, die in diesen Beispielen gelten, haben einen gemeinsamen staatlichen Geltungsraum. In diesem Raum gelten auch Verkehrsregeln, eine Verfassung oder das Steuerrecht. Auch die Menschenrechte haben einen Raum, sie gelten global, also überall auf der Erde. Die Räume dieser Beispiele sind von unterschiedlicher staatlicher, geographischer oder wirtschaftlicher Art und nicht einheitlich, auch wenn sie teilweise gemeinsame Geltungsbereiche haben. Wir können also durchaus von unterschiedlich gearteten gemeinsamen Geltungsräumen sprechen. Es gibt aber nicht den Raum der Geltung. Deswegen kann es auch keine Relation zwischen den vielen Geltungsarten und -räumen und der einen Geltung geben. Die Frage der Teilbarkeit betrifft nicht die Geltung, sondern das, was jeweils gilt. Es kann nur darum gehen, ob etwas mehr oder anders gilt als etwas anderes. Ob es so ist, können wir mit zwei Vergleichen prüfen, deren erster noch einmal die eben beschriebene Unmöglichkeit bestätigt. Was gilt? | 63

Den ersten Vergleich stellen wir mit den ähnlich scheinenden Fragen an, ob die Wahrheit und ob das Gute teilbar sind. Im zweiten Vergleich geht es um das, was jeweils gilt. Es ist naheliegend, dass etwas unbedingt und etwas anderes in Abhängigkeit davon nur bedingt gilt.45 Letzteres liegt nahe, weil wir – analog zur Unterscheidung zwischen unbedingt und bedingt – zwischen abgeleiteten und unabgeleiteten Geltungen unterscheiden. Die unabgeleiteten haben keine Begründung, die abgeleiteten sind dagegen begründet. Ihre Begründung kann unterschiedlicher Art sein, greift aber am Ende der Begründungsschritte immer auf etwas zurück, was nicht begründet ist. Wir werden zu diesem Gedanken zurückkehren. Überlegen wir zunächst, ob die Wahrheit und das Gute teilbar sind, ob es ein Mehr-oder-weniger davon gibt. Wir zögern nicht zu sagen, es gibt Besseres und Schlechteres und meinen, es gibt mehr oder weniger Gutes. Wir können auch meinen, dass etwas, was schlecht war, besser geworden ist. Was eine Person getan hat, kann besser sein als das, was eine andere tat. Dieselbe Person kann auch etwas, was sie schlecht machte, irgendwann besser und gut machen. Wir unterscheiden den guten vom weniger guten und schlechten Menschen. Es gibt dabei Übergänge vom Werden und Entstehen zum Vergehen. Entsprechend gibt es ein Entstehen und Vergehen von Fähigkeiten, Handlungen und Dingen, die gut oder schlecht sind. Die Frage ist, ob es sich dabei um ein Werden, Entstehen und Vergehen des Guten handelt. Diese Frage kann mit der noch allgemeineren verbunden werden, ob das, was ist, entstehen und vergehen kann; sie betrifft das Sein von etwas. Die eben im Zusammenhang mit dem Wort ›Geltung‹ erwähnte Vorsicht, eine Bedeutung anzunehmen, wo es keine gibt, müssen wir nun auch gegenüber den Worten ›Sein‹ und ›das Gute‹ üben. Wir lassen uns aber zunächst auf die Rede vom ›Sein‹ und vom ›Guten‹ ein, weil sie eine Tradition hat. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es darauf ankommt, wie und wovon wir sagen, dass etwas ist, entsteht und vergeht. Wie wir sagen, dass etwas ist, ist Thema des nächsten Kapitels. Wovon wir sagen, dass es ist, ist Thema der Metaphysik. Aristoteles ist überzeugt, dass es ein Mehr und ein Weniger an Sein gibt und dass die Stufen der Wahrheit den Stufen des Seins ent64 | Was gilt?  

sprechen.46 Thomas von Aquin macht sich diese Gedanken zu eigen, wenn er in seinen fünf Wegen, das Dasein Gottes zu beweisen, Grade des Seienden und Guten unterscheidet und Gott das höchste Sein und das höchste Gute zuspricht.47 Es geht beiden Philosophen immer um das, wovon man sagen kann, dass es ist, dass es entsteht und vergeht. Das Sein selbst entsteht und vergeht aber nicht und hat auch keine Stufen. Es wird von dem, was ist, jeweils, wie Thomas meint, auf analoge 48 Weise gesagt. Es gibt nicht die eine Bedeutung des Seins, die dann auf alles das, was ist, einfach übertragen wird. So denkt auch Aristoteles, allerdings ohne den Analogie-Gedanken. Er ist – als Kritiker von Platons Ideen – strikt dagegen, dass etwas Allgemeines neben dem Einzelnen selbständig existiert.49 Er bestätigt die oben am Beispiel ›Geltung‹ begründete Vorsicht gegenüber der Unterstellung einer Eigenbedeutung von ›Sein‹ und ›Wahrheit‹. Es gibt für ihn so viele Weisen, vom Sein zu sprechen, wie es Wesenheiten gibt, also Bestimmungen, die nur einer Wesenheit, z. B. einem Lebewesen, allein zukommen. Ein Pferd ist eben kein Esel, entsprechend unterscheidet sich das Pferd-Sein vom Esel-Sein. Über deren jeweiliges Sein lässt sich, wie Aristoteles glaubt, nichts über deren Besonderheit hinausgehendes Allgemeines sagen.50 Da Aristoteles die Bedeutungen des Guten mit denen des Seienden verbindet 51, können wir davon ausgehen, dass er auch für sie kein gemeinsames Allgemeines annimmt. Die Teilbarkeit des Guten und des Seins, nach der wir fragen, setzt aus der Perspektive von Aristoteles kein gemeinsames Allgemeines, kein übergeordnetes Wesen voraus. Der Grund ist, dass nichts Allgemeines nach seinem Urteil eine Wesenheit ist und dass keine Wesenheit aus Wesenheiten besteht.52 Es ist eine Geteiltheit, eine Vielfalt der Bedeutungen, die jeweils bestimmten Wesenheiten auf unterschiedliche Weise zukommen. Das Mehr oder Weniger an Sein, von dem Aristoteles spricht, kommt den Prinzipien und nicht den einzelnen Wesen zu. Es gibt allgemeinere und weniger allgemeine Prinzipien. Das allgemeinste Prinzip in seiner Metaphysik ist der Satz des Widerspruchs. Aristoteles belehrt uns über die fehlende Allgemeinheit der Bedeutungen von ›Sein‹. Seiner Lehre von den ›Wesenheiten‹ müssen wir uns aber nicht anschließen, um von besseren und schlechteren Handlungen und von Personen, die besser oder schlechter sind, Was gilt? | 65

sprechen zu können. Wovon wir dabei ein Mehr oder Weniger an Gutem annehmen, ist kontingent. Es sind Bestimmungen, die sich ändern können; sie beschreiben keine unveränderlichen Wesenheiten. Deswegen benötigen wir für die Unterscheidung zwischen mehr oder weniger Gutem keine metaphysische Ordnung. Eine metaphysische Ordnung zeigt sich außerdem nicht in der Art und Weise, wie wir über die Existenz und das Werden und Vergehen von Dingen oder Handlungen sprechen und wie wir sie beschreiben. Die Beschreibung ist von der metaphysischen Ordnung unabhängig. Weil wir uns in dieser Untersuchung auf die Art und Weise, wie wir über die Existenz der Dinge sprechen, konzentrieren, müssen wir die Bedeutung und die Geltung dieser Ordnung nicht beurteilen. Kehren wir zurück zu der Frage, ob das Gute teilbar ist. Es kommt darauf an, wonach wir fragen. Wir können fragen, für wen oder was etwas Gutes jeweils besser ist. Es geht dabei um das, wovon wir sagen, es sei besser oder schlechter für jemanden oder für ein Ziel. Wenn wir sagen, die eine Handlung sei besser als die andere, sagen wir nicht, das Gute der einen Handlung sei besser als das Gute der anderen. Das wäre widersinnig. Schließlich ist das Gute der prädikative Bezugspunkt und nicht der Gegenstand des Urteils. Eine Handlung ist besser als eine andere relativ zum Guten, um das es dabei gehen kann, aber eine Handlung ist kein besseres Gutes als eine andere. Eine Person ist gut relativ zu dem, was sie getan hat und hätte tun können. Ähnlich beurteilen wir eine Handlung. Das Gute ist in allen diesen Urteilen eine Art singulare tantum, von dem es kein Mehr oder Weniger und kein Vieles gibt. Anders sprechen wir von dem verwandten Ausdruck, den ›Gü­ tern‹53 , von denen die einen mehr wert sind als die anderen, von denen viele teilbar sind wie das Geld, von denen einige auch unteilbar sind, wie transplantierbare Organe. Es gibt verzichtbare und unverzichtbare Güter, deren Qualität sich nach ihrem Anteil an einem guten Leben bemisst. Ihre Verzichtbarkeit oder Unverzichtbarkeit stellt sich erst heraus, wenn wir eines dieser Güter, wie die Gesundheit, verlieren und wir alles dafür geben würden, um sie wieder zu bekommen.54 Bei der Wahrheit verhält es sich ähnlich wie beim Guten. Es ist nicht sinnvoll zu sagen, dass eine Behauptung wahrer als eine 66 | Was gilt?  

andere ist. Wir können aber sagen, dass eine Behauptung besser bestätigt oder bekannter oder fruchtbarer, wichtiger und folgenreicher ist als eine andere. Damit wollen wir aber nicht sagen, dass diese Behauptung wahrer ist als eine weniger wichtige. Entweder sind beide wahr oder nicht. Bestätigung, Gewicht, Fruchtbarkeit und Wirksamkeit sind Qualitäten dessen, was behauptet wurde, nicht Qualitäten der Wahrheit. Die Wahrheit ist so wenig teilbar wie das Gute. Ähnlich verhält es sich mit der Geltung. Wir können zwar sagen, dass die Geltung der Naturgesetze Vorrang vor der Geltung einzelner wissenschaftlicher Erkenntnisse hat, weil diese Erkenntnisse von der Geltung der Naturgesetze abhängig sind und mit ihnen übereinstimmen müssen. Diese Abhängigkeit betrifft die Gehalte der Naturgesetze und der Erkenntnisse, deren Allgemeinheit und Reichweite, aber nicht deren Geltung. Entweder sie gelten oder sie gelten nicht. Wir können auch sagen, dass die Geltung der Verfassung einen höheren Rang hat als die Geltung des Strafrechts, weil das Strafrecht mit der Verfassung konform sein muss und nicht umgekehrt. Eine Strafe darf z. B. die Menschenwürde nicht verletzen. Auch in diesem Fall gibt es eine inhaltliche Asymmetrie, die einer Abhängigkeit der Inhalte des einen vom anderen entspricht. Es gelten aber beide oder sie gelten nicht. ›Geltung‹ hat weder eine Eigenbedeutung noch ist sie teilbar. Es gibt nichts, was – wenn es gilt – mehr gilt als etwas anderes. Es gibt aber Abhängigkeiten zwischen dem, was gilt, relativ zu dem, was ist, und dem, was sein soll. Diesen Abhängigkeiten entsprechend kann das, was gilt, eine größere Bedeutung, ein größeres Gewicht und eine größere Reichweite haben als etwas anderes. Um diese Unterschiede zu erkennen, müssen wir uns überlegen, was es gibt und was sein soll. Die Unterscheidungen zwischen bedingter und unbedingter oder zwischen abgeleiteter und unabgeleiteter Geltung markieren diese Unterschiede und machen sie verständlicher.55 Es gibt z. B. Verletzungen der Menschenrechte, und um diese Verletzungen zu ahnden, soll es Gesetze geben. Die Menschenrechte gelten unbedingt, unabgeleitet, die Gesetze, die Verletzungen dieser Rechte ahnden sollen, gelten bedingt, abgeleitet von der Geltung der Menschenrechte. Die rechtlichen Sanktionen gelten nicht weniger als die Menschenrechte, aber in Abhängigkeit von ihnen. Was gilt? | 67

Ein geringeres Gewicht und eine geringere Reichweite als die Menschenrechte haben z. B. das deutsche oder britische Verkehrsrecht. Es gibt öffentliche und private Verkehrsmittel und ihre Nutzung kann Menschen gefährden. Das Verkehrsrecht soll die Teilnahme am Straßenverkehr und die Nutzung der Verkehrsmittel regeln, ihren Missbrauch ahnden und Gefährdungen möglichst verhindern. Die entsprechenden Regelungen weichen im einen und anderen Fall voneinander ab und gelten territorial, also eingeschränkt auf die jeweiligen nationalen Verkehrssysteme. Der Schutz des Lebens ist der prinzipielle Anspruch, der beiden Regelungen zugrunde liegt. Wir haben mit Vorbehalt vom ›Raum‹ der Geltung und dessen Teilbarkeit gesprochen. Es gibt auch die Zeit und die Zeiträume, in denen etwas gilt. Vieles, was gilt, hat einen zeitlichen Index, anderes nicht. Wir neigen dazu, die Geltung der Menschenrechte ohne zeitliche Einschränkung zu verstehen, wohl wissend, dass sie erst nach und nach durch Gesetze in Geltung kamen und dies noch nicht überall. Es geht dabei um den Zusammenhang zwischen Genesis und Geltung, der uns später beschäftigen wird. Der zeitliche Index stammt von der Genesis dessen, was gilt. Wir werden sehen, dass Geltung selbst keinen zeitlichen Index hat und auch in zeitlicher Hinsicht nicht teilbar ist. Angelehnt an Gottlob Freges Verständnis von ›Gedanken‹, die keinen zeitlichen Veränderungen unterworfen sind, können wir von der ›Unzeitlichkeit‹ der Geltung sprechen.56 1.7 Ob das, was gilt, existiert

Da wir das Gute und die Wahrheit nicht als begriffliche Maßstäbe für das, was gilt, heranziehen können, wissen wir über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, nur, dass es das Gute und deswegen auch gute Gründe für den Zusammenhang gibt. Einen Maßstab gebrauchen wir für dieses Wissen aber, ohne dass wir ihn bisher geprüft haben. Es ist der Maßstab der Existenz. Wenn wir behaupten, dass es das Gute gibt, behaupten wir, das etwas existiert, nämlich das Gute. Auch wenn wir nicht genau wissen, was es ist, wissen wir doch, dass es existiert. Wir 68 | Was gilt?  

behaupten seine Existenz. Deswegen müssen wir klären, was wir da behaupten. Wir behaupten, dass die Existenz von etwas als Tat­ sache gelten kann. Schon in der wiederholt gestellten Frage, wie wir, ohne zu wissen, was gut ist, wissen können, was gut für alle ist, verwenden wir das Wörtchen ›ist‹. Das prädikativ gebrauchte Wörtchen ›ist‹ zeigt an, dass möglicherweise auch das existiert, was als ›gut‹ bezeichnet werden kann. Ähnliches können wir über das, was wahr ist, sagen. Über das, was es an Gutem und Wahrem wirklich gibt, können diese vermeintlich idealen Maßstäbe dann doch indirekt eine Bedeutung in unseren Urteilen haben. Wir werden sehen, dass dies zwar zutrifft, aber nicht erklärt, was wir jeweils unter der Geltung von etwas verstehen. Dies liegt nicht am Guten und Wahren, sondern an dem, wovon wir überhaupt sagen können, dass es existiert. Seit Kants Einwänden gegen den ontologischen Gottesbeweis gibt es den Vorbehalt, dass das Wörtchen ›ist‹ kein Prädikat von einem Ding sein kann.57 Es bezeichne lediglich die Position eines Dings, füge dem Ding aber, wie Kant meint, nichts hinzu, was nicht schon im Begriff des Dings enthalten sei. Versuchen wir, Kant zu folgen, aber dennoch die Bedeutung des Wörtchens ›ist‹ in den Begriff des Guten als begrifflich – vielleicht – unwichtigen, grammatisch aber unverzichtbaren Bestandteil zu integrieren. Kant hat nicht behauptet, dass das Wörtchen bedeutungslos ist. Für ihn hat es die grammatische Funktion der Kopula. Er hat sich im eben erwähnten Zusammenhang nicht dazu geäußert, ob er die Kopula als Teil des Prädikats versteht oder nicht. Da er ›Prädikat‹ wie ›Begriff‹ gebraucht, rechnet er die Kopula wohl nicht dazu. An anderer Stelle der Kritik der reinen Vernunft spricht er vom »Verhältniswörtchen ›ist‹«58 und verwendet das Wörtchen relational und damit prädikativ. Er ist offenbar überzeugt, dass es zum Sprachgebrauch gehört. Ein Prädikat, so wie wir es verstehen, ist ohne die Kopula aber ebenso unvollständig wie ein Begriff. Vom Begriff der Röte sprechen wir, wenn es für das Prädikat ›ist rot‹ Einsetzungen, also Tulpen, Lippen, Fahrräder etc. nach dem Muster ›es existiert etwas, und das ist rot‹ gibt.59 Deswegen steht der Integration der Kopula in das Prädikat bzw. in den Begriff aus unserer Sicht nichts im Wege. Dann fügt das Wörtchen im Prädikat ›ist gut‹ auch dem Guten nichts hinzu, was nicht schon darin enthalten ist, dass es Was gilt? | 69

nämlich existiert. Das Gute kann ebenso wenig wie Gott durch die Existenz-Behauptung prädikativ gemehrt werden. 60 Wir scheinen mit dieser Überlegung Kants Argument zu verbiegen, weil er die Existenz Gottes gerade nicht als Teil der ihm zustehenden Prädikate verstanden haben will. Wenn wir uns aber ansehen, was ›bloße Position‹ in Kants Argument bedeutet, sehen wir, dass wir sein Argument keineswegs verbiegen. Wenn die Existenz eines Dings dessen ›bloße Position‹ ist, dann gehört sie zu dem Ding, wenigstens in seiner aktuellen Gestalt.61 Dann ist die Position des Dings neben allem, was darüber gesagt werden kann, auch mit dem Prädikat ›das Ding ist‹ beschrieben. Wenn der Begriff eines Dings – wie Kant meint – alle mit ihm verbundenen Prädikate bereits enthält, dann kann dieses Prädikat nicht ausgeschlossen sein. Die Frage ist aber, was alles an Prädikaten zum Begriff eines Dings gehört und was nicht. Im Hintergrund der Frage, was zum Begriff eines Dings gehört, steht Kants modale Überzeugung, dass das Wirkliche nicht mehr enthält als das Mögliche, das Denkbare, und dass alles Denkbare bereits im Begriff eines Dings enthalten ist.62 Was immer wir uns an möglichen prädikativen Bestimmungen eines Begriffs denken können, enthält er schon, wie Kant meint. Warum dann nicht auch seine Existenz? Warum sollen wir sie nicht mit dem Begriff eines Dings auch denken und aussagen können? Wenn wir das Denkbare als das, was vorstellbar ist, verstehen, können wir die eben gestellte Frage ohne Zweifel bejahen. Es ist immerhin vorstellbar, dass das, was ›gut‹ bedeutet, auch existiert. Andererseits ist es nicht vorstellbar, dass etwas  – einschließlich mathematischer Beweise und Werken der Kunst – als ›gut‹ beurteilt wird, was nicht existiert. Allerdings gibt es vieles, was nicht vorstellbar, aber möglicherweise denkbar ist. Wir können uns etwa, wie Wittgenstein zeigt, nicht vorstellen, dass etwas gleichzeitig grün und rot ist. 63 Wäre es aber nicht wenigstens denkbar? Ist mit dem, was wir uns nicht vorstellen können, auch eine Grenze des Denkbaren erreicht? Es ist keineswegs sicher, dass die Grenze des Vorstellbaren auch die Grenze des Denkbaren ist. Wir können uns vielleicht mehr denken, als wir uns vorstellen können. Mathematiker und Künstler haben – so dürfen wir annehmen – eine Vorstellungskraft, die 70 | Was gilt?  

nicht jedermann zu Gebote steht. Wenn das so ist, können sie sich mehr vorstellen, als wir uns denken können. Wir werden uns aber darauf einigen können, dass wir ›rundes Viereck‹, ›krumme Gerade‹, ›trockenes Wasser‹ und dergleichen weder denken noch vorstellen, aber dennoch sagen können. Wir dürfen die Verbindung zwischen Denken und Vorstellen aber nicht unbestimmt lassen, wie sich gleich zeigt. Wir bewegen uns mit dem Gedanken, dass die Denkbarkeit des Guten seine Existenz einschließt, auf dünnem Eis. Wie dünn es ist, wird deutlich, wenn wir überlegen, ob es das Einhorn gibt. Ist es nicht denkbar, dass – analog zur Möglichkeit und Denkbarkeit des Guten – zur Möglichkeit des Einhorns außer dem einen Horn auf der Stirn und seiner Gestalt als schönes weißes Pferd, das sich nicht einfangen lässt, auch seine Existenz gehört? Wir würden uns gerne – wegen der drohenden Abwegigkeit – rasch darauf verständigen wollen, dass – in Kants Sprache – zum Begriff des Einhorns, also zu den eben genannten Prädikaten, die Existenz nicht gehört. Wir wollen einfach nicht glauben, dass die Existenz eines solchen Fabelwesens denkbar ist. Denkbar im Sinn von vorstellbar ist das Einhorn jedoch, wie die eben gebrauchten Prädikate zeigen. Wir wollen uns aber nicht einfach darauf einlassen, dass die Existenz des Einhorns, weil vorstellbar, auch denkbar ist. Das Einhorn ist wie jedes Fabelwesen mythischer Natur oder dichterisch frei beschrieben, das Gute in einer seiner vielen Gestalten aber nicht, so wollen wir nach den kontrafaktischen Überlegungen annehmen. Wir finden das, was wir als ›gut‹ beurteilen, und erfinden es nicht. Es ist nicht ausgedacht oder konstruiert, sondern real, es existiert als gutes Leben oder als gutes Verhältnis zu anderen Menschen oder als gute Lösung eines Problems. Die Frage ist aber, ob auch ein mathematischer Beweis und ein Kunstwerk als etwas Gutes existiert. Wir finden sie zwar, aber sind sie auch von Mathematikern und Künstlern gefunden oder nicht doch eher von ihnen erfunden? Gleich kommen wir darauf zurück. So einfach, wie es scheint, ist die Sache offenbar nicht. Wer mit dem Gedanken spielt, dass es Fabelwesen wie das Einhorn gibt, mag zugestehen, dass es dafür Gründe geben muss. Ein Grund könnte sein, dass das Einhorn in der Natur beobachtet und angetroffen werden kann. Die Beobachtbarkeit des Einhorns wäre ein Was gilt? | 71

Kriterium dafür, dass das Einhorn nicht frei erfunden ist, sondern tatsächlich physisch existiert. Es mag schwer zu glauben sein, dass ein Einhorn jemals beobachtet werden kann, aber gänzlich auszuschließen ist es nicht. Vielleicht gibt es Einhörner in einer möglichen anderen Welt als der unseren. Der Unterschied zwischen dem nicht-reflexiven ›finden‹ und dem reflexiven ›erfinden‹ ist nicht so klar, wie wir uns einbilden. Dies zeigt das, was Mathematiker beim Beweisen und Künstler beim Schaffen ihrer Werke tun. Zunächst wollen wir den Gedanken, dass das, was wir als ›gut‹ beurteilen, auch existiert, noch weiterverfolgen. Nehmen wir den Begriff des ›guten Lebens‹. In dieser und in allen anderen Verbindungen von ›gut‹ haben wir es nicht mit Begriffen von Einzeldingen, sondern mit abstrakten Gegenständen zu tun. Wenn jemand, nennen wir ihn Oskar, sagt, er habe ein gutes Leben geführt, meint er damit das Leben, das er tatsächlich führte, ohne dies notwendig auf einen bestimmten zeitlichen Abschnitt seines Lebens einschränken zu wollen. Wir können kaum unterstellen, dass Oskar damit sagen wollte, dass es sein gutes Leben nicht wirklich gegeben habe. Die Existenz ist in der Behauptung des guten Lebens enthalten. Für Oskar gibt es sein gutes Leben. Es ist wahr, wenn er sagt, dass es – für ihn – ein gutes Leben gibt. Das ›gute Leben‹ ist  – als abstrakter Gegenstand  – nicht nur kein Einzelding, es ist auch im Unterschied zu Kants Beispiel kein Begriff eines Dings, der alle seine denkbaren Prädikate bereits enthält. Wir wissen nämlich nicht, was Oskar an Prädikaten für die Beschreibung seines guten Lebens gebrauchen würde. Wir wissen aber, dass es sein gutes Leben tatsächlich gibt oder gab. In dem Guten seines Lebens ist das Prädikat seiner Existenz enthalten. Wir können sogar sagen, dass ›Existenz‹  – nicht nur ›gedachte Existenz‹ – ein Merkmal des Guten im Leben Oskars und jeder anderen Person ist, die sagt, dass sie ein gutes Leben führt oder führte. Die Existenz-Behauptung ist daher einer der Maßstäbe dafür, dass die Behauptung Oskars, dass er ein gutes Leben führte, gilt und wahr ist. Bedeutet dies, dass die in der Aussage, dass etwas gut ist, enthaltene Existenz ein Maßstab ihrer Geltung ist? Wenn die Existenz in etwas konkret Beschreibbarem wie dem guten Leben besteht, lässt sich dies kaum leugnen. Da wir aber eben die Existenz von Einhörnern nicht gänzlich ausschließen konnten, ist der Maßstab 72 | Was gilt?  

der Existenz vielleicht zu wenig konkret, um abwegige Annahmen auszuschließen. Saul Kripke verstärkt diesen Eindruck zunächst. Er denkt wie kaum jemand sonst darüber nach, was existiert oder nicht existiert. Er will dies anhand von Beispielen wie ›Moses existierte‹ oder ›Sherlock Holmes existiert‹ und ›Hamlet existiert‹ klären.64 Er wendet sich zwar nicht direkt oder ausführlich gegen die von Frege und Russell – im Anschluss an Kant – vertretene Auffassung, dass Existenz ein Prädikat zweiter Stufe sei und sich deswegen nicht – wie ein Prädikat erster Stufe – auf Einzeldinge oder Personen beziehen lasse. Dennoch hält er es gegen deren Annahmen für vollkommen gerechtfertigt, Einzeldingen Existenz zuzuschreiben. 65 Saul Kripke setzt sich mit der Frage auseinander, ob die eben erwähnten Namen einen Bezug (Referenz) zu real existierenden Personen haben oder leer sind. 66 Er ist von ihrer realen Existenz überzeugt und argumentiert, dass die fiktionalen Namen – nicht ›Moses‹, eine Person dieses Namens habe es, wie er glaubt, gegeben – im Rahmen der Geschichte, des Romans oder des Dramas, in denen sie gebraucht werden, einen konkreten Bezug zu Personen haben, über die eine Menge Dinge (Äußerungen, Vorlieben, Kleidung, Gebärden) bekannt sind. Kripke spricht vom Prinzip der Prätention (pretence), das es erlaubt zu sagen, dass etwas als existierend gelten kann. 67 Wir können über Personen so sprechen, als ob sie existieren würden, denn es gibt sie in literarischen Texten. Die Existenz dieser Personen wird fiktional prätendiert, als ob sie früher und jetzt existierten. Fiktionale, dichterisch auftretende Personen wie Hamlet oder Sherlock Holmes existieren demnach in den mit ihrem Namen verbundenen Geschichten, wie Kripke meint. 68 ›Hamlet‹ bezeichne zwar eine fiktionale Person, sei aber kein leerer Name. Ähnliches treffe auf ›Sherlock Holmes‹ zu. Es treffe sogar auf abstrakte Gegenstände wie ›Nation‹ zu, sofern ihnen »konkrete Aktivitäten« zugeschrieben werden können. 69 Dann existieren auch abstrakte Gegenstände wie ›Begriffe‹ und ›Prinzipien‹. Kripke erweitert den Rahmen, in dem etwas als existierend identifizierbar ist. Er meint, je nachdem wie etwa die Namen natürlicher Arten (›Löwe‹, ›Eichhörnchen‹) gebraucht werden, hätten sie dieselben Eigenschaften wir Eigennamen.70 Fiktionale Personen vergleicht er mit abstrakten Was gilt? | 73

Gegenständen und schreibt auch Letzteren eine Existenz zu, wenn mit ihnen konkrete Aktivitäten und Wirkungen verbunden seien. Er will nicht behaupten, dass diese abstrakten Gegenstände eine empirisch feststellbare physische Existenz hätten. Sie hätten aber – wie im Fall von ›Nation‹ – eine bestimmte Kraft, die sich auf das Verhältnis zwischen Menschen auswirke.71 In dieser Weise existieren, wie Kripke meint, auch abstrakte Gegenstände. Der Existenz von Fabelwesen wie Einhörnern und Drachen gegenüber ist Kripke jedoch zurückhaltend. Wir müssten mehr über ihre »interne Struktur«, also über ihre Biologie, wissen, um ihre Existenz in irgendeiner möglichen Welt behaupten zu können, meint er.72 Die bloße Beobachtung eines Tiers, das so ähnlich aussieht wie ein Einhorn, würde ihm nicht genügen. Es wäre, wie er sagt, ein »Narren-Einhorn«, also das, was wir vor kurzem nicht gänzlich ausschließen wollten und uns jetzt auf die Füße fällt. Schauen wir einen Moment zurück auf das, was wir im Anschluss an Kant und Kripke zur Existenz dessen, was wir als ›gut‹ beurteilen können, gewonnen haben. Kants Argument vom Sein als bloßer Position eines Dings hindert uns nicht daran, vom Guten in einer bestimmten Gestalt sagen zu können, dass es existiert. Wenn die Existenz ein Merkmal des Guten ist, fügt es ihm im begrifflichen Sinn nichts hinzu, was es nicht schon enthält. Die Wirklichkeit und die Möglichkeit des Guten stimmen in unseren Urteilen über das, was wir ›gut‹ nennen, überein. Kant regt uns unbeabsichtigt zu dieser Überzeugung an. Mit Kripke können wir vom Guten, obwohl es ein abstrakter Gegenstand und kein Einzelding ist, behaupten, dass es existiert, wenn mit diesem Konzept ›konkrete Aktivitäten‹ verbunden sind. Es sind offensichtlich argumentative Aktivitäten damit verbunden, nicht zuletzt in Platons Dialogen, in denen das Gute eine dialektische Präsenz bei der Suche nach der Wahrheit hat. Selbst wenn das Gute ähnlich wie Hamlet ein fiktionaler Gegenstand wäre, könnten wir ihm zumindest innerhalb der platonischen Dialoge, in vergleichbaren Texten und auch in dieser Untersuchung eine Existenz zuschreiben. Damit büßen wir aber – so scheint es – die für die Existenz so wichtige Unterscheidung zwischen dem nicht-reflexiven Finden und dem reflexiven Erfinden ein, was wir eben schon im Hinblick 74 | Was gilt?  

auf mathematische Beweise und Kunstwerke vermuteten. Wenn die Prätention der Existenz einer fiktionalen Person – à la Kripke – im Rahmen einer erzählbaren Geschichte ihrer Aktivitäten für die Behauptung, dass sie existiert, reicht, ermöglicht die Erfindung der Person durch den Dichter, dass wir sie als Leser in seinen Texten finden.73 Ähnliches würde doch wohl auch für die Beweise von Mathematikern und für Kunstwerke zutreffen. Wir finden sie, aber die Mathematiker und Künstler sind ihre Schöpfer und Erfinder und Beweise und Kunstwerke wären reflexive Leistungen und würden als solche vielleicht – so absurd dies erscheinen mag – nicht existieren. Wenn es so wäre, wäre das, was die einen erfinden, das, was die anderen finden. Dies hätte aber, abgesehen von der erwähnten Abwegigkeit, unangenehme, unerwünschte Folgen. Wir müssen uns daher überlegen, ob der schöpferische Prozess wirklich ein reflexiver oder nicht doch ein nicht-reflexiver ist. Wir würden Mathematik, Literatur und Kunst kaum ernst nehmen können, wenn wir ihre Leistungen als nicht weiter durchschaubare Erfindungen verstehen würden. ›Erfinden‹ in diesem Sinn würde alles Mögliche und Unmögliche, Sinnvolle und weniger Sinnvolle, Geniale und Abstruse einschließen. Physiker können hier mit dem Gedanken behilflich sein, dass die Naturkonstanten, mit denen sie rechnen, nicht theoretisch erfunden, sondern durch Messungen im Rahmen ihrer Theorie, also nicht-reflexiv, gefunden wurden. Wenn wir die Existenz von etwas zuverlässig behaupten wollen, müssen wir ausschließen können, dass das, was die einen auffinden, von anderen auf unseriöse Weise erfunden wurde. Sie könnten uns andere damit täuschen, belügen und in die Irre führen. Wir könnten nicht beurteilen, ob es sich um Täuschungen, Zauberei und Scharlatanerie handelt oder nicht. Nun ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass es schöpferische Leistungen und Erfindungen gibt, die mit Recht genau so genannt werden. Damit lässt sich Geld verdienen, und Patentämter beurteilen, ob etwas wirklich erfunden im Sinne von neu, einzigartig und nicht schon irgendwie vorhanden ist.74 Die Frage ist, was abgesehen von der Erfindung von Patentierbarem ›erfinden‹ im Unterschied zu ›finden‹ bedeutet. Finden muss nicht passiv im Sinn von ›zufällig‹ und ›ohne eigenes Zutun auffinden‹ sein, wie man vielleicht meinen würde, sondern kann das Ergebnis eines aktiven Was gilt? | 75

Suchens, etwa nach dem verlegten Hausschlüssel, sein. Man kann auch etwas nicht Gesuchtes finden, was sich dann als Glücksfall herausstellt, einen Freund oder eine spätere Partnerin.75 Kant erklärt, was künstlerisches ›Finden‹ bedeutet. Das künstlerische Genie, schreibt er, gebe »der Kunst die Regel«.76 Das klingt theoretischer, als es gemeint ist. Das Genie habe die natürliche Begabung, das »Talent«, etwas Exemplarisches, Besonderes, Originales zustande zu bringen, nämlich dem, was es sich vorstellt, einen Ausdruck zu geben.77 Wie es diesen exemplarischen Ausdruck findet, wisse es selbst nicht, so Kant. Es ist deswegen nicht sinnvoll zu fragen, was es sich bei seiner Kunst gedacht hat. Das Kunstschaffen ist offenbar kein reflexives, begrifflich transparentes Tun. Dabei könne es, wie Kant ergänzt, auch »originalen Unsinn« geben, aber »exemplarisch«, mustergültig und nicht nachahmend müsse es sein. So beschreibt er auf überzeugende Weise die schöpferische Seite des künstlerischen Ausdruck-Findens.78 Wenn wir nun als Betrachter ein Kunstwerk anschauen und beurteilen, finden wir auch etwas. Dieses Finden ist ebenfalls nicht passiv, weil wir uns, wenn wir Kant folgen, selbst eine Vorstellung von dem Werk machen müssen, um es ästhetisch beurteilen zu können. Im ästhetischen Urteil werden wir als Betrachter mit dem Urteil des Künstlers übereinstimmen, wenn wir  – was wir hier nicht im Einzelnen tun – die von Kant vorgeschlagenen vier »Momente«79 des Geschmacksurteils genau beachten. ›Finden‹ bedeutet dann ›ästhetisch Urteilen‹. ›Erfinden‹ und ›Finden‹ sind in Kants Auffassung des künstlerischen Genies und des ästhetischen Urteilens dasselbe, außerdem sind beide Aktivitäten nicht-reflexiver Natur. Künstler finden die Gestalt, die sie ihrem Werk geben. Sie und wir finden ein ästhetisches Urteil darüber. Beides ist unbeliebig, vor allem dann, wenn wir das Finden angelehnt an Kants Ästhetik verstehen. Es gibt aber auch das reflexive Erfinden, und zwar in mehrfacher Bedeutung. Es gibt das Erfinden von Ausreden, Täuschungen und Lügen. Diese Art von ›Erfindung‹ gaukelt die Existenz von etwas vor, was es nicht gab oder gibt, mit schmeichelnder, lauterer oder unlauterer Absicht. Dann gibt es angelehnt an bereits vorhandenes Wissen das reflexive, begrifflich transparente Erfinden von Erklärungen für etwas, was wir bisher nicht verstanden haben. Wir wür76 | Was gilt?  

den seriöse Erklärungen im Rahmen und auf dem Hintergrund von Theorien aber kaum als ›Erfindungen‹ bezeichnen, sondern eher dem ›Finden‹ zurechnen. Insofern gibt es auch ein reflexives Finden innerhalb von Theorien oder erklärenden Zusammenhängen. Wer mehr weiß und versteht, findet auch mehr. Hamlet und Sherlock Holmes sind fiktionale Personen, die in lauterer Absicht in dem Sinn, den wir mit Kants Hilfe beschrieben haben, nicht-reflexiv erfunden wurden. Shakespeare und Conan Doyle wollen uns mit ihren Figuren nichts vorgaukeln, uns nicht in die Irre führen, sondern unterhalten oder über menschliche Schicksale aufklären. Mathematische Beweise oder wissenschaftliche Erklärungen wollen uns gewöhnlich nicht unterhalten, sondern Lösungen anbieten und aufklären. Nicht immer können wir die Lösungen beurteilen und wissen deswegen nicht, wie sie gefunden wurden und ob sie nicht vielleicht fiktiv sind. Sie sind, sofern sie an Früheres und Bekanntes angelehnt sind, reflexiv erfunden, und wenn sie etwas Neues bieten, sind sie gleichzeitig nicht-reflexiv gefunden worden. Sie existieren jedenfalls. Wir können das, was existiert, nicht allein dem Nicht-Reflexiven zuschreiben und dem Reflexiven verweigern. 1.8 Ob wir das Mögliche vom Wirklichen her verstehen

Die bisherigen Überlegungen zum Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, haben gezeigt, dass es für diesen Zusammenhang keine idealen Maßstäbe gibt. Jedenfalls können die Wahrheit und das Gute nicht als ideale Maßstäbe dienen. Deswegen können sie auch nicht die Gründe für das, was gilt, sein. Es gibt aber einen Maßstab für den Zusammenhang, nämlich die Existenz. Wenn wir behaupten, dass etwas gilt, behaupten wir damit auch, dass es praktisch existiert. Wir behaupten damit, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Wenn der Zusammenhang so wie bei Lügen, Betrug und falschen Versprechen nur scheinbar, aber nicht wirklich existiert, kann er nicht wirklich gelten. Es gibt aber auch den Schein der Geltung wie bei gefälschten Urkunden. Dann ist der Zusammenhang fingiert. Er gilt auch nicht bei Versprechen, die übertrieben Was gilt? | 77

sind und nicht eingehalten werden können. Alles das, was den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, bildet, muss existieren und existieren können. Er darf nicht fingiert oder unmöglich sein und er darf nicht nur scheinbar existieren. Was den Zusammenhang bilden kann, wissen wir damit aber noch nicht. Wir wüssten es auch nicht, wenn wir wüssten, was es alles gibt und geben kann. Wir wüssten es vielleicht, wenn wir wüssten, was alles ist und was alles sein soll. Da wir dies nicht wissen, können wir betrogen werden und uns selbst und andere täuschen. Um zu wissen, was ist und was sein soll, benötigen wir Auswahlkriterien. Es gibt solche Kriterien. Es gibt sie aber erst, wenn etwas gilt oder zumindest klar ist, was gelten sollte, und nicht davor und nicht unabhängig davon. Wir können uns dies am Beispiel von Versprechen klar machen. Wir müssen wissen, was ein ›Versprechen‹ ist und was versprochen wurde, dann haben wir ein Kriterium für die Verbindung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Das Versprechen normiert diese Verbindung. Wir wissen dann, wie verbindlich das Versprechen ist und was der Fall sein sollte, wenn es erfüllt ist. Wir können z. B. nur etwas versprechen, was nicht schon erfüllt ist und was möglich80 ist, also das, was wir überhaupt versprechen und dann auch erfüllen können. Eine verheiratete Person kann ihrem Partner oder ihrer Partnerin Treue, aber nicht die Ehe versprechen; sie sind ja schon verheiratet. Versprechen sind prinzipiell verbindlich; sie sollen gehalten werden. Sie werden aber nicht schon gehalten, indem sie geäußert werden. Sie existieren aber mit der Äußerung. Die Existenz des Versprechens als Norm schließt das, was sein soll, noch nicht ein. Dafür muss es eigene Bedingungen geben. Wer etwas verspricht, muss das Versprochene erfüllen wollen und können, aber nicht jede Erfüllung ist angemessen. Kriterien für das, was aus allem, was ist, und aus allem, was sein soll, so zusammengefügt werden kann, dass es gilt, kennen wir für die Norm des Versprechens. Jedes Versprechen hat mindestens einen Sprecher. Dies ist bei Prinzipien nicht der Fall. Dennoch stellen auch sie mit ihrer Geltung einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. In beiden Fällen enthält das, was gilt, die Auswahlkriterien für das, was sein soll. Das Widerspruchsprinzip wählt z. B. in seiner aussagenlogischen Fassung aus 78 | Was gilt?  

allen Aussagen, die gemacht werden, diejenigen aus, die sich nicht widersprechen. Nur Sätze, die sich nicht widersprechen, sollen geäußert werden, und diese Forderung soll gelten. Damit ein Prinzip oder eine Norm zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, einen Zusammenhang herstellen kann, muss sie als existierend und als geltend anerkannt sein. 81 Es muss aber auch das existieren, was konkret unter die Bedeutung des Prinzips oder der Norm fällt und fallen kann. Beides muss existieren. Die Frage ist, was es zuerst gibt, das, was die Auswahl trifft, oder das, woraus sie getroffen werden kann. Wenn mit dem, was gilt, eine Ordnung hergestellt wird, nehmen wir selbstverständlich an, dass es vor der Ordnung die Unordnung gibt. Wir täuschen uns. Die Unordnung enthält nämlich nicht das Kriterium der Ordnung, sondern nur den Bedarf danach, wenn überhaupt. Eine ungeordnete Menge an Sätzen enthält vielleicht Widersprüche, aber noch keinen Begriff davon. Der Begriff bildet sich, wenn die Unordnung als solche bemerkt und es klar wird, dass es eine Ordnung geben sollte, die Ordnung der widerspruchsfreien Menge von Sätzen. Bevor sie gilt, hat sie eine Genese. Wir können das Wort ›Genese‹ gedankenlos gebrauchen, dabei vermischen wir Ordnung und Unordnung und suggerieren, dass die Unordnung in der Ordnung ihr Ziel hat. Das hat sie aber nicht, sonst würde – wie das tatsächlich manche biologistisch Denkenden annehmen – aus der Unordnung die Ordnung von selbst, autopoetisch, entstehen. Ob dies biologisch so ist, sei dahingestellt. Aus der Menge an widersprüchlichen und nicht widersprüchlichen Sätzen entsteht von selbst aber keine Menge an widerspruchsfreien Sätzen. Es muss erst ein Prinzip für die Auswahl geben. Daher gibt es zweierlei zuerst, die ungeordnete Menge an Sätzen und das Widerspruchsprinzip. Beides gibt es nicht-reflexiv. Wir finden das eine und das andere und denken dann erst darüber nach. Die Reflexion des Zusammenhangs zwischen beidem ist dann erst das, was wir ›Genese‹ nennen können. Keine Vorgeschichte ist für sich gesehen schon zielgerichtet auf eine bestimmte Geschichte bezogen. Sie kann Vorgeschichte vieler möglicher Geschichten sein. Die Existenz der Genese ist in der Existenz der Geltung nicht enthalten. Auch das Umgekehrte gilt. Eine Genese hat keine kausale Kraft, die unausweichlich zu etwas führt, was gilt. Es würden sonst längst Was gilt? | 79

Gesetze zum Schutz der Natur gelten, weil die Genese ihrer Zerstörung offensichtlich ist. Wenn wir über den Zusammenhang zwischen dem, was es gibt, und dem, was sein soll, nachdenken, gehen wir von dem aus, was gilt und gelten kann. Für die Reflexion muss etwas existieren oder existieren können, was prinzipiell gilt oder gelten kann. Dann können wir wissen, welche Kriterien es für den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, gibt. Wir wissen dann z. B., dass wir nur etwas versprechen können, was es nicht schon gibt. Woher wir das wissen, woher wir also wissen, was ein Prinzip oder eine Norm bedeutet, können wir nicht sagen. Es gibt kein Woher, also keine Begründung für das, was sie bedeuten und auch keine Erklärung dafür. Dies zeigt das Beispiel des Widerspruchsprinzips. Das Prinzip selbst ist nicht ableitbar, es gilt unabgeleitet, hat eine nicht-reflexive Bedeutung, die wir allerdings reflexiv erfassen können. Deswegen kennen wir unterschiedliche Auffassungen des Widerspruchsprinzips, die jeweils nur in ihrem eigenen Zusammenhang gelten. Das Prinzip existiert also nicht-reflexiv, bevor wir reflexiv wissen, was es bedeutet. Es kommt darauf an, wie wir es reflexiv erfassen, als ontologisches oder als aussagenlogisches oder als moralisches Prinzip, und das eine kann das andere nicht ersetzen oder erklären und deuten. Wir finden ein Prinzip, kennen die Bezeichnung dafür und haben einen Vorbegriff seiner Bedeutung. Erst dann können wir reflexiv erfassen, was es bedeutet oder bedeuten kann. Ähnlich verstehen wir eine Norm wie das ›Versprechen‹. Wir kennen die Bezeichnung, haben einen Vorbegriff von dem, was sie bedeutet, und können dann aus dem Zusammenhang, in dem etwas versprochen wird, die Bedeutung der Norm verstehen. Wir wissen dann, in welchem Sinn ein Versprechen gilt, wissen aber noch nicht, ob das, was versprochen wurde, überhaupt ein Versprechen ist. Wir können dies nicht allein dem entnehmen, was gesagt wurde. Deswegen gibt es den Unterschied zwischen der sog. lokutionären Bedeutung einer sprachlichen Äußerung, ihrem grammatikalisch geordneten Wortlaut und ihrer illokutionären Bedeutung, das, was mit dem Gesagten gemeint ist. Der Indikativsatz ›Ich zeig’ Dir, wie’s geht‹ kann als Versprechen oder als Drohung gemeint sein. Prinzipien und Normen können Kriterien des möglichen Zu80 | Was gilt?  

sammenhangs zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, sein. Die nicht-reflexive Bedeutung der Prinzipien erfassen wir reflexiv. Damit machen wir auf reflexive Weise das Nachher, das Wirkliche zum Vorher, zum Möglichen und kehren die zeitliche Folge des Vorher und Nachher um. Das, was prinzipiell gilt, wählt aus dem, was es vorher schon gibt, das aus, was anders als bisher sein soll. Damit eine Auswahl möglich ist, muss es das schon geben, was durch das Prinzip verändert werden soll. Es muss nicht nur alles das geben, was ist, sondern auch das, was sein kann und sein soll. Erst dann kann ein Prinzip das eine mit dem anderen verbinden. Wir wissen aber erst, welche Verbindungen durch Prinzipien möglich sind, wenn wir sie kennen, zumindest einen Vorbegriff von ihnen haben. Die möglichen Verbindungen verstehen wir, wenn wir uns denken können, was sie wirklich bedeuten. Das Mögliche verstehen wir in diesem Sinn aus dem, was wir uns als Wirkliches vorstellen, nicht umgekehrt. Erst wenn wir wissen, wozu uns ein Versprechen wirklich verpflichtet, wissen wir, ob es möglich ist, ob wir es geben können. Wir können Prinzipen nicht an sich, in ihren nicht-reflexiven Bedeutungen, sondern nur aus den jeweiligen Zusammenhängen ihrer Geltung verstehen. Wir können nicht anders als die zeitliche Folge des Vorher und Nachher reflexiv zu verkehren. Dabei erwarten wir das Umgekehrte, dass wir erst ein Prinzip selbst, so wie es an sich ist, und dann erst seine konkrete Bedeutung verstehen. Wir verstehen ein Prinzip aber erst im Zusammenhang seiner möglichen praktischen Geltung, nicht vorher. Auf dem Hintergrund seiner möglichen Geltung können wir dann darüber streiten, ob es gilt oder nicht. Die Bezeichnungen und Vorbegriffe von Prinzipien reichen dafür noch nicht. Wenn es Streit über ihre Geltung gibt, glauben die einen, dass sie gelten, die anderen glauben es nicht. Es kann aber nicht beides gleichzeitig der Fall sein. Reflexiv können wir das Vorher und Nachher erst umkehren, wenn wir wissen, was es vor der Geltung eines Prinzips gibt oder gab. Denn nur dann verstehen wir, was mit seiner Geltung verändert werden kann und verändert werden soll. Menschliches Leiden durch Unrecht und Gewalt kann mit der Geltung von Prinzipien wie der Menschenwürde, dem Lebensschutz und der Gleichheit verhindert werden. Dann wird das, was sein soll, nämlich ein LeWas gilt? | 81

ben ohne Angst, Unrecht und Gewalt durch das, was gilt, möglich. Das Nachher konkretisiert das Vorher. Die reflexive Umkehrung des Nachher zum Vorher, dass wir das, was ist, und das, was sein soll, aus dem verstehen, was gilt und nicht umgekehrt, trifft z. B. auch auf die Geltung naturwissenschaftlicher Gesetze zu. Auch sie stellen einen Zusammenhang her, nämlich zwischen dem, was messbar ist, und dem, was den Naturgesetzen entsprechend der Fall sein soll. Die Gesetze ordnen das Gemessene. Naturgesetze normieren die erklärbare Wirklichkeit, solange sie gelten und nicht widerlegt sind. Ähnlich können wir die Geltung einer staatlichen Verfassung verstehen. Sie stellt einen Zusammenhang her zwischen den rea­ len Lebensbedingungen einer Gesellschaft und dem, was eine Verfassung aus ihr machen soll, einen rechtlich geordneten Staat. Die Geltung einer Verfassung verstehen wir, wenn wir die Rechtsverhältnisse eines Staates, dessen Rechtspraxis kennen. Auch dies erscheint zunächst wie eine Verkehrung des Vorher und Nachher. Wir können die Prinzipien einer geschriebenen Verfassung, also das, was vor der Rechtspraxis gilt, lesen und interpretieren. Sie existieren tatsächlich in sichtbarer und lesbarer Form vor der jeweiligen Rechtspraxis. Was sie bedeuten, wissen wir erst durch die Rechtspraxis. Zunächst haben wir nur einen abstrakten Vorbegriff ihrer Bedeutung. Die reflexive Umkehrung des Nachher zum Vorher, dass wir die möglichen Zusammenhänge zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, aus dem verstehen, was wirklich gelten kann und gilt, kann uns den Blick auf die Zusammenhänge, die jenseits davon möglich sind, versperren. Wir stoßen damit an eine Grenze, die wir nicht bemerken, solange das, was gilt, die Erwartungen auf befriedigende Weise erfüllt. Die Geltung des Widerspruchsprinzips versperrt uns keinen Blick auf mögliche andere Zusammenhänge. Wenn wir aber annehmen, dass es nicht nur die zwei Wahrheitswerte ›wahr‹ und ›falsch‹, sondern auch ›unbestimmt‹ als Dritten gibt, werden wir das Prinzip in seiner aussagenlogischen Fassung anders formulieren. Die Geltung des Gleichheitsprinzips würde uns den Blick dafür versperren, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, wenn es nur für die Gleichheit von Mann und Frau und nicht für alle Geschlechter gelten würde. 82 | Was gilt?  

Wir können reflexiv einem geltenden Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, nicht entnehmen, welche anderen Zusammenhänge möglich wären. Es wäre zirkulär, dies zu tun; wir würden uns im Kreis drehen. Das Resultat wäre fiktiv. Wir könnten das, was wirklich gilt, nicht von dem, was nur zu gelten scheint, unterscheiden. Zwischen dem reflexiven Erfassen eines Prinzips und seiner nicht-reflexiven Existenz muss es einen Unterschied geben. Dieser Unterschied ist mit der Unterscheidung zwischen ›Geltung‹ und ›Genese‹ nur dann gemeint, wenn wir – wie eben erläutert – die Genese nicht teleologisch oder kausal auf die Geltung beziehen. Was als Prinzip gilt, existiert, und seine Vorgeschichte existiert auch. Es existiert beides, das, was mit ›Geltung‹, und das, was mit ›Genese‹ gemeint ist, und sie existieren unabhängig voneinander, werden von uns aber reflexiv wie Vorher und Nachher aufeinander bezogen. 1.9 Ob die Existenz von etwas mehrere Bedeutungen haben kann

Offenbar existiert beides, sowohl das, was gilt, als auch das, was wir jeweils darunter verstehen. Wir können das, was wir jeweils darunter verstehen, als ›Genese‹ bezeichnen, weil es sich entwickeln und verändern kann. Diese doppelte Existenz von Geltung und Genese scheint kaum haltbar zu sein, weil wir doch – prinzipiell – davon ausgehen, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, auch wenn wir sie begrifflich nicht als ganze erfassen können. Wir neigen dazu zu meinen, dass in der einen Wirklichkeit etwas – irgendein ›X‹ – nur in einer Hinsicht existieren kann, weil es eben nur eine Wirklichkeit gibt. Dies ist ein Vorurteil. Wir wissen doch, dass die Venus als Abendstern und als Morgenstern existiert. Der Planet hat zwei Erscheinungsweisen. Sie waren bekannt, bevor das Planetensystem und die Identität der Venus bekannt waren. Diese Erscheinungsweisen sind auch nicht zu bestreiten, nachdem wir sie in die eine Wirklichkeit des Planetensystems und seiner Bewegungen integrieren können. Wir verstoßen also nicht gegen den Gedanken der einen Wirklichkeit, wenn wir ›Existenz‹ sowohl auf die Tatsache, dass es ›X‹ Was gilt? | 83

gibt, als auch auf das, was ›X‹ bedeutet, beziehen. Wenn mit ›X‹ z. B. das Widerspruchsprinzip gemeint ist, wissen wir, dass es dieses Prinzip gibt, und wir wissen, dass es verschiedene Bedeutungen hat. Damit existiert dieses ›X‹ zumindest in drei Versionen, als Bezeichnung des abstrakten Gegenstandes ›Widerspruchsprinzip‹ und in den ontologischen, aussagenlogischen und moralischen Bedeutungen. Das ›X‹ existiert also in mehreren Bedeutungen. Allerdings wissen wir damit Unterschiedliches. Das eine, dass es ›X‹ unter der Bezeichnung ›Widerspruchsprinzip‹ gibt, wissen wir, weil wir mit der Bezeichnung einen Vorbegriff verbinden. Wir wissen auch, was das Prinzip ontologisch und aussagenlogisch bedeutet, dass wir nämlich von etwas nicht in derselben Hinsicht sagen können, dass es ist und dass es nicht ist, und dass wir nicht gleichzeitig von ein und derselben Aussage behaupten können, dass sie wahr und nicht wahr ist. Wir wissen, was das Prinzip moralisch bedeutet, dass wir mit uns selbst einig sein und uns nicht selbst widersprechen sollten. Unter derselben Bezeichnung kennen wir also drei unterschiedliche Bedeutungen und einen Vorbegriff. Denkbar ist, dass es noch weitere Versionen des Prinzips gibt, wenn es mehr als zwei Wahrheitswerte gibt. Wir können, wie es scheint, die Bedeutungen dessen, was unter einer Bezeichnung existiert, beliebig vermehren. Eine ähnliche Vermehrung der Bedeutungen eines Wortes kennen wir aus anderen Zusammenhängen. Wir verstehen, was mit ›Bank‹ gemeint ist, nämlich eine Sitzgelegenheit oder ein Geldinstitut oder anderes in Verbindung mit Wörtern wie ›Sand‹ oder ›Spiel‹ oder ›Trainer‹. Diese semantische Vielfalt der Bedeutungen eines Wortes macht uns aber nicht glauben, dass das Wort ›Bank‹ Träger des Kerns der vielen Bedeutungen ist. Wir nehmen an, dass es sich lediglich um analoge Verwendungen des Wortes ohne einen tieferen Bedeutungskern handelt. Schließlich beziehen sich die Prädikate ›ist ein Sitzmöbel‹ und ›ist ein Geldinstitut‹ nicht auf einen identischen Gegenstand. Wenn es aber um ein Prinzip wie das des Widerspruchs geht, nehmen wir an, dass sich die unterschiedlichen Bedeutungen auf ein und dasselbe Prinzip beziehen, also nicht analog, sondern univok. Wir nehmen an, dass die Existenz des Widerspruchsprinzips nicht-reflexiver Natur ist. Wir finden sie, erfassen sie aber reflexiv, und die Ergebnisse haben nicht dieselbe Bedeutung. Semantisch, 84 | Was gilt?  

ihren sprachlichen Bedeutungen nach, sind die ontologischen, aussagenlogischen und moralischen Versionen des Widerspruchsprinzips nicht univok, sondern analog. Wir können aber sagen, dass sie logisch gesehen univok sind, weil wir allen Versionen – als Vorbegriff – ein und dieselbe symbolische Form geben können, nämlich diese: ¬(a∧¬a) oder eine mit anderen, aber ansonsten gleich geordneten Symbolen. 82 Um dies sprachlich zu verstehen, müssten wir ›a‹ durch ontologische oder aussagenlogische oder moralische Bedeutungen ersetzen. Damit wüssten wir aber nicht mehr als das, was die analogen Versionen bedeuten. Immerhin kann ein symbolischer Ausdruck als Vorbegriff für die Bedeutungen des Prinzips stehen. Die Differenz zwischen der nicht-reflexiven Existenz des Prinzips und der Existenz der unterschiedlichen Bedeutungen, unter denen wir das Prinzip kennen, können wir reflexiv nicht überbrücken. Wir müssen sie auch nicht überbrücken, weil wir die symbolische Form des Widerspruchsprinzips verstehen. Sie steht für die Existenz dieses Prinzips und damit in gewisser Weise für sich. Wir gebrauchen das Wort ›Existenz‹ einmal für etwas Nicht-Reflexives, was wir auffinden und nur symbolisch darstellen können, und für mehrere reflexiv verstandene Bedeutungen, die wir sprachlich auf analoge Weise mit dem Prinzip verbinden. Dabei unterstellen wir, dass eine einzige symbolisch repräsentierbare Form den analogen Versionen zugrunde liegt, ohne dass wir dies selbst nachweisen könnten. Die Existenz von etwas kann offenbar mehrere Bedeutungen haben, ohne dass die Einheit der Wirklichkeit in Frage gestellt ist. Wenn wir dies akzeptieren, haben wir aber das eben angesprochene Problem, wie sich verschiedene Versionen eines Prinzips tatsächlich auf dieses eine Prinzip beziehen. Wir haben unserem Beispiel, dem Widerspruchsprinzip, eine symbolische Form gegeben. Diese Form steht als Vorbegriff für die Identität des Prinzips, das von der Verschiedenheit seiner reflexiven Versionen unberührt bleibt. Wir können aber nicht davon ausgehen, dass wir allen Prinzipien eine symbolische Form geben können, die für deren jeweilige Identität steht. Deswegen fragen wir uns, ob es andere, nicht-symbolische Möglichkeiten gibt, die Identität von etwas zu behaupten. Wir müssen uns auch fragen, ob wir überhaupt auf sinnvolle Weise von Was gilt? | 85

der Identität von etwas sprechen können, ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um Prinzipien, Begriffe oder andere Gegenstände ­handelt. 1.10 Ob es Kriterien der Identität von Bedeutungen gibt

Es kommt darauf an, wofür es überhaupt Kriterien der Identität geben kann. Selbst gemachte Kriterien der Identität sind Definitionen. 83 Wenn es sich dabei um Begriffe handelt, sind die Kriterien reflexiver Natur und sagen nichts über das, was es gibt. 84 Wenn es sich um reale Gegenstände wie natürliche Arten handelt, sind die Kriterien zwar nicht rein reflexiver Natur, garantieren aber auch nicht, ob die Kriterien für die Identität hinreichend sind. 85 Im einen Fall sind die Kriterien, wenn man so will, geschenkt, im anderen leisten sie nicht ganz das, was wir erwarten. Uns interessiert die Identität von Gegenständen besonderer Art, nämlich von Prinzipien, die wir gerade nicht definieren können, deren Identität wir aber als gedachte Bezugspunkte annehmen, auf die wir uns reflexiv beziehen können. Ein Prinzip wie das des Widerspruchs ist ein abstrakter Gegenstand. Solche Gegenstände haben eine Bezeichnung, die wir ähnlich wie einen Eigennamen gebrauchen, ohne zu wissen, ob wir dies dürfen. Eigennamen stehen nämlich nicht für abstrakte Gegenstände, sondern für Personen oder Einzeldinge. Sie sind die singulären Namensträger und werden mit den Namen tatsächlich identifiziert. Diesen Vorteil der Identifizierbarkeit durch Namen haben abstrakte Gegenstände nicht. Wir können den abstrakten Gegenstand ›Widerspruchsprinzip‹ deswegen nicht so wie die Eigennamen ›Moses‹ oder ›Hamlet‹ verstehen. ›Moses‹ steht für den Mann, der die Israeliten aus Ägypten führte, und ›Hamlet‹ für den melancholischen Dänen-Prinzen im gleichnamigen Drama von Shakespeare. Ein wenig anders ist es bei Einzeldingen, ähnlich wie bei den erwähnten natürlichen Arten. Der Name ›Gabel‹ steht nicht für eine bestimmte, sondern allgemein für ein mehrzinkiges 86 Besteck, mit dem wir essen können. Der Name ›Esel‹ steht nicht für einen bestimmten Esel, sondern für alle. Auch Namen wie diese identifizieren etwas, was existiert. Wir wissen, was damit 86 | Was gilt?  

gemeint ist und dass eine Gabel kein Messer oder Löffel und dass ein Esel kein Pferd oder Muli ist, aber auch im übertragenen Sinn für andere Lebewesen gebraucht werden kann. Die erwähnten Namen identifizieren ihre Träger, wenn sie existieren. Dann sind die Namen Kriterien der Identität ihrer Träger. Wenn Eigennamen wie z. B. Karl Valentins Radfahrer ›Wrdlbrmpfd‹ in einem satirischen Text vorkommen, identifizieren sie eine erfundene Figur in einem solchen Text. Wir neigen dazu, den besagten Namen als leeren Namen ohne Träger zu verstehen. Die Existenz von abstrakten Gegenständen haben wir am Beispiel des Widerspruchsprinzips bereits angenommen. Wir können auch die Existenz von anderen Prinzipien annehmen, vor allem dann, wenn sie sich ähnlich wie Kripkes Beispiel ›Nation‹ auf die Verhältnisse zwischen Menschen auswirken. Viele politischen und rechtlichen Prinzipien haben diese Wirkung. Ein Prinzip wie die Menschenwürde hat eine bestimmte Kraft, die sich auf die Verhältnisse zwischen Menschen auswirkt, nicht zuletzt in der Rechtspraxis. Wir können deswegen sagen, dass das Prinzip der Menschenwürde existiert. Unklar ist aber, welche Bedeutung der abstrakte Gegenstand ›Menschenwürde‹ hat und wie wir sie identifizieren können. Die Bezeichnung ist kein Eigenname und identifiziert keinen einzelnen Träger. 87 Für die Existenz eines solchen Gegenstandes genügt es, dass wir auf seine Wirkungen verweisen können. Die Identität seiner Bedeutung können wir mit diesem Hinweis aber nicht feststellen, weil die Bezeichnung keinen Träger hat. Wenn die Identität der Bedeutung eines abstrakten Gegenstands wie ›Menschenwürde‹ von einem Träger abhängig wäre, dieser Träger aber wie im Fall von ›Wrdlbrmpfd‹ nicht existiert, müssten wir annehmen, dass die Bezeichnung ›Menschenwürde‹ ein leerer Name ist, der für nichts steht. ›Menschenwürde‹ hätte dann keine Bedeutung. Wie kann aber etwas existieren, was keine Bedeutung hat, müssten wir uns fragen. Wenn etwas unter einer Bezeichnung existiert, kann immerhin davon Gebrauch gemacht werden, auch wenn die Bezeichnung keinen Träger identifiziert. Auch ohne einen Bedeutungs-Träger müsste es zumindest eine Gebrauchsbedeutung geben. Das deutsche Verfassungsgericht und viele, die sich an das Gericht klagend wenden, machen offensichtlich Gebrauch von dem Was gilt? | 87

Prinzip der Menschenwürde. ›Menschenwürde‹ ist demnach die Bezeichnung für etwas real Existierendes, für dessen Bedeutung es kein Kriterium der Identität gibt. Stattdessen legt der Gebrauch des Prinzips fest, was es bedeutet. Dann kann sich die Bedeutung dem Gebrauch entsprechend verändern. Ähnlich wie Wittgenstein den Satz ›X existiert‹ als »Satz über unsern Sprachgebrauch«, also über den Gebrauch des Wortes ›X‹ versteht 88 , können wir sagen, ›Menschenwürde existiert‹ ist ein Satz über den Gebrauch des Wortes ›Menschenwürde‹. Natürlich kann sich dieser Gebrauch verändern. Die Frage ist aber, was sich dabei wie verändert. Die Bezeichnung des Prinzips bleibt im Gebrauch offensichtlich dieselbe. Wir können die Bezeichnung ›Menschenwürde‹ pro­ blem­los in verschiedenen Zusammenhängen auf identische Weise gebrauchen. Wir können z. B. sagen: Wenn Va (das Verfassungsgericht 1991) die Menschenwürde als Prinzip gebrauchte und die Menschenwürde das Prinzip war, das auch V b (das Verfassungsgericht 2006) gebrauchte, dann gebraucht das Gericht beide Male dasselbe Prinzip. Die Frage bleibt aber, was dabei dasselbe war und ist. Die Identität der Bezeichnung ist zwar wichtig, aber nicht entscheidend, weil wir wissen wollen, welche Bedeutung das Prinzip 1991 und 2006 hatte und ob und wie sie sich in der Rechtspraxis des Gerichts verändert hat. Die Identität des Wortes beim Gebrauch der Bezeichnung sagt darüber nichts. Alternativ dazu können wir überlegen, ob die Identität der Bedeutung von abstrakten Gegenständen wie Prinzipien nicht unabhängig von ihrem Gebrauch ist. Die Annahme dieser Alternative folgt dem Glauben, dass die Identität der Bedeutung von Begriffen mit Kriterien der Synonymie nachgewiesen werden kann. Wenn dies möglich wäre, müsste sich, um in unserem Beispiel zu bleiben, der Gebrauch des Prinzips der Menschenwürde durch das Verfassungsgericht an solchen Kriterien orientieren. Dann wäre der Gebrauch des Prinzips von der Synonymie des Begriffs ›Menschenwürde‹ abhängig und dessen Bedeutung wäre nicht, wie eben angenommen, von seinem Gebrauch abhängig. Bedeutungslos kann der Gebrauch des Prinzips für das, was es bedeutet, aber nicht sein. Schließlich verwenden wir ›Menschenwürde‹ in dem Satz ›Personen zu instrumentalisieren verletzt ihre Menschenwürde‹ anders als in dem Satz ›Menschenwürde ist ein 88 | Was gilt?  

Standard der Humanität‹ oder in dem Satz ›Menschenwürde ist ein Prinzip der Verfassung‹. Im ersten Fall verwenden wir ›Menschenwürde‹ wie ein reales Prädikat, das wir Menschen zuschreiben, in den beiden anderen Fällen sagen wir etwas über diesen Begriff. Es ist dabei offen, worauf sich die Bezeichnung ›Menschenwürde‹ bezieht. Auch der Versuch, die Bedeutung der Bezeichnung an die natürliche Art ›Mensch‹ zu binden, scheitert, weil die biophysischen Merkmale der natürlichen Art ›Mensch‹ nicht die Bedeutung der Würde festlegen können. Dies wird klar, wenn wir in den eben erwähnten Beispielsätzen ›Menschenwürde‹ durch ›Mensch‹ ersetzen. Der Mensch ist weder ein Standard der Humanität noch ein Prinzip der Verfassung. Wir kennen offenbar keine Kriterien, die es uns erlauben, die Bezeichnung ›Menschenwürde‹ eindeutig zu gebrauchen, ihm also Vorkommnisse zuzuordnen, die auf ähnliche Weise unter diesen Begriff fallen wie bei den Begriffen natürlicher Arten wie ›Gold‹ und ›Mensch‹. Es ist auch nicht so wie bei Begriffen, die wie ›Glatzköpfigkeit‹ vage sind, aber zwischen Glatze und vollbehaartem Kopf mehr oder weniger eindeutige Grenzen haben. ›Menschenwürde‹ ist nicht vage, weil das, was die Bezeichnung verfassungsrechtlich und ethisch bedeutet, kein Mehr-oder-weniger zulässt. Die Optionen einer Feststellung der Identität von Bedeutungen sind mit diesen Überlegungen aber noch nicht erschöpft. Es gibt das Kriterium der Identität des Ununterscheidbaren, das auf Leibniz zurückgeht. Wir haben eben schon informell davon Gebrauch gemacht, als es um Synonymie ging. Wir können Leibniz’ Kriterium vereinfacht in einer semantischen Version anwenden. Wenn ein Ausdruck ›x‹ dasselbe wie ein Ausdruck ›y‹ bedeutet, wenn also die Bedeutungen (Extensionen) von ›x‹ und ›y‹ identisch sind, lassen sich beide Ausdrücke in einem Satz ersetzen, ohne dass dessen Wahrheitswert sich verändert. Nun können wir versuchen, dieses Kriterium auf die erwähnten Beispielsätze anzuwenden. Im ersten Satz können wir den Ausdruck ›Menschenwürde‹ nicht durch ›Prinzip der Verfassung‹ oder ›Standard der Humanität‹ ersetzen. Der Satz hätte dann keinen Sinn. Im zweiten und dritten Satz sind die Charakterisierungen dagegen austauschbar. Können wir auf diese Weise die identische Bedeutung der Ausdrücke nachweisen? Was gilt? | 89

Der Nachweis misslingt. Denn es gibt andere Prinzipien der Verfassung wie die sog. Wesensgehaltssperre 89, die keine Standards der Humanität sind. Würden wir das Wort ›Wesensgehaltssperre‹ anstelle von ›Menschenwürde‹ einsetzen, hätten die Sätze keinen Sinn. Außerdem ist die Menschenwürde nicht der einzige Standard der Humanität. Wir können daher die Ausdrücke nicht einfach austauschen, ohne dass sich der Wahrheitswert der Sätze, in denen sie verwendet werden, verändert. Deswegen können wir auf diese Weise die Identität ihrer Bedeutung nicht nachweisen. Außerdem ist das Verbot der Instrumentalisierung nicht die einzige Bedeutung von ›Menschenwürde‹. Das Kriterium der Identität des Ununterscheidbaren können wir nicht anwenden. Dazu müsste erst einmal klar sein, was ›Menschenwürde‹ bedeutet, d. h. was die Extension dieses Begriffs ist, was alles unter ihn fällt. Ohne diese Klarheit können wir nicht entscheiden, ob dieser Begriff durch einen anderen ohne Veränderung des Wahrheitswerts ersetzt werden könnte. Wenn es Veränderungen und Erweiterungen der Bedeutung von ›Menschenwürde‹ gibt, kann es aber keine definitive, immer gleichbleibende Extension geben. Der Gebrauch des Prinzips, der zu Veränderungen führt, wäre ausgeschlossen. Wir kennen andere Begriffe oder Bezeichnungen, deren Bedeutungen weder definierbar noch selbstverständlich sind. ›Menschenwürde‹ zählt ebenso dazu wie ›Freiheit‹ oder ›Gleichheit‹. Die Bedeutung dieser Begriffe liegt nicht auf der Hand und kann beim Hören oder Lesen nicht unmittelbar erfasst werden. Das bedeutet, sie sind nicht durch sich selbst oder intuitiv zu verstehen. Sie benötigen immer eine Interpretation, um verstanden zu werden.90 Was das intuitive Verstehen bedeutet, beschäftigt bereits Aristo­ teles. Er schlägt vor91, nur die Begriffe als selbstverständlich zu betrachten, die etwas bezeichnen, dessen Gegenteil es nicht gibt. Damit erkennen wir rasch, dass Begriffe wie ›Menschenwürde‹, ›Freiheit‹, ›Gleichheit‹ nicht selbstverständlich sind. Von all diesen Begriffen lässt sich das Gegenteil denken. Wir gehen davon aus, dass die Bezeichnung oder der Begriff ›Menschenwürde‹ für etwas steht, was es gibt.92 Wir wissen nur nicht genau, was es ist. Eine Variante von Leibniz’ Kriterium für die Identität von Bedeutungen schlägt Rudolf Carnap vor. Er glaubt, dass die Identität 90 | Was gilt?  

der Bedeutung von Begriffen dann gegeben ist, wenn diese »intensional isomorph« seien, wenn wir uns bei Begriffen dasselbe denken. Die Ausdrücke ›7‹ und ›2 + 5‹ sind z. B. intensional isomorph, weil wir uns dasselbe dabei denken, wenn wir mit diesen Ausdrücken rechnen.93 Wenn in dem Satz ›Stephan hat 7 Hühner‹ die Zahl ›7‹ durch ›2 + 5‹ ersetzt wird, ändert sich der Wahrheitswert des Satzes nicht. Zwei ansonsten identische Sätze, in denen ›7‹ durch ›2 + 5‹ ersetzt wird, haben dieselbe Bedeutung, sie sind äquivalent. Dieses anspruchslose Beispiel leuchtet ein, weil die Eigenschaften der beiden arithmetischen Ausdrücke analytisch klar sind. ›7‹ können wir in ›2 + 5‹ und eine Menge anderer Ausdrücke zerlegen. Carnap verwendet über ein Beispiel dieser Art hinaus auch das Beispiel ›menschlich‹ und bezieht diese Eigenschaft auf Individuen, auf welche die Eigenschaft zutrifft.94 Können wir davon ausgehen, dass wir in den Sätzen ›Hans hat sich menschlich verhalten‹ und ›Ein Verhalten wie das von Hans ist menschlich‹ beim Wort ›menschlich‹ an dasselbe denken? Wohl eher nicht, weil im einen Fall etwas Lobenswertes, im zweiten etwas Kritikwürdiges gemeint sein kann. Carnap erklärt nicht, was für ›menschlich‹ intensional isomorph eingesetzt werden könnte. Es lässt sich auch nichts finden, weil wir ›menschlich‹ nicht so zerlegen können wie ›7‹. ›Menschlich‹ ist nicht analytisch zerlegbar und deswegen können wir uns in verschiedenen Zusammenhängen, in denen das Wort gebraucht wird, auch nicht dasselbe denken. Willard Van Orman Quine setzt sich ausführlich mit Carnaps Auffassung der Synonymie von Bedeutungen auseinander und zeigt, u. a. am Beispiel von ›Junggeselle‹ und ›unverheirateter Mann‹, dass Carnaps Synonymie-Kriterium nicht haltbar ist.95 Auch Wittgenstein glaubt zunächst ähnlich wie nach ihm Carnap an eine Synonymie von Bedeutungen. Im Tractatus meint er, dass es identische »Wahrheitsgründe« für Sätze gebe, die auseinander folgen (5.11 – 5.122). Diese Überzeugung hängt mit seiner dort vertretenen Auffassung zusammen, dass es Elementarsätze gibt, die nicht nur wahr, sondern auch die logischen Bausteine 96 aller wahren Sätze sind. Später sieht er ein, dass Elementarsätze, wenn es sie überhaupt gibt, nicht den logischen Erfordernissen genügen, die er für sie fordert.97 Was gilt? | 91

Befreit von den logischen Ansprüchen an synonyme Bedeutungen kann sich Wittgenstein den Bedingungen zuwenden, die den Gebrauch der Sprache charakterisieren. Er erkennt, dass die Bedeutung von Wörtern durch ihren Gebrauch in der Sprache bestimmt ist.98 Das gilt natürlich auch für Wörter, die wir als Prinzipien verstehen. Sowohl Wittgenstein als auch Quine begründen ihre Zweifel an der Möglichkeit synonymer Bedeutungen primär anhand der scheiternden Anwendung der analytischen Standards der Synonymie.99 Die Auffassung Wittgensteins, dass die Bedeutung von Wörtern durch ihren Gebrauch bestimmt ist, macht verständlich, wie sich diese Bedeutungen durch den konkreten Gebrauch verändern. Wir können diese Veränderung als eine ›Relativierung durch Konkretisierung‹ verstehen. ›Relativ‹ bezieht sich auf die Zusammenhänge, in denen Begriffe wie ›Menschenwürde‹ gebraucht werden, also auch auf Zusammenhänge in der Rechtspraxis oder in der Ethik. Wenn wir Wittgensteins Überzeugung, dass Begriffe ihre Bedeutung immer in einem Zusammenhang haben, in dem sie gebraucht werden, folgen, stehen wir aber vor einem neuen Problem. Denn es liegt nicht auf der Hand, was dies bedeutet. Wenn die Praxis des Sprachgebrauchs die Bedeutungen der Wörter und Sätze bestimmt, haben wir nichts Festes, keine festgelegten Strukturen etwa in Gestalt einer Grammatik oder eines Regelsystems in der Hand, weil sich die Praxis selbst nicht durch Definitionen festlegen lässt.100 Aus diesem Grund können wir uns nicht mit einem wohldefinierten Bedeutungssystem, das eine Theorie der Gebrauchsbedeutung versprechen würde, gegen naheliegende Einwände wehren. Es gibt keine Theorie der Praxis des Regelfolgens, obwohl es viele Versuche gibt, eine solche Theorie zu entwickeln.101 Weil es keine Theorie dieser Art gibt, kann die Gebrauchsbedeutung von Prinzipien die Identität ihrer Bedeutungen theoretisch nicht sichern.

92 | Was gilt?  

1.11 Ob Prinzipien offene Bedeutungen haben

Wenn es keine Kriterien der Identität der Bedeutung von Begriffen gibt, fehlen solche Kriterien auch für Prinzipien. Sie existieren in doppelter Hinsicht, nicht-reflexiv und reflexiv, ohne dass die Differenz zwischen beidem durch ein Kriterium der Identität überbrückt werden könnte. Wir haben einen Nachweis der Identität von Begriffen gesucht, weil wir meistens nicht wie im Fall des Widerspruchsprinzips das Nicht-Reflexive symbolisch repräsentieren und formal, im Sinn eines Vorbegriffs, identifizieren können. Damit überbrücken wir die Differenz nicht, weil wir das Nicht-Reflexive immer nur reflexiv in einer bestimmten Version des Prinzips verstehen und beschreiben können. Der ontologische oder der aussagenlogische oder der moralische Gebrauch des Prinzips entscheiden darüber, in welcher Bedeutung wir das Prinzip verstehen. Wir können es nicht gleichzeitig in allen drei Bedeutungen verstehen, und es gibt nicht nur einen einzigen Gebrauch; deswegen gibt es auch nicht die eine grundlegende Bedeutung des Prinzips. Da die Lücke zwischen dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven bestehen bleibt, ist die Bedeutung des Prinzips offen für das eine oder andere Verständnis. Diese Offenheit bleibt im Fall des Widerspruchsprinzips abstrakt. Sie interessiert uns nur, wenn wir unsicher sind und uns fragen, was dieses Prinzip genau bedeutet. Wenn es um das Gute geht, hat die Offenheit der Bedeutung die praktische Folge, dass wir mit dem, was nicht schlecht ist, leben müssen oder uns mit den anderen über das, was sie und wir für gut halten, streiten. Wenn es um Prinzipien wie die Menschenwürde geht, wollen wir die Offenheit nicht akzeptieren und suchen nach einer möglichst genauen Bedeutung. Wir misstrauen dem Gebrauch eines solchen Prinzips, wenn es keine bestimmte Bedeutung hat, die ähnlich wie der Träger eines Eigennamens klar identifizierbar ist. Die Bezeichnungen von abstrakten Gegenständen wie Prinzipien sind aber keine Eigennamen. Sie beziehen sich nicht auf etwas Raumzeitliches und identifizieren keinen bestimmten Bedeutungsträger. Daher haben diese Bezeichnungen keine festgelegte Bedeutung; es sind lediglich Vorbegriffe, semantische Indikatoren von etwas. Was gilt? | 93

Dies hat weitreichende Folgen für das, was gilt und gelten kann. Da es für Prinzipien und andere Begriffe keine Kriterien der Identität ihrer Bedeutungen gibt, bleibt uns nur die Gebrauchsbedeutung zu ihrer Identifikation. Dann hat jedes dieser Prinzipien genau die Bedeutung, in der es jeweils gebraucht wird. Dann gilt auch jedes Prinzip nur in einer dieser Bedeutungen. Wir sind davon ausgegangen, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Der Zusammenhang, den die Gebrauchsbedeutung eines Prinzips herstellt, ist der zwischen der nicht-reflexiven Existenz des Prinzips, das nur seiner Bezeichnung nach und als Vorbegriff bekannt ist, und der reflexiven Bedeutung, in der es in der Praxis tatsächlich gebraucht wird. Es ist der Zusammenhang zwischen dem Dass und dem Was des Prinzips. Eine Ursache der abstrakt formulierten Offenheit der Bedeutung ist der Unterschied zwischen Genese und Geltung. Diese Differenz zeigt sich semantisch als Offenheit oder Unbestimmtheit. Es ist kaum zu bestreiten, dass die Geltung von Prinzipien eine Genese hat. Wir nehmen irrtümlich an, dass jede Genese irgendwann ein Ende hat, müssen uns aber mit dem Gedanken vertraut machen, dass dies nicht so ist und der Unterschied zwischen Genese und Geltung in jeder Gebrauchsbedeutung erhalten bleibt. Die Genese geht in einer Geltung nicht vollständig auf, so als wäre sie auf eine bestimmte Geltung ausgerichtet. In der Gebrauchsbedeutung eines Prinzips findet zwar eine Fusion von Genese und Geltung statt. Sie ist aber immer nur vorläufig. Der aktuelle Gebrauch eines Prinzips hat in der Praxis die Bedeutung, die gilt. Die Bedeutung eines Prinzips wie die Menschenwürde wird in der Rechtspraxis des Verfassungsgerichts festgelegt. In der Rechtspraxis gilt die Gebrauchsbedeutung dieses Prinzips. Seine Bedeutung hat jenseits dieser Praxis keinen identisch bleibenden Bedeutungskern. Es fällt uns schwer, dies zu akzeptieren, weil es so scheint, als ob die Gebrauchsbedeutung ein Prinzip wie die Menschenwürde beliebig verändert. Dies ist nicht so, weil es für die Gebrauchsbedeutung, die gilt, Gründe geben muss. Es kommt darauf an, welche Gründe gelten sollen. Diejenigen, welche die Gebrauchsbedeutung eines Prinzips festlegen, müssen sich darauf einigen, welche Gründe gelten sollen. Da sie sich dabei auf keinen feststehenden Bedeutungskern beziehen können, kommt es darauf 94 | Was gilt?  

an, von welcher Bedeutung des Prinzips sie wollen, dass sie gilt. Auch dafür muss es Gründe geben. Der Wille derer, die festlegen, welche Gründe für welche Bedeutung eines Prinzips gelten, wird uns noch beschäftigen. Wir haben noch zu klären, wie die eben erwähnte Offenheit der Bedeutung bei Prinzipien zu verstehen ist und wie sie aufgehoben werden kann. Die Offenheit der Bedeutung können wir von zwei Seiten aus beurteilen, vom Dass oder vom Was des Existierenden her. Wir konnten die Lücke bereits bei der Existenz des Guten erkennen. Das ›Gute‹ ist ähnlich wie das ›Widerspruchsprinzip‹ oder die ›Menschenwürde‹ die Bezeichnung eines abstrakten Gegenstands. Von diesem Gegenstand wissen wir nur, dass er existiert, aber nicht genau, was er ist oder bedeutet. Dies ist die eine Seite der Offenheit. Die andere Seite haben wir kennen gelernt, als wir – mit Kripke – die Existenz von fiktionalen Personen annahmen. Über solche Personen erfahren wir etwas aus den literarischen Texten, in denen es sie gibt. Deswegen können wir Hamlet oder Sherlock H ­ olmes beschreiben und ihnen eine Identität geben. Mit diesen identifizierenden Beschreibungen sprechen wir über die prätendierte Existenz dieser Personen. Wir schließen vom Was dieser Personenbeschreibungen auf das Dass der Existenz dieser Personen, also von Bekanntem auf Unbekanntes, wenn man so will. Damit heben wir die Differenz zwischen dem Dass und dem Was der Existenz auf, und die Offenheit verschwindet. Wir müssen uns hier nicht weiter fragen, ob sich Literaturwissenschaftler in den Beschreibungen fiktionaler Personen oder in der Frage ihrer Existenz einig sein müssen. Im Fall abstrakter Gegenstände können wir die Offenheit der Bedeutung nicht wie bei Hamlet oder Sherlock Holmes aufheben. Wir können nicht vom Was auf das Dass schließen, weil wir das Was nicht genau kennen, sondern nur einen Vorbegriff davon haben. Um die Offenheit aufzuheben, müssten wir umgekehrt vom Dass auf das Was der Existenz dieser Gegenstände schließen. Dies wäre ebenfalls ein Schluss von Bekanntem auf Unbekanntes. Da das Was der Existenz aber nicht im Dass eingeschlossen ist, können wir diesen Weg nicht gehen. Die Annahme der prätendierten Existenz fiktionaler Personen, die Kripke anstellt, wird in den Personenbeschreibungen und deren erzählbaren Geschichten vorausWas gilt? | 95

gesetzt. Bei abstrakten Gegenständen können wir diese Voraussetzung nicht machen. Die Offenheit der Bedeutung, die wir von der Beschreibung fiktionaler Personen her kennen, ist aber im Hinblick auf die Existenzannahme derjenigen der Gebrauchsbedeutung eines Prinzips analog. Die Offenheit der Bedeutung wird durch die Gebrauchs­ bedeutung vorläufig geschlossen. Wir können vom Was dieser Bedeutung auf das Dass der Existenz des Prinzips schließen. Ähnlich wie wir in literarischen Texten deren Personen kennen, begegnen wir den Prinzipien in wissenschaftlichen Texten. Prinzipien, die wie die Menschenwürde eine praktische Bedeutung für das Leben der Menschen haben, kennen wir aus Gesetzestexten und Kommentaren zu diesen Texten und zur Rechtspraxis. Sie geben Auskunft über die Gebrauchsbedeutung solcher Prinzipien. Niemand würde an ihrer Existenz zweifeln, obwohl wir nur deren Gebrauchsbedeutung kennen. Die Offenheit der Bedeutung fällt nicht auf, weil sie von der Gebrauchsbedeutung vorläufig geschlossen wird. Sie bleibt aber im Hintergrund bestehen und zeigt sich wieder, wenn es darum geht, ob ein Prinzip eine Grundbedeutung oder einen Bedeutungskern hat und ob es dafür ein Identitätskriterium gibt. Es geht um den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Unsere These ist, dass das, was gilt, diesen Zusammenhang herstellt und dass es dafür Gründe geben muss. Wir haben bereits gesehen, dass wir den Zusammenhang von dem her erkennen, was gilt, und nicht von dem her, was es vorher gibt. Wir verkehren reflexiv das Vorher und Nachher. Wenn das, was gilt, die Gebrauchsbedeutung eines Prinzips ist und darin die Genese an einem bestimmten Punkt zur Geltung wird, können wir das, was ist und was sein soll, rekonstruieren. Wir rekonstruieren dabei die Offenheit der Bedeutung, bevor sie geschlossen wurde, also die Genese eines Prinzips, bevor es galt. Bevor diese Lücke geschlossen wurde, existieren die Bezeichnungen von Prinzipien, die Vorbegriffe und Vorgeschichten ihrer Geltung. Wenn es um Prinzipien wie die Menschenrechte geht, können wir ihre Genese in der Religions- und Ideengeschichte und in den Epochen der Politischen Geschichte rekonstruieren.102 Wir können erkennen, wie sehr und wie lange diese Rechte verletzt wurden und wie sich der Wille durchsetzte, sie in der Deklaration der Men96 | Was gilt?  

schenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg verbindlich zu machen. Die Historiographie beschreibt die Epochen des Unrechts in der Gegenwart aus der Perspektive dessen, was heute gilt. Aus dieser Perspektive erkennen wir die historischen Tatsachen als ›Geschichte der Menschenrechte‹. Die Menschenrechte stehen für das, was sein soll. Ihre Geltung verbindet ihre Genese mit ihrer heutigen Bedeutung. Die Offenheit der Bedeutung wird durch die heute geltende Bedeutung vorläufig geschlossen. Im Lichte gegenwärtiger Entwicklungen können die offenen Bedeutungen der Prinzipien und der vorläufige Charakter ihrer Gebrauchsbedeutungen erkennbar werden. Dann geht es darum, die Gründe zu prüfen, die ausschlaggebend für ihre Geltung waren. Diese Gründe waren in einer bestimmten Zeit gut und akzeptabel, haben im Licht der Gegenwart aber vielleicht einen Teil ihrer Kraft verloren. Dann geht es darum, Gründe für ihre gegenwärtige Geltung zu finden und sie durchzusetzen. Prinzipien und Normen sind als Beispiele für den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, gut geeignet. In der Praxis einer Gesellschaft gibt es aber vieles, was gilt, ohne ein Prinzip und nur im übertragenen Sinn eine Norm zu sein. Vieles davon dient dem Bedürfnis nach bleibend Gutem bei mangelndem Wissen über das, was gut ist. Wir können diesen Mangel mit unserer Kenntnis dessen, was nicht schlecht ist, ausgleichen. Dies kann dann auch vorläufig gelten. Dazu gehören Maße und Gewichte oder Konventionen wie das Rechts- oder Linksfahren. Ein Modell alles dessen, was gilt, ist das Recht. Dessen Geltung können wir am Beispiel von Normen verstehen. Die Geltung vieler Gesetze schützt uns vor Schlechtem, das aus mangelndem Wissen oder aus schlechtem Wünschen und Wollen entstehen kann. In dieser Hinsicht gleichen sich die Geltung des Rechts und der Moral. Auch die Geltung moralischer Standards kann uns vor Schlechtem schützen.103 In den meisten der moralischen Fälle entsteht das Schlechte aber nicht aus mangelndem Wissen, sondern aus schlechten Absichten gepaart mit hinreichend gutem Wissen über die schlechten Folgen des Handelns. Die Geltung rechtlicher Standards ist aber, wie wir noch sehen, von anderer Art als die Geltung moralischer Standards, auch wenn Recht und Moral miteinander verbunden sind. Was gilt? | 97

Der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, ist in allem, was gilt, erkennbar. Eine offene Bedeutung können wir aber nur entdecken, wenn wir zwischen Genese und Geltung unterscheiden können und es eine Gebrauchsbedeutung dessen, was gilt, gibt. Bei Maßen und Gewichten ist diese Unterscheidung möglich, aber unerheblich. Anders ist es bei Wetten. Wenn der Verlierer die Geltung einer Wette bestreitet, kann er in deren Genese nach Gründen suchen oder er hat ›Wette‹ anders als der Buchmacher verstanden. Die eben erörterte Offenheit der Bedeutung bei abstrakten Gegenständen müsste uns nicht weiter kümmern, wenn sie nichts mit lebenswichtigen Ansprüchen zu tun hätte. Wenn wir wissen wollen, was das Gute, die Menschenwürde, die Gerechtigkeit und andere Prinzipien bedeuten, geht es um solche Ansprüche. Wenn wir die Bedeutung dieser Prinzipien nicht genau kennen, wissen wir auch nicht genau, welche Ansprüche mit ihnen verbunden sind. Die Unklarheit der Ansprüche kann dazu führen, dass wir sie nicht ernst nehmen oder ihre Existenz bezweifeln. Dann glauben wir auch nicht, dass die Ansprüche gelten. Überlegungen zum Guten standen am Anfang, weil das Bedürfnis nach dem Guten ein ontologischen Bedürfnis ist; es ist Teil unserer Natur. Für Zweifel an der Existenz dieses Bedürfnisses benötigen wir keine offenen Bedeutungen. Es genügt der Blick auf den biologischen und physischen Verfall des Lebens und die Zerstörung der natürlichen Umwelt und der Veränderungen der Lebenswelt.104 Das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem erscheint im Zeitalter der sich immer stärker radikalisierenden Moderne naiv und irreal. Wenn wir nicht auch jetzt wissen könnten, dass es das Gute gibt, wäre dem nichts hinzuzufügen. Gleichwohl wissen wir nicht, was das Gute ist. Auch Platon kann uns dies in den meisten seiner Schriften nicht sagen, obwohl er – und sein Lehrer Sokrates – über kaum etwas anderes nachdenken.105 Erst in den Nomoi beschreibt er das Gute nicht mehr gleichnishaft, sondern konkret wie eine menschliche Naturanlage als »Kraft des gemeinsamen Werdens«.106 Das Bedürfnis zu wissen, was bleibend gut ist, hängt übrigens nicht von individuellen Einstellungen und Neigungen ab. Konservative und Revolutionäre, Agnostiker, Zweifler und Gläubige, Be98 | Was gilt?  

wahrer und Reformer haben dieses Bedürfnis. Die einen wollen das einmal Gewonnene retten, weil sie es für gut befinden, die anderen glauben, dass das Bisherige dauerhaft beseitigt, zumindest aber so verändert werden muss, dass es endlich gut wird. Etwas bleibend Gutes suchen auch der Reisende in der Ferne und der Nesthocker in der Nähe, ohne es vielleicht jemals dort, wo sie suchen, zu finden.107 Eine Phänomenologie unserer Lebenswelt würde uns auf ernüchternde Weise darüber belehren, dass es über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, trotz geltender Gesetze keine Einigkeit gibt. Wir mögen uns zwar einig darüber sein, dass sie gelten, aber nicht über das, was gelten sollte. Ähnlich uneinig sind wir in der Frage, was existiert, was es überhaupt gibt und nicht gibt und ob wir sinnvoll von der ›Existenz von Prinzipien‹ sprechen können. Wie wir sahen, ist schon das ontologische Bedürfnis nach dauerhaft Gutem zwiespältig. Es ist auch launisch und wechselhaft, weil seine Erfüllung von den Umständen, in denen wir leben, und dem, was wir aus diesen Umständen machen, abhängt. Eine Phänomenologie unserer Lebenswelt würde auch zeigen, dass wir des einmal gewonnenen Guten leicht überdrüssig werden. Wir wollen dann etwas Neues und Anderes, von dem wir aber immer noch erwarten, dass es dauerhaft gut sein wird. Wir erwarten – utopisch – eine bessere Gegenwart in einer Zukunft, die wir gar nicht haben. Diese Erwartung ist nicht der einzige Grund für die hemmungslose Ausbeutung des Planeten Erde. Die Sucht nach dem Besseren setzt den Überdruss am bisherigen Guten voraus. So widersinnig es erscheinen mag, es gibt trotz dieser gegensätzlichen Einstellungen und Launen einen gemeinsamen Nenner für die Zufriedenen und die Unzufriedenen, für die Gefährder, Zerstörer und für die Bewahrer der Umwelt, nämlich die Hoffnung, dass wir Menschen irgendwann in guten, gerechten und menschenwürdigen Verhältnissen leben können. Ob mit dem ›wir‹108 alle Menschen gemeint sind, bleibt nicht nur offen, sondern ist zweifelhaft. Wir nehmen an, dass sich die Hoffnung auf ein gutes, menschenwürdiges Leben nur erfüllen kann, wenn wir über die biologischen, natürlichen Bedingungen unseres gemeinsamen Lebens hinaus gute und gerechte Lebensbedingungen schaffen. Wie können sie aber gut und gerecht sein, wenn sie nicht für alle Menschen Was gilt? | 99

und überall auf der Welt gelten, und ist dies überhaupt möglich? Die Forderung nach einer allgemeinen Geltung solcher Lebensbedingungen, so utopisch sie sein mag, ist unverzichtbar, wenn wir das Bedürfnis nach Gewissheit und Sicherheit, nach dauerhaft guten und verlässlichen Lebensbedingungen nicht auch für uns selbst preisgeben wollen. Eine Phänomenologie unserer Lebenswelt würde auch zeigen, dass das Bedürfnis nach einem guten, menschenwürdigen Leben in dem Maße zunimmt, in dem wir fürchten, dass sich unser Leben in gefahrvoller Weise verändert und Ungewissheit und Unsicherheit zunehmen. Wir wollen uns auf das, was gilt, auch bei eingeschränktem Wissen verlassen können. Die anfänglichen Zwei­fel hindern uns daran nicht, weil die Unzuverlässigkeit und der Mangel an Wissen das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem nicht verhindern und nicht unmöglich machen. Es ist uns aber auch klar, dass wir uns von unserem Bedürfnis nach Gewissheit leicht trügen lassen können, weil wir unabhängig von der Gewissheit des Wissens ein Gefühl der Gewissheit haben. Unsere Erfahrung lehrt uns, dass dieses Gefühl der Gewissheit häufig umgekehrt proportional zu dem ist, was wir tatsächlich wissen. Je weniger wir wissen, desto sicherer – oder auch unsicherer – fühlen wir uns, bis wir dann von dem überrascht werden, was wir hätten wissen können oder sollen. Jeder Einzelne hat auf seine Weise ein Bedürfnis nach dauerhaft Gutem und Verlässlichem, sei es nach Liebe, nach einem guten Leben mit anderen, nach Gerechtigkeit, Freiheit, Erfüllung, Glück, Gesundheit, Arbeit, Erfolg und Anerkennung durch die Anderen, nach sauberem Wasser, gesunder Nahrung und guter Luft. Wie stark diese Bedürfnisse sind und wie sehr sie miteinander zusammenhängen, fällt uns oft erst dann auf, wenn sie enttäuscht werden oder unerfüllbar geworden sind. Niemand wird bezweifeln, dass das Bedürfnis nach einem guten, gesicherten Leben von Bedingungen abhängt, die ihrerseits gelten und dauerhaft und verlässlich sein müssen. Anders kann ein gutes Leben nicht gelingen, geschweige denn gesichert werden. Diese Bedingungen sind ihren Bezeichnungen nach bekannt. Wir haben Vorbegriffe davon und ahnen, was sie bedeuten. Die eben angebotenen skizzenhaften Überlegungen zu dem, was eine Phänomenologie unserer Lebenswelt zeigen könnte, sind 100 | Was gilt?  

Vermutungen, die wir hier nicht bestätigen können. Wir müssen sie auch nicht bestätigen, weil sie auch dann, wenn sie bestritten würden, eine Vorstellung davon vermitteln können, dass der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, nicht nur einer sein kann. Es sind ebenso viele Zusammenhänge, wie es Bereiche unserer Lebenswelt gibt in Politik, Recht, Moral, Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft, Kultur und Religion. In jedem dieser Bereiche werden Zusammenhänge zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, hergestellt. Oft geht es darum, mit dem, was gilt, Schlechtes zu verhindern und Schaden abzuwenden, um ein gutes Leben zu ermöglichen. Nichts liegt deswegen näher, als von der Moral, dem Recht, der Politik, den Naturwissenschaften, der Wirtschaft und den Religionen zu erwarten, dass sie zur dauerhaften Sicherung der Bedingungen eines guten Lebens beitragen. Die rechtsstaatlich organisierte Demokratie stellt ebenso wie unsere Verfassung einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Nichts anderes tun rechtliche und moralische Standards wie die Freiheitsrechte und die Standards, die im Gesundheitswesen, in den Wissenschaften und in der Wirtschaft, in Handwerk und Industrie, im Schutz der Umwelt und in den Bereichen der Technologie gelten. Wenn wir darüber nachdenken, was diese Standards bedeuten, fällt uns die Offenheit der Bedeutung zwischen ihrer Existenz und dem, was sie bedeuten, auf. Die meisten Kapitel dieser Untersuchung stellen eine Frage, die wir entweder bejahen oder verneinen. Die Gründe dafür sind nicht unstrittig. Der Gebrauch von Begriffen wie ›Geltung‹ und ›Genese‹ weicht z. B. von der neukantianischen Tradition dieser Begriffe ab.109 Begriffe wie die ›Nicht-Reflexivität‹ finden wir nicht wörtlich, aber in analoger Bedeutung bei früheren Autoren. Die meisten geltungstheoretischen Ansätze vor allem in der Rechtsphilosophie kommen nicht nur ohne ontologische Annahmen aus, sondern bestreiten sie. Dies hat Folgen für Begriffe wie ›Tatsachen‹, ›Werte‹ und ›Normen‹. Es war viel von ›Wissen‹ und ›mangelndem Wissen‹ die Rede. Mit dem, was wir wissen, stellen wir einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Von einer Offenheit der Bedeutung bei abstrakten Gegenständen ist in der geltungstheoretischen Literatur nicht die Rede, und der Wille spielt in dieser Literatur eine untergeordnete oder keine Rolle. Was gilt? | 101

Wir konzentrieren uns nun auf die Frage, ob eine Geltungstheo­ rie ontologische Annahmen benötigt. Kants Geltungstheorie will sowohl in seiner Erkenntnistheorie als auch in seiner Ethik und Rechtsphilosophie ohne solche Annahmen auskommen. Dasselbe trifft auf diejenigen zu, die sich in der Ethik auf ihn beziehen. Hans Kelsen und mit ihm viele Rechtstheoretiker bestreiten die Abhängigkeit geltungstheoretischer Ansprüche von ontologischen Annahmen und vertreten einen Dualismus von Sein und Sollen. Der Prüfung dieser Ansätze dienen die folgenden Teile der Untersuchung. Im letzten Teil geht es darum, wie die offene Bedeutung von Prinzipien wie der Menschenwürde so geschlossen werden kann, dass sie in einer bestimmten Bedeutung gelten. Es geht dann auch um die Bedeutung, die der Wille für das, was gilt, hat.

102 | Was gilt?  

2. O  B DIE G ELT UN G VON E T WAS … O NTO LO G ISC HE VO R AUS SE T ZUN G EN HAT

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ie Überzeugung, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt, hängt davon ab, ob es dafür nicht-reflexive Voraussetzungen gibt. ›Nichtreflexiv‹ nennen wir ontologische Voraussetzungen, die selbst nur reflexiv mit Hilfe von Begriffen erfasst werden können. Begrifflich haben wir keinen direkten, sondern nur einen indirekten, reflexiven Zugang zu dem, was nicht-reflexiv ist. Einen direkten Zugang zu dem, was ist, haben wir durch unsere Sinne. Dieser Zugang ist zwar, wie uns die Naturwissenschaften lehren, sehr grob und eingeschränkt, aber kaum zu bestreiten. Er ist subjektiver Natur und gilt deswegen als notorisch unzuverlässig und als erkenntnistheoretisch unzureichend. Diejenigen, die sich wie David Hume auf diesen Zugang theoretisch stützen, argumentieren mit skeptischem Vorbehalt. Geltungstheoretisch ist dieser Vorbehalt enttäuschend. Auf der Grundlage skeptischer Annahmen ist eine Geltungstheorie zwar nicht unmöglich, aber nur um den Preis von Illusions- und Irrtumstheorien, wie sie in der Ethik und in der Philosophie des Geistes im Anschluss an Hume vertreten werden. Es ist naheliegend, den Anspruch einer Geltungstheorie von skeptischen Einwänden unabhängig zu machen. Da nicht-reflexive, ontologische Voraussetzungen skeptische Einwände erlauben, liegt es nahe, ›Geltung‹ wenigstens theoretisch unabhängig von diesen Voraussetzungen zu machen. Kant und Frege haben dies versucht. Wenn ihre Geltungstheorien erfolgreich sind, ist der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, für das, was gilt, nicht grundlegend. Es ist dann denkbar, dass es theoretische Grundlagen der Geltung gibt, die weder einen Bezug zu dem, was ist, noch einen Bezug zu dem, was sein soll, haben. Der Zusammenhang, den wir von Versprechen und Verkehrsregeln her kennen, würde zwar nicht in Frage gestellt, wäre aber nur von begrenzter Bedeutung für das, was ›Geltung‹ bedeutet.  103

2.1 Ob Kants Geltungstheorie erfolgreich ist

Die erste Geltungstheorie entwirft Kant, angeregt durch Hume, aber vom Interesse geleitet, dessen Skepsis zu überwinden. Kant hält die subjektiven Sinneseindrücke, die Hume zur Grundlage des Wissens macht, für unzuverlässig und glaubt, dass Wissen nur mit Hilfe von Begriffen möglich ist, die eine apriorische, von Erfahrung unabhängige Grundlage haben. Er stützt sich allein auf das reflexive und von Erfahrung freie Potential dieser Begriffe. Er gibt ihnen eine bis dahin nicht bekannte deduktive Grundlegung. Das Nicht-Reflexive, das in Gestalt von Wahrnehmungen, die für nichts anderes als sich selbst stehen, Humes Ausgangspunkt ist, soll damit reflexiv durch geltende Begriffe ersetzt werden. Damit soll dann – nachträglich – der objektive Gehalt der Wahrnehmungen als Erfahrungen begründet werden. Wenn dies gelingt, ist eine Geltungstheorie ohne Ontologie möglich, die allerdings ontologische Folgen hat. Dann gilt ein Urteil unabhängig vom Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Das Urteil gilt dann allein aufgrund bestimmter Begriffe, deren Geltung ihrerseits nachzuweisen ist. Ohne Ontologie kann sich ein Urteil zwar nicht auf das, was ist, beziehen, aber auf das, was aus rein begrifflichen Gründen möglich ist und nicht anders sein kann. Die Begriffe normieren die Erkenntnisurteile und machen den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, erst möglich. Die Erkenntnisbegriffe sind die theoretischen Gründe für das, was real erkannt werden kann. Der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, hat in diesen Begriffen selbst eine Grundlage. Kant will mit seiner Geltungstheorie den Erfahrungsurteilen eine erfahrungsfreie, apriorische Grundlage geben. Eine rein reflexive apriorische Geltung darf, davon ist er überzeugt, keine nichtreflexiven Voraussetzungen haben. Sie darf damit auch nicht von der Existenz eines urteilenden Subjekts abhängig sein. Die Frage ist, ob Kants Geltungstheorie ohne nicht-reflexive Voraussetzungen auskommt und tatsächlich begründet ist. Wenn dies gelingt, liefert Kants transzendentale Geltungstheorie die einzig denkbare Grundlage für den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. 104 | Ob die Geltung von etwas … 

Für seine Geltungstheorie entwickelt Kant ein radikales, kompromissloses, rationales Begründungsprogramm. Es soll nur das als Erkenntnis gelten, was kritisch begründet werden kann. Es geht Kant um die Grundlegung einer Metaphysik als Wissenschaft. Deswegen geht es ihm zunächst nicht um reales Wissen, sondern um die Bedingungen möglicher Erkenntnisse. Dabei geht es auch um einen Zusammenhang, nämlich den zwischen dem, was der Möglichkeit nach ist, und dem, was aufgrund apriorischer Begriffe so sein soll, weil es nicht anders sein kann. Kant simuliert den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, rein modal, der Möglichkeit nach. Die Normativität der Begriffe soll die alleinige Grundlage dafür sein, dass die Urteile der Subjekte objektiv gelten können. Es geht um die Geltung der begrifflichen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung der Natur, also um die Möglichkeit alles dessen, was es wirklich gibt. Damit geht es um das, was es gibt, aus modaler Distanz. Die Gesetze der Natur sollen auf den Grund­ lagen a priori geltender Begriffe gelten. Diese Gesetze repräsentieren in besonderer, nicht mehr nur modal distanzierter Weise den Zusammenhang zwischen dem, was tatsächlich ist, und dem, was gesetzmäßig sein soll. Deswegen muss es einen Übergang von den modal geltenden Begriffen zu den real geltenden Gesetzen geben. Die Gesetze der Natur sind für unsere Urteile über das, was es tatsächlich gibt, verbindlich, unabhängig davon, was wir wissen. Nur eine gesetzlich geordnete Erkenntnis der Natur kann gelten. Die Bedingungen der Möglichkeiten dafür sollen die a priori geltenden Erkenntnisbegriffe sein. Kants Geltungstheorie ist die transzendentale Deduktion. Er glaubt, dass es viele Fragen der Geltung gibt, dass aber nur eine einzige für alle entscheidend ist.110 Es ist die Frage nach der Geltung des grundlegenden begrifflichen Instrumentariums der Erkenntnis und der Bildung von gesetzmäßigem Wissen. Wenn dessen Geltung nachgewiesen ist, so glaubt er, haben auch alle möglichen anderen kognitiven menschlichen Leistungen, die sich auf dieses Instrumentarium stützen, einen gesicherten Anspruch darauf zu gelten.111 Wie wir bereits sahen, ist Kant davon überzeugt, dass ontologische Urteile nichts zur begrifflichen Erkenntnis beitragen.112 Die Geltung des Wissens muss sich allein auf die begriffliche Qualität ontologische Voraussetzungen hat | 105

der Urteile verlassen können. Kant ist überzeugt, dass eine Kritik des Denk- und Urteilsvermögens darüber entscheidet, ob die Geltung des Wissens nachgewiesen werden kann. Seine »Hauptfrage« ist, »was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen«.113 In der zweiten Auflage der Kritik ist zwar nicht mehr von einer ›Hauptfrage‹ die Rede, das Ziel bleibt aber dasselbe. Kant schärft seine Zielsetzung nun methodisch, indem er von der »Deduction unseres Vermögens a priori zu erkennen«114 spricht. Die Geltung des grundlegenden begrifflichen Instrumentariums, mit dem wir a priori erkennen können, soll unabweisbar nachgewiesen und in diesem Sinn »deduziert« werden. Bevor wir dem Nachweis folgen, sollten wir uns darüber klar werden, welche Begriffe dem Instrumentarium überhaupt zuzurechnen sind, dessen Geltung Kant nachweisen will. Es gibt viele Begriffe, mit deren Hilfe wir erkennen können, und viele davon bilden wir beim Erwerb unserer Sprache nach und nach aus. Dazu zählen alle Begriffe, mit denen wir die Farbe, Größe, das Gewicht und die Beschaffenheit von Gegenständen bezeichnen. Einige dieser Begriffe werden in der Tradition vor Kant, etwa von Locke, als primäre und sekundäre Qualitäten bezeichnet.115 Kant schließt sich diesem Begriffsverständnis nicht an, weil Begriffe nach seiner Auffassung reflexiver Natur und allein dem urteilenden Subjekt zuzurechnen sind, nicht aber den nicht-reflexiv auffindbaren Gegenständen. Damit fallen viele Begriffe nicht unter das, was Kant unter ›Begriffen‹ versteht, etwa primäre Qualitäten wie die Glätte oder die Rauheit von Flächen. Kant prüft die Einschränkung seines Begriffsgebrauchs nicht im Einzelnen. Er will grundsätzlich die im Spracherwerb erlernten Begriffe nicht als diejenigen Begriffe akzeptieren, deren apriorische Geltung nachzuweisen ist. Er sortiert aus der Vielfalt aller möglichen Begriffe diejenigen aus, die eine besondere Funktion in unseren Urteilen über das, was wir wissen können, erfüllen. Es sind die Kategorien der Erkenntnis, die unabhängig von der Erfahrung sind, aber immer angewandt werden, wenn wir etwas wahrnehmen und dann beurteilen.116 Nur sie nennt er ›Begriffe des Verstandes‹, und nur sie sind – wie er meint – a priori, frei von Erfahrung. Kant trifft also schon beim Aussortieren der Begriffe, die als Kate­gorien dienen und deren Geltung nachgewiesen werden soll, 106 | Ob die Geltung von etwas … 

weitreichende Entscheidungen. In seinem dreiteiligen »Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe«117 trennt er die Anschauungen von den Begriffen. Erstere seien sinnlich und beruhten auf Affektionen; wir können ›Glätte‹ und ›Rauheit‹ dazu rechnen. Letztere seien Funktionen, die beim Urteilen Einheit stiften, indem sie die zueinander passenden Vorstellungen ordnen und jeweils in ein Urteil zusammenführen. Die Urteile – Kant nennt sie »Handlungen des Verstandes«  – sind es, die den Unterschied zwischen beliebigen Begriffen und solchen ausmachen, die im engeren Sinn Funktionen des Verstandes sind. Nur deren Geltung soll nachgewiesen werden. Es wäre ein Missverständnis zu meinen, dass das, was an Vorstellungen geordnet und im Urteil zu einer Einheit zusammengeführt wird, einen unmittelbaren Bezug zu dem, was ist, hätte. Vorstellungen beziehen sich in Kants Propädeutik der Erkenntnisbegriffe nicht unmittelbar auf das, was ist, sondern auf die Anschauungen von Dingen und damit natürlich auch auf diejenigen Begriffe von Dingen, die wir beim Spracherwerb erlernt haben und die als die Qualitäten der Dinge selbst oder ihrer subjektiven Wahrnehmung verstanden werden können, also auch auf die Glätte und Rauheit von Flächen. Wir müssen uns diese nicht auf der Hand liegenden begrifflichen Vorkehrungen Kants im Einzelnen vor Augen führen, um zu verstehen, wie er zu seinen Kategorien und schließlich zu deren Geltungsnachweis kommt. Greifen wir ein Beispiel auf, das Kant selbst vorschlägt, um uns klar zu machen, was beim Urteilen seines Erachtens geschieht. Sein Beispiel ist das Urteil »Alle Körper sind theilbar«118 . In diesem Urteil verwenden wir den Begriff der ›Teilbarkeit‹, der auf alles Mögliche angewandt werden kann, u.a. eben auch auf Körper. Der Begriff ›Körper‹ kann auch auf alles Mögliche angewandt werden, bezieht sich dabei aber immer auf Dinge, auf Gegenstände, die uns erscheinen, die wir sinnlich wahrnehmen. Was wir sinnlich wahrnehmen ist – wie Kant meint – zunächst ungeordnet und bedarf einer Ordnung, die durch das Urteilen hergestellt wird. Der Begriff ›Körper‹ ordnet sinnliche Wahrnehmungen und fügt sie zu einem Ganzen zusammen, von dem dann gesagt werden kann, dass es teilbar ist. Bevor aber ein Urteil diese Aufgabe des Ordnens durch Einheitsstiftung erfüllen kann, müssen wir uns eine Vorstellung von dem ontologische Voraussetzungen hat | 107

machen, was wir wahrgenommen haben. Die Bezeichnung dieser Vorstellung ist in diesem Fall das Wort ›Körper‹. An dieser Stelle müssen wir vorgreifen auf das, was Kant ab dem § 10119 der Kritik erklärt. Wir werden dort mit einer für Kants Deduktion entscheidenden Änderung unserer Art zu denken vertraut gemacht. Sie läuft darauf hinaus, dass wir – im Gegensatz zu dem eben Gesagten – gar nicht zuerst etwas wahrnehmen und uns dann erst eine begriffliche Vorstellung davon machen. Es ist, wie wir mit Kant lernen müssen, genau umgekehrt. Wir verfügen zuerst über die Begriffe, mit denen wir urteilen, und können allein aus diesem Grund Gegenstände wahrnehmen. Die Begriffe normieren die Wahrnehmung. Das ist mit der ›Spontaneität des Denkens‹ gemeint, die Kant für das Denken als grundlegend betrachtet. Das Denken wird nicht, wie die Empiristen meinen, von außen verursacht oder angestoßen wie bei der Wahrnehmung von ›Glätte‹ und ›Rauheit‹. Dass nicht die Begriffe dieser Wahrnehmungen, sondern Kants a priori geltende Erkenntnisbegriffe ›zuerst‹ da sind, ist nicht zeitlich gemeint, sondern begrifflich, logisch, wenn man so will. Die Erkenntnis eines wahrgenommenen Körpers setzt den a priori gedachten Begriff ›Körper‹ voraus. Bei glatten oder rauen Körpern kann dies nicht so sein, weil es a priori keine ›Glätte‹ oder ›Rauheit‹ gibt, aber eine ›Teilbarkeit‹. Bleiben wir daher bei diesem Beispiel, um Kants Überlegungen zu folgen. Weil wir über Begriffe wie ›Körper‹ verfügen, können wir auch annehmen, dass das, was wir wahrnehmen, ein Körper ist. Wir können uns nicht – oder kaum – vorstellen, dass wir etwas wahrnehmen können, was nicht körperlich ist und kein Volumen hat.120 Wenn wir uns einen Körper vorstellen, stellen wir uns dessen Teilbarkeit vor, dazu benötigen wir keine Erfahrung, meint Kant. So kommen wir von Vorstellungen über Vorstellungen schließlich zum Urteil. Das Urteil, dass alle Körper teilbar sind, bezieht sich also erst am Ende dieser Kette von Vorstellungen auf das, was wir – ursprünglich ungeordnet – wahrnehmen, ohne dabei schon erkannt zu haben, was es ist. Die Begriffe der Teilbarkeit und des Körpers beziehen sich also nur mittelbar, indirekt und nicht etwa unmittelbar auf etwas Wahrgenommenes. Erkennen können wir, wenn wir Kant folgen, nur durch Begriffe, durch Vorstellungen von Vorstellungen. Begrifflich gesehen ist vor und unabhängig von 108 | Ob die Geltung von etwas … 

diesen erfahrungsfreien Verknüpfungen von Vorstellungen kein Gegenstand wahrnehmbar. Eine unmittelbare, begrifflich unvermittelte Wahrnehmung von etwas als ›teilbarer Gegenstand‹ ist für Kant ausgeschlossen. Erst wenn etwas als ›Gegenstand‹ wahrgenommen wurde, kann es glatt und rau sein. Ähnlich gegenständlich müsste auch die Wahrnehmung von Klängen, Düften und Geschmack sein. Wir finden nun  – Kants Leitfaden folgend  – die »reinen Verstandesbegriffe« über alle diejenigen Urteile, die nach dem eben beschriebenen Muster Einheit stiften und Erkenntnis ermöglichen. Kant erledigt dies für uns ohne weitere Begründung im zweiten Abschnitt seines Leitfadens, indem er die Urteile einfach vorstellt, nämlich als Urteile der Quantität, der Qualität, der Relation und der Modalität, wobei jedes dieser Urteile noch einmal dreifach gegliedert ist.121 Entscheidend ist, dass Kant aus den Urteilen ohne weitere Begründung die Kategorien ableitet. Wir werden sehen, dass er einen ganz eigenen, für alle seine Argumente entscheidenden Begriff von ›Urteil‹ hat; und dieser Begriff liegt bereits der Ableitung der Kategorien aus den Urteilen zugrunde. Den Grundgedanken der Ableitung der Kategorien aus den Urteilen formuliert er so: »Wir können … alle Handlungen des Verstandes auf Urtheile zurückführen«.122 Wenn man nun – Kant folgend – voraussetzt, dass alle Urteile »Funktionen der Einheit« sind und der Verstand nichts anderes tut, als mit begrifflichen Mitteln Einheit in den Urteilen herzustellen, sind die Weichen Richtung Deduktion der Kategorien gestellt. Es geht dann nämlich nur noch darum, genauer zu sagen, wie die begriffliche Einheit in den Urteilen zustande kommt. Vom bereits erwähnten § 10 der Kritik an geht es um eine ausführliche Vorbereitung der Deduktion. Zunächst werden wir in diesem Paragraphen mit der »Spontaneität« des Denkens vertraut gemacht. Sie äußert sich in einer besonderen Art der Bezugnahme auf die wahrnehmbare Welt. Das Wahrnehmbare muss – wie wir schon sahen – zuallererst geordnet werden, damit dann Erkenntnis möglich ist, und die Herstellung dieser Ordnung nennt Kant »Synthesis«. Sie sei eine »bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Function der Seele«.123 Diese spontane Synthesis, die durch die Einbildungskraft hergeontologische Voraussetzungen hat | 109

stellte Einheit, äußert sich in Gestalt von Urteilen, die der Verstand leistet. Die Geltung dieser Einheit, die durch Begriffe vom Verstand hergestellt wird, soll nun deduziert werden. Was die Einbildungskraft leistet, lässt sich nicht ableiten, also nicht in dem heute geläufigen Sinn von etwas noch Allgemeinerem, axiomatisch Geltendem deduzieren, sondern nur erfassen, auffinden. Jene ›Funktion der Seele‹, wie Kant die Einbildungskraft nennt, gilt im Verfahren der Deduktion unabgeleitet, ist etwas Nicht-Reflexives. Damit ist die Synthesis selbst eine unabgeleitete und auch nicht ableitbare Leistung menschlichen Denkens, auf die Kant in seiner Deduktion stößt. Sie ist der unabgeleitete, nichtrefle­x ive Ausgangspunkt und nicht ein Ergebnis der transzendentalen Deduktion. Dieser Ausgangspunkt ist von der Unklarheit belastet, dass Kant nicht genau sagen kann, was die Einbildungskraft ist und tut. Kant bietet für dieses Problem aber eine Lösung an. Vor dieser Lösung müssen wir aber verstehen, was es bedeutet, dass die Einbildungskraft als unabgeleiteter Ursprung der menschlichen Erkenntnisleistungen ins Spiel kommt. Dies müssen wir verstehen, bevor wir verstehen können, wie Kant den Geltungsnachweis, also die transzendentale Deduktion der Kategorien vorbereitet. Einige Bemerkungen sind an dieser Stelle vonnöten, um ein Missverständnis zu vermeiden. Den eben beschworenen Vorrang der begrifflichen Vorstellungen vor dem wahrnehmbaren Gehalt will Kant nicht so verstanden wissen, als würden die Kategorien die Bedingungen bestimmen, unter denen Gegenstände tatsächlich sinnlich wahrgenommen werden. Würde Kant dies behaupten, wäre er ein unkritischer Idealist und könnte ›Glätte‹ und ›Rauheit‹ oder ›süß‹ und ›sauer‹ begrifflich a priori ableiten. Dann würde er nicht zwischen dem, was man sich alles denken, und dem, was man real erkennen kann, unterscheiden.124 Kant sieht einen klaren modalen und begrifflich wichtigen Unterschied zwischen dem, was faktisch wahrgenommen wird, und dem, was an Wahrnehmungen möglich ist. Um diesen Unterschied zu verstehen, sind zweierlei Bedingungen zu beachten. Es sind zunächst einmal – wie Kant in der »trans­ zendentalen Ästhetik« erklärt – die Formen der reinen Anschauung, Raum und Zeit, welche die Bezugnahme auf wahrnehmbare Gegenstände ermöglichen. Dies ist die erste, wenn auch nicht die 110 | Ob die Geltung von etwas … 

wichtigste Bedingung der Möglichkeit der Wahrnehmung. Wenn sie erfüllt ist, kann die Synthesis durch Kategorien erst greifen. Die reinen Anschauungsformen, Raum und Zeit, bestimmen nicht das, was faktisch wahrgenommen wird. Was wahrgenommen wird, kann alles Mögliche sein, denn – und das ist das Zweite – »die Anschauung bedarf der Functionen des Denkens auf keine Weise«.125 Gerade weil die Wahrnehmung nicht unter der Kontrolle der Kategorien steht, ist es schwierig, den Nachweis zu führen, dass die Kategorien als subjektive Bedingungen des Denkens auch objektiv gelten und tatsächlich die Bedingungen der Möglichkeit sind, unter denen wir die Gegenstände erkennen können. Es könnte sein, dass jene Synthesis, von der eben die Rede war, gar nicht greift und ins Leere geht. Außerdem ist sie – noch –, wie Kant selbst bemerkt, dunkel, jedenfalls im Hinblick auf das, was die Einbildungskraft tut. Das muss sich natürlich rasch ändern. In der ersten Auflage der Kritik versucht Kant, die Hürde des Nachweises der objektiven Geltung der Kategorien für die Erkenntnis durch eine ausführliche und sehr anschauliche Gliederung und Stufung der Synthesis zu leisten.126 Er löst die eine Handlung der Synthesis in drei Teilschritte auf. Dem ersten Teilschritt, der Wahrnehmung, der »Apprehension«, folgt dort als zweiter das, was die Einbildungskraft im engeren Sinn tut, die »Reproduction« des Wahrgenommenen, und dann erst folgt als dritter Teilschritt das, was die Begriffe ermöglichen, die »Recognition« des Wahrgenommenen als etwas begrifflich Bestimmtes. Die empirische Anschauung und die apriorischen Begriffe werden so miteinander verbunden. Letztlich wird damit aber das, was die Einbildungskraft leistet, nicht klarer, weil es nun so aussieht, als wäre sie ein Scharnier zwischen Anschauungen und Begriffen, bei dem unklar ist, zu welcher Seite das Scharnier gehört. Diesen misslichen Eindruck vermeidet Kant in der zweiten Auflage der Kritik. In dieser Auflage verzichtet Kant auf jene dreifache Stufung der Synthesis127 und vereinfacht das Problem des Geltungsnachweises einerseits durch ein Entweder-oder, andererseits durch eine Klärung der Rolle der Einbildungskraft. Entweder bestimmen – so wie die Empiristen es annehmen – die Gegenstände die Vorstellungen oder es ist umgekehrt; dann ermöglichen die Vorstellungen die Gegenstände. Diese Vereinfachung des Problems erscheint nun erst ontologische Voraussetzungen hat | 111

einmal – wie viele Vereinfachungen – ein durch Klarheit erkaufter Rückschritt zu sein. Tatsächlich ist es aber ein Gewinn, weil das Entweder-oder mit einer erweiterten, doppelten Funktion der Einbildungskraft verbunden ist. Sie gehört einerseits zur Sinnlichkeit, steht also auf Seiten der Anschauung, wirkt aber andererseits auf diese ein.128 Aus dem Entweder-oder wird ein Sowohl-als-auch. Damit klärt Kant die Scharnier-Funktion der Einbildungskraft, die in der ersten Auflage der Kritik noch nicht klar ist. Sie hat nun eine – transzendentale, die Art der Erkenntnis betreffende – empirischapriorische Doppelfunktion. Mit der Einbildungskraft nehmen wir die wahrgenommenen Dinge auf und ordnen sie gleichzeitig durch Begriffe. Wir können deswegen raue und glatte Flächen wahrnehmen und sie mit Körpern begrifflich identifizieren. Kant bewegt sich mit diesen Überlegungen immer noch im Vorfeld der transzendentalen Deduktion und dies aus gutem Grund, denn in diesem Vorfeld fällt die Entscheidung darüber, ob die Deduktion erfolgreich ist oder nicht. Noch ist nämlich der Verdacht, dass die Synthesis ins Leere geht, nicht ausgeräumt. Kant bemüht sich, die entscheidende Leistung der Synthesis, die Herstellung von Einheit in den Vorstellungen, so zu klären, dass jener Verdacht restlos ausgeräumt ist. Er kann es nicht dabei belassen, von ›Synthesis‹ zu sprechen, er muss auch zeigen, wie sie zustande kommt. Erst argumentiert er indirekt (§ 15). Die Einheit der Synthesis kann die Anschauung nicht leisten, weil die Wahrnehmung selbst, wie Kant meint, keine Ordnung anbietet.129 Rasch kommt er dann  – direkt  – im § 16 zum Kern und Garanten der Einheit, dem »Ich denke« als dem transzendentalen Grund- und Ausgangspunkt der Synthesis. Das »Ich denke«, das alle meine Vorstellungen immer begleitet, ist nicht nur irgendein Urteil, sondern die Form und Begleiterin aller meiner Urteile. Und derjenige, auf den sich dies bezieht, existiert tatsächlich. Dass Kant diese offensichtliche Tatsache unerwähnt lässt, entspricht seinem Ontologie-freien Programm. Es fehlt dann dem ›Ich denke‹ in seinem Programm nur noch der Nachweis, dass es nicht nur die Form aller meiner subjektiven Urteile, sondern notwendig auch die Form aller objektiven Urteile ist. Mit dieser Urteils-Form kann Kant dann in den §§ 18 – 20 den Nachweis der objektiven Geltung des Gebrauchs der Kategorien führen. Die transzendentale Deduk112 | Ob die Geltung von etwas … 

tion wird mit dem ›Ich denke‹ unabhängig von der Frage, was die Einbildungskraft genau tut und wie sie ihre empirisch-apriorische Doppelfunktion erfüllen kann. Die Wirksamkeit der Einbildungskraft kann dunkel bleiben. Uns interessiert nun nicht nur, ob Kants Deduktion erfolgreich ist, sondern vor allem, welche Voraussetzungen sein Geltungsnachweis hat. Das ›Ich denke‹ ist genauso wie die Einbildungskraft eine unabgeleitete, nicht-reflexive Grundlage von Kants Nachweis. Das leuchtet zunächst ein, weil es plausibel erscheint, dass die menschliche Erkenntnis nicht nur das Bewusstsein dessen, was wahrgenommen wird, voraussetzt, sondern immer auch Selbstbewusstsein, also eine reale Verbindung mit einem Subjekt, das erkennt. Für diese Überzeugung steht das ›Ich denke‹.130 Woraus leitet Kant aber die unabweisbare Notwendigkeit – und damit auch die objektive Geltung131 – dieser Urteilsfunktion ab? Er leitet die objektive Geltung der Urteilsfunktion aus der Apperzeption ab, also aus ihr selbst, denn ›Apperzeption‹ ist nur ein anderes Wort für diese Funktion. Kant nennt sie »ursprünglich«, weil es davor nichts gibt, was genannt oder worauf reflexiv Bezug genommen werden könnte. Er nennt sie aus dem demselben Grund auch einen »Actus der Spontaneität« und »synthetisch«.132 Mit diesen Bezeichnungen ist jeweils etwas Nicht-Reflexives gemeint, was außerdem ununterscheidbar dasselbe ist. Kant denkt reflexiv über diese nicht-reflexive Einheit der Spontaneität, der Apperzeption, der Synthesis, des ›Ich denke‹ nach und nennt sie »analytisch«. Er bemerkt aber, dass sie nicht analytisch sein kann und beeilt sich mit der Feststellung, dass für die analytische Präsentation der Einheit etwas Synthetisches vorausgesetzt ist.133 Dies bedeutet, dass er mit dem ›Ich denke‹ annimmt, dass die Form und Grundfunktion aller Urteile selbst nicht abgeleitet, sondern nur erläutert werden kann. Deswegen wäre es falsch zu sagen, dass Kant die objektive Geltung dieser Funktion ableitet. Er erläutert sie nur, und zwar so, dass seine Erläuterungen vor dem Gerichtshof der Vernunft von dieser selbst  – also reflexiv  – nicht bestritten werden können.134 Zwingender als diese Erläuterungen kann Kant nichts anbieten. Kant nimmt die Urteilsformen ohne Begründung an und benennt ihnen entsprechend dann, ebenfalls ohne weitere Begründung, die Kategorien. Die Urteilsformen sind nicht-reflexiv, wir ontologische Voraussetzungen hat | 113

können sie nur reflexiv auffinden, aber nicht begründen. Reflexiv, bei der analytischen Erläuterung der Funktion des ›Ich denke‹, sieht es so aus, als ob das Subjekt des ›Ich denke‹ nur möglich wäre, indem es Begriffe bildet. Daraus  – wie Eckart Förster  – reflexiv zu folgern, dass »mein Selbstbewusstsein nur dadurch möglich« sei, »dass ich Gegenstände erkenne«135 , interpretiert den synthetischen Akt des Selbstbewusstseins als eine Seite von zweien, die zusammengehören, also analytisch. Dann hätte die Synthesis des Selbstbewusstseins in der Erkenntnis der Gegenstände eine äußere Bedingung. Damit würde der synthetische Bedingungszusammenhang aber zu einem analytischen und die Synthesis wäre keine ursprüngliche, sondern eine nachträgliche, empirische. Das soll sie aber nicht sein. Die Synthesis des ›Ich denke‹ ist die Form aller Urteile und das erste Urteil des Subjekts über sich selbst. Es ist ein reflexives Urteil. Die Synthesis des ›Ich denke‹ äußert sich also reflexiv. Sie ermöglicht auf analoge Weise Urteile über Gegenstände und wird nicht von diesen ermöglicht.136 Kants analytische Erläuterungen dazu, die in seinem Text breiten Raum einnehmen, entsprechen dem reflexiven Charakter der Synthesis, die aber selbst nicht-reflexiv ist. Denn der Geltungsnachweis, den die transzendentale Deduktion der Kategorien erbringen soll, besteht in Erläuterungen des – unabgeleiteten und auch nicht ableitbaren – synthetischen, nicht-reflexiven Ausgangspunkts der Urteile. Der Ausgangspunkt darf aber selbst weder reflexiv noch von der Erkenntnis von Gegenständen abhängig sein. Es ist noch offen, wie die Urteile über Gegenstände zustande kommen. Wir schauen uns deswegen Kants Urteilsbegriff genauer an. Der Urteilsbegriff, den er auf die Gegenstände des Erkennens bezieht, ist eigenwillig. Er merkt dies zu Beginn des § 19 der Kritik mit ironischem Unterton an. Die Urteils-Erklärung der Logiker als eines »Verhältnisses zwischen zwei Begriffen« habe ihn nie »befriedigen können«. Er bietet dann seinen eigenen Urteilsbegriff an. Ein Urteil sei nichts anderes »als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objek­ tiven Einheit der Apperzeption zu bringen«.137 Und diese Einheit wird durch das ›Ich denke‹ hergestellt. Nehmen wir Kants eigenes Beispiel, das Urteil ›Der Körper ist schwer‹, dann werden die begrifflichen Vorstellungen ›Körper‹ und 114 | Ob die Geltung von etwas … 

›Schwere‹ durch das »Verhältniswörtchen ist« zur objektiven Einheit der Apperzeption gebracht, weil es in dem Urteil um die Begriffe von Gegenständen und nicht um subjektive Wahrnehmungen geht. Kant deutet die Rolle des ›ist‹ hier als Relation, also prädikativ und im Gegensatz zu seiner sonstigen Reserve gegenüber diesem ontologischen Prädikat. Entscheidend ist aber, dass durch die Urteilsform des ›Ich denke‹ der Urteilsgehalt, die Bedeutung der Begriffe ›Körper‹ und ›Schwere‹, an ein urteilendes Selbstbewusstsein gebunden und in und von ihm synthetisiert wird. Mit einem Beispiel wie diesem soll deutlich werden, dass Kant, worauf Eckart Förster sich beziehen kann, davon ausgeht, dass wir uns mit Begriffen auf Inhalte (der Anschauung) beziehen, die wie die ›Schwere‹ nicht vom Subjekt selbst stammen. Kant hätte auch das ›Raue‹ und ›Glatte‹ von Flächen als Beispiele nehmen können. Der »Quell aller Verbindung«, wie Kant die Apperzeption, das ›Ich denke‹, nennt138 , ist nicht die Quelle dessen, was verbunden wird. Was verbunden wird, gibt es unabhängig von einem Subjekt. Dies ist das Eine, das andere ist, dass die Synthesis des ›Ich denke‹ die Urteile über Gegenstände ermöglicht. Die Einbildungskraft erfüllt dabei die Funktion, das, was nicht zum Subjekt gehört, mit dem, was zu ihm gehört, zu verbinden. Die Möglichkeit der Urteile und die Möglichkeit der Gegenstände sind vor der Funktion der Einbildungskraft getrennte Mög­ l ichkeiten, die unabhängig voneinander existieren. Für beide ­ ­Möglichkeiten muss es aber eine gemeinsame geben, damit die Einbildungskraft sie verbinden kann. Wenn es nicht eine Möglichkeit für beide Möglichkeiten gibt, wäre der Geltungsnachweis der Deduktion auf das Selbstverhältnis der Subjekte eingeschränkt. Wie können die Subjekte die Inhalte der Anschauungen, die nicht von ihnen stammen, in ihren Urteilen synthetisieren? Kants Antwort auf diese Frage ist der »oberste(n) Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori«.139 Er lautet: »die Bedingungen der Möglich­ keit der Erfahrung überhaupt sind zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori.« Diesen Grundsatz begründet Kant mit dem unmittelbar davor geforderten »obersten Principium aller synthetischen Urtheile«, dass nämlich jeder Gegenstand »unter den nothwendigen Bedingungen der synontologische Voraussetzungen hat | 115

thetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung« steht.140 Es ist der Grundsatz, dem die Einbildungskraft folgt. Es ist ein postulierter, im Rahmen des Synthesis-Denkens plausibler, aber kein Grundsatz, der seinerseits durch eine Argumentation begründet wird. Unmittelbar vor der metaphorischen Bezeichnung der Apperzeption als »Quell aller Verbindungen« meint Kant, es sei Sache der Psychologie, die »empirischen Gesetze« zu klären, nach denen die Inhalte der Wahrnehmung mit dem Subjekt verbunden sind. Nicht weniger interessant als diese Hinweise ist der zweite Teil des § 24, den Kant mit einem Paradox eröffnet. Es besteht, wie er meint, darin, dass wir auch durch die Apperzeption kein anderes Verhältnis zu uns selbst haben als zu beliebigen Gegenständen, denn »nur wie wir uns erscheinen, nicht wie wir an uns selbst sind«, sei uns bewusst.141 Warum ist dies paradox? Weil wir zur Einsicht in das ›Ich denke‹ im Gegensatz zu allen möglichen anderen Gegenständen der Erkenntnis keine Anschauung benötigen. Die Einsicht ist nichtreflexiv, weil wir sie antreffen, auffinden und nicht schaffen. Dies bedeutet, wir beziehen uns mit dem ›Ich denke‹ auf keine Repräsentation unserer selbst, sondern auf etwas Nicht-Reflexives, was wir reflexiv ›Ich denke‹ nennen. Deswegen könnte man annehmen, dass wir – im heutigen Sprachgebrauch – einen privilegierten, direkten Zugang zum ›Ich denke‹ hätten. Dies ist aber paradoxerweise nicht der Fall, denn sonst wäre uns das ›Ich denke‹ auch im psychologischen Sinn unmittelbar zugänglich; wir würden dann die kausale Wirksamkeit dieser Denkfunktion unmittelbar erkennen. Dies ist nicht der Fall. Es gibt also, wie Kant glaubt, eine Handlung, das ›Ich denke‹, deren reale Wirkung, die Herstellung von Einheit im Urteil, wir zwar  – vermittelt durch die Einbildungskraft  – verstehen, deren Ursächlichkeit, deren Wirkkraft wir aber nicht verstehen, obwohl sie existiert. Auch in dieser Hinsicht ist das ›Ich denke‹ unabgeleitet, nicht-reflexiv gegeben. Spätestens hier wird klar, dass Kants Geltungstheorie nicht ohne die ontologische Annahme auskommt, dass es diese Wirkkraft des ›Ich denke‹ tatsächlich gibt. Wäre die Einheit stiftende Wirkkraft des ›Ich denke‹ nur möglich, aber nicht real, wären auch die Urteile, die von ihr profitieren sollen, nur mög116 | Ob die Geltung von etwas … 

lich, aber nicht real. Sie hätten nach Kants eigener Auffassung von ›Realität‹ keinen begrifflich identifizierbaren Gehalt. Dem könnte man entgegenhalten, dass wir uns selbst qua ›Ich denke‹ nur erscheinen, dass es keinen privilegierten Zugang zum eigenen Selbst gibt. Was dem ›Ich denke‹ physisch und psychisch zugrunde liegt, wissen wir tatsächlich nicht genau. Wir wissen aber, dass es ohne real existierende Personen kein ›Ich denke‹ geben würde. Dies ist die ontologische Mindestvoraussetzung für die Wirksamkeit des ›Ich denke‹. Nur unter dieser Voraussetzung kann Kant sinnvoll von einer ›Handlung‹ des ›Ich denke‹ sprechen. Das ›Ich denke‹ gehört ebenso zu den nicht-reflexiven Voraussetzungen von Kants Deduktion wie die Urteilsformen, die Einbildungskraft, die Apperzeption, die Spontaneität und die Synthesis.142 Das, wofür alle diese Begriffe stehen, gehört zur nicht-reflexiven Ausstattung urteilender Subjekte auch im Rahmen von Kants transzendentaler Deduktion. Wenn Subjekte diese Ausstattung wirklich haben, ist seine Geltungstheorie nicht Ontologie-frei. Kants transzendentale Deduktion der Erkenntnisbegriffe simuliert den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, rein modal, den begrifflichen Möglichkeiten nach. Die Normativität der – als gültig nachgewiesenen – Begriffe soll die alleinige Grundlage dafür sein, dass die Urteile der Subjekte objektiv gelten. Das Ergebnis ist ein kohärenter, aber simulierter Geltungsnachweis. Auch die Simulation kommt nicht ohne ontologische Voraussetzungen aus. Sie zeigen, dass es Geltung ohne Ontologie nicht gibt. Kant wollte aber nachweisen, dass es sie nicht nur geben kann, sondern geben muss. Dieser Nachweis misslingt, aber die Gründe dafür sind lehrreich. Wir erfahren sehr viel über die Geltungsgrundlagen von Urteilen, vor allem über die Urteilsform ›Ich denke‹. Sie ist bedeutsam für unsere Untersuchung, weil sie gleichzeitig eine nicht-reflexive und eine reflexive Bedeutung hat. Wir können erkennen, wie diese Bedeutungen zusammenhängen. Für die nicht-reflexive Bedeutung der Urteilsform maßgeblich ist, dass das ›Ich denke‹ keinen Inhalt außer sich selbst hat und sich auf nichts anderes außer sich bezieht.143 Nicht-reflexiv ist diese Urteilsform, weil sie nicht ohne Widerspruch verneint werden kann. Bei reflexiven Urteilen wie ›Ich friere‹ oder ›Ich huste‹ ist eine Verneinung ohne Widerspruch ontologische Voraussetzungen hat | 117

möglich. Wenn ich sagen würde ›Ich denke nicht‹, würde ich mir selbst widersprechen, auch wenn meine Kollegen dem lebhaft beipflichten sollten. Denn vor dem ›Ich denke nicht‹ steht das ›Ich denke‹, womit der Widerspruch mühelos erkennbar wird.144 ›Ich denke‹ ist ein Urteil, mit dem daher genau besehen nichts beurteilt wird. Es hat keinen Inhalt, weil jedes Urteil – zumindest in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen – entweder wahr oder falsch ist, und diese Alternative ist nur möglich, wenn das Urteil einen Inhalt hat. Stattdessen repräsentiert das ›Ich denke‹ eine Urteilsform, nämlich die kognitive Funktion, die Kant ›Apperzeption‹ nennt; und als solche soll sie ein Implikat und gleichzeitig die Einheit stiftende Funktion aller kognitiven Leistungen sein. Das ›Ich denke‹ soll alle, nicht nur meine eigenen, Vorstellungen und Urteile begleiten können. Damit ist der Gedanke verbunden, dass alle Vorstellungen und Urteile nicht nur mit einem Selbstbewusstsein verbunden sind, sondern durch dieses Einheit stiftende Bewusstsein nicht-reflexiv erfasst werden. Weil es diese Funktion des ›Ich denke‹ gibt, ist Selbstbewusstsein möglich; und dies ist nach wie vor so. Das eben Beschriebene ist die nicht-reflexive Seite des ›Ich denke‹. Die reflexive Seite dieser Urteilsform bezieht sich immer auf ein urteilendes, real existierendes Subjekt. Sie begleitet jede Urteilshandlung eines Subjekts, das sich beim Urteilen seiner selbst bewusst ist. Damit hat die Urteilsform einen reflexiven, bewusstseinstheoretischen Charakter. Das Subjekt bezieht sich zwar nicht wie bei Descartes auf eine Substanz, die denkt, repräsentiert aber dennoch sich selbst. Diese reflexive Bedeutung des ›Ich denke‹, der synthetisch apriorischen Urteilsform, ist folgenreich, wenn die nicht-reflexive Bedeutung ausgeblendet und ignoriert wird. Die Ausblendung der nicht-reflexiven, ontologischen Bedeutung der Urteilsform ist ein Charakteristikum der Theorien der Subjektivität nach Kant. Dem Anspruch dieser Theorien, ihrerseits zu gelten, liegt eine rein reflexive Auffassung von Kants Geltungstheorie zugrunde. Aus der Reflexivität des Selbstbewusstseins sollen in den idealistischen Theorien alle kognitiven Leistungen des Subjekts abgeleitet werden.145 Kant will mit der transzendentalen Deduktion eine rein refle­ xive Geltungstheorie entwickeln. Sein Modell hat aber nicht-­refle­ 118 | Ob die Geltung von etwas … 

xive, ontologische Voraussetzungen und kann deswegen nicht halten, was es verspricht. Es ist zwar als transzendental-deduktiv argumentierende Geltungstheorie modal – für die Möglichkeit von Erkenntnis – kohärent und reflexiv erfolgreich. Nicht erfolgreich ist sie als rein reflexives Programm, weil es nicht-reflexive Grundlagen hat. Deswegen ist sie als Theorie der Geltung von Erkenntnisurteilen nur eingeschränkt erfolgreich. Das ›Ich denke‹ enthält ähnlich wie das cartesianische ›cogito‹ die ontologische Verpflichtung, ein denkendes Selbst anzunehmen, das existiert. Ähnliches gilt für die Urteilskraft. Die transzendentale Deduktion der Kate­ gorien können wir nicht als Grundlegung des Zusammenhangs zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, betrachten. Dieser Zusammenhang liegt dem, was gilt, zugrunde, hat aber selbst nicht noch eine weitere oder tiefere Grundlage. Wie unverzichtbar nicht-reflexive, ontologische Voraussetzungen sind, zeigt sich in Kants Theoriebildung spätestens bei der Entwicklung von naturgesetzlichem, wissenschaftlichem Wissen. Die Begründung dieses Wissens ist die metaphysische Zielsetzung von Kants Kritik.146 Die Untersuchung dieser Zielsetzung zeigt, dass auch die Entwicklung dieses Wissens nicht ohne ontologische Voraussetzungen auskommt. Ohne solche Voraussetzungen erfahren wir nichts über den möglichen Wahrheitsgehalt der Erkenntnisurteile. Mögliche wahre Urteile haben die gleichen apriorischen Voraussetzungen wie mögliche falsche. Mit einer Geltungstheorie ist das Bedürfnis verbunden, einen Maßstab zu finden, der es erlaubt, wahres Wissen von Nichtwissen und scheinbarem Wissen unterscheiden zu können. Diesem Bedürfnis dienen Wissenstheorien, die ontologische Verpflichtungen erfüllen. Die Wahrheit von Urteilen, von Sätzen und Aussagen kann mit Kants deduktiver Geltungstheorie nicht begründet werden. An diesem Defizit leidet Freges deduktive Geltungstheorie nicht. Es ist eine Geltungstheorie in der Nachfolge Kants.

ontologische Voraussetzungen hat | 119

2.2 Ob Freges Geltungstheorie erfolgreich ist

Gottlob Frege geht es um die Geltung von Sätzen als wahr. Es geht wie bereits in Kants Modell nicht um den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Es geht nur darum, was Sätze wahr macht. Sätze gelten als wahr, wenn sie das zum Ausdruck bringen, was wahr ist. Es gibt eine Reihe von Aspekten in Freges Denken, die zeigen, dass er Kant aufmerksam studiert hat, die wir aber hier nicht weiterverfolgen.147 In Freges Geltungstheorie sind ›Wahrheit‹ und ›Geltung‹ eng miteinander verbunden. Frege bindet die Geltung von Aussagen, von Sätzen und Urteilen an ihren Wahrheitswert und gewinnt so ein besonders klares und frucht­ bares Konzept der Geltung. Es ist eine logische, auf den Nachweis der Wahrheit zielende Geltungstheorie. Frege entwickelt keine geschlossene Geltungstheorie, sondern beweistheoretische Grundgedanken einer solchen Theorie, die bis zu seinen Grundgesetzen bedeutsam sind. Im Vorwort zu seiner Begriffsschrift sagt er, dass es ihm um die »Stufen der Sicherheit« beim »Erkennen einer wissenschaftlichen Wahrheit« geht.148 Er misstraut der Natursprache mit ihrem Vokabular und meint, es sei »eine Aufgabe der Philosophie«, »die Herrschaft des Worts über den menschlichen Geist zu brechen, indem sie die Täuschungen aufdeckt«.149 Die Orientierung an der Subjekt-Prädikat-Struktur der Grammatik, die Jahrhunderte lang eine Grundlage der Logik war, verwirft Frege. Er entwickelt eine an die Mathematik angelehnte Zeichen- und Formelsprache, die es erlaubt, das, was zum Denken gehört, von dem zu trennen, was zur Sprache gehört. Er orientiert sich dabei an der Arithmetik. Nicht nur das grammatikalische Subjekt, sondern auch das Subjekt des Denkens blendet Frege aus, weil es nach seiner Überzeugung als Träger von Vorstellungen und Empfindungen einen psychologischen Charakter hat. Er radikalisiert Kants Trennung des Denkens und Erkennens von allen psychologischen Aspekten. Das reine Denken kommt zwar ohne einen Denkenden aus, beginnt aber ähnlich wie bei Kant ohne weitere Erklärung mit dem Urteil. Aus dem Urteil leitet Frege keine Kategorien ab. Er versteht ›Urteil‹ als eine Art logisch einfacher Tatsache, mit der Inhalte präsentiert werden, deren Wahrheitswert geprüft werden kann. Frege verwirft 120 | Ob die Geltung von etwas … 

die üblichen Urteilsarten und kennt nur eine einzige Art von Urteil, das er mit seiner Zeichensprache repräsentiert.150 Die Urteile, denen er besondere Aufmerksamkeit widmet, sind die Urteile des reinen Denkens. Denn aus ihnen können »Denkgesetze« abgeleitet werden.151 Sie können nicht alle begriffsschriftlich, in Zeichen, ausgedrückt werden, weil sie der Begriffsschrift zugrunde liegen. Frege spricht in diesem Text von einem »Kern« von neun Gesetzen, die er dann im Einzelnen umgangssprachlich erläutert und begriffsschriftlich darstellt. Frege will, wie er erklärt, die Bedingungen für die Geltung von Sätzen klären, und er tut dies am Beispiel der Arithmetik.152 Das theoretische Motiv und die beispielhaft klare Durchführung dieser Zielsetzung sind bemerkenswert. Frege will in den Grundlagen herauszufinden, »worauf im tiefsten Grunde die Berechtigung des Fürwahrhaltens beruht«.153 Dieses geltungstheoretisch zentrale Anliegen verbindet er mit der programmatischen Forderung nach möglichst strengen, lückenlosen Beweisen, die sich auf bestimmte »Urwahrheiten« und »Urgesetze«154 stützen können. Von diesen axiomatischen Grundlagen aus führt Frege seine Beweise streng analytisch und a priori durch. Er ist überzeugt, dass nur diese Durchführung in der Lage ist, z. B. die Grenzen der Geltung des Zahlbegriffs klar zu ziehen.155 Die geltungstheoretische Zielsetzung der Grundlagen erneuert Frege nachdrücklich im Vorwort zu den Grundgesetzen der Arith­ metik. Hier wird der beweistheoretische Charakter seines Geltungskonzepts besonders klar. Die Lehrsätze, welche der Arithmetik zugrunde liegen, leitet er begriffsschriftlich ab. Dabei geht es um die vollständigen Bedingungen, die zu deren »Gültigkeit notwendig sind«. »Diese Vollständigkeit, welche stillschweigend hinzuzudenkende Voraussetzungen nicht duldet, scheint mir für die Strenge der Beweisführung unentbehrlich zu sein.«156 Jeder Schritt der Beweisführung muss regelkonform sein. Auch hier erwähnt Frege, dass es Sätze in diesen Verfahren geben müsse, »die nicht aus anderen abgeleitet werden«. Es seien teilweise »Grundgesetze«, teilweise »Definitionen«.157 Im Lichte der eben erwähnten »Urwahrheiten« bzw. »Grundgesetze«, die als logische Prinzipien fungieren, entwickelt er sein Beweisverfahren. Es verbindet – im Blick auf die Grundlagen und ontologische Voraussetzungen hat | 121

die Grundgesetze – die logischen Gründe für das Fürwahrhalten mit dem Inhalt dessen, was als wahr gelten kann. Metaphorisch gesprochen liefert das Verfahren die »Wahrheit des zu beweisenden Satzes«.158 Wir können verfolgen, wie ein lückenloser Beweis das, was als wahr gelten soll, zustande bringt. Der Inhalt, dessen Geltung nachgewiesen wird, hat dann – wie Frege im Vorwort zu den Grundgesetzen schreibt – zwei Seiten, einen Sinn und eine Bedeutung. Der Sinn ist der »Gedanke«, der propositionale Gehalt, und die Bedeutung ist der »Wahrheitswert«.159 Einige Zeit später, in dem Beitrag »Der Gedanke« rückt, wie Günther Patzig in seiner Einleitung zu diesem und anderen Texten Freges bemerkt, die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung zumindest terminologisch in den Hintergrund. Die Rolle des ›Sinns‹ übernimmt der ›Gedanke‹.160 Wir werden gleich auf diese geltungstheoretisch interessante Veränderung in Freges Denken zurückkommen.161 Von ›Wahrheit‹ ist in den Grundlagen und in den Grundgesetzen zwar die Rede. Frege verwendet aber keine Definition der Wahrheit. Es geht ihm in den Grundgesetzen um den logischen Nachweis eines Wahrheitswerts, den er dort »das Wahre« oder »das Falsche« nennt. In keinem der beiden erwähnten Texte geht es Frege um den Nachweis von Wahrheit in einem generellen oder eminenten Sinn. Wie dies gemeint ist, lässt sich in den Grundlagen leicht nachvollziehen. Hier entwickelt Frege eine argumentative Methode, um den Begriff der Anzahl zu definieren. Es geht in den Grundlagen der Arithmetik um das logische Verfahren und den Begriff der Anzahl, nicht um den Begriff der Wahrheit. Im Rahmen seiner Methode, das logische Argumentationsverfahren mit Inhalten zu verbinden, entwickelt er Definitionen – etwa die von »Begriff« und »Gleichzahligkeit«162 –, die nach seinem Urteil auf dem Weg zur Definition der Zahlen als Wahrheitsbedingungen gelten können. Bis er so weit ist, muss er aber erst klären, was im Zusammenhang seiner Grundlegung als ›Begriff‹ gelten kann. Erst dann kann er seinem ersten methodisch entscheidenden Anliegen gerecht werden. Es besteht darin, dass »die Zahl Begriffen beigelegt«163 wird und nicht etwa Gegenständen, wie viele Theoretiker seiner Zeit und viele Laien heute glauben. Sobald dies geklärt ist, kann sich Frege präzise mit Begriffen und deren Umfängen beschäftigen 122 | Ob die Geltung von etwas … 

und über die Gleichheit der Umfänge den Begriff der »Gleichzahligkeit« definieren. Dieser Begriff wiederum dient ihm dann als Grundlage seiner Definition der Zahlen als Anzahlen, die ihrerseits Begriffen – und nicht Dingen – beigelegt werden. Entscheidend für den methodischen Erfolg von Freges Verfahren in den Grundlagen ist seine Definition von ›Begriff‹ als »allgemeine Form eines beurtheilbaren Inhalts«.164 Dass Begriffe das sind, was die Mathematik ›Funktionen‹ nennt, legt Frege bereits im § 9 der Begriffsschrift nahe. Für die Frage nach der Geltung von Sätzen ist diese Einsicht wichtig, weil sie die Geltung funktional und nicht inhaltlich an die Wahrheit bindet: »ein Begriff ist eine Funktion, deren Wert immer ein Wahrheitswert ist«, heißt es dann in dem Vortrag »Funktion und Begriff« aus dem Jahre 1891, sieben Jahre nach den Grundlagen und zwei Jahre vor den Grundgeset­ zen.165 Frege verbindet dort Begriffsumfang und Wertverlauf einer Aussage funktional und macht die Geltung einer Aussage damit unabhängig von subjektiven, aber auch von empirischen Bedingungen. Die Gegenstände, welche die Argumente der Funktionen bilden, sind natürlich herkömmlicher, empirischer Natur. Für die Art, wie die Funktionsargumente gegeben und aufzufinden sind, führte er dann den Ausdruck »Sinn« ein, an dessen Stelle später – wie schon bemerkt – der »Gedanke« tritt.166 In den Grundlagen und in den Grundgesetzen ist von ›Wahrheit‹ in einem allgemeinen Sinn nicht die Rede. Dies ändert sich in dem Aufsatz »Der Gedanke«, den Frege mehr als zwei Jahrzehnte nach dem enttäuschenden Ende seines Versuchs, die Arithmetik aus der Logik abzuleiten, publiziert. In diesem Aufsatz geht es auf geradezu emphatische Weise um ›Wahrheit‹. Dass der Logik die Aufgabe zufällt, »die Gesetze des Wahrseins zu erkennen«167, sagt er ähnlich schon im Vorwort der Begriffsschrift. Neu ist aber, dass er diese Gesetze nun mit den Naturgesetzen vergleicht und davon spricht, dass es in den logischen Gesetzen, in den Denkgesetzen, »um ein Sein« gehe und dass jene Gesetze dementsprechend »Gesetze des Wahrseins« seien.168 Geltungstheoretisch entscheidend ist, dass aus diesen Gesetzen nichts mehr begriffsschriftlich abgeleitet wird. Das Wahre kann nur »gefasst« und »anerkannt«, aber nicht logisch deduziert werden.169 Der Inhalt des Wortes ›wahr‹ sei »ganz eigenartig und undefinierbar«.170 Das Wort bezieht sich immer – ähnlich ontologische Voraussetzungen hat | 123

wie das Wort ›falsch‹ – auf Gedanken. Die Gedanken seien »etwas, bei dem überhaupt Wahrheit in Frage kommen kann«.171 Entsprechendes gilt für die Falschheit. Gedanken, so wie Frege sie versteht, werden zwar von Subjekten erfasst, von ihnen in Sätzen ausgedrückt und anderen mitgeteilt, sind aber dennoch keine Bewusstseinsgehalte und auch nicht empirischer Natur. Es gibt sie nicht-reflexiv. Sie haben keine Träger, gehören weder in die Innen- noch in die Außenwelt, sondern bilden eine eigene Domäne; ein »drittes Reich« müsse anerkannt werden, schreibt er in einer heute unglücklich erscheinenden Wortwahl.172 Frege bemüht sich sehr, bei der Erläuterung der Gedanken der naheliegenden Auffassung entgegenzuwirken, dass sie etwas sind, was von Subjekten gedacht wird. Gedanken kommen nicht durch das Denken von Subjekten zustande. Dennoch sind Gedanken sowohl mit Subjekten als auch mit der Welt der Dinge verbunden, und zwar über die Wahrheit. Sie ist eine »Eigenschaft« sowohl der Dinge als auch der Gedanken, die von Subjekten in Sätzen ausgedrückt und mitgeteilt wird.173 Wenn Gedanken dergestalt sowohl von den Subjekten als auch von der Außenwelt getrennt existieren, können sie auch deren Eigenschaften nicht teilen, soweit diese keinen Bezug zur Wahrheit haben. Eine notorische Eigenschaft von Subjekten und ihrer Welt ist die Veränderung in der Zeit. Gedanken sollen demgegenüber zeitlos sein. Für die Verwendung des Präsens im Ausdruck ›ist wahr‹ findet Frege ein neues Tempus, das der »Unzeitlichkeit«.174 Er weicht dann aber nicht der dringenden Frage aus, wie das Zeitlose mit dem Zeitlichen im Subjekt verbunden ist. »Was wäre ein Gedanke für mich, der nie von mir gefaßt würde!«, schreibt er emphatisch.175 Was immer der Gedanke für mich ist, ist für den – nichtreflexiv gegebenen  – Gedanken selbst ohne Bedeutung. Er steht weder mit mir noch mit meiner Welt in einer »Wechselwirkung«, selbst wenn er über das, was ich will und tue, einen Einfluss auf die Außenwelt hat.176 Wir Menschen haben über Gedanken – anders als über einen Hammer – »keine Macht«, meint Frege.177 Wir müssen die Beschreibung der – nach Freges Überzeugung – zeitlosen, ewig existierenden Gedanken nicht weiter fortsetzen, um zu erkennen, dass deren Geltung von menschlichen Urteilen, Beweisen und Argumenten – in gewisser Weise – unabhängig ist. Fre124 | Ob die Geltung von etwas … 

ges Gedanken sind nicht-reflexiv. Natürlich sind es immer Menschen, welche Gedanken entdecken und deren Inhalte verstehen; deswegen sind die Gedanken nur in gewisser Weise von mensch­ lichen Urteilen unabhängig. Den Inhalten der Gedanken gegenüber haben wir Menschen, wie Frege meint, ein passives Verhältnis; wir entdecken sie, aber wir machen oder schaffen sie nicht aktiv. Geltungstheoretisch weckt Frege viele Erwartungen. Zunächst stehen die logisch möglichen Geltungsnachweise im Vordergrund, die Großes und Endgültiges erwarten lassen, dann ist von ihnen nicht mehr die Rede. Für ›Gedanken‹ in der Version des späten gleichnamigen Aufsatzes können keine Geltungsnachweise geführt werden, weil sie deren nicht bedürfen. Uns bleibt nur die wissenschaftliche Aufgabe, sie zu erfassen178 und anzuerkennen. Schon in den frühen Texten sind nicht ableitbare Voraussetzungen der logischen Analyse, wie ›Urwahrheiten‹ und ›Denkgesetze‹, dem argumentativen Zugriff, aber auch der begriffsschriftlichen Darstellung entzogen. Das ›Wahre‹ oder ›Falsche‹ ist da aber noch ein Resultat der logischen Analyse. Nun ist das Wahre und Falsche aber von dieser Mühe unabhängig in den Gedanken gegeben. Uns bleiben nur das Erfassen und Anerkennen. Frege vertritt eine Geltungstheorie, die in zweifacher Hinsicht veridisch ist. Sie setzt zunächst – bis zu den Grundgesetzen – auf den Nachweis der Wahrheit, dann – in den »Gedanken« und den beiden nachfolgenden Aufsätzen – auf deren Erfassen. Die Wahrheit bleibt aber der Bezugspunkt, wenn es um ›Geltung‹ geht. Der Charakter der Geltung hat sich aber verändert. Solange die logische Analyse bemüht werden muss, ist die Geltung – auch – das Ergebnis regelkonformer subjektiver und reflexiver Leistungen. Wenn die Wahrheit nur erfasst und anerkannt werden kann, ist deren Geltung ebenso wie die Wahrheit selbst unabhängig von solchen Leistungen und damit nicht-reflexiv. Es ist eine Befreiung der Wahrheit von den kognitiven Risiken des Subjektiven und Reflexiven. Freges Gedanken werden trotz dieser Befreiung und trotz ihrer Unzeitlichkeit irgendwann von Subjekten erfasst. Das stellt er selbst fest. Das Zeitlose müsse »irgendwie mit dem Zeitlichen verflochten sein, wenn es uns etwas sein soll«.179 Frege meint, dass diese Verflechtung »die strenge Unzeitlichkeit des Gedankens« aufhebe. Die ontologische Voraussetzungen hat | 125

Verflechtung selbst sei aber eine »unwesentliche Eigenschaft« eines Gedankens. Auf Naturgesetze, die irgendwann erfasst wurden, trifft dies zu. Ob es auch auf Prinzipien zutrifft, müssen wir sehen. Wie steht es aber mit historischen Ereignissen? Frege spricht selbst von den »Begebenheiten der Weltgeschichte«.180 Sie sind zumindest in der Hinsicht Gedanken, dass sie unabhängig von reflektierenden Subjekten existieren und wahr sind, auch wenn sie von Subjekten mitgeteilt werden. Es wäre absurd anzunehmen, dass der Gedanke, dass Caesar an den Iden des März des Jahres 44 v. Chr. durch 23 Dolchstiche starb, schon vor seinem Tod wahr gewesen ist. Frege würde dies nicht bestreiten wollen; deswegen betont er, dass die Zeitbestimmung zum »vollständigen Gedanken« dazugehört und dass der Gedanke ohne sie überhaupt keiner wäre.181 Wir müssen daher annehmen, dass die Unzeitlichkeit der Gedanken just zu dem Zeitpunkt entsteht, zu dem sie wahr geworden sind. Von da an gelten sie zeitlos. Die Zeitlosigkeit ist in die Zeit ähnlich eingebettet wie die Geltung in die Genese. Die Einbettung des Zeitlosen in die Zeit können wir auf das Verhältnis zwischen der Geltung und der Genese von Prinzipien anwenden. Deren unzeitliche Geltung ist in ihre zeitliche Genese eingebettet. Sie gelten von dem Zeitpunkt an, zu dem sie in Kraft getreten sind, unzeitlich. Sie existieren dann auch, werden aber anders als Freges Gedanken von ihrer weitergehenden Genese verändert, bis ihre Bedeutung erneut festgelegt wird. Prinzipien gelten unzeitlich innerhalb einer bestimmten Zeit und können immer wieder neu formuliert werden. Wir müssen dafür kein ›drittes Reich‹ annehmen, weil sie im Denken und Handeln von Personen existieren. Freges Unterscheidung zwischen dem zeitgebundenen »Ausdruck« eines Gedankens und seiner zeitlosen Wahrheit182 hilft, das Verhältnis zwischen der Genese und der Geltung von Prinzipien zu verstehen. Der Gedanke und sein Ausdruck existieren beide. Der Gedanke existiert – wie die Geltung eines Prinzips – zeitlos. Sein Ausdruck ist dagegen wie die Genese eines Prinzips zeitabhängig. Mit ›Genese‹ ist die Wechselwirkung zwischen der zeitlosen Geltung von Prinzipien und denen, die sie denken, verstehen und formulieren, gemeint. Einerseits trifft auch auf Prinzipien das zu, was Frege zu den ›Gedanken‹ sagt, dass sie vom Denkenden nicht geschaffen werden. Andererseits kann derjenige, der ein Prinzip 126 | Ob die Geltung von etwas … 

denkt, es nicht so verstehen, wie es an sich ist.183 Denn es gibt kein An-sich-Sein von Prinzipien, das dem analog wäre, was Frege den zeitlos geltenden ›Gedanken‹ unterstellt. Wir kommen gleich auf die Analogie von der Geltung von Freges Gedanken zur Geltung von Prinzipien zurück, gehen aber zunächst noch einmal zurück zu Freges geltungstheoretischem Ausgangspunkt. Freges geltungstheoretisches Programm ist der Wahrheit verpflichtet. Wenn es so gelingen würde wie ursprünglich geplant, könnte ›Geltung‹ durch ›Wahrheit‹ ersetzt und gesichert werden. Da Frege aber keinen bestimmten Wahrheitsbegriff vertritt, wäre dann die Frage, welcher Wahrheitsbegriff anstelle von ›Geltung‹ treten könnte. Frege will zunächst die Berechtigung des Fürwahrhaltens eines Satzes in einem logischen Verfahren nachweisen. Der Wahrheitsbegriff, den Frege dabei verwendet, wird – ähnlich wie nach ihm die entsprechenden Konzepte von Wittgenstein184 , Ramsey und vielen anderen – einer sog. Redundanztheorie der Wahrheit zugeordnet. Was ist mit ›Redundanztheorie‹ gemeint, und was hat Frege damit zu tun?185 Der gemeinsame Nenner der eben genannten Philosophen ist, dass das Prädikat ›ist wahr‹ in dem Satz ›Es ist wahr, dass p‹ überflüssig ist. ›Dass p‹ besagt alles, was für die Wahrheit benötigt wird, nämlich ›p‹. Man könnte nun meinen, dass der Gehalt ›p‹ zwar für die Wahrheitsbehauptung genügt, das ›ist wahr‹ aber die Wahrheit von ›p‹ betont, ohne dass dies nötig wäre. ›Überflüssig‹ hieße dabei so viel wie ›unnötig‹. Diese Auffassung entspricht nicht derjenigen Freges. Er geht davon aus  – und dies widerspricht dem Theorieetikett ›Redundanztheorie‹ –, dass das Prädikat ›ist wahr‹ nicht etwa überflüssig, sondern so wenig definierbar ist wie ›Wahrheit‹, und deswegen kann mit jenem Prädikat die Wahrheit von ›p‹ weder behauptet noch bestätigt werden. Das Prädikat ›ist wahr‹ hat für Frege keine identifizierbare, definierbare Bedeutung. Er meint, wie wir schon sahen, dass der »Inhalt des Wortes ›wahr‹ ganz einzigartig und undefinierbar« und Wahrheit keine Eigenschaft mit empirischem Pendant sei.186 Es ist daher nicht hilfreich, Frege einen ›Redundanztheoretiker‹ zu nennen. Frege macht aus der Not der Nicht-Definierbarkeit der Wahrheit eine Tugend. Dagegen verbindet Ramsey, dem ebenfalls das ontologische Voraussetzungen hat | 127

Etikett ›Redundanztheoretiker‹ zugeordnet wird, seine Auffassung der Redundanz durchaus mit einer Definition. Ramsey meint, die Definition, dass eine Überzeugung wahr sei, bestehe aus der ›Überzeugung dass p‹ und ›p‹.187 Frege ist – anders als Ramsey – dem mentalen Element der ›Überzeugung‹ gegenüber misstrauisch, aber diese Differenz spielt hier keine Rolle. Es kommt lediglich darauf an, die unterschiedlichen Gründe für den Verzicht auf das Wahrheitsprädikat bei diesen beiden Philosophen zu erkennen. Freges Ansicht, dass das Wahrheitsprädikat nicht definierbar ist, verleiht dem logischen Verfahren eine besondere Bedeutung für den Nachweis der Geltung eines Satzes, und dieser Nachweis grenzt die Geltung gleichzeitig auf das ein, was logisch begründbar ist. Letztlich begrenzt das logische Verfahren die Geltung auf den Raum, in dem die »Grundsätze des Denkens«188 angewandt werden können. Und diese Grundsätze sollen genau das leisten, wonach Frege sucht, nämlich nach einer Berechtigung, einer tiefen Berechtigung, wenn man so will, für das Fürwahrhalten eines Satzes. Da es aber viele andere Theorien mit sehr unterschiedlichen Wahrheitskonzepten gibt, könnte vielleicht eine darunter sein, die das leistet, was ein veridisches Geltungskonzept verspricht. Diese Hoffnung macht Wolfgang Künne zunichte.189 Er weist nach, dass die bisher entwickelten Theorien der Wahrheit defizitär und nicht überzeugend sind. Künne plädiert für eine mit dem Ausdruck ›es ist so‹ theoretisch bescheiden auftretende Konzeption von Wahrheit.190 Er nimmt bei aller Bescheidenheit den mit der Wahrheit verbundenen Anspruch auf Rechtfertigung ernst, sieht aber auch da Grenzen. Er argumentiert, dass der Besitz eines Wahrheitskonzepts »einseitig abhängig« vom Besitz eines Konzepts der Rechtfertigung ist.191 Damit hat die Rechtfertigung nach Künnes Urteil einen gewissen Vorrang vor der Wahrheit und ist ihrerseits nicht auf einen Wahrheitsbegriff angewiesen.192 Damit ist die Hoffnung, mit einem Wahrheitskonzept zu klären, was ›Geltung‹ bedeutet, endgültig dahin. Da es keine Rechtfertigungen für unabgeleitete Geltungen gibt, scheitert auch der Ersatz von ›Geltung‹ durch ›Wahrheit‹. Damit scheitert das veridische Programm einer Geltungstheorie insgesamt. Dem Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, liegt keine theoretisch begründete Wahrheit zugrunde. 128 | Ob die Geltung von etwas … 

Kommen wir zurück auf Freges ›Gedanken‹, weil sie ein mustergültiges Beispiel für das Nicht-Reflexive sind. Subjektiv können wir, wie Frege glaubt, Gedanken nur erfassen. Was mit dem ›Erfassen‹ genau gemeint ist, vertieft er nicht. Wenn es um ›Geltung‹ geht, wollen wir wissen, was ›Erfassen‹ bedeutet. Wenn wir der Geltung logischer Grundgesetze, die Teil von Gedanken sind, nachgehen und sie als ›selbstevident‹ und ›nicht beweisbar‹ bezeichnen, wollen wir wissen, welche Rolle das subjektive Urteil, dass dies so ist, spielt. Auch wenn wir, wie Tyler Burge, annehmen, dass das urteilende Subjekt »notwendig« den »Vorschriften der Vernunft«193 in Gestalt der Gesetze des Wahrseins unterworfen ist, wird es darauf ankommen, wie vernünftig ein Subjekt ist und ob es in der Lage ist, die Selbstevidenz jener Gesetze zu erkennen. Der Subjektbezug zu den selbstevidenten Gesetzen kann nicht ignoriert werden.194 Frege weist selbst darauf hin, dass bestimmte Übergänge in Schlüssen unmittelbar einleuchten können, dies aber eine genaue Rekonstruktion von Schlussketten nicht ersetzen kann, weil die »Natur dieses Einleuchtens« sonst unklar bleibt; es kann logischer oder anschaulicher Natur sein.195 Genaueres zum Verständnis der Selbstevidenz logischer Axiome sagt Frege nicht, was angesichts der Bedeutung der logischen Grundlagen erstaunt. Tyler Burge hilft diesem Manko ab mit drei Bedingungen, unter denen eine Wahrheit selbstevident in Freges Sinn ist: (i) ein ideal rationaler Denker wäre rational, wenn er an sie glaubt; (ii) diese Rationalität müsse nicht auf einem Schluss von anderen Wahrheiten beruhen, sondern hänge lediglich davon ab, dass die Wahrheit verstanden werde; (iii)  der Glaube an jene Wahrheit sei für einen ideal rationalen Denker, der sie voll und tief verstehe, unvermeidlich.196 Burge gibt vor dieser Passage zu bedenken, dass die »Erkennbarkeit« selbst­ evidenter Grundlagen implizit eine Beziehung zu einem denkenden Subjekt einschließt, dass aber dennoch die letzte rechtfertigende Grundlage unabhängig von einem solchen Subjekt sei.197 Burges Rekonstruktion von Freges Verständnis der Selbstevidenz der Grundlagen stellt, um das Beste daraus zu machen, eine Art Konkordanz dieser Grundlagen mit einem ideal rationalen Denken oder Denker modellartig her. Damit wird man zufrieden sein, wenn man glaubt, dass es ideal rational Denkende gibt. Selbst wenn man damit zufrieden sein sollte, wird man wohl kaum akontologische Voraussetzungen hat | 129

zeptieren wollen, dass sich irgendjemand in seinem Urteil über selbstevidente Grundlagen darauf beruft, ideal rational zu denken unabhängig davon, wie andere darüber denken. Denn für diesen Anspruch fehlt eine unabhängige Evidenz; die bloße Behauptung, dass es so ist, genügt nicht. Es kommt darauf an, dass die logischen Grundlagen unabhängig von einem solchen subjektiv wahren, aber nicht bestätigbaren Anspruch gelten. Damit wäre die alte Leerstelle für das subjektive Verstehen des Selbstevidenten wieder offen und das Denken des Selbstevidenten weiter unklar. Frege selbst macht mindestens einmal die Erfahrung, dass ein von ihm beschriebenes Grundgesetz, nämlich das Grundgesetz  V198 , ihm selbst zwar selbstevident erscheint, anderen aber nicht. Damit ist ihm wohl auch bewusst, dass er selbst möglicherweise über das, was selbstevident ist, irren kann.199 Uns interessiert nun nicht so sehr diese Selbstverständlichkeit, sondern die Frage, wie wir mit der Selbstevidenz von Grundlagen des Denkens überhaupt umgehen können. Es mag nun etwas weit hergeholt erscheinen, auf Thomas von Aquin und dessen Umgang mit dem, was selbstevident erscheint, hinzuweisen. Er knüpft an Aristoteles200 an, wenn er die Frage stellt, ob Gott ein ›per se notum‹, also etwas Selbstverständliches oder Selbstevidentes sei. Er verneint diese Frage und erläutert, unter welchen Bedingungen etwas ein ›per se notum‹ ist. Zum einen sei das selbstevident, wovon niemand das Gegenteil denken könne; das sei aber bei Gott – im Unterschied zum Widerspruchsprinzip  – möglich. Damit wiederholt er, was Aristoteles sagt. Zum zweiten komme es bei der Entscheidung darüber, ob eine Aussage selbstevident sei, darauf an, dass alle Begriffe der Aussage (Subjekt und Prädikat) allgemein bekannt, also ihrerseits selbstevident seien. Dies sei bei der Aussage ›Gott existiert‹ nicht der Fall, weil »für uns« Gott nicht selbstevident sei.201 Wollte man diese Einsicht nun auf die logischen Grundgesetze anwenden, blieben alle diejenigen als selbstevident übrig, deren Gegenteil wir nicht denken können. Wir müssen dies nicht im Einzelnen nachvollziehen, um zu verstehen, dass es letztlich allein darauf ankommt, ob die Begriffe, die in den Gesetzen eine Rolle spielen, für uns evident sind. Dies hängt davon ab, ob wir die Begriffe ohne weiteres, quasi auf Anhieb, verstanden haben. Was heißt aber, etwas auf Anhieb verstehen? Die Antwort kann nicht sein, dass wir 130 | Ob die Geltung von etwas … 

das Selbstevidente oder Selbstverständliche auf Anhieb verstehen, weil wir uns damit nur im Kreis drehen. Versuchen wir deswegen, genauer zu verstehen, welche Voraussetzungen das Verstehen des Selbstevidenten hat. Die eben erläuterte aristotelisch-thomistische Test-Frage für das Selbstevidente, ob wir uns das Gegenteil denken können, kann dabei helfen. Sie kann aber auch dabei helfen, etwas scheinbar Selbstevidentes vom wirklich Selbstevidenten und das Selbstverständliche vom Selbstevidenten zu unterscheiden. Es ist z. B. selbstverständlich, dass wir den eigenen Angehörigen helfen, wenn sie Hilfe brauchen. Selbstevident ist das aber nicht, weil wir uns auch – so hartherzig das sein mag – das Gegenteil ohne Widerspruch denken können. Es kann sich auch etwas, was nicht selbstverständlich ist, dass z. B. – um ein Beispiel Wittgensteins202 zu bemühen  – etwas zwar durchsichtig grün, aber nicht durchsichtig weiß ist, nach einigem Nachdenken als selbstevident erweisen; weil wir uns das Gegenteil nicht denken, genauer gesagt nicht vorstellen können. Wenn wir den Radius dessen, was selbstevident sein kann, über die logischen Grundlagen hinaus erweitern, erkennen wir, dass die Einsicht in das Selbstevidente oder auch Selbstverständliche keine ausschließlich kognitive, begriffliche Leistung ist, sondern das einschließt, was ›Anschauung‹, ›Vorstellungskraft‹ und ›Einbildungskraft‹ bezeichnen. Dies sind subjektive Leistungen, Fähigkeiten und Aktivitäten, die durch Begriffe nur angedeutet, aber nicht ersetzt werden können. Schon beim Widerspruchsprinzip müssen wir uns auf die Frage, ob das Gegenteil denkbar wäre, vorstellen können, was dies bedeuten könnte. Der anschauliche, vorstellbare Hintergrund, den wir dabei aktivieren, hilft uns, die Selbstevidenz dieses Prinzips zu verstehen. Nicht anders verhält es sich mit den logischen Grundlagen und Grundgesetzen, auch wenn wir in diesen Zusammenhängen die subjektive Seite des Verstehens leicht ausblenden können. Die eben beschriebene subjektive Seite des Umgangs mit Grundgesetzen entzieht sich einer allgemeinen Charakterisierung oder Erklärung. Kaum jemand wird ein Problem damit haben, das Widerspruchsprinzip zu verstehen, und kaum jemand wird zögern, Begriffe wie ›Mensch‹ und ›Lebewesen‹ zu verstehen und entsprechend auch die Aussage, dass der Mensch ein Lebewesen ist. Bei ontologische Voraussetzungen hat | 131

›Wertverläufen‹ und ›Extensionen‹ ist es aber anders. Da bedarf es, wie wir oben sahen, einer gewissen Erläuterung, bevor wir verstehen, worum es geht. Was uns als selbstevident erscheint, hängt von kognitiven und anderen Leistungen ab, die subjektiver und reflexiver Natur sind. Jeder Einzelne muss zumindest nach einem Lernprozess selbst verstehen und sich vorstellen können, was die Begriffe bedeuten. Frege untersucht die subjektive Seite des Erfassens des Selbst­ evidenten nicht. Geltungstheoretisch schenkt er primär der nichtreflexiven Bedeutung der logischen Grundlagen und der Gedanken seine Aufmerksamkeit. Die reflexive Seite, das Erfassen und Denken der Grundlagen, die kognitive Qualität des Selbstevidenten, stellt er zurück, als hätte sie keinen Einfluss auf den Inhalt der Gedanken. Der Vorteil der Konzentration auf das Nicht-Reflexive der Grundlagen ist die Klarheit ihrer Darstellung, frei von subjektiven Einflüssen und Schwankungen. Der Nachteil ist, dass der kognitive Wert dieser Grundlagen scheinbar von keinem Erkenntnissubjekt abhängig ist. Dieser Nachteil relativiert aber den Vorteil, denn das Nicht-Reflexive ist für diejenigen, die es erfassen, nur reflexiv klar. Sie sind dabei nicht gegen Irrtum gefeit. Wenn die Geltungstheorien von Kant und Frege erfolgreich wären, könnten sie den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, auf eine zuverlässige Grundlage stellen. Der Anspruch auf Geltung wäre dann theoretisch begründet. Beide Begründungen des Zusammenhangs scheitern, weil beide Theorien ontologische Voraussetzungen haben, die sie nicht berücksichtigen. Dennoch sind die beiden geltungstheoretischen Ansätze nicht überflüssig. Ihr Scheitern zeigt die Grenzen geltungstheoretischer Begründungsmöglichkeiten. Den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, können wir zumindest mit diesen Theorien nicht begründen. Die Vermutung liegt nahe, dass wir ihn durch keine Theorie begründen können. Es bleibt aber die Praxis. Freges Gedanken unterstützen unser Verständnis des Nicht-Reflexiven als etwas, was wir auffinden, aber nicht selbst herstellen. Sein Vorschlag eines eigenen Tempus für Gedanken, die Unzeitlichkeit, hilft uns, den besonderen zeitlichen Charakter der Geltung zu verstehen. Vom Gedanken des Nicht-Reflexiven haben wir schon regen Gebrauch gemacht. Die Unzeitlichkeit können wir 132 | Ob die Geltung von etwas … 

mit der Offenheit der Bedeutungen von Prinzipien und dem Zusammenhang zwischen Genese und Geltung verbinden. Frege hat über diesen Zusammenhang nachgedacht, sich aber gescheut, das rationale Denken mit dem psychologisch gefärbten, individuellen Verstehen zu vermischen. 2.3 Ob es eine objektive Geltung gibt

Das Scheitern der Geltungstheorien von Kant und Frege entzieht ihren Vorstellungen von objektiver Geltung die Grundlage. Wir könnten deswegen vermuten, dass objektive Geltung ein nicht einlösbarer Anspruch ist. Um diese Vermutung zu prüfen, sollten wir uns noch einmal daran erinnern, was Kant und Frege über ›Objektivität‹ denken. Kant ist überzeugt, dass objektiv nur das subjektiv bewusste, a priori synthetisch durch das ›Ich denke‹ geordnete, begriffliche Wissen gelten kann. Es ist objektiv mögliches Wissen, das auf diesem modalen Niveau verharrt. Die erfahrbare Welt ist damit weder beschrieben noch verstanden. Lediglich der kognitive Zugang zu dieser Welt ist eröffnet. Objektiv geltendes Wissen ist damit unabhängig vom Scheitern der Geltungstheorie möglich und denkbar. Frege geht einen subjektfreien Weg. Seine Gedanken gehören keinen Subjekten und sind deswegen nicht von deren Reflexion abhängig. Sie sind zeitlos objektiv gegeben, damit auch unabhängig von dem Zeitpunkt, zu dem sie erfasst werden. Freges Gedanken haben einen wissenschaftlichen Charakter unabhängig davon, wer sie wann erfasst. Sie haben mit der Reflexion von Subjekten nur indirekt etwas zu tun, wenn Subjekte sie aufnehmen, verstehen und anerkennen. Die Subjekte der Wahrnehmung samt ihren Leistungen verweist Frege in die Psychologie. Er lässt die Frage unbeantwortet, wie aus den möglichen Gedanken wirkliche und objektiv geltende werden können. Dies ist aber die Frage, die wir nicht unbeantwortet lassen dürfen, wenn wir wissen wollen, was es heißt, dass Gedanken objektiv gelten. Ihre Gegebenheit mag ihre Geltung einschließen oder auch nicht. Genau dies müssen wir prüfen können. Kant hat die Möglichkeit objektiven Wissens auf eine apriorische Grundlage gestellt, ontologische Voraussetzungen hat | 133

und Frege hat gezeigt, dass ›Geltung‹ logisch strukturierte Verfahren voraussetzt und dass Objektivität etwas zeitlos Gültiges sein sollte. Da seine Gedanken aber ohne denkende Subjekte auskommen, erfahren wir nicht, wie die Objektivität zuverlässig beurteilt werden kann. Wir wollen aber wissen, ob und wie objektiv geltendes Wissens von der Welt zustande kommt. Tyler Burge macht dazu in seiner Untersuchung der Ursprünge und Grundlagen der Objektivität einen Vorschlag.203 Er macht Anleihen bei Kant und Frege, besonders aber in der zeitgenössischen Wahrnehmungspsychologie. Seine Frage ist, unter welchen Bedingungen eine genaue, objektive Darstellung der physischen Welt beginnt. Sie beginnt, wie er darlegt, mit der Wahrnehmung, und zwar auf dem einfachsten Niveau, das wir mit vielen Lebewesen teilen. Dies klingt wie eine herkömmliche empiristische These, ist aber keineswegs so gemeint. Burge will das menschliche Denken nicht wie Hume auf dem aufbauen, was wir subjektiv wahrnehmen. Es geht ihm zunächst um die phylogenetischen Grundlagen des Wissens und dann auch um Wahrheit und Objektivität als normativen, konstitutiven, a priori geltenden Ansprüchen, die sich nicht mit der Wahrnehmung selbst schon stellen oder ergeben. Burge nimmt begriffliche Bedingungen der Objektivität auf, die wir von Kant her kennen, will aber nicht wie Kant die Objektivität des Wissens aus Begriffen a priori ableiten. Burge geht – gestützt auf seine Anleihen bei der Wahrnehmungspsychologie  – davon aus, dass »Wahrnehmung, Repräsentation und Objektivität gemeinsam beginnen«.204 Er zerschlägt damit in gewisser Weise den gordischen Knoten der subjektiven und nicht-subjektiven Grundlagen des Wissens. Was ›Repräsentation‹ in diesem Zusammenhang bedeutet, bedarf der Erklärung, weil Burge diesen Begriff nicht-reflexiv und dennoch psychologisch versteht. ›Repräsentation‹ ist ein Begriff für unsere Bezugnahme auf die Welt und insofern ein anderes Wort für ›Referenz‹205. Wahrnehmung und propositionales Denken, elementare psychische und veridische Elemente fließen dabei im Mentalen zusammen. Das Mentale, das Denken, wie Burge es versteht, ist genau dieses Produkt, ein sinnlich-begriffliches System. Dessen Ausgangspunkt ist anti-individualistisch und damit nicht-reflexiv. Burge hat ausführlich für seinen Anti-Individualismus, nicht 134 | Ob die Geltung von etwas … 

zuletzt in seiner Auseinandersetzung mit Frege, argumentiert.206 Im Gegensatz zu Frege steht Burge der Psychologie, vor allem der zeitgenössischen Wahrnehmungspsychologie, positiv gegenüber. Er ist überzeugt, »dass eine objektive empirische Repräsentation der Umwelt möglich ist, obwohl keine konstitutiven Vorbedingungen einer solchen Repräsentation in der individuellen Psychologie dargestellt werden können«.207 ›Repräsentation‹ ist unabgeleitet, steht für sich als Teil der mentalen, phylogenetischen Ausstattung, die wir mit vielen anderen Lebewesen teilen. Burge lehnt das Modell einer individuellen Repräsentation208 ab, ist insofern durchaus noch ein Anti-Psychologist wie Frege. Entscheidend ist, dass der Inhalt der Repräsentation die Bedingungen enthält, die jenen Inhalt sowohl wahrheitsfähig machen, als auch für das Scheitern der Wahrheitsfähigkeit verantwortlich sind.209 Es sind diese Bedingungen, welche die Wahrnehmung  – wie Burge meint – ihrer Möglichkeit nach genau, richtig und zutreffend machen.210 Die ›Inhalte der Repräsentation‹ sind in dieser nominalisierten Form, wie er argumentiert, durchweg abstrakte Entitäten. Ihre ontologische Qualität spielt eine untergeordnete Rolle.211 Die Objektivität der Repräsentation ist in einem weiten Sinn unabhängig von der Perspektive, unter der die Welt individuell wahrgenommen wird, sie ist intersubjektiv und umfasst alles, was es gibt. Dennoch ist jede einzelne Repräsentation notwendig perspektivisch, auf Standpunkte bezogen.212 Als Grundlage der Objektivität setzt die Repräsentation der physischen Wirklichkeit und der Eigenschaften der Einzeldinge, wie Burge darlegt, in keinem konstitutiven Sinn Rationalität, Sprache und Selbstbewusstsein voraus. Anti-Individualismus und Wahrnehmungspsychologie zeigen nach seinem Urteil, »dass die objektive empirische Repräsentation ihre Grundlagen in nichtrepräsentationalen Beziehungen zu einer weiten Umwelt und in unserer naturhaften Ausstattung als Lebewesen hat«.213 Wahrnehmung ist damit die nicht-reflexive Basis dessen, was als objektives Wissen der Welt gelten kann. Die Quellen der Objektivität seien »blind«, sagt Burge, und unabhängig von unseren Fähigkeiten zu »propositionalem Denken«, aber dennoch nicht einfach nur »biologisch«, sondern wahrheitsfähig, dabei aber immer auch selbst- und kontextbezogen.214 ontologische Voraussetzungen hat | 135

Diese knappe, ergebnishafte Beschreibung von Burges Argumenten vermittelt keinen Eindruck von der Sorgfalt und Genauigkeit seiner Rekonstruktion der Wahrnehmung. So kann leicht der falsche Eindruck entstehen, dass es vor allem Schlagworte wie ›Anti-Individualismus‹, ›Repräsentation‹ und ›Wahrheitsfähigkeit‹ (veridicality) sind, welche die Last der Überlegungen tragen. Tatsächlich gewinnt Burge deren Bedeutung aber in ausführlichen Rekonstruktionen, die einen transzendentalen Charakter haben. Sie haben diesen Charakter, weil sie am Ende jeweils an einem Punkt ankommen, zu dem es keine Alternative gibt. Dies trifft sowohl für den Anti-Individualismus als auch für die wahrheitsfähige Repräsentation durch Wahrnehmung zu. Dies sind zwei argumentative Ziele, die den Ausgangspunkt des Denkens und des Wissens von der objektiven, physischen Wirklichkeit bilden. Aufgrund dieser beiden theoretischen Ausgangspunkte kann das Wissen, das wir Menschen durch unsere Wahrnehmung erwerben, als objektiv gelten. Wir gebrauchen die Begriffe, mit denen wir dann Wissenschaft treiben können, auf der geschilderten Grundlage zuverlässig (antiindividualistisch), relevant und wahrheitsfähig (repräsentational). Der Anti-Individualismus hat einen reflexiven und bewusstseinstheoretischen, die Wahrnehmung einen nicht-reflexiven, vortheoretischen und nicht-begrifflichen Charakter. Burges Überlegungen sind überzeugend. Sie zeigen, wie der Anspruch auf objektive Geltung begründet werden kann. Sie stellen einen Zusammenhang her zwischen der nicht-reflexiven Wahrnehmung dessen, was ist, und den theoretischen Ansprüchen der Objektivität, die erfüllt werden sollen, damit wissenschaftliches Wissen objektiv gelten kann. Burges reflexive, anti-individualistisch strukturierte Konzeption des Denkens setzt – quasi arbeitsteilig – die nicht-reflexiv konzipierte Wahrnehmung bei der Bildung objektiven Wissens von der Welt voraus.215 Dabei ist klar, dass diese Voraussetzung selbst von Subjekten gedacht und sprachlich ausgedrückt werden muss, um als nicht-reflexive Grundlage gelten zu können. Nur dann, wenn es eine klare Asymmetrie zwischen der Rolle der nicht-reflexiven im Verhältnis zu den reflexiven Grundlagen gibt, kann eine zirkuläre Argumentation vermieden werden. Die Spannung zwischen beiden Grundlagen bleibt bestehen und ist theoretisch nicht auflösbar. 136 | Ob die Geltung von etwas … 

Burges hier exemplarisch dargestellte Auffassung von Objektivität ist nicht die einzige. ›Objektivität‹ ist ein Anspruch, den so gut wie jede Theorie des Wissens, des Meinens oder Glaubens vertritt. Eine analytisch und argumentativ anspruchsvolle Theorie objektiven Glaubens bietet Wolfgang Spohn an. ›Glauben‹ oder ›Meinen‹ sind Worte, die missverständlich sind. Es geht den Theorien, welche diese Worte verwenden, nicht nur um subjektive oder vorläufige kognitive Einstellungen, sondern um gerechtfertigte, wahre Überzeugungen. Spohn ist nicht skeptisch gegenüber epistemischen Wahrheitstheorien, sondern hält sie für möglich und begründbar.216 Seine von den Idealen der Objektivität und Wahrheit geleitete Theorie hat methodisch einen induktiven und probabilistischen Charakter. Er geht davon aus, dass wir Menschen zunächst voraussetzungslose Überzeugungen (unconditional beliefs) bilden und dann in einer Art induktivem Lernprozess unsere Überzeugungen nach und nach verändern und ergänzen. Das Ziel dieses Prozesses sind wahre Überzeugungen.217 Den Ausgangspunkt bilden bewusste Wahrnehmungen in einem Sinn, in dem Empiristen, allen voran Hume, sie verstehen, also ontogenetisch und nicht phylogenetisch, wie Burge sie in Anlehnung an die Wahrnehmungspsychologie versteht. Spohn orientiert sich – anders als Burge – an den herkömmlichen theoretischen Denkmustern des Fundamentalismus und Kohärentismus, ohne sie zu propagieren oder wieder auferstehen zu lassen. Die probabilistischen Theoreme, die er entwickelt, machen ihn von diesen klassischen Mustern in gewisser Weise unabhängig, wenn auch nicht ganz. Spohn nimmt das Trilemma der Rechtfertigung ernst, aber nicht allzu ernst, weil seine Theorie die induktiv gewonnenen Überzeugungen erst dann als Gründe anerkennt, wenn sie normativ bewertet werden können.218 Gründe dieser Art können als objektiv gelten, ohne von dem Trilemma belastet zu sein. Sie entsprechen dem, was Spohns probabilistische ›ranking theory‹ leistet. Je besser Überzeugungen gerechtfertigt sind, desto positiver, besser und höher ist ihr theoretischer Rang. In dieser Rang-Theorie werden Gründe vervollständigt und gewichtet. Ob sie auch allgemein als gut anerkannt werden, ist damit noch nicht entschieden. Hier ist nicht der Raum für eine angemessene Darstellung von Spohns Objektivitätstheorie, sondern nur für eine knappe Charakontologische Voraussetzungen hat | 137

terisierung der theoretischen Einstellung, die sie zum Ausdruck bringt. Diese Einstellung ist – an Hume orientiert – von empiristischen Überzeugungen geleitet, nimmt deswegen die Wahrnehmung als theoretisch ungeprägten, lediglich sprachlich präsenten Anfang aller Überzeugungen und ihrer Veränderung ernst. Dementsprechend beginnt die Bildung der Überzeugung beim »Schein« und nicht beim »Sein«.219 Sie könnte damit nicht-reflexiv, voraussetzungslos beginnen. Genau dies tut sie aber nicht, weil sie alle die Modalitäten, die wie Gesetzmäßigkeit und Kausalität eine wesentliche Bedingung unseres Wissens von der Welt sind, in die subjektiven Grundlagen der Wahrnehmung projiziert. Damit wird – ähnlich wie bei Kant – der Ausgangspunkt des Wissens doppeldeutig reflexiv und nichtreflexiv. Gut erkennbar wird diese Doppeldeutigkeit an Spohns Rekonstruktion von Humes Auffassung von Kausalität als Assoziation von Ideen und gleichzeitig als Regularität der Verbindung zwischen den Ideen.220 Spohn ist aus guten Gründen überzeugt, dass Humes Auffassung von Kausalität primär assoziativ zu verstehen ist. Theoretisch kann dies aber offenbar nur rationalistisch mit Hilfe von Begriffen der Verursachung, also regularitätstheoretisch ausgedrückt werden, wenn am Ende objektives Wissen von der Welt möglich sein soll. Spohns Anlehnung an Hume ist deswegen interessant, weil Hume der einzige klassische Erkenntnistheoretiker ist, der klar zwischen zwei Typen von geistigen Gehalten unterscheidet. Die einen nennt er »sensations«, die anderen »reflexions«.221 Erstere sind nicht-reflexiv, letztere reflexiv. Der Ursprung der nicht-reflexiven Empfindungen ist unbekannt, die zweiten, die Reflexionen, leiten sich von den Ideen ab, die im menschlichen Denken bereits vorhanden sind. Die ersten repräsentieren nichts außer sich selbst, die zweiten repräsentieren die wahrgenommene Wirklichkeit und deren Objekte. Die ersten sind nicht zu bezweifeln, die zweiten schon. Diese klare Unterscheidung ist nicht problemlos. Da die nichtreflexiven Empfindungen nur aktuell gegeben sind, haben sie keine kognitive Stabilität. Für die Gegenstände, die wir wahrnehmen, ist dies misslich. Deswegen muss Hume dafür sorgen, dass sie nicht – wie bei Berkeley – einfach verschwinden, wenn sich die Empfindungen verändern. Hume löst den möglichen Konflikt, indem er 138 | Ob die Geltung von etwas … 

die Natur kraftvoll dafür sorgen lässt, dass alle Wahrnehmungen der Ähnlichkeit – mit ihnen beginnt für ihn unsere Erfahrung – Kontinuität und Identität behalten.222 Hume ist kein Rationalist. Deswegen nimmt das Denken in seiner Theorie keinen Einfluss auf die Empfindungen und umgekehrt die Empfindungen auch nicht auf das Denken. Der Gehalt der Empfindungen, ihre Dauer und Intensität sind theoretisch nicht beeinflussbar. Die »reflexions« sind dagegen Produkt des Denkens und nicht Produkt von Empfindungen. Dieser Mangel an Empfindungsgrundlage ist die bleibende Quelle der Skepsis. Die assoziative Auffassung der Kausalität ist dafür ein Beispiel. Spohn argumentiert rationalistisch und kann sich deswegen nicht wirklich vorbehaltlos auf Humes Ansatz einlassen. Er nähert sich ohne Absicht Kants Modell an, in dem die Apperzeption, das ›Ich-denke‹, die nicht-reflexive Wahrnehmung und das reflexive Denken synthetisiert. Damit bleibt in Spohns Konzeption der Objektivität das Verhältnis zwischen nicht-reflexivem Ausgangspunkt und reflexiver Theorie ähnlich doppeldeutig wie Kants Apperzeption. Da der subjektive Schein der Wahrnehmung direkt zu den historisch bekannten Problemen des Skeptizismus führt, muss Spohn außerdem sehen, wie er diese Probleme lösen kann. Er versucht, sie kohärentistisch zu überwinden, und nimmt dabei noch immer den voraussetzungslosen, nicht-reflexiven Ausgangspunkt als Hintergrund an. Er integriert ihn aber nur idealtypisch in seine Theorie. Die »nicht-eliminierbare« Lücke zwischen Überzeugungen und Wahrheit 223 bleibt bestehen, die Skepsis auch. Erst am Ende des Forschungsprozesses kann die Lücke geschlossen werden, wie Spohn meint. Diese Hinweise auf Spohns Theorie sind zu knapp, um ihr gerecht zu werden. Interessant für unsere Überlegungen ist, dass der Anspruch auf Objektivität bei der Bildung von Überzeugungen in seiner Theorie davon abhängig ist, wie das Verhältnis zwischen nicht-reflexiven Voraussetzungen und reflexiven Begriffen zu verstehen ist. Dieses Verhältnis wird nicht abschließend geklärt. Wir stehen mit Spohns Auffassung von Objektivität etwa da, wo wir mit Kant stehen. Im Unterschied zu Kant geht es Spohn nicht um die Bedingungen möglicher Objektivität, sondern um wirkliche. ontologische Voraussetzungen hat | 139

S­ pohn stellt wie Burge einen Zusammenhang her zwischen der nicht-reflexiven Wahrnehmung dessen, was ist, und den theoretischen Ansprüchen der Objektivität, die erfüllt sein sollten, wenn wissenschaftliches Wissen als objektiv gelten kann. Es gibt also objektive Geltung als theoretischen Anspruch. Der Anspruch wird aber selbst nicht noch einmal theoretisch begründet, weder im ­einen noch im anderen Ansatz. 2.4 Ob das Nicht-Reflexive reflexiv erfasst werden kann

Wir haben bisher angenommen, dass wir das Nicht-Reflexive reflexiv erfassen können. Wir können aber nicht annehmen, dass wir alles Nicht-Reflexive reflexiv erfassen können. Gegen eine solche Annahme spricht, dass sich die Menge des Nicht-Reflexiven verändern kann. Dies zeigt die bisher bekannte Menge. Das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem gehört ebenso dazu wie das Gute und die Gewissheit des eigenen Todes, Prinzipien wie das Widerspruchs­ prinzip und logische Grundgesetze, Naturgesetze und die Menschenrechte, schließlich das ›Ich denke‹ und alles, was es raumzeitlich gibt. Einiges davon gab es lange bevor wir dies wussten. Dazu gehören die logischen Grundgesetze und die Naturgesetze, in gewisser Weise auch die Menschenrechte. Dies alles gab es unabhängig davon, ob es jemand bemerkte oder entdeckte. Wir können nicht annehmen, dass mit dem uns bisher Bekannten die Menge des Nicht-Reflexiven erschöpft ist. Was zur bisher bekannten Menge an Nicht-Reflexivem gehört, existiert auf unterschiedliche Weise. Die Bezeichnungen geben darüber eine gewisse Auskunft. Vieles, wie die Naturgesetze, ist raum-zeitlich wirksam, anderes, wie die Menschenrechte, sollte auch raum-zeitlich wirksam sein, ist es aber nicht überall. Der reflexive Zugang zum Nicht-Reflexiven zeigt, wie wir das, was existiert, verstehen können. Wir finden es, stellen es aber nicht her. Da unser Verhältnis zur unterschiedlich gearteten Menge des NichtReflexiven nicht anders als reflexiv sein kann, können wir uns nicht sicher sein, ob es angemessen ist. Das Nicht-Reflexive aufzufinden ist das Eine, zu erkennen, dass es gilt, das Andere. Denn nicht alles, was wir auffinden, gilt, weil 140 | Ob die Geltung von etwas … 

auch nicht alles, was existiert, schon allein deswegen gilt. Es gilt nur das, was auch sein soll. Die Erwärmung des Klimas, das Artensterben, Kriege, Morde, Hunger und alle Nöte menschlichen Lebens existieren ebenfalls. Die Ursachen dafür finden wir nicht nur, sondern schaffen sie. Sie mögen uns nicht-reflexiv erscheinen, sind es aber nicht. Die Menge des Nicht-Reflexiven ist aus geltungstheoretischer Perspektive kleiner als aus ontologischer. Das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem und die Gewissheit des eigenen Todes gehören ebenso wenig dazu wie das ›Ich denke‹. Nichts davon soll sein, sondern ist nur so. Dagegen soll das Gute auch sein und gilt, allerdings aus tautologischen Gründen, weil wir keinen anderen Grund dafür finden als das Gute selbst. ›Ist‹ und ›soll‹ fallen beim Guten zusammen. Dies ist beim Nicht-Reflexiven, das nicht nur ist, sondern auch sein soll und aus nicht-tautologischen Gründen gilt, nicht so. Das Widerspruchsprinzip, theoretische und praktische Prinzipien, aber auch Naturgesetze existieren und sagen, was wie verstanden werden soll. Sie gelten, weil sie selbst die Gründe dafür sind. Wenn wir deren Geltung reflexiv erfassen wollen, müssen wir sie als Gründe verstehen. Es genügt nicht zu sagen, dass sie unabgeleitet gelten, weil dies nur wiederholt, was das Nicht-Reflexive dieser Prinzipien ist. Es kommt darauf an, ob und wie wir dieses Unabgeleitete, Nicht-Refle­ xive erfassen und verstehen können. Es geht darum, den reflexiven Zugang zu dem so Bezeichneten zu klären. Dies ist unverzichtbar, weil wir den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, nur reflexiv herstellen können. Es geht nun darum, wie weit die Reflexion reicht und wo sie ihre Grenzen hat. Wenn wir die Grenzen nicht bestimmen, wird der Zusammenhang zwischen dem Nicht-Reflexiven und der Reflexion unklar. Wir können dann nicht mehr zwischen dem, was wir auffinden, und dem, was wir selbst machen, unterscheiden. Wir kennen diese Unklarheit von Kants ›Ich denke‹, das sowohl die unabgeleitete, nicht-reflexive Grundlage des Urteilens als auch die erste Handlung der Reflexion sein soll. Frege vermischt dagegen das Urteilen nicht mit seinen Grundlagen. Die Geltung von Sätzen als wahr beginnt bei ihm mit dem Akt des Behauptens aus den Grundsätzen des »reinen Denkens«224 . Die Voraussetzungen ontologische Voraussetzungen hat | 141

der Geltung hält er für nicht ausdrückbar, glaubt aber, dass sie in die darstellbaren Denkgesetze einfließen. Für den reflexiven Nachweis der Wahrheit entwickelt er eine Zeichensprache, die keine missverständlichen Spielräume der Interpretation offen lassen soll.225 Das Nicht-Reflexive bleibt vom Reflexiven getrennt, weil die dem Gebrauch der Zeichensprache zugrunde liegenden Voraussetzungen, die Regeln und Gesetze des reinen Denkens, auch in der Zeichensprache nicht ausdrückbar sind; d. h. die Grundlagen der Begriffsschrift können genau deswegen nicht ausgedrückt werden, »weil sie ihr zu Grunde liegen«.226 Sie sind nicht-reflexiv und gelten unabgeleitet, weil sie reflexiv aufgefunden werden, aber nicht durch Reflexion entstehen.227 Das Verhältnis des Reflexiven zum Nicht-Reflexiven ist asymmetrisch. Wir sind uns unserer selbst bewusst, bringen jene Asymmetrie zum Ausdruck, bewegen uns damit aber nicht in einem argumentativen Zirkel. Wir erwähnen die Abhängigkeit von den unabgeleiteten Grundlagen und gebrauchen sie, begründen sie aber nicht. Die Asymmetrie kann nur erwähnt, aber nicht begründet werden. Sie zeigt sich. Das Nicht-Reflexive wird ebenfalls erwähnt, aber weder erklärt noch begründet. Freges Einsicht in die Grenze der Reflexion erweitert und vertieft Wittgenstein mit seiner Unterscheidung zwischen ›Sagen‹ und ›Zeigen‹228 . Wittgenstein schreibt im Tractatus: »Was sich in der Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen«.229 Freges und Wittgensteins Überzeugungen, was die Grenze der Ausdrückbarkeit und damit auch der Reflexion angeht, sind analog. Wittgenstein glaubt, dass sich die »logische Form« eines Satzes nicht sprachlich ausdrücken lässt, sondern in der Sprache, in welcher der Satz formuliert ist, nur zeigt. Frege seinerseits glaubt, dass sich die Grundlagen des reinen Denkens in den Regeln der logischen Verfahren abbilden, dass sie sich in diesen Verfahren zeigen, aber selbst nicht ausdrücken oder darstellen lassen. Diese beiden Überzeugungen erklären sich nicht selbst. Tatsächlich ist die einzige von Frege angebotene Erläuterung dafür, dass dies so ist, mit dem eben erwähnten Hinweis verbunden, dass die Grundlagen der Begriffsschrift nicht von ihr selbst ausgedrückt werden.230 Für diese Unmöglichkeit gibt es keine Begründung. Sie gilt wie ein Prinzip unabgeleitet und nicht-reflexiv. Wir wollen uns 142 | Ob die Geltung von etwas … 

dennoch überlegen, warum jene Grundlagen sich nur zeigen, sich aber nicht ausdrücken lassen. Wir wollen uns nicht auf den logischen Gebrauch von Zeichen beschränken. Von Frege und Wittgenstein wissen wir, dass die Geltung dessen, was mit Zeichen symbolisch ausgedrückt werden kann, von diesen selbst nicht ausgedrückt wird. Wir nehmen an, dass dies für alle Ausdrücke oder Symbole gilt, die sich auf etwas Nicht-Reflexives beziehen. Die Grenze zwischen dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven nehmen wir dann nicht ernst, wenn wir das, was symbolisch ausgedrückt wird, erklären wollen. Wir tun dann so, als könnten wir reflexiv die syntaktische Funktion nicht-reflexiv verwendeter Symbole erklären. Wittgenstein kritisiert dies und fordert, dass in der logischen Syntax »nie die Bedeutung eines Zeichens eine Rolle spielen« darf, dass sich die Regeln der logischen Syntax »von selbst verstehen« müssen.231 Die Missachtung der Grenze zwischen Syntax und Semantik, dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven, wirft er Russell vor, der meint, die syntaktische Funktion von Symbolen erklären zu müssen.232 Wittgenstein könnte sich auf Frege berufen, der – wie Burge anmerkt – in der Einleitung zu den Grundgesetzen seinen Symbolgebrauch nicht erläutert und die semantische Perspektive im Rahmen seiner logischen Argumentation meidet.233 Eine gewöhnliche Auffassung von ›Semantik‹ als Zeichenlehre legt nahe, dass die logisch-syntaktisch verwendeten Symbole eine eigene Bedeutung haben, und im Logik-Unterricht wird dies häufig suggeriert, um das Verständnis logischer Gesetze und Regeln zu erleichtern. Tatsächlich wird damit aber das Gegenteil erreicht, weil solche semantischen Erläuterungen gegen die unabgeleitete, nicht definierbare Funktion der Symbole in den grundlegenden Gesetzen verstoßen. Die Symbole haben keine Bedeutung unabhängig von den Gesetzen, nach denen sie verwendet werden. Wie sie verwendet werden, muss durch ihren Gebrauch evident sein. Dies gilt nicht nur für den logischen Gebrauch von Symbolen, sondern auch für die Regeln logischer Argumentationsfiguren. Auch ihr Gebrauch muss evident sein. Jedenfalls gelten diese Regeln nicht, weil sie umschrieben oder erläutert werden. Wir können uns dies am Beispiel der Regeln des Konditionals ›wenn a, dann b‹ klar machen. Wie immer wir einen Konditional ausdrücken, symbolisch oder nicht, die Geltung der Regeln, nach ontologische Voraussetzungen hat | 143

denen wir – dem modus ponens bzw. dem modus tollens entsprechend – wahre Schlüsse (›wenn a, dann b‹ – ›a‹ – ›also b‹ –, bzw.: ›wenn a, dann b‹ – ›nicht-b‹ – ›also nicht-a‹) ziehen können, wird in diesen Schlüssen vorausgesetzt, von ihnen selbst aber weder ausgesagt noch erklärt. Die Regeln des Schließens werden anhand der Schlussformen erkennbar. An ihnen können wir ablesen, was es bedeutet, dass die Regeln des modus ponens bzw. des modus tollens gelten. Die Geltung dieser Regeln ist weder begründet noch den Schlussformen selbst zu entnehmen. Sie ist auch nicht argumentativ vorausgesetzt. Es gibt kein Argument und keine Begründung dafür, dass die Regeln des modus ponens bzw. des modus tollens gelten. Die Schlussformen und ihre Regeln gelten einfach unabgeleitet. Irritierend ist bei der Erläuterung des nicht-reflexiven SichZeigens die reflexive Formulierung. Es scheint ungereimt, dass wir das Muster des Nicht-Reflexiven reflexiv ausdrücken. Genauer betrachtet ist dies keineswegs ungereimt. Das ›sich‹ des Zeigens bezieht sich auf das, was sich zeigt, was immer dies ist. Es bezieht sich nicht auf diejenigen, die darüber nachdenken. Das, was sich zeigt, vertritt grammatikalisch die Subjektstelle und bezieht sich unabhängig von denkenden Subjekten auf sich selbst. Wo immer wir einen nicht-reflexiven Zusammenhang erkennen, ist dies Ausdruck eines Selbstbezugs, der unabhängig von denjenigen ist, die ihn verstehen. Das Nicht-Reflexive zeigt sich reflexiv. Wir können das Verhältnis des Nicht-Reflexiven zum Reflexiven nicht anders als scheinbar paradox ausdrücken. Das eben beschriebene Verhältnis des Reflexiven zum NichtReflexiven ist nicht auf logische und symbolische Argumentationen beschränkt. Auch Tyler Burges psychologisches Konzept der Repräsentation und Wahrnehmung als Grundlage der Objektivität ist ein Beispiel dafür. Denn auch dieses Konzept schließt aus, dass die Wahrnehmungsgehalte, die der Objektivität zugrunde liegen, begrifflich oder semantisch, also reflexiv, bestimmt sind. Wären sie begrifflich bestimmt, würde dies bedeuten, dass  – wie Kant annimmt – jede Wahrnehmung a priori kategorial bestimmt und gleichzeitig auf ein seiner selbst bewusstes Subjekt bezogen wäre. Da Burge die humane Wahrnehmung aber nicht von der Wahrnehmung anderer Lebewesen trennt, würden wir – Kant folgend – 144 | Ob die Geltung von etwas … 

Annahmen machen, für die es keinerlei apriorische Evidenz gäbe; es sei denn, alle Lebewesen verfügten über Selbstbewusstsein und wir wüssten es. Außerdem würden wir uns mit einer begrifflichen Erklärung der Wahrnehmung anhand der Gehalte der Wahrnehmung im Kreis drehen. Wir können nicht behaupten, dass alle Schlussformen und ihre Regeln unabgeleitet gelten. Es gibt logisch-argumentative Verfahren, in denen die Geltung der angewandten Regeln thematisiert und beurteilt werden soll. Der von Frege gemachte Versuch, der Arithmetik ein logisches Fundament zu geben, gehört dazu. Dass dies – wie Russell in einem Brief an Frege feststellt – zu einer Paradoxie234 führt, liegt daran, dass bei diesem Versuch reflexive Beziehungen zwischen Prädikaten oder Mengen angenommen werden können, aus denen ein Widerspruch abgeleitet werden kann. Frege gibt in seiner Antwort an Russell zu, dass der Ausdruck »Ein Prädikat wird von sich selbst ausgesagt« nicht genau sei.235 Das ist aber nicht das letzte Wort in Sachen ›Grundlagen der Arithmetik‹. Mindestens ein weiterer Mathematiker, nämlich David Hilbert, fühlt sich durch drohende Paradoxien nicht entmutigt, ein Beweisverfahren für die Widerspruchsfreiheit arithmetischer Axiome zu entwickeln.236 Es geht hier nicht um die Einzelheiten seines Versuchs, Cantors Theorie transfiniter Zahlen finitistisch237 zu retten. Vielmehr geht es um die Frage, wo die Grenze der Beurteilung der Geltung eines Beweisverfahrens liegt. Hilbert meint, es gebe einen völlig befriedigenden Weg, den mengentheoretischen Paradoxien zu entgehen.238 Man müsse nur »das Wesen des Unendlichen«239 klären. Dabei dürfe man sich nicht von »abstrakten Begriffsbildungen« beirren lassen. Inhaltlich logisches Schließen sei unverzichtbar. Um zu erläutern, was er damit meint, verweist er auf Kants Behauptung, »daß die Mathematik über einen unabhängig von aller Logik gesicherten Inhalt verfügt und daher nie und nimmer allein durch Logik begründet werden kann«. Vorbedingung des logischen Schließens seien »außer-logische konkrete Objekte«, welche anschaulich »vor allem Denken« da seien.240 Hilbert will diese Anleihe bei Kant so verstanden wissen, dass jener konkrete, anschauliche Gehalt unmittelbar klar sei und nicht auf etwas anderes zurückgeführt werden könne. Er versteht Kants Anschauunontologische Voraussetzungen hat | 145

gen als nicht-reflexive Voraussetzung des Schließens. Hilbert teilt Kants Überzeugung, dass allen Begriffen, mit denen Erkenntnisse möglich sind, Anschauungen zugrunde liegen müssen. Damit wendet er sich gegen Frege, der seinerseits gegen Kant argumentiert, dass Zahlen keine a-priori-synthetischen Begriffe seien und ihnen keine Anschauungen korrespondierten, sondern dass die Begriffe der Arithmetik analytisch zu klären seien. Wir wollen uns nicht in jenen Grundlagenstreit vertiefen. Es geht allein darum zu verstehen, dass reflexive Grundlegungsverfahren zu Widersprüchen führen können und dass es unabgeleitete, nicht-reflexive Voraussetzungen gibt, die in einem argumentativen Verfahren als gültig angenommen werden müssen. Ob diese nicht-reflexiven Voraussetzungen Anschauungen sein müssen, wie Hilbert angelehnt an Kant meint, ist eher zu bezweifeln. Die Menge der Zahlen, die als anschauliche Größen verstanden werden können, ist begrenzt. Uns interessiert hier nicht Hilberts Kant-Anleihe, sondern seine Einsicht, dass argumentative Verfahren die Geltung ihrer Grundlagen nicht reflexiv beurteilen können. Es wäre zirkulär, wenn ein argumentatives Verfahren seine Geltung einschließlich der Geltung seiner Grundlagen nachweisen wollte. Da die Reflexivität von Begriffen methodisch in einer Reihe von Hinsichten unverzichtbar ist, etwa für Versuche, die Gleichwertigkeit von Begriffen und Sätzen nachzuweisen, wollen wir die Gründe, die für eine Einschränkung ihrer Tauglichkeit und Reichweite sprechen, noch etwas vertiefen.241 Zunächst ist offen, ob nur die Reflexivität eine Grenze hat und nicht auch die NichtReflexivität. Wir erinnern uns, Wittgenstein schließt im Tractatus eine Reflexivität des Zeichengebrauchs, also einen Bezug der Zeichen auf sich selbst, aus, um eine Zirkularität beim Gebrauch von Zeichen zu vermeiden. Die Bedeutung eines Zeichens muss sich zeigen, sie kann aber nicht gesagt werden, weder mit dem Zeichen selbst noch mit anderen Zeichen. Frege will – wie erwähnt – dem falschen Eindruck vorbeugen, dass die logischen Voraussetzungen des Zeichengebrauchs von und mit ihnen selbst ausgesagt werden können. Die Vorsicht beider Philosophen vor reflexiven Bezügen, die zirkulär wären, wenn sie für Begründungen gebraucht würden, bezieht sich auf die Grundlagen logisch-argumentativer Verfahren und auf ihre Geltung in diesen Verfahren selbst. 146 | Ob die Geltung von etwas … 

Klarer als an solchen Verfahren können wir die Gefahr der Zirkularität durch Reflexivität nicht erkennen. Diese Gefahr droht dem menschlichen Denken allgemein, weil Denken auf Sprache angewiesen ist und die Verständigung über das Gedachte nur sprachlich möglich ist. Dies betrifft auch alle nicht-reflexiven Geltungsgrundlagen. Wir nehmen an, dass sie sich ähnlich wie die Geltungsgrundlagen logischer Argumentationen zeigen, aber nicht ausgesagt oder erklärt werden können. Offensichtlich zeigen sie sich aber nicht alle gleich. Logische Grundgesetze zeigen sich anders als Wahrnehmungen und Repräsentationen. Weil sie sich anders zeigen, ist auch der Zugang zu diesen Grundlagen jeweils ein anderer. Logische Grundgesetze gelten selbstevident und a priori, Repräsentationen werden dagegen durch psychologische und neurobiologische Forschungen entdeckt und gelten a posteriori. Für beide Arten von Grundlagen gilt, dass sie sich erst in Argumenten zeigen und nicht unabhängig davon. Für den Zugang zu ihnen benötigen wir unsere Sprache. Nur sprachlich können diese Grundlagen erfasst werden. Sie sollen dabei aber inhaltlich nicht verändert oder beeinflusst werden. Sie gelten unabgeleitet. Da wir immer reflexiv urteilen, neigen wir dazu, den Geltungsgrundlagen unserer Urteile einen reflexiven Status – ähnlich dem ›Ich denke‹ – zu unterstellen. Dabei übersehen wir, dass sowohl die Grundgesetze als auch die Repräsentationen einen nicht-reflexiven Status haben, dass ihre Geltung von unseren Urteilen unabhängig ist. Was die logischen Grundgesetze anlangt, ist dies bereits klar geworden. Was die Repräsentationen betrifft, können wir uns den nicht-reflexiven Charakter ihrer Geltung an einem Beispiel aus der Neurobiologie verdeutlichen. Die visuelle Wahrnehmung über die Retina liefert zweidimen­ sionale Bilder, die kortikal in dreidimensionale verwandelt werden, ob wir wollen oder nicht.242 Diese evolutionäre Prägung unserer Wahrnehmung ist eine Grundlage unserer Wahrnehmung, die sich durch die Argumente, in denen wir sie gebrauchen oder erwähnen, nicht verändert. Sie ist den Grundgesetzen analog, weil sie sich nur zeigt, aber selbst weder begründet noch durch menschliches Denken verändert werden kann. Wir können lediglich die Funktion der kortikalen Bildverarbeitung erläutern, aber nicht begründen; der ontologische Voraussetzungen hat | 147

Hinweis auf die Evolution erklärt die Umwandlung von zwei- in dreidimensionale Bilder nicht. Die aposteriorische Tatsache ist auch als Ergebnis neuronaler Forschung ein abstrakter Gegenstand, den wir so nehmen müssen, wie er sich zeigt, also nicht-reflexiv. Dies schließt ein, dass weitere Forschungen den Gegenstand verändern können, ähnlich wie sich ein logisches Grundgesetz – wie Freges Axiom V – als nicht selbstevident erweisen kann. 2.5 Ob das, was sich zeigt, etwas Vor-Sprachliches ist

Der nicht-reflexive Charakter von logischen Grundgesetzen und von psychischen Repräsentationen zeigt, dass wir beim Denken und Sprechen etwas voraussetzen, was wir auffinden und worauf wir keinen Zugriff haben. Diese Geltungsgrundlagen unserer Urteile zeigen sich sprachlich, werden aber nicht sprachlich gebildet und auch nicht verändert. Wir könnten nun mühelos abstrakt solche Geltungsgrundlagen als ›vorsprachlich‹ oder ›vorbegrifflich‹ bezeichnen, wüssten damit aber nicht, wovon wir sprechen. Wir wüssten auch nicht, wie sich das Vor-Sprachliche zum Sprachlichen und das Vor-Begriffliche zum Begrifflichen verhält. Wir müssen uns fragen, wie Gehalte, die unseren Urteilen zugrunde liegen, sprachlich vermittelt werden können. Ähnlich fragen wir uns, wie Gehalte, die noch nicht begrifflich geformt sind, Einfluss auf unsere Begriffsbildung haben können. Wir fragen uns, wie wir uns mit unserer Sprache und unserem Denken auf Gehalte beziehen können, die noch nicht sprachlicher Natur und noch nicht begrifflich strukturiert sind. Wie können wir über das sprechen, was sich zeigt, und sicher sein, dass wir dies tun? Diese Frage ist nicht neu. Martin Heidegger stellt sie in einer anderen Diktion. Er ist überzeugt, dass wir über das, was nicht sprachlicher oder begrifflicher Natur ist, sprechen können. Sein Denken ist genau darauf gerichtet. Es ist – angelehnt an Leibniz – der denkbar umfassendste »Geltungsbereich«243 , um den es gehen kann, nämlich um das, was allem, was ist, zugrunde liegt. Heideg­ ger nennt es ›Sein‹. Diesen Geltungsbereich versucht er in so gut wie allen seinen Schriften zu beschreiben. Exemplarisch dafür ist seine Untersuchung von Leibniz’ Satz vom Grund. Diese Schrift 148 | Ob die Geltung von etwas … 

ist ein Versuch, über das, was er »grund-los« nennt, nämlich den »Grund« und das »Sein«, etwas Endgültiges zu sagen. Heidegger verwendet die lateinische und deutsche Version des Satzes ›nihil est sine ratione‹ bzw. ›nichts ist ohne Grund‹. Der Satz stürze uns, sagt Heidegger etwas dramatisch, »ins Grundlose«.244 Zunächst weist er darauf hin, dass es widersprüchlich scheint, dass der Satz vom Grund grundlos sein soll. Dieser Widerspruch ist aber kein Hindernis, über das, was grundlos ist, nachzudenken. Heidegger hält den Satz vom Grund für den wichtigsten aller Grundsätze. Es sei der »Grundsatz aller Grundsätze«.245 Er analysiert die Bedeutungen dieses Grundsatzes unter allen denkbaren Betonungen seines Wortlauts und kommt nach einer Reihe von argumentativen Schritten zu dem Ergebnis, dass der Satz vom Grund »ein Sagen vom Sein« sei, allerdings »verborgenerweise«.246 Entscheidend sind seine Überlegungen, dass der Satz keine Aussage über den »Grund«, sondern »über das Seiende« sei und dass der Satz ein »Leitsatz« für die »Ableitung und Begründung von Sätzen« und insofern »etwas Unableitbares« sei, »was dem Denken Einhalt gebietet«247. Heideggers Überlegungen treffen das, was wir als das ›NichtReflexive‹ bezeichnet haben, und geben ihm im Blick auf den größtmöglichen Geltungsbereich  – das, was ist  – eine ontologische Bedeutung. Er nähert sich diesem Geltungsbereich langsam, Schritt für Schritt und erinnert dabei an Aristoteles’ Deutung des Seins und der Natur als ein »Sichentbergen« und »von-sich-herAufgehen«248 . Was Aristoteles so nennt, ist unabhängig davon, ob und wie wir es erkennen, weil es dem vorausliegt. Das Erkennen kommt erst nachher. Heidegger spricht zwar wiederholt davon, dass das Sein nicht als Seiendes erklärbar sei und »als Sein grundlos« sei, spricht dann aber doch auf unvermeidlich paradoxe Weise von seiner Verborgenheit. Ein verborgenes »Sagen vom Sein«249 ist in unserer Diktion der paradoxe Versuch, das Nicht-Reflexive reflexiv auszusagen. Auf ähnliche Weise sprechen wir vom Verhältnis zwischen dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven. Der Versuch, das Nicht-Reflexive zum Gegenstand von Aussagen zu machen, muss scheitern. Wir können aber über das Verhältnis des Reflexiven zum Nicht-Reflexiven sprechen, ohne Aussagen über das Nicht-Reflexive zu machen. ontologische Voraussetzungen hat | 149

Dabei ist Vorsicht geboten, weil wir uns leicht beim Nachdenken über den größtmöglichen Geltungsbereich im leeren Abstrakten verlieren können. Dabei geht es im Geltungsbereich des Nicht-Reflexiven um das, was wir mühelos im alltäglichen Leben finden können. Wir kennen genügend Beispiele für das, was wir ›vorsprachliche‹ und ›vorbegriffliche‹ Gehalte nennen können. Wir wählen beim Optiker allein auf der Grundlage dessen, was wir sehen, die richtige Brillenstärke aus. Der Musiker mit absolutem Gehör identifiziert Tonhöhen sicher und muss für sie nur noch die richtige Notenschrift lernen. Wir riechen etwas und erinnern uns unmittelbar an Ereignisse, die wir vergessen hatten. Wir suchen nach Ausdrücken, die den Geschmack der Erdbeere, den Geruch einer Blume oder der Luft nach Regen beschreiben. Mit kaum einem Ausdruck sind wir ganz zufrieden, weil wir nicht sicher sind, welcher am besten das trifft, was wir empfinden. Und wenn es um sog. tiefere Empfindungen geht, die wir für andere haben, sind wir mit den Beschreibungen ohnehin nie zufrieden und die jeweils Angesprochenen wohl auch eher selten. All dies sind Beispiele für Wahrnehmungen, denen wir einen Namen geben oder von denen wir uns einen Begriff machen wollen. Es fällt uns also nicht schwer, anhand solcher Beispiele zu verstehen, wie irritierend unbestimmt sich das Vor-Sprachliche zum Sprachlichen und das Vor-Begriffliche zum Begrifflichen verhält. Philosophisch ist dieses einfache und alltägliche Verhältnis weniger einfach, wenn wir wie Heidegger allem dem auf den Grund gehen, was ist, also nicht nur unseren Wahrnehmungen. Er ist nicht der Erste, der über das Verhältnis des Vor-Begrifflichen zum Begrifflichen nachdenkt. Kant beantwortet die Frage, ob wir etwas unabhängig von Begriffen denken können, meistens eindeutig, aber nicht immer.250 Er verneint diese Möglichkeit, lässt aber eine Hintertür für das Nicht-Begriffliche offen, wenn er einräumt, dass dem begrifflichen Denken die Anschauung vorausliege, in unserem Fall also der Geschmack der Erdbeeren, der Geruch von Blumen oder der Luft nach Regen und die tiefen Empfindungen für andere. Es läge nahe, Kants ›Anschauung‹ auch so zu verstehen wie Tyler Burge ›Wahrnehmung‹ und ›Repräsentation‹ versteht, als etwas, wofür es noch keine Begriffe gibt, obwohl es existiert. 150 | Ob die Geltung von etwas … 

Wie Burge die vorbegrifflichen Gehalte versteht, müssen wir hier nicht vertiefen. Es herrscht aber ein philosophischer Streit darüber, ob es solche Gehalte überhaupt gibt.251 Wenn wir uns auf Burges Auffassung von Wahrnehmung als einer allgemeinen, unspezifischen Fähigkeit von Lebewesen – ähnlich wie wir – verständigen können, wird der Streit gegenstandslos. Dann bleibt nur noch die Frage, ob das vorbegriffliche menschliche Denken sprachlich strukturiert ist. Es spricht aber nichts dafür, dass die Wahrnehmung selbst eine sprachliche Struktur hat. Eine solche Struktur müsste physiologisch oder neurobiologisch erkennbar sein. Dafür spricht bisher nichts; es sei denn, wir wollten – hemmungslos spekulativ – der kortikalen Repräsentanz der Wahrnehmungen eine sprachliche Struktur unterstellen.252 Es genügt, dass wir der tastenden Suche nach einem passenden Ausdruck für eine Wahrnehmung eine sprachliche Gestalt zuschreiben. Wie immer wir über das Verhältnis unseres Denkens und Sprechens zu den nichtbegrifflichen und nichtsprachlichen Grund­lagen denken, es scheint klar zu sein, dass das Denken und Sprechen über Geltungsgrundlagen diesen selbst keinen sprachlichen oder begrifflichen Charakter unterstellen muss. Es mag übertrieben erscheinen, dass wir Wahrnehmungen wie Gerüche oder Geschmäcker als ›Geltungsgrundlagen‹ verstehen. Tatsächlich liegen sie aber den mehr oder weniger angemessenen und passenden Beschreibungen dessen, was wir wahrgenommen haben, zugrunde. Auch wenn manches, was ein Augenzeuge vor Gericht sagt, zweifelhaft sein mag, was er als Zeuge wahrgenommen hat, gilt doch als Aussage zur Identifikation eines Täters. Nicht zuletzt in diesem Sinn sind Wahrnehmungen die Geltungsgrundlagen für bestimmte Beschreibungen und Behauptungen. Im Hinblick auf logische Argumente haben wir weniger Skrupel, die Grundgesetze als ›Geltungsgrundlagen‹ zu bezeichnen, vielleicht weil jener Zusammenhang schon extravagant genug und weit von dem entfernt ist, was uns alltäglich beschäftigt. Offenbar zeigen sich Geltungsgrundlagen unterschiedlicher Art, sei es das ›grundlose Sein‹, Wahrnehmungen und Repräsentationen oder logische Grundgesetze, nur sprachlich und begrifflich. Deswegen dürfen wir uns auf die sprachliche Natur dieses Zeigens konzentrieren und überlegen, ob es auch für unser Sprechen Gelontologische Voraussetzungen hat | 151

tungsgrundlagen gibt, die sich lediglich zeigen, aber nicht gesagt werden können. Es ist kaum zu bestreiten, dass die Regeln unseres Sprachgebrauchs Geltungsgrundlagen unseres Sprechens sind, die sich in dem, was wir sagen, zeigen, ohne dass wir sie aussagen. Wir können aber doch die Regeln des Sprachgebrauchs beschreiben, weil wir sie ja auch nur so – etwa im Fremdsprachenunterricht – lernen können. Wir tun es aber nicht, während wir den Regeln folgen. Außerdem lernen wir eine Sprache nicht sprechen, indem wir deren Regeln lernen, nicht einmal eine Fremdsprache. Wir lernen Sprechen beim Sprechen, wie Wittgenstein meint. Wir nehmen selbstverständlich an, dass die Regeln einer Sprache für Argumente und Begründungen aller Art notwendig 253 und unverzichtbar sind, dass es also keine geltenden Argumente und Begründungen gibt, die keinen Regeln folgen. Wer wollte bestreiten, dass das regelgeleitete Sprechen einer Sprache das Modell für alle möglichen Arten von Argumentationen ist. Beim Sprechen gebrauchen wir neben einem beliebig reichen Vokabular auch eine überschaubare Menge an Regeln.254 Sinnvolles Sprechen und sprachliche Verständigung überhaupt kann ohne den Gebrauch von Regeln, die das Vokabular strukturieren, nicht gelingen. Wenn wir davon ausgehen dürfen, dass der Gebrauch von Regeln in allen uns bekannten Zusammenhängen, sowohl in logischen Argumentationen als auch beim Sprechen, analog ist, dürfen wir auch davon ausgehen, dass es für die Geltung aller Regeln analoge Bedingungen gibt. Wittgenstein gibt uns einen Hinweis, der diese Analogie stützt. Er vertritt in seinen Philosophischen Untersuchungen die selbstverständlich und harmlos klingende These, dass das Regelfolgen eine Praxis sei.255 Was dies genau bedeutet, wird kontrovers diskutiert. Jenseits dieser Diskussion ist aber klar, was Wittgenstein mit seiner These an Einsichten verbindet. Für den Zusammenhang unserer Überlegungen ist seine Einsicht wichtig, dass die Praxis des Regelfolgens weder die Regeln, denen sie folgt, noch das Regelfolgen selbst, noch den Gebrauch einer Sprache im Allgemeinen erklärt.256 Dies bedeutet, dass die Regeln des Sprachgebrauchs beim Sprechen nicht-reflexiv vorausgesetzt, also weder ausgesagt noch erwähnt oder gar erklärt werden. Für unsere Überlegungen ist vor allem wichtig, dass nicht nur die Regeln, sondern auch ihre 152 | Ob die Geltung von etwas … 

Geltung nicht-reflexiv vorausgesetzt wird. Es wird dabei vorausgesetzt, dass es einen richtigen und einen falschen Regelgebrauch gibt. Die Kriterien dafür werden aber nicht erklärt, weil sie nicht erklärbar sind. Die Richtigkeit oder Falschheit des Regelgebrauchs ist keine notwendige Bedingung dafür, dass Verständigung gelingt oder nicht.257 Wenn von einer Analogie der Regeln und ihres Gebrauchs in logischen Argumentationen und beim Sprechen die Rede ist, melden wir sofort – wie in vielen Fällen von scheinbar problemlos annehmbaren Analogien – Zweifel an. Es kann uns in diesem Fall nicht entgehen, dass Regeln und ihr Gebrauch in unterschiedlichen Kontexten auch deutlich zu unterscheiden sind. Wittgenstein spricht davon, dass das Regelfolgen so viel bedeute wie »Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)«, »eine Technik beherrschen«, einem Befehl folgen und dass es sich um eine »gemeinsame menschliche Handlungsweise« handle258 . Diese Charakterisierungen lassen sich mit etwas gutem Willen mit dem logischen Regelgebrauch durchaus vergleichen. Dies gelingt uns dann allerdings nicht mehr, wenn es in den Philosophischen Untersuchungen heißt: »Wenn ich der Regel folge, wähle ich nicht. Ich folge der Regel blind.«259 Es ist eine Mindestanforderung an den Gebrauch logischer Regeln, dass wir ihnen gerade nicht blind folgen, sondern ihren Gebrauch kennen, sie bewusst und möglichst genau einhalten. Die Spontaneität, die das Regelfolgen beim Sprechen kennzeichnet, würde dem richtigen Gebrauch logischer Regeln zuwider laufen, es sei denn, wir haben die logischen Gesetze so verinnerlicht, dass wir260 ihnen ebenfalls spontan folgen. Die Analogie der Regeln und ihres Gebrauchs in logischen Argumentationen und beim Sprachgebrauch schrumpft bei genauerem Hinsehen auf einige wenige Berührungspunkte zusammen. Eine Analogie ist davon aber unberührt, nämlich diejenige zwischen den unabgeleiteten und nicht-reflexiven Geltungsgrund­ lagen. Diese Grundlagen sind in allen erwähnten Zusammenhängen beim Regelgebrauch vorausgesetzt und auch in den sprachlich beschreibbaren Regeln selbst nicht ausdrücklich enthalten. Die Analogie im Hinblick auf die Geltung der Grundlagen des Regelgebrauchs berechtigt uns dazu anzunehmen, dass sich die Regeln ontologische Voraussetzungen hat | 153

in allen Zusammenhängen, vom Sprachgebrauch bis zu logischen Argumentationen zu ihren Geltungsgrundlagen gleich verhalten, nämlich nicht-reflexiv. Wenn wir von ›Regeln‹ und ihrem Gebrauch in Argumentationen sprechen, denken wir selten daran, dass sie sich dabei auch auf den Gebrauch von Begriffen beziehen. Wir nehmen zwar an, dass Begriffe einen reflexiven Charakter haben, weil sie in bestimmten Bedeutungen bewusst verwendet werden. Den Begriff der ›Ursache‹ etwa benötigen wir, um bestimmte Wirkungszusammenhänge zu beschreiben. Dabei müssen wir nicht darüber nachdenken, welche Rolle der Begriff im Sprachspiel von Erklärungen spielt. Dieses Sprachspiel hat sich historisch verändert. Aristoteles kennt vier Begriffe von ›Ursache‹, wir verwenden davon nur noch einen, wenn wir etwas erklären wollen. An einem Beispiel wie diesem erkennen wir, dass die Begriffsgeschichte nur deswegen Auskunft über Veränderungen im Gebrauch von Begriffen geben kann, weil wir unterstellen, dass diese Veränderungen etwas voraussetzen, was sich verändert. Für das, was sich im Fall von ›Ursache‹ verändert, haben wir nur diesen Namen, für dessen Gebrauch es keine allgemeine Beschreibung, sondern nur historische Beschreibungen gibt. In dieser Hinsicht steht der Name ›Ursache‹ für etwas Nicht-Reflexives. Und dies trifft auf viele Begriffe zu, die einen grundlegenden Charakter haben. Eben sprachen wir über das Verhältnis des Vor-Sprachlichen zum Sprachlichen am Beispiel von Wahrnehmungen, für die wir im täglichen Leben nach passenden Beschreibungen suchen. Vielleicht wundern wir uns darüber, dass es keine eindeutigen, richtigen Beschreibungen für beliebige Wahrnehmungen gibt oder dass wir sie nicht wenigstens theoretisch fordern können. Es würde dann wenigstens in der Theorie eindeutig richtige Beschreibungen für Wahrgenommenes geben, wenn die Regeln des Sprachgebrauchs diese Gewissheit bieten würden. Sie können es nicht, wie uns die Praxis des Regelfolgens lehrt. Die nicht-reflexiven Grundlagen des Sprachgebrauchs werden beim Regelfolgen nicht in reflexiv geltende umgewandelt, die es uns erlauben würden, den richtigen vom falschen Sprachgebrauch eindeutig zu unterscheiden. Es ist ein Grundgedanke dieser Untersuchung, dass sich die Geltung der Regeln oder Gesetze, denen wir folgen, nur zeigt, aber 154 | Ob die Geltung von etwas … 

selbst nicht Gegenstand von Aussagen und Erklärungen ist. Die Geltung dieser Grundlagen ist nicht-reflexiv. Kein Satz, dessen Behauptung aufgrund bestimmter Regeln gilt oder der von Regeln geleitet ist, sagt etwas über die Geltung dieser Regeln aus. Deren Geltung muss sich zeigen oder erweisen. Es genügt nicht, sie zu behaupten oder zu beschwören. In diesem Sinn gelten die nichtreflexiven Grundlagen unabgeleitet. Was unabgeleitet gilt, existiert auch. Wir haben für diese ontologische These, angelehnt an Saul Kripke, argumentiert. Das Bedürfnis nach dauerhaft und verlässlich Geltendem ist ein ontologisches. Wenn wir dies behaupten, kommen wir der Grenze dessen nahe, was wir sagen können. Das Sprechen über ›Geltungsgrundlagen‹ und das ›Nicht-Reflexive‹ ist innerhalb der Grenzen des Sagbaren von Widersprüchen bedroht, weil wir nur reflexiv über diese Grundlagen sprechen und nachdenken können. Widersprüche entstehen, wenn wir das eine mit dem anderen vermischen. Wir können uns sicher sein, dass wir über das sprechen können, was sich zeigt, ohne das Nicht-Reflexive mit dem Reflexiven zu vermischen. Wir können über einen Satz sagen, dass er geltenden Regeln folgt. Wir können damit aber nicht gleichzeitig sagen, dass die Regeln, denen er folgt, gelten. Wir würden damit die eben genannte Grenze überschreiten.261 Wir sagen mit dem Satz nichts über die Geltung der verwendeten Regeln. Er sagt nicht mehr, als er sagt. Wir können auch einfach sagen, ›wenn die Regeln, denen ein Satz folgt, gelten, gelten sie‹. Diese für alle Sätze und Regeln geltende, immer wahre Tautologie ist so etwas wie ein letzter, nichtssagender Ausdruck der Nicht-Reflexivität von Geltungen. Mehr lässt sich über den nicht-reflexiven Charakter von Geltungen nicht sagen. Nichtssagend ist die Tautologie, weil sie keine Geltung begründen kann, aber dennoch ist sie nicht bedeutungslos.262 Sie wirft ein besonderes Licht auf den unabgeleiteten Charakter nicht-reflexiver Geltungen, dass ihr Wahrheitsanspruch bedeutungslos, nichtssagend und leer ist. Zu behaupten, dass es wahr sei, dass bestimmte Regeln gelten, mag zutreffen oder auch nicht. Über die Geltung selbst ist damit nichts gesagt; sie wird von der Behauptung nicht berührt. Die Nähe der Überlegungen zu Wittgensteins Auffassung des Sich-Zeigens könnte nahelegen, auf seinen Spuren den Ausdruck ontologische Voraussetzungen hat | 155

›nicht-reflexiv‹ durch den herkömmlichen ›transzendental‹ zu ersetzen. Im Tractatus schreibt Wittgenstein – kurz nachdem er die Sätze der Logik als Tautologien bezeichnet – die Logik sei »trans­ zendental«.263 Da eben von Tautologien als Pseudoerklärungen nicht-reflexiver Geltungen die Rede war, wäre es denkbar, seinen Wortgebrauch an dieser Stelle aufzugreifen. Wäre uns geholfen, wenn wir uns dieser Wortwahl bedienten und anstelle von ›nichtreflexiv‹ im Sinn des Tractatus ›transzendental‹ sagen würden? Sicher nicht, weil es im ersten Satz desselben Paragraphen heißt, dass die Logik »ein Spiegelbild der Welt« sei. Würden wir diesen Passus als Klärung von ›transzendental‹ deuten wollen, kämen wir vom Regen in die Traufe, denn was mit dem »Spiegelbild der Welt« gesagt wird, fügt sich gut in die Bild-Metaphorik des Tractatus ein, ist jenseits dieses Textes aber alles andere als klar. Wenn wir uns schon auf ›transzendental‹ kaprizieren wollten, würden zwei andere Quellen näher liegen, nämlich Kant und Kelsen. Kant nennt  – wie wir schon sahen  – »alle Erkenntnis tran­ scendental«, die sich auf die »Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll« bezieht.264 Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass es dabei um das Denken der Möglichkeitsbedingungen a priori von Gegenständen geht, erkennen wir rasch, dass auch dieser Wortgebrauch nicht das trifft, was ›nichtreflexiv‹ bedeutet, im Gegenteil. Es geht dabei ja nicht um die Erkenntnisbedingungen a priori, sondern um Geltungsbedingungen, unabhängig davon, ob sie erkannt sind oder nicht. Einige dieser Bedingungen sind a priori, wie die logischen Grundgesetze, einige a posteriori, wie die Wahrnehmungen, und insgesamt gehören alle diese Bedingungen in den größtmöglichen Geltungsbereich, den Heidegger zu beschreiben versucht. Der Kant’sche Wortgebrauch von ›transzendental‹ anstelle von ›nicht-reflexiv‹ wäre irreführend, weil er reflexive Erkenntnisbedingungen mit nicht-reflexiven Geltungsbedingungen vermischt. Hans Kelsens Gebrauch von ›transzendental‹ liegt auf den ersten Blick näher. Er charakterisiert seine »Grundnorm« als »nicht gesetzt«, als »Bedingung aller Rechtssetzung«, und diese Funktion nennt er »transzendental-logisch«.265 ›Nicht gesetzt‹ entspricht dem, was wir unter ›unabgeleitet‹ verstehen. Diese Übereinstimmung trägt aber nicht weit, da er von der Grundnorm im Singular 156 | Ob die Geltung von etwas … 

als hypothetischer Bedingung aller Rechtssetzungen spricht. Dies ist eine bewusst irreale, fiktive Gedankenfigur, die der Geltung des Rechts als Ganzem, nach Kelsens Überzeugung, zugrunde liegt. Kelsen koppelt mit jener Gedankenfigur seine Grundnorm faktisch von der Geltung allen positiv geltenden Rechts ab. Uns geht es im Gegensatz zu Kelsen weder um eine einzige Norm, schon gar nicht um eine Grundnorm, sondern um das, was ›Geltung‹ in allen denkbaren Zusammenhängen bedeutet. Deswegen ist auch Kelsens Wortgebrauch von ›transzendental‹ kein Ersatz für ›nicht-reflexiv‹. 2.6 Ob es die Asymmetrie des Nicht-Reflexiven gibt

Wenn sich das Nicht-Reflexive nur zeigt, müssen wir eine Asymmetrie zwischen dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven annehmen. Die Symmetriebedingungen, welche die Reflexivität charakterisieren, gelten für dieses Verhältnis nicht. Das Widerspruchsprinzip oder der Satz vom Grund veranschaulichen, was ›Asymmetrie‹ bedeutet. Wir denken diese Prinzipien, sie gelten aber nicht durch unser Denken, sondern unabhängig davon. Diese Prinzipien liegen unserem Denken zugrunde, sie sind im logischen Sinn früher als der Gebrauch, den wir von ihnen machen. Diese Asymmetrie im Verhältnis zwischen der nicht-reflexiven Geltung der Prinzipien und dem Denken der Prinzipien und ihrer Verwendung kennzeichnet alle nicht-reflexiven Geltungsgrundlagen. Das asymmetrische Nachdenken über die Grenzen der Geltung und über Geltungsgrundlagen führt zu keinem Selbstwiderspruch, weil dabei die Grenzen nicht überschritten werden.266 Denkbar wäre, die Reflexion über die Nicht-Reflexivität so zu erläutern, als wäre sie so wie das Verhältnis einer Theorie zu ihrer Meta-Theorie zu verstehen. Meta-Theorien sollen erklären, warum Theorien gelten und was sie leisten. Auf der höheren, allgemeineren, der metatheoretischen Ebene wird die Geltung der Aussagen auf der niedereren Ebene, der Objektebene, erklärt. Es werden Aussagen über Aussagen gemacht. Ein analoges Verhältnis zwischen der Reflexion und dem Nicht-Reflexiven gibt es nicht, weil es dabei nicht um Aussagen über Aussagen geht. Das Nicht-Reflexive ist nicht in Form von Aussagen gegeben. ontologische Voraussetzungen hat | 157

Ein einfaches Beispiel macht dies deutlich. Die Aussage, dass auf öffentlichen Straßen die rechte Fahrbahnseite benutzt werden soll, findet eine Begründung in der Aussage, dass dies die geltende Straßenverkehrsordnung vorschreibt. Wir können nun  – nach dem Muster von begründenden Aussagen über Aussagen – immer weiter gehen und Aussagen über die Geltung der Straßenverkehrsordnung machen, bis wir auf eine Ordnung, die nicht-reflexiv gilt, stoßen, etwa die Verfassung mit ihren für den Lebensschutz einschlägigen Artikeln. Deren Geltung können wir nicht begründen, sondern nur anerkennen. Es gibt keine Meta-Theorie für deren Geltung. Wir sind davon ausgegangen, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Wenn sich die Grundlagen dessen, was gilt, zeigen, können wir sie nicht selbst herstellen. Wir können sie wahrnehmen, reflexiv erfassen und müssen sie dabei nehmen, wie sie sich präsentieren. Sie machen sich in der Reflexion selbst evident. Was sich zeigt, existiert und kann als solches erfasst und verstanden werden. Die Asymmetrie beim Erfassen des Nicht-Reflexiven schränkt unser Verhältnis zu den Geltungsgrundlagen ein. Wir können nicht über sie verfügen, auch nicht darüber, ob sie sich zeigen oder nicht. Wenn wir – als Beispiele für das Nicht-Reflexive – das Widerspruchsprinzip, den Satz vom Grund oder eine Argumentations­ figur wie den modus ponens erfassen, verfügen wir nicht darüber. Wir können das Widerspruchsprinzip symbolisch darstellen 267, begründen dieses Prinzips damit aber nicht. Wir sind darauf angewiesen, dass es sich als gültiges Prinzip zeigt. Wir können – mit Aristoteles – das Prinzip erläutern268 oder die Argumentationsfigur des modus ponens an Beispielen vorführen. Dass wir das Prinzip oder die Argumentationsfigur lediglich erfassen, dabei aber nicht über sie verfügen, erkennen wir auch daran, dass wir beides missverstehen und theoretisch nicht entscheiden können, welcher Gebrauch richtig ist. Am Gebrauch selbst wird seine Richtigkeit erkennbar. Die Praxis ist der Maßstab der Richtigkeit. Die Asymmetrie im Verhältnis zum Nicht-Reflexiven, die wir anhand von solchen Beispielen verstehen, ist bei allem, was so wie die Straßenverkehrsordnung oder Gesetze gilt, nicht erkennbar. Die meisten Zusammenhänge zwischen dem, was ist, und dem, was 158 | Ob die Geltung von etwas … 

sein soll, stellen wir in solchen Ordnungen und Gesetzen selbst her. Wir verfügen über die Zusammenhänge und haben dafür meistens gute Gründe. Auf die Geltungsgrundlagen stoßen wir erst, wenn wir das, was gilt, in Frage stellen. Es liegt nahe anzunehmen, dass sich diese Grundlagen nur zeigen, wenn wir nach ihnen suchen. Damit heben wir die Asymmetrie im Verhältnis zum Nicht-Reflexiven aber nicht auf. Manches zeigt sich, weil wir danach suchen, manches andere zeigt sich unabhängig davon und überrascht uns. Prinzipien finden wir und zeigen sich, weil wir nach ihnen suchen, um einen Zustand zu verändern oder zu erhalten. Mit dem Widerspruchsprinzip wollen wir dem, was ist oder was wahr ist, Stabilität verleihen und Unwahres, Unwissen und Zweifel vermeiden. Mit den Menschenrechten wollen wir die Ansprüche der Menschen auf eine Achtung ihrer Würde und einen Schutz ihres Lebens und ihrer Person vor Gewalt und Unrecht sichern. Wir suchen diese Prinzipien, weil wir Unmenschlichkeit und Barbarei ächten wollen. Die Suche kann, wie die Epoche der Aufklärung zeigt, lange dauern, und ihre Ergebnisse können schwer durchzusetzen sein. Was sich zeigt und was wir damit tun, können wir nicht trennen. Dies zeigt sich in den Beschreibungen von Prinzipien. Wir können das Widerspruchsprinzip als ontologisches oder als aussagenlogisches oder als moralisches Prinzip beschreiben. Der Gebrauch des Prinzips ist dann jeweils ein anderer. Die eben erwähnte Asymmetrie wird erkennbar, wenn wir ein Prinzip fehlerhaft oder missverständlich beschreiben, nach einem Anhaltspunkt dafür suchen, aber in der Bezeichnung des Prinzips keinen finden. Wir müssen beschreiben, wie wir das Prinzip verstehen. ›Beschreiben‹ bedeutet nicht ›Erklären‹ oder ›Begründen‹.269 Der Unterschied zwischen Sagen und Zeigen wird nicht aufgehoben. Wir beschreiben das, was ist, und das, was sein soll, und entsprechend auch das, was gilt. Wir sind ein beschränktes Verständnis von ›Beschreiben‹ gewohnt und glauben, zwischen einem deskriptiven Gebrauch der Sprache auf der einen und einem präskriptiven und normativen auf der anderen Seite unterscheiden zu müssen. Diese Unterscheidung hängt äußerlich am Unterschied der Wörter ›ist‹ und ›soll‹, ist aber unbegründet und irreführend.270 Unbegründet ist sie, weil das, was sein soll, genauso existiert und wirksam ist wie alles andere, was ist. Irreführend ist die Unterscheidung, weil sie suggeriert, dass das ontologische Voraussetzungen hat | 159

eine erkennbar und wirklich ist, das andere aber nicht, weil es ja erst noch verwirklicht werden muss. Natürlich ist ein Versprechen dadurch, dass es gegeben wird, noch nicht erfüllt. Dass es erfüllt werden soll, ist ein Anspruch, der so lange existiert, bis das Versprechen erfüllt ist. Die Bedeutung des Sollens erlischt mit der Erfüllung. Genauso lange existiert der Sollensanspruch. Diesen Anspruch können wir beschreiben. Wir müssen ihn sogar beschreiben können, weil wir sonst nicht wissen könnten, worin er besteht und wann er erfüllt ist. Wir müssen auch Prinzipien beschreiben, um zu wissen, was sie bedeuten, welche Ansprüche sie erheben und wie sie erfüllt werden können. Wir können zwar sagen, dass der Satz vom Grund, das Prinzip der Menschenwürde oder das Widerspruchsprinzip gelten, wollen aber dann wissen, in welcher Beschreibung diese Prinzipien gelten. Die Bezeichnungen ›Satz vom Grund‹, ›Menschenwürde‹ und ›Widerspruchsprinzip‹ sagen dies nicht. Es sind Bezeichnungen oder Namen, aber keine Beschreibungen. Sie deuten ihre Bedeutung nur an, sagen sie aber nicht. Alles, was sich zeigt, zeigt sich im Gebrauch. Wir können das Zeigen und den Gebrauch auseinanderhalten. Das eine ist nichtreflexiv, das andere reflexiv, ihr Verhältnis asymmetrisch. Die Beschreibung der Geltungsgrundlagen ist eine Beschreibung ihres Gebrauchs, hat aber keinen Einfluss darauf, wie wir sie erfassen. Weil wir die Asymmetrie nicht festlegen können, ist sie instabil. Die Instabilität zeigt sich daran, dass es keine einzig richtige Beschreibung der Geltungsgrundlagen gibt. Das Widerspruchsprinzip können wir als ontologisches oder aussagenlogisches oder moralisches Prinzip beschreiben, ähnlich unterschiedlich können wir andere Prinzipien, Argumentationsfiguren oder Wahrnehmungen beschreiben. Es kommt darauf an, in welchem Zusammenhang wir sie gebrauchen. Deswegen hat der Gebrauch von Geltungsgrundlagen einen Einfluss auf ihre Beschreibung, obwohl dieser Einfluss die Geltungsgrundlagen nicht verändern kann. Der Gebrauch hat – meta­ phorisch gesagt  – das erste und das vorläufig letzte Wort. Denn anders als in der Beschreibung und im Gebrauch zeigen sich die Grundlagen der Geltung nicht. Wie und ob bestimmte Grund­ lagen gebraucht werden, hat Einfluss auf deren Wertung als rele160 | Ob die Geltung von etwas … 

vant und grundlegend oder als irrelevant. Nicht relevant ist das Widerspruchsprinzip z. B., wenn wir sagen ›Es regnet und es regnet nicht‹ und damit die Empfehlung verbinden, einen Schirm mitzunehmen. Wir verstehen eine solche widersprüchlich scheinende Aussage. Das Widerspruchsprinzip hat auf das Verständnis dessen, was wir in solchen Fällen sagen wollen, keinen Einfluss. Und wer glaubt, dass ›wahr‹ und ›falsch‹ nicht die einzigen Wahrheitswerte sind, wird das Widerspruchsprinzip differenzieren und anders beschreiben müssen. Die Asymmetrie zwischen dem nicht-reflexiven Sich-Zeigen und dem reflexiven Gebrauch können wir als zeitliches Verhältnis beschreiben und dabei Gebrauch von Freges Tempus der »Unzeitlichkeit« machen. Nicht-reflexive Geltungsgrundlagen sind wie Freges Gedanken unzeitlich, aber gegenwärtig, wenn wir sie finden, erfassen und beschreiben. Physikalische Konstanten wie die Lichtgeschwindigkeit sind dafür Beispiele, aber auch die Menschenwürde als Verfassungsprinzip (1949), die Magna Carta (1215) und die Carta Foresta (1217)271. So unterschiedlich Rechtsansprüche und Naturkonstanten der Sache nach sind, sie werden wie Freges Gedanken zu einer Zeit erfasst und beschrieben. Ihr Gehalt gilt unzeitlich, kann sich aber im Lauf der Geschichte verändern. Das können wir uns eher bei Rechtsansprüchen als bei Naturkonstanten vorstellen. Geltungsgrundlagen erfassen wir immer in einer Gegenwart. Darin unterscheiden sich Naturkonstanten nicht von Verfassungsprinzipien oder Rechtsansprüchen. Wären die Geltungsgrundlagen mit Zeitpunkten verbunden und nicht unzeitlich, könnten wir sie nicht reflexiv in einer Gegenwart neu beschreiben, sondern müssten sie aus einer lückenlosen Folge an zeitlich geordneten Interpretationen ableiten. Das Nicht-Reflexive wird immer zu einer Zeit erfasst und hat – wenn man so will – ein Geburtsdatum. Dann wird es geschichtlich und verändert sich dabei. Das Unzeitliche ist in die Zeit eingebettet, Genese und Geltung sind untrennbar miteinander verbunden. Für beide Verhältnisse gilt das Prinzip der Gegenwart. Wie und als was wir das Nicht-Reflexive jetzt erfassen und beschreiben, ist entscheidend. Unser Verständnis der Geltungsgrundlagen individueller Rechtsansprüche ist nicht von der Geschichte eines Dokuments wie der Carta Foresta abhängig, ontologische Voraussetzungen hat | 161

auch wenn wir dieses und andere Dokumente zur Genese solcher Ansprüche rechnen. Von ›individuellen Rechtsansprüchen‹ kann erst heute gesprochen werden. Diese Überlegungen gelten analog auch für individuelle Wahrnehmungen. Natürlich sind sie flüchtige, subjektive Ereignisse zu einer Zeit, aber ihr Gehalt hat eine unzeitliche Bedeutung, an die sich eine Person unabhängig vom Akt ihrer Wahrnehmung erinnern kann. Jede Erinnerung ist ihrerseits eine gegenwärtige Wahrnehmung, die dann, wenn sie präsent ist und existiert, reflektiert und beschrieben werden kann. Diese Wahrnehmung bestimmt den Gehalt der Erinnerung, nicht das frühere Ereignis, das es nicht mehr als Ereignis gibt. Wäre es nicht so, wäre der Zeugnischarakter einer Erinnerung wertlos, wenn sie nicht in einer lückenlosen Kausalkette mit einem ursprünglichen Ereignis verbunden wäre. Solche Kausalketten gibt es nicht, jedenfalls nicht in der Erinnerung. Analoges gilt für die Historiographie. Auch für sie gilt das Prinzip der Gegenwart.272 Die Erinnerungsleistung der Geschichtsschreibung präsentiert einen unzeitlichen Gehalt. Dieser unzeitliche Gehalt macht die Historiographie zu einem gewissen Grad unabhängig vom unaufhaltsamen zeitlichen Einfluss des Vergessens, Beschönigens, Leugnens, Rationalisierens und Fälschens.273 Die Rekonstruktion von Erinnerungen, allgemein von vergangenen Ereignissen subjektiver oder kollektiver Natur stützt sich zwar auf Zeugnisse, auf Monumente, Quellen und Überreste, hat aber immer einen unzeitlichen Gehalt. Die »Kritik der Echtheit«, die etwa Johann Gustav Droysen zur Grundlage authentischer Berichte macht, ist auch eine »Kritik des Früheren und Späteren«, aber immer aus der gegenwärtigen Perspektive. »Nicht die Vergangenheiten sind die Geschichte, sondern das Wissen des menschlichen Geistes von Ihnen«, schreibt Droysen in der Sprache seiner Zeit.274 Und dieses Wissen ist das jetzige, das gegenwärtige Wissen, das in gewisser Weise zeitlos, eben unzeitlich ist. Die historische Rekonstruktion ruht nur an bestimmten Stellen, quasi an ihren Rändern, um einen Ausdruck Quines zu verwenden, auf Quellen, die für die Nachwelt bestimmt sind und auf Monumenten und Überresten, die einfach nur übrig geblieben sind.275 Die Historiographie macht aus dem, was war, etwas, was – in einem unzeitlichen Sinn – gegenwär162 | Ob die Geltung von etwas … 

tig ist, und es ist – je nach Historiker – immer etwas anderes und immer etwas, was vorher so nicht wahrgenommen und verstanden wurde.276 Die Geltungsgrundlage dessen, was wir als ›Geschichte‹ verstehen, ist eine Leistung der Historiographie in einer Gegenwart. Ähnlich wie Frege das ›Fassen‹ eines ›Gedankens‹ als zeitliches Ereignis – des Nachdenkens und Beschreibens – mit zeit­losem Inhalt versteht, können wir die Geltungsgrundlagen insgesamt verstehen.277 Die Probleme, die wir durch die Instabilität der Asymmetrie zwischen dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven haben, sind damit nicht beseitigt. Wir haben aber einen begrifflichen Ordnungsrahmen, in dem wir uns orientieren können. Geltungsgrundlagen sind Gedanken, die im Sinne Freges ihrem Gehalt nach unzeitlich sind. Da diese Gedanken aber durch die Reflexion einen Sitz im Leben haben, sind sie nicht frei von den Einflüssen des Lebens und der Reflexion. Diese Einflüsse können die Geltungsgrundlagen stabilisieren oder destabilisieren, ohne dabei einer bestimmten planvollen Regie zu folgen. Die zeitlose Geltung der Grundlagen des Denkens und Handelns wird von der Zeitlichkeit des menschlichen Lebens, des Denkens und Handelns, nicht oder nur zögerlich respektiert, aber immer in Frage gestellt und ge­fährdet. Kants ›Ich denke‹ ignoriert die Asymmetrie und soll gleichzeitig als nicht-reflexive und reflexive Grundlage des Urteilens gelten. Das ›Ich denke‹ gilt einerseits als unabgeleitete Urteilsform nichtreflexiv, andererseits aber reflexiv in der Beziehung der ihrer selbst bewussten Subjekte zu ihren Urteilen. Dieses Sowohl-als-auch des nicht-reflexiven und reflexiven Charakters des ›Ich denke‹ ist folgenreich. Wenn wir es ablehnen, wird die These unhaltbar, die in Kants Denken – und im nachfolgenden Deutschen Idealismus – die Reflexion als grundlegend für alles, was erkannt werden kann, behauptet. Die These besagt, dass »in der Erkenntniß a priori den Objekten nichts beigelegt werden kann, als was das denkende Subjekt aus sich selbst hernimmt«.278 Würde die Reflexion sich selbst ihre Grundlagen geben, wären die Bedingungen der Möglichkeit des Denkens, des Erkennens und der erfahrbaren Wirklichkeit zumindest in begrifflicher Hinsicht symmetrisch. Dies ist es, was Kants oberster Grundsatz aller synthetischen Urteile a priori auch sagt.279 ontologische Voraussetzungen hat | 163

2.7 Ob das Nicht-Reflexive ontologisch relativ ist

Kant geht es bei seiner transzendentalen Deduktion um Erkenntnisse a priori, die sich auf die Grundlagen des Denkens und Urteilen beziehen. Die Urteilsformen, das ›Ich denke‹ und die Urteilskraft integriert er als unabgeleitete Bestandteile in seine Deduktion. Er findet sie, konstruiert sie aber nicht, was leicht übersehen wird. Zu den Grundlagen des Denkens gehören auch Logische Grundgesetze. Frege zeigt, dass auch diese Grundlagen  – als selbstevidente – erfasst und gefasst werden müssen.280 Bevor wir sie erfasst haben, legen wir sie nicht schon in unser Denken hinein. Wir konstruieren die Grundlagen nicht, strukturieren mit ihnen aber unser Denken, nachdem wir sie erfasst haben. Nicht anders verhält es sich mit Kants Kategorien, die er aus der – unabgeleiteten – Urteilstafel ableitet. Auch sie werden von uns als selbstverständlich geltend erfasst, bevor wir sie zu Kategorien unserer Erkenntnis machen und auf die Wahrnehmungen anwenden. Auch in die Kategorien legen wir nichts hinein, wir erfassen sie nur als Grundbegriffe der Beurteilung von Wahrnehmungen. Dann erst gebrauchen wir sie. Wir nehmen also nichts aus uns selbst her, wie Kant meint. Dennoch sind unsere »Anschauungen« nicht »blind« und die Begriffe müssen nicht sinnlich gemacht werden, um nicht leer zu sein.281 Die beschriebene Asymmetrie zwischen den nicht-reflexiven Grundlagen und der Reflexion wird durch Kants transzendentale Deduktion nicht zu einem symmetrischen und damit begrifflich beherrschbaren, transparenten Verhältnis. Kant hat seine Deduktion mit dem pragmatischen Gedanken verbunden, dass seine »Kritik in den sicheren Gang einer Wissenschaft gebracht« werden kann. Und was erscheint sicherer als das, was man selbst, autonom, bestimmt und herstellt, die sich selbst erfüllende Prophetie sozusagen. Eine solche Sicherheit kann es allerdings angesichts der Asymmetrie der Geltungsgrundlagen nicht geben. Das Bedürfnis nach Gewissheit und Sicherheit ist verständlich. Es ist das Bedürfnis nach dauerhaft und verlässlich Gutem, und die Untersuchung der Geltungsgrundlagen dient diesem Bedürfnis. Es scheint so, als hätten wir uns von diesem Bedürfnis stillschweigend verabschiedet. So könnte man jedenfalls den fehlenden Widerspruch gegen die Instabilität deuten, die mit der Asymmetrie 164 | Ob die Geltung von etwas … 

zwischen den nicht-reflexiven Geltungsgrundlagen und deren reflexiven Bedeutungen verbunden ist. Der Grund für die Instabilität ist, dass sich die nicht-reflexiven Geltungsgrundlagen  – seien es Wahrnehmungen, Denkgesetze, Prinzipien, Regeln des Sprechens und andere Kriterien der Richtigkeit – nur in deren reflexivem Gebrauch zeigen. Nicht die Geltungsgrundlagen selbst sind also instabil, sondern deren Gebrauch lässt sie so erscheinen. Dies ist deswegen so, weil sie sich im Gebrauch nicht immer auf dieselbe Weise zeigen. Die Geltungsgrundlagen sind aber nicht illusionär; sie zeigen sich und existieren, aber sie zeigen sich je nach Zusammenhang immer anders. Die Instabilität geht also nicht auf die Geltungsgrundlagen selbst zurück. Sie beginnt genau dort, wo diese Grundlagen bezogen auf den Zusammenhang ihres Gebrauchs beschrieben werden. Wir haben bereits gesehen, dass es keine Kriterien der Identität von Begriffen gibt. Wir kennen sie in ihrer Gebrauchsbedeutung. Dann ist klar geworden, dass Prinzipien offene Bedeutungen haben, die auf die bleibende Lücke zwischen dem Reflexiven und Nicht-Reflexiven zurückzuführen sind. Wir sind erneut bei diesen Einsichten angekommen. Es gibt keine Referenz von Begriffen, die dauerhaft und unabhängig von deren Gebrauch wäre. Wenn uns dies nicht einleuchtet, können wir versuchen, das Widerspruchsprinzip oder Prinzipien wie die Menschenwürde unabhängig von ihrem Gebrauch immer gleich zu beschreiben. Dann können wir z. B. Aristoteles zitieren und sagen, es sei unmöglich, dass »dasselbe demselben in derselben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme«.282 Möglicherweise können wir uns das aber nicht merken oder finden es schwer verständlich, dann sagen wir vielleicht lieber, dass es widersprüchlich ist, gleichzeitig die Aussage ›A‹ und ›nicht-A‹ zu behaupten. Schon diese beiden Beschreibungen sind aber nicht identisch. Aristoteles geht es um sehr viel mehr als um die Behauptung von Aussagen, die sich widersprechen.283 Er spricht von ›derselben Beziehung‹ – also von einer Relation, die ›etwas‹, einer Sache oder Aussage, zukomme und nicht zukomme; und er denkt dabei an etwas, was ist oder nicht ist. Das ist anspruchsvoller als die aussagenlogische Version des Prinzips. Man sieht der Bezeichnung ›Widerspruchsprinzip‹ nicht an, ob es sich um ein ontologisches, aussagenlogisches, erkenntnistheoontologische Voraussetzungen hat | 165

retisches oder moralisches Prinzip handelt. Es wäre verfehlt, das Prinzip immer gleich beschreiben zu wollen. Wir wissen zwar, dass es immer um dasselbe Prinzip geht, aber nicht in welcher Version. Mit der Menschenwürde ist es nicht anders. Eine Stabilisierung dieser Prinzipien durch gleiche, von ihrem Gebrauch unabhängige Beschreibungen kann nicht gelingen. Die Beschreibungen sind relativ zum Gebrauch der Prinzipien verschieden. Nicht-relativ sind nur die Namen der Prinzipien. Sie stehen nur für sich selbst ohne Folgen für ihre Bedeutungen. Daran können wir nichts ändern. Denn der tiefere Grund der Relativität der Beschreibungen, also dafür, dass eine Stabilisierung der Bedeutungen von Prinzipien durch gleiche Beschreibungen nicht gelingt, ist nicht nur ein sprachlicher, sondern auch ein kognitiver. Die Geltungsgrundlagen werden so dargestellt, wie wir sie jeweils denken und verstehen, wenn wir sie benötigen. Nur durch unsere Reflexion, die von einer Geltungsfrage veranlasst wird, können wir sie beschreiben und gebrauchen. Wir unterstellen dabei, dass die Geltungsgrundlagen stabil und verlässlich sind, da wir für unsere Argumentation eine zuverlässige und dauerhafte Referenz benötigen. Sonst hätte unsere Reflexion über die Bedeutung eines Prinzips für die Geltung dessen, worum es geht, keinen Bezugspunkt. Wir haben aber gesehen, dass es widersprüchlich wäre, die Geltungsgrundlagen als konstruiert oder fiktiv und damit als irreal zu verstehen. Dennoch ist es irritierend, dass wir ihre Realität, ihren wirklichen Gehalt, nicht beschreibend fixieren können. Am Beispiel des Widerspruchsprinzips können wir sehen, warum dies nicht gelingt. Bei der Menschenwürde verhält es sich nicht anders. In den beiden Fällen hängt die Stabilität von Annahmen ab, die wir voraussetzen, wenn wir diese Prinzipien als Geltungsgrundlagen verstehen. Wir nehmen im einen Fall unter anderem an, dass es zwei Wahrheitswerte ›wahr‹ und ›falsch‹ gibt und dass sie sich auf Aussagen und abstrakte Gegenstände, also Tatsachen oder Sachverhalte, in gleicher Weise beziehen, im anderen, dass die Würde eine Wesensbestimmung des Menschen ist, die ihm unter allen Umständen nicht nur zukommt, sondern ihm auch nur gewaltsam genommen werden kann. Solange wir keinen Grund haben, an diesen Annahmen zu zweifeln, gelten die Prinzipien zuverlässig. 166 | Ob die Geltung von etwas … 

Wenn diese Annahmen aber ihrerseits durch konkurrierende Annahmen instabil werden, suchen wir nach Gründen, die für und gegen den Zweifel an der Geltung der Prinzipien sprechen. Es sind die Zusammenhänge des Gebrauchs von Prinzipien, die Zweifel an ihrer Stabilität als Geltungsgrundlagen zulassen. Der Gebrauch der Grundlagen ist reflexiv. Wir sind selbst dann, wenn wir über die allgemeine oder gar universale Geltung eines Prinzips nachdenken, an die konkreten Zusammenhänge, in denen wir es gebrauchen, gebunden. Anders können wir nicht verstehen, was es bedeutet. Die Reflexion kann sich unabhängig vom Gebrauch von Regeln und Prinzipien haltlos um sich selbst drehen. Dann glauben wir, wir könnten Allgemeines in seiner Allgemeinheit oder Universales in seiner Universalität denken. Das Denken des Denkens284 ist ein traditioneller Anspruch der Metaphysik. Es geht uns hier nicht um die Möglichkeit von Metaphysik, sondern lediglich um eine kritische Sicht auf das Verhältnis zwischen dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven. Wenn wir verstehen wollen, was ›Menschenwürde‹ bedeutet, können wir zwar zum besseren Verständnis dieses Prinzips versuchen, universal geltende Merkmale zu finden. Dem Wortlaut des Artikels 1,1 GG nach ist die Menschenwürde unantastbar und nicht relativierbar.285 Es ist kaum möglich, diese allgemeine Beschreibung des Prinzips zu verstehen. Wir gewinnen nur in bestimmten Zusammenhängen Klarheit darüber, was ›Würde‹ konkret bedeutet. Wir können uns fragen, was es bedeuten würde, wenn die Würde nicht unantastbar, sondern ein Wert unter anderen wäre. Dann nähern wir uns dem Prinzip vom Gegenteil dessen her, was es bedeuten soll. Wir können z. B. versuchen, die Würde als eine besondere ›Qualität des Lebens‹ zu beschreiben. Da unklar ist, welche Qualität dies sein könnte, stellen wir uns vielleicht die Lage eines im Koma liegenden Patienten vor. Vielleicht zweifeln wir dann, dass dessen Leben überhaupt noch eine besondere Qualität hat, die der Würde des Menschen angemessen wäre. Noch schwieriger wird die Zuschreibung einer Lebensqualität, wenn es um den Vergleich zwischen einem komatösen jungen, verunglückten Motorradfahrer und einem älteren, ebenfalls komatösen Menschen geht. Wir mögen uns zwar sicher sein, dass die jetzige oder künftige Lebensqualität des einen nicht identisch mit der des anderen ist, ontologische Voraussetzungen hat | 167

wissen aber dennoch nicht, wie wir sie vergleichen oder bestimmen könnten. Wir wissen also nicht, was die Würde des einen oder anderen Patienten ausmacht, und da wir uns nicht im Kreis drehen wollen, suchen wir nach Auswegen durch hilfreich scheinende Erklärungen. Es ist möglich, dass wir nach einiger Zeit zu dem Ergebnis kommen, es sei der Würde beider Patienten angemessener, sie sterben zu lassen, weil wir uns nicht vorstellen können, dass ihr Leben jetzt oder künftig eine lebenswerte Qualität hat. Dann würden wir eine Beschreibung der Würde in Zusammenhängen verwenden, die den eben angedeuteten vergleichbar sind. Vielleicht wollen wir aber genau dies vermeiden und  – unsicher über die Lebensqualitäten jener beiden Patienten – die Würde von vergleichbaren anderen Werten abgrenzen. Da wir dann zwar immer noch nicht wissen, was ›Würde‹ prinzipiell und universal bedeutet, wüssten wir immerhin, dass es der Würde vielleicht gar nicht angemessen wäre, sie als Lebensqualität zu verstehen. Die beiden komatösen Patienten sollten dann nicht aufgrund einer unterstellten mangelnden Lebensqualität sterben müssen. Auch Hungernde und unglückliche Menschen leiden unter einer mangelnden Lebensqualität. Es wäre aber ohne Zweifel unmenschlich, sie aus diesem Grund sterben zu lassen. Die Nicht-Reflexivität der Geltungsgrundlagen erschwert es uns, dem Bedürfnis nach dauerhaft und verlässlich Gutem gerecht zu werden. Wie das Beispiel eben zeigt, sind wir ratlos, wie die menschliche Würde angesichts von Fragen des Lebens und Sterbens zu verstehen ist. Wir erwarten doch gerade von den Prinzipien unseres Denkens und Handelns, dass sie nicht nur dauerhaft gelten, sondern wir uns darauf verlassen können, was es bedeutet, dass sie gelten. Wenn sie aber immer nur relativ zu den Zusammenhängen ihres Gebrauchs beschrieben werden können und diese so schwierig sind wie die Behandlung komatöser Patienten, lässt uns die Relativität ihrer Beschreibungen an den Prinzipien gerade dann zweifeln, wenn wir zu keiner klaren Entscheidung finden. Wir neigen dann vielleicht dazu, die Unklarheit bei der Beschreibung der Prinzipien auf deren Instabilität zurückzuführen. Deren Instabilität rührt, wie es scheint, von der Relativität der Beschreibung. Es läge nahe, von dieser Relativität auf die Relativität des Beschriebenen zu schließen. 168 | Ob die Geltung von etwas … 

Quines Argumente 286 zur ontologischen Relativität legen dies nahe. Quine nimmt für seine Überlegung ein Gedankenexperiment zu Hilfe. Ein Linguist sieht in einer ihm fremden Welt einen Hasen, fragt einen Eingeborenen, was das sei, und der sagt in seiner Sprache etwas, was ›Hase‹ bedeuten könnte. Quine meint, der Linguist wisse nicht, was genau mit dem Wort des Eingeborenen für ›Hase‹ gemeint sei, ob ›Hasenartigkeit‹ oder ›zeitliches Hasenstadium‹ oder ›nicht abgetrennter Hasenteil‹.287 Er nennt diese Ausdrücke »Übersetzungshypothesen« und »analytische Hypothesen«. Nach einigen Überlegungen kommt er zu dem Ergebnis, dass die Referenz bzw. Extension von ›Hase‹ »vom Verhalten her unerforschlich« sei,288 weil sie den erwähnten Übersetzungshypothesen entsprechend auf verschiedene Dinge zutrifft. Die deskriptive Unbestimmtheit der Referenz ist ein sprachphilosophisches Problem, das nicht durch das Zeigen 289 auf einen Gegenstand, wie Quine bemerkt, behoben werden kann. Unser Problem ist diesem ähnlich. Es geht aber um eine andere als die ontologische Relativität. Es geht nicht um die Identifikation eines hasenartigen Phänomens in einer uns noch nicht bekannten Sprache, sondern um die Identifikation einer Geltungsgrundlage in Gestalt eines uns bekannten Prinzips, einer Wahrnehmung oder einer Argumentationsfigur. Unser Problem ist nicht die ontologische Relativität einer Geltungsgrundlage, sondern die Relativität ihrer Beschreibung. Das, was wir beschreiben wollen, zeigt sich im Gebrauch, und was sich zeigt, existiert. Da wir daran nicht zweifeln, haben wir auch kein Problem mit der ontologischen Identifikation der Geltungsgrundlagen. Wir wissen, worum es geht, aber nicht, was es ist. Das Dass ist klar, aber nicht das Was. Die Tatsache, dass sich die Bedeutungen der Geltungsgrundlagen relativ zu den Beschreibungen verändern, ist das Problem. Der Relativität der Beschreibungen liegt etwas Nicht-Reflexives zugrunde. Relativ dazu verändern sich die Beschreibungen. Würden wir daraus schließen, dass das Nicht-Reflexive selbst relativ ist, würden wir uns im Kreise drehen. Wir würden nur tautologisch feststellen, dass dann, wenn die Grundlagen relativ zu den Zusammenhängen ihres Gebrauchs beschrieben werden, sie relativ dazu beschrieben werden.290 Daraus können wir weder schließen, dass die Grundlagen nicht dauerhaft gelten, noch, dass es sie eigentlich ontologische Voraussetzungen hat | 169

gar nicht gibt und wir sie nur aus pragmatischen Gründen als geltend voraussetzen, quasi als nützliche Illusionen. Das Nicht-Reflexive ist nicht ontologisch relativ, sondern gebrauchsrelativ und deswegen beschreiben wir es jeweils anders, dem Gebrauchszusammenhang entsprechend. Es ist die Praxis, die über die jeweilige Bedeutung entscheidet. In ihr zeigen sich die unterschiedlichen Wirkungen des Nicht-Reflexiven. Wenn es um praktische Geltungsgrundlagen geht, haben sie eine geschichtliche, eine soziale, eine rechtliche, kulturelle und politische Präsenz. Sie entstehen anders und werden anders gefunden als die theoretischen. Die Instabilität und die Relativität der Beschreibung sind bei den theoretischen und praktischen Geltungsgrundlagen aber gleich. Das Bedürfnis nach dauerhaft und verlässlich Gutem richtet sich vor allem auf Geltungsgrundlagen der Praxis, auf die Prinzipien des gemeinschaftlichen Lebens, der Politik, des Rechts und der Moral. Sie werden uns deutlicher bewusst als die theoretischen Geltungsgrundlagen, weil wir sie mit dem eigenen Leben und Handeln in Verbindung bringen können. Dies gilt für die Menschenwürde und für die Menschenrechte, allgemein für Prinzipien der Politik, des Rechts und der Moral. 2.8 Ob Normen wie Prinzipien gelten

Wir fragen, wie das, was ist, mit dem, was sein soll, zusammenhängt. Unsere Antwort ist, dass das, was gilt, diesen Zusammenhang herstellt, wenn es überhaupt einen gibt. Bisher haben wir unser Augenmerk vor allem auf das, was ist, gerichtet und damit auf die ontologische Seite dessen, was gilt. Das Nicht-Reflexive steht – wie Freges unzeitliche Gedanken – exemplarisch für das, was ist. Aber nicht alles, was ist, gilt oder soll gelten. Unser reflexives, asymmetrisches Verhältnis zum Nicht-Reflexiven wird als erstes durch die Praxis bestimmt und kann dann auch – wie die Menschenrechte oder die Naturkonstanten – theoretisch bestimmt werden. Deswegen ist die Beschreibung des Nicht-Reflexiven auch im Rahmen von Theorien gebrauchsrelativ. Als Beispiele dienten uns Prinzipien, Wahrnehmungen, Argumentationsfiguren, Natur170 | Ob die Geltung von etwas … 

konstanten und Naturgesetze. Es sind unterschiedliche Beispiele für das, was wir finden, beschreiben und reflektieren können. Die Beispiele zeigen die Verschiedenheit des Nicht-Reflexiven, entsprechend verschieden ist unser Verhältnis dazu. Nicht alles, was gilt, ist aber nicht-reflexiv. Versprechen und andere Normen gehören nicht zum Bereich des Nicht-Reflexiven, sind aber mit diesem Bereich verbunden und gelten. Normen sind reflexiv.291 Wir finden sie nicht, sondern machen und rechtfertigen292 sie, vor allem dann, wenn wir wie bei Versprechen deren Sprecher sind. Als Adressaten finden wir sie dagegen auch oder werden mit ihnen konfrontiert. Bei Versprechen können wir erkennen, wie das, was ist, mit dem, was sein soll, für das, was gilt, zusammenhängt. Das, was ist, veranlasst das Versprechen, das dann, wenn es gegeben ist, auch existiert und mit ihm das, was sein soll. Das, was sein soll, existiert so lange, bis es erfüllt ist, und dann nicht mehr. ›Ist‹ und ›soll‹ eines Versprechens können wir, solange der Zusammenhang existiert und unerfüllt ist, nicht trennen. Diese Verbindung kennzeichnet alle Normierungen, alle Verbindlichkeiten, deren Bedeutungen wir selbst festlegen und deren Forderungen wir erfüllen können. Das, was in unserem Leben der Fall ist, wollen wir verändern, weil es ohne Verbindlichkeiten nicht gut ist. Wir sind mit einer Einschränkung deren Autoren. Die Einschränkung betrifft die Abhängigkeit der Normen von Prinzipien, die wir selbst nicht machen, den Normen aber zugrunde legen. Versprechen liegen z. B. Wahrhaftigkeit und Vertrauen als prinzipielle Ansprüche zugrunde. Wir können den Geltungsbereich dieser Ansprüche mit Pflichten der Transparenz, Ehrlichkeit oder Zuverlässigkeit normativ festlegen und beschreiben, wie sie erfüllt werden können und unter welchen Bedingungen sie gelten. Auch die Bedeutung von Wahrnehmungen legen wir selbst fest, ohne sie allerdings zu normieren. Wahrnehmungen zeigen sich, sie sollen aber nicht so sein, wie sie sind. Sie sind einfach so, wie sie sind. Wir können sagen, was wir wahrgenommen haben; das ist nicht nur das, was auch andere ähnlich wahrnehmen können, es sind auch unsere ganz eigenen Empfindungen. Was wir über das Wahrgenommene sagen, gilt aber nicht wirklich, außer wir werden – als Zeugen vor Gericht – befragt und das, was wir sagen, wird ontologische Voraussetzungen hat | 171

als geltend normiert. Die Wahrnehmung kann – phylogenetisch – als Quelle des Verständnisses des Wirklichen aller Lebewesen in einer Theorie der Objektivität als Grundlage dienen, dann gilt sie als deren nicht-reflexive Voraussetzung. Prinzipien sind, was die Verbindung zwischen ›ist‹ und ›soll‹ betrifft, Normierungen ähnlich, aber doch in einigen Hinsichten von ihnen verschieden. Die Existenz von Prinzipien ist unabhängig von dem, was in unserem Leben der Fall ist, auch wenn sie sich darauf beziehen lassen. Trotz der Offenheit der Bedeutungen und der fehlenden Identitätskriterien wissen wir, dass Prinzipien existieren, aber nicht, was sie jenseits ihres Gebrauchs bedeuten. Deswegen müssen wir den Gebrauch ähnlich wie bei Normen festlegen und können sie dann auf das, was in unserem Leben der Fall ist, beziehen. Allerdings sind wir deswegen nicht deren Autoren. Prinzipien haben im Unterschied zu Normen keine Autoren, sondern Interpreten, die entweder von ihren Bedeutungen ausgehen oder sie im Einzelnen entwickeln und darstellen.293 Ihre Bedeutungen sind zwar gebrauchs- und interpretationsrelativ, aber nicht autorenrelativ. Das Widerspruchsprinzip ist nicht das Prinzip von Aristoteles, obwohl er es als Erster beschrieben hat. Der Zusammenhang zwischen ›ist‹ und ›soll‹ ist bei Prinzipien dauerhaft und zeitunabhängig ebenso auch bei Normierungen, die nicht in einem zeitlichen Rahmen zu erfüllen sind. Sie gelten auch dann noch, wenn sie durch einzelne Akte menschlichen Handelns und Denkens erfüllt sind. Sie gelten auch, wenn sie nicht erfüllt werden. Dies überträgt sich transitiv auf alle Normierungen und Gesetze, denen Prinzipien zugrunde liegen. Die Frage ist, in welchem Verhältnis Prinzipien zu ihrer Erfüllung stehen, wie sich deren Existenz zu dem, was sein soll, verhält. Das, was sein soll, hängt davon ab, wie Prinzipien beschrieben werden. Das Widerspruchsprinzip können wir jeweils in einer seiner Beschreibungen erfüllen, die Menschenwürde auch. Da es aber nicht nur eine einzige Beschreibung eines Prinzips gibt, kommt es darauf an, welche davon erfüllt werden soll. Alle auf einmal können wir schon deswegen nicht erfüllen, weil es immer nur bestimmte Gebrauchszusammenhänge gibt, aber nicht alle auf einmal. Wir können auch nicht entscheiden, welche Gebrauchszusammenhänge es noch geben wird. 172 | Ob die Geltung von etwas … 

Bei der Menschenwürde, wie wir sie aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kennen, kommt es darauf an, was unantastbar sein soll, denn das ist – ihrer Formulierung entsprechend – ihr Schutzbereich. Es kommt darauf an, ob es sich um Personen, um ihre physische und psychische Integrität und ihr Leben oder um Embryonen, befruchtete Eizellen und anderes mehr handelt. Es kommt auch darauf an, ob Embryonen als Personen gelten können oder nicht. Dementsprechend gibt es unterschiedliche Verbote, die sich als Normen aus dem Prinzip der Menschenwürde ableiten lassen. Das Verbot der Todesstrafe und der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen können wir zwar auf das Prinzip der Menschenwürde zurückführen, aber das Unantastbare, um das es dabei jeweils geht und das durch Normen geschützt werden soll, ist nicht dasselbe. Es kommt darauf an, wie das Prinzip beschrieben wird. Die Antwort auf die Frage, ob und wie Normen gelten, hängt von deren Autoren ab. Da der Norm, Personen nicht zu instrumentalisieren, das Prinzip der Menschenwürde zugrunde liegt, gilt sie, weil sie aus diesem Prinzip abgeleitet werden kann. Normen gelten aber nicht so wie Prinzipien unabgeleitet, gehören nicht zum Bereich des Nicht-Reflexiven und existieren nicht wie Prinzipien unabhängig von Autoren. Wenn wir selbst die Autoren von Normen sind, gelten sie, solange sie erfüllt werden können. Sie gelten immer in gleicher Weise, wenn die praktischen Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Wir können z. B. immer wieder etwas versprechen. Nicht alles, was wie ein Versprechen aussieht, ist auch ein Versprechen. Normen, deren Autoren wir sind, haben praktische Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit die Normen überhaupt gelten können. Es gibt wie bei Sprechakten Bedingungen des Gelingens oder Misslingens, wie wir am Beispiel der Person sahen, die bereits mit ihrem Partner verheiratet ist, ihm aber dennoch die Ehe verspricht. Prinzipien gelten wie Normen in einer Praxis, haben aber nur indirekt durch die Normen, die aus ihnen abgeleitet werden können, Bedingungen des Gelingens oder Misslingens. Die Unterscheidung zwischen nicht-reflexiv geltenden Prinzipien und reflexiv geltenden Normen ist nicht nur im Recht, sondern auch in der Ethik bedeutsam. Für diese Unterscheidung kommt es darauf an, ob dem, was sein soll, ein Prinzip zugrunde ontologische Voraussetzungen hat | 173

liegt, das existiert, oder ob es Normen gibt, die wir selbst begründen können. Für die Geltung von Prinzipien gibt es keine Gründe, aber sie existieren, weil wir sie gefunden und erkannt haben, dass sie unserem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem dienen. Für die Geltung von Normen gibt es Gründe, die wir aus Prinzipien ableiten und mit ihrer Hilfe dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem entsprechend unser Leben und Handeln gestalten können. Sie existieren dann ähnlich wie Prinzipien, aber unter den Bedingungen, die wir selbst festlegen. Wir wollen sie so festlegen, dass das, was ist, dem entspricht, was unserem Urteil nach sein soll. Fraglich ist, ob es Festlegungen gibt, deren Autoren wir selbst sind, die aber dennoch Prinzipien sind und auch so gelten. Kants kategorischer Imperativ beansprucht eine solche Doppelrolle, weil er die Geltung einer Maxime aus deren Tauglichkeit als Moral­ gesetz ableitet. Wir sind als autonome Subjekte sowohl die Autoren der Maximen als auch des Moralgesetzes. Das Moralgesetz soll universal wie ein Naturgesetz gelten. Auch das Modell der diskursiven Geltung versucht, die Diskursteilnehmer als Autoren von Normen, die prinzipiell gelten sollen, zu verstehen. In beiden Modellen werden Normen zu Prinzipien, weil sie eine universale Geltung beanspruchen. Wenn universale oder universalisierbare Ansprüche Gründe für Prinzipien wären, würden sie reflexiv gelten. Dann müsste aber die Universalisierbarkeit selbst nicht-reflexiv gelten. Selbst als Implikat der Geltung von Naturgesetzen gilt sie aber reflexiv, weil wir die Geltung dieser Gesetze für alle Fälle, auf die sie anwendbar sind, annehmen. Daher gehört die Universalisierbarkeit nicht zum Bereich des Nicht-Reflexiven. 2.8.1 Ob die Geltung aus der Genese ableitbar ist

Der eben beschriebene Unterschied zwischen Prinzipien, die wir finden und interpretieren, und Normen, die wir selbst festlegen, kann unklar werden, wenn wir Prinzipien und Normen historisch betrachten. Dies können wir beim Widerspruchsprinzip und den Naturgesetzen auch tun, aber kaum jemand würde deren Geltung als Ergebnis einer Festlegung aufgrund vorausliegender historischer Entwicklungen verstehen. Sie werden entdeckt und gelten 174 | Ob die Geltung von etwas … 

wie Freges Gedanken unzeitlich; sie galten schon vor ihrer Ent­ deckung. Diese unzeitliche Geltung erscheint uns aus historischer Sicht wenig tauglich für die Bedeutung und Geltung moralischer Prinzipien zu sein. Wir verstehen sie als Festlegungen, mit denen – wie im Fall der Menschenwürde – historisches Unrecht künftig verhindert werden kann. Geschichte und Gegenwart sind voll von Beispielen von Unrecht und Gewalt. Es liegt nahe, aus den Erfahrungen der Geschichte die Einsicht in die Bedeutung von Prinzipien abzuleiten, deren Geltung dieses Unrecht verhindern soll.294 Die Missachtung der Verpflichtungen der Menschlichkeit 295 könnten wir dann als Ursache für die allmählich gewonnene Einsicht in die Geltung der Menschenrechte verstehen. Wir könnten dann auch Autoren dieser Prinzipien benennen. Die Unterscheidung von Prinzipien und Normen würde obsolet, weil es für beides Autoren gäbe. Prinzipien würden dann nicht zum Bereich des Nicht-Reflexiven gehören, sondern wären genauso reflexiv wie Normen. Die Geltung von Prinzipien und Normen müsste dann aus der Historie abgeleitet werden. Damit würde der Zusammenhang zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, reflexiv beherrschbar, weil nur noch historische Ereignisse, aber nicht die Prinzipien, die von ihnen verletzt werden, eine ontologische Bedeutung hätten. Damit würde das Problem der Geltung lediglich verschoben, aber nicht gelöst, weil die Geschichte nur als narrative Ontologie zu verstehen ist und sich abhängig von den Erzählungen der Ereignisse immer wieder verändern kann. Es käme dann darauf an, welche Erzählung gilt. Es wäre dann kaum möglich, Beispiele der Gewalt, wie Jörg Babe­ rowski sie beschreibt, als Verletzungen der Menschenwürde zu verstehen, weil dieses Prinzip erst 1949 in Kraft getreten ist. Die Ansprüche der Menschenwürde existierten aber schon davor. Natürlich hat jede Entdeckung eines moralischen oder politi­ schen Prinzips eine Historie. Deswegen hat die Geltung jedes Prinzips eine Genese, obwohl die Geltung selbst unabgeleitet ist. Die Entdeckung von Prinzipien wird von historischen Ereignissen in einem Raum von Gewalt, von Auseinandersetzungen, von Diskursen, von früheren Entdeckungen und Ideen forciert.296 Sie wird mit Autoren identifiziert, die sie als Erste formulierten. Ähnliches gilt für die Entdeckung naturwissenschaftlicher Prinzipien. Die Moontologische Voraussetzungen hat | 175

tive für die Anerkennung von solchen Entdeckungen, die von Autoren beschrieben werden, vermitteln ihre Bedeutung, sind aber nicht die Gründe ihrer Geltung als Prinzipien. 2.8.2 Ob Kant die Geltung von Moral und Recht ohne Genese ­begründen kann

Kant vertritt den Gedanken der Geltung des Rechts und der Moral ohne Genese. Er ist kein Theoretiker der Menschenrechte und vertritt weder eine unzeitliche Geltung moralischer oder rechtlicher Prinzipien noch eine historische, sondern eine moralische. Er glaubt an die Unwandelbarkeit des Rechts durch Zweck- und Nutzenerwägungen und deren Unabhängigkeit von Konventionen und Übereinkünften. Er argumentiert für die Unwandelbarkeit der Rechtsgeltung in seiner Metaphysik der Sitten, indem er frühere metaphysische Voraussetzungen der Geltung des Rechts durch eine moralische Begründung ersetzt. Sie geht von einem kategorischen Imperativ aus, der bestimmt, was »Verbindlichkeit« heißt: »handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!«297 Den Anspruch, dem er dienen will, formuliert er in der Vorrede zur Metaphysik der Sitten. Er schreibt, »daß vor dem Entstehen der kritischen Philosophie es noch gar keine gegeben habe«. Und kurz darauf sagt er, »daß es nur Eine menschliche Vernunft geben kann« und deswegen auch nicht »viel Philosophien«.298 Diese Serie von Ansprüchen, die in einen einzigen Anspruch mündet, ist konsequent und nicht anders zu verstehen, als dass auch seine moralische Grundlegung der Rechtsgeltung ultimativ und zwingend ist. Insofern dürfen wir hoffen, dass ein Erfolg dieser moralischen Grundlegung der Verbindlichkeit des Rechts dem Bedürfnis nach einer von Zweifeln unabhängigen Geltung dienen würde. Kant vermischt Recht und Ethik nicht. Die Trennung dieser Bereiche des Normativen lässt sich an seinem Beispiel des Versprechens gut nachvollziehen. Er unterscheidet die Nötigung des Willens durch die innere moralische Triebfeder der Pflicht von dem Zwang durch eine äußere Gesetzgebung. Das ethische Gebot, ein Versprechen aus Pflicht zu halten, gehört in die Ethik, dem ethi176 | Ob die Geltung von etwas … 

schen Gebot korrespondiert die Gesetzgebung, die vorschreibt, dass Versprechen gehalten werden müssen. Es gibt keinen direkten, aber einen indirekten Zusammenhang zwischen Ethik und Gesetz. Er besteht darin, dass alle rechtlichen Pflichten – der Idee nach – indirekt aus ethischen folgen. Die rechtliche Verbindlichkeit folgt, wenn dies zutrifft, transitiv aus der ethischen. Beide Verbindlichkeiten unterscheiden sich in der Art ihrer Wirksamkeit, sollen aber ein Kontinuum bilden. Wenn der äußere Zwang der Gesetzgebung, Versprechen zu halten, »weggelassen«299 werde, reiche der innere Selbstzwang als Triebfeder aus, das Versprechen tatsächlich zu halten. Das Beispiel des Versprechens scheint geeignet zu sein, den Gedanken des Kontinuums der Verbindlichkeiten überzeugend zu belegen. Die Frage ist, ob der innere und der äußere Zwang tatsächlich, wie Kant vermutet, ein Kontinuum bilden. Dem Kontinuum der Verbindlichkeiten liegt die Freiheit als Prinzip zugrunde. Kant macht von diesem Prinzip in der Moral und im Recht in Gestalt von zwei Freiheitsbegriffen Gebrauch. 300 Sie bilden ein Kontinuum, dem unausgesprochen die Identität der Freiheit zugrunde liegt. Es sieht so aus, als würde aus dem einen der Freiheitsbegriffe der andere folgen. An erster Stelle steht der Vernunftbegriff der Freiheit, in Abhängigkeit von ihm folgt dann die Freiheit als Rechtsbegriff. Die Wirksamkeit des Vernunftbegriffs bestehe darin, »die Willkür zu bestimmen und einen reinen Willen in uns zu beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben«. 301 Im eben erwähnten kategorischen Imperativ zeigt sich dieser grundlegende Freiheitsbegriff, der unabgeleitet wie ein Prinzip gilt. Er begründet sowohl die moralische als auch die rechtliche Verbindlichkeit. Kant definiert das, was ›Geltung‹ in beiden normativen Bereichen bedeutet, einheitlich: »Verbindlichkeit ist die Notwendigkeit einer freien Handlung unter dem kategorischen Imperativ der Vernunft.«302 Wenn sich – dieser Definition gemäß – die Geltung der äußeren Gesetzgebung genauso wie die Geltung der inneren moralischen Selbstgesetzgebung aus der Freiheit ableiten lässt, gibt es für die Ethik und das Recht nur eine einzige Quelle der Verbindlichkeit und auch nur eine einzige Form der Gesetzgebung. Dem kategorischen Imperativ würde das »allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit ontologische Voraussetzungen hat | 177

von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne«303 unmittelbar korrespondieren. Die Frage ist, ob dies tatsächlich so ist. Es gibt Gründe, daran zu zweifeln. Mit dem Rechtsgesetz bricht das Kontinuum der Verbindlichkeiten, die aus dem Freiheitsbegriff ableitbar sind, nämlich ab. Es kommt nun der Zwang eines ›allgemeinen Gesetzes‹ ins Spiel, dessen Geltung nicht aus der Freiheit und dem kategorischen Imperativ ableitbar ist. Es wäre auch widersinnig, wenn aus dem kategorischen Imperativ die Einschränkung der Willkür304 des einen durch die Willkür des anderen durch ein Gesetz folgen würde, obwohl dieses Gesetz aus jenem Imperativ inhaltlich gar nicht ableitbar ist. Das allgemeine Gesetz, das die Koexistenz der Willkür-Freiheiten regeln soll, setzt die Geltung eines zusätzlichen – »gar keines Beweises weiter fähig(en)«305  – Postulats voraus. Es besagt, dass meine Freiheit nur der Idee nach, aber nicht wirklich durch die Willkür des anderen eingeschränkt werde. Das erwähnte Postulat scheint zweierlei zu behaupten: zum einen können wir es so verstehen, dass jeder, der seinen Willen zu handeln mit dem kategorischen Imperativ bestimmt, friedlich und konfliktfrei mit jedem anderen, der dasselbe tut, koexistieren kann. Die Willkürfreiheiten beißen sich nicht. Beweisen lässt sich dies aber nicht, deswegen das Postulat. Zum zweiten gilt das Postulat auch dann, wenn die Akteure sich nicht alle am kategorischen Imperativ orientieren. Dann kann der eine zwar dem anderen in die Quere kommen, aber nur in einem äußeren Sinn. Niemand kann mit seiner Willkürfreiheit diejenige eines anderen der Idee nach einschränken. Wenn aber doch im konkreten Handeln die moralisch begründete Verbindlichkeit missachtet wird, sorgt der Zwang des Gesetzes dafür, dass die Ordnung des Rechts wenigstens äußerlich bestehen bleibt. Am Beispiel des Versprechens können wir uns die Wirkung des Postulats vergegenwärtigen. Solange jeder seine Versprechen hält, koexistieren die Willkürfreiheiten konfliktfrei. Wenn der eine oder andere seine Versprechen nicht hält, wird er dazu vom Gesetz gezwungen. Mit dieser Funktion des Rechts bricht das Kontinuum der Verbindlichkeiten endgültig ab. Es kommt eine andere Art der Geltung, nämlich diejenige des Rechts, ins Spiel, deren zwingende 178 | Ob die Geltung von etwas … 

Wirksamkeit sich nicht aus einem kategorischen Imperativ ableiten lässt. Kant überspielt diesen Bruch der Verbindlichkeiten mit einem dialektischen Manöver, das sich aus einer Analogie zur Mechanik und – wie er meint – dem Satz vom Widerspruch zusammensetzt. In dem recht knappen Paragraphen 306 , in dem er die Zwangs­ befugnis des Rechts behauptet, erklärt er den Gesetzeszwang gegen das Unrecht quasi mechanisch als kohärente Freiheitsförderung. Sein Gedanke beruht auf der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung307 und ist so zu verstehen: Die Kraft, welche die Wirkung eines Widerstands verhindert, sichert den Erfolg derjenigen Kraft, gegen die sich der Widerstand richtete; einfacher gesagt, der Wirkung entspricht symmetrisch eine Gegenwirkung. So weit der ab­ strakte, mechanische Teil des Gedankens. Angewandt auf das Verhältnis zwischen Freiheit und Gesetz bedeutet dies: Der Zwang des Gesetzes, der das Unrecht verhindert, das der Freiheit im Wege steht, fördert die Freiheit; und damit werden äußerer Zwang und Freiheit widerspruchsfrei vereinigt. So können wir Kants Gedanken deuten; und zu dessen besserem Verständnis folgen wir noch ein wenig seinen Überlegungen. Nehmen wir – Kant folgend – an, jemand will sein Versprechen nicht halten und wird durch das Gesetz daran gehindert, es nicht zu halten; dessen Freiheit, Versprechen zu halten, wird durch diesen Zwang nicht verletzt, sondern – wie Kant offenbar meint – gefördert. Natürlich widerspricht der Rechts- oder Gesetzeszwang nicht der Freiheit, wenn er jemanden daran hindert, gegen seine Freiheit zu handeln. Dem Satz vom Widerspruch, den Kant bemüht, entspricht dies aber nur dann, wenn der Rechtszwang dem Rechtsgesetz, das er im vorherigen Paragraphen definiert, entspricht. Dann ist die Kohärenz von Rechtszwang und Freiheit per definitionem gesichert. 308 Diese definitorische Widerspruchsfreiheit zwischen Rechtszwang und Freiheit ändert aber nichts daran, dass der Rechtszwang importiert ist und sich nicht aus dem Selbstzwang ableiten lässt, der aus einem kategorischen Imperativ folgt. Der Bruch im Kontinuum der Verbindlichkeiten ist mit Kants dialektischem Manöver nicht zu kitten. Kant hält entschieden an der Idee des Kontinuums der Verbindlichkeiten fest, denn nur so kann er die Freiheit zum Grundprinzip ontologische Voraussetzungen hat | 179

von Moral und Recht machen. Jenes Kontinuum ist nur nach der ersten Definition des Rechts, nicht aber nach der zweiten überzeugend. Kant definiert das Recht – zunächst – als »Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«.309 Das Gesetz der Freiheit besagt, dass jeder Einzelne nur sich selbst zum Handeln nach einer Maxime nötigen kann. Kant nennt diese Freiheit das einzige angeborene Recht, die »Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür«.310 Aus diesem Recht leitet er dann unmittelbar die Gleichheit der Menschen ab; denn in der Freiheit liege schon die »Qualität des Menschen sein eigener Herr (sui iuris) zu sein«.311 So weit reicht das Kontinuum der Verbindlichkeiten. Sobald aber der Zwangscharakter des Rechts mit der Freiheit jedes Einzelnen verbunden werden muss, ist das Kontinuum der Verbindlichkeiten unterbrochen. Denn dann wird die Vereinigung der Willkürfreiheiten nicht mehr durch das eben erwähnte Freiheitsgesetz, sondern durch »allgemeine Gesetze«312 und deren Verbindlichkeit geregelt. Dann zwingt das Recht, auch wenn Kant meint, dass dieser Zwang mit dem Selbstzwang kohärent vereinigt werden kann. Im Idealfall, in dem das Recht mit seinen Pflichten indirekt aus der Verbindlichkeit moralischer Pflichten abgeleitet werden kann, spricht nichts gegen Kants Annahme. Am Beispiel des Versprechens lässt sich dies gut nachvollziehen. Im Normalfall ist diese indirekte Verbindung des Rechts mit der Moral aber nicht gegeben. Deswegen kann die Verbindlichkeit des Rechts auch nicht aus der Verbindlichkeit der Moral abgeleitet werden. Die moralische Geltung des Rechts ist auf die Verbindlichkeiten beschränkt, die wie das Versprechen eines Schuldners313 eine moralische Bedeutung haben. Diese Verbindlichkeiten sind aber gemessen am Ganzen positivrechtlicher Regelungen eine Minderheit, zu Kants Zeit nicht weniger als heute. Das Problem der zwei Arten der Verbindlichkeit und des Zwangs ist Kant nicht entgangen. Er ist aber bestrebt, die Verbindlichkeit durch den Selbstzwang so weit wie möglich auch für die »äußeren Gesetze (leges externae)« zu beanspruchen, die er als »natürliche Gesetze« bezeichnet.314 Denn deren Verbindlichkeit sei durch die Vernunft erkennbar. Lediglich die »positiven Gesetze«, 180 | Ob die Geltung von etwas … 

die nicht unter die natürlichen fallen, führt er auf die »Autorität des Gesetzgebers« zurück. Damit gibt er wenigstens indirekt zu, dass die darauf gründende Verbindlichkeit nicht auf den moralischen Selbstzwang zurückzuführen ist. Für diese Autorität fordert er allerdings ihrerseits eine Geltungsgrundlage in Form eines »natürlichen Gesetzes«. Er verfolgt diesen Anspruch zeitgeschichtlich nicht weiter; er müsste dann wohl einsehen, dass es für den Zwangscharakter vieler positiver Gesetze seiner Zeit keine von der Vernunft bestimmte naturrechtliche Grundlage gibt. Stattdessen bekräftigt er seinen Grundgedanken, dass nicht nur die subjektive, sondern auch die objektive Verbindlichkeit der Gesetzgebung in der Freiheit ihren Ursprung hat und dass die Gesetze, die aus ihr entspringen, die gleiche apodiktische Geltung beanspruchen können wie »mathematische Postulate«.315 Er hält am Kontinuum der Verbindlichkeiten fest. Ein Geltungszweifel ist für ihn ähnlich ausgeschlossen wie ein Konflikt zwischen Verbindlichkeiten.316 Da es aber kein Kontinuum der Verbindlichkeiten von positiven und moralischen Gesetzen gibt, scheitert auch Kants Gedanke der Geltung ohne Genese, zumindest für dieses Kontinuum. 2.8.3 Ob Kants rein moralisch begründete Geltung erfolgreich ist

Mit diesem Scheitern ist die Möglichkeit einer rein moralischen Geltung aber nicht schon ausgeschlossen. Kant entwirft in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft 317 eine solche Theorie. Er will die unbedingte Geltung des Moralgesetzes ohne ontologische Bedingungen, ohne empirische, anthropologische und historische Vorbedingungen nachweisen.318 Individuelle Neigungen dürfen so wenig eine Rolle spielen wie artspezifische Bedürfnisse oder biophysisch wirksame Dispositionen oder Verhaltensanlagen. Kant will eine über alle Zweifel erhabene moralische Geltungstheorie ohne Genese entwerfen. Nur das, was sein soll, soll gelten, unabhängig von dem, was ist oder bisher war. Zwei Voraussetzungen sind dazu erforderlich, Freiheit und praktische Vernunft. Die Vernunft muss sich auch als »praktisches Vermögen« erweisen und den menschlichen Willen so bestimmen, ontologische Voraussetzungen hat | 181

dass ein »an sich selbst guter Wille« das Resultat ist.319 Und es muss die Freiheit geben. Die Vernunft kann nur praktisch werden, wenn es die Freiheit gibt – und umgekehrt. Durch die Freiheit kann die Vernunft, die nur eine einzige320 ist, auch praktisch werden. Freiheit und praktische Vernunft bedingen sich wechselseitig, sind unzertrennlich, wie Kant behauptet. Freiheit ist eine Idee, ein Postulat, das nicht bewiesen, aber dennoch – wie Kant meint – erkannt werden kann. Sie hat für seine Moraltheorie eine grundlegende Bedeutung. Die Geltung dieser Theorie ist von zwei Ansprüchen abhängig, die Kant für erfüllt hält, von einem kognitiven und einem quasi-ontologischen Anspruch. Der kognitive ist, dass wir die Möglichkeit der Freiheit »a priori« wissen können. 321 Der quasi-ontologische Anspruch ist, dass das Moralgesetz ein »Factum der Vernunft« ist.322 Die Möglichkeit der Willensfreiheit ist mit diesem Faktum, wie Kant erklärt, auf unerklärliche Weise verbunden.323 Diese ergebnishaften Bemerkungen machen die Mühe nicht sichtbar, die sich Kant mit dem Verhältnis zwischen Freiheit und Moralgesetz macht. Wir wollen uns diese Mühe, dieses Ringen um die richtige Lösung, genauer ansehen, um beurteilen zu können, ob es eine rein moralische Geltung geben kann. Vom Moralgesetz als Faktum der Vernunft ist in der Grund­ legung noch nicht die Rede. Dort fordert Kant »eine Deduction des Begriffs der Freiheit aus der reinen praktischen Vernunft«. Das bedürfe »noch einiger Vorbereitung«, sagt er dort.324 Diese Vorbereitung ist in der zweiten Kritik einerseits abgeschlossen, weil er das Moralgesetz als Faktum der Vernunft zum »Prinzip der Deduction eines unerforschlichen Vermögens«, der Freiheit, macht. 325 Andererseits sieht Kant ein, dass er die Möglichkeit der Freiheit nicht als Erkenntnis von etwas physisch Wirksamem nachweisen konnte, was offenbar sein Plan war.326 Was die Freiheit als wirkende Ursache in der physischen Natur sein könnte, bleibt unerkennbar. Indirekt wird aber klar, dass sie existiert, auch wenn Kant dies nicht ausdrücklich sagt. Den indirekten Nachweis dafür soll die Deduktion der Freiheit durch das Moralgesetz leisten.327 Eigentlich wäre eine Deduktion des Moralgesetzes die erste Aufgabe der zweiten Kritik. Sie wäre der Nachweis der Geltung dieses Gesetzes. Diesen Nachweis kann es aber, wie Kant betont, nicht 182 | Ob die Geltung von etwas … 

geben, und weil es ihn nicht geben kann, wird die Sache so schwierig. An die Stelle der erwarteten Deduktion der Moralgesetzes tritt, wie Kant sagt, etwas »ganz Widersinnisches«, die eben erwähnte Deduktion der Freiheit durch das Moralgesetz. Statt um den Nachweis der Geltung des Moralgesetzes geht es nun um die Freiheit. So ganz zufrieden scheint Kant damit aber nicht zu sein, weil er wenig später eine Deduktion des einen und anderen nicht mehr für nötig hält. Stattdessen glaubt er, dass Freiheit und Moralgesetz »unzertrennlich« miteinander verbunden sind. Diese Verbindung soll eine Deduktion ersetzen.328 Letztlich gibt Kant damit den Plan auf, die rein moralische Geltung des Moralgesetzes nachzuweisen. Der Gedanke der unzertrennlichen Verbindung verdient besondere Aufmerksamkeit, weil er den deduktiven Geltungsnachweis ersetzt, den Kant in der ersten Kritik für die apriorische Geltung seiner Erkenntnislehre für notwendig hält. Kant bietet für die Unzertrennlichkeit von Moralgesetz und Freiheit, seinen Deduktionsersatz, zwei kontrafaktische Argumente an, die wir als indirekte Geltungsnachweise verstehen können. Er selbst versteht diese Argumente aber nicht so. Was ihn davon abhält, wird uns gleich beschäftigen. Das erste dieser beiden kontrafaktischen Argumente ist: Wenn die Möglichkeit der Freiheit nicht nur als mögliche, sondern als real wirksame Ursache eingesehen werden könnte, könnte auch die Notwendigkeit des Moralgesetzes als eines »obersten praktischen Gesetzes vernünftiger Wesen« eingesehen werden. Nun kann aber die Möglichkeit der Freiheit als Wirkursache, wie Kant betont, nicht eingesehen werden, stattdessen sind wir durch das Moralgesetz berechtigt, sie anzunehmen. 329 Das »Widersinnische« – man könnte auch sagen ›das Zirkuläre‹ – ist, dass das Moralgesetz als Faktum der Vernunft keiner Begründung bedarf, dafür aber die Freiheit begründet. Beide sind ja unzertrennlich. Das zweite kontrafaktische Argument ist: Wenn es uns möglich wäre, in unser Denken »tiefe Einsicht zu haben«, wäre uns »jede, auch die mindeste Triebfeder« zu handeln bekannt und wir könnten das menschliche Verhalten »wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis ausrechnen« und dennoch behaupten, frei zu sein. 330 Nun haben wir diese tiefe Einsicht in unser Denken nicht, dürfen aber dennoch annehmen, dass wir in der naturgesetzlich determinierten Ordnung frei sind zu denken und zu tun, was wir als vernünftige ontologische Voraussetzungen hat | 183

Wesen wollen. Kant erinnert an die widerspruchsfreie Koexistenz der Kausalitäten der Natur und der Freiheit aus der ersten Kritik. Als Determinist der Natur muss er nicht nur – kompatibilistisch – an die Koexistenz der Kausalitäten glauben. Er kann auch davon ausgehen, dass die Koexistenz nicht zu Schwierigkeiten mit der Physik führt, weil es ja nur auf die Willensbildung und nicht auf die freie Durchführung des Willens in der äußeren Natur ankommt. Denn diese kann gelingen, muss aber nicht gelingen. Wenn wir von dieser Koexistenz nicht abhängig sein wollen, können wir nun einen Weg gehen, den Kant mit den beiden eben genannten kontrafaktischen Argumenten vorzeichnet, aber selbst nicht geht. 331 Er kann ihn auch nicht gehen, weil er damit  – wie wir gleich sehen – das Faktum der Vernunft und die Geltung des Moralgesetzes in Frage stellen würde. Wir haben früher gesehen, was mit kontrafaktischen Argumenten möglich ist. Es ist möglich zu wissen, dass es etwas gibt, ohne zu wissen, was es ist. Wir haben kontrafaktisch dafür argumentiert, dass es das Gute gibt, ohne zu wissen, was es ist. Dass wir nicht wissen, was das Gute ist, ist – wie wir sahen – kein Argument dafür, dass es das Gute nicht gibt. Es wäre deswegen auch nicht gut, nicht über das Gute nachzudenken oder Gutes nicht tun zu wollen. Wir würden uns damit, wie wir sahen, selbst widersprechen. Wir wissen also, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Wissen, dass etwas der Fall ist, und dem Wissen, was es ist. Wir wollen diese Argumentation nun analog auf Kants kontrafaktische Argumente für die Unzertrennlichkeit von Freiheit und Moralgesetz anwenden. Wenn wir nach erwähntem Muster die beiden kontrafaktischen Argumente verstehen, können wir wissen, dass es die Freiheit gibt, ohne zu wissen, was sie ist und wie sie wirkt.332 Wir müssen der Freiheit dabei auch keine noumenale, übersinnliche Bedeutung geben, die wir nicht verstehen. Es wäre auch nicht hilfreich, so etwas Unverständliches in die Physik zu integrieren in der Hoffnung, dass es dann verstanden würde. Uns genügt es zu wissen, was ›Freiheit‹ für uns konkret bedeutet, wovon sie abhängt und was sie einschränkt. Wir benötigen für dieses Wissen keine Theorie. Auch das Moralgesetz benötigen wir für dieses Wissen nicht. Das Faktum der Vernunft muss für die Einsicht, dass es die Freiheit gibt, nicht argumentativ einspringen. Ähnlich wie beim Guten bleibt unser 184 | Ob die Geltung von etwas … 

Denken auch hier im Konjunktiv und ist dennoch realistisch und schlüssig. Es steht außer Frage, dass wir wissen, was der Fall wäre, wenn es die Freiheit geben würde. Wir wissen auch, was der Fall wäre, wenn es die Freiheit nicht geben würde, etwa im Fall von Geisteskrankheiten oder Demenz. Wenn es sie geben würde, könnten wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten selbst bestimmen, wir könnten unser Denken und Handeln frei wählen, so frei wie wir sind oder nicht sind. Diese Freiheit kann nicht darin bestehen, dass wir etwas von selbst ohne alle Vorbedingungen anfangen können, wie es die Autonomie suggeriert. Wir könnten uns dennoch moralisch selbst bestimmen. Ob dies orientiert an Kants Moralgesetz geschehen sollte oder nicht, ist damit nicht entschieden. Nicht nur die Möglichkeit der Freiheit, auch ihre Wirklichkeit ist – kontrafaktisch – denkbar. Wir erkennen, dass die Möglichkeit eines guten Lebens in einer liberalen, offenen Gesellschaft, in der Gesetze die Freiheitsrechte sichern, von der Möglichkeit der Freiheiten abhängig ist. Damit wissen wir auch, was gelten sollte, damit ein gutes Leben in einer freiheitlichen Ordnung möglich ist. Es sollten freiheitliche Gesetze gelten. Mit diesem Anspruch nehmen wir kontrafaktisch an, dass es die Freiheit in Gestalt von Freiheiten gibt. Wir stellen einen Zusammenhang her zwischen der Realität der Freiheit und dem, was sein soll, nämlich freiheitliche Gesetze und individuelle Selbstbestimmung. Das ist genau das, was in moralischer Hinsicht gelten sollte. Was im moralischen Sinn gilt, würde vom jeweiligen Zusammenhang zwischen der Freiheit, die es gibt und die wir tatsächlich haben, und dem, was sein soll, der moralischen Selbstbestimmung, bestimmt. Wir haben früher gesehen, dass wir ein ontologisches Bedürfnis nach dem Guten haben, weil dieses Bedürfnis Teil unserer Natur ist. Wir können jetzt erkennen, dass wir auch ein Bedürfnis nach Freiheit und moralischer Selbstbestimmung haben. Auch dieses Bedürfnis ist Teil unserer Natur und nicht Produkt unseres Denkens.333 Wir wollen frei sein und selbstbestimmt leben. Kants Anspruch ist dagegen kein ontologischer, sondern ein rein kognitiver. Er hält das Moralgesetz und nicht die Freiheit für ein Faktum der Vernunft und glaubt, dass wir die Freiheit nicht ohne das Moralgesetz denken können. Er ist überzeugt, dass das Faktum der Verontologische Voraussetzungen hat | 185

nunft eine größere Gewissheit als die Freiheit hat. Der Erfolg von Kants Mühe und Ringen um den Geltungsnachweis des Moralgesetzes hängt von dieser Überzeugung ab. Wir wollen nun verstehen, warum er glaubt, dass sie begründet ist. Den Grund für seine Überzeugung findet Kant im Faktum der Vernunft selbst. Das Faktum der Vernunft ist – so wie er es versteht  – etwas Nicht-Reflexives, etwas, was nicht konstruiert und nicht, wie er sagt, »herausvernünftelt« ist. Wenn es das ist, kann es kein Produkt des reflexiven, begrifflich gestützten Denkens sein. Es kann nur durch Denken aufgefunden werden. Wenn es als Faktum der Vernunft gefunden ist, soll es unabweisbar und unbezweifelbar gelten. Es ist zunächst überraschend, dass Kant dem Faktum der Vernunft einen nicht-reflexiven Status zuschreibt. Ähnliches hätte er für das ›Ich denke‹ auch tun können, tat es aber nicht. Es ist aber keineswegs klar, dass das Moralgesetz einen nichtreflexiven Status hat. Alles, was Kant in der Grundlegung zum Moralgesetz sagt, spricht für das Gegenteil. Die Geltung kategorischer Imperative hängt von der Überprüfung der universalen Geltung von Maximen ab. Diese Überprüfung nimmt Bezug auf das Widerspruchsprinzip und ist reflexiv anspruchsvoll. Wenn das Ergebnis dieser Überprüfung der Maximen konstitutiv für das Moralgesetz ist, können wir nicht nachvollziehen, dass dieses Gesetz ein nichtreflexives Faktum der Vernunft sein soll. Selbst im Rahmen von Kants Überlegungen wäre es naheliegend, die Freiheit für ein Faktum zu halten, für etwas, was wir denkend finden, ohne es ›herauszuvernünfteln‹ und zu konstruieren. Kant glaubt aber stattdessen, dass wir das Faktum der Vernunft wissen können, weil er es argumentativ gebrauchen will. Wenn wir wissen, was das Moralgesetz ist, können wir mit diesem Wissen die Möglichkeit der Freiheit erkennen. Nach allem, was er in der Grundlegung zur Konstruktion des Moralgesetzes und den Versionen des kategorischen Imperativs sagt, ist es nun überraschend, dass er diesem Gesetz den nicht-reflexiv Status eines Faktums der Vernunft einräumt. Es mag sein, dass Kants ontologische Enthaltsamkeit ihn daran hindert, seine eigenen kontrafaktischen Argumente in dem eben beschrieben Sinn zu verstehen. Ohne diese Zurückhaltung könnte er zwischen dem Wissen dass und dem Wissen was unterscheiden. 186 | Ob die Geltung von etwas … 

Stattdessen hält er den Anspruch, dass das Moralgesetz unbezweifelbar gilt und dass wir wissen, was es ist, nämlich ein Faktum der Vernunft, für absolut sicher. Dieses Faktum ist aber nicht evident, es ist nicht gefunden, sondern in der Grundlegung reflexiv erfunden. Würde Kant seine kontrafaktischen Argumente so nutzen, wie wir vorschlagen, könnte er dem Faktum der Vernunft, dem Moralgesetz, keine größere Evidenz als der Freiheit einräumen, im Gegenteil. Er müsste nicht nur erkennen, dass es die Freiheit gibt – was er ja auch tut –, sondern dass deren Existenz nicht des Moralgesetzes bedarf. Das wäre das Gegenteil dessen, was er will. Die Gründe dafür, dass Kant unseren Überlegungen nicht zustimmen könnte, finden wir, wenn wir seinem Denken in der zweiten Kritik weiter nachgehen. Er beschreibt dort den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Kritik, zwischen theoretischer und praktischer Vernunft anhand des Verhältnisses des Willens zur Natur. In der ersten Kritik sei der Wille den Naturgesetzen unterworfen, in der zweiten sei die Natur dem Willen unterworfen.334 Kant glaubt, dass wir als Freiheitswesen übersinnlich wirksame Ursachen in der sinnlichen Natur sein können. Er sagt es zum einen indirekt, indem er sein Argument von der widerspruchsfreien Koexistenz der Natur- und der Freiheits-Kausalität aus der ersten Kritik wiederholt. Es sagt es auch direkt, wenn er aus dem Koexistenz-Argument auf das »Dasein« der Dinge in der Zeit und »an sich selbst« schließt und uns als übersinnlichen Wesen »Freiheit« als Dingen »an sich selbst« beilegt.335 Die widerspruchsfreie Koexistenz natürlicher und übersinnlicher Ursachen, von Determinismus und Freiheit, können wir in der von Kant in der ersten Kritik vorgelegten Form nicht nachvollziehen.336 Wir müssten sie aber nachvollziehen können, um die Argumentation Kants für eine rein moralische Geltung verstehen und akzeptieren zu können. Kants Argumentation für die rein moralische Geltung endet in einer von ihm selbst verursachten Unmöglichkeit, die mit dem Faktum der Vernunft zusammenhängt. Schauen wir uns diese Unmöglichkeit an. Kants Argumentation für die Geltung des Moralgesetzes in der zweiten Kritik ist eine andere als für die Geltung der Kategorien in der ersten. Die Argumentation der ersten Kritik ist die transzendentale Deduktion. Sie erwies sich nach unserem Urontologische Voraussetzungen hat | 187

teil nicht als erfolgreich, weil sie keinen Ontologie-freien Nachweis der Geltung der Kategorien führen kann. Die transzendentale Deduktion kommt nicht ohne ontologische, nicht-reflexive Voraussetzungen wie das ›Ich denke‹, die Apperzeption, die Anschauung und die reale, synthetische Wirksamkeit der Einbildungskraft aus. Eine rein apriorische Begründung der Geltung der Kategorien für die Erkenntnis scheitert. Kants Argumentation in der zweiten Kritik enthält keine trans­ zendentale Deduktion. Er will zwar auch die Geltung des Moralgesetzes rein a priori nachweisen. Argumentativ ist die Lage nun aber eine andere als in der ersten Kritik. Dort gibt es kein Faktum der Vernunft, obwohl u.a. das ›Ich denke‹ dafür in Frage käme. Nun soll aber in der zweiten Kritik das Moralgesetz ein solches quasi-ontologisches Faktum der Vernunft sein, dessen Geltung aber in Verbindung mit der Freiheit bestätigt werden soll. Schon dieser Umstand, dass das Faktum nicht an sich und unabhängig von allem anderen gilt, sondern nur im Tandem mit der Freiheit, ist bemerkenswert. Das Faktum der Vernunft hat, um es zu wiederholen, eine nichtreflexive Bedeutung, weil man es »nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben) herausvernünfteln kann«. 337 Das Bewusstsein des Moralgesetzes ist also – auch in Kants Augen – ein nicht-reflexives Faktum. Er nennt es deswegen auch ›synthetischapriori‹. Wäre das Bewusstsein der Freiheit ähnlich gegeben wie das Bewusstsein des Moralgesetzes, so sein weiterer Punkt, wäre der Zusammenhang zwischen Freiheit und Moralgesetz ein analytischer. An diesem Punkt haben wir die von Kant selbst verursachte Unmöglichkeit erreicht. Wäre der Zusammenhang nämlich ein analytischer, müsste er zugeben, dass wir eine »intellektuelle Anschauung« von der Freiheit des Willens hätten. Eine solche Anschauung darf es aber nicht geben, weil sie uns – wie wir aus der ersten Kritik wissen – Hirngespinste vorgaukeln würde. Wir können daher kein Wissen davon haben, was die Freiheit ist und wie sie sich ursächlich auf das, was wir wollen, auswirkt. Wenn wir das Gegenteil behaupten wollten, hätten wir eine ›intellektuelle Anschauung‹ von der Freiheit. Wir könnten sie wie irgendeinen Gegenstand wahr188 | Ob die Geltung von etwas … 

nehmen. Damit würden wir in der Sackgasse der intellektuellen Anschauung landen. Zum einen widerspricht diese Argumentation nicht der Annahme, dass wir wissen können, dass es die Freiheit gibt, ohne zu wissen, was sie ist und wie sie wirkt. Zum andern landen wir nur deswegen in der Sackgasse der intellektuellen Anschauung, weil Kant die Möglichkeit des Wissens, dass etwas der Fall ist, ohne dass ein Wissen vorhanden ist, was es ist, nicht in Betracht zieht, sondern unerfüllbare kognitive Ansprüche an die Freiheit stellt, die seiner Ansicht nach nur das Moralgesetz erfüllen kann. Genau diese Ansprüche erfüllt das Moralgesetz als Faktum der Vernunft aber nicht. Wenn wir zurück zu Kants Grundlegung gehen, stoßen wir im »Dritten Abschnitt« auf die von der Vernunft reflexiv erdachte »Verstandeswelt«. Der »Begriff der Verstandeswelt« sei »nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genöthigt sieht, außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken«.338 Die Idee der Freiheit ist nur in dieser erdachten Welt praktisch wirksam. Sie soll ihre Kraft aber auch in der Welt, in der wir leben, entfalten und hier praktisch werden, sonst wäre sie wie eine intellektuelle Anschauung ein Hirngespinst. Kant arbeitet, wie er selbst in der zweiten Kritik zugibt, vergeblich daran, diese praktische Wirksamkeit auch in der deterministischen Natur der »Sinnenwelt« denkbar zu machen. Dies hält ihn aber nicht davon ab, weiter an die widerspruchsfreie Koexistenz der Kausalitäten zu glauben. In der Grundlegung hält er die umfassende und vollständige Integration beider Welten, der Sinnes- und der Verstandeswelt, noch für möglich. Dort billigt er der Verstandeswelt zu, dass sie »den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält«.339 Wenn wir versuchen, diesen Gedanken nachzuvollziehen, können wir ihm zugute halten, dass wir Menschen, wie Kant in der ersten Kritik behauptet, die gesetzmäßige Ordnung der Natur begrifflich erfassen und denken.340 Wir denken diese Ordnung zwar, schaffen damit aber nicht deren wissenschaftlich erfassbaren Inhalt. Dennoch können wir Kant zugestehen, dass die Form der Gesetzmäßigkeit als gemeinsamer Nenner für die Naturgesetze und das Sittengesetz gelten kann.341 Wie weit dieser Gedanke tatsächlich trägt, wird uns dann klar, wenn wir an die unterschiedliche Wirkontologische Voraussetzungen hat | 189

samkeit der beiden Gesetzesarten denken. Die eine ist von uns und unserem Denken abhängig, die andere nicht. Wir Menschen können die Wirksamkeit eines Sittengesetzes als etwas begreifen, was allein von uns selbst abhängt. Die Wirksamkeit der Naturgesetze liegt aber außerhalb unseres Einflusses. Letzteres würde Kant wohl auch nicht bestreiten. Was er selbst aber beansprucht, ist eine Art gedachter, kausaler Symbiose der beiden Gesetzes-Arten im Hinblick auf den menschlichen Willen. Natur und Freiheit sollten dazu wenigstens ihrer gesetzlichen Form nach vereinigt werden können und den reinen, von allen Neigungen unabhängigen Willen, die Selbstgesetzgebung durch kategorische Imperative ermöglichen. Wenn wir uns fragen, warum Kant an diese unwahrscheinliche und metaphysisch allzu anspruchsvolle kausale Symbiose glaubt, überrascht es nicht, dass er sich zu diesem Glauben durch eine Analogie selbst überreden – in gewisser Weise selbst nötigen – muss. Er findet die Analogie im Verhältnis des Verstandes zur Natur. Etwa so, 342 wie die Begriffe vom Verstand in die Natur projiziert werden, um ihr eine gesetzliche Form zu geben und die Natur mit Hilfe dieser Projektion verstehen zu können, so funktioniere auch die moralische Selbstgesetzgebung. Denn auch sie gebe einer Natur, der unseren nämlich, eine Form durch das unbedingte Sollen; ein reines Verstandeswesen müsste sich ja tatsächlich im Gegensatz zu uns Naturwesen kein Sollen verordnen. Kant hält diese Analogie für schlüssig. Er setzt seine Selbstüberredung mit Hinweisen auf selbstverständlich Erscheinendes, auf Plausibilitäten, die wir allerdings kaum als solche wahrnehmen dürften, fort. Jeder, »selbst der ärgste Bösewicht«, 343 würde sich wünschen, so meint er, genauso gut gesonnen zu sein wie derjenige, der redlich und standhaft guten Maximen folgt. Er glaubt, dass sich niemand einem solchen Beispiel verschließen und die überragende Bedeutung des kategorischen Sollens nicht anerkennen könnte. Kants Rechtschaffenheit bewahrt ihn nicht vor einem Übermaß an blauäugiger Gutgläubigkeit. Auch wenn Kant im gleichen Atemzug davon spricht, dass es sich bei jener Analogie um eine richtige »Deduktion«, also um ein unabweisbares, alternativloses, verbindliches Argument handelt, vermissen wir doch alles, was diese Behauptung stützen und die 190 | Ob die Geltung von etwas … 

tatsächliche Symbiose von Natur- und Freiheitsgesetz begründen könnte. Eine weitere Selbstverständlichkeit in seinen Augen ist, dass sich alle Menschen »dem Willen nach als frei« denken.344 Dem können wir uneingeschränkt zustimmen. Wir können uns tatsächlich als frei denken, und wir wissen, dass wir frei sein können und dass wir auch nicht frei sein können. Denn wir wissen nicht, was genau unsere Freiheit ist und wie sie wirkt. Deswegen sind wir unsicher. Wenn wir über die Freiheit nachdenken, wird uns lediglich klar, wie eingeschränkt sie ist. Auch für diese Einsicht müssen wir davon ausgehen, dass es sie gibt. Am Ende können wir Kant nur in drei Hinsichten nicht zustimmen. Die von ihm behauptete Koexistenz von Natur- und Freiheit-Kausalität überzeugt uns so wenig wie die unzertrennliche Verbindung zwischen Freiheit und Moralgesetz und die Deutung des Moralgesetzes als Faktum der Vernunft. Er müsste an diesen Ansprüchen nicht festhalten. Denn er gibt in der zweiten Kritik selbst den Anspruch auf, eine rein moralische Geltung des Moralgesetzes in Form einer Deduktion ähnlich der transzendentalen Deduktion nachzuweisen. Er greift aber nicht das argumentative Potential seiner beiden kontrafaktischen Argumente auf, die eine Unterscheidung zwischen dem Wissen, dass es die Freiheit gibt, und dem Unwissen, was sie ist, erlauben. Denn dies würde die Geltung des Moralgesetzes in Frage stellen. Wenn wir Kants kontrafaktische Argumente in unsere eigenen Überlegungen integrieren, gewinnen wir eine Grundlage dafür, die Geltung moralischer Ansprüche als Zusammenhang zwischen Freiheit und Selbstbestimmung zu verstehen. Die Überzeugung, dass es die Freiheit gibt, sagt nichts darüber aus, in welcher Form sie existiert und mit welchen Möglichkeiten der Selbstbestimmung sie verbunden ist. Die Freiheit, wie wir sie kennen, hat eine historische und zu jeder Zeit auch eine soziale und individuelle Genese, die Einfluss auf die Möglichkeiten unserer eigenen moralischen Selbstbestimmung hat. Wir wissen, dass dieser Zusammenhang entscheidend für unsere Selbstbestimmung ist, und zwar in individueller und in kollektiver Hinsicht.

ontologische Voraussetzungen hat | 191

2.9 Ob eine diskursiv begründete Geltung möglich ist

Der Gedanke einer rein moralischen Geltung geht davon aus, dass das, was sein soll, in keinem Zusammenhang mit dem steht, was ist. Kant ist zwar überzeugt, dass es die Freiheit und die Vernunft gibt, ihre Existenz rechnet er aber nicht zum Reich der Natur, sondern zum Reich der Zwecke, das es in seiner Theorie der Moral gibt. Wenn das, was sein soll, unabhängig von dem ist, was es gibt, kann das, was gilt, auch keine Genese haben. Im Blick auf die Geltung des Rechts ist diese Konsequenz keine Option. Sinnvoll erscheint dagegen der Gedanke, dass das, was gilt, einen genetischen Charakter hat. Diesem Gedanken ist die Diskurstheorie des Rechts von Jürgen Habermas verpflichtet, die er in Verbindung mit seiner Theo­rie kommunikativen Handelns entwickelt. 345 Ausgangspunkt dieser Theorien ist ein Verständnis der praktischen Vernunft als vernunftgeleitetes kommunikatives Handeln. Die Vernünftigkeit dieses Handelns soll sich frei von sozialen Konventionen und unabhängig von sozialen und politischen Macht- und Zwangsverhältnissen allein auf der Grundlage der Verpflichtungen zur objektiven Wahrheit, zur subjektiven Wahrhaftigkeit und zur normativen Richtigkeit im Diskurs entfalten. Ziel des Diskurses ist zum einen ein Konsens zwischen allen Teilnehmern und die Überwindung von Dissens in allen wesentlichen sozialen und normativen Fragen. Es geht um die praktische Gestaltung der Lebenswelt: »Mit dem Begriff des kommunikativen Handelns, der sprachliche Verständigung als Mechanismus der Handlungskoordinierung in Anschlag bringt, erhalten auch die kontrafaktischen Unterstellungen der Aktoren, die ihr Handeln an Geltungsansprüchen orientieren, unmittelbare Relevanz für den Aufbau und die Erhaltung sozialer Ordnungen; denn diese bestehen im Modus der Anerkennung von normativen Geltungsansprüchen.«346 Die kommunikative Vernunft setzt programmatisch auf die Möglichkeiten sprachlicher Verständigung und diese folgt den genannten Verpflichtungen, die allgemein im Diskurs vorausgesetzt und ihm nicht etwa nachträglich verordnet sind. Habermas rekonstruiert diese Voraussetzungen sprach- und handlungstheoretisch ausführlich, weil sie genau die Geltungsansprüche enthalten, die 192 | Ob die Geltung von etwas … 

dann, wenn sie intersubjektiv anerkannt und realisiert werden, den Erfolg des Diskurses ermöglichen können. Diese Ansprüche gelten unbedingt. Habermas spricht davon, dass das »ideale Moment der Unbedingtheit … tief in die faktischen Verständigungsprozesse eingelassen« sei und dass sie dabei »ein Janusgesicht zeigen«.347 Das Janusgesicht, von dem Habermas spricht, bezieht sich nicht nur auf die Verständigungsprozesse, sondern auf den Kern seiner Geltungstheorie, auf die »unbedingten Geltungsansprüche« selbst. Deren Janusgesicht zeigt sich in ihrer doppelten Bedeutung. Einerseits sind sie auf intersubjektive Anerkennung angelegt und durch individuelle Einsichten nicht zu verbessern, andererseits weisen die Ansprüche über das jeweils tatsächlich erzielte Einverständnis im Diskurs hinaus. Was heute an Geltungsansprüchen akzeptiert wird, kann sich morgen als falsch herausstellen.348 Die Spannung zwischen dem einen und dem anderen kann theoretisch nicht aufgelöst werden. Es ist sinnvoll, dieses Janusgesicht und die kontrafaktische Un­ terstellung unbedingter Geltungsansprüche als Perspektive auf Habermas’ Geltungstheorie zu wählen. So kommen die beiden Eckpunkte der Theorie in den Blick, die unbedingt geltenden prak­ tischen Ansprüche einerseits und der pragmatisch begründete Diskurs andererseits. Beide Eckpunkte enthalten zweifach Unbedingtes, nämlich sowohl die universalen moralischen und rechtlichen Normen als auch den Anspruch auf Wahrheit. Habermas spricht vom ›Unbedingten‹ anders als Kant. Dessen kategorische Imperative gelten unbedingt, also unter allen Umständen und uneingeschränkt, nachdem ihre Geltung nachgewiesen ist. Derlei Unbedingtes als Resultat einer Begründung beansprucht Habermas nicht. ›Unbedingt‹ gelten in seiner Theorie Ansprüche, die prinzipiell in einem rationalen Diskurs von den Diskursteilnehmern kontrafaktisch vorausgesetzt werden. Es gibt vor allem kontrafaktische Gründe dafür, dass sie gelten, ähnlich wie oben die Existenz des Guten kontrafaktisch angenommen wurde. Solche Annahmen gelten unabgeleitet. Obwohl Habermas auf Kants Unbedingtheitsanspruch verzichtet, lehnt er sich doch »genealogisch«349, wie er sagt, an Kants Denken an. ›Anlehnen‹ ist nur bedingt richtig, weil er Kant pragmatisch und sprachphilosophisch umdeutet, »detranszendentalisiert« ontologische Voraussetzungen hat | 193

oder pragmatisch deflationiert, wie es nicht frei von Ironie heißt. Kants kosmologische Idee der Welt bemüht Habermas für sein Verständnis einer objektiven Welt, in der wir alle leben und sprechen. Kants Vernunftbegriff erscheint als Rationalität, die wir uns wechselseitig im Diskurs unterstellen. Zu diesen Voraussetzungen tritt die Wahrheit als unbedingter Anspruch, als »unverlierbare Eigenschaft«350 von Aussagen hinzu. Kants Vernunftkonzept hat für Habermas eine tiefer gehende Bedeutung als eben angedeutet. Immer wieder beruft er sich auf Kants Postulat der praktischen Vernunft, auf das Vermögen der Ideen und der Prinzipien, um das rationale Profil der Handelnden und ihres Umgangs mit Geltungsansprüchen zu schärfen. Er ruft auch Frege und Peirce als Quellen seiner Überlegungen auf. Es wäre ein Missverständnis zu meinen, dass Habermas diese Genealogie geltungstheoretisch funktionalisiert. Der rationale Diskurs bleibt, wie er mehrfach betont, fehlbar. Seine Ergebnisse gelten nicht unbedingt wie kategorische Imperative. Die Unterstellung der Rationalität gilt nur »bis auf weiteres«, ist eine »widerlegliche Annahme«. Die Wahrheitsansprüche sind zwar diskursiv prüfbar, über eine Gewissheit der Wahrheit verfügen wir aber nicht. Der im Diskurs erzielte Konsens setzt Wahrheit voraus, schafft aber keine Wahrheit. Das Bestmögliche, das im Diskurs erreicht werden kann, ist »rationale Akzeptabilität«.351 In unserer Sprache bedeutet dies, dass die Geltungsansprüche des Diskurses kontrafaktisch angenommen werden und nichtreflexiv und unabgeleitet gelten. Sie gelten im tatsächlichen Diskurs unbedingt und sind die verbindliche Voraussetzung bei der Formulierung konkreter Rechtsnormen. Am Beispiel des Lebensschutzes können wir die Bedeutung des Diskurses konkretisieren. Zunächst geht es aber darum, die umfassenden normativen Ansprüche des Diskurses zu beschreiben. Habermas ist überzeugt, dass das diskursive Verfahren über eine bloße Rechtsgültigkeit hinaus eine begründete Rechtmäßigkeit, eine Legitimität der Rechtsnormen, schaffen kann.352 Es geht ihm dabei nicht nur und nicht einmal vorrangig um die Resultate, also um einzelne legitime Rechtsnormen, sondern um den diskursiven Prozess, in dem Rechtsnormen generell zustande kommen. Dieser Prozess soll soziale Integration und solidarisches Handeln 194 | Ob die Geltung von etwas … 

ermöglichen, weil die Adressaten der Rechtsnormen sich »in ihrer Gesamtheit als vernünftige Urheber« derselben verstehen können. Habermas schränkt diese optimistische Aussicht im selben Zusammenhang ein und nennt sie eine »Hypothek«353 der Rechtssysteme. Die Zielsetzung des Diskurses, legitime Rechtsnormen in einem Legitimationsprozess zu schaffen, entwickelt Habermas bereits in seiner Theorie des kommunikativen Handelns. 354 Dort entwickelt er den Begriff der kommunikativen Vernunft, die prozessual und nicht-individualistisch den Ansprüchen der Rationalität, der demokratischen Offenheit, der Wahrhaftigkeit und Selbstkritik auf ethisch anspruchsvolle Weise gerecht werden soll. Max Webers Überzeugung, dass das Rechtssystem per se bereits Legitimität erzeuge, verwirft Habermas.355 Im Einklang damit kann er in Faktizität und Geltung die These vertreten, »daß die Legalität ihre Legitimität allein aus einer moralisch gehaltvollen Verfahrensrationalität schöpfen kann«.356 Die Abhängigkeit der Legitimität von der Moralität folgt mehreren Motiven. Eines ist, dass das Rechtssystem keine Gewähr für Legitimität biete, ein weiteres ist, dass die Selbstkontrolle der Vernunft im Diskurs nur durch Moralität möglich sei. 357 Habermas ist überzeugt, dass die Moralität allein dem für das Rechtssystem schädlichen Funktionalismus und Rationalismus, den beiden Ideologien, welche die Verrechtlichung der Lebenswelt fördern, entgegentreten kann. Habermas zweifelt an der Legitimität des gegebenen Rechtssystems. Er zweifelt aber nicht an dessen Grundlagen, also weder an der Geltung der Prinzipien demokratischer Verfassungen noch an der Geltung der Menschenrechte. Gründe für seine Zweifel sind die Nichtregulierbarkeit vieler Bereiche der Lebenswelt, die zunehmende Verrechtlichung unserer Lebenswelt und der Mangel an legitimatorischer Autonomie des Rechtsstaats358 . Das geltende Rechtssystem ist, wie er glaubt, überfordert, legitime Lösungen für drängende soziale und politische Probleme anzubieten. Wir können unter diesen Voraussetzungen nicht erwarten, dass Unklarheiten der Geltung des Lebensschutzes innerhalb unseres Rechtssystems beseitigt werden können. Sollte dies zutreffen, stellt sich die Frage, ob das diskursive Verfahren Unklarheiten beseitigen kann. ontologische Voraussetzungen hat | 195

Wenn wir das Modell der diskursiven Geltung zunächst als Gedankenexperiment verstehen, können wir sehen, unter welchen Bedingungen es erfolgreich ist. Wir nehmen dann an, dass der Diskurs die normativen Geltungsansprüche erfüllt und mit einer Reihe weiterer Annahmen die Rechtsnormen legitimieren kann. Das Dissens-Risiko359, das zu anhaltenden Irritationen führt, wäre mittelfristig minimiert. Die Diskursergebnisse könnten allgemein akzeptiert werden, weil es keinen Grund für Geltungs-Zweifel gäbe. Im Gedankenexperiment wäre der rationale Diskurs autonom und hätte ein kontrafaktisch abgesichertes Monopol für den Nachweis von Geltungen, wäre aber dennoch nicht unfehlbar, sondern bliebe janusgesichtig. Auch im Gedankenexperiment kann sich nicht alles, was Anspruch auf Geltung hat, erst im Diskurs, also genetisch, zeigen. Die normativen Geltungsansprüche müssen so ergänzt werden, dass im Diskurs auch die Ansprüche des Lebensschutzes und anderer Prinzipien geklärt werden können, die dem Diskurs nicht-reflexiv vorausliegen. Dies ist aber nur möglich, wenn der Diskurs auf bereits gegebene Bestimmungen des Lebensschutzes und aller anderen Prinzipien zurückgreift. Er benötigt dazu den Wortlaut der Verfassung, in der die prinzipiellen Ansprüche formuliert werden. Auch im Gedankenexperiment ist der Diskurs nicht autonom, sondern auf Vorgaben jenseits seiner eigenen Geltungsansprüche angewiesen. Die Leistungskraft des Diskurses ist daher auch abhängig von verfassungsrechtlichen Prinzipien und den Menschenrechten. Habermas betrachtet sie als Bedingungen des Diskurses. Eine der Aufgaben des Diskurses ist es zu klären, welche Bedeutung die einzelnen Prinzipien haben. Dies entspricht der Forderung, dass die Prinzipien in ihrem Gebrauchszusammenhang beschrieben werden sollen. Im Gedankenexperiment können wir uns vorstellen, wie diese Aufgabe im Diskurs gelöst werden kann. Eine besondere Bedeutung hat dabei die Moralität, die Habermas als eigentliche Grundlage der Legitimität von Diskursergebnissen betrachtet. Deutlich wird dies bei der Sicherung des Lebensschutzes. Habermas plädiert dafür, dass dieser Schutz auch für menschliche Embryonen gilt.360 Er bringt wie jeder Diskursteilnehmer seine moralischen Überzeugungen in den Diskurs ein. Er begründet seine Überzeugung mit 196 | Ob die Geltung von etwas … 

einer Reihe von Befürchtungen. Eine Eugenik, in der Forschungen mit menschlichen Embryonen möglich wären, hätte eine Selbst­ instru­mentalisierung des Menschen zur Folge. Das Selbstverständnis als Gattung wäre bedroht, wenn wir Menschen vergessen würden, dass wir Träger des normativen Bewusstseins moralischer Personen sind. Würde sich Habermas’ moralische Überzeugung im Diskurs durchsetzen, wäre der Lebensschutz auch für menschliche Embry­ onen gesichert. Wir müssen allerdings auch im Gedankenexperiment annehmen, dass im Diskurs unterschiedliche ethische Ansätze vertreten werden. Sie repräsentieren eine Lebenswelt, die auch in moralischer Hinsicht pluralistisch ist. Da der Diskurs fehlbar und seine Rationalität widerleglich ist, wie Habermas sagt, muss auch im Gedankenexperiment offen bleiben, ob der Lebensschutz für menschliche Embryonen gilt. Für die Ergebnisse des Diskurses gibt es keine Prognosen. Die Praxis des Diskurses entscheidet über die Ergebnisse. Habermas geht es aber nicht nur um den Diskurs als Verfahren, sondern auch um die Sicherung dessen, was Geltung beanspruchen kann, also um die Grundlagen von Normativität. Normativität ist nach seiner Auffassung bereits in der Sprache angelegt. Er beruft sich, was sein Verständnis der Sprache angeht, auf die »sprachanalytische Wende«.361 Er interpretiert diese Wende als Überwindung des Gegensatzes von Idee und Wirklichkeit, weil – wie er sagt – die Ideen in ihrer sprachlichen Gestalt zu einer »Faktizität der in der Welt auftretenden Zeichen« werden. Und diese Faktizität kann sich dann – wie er weiter sagt – »mit der Idealität der Bedeutungsallgemeinheit und der Wahrheitsgeltung intern« verbinden. 362 Nicht nur das Gesagte kann tatsächlich wahr werden, sondern auch die idealen Geltungsansprüche können diskursiv verwirklicht werden. Die Sprache macht es möglich, dass sich im Diskurs legitime normative Strukturen bilden können. Habermas versteht Geltung in Abhängigkeit von Wahrheit und Rationalität: »Wenn ›gültig‹ als dreistelliges Prädikat verstanden wird, drückt sich die Idealität der Wahrheitsgeltung nur noch in den anspruchsvollen Präsuppositionen unserer Rechtfertigungspraxis, also auf der Ebene des Sprachgebrauchs aus.« Und: »Was gültig ist, muß sich gegen faktisch vorgetragene Einwände bewähren können.«363 ontologische Voraussetzungen hat | 197

›Geltung‹ ist in der Wahrheitsfähigkeit der Sprache und der Rationalität der Diskursteilnehmer auf dreifache Weise verankert. Dies sind die drei Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass eine Aussage gilt: Sie muss (1) rational behauptbar und (2) wahr sein und (3) die Präsuppositionen der normativen Geltungsansprüche erfüllen. Das Fundament der Geltung ist – zusammengefasst – die Regelstruktur und die Wahrheitsorientierung der Sprache. Habermas schlägt damit eine ontologische Verankerung der Geltung in der Sprache vor. Was tatsächlich, faktisch gilt, ist das, was wahr ist. Die Betonung liegt auf dem ›ist‹. Diese ontologische Verankerung zusammen mit den kontrafaktisch angenommenen normativen Ansprüchen stabilisiert die Geltung der Diskursergebnisse. Die beiden Elemente der ontologischen und der kontrafaktischen Verankerung dessen, was gilt, entsprechen dem, was wir in dieser Untersuchung vertreten. Es gibt aber einen Unterschied. Habermas erreicht sein Ergebnis diskurstheoretisch. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage, wie die ontologische Verankerung der Geltung, die Existenz dessen, was gilt, im Diskurs gesichert werden kann. Frege und Wittgenstein argumentieren ähnlich wie Habermas dafür, dass die Voraussetzungen der Geltung nicht ausdrückbar sind, sich vielmehr in logischen Argumenten oder im Sprachgebrauch zeigen. Wittgensteins These, dass das Regelfolgen eine Praxis ist, setzt den Möglichkeiten, kritisch zwischen richtigem und falschem Regelfolgen unterscheiden zu können, enge Grenzen. Wenn wir Wittgenstein folgen, können die Wahrheit von Behauptungen und die Richtigkeit des Regelfolgens nicht vorhergesagt werden, von keiner Theorie und in keinem Diskurs. Deswegen gibt es auch keine Erfolgsgarantie dafür, dass Behauptungen wahr und der Sprachgebrauch richtig ist, wenn nur bestimmte Bedingungen wie die Empfehlungen eines Rezepts eingehalten werden. Auf diesem Hintergrund sieht es so aus, als würde Habermas mit seiner Verankerung der Geltung im Diskurs die Leistungs­ fähig­keit der Sprache und des Sprachgebrauchs überfordern. Es ist nicht falsch zu behaupten, dass die Sprachen eine intrinsische Regelstruktur haben und eine Wahrheitsorientierung ermöglichen, im Gegenteil. Diese Bedingungen des Sprachgebrauchs haben aber einen modalen Charakter, sie ermöglichen wahre Aussagen, mehr nicht. Ob die Aussage, dass menschlichen Embryonen Lebens198 | Ob die Geltung von etwas … 

schutz gewährt werden soll, oder die gegenteilige Aussage, dass ihnen dieser Schutz nicht gewährt werden soll, gültig ist, hängt selbst dann nicht vom Sprachgebrauch ab, wenn die Diskursteilnehmer die anspruchsvollen normativen Geltungsansprüche erfüllen wollen. Welche der beiden Aussagen sie anerkennen, hängt allein von ihrer Moralauffassung ab. Damit kommen wir zum gleichen Ergebnis wie eben im Gedankenexperiment. Ein ganz anderes Problem betrifft die in einer Geltungstheorie unverzichtbare Unterscheidung zwischen Geltung und Genese. Wenn die Geltung einer Aussage allein von den modalen Bedingungen des Sprachgebrauchs abhängig wäre, könnten wir die Geltung und die Genese von Aussagen nicht voneinander unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen Geltung und Genese ist ein geltungstheoretisches Kernproblem. Die Merkmale des Sprachgebrauchs, welche in Habermas’ Modell die Wahrheitsfähigkeit des Diskurses ermöglichen, beschreiben die mögliche Genese wahrer Aussagen, aber nicht deren Geltung. Was als wahre Aussage gelten kann, ist zwar von ihrer Genese abhängig, aber nicht mit ihr identisch. Habermas entwickelt mit seiner Diskurstheorie ein Modell möglicher Geltung. Sie enthält mit der kontrafaktischen Annahme von normativen Ansprüchen und der ontologischen Verankerung die Bedingungen der Möglichkeit von Geltung. Wie die Geltung dann tatsächlich zustande kommt, bleibt offen. Das Diskursmodell beschreibt die modalen Bedingungen der Geltung. Für eine Entscheidung darüber, ob menschlichen Embryonen Lebensschutz gewährt werden soll, sind modale Bedingungen des Diskurses nicht hinreichend. Ob die Aussage gilt, dass menschlichen Embryonen Lebensschutz gewährt werden soll, ist in einer pluralistischen Gesellschaft umstritten. Ihre Geltung ist zumindest in unserer Gesellschaft von einer verfassungsrechtlichen Entscheidung abhängig. Erst eine solche Entscheidung legt das fest, was gilt. Bedingungen der Möglichkeit der Geltung von Urteilen haben einen reflexiven Charakter. Sie beschreiben die Voraussetzungen, unter denen es möglich ist, darüber zu entscheiden, was Prinzipien wie der Lebensschutz bedeuten. Wenn durch die dafür zuständigen rechtsstaatlichen Institutionen darüber entschieden wird, gelten die Prinzipien in einer bestimmten Version nicht-reflexiv. Sie gelten dann in einem bestimmten Wortlaut bis auf weiteres und ontologische Voraussetzungen hat | 199

liegen künftigen Entscheidungen zugrunde. Der reflexive Diskurs kann keine Entscheidungen treffen, die den Anspruch auf Geltung erheben können. Habermas’ Diskursmodell stellt einen Zusammenhang her zwischen dem, was in einer Gesellschaft der Fall ist, und was angesichts ihrer Probleme der Fall sein sollte. Der Diskurs kann das entwerfen, was gelten sollte. Sein Modell beschränkt den Diskurs nicht auf den Kreis von Richtern des Verfassungsgerichts. Der Diskurs soll offen sein und gesellschaftlich geführt werden. Ein solcher Diskurs kann als Genese dessen verstanden werden, was gelten kann. Die Differenz zwischen Geltung und Genese wird in dem Diskursmodell nicht erkennbar.364 Es ist aber ein Modell, das zeigt, wie der soziale Dissens über das, was gelten sollte, überwunden werden kann. 2.10 Ob eine naturrechtlich begründete Geltung möglich ist

Das Naturrecht ist von der Überzeugung geleitet, dass das, was ist, bereits das enthält, was sein soll. Ein Zusammenhang muss nicht erst hergestellt, sondern nur erkannt werden. Das, was ist, enthält die Grundlagen der Geltung. Die Ontologie ist selbst normativ und das Sein enthält das Sollen. Diskursiv erzielte Übereinkünfte oder Zweck- und Nutzenvorstellungen spielen keine Rolle. Es kommt allein darauf an zu erkennen, was mit ›Sein‹ bezeichnet wird. Aristoteles gilt als eine der Quellen naturrechtlichen Denkens. Seine Überzeugungen, dass »alles, was die Natur hervorbringt, immer so vollkommen angelegt ist, als es nur sein kann«365 , und dass das Gute eine Ordnung366 habe, lassen sich so interpretieren. Tatsächlich lehrt Aristoteles, dass es zwei Teile des Rechts, das natürliche und das positiv-gesetzliche, gibt. Ersteres hält er  – wie alles Natürliche – für unbeweglich. Es gelte »unabhängig davon, ob es den Menschen gut scheint oder nicht«367. Diese Überzeugung hat nicht nur das naturrechtliche Denken geprägt, sondern liegt in gewisser Weise unserem allgemeinen Rechtsverständnis und unserer Vorstellung grundlegend geltender Prinzipien des Denkens und Handelns zugrunde. Aristoteles sieht 200 | Ob die Geltung von etwas … 

die Unabhängigkeit von dem, was uns gut scheint oder nicht und was sich im natürlichen Recht bewegen kann und was nicht, bereits kritisch. Nur bei den Göttern gebe es »gar keine Bewegung«, während der Naturbereich »bei uns« – wie er sagt – »ganz unter dem Gesetz der Bewegung« stehe.368 Ob dies so zu deuten ist, als könnte sich im Bereich des Menschlichen alles ändern, bleibt offen und unentschieden. Diese Unentschiedenheit widerspricht auch nicht dem, was Aristoteles an anderer Stelle zum Streben der Natur zum Besseren sagt.369 Es geht ihm dort nicht um politische Gesetze. In einer Hinsicht ist Aristoteles aber entschieden, nämlich dort, wo es um positive Gesetze geht, die auf Übereinkunft beruhen und dem Nutzen der Menschen dienen. Die Maße, die in diesen Gesetzen bestimmt oder angenommen werden, sind von Polis zu Polis verschieden und variabel. Das aristotelische Verständnis des Naturrechts hängt davon ab, was ›Natur‹ bedeutet. Deswegen sollten wir einen Blick auf das werfen, was Aristoteles unter ›Natur‹ (φύσις) versteht. Die erste Quelle für dieses Verständnis ist Aristoteles’ Metaphysik (1014b 16). Dort erläutert er, was alles unter ›Natur‹ zu verstehen ist: »die Entstehung des Wachsenden«, das Wachsen selbst als »natürliches Werden«, der »Stoff«, aus dem die Dinge sind  – wie das Erz der Bildsäule oder das Holz von Geräten, dann aber vor allem die »Wesenheit der natürlichen Dinge«, die »das Prinzip der Bewegung in sich haben« (1015a 15). Harald Patzer erklärt, was ›Natur‹ darüber hinaus in der Antike bedeutet. 370 Außer der erwähnten Bedeutung des Begriffs ›φύσις‹ in der Metaphysik als Selbstbewegung ist die Nähe der Wortbedeutung zu Sitte, Charakter, Begabung, Genie und Wesensart bis zu Landschaft nicht nur erstaunlich, sondern wichtig für das Verständnis von ›Naturrecht‹.371 Für Patzer ist φύσις der Begriff »der allgemeinsten Ordnung und Gesetzmäßigkeit der Welt der werdenden und vergehenden Dinge« und »der Inbegriff alles Seienden, das unter dem Gesetz dieser Ordnung« steht.372 Selbst wenn wir dieses Begriffsverständnis nicht in Gänze Aristoteles zuschreiben können, beleuchtet es doch den Zusammenhang, in dem er das Wort versteht. Dieser Zusammenhang ist nicht nur umfassend, sondern normativ und deskriptiv zugleich. Diese Doppeldeutigkeit ermöglicht es, die ontologische und gleichzeitig ontologische Voraussetzungen hat | 201

normative Bedeutung des Naturrechts und seiner Geltung zu verstehen. Was als natürlich gilt, ist das, was Sitte ist. In der Nikomachischen Ethik ist der Anteil des Naturrechts an politischen Gesetzen unklar, trotz oder wegen dessen Unabhängigkeit vom menschlichen Willen. Es bleibt offen, was in diesen Gesetzen unwandelbar ist. In seiner Rhetorik 373 wird Aristoteles konkreter und spricht von einem allgemeinen Gesetz von Natur, dessen Besonderheit es sei, dass es überall gelte und auf keiner Übereinkunft beruhe. Er erwähnt Sophokles’ Antigone, deren Bestattung ihres Bruders Polyneikes gegen Kreons Verbot »von Natur aus gerecht sei«. An derselben Stelle erinnert er auch an Empe­ dokles und das von ihm ausgesprochene Verbot der Tötung von Lebendigem.374 Aristoteles ist sich, wie die eben erwähnte Passage seiner Rheto­ rik zeigt, darüber im Klaren, dass es neben dem allgemeinen, von Natur aus und unabhängig vom menschlichen Urteil geltenden Gesetz auch das besondere Gesetz gibt, das jede Gemeinschaft selbst setzt.375 Antigone verstößt gegen letzteres, folgt aber ersterem, wird dafür aber vom Chor in der Tragödie keineswegs gelobt. 376 Die aristotelische Unterscheidung zwischen universal (natürlich) und partikular (politisch) geltendem Gesetz ist entscheidend für das, was gilt. Wer aber – angeregt durch den Fall der Antigone – erwartet, dass damit geklärt wird, dass das partikulare Gesetz (Kreons) zwar gilt, aber nicht gerecht ist, wird getäuscht. Ein ungerechtes Gesetz kennt Aristoteles nicht. 377 Die Billigkeit, von der in der Nikomachischen Ethik (1137a32–1138a) die Rede ist, gleicht nicht ungerechte Gesetze aus, sondern korrigiert Gesetze, falls sie für besondere Fälle zu allgemein gehalten und insofern »mangelhaft« sind. Wie immer die Patenschaft von Aristoteles für das Naturrecht zu deuten ist, Thomas von Aquin orientiert sich an ihm. Er greift den aristotelischen Ordnungsgedanken auf und gibt ihm mit Gott als Lenker und Schöpfer der Dinge eine theologische Grundlage.378 Auf ihr muss auch das Gesetz, nach dem sich die Ordnung richtet, göttlich, ewig und unveränderlich sein. 379 Diese Stabilität der Ordnung des Ganzen überträgt Thomas – quasi transitiv – auf das Naturrecht (ius naturale), das er – früheren Quellen folgend – vom positiven Recht und vom Völkerrecht unterscheidet. 202 | Ob die Geltung von etwas … 

Das Naturrecht zeigt seinen grundlegenden Charakter für Thomas vor allem in der Gerechtigkeit. Das Gerechte sei das, was der Natur des Menschen oder der Natur einer Sache angemessen sei.380 Der Mann sei – so sein Beispiel – der Frau zur Zeugung von Kindern angemessen. Das Lateinische »habet commensurationem ad feminam, ut ex ea generet« lässt sich so übersetzen: Er hat das für die Frau geeignete Maß zur Zeugung. Der Zweck der Zeugung liefert in diesem Gedanken von Thomas das natürliche Maß für das Verhältnis des Mannes zur Frau, so wie die Ernährung des Kindes der Zweck ist, den die Eltern zu erfüllen haben.381 Was die Worte ›Natur‹ und ›natürlich‹ in den erwähnten Texten bedeuten, hat wenig mit dem gemein, was wir heute darunter verstehen. Wir sprechen etwa von der Natur als der biologischen und physikalischen Umwelt oder als der sichtbaren Landschaft 382 und dementsprechend von natürlichen Ressourcen oder natürlicher Ernährung. Dagegen bedeutet ›natura‹ in jenen Texten so viel wie ›Wesen‹ (essentia), hat also eine metaphysische Bedeutung, die dem jeweiligen begrifflichen Gehalt zugrunde liegt und dem menschlichen Willen entzogen ist. Das Wesen einer Sache ist das Maß, das ihr in der Ordnung der Dinge und im Ganzen der Wirklichkeit zukommt. Ein ähnliches, noch immer metaphysisches Verständnis von Natur finden wir im 18. Jahrhundert bei Christian Wolff. Er schreibt in seiner Praktischen Philosophie: »Lex naturalis est, quae rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atque natura agnoscit.«383 Naturrecht – so können wir übersetzen – ist das, was das Wesen und die Natur des Menschen und der Dinge als hinreichenden Grund anerkennt. Dies bedeutet, dass alles, was naturrechtlich gilt, eine hinreichende Begründung in der Natur des Menschen und der Dinge hat, auch die Unterscheidung zwischen ›gut‹ und ›schlecht‹. Der Gedanke des hinreichenden Grundes geht auf Leibniz zurück und findet sich nicht bei Thomas. Aber die Natur des Menschen und der Dinge ist weiterhin als deren Wesen bestimmt und dient als absolute, unveränderliche Grundlage der natürlichen und menschlichen Ordnungen. Thomas geht es nicht allein um eine Definition des Naturrechts, die auf das Wesen des Menschen und der Dinge Bezug nimmt, sondern auch darum, dass dieser Bezug der menschlichen Vernunft ontologische Voraussetzungen hat | 203

zugänglich ist und allgemein verstanden werden kann. Zu diesem Verständnis gehört die Einsicht in das, was vom menschlichen Willen abhängig und unabhängig ist. Es muss klar sein, dass das, was im metaphysischen Sinn das ›Wesen‹ einer Sache ausmacht, vom Willen des Menschen unabhängig ist. Der Mensch kann an der Verpflichtung, die vom Wesen einer Sache ausgeht, dieser Theo­ rie nach, nichts ändern. Diese von der Wesensbestimmung festgelegte Unverfügbarkeit ist für die Unterscheidung zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Handeln entscheidend. Deswegen muss sie der allgemeinen Vernunft zugänglich sein, sonst wäre sie praktisch bedeutungslos. Thomas wählt für diese Einsicht geeignete Beispiele, etwa Diebstahl und Ehebruch.384 Beide Handlungen sind schlecht, und zwar unabhängig vom Willen des Menschen, auch unabhängig vom Willen eines Gesetzgebers. Dass das Naturrecht dem Zweck der Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Handeln dient, finden wir auch in Christian Wolffs Definition des Naturrechts.385 Die Abhängigkeit dessen, was der Natur nach gut oder schlecht ist, von einer Wesensbestimmung und der menschlichen Einsicht in diese Bestimmung ist aber nie unumstritten und klar. Die antike Auseinandersetzung um das, was Natur (φύσις) und Gesetz (νομός) bedeuten, ob sie verbunden oder getrennt sind und wo ihr jeweiliger Ursprung liegt, bewegt bereits Sokrates und Platon. Im Dialog Gorgias plädiert Kallikles – zunächst nicht unplausibel – für das »Recht, daß der Stärkere über den Schwächeren herrsche« und noch im Staat meint Thrasymachos, »gerecht heißt: das dem Stärkeren Vorteilhafte tun«.386 Natürlich sorgt Sokrates  – noch überzeugender  – dafür, dass am Ende niemand unter seinen Schülern wirklich an das glaubt, was Kallikles oder Thrasymachos zeitweise meinen. Der Zweifel an dem, was wirklich natürlich oder der Natur nach gut oder schlecht ist, lässt sich aber theoretisch nie gänzlich auflösen. Schon Jahrhunderte vor Christian Wolff zweifelt Wilhelm von Ockham daran, dass normative Unterscheidungen zwischen ›guten‹ oder ›schlechten‹ Handlungen auf eine Wesensbestimmung des Menschen zurückzuführen sind. Er versteht das, was einem Menschen an guten oder schlechten Handlungen zugesprochen werden kann, als wählbare Möglichkeit und nicht als Bestimmung des Menschen 204 | Ob die Geltung von etwas … 

selbst. Nichts, was schlecht handeln könne, sei selbst schlecht. Gott könne schlecht handeln, sei aber dennoch nicht schlecht, meinte er etwas provokativ, aber in voller Übereinstimmung mit seiner Lehre von der absoluten Macht Gottes.387 Ockham hat aber trotz seiner Ablehnung von Wesensbestimmungen in Abhängigkeit von Namen bzw. Begriffsnamen keine grundsätzlichen Einwände gegen das Naturrecht, im Gegenteil. Er argumentiert naturrechtlich gegen eine absolute Verfügungsgewalt der Päpste über geistliche und weltliche Dinge388 und zieht die Möglichkeit in Betracht, dass auch juristische Experten – etwa im Dienst des Kaisers – aus Unkenntnis des Naturrechts irrtümlich urteilen können389. Ockham ist überzeugt, dass alle Menschen von Natur aus gleich sind 390 . Er unterscheidet drei Arten von Naturrecht: die erste entspreche der natürlichen Vernunft; als Beispiele nennt er das Verbot von Ehebruch 391 und Lüge. Die zweite gelte jenseits des Gewohnheitsrechts, »weil sein Gegenteil dem Stand der ursprünglich geschaffenen Natur entgegengesetzt« sei; als Beispiele dafür nennt er den allen Menschen gemeinsamen Besitz392 an den vorhandenen und verfügbaren Dingen und die gleichen Freiheiten. Die dritte Art Naturrecht schließlich ist für ihn das, was aus dem Völkerrecht entstehen kann, z. B. die Sklaverei. Er zitiert zustimmend Gregor den Großen, der bereits Ende des 6. Jh. die Sklaverei ausdrücklich als gegen die Natur des Menschen gerichtet ablehnt und die Freilassung der Sklaven fordert.393 Ockham vertritt eine differenzierte Auffassung von Naturrecht. Einerseits ist er – wie Thomas und später Wolff – davon überzeugt, dass »kein gerechtes positives Gesetz dem natürlichen Recht entgegengesetzt sein kann«394 , andererseits nimmt er nicht an, dass die naturrechtlichen Verpflichtungen allen Menschen in gleicher Weise zugänglich sind und dass es stattdessen der Experten bedarf, die Zusammenhänge zwischen Naturrecht und positivem Recht auszulegen. 395 Deutlicher als in diesen Überzeugungen ist der Unterschied zu Thomas in Ockhams Ablehnung metaphysischer Bestimmungen der Natur des Menschen oder der Dinge. Da er es ablehnt, dass deren Natur eine absolute, metaphysische Bedeutung zukommt, kann aus ihr, wie er glaubt, auch keine Ordnung der Schöpfung abgeleitet werden. Allerdings folgt daraus keineswegs, wie viele Interpreten und Kritiker des sog. Nominalismus annahontologische Voraussetzungen hat | 205

men, dass die menschlichen Ordnungen in Ockhams Denken notwendig irrational sind.396 Ockham vertraut, im Gegenteil, mehr als die meisten seiner Zeitgenossen auf die göttliche Vernunft und auf die menschliche Klugheit. Die Geltung naturrechtlicher Gebote und Verbote ist für Ockham nicht mehr metaphysisch begründet und daher auch nicht mehr unabhängig vom menschlichen Willen. Dies ist eine entscheidende Veränderung. Sie wirkt sich unmittelbar auf die Beurteilung der Schwere eines Verbrechens aus. Ockham ist überzeugt, dass das Naturrecht selbst nichts über die Schwere eines Verbrechens sagt. Es gehe, was die Höhe der Strafe anlangt, darum, was für die Gemeinschaft gefährlicher sei, etwa Diebstahl oder Ehebruch. Die Einschätzung der Gefahr korrespondiere aber nicht notwendig der Schwere des Verbrechens selbst. Selbst wenn der Gesetzgeber den Diebstahl in Abwägung der Gefahren für die Gemeinschaft härter bestrafe als den Ehebruch, sei der Diebstahl doch ein weniger schweres Verbrechen als der Ehebruch. 397 Für Ockham sind die Menschen auf den göttlichen Willen angewiesen, um von Fall zu Fall zwischen ›gut‹ und ›schlecht‹ unterscheiden zu können, und er vertraut darauf, dass dieser Wille den Menschen durch ihren eigenen freien Willen und ihre sittliche Einsicht und Klugheit 398 zugänglich ist. Eine allgemein geltende Morallehre lässt sich auf dieser Grundlage nicht entwickeln. Denn ein und dieselbe Handlung kann einmal gut und das andere Mal schlecht sein. Der den Menschen nicht wirklich zugängliche göttliche Wille kann sich verändern und andere Maßstäbe setzen. Die natürliche Vernunft hat aber keine Schwierigkeiten, das zu erkennen, was naturrechtlich gilt, und das sind die Gebote, die bereits im Dekalog zu finden sind. 399 Außerdem kann die natürliche Vernunft und Klugheit beurteilen, was für das Gemeinwohl einer Gemeinschaft zuträglich ist und was nicht.400 Das Naturrecht kann, wie Ockham glaubt, keine Normierung menschlichen Verhaltens anbieten, die vom menschlichen Willen unabhängig ist. Wir könnten an dieser Stelle unsere Überlegungen zum Naturrecht abschließen. Da das Naturrecht aber eine neue Aktualität gewonnen hat, können wir dies nicht. Vom Naturrecht wird heute von einigen seiner Vertreter eine Normierung des menschli206 | Ob die Geltung von etwas … 

chen Verhaltens erwartet, die unabhängig vom menschlichen Willen ist. Sie soll wirksam werden, wenn die menschliche Natur etwa durch biomedizinische Entwicklungen gefährdet erscheint. Robert Spaemann erwartet dies vom Naturrecht. Er ist überzeugt, dass die Menschenwürde »etwas Sakrales«401 ist, und Ernst-Wolfgang Böckenförde führt im selben Band die »unverlierbare Würde« darauf zurück, dass Gott den Menschen »als sein Ebenbild erschaffen«402 hat. In begrifflicher Hinsicht spricht Spaemann von der Würde als einem »transzendentalen Begriff«, der »eine Begründung für so etwas wie Menschenrechte überhaupt« enthalte und dem »Dualismus von Sein und Sollen« vorausliege.403 Diese Annahme einer fundamentalen Würde-Geltung könnte, wenn sie sich als haltbar erwiese, der Geltung des Naturrechts eine neue Aktualität verleihen. Der Gedanke Spaemanns setzt voraus, dass die Normativität eine Grundlage in der Ontologie hat. Diese – von Spaemann nicht ausdrücklich erwähnte, für das Naturrecht aber unverzichtbare – Überzeugung vertritt in einer älteren Version Thomas von Aquin und in einer jüngeren Philippa Foot. Sie ist für Spaemanns naturrechtliches Denken grundlegend. Thomas und Foot geht es nicht um den Begriff der Würde, sondern um die Frage, inwieweit das, was ist, gut ist. Wäre alles, was ist, gut, hätte das, was gesollt und verbindlich ist, eine ontologische Grundlage. Dies gilt allerdings, was Thomas angeht, nur für das, was Gott geschaffen hat. Der Gedanke der ontologischen Fundierung dessen, was wir tun sollen, geht auf Thomas’ sog. Transzendentalienlehre zurück. Er behauptet, dass die Prädikate ›ens‹, ›verum‹ und ›bonum‹ konvertibel404 , austauschbar, seien. In der heute üblichen semantischen Begrifflichkeit können wir von einer extensionalen Gleichheit der Prädikate ›seiend‹, ›wahr‹ und ›gut‹ sprechen. Dies ist leicht nachvollziehbar: Die Prädikate ›ist seiend‹, ›ist gut‹, ›ist eines‹ und ›ist wahr‹ treffen auf alles, was Gott geschaffen hat, in gleicher, austauschbarer Weise zu. Relativ zu diesem Ursprung können wir in der Aussage ›etwas ist ein Seiendes‹ das Prädikat ›Seiendes‹ durch jedes andere der erwähnten Prädikate ersetzen, ohne dass sich der Wahrheitswert der Aussage ändert. Die deutschen Sätze ›ist ein Seiendes‹ oder ›ist eine Sache‹ oder ›ist ein Wahres‹ oder ›ist ein Gutes‹ klingen holpriger als die lateinischen ›est ens‹, ›est res‹, ›est verum‹, ontologische Voraussetzungen hat | 207

›est bonum‹. Für Artefakte, also für alles, was wir Menschen hergestellt haben, lassen sich die Prädikate nicht in derselben Weise verwenden. Thomas’ Ontologie liegt der naturrechtlichen Annahme, dass das Normative eine ontologische Grundlage hat, zugrunde. Unsere eigene These, dass das, was gilt, existiert, schließt ein, dass das Normative ontologisch präsent ist. Das, was gilt, ergibt sich aber nicht aus dem, was ist. Wir müssen die Differenz der ontologischen Thesen klären, um das Missverständnis zu vermeiden, dass wir in dieser Untersuchung einen naturrechtlichen Geltungsbegriff vertreten. Wie ein solcher Geltungsbegriff zu verstehen ist, zeigt eine genauere Betrachtung von Thomas’ Ontologie. Sie zeigt die Pro­ bleme eines naturrechtlichen Verständnisses von ›Geltung‹. Thomas behauptet, dass mit der Erkenntnis dessen, was ist, das Wahre auch als Gutes erfasst wird. ›Erfassen‹ bedeutet so viel wie ›Finden‹; es ist der erste Schritt zum Erkennen, aber nicht schon selbst ein Erkennen im begrifflichen Sinn. Jene Behauptung hat eine Reihe von Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen. Eine dieser Voraussetzungen ist, dass zuallererst das Seiende erfasst wird und dass alles, was als seiend erfasst wird, auch als wahr erkannt werden kann. Dies entspricht der transzendentalen Austauschbarkeit der Prädikate. Die Prädikate tauschen sich aber nicht von selbst aus. Nur der menschliche Intellekt kann sie austauschen. Er tut dies aber nicht auf einmal, nicht auf einen Schlag und deswegen auch nicht in ein und demselben kognitiven Akt. Der Austausch hat drei größere und in der dritten dann noch drei kleinere kognitive Stufen oder Schritte, die wir im Text von Thomas finden können. Eine Voraussetzung dafür, dass die Austauschbarkeit der Prädikate erreicht werden kann, ist die Überwindung der Innen-AußenTrennung zwischen dem Verstand und den Dingen. Diese Trennung muss Schritt für Schritt überwunden werden. 405 Zunächst sieht es so aus, als ob das Seiende nur außen, in den Dingen, und nicht im Verstand ist. Wenn es so wäre, gäbe es keine Austauschbarkeit der Prädikate, die Trennung wäre unüberwindlich. Damit der Austausch überhaupt möglich ist, muss diese Trennung überwunden werden. Deswegen argumentiert Thomas – erster Schritt – für die Konformität des Intellekts mit den Dingen. Die Form des 208 | Ob die Geltung von etwas … 

Intellekts und die Form der Dinge müssen miteinander übereinstimmen; sie müssen gleichförmig sein. Wenn der Verstand, wie Thomas in Übereinstimmung mit Aristoteles annimmt, die Form der Formen406 ist und die Dinge als Seiende eine Form haben, ist die Gleichförmigkeit (conformitas) garantiert. Diese Gleichförmigkeit hat eine ähnliche Sicherungsfunktion für die Erkenntnis wie die logische Form in Wittgensteins Trac­ tatus. Die Gleichförmigkeit ermöglicht, wie Thomas annimmt, die Ähnlichkeit (similitudo) und Angleichung (adaequatio) von Verstand und Ding.407 Der Verstand überwindet – von innen – die Innen-Außen-Trennung, indem er die Gleichförmigkeit mit den Dingen erkennt. Damit erkennt er gleichzeitig, wie Thomas annimmt, die Wahrheit. Sie existiert aber zunächst nur begrifflich im analysierenden und synthetisierenden Verstand und nicht draußen in der wahrnehmbaren Welt der Dinge. Würde es dabei bleiben, gäbe es weiterhin keine Austauschbarkeit der Prädikate. Für den unverzichtbaren zweiten Schritt, mit dem die Trennung von Innen und Außen überwunden werden kann, greift Thomas auf die aristotelische Seelenlehre zurück, die besagt, dass die Seele gewissermaßen alles ist, was ist.408 Auf dieser Grundlage kann dann – zweiter Schritt – auch das Wahre im Seienden und analog dazu das Gute im Verstand sein; zumindest ist dies denkbar. Die Innen-Außen-Trennung ist damit erst potentiell überwunden. Die Prädikate können wechselseitig ersetzt werden, wenn die Analogie-Annahme zutrifft. Thomas macht für den zweiten Schritt der Überwindung der Innen-Außen-Trennung die sehr starke, sein Denken prägende Annahme, dass das Maß der Teilhabe des Verstandes am Sein dem Maß des Erkennens analog ist.409 Der Verstand erkennt die Dinge nur in dem Maße, in dem beide am Sein teilhaben, und diese Teilhabe besteht darin, dass der Verstand im selben Sinn existiert, in dem die Dinge existieren. Die analoge Teilhabe am Sein ermöglicht die Erkenntnis dessen, was ist, als etwas Wahres. Mit der Analogie-Annahme soll die Austauschbarkeit der Prädikate ›ist eines‹, ›ist wahr‹, ›ist seiend‹ und ›ist etwas‹ gesichert werden. Damit das Prädikat ›ist gut‹ ebenfalls austauschbar mit den anderen Prädikaten sein kann, muss das Wahre nicht nur, wie bereits erwähnt, als Gutes erfasst, sondern auch als Gutes erkannt werden. ontologische Voraussetzungen hat | 209

Die Innen-Außen-Trennung ist, was das Gute angeht, noch nicht vollständig überwunden. Was gut ist, liegt außerhalb des Verstandes und muss durch das begriffliche Erkennen erst in den Verstand geholt werden. Thomas kann nun nicht mit einer zweiten Teilhabe argumentieren, sondern muss die Erkenntnis dessen, was gut ist, mit der einen analogen Teilhabe am Sein erklären. Es bleibt ihm nichts anderes übrig als das, was gut ist, in das Seiende und in die von Gott geschaffenen Dinge selbst zu legen. 410 Sonst wären wir selbst die begrifflichen Schöpfer des Guten. Damit entsteht aber das Problem, in welchem begrifflichen Verhältnis das Wahre innerhalb des Seienden zum Guten steht. Was ist begrifflich früher und damit auch zuerst im Verstand, das Wahre oder das Gute? Für die Antwort auf diese Frage wird ein weiterer, dritter Schritt der Überwindung der Innen-Außen-Trennung nötig. Erst dann kann die Möglichkeit des transzendentalen Austauschs der Prädikate abgeschlossen werden. Mit dem dritten Schritt muss die Bedeutung der Analogie für das Gute geklärt werden. Dieser dritte Schritt ist selbst in drei einzelne Schritte gegliedert. Der erste betrifft den Ort der Wahrheit. Bisher gehörte sie begrifflich zum Innern, nun muss sie auch real zum Äußern gehören. Thomas hat ­dafür ein Argument: Wenn das Maß der Teilhabe des menschlichen Verstandes am Sein das Maß der Erkenntnis des Seienden ist, kann die Wahrheit nicht im Verstand liegen, sonst wäre das Verhältnis des Verstandes zur Wahrheit zirkulär und die Wahrheit beliebig und fiktiv. Also muss die Wahrheit, wie Thomas sagt, im Seienden begründet sein, was wiederum vom Verstand erfasst wird.411 Wir verstehen, dass das, was wir als wahr beurteilen, seinen Grund in dem haben muss, was wahr ist, und das ist das Seiende. Diese Zuordnung des Prädikats ›ist wahr‹ zu dem, was außen, jenseits des Verstandes, ist, scheint nun aber im Widerspruch zu der Annahme zu stehen, dass die Tätigkeit des Verstandes das Seiende erkennbar macht.412 Wenn der Verstand das Seiende begrifflich erkennbar macht, scheint er es auch wahr zu machen. Wenn das so wäre, wäre ein Zirkel unvermeidbar. Dem baut Thomas vor, indem er das Erkennbar-Machen auf das bloße begriffliche Erfassen des Seienden einschränkt. Das, was wir begrifflich tun, ist das Erste, was wir machen; es hat zwar keine ontologische Wirkung, aber dennoch – wie gleich zu zeigen ist – eine ontologische Bedeu210 | Ob die Geltung von etwas … 

tung. Dies bedeutet, wir können das Seiende begrifflich erfassen, ohne damit schon zu erkennen, ob es auch wahr ist.413 Dem können wir leicht zustimmen. Wenn wir etwas mit unserer Wahrnehmung erfassen, also hören, sehen, fühlen, wissen wir noch nicht, was es ist; wir wissen aber, dass es ist. Im Sprachgebrauch unserer Untersuchung bedeutet dies, dass das Nicht-Reflexive zwar reflexiv als existierend erfasst, aber damit nicht schon erkannt wird; daher die oben erklärte Offenheit der Bedeutungen von Prinzipien. Das eben Beschriebene ist der erste kleinere Schritt im dritten größeren der Überwindung der Innen-Außen-Trennung. Der nächste kleine Schritt innerhalb des dritten ist mit dem ersten verbunden. Er sieht zwar harmlos aus, ist es aber nicht. Es geht um den eben erwähnten Unterschied zwischen dem Begrifflichen und Ontologischen. Dieser Unterschied betrifft die Frage, wo das ist, was es nicht gibt, das Nicht-Seiende. Gehört es zum Begriff­ lichen oder zum Ontologischen? Wir können über das, was nicht ist, wahre Aussagen machen, aber auch falsche. Der Unterschied zwischen dem Begrifflichen und Ontologischen ermöglicht Irrtum und Falschheit. Wenn wir das Seiende begrifflich erfassen, ohne seine Wahrheit beurteilen zu können, können wir uns irren. Offensichtlich gehört nun aber der Irrtum nicht ins Äußere, Seiende. Es wäre – prinzipiell – widersprüchlich, wenn das Nicht-Seiende zum Seienden selbst gehören würde. Ein seiendes Nicht-Seiendes kann es nicht geben. Tautologisch gesagt: Was nicht ist, ist nicht. Dennoch hat es eine begriffliche Präsenz im Verstand. Das Nicht-Seiende ist ein Verstandes-Ding, ein ens rationis. Thomas sagt nichts über die Möglichkeit von Fehlurteilen und Irrtümern. Wenn unser Verstand Nicht-Seiendes begrifflich erfassen kann, kann er – so dürfen wir annehmen – auch über Fabelwesen wie Einhörner nachdenken. Die begriffliche Tätigkeit des Verstandes ist nicht vor Irrtum sicher, obwohl der Verstand per Analogie am Sein teilhat. Die Analogie und Teilhabe schützt, wie wir wissen, nicht vor Irrtum.414 Es ist noch ein dritter, entscheidender Schritt innerhalb des dritten größeren offen. Er betrifft die bereits gestellte Frage, wie das Prädikat des Guten mit allen anderen Prädikaten austauschbar werden kann. Eine zweite Analogie des Seins, speziell für das Gute, also eine Teilhabe am Gutsein, hat Thomas nicht in Erwägung gezogen. Wenn aber das Gute zu den austauschbaren Präontologische Voraussetzungen hat | 211

dikaten gehören soll, kann die Analogie nicht auf das teilhabende Verhältnis des Verstandes zum Seienden als Wahres beschränkt sein. Die Analogie muss sich auch auf die Erkenntnis des Guten beziehen. Wenn nun aber das Wahre und das Gute in den Dingen  – also im Selben außerhalb des Verstands  – liegen, entsteht das erwähnte Problem, was begrifflich früher ist, das Wahre oder das Gute. Das, was begrifflich früher ist, wird als Erstes erkannt. Und was als Zweites erkannt wird, setzt die Erkenntnis des Ersten voraus. Dies bedeutet, dass das Zweite in einer noch näher zu bestimmenden Weise im Ersten eingeschlossen sein muss. Thomas löst dieses Problem mit Hilfe einer begrifflichen Ordnung innerhalb des Seins. Das Wahre sei begrifflich früher und damit dem Sein begrifflich näher als das Gute. Damit wird das Wahre vor dem Guten erkannt. Das Gutsein dessen, was ist, werde erkannt, wenn es als Vollkommenes erkannt und deswegen erstrebt werde.415 Thomas nutzt argumentativ die Vollkommenheit als Merkmal des Seins und öffnet damit den Zugang des Willens zum Seienden. Da das Vollkommene – wie Thomas annimmt – das Erstrebenswerte ist, kann er den Willen aus dem Verstand entstehen lassen. Er sagt zwar, dass Wille und Verstand sich wechselseitig einschließen, aber die Erkenntnis des Willens ist begrifflich früher als der Wille zur Erkenntnis. Damit ist die Innen-Außen-Trennung überwunden, und das Gute ist endlich austauschbar mit den anderen Prädikaten. Allerdings ist es den anderen Prädikaten in der Ordnung des Erkennens nachgeordnet. Die Rangordnung der Prädikate beschreibt Thomas dann im Ergebnis seiner Überlegungen am Ende des vierten Artikels der quaestio 16: Der Verstand erfasse erstens das Seiende, zweitens erfasse er, dass er das Seiende erkenne, drittens erfasse er, dass er das Seiende erstrebe, obwohl das Gute in den Dingen sei.416 Dieses »obwohl« (licet) wird uns gleich noch beschäftigen. Das wechselseitige Verhältnis von Verstand und Willen schließt ein, dass das Wahre selbst zu etwas Erstrebtem, Gewolltem wird. Thomas schränkt diesen Bezug allerdings auf das partikulare Wahre ein, das sich in dem, was der Mensch sagt und tut, zeigt. Es geht um das einzelne Wahre im menschlichen Leben. Das Streben danach nennt Thomas eine Tugend. Das Wahre im Leben wird damit zu etwas Normativem, Verbindlichem. Thomas bietet dafür als 212 | Ob die Geltung von etwas … 

Beispiel an, dass die Wahrheit der Gerechtigkeit darin bestehe, dass der Mensch dem diene, was er dem Anderen nach der Ordnung des Gesetzes schulde. Gleich im nächsten Satz schränkt er dann ein, dass man von den einzelnen Wahrheiten nicht auf die Wahrheit selbst schließen könne.417 Der Grund dafür, dass wir dies nicht können, liegt darin, dass wir nicht nur über Gutes, sondern auch über Schlechtes wahr urteilen können. Thomas nennt als Beispiel die Unzucht.418 Wenn alles, was unser Verstand erfasst, von Gott ist, wie er unmittelbar davor sagt, und wir vom einzelnen Wahren auf die Wahrheit schließen könnten, würden wir vom Urteil darüber, dass ein Verhalten unzüchtig ist, darauf schließen, dass jenes Verhalten von Gott ist. Denn Gott ist, wie Thomas in den folgenden Artikeln zeigen will, die Wahrheit. Es wäre – daher – ein Fehlurteil (fallacia), vom einzelnen Wahren auf die Wahrheit zu schließen. Ein Grund dafür, dass Thomas das einschränkende Wörtchen ›obwohl‹ verwendet, ist die relativ weite Entfernung des urteilenden Verstandes vom Guten. Erst muss der Verstand das Seiende erfassen, dann das Wahre und dann erst das Gute. Die Einschränkung, die mit dieser Nachordnung verbunden ist, wird aber erst klar, wenn wir uns daran erinnern, dass wir mit dem Erfassen des Seienden noch nicht erkennen, dass es wahr ist. Dasselbe trifft in noch höherem Maße für das Gute zu. Wir können mit dem Erfassen des Seienden noch nicht wissen, ob es gut ist, obwohl das Gute in den Dingen ist und – so können wir ergänzen – die Dinge von Gott geschaffen sind. Das sind sie, wie Thomas glaubt, aber es kommt darauf an, diese geschaffenen Dinge von allem anderen, was – wie die Unzucht – nicht von Gott ist, zu unterscheiden. Es gibt die Unzucht und alles, was sonst noch schlecht im menschlichen Verhalten ist, und wir können darüber wahr urteilen, obwohl es nicht von Gott ist. Weil es nicht von Gott ist, kann das Schlechte keine normative Verbindlichkeit haben. Trotzdem können wir darüber wahr urteilen, dass es schlecht ist. Wir stehen damit genau an der Stelle im Denken von Thomas, an der das Wahre erstrebt und als Gutes zu einem normativ verbindlichen Gegenstand des Willens wird, vor einer Unterscheidung. Wir müssen zwischen den Dingen, die von Gott sind, und allem anderen unterscheiden, wenn wir wissen wollen, was normativ verbindlich ist. ontologische Voraussetzungen hat | 213

Erst dann, wenn wir diesen Unterschied kennen, ist das Normative ontologisch begründet. Die Geltung des Naturrechts setzt die Einsicht in jenen Unterschied voraus. Nicht alles, was ist, ist damit auch schon normativ verbindlich, sondern nur das, was von Gott geschaffen ist. Es ist Thomas nicht entgangen, dass die Einsicht in die von Gott geschaffene Ordnung trotz der Analogieannahme nicht auf der Hand liegt. Deswegen nimmt er hilfsweise an, dass der Mensch auf diese Ordnung durch die Teilhabe am göttlichen Erkennen gelenkt wird. Die Analogie gibt unserer Erkenntnis quasi einen Schubs.419 Einerseits enthält die ontologische Grundlage einen Bezug zur Wahrheit, weil Gott, wie Thomas in den anschließenden Artikeln erklärt, die Wahrheit sei. Andererseits kann sich der Mensch an der Ordnung der von Gott geschaffenen Wirklichkeit mit dessen Hilfe orientieren. Selbst wenn wir dies glauben und dem Schubs nachgeben, ist nicht klar, was unter den Dingen, die existieren, von Gott geschaffen und was nicht von ihm geschaffen ist. Damit ist die ontologische Grundlage der Verbindlichkeit ungewiss. Wir haben uns mit der Frage der Austauschbarkeit der Prädikate deswegen so ausführlich beschäftigt, weil wir die ontologische Grundlegung des Normativen bei Thomas und damit die Grundlegung des Naturrechts verstehen wollen. Er will das Gute, auf das sich das menschliche Streben richtet, transitiv aus dem Wahren ableiten. Wenn etwas als wahr in der Ordnung des menschlichen Lebens erkannt wird, ist es gut und damit erstrebenswert. Die Überwindung der Innen-Außen-Trennung zwischen dem Verstand und den Dingen ist dafür die Voraussetzung. Wir haben eben gesehen, dass selbst dann, wenn die Innen-Außen-Trennung zwischen dem Verstand und den Dingen überwunden ist, die Geltung des Naturrechts noch nicht gesichert ist. Es geht darum, wie zuverlässig wir das, was gut ist, erkennen können. Bevor wir dies erkennen können, müssen wir aber wissen, was unter allem, was ist, von Gott geschaffen ist und was nicht. Es gibt schon im Denken von Thomas selbst zwei Gründe, an der Zuverlässigkeit dieser Unterscheidung zu zweifeln. Der eine ist, dass wir uns irren können und etwas, was es gar nicht gibt, für etwas Seiendes und entsprechend für wahr halten. Das NichtSeiende existiert zwar nur im Denken, aber es ist deswegen ebenso 214 | Ob die Geltung von etwas … 

denkbar wie das Unwahre. Der zweite Grund ist in dem ersten enthalten. Wenn das Gute außerhalb des Verstandes in den Dingen ist und nur über das Wahre dieser Dinge erkannt und gewollt werden kann, können wir darüber ähnlich irren wie über das Seiende. Da das Gute, wie Thomas meint, transitiv aus dem Wahren folgt und wir etwas irrtümlich für wahr halten können, kann sich dieser Irrtum ebenfalls transitiv in dem fortsetzen, was wir für gut halten. Dann irren wir auch über das Gute. Thomas will diesem Irrtum mit dem erwähnten göttlichen Schubs, mit der Leitung des menschlichen Verstandes durch Gott vorbeugen. Für diese Leitung bzw. den Schubs gibt es aber keine Evidenz. Dies stellt Thomas indirekt selbst fest, wenn er sagt, dass wir von den einzelnen Wahrheiten nicht zurück auf die göttliche Wahrheit schließen können. In den späteren Artikeln der quaestio 16 zeigt Thomas, dass wir aus Gott nicht schließen können. Wir können ihn nicht argumentativ als Prinzip verwenden, aus dem wir etwas ableiten könnten. Vor allem können wir nicht unsere Irrtümer und die Falschheit unseres Denkens Gott und der von ihm geschaffenen Ordnung anlasten. Wenn wir aus Gott schließen und ihn als Prinzip argumentativ verwenden könnten, wäre es möglich, die Gerechtigkeit und die gesamte normative Ordnung direkt von Gott selbst abzuleiten. Genau dies können wir nicht. Thomas ordnet die Wahrheit der Gerechtigkeit inhaltlich der Ordnung des Gesetzes zu. Wir können ergänzen, dass diese Ordnung eine von Menschen gemachte Ordnung ist. Sie folgt nicht unmittelbar aus der uns unbekannten göttlichen Ordnung. Damit hängt die Geltung des Naturrechts von der Unterstellung ab, dass die von Menschen gedachte und dann gemachte Ordnung der göttlichen analog ist. Dass diese Analogie lediglich unterstellt, aber in Begründungen nicht belastbar ist, folgt daraus, dass wir keine klare Einsicht in die ontologische Grundlage des Normativen haben. Wir können nicht zuverlässig zwischen dem, was Gott geschaffen und was er nicht geschaffen hat, unterscheiden. Die Frage, ob wir zwischen dem, was Gott geschaffen und was er nicht geschaffen hat, unterscheiden können, mag heute merkwürdig und obsolet erscheinen. Es ist aber die Frage, die beantwortet sein muss, wenn wir die Frage nach der Geltung des Naturrechts stellen. Die ontologische Grundlegung des Normativen ist, wie die ontologische Voraussetzungen hat | 215

Transzendentalienlehre von Thomas zeigt, eine theologische. Die Überwindung der Innen-Außen-Trennung zwischen dem Verstand und den Dingen kann nur mit Hilfe der Analogieannahme überwunden werden und deren Geltung kann nur mit göttlicher Hilfe gesichert werden. Lehrreich und interessant ist dieses Modell der ontologischen Grundlegung des Normativen, weil es uns hilft, unsere eigene ontologische These zu schärfen. Unsere ontologische These, dass das, was gilt, existiert, hat keine theologische Grundlage. Unsere Ontologie ist, wie die Überlegungen zur Frage, ob Hamlet oder Sherlock Holmes existieren, zeigen, semantischer Natur und damit theologisch anspruchslos. Das bedeutet, dass es uns allein um den Gebrauch ontologischer Prädikate wie ›es gibt x‹ und ›x existiert‹ geht. Dementsprechend müssen wir keine Innen-Außen-Trennung zwischen dem Verstand und den Dingen überwinden. Ein Pendant zu Thomas’ Transzendentalienlehre und seiner anspruchsvollen Analogieannahme benötigen wir ebenso wenig wie eine logische Form, die Wittgenstein im Tractatus noch als Verbindung zwischen Sprache und Wirklichkeit annimmt. Trotz dieser Unterschiede sind die ontologischen Auffassungen vergleichbar. Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Auch Thomas kennt, wenn wir einmal von den Unterschieden der Begrifflichkeit absehen, eine Lücke zwischen dem Nicht-Reflexiven und Reflexiven. Er unterscheidet zwischen dem Erfassen des nicht-reflexiven Seienden und dessen reflexiver Erkenntnis als Wahres. Dass der Verstand das Seiende erfassen kann, schließt die Erkenntnis dessen, was es ist, nicht ein. Wir sprechen anders als Thomas nicht vom ›Seienden‹ und auch nicht vom ›Verstand‹, sondern beschränken uns auf den Unterschied zwischen dem Erfassen des NichtReflexiven und seiner reflexiven Beschreibung. Wir können dies als gemeinsamen Nenner der Ontologie-Auffassungen verstehen. Dies vorausgesetzt geht Thomas wie wir davon aus, dass der weitere Zugang zum Nicht-Reflexiven, über dessen bloßes Erfassen hinaus, nur reflexiv möglich ist. Damit sind die Gemeinsamkeiten erschöpft. Denn nun fusioniert Thomas das eine mit dem anderen und räumt dem Begrifflichen, dem Reflexiven, einen Vorrang vor dem Nicht-Reflexiven ein. Er intellektualisiert das, was nicht Teil des Intellekts ist. Damit 216 | Ob die Geltung von etwas … 

steht Thomas nicht allein. Wie wir sahen, löst auch Kant  – und die Idealisten nach ihm – das Verhältnis des Nicht-Reflexiven zum Reflexiven reflexiv, begrifflich auf. Die Probleme des Verhältnisses zwischen dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven haben wir bereits erörtert. Dieses Verhältnis ist leicht einzusehen und reflexiv auflösbar, weil es keinen Widerstand dagegen gibt. Der Preis für die Auflösung ist allerdings hoch. Wir können dann nicht mehr zwischen dem unterscheiden, was wir finden, und dem, was wir uns dazu ausdenken. Dieser Unterschied ist ontologisch entscheidend. An der Beachtung dieses Unterschieds müsste Thomas ein Interesse haben, weil er davon ausgeht, dass wir das, was Gott geschaffen hat, finden und nicht durch das, was wir denken, selbst machen. Wir können Thomas aus diesem Grund schon nicht folgen, wenn er das nicht-reflexive Gute, das er unabhängig vom Verstand den von Gott geschaffenen Dingen zuordnet, reflexiv mit Hilfe der Analogieannahme zu etwas Wahrem macht. Es bleibt damit selbst im Rahmen seines Denkens immer noch offen, was das Wahre des Guten wirklich ist, weil er so wenig wie wir die theologische Absicherung durch die göttliche Schöpfung durchschauen kann. Die Grundlage des naturrechtlichen Geltungskonzepts bleibt verborgen. Damit ist unsere eigene These, dass das, was gilt, existiert, aber noch nicht geklärt. Es ist noch offen, wie sich die Offenheit der Bedeutung und die nicht einseitig aufgelöste Lücke zwischen dem Nicht-Reflexiven und dem Reflexiven praktisch auswirken. Was folgt aus der ontologischen Grundlegung des Normativen bei Thomas für ein naturrechtliches Verständnis der Menschenwürde? Die Menschenwürde ist im Modell von Thomas etwas Gutes, das in den Dingen, in diesem Fall im von Gott geschaffenen Menschen selbst, nicht-reflexiv existiert. Dies ist mit der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Gott gemeint. Bevor in diesem Modell das Gute des Menschen, seine Würde, reflexiv erkannt wird, muss der Mensch als nicht-reflexives Seiendes erfasst und dann reflexiv, begrifflich als Wahres erkannt werden. Über seine Teilhabe am Sein und dessen Vollkommenheit kann das Gute des Menschen, seine Würde, dann gewollt und erstrebt werden. So können wir uns den Zusammenhang naturrechtlich denken. Spaemanns naturrechtlich motivierter Gedanke, dass die Menschenwürde vor der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ontologische Voraussetzungen hat | 217

liegt, entspricht diesem Modell mit dem offensichtlichen Nachteil, dass wir nicht wissen, was ›Menschenwürde‹ bedeutet. Die ontologische Verankerung dieser Bedeutung in der göttlichen Schöpfung ist nicht transparent. Die Frage, was ›Menschenwürde‹ bedeutet, bleibt unbeantwortet. Die theologische Prämisse der ontologischen Verankerung ist keine Erklärung der Menschenwürde. Es ist daher nicht möglich, die Bedeutung der Menschenwürde naturrechtlich zu erklären, zumindest nicht auf der Grundlage, die Thomas anbietet. Für Vertreter des Naturrechts, die keine theologischen Prämissen akzeptieren wollen, bietet Philippa Foot eine Alternative mit ihren Überlegungen zur »natürlichen Normativität« (natural normativity) an.420 Ihr geht es zwar nicht um die Menschenwürde, aber – ähnlich wie Spaemann – um das natürliche Gute, das ontologisch fundiert ist. Sie ist überzeugt, dass es dieses Gute in Gestalt des natürlichen Guten von Lebewesen gibt. Sie greift, um G. E. Moores Nicht-Definierbarkeit des Guten zu umgehen, ein semantisches Argument von Peter Geach auf. Es besagt, dass ›gut‹ im Unterschied zu ›rot‹ nicht prädikativ, sondern attributiv gebraucht werde.421 Dies lässt sich leicht nachvollziehen. Vergleichen wir die Sätze ›Das Fahrrad ist rot‹ und ›Das Fahrrad ist gut‹. Der zweite Satz bewertet das Fahrrad, schreibt ihm einen besonderen Wert zu, der erste tut dies nicht, es sei denn, Rot ist die gewünschte und geschätzte Farbe. Die Bewertung schließt ein, dass das Fahrrad gut für seinen Besitzer ist und damit seinen Zweck erfüllt. Die Beschreibung der Farbe tut dies nicht. Übertragen auf Handlungen bedeutet dies, dass wir mit dem Adjektiv ›gut‹ einer Handlung eine Bedeutung – also attributiv und nicht prädikativ – zuschreiben, die etwas mit uns als moralfähigen Wesen zu tun hat. Angelehnt an Aristoteles und in Übereinstimmung mit einer Reihe von Aristotelikern in der Ethik wie Elizabeth Anscombe und Michael Thompson, glaubt Philippa Foot, dass moralische Bewertungen keine andere logische Struktur haben als die Bewertungen von Pflanzen und Tieren.422 Mehrfach erwähnt sie eine Äußerung von Peter Geach, dass Menschen Tugenden so benötigten wie Bienen ihre Stachel.423 Natürlich will Philippa Foot irreführende Analogien vermeiden und den Stachel nicht mit den Tugenden vergleichen, was doch etwas skurril wäre. Es geht ihr aber um zweck218 | Ob die Geltung von etwas … 

gerichtete Analogien im Verhalten natürlicher Arten. Sie sammelt semantische, sprachlich repräsentierbare Muster einer natürlichen Normativität, die dann tatsächlich eine analoge Bewertung der Wurzeln von Pflanzen und der Handlungen und der Wünsche von Menschen als natürlich gut erlauben.424 Menschen müssten, so argumentiert sie, eifrig bemüht sein und beharrlich an den für sie so wichtigen Zielen wie Liebe und Freundschaft festhalten. Sie benötigten Verhaltensregeln, sonst könnten sie die Tugenden der Loyalität, der Fairness und der Güte nicht erfüllen.425 Menschen stellten ihre Kleidung her und bauten ihre Häuser, ähnlich wie Vögel ihr Federkleid entwickelten, und das alles auf notwendige Weise. Das menschliche Leben zeige, wie gut es sei, dass Menschen Regeln des Verhaltens entwickelten und Gesetze respektierten.426 Jenseits dieser Beispiele für das natürlich Gute geht es Foot um die Frage, ob das moralisch Gute des Handelns gegen alle Einwände von Vertretern der Sein-Sollens-Differenz 427 als etwas Natürliches verteidigt werden kann. Philippa Foot findet argumentative Hilfe bei Thomas von Aquin und dessen ontologischem Verständnis des Guten. Sie greift dessen Argument auf, dass es eine Asymmetrie zwischen dem Guten und Schlechten gebe, dass etwas immer dann gut, wenn es in keiner Hinsicht schlecht sei.428 Für das gute Leben kann sie – diese ontologisch fundierte Asymmetrie vorausgesetzt – einen Korb voller natürlicher Güter sammeln: Glück, Gesundheit, Intelligenz, Erinnerung etc.429 Philippa Foot geht nicht näher auf die göttliche Schöpfung, die ontologische Prämisse von Thomas’ Argument, ein, also die Prämisse, die jene Asymmetrie erst begründet und verständlich macht. Den theologischen Subtext jener Prämisse müsste sie bemerkt haben, erwähnt ihn aber nicht. Sie ist überzeugt, dass es genügt, die teleologischen Merkmale des natürlich Guten zu betonen, um den Nachweis zu erbringen, dass der menschlichen Moralität eine natürliche Normativität zugrunde liegt. Über die Falle des naturalistischen Irrtums 430 muss sie erst gar nicht nachdenken, weil sie nicht einschlägig ist. Denn es geht, wie Geachs Argument zeigt, gar nicht um eine prädikative, sondern um eine attributive Bedeutung von ›gut‹, um das ›natürlich Gute‹. Philippa Foots ›natürlich Gutes‹ und Robert Spaemanns Deutung der Menschenwürde liegt ein ähnliches Verständnis des ontologische Voraussetzungen hat | 219

Natürlichen zugrunde. Spaemann vertritt die These, dass jedem Menschen »aufgrund seines Seins, seiner Zugehörigkeit zur Species homo sapiens«, die Menschenrechte zustehen. Er hebt auf die menschlichen »Artmerkmale von Natur aus« ab.431 Da er zudem überzeugt ist, dass die Würde den Menschenrechten zugrunde liegt432 , dürfen wir die Menschenwürde so, wie er sie deutet, als ein natürlich Gutes in Philippa Foots Sinn verstehen. Die ontologische Bindung der Menschenwürde an die göttliche Schöpfung, die Spaemanns Auffassung zugrunde liegt, setzt theologische Überzeugungen voraus. Dies ist bei Philippa Foots Konzeption des natürlich Guten nicht so. Beide Autoren argumentieren für die Existenz des Guten in Gestalt von Prinzipien wie der Menschenwürde oder von bestimmten Gütern des guten Lebens. Dies entspricht im Ergebnis dem früher in dieser Untersuchung angebotenen kontrafaktischen Argument für die Existenz des Guten. Die naturrechtliche Grundlegung der Geltung setzt allerdings eine ontologische Verankerung voraus, die letztlich eine theologische ist. Ohne sie ist das Naturrecht, wie Ockhams Beispiel zeigt, von Menschen gemacht und Zweifeln ausgesetzt. Die Möglichkeiten, für die Geltung des Naturrechts zu argumentieren, sind damit keineswegs erschöpft. Es gibt die metaphysisch neutrale Auffassung des Naturrechts von Robert Alexy433. Er setzt sich mit dem Rechtspositivismus auseinander und diskutiert dabei das Verhältnis des Rechts zur Moral. Während der Rechtspositivismus à la Kelsen für eine strikte Trennung von Rechtsgeltung und Moral plädiert, vertritt Alexy die sog. Verbindungsthese. Seine Argumente sind ausschließlich rechtsphilosophischer Natur. Aus verschiedenen Perspektiven erläutert er die Abhängigkeit des Rechts von Voraussetzungen, die nicht selbst schon zum geschriebenen Recht gehören. Die Prinzipien des neuzeitlichen Natur- und Vernunftrechts, die im Grundgesetz in Gestalt der Prinzipien der Menschenwürde, der Freiheit und Gleichheit, des Rechtsstaats, der Demokratie und des Sozialstaats sichtbar sind, seien – wie Alexy argumentiert – in das positive Recht integriert worden und bildeten das Fundament der Richtigkeit des Rechts.434 Aufgrund dieser – in seinen Augen zweifellos geltenden – Voraussetzungen bezweifelt Alexy, dass unmoralische, inhaltlich ungerechte Gesetze Geltung 220 | Ob die Geltung von etwas … 

beanspruchen können.435 Er ergänzt diese Überzeugung mit dem methodischen Hinweis, dass die normativen Voraussetzungen, die den Anspruch auf die Richtigkeit des Rechts enthalten, also jene sechs eben erwähnten Prinzipien, auch der Begründung des Rechts dienten.436 Die sechs Grundprinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaats stehen in Alexys Überlegungen also inhaltlich und methodisch für den Anspruch auf die moralische Richtigkeit des Rechts.437 Aus diesen Prinzipien sollen sich die Rechtsnormen im Einzelnen begründen lassen. Sie bilden das, was Alexy ›Moral‹ nennt und was einer metaphysisch neutralen Auffassung des Naturrechts entsprechen soll. Wie die Moral bzw. die mit ihr identische Auffassung des Naturrechts nun aber das Recht konkret begründen kann, bleibt unklar. Dies ist gemessen an dem hohen Anspruch, dass es »sowohl begrifflich als auch normativ notwendige Zusammenhänge zwischen Recht und Moral«438 gebe, enttäuschend. Die moralische Begründbarkeit der Richtigkeit des Rechts bleibt ein Postulat, dessen Einlösung nicht wirklich geleistet werden kann. Überzeugend ist bei alledem aber, dass Alexy jene sechs Grundprinzipien selbst, die für das Ideal des Rechtsstaats stehen, offenbar nicht für begründungsfähig hält. Er verzichtet darauf, den besonderen Status der Grundprinzipien zu erläutern. Lediglich indirekt, anhand seiner Diskussion von Geltungskollisionen, wird erkennbar, dass er das Normensystem als Ganzes auch dann für stabil und zweifelsfrei gültig hält, wenn einzelne verfassungsrechtliche Normen ihre soziale Geltung verlieren. Diese Stabilität steht für eine Geltung, die unbezweifelbar sein soll. Die Argumente, die Alexy gegen die Trennung von Moral und Recht und damit gegen den Rechtspositivismus vorträgt, sind in dem begrenzten Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus durchaus überzeugend. Vor allem die vom Bundesverfassungsgericht getroffene Entscheidung, auf die sich Alexy beruft, dass Recht und Gerechtigkeit »nicht zur Disposition des Gesetzgebers«439 stehen, engt den Spielraum einer rechtspositivistischen Trennung von Moral und Recht ein, wenn mit ›Recht und Gerechtigkeit‹ der gesamte vorpositive normative Rahmen des Rechts gemeint ist. Allerdings kann die Stabilität und Geltung genau dieses Rahmens in Frage gestellt werden. Deswegen ist Alexys ontologische Voraussetzungen hat | 221

Überzeugung, dass das Normensystem auch bei Geltungskollisionen insgesamt stabil sei, seine eigene, persönliche Überzeugung. Sie ist aber kein Argument, das die Geltung dieses Systems begründen könnte. Wir teilen mit der naturrechtlichen Auffassung der Geltung den Gedanken, dass das, was gilt, existiert. Was aber gilt, kann naturrechtlich nur mit Hilfe theologischer oder moralischer Voraussetzungen begründet werden.

222 | Ob die Geltung von etwas … 

3.   O  B EINE REIN RECHTLICHE G ELT UN G ­M Ö G LIC H IST OB EINE REIN RECHTLICHE G ELT UN G M Ö G LICH IST

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as Recht stellt in beispielhafter Weise einen Zusammenhang zwischen dem her, was ist, und dem, was sein soll. Das Recht gibt einem Staat eine Ordnung, die Freiheit, Leben, Eigentum und Wohlstand jedes Einzelnen und der Gesellschaft sichern soll. Was rechtlich gilt, bezieht sich auf das, was ist, und beschreibt das, was sein soll. Zu dem, was ist, gehört nicht nur das, was Menschen tun, und die erkennbare Wirklichkeit insgesamt, sondern auch die Prinzipien, die der Geltung des Rechts zugrunde liegen und diese Geltung begrenzen. Die Frage, ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist, bezieht sich auf diese Prinzipien und auf die Rechtsnormen, die aus ihnen ableitbar sind. Die Antwort darauf hängt davon ab, ob die Prinzipien des Rechts wie Rechtsnormen gelten oder nicht. Wenn sie wie Rechtsnormen gelten, ist die Geltung des Rechts argumentativ und ontologisch geschlossen und unabhängig von anderen Geltungsbereichen. Dann haben Rechtsprinzipien und Rechtsnormen denselben reflexiven Ursprung im menschlichen Denken; dann gehören Rechtsprinzipien nicht zu dem, was ist, und können der Geltung von Normen weder zugrunde liegen noch sie begrenzen. ›Argumentativ geschlossen‹ bedeutet, dass der Geltungszusammenhang zwischen Rechtsprinzipien und Rechtsnormen kohärent, widerspruchsfrei und unabhängig von anderen Prinzipien und Normen ist. ›Ontologisch geschlossen‹ bedeutet, dass die Geltung des Rechts unabhängig von allem ist, was sonst gilt und existiert. Das Recht schafft, erhält und verändert sich unter diesen Bedingungen selbst. Dies ist mit ›rein rechtlicher Geltung‹ gemeint. Wir haben bereits dafür argumentiert, dass Normen nicht wie Prinzipien gelten. Wenn die Argumente dafür auch auf den Zusammenhang zwischen Rechtsprinzipien und Rechtsnormen zutreffen, kann es keine rein rechtliche Geltung geben. Dann gehören die Prinzipien des Rechts zu dem, was wir auffinden, was sich zeigt,  223

also zum Bereich des Nicht-Reflexiven. Sie können dann durch Recht nicht geschaffen, aber erhalten und verändert werden. Außerdem sind sie nicht nur auf das Recht bezogen, sondern können auch der Moral und der Politik zugrunde liegen. Die Rechtsnormen, die auf die Geltung dieser Prinzipien angewiesen sind, sind dagegen gemacht und lediglich argumentativ und reflexiv mit den Prinzipien verbunden. Wenn wir am Unterschied zwischen Prinzipien und Normen auch im Recht festhalten, trifft auf die Bedeutung der Rechtsprinzipien das zu, was wir als ›Offenheit der Bedeutungen‹ beschrieben haben. Es gibt diese Offenheit, weil die Bedeutung der Prinzipien nicht ›an sich‹ gegeben, sondern nur reflexiv zugänglich ist. Die Geltung und der Gehalt von Rechtsnormen können sich nur auf eine Gebrauchsbedeutung der Prinzipien beziehen. Es gibt deswegen auch keine absolut geltenden Normen, die den Anspruch erheben könnten, von der einzig möglichen Bedeutung eines Prinzips abgeleitet zu sein. Aufgrund der Offenheit der Bedeutungen von Prinzipien können Normen nicht perfekt gut, sondern nur ›nicht schlecht‹ sein. Kohärent und widerspruchsfrei kann der Zusammenhang zwischen den Prinzipien und Normen dennoch sein, weil die Argumente genau dafür so wie Normen gemacht und reflexiv angepasst werden können. Die Rechtstheorie kann diese Kohärenz argumentativ herstellen und begründen. Bevor wir uns der Möglichkeit rein rechtlicher Geltung im Einzelnen zuwenden, sollten wir unser vorläufiges, skeptisches Urteil dazu eingestehen. Selbst wenn die Geltung des Rechts ontologisch geschlossen wäre, könnten wir dies für die Rechtsnormen nicht behaupten, denn sie nehmen Stellung zur wahrnehmbaren Wirklichkeit, besonders zur sozialen und politischen Wirklichkeit und zu wissenschaftlichen und medizinischen Fragen. Sie beziehen sich auf das, was ist, und beschreiben, was sein soll. Die Rechtsprinzipien, die wir finden können, setzen dieselbe Wirklichkeit voraus. Wir finden sie, indem wir über diese Wirklichkeit nachdenken und überlegen, mit welchen Verbindlichkeiten die sozialen und politischen Ordnungen angesichts ihrer Gefährdungen am besten gesichert werden können. Die Geltung des Rechts ist in die Genese und Entwicklung dieses Nachdenkens eingebettet. Eine ontologische Geschlossenheit der Rechtsgeltung erscheint auch aus diesem 224 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Grund undenkbar, zumindest aber fragwürdig. Mit diesem vorläufigen Urteil beginnen wir die Prüfung der Möglichkeit einer rein rechtlichen Geltung. Wir werden über diese Möglichkeit ähnlich ausführlich nachzudenken, wie wir über eine rein moralische Geltung nachdachten. Die Gründe dafür sind analog. Beide Geltungen sind rein reflexiv und scheinen deswegen argumentativ beherrschbar und autonom begründbar zu sein. Die rein moralische Geltung, für die Kant argumentiert, hat nur eine moraltheoretische Genese, die rein rechtliche nur eine rechtstheoretische und eine rechtspraktische in der Rechtsprechung. Den Unterschied zwischen der Geltung und der Genese des Rechts kann es, wenn eine rein rechtliche Geltung möglich ist, nur kurzfristig geben. Was rechtlich gilt, kann sich zwar verändern, aber nur reflexiv innerhalb der argumentativen, reflexiven Geschlossenheit des Rechts. Ähnlich wie im Fall der rein moralischen Geltung kann es nur um das gehen, was – im rechtlichen Sinn  – sein soll, unabhängig von dem, was ist. Dies scheint das argumentative Ziel der Vertreter des Rechtspositivismus zu sein. Gegen diese Tradition steht eine andere, die das Recht nicht rein reflexiv und argumentativ geschlossen, sondern genetisch, eingebunden in die Entwicklungen von Staat und Gesellschaft versteht. Diese Tradition kennt kein rein rechtliches Geltungskonzept. Sie beruft sich auf Hegel und dessen Verständnis des Rechts als politische und soziale Tatsache. In seiner Rechtsphilosophie440 ist der Staat das Ganze, in welches das Recht ebenso integriert ist wie der Souverän und die politischen Gewalten. Das Recht ist nicht onto­logisch unabhängig. Einerseits repräsentiert es das »Dasein des freien Willens« (§ 29), andererseits ist es Teil von Sittlichkeit und Staat.441 Hegels Denken hat eine Tradition von Rechtsphilosophen beeinflusst, die das Recht als Moment in der Entwicklung zu einem absoluten Ganzen des Geistes und des Staats verstehen. Dieses Ganze ist nach Hegels Überzeugung in jeder seiner Entwicklungsstufen schon präsent und real. Hegel denkt dieses Ganze spekulativ und wendet seine Bestimmungen auf den monarchischen Staat und das Recht an. Rudolf Smend, für den die Staatsform zunächst auch noch monarchisch ist, beruft sich auf Hegel. ›Integration‹ ist sein von Hegel beeinflusster Grundbegriff. Sie sei ein »grundlegender LebensvorOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 225

gang des Staates« und dieser sei »Teil der geistigen Wirklichkeit«.442 Methodisch präsent kann diese Wirklichkeit, wie Smend glaubt, nur mit Hilfe der dialektischen, verstehenden Methode der Geisteswissenschaften443 werden. Er wendet sich damit direkt gegen den Neukantianismus und dessen Methodenverständnis, das dem Rechtspositivismus zugrunde liegt. Philosophisch orientiert sich Smend an dem Hegelianer Theodor Litt und dessen Auffassung, dass die geistige Welt nicht objektivierbar, sondern nur dialektisch zu verstehen sei.444 Den Formalismus-Vorwurf, den Hegel Kant macht, wieder­holen alle Rechtsphilosophen, die gegen den neukantianisch beeinflussten Rechtspositivismus und dessen Dualismus von Sein und Sollen sind. Smend polemisiert gegen diese Tradition und spricht von überholten »neukantianischen Kampfformeln« und einer durch sie ausgelösten »Krise der Staatslehre«.445 Smend meint dies politisch im Vorfeld des Faschismus. Es gebe kein »geistiges Leben ohne Führung« schreibt er, lobt die »starken Seiten des Faschismus« und wendet sich »gegen Positivismus und Formalismus«.446 Dieser Anti-Positivismus und nicht etwa der Rechtspositivismus hat das faschistische Rechtsdenken vorbereitet und gefördert.447 Hans Kelsen erkennt den faschistischen Charakter des Integrationsgedankens und kritisiert die dahinter stehende Überhöhung des Staates und die damit verbundene Relativierung des Rechts.448 Der Integrationsgedanke ist zwar unvereinbar mit einer rein rechtlichen Geltung. Er wäre aber nur dann eine tragfähige Alternative zum Rechtspositivismus, wenn das Recht damit von keinem politischen System abhängig wäre. Das Gegenteil trifft aber zu. Das Recht wird mit dem Integrationsgedanken von politischen Machtverhältnissen abhängig. Es geht dann nicht um das, was sein soll, sondern um eine Anpassung an das, was ist. Die Hegelianer erheben polemisch gegen den Rechtspositivismus den Vorwurf des Formalismus, wenden sich damit aber indirekt gegen die von Kant beeinflusste Auffassung, dass der argumentative Gebrauch eines Prinzips wie das der Freiheit widerspruchsfrei sein soll. Wenn im Integrationsmodell ein dialektischer Gebrauch von Prinzipien nicht dem Widerspruchsprinzip unterworfen ist, ist er methodisch und argumentativ fragwürdig. Berechtigt ist der FormalismusVorwurf, wenn er sich gegen eine rein reflexive Begründung des 226 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Rechts wendet und den Unterschied zwischen der Geltung von Rechtsprinzipien und Rechtsnormen nicht anerkennt. Es kommt darauf an, wie der gegen den Rechtspositivismus erhobene Formalismus-Vorwurf gemeint ist. In der hegelianischen Version ist er nicht berechtigt. Wir haben aber eben – vorläufige – Zweifel an der argumentativen und ontologischen Geschlossenheit der reinen Rechtsgeltung, die der Rechtspositivismus vertritt, geäußert. Wieweit diese Zweifel berechtigt sind, müssen wir prüfen. Ein Motiv für eine ausführliche Prüfung sind die Vorzüge des Rechtspositivismus, seine geltungstheoretische Autonomie und Unabhängigkeit von weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen und von politischen Ideologien. Diese Unabhängigkeit ist nicht nur wünschenswert, sondern angesichts der jüngeren Geschichte geboten. Es ist deswegen denkbar, dass wir die vorläufigen Zweifel an der Geschlossenheit der reinen Rechtsgeltung korrigieren müssen. Vielleicht müssen wir dann auch die Überzeugung in Frage stellen, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. 3.1 Ob der Rechtspositivismus geltungstheoretisch erfolgreich ist

Die Bezeichnung ›Rechtspositivismus‹ steht nicht für eine einzige Tradition, sondern für alle rechtstheoretischen Ansätze, die den engeren Zusammenhang zwischen der Rechtsgeltung und dem positiven Recht thematisieren.449 Für eine dieser Traditionen steht der Name ›Rechtspositivismus‹ in besonderer Weise. Sie geht auf Hans Kelsen und dessen Reine Rechtslehre zurück. Kelsen kann seinerseits an frühere Theorien, die einen rechtspositivistischen Charakter haben, anknüpfen.450 Kelsens Rechtspositivismus darf trotz einiger Gemeinsamkeiten nicht mit dem Positivismus des Wiener Kreises verwechselt werden. Das Wort ›positiv‹ steht zwar in beiden Fällen für den Vorrang formaler Methoden, für das Ideal der Objektivität, für den Bezug auf das, was empirisch gegeben ist und für die Ablehnung metaphysischer Grundlagen. Im einen Fall sind die Tatsachen aber das Recht, seine rechtstheoretische Geltung und die praktische RechtOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 227

sprechung, im anderen die wissenschaftlich analysierbare, logisch strukturierbare und empirisch quantifizierbare Erfahrung. Auch die Methoden dürfen wir nicht verwechseln. Im einen Fall handelt es sich um rechtwissenschaftliche, im anderen um logische und empirische Methoden. Die rechtswissenschaftlichen haben zwar ähnlich wie die logischen einen argumentativen Charakter, aber die Gültigkeit der Argumente hat jeweils andere Grundlagen. Entsprechend ist auch die Form der Argumente verschieden. Die folgenreichste Gemeinsamkeit des Rechtspositivismus mit dem Positivismus des Wiener Kreises ist der Glaube an den Dua­ lismus zwischen Sein und Sollen. Beide Arten des Positivismus halten moralische und andere Werte, alles Gesollte, für wissenschaftlich nicht erklärbar und ohne eine empirisch objektivierbare Bedeutung. Während der Positivismus des Wiener Kreises Werten generell keine Bedeutung und damit auch keine Realität zubilligt, ist der Rechtspositivismus durchaus überzeugt, dass es Werte moralischer und religiöser Art gibt. Er hält sie lediglich für wissenschaftlich nicht begründbar und deswegen auch rechtstheoretisch für nicht relevant. Sie sollten nach Ansicht Kelsens und anderer Rechtspositivisten nicht für Begründungen der Rechtsgeltung verwendet werden. Am Dualismus zwischen Sein und Sollen ändert dies aber nichts. Wir haben für die Möglichkeit einer rein rechtlichen Geltung die ontologische und die argumentative Geschlossenheit als Bedingungen angenommen. Ontologisch geschlossen wäre die Geltung des Rechts, wenn sie unabhängig von allem, was jenseits des Rechts gilt, wäre. Dann würde es keine Prinzipien wie die Gerechtigkeit und die Freiheit geben, die sowohl für das Recht als auch für die Moral und die Politik gelten. Die Rechtsprinzipien würden nur für das Recht gelten. Nun ist das Recht im Rechtspositivismus aber selbstverständlich auf das, was ist, bezogen, also zumindest in dieser Hinsicht ontologisch abhängig. Dieser ontologische Bezug stellt aber die ontologische Geschlossenheit der Rechtsgeltung nicht notwendig in Frage. Wenn die Rechtsprinzipien unabhängig von dem sind, was ist, kann die Rechtsgeltung ontologisch dennoch geschlossen sein. Dann stellt die Geltung des Rechts keinen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und was rechtlich sein soll her, sondern bezieht sich reflexiv nur auf das Recht selbst. 228 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Dieselbe Bedingung trifft auch auf die argumentative Geschlossenheit der Rechtsgeltung zu. Sie ist argumentativ geschlossen, wenn der Geltungszusammenhang zwischen Rechtsprinzipien und Rechtsnormen kohärent, widerspruchsfrei und unabhängig von Prinzipien und Normen ist, die jenseits des Rechts gelten. Dann könnten aus Prinzipien wie der Gerechtigkeit und der Freiheit keine Bedingungen für die Geltung von Rechtsnormen abgeleitet werden.451 Wir werden sehen, dass keiner der drei von uns exemplarisch ausgewählten Autoren des Rechtspositivismus sowohl die ontologische als auch die argumentative Geschlossenheit der Rechtsgeltung vertritt. Die drei von uns ausgewählten Autoren des Rechtspositivismus sind Hans Kelsen, Herbert Hart und Joseph Raz. Sie verstehen sich selbst als Rechtspositivisten. Dennoch sind sie im Hinblick auf die Ansprüche der ontologischen und argumentativen Geschlossenheit der Rechtsgeltung uneins. Es ist deswegen fraglich, ob die Möglichkeit einer rein rechtlichen Geltung überhaupt ein grund­ legender Anspruch des Rechtspositivismus ist. Von einer argumentativen Geschlossenheit der Rechtsgeltung kann nicht die Rede sein. Denn Kelsen und Hart sind zwar überzeugt, dass die Geltung und die Normativität des Rechts ganz unabhängig von der Moral sein sollten, aber Raz glaubt dies nicht. Er glaubt, dass Recht und Moral in der Geltung des Rechts miteinander verbunden sind. Die argumentative Geschlossenheit ist daher keine Bedingung, die alle drei Autoren für die Möglichkeit einer rein rechtlichen Geltung voraussetzen. Ähnliches trifft für die ontologische Geschlossenheit der Rechts­ geltung zu. Alle drei Autoren nehmen an, dass es nicht-reflexive Voraussetzungen der Geltung des Rechts gibt, also Voraussetzungen, die nicht schon Teil des Rechts sind, aber dessen Geltung zugrunde liegen. Diese Voraussetzungen sind bei jedem der drei Autoren aber andere. Damit schrumpfen die Gemeinsamkeiten der drei Vertreter des Rechtspositivismus auf wenige Überzeugungen. Die minimale Übereinstimmung der Überzeugungen ist deswegen von Interesse, weil sich darin die Breite der geltungstheoretischen Überzeugungen des Rechtspositivismus zeigt. Gemeinsam überzeugt sind die drei Autoren, dass die Geltung des Rechts begründet werden kann. Nur über die Begründung Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 229

selbst sind sie sich uneins. Alle drei sind überzeugt, dass das Recht ein eigener Geltungsbereich mit eigenen Geltungsgrundlagen ist. Das Recht generiert sich im Rahmen dieser Grundlagen, wie die drei glauben, selbst. Es ist aber unklar, wie dies ohne eine ontologische und argumentative Geschlossenheit möglich ist. Die drei Rechtstheoretiker thematisieren die Geltung des Rechts trotz der erwähnten Gemeinsamkeiten unterschiedlich. 452 Kelsens Geltungstheorie ist unser Ausgangspunkt, weil er im Rechtspositivismus Maßstäbe setzt. Der Geltungsanspruch ist im Recht, wie Kelsen argumentiert, ein besonderer, weil nur durch Recht das, was gilt, zwingen kann. Das Recht ist eine existierende Zwangsordnung.453 In keinem anderen Bereich, in dem es den Anspruch auf ›Geltung‹ gibt, so Kelsen, begegnen wir der Möglichkeit von Zwang und von Sanktionen, wenn gegen das, was gilt, verstoßen wird. Damit ist der Anspruch auf Geltung im Recht mit dem besonderen Anspruch verbunden, dass das, was zwingen kann und wodurch jede einzelne Person gezwungen wird, auch gerechtfertigt ist, zumindest aber in einem rechtlich geregelten Verfahren gerechtfertigt werden kann.454 Die Legalität, die Rechtmäßigkeit von Verfahren hat in keinem anderen Bereich der sozialen Praxis eine vergleichbare Bedeutung, liegt aber den Verfahrensweisen und Strukturen unterschiedlicher Institutionen zugrunde. Ob es eine rein rechtliche Geltung geben kann, hängt nicht nur von der rechtstheoretischen Begründung der Geltung ab, sondern auch davon, ob die Legalität, die Rechtmäßigkeit des Rechts, unabhängig von der Legitimität des politischen und sozialen Ganzen ist, in dem das Recht gilt. Wenn sich das Recht tatsächlich selbst generieren kann, ist die Legalität, die Rechtmäßigkeit des Rechts, ohne Legitimität möglich. 3.1.1 Ob es Legalität ohne Legitimität gibt

Ein Zusammenhang, an dem die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der Legalität von der Legitimität geprüft werden kann, ist der zwischen Recht und Staat. Das Recht fordert Sanktionen durch die Rechtsprechung, die sie aber nicht selbst ausführt. Es sind immer staatliche Institutionen, die zwingen und die Rechtsprechung 230 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

durchsetzen. Sie können auch ohne eine Rechtsgrundlage Zwang ausüben. Deswegen sind der staatliche und der durch die Rechtsprechung begründete Zwang nicht identisch, der eine ist wirklich, der andere möglich. Im Idealfall haben beide Arten des Zwangs in der Legalität einen gemeinsamen Nenner. Legalität ist ein Anspruch, den sowohl das Recht als auch das politische System in einem Rechtsstaat erfüllen sollten. Umstritten ist, ob der Zwang, den das Recht und die Rechtsprechung fordern, und der Zwang, den die politischen Institutionen ausüben, darüber hinaus legitim im Sinn von politisch und moralisch gerechtfertigt sein sollten.455 Mit einer solchen Rechtfertigung nimmt die Rechtsordnung allerdings Grundlagen jenseits ihrer selbst an, seien es Moralprinzipien oder politische Prinzipien, die zum Bestand einer demokratischen Grundordnung gehören. Kaum strittig ist, dass nur in einem Rechtsstaat mit einer demokratischen Verfassung eine legitime Zwangsordnung möglich ist. In einer Diktatur wie dem Nationalsozialismus können die Rechtsprechung und die Ausübung des Zwangs durch die politischen Institutionen nicht auf der Grundlage derselben Prinzipien legitim sein wie in einem demokratischen Rechtsstaat. Umstritten ist außerdem, ob es in einer Diktatur wie dem Nationalsozialismus einen legalen Zwang geben kann. Wenn sich das Recht selbst generieren kann, ist dies in jedem politischen System möglich, dann kann es auch Legalität ohne Legitimität geben.456 Im demokratischen Rechtsstaat bilden die Legitimität des politischen Systems und die Legalität des Rechts im Idealfall ein kohärentes Ganzes. Die formale Rechtmäßigkeit der Rechtsprechung erfüllt allein den Anspruch auf Legitimität plus Legalität nicht. ›Legitimität‹ und ›Legalität‹ drücken Qualitäten der Geltung aus. Die Legitimität bezieht sich als politische Qualität der Geltung auf den Staat und die Legalität als rechtliche Geltungsqualität auf das Recht und das Rechtssystem. Für die Geltung des Rechts ist aber auch die Legitimität ein bedeutsamer Anspruch, weil er die Verbindung von Recht und Staat betrifft. Da es in beiden Konzepten um einen Anspruch auf Geltung geht und die Konzepte auch miteinander verbunden und aufeinander bezogen werden können, sind sie kaum zu trennen. Wenn sie einen gemeinsamen Nenner haben, dann in der Legitimität, weil sie Prinzipien des politischen Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 231

und rechtlichen Ganzen einschließt. Wenn es diesen gemeinsamen Nenner nicht gibt, kann es Legalität ohne Legitimität geben. Es ist dann auch denkbar, dass die Legalität Vorrang vor der Legitimität hat. Max Weber macht in seiner soziologischen Kategorienlehre die Legitimität einer sozialen Ordnung von Vorstellungen wie dem »Glauben an ihre absolute Geltung« und von Interessenlagen abhängig.457 Für die »legitime Geltung« einer Ordnung kann es nach Weber traditionale, affektive und wertrationale Gründe geben, die er allerdings nicht für »verlässliche Grundlagen« hält. Der »Legitimitätsglaube« trete als weiteres »Moment« zu diesen Gründen hinzu.458 Weber verschränkt Legitimität und Legalität, indem er den »Legalitätsglauben« an positives Recht als eigene, zusätzliche Grundlage legitimer Geltung annimmt. 459 Er schlägt weder eine wechselseitige Abhängigkeit von Legitimität und Legalität noch einen gemeinsamen Nenner und auch keinen Vorrang der Legalität des Rechts vor der Legitimität der Herrschaft vor. Beiden Qualitäten der Geltung, der politischen und der rechtlichen, liegt, wie er meint, jeweils ein Glaube zugrunde, aber keine darüber hinausgehende gemeinsame Begründung.460 Weber schlägt auch keine gemeinsame Geltungsgrundlage der Legalität des Rechts und der Legitimität des Staats vor. Er verzichtet, seinem Ideal der Wertfreiheit entsprechend, auf eine normative Grundlegung von Legitimität und Legalität. Die Legalität, verstanden als Rechtmäßigkeit, bezieht sich sowohl auf das Recht und die Rechtsprechung als auch auf den Staat und seine Institutionen und damit auch auf seine Autorität und Gewaltausübung. Ob die Rechtmäßigkeit dieser Rechtsverhältnisse einer Rechtfertigung, einer normativen Begründung, bedarf, ist umstritten. Normative Theorien fordern für die Autorität von Recht und Staat eine Begründung. Sie schlagen als gemeinsame normative Grundlage dieser Rechtfertigung die Ansprüche auf Freiheit, auf Gerechtigkeit und auf gerechte Verfahren vor.461 Ansätze, die nicht normativ argumentieren, fordern keine gemeinsame Begründung von Recht und Staat. Sie trennen dementsprechend auch die Legalität des Rechts von der Legitimität des Staats. ›Legitimität‹ bedeutet dann, dass die Autorität des Staates Zwang auszuüben gerechtfertigt ist, sei es durch Prinzipien oder durch 232 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

den Willen der betroffenen Bürgerinnen und Bürger oder durch beides. Eine klare Trennung der Legalität von der Legitimität innerhalb des politischen Systems schlägt Carl Schmitt vor. Er reserviert das Konzept der Legitimität für die Geltung plebiszitärer und die Legalität für die Geltung parlamentarischer Entscheidungen. 462 Prinzipien wie Freiheit, Gerechtigkeit und Gewaltenteilung sind nach seiner Auffassung nicht Teil der Legitimität. Die Legitimität hat, wie er glaubt, jenseits des Mehrheitswillens, der in einem Plebiszit zum Ausdruck kommt, keine rechtliche Grundlage, sondern schafft eine solche Grundlage selbst. Legitimität und Legalität können unter dieser Voraussetzung nicht einmal innerhalb des politischen Systems eine gemeinsame normative Grundlage und dementsprechend auch keine gemeinsame Geltungsgrundlage haben. Sie konkurrieren miteinander. Carl Schmitt ist überzeugt, dass diese Konkurrenz erst seit der Aufspaltung von Legalität und Legitimität zur Zeit der monarchistischen Restauration in Frankreich (nach 1815) möglich geworden ist. Dabei wurde der Dynastie die Legitimität und dem Code Napoleon die Legalität zugeordnet.463 Seitdem gilt die Legalität, wie Schmitt meint, als rational. Sie kann aber auch, wie er im gleichen Zusammenhang schreibt, zu einer »Gangsterparole« degenerieren oder wie im Fall von Hitlers Machtergreifung gegen das geltende Rechtssystem als »Waffe« missbraucht werden.464 Liberale Theoretiker sind sich einig, dass die Autorität des Staates und die Ausübung von Gewalt durch staatliche Institutionen rechtliche Grenzen haben müssen, um Willkür zu verhindern. Diese Forderung kann aber nur dann erfüllt werden, wenn es einen wechselseitigen Bezug zwischen Legalität und Legitimität gibt. Die legitime politische Herrschaft, die Legitimität der staatlichen Autorität und die Legalität der Mittel der Herrschaft müssen auf kohärente Weise so miteinander verbunden sein, dass die Ausübung der Herrschaft rechtlich kontrollierbar und nicht willkürlich ist. Eine solche Kontrolle ist nach liberaler Überzeugung aber nur denkbar, wenn der Staat dem Recht einen normativen Vorrang einräumt. Damit ist das Verhältnis zwischen Legalität und Legitimität keineswegs geklärt. Das Problem ist nur verschoben. Der Staat, dessen Legitimität – nach Ansicht unterschiedlicher Theoretiker465 – von Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 233

der Zustimmung der Beherrschten und von der Geltung grundlegender Prinzipien466 abhängig ist, kann dem Recht keinen normativen Vorrang einräumen, wenn die Beherrschten den Rechtsverhältnissen nicht zugestimmt haben und auch nicht zustimmen würden, weil sie andere Interessen haben. Solche Interessen können wirtschaftlicher, kultureller und religiöser Art sein, haben dabei immer ein bestimmtes Gut zum Ziel, das höher bewertet wird und mehr Anerkennung genießt als die bestehenden Rechtsverhältnisse. Wenn Interessen dieser Art von den Rechtsverhältnissen nicht toleriert werden, entsteht ein Konflikt zwischen der mehrheitlich gestützten Legitimität und der formalen Legalität. John Rawls hat diesen Gegensatz als Konflikt zwischen dem Guten und dem Rechten beschrieben und mit Hilfe seines Gedankenexperiments – der fairen Entscheidung über die Güterverteilung hinter dem Schleier des Nichtwissens – auf rationale Weise zu lösen versucht.467 Wenn die Bürgerinnen und Bürger in diesem Gedankenexperiment nicht wissen, wer und was sie sind, räumen sie auf rationale Weise dem Recht und der Fairness einen Vorrang vor dem Guten ein, das von den Interessen weltanschaulich orientierter Gruppen bestimmt wird. 468 Damit legitimieren sie wenigstens im Gedankenexperiment auf rationale Weise die Herrschaft des Rechts im Staat, aber gleichzeitig auch den Vorrang der Gerechtigkeit vor allen anderen Ansprüchen. Legitimität und Legalität sind dann identisch. Die Gerechtigkeit ist gleichzeitig ein Rechts- und ein Moralprinzip. Rawls’ Lösung des möglichen Konflikts zwischen Legalität und Legitimität findet auf Seiten der Rechtspositivisten zwar das Interesse von Raz 469. Kelsen und Hart würden der Lösung von Rawls aber nicht zustimmen können, weil sie der Gerechtigkeit wie allen anderen moralischen Prinzipien keine grundlegende Bedeutung für die Geltung des Rechts einräumen. Deswegen ist Rawls’ auf ein Gedankenexperiment gestützte Lösung des Konflikts zwischen Legalität und Legitimität rechtspositivistisch irrelevant, nicht aber für Raz. Wer wie Kelsen und Hart keinen gemeinsamen normativen Nenner von Recht und Staat annehmen will, muss dem Recht die Aufgabe geben, den staatlichen Zwang zu kontrollieren und Rechtsverhältnisse zwischen den Bürgern zu garantieren. Die Legalität, die Geltung des Rechts hat damit ohne weitere Begrün234 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

dung einen Vorrang vor der Legitimität, der Geltung staatlicher Herrschaft, wenn es eine solche Geltung denn überhaupt geben soll. Bevor wir uns Kelsens Vorstellung des Verhältnisses zwischen Recht und Staat und dem damit verbundenen Verhältnis zwischen Legalität und Legitimität ansehen, gehen wir auf Joseph Raz’ eigensinnige Vorstellung dieses Verhältnisses ein. Er trennt nämlich ähnlich wie Carl Schmitt die Legalität von der Legitimität. Raz’ Trennung der Legitimität des Staates von der Legalität des Rechts entspricht seinem Interesse an einer Theorie des Liberalismus für eine pluralistische Gesellschaft. Er nimmt dabei das von J. S. Mill und Herbert Hart vertretene Schadens-Prinzip (harm principle) auf und verbindet es mit dem Freiheits-Prinzip. Der liberale Staat ist in seiner Theorie zur Sicherung der Freiheit und der Abwendung von möglichem Schaden für die Bürger verpflichtet. Er ist verpflichtet, ohne Eigeninteresse Gewalt auszuüben, wenn er ein bestimmtes Verhalten erzwingt und sanktioniert. Das Schadens-Prinzip besagt nicht nur, dass der Staat die Bürgerinnen und Bürger vor Schaden bewahren soll. Das wäre für Raz viel zu unspezifisch und missverständlich. Wie sollte der Staat etwa seine Bürger vor Schaden bewahren, wenn er gleichzeitig Steuern erhebt, wie man nickend zur Kenntnis nimmt. Der Staat hat vielmehr eine Verpflichtung, alle Hindernisse der individuellen Entfaltung der Fähigkeiten und alle Verletzungen und Schmerzen, die Bürger anderen Bürgern sei es durch physische Gewalt, sei es durch Intoleranz zufügen können, zu verhindern.470 Den Pluralismus hält Raz nur dann für möglich, wenn die Autonomie einen Wettbewerb der Werte und der Vorstellungen von Moral ermöglicht. Der Staat könne die Autonomie jedes Einzelnen fördern, indem er ihm und ihr hilft, ihre Fähigkeiten selbst zu entwickeln, sich bestmöglich zu informieren, urteilsfähig zu sein und gesund und in sicheren Verhältnissen zu leben. Der Staat soll den Bürgern also helfen, die Tugenden der Autonomie zu entwickeln. Innerhalb dieses Rahmens soll er mit seinem Gewaltmonopol alles verhindern, was dieser Entfaltung im Wege steht. Freiheit und Autonomie hält Raz für intrinsisch wertvoll. Mit der von Isaiah Berlin propagierten und oft bemühten Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit kann er nicht viel anfangen, da es ihm um die Entwicklung der Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 235

positiven Freiheit mit staatlicher Hilfe geht. Eine völlig zwangsfreie Förderung der Autonomie hält Raz für unmöglich.471 Raz fordert selbstverständlich, dass der staatliche Zwang konform mit den Gesetzen sein soll und dass die auf Autonomie bezogenen Verpflichtungen, die das Recht fordert, einzuhalten seien, weil Verstöße dagegen Menschen schaden und sie verletzen würden. Wie genau das Verhältnis der auf dem Freiheitsprinzip basierenden Legitimität des Staates zur Legitimität seiner Gewaltausübung aussehen kann, beschreibt Raz nicht. Vielleicht will er dies in einer noch ausstehenden Theorie der Institutionen klären. Es ist aber klar, dass dem perfektionierenden Interesse, dem seine Theorie dient472 , also der staatlichen Förderung der Autonomie der Individuen, der Verbesserung ihrer Moral und Lebensverhältnisse auf Seiten des Rechts, nichts gegenüber steht. Selbst wenn man wie Raz die Verbindung des Rechts mit der Moral für notwendig hält, hat das Recht selbst in einer pluralistischen Gesellschaft doch jenseits der Förderung des Wettbewerbs zwischen den Moralen keinen eigenen moralischen Zweck. Es will keine bestimmte Moral, sondern nur die Autonomie der Bürger fördern. Außerdem liegt der Geltung des Rechts nicht wie bei Rawls das Freiheitsprinzip zugrunde, obwohl auch Raz dieses Prinzip als intrinsisch wertvoll erachtet. Es bleibt daher offen, wie sich bei Raz die Legitimität des liberalen Staats zur Legalität des Rechts verhält. Raz vertritt eine normative politische Theorie ohne eine gemeinsame normative Grundlage von Recht und Staat. Legalität und Legitimität sind getrennt und dürfen dies auch sein, weil das Schadens-Prinzip für eine legale Ausübung des Zwangs sorgt und die Legitimität dafür nicht erforderlich ist. Raz ist überzeugt, dass das Recht sich selbst generiert, und findet bei Kelsen dafür die nötigen Argumente. 3.1.2 Ob Recht und Staat eine Einheit bilden

Die drei Rechtspositivisten sind überzeugt, dass sich das Verhältnis zwischen Legalität und Legitimität im Verhältnis zwischen Staat und Recht spiegelt. Kelsen, Hart und Raz glauben, dass das Recht Teil der sozialen und politischen Praxis und in diese Pra236 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

xis eingebettet und mit ihr verbunden ist. Alle drei glauben, dass das Recht sich selbst generiert. Sie sind aber geteilter Meinung, wie und auf welcher Grundlage dies möglich ist. Ein Prüfstein für die Selbstgenerierung des Rechts ist das Verhältnis zwischen Staat und Recht. Kelsens Überzeugung zum Verhältnis von Recht und Staat ist eindeutig und klar. Er glaubt anders als seine beiden Kollegen, dass Staat und Recht eine Einheit bilden und die Legalität einen Vorrang vor der Legitimität hat. Dafür argumentiert er bereits in seiner ersten großen Schrift, den Hauptproblemen der Staatsrechts­ lehre (1911)473 . In der Vorrede zur zweiten Auflage dieser Schrift (1923) fasst er seine Überlegungen zum Verhältnis zwischen Staat und Recht zusammen. Der Staat kann danach weder Quelle des Rechts noch Kriterium der Objektivität des Rechts sein. Die Einheit von Staat und Recht beschreibt Kelsen klar als »Überordnung« der Rechtsordnung über den Staat. Der Staat sei als juristische Person Teil des Ganzen der Rechtsordnung.474 Eine mit dem Recht konkurrierende eigene normative Ordnung des Staats lehnt Kelsen ab. Es kann für ihn nur eine Art von Geltung geben, nämlich die des Rechts. Zwischen Legalität und Legitimität gibt es, was den Anspruch auf Geltung angeht, keine Konkurrenz. Legitim kann nur das sein, was der Legalität entspricht. Nur der staatliche Zwang, der rechtmäßig ist, kann legitim sein. Kelsens These von der Einheit von Recht und Staat gibt der Geltung der Rechtsordnung einen Vorrang, der konkurrierende normative Ordnungen wie die Moral in den Hintergrund treten lässt. Dies ist ordnungstheoretisch plausibel, weil kein moralisches Gebot ähnlich zwingend wie das Recht sein kann. Die Geltung des Rechts und die Geltung moralischer Forderungen haben in Kelsens Argumentation keine gemeinsame Grundlage. Auch dies erscheint plausibel, weil Verstöße gegen das eine und das andere unterschiedliche Folgen haben. Verstöße gegen rechtliche Gebote können durch Institutionen des Rechts geahndet werden. Dagegen können Verstöße gegen moralische Gebote zwar sozial in Form von Empörung oder gar Verachtung und in Form von Schuldvorwürfen sanktioniert werden, und die davon Betroffenen mögen sich dann schämen  – oder auch nicht, aber darin erschöpft sich die ungeschriebene und mehr oder weniger klare Sanktion, ohne dass sie wirklich zwingend im Sinn einer gewaltsamen Durchsetzung Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 237

von Strafe wäre. 475 Auch das Naturrecht grenzt Kelsen aus dem Geltungsbereich des Rechts aus, weil die Grundlagen von dessen Normen jenseits dessen liegen, was rechtstheoretisch begründet werden kann. Die Abgrenzung des Rechts von Moral und Naturrecht hat unmittelbar die Folge, dass Gerechtigkeit kein Anspruch ist, dem das Recht in seinen Augen prinzipiell unterworfen wäre. Kelsen schränkt zwar ein, dass es durchaus eine inhaltliche Verbindung des Rechts mit der Gerechtigkeit und der Moral gebe. Sie dürfe aber nicht so verstanden werden, dass das Recht Forderungen der Moral oder der Gerechtigkeit unterworfen wäre. Als Grund führt Kelsen an, dass eine Unterordnung des Rechts unter moralische Forderungen die Güte des Rechts einem absolut gültigen Verständnis des Guten unterwerfen und damit letztlich eine unkritische Legitimierung einer politischen Zwangsordnung fördern würde.476 Kelsen meint, für die Güte des Rechts gebe es lediglich formale, aber keine inhaltlichen Kriterien.477 Rawls’ Lösung der Spannung zwischen Legalität und Legitimität kann rechtspositivistisch nicht relevant sein, weil er die Gerechtigkeit dem Rechten zugrunde legt. Es gibt aber eine überraschende Ähnlichkeit zwischen Rawls und Kelsen. Beide wollen Vorstellungen des Guten in Gestalt moralischer oder religiöser Überzeugungen dem Rechten unterordnen, um den politischen und rechtlichen Streit um das Gute zu vermeiden und das Leben in einer pluralistischen Gesellschaft möglich zu machen. Im Ergebnis sind sich Kelsen und Rawls einig. Uneinig sind sie sich, was das Verhältnis zwischen Recht und Moral angeht. Wenn wir nach Gründen für die Uneinigkeit suchen, stellen wir fest, dass zwei Fragen offen sind. Die eine betrifft die These des Vorrangs des Rechten vor dem Guten, die andere das Verhältnis zwischen Recht und Moral. Es ist unklar, ob jene These – wenn sie überhaupt einen klaren Gehalt hat – zwingend ist. Ebenso unklar ist, ob die Moral, so wie Kelsen meint, vom Recht zu trennen ist. Ein Grund für Kelsen, das Recht von der Moral zu trennen, liegt in seinem Vorbehalt gegenüber der Bedeutung von Werten in der Rechtsordnung, ein Vorbehalt, den er trotz sonstiger Gegensätze mit Carl Schmitt478 teilt. Kelsen vertritt einen Wertrelativismus, der teilweise historischer Natur ist. Er wendet sich – wie Schmitt479 – gegen die Wert238 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

philosophie der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus. Die Normativität des Rechts soll nicht von außerrechtlichen Werten abhängig sein. 480 Der Vorteil dieses Relativismus ist die methodische Unabhängigkeit des Rechts, der Nachteil ein Wertrelativismus und in dessen Gefolge eine argumentative und kognitive Unzugänglichkeit und letztlich Bedeutungslosigkeit von Werten als Grundlagen von Rechtsnormen.481 Wir werden später auf Kelsens Wertrelativismus zurückkommen. Noch geht es darum, ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist. Kelsens eindeutiger Vorrang der Legalität vor der Legitimität, ausgedrückt in der Einheit von Recht und Staat, ist die am weitesten reichende Folge dieser Annahme, aber keine Begründung dafür. 3.1.3 Ob eine rein positive Rechtsgeltung möglich ist

Die für den Rechtspositivismus entscheidende Frage, ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist, kann mit Kelsens Argumenten für die Einheit von Recht und Staat nicht beantwortet werden. Die Frage hängt offenbar davon ab, ob die Rechtsgeltung von der Moral unabhängig ist, denn nur dann, wenn die Rechtsgeltung von der Moral unabhängig ist, kann es eine rein rechtliche Geltung geben. Die Überzeugungen der Rechtspositivisten sind in dieser Frage gespalten. Hart sieht wie Raz 482 , aber gegen Kelsen eine Verbindung des Rechts mit der Moral, die auch der Rechtsgeltung zugrunde liegt. Notwendig sei die Verbindung, wie Hart meint, weil es eine moralische Verpflichtung im weitesten Sinn gebe, dem Recht zu gehorchen. Anders als Kelsen betrachtet Hart die gesamte normative Sphäre regeltheoretisch, also beherrscht von unterschiedlichen Arten von Regeln, die sprachlicher, sozialer, moralischer oder rechtlicher Art sind und auch teilweise übereinstimmen können, aber nicht müssen. Was nach seinem Urteil rechtliche Regeln von allen anderen unterscheidet, ist aber, dass sie in einem rationalen Abwägungsprozess eingeführt, verändert oder außer Kraft gesetzt werden können.483 Hart sieht eine Reihe von wechselseitigen Einflüssen zwischen Recht und Moral. Die Gesetzgebung könne etwa moralische Regeln außer Kraft setzen oder die Moral trage wesentlich zur Kritik des Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 239

Rechts bei und beeinflusse sogar die Gesetzgebung. 484 Aber auch Hart hält daran fest, dass das Positive Recht moralischen Forderungen nicht unterworfen sei. Das Naturrecht grenzt Hart nicht so scharf wie Kelsen vom Positiven Recht ab.485 Das Verhältnis zwischen Recht und Moral ist bei Hart sehr viel offener und wechselseitig einflussreicher als bei Kelsen. Beide Autoren gehören unterschiedlichen Rechtstraditionen an. Der Bezug der Rechtsprechung zu sozial vorherrschenden moralischen Überzeugungen hat für Hart eine größere Bedeutung als für Kelsen. Beide Rechtspositivisten vertreten einen ähnlichen Begriff des Positiven Rechts. Die Unterschiede werden aber bei den Grundlagen des Rechts deutlich. Kelsen führt die Geltung des Rechts auf eine Grundnorm zurück, die selbst keine Norm des Positiven Rechts ist, also – in seiner Theorie – nicht vom Willen eines Gesetzgebers abhängt. Sie sei ein »geistiges Konstrukt«, das wie ein »trans­ zendental-logischer« Begriff aufgefasst werden müsse.486 Welche Bedeutung dieses Konstrukt für die Geltung des Rechts hat, sei an seinem Einfluss auf rechtliche Normen erkennbar. Kelsen versteht Normen als »Bedeutungen von Willensakten«.487 Vor der zweiten Auflage seiner Reinen Rechtslehre lehnt Kelsen die Willenstheorie488 noch ab, danach spielt sie aber eine grundlegende Rolle. Die Grundnorm selbst basiert auf keinem Willensakt, transformiert aber Normen als subjektive Willensakte in objektiv geltende Normen. Die Grundnorm soll ähnlich reflexiv wie Kants transzendentale Deduktion wirken, ist aber von ähnlichen Problemen belastet.489 Die Grundnorm beansprucht im Prozess der Begründung der Rechtsgeltung das letzte, nicht weiter begründbare, unabgeleitete Kriterium zu sein. Darin ähnelt sie Kants Apperzeption, die ihrerseits die unabgeleitete Grundlage aller Erkenntnisurteile sein soll. Die Grundnorm transformiert subjektive Willensakte in objektiv geltendes Recht und regelt damit die Schaffung, die Schöpfung (creation) des Rechts.490 Anders als Harts real existierende Erkenntnisregel ist das Fundament der Grundnorm ein »geistiges Konstrukt«491 in der Rechtstheorie. Sie fungiert in Kelsens Denken, wie Horst Dreier formuliert, »als Platzhalter der Idee der Normativität«.492 Kelsen vertritt allerdings zwei miteinander nicht übereinstimmende Auffassungen der Grundnorm. In der einen beruht sie auf 240 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

den Tatsachen, durch die eine Rechtsordnung geschaffen wurde und mit denen das Verhalten der Bürger übereinstimmt.493 In der anderen ist sie eine Art transzendentales Argument, das speziell für den normativen Anspruch der Geltung konstruiert ist. Als Argument dieser Art kann es nur eine Grundnorm in Gestalt eines Arguments geben, wo immer es zur Begründung der Normativität des Rechts angewandt wird. Wenn die Grundnorm aber »eine normative Interpretation bestimmter Tatsachen«494 ist, wird sie inhaltlich von den erwähnten Tatsachen abhängig. Dann gibt es nicht nur ein einziges Argument für die Normativität, sondern viele. Während das singuläre, quasi-transzendentale Argument erdacht, also konstruiert ist, sind die Grundnormen, die den Gesetzen real zugrunde gelegt werden können, »nicht das beliebige Produkt juristischer Vorstellungskraft«.495 Erwähnenswert sind diese beiden Auffassungen der Grundnorm, weil sich Joseph Raz in seiner Verteidigung der Grundnorm lediglich auf die erste, die pluralistische Version bezieht und die quasi-transzendentale, wenn überhaupt, dann ohne Kommentar zur Kenntnis nimmt. Bezogen auf Kelsens General Theory of Law and State stellt Raz fest, dass der Inhalt der Grundnorm variiert, dass keine zwei Grundnormen denselben Gehalt haben können.496 Im Hintergrund dieser pluralistischen Auffassung der Grundnorm steht Raz’ Ablehnung von Kelsens These der Einheit des Rechtssystems. Raz meint, dass die Bedeutung der Grundnorm vom Scheitern dieser These unberührt bleibe.497 Abgesehen davon versteht Raz die Intention der Grundnorm aber durchaus auch quasi-transzendental, wenn er sie als nicht-faktischen, nicht positivrechtlichen Ausgangspunkt der Geltung des Rechts und als vom Rechtsbewusstsein vorausgesetzt, aber nicht geschaffen interpretiert.498 In unserem Sinn müsste sie zum Bereich des NichtReflexiven gehören. Raz hätte auf Kelsens späte Auffassung der Rolle des Willens eingehen können, weil sie die Bedeutung der Grundnorm in Richtung seiner eigenen Interpretation verändert. Die Integration der Willens- in die Geltungstheorie vertieft den reflexiven Charakter von Kelsens Geltungstheorie. Gleichzeitig relativiert die Willenstheorie die quasi-transzendentale Funktion der Grundnorm, weil nun der verfassungsgebende Wille über das, was die Mitglieder Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 241

eines Parlaments wollen499 und in Gestalt einer »historisch ersten Verfassung« der Geltung des Rechts zugrunde liegt, eine vom Recht unabhängige Tatsache ist, auf die sich die Grundnorm bezieht.500 Damit wird die geltungstheoretische Bedeutung der Grundnorm unklar, wie Horst Dreier zu Recht bemerkt.501 Es sieht nun so aus, als würde sie nach der historischen Tatsache der ersten Verfassung deren Geltung nachträglich begründen. Dies ist auch ein Einwand gegen die pluralistische Version der Grundnorm. Kelsen dürfte allerdings selbst nicht die pluralistische, auf Tatsachen bezogene Version der Grundnorm akzeptieren, weil er – analog zu seinem Dualismus zwischen Sein und Sollen  – Tatsachen scharf von Normen trennt. Für diesen Dualismus kann Kelsen nur die verbreitete – u.a. von Sensualisten wie Hume und dem frühen Carnap gestützte – Intuition geltend machen, dass Sein und Sollen deswegen zu trennen seien, weil aus Sein kein Sollen folge. Wie wir oben sahen, ist dieser Dualismus nicht zu begründen und unhaltbar. Die Dualismen zwischen Sein und Sollen, Tatsachen und Werten etc. liegen der erwähnten Ansicht, dass ›Geltung‹ und ›Wahrheit‹ keinen gemeinsamen Geltungsbegriff hätten und dass die Geltung einer Norm »niemals eine Tatsache« sein könne, zugrunde.502 Kelsen verteidigt seine Dualismen nachdrücklich. Normen und Imperative seien Willensakte und als solche von Aussagen zu unterscheiden. Entsprechend gelten, wie er meint, auch das Widerspruchsprinzip und die Aussagenlogik für Normen nicht.503 Ähnlich erratisch ist seine Ansicht, dass Willensakte keine Denkakte und deswegen Normen auch keine Aussagen sein könnten.504 Ähnliche Dualismen sind in der Rechtsphilosophie nicht ungewöhnlich.505 Hart entwickelt eine andere, von diesen Problemen unbelastete Geltungstheorie. Er kennt Kelsens Grundnorm und beruft sich auch wiederholt auf ihn, aber nicht auf sie.506 Die Grundnorm ist ihm aber, so der Eindruck, aufgrund ihres quasi-transzendentalen, fiktiven Charakters offenbar nicht geheuer. Stattdessen führt er – konsequent als Regeltheoretiker – die Geltung des Rechts auf eine Erkenntnis-Regel (rule of recognition) zurück. Im Rahmen von Harts Regeltheorie handelt es sich dabei um eine sekundäre Regel, die es möglich macht, primäre Regeln (Verpflichtungen) zu identifizieren. Diese sekundäre Regel muss allerdings sozial akzeptiert 242 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

und im gesamten Regelsystem enthalten sein, und dies bedeutet, dass es Kriterien für primäre, zwingende Regeln geben muss, etwa einen autoritativen Text, Akte der Gesetzgebung, eine sittliche Praxis (customary practice) und die Präzedenz. Alle diese Kriterien gehören zur Erkenntnisregel.507 Hart versucht, alle Aspekte der reichhaltig von Regeln bestimmten Rechtsordnung bei der Rechtfertigung dieser Ordnung zu berücksichtigen.508 Eine Verfassung und die auf ihr beruhende Rechtsprechung können danach insgesamt als Erkenntnisregel verstanden werden, weil sie die Grundlage für die Geltung bestimmter, rechtlich verbindlicher Urteile bilden. Hart deutet die Erkenntnisregel im Zusammenhang des englischen Rechts, in dem die – ungeschriebene  – Verfassung ihre Rolle nur über die Rechtsprechung und Gesetzgebung spielen kann. Dementsprechend ist die Erkenntnisregel auch nicht positiv festgeschrieben, sie zeige sich allerdings, wie Hart betont.509 In unserem Sinn gilt die Erkenntnisregel daher unabgeleitet. Ein Rechtssystem ist nach Harts Urteil dann insgesamt gültig, wenn es alle Kriterien der Erkenntnisregel erfüllt. Das letzte und höchste Kriterium der Geltung ist dann die Inkraftsetzung (enactment) durch die Gesetzgebung.510 Harts Erkenntnisregel soll als real existierendes und wirksames Regelsystem verstanden werden. Die Erkenntnisregel wirkt nicht reflexiv wie die Grundnorm, ist kein gedachtes Konstrukt, sondern beruht auf dem, was der Gesetzgeber tatsächlich in Kraft gesetzt, was er außer Kraft gesetzt und was er bisher entschieden hat (Präzedenz). Die Geltung des Rechts entsteht, emergiert sozusagen im Prozess der Gesetzgebung und Rechtsprechung, ohne dass dies eigens von irgendjemandem gewollt, gesagt oder thematisiert werden muss. Die Geltung des Rechts zeigt sich in der Rechtspraxis, wie sich die Geltung von Sprachregeln in der Praxis des Sprechens zeigt. Die Rechtspraxis ist in Harts Theorie der letzte Grund der Geltung des Rechts. Hart könnte sich, was das Sich-Zeigen und die Bedeutung der Praxis angeht, sowohl auf den frühen als auch auf den späten Wittgenstein berufen. Das Sich-Zeigen ist, wie Wittgenstein im Tracta­ tus erklärt, vom Sagen zu unterscheiden. Das Sich-Zeigen ist das Merkmal, das die Unterscheidungen zwischen unabgeleiteten und abgeleiteten Geltungen und zwischen nicht-reflexiven und refleOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 243

xiven Geltungsgrundlagen ermöglicht. Entscheidend ist, dass das Sich-Zeigen nicht reflexiv ist, weil es nicht vom selbstbewussten Denken von Subjekten abhängig ist. Deswegen führt das SichZeigen in keinen Zirkel oder Regress bei der Grundlegung dessen, was gilt. Hart könnte sich auch auf Wittgensteins Verständnis der Praxis des Gebrauchs von Regeln in den Philosophischen Untersu­ chungen berufen. Welches Regelfolgen richtig ist, entscheidet sich in der Praxis.511 Harts Geltungstheorie hat eine solide, nicht-reflexive, unabgeleitete Grundlage in der Praxis der Rechtsprechung. Natürlich kann sich die Geltung des Rechts in der Rechtspraxis nur zeigen, wenn sie, wie Hart immer wieder betont, in ein rechtsstaatliches politisches System eingebettet ist. Auch dies ist ein Vorzug von Harts regeltheoretischer Auffassung von Geltung. Hart könnte sich, was die Bedeutung der Rechtspraxis für die Geltung des Rechts angeht, auch auf Carl Schmitt beziehen. Schmitt geht es um die Frage, wann eine Entscheidung in der Rechtspraxis richtig ist. Seine Antwort ist, »daß die Rechtspraxis selbst darüber entscheide«.512 Natürlich kommt es darauf an, was der Verweis auf die Praxis als Geltungsgrundlage konkret bedeutet. Schmitt und Wittgenstein sehen beide in der Praxis – der Rechtsprechung bzw. des Sprachgebrauchs  – die Grundlage für eine Antwort auf die Frage, welche Entscheidung richtig ist respektive was es heißt, beim Sprechen Regeln richtig zu folgen. Die Zusammenhänge, in denen die Praxis über die Richtigkeit entscheidet, sind offensichtlich verschieden. Dennoch berühren sich die beiden Verweise auf die Praxis in einigen Hinsichten. Schmitt meint, dass der Nachweis der Richtigkeit einer richterlichen Entscheidung weder historisch-genetisch, noch empirisch-wissenschaftlich, noch normativ geführt werden könne. 513 Ähnlich meint Wittgenstein, dass die Entscheidung darüber, welches Regelfolgen richtig ist, weder theoretisch begrifflich noch genetisch im Anschluss an früheres Regelfolgen geführt werden könne. Schmitts Kriterium der Richtigkeit einer Entscheidung ist, »daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte«. 514 Für dieses Kriterium finden wir bei Wittgenstein zwar keine unmittelbare, aber doch eine mittelbare Entsprechung. Er ist überzeugt, dass andere den Regeln ebenso folgen wie wir selbst und wir uns genau deswegen auch verstehen. Wittgenstein würde Schmitts Überzeugung, dass die Praxis sich »durch sich selbst«515 244 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

rechtfertigt, zwar verstehen, den Gedanken der reflexiven Rechtfertigung aber ablehnen, weil sich der richtige Sprachgebrauch nach seinem Urteil nur zeigt, aber nicht gerechtfertigt werden kann. Harts praxisbezogene Auffassung der Geltung des Rechts ist konkreter und anschaulicher als Kelsens Grundnorm. Dennoch steht und fällt Kelsens Theorie weder mit der Grundnorm noch mit seinen unhaltbaren Dualismen. Seine Überzeugungen, dass die Befolgung einer Norm keine logische Folgerung ist, dass die Logik im Unterschied zum Recht nicht zwingt und dass der Wille, etwas zu tun, keine logische Folge eines beabsichtigten Zwecks ist, obwohl die Handlung ein notwendiges Mittel ist, den Zweck zu erreichen, sind begründet. 516 Die Befolgung eines Imperativs setzt immer den Willen dazu voraus. Auch in dieser Hinsicht ist das Recht geltungstheoretisch – anders als Kelsen dies meint – kein eigenes, von anderen Bereichen in Theorie und Praxis begrifflich verschiedenes Gebiet. Wie der ›Wille‹ zu verstehen ist und wie der Wille von Personen und der Wille eines Gesetzgebers zu unterscheiden sind, werden wir eigens untersuchen. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass der Wille geltungstheoretisch bedeutsam und – wie wir später sehen – nicht nur ein psychologisches Phänomen ist. Offensichtlich haben Kelsen und Hart sehr verschiedene Vorstellungen von der Geltung des Rechts. Joseph Raz macht bei beiden Anleihen und integriert sie in seine eigene Geltungstheorie.517 Er argumentiert wie Hart regeltheoretisch, versteht das System der Geltung aber im Geiste Kelsens als verbindende Klammer aller geltenden Rechtsregeln. 518 Ähnlich wie Kelsen ist Raz überzeugt, dass nur geltende Regeln auch existieren. Stärker als Kelsen und Hart betont Raz die – positivistische – Abhängigkeit der Geltung von der tatsächlichen Existenz von Regeln und umgekehrt. Nicht geltende Regeln seien keine Regeln, stellt er lapidar fest. 519 Er vermeidet einen Zirkel der Erklärung der Geltung jeder einzelnen Regel durch das Rechtssystem und umgekehrt des Rechtssystems durch die Geltung jeder Regel, indem er der Geltung der Regeln einen Vorrang vor dem System zubilligt. Kelsen könnte dem kaum zustimmen. Die Geltung des Rechts erschöpft sich für Raz nicht in der Zugehörigkeit zu einem Rechtssystem. Die beiden Begriffe des Rechtssystems und der Rechtsgeltung sind, wie er meint, teilweise unabhängig voneinander.520 Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 245

Raz stützt sich nicht nur auf die Ansätze von Kelsen und Hart, sondern entwickelt seine eigene Geltungstheorie des Rechts als Normentheorie. Diese eröffnet er mit einer genauen und detaillierten Analyse von Handlungsgründen. Gründe sind für Raz Tatsachen, die mit unterschiedlicher Stärke das menschliche Handeln bestimmen.521 Er vertritt keinen Wertrelativismus, denn auch Werte sind nach seiner Überzeugung Tatsachen und Handlungsgründe. 522 Gründe können miteinander unverträglich sein, sich wechselseitig ausschließen und unterschiedlichen Ordnungen angehören. Über die »ausschließenden Gründe«, besonders gut erkennbar als ›Befehle‹, nähert sich Raz den Normen als den verbindlichen und geltenden Handlungsgründen. Entscheidend an diesen und allen anderen Handlungsgründen ist, dass sie für die Akteure nur dann wirkliche Handlungsgründe sind, wenn sie an deren Geltung glauben.523 Ein Grund, Raz’ Normentheorie zu thematisieren, ist seine Dis­ tanz zu Hart. Er kritisiert Harts »Praxis-Theorie der Normen«. Wie erwähnt ist Hart überzeugt, dass Regeln nicht nur das Rechtssystem, sondern auch die Praxis der Rechtsprechung bestimmen. Dem widerspricht Raz entschieden. 524 Als entscheidendes Defizit der Regelauffassung Harts identifiziert Raz deren Mangel an Normativität.525 Beim Verständnis des Rechtssystems komme es darauf an, zu verstehen, was »Gebotsnormen« sind. Raz stützt sich geltungstheoretisch auf Kelsen. Tatsächlich kann er sich geltungstheoretisch kaum auf Hart berufen. Den Gedanken, dass es eine reine Rechtsgeltung gibt, dass das Recht seine eigene Geltung und seine eigene Entstehung regelt, übernimmt Raz von Kelsen.526 Mit dem Gedanken des Nachweises der rechtlichen Geltung durch eine Regel, die Anerkennungs-Regel, folgt Raz dagegen wieder Hart. Durch die Verbindung beider Positionen wird der positivistische Charakter der Rechtstheorie klarer. Eine Regel des Rechts sei dann und nur dann gültig, wenn sie normativ die Folgen habe, die sie zu haben vorgibt, und sie sei dann und nur dann rechtsgültig, wenn sie zu einem Rechtssystem gehöre, das tatsächlich in Kraft und durchsetzbar sei. Geltung setze Mitgliedschaft (im Rechtssystem) und Durchsetzbarkeit voraus.527 Immer wieder betont Raz den Charakter des Rechts als sozialer Tatsache und die Herkunft der Rechtsregeln von autoritativen 246 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Akten, von den parlamentarischen und kommunalen Organisations- und Verwaltungsstrukturen von Gesellschaften, einschließlich der Gerichte und der Rechtsprechung auf unterschiedlichen Ebenen. Er sieht in der sozialen Wirksamkeit (efficacy) einen wesentlichen Aspekt der Existenz und Geltung des Rechts. Auf diesem Hintergrund ist seine Grundüberzeugung zu verstehen, dass Recht nur geltendes Recht und nicht geltendes Recht kein Recht sei.528 Die drei Rechtstheoretiker glauben an eine reine Rechtsgeltung, verstehen darunter aber Verschiedenes. Kelsen bleibt mit seiner transzendentalen Version der Grundnorm allein. Hart bleibt mit seiner reinen Regeltheorie ebenfalls allein. Raz verbindet Harts Regeltheorie mit der nicht-transzendentalen Version von Kelsens Grundnorm in seiner eigenen Normentheorie. Eine ontologische Geschlossenheit der Rechtsgeltung vertritt allein Kelsen mit der Einschränkung, dass seine Grundnorm nicht Teil des Rechtssystems, sondern die Voraussetzung seiner Geltung ist. Raz glaubt wie Kelsen an eine reine Rechtsgeltung, integriert aber  – gegen Kelsen – Moral und Recht mit Hilfe seiner Konzeption von Freiheit und Gerechtigkeit. Sein Ansatz ist deswegen und weil er nur geltendes Recht für Recht hält, nicht ontologisch geschlossen. Harts Regeltheorie widerspricht grundsätzlich einer ontologischen Geschlossenheit, weil sie sich auf die existierenden sozialen und politischen Regeln stützt, deren Geltung sich zeigt. Die drei Versuche, die Möglichkeit einer reinen Rechtsgeltung nachzuweisen, scheitern aus unterschiedlichen Gründen. Die Unterschiede zwischen den Autoren zeigen, dass es den Rechtspositivismus als einheitliche Rechtstheorie so wenig gibt wie die Theorie der reinen Rechtsgeltung. Die Möglichkeit einer reinen Rechtsgeltung scheitert an der geltungstheoretischen Reflexivität, mit der eine ontologische und argumentative Geschlossenheit erreicht werden soll, auf deren Grundlage sich das Recht selbst generieren könnte. Alle drei Autoren sehen nicht-reflexive politische oder soziale Voraussetzungen des Rechts, die sie aber nicht als Voraussetzungen der Rechtsgeltung verstehen wollen. Deswegen hat auch der Zusammenhang zwischen dem, was unabhängig vom Recht der Fall ist und was durch das Recht sein soll, für den Rechtspositivismus keine geltungstheoretische Bedeutung. Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 247

Den Gedanken, dass das Recht sich selbst generiert, verstehen die drei Theoretiker primär geltungstheoretisch, aber auch prozedural. Sie bezweifeln nicht, dass Parlamente neue Gesetze schaffen, alte ergänzen und verändern und dass die Rechtsentwicklung und die Rechtsprechung von sozialen und politischen Entwicklungen abhängig sind. Rechtspositivisten behaupten nicht, dass die Genese des Rechts ontologisch oder argumentativ geschlossen und unabhängig von solchen Entwicklungen ist. Sie ignorieren nicht, dass das Recht – also das, was sein soll – einen Bezug zu dem hat, was in einer Gesellschaft der Fall ist. Sie glauben aber, dass die Rechtsetzung und damit auch die Rechtsgeltung prozedural unabhängig von Bedingungen sind, die nicht selbst schon rechtliche Natur sind. Die Geltung des Rechts ist, wie sie glauben, von dem getrennt, was ist. Die Rechtsgeltung hat für alle drei Rechtspositivisten Vorrang vor der Genese des Rechts. Sie sind sich aber uneins, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. 3.1.4 Ob die Interpretation des Rechts seine Geltung begründet

Diese Uneinigkeit weist auf das ungeklärte Verhältnis zwischen Geltung und Genese hin und lädt zur Kritik ein. Kelsens Grundnorm provoziert Widerspruch oder Unverständnis, ähnlich wie Harts regeltheoretische Auffassung des Rechts. Harts Nachfolger in Oxford, Ronald Dworkin, kritisiert den Rechtspositivismus in Gestalt von Harts Regeltheorie. Seine Alternative ist eine Interpretationstheorie des Rechts. Er versteht die Rechtsgeltung als Ergebnis der Rechtsprechung, die das Recht interpretiert, und Recht und Rechtsprechung sind für ihn integrale Bestandteile der sozialen Praxis. Dworkin glaubt auch, dass dem Recht und der Rechtsprechung moralische Prinzipien zugrunde liegen.529 Sie fließen, wie er an Urteilen des amerikanischen Supreme Courts zeigen will, in die Rechtsprechung ein.530 Die Moral und das Common Law gehören mit ihren Prinzipien, wie Dworkin glaubt, zum real existierenden normativen Ganzen. Deswegen folgt das, was durch die Rechtsprechung sein soll, aus dem, was ist. Soweit sich Dworkins Kritik gegen Hart und die regeltheoretische Auffassung des Rechts richtet, ist der Rechtspositivismus nicht 248 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

als ganzer von ihr betroffen. Raz glaubt wie Dworkin, dass Recht und Moral eine Einheit bilden. Lediglich Kelsen und Hart glauben das nicht. Dworkins Gedanke der Integrität des Rechts richtet sich aber gegen den Rechtspositivismus insgesamt, weil er nicht glaubt, dass das Recht sich selbst generieren kann. Sein Integrations-Gedanke unterläuft die Unterscheidung zwischen der Genese und der Geltung des Rechts. Genau genommen ist für Dworkin die Rechtsgeltung keine Frage des Rechts, sondern der Moral. Er argumentiert gegen die Regeltheorie und deren geltungstheoretische Grundlegung in einer Erkenntnisregel und weitet seine Kritik auf Harts These aus, dass es in der Rechtsprechung einen Ermessensspielraum bei Entscheidungen gibt, der abweichende Entscheidungen erklärt.531 Grundlage seiner Kritik ist der Unterschied, den Dworkin zwischen Prinzipien und Regeln macht. Die Prinzipien des Common Law dürfen, wie er zu Recht meint, nicht als etablierte rechtliche Regeln verstanden werden. Er versäumt es aber, den geltungstheoretischen Unterschied zwischen Prinzipien und Rechtsregeln zu klären. Die Geltung von Prinzipien, die etwa im Common Law überliefert und deswegen gefunden und nicht geschaffen werden, ist eine andere als diejenige positiver Rechtsregeln. Weil es, wie wir sahen, keine Kriterien der Identität von Prinzipien gibt und sie offene Bedeutungen haben, gibt es auch einen Spielraum des Ermessens bei deren Auslegung. Dworkin kann daraus keinen wirklich überzeugenden Einwand gegen den Rechtspositivismus ableiten. 532 Dworkins Kritik am Rechtspositivismus hängt an seiner engen Auslegung von Harts Auffassung, dass das Recht aus einer Menge sozialer Regeln besteht, deren Geltung einer Erkenntnisregel zu verdanken ist. Er will die Rechtspositivsten nicht nur auf einen engen Regelbegriff festlegen, nach dem Regeln immer ähnlich festgeschrieben sind wie beliebige Spielregeln. Er behauptet darüber hinaus, Hart interpretierend, dass die Erkenntnisregel ein letzter Test zur Überprüfung der Geltung des Rechts sei.533 Diese Ansicht ist aus zwei Gründen unzutreffend. Zum einen muss Hart nicht unbedingt, wie Dworkin meint, Prinzipien des Common Law aus dem Regelkanon des Rechts ausschließen. Er müsste lediglich den Regelcharakter dieser Prinzipien klären. Dann bliebe allerdings immer noch die Differenz zwischen Moral und Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 249

Recht übrig, die Dworkin bestreitet. Zum andern versteht Hart die Erkenntnisregel nicht als Test, sondern als Grundlage der Geltung des Rechts. Diese Grundlage ist nicht explizit formuliert, erweist sich aber dennoch in der Rechtspraxis, wie Hart glaubt, als trag­ fähig. Sie ist nicht-reflexiver Natur, weil sie sich in der Praxis zeigt. Wenn Dworkin Harts Auffassung, dass sich die Geltung des Rechts in der Rechtspraxis zeigt, ernst nehmen würde, müsste er erkennen, dass das, was sich zeigt, gerade kein Test ist. Ein Test ist eine Prüfung, die immer zweierlei voraussetzt, einen existierenden Maßstab und einen Vergleich des Neuen mit dem Alten. Der Rechtspraxis liegt aber kein expliziter, bereits festgelegter Maßstab zugrunde, weil sie selbst ein Maßstab im Werden ist und von Fall zu Fall zeigt, was gilt. Wäre die Praxis ein Geltungstest, wäre ein Regress unvermeidbar, weil die Geltung des Vergleichsmaßstabs bei jedem Test offen wäre und selbst geprüft werden müsste. Das Missverständnis der Erkenntnisregel als Test schwächt Dworkins Kritik am Rechtspositivismus. Sein Dissens mit Hart hängt am Ende an der Frage, ob das Recht eine moralische Grundlage hat. Dworkins Argumente für diese Grundlage und gegen die Trennung des Rechts von der Moral 534 sind überzeugend, aber kein durchschlagender Einwand gegen den Rechtspositivismus, da auch Raz gegen jene Trennung ist. Die Geltung des Rechts wird in Law’s Empire indirekt doch noch Dworkins Thema. Dabei nähert er sich Harts Praxis-These noch mehr an, ohne dies allerdings wahrzunehmen. 535 Im ersten Satz dieses Buches sagt er, es komme darauf an, wie Richter Fälle entscheiden. Es geht ihm nicht direkt um die Geltungsfrage, sondern darum, wie der Dissens bei rechtlichen Entscheidungen in der Praxis theoretisch zu klären ist 536 und wie die Uneinigkeit und die Widersprüche bei juristischen Entscheidungen überhaupt möglich sind. Er geht davon aus, dass gerichtliche Entscheidungen fortwährend das Recht verändern, und zwar nicht nur marginal, sondern hin und wieder auch im Kern.537 Dabei soll, wie er meint, die Geltung des Rechts auch bei Uneinigkeit und Dissens stabil und zuverlässig sein. Ohne Zweifel liegt auch den Rechtspositivisten etwas daran. Dworkin meint aber, dass sie sich dabei auf die untaugliche Grundlage identischer Bedeutungen von Rechtsgrundlagen verlassen, was sie aber gar nicht tun.538 250 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Die in der Tat unhaltbare These der Identität von Bedeutungen vertreten Positivisten wie Carnap, aber keiner der drei hier diskutierten Rechtspositivisten. Dworkin sieht in der Hermeneutik, wenn sie nicht mentalistisch und subjektivistisch verstanden wird, eine methodische Grundlage seiner Interpretationstheorie.539 Die gemeinsame, öffentliche Praxis einer Interpretationsgemeinschaft soll den Subjektivismus verhindern. Diese Gemeinschaft teilt mehr oder weniger alle für die Rechtsprechung relevanten Annahmen bei gleichzeitigem Dissens darüber, was sie im Einzelfall bedeuten.540 Uneinigkeit ist möglich, weil in der Interpretation viel grundsätzliche Einigkeit, aber kein Konsens vorausgesetzt wird. Die Richter müssen sich darüber mehr oder weniger einig sein, was als ›Praxis‹ gilt und welche moralischen Überzeugungen richtig oder falsch sind. Ob die Interpretationsgemeinschaft genügend gemeinsame moralische Überzeugungen hat, hält Dworkin selbst für zweifelhaft. Er glaubt aber, dass den meisten Richtern und Anwälten klar ist, dass einige Formen der sozialen Praxis besser als andere sind.541 Die Prinzipien des Common Law und die Präzedenz von Entscheidungen sollen eine kohärente Rechtspraxis bilden, die ihrerseits mit der sozialen und politischen Praxis übereinstimmen soll. 542 Der Grundgedanke dabei ist die schon erwähnte Integrität des Rechts (»law as integrity«).543 Sie soll der Maßstab und wie bei einer integren Person moralisch fundiert sein. ›Integrität‹ bedeutet aber auch so viel wie ›kohärentes Ganzes‹ und hat neben der moralischen eine interpretative Komponente. Die Integrität des Rechts, die Integrität der Urteilsbildung in der Rechtsprechung und die Integrität einer gesetzestreuen Politik sollen insgesamt ein kohärentes Ganzes bilden. 544 Die Geltung und die Genese des Rechts werden in der Integrität der Urteile ununterscheidbar. Dworkins Integritäts-Gedanke ist keine geltungstheoretische Alternative zum Rechtspositivismus, weil er die Geltung nicht von der Genese des Rechts unterscheidet. Ohne diese Unterscheidung ist aber unklar, wann und warum welches Recht gilt. Dworkin bleibt dem Integritäts-Gedanken in Justice for Hedgehogs treu und verallgemeinert ihn. 545 Nicht mehr nur das Recht und die Rechtsprechung, sondern das Normative insgesamt sollen ein integres Ganzes bilden. Dworkin entwickelt eine umfassende Theorie der Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 251

Einheit von allem, was Wert hat. Das Recht ist dabei ein Zweig der politischen Moralität, diese wiederum ein Zweig der allgemeineren personalen Moralität.546 Und alle richtig verstandenen Werte erfüllen, wie er meint, die Ansprüche auf Wahrheit und Objektivität.547 Seine Interpretationstheorie soll die Wahrheit der richtigen WertÜberzeugungen begründen. Es komme darauf an, was man auf verantwortliche Weise denke. »Not because your thinking makes it right, but because, in thinking it right, you think it right.«548 Es kommt, wie Dworkin meint, auf das reflexiv richtige Denken an. Eine geltungstheoretische Alternative zum Rechtspositivismus ist diese auf die Person des richtig denkenden und urteilenden Richters zugeschnittene Richtigkeit der Rechtsprechung nicht. In Justice for Hedgehogs wird eine Alternative zum Rechtspositivismus mit dem wahrheitstheoretischen Anspruch an Recht und Moral und mit der These von der Einheit der Werte deutlicher als früher erkennbar. Dworkin lehnt nun eine geschlossene Theorie der Rechtfertigung ab, und die Richtigkeit der Interpretation des Rechts endet im Unausdrückbaren und im nicht mehr Beschreibbaren, wo es »nichts mehr zu denken« gibt.549 Diese Bemerkungen sind schwer mit seinen Überzeugungen, dass »Verstehen … immer Auslegung«550 und dass Begriffe immer einer Interpretation bedürfen, 551 zu verbinden. Es ist nicht klar, ob und wie er zirkuläre Argumente vermeiden und transparent argumentieren will.552 Unabhängig von diesen späten gedanklichen Volten kann die Interpretation des Rechts dessen Geltung nicht begründen. Dies scheint Dworkin anfänglich klar zu sein, weil er der Geltung des Rechts die Prinzipien des Common Law zugrunde legt. Er verfolgt diesen Gedanken dann aber nicht mehr. Er hätte dafür den Unterschied zwischen der Geltung der Prinzipien und dem positiven Recht klären müssen. Der Rechtsgeltung stattdessen ein – nicht näher ausgeführtes – wahrheitstheoretisches Fundament zu geben, ist aus Gründen verfehlt, die wir früher erörtert haben. Die Frage, ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist, verneint Dworkin, ohne dies näher zu begründen. Ein eigenes Konzept der Geltung kann er nicht anbieten, weil die Geltung und Genese des Rechts in seinem Integritätsmodell nicht zu unterscheiden sind.

252 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

3.1.5 Ob Recht nur geltendes Recht ist

Kelsens Gedanke, dass sich das Recht selbst generiert, ist ein Kernanspruch des Rechtspositivismus. Mit diesem Gedanken stimmt der Anspruch überein, dass Recht nur geltendes Recht ist. Beide Gedanken haben einen reflexiven Charakter. In der rechtsphilosophischen Tradition findet die Selbstbezüglichkeit des Rechts – lange vor Raz – Zustimmung.553 Was die Selbstbezüglichkeit und die Überzeugung bedeuten, dass Recht nur geltendes Recht ist, ist aber umstritten. Diese Kontroverse hat geltungstheoretische und historische Gründe, weil die Frage unausweichlich ist, ob die natio­ nalsozialistischen Rassegesetze trotz ihrer moralischen Verwerflichkeit geltendes Recht waren. Wir sollten die historischen aber nicht mit den geltungstheoretischen Gründen gleichsetzen. Die Reflexivität der Rechtsgeltung ist unabhängig von der national­ sozialistischen Auffassung der Rechtsgeltung fragwürdig. Hans Kelsen war ein Gegner des nationalsozialistischen Unrechtsstaats. 554 Ihm kann kein Vorwurf gemacht werden, mit der Reinen Rechtslehre indifferent gegenüber der Perversion des Rechts durch die Nationalsozialisten gewesen zu sein. Es sind andere, die meinten, dass die Rassegesetze einmal geltendes Recht waren. 555 Kelsens Wertrelativismus mag der nationalsozialistischen Rechtsauffassung aber unfreiwillig und indirekt Argumente geliefert haben. Seine wertrelativistische Überzeugung lässt offenbar auch widersprüchliche, individualistische und antiindividualistische Auffassungen von Personen zu.556 Der Rechtspositivismus von Kelsen, Hart und Raz folgt der Idee, dass Rechtsgeltung in jeder Hinsicht eigenständig ist, unabhängig von moralischen und sozialen Fragen und Verbindlichkeiten. Eine Reduktion der Rechtsgeltung auf moralisch-praktische Ansprüche oder auf empirische, soziologische Entwicklungen lehnen sie ab. Diese Ablehnung findet auch unabhängig von deren Argumenten Zustimmung. 557 Was ›Rechtsgeltung‹ bedeutet, ist aber weiterhin unklar. 558 Viele Rechtswissenschaftler unterscheiden zwischen juristischer, sozialer, moralischer, normativer, wissenschaftlicher und faktischer Geltung.559 Sie bemühen sich, die Geltungsbegriffe trennscharf zu unterscheiden.560 Dies dient der Subsumption aller denkbaren Geltungen unter die Rechtsgeltung und der SelbstbeOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 253

hauptung des Rechts als methodisch unabhängiger und inhaltlich autonomer normativer Bereich. Wo die Rechtsgeltung von beliebigen anderen Geltungen tangiert ist, dürfen diese, wie viele meinen, nur einen geringen Einfluss auf die Rechtsgeltung selbst haben. Bei diesen Diskussionen wird der Begriff ›Geltung‹ äquivok gebraucht. Die Geltung des Rechts kann nach Ansicht zeitgenössischer deutscher Rechtsphilosophen von keiner übergeordneten Geltung abgeleitet werden. 561 Je weiter die Positivierung des Rechts fortschreitet, desto stärker wächst, wie einige von ihnen im selben Zusammenhang glauben, dessen Selbstbezüglichkeit, die Reflexivität des Rechts.562 Ersteres ist zu bezweifeln, Letzteres nicht. Wenn die Rechtsentwicklung als Normenentwicklung und die Rechtsgeltung als Normengeltung verstanden wird, ist die Reflexivität der Rechtsentwicklung offensichtlich. Wäre die Rechtsgeltung aber unabhängig von übergeordneten Geltungen, wäre sie auch unabhängig von der Geltung verfassungsrechtlicher Prinzipien. Dies ist aber offensichtlich nicht der Fall. Die Abhängigkeit von der Geltung dieser Prinzipien setzt der Reflexivität der Rechtsentwicklung eine Grenze. Die Abhängigkeit der Rechtsgeltung von verfassungsrechtlichen Prinzipien wird in Kommentaren reflexiv erschlossen, die Geltung der Prinzipien selbst ist aber nicht-reflexiv und unabgeleitet. Aufgrund der Offenheit der Bedeutungen von Prinzipien und fehlender Kriterien ihrer Identität weichen die Kommentare voneinander ab, ohne deren Geltung damit reflexiv verändern zu können. Es ist geltungstheoretisch entscheidend, die Reflexivität der Normengeltung nicht auf die Geltung der Prinzipien zu übertragen. Die Geltung der Rechtsprinzipien ist nicht in der Rechtsgeltung eingeschlossen, sondern dieser übergeordnet. Da die Geltungsbereiche nicht voneinander isoliert, sondern wechselseitig aufeinander bezogen sind, wird die Bedeutung der Prinzipien, ihre Interpretation in der Rechtsprechung, durch die zunehmende Positivierung des Rechts verändert. Die positivrechtliche Genese und die verfassungsrechtliche Geltung des Rechts sind miteinander verschränkt, ohne den Vorrang der Geltung vor der Genese einzuschränken. Auch Kelsen argumentiert für den Vorrang der Geltung vor der Genese. Er unterscheidet zwar nicht zwischen der Geltung von Prinzipien und der Geltung von Normen und vertritt die Unab254 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

hängigkeit der Rechtsgeltung von anderen normativen Bereichen, nimmt aber mit der Grundnorm – wie wir schon sahen – eine Geltungsgrundlage an, die nicht Teil des Rechts ist. Sie sei »nicht das Produkt freier Erfindung«563; sie ist nicht-reflexiv, weil sie transzendental-logisch aufgefunden, rekonstruiert wird. Sie gilt auch nichtreflexiv, spielt aber ähnlich wie Kants transzendentale Deduktion eine doppelte, sowohl nicht-reflexive als auch reflexive Rolle. Diese Doppelrolle wird erkennbar, wenn Kelsen die Grundnorm als »trans­zendental-logische Bedingung« der »Deutung« der »verfassungsgebenden Tatbestände« als »objektiv gültige Rechtsnormen« erklärt.564 Den Übergang von der Genese des Rechts in Gestalt von Gewohnheiten und Willensakten zu ihrer objektiven Geltung versteht Kelsen als eine Deutung, die von der Grundnorm begründet wird. Tatbestände wie Willensakte und Gewohnheiten, aus denen Recht werden kann, werden durch die Grundnorm als objektiv gültige Rechtsnormen gedeutet und damit begründet. Die nicht-reflexive und gleichzeitig reflexive Doppelrolle der Grundnorm ist daran erkennbar, dass sie einerseits nicht frei erfunden, sondern aufgefunden und andererseits eine Deutung ist. Jede Deutung ist reflexiv und – wie Wittgenstein in seinem Paradox in den Philosophischen Untersuchungen (§ 201) erläutert – es kann nicht nur eine Deutung beliebig auf eine andere folgen, sondern jede Deutung kann mit irgendeiner Regel in Übereinstimmung und in Widerspruch gebracht werden. Was mit der Grundnorm gedeutet wird, ist die objektive Geltung von Tatbeständen als Rechtsordnung. Eine Referenz, die als Maßstab der richtigen Deutung dienen könnte, fehlt. Deswegen ist die Deutung der Tatbestände als geltend oder als nicht geltend möglich. Kelsen kann eine widersprüchliche Deutung aber nicht dulden und muss daher eine reine Reflexivität der Grundnorm vermeiden. Jedenfalls argumentiert er mit diesem Ziel. Die Deutung als gültig ist ex post und wird durch das, was bereits gilt, festgelegt.565 Die Doppelrolle der Grundnorm ist mit dem weiter reichenden Problem verbunden, dass mit ihrer Deutung von Tatbeständen als objektiv geltendem Recht – in Kelsens Sprachgebrauch – aus einem Sein ein Sollen wird. Damit ist der Sein-Sollen-Dualismus durch die Grundnorm als Instanz der Deutung außer Kraft gesetzt. Ohne dass Kelsen dies beabsichtigt, stellt die Grundnorm eine geltungsOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 255

theoretische Verbindung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, her. Sie entspricht dem Grundgedanken dieser Untersuchung, dass das, was gilt, eine Verbindung zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Wir könnten die Grundnorm als Bezeichnung dieser Verbindung verstehen, wenn sie nicht von der nicht-reflexiven und reflexiven Doppelrolle belastet wäre. Kelsen hat mit der Grundnorm den geltungstheoretisch entscheidenden Übergang von der Genese zur Geltung bezeichnet, aber theoretisch unzureichend beschrieben. Der rechtspositivistischen Auffassung, dass das Recht seine eigene Generierung regelt, können wir dann zustimmen, wenn sich diese Generierung im Rahmen der Rechtsnormen bewegt, die durch die Rechtsentwicklung und die Rechtsprechung zustande kommen. In dieser Hinsicht trifft der reflexive Gedanke, dass Recht nur geltendes Recht ist, zu. Wenn es aber darum geht, wie die Geltung des Rechts selbst begründet ist, müssen wir erkennen, dass der Reflexivität der Rechtsgeltung nicht-reflexive Prinzipien zugrunde liegen, die nicht Teil des positiven Rechts sind. Der Rechtspositivismus ist geltungstheoretisch nicht erfolgreich. Er erkennt weder die Grenzen der Reflexivität noch die nicht-reflexiven Grundlagen der Geltung; er klärt das Verhältnis der Genese und der Geltung des Rechts nicht, und er unterscheidet nicht zwischen der Geltung von Prinzipien und Normen. Die Grenzen der Reflexivität zeichnen sich zwar in Kelsens Grundnorm und in Harts Verständnis der Rechtspraxis ab, werden in deren Theorien aber argumentativ nicht erschlossen. 3.2 Ob sich in der Praxis zeigt, was gilt

Der Gedanke, dass sich in der Praxis zeigt, was gilt, kann uns helfen, die Geltungsfrage zu beantworten. Wir finden den Gedanken bei Wittgenstein, bei Hart und bezogen auf die Rechtspraxis auch bei Carl Schmitt. Ihm geht es um die Frage, wann die Entscheidung eines Richters richtig ist. Seine Antwort ist, »daß die Rechtspraxis selbst darüber entscheide«.566 Es kommt für unsere Frage nach der Geltung darauf an, wie die unterschiedlichen Autoren die Praxis als Nachweis der Richtigkeit des Regelgebrauchs und richterlicher 256 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Entscheidungen verstehen. Die Arten der Praxis, die über die jeweilige Richtigkeit entscheiden, sind recht verschieden. Es gibt aber interessante Übereinstimmungen. Ob sie tragfähig sind, müssen wir sehen. Carl Schmitt meint, dass der Nachweis der Richtigkeit einer richterlichen Entscheidung weder historisch-genetisch noch empi­ risch-wissenschaftlich, noch normativ geführt werden könne. 567 Ähnlich meint Wittgenstein, dass die Entscheidung darüber, welches Regelfolgen richtig ist, weder theoretisch begrifflich noch ontologisch, genetisch oder psychologisch im Anschluss an früheres Regelfolgen geführt werden könne. 568 Schmitts Kriterium der Richtigkeit einer Entscheidung ist, »daß ein anderer Richter ebenso entschieden hätte«.569 Für dieses Kriterium finden wir bei Wittgenstein eine Entsprechung. Er ist überzeugt, dass niemand allein einer Regel folgt und wir uns aufgrund unserer Übereinstimmung in der Praxis des Urteilens auch verstehen. Wittgenstein kann auch Schmitts Überzeugung, dass die Praxis sich »durch sich selbst«570 rechtfertigt, zustimmen, soweit es um die Richtigkeit des Sprachgebrauchs geht. Und Hart könnte sich dem mehr oder weniger anschließen, wenn wir seine Erkenntnisregel als Teil der Praxis verstehen. Die Praxis hat eine nicht-reflexive und eine reflexive Seite. Nicht-reflexiv ist das von Wittgenstein beschriebene theoretisch nicht erfassbare blinde und spontane Regelfolgen. Es ist das, was jeder beim Sprechen tut. Reflexiv ist die Verständigung über das Gesagte. Beides zusammengenommen ist das, was ›Praxis‹ beim Regelfolgen bedeutet. Die Praxis-Auffassungen von Wittgenstein und Carl Schmitt sind sich in einem Punkt ähnlich. Beide sind überzeugt, dass die Praxis des Sprachgebrauchs respektive die Praxis der Rechtsprechung darüber entscheiden, was richtig ist, und dass die Richtigkeit nicht theoretisch nachgewiesen werden kann. Carl Schmitt betont die Unabhängigkeit der Praxis als Quelle der Richtigkeit einer richterlichen Entscheidung von individuellen und kollektiven Meinungen. Ähnlich wie für Platon sind auch für Schmitt Meinungen, unabhängig von der Menge ihrer Vertreter, keine Grundlage der Richtigkeit.571 Schmitt prüft der Reihe nach alle denkbaren Kriterien der Richtigkeit richterlicher Entscheidungen. Die nahe liegende SubsumierOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 257

barkeit 572 einer Entscheidung unter ein Gesetz weist er als Kriterium ebenso zurück wie die Genese der Rechtspraxis. Das »geschichtliche Werden« könne kein Kriterium der richtigen Rechtspraxis sein. Aus dem, »was geschieht«, dürfe auch nicht das abgeleitet werden, »was geschehen soll«. Es gehe vielmehr um die »empirische Geltung« eines »Postulats«, aus dem die Richtigkeit abgeleitet werden kann.573 Dieses Postulat ist nicht die »Gesetz­mäßigkeit«, sondern die »Rechtsbestimmtheit«.574 Ein analoges Postulat auf Seiten Wittgensteins ist die Regelbestimmtheit. In einem weiten Sinn ist das richtige Sprechen regelbestimmt, aber dies drückt er schon damit aus, dass er das Sprechen als Tätigkeit versteht, die Regeln folgt.575 Wittgenstein würde kein besonderes Postulat formulieren wollen, unter dem diese Tätigkeit steht, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass diese Tätigkeit einen theoretischen Charakter hat oder gar theoretisch begründet werden könnte. Die Analogie der Praxis-Auffassungen von Carl Schmitt und Wittgenstein ist daher begrenzt. Wittgenstein macht keinen Versuch, aus der regelgeleiteten Tätigkeit ein Kriterium abzuleiten, um die Richtigkeit des Regelfolgens zu begründen. Carl Schmitt dagegen könnte kaum argumentieren, dass die Richter bei ihren Urteilen dem Recht blind und spontan folgen. Der Kanon des Rechts ist im Unterschied zu den Regeln des Sprechens strikt einzuhalten. Der gemeinsame Nenner der beiden Autoren ist, dass die Praxis darüber entscheidet, was richtiges Sprechen und richtiges Urteilen ist. Die Praxis selbst hat für beide Autoren keine rationale, theoretisch beschreibbare Gestalt. Sie folgt keinen theoretischen Vorgaben, sondern bestimmt selbst, was richtig ist. Um zu verstehen, wie die Praxis dies tut, müssen wir sie genauer anschauen. Es kommt darauf an, um welche Praxis es sich handelt. Die Praxis der Rechtsprechung ist zwar auch eine des Sprechens, das Umgekehrte trifft aber offensichtlich nicht zu. Gesetze sind nicht einfach nur Regeln des Sprechens; sie sind Regeln des Handelns, und Gesetze, welche die Meinungs- und Pressefreiheit betreffen, sind auch Regeln sprachlichen Handelns. Carl Schmitts Postulat der Rechtsbestimmtheit bedarf der Erläuterung. Es besagt, dass eine richterliche Entscheidung dann richtig ist, wenn angenommen werden kann, dass »ein anderer Richter 258 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

ebenso entschieden hätte«. 576 Durch das Postulat der Rechtsbestimmheit rechtfertigt sich die Praxis reflexiv durch sich selbst. 577 Die nicht-reflexiven Elemente der Praxis sind das »geschriebene positive Gesetz«578 und die »Interpretationsmethode«579. Beides gehört zu den Voraussetzungen dessen, was die Berufsrichter tun, unabhängig von dem, was sie selbst wollen, wie sie denken und urteilen. Diese beiden nicht-reflexiven Voraussetzungen werden in der Praxis der Rechtsprechung reflexiv durch das, was Richter tun, wirksam. Das Postulat der Rechtsbestimmheit charakterisiert die Wirksamkeit dieser Voraussetzungen und gleichzeitig das, was in der Praxis geschieht. Die drei Elemente zusammen ermöglichen, so können wir Carl Schmitts Überlegungen zusammenfassen, eine richtige richterliche Entscheidung. Carl Schmitt will mit seiner Erläuterung der Rechtsbestimmtheit nicht die Willensbildung von Richtern erklären.580 Wir können seine Praxis-Auffassung aber so verstehen, weil die Gründe, die Richter für ihre Entscheidungen beanspruchen, genau die Gründe sind, die dem Recht Geltung verleihen. Wir können – unabhängig von Carl Schmitt – diese Art der Willensbildung als Praxis richterlichen Entscheidens auf die Tätigkeit jedes Gerichts, also auch auf diejenige des Verfassungsgerichts anwenden.581 Das deutsche Verfassungsrecht ist geschriebenes Recht, das ähnlich nicht-reflexiv gilt wie die Interpretationsmethode, welche die Verfassungsrichter anwenden. Das Postulat der Rechtsbestimmheit wird in der Rechtsprechung praktisch wirksam, wann immer darüber entschieden wird, was etwa ›Menschenwürde‹ oder andere Prinzipien bedeuten. Jede mehrheitliche Entscheidung der Richterinnen und Richter legt fest, was gilt. Carl Schmitts eben beschriebener Auffassung richterlichen Urteilens wird der Vorwurf des Dezisionismus, also des autoritären, willkürlichen Entscheidens ohne Begründung, gemacht. Er beklagt dies in der Vorbemerkung zur zweiten Auflage von Gesetz und Urteil. Der Vorwurf des Dezisionismus kann sich kaum auf diesen Text aus dem Jahre 1912 berufen und auch nur beschränkt auf spätere Veröffentlichungen, in denen es um rechtspolitische und politische »Dezisionen« geht. 582 Das Wort ›Dezision‹ kommt in Gesetz und Urteil nicht vor. Es geht in diesem Text darum, dass sich die Praxis der Rechtsprechung nur aus sich selbst heraus als Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 259

richtig erweisen kann. Den Vorwurf, Willkür zu begünstigen, kann man diesem Gedanken nicht machen. Schließlich begründet Carl Schmitt das Postulat der Rechtsbestimmtheit als Grundlage der Richtigkeit richterlicher Entscheidungen ausführlich. Der Vorwurf des Dezisionismus wäre berechtigt, wenn es möglich wäre, die Praxis der Rechtsprechung argumentativ, theoretisch und rational zu begründen. Carl Schmitt zeigt, dass es diese Möglichkeit nicht gibt.583 Die Praxis ist für ihn ähnlich wie für Wittgenstein in theoretischer Hinsicht grundlos. Carl Schmitt erläutert einige Zeit nach Gesetz und Urteil, was ›Dezisionismus‹ bedeutet. Er unterscheidet drei »juristische Denkarten«. Entweder ist das juristische Denken, wie er meint, an Regeln oder an Entscheidungen oder an konkreten Ordnungen orientiert. Die Orientierung an Regeln ist typisch für den Positivismus, von ihm auch ›Normativismus‹ genannt. Die Orientierung an Entscheidungen ist ›Dezisionismus‹ und die Orientierung an Ordnungen nennt Schmitt ›Ordnungsdenken‹. Der klassische Vertreter des Dezisionismus ist für ihn Thomas Hobbes. Ihm geht es, wie Schmitt in seiner historischen Analyse erklärt, um die Herstellung einer Ordnung durch eine Entscheidung, nachdem große Unordnung herrschte.584 Schmitt erklärt dann aber den an Normen orientierten Positivismus als Synthese von Normativismus und Dezisio­ nismus. 585 Nachdem er den Positivismus als nicht »originären«586 rechtswissenschaftlichen Denktypus verwirft, bleibt am Ende nur das Ordnungsdenken übrig, das Schmitt als typisch für die deutsche Rechtstradition versteht und im nationalsozialistischen Deutschland des Jahres 1934 realisiert sieht.587 Damit werden Carl Schmitts Argumente für das Ordnungsdenken zu einem Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Eine unvoreingenommene Beurteilung seiner ordnungspolitischen Argumente wird dadurch unmöglich. Seine Argumente für die Praxis als Kriterium richtiger Entscheidungen sind davon inhaltlich aber nicht betroffen, nicht zuletzt deswegen, weil er sich selbst in seinem Ordnungsdenken nicht mehr an ihnen orientiert. Geltungstheoretisch trennt sich Carl Schmitt mit seinem ordnungspolitischen Denken von seinem ursprünglichen Gedanken, dass sich in der Praxis der Rechtsprechung zeigt, was gilt. Es geht nun nicht mehr darum, wie ein anderer Richter entscheiden 260 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

würde, sondern um die Anpassung an die gegebene politische Ordnung. Die ordnungspolitische Wende wird schon in seiner Verfas­ sungslehre erkennbar, obwohl dort noch der Dezisionismus im Vordergrund steht. Die Verfassung, so wie Carl Schmitt sie nach dem Ersten Weltkrieg begrifflich entwickelt, gibt der Praxis in jeder Hinsicht eine Form, nicht nur eine rechtliche und normative Struktur. Er beschreibt die Verfassung als »Gesamtzustand politischer Einheit und Ordnung«, als »Daseinsweise« und »konkreten Gesamtzustand«.588 Die Praxis als Verfassung ist nun in theoretischer Hinsicht nicht mehr grundlos, weil ihre Geltung von einer »verfassungsgebenden Gewalt« ausgeht und durch einen »Willen gesetzt« ist. Carl Schmitt nennt diesen Willen eine »seinsmäßige Größe«, die im Gegensatz zu bloßen Normen »Ursprung eines Sollens« sei. 589 Der ontologisch verstandene Wille, der existenzielle Geltungsgrund 590 der Verfassung, ist mit dem identisch, was Carl Schmitt ›Entscheidung‹ nennt. 591 In seiner Verfassungslehre bezeichnet er die Verfassung selbst als ›Entscheidung‹. Er beschreibt sie als eine »politische Entscheidung des Trägeres der verfassungsgebenden Gewalt« vor jeder Normierung.592 Im Unterschied zum normativ strukturierten »Verfassungsgesetz« ist die Verfassung für Carl Schmitt »unantastbar«593. Sie ist zwar noch immer theoretisch unbestimmbar wie seine ursprüngliche Auffassung der Praxis der Rechtsprechung. Sie ist aber nicht mehr grundlos und theoretisch unbegründet wie Wittgensteins Sprachpraxis, sondern durch eine Entscheidung ontologisch festgelegt und nicht veränderbar. Die Verfassung von Carl Schmitts Verfassungslehre legt die Geltung des Rechts unabhängig von der Praxis der Rechtsprechung fest. Einerseits gilt die Verfassung grundlos, weil sie »nicht nach über ihr stehenden Regeln« und nicht aufgrund früher geltender Verfassungsgesetze zustande kommt. 594 Sie gilt unabgeleitet und nicht-reflexiv. In Gesetz und Urteil unterscheidet Carl Schmitt noch klar zwischen Genese und Geltung, nun aber nicht mehr. Die Geltung und die Genese der Verfassung sind in seinem ordnungspolitischen Denken nicht unterscheidbar, sondern werden in der »Entscheidung« zum Selben. Das Nicht-Reflexive lässt sich nun nicht mehr vom Reflexiven unterscheiden. Damit verliert das Reflexive seine unabhängige Referenz, und das Nicht-Reflexive hat keinen eigenen geltungstheoretischen Gehalt mehr. Die Praxis der Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 261

Rechtsprechung wird selbst reflexiv, deswegen kann sich in ihr das, was gilt, nicht mehr zeigen, sondern wird von vornherein entschieden und festgelegt. Die Unantastbarkeit der Verfassung bleibt zwar theoretisch unbestimmt und kann nicht argumentativ verteidigt, sondern nur beschworen oder erzwungen werden. Die ordnungspolitische Auffassung der Verfassung in seiner Verfassungslehre widerspricht geltungstheoretisch Carl Schmitts Auffassung der Praxis als Kriterium der Richtigkeit von richterlichen Entscheidungen in Gesetz und Urteil. 3.2.1 Ob die Geltung von Begriffen und Prinzipien reflexiv ­uneinholbar ist

Das ordnungspolitische Denken Carl Schmitts folgt nicht aus dem Gedanken, dass sich in der Praxis zeigt, was gilt, weil er nun nicht mehr  – wie noch in Gesetz und Urteil  – zwischen Geltung und Genese unterscheidet. Wir müssen unabhängig von Carl Schmitt klären, wie der Praxis-Gedanke sich zu Genese und Geltung verhält. Wir sahen, dass die Geltung mit der Genese eng verbunden, aber doch von ihr so verschieden ist wie das Nicht-Reflexive vom Reflexiven. Wenn dieser Unterschied Bestand hat, ist das, was in der Praxis gilt, reflexiv uneinholbar. Wir kommen damit geltungstheoretisch auf die bereits beschriebene Offenheit der Bedeutungen von Prinzipien zurück. ›Reflexiv uneinholbar‹ kann zweierlei bedeuten, zum einen dass wir die Bedeutung dessen, was gilt, nicht vollständig erfassen können. Dann kann sie, unabhängig davon, wie vollständig wir sie erfassen, auch nicht dauerhaft dieselbe bleiben. ›Reflexiv uneinholbar‹ kann zum zweiten bedeuten, dass wir die Geltung dessen, was gilt, weder erklären noch begründen können. Die Geltung ist dann uneinholbar im Sinn von unableitbar. Die eine Uneinholbarkeit hängt mit dem anderen zusammen, aber die erstere können wir reflexiv beeinflussen, die zweite nicht. Beide sind von der Praxis abhängig. Reflexiv uneinholbar kann also sowohl die Bedeutung dessen, was gilt, als auch seine Geltung sein. Die Uneinholbarkeit hat diese beiden Stufen. Wenn die Geltung reflexiv uneinholbar ist, kann es die Bedeutung auch sein. Wir kennen und verwenden 262 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

schließlich die Gebrauchsbedeutung von Wörtern und Begriffen, ohne dass wir erklären könnten, warum sie diese Bedeutung haben. Die Uneinholbarkeit der Bedeutung von Begriffen hängt davon ab, ob es Kriterien ihrer Identität gibt. Wenn es  – wie wir oben argumentierten – diese Kriterien nicht gibt, ist die Bedeutung von Begriffen uneinholbar. Wir wissen, dass nur analytisch zerlegbare arithmetische Begriffe von Zahlen und definierbare Begriffe wie ›Identität‹, ›Negation‹ oder ›Tautologie‹ ihre Bedeutung nicht verändern und auf identische Weise gebraucht werden können. Für alle Begriffe, die wie ›Mensch‹, ›Person‹, ›das Gute‹, ›die Gerechtigkeit‹ und ›Freiheit‹ maßgeblich für unser Leben sind, gibt es keine Kriterien der Identität ihrer Bedeutungen. Wir könnten dies für ein sprachphilosophisches Sonderpro­ blem ohne geltungstheoretische Bedeutung halten. Denn wir wollen vermeiden, dass das, was gilt, durch die Uneinholbarkeit seiner Bedeutung ungreifbar und nebulös wird. Tatsächlich können wir dies nur begrenzt vermeiden. Denn die Bedeutungen von vielen Begriffen sind reflexiv uneinholbar, weil sie sich in der Praxis verändern. Dazu zählen alle Begriffe, die für die Praxis unseres Lebens, unseres Denkens und Handelns maßgeblich sind. Wir können sie weder vollständig noch auf identische Weise beschreiben. Wir können ihre Veränderungen weder ausschließen noch vorhersagen. Wir können aber ihre Gebrauchsbedeutungen beschreiben, in der sie in der Praxis verwendet, verstanden werden und gelten. Die Gebrauchsbedeutung heilt die Uneinholbarkeit der Bedeutung von Begriffen. Wenn die Bedeutungen von Begriffen wie ›Person‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Freiheit‹ uneinholbar sind, bedeutet dies nicht, dass sie reflexiv unveränderlich sind. Im Gegenteil, wir versuchen, die fehlenden Identitätskriterien reflexiv zu ersetzen, um den Gebrauch der Begriffe zuverlässig zu machen, weil sie in einer bestimmten Bedeutung gelten sollen. Die Gebrauchsbedeutung verbindet das Nicht-Reflexive mit dem Reflexiven, das, was ist, mit dem, was sein soll. Ob und in welcher Bedeutung diese Verbindung dann in der Praxis des Sprachgebrauchs gilt, ist die nächste Frage. Machen wir uns dies an einem Beispiel klar. Wenn der Begriff ›Gerechtigkeit‹ im Sprachgebrauch so viel bedeutet wie ›Verteilungsgerechtigkeit‹ und diese so viel wie ›Gleichheit der AnsprüOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 263

che‹, die verteilbaren Güter aber knapp sind, können die Güter nicht gleich verteilt werden. Es geht dann darum festzulegen, welche Ansprüche gleich und welche ungleich sind. Die Ansprüche werden reflexiv bestimmt. Der nicht-reflexiv verfügbare Begriff der Gerechtigkeit wird auf diese Weise reflexiv verändert und in den Sprachgebrauch integriert. Die Gebrauchsbedeutung hat, wie das Beispiel der Gerechtigkeit zeigt, eine nicht-reflexive und eine reflexive Seite. Die nicht-reflexive zeigt sich in der Praxis und gilt unabgeleitet. Niemand bezweifelt die Geltung des Begriffs der Gerechtigkeit als Maßstab des moralischen und politischen Lebens in einer demokratischen Gesellschaft, obwohl – zunächst jedenfalls – niemand weiß, was der Begriff genau bedeutet. Erst wenn wir uns fragen, in welcher Bedeutung der Begriff gilt, müssen wir ihn reflexiv präzisieren. Diese Reflexion ist ein politisch geregelter Prozess, der nötig ist, weil der Begriff in seiner prinzipiellen Bedeutung eine uneinholbare Offenheit hat, die in unterschiedlicher Weise gefüllt werden kann. Wenn sich die Verteilung von Gütern an den Leistungen der Bürgerinnen und Bürger orientiert, ist die Gleichheit der Leistungen Grundlage der Ansprüche. Dann sind die Ansprüche in Abhängigkeit von den Leistungen gleich. Dann ist die Verteilung der Güter aber ungleich, weil die Leistungen ungleich sind, und diejenigen, die weniger bekommen, werden dies als ungerecht empfinden und kritisieren. Ähnlich kann auch die Bedürftigkeit Grundlage der Verteilungsgerechtigkeit sein, dann ist die Verteilung von Gütern ebenfalls ungleich, wird aber dem Gerechtigkeitsgefühl vieler eher entsprechen als die Verteilung auf der Grundlage von Leistungen. Schließlich kommt es darauf an, welche Güter überhaupt verteilbar sind und welche nicht.595 Die Offenheit der Bedeutung der Gerechtigkeit als Prinzip der Verteilung von Gütern kann unter diesen Voraussetzungen von keiner Gebrauchsbedeutung reflexiv geschlossen werden. Dennoch gilt das Prinzip in einer reflexiv bestimmten Bedeutung, die in der Praxis gebraucht wird. Der Gebrauch anderer, konkurrierender Bedeutungen ist damit nicht ausgeschlossen. Politisch und rechtlich gilt aber vorrangig eine der vielen möglichen Bedeutungen des Prinzips. Damit gilt das Prinzip in einer Bedeutung, die in der Genese seiner reflexiven Bestimmungen entstand. Es läge nun nahe, die Geltung dieses Prinzips reflexiv und seine Genese als 264 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Begründung seiner Geltung zu verstehen. Dann wäre die Geltung eines Prinzips wie dem der Gerechtigkeit reflexiv bestimmt und keineswegs uneinholbar. Es gibt zwei Gründe, aus denen diese Überzeugung falsch wäre. Der eine ist, dass keine reflexive Bestimmung die offene Bedeutung des Prinzips der Gerechtigkeit schließen kann. Es bleibt möglich, das Prinzip anders zu verstehen.596 Der zweite Grund ist, dass die Überzeugung, dass die reflexive Genese der Begriffsbestimmung eine Begründung ihrer Geltung ist, zirkulär wäre. Wäre die Entscheidung für eine bestimmte und gegen andere Bedeutungen eine Begründung, wäre die Entscheidung eine Begründung ihrer selbst und deswegen zirkulär. Wenn wir, um ein früheres Beispiel zu nennen, das Widerspruchsprinzip reflexiv, etwa in seiner sprachlogischen Bedeutung verstehen, schließen wir die ontologische nicht aus und begründen die sprachlogische nicht. Keine seiner reflexiven Auffassungen enthält eine Begründung des Prinzips. Es gilt unabgeleitet, unabhängig von Begründungen. Ebenso verhält es sich mit anderen Prinzipien, etwa dem der Gerechtigkeit. Die Entscheidung für die Geltung einer bestimmten Gebrauchsbedeutung kann in der Praxis viele Gründe haben, aber keiner davon begründet die Geltung und keiner begründet die Gebrauchsbedeutung selbst. Die Uneinholbarkeit von Bedeutung und Geltung sind transitiv. Da es für die Gebrauchsbedeutung von Wörtern keine Begründung gibt, kann es auch für die Geltung ihrer Bedeutung keine Begründung geben. Wir gebrauchen Wörter nicht-reflexiv in der Bedeutung, in der wir sie in der Sprachpraxis vorfinden, ohne darüber nachzudenken, warum sie das bedeuten, was sie bedeuten. Unser Anspruch ist aber, dass wir wenigstens Begriffe und besonders Prinzipien reflexiv gebrauchen, also nicht so wie beliebige Wörter, sondern so, dass ihre Bedeutungen überprüfbar sind und dass ihr Gebrauch der Kritik standhält. Unser Anspruch ist, über die Bedeutungen von Begriffen und Prinzipien nachzudenken, bevor und während wir sie gebrauchen. Wenn wir sie kritisch reflexiv gebrauchen, wollen wir nicht glauben, dass ihre Bedeutungen reflexiv uneinholbar sind. Wir wollen auch nicht glauben, dass die Gebrauchsbedeutungen von Begriffen und Prinzipien aufgrund fehlender Kriterien ihrer bedeutungstheoretischen Identität refleOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 265

xiv uneinholbar sind. Die Gebrauchsbedeutungen bleiben aber, aus den erläuterten Gründen, reflexiv uneinholbar und ihre jeweilige Geltung auch. Der reflexive Gebrauch von Begriffen und Prinzipien hat in der Praxis eine Grenze, wenn es darum geht, die Geltung des Gebrauchs zu begründen. Der Gebrauch zeigt sich nur, kann aber nicht begründet werden. Seine Geltung bleibt also auch dann uneinholbar, wenn die Gebrauchsbedeutung die aktuellen Ansprüche der Reflexivität erfüllt. Die Genese des Gebrauchs ist reflexiv, seine Geltung nicht. Die Genese hört durch den Gebrauch nicht etwa auf, sondern geht durch den Gebrauch weiter. Sie ist nicht nur eine Voraussetzung dafür, dass etwas gilt, sondern auch für die Art und Weise, wie etwas gilt. Die Genese vereint die Vor- und die Wirkungsgeschichte dessen, was gilt. Die Geltung selbst hat keine Vorgeschichte, sondern ist – wie wir angelehnt an Frege sagen – unzeitlich, ist also auch in zeitlicher Hinsicht uneinholbar. Die unzeitliche Geltung ist in eine Praxis und in die Geschichte eingebettet. Deswegen kann das, was gilt, immer nur in einer zeitlich bestimmten Weise beschrieben und verstanden werden. Da jede zeitlich bestimmte Beschreibung reflexiver Natur ist, hat die unzeitliche Geltung eine reflexive Präsenz, kann immer nur reflexiv gedeutet, bezweifelt und mit den Erfordernissen der Zeit konfrontiert werden. Hinter der Deutung steht aber die nicht-reflexive, unzeitliche Geltung. Auf sie kann nur reflexiv Bezug genommen werden. Wenn es sich um die Gerechtigkeit oder das Widerspruchsprinzip handelt, sind uns die mit diesen Prinzipien verbundenen Ansprüche immer nur in der aktuellen Gebrauchsbedeutung zugänglich, die wir reflexiv beschreiben und verändern können. Der Gedanke, dass sich in der Praxis zeigt, was gilt, orientiert sich – wie mehrfach erwähnt – an Wittgensteins Auffassung des Sprachgebrauchs. Bereits im Tractatus und dann in den Philoso­ phischen Untersuchungen finden wir diesen Gedanken. Die Asymmetrie zwischen Genese und Geltung ist Thema beider Texte, ohne dass Wittgenstein diese Wörter verwendet. Die Geltung logischer Ableitungsverhältnisse zeigt sich im Tractatus in der symbolischen Notation, die für sich selbst sprechen muss und nicht reflexiv verstanden werden darf. Die Geltung des richtigen Regelgebrauchs zeigt sich in den Philosophischen Untersuchungen in den Sprach266 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

spielen, in der sprachlichen Praxis. Auch dieses Zeigen kann nicht reflexiv, theoretisch erklärt werden. Die sprachliche Praxis ist aber der einzige Zugang zu den Regeln, also das Einzige, wovon wir ausgehen können, wenn wir verstehen wollen, was es bedeutet, einer Regel zu folgen. Die Praxis erlaubt uns nicht, unmittelbar zu dem, was sich in ihr zeigt, zurückzugehen und es getrennt und unabhängig von ihr darzustellen. Wir sind daher bei der Frage nach dem richtigen Sprachgebrauch, der richtigen Anwendung seiner Regeln allein auf die Praxis angewiesen. Was richtig ist, zeigt sich in keiner Theorie, sondern nur in der Praxis. Deswegen macht der Gedanke des Sich-Zeigens keinen Unterschied zwischen zeitlicher Genese und unzeitlicher Geltung, wenn es um die jeweiligen, sprachlich vermittelbaren Inhalte dessen, was gilt, geht. Denn beides, die unzeitlichen Inhalte von epistemischen, logischen oder moralisch praktischen Prinzipien und deren zeitliche Beschreibungen, zeigen sich. Das Sich-Zeigen liegt dem Gedanken zugrunde, dass Geltung nicht-reflexiver Natur, uneinholbar ist und sich nicht begründen oder ableiten lässt. Die Genese dessen, was reflexiv uneinholbar ist, zeigt sich in der Geschichte. Die unzeitliche Geltung ist in die Zeit eingebettet. Über die besondere theoretische oder praktische Qualität der unzeitlichen Geltung sagt uns der Gedanke des Sich-Zeigens nur, dass das Verhältnis zwischen der Geltung und ihrer reflexiven Beschreibung asymmetrisch ist. Deswegen können sich Fehler, Irrtümer und Schlechtes ebenso zeigen wie richtige Einsichten, Gutes und Neues. Was sich zeigt, wird damit sichtbar und erkennbar; dass es sich zeigt, begründet aber nicht, was sich zeigt. Mit dem Sich-Zeigen kann nichts begründet werden. Wer es dennoch versucht, dreht sich im Kreis. Harts Gedanke des Sich-Zeigens droht diese Gefahr. Ob die Erkenntnisregel in seinem Ansatz die Grundlage des Rechts ist, zeigt sich, wie er glaubt. Das Recht kann damit als Anwendung einer Erkenntnisregel interpretiert werden. Diese Interpretation ist die rechtsphilosophische Version von Wittgensteins Paradox des Regelfolgens. Es besteht darin, dass für jede Praxis eine Regel gefunden werden kann. 597 Die nicht-reflexive und reflexive Geltung des Rechts können wir mit Harts Erkenntnisregel nicht unterscheiden, weil wir für jede Rechtspraxis eine Regel finden können. Dworkin sieht dieses Problem und schlägt den GedanOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 267

ken des Rechts als ›Integrität‹598 vor, weil er überzeugt ist, dass das Recht zuverlässig gelten muss und keinem beliebigen, deutungsabhängigen und relativistischen Rechtsverständnis ausgesetzt sein darf. Dabei trennt er aber auch nicht zwischen der Genese und der Geltung des Rechts und deutet die Geltung genetisch. Wenn sich das, was gilt, in der Praxis zeigt, wissen wir nicht, ob es gut oder schlecht, vernünftig und unvernünftig ist. Was sich zeigt, genügt nicht schon dem Bedürfnis nach verlässlich Gutem, denn das Gute zeigt sich ebenso wie das Schlechte, und beides kann gelten. Das Zeigen selbst macht den Unterschied nicht klar, deswegen bewerten wir reflexiv, was sich zeigt, und normieren es damit. 599 Wertungen sind reflexiv und ermöglichen Normen. Ob wir aber werten können, ohne zu irren, entscheidet darüber, ob wir gute oder schlechte Normen schaffen. Indem wir Normen reflexiv festlegen, zeigen wir, ob wir gut oder schlecht werten können. 600 Eine Möglichkeit, zwischen guten und schlechten Wertungen unterscheiden zu können, bieten Prinzipien. Das Widerspruchsprinzip dient uns dazu, gültige von ungültigen Aussagen zu unterscheiden. Diese Wertung ist unverzichtbar, wenn wir reflexiv Normen festlegen, die nicht widersprüchlich sein sollen. Wir benötigen aber auch inhaltliche Kriterien, um gute von schlechten Normen unterscheiden zu können. Wir benötigen moralische und praktische Prinzipien wie die Gerechtigkeit und die Freiheit, wenn wir gute und keine schlechten Normen festlegen wollen. Ohne die Annahme von Prinzipien fehlt uns der Maßstab, um das, was möglich ist, normativ einzugrenzen. 601 Wir verharren normativ ohne Prinzipien im Ungewissen. Eine normative Ordnung kann – wie unsere Geschichte zeigt – ohne moralische und praktische Prinzipien entstehen und ist dann auch nicht gut. Nicht allen Normierungen liegen unmittelbar die Prinzipien zugrunde, die dem guten Leben in einer freiheitlichen und gerechten Ordnung dienen. Dazu gehören etwa die Verfallsdaten für Lebensmittel. Wir meinen häufig zu wissen, was uns und unserem Leben zuträglich ist und nicht schadet, streiten aber darüber. Wenigstens über das, was nicht schlecht ist, können wir uns in einer liberalen demokratischen Ordnung einigen. Wir können es aushandeln und dafür argumentieren, dass die Normierungen, die – soweit wir sie beurteilen können – nicht schlecht sind, gelten sollten. 268 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Von den Normierungen, denen unmittelbar Prinzipien zugrunde liegen, erwarten wir mehr, als nur nicht schlecht zu sein. Sie sollen gut für uns sein. Ihre Geltung soll gerechtfertigt und nicht reflexiv uneinholbar sein. Nun ist aber die Geltung der Prinzipien reflexiv uneinholbar. Die Frage ist daher, wie Normen reflexiv gerechtfertigt werden können, wenn ihnen reflexiv uneinholbare Prinzipien zugrunde liegen. Die Offenheit der Bedeutungen der Prinzipien erlaubt unterschiedliche Rechtfertigungen. Wer für die Verteilung von Gütern auf der Grundlage individueller Leistungen argumentiert, hat ein anderes Verständnis der Gerechtigkeit als derjenige, der die Gerechtigkeit als Gleichheitsprinzip versteht. Die Normen der Güterverteilung sind auf der Grundlage dieser konträren Auffassungen der Gerechtigkeit ebenfalls konträr. Das reflexiv uneinholbare Prinzip der Gerechtigkeit erlaubt beide Normierungen. Es soll aber nur eine gelten. Das, was ist, die für viele nachteilige Verteilung der Güter, soll verändert und gerechter gemacht werden. Den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, kann nur eine neue Güterverteilung herstellen. Sie soll gelten. 3.2.2 Ob die Menschenwürde reflexiv uneinholbar ist

Die Gerechtigkeit ist ein ethisches und politisches Prinzip, das im deutschen Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt wird. Es ist auch nicht Gegenstand von rechtswissenschaftlichen Kommentaren zu diesem Gesetz. Deswegen eignet es sich im Unterschied zur Menschenwürde nicht für eine Prüfung der Frage, ob die Bedeutung von Prinzipien der Verfassung uneinholbar ist oder nicht. Deren Bedeutung ist Gegenstand rechtswissenschaftlicher Kommentare. Sie beschreiben die Genese von Gesetzestexten und erläutern ihre Geltung in der Rechtsprechung. Die Kommentare gehen nicht davon aus, dass die Prinzipien dieser Texte uneinholbare Bedeutungen haben, im Gegenteil. Es geht ihnen darum, die Bedeutung von Prinzipien der Verfassung möglichst vollständig zu beschreiben und für die offenen Bedeutungen, die erkennbar werden, Lösungen anzubieten. Dies trifft auf die Kommentare zum Prinzip der Menschenwürde in besonderer Weise zu. Sie wollen nicht die uneinholbar Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 269

offene Bedeutung dieses Prinzips beschreiben, sondern es im Gegenteil möglichst umfassend klären. Gründe für Kritik an der Geltung des Prinzips in der bisherigen Rechtsprechung nehmen sie zum Anlass, Alternativen vorzuschlagen. Die Kommentare verfolgen erkennbar das Ziel, die Bedeutung des Prinzips lückenlos, einschließlich widersprüchlicher Auffassungen, darzustellen. Nicht alle Kommentatoren gehen davon aus, dass die Menschenwürde reflexiv einholbar ist. Einige suchen nach Kriterien der Identität der Bedeutung des Prinzips, finden aber keine. Die Frage, ob die Bedeutung des Prinzips reflexiv uneinholbar ist, wird nicht explizit gestellt. Reflexiv einholbar wäre das Prinzip, wenn die Kommentierung dem Prinzip eine klare Bedeutung geben könnte. Gegenstand der Kommentare zur Menschenwürde ist der Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Es heißt dort im Satz (1): »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« Es folgen dann im Satz (2) das Bekenntnis des deutschen Volkes zu den »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten« und im Satz (3) die Geltung der Grundrechte in der Gesetzgebung, in der Exekutive und in der Rechtsprechung. Der Satz (1) sagt klar und verständlich, dass die Würde des Menschen unantastbar und ihr Schutz Aufgabe des Staates ist. So klar wie dies ist auch der erste Kommentar, der zum Grundgesetz geschrieben wurde. 602 Die Ausführungen zur Menschenwürde in diesem ersten Kommentar sind denkbar knapp. Der Kommentator geht kurz auf die Herkunft des Würdeanspruchs aus der Aufklärung ein und betont dann die Ewigkeitsklausel (Art. 79 (3) GG), die Unverwirkbarkeit, die Unveräußerlichkeit und Unverzichtbarkeit, aber auch die Überstaatlichkeit und Zeitlosigkeit der Menschenwürde, nicht zuletzt auch, dass die Menschenwürde den Entnazifizierungsvorschriften übergeordnet sei. Der Kommentator meint, die Menschenwürde könnte zur Quelle eines »Wertsystems der menschlichen Güter« werden, wenn »die Verfassungsgerichte« den Würdeanspruch nicht für »inhaltsleer« und »unverbindlich« ansehen. 603 In diesen Bemerkungen deutet sich das an, was später ›Leerformel‹ heißt. Der Kommentator sagt nicht, dass die Menschenwürde tatsächlich die »Quelle eines Wertesystems menschlicher Güter« ist. 270 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Generationen später legen u.a. Horst Dreier und Matthias Herdegen umfangreiche Kommentare zum ersten Satz des ersten Artikels des Grundgesetzes vor. 604 Diese Kommentare enthalten zwar nach wie vor die Ansprüche, die schon der erste Kommentator erwähnt, gehen aber ausführlich und differenzierend darauf ein, wie die Menschenwürde nach mehr als einem halben Jahrhundert verfassungsrechtlich zu verstehen ist. Beide Kommentare beschreiben die historische Genese des Prinzips und seine ethische und politische Bedeutung nach den Verbrechen des Nationalsozialismus. Es wird dabei klar, dass diese Genese, so klar und unumstritten sie ist, die heutige Bedeutung des Prinzips als objektiv geltende Verfassungsnorm nicht erklären kann. Keiner der Kommentare untersucht, wie Kant die Würde des Menschen versteht. Sein WürdeKonzept wird aber als Quelle des Prinzips der Menschenwürde erwähnt. Kant versteht die Würde jedoch nicht als Prinzip. Da sein Würde-Konzept helfen kann, umstrittene Auffassungen der Menschenwürde als Prinzip zu klären, werden wir es im nächstfolgenden Kapitel untersuchen. Die Aufgabe des Prinzips der Menschenwürde als Verfassungsnorm bezeichnet Horst Dreier als »absolute Garantie« und Matthias Herdegen als »Höchstwert« 605 der Verfassung. Diese maximalen Bezeichnungen zielen zwar auf dasselbe, die Existenz des Prinzips, bedeuten aber nicht dasselbe. Dreier erklärt die Bedeutung des Wortes ›absolut‹ als Unantastbarkeit: Jede Antastung der Menschenwürde sei ein Verstoß gegen die Verfassung. 606 Ohne dieser Deutung direkt zu widersprechen, wehrt sich Herdegen gegen eine ideelle, »abstrakt-ätherische Interpretation«. Er will nicht von »gegenläufigen Interessen«, die einzelne Personen mit dem Prinzip verbinden können, ganz abstrahieren. 607 Konkret bedeutet dies, dass der Würdeanspruch – bezogen auf genauer zu bestimmende Interessen – abgestuft werden kann, auch wenn Herdegen dieses Wort nicht verwendet. ›Abstufbar‹ bedeutet – nicht nur geltungstheoretisch – das Gegenteil von ›unantastbar‹. Mit ›unantastbar‹ werden klare Geltungsgrenzen gezogen, mit ›abstufbar‹ nicht. Herdegen spricht von einer »herausgehobenen Wertigkeit« und betont die Vernetzung des Prinzips mit Grundrechtswerten wie dem Lebensschutz. 608 Dreier vernetzt die Menschenwürde dagegen nicht mit Grundrechten, weil »ein Eingriff in Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 271

den Schutzbereich eines Grundrechts nicht per se eine Verletzung desselben« darstelle. Außerdem sei die Menschenwürde nicht mit dem Lebensschutz identisch. 609 Auch in diesem Fall zieht der eine Autor klare Geltungsgrenzen, der andere nicht. Herdegen betrachtet die Menschenwürde als Grundrecht 610 . Für Dreier ist sie dagegen »Grundsatz, nicht Grundrecht«. 611 In vielen bioethischen Debatten wird das Prinzip inflationär abstrakt überhöht. Darin sehen die Autoren eine Gefahr, weil das Prinzip so trivialisiert wird. Es geht ihnen um die positive inhaltliche Bedeutung dieser objektiv geltenden Verfassungsnorm. Darüber, wie diese Bedeutung zu verstehen ist, gehen ihre Ansichten auseinander. Herdegen stellt fest, dass ein »operabler Begriff der Menschenwürde« noch nicht entwickelt und deswegen nicht klar sei, was mit dem Bekenntnis zur Unantastbarkeit konkret gemeint sei. 612 Diese Diagnose wird schon eingangs seines Kommentars erkennbar, wenn er viele mögliche Optionen des begrifflichen Verständnisses überlegt. Er fragt, ob die Menschenwürde ein »metajuristischer Begriff« oder ein »Begriff des positiven Rechts« sei, ob »die Qualifikation der Menschenwürde als bloß objektiver Rechtssatz oder auch als subjektives Recht (Grundrecht)« zu verstehen sei und ob »die inhaltliche Annäherung an die Würdegarantie allein über kategorische Gebote oder aber über eine bilanzierende Gesamtbetrachtung als Grundlage des Verletzungsurteils« zu deuten sei. 613 Diese Fragen deuten eine inhaltliche Differenzierung des Würdeanspruchs an. Herdegen ist überzeugt, dass die Dimension der Würde, welche dem Recht in Gestalt der menschlichen Personalität voraus liegt, und die Würde, welche positivrechtlich gewährleistet werden kann, zwei voneinander zu unterscheidende, wenn auch eng verflochtene Dimensionen sind. Mit diesem begrifflichen und rechtlichen Dualismus bereitet Herdegen einen breiten und offenen Rahmen für Konkretisierungen des Prinzips vor. Er will herausfinden, ob die Menschenwürde »für eine wertend-bilanzierende Konkretisierung« bzw. für eine »Differenzierung im Absoluten« offen ist. 614 Dreier konkretisiert die Menschenwürde auf entgegengesetzte Weise. Er konkretisiert den Anspruch des Prinzips, indem er ihn auf seinen Kern, die Unantastbarkeit, reduziert. Stück für Stück 272 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

löst er den Anspruch aus den unklaren und teilweise widersprüchlichen Verwicklungen mit dem Lebensschutz und mit biotechnologischen Problemen heraus. Dabei weist er auf wenig überzeugende, teilweise inkonsistente Entscheidungen über Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik hin, in denen jeweils der Würdeanspruch von Embryonen bemüht wird. 615 Dreier ist überzeugt, dass das Stammzellgesetz, das die Herstellung von Stammzellen in Deutschland verbietet, »ohne Verstoß gegen Art. 1 (1) GG komplett aufgehoben werden« kann. 616 Mit der Reduktion auf den Kernanspruch der Unantastbarkeit argumentiert Dreier für die »ausnahmslose Unabwägbarkeit« und damit für die reflexive Uneinholbarkeit des Prinzips. 617 Mit dieser Argumentation ist es nicht möglich, so wie Herdegen zwischen einem Würdekern und einem »periphere(n), abwägungsoffene(n) Schutzbereich«618 zu unterscheiden. Herdegen versucht mit der eben erwähnten Frage, »ob der Begriff der Menschenwürde für eine wertend-bilanzierende Konkreti­ sierung offen ist«619, einen konkreten Schutzbereich des Prinzips zu bestimmen. Er leitet seine Überlegungen dazu mit der historischen Genese des Anspruchs der Unantastbarkeit ein. Der Parlamentarische Rat habe mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde konkret den staatlichen Terror ächten und die Menschen davor schützen wollen. Heute gehe es aber um mehr als das. Die Menschenwürde erschöpfe sich nicht in diesem Schutz. Herdegen erwägt weiter, ob der Schutzbereich der Menschenwürde nicht doch – im Gegensatz zu seiner absoluten Geltung – von Fall zu Fall eingeschränkt werden kann und offen für situationsgebundene Abwägungen620 ist. Er will klären, ob es eine »Finalität«, also einen Zweck, gibt, der eine Abwägung und schließlich eine Einschränkung des Anspruchs in bestimmten Situationen erlaubt. Die »Unantastbarkeitsgarantie« verführe zur »Suche nach einem festen Begriffsinhalt«, und die »Absolutheit des Würdeschutzes« komme der »menschlichen Sehnsucht nach einfachen Gewissheiten entgegen«. 621 Herdegen622 glaubt, dass der ursprüngliche, historisch bestimmte Würdekern inzwischen obsolet und ausgehöhlt worden ist. Wäre dies der Fall, gäbe es Raum für eine Aktualisierung und Neubestimmung des alten Anspruchs in Gestalt eines neuen, »abwägungsoffenen« Schutzbereichs. Herdegen historisiert den WürdeOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 273

kern und psychologisiert ihn, wenn er wie erwähnt meint, dass die Garantie der Unantastbarkeit zur Suche nach einem festen Begriffsinhalt verführe und damit der »Sehnsucht nach einfachen Gewissheiten« entgegenkomme. Auf diese Weise würde die Menschenwürde zu einer doppelten Illusion, wenn sie nicht mit neuen, konkreten Inhalten gefüllt würde. Beiden Kommentaren geht es nicht ausdrücklich um die Frage, ob das Prinzip der Menschenwürde eine offene Bedeutung hat. Es geht ihnen aber indirekt um diese Offenheit, und sie gehen auf unterschiedliche Weise mit ihr um. Einen Hinweis auf die Offenheit der Bedeutung geben sie mit ihrem Zweifel, dass der Rechtsprechung eine kohärente Bedeutung des Prinzips zugrunde liegt. Zur Lösung dieses Problems schlagen sie sehr unterschiedliche Konkretisierungen des Prinzips vor. Dreier will das Prinzip durch eine Reduktion auf seinen Kernanspruch, die Unantastbarkeit, konkretisieren und ihm damit – reduktiv – Stabilität geben. Herdegen kann keinen Kernanspruch erkennen, hält ihn für eine Illusion und will das Prinzip konkretisieren, indem er ihm einen »abwägungsoffenen Schutzbereich« zuweist. Eine ›abwägungsoffene‹ und expansive Auffassung des Prinzips steht der Überzeugung gegenüber, dass das Prinzip etwas, nämlich die Würde, als ›unantastbar‹ festlegt und seine Bedeutung auf diesen Anspruch reduziert. Die Frage ist, ob die Kommentare die offene Bedeutung der Menschenwürde reflexiv einschränken und damit dem Prinzip mehr Klarheit geben können. Die reduktive Auffassung Dreiers befreit das Prinzip von umstrittenen bioethischen und biomedizinischen Bezügen. Er sieht in diesen Bezügen die Gefahr, dass die Menschenwürde mit einem Menschenbild vermengt und dann mit »partikularen ethischen Meinungen oder philosophischen Spekulationen«623 besetzt wird. Die expansive Auffassung Herdegens sieht in eben diesen Bezügen den neuen, flexiblen Schutz­bereich des Prinzips. Beide Auffassungen haben argumentative Vorzüge. Die Reduktion auf den Kern der Unantastbarkeit hat den Vorteil, dass das Prinzip schärfer gefasst und mit anderen grundgesetzlichen Ansprüchen wie dem Lebensschutz verbunden werden kann. Auch das reduktive Verständnis des Prinzips muss aufgrund der wachsenden Herausforderungen durch die biomedizinischen und 274 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

biotechnischen Entwicklungen ständig neu justiert und verankert werden. Die expansive Auffassung hat den Vorteil, den eben genannten Herausforderungen additiv gerecht zu werden. Das Prinzip hat dann keine von Fall zu Fall eingrenzbare Bedeutung, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche und sich stetig wandelnde Schutzbereiche. Unklar wäre dabei, was genau geschützt würde. Es müsste zumindest klar sein, dass und in welcher Weise es sich um Menschen handelt. Der Bezug zum Menschen oder zum Menschlichen müsste eigens geklärt werden, weil es sonst kaum möglich wäre, die Grenzen des Schutzbereichs zu erkennen. Die reduktive Auffassung ist argumentativ schlüssig, weil sie die Widersprüchlichkeit der umstrittenen relativierenden Bezüge des Prinzips nachweist und eine Lösung anbietet, sie zu vermeiden. Die expansive Auffassung will der »Last komplexer Abwägungen«624 gerecht werden und die Verletzung der Würde jeweils relativ zu einem »Begriffshof« abwägen. Offensichtlich schließen beide Kommentare eine Offenheit der Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde nicht aus, versuchen aber, sie auf gegensätzliche Weise reflexiv auszufüllen. Dreier reduziert die Bedeutung des Prinzips reflexiv auf den Schutz der Unantastbarkeit. Er begrenzt die Offenheit der Bedeutung mit der Unantastbarkeit, weil mit der Menschenwürde nicht schon klar ist, was nicht angetastet werden darf und wie das Verbot eingehalten werden kann. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde kann Dreier für die Lösung biomedizinischer Probleme, etwa im Zusammenhang mit Eingriffen in das menschliche Erbgut, im Lebensschutz (Art.2 Abs. 2 GG) verankern. 625 Die Menschenwürde hat dann selbst immer noch eine uneinholbar offene Bedeutung. Ihre Schutzfunktion kann aber mit der gesetzlichen Differenzierung ihrer Bedeutung klar und eindeutig erfüllt werden. Herdegens Kommentar geht indirekt von einer Offenheit des Prinzips aus, weil er keinen Würdekern erkennen kann. Wie die von ihm geforderten Abwägungen des realen Schutzbereichs ohne die Referenz auf den Gehalt eines Prinzips möglich sind, bleibt offen. Eine uneinholbare Offenheit der Bedeutung kann ein Prinzip nur dann haben, wenn es existiert, aber nicht klar ist, in welcher Bedeutung. Herdegen glaubt, so scheint es, nicht daran, dass das Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 275

Prinzip existiert. Es gibt nur den Namen dafür; der ist allerdings leer. Wenn Namen leer sind, gibt es das, wofür sie vermeintlich stehen, auch nicht. 626 Insofern beseitigt dieser Kommentar reflexiv das Prinzip und seine offene Bedeutung in einem. Die Auflösung des Prinzips bedeutet nicht, dass es die offene Bedeutung nicht gibt, sondern dass das, was ursprünglich mit dem Prinzip gemeint war, vollends uneinholbar ist. Im Ergebnis zeigen die beiden hier exemplarisch skizzierten Kommentare des Artikels 1 (1) GG, dass das Prinzip der Menschenwürde in der gegenwärtigen Rechtsprechung eine offene Bedeutung hat. Sie zeigen im Ergebnis auch, dass diese Offenheit nicht dauerhaft geschlossen werden kann. Die Bedeutung des Prinzips bleibt selbst dann uneinholbar, wenn es mit keinem Bedeutungskern verbunden wird. Beide Kommentare beschreiben Optionen im Umgang mit der uneinholbaren Offenheit der Bedeutung des Prinzips. Die beiden Kommentare sind aber auch in anderer Hinsicht lehrreich. Sie zeigen, dass das Verhältnis zwischen Geltung und Genese der Menschenwürde nicht etwa mit den Zeitpunkten endet, zu dem die Geltung dieses Verfassungsprinzips begann und zu denen das Verfassungsgericht jeweils urteilt. Die Genese geht weiter und es gibt immer die Geltung einer Version des Prinzips, und damit bleibt auch die Spannung zwischen beidem unaufgelöst. Sie bleibt als Hintergrundspannung bestehen, weil das Bundesverfassungsgericht sie mit seinen Entscheidungen nur von Fall zu Fall auflöst. Dass diese Entscheidungen dem Kernanspruch des Prinzips bisher gerecht geworden sind, bezweifelt Dreier mit überzeugenden Argumenten. Der mehrheitliche Wille der Richterinnen und Richter löst die Spannung immer wieder auf; dann gilt das Prinzip ergänzt mit der letzten Entscheidung. Herdegen bezweifelt nicht diese Entscheidungen, sondern die unzeitliche Geltung des Prinzips, das ihnen zugrunde liegt. Wenn dieser Zweifel ernst genommen würde, wäre die Relation zur unzeitlichen Geltung des Prinzips aufgelöst; dann könnte von einer ›Geltung‹ des Prinzips aber kaum mehr gesprochen werden. Wie das Bundesverfassungsgericht die Spannung zwischen Geltung und Genese jeweils auflöst, ist nicht vorhersagbar. Es wäre denkbar, dass der Schutzbereich der Menschenwürde tatsächlich so 276 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

anpassungsfähig gemacht würde, wie Herdegen es vorschlägt. Die Spannung könnte auch aufgelöst werden, wenn das Gericht mit der Unantastbarkeit und deren Verankerung im Lebensschutz, nach Dreiers Vorschlag, der Menschenwürde einen schärfer gefassten Begriffsinhalt geben würde. Damit würde indirekt die Lösung biomedizinischer Probleme einer Rechtsprechung unterhalb des Verfassungsrechts zugewiesen. Es müsste aber immer noch entschieden werden, wie der Schutzanspruch der Unantastbarkeit konkret von Fall zu Fall realisiert werden kann. Mit beiden Optionen würde das Prinzip mit der Lösung der Probleme, die 1949 noch unbekannt waren, neue Bedeutungen bekommen. Die historische Genese des Prinzips ist wichtig, weil sie verständlich macht, welche Motive entscheidend dafür waren, das Prinzip überhaupt in Geltung zu setzen. Erst danach kann klar werden, dass die Geltung des Prinzips in eine nicht abschließbare Genese eingebettet ist. Überlegungen anderer Kommentare sind indirekt in diese Untersuchung eingeflossen. 627 Die Offenheit der Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde ist seit 1949 trotz der vielen zusätzlichen auf Klärung zielenden Bestimmungen stetig gewachsen und nicht etwa kleiner geworden. Die Vielfalt der Bestimmungen gibt dem Prinzip eine kaum überschaubare und in ihrer Kohärenz nicht leicht überprüfbare Bedeutungsfülle. Zur aktuellen Geltung des Prinzips gehört, dass die Menschenwürde eine Grundnorm der Gleichheit autonomer Rechtspersonen und ein uneingeschränkter, aber verletzbarer Achtungsanspruch ist, der allen Menschen in gleicher Weise zukommt. Sie ist nach dieser Auffassung eine »Grundnorm personaler Autonomie«. 628 Sie schützt den »Kernbereich privater Lebensgestaltung«. Sie schützt die physische, psychische und moralische Integrität und Selbstbestimmung der Person. Sie verbietet die Folter, weil damit eine Person »zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung« gemacht und damit eine »grundlegende Voraussetzung der individuellen und sozialen Existenz des Menschen« zerstört würde. Es handelt sich bei der Menschenwürde um kein bedingtes Recht; es gibt keine Eingriffsvorbehalte. Niemand kann durch sein Tun seine Menschenwürde verwirken. Das Prinzip ist ein Grundsatz und Konstitutionsprinzip der Verfassung, der den Menschenrechten zugrunde liegt. Es ist ein subjektives Grundrecht, das Personen für sich einklagen können. Es gilt als Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 277

Verfassungsrecht objektiv und liegt allen Auslegungen durch das Verfassungsgericht zugrunde. Mit dem Prinzip ist kein materieller Anspruch verbunden. Es geht vielmehr um die Rechtsfähigkeit von Personen. Jede Person wird mit dem Prinzip als Rechtssubjekt eingesetzt. Die Menschenwürde verbietet das Recht auf Selbstversklavung im Rahmen der Selbstbestimmung, weil die Menschenwürde generell durch kein Grund- oder Menschenrecht relativiert werden kann. Es gibt, wie bei allen Prinzipien, keine Begründungen, sondern nur Erläuterungen dieser Ansprüche. Die Geltung des Prinzips muss realistisch sein und als normative Tatsache anerkannt werden; sie ist universal. Dies sind einige, aber bei weitem nicht alle Ansprüche, die mit der Geltung des Prinzips der Menschenwürde erfasst werden sollen. Es kann sehr viel mehr zur Bedeutung und Reichweite dieses Prinzips gesagt werden. 629 Die eben erwähnten Ansprüche gehören zur Geltung des Prinzips in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Philosophische, ethische und rechtlich kommentierende Erläuterungen des Prinzips gelten nicht, sondern beschreiben denkbare Ansprüche des Prinzips. Sie zeigen, dass diese Ansprüche nicht frei von Widersprüchen und Ungereimtheiten sind. Es kommt für die praktische Geltung des Prinzips nicht vorrangig auf die begriffliche Kohärenz aller Ansprüche an. Würde es darauf ankommen, wäre die Geltung ein kognitiver, begrifflicher Anspruch, der theoretisch und begrifflich modelliert und auch im Fall von Widersprüchen korrigiert werden könnte. Rechtliche und philosophische Kommentare sind Teil der Genese des Prinzips, begründen aber nicht dessen Geltung. Die offene Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde kann nicht reflexiv geschlossen werden, weil soziale, politische und biomedizinische Entwicklungen immer wieder Fragen aufwerfen, die das Prinzip betreffen und auf die noch keine verbindlichen Antworten gegeben wurden. Die Richterinnen und Richter des Verfassungsgerichts entscheiden, was jetzt und künftig als ›Menschenwürde‹ gilt. Sie stellen einen Zusammenhang her zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Ihre Entscheidung ist nicht theoretisch, sondern praktisch zwingend, und sie entspricht dem Willen der Mehrheit der Richterinnen und Richter. Das Gericht erläutert und begründet seine Urteile und macht damit die Ar278 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

gumente deutlich, die den Ausschlag für sie gaben. Diese Argumente schließen Dissens und abweichende Meinungen nicht aus. Am Ende entscheidet der mehrheitliche Wille über die Geltung des Prinzips. Dieser Wille setzt das durch, was gilt und ohne den Mehrheitswillen nicht gelten würde. Der Wille ist in dem offenen Raum zwischen der Genese des Prinzips und den Bestimmungen, die gelten sollen, wirksam. In den beschriebenen Kommentaren zeigen sich unterschiedliche, reflexiv uneinholbar offene Bedeutungen des Prinzips der Menschenwürde. Das Verfassungsgericht schließt mit seinen Entscheidungen diese Offenheit für eine Weile durch Mehrheitsentscheidungen, die argumentativ begründet sind. Letztlich entscheiden die Personen mit Argumenten, nicht Argumente allein. 630 Es gibt auch nicht nur eine argumentativ mögliche Entscheidung und nicht nur eine Menge kohärenter Argumente. Deswegen kann nur der Mehrheitswille entscheiden. Dieser Umstand legt die Frage nahe, wie der Wille zu verstehen ist, dem diese Bürde auferlegt ist. Wir werden dieser Frage nachgehen, zunächst aber überlegen, wie Kant die Würde des Menschen versteht. 3.2.3 Ob Kants Würde-Konzept reflexiv einholbar ist

Für eine Untersuchung von Kants Würde-Konzept nach der Diskussion der rechtswissenschaftlichen Kommentare zum Prinzip der Menschenwürde im Grundgesetz sprechen zwei Gründe. Zum einen kann sein Würde-Konzept nicht, wie allgemein unterstellt wird, als ethische Grundlegung des Prinzips der Menschenwürde des Grundgesetzes verstanden werden. Zum anderen ist sein WürdeKonzept anders als das Prinzip der Menschenwürde reflexiv einholbar. Trotz der Unterschiede der Bedeutungen der Würde können wir mit Kants Konzept ungeklärte Fragen zum Prinzip der Menschenwürde klären. Kant versteht die Würde nicht als Prinzip, auch nicht als Grundlegung eines Prinzips. Die Würde ist eine Folge der Autonomie des Willens und setzt Freiheit voraus. Die Autonomie des Willens ist, wie er in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten schreibt, »oberstes Prinzip der Sittlichkeit«. 631 Die Freiheit macht die AutoOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 279

nomie, die Selbstgesetzgebung, möglich, und die Vernunft macht die Freiheit des Willens möglich. In dieser Reihenfolge wird nach Kants Auffassung die Selbstgesetzgebung möglich. Der Wirkungszusammenhang reicht von der theoretischen über die praktische Freiheit zur Autonomie. Die Form der Selbstgesetzgebung ist der kategorische Imperativ: »handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«, und: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst«. 632 Dies sind die beiden Versionen des Imperativs, die inhaltlich unverbunden nebeneinander zu stehen scheinen. In der ersten geht es um die Prüfung und Überführung von Maximen in Gesetze, in der zweiten um Personen als Zwecke an sich selbst. Ein sprachlicher oder begrifflicher Zusammenhang zwischen den Imperativen ist nicht erkennbar. Sie haben aber einen inneren Zusammenhang. Es ist die »Idee der Würde«, sie stellt den Zusammenhang her. Sie ist das entscheidende Motiv, dem kategorischen Imperativ zu folgen. ›Würde‹ sei ein »innerer Wert«, der »kein Äquivalent verstatte«633 , lesen wir. Weil jeder Mensch und die Menschheit insgesamt jeweils Zwecke an sich sind, haben sie Würde. Ähnlich wie die rechtswissenschaftlichen Kommentare zum Prinzip der Menschenwürde will auch Kant die Würde nicht in einer jenseitigen Welt ansiedeln. Er will ihr einen Ort im Leben der Menschen geben. Deswegen beschreibt er den Motivationszusammenhang, in dem wir Menschen handeln. 634 Wir folgen im Handeln Zwecken, und das sind Wertvorstellungen. Sie sind, wie Kant glaubt, die Ursachen, die unser Wollen und Handeln antreiben. Wir stellen uns einen Zweck vor und folgen ihm dann. Wir verursachen uns selbst zum Handeln durch Zweckvorstellungen. Es gibt für Kant drei mögliche Arten von Zwecken und Wertvorstellungen. Die einen entsprechen unseren Bedürfnissen und Neigungen, die anderen unserem Geschmack und die dritten unserem inneren Wert. Die ersten haben einen »Marktpreis«, die zweiten einen »Affektionspreis«, die dritten haben keinen Preis, sondern Würde. Alle Zwecke zusammen bilden das »Reich der Zwecke«, den gesamten Motivationszusammenhang menschlichen Handelns, wie Kant ihn versteht. 280 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Dieses Reich der Zwecke stellt er dem Reich der Natur gegenüber. In der Natur herrschen deren Gesetze, im Reich der Zwecke unsere eigenen. Wir schaffen diese Gesetze und sollen ihnen folgen. Wir lassen hier offen, ob wir nach Kants Überzeugung auch die Gesetze des Marktes und seine Preise schaffen können. Er glaubt, dass wir von Natur aus nach Glück streben. Da das Glücksstreben auch ein Erfolgsstreben ist, bestimmt es den Markt und seine Preise, und wir handeln im Markt als Naturwesen. Die Schwierigkeit ist, dass wir sowohl Natur- als auch selbstbestimmte Freiheitswesen im Reich der Zwecke sind, und beides gleichzeitig. Das Sowohl-als-auch ist in Kants dualistischem Denken aber ein Entweder-oder. Als Freiheits-Wesen im Reich der Zwecke dürfen wir uns nicht vom Glücksstreben determinieren lassen. Kant hat die Frage, wie wir gleichzeitig als Freiheits- und Naturwesen handeln können, nur insoweit beantwortet, als er in der »Dritten Antinomie« der »Dialektik« der Kritik der reinen Ver­ nunft zeigte, dass es keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Wesen gibt. Der Nachweis der Widerspruchsfreiheit beantwortet aber nicht die Frage, wie wir als ein Wesen aus Freiheit und Natur handeln und den Dualismus überwinden können. Mit seinem Gedanken vom Reich der Zwecke nimmt Kant aber indirekt an, dass wir den Dualismus überwinden können. Denn im gesamten Reich der Zwecke sind wir sowohl Natur- als auch Freiheitswesen. Wir sind also gleichzeitig unsere eigenen Herren und Untertanen. Nur wenn wir beides gleichzeitig sind, können wir überlegen, wie wir die Zwecke miteinander verbinden können. Wir müssen sie miteinander verbinden, weil wir nur eine Urteilskraft haben, die uns beurteilen hilft, was entweder einen Preis oder eine Würde oder beides hat. Je nachdem, ob es um den einen oder den anderen Zweck geht, bestimmen wir unseren Willen und uns selbst zum Handeln, immer aber als eine Person. Wir tun gut daran, uns das Handeln im Reich der Zwecke an einem Beispiel vor Augen zu führen. Anhand solcher Beispiele kann Kants Würde-Konzept dem verfassungsrechtlichen Nachdenken über das Prinzip der Menschenwürde vielleicht Impulse geben. In der Welt der Arbeit geht es z. B. um mehrere Zwecke gleichzeitig. Einerseits will und muss ich Geld verdienen, um leben zu können, andererseits kann ich den Preis meiner Arbeit nicht selbst bestimOb eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 281

men. Der Marktpreis meiner Arbeit sollte aber nicht meine Würde verletzen. Das würde er tun, wenn ich mich selbst zum bloßen Mittel des Geldverdienens um jeden Preis machen würde und wenn ich mich von denen, die den Marktpreis meiner Arbeit festlegen, dazu machen ließe. Die Frage ist, wann dies der Fall sein würde, wann ich mich zum bloßen Mittel machen würde und machen ließe. Wir stehen hier an einem Punkt, den ich an anderer Stelle das ›methodische Grundproblem der Ethik‹ nannte. 635 Das Problem ist, wie etwas wie die Würde, die keine Quantität ist, quantifiziert werden kann. Darum geht es, wenn wir überlegen, welchen Preis die Würde hat, und um diesen Preis geht es, wenn wir verstehen wollen, was Kant meint, wenn er in der zweiten Formulierung des Kategorischen Imperativs davon spricht, dass wir die Menschheit in der eigenen Person ›niemals bloß als Mittel‹ gebrauchen sollen. Wenn wir sie niemals bloß als Mittel gebrauchen sollen, kann es sittlich nicht verboten sein, sie auch als Mittel zu gebrauchen. Wir müssen also über die Grenzen des Mittel-Gebrauchs und damit über den Preis der Würde nachdenken. Über den Preis der Würde nachzudenken ist etwas, was Kant – nach allgemeinem, aber kaum geprüftem Verständnis – ausdrücklich abzulehnen scheint. Die Würde habe (»verstatte«) kein Äquivalent, sagt er. Wie soll ich dann aber entscheiden, wie weit ich mich selbst als Mittel z. B. beim Geldverdienen gebrauchen kann? Ich will mich entscheiden, welcher Marktpreis für meine Arbeit meine Würde verletzt. Wenn die Instrumentalisierung der eigenen Person sittlich verboten sein soll, müsste ich wissen, bei welchem Preis die Instrumentalisierung beginnt. Völlig ausgeschlossen wird sie ja nicht. Einen Hinweis für eine Antwort gibt uns Kant, wenn er erklärt, dass es bei der Würde um den Wert einer »Denkungsart« geht 636 , also keineswegs um etwas Wertfreies. Kant deutet einen Weg an, den Dualismus von Natur und Freiheit im Reich der Zwecke aufzuheben. Die Denkungsart besteht darin, dass wir einer Pflicht ohne Rücksicht auf andere Motive folgen. Wenn ich z. B. eine Pflicht einsehe und weiß, dass ich ihr folgen soll, es aber nicht tue, folge ich einer anderen Denkungsart, die keinen moralischen Charakter hat. Vielleicht lasse ich mich von meinem Egoismus leiten. Es gibt viele Denkungsarten, aber nur eine moralische. Wenn ich ihr 282 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

folge, hebe ich den Dualismus zwischen Natur und Freiheit auf. Nur diese Denkungsart hat einen inneren Wert. Er besteht in der Achtung vor dem selbstbestimmten moralischen Gesetz. Die Einsicht in diesen Wert der Würde »setzt sie über allen Preis unendlich weg«. 637 Wir müssen deswegen erst die Pflichten bestimmen, dann können wir erkennen, wann der Marktwert die Würde verletzt. Pflichten erkennen wir, wenn wir aus Maximen Gesetze machen können. Kant nennt zwei Beispiele für gesetzestaugliche Maximen, die »Treue im Versprechen« und das »Wohlwollen aus Grundsätzen«. 638 Aus beiden Maximen können wir Pflichten machen. Die Treue zu den Versprechen schafft zuverlässiges, dauerhaftes Vertrauen und das Wohlwollen hilft Marktpreise für meine Arbeit zu finden, mit denen ich leben kann, ohne mich zum bloßen Mittel meiner Einkommenssicherung zu machen. Es kommt also gar nicht auf eine bestimmte Höhe des Marktpreises, sondern auf seine Zuverlässigkeit und Angemessenheit an. Ich muss mich darauf verlassen können, dass mir ein angemessener Marktpreis für meine Arbeit bezahlt wird. So kann das methodische Grundproblem der Ethik für den Wert der Arbeit, der meiner Würde nicht widerspricht, gelöst werden. Wir dürfen uns nicht von dem ›unendlichen‹ Abstand zwischen Preis und Würde verwirren lassen und dann eine Verbindung zwischen beidem von vornherein für unmöglich halten. Es geht darum, den Preis der Würde aus der Einsicht in unsere Pflichten zu erkennen. Wenn es um die Bewertung der Arbeit geht, sollen die Pflichten das vertrauenswürdige Verfahren leiten, in dem der Wert der Arbeit so ausgehandelt wird, dass er die Würde des Arbeitenden nicht verletzt, ihn nicht instrumentalisiert. Die Pflichten bestimmen den moralischen Raum, in dem wir uns bei der Beurteilung der Preise für den Wert aller unserer Handlungen bewegen. Mit unserer Urteilskraft bewegen wir uns im moralischen Raum. Dies tun wir auch, wenn wir den ›Affektionspreis‹ der Kunst beurteilen. Um dies zu verstehen, müssen wir uns fragen, was mit diesem Preis gemeint ist. Wenn es um das Urteil geht, dass ein Kunstwerk schön ist, wenn dieses Urteil der Affektionspreis ist, mögen wir dem vielleicht zustimmen. Wenn der Affektionspreis der Kunst am Affektionspreis des Geldes orientiert ist, wird der Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 283

Künstler instrumentalisiert. Wie er dann seine Würde als Künstler wahren kann, ist nicht leicht zu beantworten. Kants Würde-Konzept macht die Würde nicht unantastbar. Er argumentiert nicht für einen unendlichen Abstand zwischen der Würde und allem, was einen Preis hat. Die Würde hat einen inneren und einen äußeren Preis. Der innere Preis ist die Denkart, die mit der Achtung für unsere Pflichten verbunden ist. Diese Achtung bestimmt den moralischen Raum, in dem die Würde mit Marktund Affektionspreisen verbunden werden kann. Um diesen Raum erkennen zu können, müssen wir Maximen finden, aus denen moralische Gesetze werden können. Eine Maxime ist, das Leben zu schützen, wo immer dies möglich ist. Eine andere Maxime ist, weder sich noch andere zu instrumentalisieren. Im moralischen Raum hat die Würde nicht nur einen inneren, sondern auch einen äußeren Wert, der dem inneren nicht widersprechen darf. Leben zu erhalten sei Pflicht, sagt Kant. 639 Diese Pflicht besteht neben und mit der Pflicht, die menschliche Person nicht zu instru­ mentalisieren. Um den Zusammenhang dieser beiden Pflichten geht es in der Ethik des Lebensschutzes. In der einen geht es um das Leben, in der anderen um die Würde, ähnlich wie es eben um den Zusammenhang zwischen der Arbeit und der Würde ging. Auch das Leben hat einen Wert, der wie der Wert der Arbeit indirekt, über das Verbot der Selbst-Instrumentalisierung, von der Würde bestimmt sein sollte. Was ›indirekt‹ bedeutet, sagt die zweite Formulierung von Kants Kategorischem Imperativ, nach der ich weder mich noch andere Personen zum ›bloßen Mittel‹ machen darf. Ich instrumentalisiere mich und andere, wenn es mir nur um Leistung, Erfolg, Ruhm und Reichtum, Einfluss und Macht geht. Allen diesen Zielen kann ich nur in meinem Leben folgen. Also kann ich mich nur als Lebender als bloßes Mittel brauchen, um diese Ziele zu erreichen. Leben und Würde hängen zusammen. Nur als Lebende können wir uns sowohl als bloße Mitteln brauchen als auch dem inneren Wert der Würde entsprechend moralisch selbst bestimmen. Ohne ein eigenes Leben gibt es weder die Würde noch deren Verletzung. Das eigene Leben ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung der Würde und unseres Umgangs mit ihr. Diesen Zusammenhang müssen wir verstehen, weil wir sonst Leben und Würde nicht unterscheiden können. 284 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Leben und Würde sind nicht miteinander identisch, aber eng miteinander verbunden. Im moralischen Raum ist die Unterscheidung zwischen Würde und Leben wichtig. Die Würde hat Vorrang, und nur sie soll unantastbar sein, das Leben ist dagegen nicht unantastbar. Verletzlich ist die Würde dennoch, und zwar im Verbund mit dem Leben. Wenn ich mich als bloßes Mittel meiner Ziele brauche, verletze ich meine Würde, also mich selbst als Person und damit auch mein Leben. Jeder Mensch lebt als Wesen mit Würde, ist ein Selbstzweck, aber das Leben ist kein Selbstzweck. Das eigene Leben ist ein Mittel für viele Zwecke. Mit manchen instrumentalisiere ich mich, mit anderen nicht. Die Würde ist als Selbstzweck kein Mittel für andere Zwecke. Sein Leben zu erhalten sei Pflicht, sagt Kant, aber diese Pflicht ist nicht einfach zu erfüllen. Die »ängstliche Sorgfalt«, mit der die Menschen ihr nachkommen, habe aber »keinen inneren Wert«, wenn sie nur »pflichtgemäß« sei. 640 Moralisch gehaltvoll sei jene Pflicht erst, wenn man sein Leben auch dann noch erhalte, wenn man es etwa nach Schicksalsschlägen nicht mehr liebe und sich lieber den Tod wünsche. Diese Haltung ist im Rahmen von Kants Morallehre konsequent, blendet aber die soziale Bedeutung der Erhaltung des Lebens und die rechtliche und politische Bedeutung des Lebensschutzes aus, die wir heute für wichtig erachten. Nach Kants Urteil ist die Erhaltung des Lebens auch dann, wenn sie als Pflicht ernst genommen wird, kein Selbstzweck. Auch das Grundgesetz unterscheidet Würde und Leben, äußerlich erkennbar daran, dass nicht im ersten, sondern im zweiten Absatz des zweiten Artikels das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit und dann auch die Freiheit der Person behauptet werden. Es geht dabei immer um jeden einzelnen Menschen. Das Leben jedes Menschen, seine körperliche Unversehrtheit und seine Freiheit sind Menschenrechte. Die Würde ist kein Menschenrecht, sondern das Prinzip der Selbstbestimmung, der Denkungsart, die den Menschenrechten und dem Umgang mit ihnen zugrunde liegen sollte. Diese Bemerkungen werden konkreter, wenn wir über den Zusammenhang der Würde mit dem Lebensschutz und über die Grenze, die dem Lebensschutz durch die Würde gesetzt wird, nachdenken. Wenn nur die Würde, nicht aber das Leben ein Selbstzweck ist, darf das Leben auch nicht zu einem Selbstzweck gemacht werden, Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 285

auch dann nicht, wenn es geschützt wird. Das Leben wäre dann, ganz widersinnig, der Selbstzweck eines Selbstzwecks. Nicht das Leben, sondern die Würde ist auch im Grundgesetz der höchste zu schützende Wert, und die mit der Würde identische Selbstbestimmung ist der höchste moralische Anspruch. Das Leben jedes Menschen soll geschützt werden. Dabei geht es immer nur um das Leben einzelner, nicht um das Leben aller Menschen, weil es dieses Gesamt-Leben der Menschheit auch nicht gibt. Wir sollten deswegen auch nicht so sprechen, als würde es das Leben aller geben. Es gibt nur das Leben jedes einzelnen Menschen. Die Würde ist dagegen der Selbstzweck aller Menschen. Sie können ihrem Selbstzweck durch ihre Selbstbestimmung gerecht werden oder ihn verfehlen. Sie werden ihrem Selbstzweck gerecht, wenn sie ihre Pflichten achten, und diese Pflichten beziehen sich immer auch auf alle anderen Menschen. Die Maximen werden mit der Frage geprüft, ob sie für alle Menschen in gleicher Weise verbindlich werden können. Die Würde gibt es als Möglichkeit der Selbstbestimmung und als Achtung der Pflichten. Sie existiert als Möglichkeit, der jeder einzelne Mensch gerecht werden kann. Diese Möglichkeit haben alle Menschen auf gleiche Weise, und jeder hat die Pflicht, die Würde jedes anderen zu achten. Die Achtung vor der Würde ist keine individuelle Einstellung, sondern eine Menschheitspflicht. Weil die Würde weder vom biophysischen Leben bestimmt wird noch mit ihm identisch ist, kann sie auch beim Sterben jedes Einzelnen durch die Anderen geschützt werden. Die Würde kann auch dann, wenn das Leben eines Menschen zu Ende geht und nicht mehr geschützt werden kann, von den Anderen geachtet werden, auch indem sie seinen letzten Willen anerkennen. Wenn das Leben eines Menschen von anderen mit allen Mitteln verlängert und das Sterben verzögert wird, wird der Mensch zum bloßen Mittel der Lebensverlängerung gemacht. Dies ist widersinnig, weil der Tod nicht zu verhindern ist. Ein Mensch wird auch zum bloßen Mittel gemacht, wenn sein Leben, ohne dass er an einem Mangel leidet oder durch eine Krankheit oder einen Unfall gefährdet ist, intensiviert wird. Die Gefahr der Instrumentalisierung des Menschen ist mit jeder Manipulation seines Lebens verbunden. Wer sich äußeren Zwecken um 286 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

ihrer selbst willen unterwirft, verletzt seine Würde. Leistungssteigerungen oder die Verlängerung des Lebens um ihrer selbst willen, unabhängig von der Selbstbestimmung des Menschen, verletzen die Würde. Der Nutzen und Gewinn, um den es dabei geht, wird zum Selbstzweck. Die Gefahr der Instrumentalisierung ist auch im antiken Tugendmodell gebannt, wenn tugendhaftes Handeln um seiner selbst willen eingeübt wird. Dabei werden unmoralische Ziele, die sich des moralischen Scheins bedienen, ebenso ausgeschlossen wie die Instrumentalisierung der Moral für unmoralische Zwecke. Wenn die Tugenden um ihrer selbst willen Ziele des Handelns sind, sind sie Zwecke an sich. Dann sind die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, die Klugheit und die Mäßigung Tugenden, die um ihrer selbst willen gepflegt werden, aber dennoch dem weiteren politischen Zweck dienen, das gute Leben in der Gemeinschaft mit anderen zu ermöglichen. Dieses Ziel ist erstrebenswerter als alle anderen, aber kein Selbstzweck in dem von Kant gemeinten Sinn. Kant beurteilt in der Grundlegung die Tugenden kritisch und meint, dass die »Imperative der Klugheit« nicht so verbindlich wie das Moralgesetz seien und dass das Ziel der »Glückseligkeit« kein Ideal der Vernunft sei, sondern auf »empirischen Gründen« beruhe. 641 In der späten Metaphysik der Sitten öffnet sich Kant aber für die Tugend und vereinigt sie in seiner »Tugendlehre« mit der Pflicht. Die »Tugendpflicht« ist der Imperativ: »handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann«. 642 Dann schließt die Pflicht, die eigene Glückseligkeit zu fördern, auch die Förderung der Glückseligkeit der anderen ein643 und nähert sich dem politischen Ziel der Tugenden in der Antike an, ohne mit ihm identisch zu werden, wie Andrea M. Esser zeigt. 644 Menschen wählen ihre Ziele abhängig von ihren Fähigkeiten, ihrem Alter und ihren Interessen. Manche mögen gut sein, andere verletzen ihre Würde. Jeder sollte prüfen, mit welchen Zielen er sich als bloßes Mittel braucht. Dazu dient die Prüfung der Maximen. Wir sollen überlegen, ob sie als Pflichten gelten können. Maximen des Egoismus taugen nicht als Pflichten. Die Verlängerung des eigenen Lebens um jeden Preis oder dessen Steigerung mit allen Mitteln sind egoistische Maximen, weil sie das eigene Leben über Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 287

alles andere, auch über das Leben der anderen Menschen, stellen. Solche Maximen nehmen keine Rücksicht auf schutzbedürftige Andere. Sie können nicht als Pflichten gelten, weil sie nicht ohne Widerspruch gewollt werden können. Würden aus egoistischen Maximen Pflichten, würde jeder unter dem Egoismus der Anderen und letztlich unter seinem eigenen leiden. Der eigene Egoismus würde irgendwann ihm selbst schaden. Niemand kann dies wollen, ohne sich und seinen Interessen zu widersprechen. Jeder würde mit egoistischen Maximen seine Würde und die jedes Anderen verletzen. Die Maxime, mit dem Schutz des eigenen Lebens das der Anderen nicht zu gefährden, kann dagegen zur Pflicht werden. Alle meine Pflichten dienen auch anderen, und wenn es SchutzPflichten sind, soll ich nicht nur mich selbst, sondern auch die Anderen schützen. Im moralischen Raum leben alle Menschen als Gleiche. Alter, Krankheit, Gebrechlichkeit oder Demenz setzen der Selbstbestimmung Grenzen oder machen sie unmöglich. Die Würde geht dabei nicht verloren, wenn andere Menschen helfen und sich um die Hilflosen sorgen. Maximen, die das Leben zum Selbstzweck machen, verletzen also aus mehreren Gründen die Würde. Der erste Grund ist, dass notgedrungen immer das Leben einzelner Menschen zum Selbstzweck gemacht würde; denn es gibt das Leben aller Menschen nur in einem abstrakten Sinn, und abstrakt kann Leben nicht geschützt werden. Da das Leben immer das einzelner Menschen ist, kann der Lebensschutz als Selbstzweck nur eine egoistische Zielsetzung sein. Dies ist der zweite Grund, der gegen das Leben als Selbstzweck spricht. Die Würde und die Achtung der Pflichten prinzipiell über den Schutz des Lebens zu stellen, ist daher ganz unabhängig vom Grundgesetz gut begründet. Auf die Probe werden diese allgemeinen Betrachtungen gestellt, wenn das Leben von Menschen nicht geschützt werden kann. Der Lebensschutz ist von den verfügbaren, häufig knappen Mitteln abhängig. Mit der Knappheit entstehen Konflikte, die typisch für Organtransplantationen sind. Wenn zwei Personen die gleichen Ansprüche auf eine Organtransplantation haben, aber nur ein Organ zur Verfügung steht, geht es darum, welcher der Ansprüche dringender ist. Die Dringlichkeit ist ein Kriterium, das dem Schutz des Lebens des einen von zwei Patienten dienen kann. Wenn die288 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

ses Kriterium nicht manipuliert wird, wird der Patient, der das eine verfügbare Organ nicht erhält, nicht zugunsten des anderen instrumentalisiert. Das Kriterium der Dringlichkeit ist aber manipulierbar, und wer es manipuliert, instrumentalisiert den einen Patienten zugunsten des anderen und verletzt die Würde von beiden, auch wenn ihm strafrechtlich kein Vorwurf gemacht werden kann. 645 Jedes Leben hat einen Marktpreis im moralischen Raum, der so wie der Marktpreis der Arbeit bestimmt werden kann. Es geht wie bei der Festlegung des Marktpreises der Arbeit beim Marktpreis des Lebens darum herauszufinden, welche Mittel für den Lebensschutz angemessen und verfügbar sind, ohne dass Menschen in­stru­mentalisiert werden. Darum geht es in der Transplantationsmedizin oder in der biomedizinischen Forschung. Einige Forschungen sind umstritten, weil z. B. menschliche Embryonen bei der Herstellung von Stammzellen verbraucht werden. Die Argumente gegen diese Forschungen beruhen auf der Überzeugung, dass mit dem Verbrauch von Embryonen menschliches Leben in­ stru­mentalisiert wird. Dies würde zutreffen, wenn Embryonen der innere Wert der Selbstbestimmung zugeschrieben werden könnte. Auch wenn dies nicht möglich ist, müssen wir bedenken, dass es sich um menschliches Leben in einer frühen Gestalt handelt, und dieses Leben wird in der Forschung als Mittel gebraucht. Ein Selbstzweck könnte das Leben in dieser Gestalt aber nur sein, wenn es um seiner selbst willen existieren würde. Argumente für oder gegen diese Überzeugung haben immer einen weltanschaulichen Hintergrund, ohne den sie keine Überzeugungskraft hätten. Unabhängig davon wäre es aber falsch, wenn in den Argumenten für oder gegen die Forschung mit menschlichen Embryonen die Würde als Wert verstanden würde, der einem Träger physisch zugeschrieben werden kann. Aus Kants Perspektive wäre die Würde so missverstanden. Wenn das Leben von Embryonen für unantastbar erklärt wird, wird ihnen die Würde in einem biophysischen Sinn zugeschrieben. Es ist mit Kant nicht möglich, das Verbot der Herstellung von Stammzellen so zu begründen. Nur wenn die Würde ein biophysisches Merkmal eines Trägers wäre, würde die Herstellung von humanen embryonalen Stammzellen die Menschenwürde der Embryonen verletzen. Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 289

Die Würde ist in Kants Konzept ein innerer Wert, der nur indirekt über die Instrumentalisierung eines Menschen angetastet werden kann. Wie in der Organtransplantation geht es auch in der Stammzellforschung darum, wie Leben geschützt werden kann. Es ist offensichtlich, dass nicht jedes Leben geschützt werden kann. Die Entscheidung darüber, welches Leben geschützt wird und welches nicht, darf niemanden instrumentalisieren. Der moralische Raum der Stammzellforschung ist kein anderer als derjenige der Organtransplantation. Damit das Leben von Patienten in Zukunft geschützt werden kann, muss es jetzt Forschungen geben, die zeigen, wie der künftige Schutz möglich ist. Wenn die Pflicht zum Schutz künftigen Lebens ernst genommen wird, können Embry­ onen jetzt nicht so geschützt werden, als ob sie Menschen wären, deren Würde physisch unantastbar ist. Wer behauptet, dass Embryonen Menschen sind, deren Leben absoluten Schutz beanspruchen kann, missachtet den Anspruch künftiger Patienten auf Schutz. Wenn Forschungen mit Stammzellen zum Schutz des Lebens künftiger Patienten notwendig sind, kann das Leben von Embryonen nicht so geschützt werden, als ob sie Menschen wären. Die Abwägung, welches Lebens geschützt werden soll, ist nicht leicht, aber auch nicht schwerer und vor allem nicht anders als bei der Organtransplantation. Kants Würde-Konzept wird missverstanden, wenn die Menschenwürde als biophysisches Merkmal verstanden wird. Die Würde kann auch nicht als absoluter Wert jenseits aller anderen Werte (im Reich der Zwecke) verstanden werden. Dies würde die Lösung von Konflikten beim Einsatz knapper Mittel im Lebensschutz von vornherein verhindern. Weil die Mittel knapp sind, kann nicht jedes Leben geschützt werden. Nur die Würde jedes Menschen, nicht aber das Leben jedes Menschen kann geschützt werden. Das methodische Grundproblem der Ethik kann nur gelöst werden, wenn die Würde nicht als absoluter, biophysischer Wert verstanden wird. Wenn Kants Würde-Konzept die ethische Grundlage des verfassungsrechtlichen Prinzips der Menschenwürde wäre, wäre die biophysische Zuschreibung der Würde undenkbar, unabhängig davon, ob es sich um Embryonen oder Patienten handelt. Folgen für die Rechtsprechung deutet Horst Dreier in seinem 290 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Kommentar an, wenn er in der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen keinen Verstoß gegen das Prinzip der Menschenwürde erkennen kann. Dem Verbot dieser Forschung kann Kants Würde-Konzept nicht zugrunde gelegt werden. In der Rechtsprechung liegt der Unantastbarkeit der Menschenwürde Kants Würde-Konzept nicht zugrunde. Die Rechtsprechung wird sich von der bisherigen Genese des Prinzips der Menschenwürde kaum verabschieden. Sie kann aber Kants Würde-Konzept als Reflexionsinstanz bei künftigen Entscheidungen nutzen. Die Genese des Prinzips der Menschenwürde ist mit der biophysischen Zuschreibung der Würde an menschliche Träger verbunden. Es ging darum, die Vernichtung menschlichen Lebens, die der nationalsozialistische deutsche Staat plante und organisierte, künftig zu verhindern. Das Ziel, das mit dem Prinzip der Menschenwürde erreicht werden sollte, war zunächst die Lebenssicherung und dann, wie die Kommentare zeigen, vieles andere mehr, was direkt oder indirekt ebenfalls mit der biophysischen Zuschreibung der Würde an Personen verknüpft werden kann. Kants Würde-Konzept kann nicht einfach mit dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Menschenwürde identifiziert werden, weil Kants Autonomie-Ethik und die Bestimmung des moralischen Raums in den Grenzen moralischer Gesetze – wie er in der Meta­physik der Sitten darlegt – Teil der Tugendlehre und nicht der Rechtslehre ist. Das Würde-Konzept kann deswegen positivrechtlich nicht unmittelbar wirksam werden. Denkbar ist aber, dass der Preis der Würde, der aus Kants Würde-Konzept folgt, dazu beiträgt, die Würde auch positivrechtlich nicht als absoluten, biophysisch zuschreibbaren Wert zu verstehen. Selbst wenn die Rechtsprechung die bisherige Wertzuschreibung korrigieren würde, bliebe die Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde immer noch offen. Kants Würde-Konzept ist im Unterschied dazu reflexiv einholbar, weil für ihn die Würde kein Prinzip ist.

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3.3 Ob das, was gilt, vom Willen abhängig sein kann

Kehren wir nach der Exkursion zu Kants Würde-Konzept zur Frage zurück, wie das Verfassungsgericht angesichts der Offenheit des Prinzips der Menschenwürde jeweils mit Mehrheit entscheidet. Jede bewusste Entscheidung setzt einen Entschluss und damit den Willen dazu voraus. So klar dies ist, so unklar erscheint uns das, was ›Wille‹ bedeutet. Die Unklarheit entsteht, wenn wir den Willen als etwas, was nicht Vernunft ist, und damit als etwas Nicht-Vernünftiges oder Irrationales begreifen. Wenn wir davon sprechen, dass die Mehrheit der Mitglieder des Verfassungsgerichts entscheidet, richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht notwendig darauf, dass der Mehrheitsentscheidung eine Willensbildung zugrunde liegt. Wir wissen zunächst nicht, worauf wir konkret unsere Aufmerksamkeit richten könnten. Eine Aufklärung der Bedeutung des Willens unabhängig von dem eben angedeuteten Vorurteil der Irrationalität ist deswegen geboten. Dieser Aufklärung dient die Begriffsgeschichte, die es ermöglicht, reflexiv anhand der Einsichten einiger Autoren das nicht-reflexive Phänomen des Willens zu verstehen. Der ›Wille‹ ist Arthur Schopenhauers Schlüsselwort. 646 Der Gebrauch dieses Wortes ist zwar nicht Schopenhauers Denken und deswegen auch nicht seinem metaphysischen und vitalistischen Verständnis des Willens verpflichtet. Dieser Vorbehalt ist angebracht, denn Schopenhauer versteht den Willen als inneren Antrieb zur leiblichen Bewegung, als ein »Ding an sich«, als »allmächtige« Kraft oder »blinden Drang«.647 Dieses metaphysische, vitalistische648 Verständnis des Willens scheint das erwähnte Vorurteil zu bestätigen. Wenn wir von diesen Merkmalen seines Willensbegriffs absehen, finden wir Einsichten, die keinen metaphysischen oder vitalistischen Charakter haben. Schopenhauer glaubt, dass der Wille eine »grundlose« Kraft ist, dass der Wille vom einzelnen Willensakt unterschieden werden müsse, dass der Wille »nie Ursache« sei, und dass der Wille nur über die Motive, etwas zu tun, sichtbar und erkennbar werde. 649 Diese Charakterisierungen lassen noch immer einen metaphysischen Hintergrund erkennen, sie zeigen aber, wie wir uns selbst als Lebewesen mit Willen verstehen können. Nach Schopenhauers Einsicht ist der Wille nicht-reflexiv wirksam. Er ist die Fähigkeit, Stellung zu nehmen, sich zu entscheiden 292 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

und zu wählen. Er ist eine nicht-reflexiv wirksame Kraft, über die wir nur etwas im Nachhinein anhand ihrer Äußerungen wissen. Wir dürfen annehmen, dass wir sie in der Praxis unserer Lebensformen bilden und entwickeln. Wenn diese Kraft – wie Schopenhauer annimmt – grundlos ist, üben wir sie aus, ohne ihre Wirksamkeit genau zu kennen. Für das, wozu wir uns entscheiden oder was wir wählen, nehmen wir  – meist nachträglich  – Gründe an und verwechseln dabei das Vorher mit dem Nachher. Für die Wahl der Gründe gibt es keine weiteren Gründe. Es kann viele Gründe geben, die viele oder wenig Kenntnisse und Informationen voraussetzen. Es können vernünftige oder weniger vernünftige Gründe sein. Die Vernunft der Gründe kommt in den Stellungnahmen zum Ausdruck, die reflexiv geprüft und gerechtfertigt werden können. Wir können  – Schopenhauers Intuitionen folgend  – nur reflexiv über die Gründe und ihre vernünftige oder unvernünftige Qualität sprechen, mit denen die nicht-reflexive Kraft des Willens wirksam wird. Die Kraft selbst ist uneinholbar, ihre Äußerungen sind es nicht. Wir sprechen der Kraft einen Empfindungswert, eine emotionale Färbung zu. Auch dies tun wir reflexiv. Den nicht-reflexiven Charakter des Willens beschreibt Schopenhauer als ›grundlose Kraft‹, weil sie keine Ursache habe und auch kein Willensakt sei. Hier ist Zurückhaltung geboten, weil wir damit etwas über den Willen behaupten, was so verstanden werden könnte, als würden wir reflexiv das Nicht-Reflexive des Willens erfassen können. ›Grundlos‹ bedeutet, wie immer Schopenhauer dieses Wort versteht, dass wir dem Willen mit begrifflichen Mitteln nicht auf den Grund gehen können. Die psychologische Forschung untersucht den Willen zwar auch mit begrifflichen Mitteln, aber orientiert am beobachtbaren und empirisch analysierbaren Verhalten. 650 ›Grundlos‹ bedeutet nicht, dass die neurowissenschaftliche Forschung nicht tiefer in das Phänomen eindringen kann, als wir es begrifflich tun können. 651 Begrifflich erreichen wir eine phänomenale Grenze bei den Äußerungen des Willens, den sog. Willensakten, deren Ursache wir reflexiv nicht erklären können. In gewisser Weise verharren wir begrifflich-reflexiv an der Oberfläche des Phänomens. Jeder weitere kausal erklärende Schritt wäre nicht nur spekulativ, sondern der Beginn eines Regresses, weil wir für jede Ursache eine Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 293

weitere annehmen müssten. Wir würden uns dabei im Infiniten, im tatsächlich Grundlosen, verlieren. Wenn wir einen Willensakt beschreiben, dürfen wir die Gründe, die wir für den Akt annehmen, nicht reflexiv als dessen Ursache erklären. Wir würden sonst indirekt das Nicht-Reflexive doch reflexiv einholen und pseudowissenschaftlich erklärbar machen. In jüngerer Zeit hat die empirische Psychologie die bewusste kausale Funktion des Wollens für Handlungen im Sinn von Körperbewegungen in Frage gestellt. Das messbare, aber nicht bewusste sog. Bereitschaftspotential, welches das menschliche Gehirn für Körperbewegungen vor dem Wunsch, eine Bewegung durchzuführen, aktiviert, wird als Nachweis eines deterministischen Zusammenhangs zwischen der Hirntätigkeit und dem Wollen und als Argument gegen die Willensfreiheit gedeutet. 652 Einerseits bestätigt die empirische Psychologie damit die Grenze der reflexiven Einsicht in den Willen, andererseits überschreiten die deterministischen Deutungen eben diese Grenze. Mit der Erklärung der physiologischen Ursachen von Körperbewegungen kann der Wille nicht erklärt werden. 3.3.1 Ob Wille und Sprache vergleichbar sind

Diese Einsicht können wir mit Wittgenstein vertiefen. Er setzt sich, zunächst angeregt durch Schopenhauer, aber später unabhängig von ihm, mit dem Willen auseinander. Der Willensakt sei nicht die Ursache einer Handlung, sondern die Handlung selbst, man könne »nicht wollen, ohne zu tun«, schreibt er in seinen Tagebüchern. 653 Später überlegt er, ob das Aspekte-Sehen und die Vorstellungen vom Willen beeinflusst sind. Er ist überzeugt, dass das Sehen von Aspekten »dem Willen unterworfen« ist, hält es aber für falsch zu glauben, dass wir die Vorstellungen mit unserem Willen ursächlich lenken. 654 Es ist erhellend, wie reflexiv tastend Wittgenstein sich dem nicht-reflexiven psychischen Phänomen des Willens nähert. Im zweiten Band der Bemerkungen über die Philosophie der Psycho­ logie lehnt er zwar weiter die Auffassung ab, dass der Wille eine Art Motor ist, der die Vorstellungen lenkt. Er spricht aber davon, dass die Vorstellung »dem Willen untertan ist«, und nimmt dasselbe 294 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

auch vom Aspekte-Sehen an. 655 Wittgensteins Grundgedanke ist, dass Wille und Welt, das Innere und das Äußere, getrennt voneinander sind. Das Eine hat auf das Andere weder logisch noch kausal einen Einfluss. Deswegen spricht er vom Willen nicht als einer ›Ursache‹. Wäre der Wille eine Ursache, müssten seine Wirksamkeit und das, was ihn verursacht, naturgesetzlich bestimmt sein. Dass der Wille keine Ursache im naturwissenschaftlichen Sinn ist, bedeutet nicht, dass er wirkungslos wäre. Wie könnten wir sonst jemanden erfolgreich loben oder tadeln wollen? Wir verändern damit auch den Zustand des Adressaten, der sich über das Lob freut und über den Tadel grämt. Dies trifft allerdings nur dann zu, wenn Lob oder Tadel sprachlich und gestisch gelingen. Wittgenstein geht wie selbstverständlich davon aus, dass der Wille im Bereich des Psychischen die beherrschende Stellung hat. In diesem Bereich von Vorstellungen und Aspekte-Sehen übt der Wille, wie er glaubt, seinen Einfluss aus, ist eine Art Befehlsgeber bei der Formung psychischer Gehalte. 656 Wittgenstein spricht über den Willen wie über sprachliche Handlungen. Er unterstellt in den Beispielen, mit denen er das Vorstellen und Aspekte-Sehen verständlich machen will, einen engen Zusammenhang zwischen dem Willen, dem Denken und der Sprache. 657 Wir lernen Sprachspiele und können einen ähnlichen Lernprozess für den Willen annehmen, weil beide Lernprozesse Hand in Hand gehen. Wir können den Aufforderungen ›Schau dir den Entenkopf als Hasenkopf an‹ oder ›Stell dir das Grüne als etwas Rotes vor‹ folgen und dabei erkennen, wie Wille, Denken und Sprache miteinander verbunden sind. Das Sehen von Springbildern oder Farben, das mit solchen Sätzen veranlasst wird, zeigt die Grundlosigkeit des Aspekte-Sehens analog zum Gebrauch der Sprachspiele. Wir können davon ausgehen, dass wir unsere Sprache, unser Denken und den Willen in enger Verbindung und gleichzeitig, aber grundlos, entwickeln. Sprechen, Denken, Wollen, Hören und Sehen lernen wir in einer sozialen Praxis, und der Bildungsprozess dieser Fähigkeiten hat kein endgültiges Ergebnis, ist am Lebensende häufig ein Verfallsprozess. Die wechselseitige Abhängigkeit der Bildungsprozesse der Sprache, des Denkens und des Willens erkennen wir auch daran, dass wir den individuellen Willen nur mit den Einstellungen, Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 295

Überzeugungen, Urteilen und Vorurteilen beschreiben können, die wir jeweils schon gebildet haben. Ähnliches gilt für unsere Urteilsfähigkeit, die eine Sache des Willens, des Denkens und des Sprechens ist. Neue Überzeugungen bilden und andere ablegen können wir nur, wenn wir dies wollen, und was wir dabei tun, können wir uns nur sprachlich vergegenwärtigen. Natürlich können wir das eine vom anderen auch trennen und unterscheiden. Dann nennen wir Äußerungen des Willens ›Willensakte‹658 , ähnlich wie wir die sprachlichen Äußerungen ›Sprechakte‹ nennen. Die einen scheinen den Willen und die anderen die Sprache indirekt, reflexiv erkennbar zu machen. Wir glauben dabei erkennen zu können, wie der Wille wirkt, täuschen uns aber, wenn wir glauben, dass wir auf diese Weise erkennen, was der Wille ist. Ähnlich täuschen wir uns, wenn wir glauben, über die Sprechakte erkennen zu können, was die Sprache ist. Der Wille ist vor und während seiner Bildung ähnlich wie der Spracherwerb und der Sprachgebrauch grundlos, frei und nicht verursacht. Wir können die Fähigkeiten des Willens, des Denkens und der Sprache nicht kausal erklären. Wir können diese Fähigkeiten im Nachhinein anhand von Willensakten und Urteilen, von richtig oder unrichtig formulierten Sätzen hypothetisch beschreiben. Dabei rationalisieren wir rückwirkend, was wir tun, denken, hören und sagen so, als ob der Wille den Willensakten, das Denken dem Gedachten und die Sprache dem Gesprochenen kausal zugrunde liegen würde. Wir verwechseln dabei Nachher und Vorher. Wenn vor Gericht und anderswo von uns verlangt wird, unsere Urteile und unser Tun zu erklären, unterstellen wir den reflexiv rationalisierten Willensakten den individuellen Willen als Ursache. Die Kausalität des Willens kann aber weder bestätigt noch erklärt werden. Sie erscheint nur als eine mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothese. In Ermangelung anderer Möglichkeiten nehmen wir an, dass der Wille indirekt, reflexiv über seine Äußerungen und Wirkungen erschlossen werden kann. Dabei unterstellen wir, ohne dafür Gründe zu haben, dass der Wille eine Ursache ist. Wir sprechen aber sinnvoll von der Willenskraft, die bei der einen Person größer oder geringer als bei einer anderen ist. Zweifellos zeigt sich die Willenskraft in Äußerungen und Handlungen und wird so erkennbar. Menschen können ihren Willen durchset296 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

zen oder nicht, verständlich machen oder nicht. Wir stellen uns diese Zusammenhänge quasi kausal vor. Wenn sie aber wirklich kausal und mechanisch wären, hätten sie einen naturgesetzlichen Charakter und gleiche Willenskräfte hätten gleiche Wirkungen. Dies trifft offensichtlich nicht zu, weil die Wirksamkeit der Willenskraft wie bei sprachlichen Äußerungen von Adressaten abhängig ist und ähnlich glücken und missglücken kann, nicht zuletzt, weil die Adressaten dies wollen oder nicht. Schließlich wissen wir nicht, was die Willenskraft ist. Wenn wir dies wüssten, könnten wir sie messen und ihre Ursächlichkeit auch theoretisch und wissenschaftlich bestimmen. Analog zur Willenskraft können wir so von der Sprachfähigkeit sprechen, als ob sie die Ursache gelingender Kommunikation wäre. Es gibt Tests der Sprachfähigkeit. Sie zeigen den sprachlichen Bildungsstand von Personen, erklären aber nicht die ursächliche Wirksamkeit der Sprachfähigkeit. Wenn die Sprachfähigkeit tatsächlich die Ursache des Sprechens wäre, gäbe es eine Theorie der sprachlichen Praxis. Dann würden wir den Regeln des Sprachgebrauchs nicht, wie Wittgenstein annimmt, blind folgen. Beides, der Gebrauch der Sprache und die Tätigkeit des Willens, sind grundlos, und beide Tätigkeiten erwerben wir in einer Praxis. Beide Tätigkeiten erwerben und bilden wir, indem wir sie ausüben, und beide Tätigkeiten verbindet die Fähigkeit, die mit ›Intentionalität‹ gemeint ist, die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit und unseren Willen auf Ziele zu richten. 659 Diese Fähigkeit setzt erworbene Fähigkeiten, Vorurteile, Bildung, Geschmack und Einstellungen sittlicher und anderer Art voraus, derer wir uns häufig nicht bewusst sind. Deswegen ist die reflexive Rationalisierung des Willens irrtumsanfällig, fragwürdig und unzuverlässig. Wir können Äußerungen wie ›ich wollte immer schon‹ oder ›was ich eigentlich wollte‹ zur Rationalisierung bestimmter Überzeugungen und Einstellungen nicht wirklich ernst und kaum wörtlich nehmen, selbst wenn wir selbst daran glauben. Wir denken über die analoge Wirksamkeit von Willen und Sprache nach, um reflexiv den Willen als nicht-reflexive Fähigkeit besser zu verstehen. Dabei setzen wir voraus, dass wir früher schon die Praxis des Sprachgebrauchs verstanden und erkannt haben, dass diese Praxis theoretisch nicht erklärt werden kann. Ähnliches Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 297

nehmen wir nun auch für den Willen an und hoffen damit, seine Wirksamkeit besser verstehen zu können. Dieses Anliegen haben wir wiederum, weil wir verstehen wollen, was ›Willensbildung‹ bedeutet. Die Bildung des Willens ist, wie wir annehmen, für das, was gilt, bedeutsam. Angeleitet durch Wittgensteins Philosophie der Psychologie ist unser Gedanke, dass der Wille ähnlich wie das Denken, Urteilen, Hören und Sprechen verstanden werden kann. Diese Fähigkeiten haben alle einen geistigen Charakter, den wir nur in Annäherung reflexiv erfassen können. Deswegen ist die Willensbildung nicht von anderer Art als die Urteilsbildung oder das Sprechenlernen. So wie wir beim Sprechen das Sprechen und beim Denken das Denken und beim Hören das Hören lernen, lernen wir den Willen beim Wollen kennen. Dabei haben wir beim Willen eine ähnliche Schwierigkeit wie beim Denken und Sprechen. Sie erscheint uns allerdings größer zu sein, als sie ist. Wir haben mit Wittgenstein dafür argumentiert, dass der Gebrauch der Sprache grundlos im Sinne von ›nicht verursacht‹ ist. Ähnliches behaupten wir nun auch für den Willen und das Denken mit analogen Schwierigkeiten. Es scheint so, als würden wir uns selbst widersprechen, wenn wir einerseits sagen, der Wille oder das Denken und Urteilen müssen sich bilden, und andererseits, sie seien grundlos. Es scheint kaum möglich zu sein, von diesem Ausgangspunkt aus die Willens- und die Urteilsbildung zu verstehen. Die Schwierigkeit ist, dass wir von der Wirksamkeit des Willens, den Willensakten, und des Denkens, den Urteilen, nicht auf den Willen und das Denken und deren Bildung schließen können. Es liegt jedoch nahe, den Willen und das Denken als individuell gebildete und erworbene Fähigkeiten zu verstehen, die uns befähigen, uns intentional auf Ziele auszurichten. Die Beschreibung des Willens, Sprechens und Denkens als ›grundlos‹ bedeutet, dass diese Fähigkeiten nicht passiv verursacht, sondern aktiv erworben und dann ausgeübt werden. Sie können nicht durch mentale, psychische oder physische Ursachen erklärt werden, auch wenn beliebig viele äußere und innere Ereignisse und Zustände auf die Bildung des Willens, des Denkens und Sprechens einwirken. Wir scheinen vom Weg abgekommen zu sein. Das sind wir aber nicht, weil es uns um die Aufklärung der Willensbildung geht, die 298 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

den Entscheidungen von Menschen zugrunde liegt. In unserem Fall geht es um Entscheidungen über das, was ›Menschenwürde‹ bedeutet. Wenn wir den Willen analog zum Denken und Sprechen verstehen, sind wir von erklärungstheoretischen Zusammenhängen unabhängig, wenn es darum geht, die Willensbildung zu verstehen. Erklärungstheoretische, kausal und gesetzmäßig wirkende Zusammenhänge erleichtern und entlasten das Verstehen vieler Phänomene. Wir können solche Zusammenhänge aber nicht auf den Willen, das Denken, Hören und Sprechen anwenden, wenn diese Fähigkeiten grundlos sind. Das Fehlen erklärungstheoretischer Zusammenhänge fördert den Verdacht, dass der Wille irrational ist und die Willensbildung nicht analog zur Entwicklung des Denkens und Sprechens verstanden werden kann. Schopenhauer nährt diesen Verdacht, weil er den Willen alternativ zur Vernunft versteht. Der Dualismus WilleVernunft ist aber, wie wir eben sahen, nicht begründet. Würden wir Schopenhauers Dualismus folgen, würde die Grundlosigkeit des Willens unmittelbar zu dessen Irrationalität führen. Die folgende Konsequenz schiene dann unausweichlich zu sein: Wenn der Wille nicht kausal und nicht rational erklärt werden kann, ist er auch nicht rational. Wenn er nicht rational ist, kann er nur irrational sein, was in Schopenhauers Denken der metaphysischen Qualität des Willens nicht schadet. Wenn wir Schopenhauers Dualismus aber nicht folgen, verstehen wir Wille, Sprache und Denken als geistige Fähigkeiten, die wir nicht in wechselseitiger Konkurrenz, sondern gemeinsam bilden und in der Praxis, in der wir leben, entwickeln. Die Irrationalität des Willens ist ein philosophisches Vorurteil, das nicht begründet ist. Friedrich Nietzsche scheint dieses Vorurteil gefördert zu haben. Dies ist allerdings selbst ein Vorurteil, wie wir im nächsten Kapitel sehen. Der Grund für unsere Beschäftigung mit diesen Vorurteilen ist, dass wir die Willensbildung dann, wenn der Wille irrational wäre, ohne den Willen nur als rationalen Lernprozess verstehen könnten. Wir würden dabei, als Konsequenz des Dualismus von Willen und Vernunft, den Willen durch die Vernunft ersetzen. Dies würde unserer Auffassung der Praxis des Sprechens und Regelfolgens und dem, was Wittgenstein in der Philosophie der Psychologie zum Willen sagt, widersprechen. Wenn Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 299

der Wille der Vernunft untergeordnet wäre, könnte die Willensbildung nur vernünftig sein. Dann müsste allerdings die Vernunft voluntaristisch verstanden werden und selbst das Erbe der Irrationalität antreten, weil die Willensbildung offensichtlich nicht nur vernünftig ist. Der Dualismus von Willen und Vernunft hat widersinnige, irrationale Folgen. 3.3.2 Ob der Wille irrational ist

Der Name Friedrich Nietzsches steht für die Irrationalität des Willens. Dies ist ein Vorurteil. Nietzsche stimmt zwar Schopenhauer zu, dass der Wille keine Ursache ist, lehnt dessen metaphysische Deutung des Willens aber als »großen Fehlgriff« ab.660 Seine Beschreibungen des Willens sind aber nicht weniger vitalistisch als diejenigen Schopenhauers. Nietzsche will darüber hinaus jedoch sowohl das intellektuelle als auch das emotionale Spektrum dieser menschlichen Fähigkeit erfassen. Er spricht davon, dass der Wille eine »Mehrheit von Gefühlen« in einer Art »verflochtenem Netz« vereinigt. 661 Seine Verbindung des Willens mit dem Wort ›Macht‹ wurde politisch gedeutet und missdeutet. 662 Er hat den ›Willen zur Macht‹ als »Willen zur Wahrheit« verstanden. Dieser Wille vereint den »Willen zum Leben«, den »Willen zur Schönheit«, den »Willen zur Gerechtigkeit« und den »Willen zum Helfen«. Er ist das Leitmotiv seiner »Umwerthung aller Werte«. 663 Der Wille zur Macht ist weder vitalistisch noch als Gegen-Vernunft, sondern als Einheit aus Vernunft und Willen zu verstehen. Diese beiden Kräfte lassen sich in Nietzsches Denken nicht unterscheiden. So und nicht etwa vitalistisch können wir Nietzsche verstehen, wenn er davon spricht, dass »unsere Triebe« auf den Willen zur Macht »reduzirbar« seien und dass der Wille zur Macht das »letzte Factum« sei, »zu dem wir hinunterkommen«.664 Heidegger greift diesen Aspekt des Willens zur Macht auf und befreit Nietzsches Suche nach einer gemeinsamen Grundlage für Wille und Vernunft vom Verdacht der Irrationalität. Er integriert Nietzsche aber in seine eigene Geschichte des Denkens. In dieser Geschichte ist nicht Nietzsches Wille zur Macht, sondern Heideggers eigene Seinsfrage das Ziel. Diese Frage stellt Nietzsche nicht, wie Heideg­ 300 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

ger anmerkt, und weil er sie nicht stellt, sei Nietzsche der letzte Metaphysiker und ende im Nihilismus. 665 Heidegger vermischt seine eigene Seinsfrage mit Nietzsches Willen zur Macht. Er ignoriert dabei, wie Heinrich Meier zeigt, die selbst- und zeitkritische Bedeutung des Willens zur Macht. Meier analysiert die drei Bedeutungen des Willens in Nietzsches Zarathustra und geht besonders auf den »abgeschirrten Willen« ein. Den Ausdruck ›Abschirren‹, der für das Ausspannen von Pferden verwendet wird, wendet Nietzsche auf den Willen an, der innehält, sich gegen sich selbst wendet und seine eigene Torheit erkennt. 666 Der abgeschirrte Wille ist der selbstkritische Wille. Dieser Wille lässt sich weder machtpolitisch noch nihilistisch deuten. Es ist ein vernünftiger, selbstkritischer Wille. Heinrich Meier zeigt, dass Nietzsches Konzept des Willens keinen irrationalen Gehalt hat. Es ist ein Wille zur Erkenntnis der Welt, zur Selbstgestaltung und zur Gestaltung der Welt. Im Ergebnis können wir Nietzsches Begriff des Willens in die Überlegungen integrieren, die wir im Anschluss an Wittgenstein formulierten. Wille und Vernunft sind kein Gegensatz, und der Wille ist weder irrational noch eine Gegen-­Vernunft. Die Ideengeschichte des Willens befreit uns von dem Vorurteil, dass der Wille irrational ist. Der grundlose Wille ist eine kognitive und als ›abgeschirrter‹ Wille eine selbstkritische Fähigkeit. Der Wille kann intentional Stellung nehmen und trägt zu der Entscheidung darüber bei, was gilt. Diese Fähigkeit benötigen wir bereits beim Sprechen, bei der spontanen Wahl der Sätze, deren Richtigkeit wir theoretisch nicht begründen können. Viele Entscheidungen treffen wir spontan, ohne davor darüber nachzudenken oder gar zu wissen, ob sie richtig oder falsch sind. Unser Wille ist dabei nicht nur eine grundlose, sondern auch eine blinde Fähigkeit. Die Blindheit des Willens ist nicht irrational. Häufig ist sie harmlos, wenn wir etwa beim Einkaufen vor einem Regal mit identischen Produkten stehen und irgendeins davon nehmen, weil wir eins und nur eins kaufen wollen. Dabei können wir nichts falsch machen. Dieses Bild macht deutlich, dass der blinde, spontane freie Wille nicht uninformiert ist. Als Einkäufer weiß ich, was ich brauche, deswegen gehe ich einkaufen. Bei weniger harmlosen Entscheidungen weiß ich nicht genau, was ich brauche oder was gut ist. Auch bei solchen Entscheidungen müssen mir die wählbaren Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 301

Alternativen bekannt und ihre Unterschiede klar sein. Ich kenne nur nicht ihre Qualität. ›Blind‹ bedeutet weder beim Einkaufen noch bei solchen Entscheidungen ›mit geschlossenen Augen‹. Es bedeutet, dass der Wille nicht determiniert, nicht festgelegt, nicht verursacht, sondern frei und grundlos ist. Der freie Wille ist bestimmend und nur so bestimmt. Er muss aber seine Ziele kennen und wissen, wozu er sich bestimmen kann. Er macht seine Ziele nicht, sondern sucht und findet sie. Er kann ›abgeschirrt‹, selbstkritisch und vernünftig sein, er kann sich aber auch von Vorurteilen und Ressentiment leiten lassen. Er ist auch dazu frei. Wir können den Willen nicht-reflexiv ähnlich wie Kants ›ich denke‹ verstehen, dann ist das ›ich will‹ ein Aspekt des ›ich denke‹. Der Zugang zu diesem nicht-reflexiven ›ich will‹ ist ebenso reflexiv wie derjenige zum ›ich denke‹, aber ebenso begrenzt. Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir weder dem einen noch dem anderen eine Theorie unterstellen, wie es dem freien Willen vielfach und ohne überzeugende Ergebnisse widerfährt. Es wird selten bemerkt oder nicht ernst genommen, dass Kant – zumindest in der Grundlegung – den freien Willen nicht in eine Theorie integriert, sondern zum begrifflich nicht festlegbaren Ausgangspunkt seiner Moraltheorie macht. 667 3.3.3 Ob der Wille darüber entscheiden kann, was gilt

Nach den Argumenten gegen den Dualismus von Willen und Vernunft wollen wir prüfen, wie der Wille bei Entscheidungen über die Geltung eines Prinzips mitwirkt. Die Rede von ›dem Willen‹ in Sonderheit in Verbindung mit Entscheidungen klingt falsch. Denn den Willen gibt es nur als Wille von Personen, also als je einzelnen Willen. Ähnlich verhält es sich mit der Vernunft, aber dennoch zögern wir nicht, von der Vernunft zu sprechen. Wenn es um allgemeine Eigenschaften des Willens oder der Vernunft einer bestimmten Menge von Personen geht, können wir von dem Willen ebenso wie von der Vernunft sprechen. Unter dieser Voraussetzung können wir überlegen, ob der Wille bestimmter Personen bei Entscheidungen über die Geltung eines Prinzips mitwirken kann. Sollte er dies können, muss er aus den offenen Bedeutungen eines 302 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Prinzips diejenige wählen, die gelten soll. Wenn diese Wahl gut sein soll, können wir sie uns nicht ohne Vernunft, nicht frei von kognitiven Ansprüchen vorstellen. Der Wille darf dabei nicht unvernünftig, irrational oder frei von Kenntnissen und Erfahrungen sein. Die Wahl können wir uns – zunächst – am Beispiel der unterschiedlichen Bedeutungen des Widerspruchsprinzips klar machen. Niemand würde annehmen, dass der Wille bei der Wahl einer der Bedeutungen des Widerspruchsprinzips kognitiv anspruchslos sein könnte. Es ist offen, ob die Bedeutung des Prinzips eine ontologische, aussagenlogische oder moralische 668 ist. Wir wissen aber, dass es dazu dient, widersprüchliche Überzeugungen zu vermeiden; wir wissen nur nicht, um welche Art Überzeugungen es geht. Die Überzeugungen können das Verhältnis zwischen der Bedeutung von Sätzen, die Existenz von Dingen oder das eigene Verhalten betreffen. Dementsprechend geht es um aussagenlogische, ontologische oder moralische Widersprüche. Die Wahl bezieht sich auf diese Alternativen. Sie ist reflexiv und abwägend. Ob es sich um die eine oder andere Art Widersprüche handelt, müssen wir uns erst klar machen. Dann können wir wählen, ohne dass wir dafür einen zwingenden Grund haben. Die Wahl ist grundlos, deswegen können wir darüber streiten, ob wir richtig gewählt haben. Wir steigen von dem Prinzip herab zu der Bedeutung, die es aktuell in einem bestimmten Zusammenhang für uns hat. Ähnlich, nur in umgekehrter, aufsteigender Richtung, können wir uns die Wahl einer Bedeutung der Menschenwürde vorstellen. Wir wissen, es geht um das Prinzip, das im ersten Satz des Grundge­ setzes der Bundesrepublik Deutschland formuliert ist. Wir wissen, dass dieses Prinzip viele Bedeutungen hat und dass jede dieser Bedeutungen dazu dienen soll, Verletzungen des Prinzips zu vermeiden. Wir müssen zu den Bedeutungen des Prinzips hinaufsteigen. Die Verletzungen können die menschliche Person, ihre Identität, ihr Leben, ihre biophysische Natur, ihr Geschlecht, ihre psychophysische Integrität, ihre biologische Entwicklung, ihre Geburt, ihren Tod, ihre Religion, ihre Herkunft, ihre Reproduktion, ihre Selbstbestimmung, ihre Gesundheit, ihr Verhältnis zu sich selbst und zu anderen Personen, ihre Rechtsansprüche, ihre Rechtsfähigkeit und anderes mehr betreffen, von dem wir herausfinden wollen, Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 303

ob es unter das Prinzip fällt. 669 Die Wahl ist nicht nur schwieriger als beim Widerspruchsprinzip, sie ist auch nicht alternativ, vom offenen Prinzip herabsteigend, sondern additiv, zu ihm aufsteigend. Es kommt bei jeder Wahl eine neue Bedeutung dazu; ältere Bedeutungen können obsolet, sollten aber nicht falsch werden. Wir müssen – wie im Kapitel über Kants Würde-Konzept – den Preis der Würde im moralischen Raum beurteilen, um sagen zu können, was die Menschenwürde im ethischen Sinn verletzt. Vor diesem Urteil muss klar sein, was der Preis der Würde ist. Wir können den Preis der Würde reflexiv klären, aber nicht aus dem Prinzip der Menschenwürde mit seiner offenen Bedeutung ableiten. Wenn wir den Preis der Würde beurteilen können, wissen wir, um welche Verletzung es sich handelt. Da wir über keine Kriterien der Identität des Prinzips verfügen, können wir nur den indirekten, reflexiven Weg über die Beurteilung des Preises der Würde gehen. Dieses Urteil setzt voraus, dass wir den moralischen Raum bestimmt haben, in dem der Preis der Würde beurteilt werden kann. Die Bestimmung des moralischen Raums ist grundlos wie der freie Wille. Die Geltung des Urteils über den Preis der Würde ist unabgeleitet; ob der Preis anerkannt wird, ist eine Frage des Willens derer, die über seine Geltung entscheiden. 670 Mit jeder Wahl verändern wir das Verhältnis des Reflexiven zum Nicht-Reflexiven, der denkbaren Bedeutungen zum geltenden Prinzip. Wir können so bewirken, dass das Prinzip in einer zusätzlichen Bedeutung gilt. Natürlich kommt es darauf an, wer mit ›wir‹ gemeint ist. Beim Widerspruchsprinzip ist im ›wir‹ niemand ausgeschlossen, beim Prinzip der Menschenwürde sind es alle außer – hierzulande – die Richterinnen und Richter des deutschen Verfassungsgerichts. Was wir verändern, erklären wir uns reflexiv. Wir können auch die Wirksamkeit des Willens nicht anders als reflexiv und damit im Nachhinein erklären. Wir nehmen dabei nachträglich vorweg, was er bewirkt, und vermischen dabei den Willen mit dem Gewollten, das Vorher mit dem Nachher. Diese Verwechslung erschwert oder verhindert das Verständnis des Willens. Dem üblichen Verständnis der ›Willensbildung‹ liegt diese Vermischung zugrunde. Das Wort verstehen wir gewöhnlich so, als ob der Wille und das Gewollte von vornherein vermischt sind, dass der Wille immer eine bestimmte Prägung hat, die am Gewollten 304 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

erkennbar ist. Die Bedeutung von ›Willensbildung‹ scheint vorauszusetzen, dass der Wille nicht ohne das Gewollte denkbar ist, ähnlich wie die Intentionen beim Sprechen nicht ohne das Intendierte oder das Denken nicht ohne das Gedachte beschrieben werden kann. 671 Wir gebrauchen das Wort ›Willensbildung‹ meist, wenn wir den Willen aus der Perspektive seines Ziels, des Gewollten, beschreiben. Wenn wir dies tun, suggerieren wir, dass der Wille immer schon ein durch seine Ziele gebildeter Wille ist. Dies ist ein Missverständnis. Wäre er immer schon ein gebildeter Wille, könnten wir den Willen nicht von seiner Wirksamkeit und seine Fähigkeit nicht von seinen Zielen unterscheiden. Dann wäre der Wille durch seine Ziele determiniert, verursacht und unfrei. Wir würden damit den Widerspruch dulden, dass der Wille gleichzeitig verursacht und nicht verursacht, sondern frei ist. Dieser Widerspruch wäre selbst dann nicht zu dulden, wenn die Willensbildung durch das Gute determiniert, also moralisch die bestmögliche, zwar unfrei, dafür aber zuverlässig gut wäre. 672 Den Widerspruch zu meiden, bedeutet nicht, dass der Wille nicht lernen und sich nicht perfektionieren kann. Wenn wir den Willen als grundlose Fähigkeit verstehen, können wir dem Missverständnis einer von Anfang an vollendeten Willensbildung vorbeugen. Wäre der Wille von vornherein ein gebildeter Wille, könnte er sich im Bildungsprozess nicht selbst verbessern. Dafür könnte er seine Ziele selbst generieren und aus eigener Kraft entwickeln. Er wäre autonom und könnte sich unabhängig von seinen Zielen reflexiv perfektionieren. Der Wille würde dann das tun, was die Urteilskraft tut, wenn sie wahre von falschen, gute von schlechten Überzeugungen unterscheidet. Wir würden dabei die Urteilskraft durch den Willen ersetzen und einen Überzeugungs-Voluntarismus 673 vertreten. Es wäre rätselhaft, aus welchen Ressourcen der Wille dabei schöpfen könnte. Außerdem wäre es ungereimt, den Willen als Fähigkeit zu verstehen, sich für bestimmte Ziele zu entscheiden und gleichzeitig anzunehmen, dass er von vornherein auf diese Ziele festgelegt ist. Diesen VorherNachher-Fehler können und sollten wir vermeiden, wenn wir den Willen und die Willensbildung als nicht determiniert verstehen wollen. Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 305

Die Frage ist, ob wir diesen Fehler der Verwechslung von Vorher und Nachher wirklich vermeiden können. Aristoteles kennt ein analoges Problem des Vorher oder Nachher von Wirklichkeit (ἐνέργεια) und Möglichkeit (δύναμις). 674 In einer Hinsicht, so argumentiert er, könne man sagen, dass die Möglichkeit früher als die Wirklichkeit sei, in einer anderen nicht. Letztlich hält er die Wirklichkeit ontologisch und logisch für früher, weil er die unveränderliche Wirklichkeit als Grundlage für die Bewegung und Veränderung versteht. Deswegen wäre es in seinen Augen ein Fehler, die Möglichkeit für früher als die Wirklichkeit zu halten. Übertragen auf das Vorher und Nachher des Willens und der Vernunft müssten wir den Willen als Möglichkeit und die Vernunft als Wirklichkeit verstehen und die Vernunft für früher als den Willen halten. Wir würden damit der aristotelischen Metaphysik gerecht werden, aber nicht dem nicht-reflexiven, grundlosen Willen. Die Reflexion scheint nur früher zu sein als das Nicht-Reflexive, weil das Denken, zumindest so wie Aristoteles es versteht, logisch früher ist als das Gedachte. Ontologisch kann dies aber nicht so sein, weil wir sonst das Nicht-Reflexive nicht entdecken und erfassen könnten und die Wahrnehmung überflüssig wäre. Die reflexive Verwechslung von Früher und Später liegt aufgrund unseres reflexiven Zugangs zum Willen und zur Vernunft nahe. Wir können aber einsehen, dass auch die Vernunft nicht-reflexiv wirksam ist, und auch sie erfassen wir nur reflexiv, ohne sie damit zu bestimmen oder zu generieren. Wir setzen den Vorher-Nachher-Fehler fort, wenn wir Vernunft und Reflexion einfach gleichsetzen. 675 Auf analoge Weise würden wir das Vorher und Nachher verwechseln, wenn wir den freien Willen einerseits als nicht verursacht, andererseits aber als Fähigkeit, sich selbst zu perfektionieren, denken würden. Wir würden dem freien Willen damit eine metaphysische Qualität zuschreiben und ihn zu einer sich selbst setzenden und erschaffenden Fähigkeit machen. Dieser Fehler ist vermeidbar, wenn wir den Willen als nicht-verursachte, grundlose Fähigkeit verstehen, deren Bildungsprozess einer Orientierung bedarf, die sie sich selbst nicht geben kann. Der grundlose Wille bedarf einer Orientierung. Die Güte der Ziele ist von ihrer Vernünftigkeit und nicht vom Willen abhängig. Der Wille kann die Qualität der Ziele nicht selbst unterscheiden und beurteilen, sondern 306 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

nur wollen. Die Bedeutung der Vernunft bei der Willensbildung ist offensichtlich. Sie zeigt sich anhand der Differenz zwischen Erkennen und Wollen. Bernard Williams überlegt, wie und ob wir uns dazu entscheiden, etwas zu glauben. 676 Er meint, dass es keinen großen Spielraum für den Willen gibt, bei der Entscheidung für eine Überzeugung mitzuwirken. Williams sieht den Grund dafür in der Orientierung von Überzeugungen auf Wahrheit und darin, dass jede Wahrheit idealer Weise etwas sein sollte, was wir glauben. 677 Dies ist eine aristotelische Antwort auf die Frage, wie wir entscheiden, etwas zu glauben. Die Wahl einer Überzeugung ist schon mit ihrer Wahrheit entschieden. Die Frage, welche Bedeutung der Wille bei der Wahl hat, erübrigt sich. Wenn wir uns, Williams folgend, auf vernünftige Weise für wahre Überzeugungen entscheiden, kommt es nicht darauf an, ob wir dies wollen oder nicht. Die Vernunft und mit ihr die Wahrheit setzen sich von alleine durch. Einerseits treffen die Überlegungen von Williams zum Verhältnis von Willen und Wahrheit zu. Es wäre fatal, wenn die Wahrheit einer Überzeugung vom Willen abhängig wäre. Andererseits vermischt Williams den Willen mit dem Gewollten und kann deswegen der Bedeutung des Willens bei der Wahl von Überzeugungen nicht gerecht werden. Wir wissen häufig nicht, welche der möglichen Überzeugungen wahr und welche falsch sind, und entscheiden uns dennoch für eine von ihnen oder aus Unsicherheit für keine. Die eine, die wir gewählt haben, kommt uns im Nachhinein überzeugender vor als alle anderen, aber erst im Nachhinein. Das Wissen der Wahrheit ex post kann die Wahl nicht entschieden haben. Der Wille entscheidet blind und bedarf deswegen zu seiner Bildung einer vernünftigen Orientierung, die er nicht selbst leisten kann. Wir haben früher gesehen, dass die Wahrheit nicht das Ideal der Geltung und die Geltung kein Implikat der Wahrheit ist. Die Vernunft ist, so scheint es, nicht weniger grundlos als der Wille. Wille und Vernunft sind bei ihrer Bildung nicht-reflexive Fähigkeiten, und sie sind, wie wir am Beispiel des Sprechens und Hörens sehen, nicht die einzigen. 678 Es gibt keinen Grund, der Vernunft einen Vorrang vor dem Willen einzuräumen, auch wenn der blinde, grundlose Wille zu einer unvernünftigen Entscheidung beitragen kann und wir darüber jedes Mal enttäuscht sind. Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 307

3.3.4 Ob die Willensbildung einem Gemeinsinn folgt

Wir stehen, wie es scheint, vor einem Dilemma, dem Dilemma der Willensbildung, dass der Wille der Orientierung bedarf, weil er sich nicht selbst orientieren kann, dass die Vernunft aber keinen Vorrang vor dem Willen hat und ihn deswegen nicht einfach domi­ nierend bestimmen kann. Wir können die Willensbildung auch nicht einfach als eine Angelegenheit der Praxis betrachten, weil wir sie damit noch nicht verstehen. Es ist zwar so, dass sich der Wille in einer Praxis bildet, aber mit dem Hinweis darauf erfahren wir nichts über die Willensbildung. Wir können allgemein nicht mit Hinweisen auf die Praxis argumentieren, denn die Praxis zeigt nur, dass sich unser Wille bildet. Sie zeigt aber nicht, wie er sich bildet. Die Praxis zeigt auch, dass wir dem Willen spontan und grundlos folgen. Dies entspricht Wittgensteins Auffassung, dass wir Regeln spontan und blind folgen. 679 Wir können mit der Praxis nicht die Willensbildung erklären, weil wir den Fehler, den Wittgenstein mit dem Paradox680 des Regelfolgens beschreibt, dabei nur wiederholen würden. Der gebildete Wille kann mit jeder Praxis in Übereinstimmung gebracht werden, mit einer Praxis des Unrechts und der Gewalt ebenso wie mit einer Praxis des Rechts und der Moral. Deswegen kann die Sozialisierung des Willens in der Praxis die Willensbildung nicht erklären. Die Praxis der Lebenswelt bietet dem Willen alle möglichen Orientierungen an, gute und schlechte. 681 Gegen das eben erwähnte Dilemma spricht, dass es immer eine erfolgreiche gute oder schlechte Willensbildung gibt. Auch wenn wir im Nachhinein über das, was wir wollten, sagten oder taten, enttäuscht sind, sind es doch immer Resultate unserer Willensbildung. Ähnlich sind das Glücken und das Missglücken unserer Sprechakte immer Ergebnisse unseres Spracherwerbs. Von Dilemma kann daher nur im Hinblick auf das Verständnis der Willensbildung die Rede sein, nicht aber im Hinblick auf deren Wirksamkeit. Wenn weder der Wille noch die Vernunft bei der Willensbildung einen Vorrang haben, liegt es nahe anzunehmen, dass sie gleich vermögend sind und wechselseitig aufeinander einwirken, ohne dass eine Seite die Oberhand über die andere gewinnt. Die Offenheit dieses Verhältnisses erscheint nur so lange als Dilemma, solange wir kei308 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

ner der beiden Fähigkeiten einen Vorrang vor der jeweils anderen einräumen. Wenn wir das Verhältnis auf andere Weise verstehen, löst sich das scheinbare Dilemma von selbst auf. Wir müssen die Willensbildung tatsächlich nicht als Dilemma begreifen. Denn für ein Verhältnis von Fähigkeiten ohne wechselseitigen Vorrang bietet Kant in der Kritik der Urteilskraft ein Modell an. Es ist das freie Spiel der Erkenntniskräfte Verstand und Einbildungskraft bei der Bildung des Geschmacksurteils. Dieses Modell räumt keinem der beiden Vermögen einen Vorrang ein. Die Einbildungskraft präsentiert – als »sinnliches Vermögen« – die Gegenstände der Anschauung, der Verstand – als »Vermögen der Gesetzmäßigkeit« – die Begriffe. Ziel des freien Spiels ist die Mitteilbarkeit des Urteils über die Vorstellung eines schönen Gegenstands.682 Der Vergleich mit Kants Modell scheint weit hergeholt. Denn im Fall der Willensbildung geht es weder um ein ästhetisches Urteil noch um das Verhältnis zwischen Verstand und Einbildungskraft. Es geht bei der Willensbildung vielmehr um die Verbindung von Willen und Vernunft bei der Beurteilung dessen, was gelten kann und soll. Diese Verbindung können wir aber durchaus analog zum Verhältnis von Verstand und Einbildungskraft im ästhetischen Urteil verstehen. Denn auch bei der Bildung dieses Urteils hat der Wille eine Bedeutung. In Kants Urteilsmodell repräsentiert das »Begehrungsvermögen« den Willen. Im ästhetischen Urteil richtet sich das Begehrungsvermögen intentional auf einen Gegenstand des Wohlgefallens. Die bewegenden Kräfte dabei sind Lust und Unlust. Das Begehrungsvermögen ist ein Vermögen des Willens; es ist Ausdruck seiner Intentionalität. 683 Worauf sich der Wille als Begehrungsvermögen richtet, ist im ästhetischen Urteil zunächst unbestimmt. Die Orientierung auf einen Gegenstand des Urteils ist Ergebnis des freien Spiels der Erkenntniskräfte. Dieses Spiel entscheidet, wie Einbildungskraft und Verstand bei der Urteilsbildung zusammenwirken. Kant beachtet den nicht-reflexiven Charakter dieses Spiels; er beschreibt es als »freies Wohlgefallen« und als »Gunst«. Die Gunst sei das »einzige freie Wohlgefallen«. 684 Es ist offensichtlich, dass es sich bei der Gunst um eine Äußerung des Willens in Gestalt des Geschmacksurteils handelt. Die Gunst folgt keinem Zwang. Sie ist so frei wie der Geschmack, dessen Urteilsform Kant eine Bedeutung Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 309

gibt, die weit über das Ästhetische hinausreicht. Er nennt den Geschmack »das subjektive Prinzip der Urteilskraft überhaupt«, und damit bestimmt er die Form des Geschmacksurteils als Form aller subjektiven Urteile. Diese Urteilsform ist eine Grundfigur des Urteilens überhaupt, weil wir immer subjektiv urteilen, vielleicht erst tastend, quasi spielend und nach einem passenden Verhältnis der Erkenntniskräfte suchend. Das Spiel der Erkenntniskräfte ist deswegen nicht auf das ästhetische Urteil beschränkt. Ähnliches gilt auch für die Orientierung, die Kant dem ästhetischen Urteil gibt. Orientierend wirkt eine »Art sensus communis«, ein Gemeinsinn, der das Urteil verständlich und mitteilbar macht. Für die Analogie zwischen ästhetischem Urteil und Willensbildung ist zweierlei entscheidend: zum einen, dass der Gemeinsinn zu keiner der beteiligten Erkenntniskräfte gehört, sondern sich erst in ihrem Spiel bildet. Zum anderen ist es gerade für die Willensbildung als Spiel von Vernunft und Willen wichtig, dass sich der Gemeinsinn an den Maximen der Aufklärung, also am vorurteilsfreien, erweiterten (intersubjektiven) und konsequenten (kohärenten) Verstandesgebrauch orientiert. 685 Ähnlich wie in der Moral sind die Maximen keine Determinanten des Urteils, sondern nur Orientierungen. Im Fall der Willensbildung stehen die Maximen zwischen Willen und Vernunft, weil sie auf beide einen orientierenden und gleichzeitig verbindenden, synthetischen Einfluss haben können. Ob es so ist, muss sich allerdings im Spiel erst erweisen. Die »Liberalität der Denkungsart«686 ist das Charakteristikum eines am Gemeinsinn orientierten Urteils. Diese Charakterisierung wünschen wir uns auch für die Willensbildung, ihre Unabhängigkeit von zwingenden äußeren oder inneren Einflüssen. Dieser Wunsch muss nicht notwendig in Erfüllung gehen, weil das Spiel von Willen und Vernunft auch von Empfindungen geleitet sein kann; das Ressentiment oder andere Empfindungen können mitspielen. Die Gunst garantiert nicht die Güte ihrer Orientierung. ›Gunst‹ enthält ein Moment der Beliebigkeit und Offenheit in viele Richtungen. Wir wünschen uns, dass das Moment der Offenheit durch die Liberalität der Denkungsart ausgefüllt wird. Die Beliebigkeit wird erst durch das Urteil selbst unbeliebig. Dasselbe gilt für die Willensbildung, die mit ihrem Beitrag zum Urteil über das, was gilt, entschieden wird. 310 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Die Bedeutung der Maximen der Aufklärung für das ästhetische Urteil ist nicht frei von dem Verdacht, dass Kant im Spiel der Erkenntniskräfte dem Verstand doch einen Vorzug vor der Einbildungskraft einräumt. Die Maximen stehen nicht neutral zwischen den beiden Erkenntniskräften, weil sie offensichtlich einen kogni­ tiven Charakter haben. Sie entsprechen ohnehin dem Verstand und korrigieren, wenn überhaupt, die Einbildungskraft. Einen korrigierenden Einfluss in umgekehrter Richtung scheint es nicht zu geben. Der Gegenstand des Urteils bleibt mit den Maximen aber ebenso offen wie das Ergebnis des Urteils. Wir können uns auch beim vorurteilsfreien, kohärenten und umsichtigen Urteilen beliebigen Gegenständen zuwenden und uns Vorstellungen von ihrer Schönheit machen. Kant will die Beliebigkeit der Wahl von Gegenständen des Urteils nicht überspielen, wenn er in der Kritik der Urteilskraft beim Übergang zur Zweckmäßigkeit der Natur die Gunst als freie Tätigkeit der Einbildungskraft und nicht als Wirkung der Natur beschreibt.687 Es gibt also doch einen Einfluss der Einbildungskraft auf den Verstand. Die Beliebigkeit des Gunsterweises bleibt im freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand erhalten. Die Einübung des freien Spiels, die Improvisation der Urteilsbildung, stabilisiert sich aber als sensus communis, als Gemeinsinn, der die Verständigung mit anderen bei der Beurteilung des Schönen ermöglicht. Ähnlich kann sich das Verhältnis von Willen und Vernunft nach anfänglich improvisierendem, tastendem Spiel im Prozess der Willensbildung durch einen Gemeinsinn stabilisieren. Dieser Gemeinsinn kann sich an denselben Kriterien der Urteilsbildung orientiert wie das ästhetische Urteil. Die Intentionalität des Willens, die Richtung seiner Aufmerksamkeit folgt keiner vorbestimmten Route, sondern ist grundlos. Wenn der Wille von einem Gemeinsinn orientiert wird, ist er nicht mehr beliebig. Wenn wir die Willensbildung mit Kants Modell des Geschmacksurteils begreifen, stehen wir trotz der Unentschiedenheit des Verhältnisses von Vernunft und Willen vor keinem Dilemma. Wir erreichen die Grenze des reflexiven Zugangs zur Urteilsbildung, die wir als ›freies Spiel‹, aber nicht genauer als so beschreiben können. Kants Überlegungen zum Geschmacksurteil sind für das Verständnis der Willensbildung mehr als eine analoge Anleihe. Er trägt mit Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 311

seinem Konzept des Gemeinsinns unmittelbar zur Bestimmung dessen, was gilt, bei. Sein Beitrag steht unter dem Titel »Die Notwendigkeit der allgemeinen Beistimmung« (§ 22). Der erste Satz dieses Paragraphen lautet: »In allen Urteilen, wodurch wir etwas für schön erklären, verstatten wir keinem, anderer Meinung zu sein; ohne gleichwohl unser Urteil auf Begriffe, sondern nur auf unser Gefühl zu gründen: welches wir also nicht als Privatgefühl, sondern nur als gemeinschaftliches zugrunde legen«. Dieser Satz beschreibt das, was Kant unter ›Gemeinsinn‹ versteht. Wir können ›für schön‹ in dem Zitat mit ›für gültig‹ ersetzen und sind dann an dem Punkt, der für unsere Untersuchung entscheidend ist. Die zunächst beliebig erscheinende private Aufmerksamkeit einem Gegenstand wie der Menschenwürde oder einem anderen Prinzip 688 gegenüber wird subjektiv-allgemein, weil sie einem sozial wirksamen Gefühl entspricht. Im Fall der Menschenwürde ist es das Gefühl der Sympathie689 für Menschen, einschließlich der eigenen Person. Das Urteil über die Menschenwürde kann sich an den vorausliegenden Urteilen und dem dabei eingeübten und mit Sympathie verbundenen Gemeinsinn orientieren. Auch das Bewusstsein, dass die Menschenwürde das erste Prinzip der Verfassung ist, das jeden Menschen vor Gewalt, Missbrauch und Unrecht schützt, ist Teil des Gemeinsinns. Es ist eine Empfindungsgröße, die sich in einem Urteil artikuliert. Das soziale Gefühl, der mit Sympathie verbundene Gemeinsinn, ist so lange nur ein Gefühl, solange er nicht in einem Urteil artikuliert wird, das von einer Irritation oder Verletzung provoziert wird. Es ist damit aber noch nicht klar, ob das Urteil zutrifft und im Einzelnen begründet werden kann. Dies hängt vom Ergebnis des Spiels zwischen Verstand und Einbildungskraft ab, zwischen der Wahrnehmung der Verletzung und der Anwendbarkeit des Prinzips. Dieses Spiel dauert, deswegen ist das Urteil nicht rasch, es benötigt Zeit. Erst am Ende erhebt es den Anspruch zu gelten. Kant beschreibt das Unbeliebige des Urteils normativ: Der Gemeinsinn »will zu Urteilen berechtigen, die ein Sollen enthalten«. Dies ist keine Prognose der allgemeinen Zustimmung, sondern eine Aufforderung zuzustimmen. Kant spricht von einer »exemplarischen Gültigkeit« des Urteils. 690 Es ist – wie Kant weiter erläutert – eine Gültigkeit, die einerseits dazu berechtigt, das Urteil zur Regel zu 312 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

machen, die aber andererseits mit der Anmaßung zu urteilen verbunden ist. Wir haben eben Kants Spiel der Erkenntniskräfte als Spiel von Vernunft und Willen interpretiert. Wir sind dazu berechtigt, weil sämtliche Momente der Bildung des Geschmacksurteils auch auf die Willensbildung zutreffen, wenn wir sie als Spiel von Willen und Vernunft verstehen. Sie beginnt mit der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand des Interesses, mit der Zuwendung zu einer Frage oder zu einem Problem, das man beurteilen will, nimmt dann die kommunikativ eingeübte Urteilserfahrung (des Gemeinsinns) auf und mündet in ein Urteil über das, was gelten soll. Dieses Urteil ist dann Gegenstand eines Diskurses und Teil des Prozesses, an dessen Ende eine Entscheidung über das steht, was gilt. Auf diese Weise liegt die Willensbildung dem Zusammenhang zwischen dem, was ist – dem Gegenstand der Beurteilung – und dem, was sein soll, zugrunde. Die Willensbildung, die wie der Gemeinsinn in Kants Kritik der Urteilskraft gebildet und erworben werden muss, ermöglicht ein Urteil, das – im Idealfall – keinem Zwang unterliegt, weder einem äußeren noch einem inneren. Die Zwangsfreiheit ist eine ideale Forderung, die sich theoretisch leicht erheben, in der Praxis mit ihren vielfältigen sozialen und psychischen Einschränkungen und Zwängen aber schwer erfüllen lässt. Das Urteil ist auch in der Praxis durch keine Theorie der Moral oder der Erkenntnis festgelegt, sondern seiner Form nach offen. Es ist die allgemeine Form aller möglichen Urteile, die jedem Urteil zugrunde liegt. Kant nennt es »das Vermögen zu urteilen selbst oder die Urteilskraft«. 691 Das Urteil ist dann, wenn sich der Wille – orientiert an Kants Auffassung des Gemeinsinns – vorurteilsfrei, intersubjektiv und kohärent bildet, allgemein zustimmungsfähig. Praktisch, im sozialen und kulturellen Zusammenhang ist der Wille nicht ohne Mühe vorurteilsfrei, intersubjektiv offen und kohärent. Wir kommen darauf zurück.

Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 313

3.3.5 Ob das, was gilt, exemplarisch gilt

Zunächst wollen wir die Anwendbarkeit von Kants freiem Spiel der Erkenntniskräfte auf das Verhältnis von Willen und Vernunft bei der Willensbildung klären. Sie ist keineswegs selbstverständlich, im Gegenteil. Niemand, der befugt ist, über die Geltung von Gesetzen zu entscheiden, wird seine Entscheidung als ästhetisches Urteil verstehen wollen. Es wäre fatal, wenn die Geltung von Gesetzen eine Frage des Geschmacks von Richterinnen und Richtern wäre, selbst dann, wenn Fragen des Geschmacks bei der Formulierung von Gesetzen eine Rolle spielen. Der Hinweis, dass Kant das Geschmacksurteil nicht individualistisch, wonach jeder seinen eigenen hat, versteht, wird kaum fruchten. Es wäre aussichtslos, die Gebrauchsbedeutung von ›Geschmack‹, gestützt auf Kants ästhetische Theorie, zu verändern. Es kann nicht um das gehen, was wir als ›jedermanns Geschmack‹ bezeichnen. Kants Modell des freien Spiels der Erkenntniskräfte bei der Urteilsbildung macht aber nicht nur das Geschmacksurteil im Rahmen seiner ästhetischen Theorie verständlich. Es geht vielmehr um die menschliche Urteilsfähigkeit im Allgemeinen, um die Urteilskraft selbst und um die Grundlagen der Urteilsbildung. Kants Modell empfiehlt sich für unsere Frage nach dem, was gilt, weil er die Erkenntniskräfte und deren Spiel nicht-reflexiv versteht. Er deutet sie zwar reflexiv, versucht aber nicht, dem Spiel einen begründungstheoretischen Status ähnlich der transzendentalen Deduktion zu geben. Kants Modell empfiehlt sich außerdem, weil er dem Willen mit dem Begehrungsvermögen ebenfalls eine nicht-reflexive Bedeutung zubilligt. Der Wille, das Begehrungsvermögen, ist auch in Kants Modell grundlos. Daran ändern Empfindungen, die wie Sympathie oder Antipathie mit dem Willen verbunden sind, nichts. Kants Modell der Urteilskraft ist aus den eben erwähnten Gründen geeignet, die Willensbildung im Allgemeinen und jenseits der Ästhetik zu begreifen. Willensbildung und Urteilsbildung lassen sich nicht trennen. In der Willensbildung und in jedem Urteil, das sich auf einen konkreten Fall bezieht, bilden Wille und Vernunft eine Synthese. Deswegen können wir die Willensbildung auch nur als Urteilsbildung begreifen und verständlich machen. 314 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Wir müssen uns aber fragen, wie weit Kants Modell der Urteilskraft trägt, wenn es um die Geltung eines Prinzips wie dem der Menschenwürde geht. Wie angedeutet, sollten wir die theo­retische von der praktischen Bildung des Gemeinsinns unterscheiden, weil Vorurteilsfreiheit, Intersubjektivität und Kohärenz ­ideale Forderungen sind, die in der Praxis nicht selbstverständlich erfüllt werden. Dies ist die praktische Einschränkung der Reichweite von Kants Modell. Die zweite enthält das Modell selbst. Es erklärt nicht, welches Urteil für welchen Gegenstand gilt, sondern lediglich, wie ein Urteil über einen Gegenstand zustande kommt und wie es gilt. Es macht verständlich, dass das Urteil subjektiv-allgemein und exemplarisch, nicht aber objektiv-allgemein gilt. Es gilt wie eine Regel für einen Fall, aber nicht für alle ähnlichen und verwandten Fälle. Dies ist die Einschränkung, die mit jeder exemplarischen Geltung verbunden ist. Wie genau diese Einschränkung zu verstehen ist, kann ein Beispiel zeigen, das sich auf das Prinzip der Menschenwürde bezieht. Wenn es um die Frage geht, ob Forschungen, bei der menschliche Embryonen verbraucht werden, mit der Menschenwürde vereinbar sind, und das Verfassungsgericht diese Frage verneint, gilt dieses Urteil exemplarisch für diese Forschungen und nur für diese Forschungen. Das Urteil gilt nicht für andere Forschungen, bei denen die Menschenwürde ebenfalls berührt wird oder berührt werden könnte. Die exemplarische Geltung des Urteils ist fall- und gegenstandsbezogen. Sie hat keinen universalen Charakter wie ein Kategorischer Imperativ. Dennoch hängt die exemplarische Geltung mit der Geltung der Menschenwürde zusammen. Dieser Zusammenhang mag den Anschein erwecken, als ob die exemplarische Geltung in einem deduktiven Verhältnis zur Menschenwürde stünde. Dies trifft nicht zu. Da die Bedeutung der Menschenwürde nicht bestimmt und auch nicht allgemein bestimmbar ist, kann die exemplarische Geltung des Urteils über die verbrauchenden Forschungen mit menschlichen Embryonen auch nicht deduktiv von der Menschenwürde abhängig sein. Es ist vielmehr umgekehrt. Die Bedeutung der Menschenwürde bildet sich nach und nach mit den exemplarisch geltenden Urteilen des Gerichts. Sie ist die Summe dieser exemplarisch geltenden Urteile, aber nicht deren Grundlage oder deren Wesenskern. Diese Summe Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 315

verändert sich mit jedem Urteil, und weil sie sich summarisch und nicht deduktiv bildet, bleibt offen, ob die Urteile kohärent sind. Ob eine Summe von exemplarischen Urteilen über einen Gegenstand wie die Menschenwürde kohärent ist, kann selbst Gegenstand einer Beurteilung sein. Da es aber keinen Wesenskern der Menschenwürde gibt, fehlt der Maßstab der Kohärenz. Dennoch ist es sinnvoll, die Kohärenz der Urteile zu prüfen, weil inkohärente Urteile die Geltung des Prinzips gefährden. Je offensichtlicher die Inkohärenz von Urteilen ist, desto weniger wird das Prinzip anerkannt. Die exemplarische Geltung ist eine summarische. Da keine sum­ marische Geltung per se kohärent ist, weil es keinen verbindlichen, übergreifenden Maßstab gibt, der für den Nachweis der Kohärenz als Kriterium genutzt werden könnte, scheint das Bemühen um Kohärenz fruchtlos zu sein. Dies ist nicht der Fall, weil die kohärente Anwendung eines Urteils wie dem über die verbrauchenden Forschungen mit menschlichen Embryonen auf ähnliche Forschungen möglich ist. Ähnliche Probleme bieten etwa der Einsatz sog. Genscheren und alle Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Ob es einen beurteilbaren Zusammenhang zwischen diesen Forschungen gibt, mag wissenschaftlich offensichtlich sein. Damit ist aber im Blick auf die Menschenwürde noch nichts entschieden. Der Zusammenhang ist Gegenstand der Willensbildung. In die Willens- und Urteilsbildung über Gegenstände wie die eben erwähnten fließen natur- und rechtswissenschaftliche, mora­ lische und weltanschauliche Gesichtspunkte ein, die von den Richterinnen und Richtern und nicht nur von ihnen subjektiv-allgemein beurteilt werden. Die Willensbildung ist diskursiv und folgt – so nehmen wir idealerweise an – den Standards der vorurteilsfreien, intersubjektiven und kohärenten Urteilsbildung. Die Willensbildung führt auch am Ende zu subjektiv-allgemeinen Urteilen, weil abweichende Urteile und Voten nicht ausgeschlossen sind. Selbst die Erfüllung der idealen Standards der Vorurteilsfreiheit, Intersubjektivität und Kohärenz führt nicht zu identischen Urteilen aller Personen, die sich ein Urteil bilden. Die exemplarische ist keine universale und keine alternativlose Geltung. Dasselbe trifft auf die Summe der exemplarischen Urteile zu. Exemplarisch wird jeweils ein bestimmtes Problem beurteilt, dem die Urteilenden gerecht werden wollen. Für die Beurteilung 316 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

eines Problems gibt es nicht nur eine, sondern mehrere Maximen, denen die Urteilenden folgen können. Im Fall der Forschungen mit menschlichen Embryonen hängen die denkbaren Maximen davon ab, ob den Embryonen der gleiche Schutz wie Personen zugebilligt wird oder nicht. Sowohl die Maxime ›Menschliche Embryonen sind von der Vereinigung von Ei- und Samenzelle an Personen und sollen deswegen geschützt werden‹ als auch die Maxime ›Menschliche Embryonen sind keine Personen und sollen nicht wie Personen geschützt werden‹ sind denkbar. Die Wahl einer dieser Maximen ist weder natur- noch rechtswissenschaftlich zu begründen. Sie setzt moralische und weltanschauliche Überzeugungen voraus. Die Diversität dieser Überzeugungen liegt ihrerseits den Maximen zugrunde, die richtungsweisend für Entscheidungen sein können. Die Universalisierung beider Maximen ist denkbar, löst aber das Problem nicht, weil der Widerspruch erhalten bleibt. Es gibt noch einen dritten Grund für die exemplarische Geltung von Entscheidungen. Er hängt mit Kants Verständnis des Gemeinsinns zusammen. Kants Auffassung von ›Gemeinsinn‹ enthält ein »Sollen«692 und darf deswegen nicht von äußeren, empirischen Bedingungen bestimmt oder gar erzwungen sein. Die Zustimmung zur Geltung des Urteils wird nicht vorhergesagt oder gar erzwungen, sondern nur gefordert. Die Zustimmung wird anderen zugemutet, aber nicht aufgenötigt. Die exemplarische Geltung eines Urteils hat mit dem Sollen eine normierende Kraft, deren Wirksamkeit nicht vorhersagbar ist. Selbst dann, wenn das Urteil bereits wirksam ist, bleibt die Zustimmung dazu eine Zumutung. Sie wird durch das Urteil nicht erzwungen. Auch die Summe von exemplarischen Urteilen über ein Prinzip wie die Menschenwürde enthält ein mit dem Gemeinsinn verbundenes Sollen. Selbst wenn wir den Gemeinsinn, anders als Kant dies tut, mit dem Gefühl der Sympathie verbinden, verändert er die Unterschiede der moralischen und weltanschaulichen, kulturellen und religiösen Bedingungen der Urteils- und Willensbildung nicht unmittelbar. Sympathie ist zunächst ein Gefühl, das – wie Max Scheler693 beschreibt – mehrere Dimensionen und Stufen hat. Es ist ein Mitgefühl, das als aktive Einfühlung in die Freude und das Leid des Anderen und nicht als nur passives Mitfühlen sittlich anspruchsvoll ist. Es ist darüber hinaus das Ergebnis von Urteilen und kann Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 317

sich deswegen mit dem Gemeinsinn verbinden. Scheler kritisiert die Mitleids-Ethik Schopenhauers und der Empiristen als »wertblind«. Die passive Einfühlung, die Empathie, kann sich auch an den Qualen, die andere erleiden, erfreuen. Deswegen ist dieses Mitgefühl nicht nur sittlich unzuverlässig; es kann verwerflich sein.694 Scheler macht darauf aufmerksam, dass sich Sympathie nicht in der Ähnlichkeit von Erlebnissen und Gefühlen erschöpft. Das Verständnis, das wir für andere haben, ist noch kein Miterleben. Wer Verständnis für die Verletzungen hat, die Menschen anderer Hautfarbe durch Rassismus oder wegen ihrer anderen sexuellen Orientierung durch Diskriminierung erleiden, fühlt noch nicht das, was sie fühlen und erleiden. Das von Sympathie geleitete Mitfühlen ist anspruchsvoller als das bloße Miterleben, weil es voraussetzt, dass man sich in den Anderen nicht nur fühlend hineinversetzen kann. Es kommt nicht allein auf das Mitfühlen an, weil es ansteckend sein kann und sich dann vielleicht in Hysterie erschöpft. 695 Es kommt auf die Folgerungen an, die wir für uns selbst aus dem Mitfühlen ziehen. Damit bewirken wir etwas für unsere Willensbildung, für das, was werden soll. Sympathie, wie wir sie verstehen, verbindet Nähe und Distanz. Die Nähe ist von der nicht-reflexiven Fähigkeit des Mitfühlens 696 , die Distanz von der reflexiven Fähigkeit zu urteilen abhängig. Nur in dieser Verbindung kann sie zu einem sozial wirksamen, das soziale Leben fördernden Gemeinsinn werden. Es genügt nicht, die Verletzungen anderer fühlend zu begleiten. Es kommt für die eigene Willensbildung auf die Urteile an, die wir beim Mitfühlen mit anderen treffen. Erst durch die Urteile, die wir bilden, kann der mit Sympathie verbundene Gemeinsinn ein Sollen enthalten. Rassistische und diskriminierende Verletzungen sollen unmöglich werden, weil sie nicht nur den Gemeinsinn, sondern das soziale Ganze verletzen. Der Gemeinsinn erfordert keine weltanschauliche und kulturelle Uniformität, ist aber die unverzichtbare Grundlage für die Lösung und Entschärfung sozialer Konflikte. Ohne Sympathie, ohne die Verbindung emotionaler Nähe und urteilender Distanz, finden wir nicht zur Einsicht in das, was werden soll. Ohne diese Einsicht verstehen wir auch nicht, was exemplarisch gelten sollte. In die urteilende Distanz fließen im Idealfall auch äußere, wissenschaftliche und politische Überzeugungen ein. Sie werden die 318 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

Willensbildung weltanschaulich nicht neutralisieren. Die partielle Unabhängigkeit von äußeren Bedingungen macht die Wirksamkeit des Gemeinsinns in den Urteilen trotz der wechselseitigen Sympathie der Urteilenden zu einer Zumutung. Die Zumutung besteht darin, dass es keine theoretische oder wissenschaftliche Verbindlichkeit gibt, welche die Geltung begründen und ihre Anerkennung fördern würde. Die summarische, exemplarische Geltung von Urteilen ist auch in dieser Hinsicht eine Zumutung. Sie erlaubt darüber hinaus aus analogen Gründen auch keine Vorhersage über künftige Urteile. Sie können additiv sein und das bisher Geltende bestätigen; sie können davon auch abweichen und das bisher Geltende korrigieren. Eben haben wir das Prinzip der Menschenwürde als Beispiel für die exemplarische und summarische Geltung bemüht. Diese Merkmale treffen auch auf das Prinzip der Widerspruchsfreiheit zu. Exemplarisch gilt das Prinzip jeweils für seine ontologische, aussagenlogische und moralische Bedeutung. In jeder einzelnen dieser Bedeutungen gilt das Prinzip in bestimmten Zusammenhängen. Die Verbindung und Differenz zwischen den Versionen des Prinzips ist aber leichter erkennbar als im Fall der Menschenwürde. Der entscheidende Grund dafür ist, dass in die Willens- und Urteilsbildung für die jeweilige Geltung des Prinzips der Widerspruchsfreiheit keine weltanschaulichen oder moralischen Bedingungen einfließen. Wo solche Bedingungen für die Urteilsbildung keine Bedeutung haben, können wir die exemplarische Geltung auch als ›logische‹ oder ›begriffliche‹ bezeichnen. Das Verhältnis zwischen den exemplarisch geltenden Versionen des Prinzips der Widerspruchsfreiheit ist aber auch dann nicht von einer übergeordneten logischen oder begrifflichen Bedeutung des Prinzips bestimmt. Es ist deswegen nicht möglich, über die Kohärenz der Versionen zu entscheiden. Dieses Urteil steht unter dem Vorbehalt, dass wir onto­logische, logische und moralische Begriffe und ihre Bedeutungen unterscheiden. Dann können wir davon ausgehen, dass das, was ist, und das, was sein soll, in jeder einzelnen Version des Prinzips der Widerspruchsfreiheit etwas anderes ist. Wir dürfen dennoch von einer intuitiv nachvollziehbaren Verbindung der Versionen ausgehen und ihre summarische Geltung behaupten.

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3.3.6 Ob das, was exemplarisch gilt, gut ist

Wir sind davon ausgegangen, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Dieser Zusammenhang setzt eine Willensbildung voraus, die Personen befähigt, das, was ist, nicht nur zu erkennen und zu beurteilen, sondern mit dem, was sein soll, zum Wohl aller anderen zu verbinden. Angelehnt an Kants Konzept der Urteilskraft verstehen wir die Willensbildung als freies Spiel von Willen und Vernunft. Wir machen dabei stillschweigend die idealen Annahmen, dass der Wille gut und die Vernunft kognitiv anspruchsvoll ist. Ideal ist auch die Annahme, dass die Willensbildung vorurteilsfrei, intersubjektiv und kohärent ist. Trotz dieser idealen Annahmen kann das Resultat der Willensbildung immer nur exemplarisch, für bestimmte Fälle und nicht wie Kategorische Imperative universal wirksam sein. Es ist noch nicht klar, unter welchen Bedingungen der exemplarisch geltende Zusammenhang gut sein kann, und zwar gut für alle, für die er gilt. Die Willensbildung ist eine exemplarische Synthese von Willen und Vernunft, die individuell, aber in der Praxis der Lebenswelt gebildet wird, in der schon vor der Willensbildung nicht nur Gesetze, sondern Konventionen und Sitten gelten. Die individuelle Willensbildung findet in einem sozialen, rechtlichen und politischen Rahmen statt; viele sind an der Willensbildung beteiligt, von der Familie über die Schule und die Ausbildung bis zur Arbeit und zum Beruf. Alle an der Willensbildung Beteiligten haben ihren eigenen Willen und ihre eigenen Ziele, spielen aber bei der Willensbildung zusammen. Gut ist das Zusammenspiel, wenn es von einem gemeinschaftlichen Sinn, einem Gemeinsinn, begleitet wird. Die Frage ist, wie der Gemeinsinn verbunden mit dem Gefühl der Sympathie wirkt. Er ist in dieser Verbindung ein sittlich wirksames Gefühl, das mit allen Ansprüchen verbunden ist, die ein gutes gemeinschaftliches Leben ermöglichen. Diese Ansprüche sind unterschiedlicher Art, sittlich, moralisch, rechtlich, religiös und kulturell. Die sittlichen sind so selbstverständlich wie die Sympathie für die eigene Familie, für die Verwandten und Freunde. Ähnliches gilt für die kulturellen Ansprüche. Die moralischen und die recht320 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

lichen sind dagegen nicht selbstverständlich. Außerdem lassen sich diese Ansprüche nicht klar voneinander abgrenzen. Es sind Ansprüche der Menschenwürde, der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit, der Solidarität und des Lebensschutzes, die sowohl einen rechtlichen als auch einen moralischen Charakter haben. Diese Ansprüche werden, was ihre rechtliche Seite angeht, von Gesetzen garantiert. Gesetze garantieren aber nicht die Moralität derer, für die sie gelten. Sie machen das Zusammenleben der Individuen in gewisser Weise von deren Moral unabhängig. Gesetze machen das Zusammenleben auch davon unabhängig, ob in einer Gesellschaft Gemeinsinn und Sympathie herrschen. Da die Ansprüche, die von gesetzlich garantierten Prinzipien keine Rechtspflichten sind, müssen die Mitglieder einer Gesellschaft ihre Ansprüche an Staat und Gesellschaft auch nicht mit Selbstverpflichtungen oder solidarischen Pflichten anderen gegenüber verbinden. Sie sollten es aus moralischen Gründen tun, werden aber nicht dazu gezwungen. Ihr Anspruchsdenken kann ungehindert egoistisch sein. Gemeinsinn und Sympathie werden ihnen nicht abverlangt, und wenn sie diese Grundlagen guter sozialer Beziehungen nicht selbst ungezwungen entwickeln und pflegen, wird das soziale Ganze darunter leiden und kaum in der Lage sein, Krisen standzuhalten. Die von uns vorgeschlagene Verbindung mit der Sympathie mutet dem Gemeinsinn mehr zu als Kant, aber nicht sehr viel mehr. Seine Konzeption des Schönheitsurteils als ›interesseloses Wohlgefallen‹ schließt zunächst den Einfluss von Gefühlen auf die Urteilsbildung aus. Das Wohlgefallen soll rein reflexiv sein, wie er im § 4 der Urteilskraft erklärt. Der Gemeinsinn soll aber auch in Kants Konzeption ein emotionales Gewicht haben. Er soll »durch Gefühl und nicht durch Begriffe« wirken, nicht zuletzt deswegen, weil sich ohne die Aktivierung der Gemütskräfte das Schönheitsurteil nicht mitteilen ließe. 697 Die kommunikative Wirksamkeit des Gemeinsinns benötigt auch nach Kants Urteil eine emotionale Einstimmung. An Sympathie denkt er nicht, dabei ist die Sympathie – zumindest nach unserem Verständnis – als nicht-reflexive Fähigkeit des Mitfühlens mit anderen den Gefühlen der Lust und Unlust gegenüber neutral. Es spricht daher auch aus Kants Per­ spektive nichts gegen die Verbindung von Gemeinsinn und Sympathie. In dieser Verbindung hat der Gemeinsinn ein emotionales Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 321

Gewicht, das im sozialen Leben wirksam werden kann, weil es die Menschen einstimmt und öffnet für Urteile über die Not und das Leiden der Anderen. Der mit Sympathie verbundene Gemeinsinn ist eine Art Freundschaft, die der Gemeinschaft mit den Anderen um ihrer selbst willen dient. Es ist ein Wohlwollen, das die Anderen in ihrer eigenen Wirklichkeit wahrnimmt und sich, wie Robert Spaemann schreibt, deren Wirklichkeit gegenüber nicht abstinent verhält.698 Es geht um mehr als Altruismus und um mehr als die Vermeidung des Egoismus. Es geht um die Anerkennung der Wirklichkeit der Anderen, die einen nur dann in die Gemeinschaft mit ihnen integriert, wenn wir für die Anderen Wohlwollen empfinden. Wohlwollen verbindet Gemeinsinn mit Sympathie. Die Beschreibung dessen, was gut für eine Gemeinschaft ist, und die Wahrnehmung der sozialen Welt, wie sie ist, sind zweierlei. Ob jeder Einzelne Wohlwollen für jeden Anderen hat, können wir nicht wissen. Wir müssen es auch nicht wissen, solange Gesetze gelten und die Menschen an ihre Verpflichtungen als Mitglieder der Gesellschaft erinnern. Selbst unter diesen minimalen Bedingungen dürfen wir davon ausgehen, dass die Sympathie ein sittliches Gefühl ist, das wir allen Menschen zuschreiben können. Sympathie und Gemeinsinn als wechselseitiges Wohlwollen sind mit dem Bedürfnis nach verlässlich und dauerhaft Gutem verbunden. Denn ein Bedürfnis nach verlässlich Gutem ohne Sympathie für die Anderen wäre widersprüchlich und würde das Bedürfnis unmöglich machen. Das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem und die Sympathie für die Anderen sind untrennbar miteinander verbunden und sind – wiederum ideale  – Voraussetzungen der Willensbildung. Nur unter diesen Voraussetzungen kann die Willensbildung selbst gut und vernünftig sein. Der so gebildete Wille jedes Einzelnen kann Gutes von Schlechtem, Vernünftiges von Unvernünftigem unterscheiden. Wenn der Wille diesen Bildungsprozess gemacht hat, hilft er allen, die auf diese Weise ihre Urteilsfähigkeit gebildet haben, diejenigen Zusammenhänge zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, zu erkennen, die auch gelten können. Ideal ist die Willensbildung dann, wenn sie es ermöglicht, einen für alle guten Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was gelten kann, herzustel322 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

len. Jede einzelne Person, die an dieser Entscheidung beteiligt ist, denkt zwar, dass das eigene Urteil auch gelten soll, aber dies ist nicht notwendig so. Am Ende des Entscheidungsverfahrens wird etwas gelten. Ob dies auch gelten soll, ist damit nicht entschieden und kann auch bezweifelt werden. Das, was gelten wird, ist Ergebnis gemeinsamer Abwägung und argumentierender Auseinandersetzung. Dies bedeutet, dass auch diese Auseinandersetzung eine Willensbildung voraussetzt. Die Gewichtung von Argumenten bei der Auseinandersetzung ist selbst Ergebnis einer Willensbildung, einer gemeinschaftlichen. Für die gemeinschaftliche Willensbildung gelten die gleichen Bedingungen wie für die individuelle. Entscheidungen über die Geltung der Menschenwürde und anderer Prinzipien können nur dann gut für alle sein, wenn sie auf der Grundlage mitmenschlicher Sympathie, vorurteilsfrei, intersubjektiv und kohärent getroffen werden. Die Abwägung zwischen guten und schlechten Argumenten setzt diesen Gemeinsinn voraus. Es gibt keine Argumente, die unabhängig von der Willensbildung wären. Es sind immer die Argumente von Personen und nicht Argumente an sich, und es sind immer Personen mit einer bestimmten Willensbildung, die bestimmte Argumente anderen vorziehen und auf dieser Grundlage über das, was gilt, entscheiden. Spätestens an dieser Stelle sollte uns klar sein, dass das ideale Verständnis der Willensbildung Grenzen hat, weil die idealen Voraussetzungen, die wir beschrieben haben, nicht von allen Personen in einem Entscheidungsprozess erfüllt werden. Es gibt bessere und schlechtere, vernünftigere und weniger vernünftige Personen und durchsetzungsfähigere und schwächere Persönlichkeiten, und ihre Argumente verhalten sich entsprechend. Die guten Argumente können sich am Ende nicht durchsetzen, wenn die Stärkeren andere vertreten. 699 Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich am Ende die stärkeren, aber nicht die besseren durchsetzen. Dann gilt das, was nicht gelten sollte. Was nach dem Urteil jedes Einzelnen gelten kann und soll, ist nicht notwendig das, was am Ende gelten wird. Die exemplarische Geltung erfüllt unter den realen Bedingungen kollektiver Entscheidungen die Ansprüche, die wir aus individueller Perspektive an sie stellen, nur eingeschränkt. Es ist deswegen nicht vorhersehbar, ob Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 323

die exemplarische Geltung jeweils für alle gut ist. Kollektiv entscheiden Mehrheiten. Wenn die Willensbildung mehrheitlich den idealen Voraussetzungen entspricht, wird das, was Mehrheiten entscheiden, für alle gut sein. Wenn die Willensbildung mehrheitlich nicht diesen Voraussetzungen entspricht, ist das, was gelten wird, nicht gut für alle. Dann sind die Entscheidungen von Mehrheiten, wie John Stuart Mill sagt, tyrannisch.700 Wenn die Willensbildung das sittliche Gefühl des Gemeinsinns und der Sympathie für die Anderen prägt, ist das Dilemma der Willensbildung überwunden. Da die Willensbildung dieses Ziel aber auch verfehlen und von Vorurteilen, Irrtümern und Selbstinteresse belastet sein kann, ist es entscheidend, wie über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, entschieden wird. Würden sich Mehrheiten an den Idealen der Willensbildung orientieren und dem Gemeinsinn folgen, würden sie gut entscheiden und dem Bedürfnis nach dauerhaft Gutem dienen. Die Willensbildung und der Gemeinsinn haben eine Genese, die einen Einfluss auf das, was gelten wird, hat. Teil dieser Genese sind die sittlichen Einstellungen701 der Personen, die über die Geltung von Gesetzen entscheiden. Diese Einstellungen sind heterogen, haben einen politischen, kulturellen und weltanschaulichen Charakter, beeinflusst vom Bildungsprozess und der Praxis der Lebenswelt. Sie prägen die Überzeugungen und Haltungen, die regionale sittliche, aber auch universale ethische Bedeutungen haben können. Diese Genese prägt auch Mehrheitsentscheidungen, die in einem Parlament frei vom Fraktionszwang als Gewissensentscheidungen gelten. Denn auch das Gewissen jedes Einzelnen folgt diesen Einstellungen und kann ihnen auch nicht widersprechen, weil sie das Gewissen prägen.702 Die sittliche Prägung kann durch Argumente beeinflusst, damit aber weder aufgehoben noch neutralisiert werden. Es wäre unsittlich, von Personen, die über das, was gelten soll, entscheiden, sittliche Neutralität zu verlangen. Unsittlich wäre dies, weil es nicht ohne Selbstwiderspruch möglich ist, von den eigenen Einstellungen zu abstrahieren. Denn die Wahrung der eigenen Identität ist – nicht nur bei Entscheidungen – eine Verpflichtung, eingedenk der Mahnung von Sokrates, sich selbst gegenüber nicht widersprüchlich zu sein.703 Wenn die sittlichen Einstellungen 324 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

aber heterogen sind oder sich wechselseitig ausschießen, kann die Wahrung der je eigenen Identität nicht zu einer guten kollektiven Willensbildung führen. Dann bricht das Dilemma der Willensbildung im Kollektiv der Entscheidungen erneut auf. Dies ist kaum zu vermeiden, wenn die individuellen Willensbildungen der Personen, die zu Entscheidungen befugt sind, so heterogen sind wie die Überzeugungen, von denen die einen menschlichen Embry­ onen denselben Lebensschutz wie Personen zubilligen, die anderen nicht. Wenn sich trotz dieses Dissenses alle einig sind, dass sie dazu verpflichtet sind, auf Fragen dieser Art verbindlich zu antworten, herrscht noch hinreichend viel Gemeinsinn und wechselseitige Sympathie. Der Wille der Mehrheit wird dann nicht von heterogenen individuellen Willensbildungen belastet sein, wenn ein Gemeinsinn herrscht, der von Sympathie den Anderen gegenüber geleitet wird. Nur so können widersprüchliche sittliche Einstellungen auch in der kollektiven Willensbildung überwunden werden. Der Zwang von Mehrheiten ist übrigens nicht notwendig negativ, weil er auch ein Weg sein kann, kollektiv widersprüchliche sittliche Einstellungen zu überwinden. Dann muss der Mehrheitswille auch Ausdruck des Gemeinsinns sein. Sittliche Einstellungen können den Gemeinsinn fördern, aber auch gefährden. Sie zu ignorieren ist ebenso naiv wie der Glaube an rein vernünftige, kognitiv anspruchsvolle, objektiv begründete, weltanschaulich neutrale Entscheidungen. Dieser Glaube kann harmlos sein.704 Er kann sogar helfen, Einwände gegen Entscheidungen abzuwehren. Die harmlose Täuschung kann dabei helfen, über die reflexive Uneinholbarkeit eines Prinzips wie der Menschenwürde vorläufig hinwegzusehen. Damit kann in der Praxis der Lebenswelt der Schein der argumentativen, reflexiven Richtigkeit der Auslegung von Prinzipien gewahrt werden. Der Preis dafür ist, die Bedeutung der Willensbildung zu igno­ rieren. Keine Täuschung kann gänzlich ohne ein Schadensrisiko sein, vor allem nicht die reflexive Selbsttäuschung. Der Schaden dieser Selbsttäuschung ist die reflexive Verkürzung der Willensbildung auf das Ideal der Vernünftigkeit. Wir übersehen dabei die Bedeutung des Willens und die Bedeutung der sittlichen Einstellungen und der sozialen Praxis bei der Willensbildung. Mit dieser rationalen Verkürzung schränken wir die menschliche Ob eine rein rechtliche Geltung möglich ist | 325

Natur auf die Vernunftnatur ein und missachten die Willensnatur. Dies ist keineswegs harmlos, weil wir so die Bedeutung der Willensbildung für das, was exemplarisch gelten kann, nicht verstehen können. Wir täuschen uns, wenn wir glauben, dass die Geltung von Prinzipien wie die Menschenwürde rein kognitiv und unabhängig von der Willensbildung gesichert werden kann. Die Willensbildung führt dann in kein Dilemma, wenn Wille und Vernunft im Gemeinsinn eine Synthese bilden, die in der Sympathie für die Anderen zum Ausdruck kommt. Dies ist die beste Voraussetzung dafür, dass wir unserem ontologischen Bedürfnis nach dauerhaft Gutem bei der kollektiven Willensbildung zum Wohl der Gemeinschaft folgen können.

326 | Ob eine rein rechtliche Geltung ­möglich ist  

EIN BLIC K ZURÜ C K EIN BLICK ZURÜ CK  For us, there is only the trying. The rest is not our business. (T. S. Eliot, Four Quartets, East Coker)

D  

er leitende Gedanke dieser Untersuchung ist, dass die Philosophie die Aufgabe hat, zu begreifen, was ist, und dass sie dies nur kann, wenn sie begreift, was gilt. Der weitere Gedanke ist, dass das, was gilt, einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellt. Es kommt darauf an, wie sich dieser Zusammenhang bildet und ob er begründbar und begründet ist oder nicht. Er ist begründbar, wenn es dafür geeignete Prinzipien wie die Widerspruchsfreiheit und die Menschenwürde gibt. Diese Prinzipien sind selbst nicht begründbar. Sie gelten unabgeleitet. Sie können nur gefunden und anerkannt, aber nicht reflexiv hergestellt oder rational abgeleitet werden. Es liegt nahe, von hier aus den ersten Gedanken wieder aufzunehmen, weil auch das, was ist, kein Produkt der Reflexion, sondern etwas Nicht-Reflexives ist. Wir können es nur finden, aber nicht durch Reflexion rational herstellen. Die Prinzipien, die wir finden, leiten unser weiteres Suchen und Finden. Wir können nicht unvermittelt und nicht unmittelbar das erfassen, was ist. Das unmittelbar Gegebene gibt es für uns nicht. Dies ist seit Kants Überlegungen zum ›Ding an sich‹ und Wilfrid Sellars’ ›Mythos des Gegebenen‹ keine neue Einsicht. Ihnen geht es um Nachweise der Geltung der Erkenntnisbegriffe, aber nicht um das, was ist. Unser Geltungs-Gedanke ist deswegen nicht ihrer. Da wir Prinzipien finden müssen, ist ein weiterer Gedanke, dass diese Prinzipien schon existieren müssen, damit sie einen Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, herstellen können. Wenn wir die Prinzipien konstruieren würden, wäre dieser Gedanke zirkulär und bedeutungslos. Er ist nicht zirkulär, weil wir die Prinzipien finden und unser Wissen von ihnen nie vollständig und abgeschlossen ist. Ihre Bedeutungen sind offen, weil sie nicht-reflexiver Natur sind. Wir können uns ihren Bedeutungen  327

nur reflexiv nähern, sie aber nie ganz erfassen. Sie sind uneinholbar. Es scheint so, als würden wir mit der Einsicht in die Offenheit der Prinzipien alle inhaltlich gleich machen. Damit würden wir indirekt und durch die Hintertür die Prinzipien doch konstruieren. An den Beispielen der Widerspruchsfreiheit und der Menschenwürde erkennen wir, dass der Zugang zu den Prinzipien unterschiedlich ist. Es ist entweder ein Aufstieg oder ein Abstieg. Zur Menschenwürde steigen wir auf, versuchen, sie unter den sich ständig verändernden Bedingungen der Lebenswelt zu verstehen. Letzteres gilt auch für das Würde-Konzept, das Kant vertritt, wenn wir uns daran in der Praxis orientieren. Von der Widerspruchsfreiheit gehen wir aus und erkunden ihre vielfältigen Bedeutungen. Wenn wir – dies vorausgesetzt – daran denken, dass wir nur begreifen können, was ist, wenn wir begreifen, was gilt, zeigt sich uns das, was ist, auf recht unterschiedliche Weise. Es zeigt sich uns in der Vielfalt dessen, was es gibt und wovon wir nichts wissen, bevor wir es gefunden haben. Es scheint so, als hätte das, was ist, abhängig von der Art der geltenden Prinzipien sehr verschiedene Qualitäten. Dies trifft einerseits zu, andererseits aber nicht. Wir nehmen einerseits an, dass die Geltung der Naturgesetze dem, was ist, eine Stabilität verleiht, die durch die Geltung der Widerspruchsfreiheit und der Menschenwürde nicht erreicht werden kann. Offenbar haben naturwissenschaftlich gefundene Prinzipien einen sehr viel stärkeren Einfluss auf das, was ist, als Prinzipien der Moral und des Rechts. Letztere können wir – wie es scheint – ignorieren und manipulieren, erstere nicht. Andererseits können wir nicht nur diese beiden, sondern alle Arten von Prinzipien ignorieren mit Folgen, die das soziale und biologische Leben gefährden. Diese Ignoranz kann mit der relativistisch und nihilistisch anmutenden Frage beginnen, warum überhaupt etwas gilt und nicht vielmehr nichts. Dies ist eine Version der Leibniz’schen Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts. Die vorläufige Antwort auf beide Fragen ist, dass das, was wir in der Praxis unserer Lebenswelt finden, gilt und existiert, jedenfalls zunächst. Diese Antwort ist nur vorläufig, weil keine Praxis eine Garantie dafür ist, dass wir das finden, was auch gelten soll. Wir müssen uns nicht mit dem abfinden, was in einer Praxis gilt. In einer menschenverachtenden, rassistischen, gewalttätigen Praxis 328 | Ein Blick zurück  

gelten Gesetze, die nicht gelten sollten. In einer Praxis der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gelten ebenfalls Gesetze, die nicht gelten sollten. Wir ignorieren in einer solchen Praxis die geltenden Naturgesetze, weil wir so tun, als könnten wir der Natur unser eigenes, egoistisches Gesetz der Ausbeutung und des Selbstinteresses aufzwingen. Die Folgen sind offensichtlich. Was immer in der einen oder anderen Praxis an Verwerflichem gilt, sollte nicht gelten. Das Sollen, von dem hier die Rede ist, erklärt uns weder eine vorgefertigte moralische Theorie, noch finden wir es in der Praxis der Lebenswelt. Wir finden es im gemeinsamen Nachdenken über das Gute, das wir jetzt und künftig tun und erreichen können. Die wissenschaftliche Erforschung der Natur ist dabei unverzichtbar. Wir haben ein Interesse an diesem Nachdenken, weil wir ein Bedürfnis nach dem Guten haben. Dieses Bedürfnis ist der Grund dafür, dass wir wollen, dass etwas gilt, was gut und dauerhaft und zuverlässig und vertrauenswürdig ist. Dieses Bedürfnis ist Teil unserer Natur. Es ist ein ontologisches und nicht nur ein psychisches Bedürfnis, weil es unser ganzes Leben betrifft. Es muss keinen weiteren Grund geben zu wollen, dass etwas gilt, was gut ist, als dieses Bedürfnis selbst. Dieses Bedürfnis ist aber zwiespältig, weil das, was für die einen gut ist, für die anderen schlecht sein kann, obwohl alle gut leben wollen. Das Wissen des Guten kann diesen Zwiespalt nicht aufheben, weil wir dieses Wissen nicht haben. Dies ist aber kein Grund, an der Existenz des Guten zu zweifeln. Das Gute können wir prinzipiell voraussetzen, und wir tun es indirekt auch, wenn wir uns darauf einigen, dass wenigstens das, was nicht schlecht ist, gelten soll. Das Gute gehört wie die Prinzipien, die wir auffinden, zum Bereich des Nicht-Reflexiven. Dazu gehören alle Prinzipien des Denkens, Handelns und Urteilens, weil sie keine reflexiv erdachten Konstrukte sind. Mit ihnen bilden wir den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Die Prinzipien existieren so wie das, worauf wir sie anwenden, was immer es sei. Es können Sätze und Behauptungen, abstrakte und konkrete Gegenstände, Handlungen und Ereignisse, oder die sozialen und politischen Verhältnisse sein, in denen wir leben. Wir verwenden die Prinzipien reflexiv. Dabei können wir das Nicht-Reflexive nur annähernd erfassen. Prinzipien haben im UnEin Blick zurück | 329

terschied zu Normen offene Bedeutungen. Wie für viele Begriffe fehlen uns die Kriterien, mit denen wir die Bedeutungen von Prinzipien identifizieren und definieren könnten. Wir müssen uns mit ihren Gebrauchsbedeutungen begnügen, die sie in der Praxis haben. Die Gebrauchsbedeutungen bilden und verändern sich aber historisch in der Praxis. Deswegen können sich die Bedeutungen von Prinzipien verändern, ohne dass dies jemand will oder beabsichtigt. In der Praxis zeigt sich, was gilt und was gelten kann, aber nicht, was gelten soll. Wir Menschen müssen das, was gelten soll, wollen. Dieses Wollen setzt eine Willensbildung voraus. Ohne sie verfällt das, was gilt; es verfallen auch die Prinzipien, die dem zugrunde liegen, was gilt. Dann gerät das Vertrauen in ihre Geltung in Gefahr und mit ihr die Aussicht auf ein gutes gemeinschaftliches Leben. Der Mangel an Kriterien der Identität von Prinzipien macht ihre Geltung instabil. Sie ist im Unterschied zur Genese unzeitlich, gleichwohl aber in die Zeit und in eine Genese eingebettet. Dieses Verhältnis zwischen Geltung und Genese wird uns am Beispiel zweier Kommentare zum Prinzip der Menschenwürde im ersten Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland klar. Der Vergleich der Kommentare zeigt, dass es nicht die eine richtige oder wahre Bedeutung des Prinzips gibt. Wir steigen beständig, mit jeder Entscheidung des Verfassungsgerichts, zur Bedeutung dieses Prinzips auf. Die genetischen, rechtstheoretischen Analysen können aber Vor- und Nachteile für das Verständnis des Prinzips und seiner Geltung haben. Weil die Bedeutung des Prinzips offen ist, ist auch die Genese offen und unabgeschlossen. Dennoch können nur bestimmte Bedeutungen des Prinzips gelten. Welche dieser Bedeutungen richtig oder falsch sind und gelten oder nicht gelten sollten, kann sich nur in der Praxis der Rechtsprechung zeigen. Theoretisch kann die Geltung nicht entschieden werden. Es ist, wie ich in der Diskussion des Rechtspositivismus zeigen will, auch nicht möglich, die Geltung des Rechts rein rechtstheoretisch zu begründen. Ähnlich unmöglich ist es, die Geltung von Begriffen und Urteilen des Erkennens und Wissens theoretisch zu begründen, wie ich in den Kapiteln über Kant und Frege zeigen will. Der Exkurs zu Kants Würde-Konzept zeigt, dass wir die Geltung des Prinzips der Menschenwürde unabhängig von den rechts330 | Ein Blick zurück  

wissenschaftlichen Kommentaren reflexiv klären und verstehen können. Die Rechtsprechung versteht die Würde anders als Kant, weil sie die Würde bestimmten Trägern biophysisch zuschreibt. Kant versteht die Würde nicht als Prinzip und nicht als biophysisches Merkmal des Menschen. Im Rahmen seiner Morallehre ist es möglich, den inneren Wert der Würde und abgeleitet daraus ihren Preis bei Entscheidungen über den Schutz des Lebens reflexiv einzuholen. Auch dies ist ein Aufstieg, weil der Preis der Würde nicht definiert werden kann. Obwohl sich nur in der Praxis zeigen kann, was richtig und falsch, gut und schlecht ist, entscheidet nicht die Praxis darüber, was gelten soll. Diese Entscheidung bedarf des menschlichen Urteilens, und ihre Durchsetzung setzt einen dazu gebildeten Willen voraus. Wenn wir den Willen als intentionale Fähigkeit verstehen, die Aufmerksamkeit und das Interesse auf Ziele zu richten und gleichzeitig annehmen, dass diese Fähigkeit grundlos, nicht weiter erklärbar und insofern auch frei ist, stehen wir zunächst vor einem Dilemma, dem Dilemma der Willensbildung. Der Wille soll orientieren können und bedarf gleichzeitig der Orientierung, und diese Orientierung sollte vernünftig sein. Es scheint so, als ob der Wille sich dabei der Vernunft unterordnen sollte, um das Dilemma rational lösbar zu machen. Damit würde das Dilemma aber nicht gelöst, sondern nur ignoriert. Kants Modell der Urteilskraft zeigt, wie Wille und Vernunft in einem freien Spiel die Willensbildung ermöglichen und das Dilemma zumindest unter idealen Bedingungen lösbar machen. Ziel der Willensbildung ist der Gemeinsinn, den wir – anders als Kant – als Gefühl der Sympathie für die Anderen und als Wohlwollen und nicht nur als Grundlage des Schönheitsurteils verstehen. Das Gefühl der Sympathie können wir mit dem ontologischen Bedürfnis, dass das, was gut ist, dauerhaft so bleiben soll, verbinden. Die Willensbildung hat eine individuelle und eine kollektive Seite. Die kollektive hat ihren Ort in den Verfahren, über das zu entscheiden, was gelten soll. Jeder Entscheidung bezieht sich auf ein bestimmtes Problem und führt zu einer Lösung, die exemplarisch für den jeweiligen Fall gilt, aber nicht darüber hinaus. Ob das, was exemplarisch gilt, gut und gut für alle ist, können wir nicht vorhersagen, weil die kollektive Willensbildung mehrheitlich erfolgt Ein Blick zurück | 331

und die individuellen sittlichen Einstellungen darauf einen Einfluss haben. Diese Einstellungen sind sittlich, moralisch, politisch, kulturell und weltanschaulich vielfältig und selbst dann disparat, wenn alle ein Bedürfnis nach dauerhaft Gutem haben. Dieses nicht-reflexive Bedürfnis steht einem Mangel an Wissen über das, was gut ist, gegenüber. Wir können diesen Mangel nicht beseitigen, sondern nur mit dem, was nicht schlecht ist, kompensieren. Was nicht schlecht ist, erleichtert die Einigung, wenn die sittlichen Einstellungen nur heterogene Willensbildungen zulassen und den Gemeinsinn gefährden. Dann kann die mangelnde Sympathie für die Anderen eine Zeit lang, aber nicht dauerhaft durch geltende Gesetze kompensiert werden. Die Überwindung des Dilemmas der Willensbildung mit dem freien Spiel von Willen und Vernunft führt uns, wiederum angelehnt an Kants Konzept der Urteilskraft, zu der Einsicht, dass das, was gilt, exemplarisch gilt. Es gilt nur für den Fall und das Problem, das mit der Geltung gelöst wird. Die exemplarische Geltung führt zu keiner kohärenten Menge, sondern lediglich zu einer Summe von Geltungen, deren Zusammenhang offen und unbestimmt ist. Gerade deswegen sollte ihr Zusammenhang aber beurteilt werden, damit wechselseitig unverträgliche oder inkohärente Geltungen revidiert werden. Geltungen, die miteinander im Widerspruch stehen, gefährden die Anerkennung von Prinzipien, die für die sozia­le, politische und rechtliche Praxis unverzichtbar sind. Ohne ihre Anerkennung in der Praxis gelten Prinzipien formal, aber nicht wirklich. Von Hegels Gedanken, dass die Philosophie die Aufgabe hat, zu begreifen, was ist, sind wir ausgegangen. Diesen Gedanken haben wir mit dem Gedanken weitergeführt, dass die Philosophie begreifen muss, was gilt, um begreifen zu können, was ist. Was gilt, existiert exemplarisch, und was ist, begreifen wir exemplarisch. Deswegen lassen sich das, was gilt, und das, was ist, nicht voneinander trennen. Wir können begreifen, was exemplarisch gilt, nehmen damit aber nicht vorweg, was gelten sollte oder gelten wird. Deswegen können wir auch nicht vorwegnehmen, was nicht gelten wird oder nicht gelten sollte. Wir wissen zwar, dass das, was nicht gut ist, auch nicht gelten sollte. Wir wissen aber auch, dass vieles gilt, was nicht gut ist, vor allem nicht gut für alle Menschen und nicht gut 332 | Ein Blick zurück  

für die Natur. Es gibt außer uns selbst niemanden und nichts, was dies verhindern könnte. Wir können und sollten es aber versuchen. Die Freiheit dazu haben wir. Deswegen haben wir auch die Pflicht, es zu versuchen.

Ein Blick zurück | 333

Dank

Für Kritik, Korrekturvorschläge und Hinweise danke ich Thomas Buchheim, Horst Dreier, Gerhard Ernst, Rafael Ferber, Orsolya Friedrich, Benedikt Grothe, Jürgen Habermas, Michael Jaeger, Richard King, Hartmut Kiock, Stefan Korioth, Jens Kulenkampff, Christoph Lau, Harald Lesch, Erasmus Mayr, Heinrich Meier, ­U lrich Metschl, Thomas Meyer, Thomas Oehl, Matthias Politycki und Stephan Sellmaier.

Anmerkungen Anmerkungen 1  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, op. cit., 20. 2  A. a. O., 21. 3  Platon, Nomoi, op. cit., 903b-d. Siehe dazu Kap. 1.3 u. 1.4. 4  Ähnlich schreibt Wittgenstein im Tractatus: »4.111 Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften.« Er erläutert dann in Klammer, dass das Wort ›Philosophie‹ etwas bezeichne, »was über oder unter, aber nicht neben den Naturwissenschaften steht.« 5  Walther Kranz, Vorsokratische Denker, op. cit., 94 f. 6  Andere illustre Beispiele sind die sog. Dunkle Materie und die Dunkle Energie, von denen viele Physiker annehmen, dass es sie gibt, ohne dass sie wüssten, was sie sind. Die Ausdehnung des Universums dient als Evidenz dafür (Harald Lesch, Was hat das Universum mit mir zu tun? Op. cit., 18 ff.). 7  Den Hinweis auf die Homöostase und ihre Bedeutung für das Leben verdanke ich Benedikt Grothe. 8  Die Frage, was ›wahres Wissen‹ ist, hält seit Platon an. Seine Dialoge Me­ non und Theaitetos werden häufig als Quellen der These erwähnt, Wissen sei wahre, gerechtfertigte Meinung. Das ist aber nicht so, weil Platon im Menon (98) darauf hinweist, dass Wissen sehr viel mehr ist als wahre Meinung. Im Theaitetos verwirft er am Ende die Definition, dass Wissen wahre, mit Erklärung verbundene – also gerechtfertigte – Meinung sei (209/210). Diese Definition sei einfältig, weil sie sich im Kreise drehe. Wissen sei weder Wahrnehmung noch mit wahrer Meinung verbundene Erklärung (210). Gerhard Ernst bezeichnet dieses Problem ohne Bezug auf Platon, aber analog zu dessen Ablehnung einer Definition treffend als »Dilemma der üblichen Vorgehensweise« (Das Problem des Wissens, op. cit., 25). Edmund Gettier nimmt in »Is Justified True Belief Knowledge?« (op. cit., 121 – 123) die von Platon verworfene Definition ernst und widerlegt sie seinerseits mit Beispielen (siehe dazu: Gerhard Ernst, L. Marani (Hrsg.), Das Gettierproblem. Eine Bilanz nach 50 Jahren, op. cit.). 9  Ludwig Wittgenstein sagt im § 123 seiner Philosophischen Untersuchun­ gen: »Ein philosophisches Problem hat die Form: ›Ich kenne mich nicht aus.‹« 10  Kants Geltungstheorie ist nicht folgenlos, sondern trägt zum dualistischen Verständnis von Sein und Sollen u.a. im Neukantianismus bei (siehe dazu meinen Beitrag: »Geltung zwischen Sein und Sollen. Über einige Wandlungen des Geltungsproblems«, in: Jörg Noller, Georgios Karageorgoudis (Hg.), Sein und Sollen: Perspektiven in Philosophie, Logik und Rechtswissen­ schaft, op. cit.).  335

11 

Siehe dazu meinen Beitrag: »The Practice of Following Rules«, op. cit. Op. cit., 1095a. 13  Horst Dreier stellt Kelsens Auffassung des Verhältnisses von Recht und Moral zuverlässig dar (Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, op. cit. 113 ff.). Kelsen weist, wie Hort Dreier zeigt, nicht die Forderung zurück, dass das Recht moralisch sein soll. Er bestreitet aber, dass seine Geltung von der Übereinstimmung mit bestimmten moralischen Werten abhängt (a. a. O., 174 ff.). 14  Der Dualismus von Sein und Sollen ist in der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie keineswegs allgemein anerkannt. Jellineks Diktum von der ›Normativität des Faktischen‹ betrifft, wie Gustav Radbruch erklärt, die Geltung des Rechts. Es gehe um die Frage, wie »aus einem Faktum eine Norm« werden kann (Rechtsphilosophie, op. cit., 78). Es geht um den Zusammenhang zwischen dem, was ist, mit dem, was sein soll. Für Radbruch ist dies eine Frage des »Rechtswillens des Staates oder der Gesellschaft« (a. a. O.). 15  Beispielhaft dafür ist die Tradition des Neukantianismus. Auf sie gehe ich in dem Beitrag »Geltung zwischen Sein und Sollen. Über einige Wandlungen des Geltungsproblems« ausführlich ein (in: J. Noller, G. Karageorgoudis (Hg.), Sein und Sollen, op. cit.). 16  Philosophen geht es ebenso. Platon beschreibt im Symposion das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem als Eros. Sokrates macht das Bedürfnis nach dauerhaft Gutem an vielen Beispielen klar. Auch wenn ich z. B. ein Gut wie die Gesundheit habe, begehre ich es auch in Zukunft, so als hätte ich es nicht, und wenn ich es nicht habe, begehre ich es umso mehr (Symposion, op. cit., 200d). Spinoza untersucht, »ob es irgendetwas gäbe, das ein wahres Gut sei« (Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, op. cit., 7). Es geht ihm darum, wie Wolfgang Bartuschat in seiner Einleitung erklärt, Güter »höchster Beständigkeit« von vermeintlich Gutem zu unterscheiden (a. a. O., XIV). 17  Reflexiv ist dagegen die Suche nach dem eigenen Vorteil und nach Reichtum. Adam Smith glaubt, dass alle moralischen Empfindungen Ausdruck der Selbst-Liebe, also reflexiv sind und dass der Egoismus dem Wohl einer ganzen Gesellschaft dient. Der Egoist kann das, was er erwirbt, nicht selbst verbrauchen. Mit seiner Gier täuscht er sich selbst über die wahre Natur des Glücks (The Theory of Moral Sentiments, op. cit., 13 ff., 156 ff.). 18  Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, op. cit., § 166. 19  A. a. O., § 177. 20  Andreas Kemmerling bringt dies auf den Punkt: »… wir Menschen sind wirklich und wahrhaft Wesen, die glauben« (Glauben, op. cit. XIX). Seine sehr gründliche, der Analytischen Philosophie verpflichtete Untersuchung bezieht sich ausschließlich auf ›Glauben‹ in nicht-religiöser Hinsicht. 21  Platon, Menon, Kap. XXXIX f., 98b: »Dass aber eine Meinung und Wissen zwei verschiedene Dinge sind, das glaube ich durchaus nicht nur zu vermuten, sondern wenn ich etwas zu wissen behaupte – und von wenigem 12 

336 | Anmerkungen  

möchte ich dies tun –, so würde ich dieses eine zu dem zählen, was ich weiß« (Übers. Rafael Ferber); siehe auch Kap. 2.1. Zu Platons Wissen des Guten siehe Rafael Ferbers Beitrag: Warum hat Platon die ungeschriebene Lehre nicht ge­ schrieben? Op. cit., 15 – 27. 22  Platon, Nomoi, 903b-d. Platon belehrt den Jüngling: »… Du aber zeigst dich unwillig, weil du verkennst, auf welche Weise das dich Betreffende am besten ist für das Ganze und zugleich für dich gemäß der Kraft des gemeinsamen Werdens«. (Übers. Thomas Buchheim, dem ich den Hinweis auf diese Textstelle verdanke). Platon glaubt, dass dieses Werden der Fürsorge der Götter bedarf, die es vor dem Zerfall ständiger Veränderungen schützen. Siehe dazu auch Kap. 1.4. 23  Dieter Henrich geht in seiner Untersuchung der »sittlichen Einsicht« als dem Wissen vom Guten von dieser, wie er glaubt, nicht begründbaren Einheit von Ethik und Ontologie, die eine »Evidenz« des Guten ermöglicht, aus (»Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft«, in: ders., Walter Schulz, Karl-Heinz Volkmann-Schluck (Hrsg.), Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, op. cit., 79 – 114). 24  George Edward Moore, Principia Ethica, op. cit., chap. I., B. 25  Sokrates denkt am Ende der Apologie darüber nach, ob der Tod ein Glück oder – wie viele glauben – ein Unglück ist. Er unterscheidet zwei Arten des Tot-Seins, den Tod als traumlosen Schlaf und den Tod als Auswanderung in ein Jenseits, in dem alle anderen Verstorbenen leben. Erstere hält er für einen Gewinn, letztere sogar für ein großes Glück, weil er alle großen Geister dort treffen kann. 26  Anders verhält es sich, wenn wir den Tod reflexiv und nicht als nichtreflexive Gewissheit unseres Lebensendes verstehen. Dann können wir das Tot-Sein als Nicht-Geborensein mit dem Leben, das wir kennen, vergleichen. Wir denken dabei nicht über den eigenen Tod, sondern abstrakt über das TotSein im Vergleich zum Lebendig-Sein nach. Auf reflexive Weise kann dann das Nicht-Geborensein, wie Sophokles den Chor in seiner Tragödie Ödipus (Ödipus Kol., 1225) sagen lässt, das Allerbeste sein, weil uns dann alle Leiden und Entbehrungen erspart bleiben. Nicht leiden zu müssen, ist zweifellos besser als leiden zu müssen. Wir können dies relativ zu unserem Wissen, was ›Leiden‹ in unserem Leben bedeutet, beurteilen. Wir wissen aber unabhängig davon nicht, was ›Tot-Sein‹ und ›Nicht-Geborensein‹ bedeuten. 27  Biomedizinisch ist es mittlerweile möglich, dass Kinder mit Genen zweier Mütter und eines Vaters geboren werden. 28  ›Gewissheit‹ bedeutet hier soviel wie ›subjektiv sichere Annahme’, also eine Annahme, die sich als falsch erweisen kann. Dass Brot nährt, Feuer brennt, die Sonne täglich aufgeht, sind Gewissheiten dieser Art. 29  Über den nicht-reflexiven Charakter des Todes sagt Wittgenstein im Tractatus, er sei »kein Ereignis des Lebens«, man erlebe ihn nicht (6.4311). Ähnlich spricht Sartre davon, dass der Tod »von Draußen« kommt und uns Anmerkungen | 337

»ins Draußen verwandelt« (Das Sein und das Nichts, op. cit., 687). Heideggers Auffassung des Todes nennt Sartre ein zirkuläres »Taschenspielerstückchen«. Es sei nicht beweisbar, dass der Tod die Individualität hat, die Heidegger ihm gibt. Es sei nicht »mein Tod« und nicht meine letzte Möglichkeit, auf die ich mich frei entwerfen könne, wie Heidegger meine (a. a. O., 673, 676 resp.). 30  Das »Einüben des Todes« (μελέτη θανάτου, Phaidon, 81a) nennt Sokrates als Aufgabe des richtigen Philosophierens. Richtig ist diese Einübung, wenn die Seele sich »in reinem Zustand«, unbelastet von Begierden, von Gier nach Geld, Unruhe und Ängsten vom Körper trennt (Phaidon 67a). Selbst wenn das Leben in Wahrheit erst nach dem Tod des Körpers beginnen würde, bedeutet jene Einübung, dass wir uns unabhängig machen von den vielen Begierden, die uns nur beunruhigen und ängstigen. Sie sollten in unserer Lebensbilanz keine Rolle spielen, weil sie das Leben gefährden und nicht fördern. Sie sind, wie Sokrates zeigt, nicht gut für unser Leben. 31  René Descartes, Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwide­ rungen, übers. u. hrsg. v. Christian Wohlers, op. cit., 28: »… nachdem ich es zur Genüge überlegt habe, festgestellt werden muß, daß dieser Grundsatz Ich bin, ich existiere, sooft er von mir ausgesprochen oder durch den Geist begriffen wird, notwendig wahr ist.« Descartes stellt unmittelbar danach fest, dass ich dann immer noch nicht weiß, wer ich bin. Er nimmt zwei Substanzen (Seele und Körper) an. Die Seele denkt immer (Brief an Gibieuf in: René Descartes, Briefe 1629 – 1650, hrsg. v. Max Bense, op. cit., 254), ohne dass wir damit schon wissen, was. Entscheidend ist, dass beide Substanzen in der Person eine Einheit bilden: »mentem corpori realiter & substantialiter esse unitam… per verum modum unionis« (Brief an Regius, Januar 1642 in: Charles Adam, Paul Tannery (ed.), Descartes. Oeuvres, III, correspondance , Paris 1899, 493). Die Gewissheit, dass die Seele denkt, hängt monistisch und nicht-reflexiv von dieser substantiellen (metaphysischen) Einheit der Person (»esse verum ens per se, non autem per accidens«) ab. Die inhaltliche Gewissheit der Gedanken (»Ich bin«) hängt dagegen von der reflexiven Fähigkeit zur Abstraktion ab, die Descartes u.a. an der Idee der Teilbarkeit beliebig großer und kleiner Körper vorführt. Entsprechend muss er auch annehmen, dass der Demente denkt, da er Person ist und eine Seele hat. Eine Selbstgewissheit würde auch Descartes ihm dagegen nicht zuschreiben. Descartes ist zwar ein Dualist der Substanzen, aber ein Monist der Person. 32  Eine ähnliche Verkehrung von Tod und Sterben gilt auch für den sog. Hirntod, die Voraussetzung, unter der Organe post mortem gespendet werden dürfen. Der Spender gilt als tot, wenn keine Hirnfunktionen mehr gemessen werden können, sein Körper wird aber für die Organentnahme noch am Leben erhalten. 33  Galilei wusste z. B., dass das ptolemäische Weltbild falsch und das heliozentrische richtig ist, konnte aber nicht die Gezeiten erklären. Die subjektive Gewissheit seines Weltbilds war – anders als er meinte – irrtumsanfällig. 338 | Anmerkungen  

34 

Aristoteles denkt über das Gute ausschließlich innerhalb seiner Ethik nach und identifiziert es mit dem Menschen, der tugendhaft ist, dem Guten. Diesem Guten sei es eigen, das Gute zu verwirklichen, und für den Tugendhaften sei sein »Sein ein Gut« (Nikomachische Ethik, op. cit., 1166a 16 – 20, ähnlich a. a. O., 1113a 25 – 31). 35  Im 10. Buch seines späten Werks, den Nomoi, entwirft Platon ein theologisch-politisches Konzept des Guten. Er verbindet das Gute mit der Existenz der Götter, den Hütern der Gesetze, und deren Dasein mit der Kraft der Seele, die alles, auch sich selbst, bewegt. Die Seele sei Ursache von allem, was gut und schlecht, schön und hässlich, gerecht und ungerecht ist (896d), sie sei Urheberin aller Dinge (899c). Die Gottesleugner erkennen, wie er argumentiert, den Vorrang der Seele vor dem Körper nicht. Sie verstehen auch nicht, dass die Menschen Eigentum der Götter sind (902b) und dass die Götter für sie und das Ganze Sorge tragen. Davon müssen die Menschen überzeugt werden. Deswegen wendet sich der Athener (Platon) an den Jüngling, um ihn zu der Einsicht zu bewegen, wie das Gute ihn und das Ganze betrifft, »gemäß der Kraft des gemeinsamen Werdens« (κατά δύναμιν τήν τῆς κοινῆς γενέσεως; Nomoi, 903d. Übers. v. Thomas Buchheim). Die wie eine Naturanlage wirkende Kraft des Guten ermöglicht das Werden des Ganzen. 36  Platon nennt es μέγιστον μάθημα (Politeia, 505a), also das ›größte‹ oder ›bedeutendste‹ Wissen. Platon ist der Denker des Guten. Rafael Ferber fragt, ob Platon ein Wissen des Guten hatte und es nicht preisgab, obwohl es das Thema seines Denkens ist (»Was jede Seele sucht und worumwillen sie alles tut«, op. cit.). Erstaunlich ist, dass Platon in den Nomoi dann doch über das Gute etwas sagt, dass es nämlich die »Kraft des gemeinsamen Werdens« sei (siehe Anmerkung 22). 37  Platon, Politeia, 506c. Im Anschluss daran entwickelt er (am Ende des 6. Buches) das Sonnen- und das Linien- und (zu Beginn des siebten Buches) das Höhlengleichnis. Wie erwähnt spricht er in den Nomoi nicht nur gleichnishaft über das Gute. 38  Aristoteles argumentiert in seiner Metaphysik (1011a), dass einige, die Zweifel an der Geltung des Widerspruchsprinzips haben, für alles, also auch für dieses Prinzip, einen Grund suchen, um es zu beweisen, obwohl es dafür keinen Beweis gibt. Ihr Tun zeige aber, dass sie nicht wirklich an ihren Zweifel glauben. Sie widerlegen sich also performativ selbst, wie wir heute sagen würden. 39  Auch wenn wir, wie Platon in den Nomoi, annehmen, dass es die »Kraft des gemeinsamen Werdens« ist, wissen wir nicht, was diese Kraft ist. Wir kennen dann aber die Wirkung des Guten als Vektor des gemeinsamen Werdens in der Praxis unserer Lebenswelt. 40  Wittgenstein gebraucht dieses Bild in Über Gewißheit (§ 248), wo es heißt: »Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. – Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.« Anmerkungen | 339

41 

Axel Hutter zweifelt daran. In seiner aus Thomas Manns Joseph-Roman schöpfenden Untersuchung Narrative Ontologie argumentiert er, Gott sei das Ganze und nicht mit den moralischen Kategorien ›gut‹ und ›schlecht‹ zu erfassen (op. cit., 175). Schelling denkt ähnlich radikal, wenn er über den Ursprung des Bösen in Gott nachdenkt (Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hrsg. v. Thomas Buchheim, op. cit., 36 ff. (SW 364 ff.); dazu mein Versuch einer Interpretation: »Zum Problem der Herkunft des Bösen II. Der Ursprung des Bösen in Gott«, in: F. W. J. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Frei­ heit, hrsg. v. Otfried Höffe, Annemarie Pieper, op. cit., 111 – 124). Wenn wir das Gute aber nicht eingeschränkt auf die Moral verstehen, können wir Gott als das Gute im platonischen Sinn, also jenseits der Moral, denken. 42  Aristoteles, Metaphysik, 1062a. Er ist überzeugt, dass die ontologischen Alternativen von Sein und Nicht-Sein nicht kontingent sind und sich notwendig ausschließen. Sie sind fundamentaler als die aussagenlogischen ›wahr‹ und ›falsch‹. Wenn wir als dritten Wahrheitswert ›unbestimmt‹ annehmen, wird der Widerspruch auch aussagenlogisch komplizierter. Ähnlich verhält es sich mit dem Gegensatz zwischen ›gut‹ und ›schlecht‹, wenn wir als dritten Wert ›nicht schlecht‹ annehmen. 43  Beispiele: Horst Dreier betont den Rechtfertigungszusammenhang (Sä­ kularisierung und Sakralität, op. cit., 50) und Gottfried Gabriel den Wahrheitsbezug (»Geltung und Genese als Grundlagenproblem«, op. cit., 475 – 486). Gerhard Seel argumentiert für eine »Theorie der Kriterien praktischer Geltung« als »Analogon zur Theorie der Wahrheitskriterien« (»Wahrheit oder praktische Geltung«, op. cit., 269). 44  Ähnlich argumentiert Horst Dreier in seiner ersten These (»Rechtswissenschaft als Wissenschaft – Zehn Thesen«, op. cit., 1 – 66). Bereits in der athenischen Gesetzgebung des 5. Jh. v. Ch. wird die Geltung von der Wahrheit getrennt, wie Christian Meier zeigt (Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, op. cit., 194). 45  Thomas Oehl hat mir dies zu bedenken gegeben. 46  Aristoteles, Über Werden und Vergehen, übers. u. erl. v. Thomas Buchheim, op. cit, 134. Im ersten Kapitel des zweiten Buches seiner Metaphysik (993b) sagt er, dass die Prinzipien des »ewig Seienden« die »höchste Wahrheit haben«. 47  Thomas von Aquin, Summa theologica, op. cit., q2, a3. 48  A. a. O., q13 a5. 49  Aristoteles, Metaphysik, op. cit., 1040b 27. Diese Überzeugung wird für Wilhelm von Ockham und andere sog. Nominalisten entscheidend für deren terministische Logik und ihre Kritik an Thomas. 50  Um dies auszudrücken, verwendet Aristoteles (Metaphysik, 1028b 35) den Ausdruck τό τί ἦν εἶναι, der wörtlich sagt: das, was es für eine Sache ist (bedeutet) zu sein. Aristoteles will das Allgemeine des Besonderen (z. B. Pferd-Sein, Esel-Sein) ausdrücken, was sprachlich nur auf verschrobene Weise gelingt. 340 | Anmerkungen  

Aristoteles, Nikomachische Ethik, op. cit., 1096a 23. Aristoteles, Metaphysik, op. cit., 1041a 2 f. 53  Platon sagt im zweiten Buch der Nomoi, dass das, was »die große Menge« ›Güter‹ nenne, »keine wahren Güter« seien (661), u.a. Gesundheit, Schönheit, Reichtum. Die wahren Güter nennt er im ersten Buch: Einsicht, Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit (631). Die Tugenden sind in seinen Augen die wahren Güter. 54  Darauf gehe ich ausführlich in Die Möglichkeit des Guten (Kap. 5, op. cit.) ein. 55  Dem abstrakten Zusammenhang (Z) zwischen dem, was ist (x), und dem, was sein soll (y), sieht man den Unterschied zwischen abgeleiteter und unabgeleiteter Geltung nicht an. Die unabgeleitete Geltung verhindert einen Regress, der drohen würde, wenn das, was gelten soll, immer von einer anderen Geltung abgeleitet würde. 56  Siehe dazu Kap. 2.2. 57  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke 3, op. cit., 401. 58  A. a. O., 114. 59  Wir könnten hier auch Wittgenstein folgen. Er schlägt vor, den Satz ›X existiert‹ als ›X hat Bedeutung‹ und damit als Satz über unseren Sprachgebrauch zu verstehen (Philosophische Untersuchungen, § 58). Er stellt dann aber fest, dass damit die Frage, wofür das ›X‹ steht, noch nicht beantwortet ist. Das Ding, für das der Name ›X‹ steht, muss kein physikalischer Gegenstand sein, wie er anmerkt. Die Frage, was es genau ist, kann offen bleiben. 60  Anselms neuplatonisch argumentierender Gottesbeweis geht davon aus, dass das, was existiert, größer ist als das, was gedacht werden kann (Proslo­ gion, op. cit., 84 ff.) Ähnlich denkt Descartes (Meditationen, op. cit., Dritte Meditation). 61  Prädikativ, auf ein einzelnes Wesen bezogen, gebraucht Kant das Verb ›existiert‹ auch in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wo er sagt: »… jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst« (Werke 4, 428; kursiv im Original). 62  Diese modale Parität des Möglichen und Wirklichen entspricht Kants kategorialem, transzendentalem Verständnis von ›Begriffen‹. Aristoteles argumentiert dagegen ontologisch für den Vorrang des Wirklichen vor dem Möglichen (Metaphysik, Elftes Buch, 1065b f.). 63  Siehe dazu meinen Beitrag über Wittgensteins Farbsätze »Farben und die Grenzen des Denkbaren«, in: Solipsismus und Sprachkritik. Beiträge zu Wittgenstein, op. cit., 35 – 60. 64  Saul Kripke, Reference and Existence. The John Locke Lectures, op. cit. ›Fiktional‹ ist literarisch gemeint und leitet sich vom Englischen ›fiction‹ (Dichtung) ab, bedeutet also nicht ›fiktiv‹. Wolfgang Iser weist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive darauf hin, dass ›Fiktion‹ kein Gegenbegriff zur Wirklichkeit sei. Es sei unreflektiert, der Fiktion die ontologischen Be51 

52 

Anmerkungen | 341

stimmungen abzusprechen, die zur Wirklichkeit gehören. Im fiktionalen Text gebe es »sehr viel Realität« (Das Fiktive und das Imaginäre, op. cit., 19). 65  A. a. O., 35 f. 66  Saul Kripke gebraucht diese Namen in seiner Argumentation für die Existenz der damit gemeinten Personen (Reference and Existence, Lecture II, a. a. O., 29 – 53). 67  A. a. O., 44. ›Prätendieren‹ können wir in der Bedeutung ›so tun als ob‹ verstehen. 68  Peter Strawson glaubt ebenfalls, dass Existenz zumindest in einer von zwei Arten von Äußerungen auch fiktionalen Figuren wie König Arthur zugeschrieben werden kann. In dieser einen hält er den Gebrauch von ›existiert‹ als Prädikat (erster Stufe) und nicht als Prädikat (zweiter Stufe) eines Begriffs für möglich und entsprechend auch die »Existenz-in-Geschichte-oder-Legende eines tatsächlichen-oder-legendären Königs mit bestimmten tatsächlichenoder-legendären Eigenschaften« (»Is Existence Never a Predicate?« In: Free­ dom and Resentment, op. cit., 189 – 197, hier: 197; meine Übers.). 69  Reference and Existence, a. a. O. 74, 73 resp. Wolfgang Künne ist dagegen der Ansicht, dass kein abstrakter Gegenstand Wirkungen erzeugen könne (Abstrakte Gegenstände, op. cit., 72). 70  A. a. O., 45. Die Beispiele sind meine. 71  A. a. O., 73. 72  A. a. O., 46 ff. Es ist für unseren Zusammenhang nicht entscheidend, dass Kripke die metaphysische Möglichkeit von Einhörnern (Existenz in einer möglichen Welt) von der erkenntnistheoretischen (was unter einen ähnlichen Begriff, nämlich ›schmunicorn‹ fällt) unterscheidet. 73  Axel Hutters Narrative Ontologie (op. cit.) baut auf einem ähnlichen Gedanken auf und legt ihn allem zugrunde, was wirklich existiert. Unsere eigene und jede wirkliche Existenz ist dann eine erzählte. Hutter nimmt Maß an Thomas Mann, dem »großen Meister der narrativen Kunst« (a. a. O., 27) und seinem Joseph-Roman. Dieser Roman dient Hutter als Modell für eine wechselseitige Erhellung von Philosophie und Literatur. Er versteht die narrative Sinn-Dimension als Seins-Dimension und spricht von der »narrativen Radikalität des Joseph-Romans« (a. a. O., 157). 74  Genetische Strukturen können nicht patentiert werden, weil sie in der Natur vorhanden sind, aber die Methode ihrer Analyse im Rahmen von biomedizinischen Verfahren kann patentiert werden. 75  Dieses Finden von nicht Gesuchtem, was sich als wertvoll erweist, wird als »serendipity« bezeichnet. 76  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke 5, op. cit., 307. 77  Kant beschreibt dies in den §§ 46 – 50 der Kritik der Urteilskraft. 78  Wir kommen am Ende dieser Untersuchung auf diesen Gedanken Kants zurück. 79  A. a. O., §§ 1 – 2 2. 342 | Anmerkungen  

80 

Christoph Möllers schlägt in seiner nicht-normativen Archäologie von Normen vor, dass Normen »auf Mögliches« verweisen (Die Möglichkeit der Normen, op. cit., 420). Er argumentiert, dass das Maß des Möglichen unbekannt ist. Für ein Versprechen muss das Maß des Möglichen auch nicht bekannt sein. Der Sprecher muss das Versprochene allerdings für realisierbar halten. Insofern trifft für die Norm des Versprechens das zu, was Möllers allgemein über normative Ordnungen sagt, dass sie sich »allein über ihre Entstehung rechtfertigen« (a. a. O., 335). Wir können ergänzen, dass sie sich über die Praxis ihres Gebrauchs rechtfertigen. Dies wiederum entspricht Möllers Einsicht, dass »Normen nicht Ursache der eigenen Anwendung sein können« (a. a. O., 401). 81  Da es für Prinzipien wie für vieles, was nicht-reflexiv ist, keinen argumentativen oder physisch messbaren und zwingenden Existenznachweis gibt, kann deren Existenz nur anerkannt werden oder nicht. Wenn die Geltung eines Prinzips wie dem des Grundes bestritten wird, ist offen, ob es das Prinzip gibt oder nicht. Einige glauben es, andere nicht. 82  Wittgenstein analysiert im Tractatus (6.1203) das Gesetz des Widerspruchs als Tautologie, als einen Satz der Logik, der selbst nichts sagt. Die mit den Sätzen der Logik zusammenhängende Methode nennt er »Nullmethode« (6.121). 83  Wittgenstein gibt im Tractatus (5.42) dafür das Beispiel der Identität von Wahrheitsfunktionen, deren Identität durch andere definierbar ist. 84  Wittgenstein macht sich über das Interesse an ›Identität‹ lustig (Tracta­ tus, 4.003, 5.4733) und meint, »[v]on zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts« (5.5303). In den Philosophischen Untersuchungen bleibt er bei diesem Urteil und meint, es gebe kein schöneres Beispiel eines »nutzlosen Satzes« als »Ein Ding ist mit sich selbst identisch« (§ 216). Er gesteht aber zu, dass der Satz trotz seiner Nutzlosigkeit mit »einem Spiel der Vorstellung verbunden« sei, »als legten wir das Ding, in der Vorstellung in seine Form hinein, und sähen, daß es paßt.« (a. a. O.) 85  Beispiele dafür sind die nicht-reflexiven Merkmale, die als Bestimmungen von Pflanzen oder Tieren als Angehörigen einer bestimmten Spezies gefunden werden. Sie sind nie hinreichend, weil immer wieder neue, bisher nicht bekannte Merkmale einer Familienzugehörigkeit gefunden werden können (siehe dazu Ernst Mayr, Eine neue Philosophie der Biologie, a. a. O., Teil IV; ders., What Makes Biology Unique? Op. cit., chap. 10). 86  Die einzinkige Gabel wurde, wie uns Erich Kästner mitteilt, von Chris­ tian Leberecht Schnabel entdeckt bzw. erfunden, wie es in dem Gedicht heißt (Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke, op. cit., 210 f.). 87  Es wäre nicht sinnvoll zu sagen, ›Menschenwürde‹ sei der Name jedes Menschen, obwohl das Prinzip jedem Menschen Würde zuschreibt. 88  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 58. Der Sprachgebrauch kann irritieren und das Sprachempfinden stören. Mancher würde im Anmerkungen | 343

Hinblick auf Prinzipien statt ›existieren‹ wohl lieber ›sind in Kraft‹ oder ›sind wirksam‹ sagen. Im Hinblick auf die Menschenwürde wäre dieser Sprachgebrauch nicht glücklich, weil sie auch dann existiert, wenn sie nicht in Kraft und nicht wirksam ist. Das Verb ›existieren‹ trifft den Sprachgebrauch angemessener als die genannten Alternativen, weil damit sowohl die nicht-reflexive als auch die reflexive Bedeutung des Prinzips gemeint sein kann. Ähnlich treffend ist auch der Ausdruck ›es gibt‹, weil auch mit diesem Ausdruck offen bleibt, in welcher Form und Bedeutung es ein Prinzip gibt. 89  Artikel 79 (3) des Grundgesetzes. 90  Ronald Dworkin nennt alle Begriffe, die einer Interpretation bedürfen, »interpretive« Begriffe (»interpretive concepts«, in: Justice for Hedgehogs, op. cit., 160 f.). 91  Aristoteles, Metaphysik, 1006a ff. ›Selbstverständlich‹ kann auch emphatisch und appellativ, also nicht begrifflich gebraucht werden. Dann bedeutet es so viel wie: ›kann auf vernünftige Weise nicht in Frage gestellt werden‹. 92  Wir folgen auch darin Aristoteles, der meint, es sei falsch zu sagen, »das Seiende sei nicht oder das Nicht-seiende sei«; wahr dagegen sei es zu sagen, »das Seiende sei und das Nicht-seiende sei nicht« (Metaphysik, 1011b, ähnlich 1062a). Aristoteles geht aber weit über das hinaus, was wir anstreben, weil er ›Sein‹ und ›Wahrheit‹ identifiziert, wenn er sagt, dass ›Wahrheit‹ so viel bedeute wie die Dinge zu denken (τό δέ ἀληθές τό νοεῖν ταῦτα, a. a. O., 1052a). 93  Rudolf Carnap, Meaning and Necessity. A Study in Semantics and Modal Logic, op. cit., § 14. 94  A. a. O., §§ 10 f. 95  Willard Van Orman Quine, »Two Dogmas of Empiricism«, in: From a Logical Point of View, op. cit., 20 – 46. Gegen die Möglichkeit, eine Selbigkeit von Bedeutungen nachweisen zu können, argumentiert Quine auch in: ders., Ontologische Relativität und andere Schriften, op. cit., bes. 41 – 96. 96  Wittgenstein spricht nicht von Bausteinen, sondern von »Wahrheitsfunktionen« und erläutert diese anhand seiner Wahrheitstafel (5.101). 97  Elementarsätze sollten einfach, logisch unabhängig, also nicht durch Wahrheitsfunktionen miteinander verbunden sein. Die Unhaltbarkeit dieser Ansprüche erkennt Wittgenstein u.a. in den späten 20er Jahren; siehe »Bemerkungen über logische Form« (1929) in: Vortrag über Ethik, a. a. O., 25 ff. Farbsätze wie ›x ist rot‹, die evtl. als Beispiel für Elementarsätze dienen können, enthalten implizit Negationen, weil ›rot‹ eben auch ›nicht-grün‹ bedeutet. Zu den wachsenden Zweifeln am System des Tractatus siehe meine Einführung Ludwig Wittgenstein, op. cit., Kap. V. Unglücklich ist, dass Wittgenstein im Tractatus den Elementarsatz als »Wahrheitsfunktion seiner selbst« (5) reflexiv einführt und damit die Ansprüche, die er mit dem ›Zeigen‹ verbindet, selbst ignoriert. 98  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 43: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache«. 344 | Anmerkungen  

99 

Es gibt, wie Martin Heidegger argumentiert, auch begriffsgeschichtliche Überlegungen, die zeigen, dass der ursprüngliche griechische und lateinische Gebrauch von Wörtern wie ›Axiom‹, ›Prinzip‹ und ›Grundsatz‹ ein anderer als der heutige ist (Der Satz vom Grund, op. cit., 30 – 35, 42). Es gibt auch kein historisches Kriterium der Synonymie. 100  Dieses Problem untersuche ich in »The Practice of Following Rules« (op. cit., 137 – 158). 101  In dem eben erwähnten Beitrag gehe ich auf einige dieser Versuche ein. 102  Es geht dabei auch um Fragen der »Übersetzung« von diesen Prinzipien in andere Sprachen und Kulturen. Vor dem Hintergrund von Migration und vielfältigen Grenzübertritten von Personen unterschiedlicher Kulturen ist dies ein wachsendes Problem. Siehe dazu Doris Bachmann-Medick im Hinblick auf die Bedeutung der Menschenrechte (»Menschenrechte als Übersetzungsproblem«, op. cit., 331 – 359). 103  Es gibt aber auch moralische Standards, die einen umstrittenen religiö­ sen Hintergrund wie die Blasphemie, die Lästerung Gottes oder eines Propheten haben und dann einer verwerflichen, menschenverachtenden Praxis zugrunde liegen, die für Andersdenkende lebensgefährlich ist. 104  Goethe kündigt diesen Verfall seherisch als Einbruch der Moderne in seinem Drama Faust an. Marshall Berman beschreibt Goethes Diagnose als »Tragödie der Entwicklung« zur Moderne (All That Is Solid Melts into Air, op. cit., chap. I). Ausführlich und eindringlich analysiert Michael Jaeger Goethes Unbehagen und seine Diagnose des großen Umbruchs und der Veränderung der Welt durch die Moderne (Fausts Kolonie, op. cit.; Wande­ rers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie, op. cit.; und: Global Player Faust oder das Verschwinden der Gegenwart, op. cit.). Die Kolonisierung und Industrialisierung der Welt, Kern der Utopie des großen Umbruchs, verspricht das Himmelreich auf Erden. Michael Jaeger schreibt, einer Utopie könne nichts Schlimmeres widerfahren als ihre Realisierung (Global Player Faust, a. a. O., 104). Goethe sieht den Beginn der Zerstörung seines Ideals der Gegenwart und des Glücks des Verweilens. 105  Platon, Politeia, 505a ff. Sokrates versucht – wie schon an anderen Stellen – klar zu machen, dass die Einsicht in das Gute den Unterschied zwischen Meinen und Wissen ausmacht, stellt dann aber fest, »dass wir das Gute nicht wissen«. An die Stelle des fehlenden Wissens treten dann die Sonnen-, Linienund Höhlen-Gleichnisse, die indirekt klar machen, was das Gute ist. Rafael Ferber denkt über dieses platonische Problem nach: Warum hat Platon die ungeschriebene Lehre nicht geschrieben? Op. cit., bes. 15 – 27). 106  Siehe dazu Anmerkung 22. 107  Matthias Politycki beschreibt das Reisen als »praktische Philosophie« (Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken, op. cit., 11). 108  Das Wort ›wir‹ klingt in seiner quasi universalen Bedeutung nicht nur Anmerkungen | 345

an dieser Stelle recht selbstgefällig, weil der überwiegende Teil der Menschheit in diesem ›Wir‹ schon deshalb nicht enthalten ist, weil weder ich noch diejenigen, die ich zum ›Wir‹ zählen kann, alle kennen, die gemeint sein könnten. Der Wortgebrauch, auch der des ›Wir‹, ist nicht vorurteilsfrei. Er ist sicher nicht deskriptiv und ganz und gar nicht universal, also auch nicht normativ, denn es gibt auch noch die Anderen, die nicht zum ›Wir‹ gehören. Wenn uns dies bewusst ist und wir bereit sind, den Anderen zuzuhören, die sich von unserem ›Wir‹ ausgeschlossen fühlen, mag der Gebrauch des Worts erlaubt sein. Dass im Hintergrund des Gebrauchs von ›wir‹ – nicht nur in Zeiten der Einwanderung von Asylsuchenden – auch Fragen der religiös bedingten Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft stehen, zeigt Navid Kermani (Wer ist wir? Deutschland und seine Muslime, op. cit.). 109  Den neukantianischen Geltungsbegriff untersuche ich in: »Geltung zwischen Sein und Sollen. Über einige Wandlungen des Geltungsproblems«, op. cit. 110  Vor der transzendentalen Deduktion untersucht Kant bereits die Geltung von Raum und Zeit als Formen der Anschauung. Diese Geltung untersucht Günter Zöller in: Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant, op. cit. 111  In seiner Moralphilosophie sieht er sich, wie wir später sehen, genötigt, sein Deduktionsmodell zu verändern. 112  Er behauptet, ›Sein‹ sei »kein reales Prädicat« (Kritik der reinen Ver­ nunft, Werke Bd. 3, 401). Siehe oben Abschnitt 1.6. Die Einwände gegen Kants Behauptung werden nicht wiederholt, weil sie an dieser Stelle nicht einschlägig sind. 113  Dies ist der Tenor der Vorrede zur ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (Werke Bd. 4, 12). 114  Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (Werke Bd. 3, 13). 115  John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, op. cit., 63 – 73. Primäre Qualitäten wie ›rauh‹ oder ›glatt‹ werden den Gegenständen, sekundäre wie ›gelb‹ oder ›warm‹ dem wahrnehmenden Subjekt zugeschrieben. 116  Kant spricht von ›Kategorien‹, ähnlich wie Aristoteles im fünften Buch seiner Metaphysik. Er versteht Kategorien aber nicht wie Aristoteles als Formen dessen, was es in vielen Bedeutungen gibt (Metaphysik, 1017a), sondern als logische Funktionen des Verstandes in Urteilen. Kant nennt sie »reine Verstandesbegriffe« (Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. 3, 86 f.) 117  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke Bd. 3, 85 f. 118  A. a. O. 119  Martin Heidegger hält diesen Paragraphen für den »Schlüssel zum Verständnis der Kritik der reinen Vernunft als einer Grundlegung der Metaphysik« (Kant und das Problem der Metaphysik, op. cit., 59). 120  Klänge, Düfte und Geschmack können wir uns mit gutem Willen auch körperlich vorstellen. Wir können vom ›Klangvolumen‹ und ›Geschmacks­ 346 | Anmerkungen  

volu­men‹ sprechen, vielleicht auch vom ›Duftvolumen‹ einer angenehmen oder unangenehmen Wolke von Gerüchen. 121  Der Vollständigkeit halber seien sie hier genannt: »Quantität der Ur­ theile (Allgemeine, Besondere, Einzelne), Qualität (Bejahende, Verneinende, Unendliche), Relation (Kategorische, Hypothetische, Disjunktive), Modalität (Problematische, Assertorische, Apodiktische)« (Werke, Bd. 3, 87). Kant geht davon aus, dass er alle Urteilsformen und im Anschluss daran alle Kategorien, die für die Erkenntnis nötig sind, vorstellt. Mancher Interpret hat sich dazu Gedanken gemacht (besonders berühmt: Klaus Reich, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel, op. cit.). 122  Immanuel Kant, Werke, Bd. 3, 86. 123  A. a. O., 91. 124  Kant erläutert den Unterschied zwischen Denken und Erkennen im § 22 der Kritik der reinen Vernunft. 125  A. a. O., 103. 126  Immanuel Kant, Werke, Bd. 4, 77 – 83. Eckart Förster erläutert diese Stufung sehr anschaulich (Die 25 Jahre der Philosophie, op. cit., 39 – 42). 127  Ganz vergessen sind die Stufen der Synthesis auch in der zweiten Auflage der Kritik nicht, wenn er an die »bisweilen« geübte Wortwahl bei der Unterscheidung zwischen »productiver« und »reproductiver« Einbildungskraft erinnert (Werke, Bd. 3, 120). 128  A. a. O. 129  Die Neurobiologie kann dagegen zeigen, dass unsere Wahrnehmungen eine phylogenetisch mit der Entwicklung der Gehirne gewachsene Struktur haben. Zum Beispiel wandeln menschliche Gehirne die zweidimensionalen Bilder, welche die Retina liefert, ohne Einfluss eines Willens in dreidimensionale um. Nur deswegen können uns Eschers Zeichnungen mit den scheinbar gleichzeitig auf und ab gehenden Treppen verwirren. Es gibt viele Beispiele wie dieses, die zeigen, dass unsere Wahrnehmung durchaus eine Struktur unabhängig von unserer Begriffsbildung und unserem Willen hat. Siehe dazu: Larkum, M. (2013), A cellular mechanism for cortical associations: an organizing principle for the cerebral cortex. Trends in Neurosci 36 (3),141 – 151. Welchman, A. E. (2016), The Human Brain in Depth: How We See in 3D, Annu Rev Vis Sci 2, 345 – 376. Nassi, J. J., Callaway, E. M. (2009), Parallel processing strategies of the primate visual system, Nat Rev Neurosci 10 (5), 360 – 72. Die Hinweise auf diese Forschungsergebnisse verdanke ich Benedikt Grothe. 130  Friedrich Nietzsche hat kein Verständnis für diese Rolle des ›Ich denke‹. Er meint in Jenseits von Gut und Böse (KSA 5, 29), dass es »immer noch harmlose Selbst-Beobachter« gebe, die glaubten, dass es das ›Ich denke‹ als »unmittelbare Gewissheit« gebe. Er trifft mit dieser Polemik Kant aber nicht wirklich, weil Kant das ›Ich denke‹ nicht als unmittelbare Gewissheit postuliert, sondern dessen Funktion als Urteil erläutert und fordert. Kant kennt in der theoretischen Philosophie keine unmittelbaren Gewissheiten. Anmerkungen | 347

131 

Was notwendig gilt, gilt damit nach Kants Überzeugung auch objektiv. Immanuel Kant, Werke, Bd. 3, 108, 109. 133  A. a. O., 109. Kant schwankt häufiger zwischen analytisch und synthetisch. 134  Die Metapher des Gerichtshofs für die transzendentale Erläuterung erklärt Dieter Henrich (»Kant’s Notion of a Deduction and the Methodological Background of the First Critique«, in: Eckart Förster (ed.), Kant’s Transcen­ dental Deductions, op. cit., 29 – 46). 135  So erläutert Eckart Förster das ›Ich denke‹ (Die 25 Jahre der Philosophie, op. cit., 41 f.), nicht ohne Grund, wie gleich klar wird. Förster argumentiert auf der Grundlage der A-Ausgabe (1781) der Kritik der reinen Vernunft. 136  Martin Heidegger deutet den mit der Subjektivität gegebenen Gegenstandsbezug des Ich zu sich selbst im Selbstbewusstsein als grundlegende Einsicht Kants (Der Satz vom Grund, op. cit., 132). 137  Immanuel Kant, Werke, Bd. 3, 114. 138  A. a. O., 121. Eckart Förster könnte sich auf diese Stelle in der B-Ausgabe der Kritik berufen. 139  Immanuel Kant, Werke, Bd. 3, 145. 140  A. a. O. 141  A. a. O., 120. Aus diesem Grund geht die eben erwähnte Kritik Nietzsches ins Leere. Dass auch das ›Ich‹ des ›Ich denke‹ eine Vorstellung und keine Substanz ist, erläutert Kant in einer langen Fußnote in der Einleitung zur 2. Auflage der Ersten Kritik (a. a. O., 23 f.). 142  Dies sind nicht alle unabgeleitet angenommenen Bedingungen der Erkenntnis. Eine Menge mehr gehört dazu: »Von der Eigenthümlichkeit unsers Verstandes …, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperception a priori zu Stande zu bringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Functionen zu Urtheilen haben, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind.« (A. a. O., 116) 143  Descartes’ ›cogito‹ ist auch ein ›Ich denke‹, aber ein Urteil mit dem ontologischen Inhalt, dass ich als Denkender existiere. Das Urteil bezieht sich auf eine (meine) denkende Substanz, ist in diesem Sinn repräsentational und reflexiv. Auch Descartes’ Urteil kann zumindest im Indikativ nicht widerspruchsfrei verneint werden. Es kann allerdings als irrealer Konditional verneint werden: ›Wenn ich nicht denken würde, würde ich nicht existieren‹. In dieser oder auch in der umgekehrten konditionalen Form ist das Urteil wahrheitsfähig; es mag ja sein, dass ich existiere, aber als Patient im einem sog. Wachkoma nicht denke, jedenfalls nicht meiner selbst bewusst bin. Analog kann auch ›Ich denke‹ in einen irrealen Konditional umformuliert werden, der tautologisch und damit immer wahr ist: ›Wenn ich nicht denken würde, würde ich nicht denken‹. 132 

348 | Anmerkungen  

144 

Es gibt eine harmlose, elliptische Verwendung von ›Ich denke nicht‹ etwa als Antwort auf eine Frage wie ›Denkst Du, dass es regnen wird?‹. Dann bezieht sich die Verneinung auf ›dass es regnen wird‹ und nicht auf das ›Ich denke‹. 145  Beispielhaft für diese Verbindung sind Untersuchungen von Dieter Henrich (u.a. Selbstverhältnisse, op. cit.; Der Grund im Bewußtsein. Untersu­ chungen zu Hölderlins Denken (1794 – 1795), op. cit.; Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena 1790 – 1794, 2 Bde., op. cit.; Sein oder Nichts. Erkundungen um Samuel Beckett und Hölder­ lin, op. cit.). 146  Siehe dazu meinen Beitrag »Kant und das Glück der Metaphysik«, in: Christopher Erhard, David Meißner, Jörg Noller (Hrsg.), Wozu Metaphysik? Historisch-systematische Perspektiven, op. cit., 309 – 327, bes. 323 ff. 147  Wolfgang Künne geht in seiner Einleitung zu seinem Frege-Kommentar auf sie ein (Die Philosophische Logik Gottlob Freges. Ein Kommentar, op. cit., 20). 148  Gottlob Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, op. cit., IX. Der ursprüngliche Titel der ersten Ausgabe von 1879 (Halle) lautet: Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens. 149  A. a. O., XII. Eine ähnliche, allerdings bei der gesprochenen Sprache verharrende Einstellung vertritt Ludwig Wittgenstein, wenn er in seinen Phi­ losophischen Untersuchungen sagt, die Philosophie sei »ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache« (PU 109). 150  Gottlob Frege, Begriffsschrift, op. cit., § 2 f. Die Überzeugung, dass es nur ein Urteil und nicht mehrere Arten gibt, wiederholt Frege in seinem Aufsatz »Die Verneinung« (in: ders., Logische Untersuchungen, op. cit., 54 – 7 1, hier: 65; wieder abgedruckt in: Wolfgang Künne, Freges Philosophische Logik, op. cit., 113 – 132, hier 125). 151  A. a. O., 25 ff.: »II. Darstellung und Ableitung einiger Urtheile des reinen Denkens«. 152  Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch-mathemati­ sche Untersuchung über den Begriff der Zahl, op. cit. Auf Freges logizistisches Programm, das er vor allem in den Grundgesetzen entwickelt, und auf dessen Scheitern gehe ich nicht ein. Wolfgang Künne beschreibt die Ansprüche dieses Programms und Freges Reaktion auf Russells Kritik (op. cit., 31 – 45) und erwähnt, dass 13 Jahre nach Freges Tod der polnische Logiker Lesniewski den Beweis, den Frege schuldig geblieben war, lieferte (a. a. O., 36). 153  Gottlob Frege, a. a. O., 3. 154  A. a. O., 4. 155  Frege spricht dialektgefärbt von den »Grenzen der Giltigkeit« und den »Giltigkeitsgrenzen« (a. a. O., 1). 156  Freges Vorwort zu den Grundgesetzen der Arithmetik ist abgedruckt in Wolfgang Künnes Buch über Freges philosophische Logik (op. cit., 57 – 84), hier 57. Anmerkungen | 349

157 

A. a. O. A. a. O., 60. 159  A. a. O., 63. 160  Gottlob Frege, »Der Gedanke«, in: ders., Logische Untersuchungen, op. cit., 30 – 53, hier: 19; Freges Aufsatz ist wieder abgedruckt in: Wolfgang Künne, Freges Philosophische Logik, op. cit., 87 – 112). »Der Gedanke« erschien erstmals 1918 in der Zeitschrift »Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus«. Thomas Wyrwich prüft, inwieweit Frege dieses Publikationsorgan nicht nur nutzte, sondern selbst auch einen Beitrag zur Philosophie des Deutschen Idealismus geleistet hat (»Absolutheit der Wahrheit und Transzendenz des Ich. Freges Beiträge zu Problemen der Klassischen deutschen Philosophie in Der Gedanke«, op. cit.). 161  Nicht alle Frege-Interpreten sehen in diesem Übergang eine Veränderung. Für Tyler Burge etwa sind Gedanken als logische Wahrheiten, als Zahlen, Extensionen und Funktionen von Anfang an in Freges Theorie genauso präsent wie in dem späten Aufsatz gleichen Titels (ders., Truth, Thought, Rea­ son. Essays on Frege, op. cit., u.a. 151, 300, 305). 162  A. a. O., 79 ff., resp. 87. 163  A. a. O., 64. 164  A. a. O., 87. 165  Gottlob Frege, Funktion und Begriff, in: Funktion, Begriff, Bedeutung, op. cit., 28. 166  Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, op. cit., 40 – 65. 167  Gottlob Frege, »Der Gedanke«, in: ders., Logische Untersuchungen, op. cit., 30. 168  A. a. O., 30 f. 169  Frege schreibt, das Denken sei »das Fassen des Gedankens« und das Urteilen »die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens« (a. a. O., 35; ähnlich 49 f., 53 und in »Die Verneinung« in: ders., Logische Untersuchungen, op. cit., 63). 170  A. a. O., 32. 171  A. a. O., 33. 172  A. a. O., 43. 173  A. a. O., 34. Tom Ricketts (»Logic and Truth in Frege«, op. cit., 121 – 1 40) meint, Wahrheit sei für Frege keine Eigenschaft. Dem widerspricht Tyler Burge (Truth, Thought, Reason, op. cit., 140). 174  A. a. O., 52. Wolfgang Künne analysiert Freges Atemperalismus und Eternalismus (Conceptions of Truth, op. cit., 269 – 295). Auch Tyler Burge erläutert die ewige Geltung von Wahrheitswerten (Truth, Thought, Reason, op. cit., u.a. 33, 307). Passend zur Unzeitlichkeit von Gedanken haben Begriffe, wie Frege glaubt, »keine Geschichte« (»Über das Trägheitsgesetzt«, op. cit., 158). 175  Frege, Logische Untersuchungen, op. cit., 52. 176  A. a. O., 53. Ähnlich schreibt Frege auch in »Die Verneinung«, dass wir 158 

350 | Anmerkungen  

»durch unser Urteilen am Bestande des Gedankens nichts ändern. Wir können nur anerkennen, was ist.« (A. a. O., 59.) 177  A. a. O., 53. »Wie ganz anders wirklich erscheint doch ein Hammer, verglichen mit einem Gedanken!« heißt es an dieser Stelle. 178  Wolfgang Künne weist darauf hin, dass Freges Modell für das »Fassen eines Gedankens« die visuelle Wahrnehmung ist (Abstrakte Gegenstände, op. cit., 141). 179  Frege, Logische Untersuchungen, op. cit., 52. 180  A. a. O., 53. 181  A. a. O., 52. Schon bei Freges Beispiel mit »Dr. Gustav Lauben« und den beiden Herren, die verschiedene Gedanken ausdrücken, die mit demselben Namen verbunden sind, stellt Frege fest, dass »die Zeit des Sprechens Teil des Gedankenausdrucks« sei (a. a. O., 38). Er integriert damit die indexikalischen Ausdrücke in die Gedanken. 182  A. a. O., 52. 183  A. a. O., 53. 184  Wittgenstein wird eine sog. Identitätstheorie der Wahrheit zugeschrieben, die darin besteht, dass die Aussage ›dass p‹ nichts anderes besagt, als dass p der Fall ist. Vgl. etwa Michael Potter, Wittgenstein’s Notes on Logic, op. cit., 71, 119, 141. Im Ergebnis läuft die Identitäts- auf eine Redundanztheorie hinaus, da das Wahrheitsprädikat jeweils überflüssig ist. 185  Wolfgang Künne analysiert Freges Redundanzthese als implizite Identitätsthese (Conceptions of Truth, op. cit., 34 – 42). 186  Gottlob Frege, Der Gedanke, op. cit., 32 resp. 33. Der Herausgeber Patzig bezweifelt, dass der Begriff der Wahrheit nicht definierbar sei, äußert sich dazu aber nicht weiter. Wie Geo Siegwart ausführlich erläutert, schmälert die Nicht-Definierbarkeit eines »Grundprädikators« wie ›ist wahr‹ oder ›stimmt überein mit…‹ nicht die Chancen einer Wahrheitstheorie (Vorfragen zur Wahrheit. Ein Traktat über kognitive Sprachen, op. cit., 458 f.). Frege hält übrigens eine auf der Übereinstimmung zwischen Sätzen und Wirklichkeit hinauslaufende Auffassung von Wahrheit, also das, was später ›Korrespondenztheorie‹ genannt wird, für nicht erfolgreich (Gottlob Frege, »Der Gedanke«, a. a. O., 32). 187  Frank Plumpton Ramsey, On Truth. Original Manuscript Materials (1927 – 1929) from the Ramsey Collection at the University of Pittsburgh, op. cit., 11. Interessant ist, dass Ramsey im gleichen Atemzug an Aristoteles und dessen ontologische Fundierung der Wahrheit erinnert. Ähnlich wie Frege die Korrespondenzauffassung der Wahrheit verwirft, kritisiert Ramsey die Kohärenzauffassung (a. a. O., 95 – 97). Sein Gegner ist in diesem Zusammenhang der britische Hegelianismus und die Auffassungen von Bradley, Joachim und Bosanquet. Ramsey und Frege nehmen unter den Alternativen allein die Identitäts- bzw. Redundanztheorie der Wahrheit ernst. Anmerkungen | 351

Um diese Grundsätze geht es Frege bereits in seiner Begriffsschrift (op. cit., 25.). 189  Wolfgang Künne, Conceptions of Truth, op. cit. Künnes Buch ist eine gründliche und überzeugende Untersuchung der bisher verfügbaren Wahrheitstheorien. 190  A. a. O., 333 ff.: »6.2 A Modest Account of Truth«. 191  A. a. O., 425. 192  A. a. O., 451. 193  Tyler Burge spricht von »prescriptions of reason« (in: Truth, Thought, Reason, op. cit., 316). 194  Das zeigt die Auseinandersetzung um das Axiom V der Grundgesetze, das Frege zunächst für selbstevident hält, dann aber zurücknimmt. 195  Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, op. cit., 102 f. 196  Tyler Burge, Truth, Thought, Reason, op. cit., 350. Burges’ »mind« habe ich mangels eines anderen geeigneten Worts mit ›Denker‹ übersetzt; man könnte auch ›Kopf‹ sagen. 197  A. a. O., 349. 198  Das Gesetz, auch ›Grundgesetz der Wertverläufe‹ genannt, besagt, dass der Wertverlauf einer Funktion f identisch mit den Wertverläufen der Funktion g ist, genau dann, wenn f und g ko-extensional sind (Gottlob Frege, Grundgesetze der Arithmetik, op. cit.). 199  Tyler Burge weist darauf hin, dass sich Frege bewusst ist, dass wir in unseren Überzeugungen irrtumsanfällig sind (Truth, Thought, Reason, op. cit., 345). 200  Thomas weist auf die Metaphysik (4. Buch, Kap. 3, 1005a/b) und die Zweite Analytik (1. Buch, Kap. 10, 76a/b) hin. In der Metaphysik erläutert Aristoteles das Widerspruchsprinzip, in der Zweiten Analytik, dass Prinzipien angenommen und nicht bewiesen werden. Er spricht zwar nicht davon, dass sie selbstevident seien, aber genau das ist gemeint. Historisch zum Thema zu empfehlen: Luca E. Tuninetti, ›Per se notum‹. Die Logische Beschaffenheit des Selbstverständlichen im Denken des Thomas von Aquin, op. cit. 201  Thomas von Aquin, Summa theologiae, qu. 2, 1, op. cit., 187. Thomas weist darauf hin, dass später (qu. 3, 4) klar werde, dass Gott sein Dasein sei. Dennoch wüssten wir nicht, was oder wer er sei. 202  Wittgensteins sog. Farbrätsel untersuche ich in »Farben und die Grenzen des Denkbaren« (in: Solipsismus und Sprachkritik. Beiträge zu Wittgen­ stein, op. cit., 35 – 60). 203  Tyler Burge, Origins of Objectivity, op. cit. 204  A. a. O., 11 (meine Übersetzung). 205  A. a. O., 31. 206  Tyler Burge, Foundations of Mind, op. cit. 207  Tyler Burge, Origins, op. cit., 14 (meine Übersetzung). 208  Er lehnt auch die traditionelle Auffassung, dass Repräsentation Begriffe voraussetzt, ab. 188 

352 | Anmerkungen  

209 

A. a. O., 379. A. a. O., 38 f. 211  A. a. O., 42. 212  A. a. O., 47 – 52. 213  A. a. O., 547. 214  A. a. O., 547 – 551. 215  Kant kennt eine ähnliche Arbeitsteilung mit seiner Unterscheidung zwischen der ratio essendi (»Seinsgrund«) und der ratio cognoscendi (Denken). 216  Er sei optimistisch, sagt Spohn, dass eine unabhängige, substantielle Theorie der Wahrheit möglich sei (Wolfgang Spohn, »How Modalities Come into the World«, op. cit., 13). Er meint, es gebe nur zwei Wahrheitstheorien, eine ontologische (korrespondenztheoretische) und eine epistemische (pragmatische). Er plädiert für letztere. Spohn ist damit optimistischer, was die Möglichkeit einer Theorie der Wahrheit anlangt, als Wolfgang Künne. 217  Wolfgang Spohn, The Laws of Belief. Ranking Theory and its Philosophi­ cal Applications, op. cit., chap. 16. 218  A. a. O., 478. 219  Siehe chap. 16.3: The Schein-Sein-Principle, a.a.O, 491 ff. 220  Wolfgang Spohn, »How the Modalities Come into the World«, op. cit., 15. 221  David Hume, A Treatise of Human Nature, op. cit., 7, 84. ›Sensation‹ können wir mit ›Empfindung‹, ›reflexion‹ mit ›Denken‹ oder ›Reflexion‹ übersetzen. 222  A. a. O., 215. 223  Wolfgang Spohn, »How the Modalities Come into the World, op. cit., 13. 224  Gottlob Frege, Begriffsschrift, op. cit., 25. 225  Frege schreibt in einem Anhang zur Begriffsschrift: »Die Zeichen sind für das Denken von derselben Bedeutung wie für die Schifffahrt die Erfindung, den Wind zu gebrauchen, um gegen den Wind zu segeln. Deshalb verachte niemand die Zeichen! von ihrer zweckmäßigen Wahl hängt nicht wenig ab.« (A. a. O., 107) 226  Gottlob Frege, a. a. O., 25. 227  Frege nennt den Äquator als Beispiel dafür, dass etwas wie diese Linie »erdacht«, aber »nicht durch Denken entstanden« ist (Die Grundlagen der Arithmetik, op. cit., 35). 228  Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, op. cit., 4.121 – 4.1212. Es geht auch Wittgenstein um den Gebrauch von Zeichen und deren Verhältnis zur Sprache (vgl. meinen Beitrag: »Sagen und Zeigen. Wittgensteins ›Hauptproblem‹«, in: W. Vossenkuhl, Solipsismus und Sprachkritik. Beiträge zu Wittgenstein, op. cit., 61 – 88). 229  Ludwig Wittgenstein, Tractatus, op. cit., 4.121. 230  Gottlob Frege, Begriffsschrift, op. cit., 25. 231  Ludwig Wittgenstein, Tractatus, op. cit., 3.33 und 3.334. 210 

Anmerkungen | 353

232 

A. a. O., 3.331. Tyler Burge, Truth, Thought, Reason, op. cit., 329. 234  Bertrand Russell, Letter to Frege (1902), in: Jean van Heijenoort (Ed.), From Frege to Gödel. A Source Book in Mathematical Logic, 1879 – 1931, op. cit., 124 f. Heijenoort war von 1932 bis 1939 Leo Trotzkis Sekretär in dessen mexikanischem Exil. 235  Gottlob Frege, Letter to Russell (1902), in: Jean van Heijenoort, a. a. O., 126 – 128, hier 128. Der Brief wird in englischer Übersetzung angeboten, in der die besagte Stelle heißt »a predicate is predicated of itself«. 236  David Hilbert, On the Infinite, in: Jean van Heijenoort, a. a. O., 367 – 392 (dt.: Über das Unendliche, in: Mathematische Annalen 95 (1926), 161 – 190). 237  ›Finitistisch‹ bedeutet, dass eine mathematische Definition genau dann gilt, wenn sie ihr Ziel nach einer endlichen Zahl von Versuchen erreicht (Thoralf Skolem, in: Jean van Heijenoort, a.a.O, 333.) Hilbert schreibt in jenem Zusammenhang, dass niemand in der Lage sei, sie aus dem Paradies, das Cantor für sie geschaffen habe, zu vertreiben (a. a. O., 376). 238  David Hilbert, a. a. O., 375 (dt. 170). 239  David Hilbert, a. a. O., 170 (kursiv im Original). 240  A. a. O., 171 (engl. 376) Auf derselben Seite findet sich auch das davor Zitierte. 241  Julian Roberts bestimmt ›Reflexion‹ als »Argumentationsmuster« (»a pattern of argument«) und gibt damit einen Hinweis auf deren große Reichweite (The Logic of Reflection. German Philosophy in the Twentieth Century, op. cit., 282). Er geht ausführlich auf die Grenzen der Reflexivität von Systemen im Blick auf Gödel und Skolem ein. Ulrich Blau analysiert Selbstreferenz und die aus ihr entstehenden Paradoxien (Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, op. cit., 445 ff.). 242  Daher rühren die sog. Sinnestäuschungen, die Eschers Zeichnungen deutlich machen. Weil das Gehirn alle zweidimensionalen in dreidimensionale Bilder verwandelt, meinen wir, dass Eschers Treppen sowohl nach oben als auch nach unten gehen. Auch geometrisch, schwarz und weiß strukturierte Fußböden sehen wir dreidimensional als sog. Springbilder. 243  Gottfried Wilhelm Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. Monadologie, op. cit., 40 f. Leibniz nennt zwei »große« Prinzipien der Vernunfterkenntnis, das Prinzip des Widerspruchs und das des zureichenden Grundes (raison suffisante). 244  Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, op. cit., 53, 73. 245  A. a. O., 21. Leibniz spricht im Unterschied dazu von den »zwei großen Prinzipien« ohne Rangordnung. 246  Martin Heidegger, a. a. O., 90. 247  A. a. O., 82 – 84. 248  A. a. O., 120, 136 resp. 249  A. a. O., 90. 233 

354 | Anmerkungen  

In der Kritik der reinen Vernunft schreibt er: »Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe« (op. cit., Bd. 3, 86); kurz darauf (a. a. O., 116 f.) unterscheidet er aber zwischen ›Denken‹ und ›Erkennen‹. Sich einen Gegenstand denken und ihn erkennen sei nicht einerlei, heißt es da, nachdem er vorher deutlich macht, dass der Gehalt der Anschauung – das Mannigfaltige – schon vor der Synthesis durch den Verstand gegeben sein müsse – wie, bleibe »hier« allerdings »unbestimmt«. Bei dieser Unbestimmtheit belässt es Kant. Nach allen Seiten offen ist seine Bemerkung in der Anthropologie, dass Denken »Reden mit sich selbst« sei (op. cit., Bd. 7, 192). 251  Burges Überzeugung teilen u.a. Gareth Evans (The Varieties of Refer­ ence, op. cit.), Christopher Peacocke (A Study of Concepts, op. cit.; ders., »Does Perception Have a Nonconceptual Content?« op. cit., 239 – 264) und Crispin Wright (Wittgenstein on the Foundations of Mathematics, op. cit., Part One, chap. II, Part Two, chaps. XI, XII). Ein Gegner dieser Überzeugung ist im Geiste Davidsons John McDowell (»Scheme-Content Dualism and Empiricism«, op. cit., 87 – 104; ders., Experience, Norm, and Nature, op. cit., 1 – 14). 252  Wie sog. ›Gedankenleser‹, die bildgebende Verfahren (functional magnetic resonance imaging, abgek.: fMRI) benutzen und messbare Hirnaktivitäten als ›Gedanken‹ interpretieren, obwohl nur der Verbrauch von Glukose und Sauerstoff in bestimmten Hirnregionen sichtbar gemacht wird. Hämoglobin hat in sauerstoffgesättigtem Zustand eine andere magnetische Eigenschaft als im sauerstoffarmen Zustand. Dies ermöglicht die Visualisierung von Aktivitäten. 253  Regeln sind für Argumentationen und Begründungen notwendig, aber nicht hinreichend; d. h. nicht jeder Regelgebrauch kann als Teil einer Argumentation oder Begründung verstanden werden. Beim Sprechen und im Straßenverkehr gebrauchen wir Regeln, gewöhnlich, ohne mit ihnen zu argumentieren, es sei denn, ein Polizist zwingt uns dazu, wenigstens den Versuch zu machen. 254  Mit einer begrenzten Menge von Regeln strukturieren wir eine beliebig große Menge an Wörtern auf kreative Weise. Eugen Fischer beschreibt dies in: Linguistic Creativity. Exercises in ›Philosophical Therapy‹, op. cit. 255  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 202. 256  Im Einzelnen untersuche ich dies in »The Practice of Following Rules« op. cit. Nach meiner Auffassung kennzeichnet der Begriff ›Regelfolgen‹ einen Standard (default option) des richtigen Sprachgebrauchs, der die Praxis des Sprechens aber nicht erklären kann. Auch Erich Ammereller ist überzeugt, dass Wittgenstein den Regelbegriff nicht erklärend gebraucht (»Puzzles about rule-following – PI 185 – 242«, op. cit.; ähnlich auch Gunter Gebauer (Wittgen­ steins anthropologisches Denken, op. cit.). David Bell weist darauf hin, dass sich die Anwendung von Regeln nicht regeln lässt (»The Art of Judgment«, op. cit.). 257  Hölderlins Gedicht »Dem Sonnengott«, in dessen ersten Zeilen es heißt: 250 

Anmerkungen | 355

»Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir – Von aller deiner Wonne; …« ist mit den grammatischen Regeln, auf die z. B. im Schulunterricht Wert gelegt wird, nicht wirklich vereinbar, dennoch verstehen wir das Gedicht. Ein in Hölderlins Stil geschriebener Schulaufsatz könnte allerdings nicht auf die Bestnote hoffen, was zweifellos zu bedauern ist. Hölderlin hat sich an Pindar und dessen ausdrucksstarken dichterischen Freiheiten orientiert. 258  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 199, 206 resp. 259  A. a. O., § 219. Gunter Gebauer schreibt treffend, Wittgenstein habe mit dem ›blinden‹ Regelfolgen »eine Art Stopstellung« zur Beendigung »aller Argumentationen über das Warum des regelhaften Gebrauchs« herbeigeführt (op. cit., 137). 260  Das ›wir‹ müssen wir wohl auf eine überschaubare Gruppe an Personen einschränken, zu der Frege, Gödel, Lesniewski, Tarski, Kotarbinski, Twardowski und auch einige lebende Logiker, aber nicht der Autor dieser Untersuchung gehören. 261  Dass der Satz ›p‹ aufgrund der Regel R gilt (Rg), kann z. B. so abgekürzt werden: Rg(p), und dass dies gilt, hieße dann Rg(Rg(p)) und auf die Frage, ob auch dies gilt, kann der reflexive Regress der Pseudobegründung beliebig fortgesetzt werden. Begründet ist damit nichts. 262  Wittgenstein drückt dies im Tractatus so aus, dass aus Tautologien nur Tautologien folgen (6.126). Ähnlich ist auch Heideggers Satz »Sein und Grund: das Selbe« (Der Satz vom Grund, op. cit., 184) nicht bedeutungslos, obwohl ohne seine ausführlichen Erläuterungen nicht klar ist, was er sagt. 263  Ludwig Wittgenstein, Tractatus (6.13). 264  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., Bd. 3, 43. 265  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, op. cit., 77 f. (So zitiert, handelt es sich immer um die erste Auflage der Reinen Rechtslehre). 266  Die Grenze der Reflexion kann, wie Ulrich Blau zeigt, mit formalen Mitteln analysiert werden. Blau nimmt dabei Paradoxien nicht nur in Kauf, sondern will sie produktiv nutzen (Die Logik der Unbestimmtheiten und Para­ doxien, op. cit., bes. Kap. 7 – 12). 267  Symbolisch z. B.: ¬(a ∧ ¬a) 268  Aristoteles erläutert das Widerspruchsprinzip in Metaphysik, 997a und 1005b. 269  Wir orientieren uns an Wittgensteins Auffassung von ›Beschreiben‹ und ›Beschreibung‹. Siehe u.a. Philosophische Untersuchungen, §§ 109, 171, 180. 270  Der Unterscheidung liegt »Humes Prinzip« zugrunde, dass aus dem ›ist‹ oder ›ist nicht‹ kein ›soll‹ oder ›soll nicht‹ abgeleitet werden kann (David Hume, A Treatise of Human Nature, op. cit., 469). Ronald Dworkin deutet dieses Prinzip so, dass es im Gegensatz zur gewöhnlichen Deutung der Moral einen eigenen kognitiven Status reserviert und moralische Prinzipien wahrheitsfähig macht (Justice for Hedgehogs, Part One, op. cit.). So kann man es auch sehen. Christoph Möllers versteht Humes Prinzip ähnlich, wenn er vor356 | Anmerkungen  

schlägt, dass Normen ein selbständiger Teil der Welt sind und als »Darstellung einer Möglichkeit« verstanden werden können (Die Möglichkeit der Normen, op. cit., 127 f.). 271  Die mittelalterliche Carta Foresta von Sir William Marshal stellte die traditionellen Rechte der Freien auf öffentliche Güter wie den Wald wieder her und schränkte die Rechte der Landbesitzer ein (siehe dazu: Geraldine van Bueren, »Take back control. A new Commons Charter for the twenty-first century is overdue, 800 years after the first«, op. cit., 23 – 25). 272  Exemplarisch dafür ist der erste Satz in Eckart Conzes aufschlussreichem Buch: Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, op. cit., 9: »Geschichte ist immer Gegenwart.« 273  Erstaunlich groß ist die Sammlung literarischer Fälschungen von Arthur Freeman (Bibliotheca Fictiva, op. cit.). 274  Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, op. cit., 99, 187 resp. Droysen erwähnt als Beispiel Laurentius Vallas Nachweis (1439!) der »Schenkung des Konstantin« als Fälschung (a. a. O., 94). 275  Die syrische Stadt Palmyra mit ihren beeindruckenden Monumenten wurde 273 n. Chr. erstmals zerstört und deren Überrest durch Islamisten erneut. 276  Die Perspektive, die ein Historiker wählt, um geschichtliche Entwicklungen zu schildern, fördern eine Wahrnehmung zutage, die es davor nicht gab. Die Entwicklung des römischen Imperiums in einer bestimmten Periode kann alternativ aus der Perspektive der herrschenden Eliten, der jeweiligen Cäsaren, der geopolitischen Entwicklungen, der Trennung zwischen dem Militär und der bürgerlichen Elite etc. beschrieben werden. Es ist jedes Mal eine andere Geschichte, die erst in unserer Zeit beschrieben werden konnte (vgl. etwa Michael Kulikowski, Imperial Triumph. The Roman World from Hadrian to Constantine, op. cit.). 277  Die Analogie zur Freges ›Gedanken‹ ist begrenzt, weil das Nicht-Reflexive und dessen Geltung in keinem ›dritten Reich der Gedanken‹ beheimatet ist, wie Frege dies als Platoniker für die Naturgesetze und wissenschaftliche Wahrheiten annahm. 278  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., Bd. 3, 15. 279  A. a. O., 145: »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a pri­ ori.« 280  Tyler Burge beschreibt dieses Erfassen der Grundlagen logischer Beweisführung bei Frege ausführlich (Truth, Thought, Reason, op. cit., 317 – 355). 281  Kant beschreibt eines seiner theoretischen Motive zunächst überzeugend: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne VerAnmerkungen | 357

stand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Nur die Folgerung ist fragwürdig: »Daher ist es eben so nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen…« (a. a. O., 75). Wir können nicht, was Kant verlangt, weil wir asymmetrisch auf das, was wir finden, angewiesen sind. Das können wir nicht selbst machen. 282  Aristoteles, Metaphysik, 1005b: τό γάρ αὐτό ἅμα ὑπάρχειν τε καί μή ὑπάρχειν ἀδύνατον τῷ αὐτῷ καί κατά τό αὐτό. Es sei das sicherste unter allen Prinzipien sagt Aristoteles. 283  Martin Heidegger verbindet die ontologische mit der aussagenlogischen Bedeutung des Widerspruchsprinzips: »was einen Widerspruch in sich schließt, kann nicht sein« (Der Satz vom Grund, op. cit., 37). Wer die Geschichte des Satzes vom Widerspruch kenne, müsse zugestehen, dass »die Deutung seines Inhalts eine fragwürdige Sache« bleibe, meint Heidegger und verweist gleich auf Hegel und die Rolle des Widerspruchs in dessen Denken (a. a. O., 38). 284  Aristoteles, Metaphysik, 1074b. 285  Die Kommentare des GG verweisen auf Kants Würde-Konzept. Wir werden prüfen, ob dies gerechtfertigt ist (Kap. 3.2.3). 286  Willard Van Orman Quine, »Ontologische Relativität«, op. cit., 41 – 96. 287  A. a. O., 51. 288  A. a. O., 52 f. 289  A. a. O., 60 f. 290  Zu untersuchen, weshalb etwas es selbst ist, bedeutet nach Aristoteles so viel wie nichts untersuchen (Metaphysik, 1041a). 291  Christoph Möllers versteht Normen nicht in Abhängigkeit von Prinzipien, aber dennoch als realen, selbständigen Teil der Welt und als »Darstellung einer Möglichkeit«, für die es kein »Erfolgskriterium« gibt. Normen seien »Teil der Gesamtheit der Tatsachen« (Die Möglichkeit der Normen, op. cit., 127 f., 168, 132 resp.). Es geht ihm nicht um die Geltung von Normen, sondern um deren Entstehung. Diese will er nicht-normativ erklären. 292  Heinrich Popitz beschreibt die Entstehung von Normen anthropologisch. Er sieht einen engen Zusammenhang zwischen der Weltoffenheit, der Lernfähigkeit, dem Selbstbewusstsein und der Sprache mit dem, was er »Normierungszwang« nennt (Soziale Normen, op. cit., bes. 76 – 93). Dagegen argumentiert Rainer Forst, dass alles, was Geltung beansprucht, nicht anthropologisch gedeutet, sondern vernünftig begründet werden sollte. In der Normativität sei der Anspruch auf Rechtfertigung schon enthalten (Normativität und Macht, op. cit., 12, 26 ff., bes. Kap. I). 293  Aristoteles erwähnt, dass es bei der Erörterung von Prinzipien einen großen Unterschied ausmacht, ob wir von ihnen ausgehen oder zu ihnen aufsteigen (Nikomachische Ethik, 1095a). Vom Widerspruchsprinzip gehen wir aus, zum Prinzip der Menschenwürde steigen wir auf. 294  Ob damit auch Gewalt verhindert werden kann, ist eine andere Frage. 358 | Anmerkungen  

Jörg Baberowski argumentiert, wenn die Gewalt außer Kontrolle geraten sei, breche »die Zeit der Psychopaten und Kriminellen an, die das Töten wie die Luft zum Atmen brauchen« (Räume der Gewalt, op. cit., 33). 295  Dies entspricht der von Hans Joas beschriebenen »subjektiven Evidenz« und »affektiven Intensität«, mit der die Menschenrechte wahrgenommen und in einer »affirmativen Genealogie« verteidigt werden (Die Sakralität der Per­ son, op. cit., 18, resp. 187 ff.). 296  Rainer Forst spricht zu Recht im Hinblick auf die historische Genese von Normen von einem »Rechtfertigungsnarrativ«, in dem historische Erzählung und Rechtfertigung verschränkt sind (Normativität und Macht, op. cit., Kap. 3). 297  Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, op. cit., Bd. 6, 225. Mit der ›kritischen Philosophie‹ meint er seine eigene. 298  A. a. O., 206 f. Kant ist sich der Tatsache bewusst, dass sein Anspruch anmaßend erscheint. Er ist sich der erforderlichen Gründe für seinen Anspruch aber sicher. 299  A. a. O., 220. 300  Siehe dazu die Untersuchung von Christian Müller (Wille und Gegen­ stand, op. cit., u.a. 60 ff.). Er nimmt zwar im Anschluss an andere Interpreten zwei Freiheitsbegriffe an, untersucht aber nicht das Kontinuum ihrer Verbindlichkeit in Moral und Recht. 301  Kant, a. a. O., 221. 302  A. a. O., 222. 303  A. a. O., 231. 304  Wir müssten uns dann auch fragen, welche Maxime diesem Imperativ zugrunde läge. 305  A. a. O. 306  A. a. O., 231: »§ D. Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden.« 307  Im unmittelbar anschließenden Paragraphen E wiederholt Kant die mechanische »Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung.« (A. a. O., 232) 308  Kant selbst spricht von einer »Construction« a priori des Begriffs des »wechselseitigen Zwanges unter dem Princip der allgemeinen Freiheit« (A. a. O., 232). 309  A. a. O., 230. 310  A. a. O., 237. 311  A. a. O., 238. 312  A. a. O., 232. 313  Kant erwähnt das Beispiel des Schuldners und seiner Verpflichtung, die Schulden zurückzuzahlen (a. a. O., 232). 314  A. a. O., 224. 315  A. a. O., 225. 316  Kant schließt »eine Collision von Pflichten und Verbindlichkeiten« als undenkbar aus (a. a. O., 224). Anmerkungen | 359

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, (1785) op. cit., Werke 4, 385 – 463; Kritik der praktischen Vernunft, (1788) op. cit., Werke 5, 1 – 163. 318  In der Vorrede zur Grundlegung schreibt Kant: »Jedermann muß eingestehen, daß ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Nothwendigkeit bei sich führen müsse; …« (a. a. O., 389). 319  A. a. O., 396 f. 320  Dass es nur eine Vernunft geben könne, heißt es u.a. in: Grundlegung (op. cit., 391), Kritik der praktischen Vernunft (op. cit., 29 ff.), Metaphysik der Sitten (op. cit., 207). 321  Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, op. cit., Bd. 5, 4. Er billigt der Freiheit damit eine größere Gewissheit zu als den beiden anderen Ideen, Gott und Unsterblichkeit. 322  A. a. O., 31. Dass dieses Faktum der Vernunft nicht geleugnet werden könne, schreibt er eine Seite später. 323  Kant schreibt, es sei ein »unauflösliches Problem«, wie ein Gesetz »Bestimmungsgrund des Willens sein könne«, und dieses Problem sei mit dem Problem »einerlei: wie ein freier Wille möglich sei« (a. a. O., 72). Diese Selbsteinschränkung spricht gegen die Annahme, dass Kant die Willensfreiheit beweisen will. 324  Grundlegung, op. cit., 447. 325  Kritik der praktischen Vernunft, op. cit., 47. 326  A. a. O., 49. Kants eigene Einsicht in das Scheitern des Nachweises der physischen Wirksamkeit ist ernst zu nehmen. Es gibt keinen Grund, ihm das Gegenteil zu unterstellen. 327  Reinhard Merkel analysiert diese Umkehrung des Beweisverfahrens, nach der nicht mehr das Sittengesetz aus der Freiheit (wie in der Grundle­ gung gefordert), sondern die Freiheit aus dem Sittengesetz (wie in der Kritik der praktischen Vernunft praktiziert) abgeleitet wird, als Indiz des Scheiterns von Kants Konzept der Willensfreiheit (Willensfreiheit und rechtliche Schuld, op. cit., 56 f.). Merkel meint, dass das »Weltbild der Physik« gegen eine nichtdeterministische Auffassung der Willensfreiheit spricht. Die Frage ist allerdings, in welchem Sinn dieses Weltbild deterministisch ist und um welche Auffassungen von Kausalität es dabei geht. Gegen den Reduktionismus, der dem physikalischen Determinismus zugrunde liegt, argumentiert Jan Cornelius Schmidt (Das Andere der Natur, op. cit.). Er beschreibt mit vielen Beispielen die Instabilitäten, die in der Natur herrschen. 328  A. a. O., 93. 329  A. a. O., 94. 330  A. a. O., 99. Die Fortschritte der Hirnforschung führen zwar tiefer in das menschliche Gehirn, aber noch nicht ›tiefer‹ in unser Denken hinein. 331  Kap. 1.4 dieser Untersuchung. 317 

360 | Anmerkungen  

332 

Kant spricht von dem »leeren Platz«, den er für die Freiheit innerhalb der mechanistischen Natur offenhalten wollte, damit aber scheiterte, weil nicht erkennbar ist, »was« die Kausalität der Freiheit in der Natur ist. Den leeren Platz fülle nun das moralische Gesetz aus (Kritik der praktischen Ver­ nunft, op. cit., 48 f.). 333  Thomas Buchheim argumentiert ähnlich für ein Gefühl der Freiheit und dafür, die Freiheit nicht auf moralische Zusammenhänge einzuschränken, sondern ihr einen vorrangigen Platz im menschlichen Leben einzuräumen (Unser Verlangen nach Freiheit, op. cit.). 334  Kritik der praktischen Vernunft, op. cit., 44. 335  A. a. O., 95 (kursiv im Original). 336  Diese Schwierigkeit haben auch die analytisch orientierten Kantianer (u.a. Onora O’Neill, Constructions of Reason, op. cit.; u. Acting on Principle, op. cit.; Barbara Herman, The Practice of Moral Judgement, op. cit.; Derek Parfit, On What Matters, op. cit.; Paul Guyer, Kant on Freedom, Law, and Hap­ piness, op. cit.). 337  Kritik der praktischen Vernunft, op. cit., 31. 338  Grundlegung, op. cit., 458. 339  A. a. O., 453. Diese Überzeugung kann idealistisch und als Fusion des analytischen Verstandes mit der dialektischen Vernunft verstanden werden. Denn die Verstandeswelt ist eine Vernunftwelt. 340  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., Werke 3. Kants Gedanke finden wir als eine Art Definition dessen, was er unter einem Naturgesetz verstand: »daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe« (a. a. O., 308). 341  Wir können z. B. die Gravitation als Naturgesetz denken und verstehen, sonst könnten wir ihr – Newton folgend – auch keine mathematische Form geben. Die Wirksamkeit der Gravitation selbst, ihre Kausalität, liegt aber außerhalb unserer Formgebung. Zur Gravitationsauffassung Newtons und Kants siehe den Beitrag von Erdmann Görg (»Zum Gravitationsgesetz bei Newton, Kant und Fries«, op. cit.). 342  In einem langen Satz geht es darum, wie die Idee der Freiheit zum normalen, von Begierden durchsetzten Willen hinzukomme. Wie soll man sich dieses Hinzukommen aber vorstellen? Hier Kants Lösung: »… ungefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntnis einer Natur beruht, möglich machen.« (Grundlegung, op. cit., 454) 343  A. a. O. 344  A. a. O., 455. 345  Den Überlegungen dieses Kapitels liegen diese Texte von Jürgen Habermas zugrunde: Theorie des kommunikativen Handelns, op. cit.; Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Anmerkungen | 361

Rechtsstaats, op. cit.; »Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft«, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Auf­ sätze, op. cit., 27 – 83. In seinem jüngsten Werk Auch eine Geschichte der Philo­ sophie (op. cit.) bestätigt er seine geltungstheoretischen Überzeugungen. Wir gehen nicht näher auf diesen Text ein. 346  Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, op. cit., 33 (diskursiv im Original). 347  A. a. O., 37. 348  Habermas beschreibt dies in: »Kommunikatives Handeln und detrans­ zendentalisierte Vernunft«, op. cit., 82. 349  A. a. O., 32. 350  A. a. O., 37. 351  A. a. O., 44, 45, 47, 48, 37 resp. 352  A. a. O., 47 ff. 353  Faktizität und Geltung, op. cit., 52 (kursiv im Original). 354  Theorie des kommunikativen Handelns, op. cit. 355  A. a. O., Bd. 1, Kap II. 356  Faktizität und Geltung, op. cit., 542. 357  A. a. O., 595. 358  A. a. O., 599 u. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, op. cit., 548 ff. 359  Faktizität und Geltung, op. cit., 55. 360  Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Op. cit. 361  Faktizität und Geltung, op. cit., 53. 362  A. a. O. 363  A. a. O. 364  Klaus Lüdersen mahnt ebenfalls die Differenz zwischen Geltung und Genese an. Er wirft Habermas vor, die begriffliche und sachliche Differenz zwischen der Geltung und der Genese des Rechts ignoriert zu haben (Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, op. cit., 20 – 31, 48). 365  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1099b. 366  Aristoteles, Metaphysik, 1075a. 367  Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b20. 368  A. a. O., 1134b30. 369  Aristoteles, Über Werden und Vergehen, op. cit., 75, 543. 370  Harald Patzer, Physis. Grundlegung zu einer Geschichte des Wortes, a. a. O. Es handelt sich um die Habilitationsschrift, die Patzer 1939 in Marburg eingereichte. Das Ehepaar Primavesi sorgte dafür, dass sie als Monographie veröffentlicht werden konnte. Martin Heidegger nennt die Schönheit (»eine höchste Weise des Seins«) als Bedeutung des Wortes und schreibt, dass wir das, was die »Ältesten der griechischen Denker« φύσις nennen, »heillos verderben, wenn wir es durch ›Natur‹ übersetzen« (Der Satz vom Grund, op. cit., 362 | Anmerkungen  

102). Kurz darauf übersetzt Heidegger das Wort mit »das von-sich-her-Seiende« (a. a. O., 110). Es ist das, was nicht-reflexiv da ist, bevor es gedacht wird. 371  Patzer, a. a. O., 47, 51 f., 56 f., 63. 372  A. a. O., 66. 373  Aristoteles, Rhetorik, op. cit., 1. Halbband, 62 (1373b 4 – 9), 2. Halbband (die Erläuterungen), 486 – 498. 374  Christof Rapp meint in seinem Kommentar allerdings, dass sich der erwähnte Text der Rhetorik aufgrund einer vagen Begriffsbestimmung und exegetischer Schwierigkeiten »denkbar schlecht« für eine Grundlegung des Naturrechts eigne (a. a. O.). 375  In der Übersetzung von Christof Rapp ist nicht vom ›besonderen‹, sondern vom »eigentümlichen« Gesetz die Rede. In der Nikomachischen Ethik unterscheidet Aristoteles zwischen dem natürlichen und gesetzlichen Recht (1134b 18 f.). Es geht in jeder dieser Unterscheidungen um das natürliche, universal geltende Gesetz und das besondere, partikular geltende Gesetz, z. B. das von Kreon erlassene. 376  Sophokles, Antigone, 818 – 822. 377  Rafael Ferber untersucht die Entwicklung naturrechtlicher und universaler Gesetze im Unterschied zu partikularen von der Antike bis zu Kant (»Warum und wie sich die philosophische Ethik im Verlauf der Neuzeit von der theologischen Ethik emanzipiert hat«, op. cit., 246 – 263). Interessant ist u.a., wie sich die Konnotationen von ›autonom‹ und ›heteronom‹ seit der Antike bis zu Kant veränderten. 378  Thomas von Aquin, Summa theologiae (abgk. ST) 1, qu103, ar1 ff. Zu den Vorläufern dieser Auffassung von ›Naturrecht‹ zählen Cicero, Marc Aurel und Augustinus. 379  ST2 (prima secundae), qu 93, ar1 ff. 380  ST3 (secunda secundae), qu 57, ar1 ff. 381  ST3 qu 57, ar 3. Im Original ist nur vom Vater und vom Sohn die Rede. 382  Joachim Ritter hat den Wandel beschrieben: »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, op. cit., 141 – 190. 383  Christian Wolff, Philosophia Practica Universalis, Methodo Scientifica Pertractata, Pars Prior, op. cit., § 135, p. 117. Wolff beruft sich auf die Tradition vor ihm, vor allem auf Hugo Grotius. 384  ST3 qu 57 ar 2. »… furari vel adulterium committere …«. 385  Christian Wolff, Discursus Praeliminaris De Philosophia In Genere, op. cit., 76 f. 386  Platon, Gorgias, 483 St. (Bd. 1, op. cit., 91); Der Staat, 341 St. (op. cit., Bd. 5, 4). 387  Guillelmi de Ockham, Summa Logicae (Opera Philosophica I), op. cit., 669. 388  Wilhelm von Ockham, Dialogus, Auszüge zur Politischen Theorie, Anmerkungen | 363

op. cit., 91. Er denkt ausführlich darüber nach, dass Päpste Ketzer sein und dem Glauben schaden können. Die Motive dafür liegen zweifellos auch in seiner Biographie und seiner Gegnerschaft zu den Päpsten in Avignon. 389  A. a. O., 124. 390  A. a. O., 148. 391  Reinhold Zippelius weist darauf hin, dass Ockham das Naturrecht im engeren Sinn aufgegeben habe, weil er Diebstahl und Ehebruch nicht als absolut schlecht versteht (Rechtsphilosophie, op. cit., 89). Dies ist einerseits zutreffend, als es für Ockham keine absolut und intrinsisch schlechten Handlungen gibt; andererseits trifft es für den Ehebruch nicht zu, weil dessen Schlechtigkeit der natürlichen Vernunft zugänglich und naturrechtlich klar zu verurteilen sei, wie er ausdrücklich sagt (Dialogus, op. cit., 179). 392  Interessant ist, dass Ockham, der Franziskaner, im Gegensatz zu Thomas, dem Dominikaner, den Diebstahl differenziert und als weniger schweres Verbrechen als den Ehebruch betrachtet (Dialogus, a. a. O., 44). 393  Dialogus, a. a. O., 178 f. 394  A. a. O., 56. Es ist bedauerlich, dass in der von Franz Josef Wetz herausgegebenen Sammlung von Texten zur Menschenwürde (Reclams Universal­ bibliothek) Gregors Argumente gegen die Sklaverei ebenso fehlen wie Ockhams naturrechtliche Argumente für die Gleichheit aller Menschen. Die häufig vertretene Ansicht, dass diese naturrechtlich begründeten menschenrechtlichen Ansprüche erst der Aufklärung und nicht schon dem Christentum zu verdanken seien, ist offenkundig falsch. 395  A. a. O., 54. 396  Weitere Einzelheiten zu diesem Thema in meinem Beitrag »Vernünftige Kontingenz. Ockhams Verständnis der Schöpfung«, op. cit., 77 – 93. 397  Dialogus, op. cit., 44 f. 398  Opera Theologica I (Sentenzenkommentar), op. cit., 321. 399  Dialogus, op. cit., 178 f.: »Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht ­lügen …« 400  Ockham nimmt die Gemeinwohlverpflichtung sehr ernst und unterscheidet gute von schlechten Herrschaftsformen nach ihrer Orientierung am Gemeinwohl (Dialogus, a. a. O., 103). 401  Robert Spaemann, »Über den Begriff der Menschenwürde«, in: Men­ schenrechte und Menschenwürde, op. cit., 302. 402  Ernst-Wolfgang Böckenförde, a. a. O., 13. 403  Robert Spaemann, a. a. O., 296 f. Dass dieser Dualismus zweifelhaft ist, wie an anderer Stelle dieser Untersuchung gezeigt wird, spielt für Spaemanns Überlegungen keine Rolle. 404  Thomas von Aquin, ST1 qu16 ar3: »… sicut bonum convertitur cum ente, ita et verum.« 405  Diese Stufen werden in drei aufeinander folgenden Artikeln überwunden: Thomas von Aquin, ST1 qu 16 ar 2 – 4. 364 | Anmerkungen  

Aristoteles nennt den Verstand die Form der Formen (de anima, III 8; op. cit., 205.) 407  Darum geht es im zweiten Artikel der quaestio 16. Thomas beruft sich, was die Angleichung (adaequatio) von Verstand und Ding angeht, auf Isaac Israels Definition der Wahrheit. 408  Es heißt: »Quodammodo est omnia«. Was die Seele alles ist, führt Thomas nicht näher aus. Wir dürfen aber annehmen, dass er sich auf den eben schon zitierten Text von Aristoteles (de anima, III 8) bezieht. Dort heißt es, dass die Seele »in gewisser Weise alles Seiende« ist (a. a. O., 203 ff.) 409  Thomas, a. a. O., ar 3: »Unumquodque autem quantum habet de esse, intantum est cognoscibile«. 410  Thomas sagt dies ausdrücklich: »bonum est in rebus« (a. a. O., ar 4). 411  »Unde verum fundatur in ente, inquantum non ens est quoddam ens rationis, apprehensum scilicet a ratione« (A. a. O., ar 3). 412  Thomas von Aquin, ST1 qu 16 ar 3: »… cognoscitur inquantum intellectus facit illud cognoscibile.« 413  A. a. O., ar 4: »Alio modo posset sic intelligi, nisi apprehenderetur ratio veri. Et hoc falsum est.« Und dann: »… non tamen intelligendo ens, intelligitur verum.« 414  Thomas will dem Irrtum vorbeugen, indem er am Ende des fünften Artikels sagt, dass alles Erfassen durch den Verstand von Gott sei (»Omnis autem apprehensio intellectus a Deo est …«). Dies ist aber doppeldeutig. Es kann sowohl der Akt des Erfassens als auch das Erfasste gemeint sein. Den Akt des Erfassens kann Thomas nicht meinen, denn dann würden wir mit dem Erfassen des Seienden unmittelbar dessen Wahrheit erkennen. Irrtum muss für uns Menschen möglich sein. 415  Thomas beschreibt diese Ordnung so: »ratio autem boni consequitur esse, secundum quod est aliquo modo perfectum; sic enim appetibile est« (a. a. O., ar 4). 416  Es heißt: »Intellectus autem per prius apprehendit ipsum ens; et secundario apprehendit se intelligere ens; et tertio apprehendit se appetere ens. Unde primo est ratio entis, secundo ratio veri, tertio ratio boni, licet bonum sit in rebus« (a. a. O., ar 4). 417  »Veritas autem justitiae est secundum quod homo servat id quod debet alteri secundum ordinem legis. Unde ex his particularibus veritatibus non est procedendum ad veritatem communem« (a. a. O., ar 4). 418  A. a. O., ar 5. 419  Mit ›Schubs‹ können wir die Hilfe bezeichnen, mit der wir durch den göttlichen Geist zur Wahrheit hin orientiert werden (»ad quod ordinatur per intellectum divinum«, qu 16, ar 5). 420  Philippa Foot, Natural Goodness, op. cit. 421  A. a. O., 3. Geachs Argument richtet sich gegen G. E. Moores antinatu­ 406 

Anmerkungen | 365

ralistische These, dass ›gut‹ ähnlich undefinierbar sei wie ›gelb‹ (Principia Ethica, op. cit., chap. I. B.). 422  A. a. O., 27. 423  A. a. O., u.a. 35, 44. 424  A. a. O., chap. 3. 425  A. a. O., 44 f. 426  A. a. O., 51. 427  Ein entschiedener Vertreter der Sein-Sollens-Differenz ist z. B. Hans Kelsen (Reine Rechtslehre, op. cit., 21 ff.). Der Herausgeber der Reinen Rechts­ lehre, Matthias Jestaedt, erläutert dies in seiner Einführung (a. a. O., XXXIII). Zur Frage der Haltbarkeit jener Differenz siehe die ersten Kapitel dieser Untersuchung. 428  Philippa Foot, Natural Goodness, op. cit., 76. 429  A. a. O., chap. 6. 430  Der naturalistische Irrtum, die naturalistic fallacy (fälschlich als ›Fehlschluss‹ bezeichnet, obwohl es formal um keinen Schluss, sondern um eine falsche, irrtümliche Begriffsverwendung, also um einen naturalistischen Irrtum, geht), besagt, dass wertende Prädikate wie ›zufrieden‹ oder ›glücklich‹ nicht im Rückgriff auf natürliche Prädikate definiert oder analysiert werden können (G. E. Moore, Principia Ethica, op. cit., 13). Derek Parfit meint übrigens, dass die sog. naturalistic fallacy weder naturalistic noch eine fallacy sei und dass Sidgwick das Problem besser verstanden habe als Moore (On What Matters, vol. 1, op. cit., 465). Moore hat übrigens bei Sidgwick studiert. 431  Robert Spaemann, »Über den Begriff der Menschenwürde«, op. cit., 295. 432  A. a. O., 296 f. 433  Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, op. cit. Er verteidigt seine Kritik am Rechtspositivismus in: »Zur Verteidigung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs« (Die großen Kontroversen der Rechtsphilosophie, op. cit., 49 – 76). Er antwortet unmittelbar auf einen Verteidiger der rechtspositivistischen Trennung von Recht und Moral, Norbert Hoerster (»Zur Verteidigung der rechtspositivistischen Trennungsthese«, a. a. O., 35 – 48). Jan Leichsenring (Ewiges Recht?, op. cit.) analysiert zeitgenössische naturrechtliche Ansätze und schreibt dem naturrechtlichen Denken große Bedeutung bei der Begründung von Grund- und Menschenrechten zu. Er sieht allerdings die Gefahr, dass das Naturrecht dogmatisch werden kann, wenn seine Geltungsbedingungen nicht geklärt werden (a. a. O., 430). 434  A. a. O., 64, 121, 129 ff. 435  Alexy zeigt dies am Beispiel des von Gustav Radbruch erörterten Konflikts zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit (a. a. O., 32 f.). 436  A. a. O., 132. 437  A. a. O., 131. 438  A. a. O., 44. 439  A. a. O., 19 f. Alexy beruft sich auf die Entscheidung B Verf GE 23, 98 (106). 366 | Anmerkungen  

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, op. cit. Diese Ausgabe entspricht dem Bd. 14 der Gesammelten Werke. Auf diesen Text beziehen sich die Paragraphen in Klammern. 441  Hegel erwähnt Kants Freiheitsauffassung, die »Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür, sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (Kants Werke, op. cit., Bd. 6, 237), nennt sie aber »formell« und »ohne allen spekulativen Gedanken« (§ 29). Formell sei sie, weil die Freiheit des Einen und des Anderen lediglich negativ durch den Satz vom Widerspruch miteinander verbunden seien. Dagegen will Hegel die Freiheit aller im Staat als Idee spekulativ und damit – so merkwürdig das erscheint – als real denken. Freiheit habe nur im Staat ihr Dasein. 442  Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, op. cit., 18 f. 443  A. a. O., VII. 444  Theodor Litt, Individuum und Gesellschaft, 2. Aufl., op. cit., 210. 445  Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, op. cit., 2. 446  A. a. O., 26, 62, 75 resp. 447  Walter Ott widerlegt die immer wieder vertretene These, dass der Rechtspositivismus mitverantwortlich für das Unrecht des Nationalsozialismus sei (Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Pragmatismus, op. cit., 206 ff.). Die Frage, ob der Rechtspositivismus die Rechtstheorie des Totalitarismus war, untersuchen auch Rüthers/ Fischer/Birk (Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, op. cit., 307 ff.). 448  Hans Kelsen, Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinander­ setzung, op. cit. Kelsen schreibt, belegt mit vielen Smend-Zitaten, die Idee der Integration stamme aus der Ideologie des Faschismus (a. a. O., 58). 449  Eine Übersicht über die unterschiedlichen Ansätze und ihre heutige Bedeutung gibt der Band: Rainer Schmidt (Hrsg.), Rechtspositivismus: Ursprung und Kritik. Zur Geltungsbegründung von Recht und Verfassung, op. cit.; siehe auch: Walter Ott, Die Vielfalt des Rechtspositivismus, op. cit. Die Kritik an Kelsens Rechtspositivismus ist nicht unser Thema. Die Kritik ist Thema von Axel-Johannes Korb (Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechtsund Staatstheorie (1911 – 1934), op. cit.). Die Nähe zum Neukantianismus ist in dieser Untersuchung ebenso Thema wie der »jahrzehntelange, zermürbende Kampf einflussreicher und produktiver Kollegen gegen den Schöpfer der Reinen Rechtslehre« (a. a. O., 291). 450  Beschrieben von Rainer Schmidt, »Der Staatsrechtspositivismus Gerbers und Labands«, in: Rainer Schmidt (Hrsg.), Rechtspositivismus: Ursprung und Kritik, op. cit., 63 – 82. 451  Hans Kelsen hat in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre (1960, op. cit.) das Kapitel über Gerechtigkeit in den Anhang ausgelagert. Offenbar will er die Rechtsgeltung nicht vom Prinzip der Gerechtigkeit abhängig machen. Dies spricht dafür, dass Kelsen mit seiner Reinen Rechtslehre keine 440 

Anmerkungen | 367

Rechtsphilosophie, sondern eine in sich geschlossene Rechtstheorie anbieten will. Sein schwankender Gebrauch der Begriffe ›Norm‹ und ›Prinzip‹ für die Gerechtigkeit, die vom Herausgeber Matthias Jestaedt dokumentiert wird, lässt aber Zweifel an dieser Geschlossenheit zu (op. cit., 613 – 658). Diese Zweifel treffen allerdings nur dann zu, wenn meine oben (Kap. 2.8) erläuterte geltungstheoretische Unterscheidung zwischen Prinzipien und Normen gültig ist. 452  Hans Kelsen wehrt sich allerdings dagegen, dass der Begriff der Geltung in normativen Kontexten ähnlich gebraucht wird wie in nicht-normativen. Er meint, dass die Geltung einer Norm und die Wahrheit einer Aussage keinen »gemeinsamen Oberbegriff« hätten (Allgemeine Theorie der Normen, op. cit., 139). Wenn Sein und Sollen getrennt sind, müssen auch Wahrheit und Geltung getrennt sein. 453  Hans Kelsen spricht von einem »order of coercion« (Essays in Legal and Moral Philosophy, op. cit., 31). 454  Stephan Kirste bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: »Im Recht bestimmt nicht der Zwang das Recht, sondern das Recht den Zwang.« (ders., »Rechtsbegriff und Rechtsgeltung«, in: Geschichte  – Gesellschaft  – Geltung, op. cit., 659 – 681, hier: 663). 455  Jürgen Habermas (Faktizität und Geltung, op. cit., 45 – 60 ) fordert dies ebenso wie Ronald Dworkin. Für Letzteren ist dies ein Implikat seiner These von der Einheit der Werte (Justice for Hedgehogs, op. cit., Part One). 456  Wenn man wie Raz und ähnlich auch Hart zusätzlich zur Selbstgenerierung annimmt, dass das Recht eine Grundlage in der herrschenden Gesellschaft hat, gab es auch im Nationalsozialismus ein gültiges Rechtssystem (Joseph Raz, The Authority of Law. Essays in Law and Morality, op. cit., 41). 457  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, op. cit., 17. 458  A. a. O., 122. Weber unterscheidet im Anschluss daran drei »reine« Typen legitimer Herrschaft, nämlich »rationale«, »traditionale« und »charisma­ tische« (a. a. O., 124). Den Legitimitätsglauben hält Weber für eine tragfähigere Grundlage einer politischen Ordnung als das Eigeninteresse der Individuen. 459  A. a. O., 19. 460  Jürgen Habermas wirft in seinen Tanner Lectures (1986) Weber vor, die Legitimität der Legalität moralfrei, rein rational zu erklären (»Recht und Moral«, in: ders., Faktizität und Geltung, op. cit., 541 ff.). 461  Für diese Auffassung stehen u.a. John Rawls (Political Liberalism, op. cit.) und Joseph Raz (The Morality of Freedom, op. cit.). 462  Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, (1932) 8., korr. Aufl., op. cit. Es geht ihm um die Bedeutung von Art. 48 Abs. 2 der Reichsverfassung, um die Grundlage der sog. Notverordnungen durch den Reichspräsidenten (a. a. O., 65 ff., 86 ff.). 463  Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 5 4. Materialien zu einer Verfassungslehre, op. cit., 449 f. 368 | Anmerkungen  

464 

Beide Beispiele erwähnt Carl Schmitt und schließt den Gedanken mit dem Satz ab: »Als eine Botschaft der Göttin der Vernunft hatte sie begonnen.« (A. a. O., 450). 465  Dem plebiszitären Element, einem durch Wahlen herbeigeführten Konsens, als Basis der legitimen Herrschaft können ein anti-liberaler Theoretiker wie Carl Schmitt (Legalität und Legitimität, a. a. O.) und ein liberaler Theoretiker wie Joseph Raz (The Morality of Freedom, op. cit., chap. 3) zustimmen. 466  Der Theoretiker des Liberalismus, Joseph Raz, sieht die Grundlage eines legitimen Staates in dessen Verpflichtung, ohne eigenes Interesse die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu sichern und zu fördern (The Morality of Free­ dom, op. cit.). 467  Das Gedankenexperiment beschreibt Rawls in seiner Theorie der Ge­ rechtigkeit (op. cit., Kap. 3, 24.). 468  Joseph Raz (The Morality of Freedom, op. cit., 137) hält die Unterscheidung zwischen dem Rechten und dem Guten, der Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit so viel Bedeutung beimisst, für dunkel (obscure). 469  Joseph Raz, The Morality of Freedom, a. a. O., 117 – 133. 470  Raz beschreibt dies besonders in den Teilen I und V von The Morality of Freedom. 471  Raz meint, dass es für die Autonomie zwar darauf ankomme, eine bestimmte Menge an Optionen zur Verfügung zu haben, aber nicht ganz bestimmte. Etwas unsensibel gegenüber Fußballfans und politisch naiv meint er, dass der Staat z. B. aus pragmatischen Gründen durchaus Fußball (soccer) durch American football ersetzen könne (a. a. O., 410 f.). Welche ›pragmatischen Gründe‹ das sein könnten, lässt Raz offen. In Europa würde, so dürfen wir hoffen, keine Regierung eine solche Entscheidung überleben. 472  Die Argumente liberaler Theoretiker gegen den Perfektionismus widerlegt Raz in Kap. 6 von The Morality of Freedom (a. a. O., 134 – 162). 473  Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, op. cit. In der Vorrede zur 2. Auflage klärt Kelsen das Verhältnis zwischen Staat und Recht. In der 1. Auflage wird das Recht noch missverständlich als Wille des Staats beschrieben (a. a. O., IXff.). Kelsen lehnt soziologische und naturrechtliche Auffassungen des Rechts ab. 474  A. a. O., XVIIIf. 475  Die Grenze zwischen Moral und Recht ist allerdings fließend. Wenn amoralisches Verhalten öffentliches Ärgernis erregt, ist es durchaus rechtlich sanktioniert und kann bestraft werden. 476  Hans Kelsen, Essays in Legal and Moral Philosophy, op. cit., 90 ff. 477  A. a. O., 31. 478  Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, op. cit. 479  A. a. O., u.a. 16 – 2 8. 480  Hans Kelsen, »Die Rechtswissenschaft als Norm- und Kulturwissenschaft. Eine methodenkritische Untersuchung«, op. cit., 95 – 151. Anmerkungen | 369

481 

Thomas Gutmann kritisiert Kelsens Wertrelativismus als »normativen Nonkognitivismus« und »Dezisionismus«. Ob Kelsen die »normative Moderne« und die rationale Begründung von Geltungsansprüchen, wie Gutmann behauptet, in Frage stellt, ist aber eher fragwürdig, wenn Kelsen eine in sich geschlossene Rechtstheorie und keine Rechtsphilosophie anbieten will (»Kelsens Begriff normativer Begründung«, in: Elif Özmen (Hrsg.), Hans Kelsens Politische Philosophie, op. cit., bes. 58 ff.). 482  David Kuch geht ausführlich auf Raz’ These von der notwendig engen Beziehung zwischen Recht und Moral ein (Die Autorität des Rechts. Zur Recht­ sphilosophie von Joseph Raz, op. cit., 253 f.). 483  H. L. A. Hart, The Concept of Law, op. cit., 171. 484  A. a. O., 172, 181 resp. 485  A. a. O., 181 ff. 486  Hans Kelsen, »Professor Stone and the Pure Theory of Law«, op. cit.,1148 f. 487  A. a. O., 1136 ff. Und: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 21960, op. cit., 9. Matthias Jestaedt hat 2017 die zweite Auflage der Reinen Rechtslehre als Studienausgabe unter Berücksichtigung von Kelsens Änderungen anlässlich der Übersetzung ins Italienische neu herausgegeben und eingeleitet. Die Seitenzahlen der Ausgabe von 1960 sind jeweils am Rande notiert. Das eben Zitierte findet sich entsprechend auf Seite 34 der neuen Ausgabe. 488  Kelsen verweist, was seine Auffassung des Willens angeht, auf Christoph Siegwart, der im Prozess des Wollens der Vorstellung eines künftigen Zustands die Funktion zuweist, einen künftigen Gegenstand als Zweck und damit als Gegenstand des Wollen zu setzen (»Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache«, in: ders., Kleine Schriften, op. cit., 120 – 122). Siehe dazu Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, op. cit., 25. Der Wille hat vor allem in der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre eine positive Bedeutung. Die »Rechtsnorm« sei die »Bedeutung eines Willensakts« (Professor Stone …, op. cit., 1138) und die Positivität des Rechts komme durch menschliches Wollen (»human willing«, Essays in Legal and Moral Philosophy, op. cit., 31) zustande. 489  Horst Dreier schreibt zutreffend, dass die Transzendentallogik Kants bei Kelsen in der Grundnorm »auf eine Annahme« zusammenschrumpfe (Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, op. cit., 89). Die unlösbaren Probleme, die geltungstheoretisch mit Kants transzendentaler Deduktion verbunden sind, sind Thema in Kap. 2.1. 490  Hans Kelsen, »Professor Stone…«, op. cit., 1145. 491  A. a. O., 1148. 492  Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, op. cit., 88. 493  Hans Kelsen spricht von konkreten Inhalten der Grundnorm: »Therefore the content of a basis norm is determined by the facts through which 370 | Anmerkungen  

an order is created and applied, to which the behavior of the individuals … conforms« (in: General Theory of Law and State, op. cit., 120). 494  A. a. O.: »a normative interpretation of certain facts«, wie es heißt. 495  Kelsen schreibt: »not the arbitrary product of juristic imagination« (a. a. O.). 496  Joseph Raz, »Kelsen’s Theory of the Basic Norm« in: ders., The Authority of Law. Essays on Law and Morality, op. cit., 127, 123 resp. 497  A. a. O., 127. Raz meint, wenn Kelsens These stimmen würde, könnte man neuen Staaten keine Unabhängigkeit gewähren. 498  A. a. O., 125 f. 499  Hans Kelsen, »Professor Stone …«, op. cit., 1138. 500  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, op. cit., 47 bzw. 2. Aufl., Studienausgabe 2017, op. cit., 98. 501  Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, op. cit., 46, Anmerkung 119. 502  Hans Kelsen, »Professor Stone …«, op. cit., 1139. 503  Hans Kelsen, Essays in Legal and Moral Philosophy, op. cit., 115, 166 ff., 228, 230. Als Nachweis führt Kelsen immer wieder die Möglichkeit von Normenkonflikten innerhalb des Rechts an, etwa den Konflikt zwischen dem Tötungsverbot und der Todesstrafe (a. a. O., 233). Für die modallogische Normenlogik ist dies jedoch kein Problem. 504  Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, op. cit., 16. Ein aus diesen Dualismen folgendes Problem ist z. B., dass der Sinn einer Norm nicht als sprachliche Bedeutung aufgefasst werden darf, obwohl das Wort ›Sollen‹ diesen Sinn ausdrückt (a. a. O., 25) und auch nicht anders als sprachlich ausdrücken kann. Mancher Versuch Kelsens, seine Dualismen zu verteidigen, wirkt verstiegen, wie etwa die Behauptung, dass das, was gesollt wird, ein »modal indifferentes Substrat« und deswegen von dem, was ist, unterschieden sei (a. a. O., 46). Er wehrt sich auch gegen Formulierungen wie die Hermann Cohens, der von einem »Sein des Sollens« spricht (Ethik des reinen Willens, op. cit., 13). Etwas resigniert stellt Kelsen zu Beginn der 2. Auflage seiner Rei­ nen Rechtslehre (1960) fest, dass der Unterschied zwischen Sein und Sollen nicht näher erklärt werden könne (op. cit., 5; Studienausgabe 2. Aufl., 2017, op. cit., 28 f.). Wenig später heißt es, ›Geltung‹ bezeichne »die spezifische Exis­ tenz einer Norm« (a. a. O., 9; Studienausgabe 2. Aufl., 2017, a. a. O., 35). Auf den dann folgenden acht Seiten bemüht er sich, den Sein-Sollen-Dualismus plausibel zu machen. Kelsen wehrt sich u.a. gegen Moritz Schlicks Verständnis von Normen als Tatsachen (a. a. O., 60, Anmerkung; Studienausgabe 2. Aufl., 2017, a. a. O., 119 f.). Horst Dreier billigt Kelsen immerhin zu, die »Bezüge zwischen Recht und Realität in ebenso eigensinniger wie konsistenter Weise reflektiert« zu haben (Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kel­ sen, op. cit., 24). 505  Stephan Kirste behauptet etwa einen Unterschied zwischen RechtsgelAnmerkungen | 371

tung und wissenschaftlicher Geltung, als ob dieser Unterschied evident wäre (»Naturrecht und Positives Recht«, in: Eric Hilgendorf, Jan C. Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, op. cit., 22). 506  Wie der Index von Harts The Concept of Law ausweist. In seiner Einleitung zur neuen Ausgabe der 2. Aufl. der Reinen Rechtslehre beschreibt Mat­ thias Jestaedt »Gemeinsamkeiten und Unterschiede« von Kelsens und Harts Theorien (Studienausgabe der 2. Aufl. 2017, op. cit., LXXXVI ff.). 507  Hart beschreibt dies im Kapitel VI (The Foundations of a Legal System) seines Buches The Concept of Law (op. cit., 97 ff.). 508  Diese Vielfalt an Regeln findet nicht überall Beifall. Jörg Kammerhofer meint, Harts Rechtsphilosophie »changiert für viele Leser aus dem deutschen Kulturkreis unangenehm zwischen soziologischem Positivismus, psychologistischer Anerkennungstheorie und sprachphilosophischer Begriffsexplikation« (»Positivistische Normenbegründung«, in: Eric Hilgendorf, Jan C. Joerden (Hrsg.), op. cit., 204). 509  Hart, The Concept of Law, op. cit., 98. Dass sich die Erkenntnisregel zeigt, entspricht Wittgensteins grundlegendem Gedanken, dass sich die Richtigkeit des Regelfolgens in der Praxis zeigt (siehe meinen Beitrag »The Practice of Following Rules«, a. a. O.). 510  A. a. O., 103. 511  So interpretiere ich Wittgensteins Äußerung, dass das Regelfolgen eine Praxis sei (»The Practice of Following Rules«, op. cit., 137 – 158). 512  Carl Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis (1911), op. cit., VII. 513  A. a. O., 2 ff. 514  A. a. O., 4. Kap., 71 ff. 515  A. a. O., 86. 516  Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, op. cit., 34 ff. Kelsen lehnt sich mit seiner Auffassung des Willens und der Willensakte an den Neukantianer Christoph Sigwart an (a. a. O., 25). 517  Joseph Raz, »Legal Validity«, op. cit., 339 – 353; ders., The Concept of a Legal System, op. cit.; ders., Practical Reasons and Norms, op. cit. 518  »The nature of law is explained primarily by explaining what are legal systems« (J. Raz, »Legal Validity«, a. a. O., 341. 519  A. a. O. David Kuch sieht den besonderen Punkt in Raz’ Auffassung der Geltung des Rechts in der Verbindung der Zuordnung des Rechts zu einem Rechtssystem mit dessen Rechtfertigung (David Kuch, op. cit., 292). 520  Raz, »Legal Validity«, op. cit., 342. 521  Raz, Praktische Gründe und Normen, op. cit., Kap. 1. 522  A. a. O., 40 f. 523  A. a. O., 60. 524  A. a. O., Kap. 2. 525  A. a. O., 75 ff. 372 | Anmerkungen  

526 

Raz, »Legal Validity«, op. cit., 343 f. David Kuch geht ausführlich auf die Verbindung zwischen Raz und Kelsen ein (Kuch, op. cit., 296 ff.). 527  Raz, »Legal Validity«, op. cit., 346. 528  A. a. O., 339. Der Überzeugung, dass geltendes Recht von dessen Exis­ tenz abhängig ist, kann Kelsen nach dem Ende des nationalsozialistischen Unrechtsstaats kaum zustimmen. Er meint in der 2. Auflage seines Klassikers, dass Rechtsgeltung eine Frage der Deutung und nicht eine der Existenz sei (vgl. dazu Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, op. cit., 218 Anm., Studienausgabe 2017, 382). Ulfried Neumann hebt in seiner Würdigung Kelsens auf den Deutungscharakter der Geltung ab und distanziert sich von dessen Konzept der Grundnorm (ders., »Theorien der Rechtsgeltung«, in: Winfried Hassemer, V. Gessner (Hrsg.), Gegenkultur und Recht, op. cit., 32 ff.). Neumann folgt damit Arthur Kaufmann, einem der vielen Kritiker Kelsens. Kaufmann nimmt die Bemerkung Kelsens, dass die Grundnorm »wie eine Norm des Naturrechts« gelte, zum Anlass, Kelsens Begriff des Sollens gegen dessen Trennung zwischen Moral und Recht als »ethische Kategorie« zu bezeichnen (Arthur Kaufmann, »Problemgeschichte der Rechtsphilosophie«, in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, op. cit., 126). 529  Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, op. cit., 20. Kritiker werfen ihm u.a. wegen seiner diskurstheoretisch und ontologisch auslegbaren These der »richtigen Lösung« vor, er sei ein »verkappter Naturrechtler« (Rüthers/ Fischer/Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, op. cit., 313). Dwor­k in geht in dem späteren Buch Justice for Hedgehogs (op. cit.) weit über die These der richtigen Lösung hinaus, wenn er sagt, dass eine erfolgreiche Rechtstheorie durch und durch moralisch sei (a. a. O., 11). 530  Eines seiner Beispiele ist, dass niemand von seinem eigenen Unrechttun profitieren sollte. Ein Erbanspruch sollte z. B. verfallen, wenn der rechtliche Erbe den Erblasser ermordet hat. Siehe in Taking Rights Seriously (op. cit.) die Kap. 2 u. 3. Das erwähnte Prinzip ist Teil des Common Law. Es geht um den Fall Riggs gegen Palmer aus dem Jahr 1889, a. a. O., 39. 531  A.a.O, 51 f. Das Recht bestehe nicht aus einer Menge geltender Regeln, und rechtliche Verpflichtungen gebe es nicht nur innerhalb des bereits geltenden Rechts (a. a. O., 32 ff.). 532  Dworkin weist selbst darauf hin, dass Richter sich in der Auslegung des Common Law gegenüber dem positiven Recht nicht einig sein müssen und deswegen Entscheidungen auch aufgehoben werden können (a. a. O., 54). 533  A. a. O., 54 – 63. 534  Er weiß sich, was die unauflösliche Verbindung von Recht und Moral angeht, einig mit Jürgen Habermas. 535  Ronald Dworkin, Law’s Empire, op. cit. 536  A. a. O., 6 ff., 11 ff. 537  A. a. O., 43. Anmerkungen | 373

538 

Dworkin etikettiert den Rechtspositivismus als »semantische Theorien des Rechts«, weil er meint, dass Positivisten typischerweise daran glauben, dass Richter und Anwälte darin übereinstimmen, welche Rechtsgrundlagen gelten, und dass sie deswegen dieselben Kriterien verwenden, wenn sie entscheiden, welche Rechtssätze wahr oder falsch sind (a. a. O., 33 ff.). 539  A. a. O., 57 ff. 540  A. a. O., 65 ff. 541  A. a. O., 79. 542  A. a. O., 90 ff. 543  A. a. O., 164 ff., 176 ff. 544  Richter »Hercules« steht dafür als Idealfigur (a. a. O., 333 ff.). 545  Die Anregung für den Titel gab ihm Isaiah Berlins Hinweis auf die Fabel des Dichters Archilochos vom Fuchs und dem Igel: Der Fuchs weiß vieles, der Igel nur eine große Sache (Ronald Dworkin, Justice for Hedgehogs, op. cit., 1). Dworkins große Sache ist die Einheit der Werte (unity of value). 546  A. a. O., 5. 547  A. a. O., 24, 37, ausführlich in Teil 1, Kap. 2. Seine Beispiele für objektiv wahre Überzeugungen sind die Ablehnung von Völkermord, Abtreibung, Sklaverei und Diskriminierung. 548  A. a. O., 156. Die Tautologie dieses Grundsatzes stört Dworkin nicht. 549  Dworkin spricht von »ineffability« (a. a. O., 155). 550  Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, op. cit., 291. Anders als früher erwähnt Dworkin Gadamer nicht mehr. 551  Dworkin, Justice for Hedgehogs, op. cit., 160 ff. Er spricht von »interpretive concepts«. Zu diesen Begriffen gehören u.a. ›verantwortliche Urteilsbildung‹, das ›gute Leben‹, ›moralische Verpflichtungen‹, ›Menschenrechte‹, ›Freiheit‹, ›Demokratie‹, ›Gleichheit‹ und ›Recht‹. 552  A. a. O., 163. 553  U.a. von Georg Jellinek (Allgemeine Staatslehre, op. cit.) und Karl Larenz (Das Problem der Rechtsgeltung, op. cit.). Stephan Kirste beschreibt diese Tradition, widerspricht aber der Auffassung, »dass nur geltendes Recht Recht sei« (»Rechtsbegriff und Rechtsgeltung«, op. cit., 665). 554  Hans Kelsens politische Haltung, sein Eintreten für die Weimarer Demokratie und sein Konflikt mit Carl Schmitt, trotz punktueller Nähe, beschreibt Axel-Johannes Korb (Kelsens Kritiker. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatstheorie (1911 – 1934), op. cit., 212, 222,233, 234 f., 264). 555  Reinhold Zippelius, »Kollisionen des Rechts mit heterogenen Normen und Pflichten«, op. cit., 322. 556  Einerseits ist Kelsen, wie Horst Dreier meint, ein Individualist, wenn es um den Pluralismus der politischen und weltanschaulichen Meinungen und um die gleiche Freiheit aller geht (»Der Preis der Moderne«, in: Elif Özmen (Hrsg.), Hans Kelsens Politische Philosophie, op. cit., 3 – 27, hier: 15), andererseits ist er, wie Thomas Gutmann meint, ein Anti-Individualist, weil er das 374 | Anmerkungen  

Verhältnis der Rechtssubjekte zum Recht relativiert. Personen haben danach keine Rechte mehr, sondern nehmen als »unselbständiger Bestandteil der Gemeinschaft« am Rechtssystem teil (so Hans Kelsen in: Reine Rechtslehre, op. cit., 70), von dem sie zu bestimmten Ansprüchen berechtigt werden. Kelsen respektiert und schätzt den Pluralismus und den damit verbundenen Individualismus. Und er vertritt die Auffassung, dass im Rahmen des Rechts individuelle Rechtsansprüche dann, wenn sie absolut gelten sollen, zu einer Art Ideologie der Freiheit gehören und deswegen zu kritisieren sind. Diese letzte Konsequenz von Kelsens Wertrelativismus konnte – wie Thomas Gutmann meint  – die nationalsozialistische Rechtsauffassung bedienen. Gutmann spricht davon, dass Kelsens »Begriff einer bloßen ›Berechtigung‹ seine theoretische Dynamik in der nationalsozialistischen Rechtstheorie entfaltet hat« (»Kelsens Begriff normativer Begründung«, op. cit., 67). Kelsens Wertrelativismus bezieht seine theoretische Berechtigung aus seinem methodischen Ideal der Objektivität des Rechts. Es ist aber unklar, ob dieses Ideal, wie Gutmann zeigen will, tatsächlich anti-individualistisch zu deuten ist. 557  Wie unbefriedigend beide Reduktionen der Geltung rechtstheoretisch sind, zeigt Ulfried Neumann. Er diskutiert aber keinen der drei Autoren, sondern John Searles Sprechakttheorie, um mit ihr die Rechtsgeltung als »institutionelle Tatsache« zu begründen (in ders., »Das Problem der Rechtsgeltung«, in: ders., Recht als Struktur und Argumentation, op. cit., 224 – 2 40). Damit wird allerdings die Unterscheidung zwischen diesen Tatsachen und sog. »einfachen« (brute) Tatsachen festgeschrieben, ohne dass es dafür überzeugende Gründe gibt. 558  Stephan Kirste bestätigt diese Uneinigkeit. Er argumentiert – anders als Kelsen, Hart und Neumann, aber ähnlich wie Raz – gegen die Trennung der Rechtsgeltung von moralischen Grundlagen. Kirste ist überzeugt, dass für die genetische Rechtfertigung einer Rechtsnorm aus einer anderen Norm durchaus auch eine moralische Rechtfertigung in Frage komme. Entscheidend sei allein die »Reflexivität der Normenordnung«. Er stellt dann fest, dass Geltung kein notwendiges Element des Rechtsbegriffs sei (ders., in: »Rechtsbegriff und Rechtsgeltung«, in: Geschichte – Gesellschaft – Geltung, hrsg. v. Michael Quante e.a., op. cit., 664). Veranlasst dazu hat ihn offenbar die »nicht sehr lange Geschichte« des Geltungsbegriffs (a. a. O., 665). Was ›Reflexivität‹ in diesem Zusammenhang bedeutet, erläutert Kirste an anderer Stelle. Der Begriff drücke die auf sich selbst bezogene Normierung des Rechts als Positives Recht aus. Recht sei eine »reflexive Norm« (ders., »Naturrecht und Positives Recht«, in: Eric Hilgendorf, Jan C. Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilo­ sophie, op. cit., 22). Ähnlich argumentiert auch Thomas Gutmann (mit der »Normierung der Normsetzung« sei das Recht reflexiv geworden, in: »Genesis, Geltung, Genealogie«, in: Geschichte – Gesellschaft – Geltung, hrsg. v. Michael Quante e.a., op. cit., 720). Die ›Reflexivität des Rechts‹ erklärt nach dieser Auffassung die ›Geltung des Rechts‹ und entlastet insofern den GelAnmerkungen | 375

tungsbegriff, macht ihn sogar verzichtbar. Dietmar von der Pfordten trennt aus einem analogen Grund die Rechtsnorm ganz vom Begriff der Geltung. ›Geltung‹ sei ein obskurer und problematischer Kunstbegriff, ein »theorieerzeugter Parvenü des 19. Jahrhunderts« und dementsprechend nicht ernst zu nehmen (»Kritik der Geltung«, in: Geschichte  – Gesellschaft  – Geltung, hrsg. v. Michael Quante e.a., op. cit., 693). Gegen diese Ansicht spricht Klaus Lüdersens entschiedenes, bestens begründetes Plädoyer für die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung (Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, op. cit., u.a. 93 ff.) 559  Siehe u.a. Kirste (Geschichte – Gesellschaft – Geltung, op. cit., 669; u. Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, op. cit., 22), Marietta Auer (»Rechtsgeltung: Verständnisse und Missverständnisse, in: Geschichte – Gesellschaft  – Geltung, op. cit., 683 – 691) und andere rechtsphilosophische Handbuchartikel zum Thema. 560  Die Bemühungen um definitorisch trennscharfe Unterscheidungen unterschiedlicher Geltungen innerhalb des Rechts sind rechtsphilosophisch nach Ansicht von Marietta Auer nicht unbedingt sinnvoll (in: »Rechtsgeltung: Verständnisse und Missverständnisse«, op. cit., 684 ff.). Die Debatte um die Rechtsgeltung, die sich im Windschatten des neukantianischen Geltungsbegriffs bewegt, habe – wie sie meint – keinen wissenschaftlich fruchtbaren Ertrag erbracht. Die Leistungsfähigkeit des Geltungsbegriffs sei überspannt worden. Auch der Rechtspositivismus sei mit seinem neukantianischen Erbe rechtsphilosophisch unbefriedigend. Auer wendet sich einerseits gegen die Vorstellung einer umfassenden Wertordnung mit einer Hierarchie von Normen, weil sie zwischen Recht und Gerechtigkeit keine intrinsische Verbindung erkennen kann, schließt sich aber der Radbruch’schen Formel an, nach der »extrem ungerechtes Recht« der Gerechtigkeit zu weichen habe. Um die in dieser Formel punktuell aufgehobene Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit generell aufzulösen, sei der Geltungsbegriff aber ungeeignet. Sinnvoll sei allein der Begriff der juristischen Geltung, »zu dessen Ausfüllung ausschließlich innerrechtliche Kriterien heranzuziehen sind« (a. a. O., 689 f.). Marietta Auer schreibt weiter, dass die moralische Geltung des Rechts überflüssig sei und »den Blick auf das Problem des gesetzlichen Unrechts« verschleiere. Die Radbruch’sche Formel stammt aus Gustav Radbruchs Beitrag »Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht« (1946) (wieder abgedruckt in: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, op. cit., 211 – 219, bes. Teil III). Radbruch spricht vom »Kampf gegen den Positivismus«, der unter dem »Gesichtspunkt des gesetzlichen Unrechts und des übergesetzlichen Rechts« nach 1945 aufgenommen worden sei (a. a. O., 215). 561  Ein Grund dafür ist, wie Thomas Gutmann feststellt, der historische Prozess der Institutionalisierung des Rechts, der im Rahmen einer allgemeinen historischen Dynamik eine stetig wachsende Trennung des Rechts von anderen Bereichen der Kultur bewirkt (in: »Genesis, Geltung, Genealogie«, 376 | Anmerkungen  

in: Geschichte – Gesellschaft – Geltung, op. cit., 721). Gutmann nimmt damit Luhmanns systemtheoretischen Gedanken der »Ausdifferenzierung« der Kultur auf. Je unabhängiger die Bereiche der Kultur voneinander werden, desto weniger können sie aufeinander zurückgeführt werden, so seine Argumentation. Geltung und Genese des Rechts fallen in diesem Prozess auseinander. 562  So Thomas Gutmann (a. a. O., 722). Ob diese Reflexivität des Rechts der sonstigen Kultur fehlt, ist, wie Gutmann bemerkt, eine andere Frage. 563  Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2.Aufl., op. cit., 360. 564  A. a. O., 360 f. Solche »Tatbestände« sind, nach Kelsen, Recht erzeugende »Gewohnheiten« und »Willensakte«, die von einem »rechtsanwendenden Organ« als relevant entschieden werden (a. a. O., 409). Zur Bedeutung des Willensakts siehe: Hans Kelsen, Essays in Legal and Moral Philosophy, op. cit., 31; ders., Allgemeine Theorie der Normen, op. cit., 2, 24 f, 34; ders., Reine Rechts­ lehre, 2. Aufl. 1960, op. cit., 26 ff. 565  Auf die Frage, wie objektiv gültige Rechtsnormen möglich sind, ist die Antwort Kelsens: Sie sind möglich unter der Bedingung, »daß man die Grundnorm voraussetzt: man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt« (Reine Rechtslehre, 2. Aufl., op. cit., 361). 566  Carl Schmitt, Gesetz und Urteil. Eine Untersuchung zum Problem der Rechtspraxis, op. cit., VII. 567  A. a. O., 2 ff. 568  Saul Kripke beschreibt diese Unmöglichkeiten im Detail und leitet daraus Wittgensteins angeblichen Skeptizismus ab (Wittgenstein on Rules and Private Language, op. cit.). 569  Carl Schmitt, Gesetz und Urteil, op. cit., 4. Kap., 71 ff. 570  A. a. O., 86. 571  A. a. O., 1 f. 572  A. a. O., 61 f. Schmitt argumentiert, nur ein Tatbestand könne subsumiert werden, aber keine Entscheidung. Das Problem stecke, so argumentiert Schmitt, in der Richtigkeit des Subsumierens. Diese könne aber nicht durch weiteres Subsumieren festgestellt werden (a. a. O., 62). 573  A. a. O., 2 f. 574  A. a. O., 59 ff. 575  Die Wörter ›Regelfolgen‹ und ›regelgeleitet‹ verwendet Wittgenstein selbst nicht, wie sein bisher elektronisch zugänglicher Nachlass zeigt (siehe: wittfind.cis.lmu.de). 576  A. a. O., 71. 577  A. a. O., 86. 578  A. a. O., 50. 579  A. a. O., 91. 580  Er weist den Versuch zurück, richtige Urteile vom »Willen des Gesetzgebers« oder vom individuellen Willen der Richter abhängig zu machen (a. a. O., 27). Anmerkungen | 377

581 

Carl Schmitt wäre dieser Anwendung gegenüber skeptisch, weil er der Institution eines Verfassungsgerichts gegenüber erhebliche Bedenken hat. Ein Gericht könne nicht »Hüter der Verfassung« sein, weil es damit eine »legislative Funktion« wahrnehme und Gesetze »ex tunc für nichtig« erklären könne. Damit werde der »für jedes Gemeinwesen wesentlichen Vermutung der Gültigkeit von Gesetzen der Boden« entzogen. Außerdem würden alle an der Gesetzgebung beteiligten Instanzen desavouiert (Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 54. Materialien zu einer Verfassungslehre, op. cit., 106; ähnlich argumentiert Schmitt in seiner Verfassungslehre , op. cit., 118). 582  In einigen Aufsätzen nach 1924 nennt Schmitt richterliche Entscheidungen ›Dezisionen‹, obwohl er das Wort primär für politische Entscheidungen verwendet (Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924 – 1954, op. cit., u. a. 79, 81, 362 ). Er unterscheidet drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, den Normativismus, den Dezisionismus und den Institutionalismus (a. a. O., 172; ausführlich in: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, op. cit.). 583  Die Frage nach dem »Richtigen«, nun aber weit über die Richtigkeit des richterlichen Urteils hinaus, wird zu einer zentralen Frage in Carl Schmitts politischem Denken. Es geht dabei, wie Heinrich Meier erläutert, letztlich um die Frage: »Wie soll ich leben?« (Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts. Vier Kapitel zur Unterscheidung Politischer Theologie und Politischer Philosophie, op. cit., 71 ff., hier: 73). 584  Carl Schmitt, Über die drei Arten …, op. cit., 23 f. 585  A. a. O., 27 ff. 586  A. a. O., 31. Schmitts Gegner in seiner Polemik gegen den Positivismus ist Hans Kelsen. Die Polemik gipfelt in dem Vorwurf, dass der Positivismus »weder Recht und Unrecht, noch Objektivität und subjektive Willkür zu unterscheiden« vermag (a. a. O., 33). 587  Dies wird in dem zweiten Teil von Über die drei Arten des rechtswissen­ schaftlichen Denkens deutlich (a. a. O., 34 – 55). 588  Carl Schmitt, Verfassungslehre, op. cit., 3 f. 589  A. a. O., 9. Damit ist der Gegensatz zu Hans Kelsens Dualismus von Sein und Sollen offensichtlich. 590  A. a. O., 75 f. 591  A. a. O., 84. Eine Entscheidung ist auch eine Dezision, hat aber eine ontologische Bedeutung, die der Dezisionismus nicht haben muss. 592  A. a. O., 23. 593  A. a. O., 26; die unterschiedlichen Begriffe der Verfassung beschreibt Carl Schmitt im § 4 der Verfassungslehre, op. cit., 36 ff. 594  A. a. O., 88. 595  Auf diese Fragen gehe ich in Die Möglichkeit des Guten ein (op. cit., Kap. 5). 596  Wie unterschiedlich und miteinander unverträglich das Verständnis 378 | Anmerkungen  

der Gerechtigkeit sein kann, zeigen die Theorien von John Rawls (A Theory of Justice, op. cit.), Robert Nozick (Anarchy, State, and Utopia, op. cit.) und Gerald Cohen (Rescuing Justice and Other Equality, op. cit.). 597  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 201. 598  Das Konzept der Integrität gebraucht Dworkin erstmals in A Matter of Principle (op. cit., 107 ff.) im Zusammenhang mit bürgerlichem Ungehorsam. 599  Christoph Möllers weist darauf hin, dass alle Wertungen elementare Formen des Normativen sind (Die Möglichkeit der Normen, op. cit., 403). 600  Mit der Entstehung von Normen ist noch nichts entschieden oder gerechtfertigt. Christoph Möllers nimmt an, dass sich eine normative Ordnung »allein über ihre Entstehung rechtfertigen« kann (a. a. O., 335). Wenn sich die Entstehung an Prinzipien orientiert, trifft dies sicher zu. Dies ist aber nicht Möllers Thema. 601  Normen verweisen, wie Christoph Möllers annimmt, auf Mögliches (a. a. O., Kap. II, bes. 125 ff., 354). Er nimmt in seiner nicht-normativen Archäologie von Normen darüber hinaus an, dass das Maß der Möglichen unbekannt ist (a. a. O., Kap. III, bes. 420). Dies ist in der Tat so, wenn Normen ohne Prinzipien als ihre Referenz entstehen. 602  Theodor Maunz, Kommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, op. cit. 603  A. a. O., 83. Der Kommentator war Nationalsozialist, wie sich herausstellte. 604  Horst Dreier, »GG Art. 1 I«, in: Grundgesetz Kommentar, hrsg. v. Horst Dreier, op. cit.; Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig/Herdegen, GG Art. 1 Abs. 1., op. cit. Die beiden Kommentare sind für meine Überlegungen exemplarisch. Es gibt mehr Kommentare als diese. 605  Matthias Herdegen, a. a. O., Rn 21 (›Rn‹ bedeutet Randnummer). 606  Horst Dreier, a. a. O., Rn 46. 607  Matthias Herdegen, a. a. O., Rn 21. 608  A. a. O., Rn 18. 609  Horst Dreier, a. a. O., Rn 46 resp. Rn 69. 610  Matthias Herdegen, a. a. O., Rn 22. 611  Horst Dreier, a. a. O., Rn 125. Die Argumente, die zu diesem Resultat führen, sind überzeugend (Rn 121 – Rn 127). 612  A. a. O., Rn 24. Herdegen spricht vom »Glanz und Elend der bisherigen Deutungsversuche« (a. a. O.). 613  A. a. O., Rn. 2. 614  A. a. O., Rn. 31, Rn 46. 615  Horst Dreier, a. a. O., Rn 68 – Rn 99. 616  A. a. O., Rn 114. 617  A. a. O., Rn 130. 618  Matthias Herdegen, a. a. O., Rn 43 ff. 619  A. a. O., Rn. 31. Anmerkungen | 379

620 

A. a. O., Rn 46. A. a. O. 622  Herdegen weist einschränkend darauf hin, dass das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit dem sog. Luftsicherheitsgesetz die von ihm angedachte Finalisierung des Schutzbereichs zurückgewiesen hat. Konkret ging es darum, ob es erlaubt wäre, durch den Abschuss eines Flugzeugs, das von Terroristen als Waffe zur Verursachung großen Schadens und zur Tötung vieler benutzt werden könnte, einige Tote in Kauf zu nehmen, um viele Lebende zu retten. Es hat damit verboten, dass eine geringe Anzahl an Menschen zur Rettung einer größeren geopfert werden darf. Ähnliches trifft auf die sog. Präventivfolter zu, die ebenfalls verboten ist, selbst wenn damit Leben gerettet werden könnte (BVerfGE 115, 118 (157)). Einschränkungen des Schutzbereichs der Privatsphäre sind nicht generell unmöglich, wie Zwangsernährung und die »Ausforschung der Privatsphäre zur Rettung von Menschenleben oder zur Verfolgung von Straftaten« etc. zeigen (Herdegen, a. a. O., Rn. 50). 623  Horst Dreier, a. a. O., Rn 168. 624  Matthias Herdegen, a. a. O., Rn 31. 625  Weiter drängende Fragen sind, wer eigentlich Träger der Menschenwürde ist (geborene Personen, nicht geborene, juristische Personen?), wie ein pränataler Würdeschutz angesichts der biotechnologischen und biomedizinischen Entwicklungen möglich ist und wie die Schutzpflicht realisierbar ist. Solche Fragen und die keineswegs eindeutigen Antworten darauf zeigen, wie schwierig es ist, die Menschenwürdegarantie zu verwirklichen. Die Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik (PID), den assistierten Suizid und um Eingriffe in das menschliche Erbgut mit Hilfe sog. Genscheren machen dies in jüngerer Zeit deutlich. Damit entsteht der Eindruck, dass die Offenheit der Bedeutung des Prinzips größer wird. Die Reduktion des Würdeschutzes auf die Unantastbarkeit trägt dazu bei, diese Fragen zu beantworten. 626  Dass ›Menschenwürde‹ häufig wie ein leerer Name behandelt wird, zeigt der Illusionsvorwurf (siehe dazu: Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, op. cit.). Wetz ist selbst keineswegs der Ansicht, Menschenwürde sei eine Illusion. Er rekonstruiert ausführlich und informiert die Geschichte der Menschenwürde und ihre Bedeutung in der Verfassung. 627  U.a. der Kommentar zum Artikel 1 (1) GG von Epping/Hillgruber (op. cit.). 628  Eine Übersicht über die Bestimmungen der Menschenwürde, die auf der Grundlage der Urteile des Bundesverfassungsgerichts gelten, bietet Thomas Gutmann (»Struktur und Funktion der Menschenwürde als Rechtsbegriff«, op. cit., bes. 53 – 58). Meine Zusammenfassung basiert in Teilen auf dieser Übersicht. 629  Das zeigen u.a. die Beiträge von Kurt Bayertz (»Die Idee der Menschenwürde. Probleme und Paradoxien«, op. cit.), Dieter Birnbacher (»Kann die 621 

380 | Anmerkungen  

Menschenwürde die Menschenrechte begründen?«) und Jörn Müller (»Menschenwürde als Fundament der Menschenrechte: Eine begründungstheoretische Skizze«), beide in: Die großen Kontroversen der Rechtsphilosophie, hrsg. v. Bernward Gesang, Julius Schälike, op. cit., 77 – 98, bzw. 99 – 124). Es geht in diesen Beiträgen u.a. um die Unklarheit und Vieldeutigkeit des Würdekonzepts. Birnbacher sieht sogar ein Dilemma in diesem Konzept je nachdem, ob es nur Menschen oder allen Menschen gerecht werden soll. Er spricht von einem »konzeptuellen Überschußgehalt« der Würde gegenüber den Menschenrechten. 630  Zwölf Abgeordnete des Bundestages (Wahlausschuss) und die sechzehn Ministerpräsidenten der Länder verständigen sich auf jeweils einen Kandidaten und wählen mit jeweils Zweidrittelmehrheit 50 Prozent der Bundesverfassungsrichter für eine Amtszeit von zwölf Jahren. Wiederwahl ist nicht möglich. 631  Kants Werke IV, op. cit., 440. 632  A. a. O., 421 resp. 429. 633  A. a. O., 434. 634  A. a. O., 434 f. 635  Die Möglichkeit des Guten, op. cit., Kap. 5.2.1. 636  Kants Werke IV, a. a. O., 435. 637  A. a. O. 638  A. a. O. 639  A. a. O., 397 f. 640  A. a. O., 397 f. 641  A. a. O., 418 f. 642  Werke VI, 395. 643  A. a. O., 387 ff. 644  Andrea Esser, Eine Ethik für Endliche, op. cit. 645  Siehe dazu die Beiträge in: Heike Haarhoff (Hrsg.), Organversagen, op. cit. 646  Ulrich Pothast nennt Schopenhauers Überzeugung, dass »das Wesen der Welt Wille sei«, die »Hauptthese seiner Metaphysik« (Die eigentlich meta­ physische Tätigkeit, op. cit., 59). 647  Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, op. cit., 151, 153, 163, 358, 361 resp. 648  ›Vitalistisch‹ ist Schopenhauers Willenskonzept, weil für ihn der Wille eine wesentliche Rolle bei der Selbsterhaltung spielt. Ulrich Pothast diskutiert diesen und alle anderen Aspekte des Konzepts (a. a. O., u.a. 40 ff., 157, 201). 649  Arthur Schopenhauer, a. a. O., 159, 199, 425 resp. 650  Der Psychologe Wolfgang Prinz meint, ›Wille‹ sei ein »altmodischer Begriff«, der allerdings in den Kognitionswissenschaften »ein gewisses Comeback« erlebe. Er sagt, er sei ein »wichtiger« Begriff, wenn es darum gehe, willentliches Handeln und die Wahl von Zielen und Mitteln zu verstehen (Selbst Anmerkungen | 381

im Spiegel, op. cit., 167). ›Wille‹ bezeichne »eine Menge geistiger Funktionen, die eine entscheidende Rolle für unser Verständnis dessen spielen, wie sich der Geist in sozialen Kontexten verhält«. Im selben Zusammenhang schreibt Prinz, dass kein direkter Weg vom alltäglichen Verständnis des Willens zu wissenschaftlichen Ansätzen zu den Themen ›Volition‹, ›Motivation‹ und ›Entscheidungsverhalten‹ führe (a. a. O., 168). 651  Die Verbindung des Willens mit messbaren Aktivitäten des menschlichen Gehirns nutzen die sog. brain-computer-interfaces (BCIs). Sie stellen eine direkte Verbindung zwischen Gehirnaktivität und Verhalten her. ALSPatienten können z. B. den Cursor auf einem Bildschirm bewegen und so kommunizieren. (Siehe dazu den Bericht über 215 Forschungsergebnisse: R. Sitaram, T. Ros, L. Stoeckel, S. Haller, F. Scharnowski, J. Lewis-Peacock, N. Weiskopf, M. L. Blefari, M. Rana, E. Oblak, N. Bierbaumer, J. Soulzer, »Closed-loop brain training: the science of neurofeedback, in: Nature, 18 (2017), 86 – 100; den Hinweis auf diese Veröffentlichung verdanke ich Benedikt Grothe.) Was die Aktivität im Gehirn verursacht, erklären diese Forschungen nicht. Die Aktivität wird aber beschrieben. Neurowissenschaftlich ist der Wille nicht grundlos, sondern von neuronalen Strukturen abhängig. Die neuronale Verursachung des Willens ist damit aber nicht erklärt. 652  Benjamin Libet hat die Diskussion angestoßen (»Do we have free will?«, op. cit., 47 – 57). Viele Psychologen haben aus Libets Experimenten einen Determinismus des Willens abgeleitet. Wie fragwürdig die DeterminismusHypothese ist, zeigt die Untersuchung von Brigitte Falkenburg (Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die Hirnforschung? Op. cit.). Sie beklagt »drastische Lücken« in den Erklärungen der Hirnforscher (a. a. O., vii). Was Determinismus mit Willensfreiheit zu tun hat, untersucht historisch sehr umsichtig Gottfried Seebaß (Willensfreiheit und Determinismus, Bd. 1, op. cit.). 653  Ludwig Wittgenstein, »Tagebücher 1914 – 1916«, Werke Bd. 1, op. cit., 183. Im Tractatus steht Schopenhauers Auffassung des Willens im Hintergrund: »6.373 Die Welt ist unabhängig von meinem Willen«. Im nächsten Satz (6.374) erklärt er diese Unabhängigkeit mit dem fehlenden logischen Zusammenhang zwischen Willen und Welt. 654  Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie Bd. 1, Werke Bd. 7, op. cit., §§ 899, 900 resp. 655  Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie B. 2, Werke Bd. 7, op. cit., § 80, ähnlich §§ 96, 101, 124, 141, 544 f. Ebenso denkt er in den Vorstudien zum zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen, Werke Bd. 7, a. a. O., §§ 452 f., 612. 656  Wittgenstein schreibt: »Der Aspekt ist dem Willen unterworfen« (Be­ merkungen über die Philosophie der Psychologie, Bd. I., a. a. O., § 899). 657  »Der Aspekt untersteht dem Willen: schon das macht ihn dem Denken verwandt« (a. a. O., Bd. II, § 544) und »Die Grammatik von ›denken‹ … gleicht sich der von ›sprechen‹ an« (a. a. O., § 228). Der Einfluss des Willens reicht über 382 | Anmerkungen  

das Aspekte-Sehen hinaus zum Aspekte-Hören und damit zum »Aspekterlebnis«. Wittgenstein beschreibt es so: »Ich sehe es jetzt so« und »Ich höre es jetzt als …; früher hörte ich es als…« (Ms 138, 15.1.1949). Der Hintergrund dieser Bemerkungen ist seine intensive Beschäftigung mit Musik und Kompositionen, vor allem von Bruckner. 658  Die von Schopenhauer angeregte, aber analytisch durchgeführte Untersuchung von Brian O’Shaughnessy (The Will. A Dual Aspect Theory, 2 vol., op. cit.) bezieht sich allein auf Handlungen. Ähnlich wie Bernard Williams in seinem Aufsatz »Deciding to believe« (in: Problems of the Self, op. cit.; siehe Kap. 7.5) schließt O’Shaughnessy aus, dass Überzeugungen gewollt werden können (a. a. O., part 1). 659  Bereits Augustinus nimmt die Intentionalität als verbindende Fähigkeit des Willens, des Denkens und der Sprache an, wenn er die Bedeutung der Erinnerung als Dreiheit von »memoria, intelligentia, voluntas« beschreibt (De trinitate, übers. u. hrsg. v. Johann Kreuzer, op. cit., 122 f.). Er glaubt nicht, dass sich der Wille von der Erinnerung und der Vernunft trennen lässt. In jüngerer Zeit haben Sprachphilosophen ›Bedeutung‹ als ›Intentionalität‹ gedeutet (u. a. John Searle, Intentionality, op. cit.). 660  Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884 – 1885, KSA, Bd. 11, op. cit., 625, 608 resp. Schopenhauers Deutung des Willens als ›Ding an sich‹ bezeichnet Nietzsche als »Aberglauben« (KSA, Bd. 5, 29). 661  Friedrich Nietzsche, KSA, Bd. 11, a. a. O., 606 f. 662  Besonders, aber nicht nur von Nationalsozialisten. Dieser Missbrauch wurde durch Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche gefördert. Siehe den »Offenen Brief«, den der Nietzsche-Verehrer Oskar Levy an Nietzsches Schwester schrieb, und auch den Text »Nietzsches Schwester« (in: O ­ skar Levy, Nietzsche verstehen. Essays aus dem Exil 1913 – 1937, op. cit., 161 – 164, 221 – 224 resp.). 663  Friedrich Nietzsche, KSA, Bd. 11, 624, Bd. 5, 409 resp. Nietzsche wollte sein Hauptwerk unter dem Titel ›Wille zur Macht‹ schreiben. Er rückt 1888, wie Heinrich Meier (Was ist Nietzsches Zarathustra? Eine philosophische Aus­ einandersetzung, op. cit., 234) nachweist, von diesem Plan ab, weil er nicht mehr an die Möglichkeit eines ›Systems der Metaphysik‹ glaubt. Heideggers Nietzsche-Deutung setzt aber den Glauben an ein solches System voraus. Der Mitherausgeber der KSA Giorgio Colli bezeichnet den ›Willen zur Macht‹ als »irrationale Substanz« (Nachwort zur KSA, Bd. 5, 416). Er deutet damit an, dass es keine Erklärung dieses – für ihn und andere – irrationalen Phänomens gibt. Was am Willen zur Wahrheit aber irrational sein soll, bleibt ungeklärt. 664  Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1884 – 1885, KSA Bd. 11, 661. Martin Heidegger hat diese Bemerkung Nietzsches nicht vitalistisch, sondern ontologisch gedeutet. Der ›Wille zur Macht‹ sei ein »Name für den Grundcharakter alles Seienden« und gebe eine Antwort auf die Frage, »was denn das Seiende sei« (Nietzsche, op. cit., Bd. 1, 12). Heidegger hat den ›Willen Anmerkungen | 383

zur Macht‹ als Kunst und als Ende der Metaphysik gedeutet. Nietzsche sei zum Anfang der Geschichte der Philosophie zurückgekehrt, aber nicht zum »anfänglichen Anfang« vor Platon (a. a. O., 469). 665  Nietzsche wäre aber nur dann der letzte Metaphysiker, wenn er auf dem Gedanken des Willens zur Macht ein System errichten würde, ähnlich wie vor ihm Hegel und andere ein System der Philosophie entwickeln. Nietzsches Ankündigung eines Buches unter dem Titel ›Der Wille zur Macht‹ lässt auf diese Absicht schließen. Er schreibt das Buch dann aber doch nicht. Deswegen hat die Charakterisierung ›letzter Metaphysiker‹ keine Grundlage. Er ist eher der erste Anti-Metaphysiker, wie Heinrich Meier Nietzsches Denken interpretiert. Er kommt zu einem gänzlich anderen Ergebnis als Heidegger. Nach Meier ist im Willen zur Wahrheit, der alles »in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, Menschen-Fühlbares« verwandelt, der Wille zur Macht am Werk. Meier argumentiert, die Aufgabe der »Weisesten« sei es, den Willen auf die »Erkenntnis der Welt« zu richten und ihn für die Selbstkritik und Selbsterkenntnis zu nutzen. Dabei sei der Wille auch Teil des »Willens zum Leben« (Heinrich Meier, Was ist Nietzsches Zarathustra? Op. cit., 74 – 79). Die Weisesten erkennen, wie Nietzsche Zarathustra sagen lässt, »die Notwendigkeit, den Willen zur Macht gegen sich selbst zu kehren« (a. a. O., 78). Heinrich Meier bringt diese »Lehre von der Selbstüberwindung« auf den Punkt: »Der Wille zur Macht ist nicht die Lösung, sondern der Kern des Problems für den Philosophen« (a. a. O., 78 f.). In seinem jüngsten Nietzsche-Buch vertieft Meier seine Kritik an Heideggers Nietzsche-Deutung (Heinrich Meier, Nietzsches Vermächtnis, op. cit., 327, Anmerkung 27). 666  Den Ausdruck »abgeschirrter Wille« gebraucht Nietzsche in Also sprach Zarathustra II an zwei Stellen (KSA 4, 152, 181). Den Hinweis auf diesen von der Forschung übergangenen Ausdruck verdanke ich Heinrich Meier. Vgl. seine Deutung des Ausdrucks in: Was ist Nietzsches Zarathustra? (op. cit., 79, 100). In Nietzsches Vermächtnis kommt Meier auf den ›abgeschirrten Willen‹ zurück (a. a. O., 272). Eine entgegengesetzte Deutung des Willens zur Macht vertritt Michel Foucault: »Der Wille zur Macht ist der Punkt, an dem Wahrheit und Erkenntnis sich voneinander lösen und sich gegenseitig zerstören« (Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970 – 1971, op. cit., 277). 667  Als Ausgangspunkt seiner Moraltheorie in der Grundlegung zur Meta­ physik der Sitten hält Kant den freien Willen für gut. Im Hinblick auf die Möglichkeit des Guten und Bösen spricht er dann von der »Freiheit der Willkür« (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Werke Bd. 6, 23 ff.), als ob die Freiheit des Willens eine andere wäre als die Freiheit der Willkür. Der Mensch könne sich, so Kant, nur zum Handeln bestimmen, wenn er eine Maxime als »Triebfeder zu einer Handlung« aufgenommen habe. Damit liegt die Unterscheidung zwischen gut und schlecht bei der Maxime und nicht bei der Freiheit. Die Aufnahme der Maxime als Triebfeder ist frei. Die Freiheit 384 | Anmerkungen  

selbst ist für Kant eine Idee, die theoretisch nicht bestimmbar, nicht begründbar und keine Naturursache ist. Seine Lehre vom Faktum der Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft scheint dagegen für eine Begründbarkeit zu sprechen. 668  Die moralische Bedeutung bringt Sokrates im Dialog Gorgias (482) zum Ausdruck. Er will nicht uneins mit sich selbst werden und sich nicht selbst widersprechen. 669  Die Schwierigkeiten beim Verständnis der Menschenwürde beschreibt Christoph Enders sehr eindringlich (Die Menschenwürde in der Verfassungs­ ordnung, op. cit.). Er hält es für denkbar, dass sich mit »richtigem Verständnis geisteswissenschaftlicher Methoden … die wichtigsten mit dem Verfassungssatz von der Menschenwürde gemeinhin verbundenen Probleme verfassungsrechtlicher Dogmatik einer Lösung zuführen« lassen (a. a. O., 2). Er spricht auch von einer »hinderlichen Unbestimmtheit der Menschenwürde« (a. a. O., 384). Der Exkurs über Kants Würde-Konzept (Kap. 3.2.3) kann dabei helfen, die eine oder andere Unbestimmtheit aufzuklären. 670  Die Behauptung, »daß das, was ohne Grund Geltung in Anspruch nimmt, eben nicht gilt« (Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, op. cit., 373), ist unbegründet und haltlos. Kein geltendes Prinzip hat einen Grund jenseits seiner Geltung. Luhmann unterscheidet nicht zwischen Genese und Geltung, weil er das Recht als autopoietisches System versteht (a. a. O., u.a. 110 f.). 671  Aristoteles identifiziert in seiner Metaphysik (1072b) Denken (νοῦς) und Gedachtes (νοητόν). Diese Identität erreicht in der reflexiven Beziehung des Denkens zum Denken selbst (νόησις νοήσεως νόησις, 1074b) ihren reflexiven Höhepunkt. Aristoteles unterscheidet (a. a. O.) aber »wesensmäßig« das Denkend-sein vom Gedacht-sein (οὐδέ γάρ ταὐτό τό εἶναι νοήσει καί νοουμένῳ). 672  Friedrich Schiller widerspricht sowohl der Vereinnahmung des Willens durch das Sittengesetz als auch durch physische Ursachen (Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Vierter Brief, op. cit., 20 f.) 673  Bernard Williams argumentiert gegen einen solchen Voluntarismus (»Deciding to believe«, in: Problems of the Self, op. cit., 136 – 151). 674  Aristoteles, Metaphysik, 1072a. Hier geht es Aristoteles um das Vorher und Nachher von Bewegung in der Zeit. Über die verschiedenen Bedeutungen des Früheren und Späteren schreibt er im Fünften Buch der Metaphysik (1018b-1019a). 675  Im Kant-Kapitel (2.1) haben wir gesehen, dass wir zwischen dem nichtreflexiven und reflexiven ›Ich denke‹ unterscheiden müssen. Vernunft und Reflexion können deswegen nicht dasselbe sein. 676  Bernard Williams, »Deciding to believe«, op. cit. 677  A. a. O., 147 – 151. 678  Die körperliche Bewegung, das Empfinden, die Sprache und die Fähigkeit zu kommunizieren sind nicht-reflexive menschliche Kräfte, die wie Wille und Vernunft zur menschlichen Natur gehören und wie sie grundlos sind. Anmerkungen | 385

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 202; ders., Über Gewißheit, § 45 resp. Siehe dazu meinen Beitrag »The Practice of Following Rules« (op. cit.). Gunter Gebauer versteht Wittgensteins Konzept des Regelfolgens ähnlich: Wittgenstein stelle die soziale Praxis in den Mittelpunkt seines Sprachdenkens. Gebauer betont die Ähnlichkeit dieses Denkens mit Pierre Bourdieus Konzept des ›Habitus‹, der in der Lebenspraxis erworben wird und eine »Weise des In-der-Welt-Seins« darstelle (Wittgensteins anthropologisches Denken, op. cit., 23, 146). Auch mit der Blindheit des Regelfolgens setzt sich Gebauer auseinander (a. a. O., 137). 680  Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 201. 681  Dies zeigen die vielfältigen Formen der Praxis, die sozialwissenschaftlich analysiert werden. Nicht alle sind analog zum sprachlichen Regelfolgen zu verstehen. Vgl. Hilmar Schäfer (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologisches For­ schungsprogramm, op. cit. Die Literatur zu diesem Forschungsbereich wächst: Michael Jonas, Beate Littig (ed.), Praxeological Political Analysis, op. cit.; Allison Hui, Theodore Schatzki, Elizabeth Shove (ed.), The Nexus of Practices. Connections, constellations, practitioners, op. cit. Die Arbeiten von Pierre Bourdieu, der seinerseits von Wittgenstein inspiriert ist, gaben den Anstoß zu den Praxisforschungen in den Sozialwissenschaften. Siehe u.a. dessen Entwurf einer Theorie der Praxis (op. cit.); ders., »Von der Regel zu den Strategien« (in: ders., Rede und Antwort, op. cit., 79 – 98). 682  Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke Bd. 5, op. cit., § 9. Siehe dazu auch meinen Beitrag »Gunst und Geltung«, op. cit. Von der Freiheit der Einbildungskraft und der Gesetzmäßigkeit des Verstandes spricht Kant im Anschluss an die »Analytik des Schönen« (Werke Bd. 5, 240 f.) und am Ende der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft« im § 59 (351 f.), in dem er die Schönheit als Symbol der Sittlichkeit beschreibt. Siehe dazu meinen Beitrag »Schönheit als Symbol der Sittlichkeit«, op. cit. 683  In der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« ist dann anstelle von »Begehrungsvermögen« vom Willen die Rede, der sich auf Zwecke richtet (a. a. O., § 64). 684  A. a. O., § 5, 210. 685  A. a. O., § 35, § 40 resp. 686  A. a. O., 268. 687  A. a. O., § 58, 350. Es ist das zweite und letzte Vorkommnis des Wortes ›Gunst‹ in der Dritten Kritik. 688  Auch die Widerspruchsfreiheit ist zunächst Gegenstand eines irritierten Gefühls der Art ›Das kann nicht sein!‹. Dann muss beurteilt werden, ob sie verletzt wurde oder nicht. 689  Im Unterschied zu einem passiven Mitgefühl wie der Empathie ist die Sympathie ein aktives Mitempfinden, ein »Nachfühlen«, wie Max Scheler es beschreibt (Wesen und Formen der Sympathie, op. cit. 66). Kant versteht den Gemeinsinn nicht als Gefühl. 679 

386 | Anmerkungen  

690 

Kant, a. a. O., § 22, 239. Wir nehmen hier den in Kapitel 1.7 entwickelten Gedanken wieder auf. 691  A. a. O., § 35, 287. 692  A. a. O., 239. 693  Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, op. cit. 694  A. a. O., 17 f. Literarisch repräsentiert diese beiden Seiten des Mitgefühls Margarete in Goethes sog. Urfaust. Sie ist Opfer und Täterin gleichzeitig, hat getötet und wird getötet. Margarete trifft das tragische Geschick, das nicht zwischen Täter und Opfer unterscheidet (vgl. dazu: Hannes Fricke, Das hört nicht auf: Trauma, Literatur und Empathie, op. cit.). 695  Scheler unterscheidet vier Stufen des Mitgefühls: das unmittelbare Mitfühlen mit jemandem, das Mitgefühl an etwas, die Gefühlsansteckung und die »echte Einsfühlung« (a. a. O., 23). 696  Scheler spricht vom Nachfühlen und Mitgefühl als »Urphänomena« und meint damit, dass sie sich nicht psychogenetisch von anderen Phänomenen ableiten lassen (a. a. O., 66). 697  Kant, Werke V, 238. 698  Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen, op. cit. 123 ff., bes. 133. 699  Ähnlich wie auch der Stärkere, wie Sokrates zeigt, nicht der Bessere sein muss (Gorgias, 488). 700  John Stuart Mill, On Liberty, op. cit., 68. Mill spricht davon, dass es einen Teil eines Volkes, der als Mehrheit akzeptiert werde, vielleicht reize, einen anderen Teil zu unterdrücken. Gegen diesen Machtmissbrauch müss­ ten Vorkehrungen getroffen werden. Die Tyrannei der Mehrheit sei eines der Übel, gegen das sich eine Gesellschaft wappnen müsse. Durch den Brexit veranlasst fragt Albert Weale nach der Bedeutung der Berufung auf den Willen des Volkes. Es geht ihm nicht um die Tyrannei der Mehrheit, sondern um die populistische Berufung auf das, was das Volk angeblich will. Die Gefährdungen der Demokratie kämen heute aus deren Innerem, von einer Politik, welche die verfassungsrechtlichen Grenzen der Parlamente und Gerichte in Frage stelle und sich dabei auf den Willen des Volkes berufe (The Will of the People, op. cit. 112 f.). 701  Die Bedeutung sittlicher Überzeugungen und Einstellungen untersuche ich in: »Die Geltung sittlicher Einstellungen. Zum Verhältnis von Sitte und Ethik« (in: J. Sautermeister (Hrsg.), Moralpsychologie. Transdisziplinäre Perspektiven, op. cit., 406 – 425). 702  Das Grundgesetz schützt im Artikel 4 (1) die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit und damit die sittlichen Überzeugungen aller Bürgerinnen und Bürger als »unverletzlich«. Im Artikel 38 (1) schützt es die Gewissensfreiheit der gewählten Volksvertreter. Dabei geht es um deren politische Überzeugungen relativ zum Wohl des Staates. Kommentare weisen darauf hin, dass mit diesem Gewissensschutz nicht die Freiheiten gemeint sind, die der Artikel 4 schützt (Martin Morlock, »Art. 4 (Glaubens-, Gewissens- und BekenntAnmerkungen | 387

nisfreiheit, Kriegsdienstverweigerung«, in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz Kommentar, op. cit.; Christian Starck, »Art. 4«, in: Peter M. Huber, Andreas Voßkuhle (Hg.), Grundgesetz Kommentar, op. cit.). Dies entspricht der Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität politischer und rechtlicher Entscheidungen in einer Demokratie. Die Frage ist, ob diese Neutralitätspflicht so eingehalten werden kann, dass die sittlichen Überzeugungen der Parlamentarier keinen Einfluss auf ihre Entscheidungen haben. Für Kant ist das Gewissen eine gute Basis für moralische Entscheidungen: »ein irrendes Gewissen ist ein Unding« (»Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee«, Werke VIII, 268). Scheler misstraut dagegen dem Gewissen, weil es täuschbar und Opfer sozialer Suggestion werden kann (Wesen und Formen der Sympathie, op. cit., 18). 703  Es wäre Sokrates, wie er im Dialog Gorgias zu Kallikles sagt, sehr viel lieber, dass die meisten Menschen nicht seiner Ansicht wären und ihm widersprächen, als dass er mit sich selbst nicht in Einklang wäre und sich selbst widerspräche (Platon, Gorgias, 482c). Es geht im Gorgias u.a. darum, ob Unrechttun schlechter ist als Unrechtleiden. Der Natur (φύσις) nach sei Letzteres schlechter, dem Gesetz (νομός) nach Ersteres. Sokrates will Kallikles davon überzeugen, dass nicht nur dem Gesetz, sondern auch der Natur nach Unrechttun »hässlicher« ist als Unrechtleiden (a. a. O., 489). Die sokratische Maxime, sich selbst nicht zu widersprechen, ist auch die erste von Kants drei Maximen der Aufklärung. 704  Erasmus Mayr schlug dafür die Bezeichnung ›pia fraus‹ vor.

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Literaturverzeichnis | 403

Personenregister Kursive Seitenzahlen beziehen sich auf den Anmerkungsteil. Alexy, Robert  220 f., 366 Ammereller, Erich  355 Anscombe, Elizabeth  218 Anselm von Canterbury  341 Aquin, Thomas von  22, 65, 130, 202–219, 340, 352, 363–365 Aristoteles  23, 43, 48 f., 55, 64 f., 90, 130, 149, 154, 158, 165, 172, 200–202, 209, 218, 306, 338–341, 344, 351, 356, 358, 362 f., 365, 385 Auer, Marietta  376 Augustinus, Aurelius  363, 383 Baberowski, Jörg  175, 358 Bachmann-Medick, Doris  345 Bartuschat, Wolfgang  336 Bayertz, Kurt  380 Bell, David  355 Berlin, Isaiah  235, 374 Berman, Marshall  345 Birnbacher, Dieter  380 f. Blau, Ulrich  354, 356 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  207, 364 Bosanquet, Bernard  351 Bourdieu, Pierre  386 Bradley, Francis Herbert  351 Bruckner, Anton  383 Buchheim, Thomas  337, 339, 361 Bueren, Geraldine van  357 Burge, Tyler  20, 129, 134–140, 143 f., 150 f., 350, 352, 354 f., 357

Cantor, Georg  145, 354 Carnap, Rudolf  17, 90, 242, 251, 344 Cicero  363 Cohen, Gerald  379 Cohen, Hermann  371 Colli, Giorgio  383 Conze, Eckart  357 Descartes, René  45 f., 118, 338, 341, 348 Doyle, Conan  77 Dreier, Horst  24, 240, 242, 271–277, 290, 336, 340, 370 f., 374, 379 f. Droysen, Johann Gustav  162, 357 Dworkin, Ronald  24, 248–252, 267, 344, 356, 368, 373 f., 379 Empedokles 202 Enders, Christoph  385 Ernst, Gerhard  335 Escher, Maurits Cornelis  347, 354 Esser, Andrea M.  287, 381 Evans, Gareth  355 Falkenburg, Brigitte  382 Ferber, Rafael  337, 339, 345, 363 Fischer, Eugen  355 Förster, Eckart  115, 347 f. Förster-Nietzsche, Elisabeth  383 Foot, Philippa  207, 218–220, 365 Forst, Rainer  358 f. Foucault, Michel  384 405

Freeman, Arthur  357 Frege, Gottlob  19 f., 61, 68, 73, 103, 119–135, 141–143, 145 f., 148, 161, 163 f., 170, 175, 194, 198, 266, 330, 349–354, 356 f. Fricke, Hannes  387 Gabriel, Gottfried  340 Gadamer, Hans Georg  374 Galilei, Galileo  338 Geach, Peter  218 f., 365 Gebauer, Gunter  355 f., 386 Gettier, Edmund  335 Goethe, Johann Wolfgang  345, 387 Görg, Erdmann  361 Gregor der Große  205, 364 Grothe, Benedikt  335, 347, 382 Grotius, Hugo  363 Gutmann, Thomas  370, 374–77, 380 Guyer, Paul  361 Habermas, Jürgen  22, 192–200, 361 f., 368, 373 Hart, Herbert  24, 229, 234–236, 239 f., 242–250, 253, 256 f., 267, 368, 372, 375 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  9, 225 f., 332, 367, 384 Heidegger, Martin  21, 148–150, 156, 300 f., 338, 345 f., 354, 358, 362 f., 383 f. Henrich, Dieter  337, 348 f. Herdegen, Matthias  24, 271–277, 379 f. Herman, Barbara  361 Hilbert, David  145 f., 354 Hobbes, Thomas  260 Hölderlin, Friedrich  355 f. Hoerster, Norbert  366 Hume, David,  20, 103 f., 134, 137– 139, 242, 353, 356 406 | Personenregister 

Hutter, Axel  340, 342 Iser, Wolfgang  341 Jaeger, Michael  345 Jellinek, Georg  336, 374 Jestaedt, Matthias  368, 370, 372 Joachim, Harold Henry  351 Joas, Hans  359 Kästner, Erich  343 Kammerhofer, Jörg  372 Kant, Immanuel  18 f., 22, 25 f., 31, 69, 71, 73, 76 f., 102–120, 133 f., 138 f., 141, 144–146, 150, 156, 163 f., 174, 176–194, 217, 225 f., 240, 255, 271, 279–292, 304, 309–315, 317, 320 f., 327 f., 330–332, 335, 341 f., 346–348, 353, 355–361, 363, 367, 370, 381, 384–388 Kaufmann, Arthur  373 Kelsen, Hans  17, 24, 156 f., 220, 226–230, 234–242, 245–249, 253–256, 356, 366–375, 377 f. Kemmerling, Andreas  336 Kermani, Navid  346 Kirste, Stephan  368, 371, 374–376 Korb, Axel-Johannes  367, 374 Kripke, Saul  17, 73, 74 f., 87, 95, 155, 341 f., 377 Kuch, David  370, 372 Künne, Wolfgang  128, 349–353 Kulikowski, Michael  357 Larenz, Karl  374 Leibniz, Gottfried Wilhelm  21, 148, 203, 328, 354 Leichsenring, Jan  366 Levy, Oskar  383 Libet, Benjamin  382

Litt, Theodor  226 Locke, John  106, 346 Lüdersen, Klaus  362, 376 Luhmann, Niklas  377, 385 Mann, Thomas  340, 342 Marc Aurel  363 Maunz, Theodor  379 Mayr, Erasmus  388 Mayr, Ernst  343 McDowell, John  355 Meier, Heinrich  301, 378, 383 f. Merkel, Reinhard  360 Mill, John Stuart  235, 324, 387 Möllers, Christoph  343, 356, 358, 379 Moore, George Edward  43, 218, 337, 365 f. Morlock, Martin  387 Müller, Christian  359 Müller, Jörn  381 Neumann, Ulfried  373, 375 Nietzsche, Friedrich  25, 299–301, 347 f., 383 f. Nozick, Robert  379 Ockham, Wilhelm von  204–206, 220, 340, 363 f. Oehl, Thomas  340 O’Neill, Onora  361 O’Shaughnessy, Brian  383 Parfit, Derek  361, 366 Parmenides 13 Patzer, Harald  201, 362 f. Patzig, Günther  122 Peacocke, Christopher  355 Peirce, Charles Sanders  194 Pfordten, Dietmar von der  376

Platon  12, 16, 42–44, 48–50, 53 f., 65, 74, 98, 204, 257, 336 f., 339, 341, 345, 363, 384 Politycki, Matthias  345 Popitz, Heinrich  358 Pothast, Ulrich  381 Potter, Michael,  351 Primavesi, Oliver  362 Prinz, Wolfgang  381 f. Quine, Willard Van Orman  91 f., 163, 169, 344, 358 Radbruch, Gustav  336, 366, 376 Ramsey, Frank Plumpton 127 f., 351 Rapp, Christof  363 Rawls, John  234, 238, 368 f., 379 Raz, Joseph  24, 229, 234–236, 239, 241, 245–247, 249 f., 253, 368–373 Reich, Klaus  347 Ricketts, Tom,  350 Ritter, Joachim  363 Roberts, Julian  354 Russell, Bertrand  73, 143, 145, 349, 354 Sartre, Jean Paul  337 f. Scheler, Max  317 f., 386 f., 388 Schiller, Friedrich  385 Schlick, Moritz  371 Schmidt, Jan Cornelius  360 Schmidt, Rainer  367 Schmitt, Carl  21, 233, 235, 238, 244, 256–262, 368 f., 372, 374, 377 f. Schopenhauer, Arthur  25, 292– 294, 299 f., 317, 381–383 Searl, John  375 Seebaß, Gottfried  382 Sellars, Wilfrid  327 Shakespeare, William  77, 86 Personenregister | 407

Siegwart, Geo  351, 370 Sigwart, Christoph  372 Skolem, Thoralf  354 Smend, Rudolf  225 f., 367 Smith, Adam  336 Sokrates  42, 44, 98, 204, 324, 337 f., 385, 387 f. Sophokles 202, 337, 363 Spaemann, Robert  207, 217–220, 322, 364, 366, 387 Spinoza, Baruch de  336 Spohn, Wolfgang  20, 137–140, 353 Starck, Christian  388 Strawson, Peter  342 Thompson, Michael  218 Trotzki, Leo  354 Tuninetti, Luca E.  352

408 | Personenregister 

Valentin, Karl  87 Weale, Albert  387 Weber, Max  195, 232, 368 Wetz, Franz Josef  364, 380 Williams, Bernard  307, 383, 385 Wittgenstein, Ludwig  20 f., 36, 54, 59, 62, 70, 88, 91 f., 127, 131, 142 f., 146, 152 f., 155 f., 198, 209, 216, 243 f., 255–258, 260 f., 266 f., 294 f., 297–299, 301, 308, 335, 337, 339, 341, 343 f., 349, 351–353, 355 f., 372, 377, 379, 382 f., 386 Wolff, Christian  203–205, 363 Wright, Crispin  355 Wyrwich, Thomas  350 Zippelius, Reinhold  364, 374 Zöller, Günter  346

Sachregister Kursive Seitenangaben beziehen sich auf den Anmerkungsteil. Dezisionismus  259 f., 378 Existenz  28, 72–75, 83–85, 96, 99, 155, 342 f. Finden  71 f., 74–77, 140 f., 170 f., 208, 327  Gebrauchsbedeutung  94, 96, 98, 165, 224, 263–266, 330 Gedanken  20, 122–129, 133 f., 163, 170, 350 Geltung des Rechts  61, 176, 224, 228 f., 240, 246, 249 f., 252–254, 256, 261 diskursive 192–200 exemplarische  26, 76, 312, 314–325, 331 f.  naturrechtliche 200–222 objektive  111–113, 133–140, 144, 255 reflexiv uneinholbare  262–291, 328 rein moralische  181–192, 225 unabgeleitete  49, 60, 67, 80, 110, 142–147, 153, 164, 173, 175, 194, 243 f., 261, 304, 327   unzeitliche  176, 266, 276 Gemeinsinn  26, 310–313, 315, 317–326, 331 Genese und Geltung  24 f., 68, 79, 83, 94, 96–98, 126, 133, 161, 174– 176, 181, 199 f., 224 f., 248 f., 251, 252, 254, 256, 261 f., 264–266, 268–273, 276, 278, 330, 376 f., 385 Gewissheit  40–48, 59, 100, 164, 337

Grundnorm  240–243, 245, 247, 255 f., 277, 373, 377 Gute, das  10, 16, 29 f., 42–58, 60, 64, 66, 72, 74, 77, 93, 95, 98, 100, 140 f., 164, 170, 174, 184 f., 200, 210–215, 238, 305, 320, 322, 324, 326, 329, 331 f., 345 Kategorischer Imperativ  282 f. Legalität 230–237 Legitimität 230–237 Menschenwürde  24, 36, 81, 87–90, 93–98, 102, 165–168, 170, 172 f., 217–220, 259, 269–281, 290–292, 299, 303 f., 312, 315–317, 319, 321, 323, 325–328, 330, 344, 358, 366, 380 f., 385 Moral und Recht  22, 24, 29, 170, 221, 229, 239 f., 247, 249, 252, 369 f., 373 Naturrecht  22, 238, 373 Nicht-reflexiv  18, 20, 33, 36, 41–48, 50, 55, 72, 74–77, 80–82, 84, 93, 101, 103 f., 110, 113 f., 116–118, 124 f., 129, 132, 136, 138–150, 152– 170, 173, 186, 194, 199, 216 f., 224, 241, 243 f., 247, 254 f., 257, 259, 261–264, 266 f., 292–294, 297, 302, 304, 306 f., 314, 321, 327, 329, 332, 337, 343 f., 363, 385 Normen  23, 78–80, 97, 170–174, 193, 196, 223 f., 229, 238, 240, 246, 256, 261, 268 f., 330, 343, 358 f., 368, 371, 376, 379  409

Ontologie  17, 19, 22, 43, 117, 200, 207 f., 216, 337 ontologisches Bedürfnis  15, 17, 31–37, 98 f., 185, 329 Praxis  11, 20, 23, 97, 132, 158, 170, 173, 197 f., 243 f., 248, 250 f., 256–264, 266 f., 297, 299, 313, 315, 324 f., 328–331, 372, 386 Prinzipien  17, 78–83, 85, 93–102, 157–160, 165, 170–174, 195, 223 f., 229, 233 f., 248 f., 254, 256, 259, 264–266, 268 f., 278, 304, 327, 329 f., 343, 368 Rechtspositivismus  24, 220 f., 225–256, 330, 374, 376 Sagen und Zeigen  20 f., 142–144, 146–148, 151 f., 154 f., 157–160, 243 f., 247, 266–268 Sein und Sollen  11, 29, 102, 217, 219, 226, 242, 255, 366, 368, 371, 378 Sympathie  312, 317–323, 326, 332 Transzendentale Deduktion  19, 105–119, 164, 187 f., 240, 255, 314

410 | Sachregister 

Unzeitlichkeit  124–126, 132, 161–163, 170 Urteilskraft  305, 310–315, 320 f., 331 f., 386 Wahrheit  59–61, 64, 66 f., 77, 120, 122–128, 134, 137, 142, 192–194, 197, 209–214, 252, 307, 344, 350 Widerspruchsprinzip  55, 65, 80, 82, 84–86, 93, 95, 131, 141, 158–161, 165 f., 172, 226, 228, 242, 265, 268, 303 f., 319, 327 f., 343, 358, 386 Wille  25, 187, 190, 203 f., 206 f., 241, 245, 261, 276, 279–281, 292–310, 313, 322, 325, 330 f., 361, 369 f., 372, 377, 381–387 Willensbildung  26, 259, 298–300, 304 f., 307–316, 318–320, 323– 326, 331 f. Willensfreiheit  294, 302, 304, 306, 331, 384 Wohlwollen  322, 331 Würde  25, 168, 279–291, 304, 328, 330 f.