Was bedeutet es zu wohnen?: Anstöße zu einer Ethik des Wohnens 9783495998298, 9783495998281

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Was bedeutet es zu wohnen?: Anstöße zu einer Ethik des Wohnens
 9783495998298, 9783495998281

Table of contents :
Cover
Verzeichnis der Abkürzungen
Einleitung
1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung
1.1 Der Ortsraum
1.2 Der mathematische Raum
1.3 Der geodätische Raum
1.4 Der Handlungsraum
1.5 Der leibliche Raum
1.6 Der prädimensionale Raum
1.7 Der Weiteraum
1.8 Der Engeraum
1.9 Der Richtungsraum
1.10 Der Bewegungsraum
1.11 Der atmosphärische Raum
1.12 Der Stimmungsraum
1.13 Der proxemische Raum
1.14 Der Situationsraum
1.15 Der architektonische Raum
2. Wohnen
2.1 Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen
2.2 »Wohnen« als Thema der Soziologie
2.2.1 Zum anthropologischen Charakter des Wohnens
2.2.2 Zum kulturellen Charakter des Wohnens
2.2.3 Zum rationalen und emotionalen Charakter des Wohnens (Max Weber und Georg Simmel)
2.3 Der Fokus der Wohnsoziologie
2.4 Zur Ontologie des Wohnens
2.5 Wohnen in der (soziologischen) Stadtforschung
2.6 Zum Situationscharakter des Wohnens
2.7 Wohnen als Verortung von Körpern?
3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung
3.1 Wohnen – eine gesellschaftliche Herausforderung
3.2 Unbedachtes Wohnen
3.3 Wohnen fordert den Menschen existenziell heraus
3.3.1 Der Selbst- und Weltbezug des Wohnens
3.3.2 Wohnen in »Bewegung«
3.3.3 Die Rolle der Architektur
4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung
4.1 Annäherungen an ein geisteswissenschaftliches Verständnis des Wohnens
4.2 Zum existenzphilosophischen Situationsbezug des Wohnens
4.3 Zur Sinnlichkeit des Wohnens
4.4 Die Bedeutung der Technik im Wohnen
4.5 Der Einbruch der Sorge in das Wohnen
4.6 Die ethische Legitimation des Wohnens
5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen
5.1 Was heißt heute »wohnen«?
5.1.1 »Wohnen« – etymologische Facetten
5.2 Wohnen im umfriedeten Raum
5.3 Zum Verhältnis von Wohnen und Denken
5.4 Die Transformation des Urbanen
6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens
6.1 Das Wohnen bedenken
6.2 Zur Situiertheit des Wohnens
6.2.1 Wohnhöfe
6.2.2 Seemannsheime
6.2.3 Wohnen in der Gartenstadt
6.2.4 Die Kommune als revolutionäre Praxis
6.2.5 Serielles Bauen
6.2.6 Großwohnsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre
6.2.7 Neoliberale Wohnexzesse
6.3 Umriss einer Ethik des Wohnens
7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft
7.1 Wohnen – Versuch einer Annäherung
7.2 Das Wohnen bedenken
7.3 Die Sorge umkreist was wird, wenn sich nicht ändert, was ist
7.4 Eckpunkte einer Ethik des Wohnens
7.4.1 Zur Macht normativer Ordnungen
7.4.2 Gefühle und die Macht der Normen
7.4.3 »Schonung« als ethische Norm
7.5 Das Exempel: Die Küche als existenzielle Weiche
7.6 Selbst- und Weltverhältnisse im Wohnen meistern
8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere
8.1 Die Küche – ein Schicksalsort der Tiere
8.2 Beziehungen zum Tier: zwischen Konsum und Gefühl
8.2.1 Speisetiere
8.2.2 Haustiere als Wohntiere
8.2.3. Störtiere
9. Was bedeutet es, zu wohnen?
9.1 Wohnen – eine Annäherung
9.2 Wohnen als existenzieller Ausdruck
9.3 Bauen und Wohnen
9.4 Disparate Wohnkulturen
9.5 Brauchen wir eine Ethik des Wohnens?
10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum
10.1 Bollnows Stimmung und Einstimmung
10.2 Heute ungewohnte Blicke aufs Wohnen
10.3 Der Mensch ist in Bewegung
11. Vom Weniger an Vielem zu einem Mehr im Ganzen
11.1 Bilder des Wohnens und Nicht-Wohnens
11.2 Obdachloses versus schönes Wohnen
11.3 Wohnen – ein Modus existenzieller Bewegung
11.4 Das Wohnhaus – eine Enklave
11.5 Die Dinge und ein verlorengegangenes Leben
11.6 »Wohnen« – Ein Blick auf die Stärke des Mangels
12. Leben und wohnen in der Stadt
13. Was heißt »gutes« Wohnen?
14. Wenn das Wohnen junger Menschen zum Problem wird
14.1 Wohnen früher und heute
14.2 Wozu das Wohnen bedenken?
14.3 Ethik des Wohnens – über das Hier und Jetzt hinaus
14.4 Facetten einer angewandten Ethik des Wohnens
14.4.1 Die allgemeine Lebensführung im Fokus der Generationen
14.4.2 Unterwegs sein
14.4.3 Das tägliche Essen
Literarturverzeichnis
Quellenverzeichnis

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Jürgen Hasse

Was bedeutet es zu wohnen? Anstöße zu einer Ethik des Wohnens

https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Jürgen Hasse

Was bedeutet es zu wohnen? Anstöße zu einer Ethik des Wohnens

https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99828-1 (Print) ISBN 978-3-495-99829-8 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1.1

Der Ortsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

1.2

Der mathematische Raum . . . . . . . . . . . . . . .

23

1.3

Der geodätische Raum . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

1.4

Der Handlungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

1.5

Der leibliche Raum

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

1.6

Der prädimensionale Raum . . . . . . . . . . . . . .

29

1.7

Der Weiteraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

1.8

Der Engeraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

1.9

Der Richtungsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

1.10 Der Bewegungsraum

. . . . . . . . . . . . . . . . .

33

1.11 Der atmosphärische Raum . . . . . . . . . . . . . . .

34

1.12 Der Stimmungsraum

. . . . . . . . . . . . . . . . .

37

1.13 Der proxemische Raum . . . . . . . . . . . . . . . .

38

1.14 Der Situationsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1.15 Der architektonische Raum . . . . . . . . . . . . . .

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2. Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1

Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen

. . . . .

43

2.2

»Wohnen« als Thema der Soziologie . . . . . . . . . 2.2.1 Zum anthropologischen Charakter des Wohnens

45 46

5 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Inhaltsverzeichnis

2.2.2 Zum kulturellen Charakter des Wohnens . . . 2.2.3 Zum rationalen und emotionalen Charakter des Wohnens (Max Weber und Georg Simmel) . .

47

2.3

Der Fokus der Wohnsoziologie

. . . . . . . . . . . .

55

2.4

Zur Ontologie des Wohnens . . . . . . . . . . . . . .

60

2.5

Wohnen in der (soziologischen) Stadtforschung . . . .

62

2.6

Zum Situationscharakter des Wohnens . . . . . . . .

67

2.7

Wohnen als Verortung von Körpern?

. . . . . . . . .

70

3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung . . .

77

3.1

Wohnen – eine gesellschaftliche Herausforderung . . .

77

3.2

Unbedachtes Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

3.3

Wohnen fordert den Menschen existenziell heraus . . 3.3.1 Der Selbst- und Weltbezug des Wohnens . . . 3.3.2 Wohnen in »Bewegung« . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Die Rolle der Architektur . . . . . . . . . . . .

79 81 85 87

4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

49

4.1

Annäherungen an ein geisteswissenschaftliches Verständnis des Wohnens . . . . . . . . . . . . . . .

91

4.2

Zum existenzphilosophischen Situationsbezug des Wohnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

4.3

Zur Sinnlichkeit des Wohnens . . . . . . . . . . . . .

95

4.4

Die Bedeutung der Technik im Wohnen . . . . . . . .

98

4.5

Der Einbruch der Sorge in das Wohnen . . . . . . . .

101

4.6

Die ethische Legitimation des Wohnens . . . . . . . .

104

5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen . . . . . . . . . . . .

109

5.1

Was heißt heute »wohnen«? . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 »Wohnen« – etymologische Facetten . . . . . .

110 112

5.2

Wohnen im umfriedeten Raum . . . . . . . . . . . .

115

6 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Inhaltsverzeichnis

5.3

Zum Verhältnis von Wohnen und Denken . . . . . . .

117

5.4

Die Transformation des Urbanen

. . . . . . . . . . .

119

6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens . .

123

6.1

Das Wohnen bedenken

124

6.2

Zur Situiertheit des Wohnens . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Wohnhöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Seemannsheime . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.3 Wohnen in der Gartenstadt . . . . . . . . . 6.2.4 Die Kommune als revolutionäre Praxis . . . . 6.2.5 Serielles Bauen . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Großwohnsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7 Neoliberale Wohnexzesse . . . . . . . . . .

6.3

. . . . . . . . . . . . . . . .

Umriss einer Ethik des Wohnens

. . . . . .

126 130 131 132 133 134

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135 136

. . . . . . . . . . .

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

. . . . .

143

7.1

Wohnen – Versuch einer Annäherung . . . . . . . . .

143

7.2

Das Wohnen bedenken

. . . . . . . . . . . . . . . .

145

7.3

Die Sorge umkreist was wird, wenn sich nicht ändert, was ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

7.4

Eckpunkte einer Ethik des Wohnens . . . . 7.4.1 Zur Macht normativer Ordnungen . 7.4.2 Gefühle und die Macht der Normen 7.4.3 »Schonung« als ethische Norm . . .

. . . .

150 151 152 155

7.5

Das Exempel: Die Küche als existenzielle Weiche . . .

158

7.6

Selbst- und Weltverhältnisse im Wohnen meistern . .

162

. . . .

8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere

. . . .

. . . .

. . . .

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8.1

Die Küche – ein Schicksalsort der Tiere . . . . . . . .

165

8.2

Beziehungen zum Tier: zwischen Konsum und Gefühl 8.2.1 Speisetiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Haustiere als Wohntiere . . . . . . . . . . . . 8.2.3. Störtiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Inhaltsverzeichnis

9. Was bedeutet es, zu wohnen? . . . . . . . . . . . .

177

9.1

Wohnen – eine Annäherung . . . . . . . . . . . . . .

177

9.2

Wohnen als existenzieller Ausdruck . . . . . . . . . .

180

9.3

Bauen und Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

9.4

Disparate Wohnkulturen

. . . . . . . . . . . . . . .

182

9.5

Brauchen wir eine Ethik des Wohnens? . . . . . . . .

185

10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

10.1 Bollnows Stimmung und Einstimmung . . . . . . . .

188

10.2 Heute ungewohnte Blicke aufs Wohnen . . . . . . . .

189

10.3 Der Mensch ist in Bewegung

195

. . . . . . . . . . . . .

11. Vom Weniger an Vielem zu einem Mehr im Ganzen

199

11.1 Bilder des Wohnens und Nicht-Wohnens . . . . . . .

200

11.2 Obdachloses versus schönes Wohnen . . . . . . . . .

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11.3 Wohnen – ein Modus existenzieller Bewegung . . . .

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11.4 Das Wohnhaus – eine Enklave

. . . . . . . . . . . .

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11.5 Die Dinge und ein verlorengegangenes Leben . . . . .

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11.6 »Wohnen« – Ein Blick auf die Stärke des Mangels . . .

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12. Leben und wohnen in der Stadt . . . . . . . . . . .

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13. Was heißt »gutes« Wohnen?

. . . . . . . . . . . .

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14. Wenn das Wohnen junger Menschen zum Problem wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

14.1 Wohnen früher und heute . . . . . . . . . . . . . . .

221

14.2 Wozu das Wohnen bedenken? . . . . . . . . . . . . .

223

14.3 Ethik des Wohnens – über das Hier und Jetzt hinaus

.

224

14.4 Facetten einer angewandten Ethik des Wohnens . . . . 14.4.1 Die allgemeine Lebensführung im Fokus der Generationen . . . . . . . . . . . . . . . . .

226

8 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

227

Inhaltsverzeichnis

14.4.2 Unterwegs sein . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.4.3 Das tägliche Essen . . . . . . . . . . . . . . .

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Literarturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Verzeichnis der Abkürzungen

DWDS

Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. v. d. Ber­ lin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

HWPh

Historische Wörterbuch der Philosophie, 13 Bände, Bände 1– 3 hgg. von Joachim Ritter, Bände 4–10 von Karlfried Gründer, Band 11–12 von Gottfried Gabriel. Basel und Stuttgart bzw. Basel 1971 bis 2007.

DWB

Grimm Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 33 Bände. München 1991.

HWdAgl

Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bände, hgg. von Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin und New York 1987.

RGG

Religion in Geschichte und Gegenwart, 7 Bände. hgg. von Kurt Galling. Tübingen 1957 – 1967.

Wasmuths

Wasmuths Lexikon der Baukunst, 5 Bände. Berlin 1929.

ÄGrB

Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. His­ torisches Wörterbuch in sieben Bänden (Studienausgabe) Band 6. Stuttgart und Weimar 2000.

AT

Altes Testament

LSR

Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Drei Bände. Freiburg, Basel und Wien 2004.

RAC

Reallexikon für Antike und Christentum, 31 Bände. Stutt­ gart 1969.

KSA

Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienaus­ gabe in 15 Bänden, hgg. von Giorgio Colli und Azzioni Mon­ tinari. München 1999.

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https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Einleitung

Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, eine Wohnung zu haben – ganz im Gegensatz zu den Obdachlosen, in deren tag­ täglicher Notlage sich im Prinzip nichts von selbst versteht. Im bequemen bürgerlichen Wohnen entfaltet sich der Mensch als ein zumindest weitgehend selbstbestimmtes Wesen an Orten im Raum. Er richtet sich in seinen »eigenen vier Wänden« ein und strebt behag­ liche Atmosphären des Zuhause-Seins an. Aber kein Mensch wohnt allein in seiner Wohnung. Zwar sind Wohnungen oder Wohnhäuser Rast- und Ruheräume des täglichen Lebens, Sphären des Privaten, Freiräume grenzenloser Imagination und sonderweltliche Zonen, in denen das persönliche Leben nach ganz eigenen Maximen gelebt werden darf. Ein Mensch kann jedoch nicht nur in seiner Wohnung leben. Wohnend eignet er sich auch die Stadt oder das Dorf an – als »seine« Stadt bzw. »sein« Dorf. Zum Wohnort werden Stadt, Dorf und Region, wenn sie als erweiterte Räume des Zuhause-Seins eingewohnt werden. So verlässt man seine Wohnung, um dieses und jenes zu erledigen. Danach kehrt man allerdings in sein Zuhause wieder zurück. Hermann Schmitz merkt an: »Die Stadt kann im weiteren Sinne eine Wohnung sein.«1 Noch näher als der Raum der Stadt – in räumlicher wie in psychologischer Hinsicht – ist den meisten Menschen der zur Wohnung gehörende Garten (sofern es einen solchen gibt). Selbst die Kirche2 bezieht Schmitz in die umfriedete Welt des Wohnens ein. In der Gegenwart anhaltender Säkularisierung dürften jedoch viele Menschen eher die Sporthalle als einen dem Wohnen zugehörigen Raum erleben als die Kirche, die ihnen eine verblassende Wertewelt repräsentiert. Hermann Schmitz versteht das Wohnen als eine »Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum.«3 Damit denkt er das Wohnen kate­ gorial anders als Martin Heidegger. Zwar kommt es auch ihm auf 1 2 3

Schmitz: Atmosphären, S. 62. Vgl. ebd. Ebd.

13 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Einleitung

gelebte Beziehungen zu Orten und Räumen an, aber bei Heidegger sind es nicht die emotionalen Bindungen an die eigenen vier Wände, die für das Wohnen von zentraler Bedeutung sind. In der Mitte seines Wohn-Begriffes steht das Sein und Wirken des Menschen auf der Erde und nicht allein in der Wohnung, dem Garten und der Stadt. Dass die Menschen in Zimmern wohnen, versteht sich in den westlichen sogenannten Hochkulturen von selbst. In der Vorzeit wohnten sie in Höhlen, Hütten, Gruben und Zelten. Mit anderen Worten: sie friste­ ten ihr Leben in überwiegend archaischen und oft nur temporären Behausungen. Nicht selten hatten sie lediglich einen einzigen Raum, in dem sie sich um die Mitglieder der Familie bzw. Sippe kümmerten – z.B. in der Begleitung der Gebärenden wie der Sterbenden. In der Welt bürgerlichen Wohnens haben die Wohnungen der Menschen meistens mehrere Zimmer. Allein der Begriff des »Wohn­ zimmers« weist auf eine zweckorientierte Parzellierung der Räume einer Wohnung hin. Das Wort »Wohnzimmer« suggeriert die Vor­ stellung, das eigentliche Wohnen fände insbesondere, wenn nicht ausschließlich darin statt. Es gibt aber neben dem »Wohn«-Zimmer auch noch Räume für spezielle Funktionen (Fremdenzimmer, Speise­ zimmer, Schlafzimmer und Geschäftsraum4, mehr noch Kellerraum, Abstellraum und Toilette). Im Unterschied zu diesen speziellen Räu­ men einer Wohnung dient das Wohnzimmer der Geselligkeit bzw. der Zusammenkunft der Wohnenden: »gewöhnlich hielten wir uns … zur groszmutter, in deren geräumigem wohnzimmer wir … platz zu unsern spielen fanden.«5 Implizit suggeriert der Name »Wohnzim­ mer«, dass alle anderen Räume einer Wohnung nicht dem Wohnen dienen. Gibt es also in einer Wohnung räumliche Zonen und Bereiche, die nicht für das Wohnen da sind? Und: Kann man nur in einer Wohnung wohnen? Ein Rückblick in die Geschichte des Wohnens öffnet die Perspektiven. Im 19. Jahrhundert gab es das Wohnzimmer in der heute selbst­ verständlichen Form und sozialen Funktion oft noch gar nicht – jedenfalls nicht als einen der Bequemlichkeit der Familie gewidme­ ten, atmosphärisch gesonderten Raum der Behaglichkeit. Beschrei­ bungen von Friedrich Engels über Wohnsituationen in London zur Zeit des späten 19. Jahrhunderts geben eine Vorstellung von nicht nur hygienisch prekären Lebenslagen als Folge des Aufenthalts in 4 5

Vgl. DWB: Band 30, Sp. 1236. Ebd.

14 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Einleitung

einem einzigen Raum, in den die Angehörigen einer Familie nur mit Mühe hineinpassten. Deshalb finden sich zur Etymologie des Wortes »Wohnzimmer« auch Hinweise auf multifunktionale Nutzungsprak­ tiken: »ein Raum …, der zugleich als schusterwerkstatt, wohn- und schlafzimmer diente«6. Das »Wohnzimmer« diente den Wohnenden tatsächlich in einem weiteren Sinne für unterschiedliche Zwecke. Zum einen war es allgemeiner Aufenthaltsraum, zum anderen aber auch Schlafraum mit Alkoben (das waren die in einem Wohnzimmer ange­ brachte »schlafstellenbehältnisse«7). Noch heute ist das Wohnzimmer für viele (vor allem ältere) Menschen mit traditionell-kleinbürger­ lichen Lebensstilen die »gute Stube«, der repräsentative Raum, in dem man zeigt wer man ist und was man hat. In der Lebenspraxis der Mehrheitsgesellschaft dürfte er schon längst zum Fernsehraum mutiert sein und u.a. dazu dienen, die Menschen mit den »Wahrhei­ ten« der Massenmedien zu versorgen. Allzumal in der Gegenwart globaler ökologischer Krisen sowie sich zuspitzender soziökonomischer Disparitäten reklamiert sich eine neue Sicht auf das Wohnen der Menschen. Dabei ginge es nicht in erster Linie um die behagliche Einrichtung in atmosphärisch umwölkenden Wohnzimmern auf der einen Seite und das prekäre Hausen in erbärmlichen Unterkünften am Rande der Welt auf der anderen Seite. In den Fokus rückt mit Nachdruck die durch und durch existenzielle Frage, wie die Menschen auf der Erde wohnen. Im Sinne von Heidegger konkretisiert sich dieses metaphorische Verständnis des Wohnens in konkreten Praktiken des Lebens an Orten und durch Orte im Raum. Wer wohnt, ist danach nicht nur in seinem (mehr oder weniger trauten) Heim ansässig, führt sein Leben darüber hinaus auf höchst unterschiedliche Weise zwischen Städten, in Regionen, im ganzen Land und unterwegs – in aller Regel in einem unbedachten wie beharrlichen Zugriff auf natürliche und soziale Ressourcen. Auf globalem Maßstab hat sich in der Gegenwart das ganze Dilemma einer ruinösen Bewohnung der Erde unmissverständlich gezeigt. Wohnend haben die Menschen die Erde in eine Benutzeroberfläche verwandelt, ihre Ressourcen ausgebeutet und sich der Verantwortung für die Sicherung der Regenerationsfähigkeit menschlicher Lebens­ grundlagen entzogen. Die Folgen rücksichtslosen Nehmens zeigen

6 7

Ebd. Ebd.

15 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Einleitung

das dystopische Gesicht einer Natur, die für den Menschen keine gute Zukunft erwarten lässt. Dass der gesellschaftlich praktizierte Mensch-Natur-Metabolis­ mus zu strukturellen Schieflagen in den natürlichen Ökosystemen führen und eine Gefährdung der Lebensgrundlagen der Menschheit zur Folge haben musste, hätte politischen Akteuren bereits in den späten 1960er Jahren bekannt sein müssen. Ein das Wirtschaften in den kapitalistischen, kommunistischen und sozialistischen Gesell­ schaften bestimmender Habitus des Nehmens hatte sich schon vor Dekaden nachhaltig von einer ökologischen wie ethischen Pflicht zur ausgleichenden Gabe entkoppelt. Spätestens legte der 1980 über 1.400 Seiten lange Bericht Global 20008 an den Präsidenten der USA die heute so »aktuell« erscheinenden Diagnosen und Prognosen zur Situation des globalen Klimas in bereits relativ zutreffenden Umrissen dar. Einen hinreichenden Grund, Maßnahmen für eine Revision des Mensch-Natur-Verhältnisses zu ergreifen, sahen Ent­ scheidungsträger in Politik und Wirtschaft darin aber nicht. Eine – einstweilen vor allem rhetorische – Selbstverpflichtung zur ethischen Legitimation von Eingriffen in ökologische und soziale Systeme zeichnet sich erst in der Gegenwart ab. Heidegger verstand das Wohnen als Ausdruck des Lebens und rückte es in den ethischen Rahmen einer Pflicht zur Rechtfertigung aller Wechselbeziehungen, die dem Wohnen der Menschen zugute kommen sollten. Alle Lebensweisen, die in nahen und fernen Räumen auf Kosten anderer Menschen gehen, werden damit denkwürdig – vom täglichen Essen und dem Konsum der Kleidung bis zum Verbrauch von Energie. Die ethische Revision des Immer-so-weiterWohnens beginnt mit dem kritischen Bedenken der Frage, was uns die Bedingungen des Wohnens für das Leben im Hier und Jetzt bedeuten und ob wir in der gewohnten Fülle weiterleben müssen und wollen. Schonungsorientierte Lebensmaximen könnten z. B. über die Relati­ vierung materieller zugunsten postmaterialistischer Werte Brücken zu ethisch sensibilisierten Lebensweisen anbahnen. Prinzipien, die sich nicht in erster Linie am Haben von Gütern und Dingen orientie­ ren, sondern sinnstiftende Modi des Mit- und Füreinander-Daseins anstreben, situieren das Subjekt vor dem Hintergrund existenzieller Sorge um eine Welt, die ohne die Natur gar nicht gedacht werden kann. Heidegger wollte einen verantwortlichen Blick aufs Wohnen 8

Council of Environmental Quality: Global 2000.

16 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

Einleitung

werfen, um den Menschen die Art und Weise bewusst zu machen, wie sie ihr Leben führen. Das Bedenken des Wohnens wäre dabei weder ein singuläres noch ein einmaliges Projekt. Es verlangt die historisch immer wiederkehrende Bewertung der Licht- und Schattenseiten aller Praktiken des Lebens, die sich im Wohnen zu erkennen geben. Heidegger verknüpfte seinen ethischen Imperativ der Schonung mit der Forderung nach einem verantwortlichen und sorgsamen Umgang des Menschen mit seinesgleichen und der Natur. Schonung entspricht in etwa dem, was wir heute mit der Idee der »Nachhaltig­ keit« meinen. Nur ist der Begriff der Nachhaltigkeit zu einer zerrede­ ten Floskel verkommen, die eine politisch nur noch schwache Kraft hat und in seiner lebenspraktischen Bedeutung schon abgestorben ist. Wie Heidegger das Wohnen nicht in einem einfachen Sinne versteht (wie das »Innehaben einer Unterkunft«9), so nicht das Bauen. Das gehört nämlich nicht nur zum Wohnen; es macht das Wohnen auch. In der Konsequenz müssen wir deshalb »die gewöhn­ liche Vorstellung vom Wohnen fahren«10 lassen. Bauen ist zwar im allgemeinsten und einfachsten Sinne ein herstellendes Bauen mit Baustoffen zur Errichtung von Häusern und allen möglichen Bauten. Heidegger meint über das einfache Herstellen hinaus vor allen Dingen pflegendes und hegendes11, also schonendes Bauen. Das Bauen ver­ dankt sich folglich ganz essentiell dem Bedenken des Wohnens. Eine besondere Form dieses Bedenkens sieht er im Dichten. Mit Hölderlin begreift er es als Maß-Nahme, »durch die sich die Vermessung des Menschwesens vollzieht.«12 Als Maß kommt aber keine tagesaktuelle Rationalität zielorientierten Tuns in Frage, sondern Gott. Indes nicht »der« Gott der christlichen Mythologie, keine denkbare, vorstellbare oder wie auch immer konkretisierbare Gottesgestalt. Man muss an diesem Punkt rekapitulieren, dass Heidegger in Bauen Wohnen Den­ ken von »den Göttlichen« spricht und damit der Vorstellung eines personalisierbaren Gottes einen Riegel vorschiebt. Und so bleibt Gott als »Maß« des Dichtens und damit als Maß wohnenden Bauens in seiner Bedeutung offen, unbestimmt, rätselhaft und geheimnisvoll. Indem sich der Dichter des »Sichverbergenden«13 annimmt, steht 9 10 11 12 13

Heidegger: »… Dichterisch wohnet der Mensch …«, S. 193. Ebd.: S. 192. Vgl. ebd.: 195. Ebd.: S. 200. Ebd.: S. 204.

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Einleitung

Gott für das Fremde, das Rätselhafte, das sich der Macht des Men­ schen Entziehende und abgründig Beunruhigende. Das Wohnen verlangt nach Heidegger das Bauen. Mehr noch: Wohnen vollzieht sich im Bauen. Dieses bauende Wohnen bedarf des Bedenkens14, das wiederum im Dichten Orientierung sucht. Das Dichten – kein Dichten im gewöhnlichen Sinne – dient dem Finden eines Maßes für das dem Wohnen dienende Bauen. Dem Erbzw. Ver- und Ausmessen kommt eine zentrale Bedeutung für das Maß »schonenden« Bauens zu. Das (vierfältige) Schonen15 gestaltet sich als ethische Praxis des Wohnens, die einem geradezu radika­ len Gebot der Rücksichtnahme folgt. Das mit dem dichterischen Bedenken des Wohnens ins Spiel kommende göttliche Maß ist nicht auf die christlichen Religionen bezogen. Gott und das Göttliche stehen vielmehr für ein Heiliges, das zum Maß wird, »mit dem der Mensch sein Wohnen, den Aufenthalt auf der Erde unter dem Himmel, ausmißt.«16 Seinem menschlichen Wesen wird er gerecht, wenn er die Erfahrungsweisen des Heiligen (im Gewahrwerden des Rätselhaften, des absolut Unerklärlichen und all dessen, was die menschlichen Vorstellungsvermögen überschreitet) in sein Wohnen einbezieht. So mündet die Metapher von Gott und den Göttlichen mehr in eine Schonung des Menschen und seiner Welt als in eine Gottgläubigkeit, die in Narrativen christlicher Mythologie wurzelt. Heideggers Bauen Wohnen Denken bedarf keines Regresses auf eine jenseitsweltliche Gerechtigkeits-, höhere Gerichts- und überweltliche Ordnungsinstanz. Es ist die menschliche Existenz im Hier und Jetzt, die in der Sorge über das eigene Selbst hinausdenkt und -fühlt. In der Sorge verbindet sich der Mensch mit allen anderen Arten auf der Erde, denen sie heute und morgen Grundlage allen Lebens ist.

Die Beiträge dieses Bandes Alle 14 Beiträge dieses Bandes nehmen ihren Ausgang im Verständ­ nis des Wohnens, wie es Martin Heidegger im Rahmen des 2. »Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangen und so etwas Denkwürdiges blieben.«; Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 48. 15 »die Erde retten, den Himmel [zu] empfangen, die Göttlichen [zu] erwarten, die Sterblichen [zu] geleiten«; ebd.: S. 46. 16 Heidegger: »… Dichterisch wohnet der Mensch …«, S. 199. 14

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Einleitung

Darmstädter Gesprächs in einem Vortrag 1951 umrissen hat. Das Heidegger’sche Denken des Wohnens darf in seiner existenzphilo­ sophischen Pointierung bis heute als richtungsweisend angesehen werden. Wohnen entspricht vor diesem Bedeutungshintergrund nicht dem gemütlichen Zusammensein auf behaglichen Inseln »schönen Wohnens«, wenn die Menschen ihr Wohnen auch wesentlich als Aufenthalt in den eigenen vier Wänden auffassen mögen. Was den gegenwärtigen Menschen lebensweltlich ihr »Wohnen« bedeutet, hat indes nur am Rande mit dem zu tun, was Martin Heidegger darunter zu verstehen geben wollte. Es ist vielmehr verwirrend und unbequem »für das billige Allesverstehen des täglichen Meinens, das sich gerne als das Richtmaß für alles Denken und Besinnen behauptet«17. Heidegger will das Wohnen bedenken, es im Denken bewahren, um es in Praktiken schonenden Bauens zu leben. Dieses spezielle Denken des Wohnens steht im Zentrum aller Beiträge; Redundanzen sind damit unvermeidlich. Sich wiederholende Zitate und Argumente werden indes in je eigene Denkzusammenhänge eingebettet. In je eigenen Argumentationszusammenhängen und mitunter grundver­ schiedenen Beiträgen wird Heideggers Art das Wohnen zu denken, für den Entwurf von Umrissen einer Ethik des Wohnens nutzbar gemacht. Die sich variierenden Denkwege öffnen thematisch immer wieder andere Herangehensweisen an das Wohnen. Die Vielfalt der Perspektiven lässt den Nutzen des Heidegger’schen Wohnverständ­ nisses für die Begründung einer zeitgemäßen (ökologischen) Ethik des Wohnens deutlich werden. Zwölf der in diesem Band zusammengefassten Beiträge sind seit 2018 erschienen, die meisten ab 2021. Ein älterer Text aus dem Jahre 2005 ist weitgehend neu gefasst worden. Die Beiträge sind in unterschiedlichen Medien erschienen – in Zeitschriften, die den Zeitungen zugerechnet werden (z.B. Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage der deutschen Wochenzeitung Das Parlament), in philoso­ phischen Zeitschriften (z.B. Zeitschrift für Kulturphilosophie), Publi­ kationsorganen der Politischen Bildung (z.B. Bürger & Staat), in sozialwissenschaftlichen Jahrbüchern (hier Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften), Handbüchern (z.B. Handbuch Stadtsoziologie) sowie in Sammelbänden, die thematisch einen direkten oder indirek­ ten Bezug zum Wohnen haben. 17

Ebd.: S. 201.

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1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

In der lebensweltlichen Wahrnehmung verstehen sich Eindrücke des täglichen Lebens von selbst – mit einer Metapher von Hermann Schmitz gesagt: »mit einem Schlage«18. Das liegt daran, dass die intuitive Wahrnehmung ganzheitlichen Charakter hat. Sie zerlegt nicht alles analytisch in Einzelteile, was sich den Sinnen darbietet, um die Teile sodann summierend zu einem Ganzen erst wieder zusammenzusetzen. Allerdings genügt die selbstverständliche Erfas­ sung von Eindrücken speziellen, insbesondere professionellen Anfor­ derungen nicht. Wer Räume entwerfen und für bestimmte Funktionen architektonisch gestalten will (Abstellkammer, Wohnhaus, Platz), muss auch das »Ganze« sehen (die Abstellkammer im Wohnhaus, den Platz in der Stadt). Erst in der Synthese des ganzheitlichen und analytisch segmentierenden Blicks lässt sich Architektur als Ganzes kritisch bewerten. Der Anspruch mehrperspektivisch reflexiven Tuns bezieht sich auf alle Gestaltungsparameter – von der Raumgröße (auf Funktion und Ausstattung eines Raumes bezogen), über die Belichtung (an praktischen wie ästhetischen Ansprüchen orientiert), die Verwendung von Baumaterialien (bautechnisch und ökologisch angemessen sowie auratisch affizierend) bis hin zur Akustik (in deren Tonalität ein Raum sich auch selbst zu Gehör bringt). Doch nach welchen theoretisch wie praktisch tragfähigen Krite­ rien soll ein Raum differenziert betrachtet werden? Mit lebenswelt­ licher Evidenz suggeriert sich die Unterscheidung nach Funktionen (Wohnräume, Betriebsräume, Büroräume etc.). An eine kleine Woh­ nung werden jedoch andere Ansprüche gestellt als einen Wohnblock oder eine Villa. Auch kommt es auf die Einbettung einer Funk­ tion in den jeweiligen räumlichen Kontext an (Einfamilienhaus vs. Einheit mit 300 Wohnungen). Ähnlich ist es bei Betriebsräumen (kleiner Schlossereibetrieb vs. chemischer Industriebetrieb) oder bei Büroräumen (innerhalb einer Weise oder in einem 20-stöckigen 18

Schmitz: System der Philosophie, Band III/Teil 1, S. 21.

21 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

Bürohochhaus). Zudem variieren alle aufWeise en Raum bezogenen Gestaltungs- und Ausstattungsansprüche mit tendenziell unendli­ chen Variablen (technologischen, historischen, normativen, rationa­ litätsspezifischen etc.). Um theoretisch unbefriedigend Weise benden Raum-Kategori­ sierungen zu entgehen, will ich imWeise enden der FrageWeise hgehen, wie ein Raum im Allgemeinen ist und in seinem Wesen wirkt. »Wesen« meint dabei (etymologischen Wurzeln folgend) die Modi des Seins und WeWeise sowie die Art und Weise, wie etwas sinnlich erscheint. Ein Wesen in diesem Verständnis ist keine höhere Spezies, die in einer spirituellen oder mystischen Haltung »geschaut« werden könnte. Das wesenhafte Erscheinen (von Dingen wie Türen, Lampen, Fußbodenplanken aber auch von Wind und Schatten, Wärme und Luftfeuchtigkeit etc.) rückt dabei ins Frage- und Erkenntniszentrum phänomenologischer Raumforschung. Im Folgenden sollen 15 Raumbegriffe skizzenhaft entfaltet wer­ den. Nicht mit dem Ziel der kategorialen Unterscheidbarkeit des einen Raumes vom anderen, sondern mit dem Ziel der Schärfung der Auf­ merksamkeit gegenüber spezifischen Erscheinungsweisen ein- und desselben Raumes. Mit anderen Worten: ein jeder Raum (vom Klas­ senzimmer bis zur gekühlten Fischauktionshalle, vom Kinderzimmer bis zum Automobil-Verkaufsraum) kann unter erkenntnistheoretisch wechselnden Perspektiven seines Da- und So-Seins bedacht werden. Die folgenden Unterscheidungen gehen implizit auch der Frage nach, was Räume mit uns machen und wir mit ihnen.19

1.1 Der Ortsraum Das Gartenhaus steht zwanzig Meter hinter dem Wohnhaus, und der Hühnerstall ist davon noch einmal drei Meter in südöstlicher Rich­ tung entfernt. Im Ortsraum sind die Lagebeziehungen relativ. Distan­ zen sind in einem objektivierbaren Sinne messbar. Der Ortsraum kennt kein Hier und kein Dort. Er bedarf keiner lebenden Subjekte. Der Hühnerstall ist immer dreiundzwanzig Meter von der Hintertür des Wohnhauses entfernt, ganz gleich ob jemand zu Hause ist oder die Wohnung aufgegeben hat. Die Abstände, um die es im Ortsraum 19

Vgl. Hasse: Was Räume mit uns machen.

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1.2 Der mathematische Raum

geht, sind gegenüber dem erlebenden, fühlenden und denkenden Menschen neutral. Der Ortsraum ist in gewisser Weise ein »toter« Raum. Dennoch ist er (als konstellationistisches bzw. systemisches Gebilde) für das architektonische Entwerfen und das tatsächliche Bauen unverzichtbar. Häuser lassen sich nämlich nur an Stellen im »tatsächlichen Raum«20 bauen; in imaginären Sphären können sie zwar erdacht aber stofflich nicht realisiert werden. Physischen Bauten ist es »egal«, ob es Menschen gibt, die in sie einziehen, um sie zu bewohnen oder ob sie als Spekulationsobjekte leerstehen. Aus dem Ortsraum kommen auch die Baustoffe: der Granit aus dem 40 Km entfernten Steinbruch oder aus dem Baumarkt vor der Stadt und die Buchenhölzer aus einem bayerischen Forst oder dem Sägewerk des Nachbardorfes. Dies schließt ein, dass die Richtungen im Ortsraum umkehrbar sind. Diesseits der sozialen und ökonomischen Welt macht es keinen Unterschied, ob das Bauholz vom Wald an die Baustelle transportiert wird oder (so widersinnig das auch sein mag) von der Baustelle in den Wald. Richtungen basieren im Ortsraum allein auf relationalen, metrischen Abständen.

1.2 Der mathematische Raum Dem Ortsraum liegt der mathematische Raum zugrunde. Er ist bere­ chenbar und für den architektonischen Entwurf ebenso unverzichtbar wie für das handwerkliche Bauen mit Stahl, Stein und Holz. Ein Haus kann seinen gebrauchsbedingten physischen Belastungen nur standhalten, wenn es statisch richtig berechnet und handwerklich gut errichtet ist. Nur dann zerbricht es nicht unter dem Druck seiner Belastung. Die Einhaltung der Regeln der Mathematik, Physik und Chemie ist für den Erfolg des Bauens von Häusern, Tunneln, Brücken und Fahrstuhlschächten unverzichtbar. Der mathematische Raum hat (berechenbare) Kanten, Flächen und Ecken. Konstruierte 90- oder 45-Grad-Ecken sind zugleich aber auch sinnlich konkret erlebbare Ecken, an denen man sich stoßen kann. Die unregelmäßige Oberfläche des aufgeschütteten Fußweges 20 Als »tatsächlichen Raum« versteht von Dürckheim den konkret gegenwärtigen Raum, wie er sich »in gegenständlicher Abständigkeit als eigenständige leibhafte Wirklichkeit einer bestimmten Sinneinheit an einem objektiven Platz in einem weiteren Herum präsentiert.«; Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 61.

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1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

vor dem Haus ist in anderen taktilen Empfindungen begehbar als die glatt asphaltierte Stellfläche für den PKW. Ohne Ecken, Kanten und Flächen kein gebauter Raum. Wie die architektonischen Dinge im mathematischen Raum konstruiert und hergestellt sind, entscheidet wesentlich darüber, wie ein Ort in seinem räumlichen Gefüge erlebt wird. In welcher Weise eine Ecke mit Rücksicht auf ihre motorische Umschreitung gestaltet ist, disponiert die Dynamik der Bewegung. So gibt es spitze, weiche oder gerundete Ecken. Aber auch dem Wohnen dienende Bauten verlangen die mathematische »Einstimmung« auf Situationen, in denen Menschen sich bewegen.

1.3 Der geodätische Raum Der geodätische Raum ist vermessen und kartographiert. Man könnte ihn auch als einen speziellen mathematischen Raum begreifen. Seine traditionelle Darstellung findet er in der maßstabsgerechten Topogra­ phischen Karte, der Flurkarte oder dem Katasterplan. Der Entwurf eines Wohnhauses verlangt die zeichnerische Darstellung (mit der Hand oder einem Computer-Programm). Das Grundstück fängt an einer vermessenen Grenze an, und an einer solchen hört es auf. Wenn es vergrößert oder in seinen Ausmaßen verändert werden soll, machen die Nachbarn keinen Kuhhandel; es ist Sache des amt­ lich bestellten Landvermessers, ausgehend von den bestehenden Grenzen, die Eckpunkte für die neuen Grenzen auszumessen und Grenzpunkte oder -steine im Boden zu fixieren. Der geodätische Raum ist schließlich Bemessungsgrundlage für die Festsetzung der Grundsteuer. Wo der Staat und seine Institu­ tionen anstehende Entscheidungen nicht in der Ausschöpfung sub­ jektbezogener Ermessenspielräume treffen (wie in der Sozial- und Familienfürsorge oder dem Strafrecht), sind messbare, zählbare oder wie auch immer quantifizierbare Werte von Belang. Der geodätische Raum gehört zur vermessenen Welt. In reibungsloser Funktionalität folgen darin maschinistisch verzahnte Systeme der Logik quantifizier­ barer Prozesse.

24 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

1.5 Der leibliche Raum

1.4 Der Handlungsraum Die Welt der Systeme wird von Akteuren gelenkt. Sie handeln nach rationalen Kriterien, tun was sich im Wissen um den erwartbaren Lauf der Dinge zu tun gebietet. Auf schwankende Gefühle lassen sie sich nicht ein. Wer subjektiven Gefühle und Empfindungen folgt, agiert wie ein Patheur21 – eine lebendige Person und keine rechnende Maschine. Im architektonischen Entwerfen sind neben Akteurs- auch Patheurs-Kompetenzen von Belang. Nur wer bei der Kreation eines Hauses an die Menschen denkt, die darin wohnen wollen, kann in seinem Tun Erfolg haben. Solange sich jedoch in einer Binnensitua­ tion ingenieurswissenschaftlicher Planung die Aufgabe der statischen Konstruktion des Hauses stellt, sind gleichsam rechnende AkteursQualitäten gefragt. Architekten sind Patheure, indem sie Häuser für darin lebende Menschen entwerfen. Zugleich sind sie Akteure, weil sie Häuser bauen können, die als physische Gebilde gegenüber den gebrauchsbedingten »Zumutungen« ihrer Benutzung standhalten. Kein Hochhaus kann ohne Statiker und Bauphysiker geplant und errichtet werden. In seiner performativen Belebung wird es dagegen von einem Netz widerstreitender Gefühle überspannt.

1.5 Der leibliche Raum Die folgenden Kapitel (2 bis 13) sind dem leiblichen Raum gewidmet. Karlfried Graf von Dürckheim sprach vom Raum »leibhaftige[r] Her­ umwirklichkeit«22, der mit »Vitalqualitäten«23 geladen und der Wahr­ nehmung nicht in Teilen gegenwärtig ist, sondern als »Herumgan­ zes«24. Im Unterschied zum relationalen Raum metrischer Abstände ist der leibliche Raum durch die spürende Erfassung von Eindrücken gekennzeichnet. Die Wahrnehmung geht in ihm nicht analytisch vor, sondern intuitiv und ganzheitlich. Hermann Schmitz spricht auch von »Wahrnehmung mit einem Schlage«25; schon bei Dürckheim hieß 21 Vgl. Hasse: »Stadt« als schwimmender Terminus sowie Hasse: Der pathi­ sche Raum. 22 Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 36. 23 Ebd.: S. 39. 24 Ebd.: S. 37. 25 Schmitz: System der Philosophie, Band III/Teil 1, S. 21.

25 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

sie »schlagartige Wahrnehmung«26. Gemeint ist ein und dasselbe: »Etwas« (das Panorama einer Landschaft oder das eigene Zimmer) ist der Wahrnehmung augenblicklich im Ganzen gegenwärtig. Man »sieht« dann auch, was mit den Augen im engeren Sinne gar nicht zu sehen ist: Die Art und Weise, in der ein gerade spürbar werden­ der Raum erscheint – in einer atmosphärisch angenehmen Wärme oder abweisenden Kälte. Der leibliche Raum verdankt sich seiner spürenden (und nicht seiner rechnenden) Erfassung. Dabei kommt es nicht auf mechanischen Druck, akustisches Hören oder chemisches Schmecken an, sondern auf atmosphärisches Situationsverstehen (s. auch Kapitel 14). Den leiblichen Raum beschreibt Hermann Schmitz so: »Dass der spürbare Leib räumlich ausgedehnt ist, unterliegt keinem Zwei­ fel. Bauchschmerzen und Kopfschmerzen genügen als Zeugnis. Die Ausdehnung ist aber von anderer Art als die der dreidimensionalen Körper, an der sich die etablierte Raumvorstellung orientiert.«27 Außer Schmitz haben auch andere Philosophen, die sich der Bedeu­ tung der Subjektivität im individuellen wie gesellschaftlichen Leben zugewandt haben, Idee und Begriff des leiblichen Raumes ihre Auf­ merksamkeit gewidmet. In besonderer Weise war es Helmuth Pless­ ner, der »die wahre Crux der Leiblichkeit« in ihrer »Verschränkung in den Körper« herausgestrichen hatte.28 Der Mensch hat (s)einen (materiellen) Körper aus Haut und Knochen. Darin bekommt er sich als leibliches Wesen gefühlsräumlich zu spüren: »Mein eigenes Körper-Sein stellt sich mir, dem Subjekt, als ein Konflikt dar, dessen Unlösbarkeit mit der Subjekt-Objekt-Spaltung gegeben ist.«29 Im Heidegger’schen Begriff der »Gegend« kommen Leib und Köper im Herumraum-Erleben zusammen. Eine Gegend ist für ihn nämlich kein topographisch exakt bestimmbarer Raum, der sich einer Reihe von Orten verdankt, die in spezifischen Beziehungen zueinan­ der stehen. »Gegenden werden nicht erst durch zusammen vorhan­ dene Dinge gebildet, sondern sind je schon in den einzelnen Plätzen zuhanden.«30 Das »Umhafte« (als »die Räumlichkeit des innerwelt­

26 27 28 29 30

Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 29. Schmitz: Der Leib, S. 7. Plessner: Gesammelte Schriften III, S. 368. Ebd.: S. 369. Heidegger: Sein und Zeit, S. 103.

26 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

1.5 Der leibliche Raum

lich Zuhandenen«31) zeichnet eine Gegend aus – im Unterschied zur Räumlichkeit eines Lagerplatzes, an dem es auf die metergenaue Platzierung von Gütern ankommt. In einer Gegend hat das Zeug seinen Platz im Dort und Da.32 Der leibliche Raum des Herum ist das Andere jener metrischen Koordinatenwelt, in der in einer Entfernung von genau 1000 Metern z.B. eine Verkehrsampel steht. Der leibliche Raum ist auf ein personales Selbst bezogen. Das darin spürbar werdende Mit-Sein verdankt sich einer Art nonverba­ ler Kommunikation, die Hermann Schmitz »leibliche Kommunika­ tion« nennt. In diesem Sinne »spürt man am eigenen Leibe, was der vielsagende Eindruck zu sagen hat. So verstehen wir in der Wahrnehmung durch Einleibung auch andere Menschen vor jeder Deutung oder Einfühlung, indem wir am eigenen Leibe etwas spüren, was ihm nicht angehört, hier den anderen, oder was dank der leiblichen Kommunikation gewisser­ maßen von ihm ausgeht, nicht viel anders als das Wetter«33.

Partner leiblicher Kommunikation sind aber nicht nur Personen bzw. lebende Wesen, sondern ebenso Dinge wie Bauten, das Geländer aus Holz oder ein aus Stein gemauerter Bogen. Das Konzept leiblicher Kommunikation ist für das Verste­ hen der Eindruckswirkung architektonischer Gebilde von zentraler Bedeutung. »Persönliche« Wohnräume werden gefühlsmäßig erlebt, zugleich aber auch sachlich-nüchtern bewertet. Eine auf den ersten Blick scheinbar allein pragmatische Beziehung nimmt eine erfahrene Architektin ein, die die Wohnräume eines Privatiers nach extravagan­ ten individuellen Gestaltungswünschen umbauen soll. Der Erfolg solcher planenden Intervention verlangt aber einen »siebten Sinn« zur Antizipation von Situationen künftiger Nutzung. Zwar ist der Pla­ nungsraum kein leiblicher Raum erster Ordnung (wer ihn architekto­ nisch entwirft, will ja nicht selbst darin wohnen). Dennoch muss er als Gefühlsraum rational durchdacht werden. Das kann nur gelingen, wenn der Raum als Wohnraum für jemanden antizipiert wird. Pro­ fessionalität impliziert in der Architektur »sachliches« Wissen über die affizierende Wirkungsweise von Raumgestalten und Baumateria­ lien, den Lichteinfall, die Schallausbreitung und das atmosphärische Raumerleben. Beim Entwerfen und Gestalten von Wohnräumen (im 31 32 33

Ebd.: S. 102. Vgl. ebd. Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, S. 40.

27 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

engeren und weiteren Sinne) stellt sich stets eine zweifache Aufgabe: erstens die der Produktion einer materiellen Umgebung und zweitens die der Herstellung eines ästhetischen Milieus. Die Kirchenbauer wussten zu allen Zeiten, dass ihre sakralen Bauwerke einem Zweck dienen mussten und nur von den Menschen angenommen wurden, wenn sie zu diesen auch passten. Kathedrale und Dorfkirche verlangen nicht nur ausreichenden Platz für die Versammlung mehr oder weniger großer Menschenmengen. Die Erfahrung der numinosen Macht des »heiligen Raumes« (Rudolf Otto) setzt vor allem vermittelnde atmosphärische Emissionen voraus – z. B. durch das natürliche Licht, das durch die Kirchenfenster in den romanischen oder gotischen Innenraum fällt: »Das Halbdunkel, dämmernd in hohen Hallen, unter den Zweigen eines hohen Baumganges, seltsam belebt und bewegt noch durch das mysteriöse Spiel des mirum der halben Lichter, hat noch immer zum Gemüte gesprochen, und Tempel-, Moscheen- und Kirchenerbauer haben davon Gebrauch gemacht.«34

Der Raum der liturgischen Versammlung musste als heiliger Raum spürbar werden. In seiner gesamten ästhetischen Erscheinung, in der Helle des Lichts, den Farben der Fenstergläser, der Art und Weise der Schallausbreitung, der Positionierung des Altars und der sugges­ tiven Eindrucksmacht der Vierung entfaltete er eine atmosphärische Ausstrahlung, die das Erhabene ins Numinose steigerte. Der gebaute sakrale Raum war eh und je ein leiblicher Raum mit mythischer Auto­ rität. Im Prinzip stellt sich beim Bau von Wohnungen eine sehr ähnliche Aufgabe. Nur geht es dabei nicht um heilige Mächte und sakrale Zumutungen, sondern um die Sicherung von Gefühlen der Lebenszufriedenheit und Geborgenheit. Deshalb muss die architekto­ nische Gestalt der Räume die Einwohnung ins Vertraute begünstigen – die Einnistung in ein Milieu des Heimatlichen.35

34 35

Otto: Das Heilige, S. 81. Vgl. auch Hasse: Wohnungswechsel.

28 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

1.6 Der prädimensionale Raum

1.6 Der prädimensionale Raum Der leibliche Raum wird in sinnlich herumwirklichen Qualtäten erlebt. In einem spürbaren Herum gibt es kein Norden, Süden, Westen und Osten, sondern ein Oben, Unten, Vorne und Hinten. Spürbar »umwölkende«36 Räume werden nicht nach relationalen Kriterien gleichsam be- oder verrechnet. Das liegt auch daran, dass ein leiblicher Raum keine Flächen, Ecken und Kanten hat. Was Hubert Tellenbach als »Umwölkendes« Herum bezeichnete, beschreibt er an anderer Stelle (mit einem Hinweis auf das japanische »Ki«) als eine umgreifende, das Befinden durchwaltende Macht.37 Die vor dem Hintergrund lebensweltlicher Wahrnehmungs-Routinen schwer zu fassende räumliche Dimension dieses Herum erklärt Hermann Schmitz mit dem Begriff der »Prädimensionalität«. Was er damit meint, »lässt sich leicht an einem flächenlosen Raum […] zeigen, dem Raum des Wassers, wie es dem Schwimmer begegnet, der sich vorwärts kämpft, ohne auf den Wasserspiegel zu blicken oder sich andere Ränder optisch vorzustellen.«38 Als prädimensional wird das Wasser erlebt, das der Taucher um sich herum als eine Masse zu spüren bekommt, die er in ihrer Voluminösität nicht als etwas Gegenständliches wahrnimmt. Prädimensionale Volumen stellen sich der Wahrnehmung als leibliches Herum dar – wie der dichte Nebel, der den Wanderer umgibt. Mit prädimensionalen Raumqualitäten hat es auch die Architek­ tur zu tun. Dabei handelt es sich oft um luzide, fluide Raumeigen­ schaften von auditiver oder illuminativer Qualität. Die Art und Weise, wie ein Raum im Licht atmosphärisch ergreift, wussten die Kirchen­ baumeister zu allen Zeiten. Das Wissen um die affizierende Macht des natürlichen (Sonnen-) wie des künstlichen (Kerzen-) Lichts galt ihnen als eine essentielle Ressource bei der planvollen Herstellung immer­ siver Raumqualitäten. Nur dank einverleibten Wissens gelang ihnen die Herstellung subtiler Eindrucksmomente. Ein lichtdurchfluteter, überaus heller Raum entfaltet im Allgemeinen in weitaus geringerem Maße numinose Eindrucksqualitäten als ein halbdunkler, in dem das Licht dosiert durchs farbige Fensterglas fällt. Ein hell durchleuchteter Kirchenraum vermittelt zwar auch einen voluminösen Raum; aber 36 37 38

Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre, S. 111. Vgl. ebd.: S. 57. Schmitz: Der Leib, S. 7.

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1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

von ihm gehen doch eher nüchterne und sachliche Eindrucksqualitä­ ten aus. Dagegen kommt das Licht eines dämmrig-halbdunklen Sakralraums der Konstitution mystischer Atmosphären entgegen. Es unterstützt deshalb auch die mythische Macht und Zelebrierung von Glaubensritualen. Ähnlich verhält es sich mit der auditiven Qualität eines Raumes bzw. seiner Resonanzfähigkeit gegenüber harten und lauten Tönen und Klängen. Dabei hört sich nicht der Raum laut, leise, gedämpft oder schrill an, sondern das sich in ihm entfaltende prädi­ mensionale Herum.

1.7 Der Weiteraum Der leibliche Raum drückt sich zum einen in Gefühlen der Weite, zum anderen in solchen der Enge aus. Erlebte Weite setzt den breiten und ausgedehnten mathematischen Raum zwar nicht voraus, wenn dieser die Konstitution von Gefühlen der Weite auch begünstigt. Auf einer offenen Lichtung stellen sich entspannende Gefühle der Weite eher ein als solche der Enge. Aber im Moment ängstigender Irritation (z.B. durch den hinter einem Dickicht lauernden Wolf) kann die Weite schnell in Enge umschlagen. Weite ist auch in der Architektur eine gestaltungsspezifische Variable. Das hoch, licht und offen gebaute Foyer eines Hochhauses soll den Eintretenden ja nicht in ein Gefühl unbehaglicher Enge und angespannter Selbstkontrolle treiben, sondern durch entspannende Weite bergen. Beim Betreten der Empfangshalle kommuniziert eine Atmosphäre der Weite die Geste freundlichen Aufgenommen-Werdens und nicht der Abwei­ sung. Schmitz unterscheidet eine Reihe verschiedener Arten der Wei­ tung. Grundlegend ist die »triviale Weitung«, die im alltäglichen Leben meist unbedacht bleibt und sich »aus dem indifferenten, durch­ schnittlichen Fluktuieren der Leiblichkeit abhebt«39. In der »rezepti­ ven Weitung«40 öffnet sich der Leib für das Einströmen der Eindrücke. Die sich schon im entspannten Einschlafen ankündigende Weitung41 mündet in die Auflösung fokussierender Konzentration. Auch große Fenster und weite Ausblicke kommen dem Gefühl der Weite entge­ 39 40 41

Schmitz: System der Philosophie, Band II/Teil 1, S. 75. Vgl. ebd.: S. 76. Vgl. ebd.: S. 83.

30 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

1.8 Der Engeraum

gen. Im Unterschied dazu hat der Blick durch enge Scharten in einen finsteren Hinterhof eher aversiv-beengende Wirkungen.

1.8 Der Engeraum Dem Raum der Enge steht dem der Weite gegenüber. Das Gefühl der Enge ist in der Angst zu Hause, das der Weite in der entspannenden Ruhe der Behaglichkeit. Die Enge zeigt »sich spürbar in dem dumpfen Druck, der gewöhnlich am eigenen Leibe erlebt wird, als etwas, das den ganzen Körper durchzieht.«42 Beengend fühlt sich schon die Irritation an. Die Angst sitzt dagegen in der Enge gleichsam fest. Jemand, der weder ein noch aus weiß, fühlt sich, als stünde er mit dem Rücken an der Wand. Beengend ist schon die Furcht. In der Panik schlägt sie dann in maximale Enge um. Gefühle der Enge keimen aber schon in der aufmerksamen Bündelung der Konzentration, die der Entspannung diametral entgegensteht. Die verspürte Gefahr, dass der einstweilen noch im Versteck sitzender Wolf bald angreifen könnte, geht mit Gefühlen der Enge einher. Unter den Baugestalten geht von einem schmalen Treppenhaus, das vom lichten Erdgeschoss in den dunklen Keller führt, für viele Menschen ein beengendes und ängstigendes Gefühl aus. Auch das nur wenige Quadratmeter kleine Zimmer (vielleicht noch mit einer spitzen Ecke43) kann beengende Wirkung auf das Befinden haben. Enge und Weite unterstreichen eindrücklich die Räumlichkeit der Gefühle. Für jedes dynamische Leben ist der ausgleichende Wech­ sel zwischen Phasen der Weitung und der Engung grundlegend. Beide Exponenten leiblicher Regung »stehen in einem gesetzlichen Zusammenhang […], der das ganze leibliche Geschehen umgreifen kann.«44 Kein Mensch sitzt gewissermaßen für immer und ewig in einem lähmenden Gefühl der Enge fest, wie sich niemand endgültig entspannt ins tiefe und unendliche Blau des Himmels verlieren kann. So bieten auch die meisten Wohnhäuser Orte der Entspannung (die Ecke mit dem Lesesessel), wie solche der Anspannung (der fensterlose Kellerraum mit der störanfälligen Waschmaschine). Ein als behaglich Ebd.: S. 73. Vg. dazu Hasse: Atmosphären der Stadt, S. 101–112. 44 Schmitz: System der Philosophie, Band II/Teil 1, S. 84; vgl. dazu auch Matthies: Leib- und situationsorientierte Gestalttherapie und Psychopathologie, Kapitel 7. 42

43

31 https://doi.org/10.5771/9783495998298 .

1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

empfundener Wohnraum ist eine prädestinierte Sphäre der Weitung ins Entspannende, die Kellertreppe dagegen ein Raum pragmatischer Nüchternheit. Das Hinabsteigen verlangt schon aus Gründen der Vorsicht eine mittlere Aufmerksamkeit.

1.9 Der Richtungsraum In der architektonischen Raumgestaltung gibt es strukturell unter­ scheidungsbedürftige Richtungsarten. Zum einen die Himmelrich­ tungen, die bei der Exposition der Zimmer zu beachten sind (Einflüsse des Klimas und des Wetters). So sind die im engeren Sinne des Wortes verstandenen »Wohn«-Räume einer Wohnung im Allgemeinen der Sonne zu- und nicht angewandt, während die Schlafräume auf der Schattenseite liegen. Die Architektur eines Hauses disponiert auch die Blickrichtungen. Dabei weist der Verlauf des Treppengeländers dem Blick eine andere Richtung als Fenster, die die Aufmerksamkeit in die Umgebung lenken. Der Blick bahnt eine leiblich je spürbare Richtung, die im Erleben des atmosphärischen Raumes wichtig ist. Blicke und Bewegungen folgen leiblichen Richtungen, wie sie sie bahnen. Sie führen unumkehrbar »aus der Enge in die Weite«45. Aus dem Fenster blickt man in die offene Landschaft, sofern sie nicht verbaut ist. Man geht nicht ziellos in die Stadt, strebt vielmehr einem bestimmten Ort zu (der Bäckerei oder der Bibliothek), folgt also einer persönlichen Richtung. Auch die Geste des Zeigens zum Hahn auf der Kirchturmspitze beschreibt eine Bahn im leiblichen Richtungsraum. Es versteht sich aus der Art und Weise bzw. dem Programm dieses Zeigens von selbst, dass solche Richtungen unumkehrbar sind. Wie sollte der Blick auch vom Hahn zum zeigenden Finger zurückkehren. Es gibt schließlich abgründige Richtungen – z. B. der reißenden Schwere im Gefühl der Sturzangst, die sich an der Abbruchkante eines Steilhanges plötzlich in dem Moment einstellt, in dem der Blick unvermittelt in die Tiefe »fällt«. Als abgründig wird dieser richtungsspezifische Blick in die Tiefe erlebt, weil er die »Gewalt einer ihn herabzwingenden Macht«46 unmittelbar zu spüren gibt. Die Sturzangst schlägt dann (nur anders als die Platzangst) als »maß45 46

Schmitz: Der Leib, S. 123. Ebd.

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1.10 Der Bewegungsraum

und strukturlose Weite«47 entgegen. Die Raumängste haben mit geo­ metrischen Maßen nichts zu tun. Vor allem in der Fremde sucht man die objektivierende Orien­ tierung im umkehrbaren Richtungsraum. Zum Beispiel dann, wenn durch eine neu eingerichtete Baustelle ein vielfach gegangener Weg unterbrochen ist und die gewohnte Orientierung versagt. Dann muss sich die Wahrnehmung auf die Logik des mathematischen Raumes der umkehrbaren Richtungen umstellen und an Himmelrichtungen, Navigationsdaten und objektiven Lagen Halt suchen. Dann liegen die nötigen Anhaltspunkte im Raum rationaler Lagebeziehungen, und ein persönliches Ziel muss im mathematischen Raum erst wiederge­ funden werden. In einer solchen Situation »kann der eigene Leib auf den eigenen Körper als ein Ding unter Dingen im Ortsraum bezogen werden«48. Wie Körper und Leib zwei Seiten einer Medaille sind, so auch der mathematische und der leibliche Raum: zu letzterem gehört der Richtungsraum.

1.10 Der Bewegungsraum Kein Bauwerk dient der absoluten Ruhe von Lebewesen oder Gegen­ ständen; viel mehr ihrer Bewegung, wenn diese auch ganz unter­ schiedlichen Rhythmen folgt. Ein Hafenlager dient der temporären Abstellung von Schiffscontainern, ein Park der »dosierten« Bewegung sich entspannender Stadtbewohner, ein Sportstadion dem Wettbe­ werb der Schnellen und Gelenkigen. Schon zu jedem Wohnhaus gehö­ ren höchst unterschiedliche Bewegungsräume (Schlafraum, Küche, Arbeitszimmer, Abstellraum, Keller, WC); in ganz anderer Weise unterscheiden sich Bewegungsräume in der Stadt.49 Es sind vor allem Situationen im Raum, die die Bewegung rhythmisieren. Die Geschäftsfrau plant die Fahrt zu einem Meeting in Kopenhagen nach einem effizienzorientierten Kalkül. Dagegen geht der Flaneur »ästhetisch« (in gewisser Weise unvernünftig) durch die Straßen der Altstadt, denn das Ziel seines Flanierens ist nicht die Ankunft50, sondern das entspannende Hin- und Her-Gehen. Auch 47 48 49 50

Ebd.: S. 122. Ebd.: S. 126. Vgl. Hasse: Die bewegte Stadt. Vgl. Schmitz: Der Leib, S. 124.

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1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

wer wandert, will meistens nirgendwo hin, sondern zum Zweck des Gehens unterwegs sein. Im So-oder-so-Gehen drückt sich nach Michel de Certeau eine Beziehung zu Straße oder Weg aus.51 Erwin Straus hatte zwischen einem historischen und einem präsentischen Raum unterschieden. Im ersten bewegt sich eine Person auf ein Ziel hin – eben dort, jetzt hier, gleich fort. Im zweiten kommt es auf das Gefühl des Drin-Seins an. Nicht auf die Bewegung von A nach B, sondern die Modi der Bewegung und das dabei sich einstellende Gefühl der Bewegtheit.52 In der bebauten Welt gibt es funktionale Räume, die programmatisch der Bewegung durch den Raum dienen (die Straße und der Weg). Daneben werden Räume aber auch pro­ grammatisch für die Bewegung im Raum gemacht (der Stadtpark, der Garten, die Uferpromenade). Schließlich eignet sich der Mensch Räume nach wechselnden Bewegungsbedürfnissen situationsgemäß an: den Strand für das zielstrebensfreie Flanieren, beim Hingehen zu einem Eisstand sodann jedoch in einem zielstrebensorientierten Habi­ tus.53 Die Gestaltung des architektonischen Raumes setzt die Bewusst­ machung aller Bewegungsarten voraus, die in einem Raum geschehen bzw. möglich sein sollen. Ein innerstädtischer Straßenraum wird ver­ kehrsplanerisch wie tiefbautechnisch primär für den fließenden und ruhenden Verkehr gebaut und nicht für das kontemplative Flanieren. Ganz anderen Prämissen folgt die Planung eines Wanderweges, der durch den stadtnahen Park oder den Forst vor der Stadt führt. Eher kontemplative als trajektologische Wege verlangen neben einem gut begehbaren Untergrund auch Orte, von denen aus sich Sichtbeziehun­ gen entfalten können, die das erlebende Subjekt affizieren, animieren und faszinieren.

1.11 Der atmosphärische Raum Charakteristische Beispiele für prädimensionale Räume finden sich u.a. im Bereich der Atmosphären. Diese sind nicht – wie Schachteln, Fässer und menschlicher Körper – durch eindeutig identifizierbare de Certeau: Kunst des Handelns, S. 192. Vgl. Straus: Die Formen des Räumlichen, S. 175–178. 53 Zwischen diesen beiden Formen des Tuns unterscheidet Dürckheim in seiner analytischen Situationspsychologie; vgl. Dürckheim: Erlebensformen.

51

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1.11 Der atmosphärische Raum

Grenzen umschlossen. Atmosphären sind herumwirkliche Milieus, die es nur als Ganzes gibt. Was sie als Ganzes sind, gibt sich in ihrem subjektiven Erleben zu spüren – auf individuellem Niveau mitunter anders als auf dem ihrer kollektiven Wahrnehmung.54 Atmosphären werden mit einem Schlage erfasst – wie ein Tier sein Futter »wittert«55. »Aura« und »Atmosphäre “ sind in ihrem Wesen verwandt. Walter Benjamin knüpft die Aura an das Erscheinen eines originalen Kunst-Gegenstandes – im Gegensatz zu seiner Repro­ duktion.56 Anders als in der Malerei stellt sich in der Architektur das erkenntnistheoretische Problem der Unterscheidung zwischen Original und Kopie eher selten. Die Wahrnehmung architektonischer Bauten erfolgt in anderer Weise als die der Werke der Malerei und der Musik: »Bauten werden auf doppelte Art rezipiert: durch Gebrauch und deren Wahrnehmung.«57 Dabei spielt die Bewegung eine zentrale Rolle. Zwar bewegt auch Musik, und in gewisser Weise ebenso die Malerei. Aber die auditiven wie visuellen Werke der Kunst können nicht durchschritten werden wie ein Haus oder ein Park. Gernot Böhme, der die Phänomenologie der Atmosphären von Hermann Schmitz einem breiteren Rezipientenkreis zugänglich gemacht hat, stellt die mediale Bedeutung der Atmosphären für die Ästhetik spätmoderner Gesellschaften heraus. Atmosphären sieht er als immersive Medien. In diesem Wirkungsmilieu können sie so erfolgreich sein, weil sie als primäre Gegenstände der Wahrneh­ mung58 fungieren. Mit Bezug auf Architektur merkt er an: »Gerade die Architektur produziert in allem, was sie schafft, Atmosphären.«59 Atmosphären stimmen nicht nur den Raum, sondern auch und vor allem das den Raum erlebende Subjekt. Ein Erlebniskaufhaus ist 54 »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahr­ nehmung.«; Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier­ barkeit, S. 14. 55 Vgl. Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre, S. 109. 56 Wenn er dann ergänzend allerdings hinzufügt: »Oder besser gesagt: taktil und optisch« (Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit, S. 40), so trifft das den Kern der Wahrnehmung schon im Allgemeinen nicht, weder der auratischen, noch der atmosphärischen. Was wir allein mit den Augen zu »sehen« glauben, erfassen wir tatsächlich doch simultan zugleich mit den anderen Sinnen – in besonderer Weise (neben dem Tastsinn) mit dem Gehör und dem Geruch. 57 Ebd. 58 Vgl. Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, S. 48. 59 Ebd.: S. 97.

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1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

anders gestimmt als eine Trauerhalle. Aber beide architektonischen Milieus stimmen die sich darin Befindenden – wenn auch auf pro­ grammatisch je eigene Weise. Das atmosphärische Arrangement einer Event-Mall soll die Menschen auf einen möglichst grenzenlosen Konsum einstimmen. Solche Atmosphären folgen der Wirkungslogik einer ästhetischen Ökonomie.60 Eine Trauerhalle umfasst die von Trauer Betroffenen durch eine Atmosphäre der Schwere, auf dass sich die Stimmungen der Menschen in ihrem Tonus absenken mögen. Deshalb spricht Böhme vom »Anflug«61 einer Stimmung, in die man hineingerät. Oft hat man es beim Erleben von Bauten aber gar nicht mit einer bestimm­ ten Atmosphäre zu tun (von Sakralbauten einmal abgesehen, in denen das Numinose als spürbare Anwesenheit »eines Höheren« an Ort und Stelle affiziert), sondern mit der Macht eines Atmosphärischen.62 Hier ist an die Enge oder Weite ebenso zu denken wie an die Kälte, die Fadheit des Lichts oder den Hall der Schritte in einem Flur. Schon die wenigen Beispiele weisen darauf hin, dass es sich bei Atmosphären (wie beim Atmosphärischen) nicht um Dingliches und Feststoffliches handelt, sondern um etwas Flüchtiges, Luzides und wabernd Wechselhaftes. Hermann Schmitz hatte diese Eigenschaften mit dem Begriff der »Halbdinge« angesprochen. Diese stehen zwi­ schen den Dingen und den Qualen in der Mitte.63 Am Beispiel des Windes, der in seinem Wehen ganz aufgeht, wird deutlich, worin der Unterschied zu den feststofflichen Dingen liegt.64 In der Nähe von Hochhäusern machen angreifende Fallwinde darauf aufmerksam, dass auch Architektur mit Wind zu tun hat, den es im Übrigen schon als Durchzug gibt, der in Räumen bei gegenüberliegend geöffneten Fenstern entsteht. Halbdinge sind ferner das Licht, der Schall, der Geruch und das taktile Gefühl, das sich beim Gehen auf einem weichen Teppichboden einstellt, ganz anders als auf einem harten und glatten Fliesenboden.

Vgl. ebd. Böhme: Aisthetik, S. 47. 62 Vgl. ebd.: S. 59ff. 63 Vgl. Schmitz: System der Philosophie, Band III/Teil 5, S. 117. 64 »Der Wind geht in seiner Äußerung, zu wehen, viel mehr auf, als wir bei einem Ding erwarten dürfen.«; ebd.: S. 118. 60 61

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1.12 Der Stimmungsraum

1.12 Der Stimmungsraum Der atmosphärische Raum impliziert eine Fußnote zum Stimmungs­ raum, denn »gebaute« Atmosphären streben in ihrer Funktion die Evozierung von Stimmungen an. Während wir Atmosphären im umgebenden Raum als »umwölkende« (Tellenbach) Anmutungen erleben, haben Stimmungen ihren Raum nicht in einem von jeder­ mann wahrnehmbaren Außen. Nach Otto Friedrich Bollnow ist Stim­ mung (dabei bezieht er sich auf Martin Heidegger) eine »Befindlich­ keit des menschlichen Daseins«65. Stimmungen färben das Erleben der herumwirklichen Welt – in der »guten« Stimmung als etwas Leichtes, Willkommenes und Aufnehmendes, in der »schlechten« Stimmung als Unbehagliches und Abweisendes, in der melancholi­ schen Stimmung eher als Dunkles, Schweres und Niederdrückendes. »In jeder Stimmung ist die Welt schon in einer ganz bestimmten Weise ›ausgelegt‹«66. Stimmung ist im Charakter ihrer Subjektivität ein intensives persönliches Gefühl. Räume, die einer bestimmten Funktion folgen, haben im Allge­ meinen auch eine atmosphärische Ausstrahlung, die dem Programm des Raumes entspricht. So geht von einer Krypta für die meisten Menschen durch die spürbare Gegenwart der Toten eine numinose Atmosphäre ehrfürchtigen Erschauderns aus. Ob das Numinose die den Raum betretenden Menschen aber auch zur Erfahrung des Heili­ gen hin stimmt, hängt ganz von der persönlichen Situation derer ab, die sich in die atmosphärisch so abgründige Welt hineinwagen. Von der Atmosphäre des Wartezimmers eines Zahnarztes geht dagegen eine viel schwächere gefühlsmäßige Emission aus. Dem von üblen Zahnschmerzen geplagten Zeitgenossen wird sie indes schnell zu einem angstbesetzten Milieu des Wartens, das den Leidenden martia­ lisch in die Enge treibt, auch wenn das geplagte Dasitzen nur von kurzer Dauer ist.

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Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, S. 53. Ebd.: S. 57.

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1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

1.13 Der proxemische Raum Die wohl meisten Räume der Architektur haben an irgendeiner Stelle die Qualität eines Nahraumes – oft in Ecken oder Nischen. Diese für eine Person besonders nahen Orte nennt Roland Barthes (mit Bezug auf Edward Hall67) »proxemische Räume«68. Er versteht sie als spezielle Form des territorialen Raumes bzw. als Refugium. Der proxemische Raum ist vor allen Dingen durch bewegungsspe­ zifische Reichweiten (vornehmlich der Taktilität) gekennzeichnet. Beispielhaft ist der nahe Greifraum in der Nähe des Bettes. Proxemi­ schen Raumcharakter hat z. B. der behindertengerecht gestaltete WCRaum. Aber persönliche Räume bzw. auf eine persönliche Situation bezogene Räume sind nicht nur in einer Wohnung anzutreffen, etwa in Gestalt privater Zimmer und anderer intimer Räume. Selbst ein Bahnsteig ist in ausgewiesenen Bereichen ein proxemischer Raum, z. B. innerhalb der gelb markierten Felder in der Nähe des Aschenbe­ chers, wo Fahrgästen der Bahn das Rauchen gestattet ist. An dieser Stelle konstituiert sich im halböffentlichen Raum ein situativ persön­ licher (zugleich oftmals gemeinsamer) Raum, wenn auch nur für die Dauer einer Zigarette. Auch der offizielle Informationsstand im Raum des Bahnhofes, an dem der irritierte Fahrgast – eine Schlange Wartender hinter sich – eine rettende Information erhofft, ist ein proxemischer Raum. Im Moment der individuellen Beratung wird er zu einer quasi-persönlichen Zone, weshalb andere Menschen auch einen respektierenden Abstand halten sollen. Dieser ganz spezielle Kommunikationsraum hat aber – genauer betrachtet – einen zweifa­ chen Situationscharakter, denn hinter einem Glas befindet sich ein Sprecher der Bahn mit seinem rollenspezifischen Helfer-Programm, und vor der Scheibe in einem Außen der Bahnkunde mit seinem aktuellen Problem. In einer ganzen Reihe spezieller Bauten gibt es proxemische Zonen, in denen sich Quasi-Territoriales und vielleicht auch Persönliches abspielt: in einer Kirche sind es Beichtstuhl und Chorraum, im Klassenraum einer Schule ist es der »persönliche« Sitzplatz des Kindes, im Keller die Ecke mit dem Koffer voller wegge­ legter Erinnerungen. 67 In seiner Studie The Hidden Dimension untersucht Edward Hall nach einem anthro­ pologischen und kulturvergleichenden Ansatz die soziale Bedeutung von Räumen der Distanz; vgl. Hall: The Hidden Dimension. 68 Vgl. Barthes: Wie zusammen leben, S. 184f.

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1.14 Der Situationsraum

1.14 Der Situationsraum Der Chorraum einer Kathedrale ist in seiner Ausstattung und Erschei­ nung ein ganz anderer Raum als die Stelle unter der Vierung. In der Art und Weise seiner funktionalen Ausstattung und ästhetischen Inszenierung ist er einer spezifischen Situation gewidmet. Er ist sogar ein »anderer Raum« im Sinne von Michel Foucault69, weil er in seiner Besonderheit allein dem Klerus für rituelle Handlungen dient. Für eine Situation ist aber auch der Abstellraum im Keller des Wohnhauses gemacht, wenn dieser auch keinen heterotopologischen Charakter hat. Er ist in gewisser Weise ein »letzter« Raum, in dem alles mögliche Zeug landet, das dem Sperrmüll knapp entronnen ist. Räume der sozialen Welt sind durch die zu ihnen gehörenden gesellschaftlichen Bedeutungen situiert: »Alles Handeln bezieht sich auf Situationen.«70 Weil Situationen71 »die primären Heimstätten, Quellen und Partner alles menschlichen und tierischen Verhaltens«72 sind, räumt Schmitz ihnen eine erkenntnistheoretisch so zentrale Rolle ein. Da ein jedes Lebewesen in einer mehr oder weniger dynamischen Beziehung zu seiner Mitwelt steht, wechseln mit dem Wandel der Lebensbedingungen auch die Situationen. Die Situation eines Klassenzimmers erlebt ein in der Schule erfolgreiches Kind als einen leiblichen Weiteraum des Wohlbehagens und der Bekräftigung seiner Identität. Für ein Kind, das den Leistungsanforderungen nicht gerecht wird, gibt sich derselbe Raum eher in einer Atmosphäre des Unbehagens und der Zwänge zu spüren. In der Folge wird er als leiblicher Engeraum und Milieu der Destabilisierung der eigenen Identität erlebt. Ob er schön oder hässlich, gemütlich oder nüchtern, hell und eher halbdunkel, sporadisch ausgestattet oder mit Computer­ technologie hochgerüstet ist, hat dabei nachrangige Bedeutung. Wie ein Hallenbad einem ganz anderen Zweck dient als ein Gerichtssaal, so werden beide Orte von einer je eigenen Situation umfasst. Man erkennt eine Situation nach Hermann Schmitz als eine Ganzheit nicht erst nach und nach, sondern gleichsam auf der Foucault: Andere Räume. Rothacker: Philosophische Anthropologie, S. 147. 71 In der Existenzphilosophie des 20. Jahrhunderts wird »Situation« zu einem essen­ tiellen Begriff. »Der unendliche Fluß des wirklichen Geschehens schafft immer neue Situationen«; Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, S. 53. 72 Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 91. 69

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1. Der Raum – eine 15-fache phänomenologische Differenzierung

Stelle. Das liegt daran, dass sich mit einer bestimmten Situation nicht irgendwelche Bedeutungen verbinden, sondern situationscha­ rakteristische. Eine Situation kommt meistens »schon im Augenblick mit ihrer integrierenden Bedeutsamkeit ganz zum Vorschein«73 – wie die eines Hallenbades oder (ganz anders) die eines Gerichtssaales.74 In diesem Sinne merkt Erich Rothacker an: »Er [der Mensch, JH] kann sie durchschauen, aber praktisch bleibt er trotzdem immer darin, weil er mit ihr fertig werden muß.«75 Alles menschliche Tun findet im Raum und in der Zeit statt. Daher sind Situationen raumzeitlich geprägt. Und so sagt schon der Ort, an dem ein Bauwerk zu einer Zeit errichtet worden ist, etwas über dessen Bedeutungen aus. Ein Gerichtsgebäude steht nicht im Stadtwald, sondern an einem zentralen Platz in der Mitte der Stadt. Ein Krematorium darf dort aber nicht stehen, gebietet die Praxis seines Betriebs doch eine gewisse Todes-Verdrängung, zumindest die Verklärung seiner Funktion, die ja unauflöslich mit der wohl abgründigsten Grenzsituation des Menschen verbunden ist. Bauten sind aber auch durch den Zeitgeist disponiert – sowohl im Hinblick auf ihre Funktion wie ihre Ästhetik. Ein Gerichtsgebäude sieht heute anders aus als vor 100 Jahren. Und ein Krematorium wird in der Gegenwart nach anderen emissionstechnischen Standards konzipiert als zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

1.15 Der architektonische Raum Architektur hat existenzielle Bedeutung, denn: »Das Wesen des Bauens ist das Wohnenlassen«76. Und so lassen sich alle hier erörter­ ten Erwägungen zur Ontologie von Raum und Räumlichkeit dem architektonischen Raum unterordnen. In seiner geometrischen Aus­ breitung zwischen Orten ist er mathematischer Raum und in seiner exakten Vermessbarkeit geodätischer Raum. Er ist aber auch leiblicher Raum, der zwischen Weite und Enge erfahren wird. Seine »umwöl­ kenden« Herumqualitäten machen ihn als atmosphärischen Raum Ebd. Schmitz nennt diese die impressiven Situationen. Von diesen unterscheidet er die segmentierten Situationen, die erst schrittweise in der nachvollziehenden Rekon­ struktion implizierter Bedeutungen verstanden werden; vgl. ebd.: S. 91f. 75 Rothacker: Philosophische Anthropologie, S. 157. 76 Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 47. 73

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1.15 Der architektonische Raum

spürbar. Auf einem persönlichen Niveau wird aus dem atmosphä­ rischen Raum ein immersiv affizierender Stimmungsraum. Indem Architekten Räume zielorientiert gestalten, agieren sie im Handlungs­ raum. Voraussetzung für das Gelingen dieser integralen Gestaltungs­ aufgabe ist ein differenziertes Wissen um die Mittel der atmosphä­ rischen Stimmung von Räumen. Daran ist ein Wissen um die subjektiven Modi situationsgebundenen Raumerlebens gebunden.

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2. Wohnen

Wenn es in der Alltagssprache heißt, der Fuchs wohnt in seinem Bau, die Schnecke in ihrem Haus und der Bär in seiner Höhle, dann bringt diese Übertragung eines Wortes aus dem Lebensbereich des Menschen eine Anthropomorphisierung zum Ausdruck. Mit dem »Wohnen« der Tiere wird lebensweltlich etwas assoziiert, das dem Wohnen der Menschen in gewisser Weise ähnlich ist. Die vergleichs­ vermittelnde Bedeutungsübertragung der Metapher führt über ihre Konnotationen zu einer Bedeutungsverschiebung.77 Dem Vergleich, der in der metaphorischen Interaktion konkrete Gestalt gewinnt, liegen keine analytisch reflektierten Ähnlichkeiten, sondern Gefühle zugrunde. Die Metapher gründet nicht in logischen Operationen, son­ dern in einer sprachästhetischen Herstellung von Anschaulichkeit. Ein Überschuss an Bedeutungen, der im subjektiven Wohnerleben wurzelt, ist für die Metapher ebenso charakteristisch wie die Not der Explikation dessen, was die »ungenaue« Essenz des Überschusses ausmacht. Wohnen bedeutet den Menschen gefühlsmäßig mehr als sie in Worten darüber zu sagen vermögen.

2.1 Wissenschaftstheoretische Vorbemerkungen Die Soziologie folgt als paradigmatisch vielstimmige Disziplin in der Analyse gesellschaftlicher Prozesse spezifischen Regeln. In der Formulierung wissenschaftlicher Theorien bewegt sie sich im Unter­ schied zur Alltagssprache nicht im Metier der Metaphern, sondern in dem der unzweideutigen Sätze. Da »wohnen« aber keine Metapher ist, verwundert es, dass sie als gesellschaftsbezogene Wissenschaft vom Menschen nur vage Auskunft über das Wohnen (der Menschen) gibt. So wird im Lexikon der Soziologie von Fuchs-Heinritz u.a. das Wohnen als »historisch und sozial wandelbarer Begriff für die Art 77

Vgl. auch Kambartel: Metapher.

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2. Wohnen

und Weise der Unterkunft« annotiert.78 Die Betonung der Unterkunft setzt einen klärenden und einen irritierenden Akzent. Klärend ist die Reduktion von Bedeutung, irritierend die darin liegende wissen­ schaftliche Selbstbeschränkung, ein sozial, phänomenologisch, poli­ tisch, ökonomisch, kulturindustriell, technologisch und nicht zuletzt soziologisch komplexes Phänomen auf die Ebene der materiellen Rei­ fikation verräumlichender Formen des Lebens (eben die Unterkunft) zu beschränken. Diese Not im Umgang mit einem essentiellen Begriff menschli­ cher Existenz spiegelt sich auch im Schrifttum benachbarter Diszipli­ nen wider. Im Lexikon der Pädagogik von Tenorth und Tippelt gibt es gar keine Abhandlung zum Wohnen, obwohl dessen pädagogische und bildungssoziologische Bedeutsamkeit unbestreitbar sein sollte. Es werden nur zwei abgeleitete Begriffe erläutert: Wohngemeinschaft und Wohnkultur. Zur Wohnkultur werden äußerst knappe Hinweise gegeben, die im engeren Sinne gar nicht die Kultur des Wohnens betreffen, sondern »äußere« Bedingungen des Wohnens, wie Anzahl und Größe der Räume, Hygiene, Sicherheit und kindgerechte Einrich­ tungen.79 Auch die sich sukzessive an die Soziologie annähernde Humangeographie umgeht das Wohnen. An seiner Stelle werden Begriffe wie Wohngebiet, Wohnumfeld, Wohnungsleerstand, Wohn­ raum, Wohnungswirtschaft u.v.a. erläutert.80 In anderen Diskursen zur Stadtforschung rücken Wohnimmobilien, Wohnflächen, Mobili­ tät, Demographie, Bevölkerungsverteilung, Segregation, Migration oder Wohnkultur in den Vordergrund. Das Thema Wohnen im engeren Sinne scheint der Philosophie vorbehalten zu sein.81 Wenn diese Hinweise auch nur den Rang von Indizien haben, so werfen sie doch die Frage nach den Gründen für disziplintheoreti­ sche Immunisierungen gegenüber konkreten Formen menschlichen Lebens auf. Bereits einführend hatte sich an der Metapher vom Wohnen der Tiere zeigen lassen, dass eine gewisse Not »genauen« Sprechens über das Wohnen zum einen in der Kontingenz der sich im Wohnen versammelnden Bedeutungen begründet ist, zum anderen aber auch in der Gefühlsmacht, die sich in (persönlichen wie gemein­ samen) Situationen des Wohnens verdichtet (zum Situationscharak­ ter des Wohnens s. auch 2.6). Ich gehe im Folgenden von der These 78 79 80 81

Fuchs-Heinritz u.a.: Lexikon zur Soziologie, S. 735. Vgl. Tenorth / Tippelt: Beltz Lexikon Pädagogik, S. 779. Vgl. Gebhardt u.a.: Geographie, Band 4, S. 50–52. Vgl. Hahn: Wohnen.

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2.2 »Wohnen« als Thema der Soziologie

aus, dass die Soziologie das Wohnen, anstatt es in seinen subtil ver­ strickten und oft verdeckten Bedeutungen der Reflexion zugänglich zu machen, als lebensweltliches Phänomen gleichsam methodologisch in abstrakte Topoi auflöst und damit als Art und Weise eines sich verräumlichenden Lebens der kritischen Reflexion entzieht. Diese metatheoretische Immunisierung ist durch soziologische Menschen- und Gesellschaftsbilder präjudiziert, deren rationalisti­ scher Zuschnitt eine paradigmatische »Hilflosigkeit« gegenüber der gesellschaftlichen Bedeutung menschlicher Gefühle zugrunde liegt. Das durch die theoretische Ausklammerung entstehende Vakuum füllt sie in der theoretischen und forschungspraktischen Fokussierung von Abstraktionen wieder auf, die in einer objektlogisch darstellbaren Beziehung zum Wohnen stehen und in besonderer Weise mit Hilfe quantifizierender Methoden als »Stoffe« für den wissenschaftlichen Forschungsprozess aufbereitet werden. Ich werde weiter unten zeigen, dass die Soziologie damit die Chance verspielt, auf der Ebene der Mikrologien zu analysieren, auf welche Weise die Subjekte über ihr Wohnen gefühlsmäßig vergesellschaftet werden. Damit wird ein soziologisch bedeutsames Forschungsfeld übergangen.

2.2 »Wohnen« als Thema der Soziologie Eine stadtsoziologische Abhandlung über das Wohnen hat sich zunächst der Verortung ihres Gegenstandes im theoretischen Diskurs der Soziologie zu widmen. Diese einführende Suchbewegung steht aber in der Gefahr, sich in disziplintheoretischen Selbstdefinitionen zu verlieren, denn so wenig sich Soziologie in ihrem Selbstverständnis in einer paradigmatisch und methodologisch homogenen Struktur identifizieren lässt, so wenig lässt sich auch eine in sich geschlossene Stadtsoziologie ausmachen. Frank Eckardt merkt vor dem Hinter­ grund pluraler wissenschaftlicher Diskurse, die sich Fragen der Stadt­ forschung widmen, an, »dass die Stadtsoziologie als eine einheitliche Fachdisziplin nicht besteht und nicht auf eine eigene Tradition zurück­ blicken kann.«82 Nicht zuletzt deshalb soll im Folgenden zunächst eine anthropologische und eine kulturwissenschaftliche Perspektive mögliche Bedeutungen des Wohnens für die stadtsoziologische For­ schung sichtbar machen. Ein dritter orientierender Schritt würdigt 82

Eckardt: Soziologie der Stadt, S. 6.

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2. Wohnen

das Denken Simmels und Webers im Hinblick auf methodologische Akzentsetzungen, die für eine stadtsoziologische Reflexion des Woh­ nens relevant sind. Diese Suchbewegungen werden zunächst nicht systematisch, sondern kontrastierend vorgehen, um die Frage nach dem Wohnen in einer gewissen Mannigfaltigkeit aufmerksamkeits­ lenkender Perspektiven in der Soziologie zu verorten. Resümierende Pointierungen am Ende der folgenden drei Ausblicke sollen Denkho­ rizonte öffnen, deren Bedeutung sich für die stadtsoziologische Betrachtung des Wohnens im Weiteren erweisen wird.

2.2.1 Zum anthropologischen Charakter des Wohnens Die eingangs formulierte These, im Wohnen drücke sich eine spezi­ fische Weise des Menschen aus, sein Leben in Formen der Verräum­ lichung zu führen, ist u.a. Thema der Anthropologie; nicht dagegen die Erklärung von Einrichtungsmoden einer Wohnung oder reprä­ sentativen Kalkülen des Immobilienerwerbs. In großen Werken der Anthropologie steht die Not des »Mängelwesens« Mensch (Gehlen) im Vordergrund, die sich im Haus bzw. der Behausung konkretisiert. In der in sich vielstimmigen historischen Anthropologie kommt eine Aufmerksamkeit zur Geltung, in der »der Mensch zur Welt [spricht] wie die Erde durch den Baum oder der Himmel durch die Götter«83 zum Menschen. Der Regress von Autoren der Anthropologie auf Heideggers Gestell-Metapher und Bollnows Phänomenologie des Raumes weist aber auch auf eine wissenschaftstheoretische »Not« der Anthropologie hin, die nicht Philosophie und nicht Phänome­ nologie ist, sich vielmehr an einer transdisziplinären Schnittstelle konstituiert und – als integrative Disziplin – neben Philosophie, Phänomenologie auch Soziologie ist. Indem sie »Ansatzpunkte für disziplinübergreifende Gespräche und Projekte«84 generieren will, spricht sie an jener imaginären Schnittstelle über den Menschen, an der sich seine naturgegebene Konstitution und kulturelle (Selbst-) Konstruktion überlagern. Der Mensch ist in diesem Fokus das sich wohnend (ver-) bergende und beheimatende sinnliche wie leibliche Wesen. Die Grenze zwischen Anthropologie und Soziologie hat kei­ nen wissenschaftstheoretisch »stabilen« Charakter. So schlägt Arnold 83 84

Eickhoff: Haus, S. 221. Vgl. Bohlken / Thies: Handbuch Anthropologie, S. 6.

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2.2 »Wohnen« als Thema der Soziologie

Gehlen in seiner Seele im technischen Zeitalter in differenzierten sozi­ alpsychologischen Einlassungen auf »Probleme in der industriellen Gesellschaft«85 eine Brücke zur Soziologie. Pointierung: Aus dem Fokus einer methodologisch und para­ digmatisch vielstimmigen Anthropologie findet das Wohnen des Menschen Beachtung als Ausdruck von Selbstbewahrung, Selbstver­ wahrung, Sicherung gegen unwillkommene Ein- und Übergriffe, Beheimatung, sinnlicher Kontemplation, emotionaler Selbstbergung usw. Die Stadtsoziologie profitiert von der Sensibilität der Anthropo­ logie für Schnittstellen, die vor dem Hintergrund innerdisziplinärer Paradigmen der Soziologie kaum in den Blick kommen. Die Anthro­ pologie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, wie sich Individuen in sinnlicher und ästhetischer Weise im Raum der Stadt zu ihrer Natur und deren Vergesellschaftung stellen.

2.2.2 Zum kulturellen Charakter des Wohnens Die kulturwissenschaftliche Perspektive nimmt jene Kräfte in den Blick, die im Rahmen je entwickelter kultureller Bedingungen spezi­ fische Formen des Wohnens als Ausdruck historischer Lebensformen zur Entfaltung bringen. In Kulturen des Wohnens reifizieren sich Bedeutungen, die (sub-) kulturellen Perspektiven zugrunde liegen, wie sie diese generieren. Norbert Elias hat die Aufmerksamkeit lenkende Rolle von Bedeutungen am Beispiel der sich seit dem Mit­ telalter vollziehenden Wandlungen von Esskulturen dokumentiert. Vor allem aber hat er die kulturellen Transformationen sinnlicher Praktiken illustriert, die mit der Stillung naturgegebener Bedürfnisse verbunden waren (Hunger im Bereich der Ernährung) und mit einer Rationalisierung der Affekte einhergingen. Damit lieferte er den Nachweis eines Wandels von Affekt- und Kontrollstrukturen, der über Generationen stets einer Richtung folgte: der »einer zunehmen­ den Straffung und Differenzierung der Kontrollen«86. Die kulturhis­ torische Zurückdrängung und konventionalisierende Disziplinierung der Affekte und sinnlichen Begehren sollte sich zivilisationshistorisch bis in die Gegenwart als Grundlage sich im Allgemeinen entwickeln­ der Lebens- und Denkkulturen verfestigen. Die Ethnopsychoanalyse 85 86

Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, erster Band, S. 11.

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2. Wohnen

macht darauf aufmerksam, dass die kulturhistorisch transformierten Episteme durch gelebte Praktiken in den Rahmen des Selbstverständ­ lichen einsinken, so dass die Gründe von Bedeutungsverschiebungen deren Nach–Denken entzogen sind, auf dass das zugrundeliegende Geschehen durch eine »einfrierende, konservierende Kraft des Unbe­ wußten«87 ausgeblendet wird. Die ethnopsychoanalytische Deutung arbeitet somit am Verstehen gesellschaftlicher Kräfte der Unbewusst­ machung dessen, woran das kollektive Ich an der Realität scheitert. Darin liegt eine politische Dimension, denn: »Das gesellschaftlich Unbewußte ist gleichsam ein Behälter, der all die Wahrnehmungen, Phantasien, Triebimpulse aufnehmen muß, die das Individuum in Opposition zu den Interessen der Herrschaft brin­ gen könnte.«88

Es ist evident, dass sich gerade in der Gestaltung des Wohnens (Schaffung von Schutz-, Schon-, Sicherheits- und Kompensations­ räumen) unbewusst gemachte Bedeutungen widerspiegeln, die auf einem vitalen Niveau als Bedürfnisse lebendig geblieben sind. Diese sind von besonderer soziologischer Relevanz, weil Räume des Woh­ nens ein tendenziell heterotopologisches Gegengewicht zu »öffentli­ chen« gesellschaftlichen Räumen bilden. Deshalb ist das Raumgefüge des Wohnens kulturell auch »porös«. Den Wohnraum des Drinnen bezeichnet Gert Selle als »Echoraum einer Wirklichkeit, die sich als äußere nur darstellt, indem wir sie als solche interpretieren und von einem Inneren getrennt betrachten. […] Das gesellschaftlich-kultu­ relle Außen ist in uns, ehe wir es wissen.«89 Mit der Errichtung einer Wohnstätte konstituierte sich schon jene für das Wohnen charakteristische situative Ambivalenz, nach der die Wohnung nicht nur das Drinnen einer behaglichen Welt vom Draußen einer »rauen« Systemwelt trennt, sondern die Wohnenden gerade durch diese doppelte Relationierung an die Funktionserfor­ dernisse der gesellschaftlichen Systeme anschließt. Im Wohnen kul­ tivieren die Menschen soziale »Immunsysteme«90; je komplexer die Strukturen einer Gesellschaft und je mächtiger die immersiven Kräfte werden, die Grenzen der Wohnung in Gestalt von Mauer, Wand, 87 88 89 90

Erdheim: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur, S. 169. Ebd.: S. 275. Selle: Innen und außen, S. 211. Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, S. 402.

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2.2 »Wohnen« als Thema der Soziologie

Fenster und Tür widerstandslos durchdringen zu können (Internet, Funktelefonie etc.), desto mehr stellt sich das Wohnen in der Aktua­ lisierung situationsadäquater Formen der Immunisierung als eine Aufgabe des Übens91, d.h. der permanenten, kritischen Anpassung von Wohnformen an gesellschaftlich transformierte Lebensformen. Pointierung: Zum einen folgen »Wohnkulturen« lediglich modi­ schen Stilen der Einrichtung. Zum anderen drücken sie verräumlichte Lebensgestalten aus, die durch Bedeutungshöfe ihrer Zeit geprägt sind. Wohnend behauptet sich der Mensch in seiner Kultur, wie er sich mit den Mitteln dieser Kultur im mannigfaltigen Raum der Stadt einnistet. Die Stadt bietet aufgrund der Mentalität ihrer Bewohner die besten Voraussetzungen für die Herausbildung einer kaleidoskopischen Vielfalt von Variationen des Wohnens. Mit Blick auf die Stadtsoziologie verdienen nicht nur ihre »Stile« und Haushalt­ stypen (Einpersonenhaushalt, Mehrgenerationenhaus etc.) Aufmerk­ samkeit, sondern gerade die durch diese Formen bewältigten bzw. unbewusst gemachten Lebenswidersprüche. Wenn eine zentrale Auf­ gabe der Stadtsoziologie darin besteht, die pluralen (sozioökonomi­ schen, technologischen, diskursiven etc.) Kräfte in der Herausbildung gruppenspezifisch differenzierter städtischer Räume zu analysieren, so ent–deckt die kulturwissenschaftliche Perspektive die Dynamik der Transformation und Verschiebung von Bedeutungen, die im gesell­ schaftlichen Leben virulent ist und systemisch gelenk wird.

2.2.3 Zum rationalen und emotionalen Charakter des Wohnens (Max Weber und Georg Simmel) In der folgenden Kontrastierung kommen mit Max Weber und Georg Simmel zwei Klassiker der Soziologie zu Wort. Zur Frage des Woh­ nens haben sie sich nur implizit geäußert. Bei Max Weber ist es die Stadt, die in Wirtschaft und Gesellschaft in ihrer ökonomischen und politischen Bedeutung diskutiert wird. Georg Simmel setzt sich in Die Großstädte und das Geistesleben92 mit der städtischen Lebensform auseinander, die er aufgrund ihres typischen Charakters vom Leben in Kleinstädten und ländlichen Siedlungen unterscheidet. Dennoch soll das stadtsoziologisch relevante Denken beider Autoren zum Anlass 91 92

Vgl. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Vgl. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben.

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genommen werden, kategoriale Aufmerksamkeiten zu erschließen, die für die Profilierung einer differenzierten stadtsoziologischen Reflexion des Wohnens nützlich sein können. In der »Typologie der Städte«93 widmet sich Weber Fragen der Geldwirtschaft im politischen Raum der Stadt. Das Wohnen muss er dabei nicht zum Thema machen, weil er die Stadt unter herrschafts­ theoretischer Perspektive kulturvergleichend betrachtet. In einer Abhandlung über »die Hausgemeinschaft« finden sich indes wenige Hinweise, die in ihrer Grundsätzlichkeit etwas Licht auf sein impli­ ziertes Wohnverständnis werfen. Die Hausgemeinschaft betrachtet er unter dem Aspekt ökonomischer Strukturformen als Wirtschafts­ gemeinschaft. Die Wohnstätte ist darin der Ort der Gemeinschaft: »Dem reinen Typus ist Gemeinschaft der Wohnstätte essentiell.«94 Gemeinschaft steht bei ihm (im Regress auf Friedrich Tönnies und dessen Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft aus dem Jahre 1935) in einer relationalen Beziehung zum Begriff der Gesellschaft. Der Begriff der Gemeinschaft ist in der gegenwärtigen Soziologie aus Gründen seiner Herkunft und seines politischen Ge- und Missbrauchs (Ideolo­ gisierung der Volksgemeinschaft im Dritten Reich) sowie eines ihm anhaftenden Kulturpessimismus auf der einen und Romantizismus auf der anderen Seite diskursiv weitgehend verbannt95, während er in anderen Disziplinen in seinem elementaren Bedeutungskern lebendig geblieben ist (z.B. als Glaubensgemeinschaft in der Theologie). Mit dem Hinweis auf die Wohnstätte als Ort der Gemeinschaft macht Weber auf einen emotionalen Akzent des Wohnens aufmerk­ sam, denn die eine Vergemeinschaftung tragenden sozialen Beziehun­ gen beruhen auf »subjektiv gefühlter (affektueller und traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten«96. Die das Wohnen wesentlich tragenden Gefühle haben die Funktion einer Orientierung des Ver­ haltens der Sozialpartner untereinander. Gemeinschaft setzt also ein verbindendes und koordinierendes Gefühl der Zusammengehörigkeit voraus. Im Unterschied zur Vergemeinschaftung führt Weber Pro­ zesse der Vergesellschaftung auf Formen rationalen Handelns (Wertund Zweckrationalität) zurück. Durch den weitgehenden Verzicht auf den Gemeinschaftsbegriff kommen im gegenwärtigen soziologi­ schen Schrifttum die gefühlsbezogenen Merkmale von Prozessen der 93 94 95 96

Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. 9. Ebd.: 278. Vgl. Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, S. 271. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 29.

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2.2 »Wohnen« als Thema der Soziologie

Gruppenbildung folglich kaum zur Geltung, obwohl sie gerade in der Vergesellschaftung eine wichtige mediale Rolle spielen. Diese Auslassung ist für die stadtsoziologische Konzeptionalisierung des Wohnens als Forschungsgegenstand folgenreich. Schließlich enthält auch Webers Differenzierung nach den Kate­ gorien der Offenheit und Geschlossenheit von Gemeinschaften97 eine Fußnote zum Verständnis unterschiedlicher Formen des Woh­ nens. So ist eine Wohngemeinschaft, zu der sich z.B. Studierende aus pragmatischen und ökonomischen Gründen zusammenschlie­ ßen, in ihren gefühlsmäßig geteilten Übereinkünften des Zusammen­ wohnens offener und unverbindlicher als die einer Gemeinschaft von Mönchen, die sich aus religiösen Gründen versammelt und als Ausdruck habitueller Zusammengehörigkeit in einem Kloster wohnt.98 Während Weber die Oktroyierung von Normen nur unter dem Thema der Vergesellschaftung diskutiert99, gibt es sie doch auch in heterotopen Wohnformen (z.B. Altenwohnstätten, Heimen aller Art, Gefängnissen u.a. Institutionen des Wohnens), in denen Haus- und Anstaltsordnungen die Einhaltung einer äußeren Form des Zusammenlebens sichern und die »Zusammengefassten« sich in die Zwangsgemeinschaft finden und emotional mit ihr arrangieren müs­ sen. Weber interessierte sich nicht unter dem Aspekt des Wohnens für den Unterschied zwischen Formen der Vergemeinschaftung und solchen der Vergesellschaftung, sondern dem der Modalitäten ökono­ mischen Handelns. Dennoch machen seine Differenzierungen auf ein soziologisch relevantes Merkmal des Wohnens aufmerksam: Der Ort und innere Raum des Wohnens fungiert als Weiche der Sozialisation zwischen Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung. Diese Ver­ mittlung gelingt nie in einem rein rationalen Modus. Die Wohnung ist daher auch ein verfassungsrechtlich besonders geschützter, gleichsam »abgedunkelter« Raum, der nicht zuletzt imaginäre Drehscheibe der gefühlsmäßigen Vermittlung der Individuen an die Funktionsansprü­ che der Gesellschaft ist. Weil sich der persönliche Raum des Wohnens als ein von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit getrennter Brutraum der Gefühle erweist, bietet er sich systemisch auch als Wirkungsraum für die immersive, massenmediale Kommunikation von Ideologien 97 98 99

Vgl. ebd.: S. 32. Vgl. dazu Hasse: Unbedachtes Wohnen, Kap. 4.3. Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 36.

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an, die durch Gefühle transportiert werden (im aktuellen Fokus kommt der Ideologisierung der öffentlich-rechtlichen TV- und Rund­ funkanstalten besondere Bedeutung zu). Der Ort der Wohnung ist nicht zuletzt ein Ort ökonomischer Rationalität (Wahl eines Wohnortes wie einer Wohnform). Simmels Philosophie des Geldes macht auf zwei Rationalitäten der sozialen Herstellbarkeit von Bedingungen des Wohnens aufmerksam.100 Zwar bestimmt die kühle Sachlichkeit des Intellekts die Richtungen öko­ nomischen Handelns. Simmel weist aber auch auf die Wichtigkeit des dem Intellekt vorausgehenden Wollens hin und damit auf eine Wechselwirkung zwischen Gefühl und Verstand.101 Für die Stadtso­ ziologie ist die Einsicht in die sowohl emotionale als auch rationale Dimension ökonomischer Entscheidungen auch für die Frage nach dem Wohnen von kategorialer Bedeutung. Die im Wohnen gelebte Brücke zwischen persönlichem und öffentlichem Raum verbindet zugleich die beiden mentalen Dimensionen der Rationalität und Emotionalität. Dabei kann sich die Macht der Gefühle im persönli­ chen Raum »undisziplinierter« entfalten als im rationalistisch und panoptisch beherrschten öffentlichen Raum der Gesellschaft.102 Dies ist wichtig, um psychische Spannungen, die das öffentliche Funktio­ nieren-Müssen hervorbringt, lebensweltlich austarieren zu können. Als phänomenologisch sensibilisiertem Soziologen ist Georg Simmel die Aufspürung von Beziehungen zwischen intellektualisti­ schen und gefühlsmäßigen Verhaltensweisen für das Verstehen kul­ turellen Schaffens (in) der Stadt von Bedeutung.103 Das kommt z.B. in Ausführungen zur Geselligkeit als »Spielform der Vergesellschaf­ tung«104 zur Geltung. Situationen des Wohnens sind prädestiniert für jenen »Einwirkungstausch«, in dessen Rahmen »die ganzen Aufgaben und die ganze Schwere des Lebens sich vollzieht«, so dass in gleichzei­ tiger »Sublimierung und Verdünnung […] die inhaltsbegabten Kräfte der Wirklichkeit nur noch wie aus der Ferne anklingen, ihre Schwere in einen Reiz verflüchtigend.«105 Wenn Simmel das Wohnen auch Simmel: Philosophie des Geldes, S. 668. Vgl. ebd.: S. 663. 102 Detailliert vgl. auch Hasse: Unbedachtes Wohnen. 103 Neckel weist darauf hin, dass mit Simmel »zum ersten Mal in der Geschichte des soziologischen Denkens Gefühle im Zusammenhang mit sozialen Formen alltäglicher Interaktionen thematisiert« werden; vgl. Neckel: Kultursoziologie der Gefühle, S. 126. 104 Simmel: Soziologie der Geselligkeit. 105 Ebd.: S. 205. 100

101

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2.2 »Wohnen« als Thema der Soziologie

nicht explizit als soziale Situation anspricht, so ist die kompensati­ onstheoretische Bedeutung seiner Bemerkungen zur Geselligkeit für ein erweitertes Verständnis des Wohnens doch evident. Wohnend entlastet sich das Individuum von den Kräften, die aus den Bindungen in und an die Gesellschaft resultieren. Wo bei Max Weber Gefühle die Basis für Vergemeinschaftungen bilden, kommen sie bei Simmel als Brücken der Vergesellschaftung zur Sprache. Ein Schlüsseltext der Stadtsoziologie ist der 1903 erschiene Aufsatz über Die Großstädte und das Geistesleben. Darin stellt Sim­ mel psychologische Merkmale heraus, die die soziale Konstitution von Urbanität als einer Lebensform verständlich machen, welche nach Simmel erst durch verstandesmäßige Distanziertheit ein weit­ gehend konfliktfreies und friedliches Mit- und Nebeneinander im sozialen Meer der Vielen verbürge. Die großstädtische Lebensform ist aufgrund dieser Eigenschaften robust gegenüber Affizierungen durch mannigfaltige, widersprüchliche und sinnlich dichte Eindrü­ cke der Großstadtkultur und -ökonomie. Nun sind Gleichgültig­ keit, Reserviertheit, Blasiertheit106, Aversion usw. als Dispositionen der Abschirmung durch »Unpersönlichkeit« aber keine rationalen, sondern emotionale Kategorien. Der Großstädter steht zwar auf dem Boden einer intellektualistischen Grundhaltung, weil ihm die »Hypertrophie der objektiven Kultur«107 keinen hinreichenden Spiel­ raum für die Entfaltung seiner individuellen Kultur lässt. Aber er muss und kann diesen hinzunehmenden Verzicht doch nur emotional bewältigen. Darin liege »ein Grund des Hasses, den die Prediger des äußersten Individualismus, Nietzsche voran, gegen die Großstädte hegen, aber auch ein Grund, weshalb sie gerade in den Großstädten so leidenschaftlich geliebt sind«108. Die Großstadt erscheint als sozialer Raum der Toleranz und deshalb als Raum äußerster emotionaler Spannungen. Dem großstädtischen Wohnen fällt vor diesem soziolo­ gischen Hintergrund eine sozialpsychologisch entlastende Funktion zu, in deren Dienst auch die Geselligkeit steht. Die Wohnung ist eine insulare Ruhe-, Entspannungs- und Kompensationswelt. Im Medium des Geldes bietet die Kulturindustrie Sublimierungs- wie Entlas­ tungsdinge und -dienstleistungen an, um systembedingte Zumutun­ gen im Bereich der Arbeit wie der gesellschaftlichen Organisation 106 107 108

Vgl. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 123. Ebd.: 132. Ebd.

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des Lebens wohnend abzufedern, aber auch durch Distinktionseffekte zu steigern. Pointierung: In je eigenen Perspektiven machen Max Weber wie Georg Simmel – auf eine hochkomplexe Dynamik von Gefühl und Verstand aufmerksam, aus deren Spannung die Individuen ihre (Stadt-) Gesellschaft leben – als ein »Pulsieren, das die Individuen verkettet«109. Wenn bei Simmel wie bei Weber der Verstand auch im Vordergrund steht, so ist diese Priorisierung nur begrenzt den behan­ delten Gegenständen geschuldet, vielmehr Ausdruck einer Methode von Wissenschaft im Allgemeinen. Eine Essenz der zivilisationshis­ torischen Rekonstruktionen von Norbert Elias lag in der Einsicht, dass sich eine Kultur der Distanzierung auch in die methodologische Struktur der Wissenschaften durchschreibt: Das Abstrakte ist das der Wissenschaft Würdige, das sinnlich und emotional gleichsam »roh« im Leben Anstehende wird erst durch seine abstraktionistische Ver­ edelung zu einem »brauchbaren« Gegenstand. Diese Hochschätzung des Abstrakten bei gleichzeitiger Subsidiarisierung der Gefühle und der Sinnlichkeit sollte sich lebensweltlich und im paradigmatischen Aufbau der Sozialwissenschaften bis in die Gegenwart verfestigen.110 Sie wird sich auch in der epistemischen Struktur widerspiegeln, die das Wohnen als Gegenstandsbereich der Wohnsoziologie konstituiert. Die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft besteht nach Simmel darin, die Formen der Wechselwirkung unter Individuen und sozia­ len Gruppen zu beschreiben.111 Diese Aufgabe verlangt nach analy­ tischen Suchbewegungen in Zwischenzonen: Vergemeinschaftung hier, Vergesellschaftung dort, Gefühle auf der einen, Verstand auf der anderen Seite, Lebenswelt zum einen, Systemwelt zum anderen. Städte sind (als Wohnräume) mit der Wohnung nicht nur funktional,

Vgl. Simmel: Das Gebiet der Soziologie, S. 213. Mit Recht weisen Jensen und Morat darauf hin, dass die kulturelle Wertschätzung gegenüber menschlichen Emotionen historischen Wandlungen unterworfen ist und war. Wenn sie jedoch Durkheim, Weber und Simmel zu Gefühlstheoretikern stilisie­ ren, dürfte darin eine massive Überbewertung zum Ausdruck kommen; vgl. Jen­ sen / Morat: Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen, S. 28. Die Soziologie kann sicher nicht als eine jener Disziplinen angesehen werden, die der Bedeutung der Emo­ tionen im gesellschaftlichen Leben eine besonders herausgehobene Aufmerksamkeit gewidmet hat (ganz im Unterschied zu großen philosophischen Theorien zur Ästhetik etwa von Lipps (Ästhetik), Volkelt (System der Ästhetik) sowie zur Theologie von Jungmann (Aesthetik). 111 Vgl. Simmel: Philosophie des Geldes, S. 224. 109

110

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2.3 Der Fokus der Wohnsoziologie

sondern auch affektiv vernetzt.112 Utilitäre Räumen sind stets auch ästhetische Erlebnisräume. So vollzieht sich das Wohnen als prädes­ tiniertes Prozessfeld jenes »Einwirkungstauschs« (Simmel), worin abstrakte Kommunikationsmedien wie das Geld steuernde Funktion in der wohnenden Vermittlung der Individuen in die Gesellschaft erfüllen und damit Rationalität wie Emotionalität nach kulturellen Standards »einstellen«.

2.3 Der Fokus der Wohnsoziologie Der Gegenstand der Wohnsoziologie ist theoretisch nicht eindeutig abgegrenzt. Schon der Umstand, dass Wohnformen gesellschaftlich vermittelt und in den vielfältigen Erlebnisperspektiven Wohnender flüssig sind wie Lebensformen und Sinnhorizonte, verlangt von der Wohnsoziologie immer wieder aufs Neue die theoretische Aktualisie­ rung ihres Gegenstandes. Da die räumliche Trennung von Arbeitsund Wohnstätte im Zuge der Industrialisierung das Wohnen erst zu einem eigenen Thema der Soziologie gemacht hat113, tritt ein spezieller Begriff des Wohnens in den Vordergrund, den Häußermann und Siebel am Charakter der Wohnung als »Ort der Nicht-Arbeit« festmachen.114 Wohnen wird so zu einer Lebens- und Aufenthalts­ form, die in Abhängigkeit von der sozialen und ökonomischen Welt der Arbeit steht. Im Mittelalter wohnten Aristokraten allerdings in herrschaftlichen Gemächern, ohne im engeren Sinne zu arbeiten. Über ostentative Bau- und Raumästhetisierungen brachten sie ihre sozioökonomische Sonderstellung zur Geltung. In habituellen Prak­ tiken und repräsentativen Gesten wurden Inklusions- und Exklusi­ onseffekte durchgesetzt, die dieser ästhetischen Form des Wohnens bedurften. Und noch in der Gegenart erfüllt der »Stil« des Wohnens (gewollt wie ungewollt) die Funktion der Selbst- und Fremdzuschrei­ bung von (soziokultureller wie -ökonomischer) Identität. Wenn die Menschen auch einen großen Teil ihres außerberufli­ chen Lebens (tageszeitlich wie lebenszyklisch) am Ort der Wohnung verbringen, so lässt sich Wohnen soziologisch doch nicht als das funktional und räumlich Andere des Arbeitens definieren. Die Art und 112 113 114

Vgl. Hasse: Einführung (Die Stadt als Wohnraum). Vgl. Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, S. 984. Häußermann / Siebel: Soziologie des Wohnens, S. 73.

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Weise, wie Menschen ihr Leben raumzeitlich organisieren, eröffnet u.a. Spielräume der kreativen Synthesen von Wohnen und Arbeiten – in der Zeit digitaler Vernetzung mehr denn je. So werden zahllose freiberuflich Arbeitende nicht schon deshalb als Nicht-Wohnende bezeichnet werden dürfen, nur weil sie in den Räumen, in denen sie ihrer Arbeit nachgehen, zugleich wohnen und, mehr noch, die Art und Weise an diesem Ort zu arbeiten, als Moment ihres Wohnens begrei­ fen. Dennoch »verstoßen« sie rein lebenspraktisch gegen eine DINNorm des Wohnungsbaus115, wonach sie ihre Lebenspraxen räumlich zu segmentieren hätten (Räume für berufliche Arbeit zählen danach nicht zur Wohnfläche). Die Heimarbeit (die das Wohnen durch die internetbasierte Kommunikation immersiv mit Arbeit »verfremdet«) stellt die Frage nach dem Wohnen zwischen Selbstbehauptung und Zwangsverortung in neoliberalisierten Gesellschaften in einen öko­ nomischen Rahmen. Schließlich sind die Umstände noch undeutlich erkennbar, unter denen sich die Bedingungen des Wohnens zukünftig verändern werden. Diese dürften sich auf dem Hintergrund eines globalisierten und neoliberalisierten Kapitalismus sozioökonomisch stärker differenzieren als in der Vergangenheit. Corona-bedingte Umplatzierungen von Arbeitsstätten in den Bereich des sogenannten »Home-Office« haben hier neue Realitäten geschaffen. Geraden diese haben die Dynamik affektiver wie atmosphärischer Bedeutungen des Wohnens auf der Grenze zu systemisch organisierten Welten (insbesondere der Arbeit) deutlich werden lassen. Die Soziologie wird die sich auch in Zukunft zeigenden (Um-)Brüche in der Verzahnung von Wohnen und Arbeiten theoretisch und forschungsmethodisch nur fruchtbar der Analyse zuführen können, wenn sich ihr Wohn-Ver­ ständnis gegenüber neuen emotional akzentuierten Bedeutungsord­ nungen öffnet. Nach Siebel und Häußermann muss die Soziologie des Wohnens »die Tatsache der sozialen Bedingtheit, des historischen Geworden­ seins und damit auch die künftige Wandelbarkeit ihres Gegenstan­ des analysieren.«116 An anderer Stelle präzisieren die Autoren die daraus resultierenden Forschungsfragen: (1.) Was tut man, wenn man wohnt? (2.) Wer wohnt mit wem zusammen? (3.) Wie wird Wohnen erlebt? und (4.) Wie kommt man zur Wohnung?117 Entsprechend breit 115 116 117

Vgl. Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2009, S. 283. Häußermann / Siebel: Soziologie des Wohnens, S. 72. Vgl. ebd.: 15.

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2.3 Der Fokus der Wohnsoziologie

angelegt sind die Themen einer Soziologie des Wohnens: (a) Wohnen in der Großstadt, wobei die sich verändernden ökonomischen, kultu­ rellen und technologischen Bedingungen der Vergesellschaftung eine zentrierende Rolle spielen; (b) Wohnen in seiner Abhängigkeit von Gesellschaftsformen; (c) Wohnen im Rahmen ethnischer Determi­ nanten; (d) ästhetische Ansprüche an die Lage und innere Gestaltung der Wohnung; (e) rechtliche Verfügbarkeit über die Wohnung (Eigen­ heim vs. sozialer Wohnungsbau); (f) Sozialstruktur des Wohnum­ feldes; (g) ökologischer Umbau des Wohnungsbestandes und seine Bedeutung für die Selbstentfaltung der Wohnenden; (h) Wohnen und Geschlechtlichkeit (Gender); (i) Wohnen im Lebenszyklus (z.B. demographischer Wandel); (j) neue Haushaltstypen; (k) Wohnen als symbolisierender Lebensausdruck.118 Durch zahlreiche weitere Themen und Fragestellungen könnte die Liste forschungsrelevanter Konzeptionalisierungen des Wohnens ergänzt werden – vom Woh­ nen Wohnungsloser, über das Wohnen unter restriktiven Rahmenbe­ dingungen in heterotopen Institutionen des vorübergehenden oder dauernden Aufenthalts (Wohnen im Altenheim, in der Seemanns­ mission, im Gefängnis, in Einrichtungen betreuten Wohnens, provi­ sorisches Wohnen in Flüchtlingsunterkünften, »fahrendes« Wohnen auf Schiffen, räumlich entbundenes Wohnen auf Offshore-Plattfor­ men) bis hin zu alternativen Wohnformen. Die Beispiele machen nicht nur die Vielfalt eines Forschungsfeldes deutlich, sondern auch seine extreme Wandelbarkeit als Folge historisch-gesellschaftlicher Veränderungen des Lebens. Wohnen stellt sich somit weniger als ein eigenständiges soziales Ereignisfeld dar, denn als verräumlichender Ausdruck im Wandel befindlicher Lebensformen. Auch nach Hill­ mann sind Themen der Wohnsoziologie gesellschaftliche Prozesse der räumlichen Organisation individuellen wie gruppenspezifischen Lebens (z.B. im Kontext von Prozessen der Individualisierung, Ver­ städterung, des demographischen Wandels, der Segregation und der verschiedenen Gesellschaftsformen).119 Die Fokussierung utilitärer und funktionaler Aspekte des Woh­ nens resultiert nicht a priori aus wissenschaftlich vereinseitigen­ den Sichtweisen. Sie ist vielmehr wissenschaftshistorisch mit dem Aufkommen der wohnsoziologischen Fragestellung im Industriali­ 118 In Anlehnung an den Aufbau der Einführung von Häußermann und Siebel vgl. ebd. sowie Häußermann und Siebel: Wohnen und Familie. 119 Vgl. Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, S. 984.

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sierungsprozess verbunden, also Reflex auf eine verbreitete gesell­ schaftliche Not des Wohnens, die in der Gegenwart als Zeichen einer Neoliberalisierung globaler Arbeitsmärkte, verbunden mit einer sozioökonomischen Verschlechterung der Lebenssituation immer breiterer Bevölkerungsschichten unter veränderten Bedingungen wiederkehrt. Am Beginn der wohnungssoziologischen Forschung waren es die inhumanen Wohnzustände zur Zeit der Industrialisie­ rung, die lebensweltlich spürbare Lösungen verlangten120 und wenig Denkraum für eine geisteswissenschaftliche »Hinterfragung« des Wohnens ließen. 121 In der Gegenwart kann die Wohn- und Stadtso­ ziologie auf ein breites Spektrum interdisziplinärer Theorieansätze zurückgreifen, um im Umbruch befindliches Wohnen einem umfas­ senderen Verständnis zugänglich zu machen. »Literatur über ›das Wohnen‹ ist in unübersehbarem Umfang auf zahlreichen Betrachtungsebenen vorhanden«, heißt es schon in dem 1969 erschienenen Wörterbuch der Soziologie von Bernsdorf.122 Wohnsoziologie sei »wegen der komplexen Natur des Wohnens in Verbindung mit benachbarten soziologischen Disziplinen zu betrei­ ben.«123 Mit der Veränderung des Wohnens wandeln sich auch die Forschungsfragen und mit jedem Paradigmenwechsel die Forschungs­ perspektiven und methodologischen Präliminarien. So nennt das­ selbe Wörterbuch – im Unterschied zu aktuellen Nachschlagewerken – die Forschungsaufgabe der »Wohnsituationsuntersuchungen«, mit deren Hilfe die Befunde quantitativer Forschungen durch Analysen 120 Angesichts äußerst defizitärer Wohnsituationen der »kleinen Leute« stellt sich für Victor Aimé Huber Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage nach dem Wohnen aus einer tiefgreifenden Differenz zum Wohnen des Großbürgertums. Deshalb spricht er das Wohnen als existentielle Frage an, als eine »Umhüllung des Leibes«, die Bedingung eines gedeihlichen Lebens sei (die »Wohnung ist der Leib der Familie«); vgl. Huber: Die Wohnungsnot der »Kleinen Leute«, S. 54. 121 So fand am Beginn des 20. Jahrhunderts die Einrichtung einer Wohnung bzw. eines Wohnhauses auf diesem historischen Hintergrund sozialwissenschaftliche Beachtung. Die Wohnung sollte zweckmäßig, einfach, sauber und gediegen sein. In der Lebensreform drückte sich zugleich eine Kritik an der großbürgerlichen Ästhetik des Jugendstils aus. Im Neuen Bauen treten schließlich in der Schaffung von Woh­ nungen die Prinzipien der Einfachheit, Klarheit, Zweckmäßigkeit deutlich hervor. Zweckmäßiges Wohnen galt als gesund, praktisch und behaglich; vgl. Buchholz / Ulmer: Reform des Wohnens, S. 547. 122 Bernsdorf: Wörterbuch der Soziologie, S. 1306. Auf eine große theoretische, for­ schungsmethodische und thematische Vielfalt der wohnsoziologischen Forschung weisen Anfang der 1980er Jahre auch Breckner u.a. hin. 123 Vgl. ebd.

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2.3 Der Fokus der Wohnsoziologie

»der sozialen Situation der Bewohner«124 ergänzt werden sollen. Der Begriff der Situation (s. auch 2.6) steht in der Soziologie heute über­ wiegend im Rahmen eines konstellationistischen, system- und hand­ lungstheoretischen Menschenbildes. Damit rücken rationale Strate­ gien in den Vordergrund. Dagegen verweist der Situations-Begriff auf die ganzheitliche Verklammerung von Lebensbedingungen und deren affektlogische Konstitution. Die paradigmatische Konzentration der Soziologie auf Handlungen und systemische Konstellationen blen­ det folglich den situativ gelebten Raum selbst da aus, wo er durch gesellschaftliche Konstruktionen für bestimmte Formen des Wohnens disponiert wird. Es ist wissenschaftshistorisch bemerkenswert, dass Alphons Silbermann in einer empirischen Studie zur Wohnsoziologie kurz nach dem zweiten Weltkrieg die Grenze zwischen Wohnerleben und Wohnhandeln zum Gegenstand der Analyse machte. Neben üblichen statistischen Erhebungen rückt darin die Dimension des Wohnerleb­ nisses in den Mittelpunkt.125 Die der Studie zugrundeliegende Frage »Warum wohnen die Menschen so, wie sie wohnen, und mit welcher Wirkung?«, lässt Sensibilität gegenüber dem menschlichen Erleben erkennen. Es geht ihm indes weniger um die subjektive Perspektive des Erlebens, als um die Herausarbeitung der »sozialbestimmenden Faktoren«126 des Wohnens.127 Das Wohnerlebnis versteht er als einen sozialen Prozess, der durch Aktion, Wirksamkeit und Interaktion »zwischen Individuen und Gruppen, die miteinander in Berührung kommen«128, bestimmt ist. Wenn der Studie auch eine qualitative Analyse zugrunde liegt, so rücken doch in der Darstellung die Befunde einer soziologischen Mikrologie wohnender Vergesellschaftung in den Mittelpunkt. Die 1993 von Silbermann publizierte Arbeit über »das Wohnerlebnis in Ostdeutschland« bietet eine Aktualisierung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Lebensbedingungen als Folge des Aufgehens der DDR in der BRD.129 Die sich wenig später anschlie­ ßende Arbeit über »die Küche im Wohnerlebnis der Deutschen«130 bietet vor allem in ihrem kulturhistorischen Teil einen differenzierten 124 125 126 127 128 129 130

Bernsdorf: Wörterbuch der Soziologie, S. 1308. Silbermann: Vom Wohnen der Deutschen. Ebd.: S. 18. Vgl. ebd.: S. 19. Ebd.: S. 17. Vgl. Silbermann: Das Wohnerlebnis in Ostdeutschland. Vgl. Silbermann: Die Küche.

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2. Wohnen

Einblick in die Lebensbedeutsamkeit der Küche als besonderem Raum des Wohnens.131 Die Studien Silbermanns tragen dem Umstand Rechnung, dass das Wohnen nur unter pluralen Perspektiven betrach­ tet werden kann. Wohnen sei (a) eine individuelle, (b) psychologische, (c) physiologische, (d) soziale, (e) sozio-kulturelle132) und schließlich (f) eine soziologische Angelegenheit.133 Sein Forschungsinteresse richtet sich auf die Analyse von »Verhaltensweisen, wie sie sich tagtäg­ lich vor uns abspielen.«134

2.4 Zur Ontologie des Wohnens Während Silbermann in seiner forschungsprogrammatischen Aus­ richtung Erlebnis- und Verhaltensweisen (des Wohnens) fokussiert, sind in der gegenwärtigen Wohnsoziologie handlungstheoretische und funktionalistische Orientierungen aufmerksamkeitslenkend. Gleichwohl geht nicht alles, was Menschen als »Wohnen« erleben, auch in Funktionen und Handlungen auf. Daher merken Häußermann und Siebel an, das »dominant gewordene Wohnmodell verkürzt Wohnen auf eine Summe von addierbaren Funktionen. Aber Wohnen ist vermischtes Tun.«135 Der Begriff des Tuns stellt das Verhalten des Menschen konzeptionell zwar in einen weiteren Zusammenhang, in dem es auch nicht-intentionale »Aktivitäten« gibt. Gleichwohl steht der Begriff des Tuns abermals für ein eingeschränktes Verständnis des Wohnens. Wenn sich Wohnen als verräumlichender Ausdruck eines stets individuellen und darüber hinaus durch Sozialisation vergesellschafteten Lebens verstehen lässt, so überschreitet sich im Wohnen das menschliche Tun. Zwar tun Menschen als Wohnende dies und jenes, wenn sie die Wohnung betreten und die Tür hinter sich schließen, wenn sie in der Küche das Essen zubereiten, intimen Bedürfnissen nachgehen, die Zeitung lesen oder »nichts« tun. Diese 131 Die sog. »Frankfurter Küche« verband mit der »Durchreiche« nicht nur Wohn­ zimmer und Küche; als Folge der Raumgestaltung wurde ein geschlechtsrollenspezi­ fisches Bild der Frau über ein Gestaltungsmerkmal der Wohnräume manifestiert; vgl. ebd.: S. 215. Zur soziologischen Bedeutung spezifischer Küchenarchitekturen vgl. auch Selle: Innen und außen. 132 Vgl. Silbermann: Das Wohnerlebnis in Ostdeutschland: S. 29f. 133 Vgl. ebd.: S. 9. 134 Ebd. 135 Häußermann / Siebel: Wohnen und Familie, S. 184.

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2.4 Zur Ontologie des Wohnens

Tätigkeiten setzen aber ein ganzheitliches Verständnis des Wohnens voraus, mit anderen Worten: (Vermischtes) Tun wird durch die beson­ dere Daseinsform des Wohnens erst ermöglicht. Dasein erschließt das menschliche Sein als Existenz »in der Welt«. Im Dasein aktualisieren sich konkrete Seinsmöglichkeiten, deren Erschlossenheit durch Befindlichkeit und Verstehen gekenn­ zeichnet ist.136 Seines eigenen Daseins wird der Mensch sich spürend (in Befindlichkeiten) gewahr, aber auch denkend und wissend (durch Erkennen und Verstehen). Es vollzieht sich in der Grundverfassung einer vorgängigen Interpretation als In-der-Welt-sein.137 Das phä­ nomenologische Denken Heideggers stellt das Wohnen in einen lebensphilosophischen Zusammenhang, aus dem heraus es als Aus­ druck verstanden werden muss, ein Leben zu führen. Im Dasein drückt sich eine Ermöglichung bestimmten Tuns aus, deren Spektrum u.a. wohnend ausgeschöpft wird. Im In-der-Welt-sein des Daseins aktualisiert sich die räumliche Verortung des Menschen, die zur leiblichen Seite ebenso orientiert ist wie zur denkenden Erschließung subjektiv und gruppenspezifisch bedeutsamer Weltgegebenheiten. Der räumliche Charakter des Da-seins konstituiert sich so auch nicht allein im »eingeräumten« Herum einer Gegend (der Wohnung wie der bewohnten Stadt), sondern auch in der »Verräumlichung des Daseins in seiner ›Leiblichkeit‹«138, d.h. in einer in subjektivem Befinden spürbar werdenden Räumlichkeit der Gefühle (z.B. der Enge und der Weite). Wohnendes Dasein reflektiert sich aus der Perspektive des Dort, um als Wunsch, Programm oder Sorge ins Hier zurückgespiegelt zu werden; Wohnen ist »besorgendes Sein«139. Die Bezugspunkte des Besorgens resultieren aber doch wesentlich aus gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Lebens. Der ökonomische und kulturelle Ort der Wohnenden disponiert die lebenspraktisch realisierbaren Optionen eines So- oder Anders-Wohnens in sozialen Bezugssyste­ men. Die tatsächliche Lebenslage bildet zugleich einen mythischen Nährboden für die Bildung von Imaginationen, die das dauerhafte Gefühl des Mangels eines Nicht-wohnen-Könnens durch Unbewusst­ machung erträglich machen. Wohn- und stadtsoziologisch bahnt der Blick auf das Wohnen als »besorgendes Sein« die wissenschaftliche 136 137 138 139

Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 184. Vgl. ebd.: S. 62. Ebd.: S. 108. Ebd.: S. 107f.

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2. Wohnen

Reflexion gelebter gesellschaftlicher Widersprüche im physischen, leiblichen und symbolischen Raum des Wohnens an. In seinem in der Architekturtheorie viel beachteten Vortrag Bauen Wohnen Denken kommt das Thema der Sorge als zwischen Selbst und Welt vermittelnde Anstrengung zur Sprache – als Aufgabe, das Wohnen zu bedenken. Dieses versteht sich lebensweltlich zwar von selbst; indem es aber in Bezügen »des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht«140, steht es unter einer ethischen141 Verantwortung: »Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben.«142 Wenn Heidegger schließlich resümiert, die Sterblichen müssen »das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, daß sie das Wohnen erst lernen müssen«143, dann kommt es als Dasein zur Geltung, in dem bestimmte – eben für das Wohnen charakteristische – Formen einräumender Beziehungen zur Selbst- und Mitwelt erst gefunden werden müssen. Wohnen wird damit zu einer anthropotechnischen Aufgabe (Sloterdijk) des Übens (s.o.). Für die Wohnsoziologie folgt daraus die Aufgabe, nicht nur das sich im Raum (der Stadt) reifizie­ rende Wohnen zum Thema der Forschung zu machen, sondern ebenso das Üben des Wohnens selbst, d.h. die Praktiken, wie Menschen ihr Wohnen arrangieren, sich in ihrem Wohnen situieren, wie sie sich Räume erschließen, aber auch, wie sie zugewiesene Räume im Netz gesellschaftlicher Institutionen bewohnen und auf welche Weise kulturindustrielle Mechanismen die Suche nach Orientierun­ gen erwünschten Wohnens lenken – und am Boden des individuell Machbaren halten.

2.5 Wohnen in der (soziologischen) Stadtforschung Die Frage nach dem Wohnen steht in der Mitte der Stadtsoziologie, denn Menschen wohnen nicht nur in Wohnungen; erweiterter Wohn­ raum ist auch die Stadt. In Städten, in denen gegenwärtig mehr als Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 45. Die auf die Schonung in ihren ethischen Implikationen bezogene Metapher des »Gevierts« soll an dieser Stelle nicht kommentiert werden; vgl. dazu auch Hasse: Unbedachtes Wohnen, Kap. 3.5. 142 Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 48. 143 Ebd. 140 141

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2.5 Wohnen in der (soziologischen) Stadtforschung

50 % der Weltbevölkerung leben, führen die Menschen ihr Leben anders als in zentrumsfernen ländlichen Räumen, wo »Hase und Igel sich gute Nacht sagen«. Umso denkwürdiger ist der Umstand, dass das Wohnen im Kontext der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung hinter vermeintlich »soziologischeren« Themen deutlich zurücktritt. Wenige Beispiele: (a) In dem von Heitmeyer herausgegebenen Buch über Die Krise der Städte144 gibt es keinen Beitrag zum Wohnen im engeren Sinne (Themen sind ethnische, rassistische und kulturelle Konflikte, ethnologische Enklaven, Jugendkrawalle, Migration, Kom­ munikation, Integration, Segregation etc.); (b) keiner der 15 Beiträge des von Klaus Scherpe herausgegebenen Bandes über die Unwirklich­ keit der Städte145 widmet sich explizit dem Wohnen; Themen sind hier Wahrnehmung, Symbolisierung, Semiotik, Kommunikation, Imagepo­ litik, Architektur, Inszenierungspraktiken etc.; (c) auch der von Walter Siebel herausgegebene Sammelband über Die europäische Stadt berührt das Wohnen nicht explizit.146 In dem von Tilman Harlander edierten Band »StadtWohnen« steht die Geschichte des Städtebaus im Vordergrund. Wohnen erweist sich, trotz seiner unbestreitbaren soziologi­ schen Bedeutung für das Verstehen der gesellschaftlichen Vermit­ teltheit individuellen wie gruppenspezifischen Lebens in Städten, nicht als prominentes Thema der Stadtsoziologie. Darin kommt ein methodologischer Abstraktionismus zur Geltung, wonach jene Sachverhalte nicht zu den »ersten« Themen der Disziplin gehören, die ihren »Sitz im Leben«147 haben und nicht in paradigmatisch gleichsam hochfliegenden Konstrukten untergebracht werden können. Theore­ tische Derivate haben als Filter die Aufgabe, jene Ereignisfelder gelebten Lebens wissenschaftshygienisch zu reinigen, bevor sie in Diskursstränge eingefädelt werden können, die in der »scientific community« anerkannt sind. Der Begriff des Wohnens ist zwar selbst eine Abstraktion, denn niemand kann wohnen, ohne etwas Konkretes zu tun, wie nach Hause zu kommen, die Wohnung einzurichten, die eigene Wäsche zu waschen, zu Bett zu gehen usw. Indes verweist er auf eine ganzheitliche Dimension im räumlichen Dasein, eine emotionale Raumnahme und damit auf eine Bedeutungsebene, ohne deren Verständnis soziale Strukturen und Prozesse wie die Bildung 144 145 146 147

Vgl. Heitmeyer: Die Krise der Städte. Vgl. Scherpe: Die Unwirklichkeit der Städte. Vgl. Siebel: Die europäische Stadt. Schmitz: Neue Phänomenologie, S. 16.

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2. Wohnen

ethnologischer Enklaven, die Entstehung von Jugendkrawallen oder Migration etwas Abstraktes bleiben müssen. Die erkenntnistheoretisch durch Konstrukte der Stadtsoziolo­ gie regulierte Aufmerksamkeit gegenüber dem Wohnen bezieht eine szientistisch gesicherte Distanz zum sinnlichen und leiblichen (Wohn-) Erleben der Menschen. »Gesellschaftliche Standards der Distanzierung«148 sorgen dafür, dass jene Abstraktionsbasis einge­ halten wird, unterhalb der die Emotionen der Menschen liegen, um das den Szientismus irritierende Eindringen subjektiver Betroffenheit in rationale Begriffswelten abzuschirmen. Gleichwohl sind Gefühle in zahllose Themen verwoben, die im Zentrum der Stadtsoziologie stehen. Als Wunsch und Wille zum Anders-Wohnen sind sie Motor eines Prozesses der Gentrifizierung, der im großen Stil in den 1980er und 90er Jahren ablief und neue Milieuqualitäten und Lebensstile149 entstehen ließ, indem verwohnte Wohnungen für neue und öko­ nomisch profitable Nutznießer aufgewertet wurden. Nur vor dem Hintergrund vorhandener oder erzeugbarer Wohnwünsche konnte sich ein gewinnversprechender Markt für die Nobilitierung z. B. ehe­ maliger Hafengebiete zu Quartieren »besseren« Wohnens etablieren. Das affektive Wohnerleben (der Stadt) wird durch neue Quali­ tätsstandards im Wohnungsbau tangiert, nicht nur weil besonders die Gewinner der Neoliberalisierung und Globalisierung von neuen Luxuswohnungen profitieren. Der Umstand, dass »die bisherige Auf­ wertung des Wohnens in der Stadt […] zu Lasten der Einkommens­ schwächeren« geht, deren Wohnungsversorgung sich verschlechtert hat150, greift auch unmittelbar in das allgemeine städtische Wohnund Lebensgefühl ein und verändert die Selbstverortung im sozialen Kosmos der Stadt (unerfüllbare Wohnwünsche und soziale Exklusi­ onseffekte in den unteren und mittleren Schichten der Gesellschaft stiften keine urbane Identität, sondern erodieren an ihren Fundamen­ ten). Das Aufspringen einer Schere, auf deren einer Seite Arme ärmer und auf deren anderer Seite Wohlhabende wohlhabender werden, dokumentiert sich in zahlreichen stadtsoziologischen Studien über die Revitalisierung brach gefallener innenstadtnaher Hafengebiete.151 Ebd.: S. 12. Vgl. z.B. Blasius: Gentrification und Lebensstile. 150 Häußermann / Siebel: Neue Urbanität, S. 160f. 151 Vgl. Schubert: Hafen- und Uferzonen im Wandel sowie Kuhn: Frankfurt, Westha­ fen sowie Bijhouwer: Die Rotterdamer Hafenerweiterung. 148

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2.5 Wohnen in der (soziologischen) Stadtforschung

So wurde im Jahre 2000 vom Senat der Freien Hansestadt Ham­ burg der Masterplan für den Bau der Hamburger HafenCity beschlos­ sen. Das Großprojekt befindet sich gegenwärtig in einer finalen Umsetzungsphase. Im Zuge der Schaffung eines nutzungsvielfälti­ gen, zukunftsweisenden neuen Stadtquartiers werden auf einer Fläche von 157 ha neben Standorten für Kultur und Ökonomie 5.500 Woh­ nungen für 12.000 Einwohner geschaffen.152 »Wohnungen für unter­ schiedliche Lebensformen und -phasen sowie für kleinere und größere Geldbeutel erzeugen die gewünschte lebendige Vielfalt«, heißt es in einer PR-Schrift.153 Der Immobilienmarkt weist indes eher darauf hin, dass sich das Quartier zu einem Soziotop ökonomisch Privilegierter entwickelt hat.154 Die Wohnraummieten erreichen in der Hafencity Ende 2022 Quadratmeterpreise zwischen 20 und 24 €, im Luxus­ segment sogar um 30 €.155 Die Schaffung neuer Wohnquartiere an attraktiven Standorten am Wasser lässt die sozioökonomische Spal­ tung der Gesellschaft evident werden; eine der Ambivalenzen dieser Entwicklung liegt darin, dass sie den Gentrifizierungsdruck von benachbarten Stadtquartieren nimmt, in denen die Mieten deutlich niedriger sind und (als Folge von Lagevorteilen der neuen Quartiere) bleiben könnten.156 Wohnimmobilien sind lukrative Wirtschaftsgüter157, auch weil sie dem Käufer eine affektiv begehrte Lebensform versprechen, deren symbolische Ausdrucksgestalten wohnend im sozialen Raum der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht werden können. Fehlen dagegen die monetären Mittel zur Einlösung selbst minimaler Wohnwünsche, verharren die Betroffenen, vor allem nach der Verschärfung persönli­ cher Problemlagen, oft in einer schwierigen Lebenslage. Die Krisen­ Vgl. N.N.: Das Projekt HafenCity. Gefroi: Gemischte Zwischenbilanz, S. 18. 154 Selbst kleinere Zwei-Zimmer-Wohnungen in der Hamburger HafenCity liegen in der Kaltmiete kaum niedriger als 1.500 Euro; s https://www.immobilienscout24.de /Suche/radius/wohnung-mieten?centerofsearchaddress=Hamburg;20457;Am%20 Dalmannkai;;;HafenCity&geocoordinates=53.5415;9.99501;5.0&enteredFrom=on e_step_search (21.02.2023). 155 Vgl. https://www.immowelt.de/liste/hamburg-hafencity/wohnungen/mie ten (28.12.2022). 156 Vgl. Bruns-Berentelg: Hafencity als Gentrifizierer?, S. 3. 157 Hesse und Preckwinkel illustrieren an Fallbeispielen, in welcher Weise »lokale Lebenswelten mit den Handlungslogiken global agierender Akteure (hier Eigentümer großer Immobilienportfolios) konfrontiert werden.«; vgl. Hesse / Preckwinkel: Glo­ balisierung der Wohnungswirtschaft, S. 168. 152

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geschichte heruntergekommner Wohnquartiere dokumentiert, dass die Eskalation sozialer Krisen unter politisch schwierigen Umständen in ordnungspolitisch nur noch schwer beherrschbaren Ausschreitun­ gen gipfeln können. Wenn Häußermann und Siebel feststellen: »Die Rolle der Stadt als Wohnort wird auch durch einen Wandel der Wohnpräferenzen gestärkt«158, dann steckt in dieser Aussage auch eine Fußnote zu den emotionalen Implikationen des Ästhetischen, obwohl sich in Wohnpräferenzen doch emotionale Beziehungen zu Wohnungen, Wohndingen und Wohnumfeldqualitäten ausdrücken. In der Stadtsoziologie wird sich die theoretische Hinwendung zur uni­ versellen Ausformung der Ästhetisierung »als dominante[r] Tendenz der kulturellen Entwicklung in der Gegenwart«159 schon aus der Logik der Sache mit einer stärkeren Aufmerksamkeit gegenüber der Rolle der menschlichen Gefühle paaren müssen. Die emotionale »Logik« des engen Zusammenhangs zwischen Wohnen, Ökonomie, Ästhetik und Mythos stellen Bentmann und Müller160 auch in einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse der Villa als Herrschaftsarchitektur in der Renaissance heraus. Die Villa war danach nicht nur ein privilegiertes Wohnhaus; als gebaute Ideologie spiegelte sie auch die hierarchische Ordnung der Gesell­ schaft wider. »So wurde die Villa zum diesseitigen ›Himmel der Reichen‹. Die Utopie aber blieb der jenseitige und deshalb auf Erden unerreichbare ›Himmel der Armen‹.«161 In historischen Vergleichen mit modernen Siedlungs- und Wohnformen zeigen Bentmann und Müller, in welcher Weise Architekturen des Wohnens nicht nur Menschen- und Gesellschaftsbilder reproduzieren, sondern durch die Zuschreibung immersiver und dissuasiver (z. B. ästhetischer) Qualitäten emotional auch kommuniziert werden. Gernot Böhme sowie Wolfgang Welsch hatten in diversen stadtsoziologisch beach­ tenswerten Beiträgen auf die tiefgreifenden Zusammenhänge von Gefühl, Symbol, Atmosphäre und ästhetischen Strategien in der Konstruktion und Konstitution der Stadt aufmerksam gemacht.162 Schon am Ende der 1960er Jahre vertrat Alexander Mitscherlich in Häußermann / Siebel: Neue Urbanität, S. 158. Müller / Dröge: Die ausgestellte Stadt, S. 95. 160 Vgl. Bentmann / Müller: Die Villa als Herrschaftsarchitektur. 161 Ebd.: S. 82. 162 Vgl. u.a. Böhme: Leibliche Anwesenheit im Raum sowie Böhme: Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie sowie Welsch: Das Ästhetische. 158

159

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2.6 Zum Situationscharakter des Wohnens

seinem Pamphlet über Die Unwirtlichkeit der Städte die seinerzeit schnell vergessene, aber noch heute hochaktuelle These: »[…] und wir beobachten zugleich die Flucht in Raumästhetik, welche die fehlenden menschlichen Affektbeziehungen trügerisch ersetzen soll.«163 Aber nicht nur der schöne Schein, der als symbolische Botschaft der Distinktion von inszenierten inneren wie äußeren Wohnbühnen ausgeht, kommuniziert sich »affektlogisch«164. Auch der von Mike Davis auf dem Hintergrund sozioökonomisch auseinanderklaffender großstädtischer Lebensbedingungen und der ihnen zugrundeliegen­ den Asymmetrien in (stadt-) gesellschaftlichen Machtbeziehungen analysierte postfordistische Wandel US-amerikanischer Städte (am Beispiel von Los Angelos165) liefert treffende Beispiele für die dichte Vernetzung prekärer Lebenslagen mit spannungsreichen Atmosphä­ ren und daraus resultierenden kollektiven Stimmungslagen. Die detaillierten Konfliktanalysen, die Davis in seiner Autopsie inner­ städtischer Konflikträume betreibt, werden aber nicht explizit als politische Kraftfelder der Gefühle diskutiert. Auch die sicherheits­ strategische Anlage von Gated Communities wie die Meidung von No-Go-Areas erschließt sich letztlich erst aus einer Perspektive der Affektlogik, liegen beiden Produktions-, Rezeptions- wie Aneig­ nungspraktiken des sozialen Stadtraums doch Formen der Bewälti­ gung von Furcht und Angst zugrunde, die nur auf dem ganzheitlichsituativen Bedeutungshintergrund Wohnender verständlich werden können. Je kleiner die ökonomischen Spielräume zur Durchsetzung von Wünschen, Interessen und Begehren sind, desto stärker treten allein regressive Optionen (Kooptation, Meidung, Anpassung oder Flucht) an die Stelle tatsächlich realisierbarer Handlungsmöglichkei­ ten.

2.6 Zum Situationscharakter des Wohnens Es ist Ausdruck modernen Selbst- und Weltverständnisses, alles uns Bedeutsame in Teile zu zerlegen, um aus der Analyse der herausgefäll­ ten Einzelheiten entscheidungsrelevante Schlüsse ziehen zu können (vgl. dazu die unter 2.3 genannten stadtsoziologischen Studien). In 163 164 165

Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, S. 38. Ciompi: Affektlogik. Vgl. bes. Davis: City of Quartz sowie Davis: Planet der Slums.

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2. Wohnen

diesem atomistischen Blick lässt sich das Wohnen konstellationistisch in Einzelnes zerlegen, das nur noch verdeckt in einem ganzheitlichen Zusammenhang steht (z.B. Probleme der Ökonomie [Kosten der Wohnung oder des Hauses, des Lebensunterhalts etc.], Möglichkeiten und Restriktionen der Technik [Vernetzungskulturen durch das Inter­ net, fehlende Infrastrukturen des öffentlichen Personennahverkehrs etc.], sozialpolitische Steuerungsprobleme [ethnische Konflikte im Wohnumfeld] usw.). Partielle Thematisierungen des Wohnens sind in der Verfolgung spezifischer wissenschaftlicher Erkenntnisinteressen zweifellos unverzichtbar. Auch sind sie forschungsmethodisch zur Analyse gesellschaftlicher Bedingungen des Wohnens geboten. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich im Wohnen in erster Linie ein Lebenszusammenhang ausdrückt, dessen Sinnorien­ tierungen aus segmentierten Perspektiven nur bedingt erschlossen werden können. Hermann Schmitz macht mit seinem leibphänomenologischen Konzept der Situation auf den ganzheitlichen Lebenszusammenhang von Bedeutungen aufmerksam.166 »Aller menschlicher Umgang mit einzelnen Sachen und Themen beruht demnach auf einem Verhält­ nis zu Bedeutungen, die in chaotischer Mannigfaltigkeit der Einzel­ heit von etwas zu Grunde liegen.«167 Mit dem Begriff der »chaoti­ schen Mannigfaltigkeit« spricht er nicht nur Mannigfaltigkeit im Sinne von Vielfalt an, die man sich noch als eine übersichtliche Ordnung vorstellen könnte, sondern eine Mannigfaltigkeit, die durch »Unentschiedenheit hinsichtlich Identität und Verschiedenheit«168 gekennzeichnet ist. So sind Atmosphären, die das Leben in quar­ tiergebundenen Milieus in Gestalt spezifischer »Vitalqualitäten«169 hervorbringt, eher durch Ganzheitlichkeit gekennzeichnet als durch die klare Trennung von Sachverhalten. In einer Wohn-Situation geht alles zu ihr Gehörige auf. Einzelnes gibt es in jeder Wohnung zwar zahlreich, aber als Einzelnes ist es ein Anderes als in der Gemengelage eines aufnehmenden Ganzen, das sich wohnend konstituiert. Jeder konstellationistische Versuch, die Atmosphäre einer Wohnung aus der Summe von einzeln Gegebenem gleichsam zusammenzurechnen, müsste fehlschlagen, weil die mit den Dingen und ihren Ordnungen 166 167 168 169

Vgl. Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 67ff. Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 91. Schmitz: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, S. 68. Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 39ff.

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2.6 Zum Situationscharakter des Wohnens

verbundenen Bedeutungen dann nicht situationsadäquat verstanden werden können.170 Im Wohnen stehen gemeinsame und persönliche Situationen in einem Wechselwirkungsverhältnis. Gemeinsames Wohnen ori­ entiert sich schon in der Einrichtung einer Wohnung mit Dingen an gemeinsamen Wünschen, die (im besten Falle) durch freiwillige Konsensfindung entstanden und nicht oktroyiert sind. Aber auch der allein Wohnende lebt in sozialen Bindungen, die nie allein indi­ viduell relevant sind. Insbesondere orientiert sich das Wohnen im Stadtraum an gemeinsamen (stillschweigend) geteilten normativen Übereinkünften, um sich in Bahnen des allgemein Akzeptierten bewe­ gen zu können. Schon durch Bewegungsroutinen des täglichen Lebens ist der persönliche Raum der Wohnung mit dem gemeinsamen Raum der Stadt verzahnt. Situationen des Wohnens wandeln sich oft schlagartig – aus subjektiven Gründen (z.B. der Stimmungen und Befindlichkeiten) sowie aus Gründen sozioökonomisch veränderter Lebensbedingun­ gen (z.B. Armut vs. Wohlstand). Über viele dieser Bedingungen verfügen die Wohnenden selbst; es sind aber auch Kräfte und Mächte wirksam, die außerhalb individueller Handlungsfelder liegen und das Akteurs-Dasein unterbrechen oder ganz außer Kraft setzen, so dass sich persönliche Situationen stets mit gemeinsamen (gesellschaftli­ chen) überlagern. Der Situations-Begriff der Neuen Phänomenologie kann insoweit soziologisch gewendet werden, als die Situationen zugrundeliegenden Sachverhalte, Programme und Probleme auch auf der Seite gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse vorliegen, die durch die Analyse von Wechselwirkungen z.B. zwischen poli­ tisch gesetzten Rechtsnormen des Wohnen-Machens und -Lassens sowie kulturellen Werten des Wohnens, transparent gemacht wer­ den können. Subjektive Spiegelungen würden damit als Spuren der Vergesellschaftung im Ereignisfeld des Wohnens zum Gegenstand stadtsoziologischer Forschung.171 Soziologische Analysen zur gesell­ schaftlichen Konstruktion bzw. normativen Vermitteltheit des Woh­ nens leisten eine Objektivierung dessen, was phänomenologische Analysen zur Konstitution des Wohnens im Licht subjektiver Betrof­ 170 Zu einer Kritik des Konstellationismus im Vergleich zum Situationsansatz von Hermann Schmitz vgl. auch Großheim: Der Situationsbegriff in der Philosophie. 171 Zum Situationscharakter des Wohnens aus der Perspektive der Neuen Phänome­ nologie vgl. Hasse: Einführung (Die Stadt als Wohnraum).

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fenheit offenlegen. Mit anderen Worten: Der konstellationistische Blick der Stadtsoziologie auf das Wohnen kann (komplementär) durch den situationstheoretischen Blick der Phänomenologie erweitert und damit die Analyse gesellschaftlich hergestellter Situationen des Woh­ nens vertieft werden.172

2.7 Wohnen als Verortung von Körpern? Im soziologischen Schrifttum findet der Mensch explizit in seiner Körperlichkeit herausgehobene Beachtung. Seine Leiblichkeit klingt dagegen bestenfalls marginal an.173 Die weitgehende Reduzierung des Menschen auf seine körperliche (neben seiner geistigen) Existenz fügt sich ein in das soziologische Verständnis des Wohnens als Allokation in einem relationalen Raum der Dinge. Der körperlich gedachte Mensch benötigt für sein Wohnen vor allem hinreichenden Platz, um sich neben anderen Körpern (Möbeln, Türen, Wänden etc.) verorten und bewegen zu können. Die in dieser Perspektive liegende Substrak­ tionslogik wird an Beispielen emotionalisierter Raumbeziehungen deutlich, die unterhalb der Abstraktionsbasis von Körper- und Geis­ tontologie gleichsam in einem extrawissenschaftlichen Raum zurück­ gelassen werden. So drückt sich Heimat im persönlichen Raum der Wohnung wie im sozialen Raum der Stadt in der Perspektive der Leib­ lichkeit und nicht der Körperlichkeit aus (als Gefühl der Behaglichkeit im umfriedeten Raum). Heimat ist ein biographisch begründetes Gefühl der (pathischen) Verbundenheit mit einer Gegend. Es wird im Medium leiblichen Spürens wahrgenommen, aber nicht als etwas vom physischen Körper. Gleichwohl setzt Heimat als Bedingung ihrer Konstitution auch tatsächlichen Raum voraus, der wohnend »besetzt« werden kann. Gefühle, die sich in Gestalt heimatlicher Vertrautheit oder entwurzelter Ortlosigkeit im Wohnen konstituie­ ren, lassen sich mit Neckel als »Bindeglieder zwischen Akteur und 172 Zum Verhältnis von Soziologie und Phänomenologie vgl. Luckmann: Konstitu­ tion, Konstruktion. 173 Vgl. i.d.S. Villa: Körper; die Leiblichkeit des Menschen wird – nach äußerst knap­ pen Anmerkungen – nicht zu seiner Körperlichkeit in Beziehung gesetzt, theoretisch wie empirisch herausfordernde Forschungsfragen, die sich aus der leiblichen Existenz des Menschen ergeben, werden nicht erschlossen; im Unterschied dazu vgl. Gugutzer: Leib, Körper und Identität.

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2.7 Wohnen als Verortung von Körpern?

Gesellschaftsstruktur« begreifen174, wenn mit der Fokussierung des Akteurs auch die kognitive und rationale Seite des Menschen zur Geltung kommt und nicht seine pathische Daseinsweise in Situatio­ nen täglichen Lebens. Diese wird aber auch durch das planvolle Handeln von Akteuren in der bautechnischen, politischen und immo­ bilienwirtschaftlichen Herstellung von Bedingungen des Wohnens intentional gestimmt. Damit rückt die Leiblichkeit des Menschen als Medium von Ökonomie und Kulturindustrie in ein soziologisches Licht. Teure Wohnstandorte sind nicht begehrt, weil ihre Nutzung einen hohen Kapitaleinsatz verlangt, sondern weil sie ein affektiv erwünschtes Lebensgefühl versprechen, das Identität (nach innen wie nach außen) zu stabilisieren vermag. Mit dem soziologischen Kör­ per-Paradigma ist leiblichen Implikationen des Wohnens nur schwer beizukommen, weder auf dem Niveau des Wohnerlebens, noch auf dem der ökonomischen, politischen oder stadtplanerischen Herstel­ lung von Orten des Wohnens. Auch symboltheoretische Analysen über präferierte und gemiedene Wohnquartiere werden gefühlten Situationen des Wohnens nicht gerecht, vor allem dann nicht, wenn sie die Ebene der den symbolischen Bedeutungen komplementären leiblichen Gefühle überspringen. Berührt ist damit die (im soziologischen Mainstream wenig diskutierte) Schnittstelle zwischen Phänomenologie und Soziologie. Der methodologischen Annäherung der Soziologie an phänomeno­ logisches Denken steht derzeit ein ganzes Leitbündel konstruktivis­ tischer Theorien im Wege.175 Während sich der phänomenologischsituationstheoretische Blick auf die Ganzheit des Wohnens dem Konstellationismus und Konstruktivismus nicht fügt, ist die diskursiv beinahe ritualisierte Körper-Metapher nur die logische Konsequenz dieser paradigmatischen Ausrichtung und der daran anknüpfenden Menschenbilder. Kritik am »untertheoretisierten« Körper-Begriff in Soziologie und Geisteswissenschaft formuliert auch Ulle Jäger.176 Einen konstruktivistisch trügerischen Weg zur Integration emotio­ naler Dimensionen des Wohnens in den soziologischen Theorierah­ men bietet die Neurophysiologie an, indem sie Gefühle in neuro­ nale Kategorien uminterpretiert. Deren Umdeutung in energetische Neckel: Kultursoziologie der Gefühle, S. 135. Zur Kritik am Konstruktivismus aus sozialwissenschaftlicher Sicht vgl. Luck­ mann: Konstitution, Konstruktion sowie aus phänomenologischer Sicht Schmitz: Phänomenologie und Konstruktivismus. 176 Vgl. Jäger: Der Körper, der Leib und die Soziologie, S. 11. 174 175

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2. Wohnen

(und biotische) Prozesse bestätigt jedoch nur (reduktionistische) Kör­ permodelle, so dass die phänomenologische Reflexion subjektiven Wohnbefindens obsolet wird. Zwar hat die neue Aufmerksamkeit der Soziologie gegenüber dem Körper die Analyse der Bedeutung von Dingen zu Recht in den Vordergrund gerückt, spielen sie doch in der Konstruktion und Konstitution sozialer, politischer, ökonomischer u.a. Raumqualitäten eine wichtige Rolle. Auch räumliche Arrangements des Wohnens hängen elementar von Dingen ab.177 Die Dinge sind Katalysatoren, die auch als Medien der Kultivierung von Atmosphären wie der Inszenierung von Vitalqualitäten be- und erworben werden. Solange der soziologische Blick auf die Dinge aber auf deren Körperlichkeit begrenzt bleibt, können Prozesse der leiblichen Kommunikation178 nicht konsequent in den Blick kommen. Wenn eine Wohnung zu klein ist, dann ist sie es zwar auch deshalb, weil sie den mitgebrachten Dingen zu wenig (relationalen) Raum bietet und der Körper des Menschen sich im kleinen Raum zu wenig bewegen kann. Dinge wie Tisch, Stuhl und Schrank sind tote Dinge, wirken aber dennoch auf den leiblichen Raum des Herum ein, der dann weniger physisch als »klein«, denn leiblich als »eng« oder »beengend« erlebt wird. In der Leiblichkeit kommt nicht nur ein Medium der informellen Vergemeinschaftung, sondern auch der systemisch intendierten Ver­ gesellschaftung zur Geltung. Je weniger sich die Sozialwissenschaften der Bedeutung der Leiblichkeit in politischen und ökonomischen Prozessen widmen, desto unvermittelter können ästhetizistische Akteure (professionelle Kenner menschlicher Reaktionsweisen auf leibliche Suggestionen wie Architekten, Szenographen und Designer von Wohndingen im weitesten Sinne) gleichsam unbemerkt auf eine psychologische Ressource der Vergesellschaftung zugreifen. Woh­ nungsbaupolitische Standards, die sich in bestimmten Grundrissen, Wohnungsgrößen und Raumanordnungen reifizieren, werden erst aus der Perspektive des leiblichen Raumes (Wohnerleben) einer Kritik des »gelebten Raumes« (Dürckheim) zugänglich.

Vgl. dazu aus philosophischer Sicht Guzzoni: Unter anderem: die Dinge. Zu dieser Grundform der Wahrnehmung vgl. auch Schmitz: System der Philoso­ phie, Band III/5, S. 75–109. 177

178

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2.7 Wohnen als Verortung von Körpern?

Die Distanz der Soziologie gegenüber der Leiblichkeit des Men­ schen179 wird in dem folgenden Zitat aus Martina Löws Raumsozio­ logie über eine jugendliche Subkultur in Großbritannien besonders deutlich: »[…] ihr Handeln findet körperlichen Ausdruck zum Bei­ spiel in auffallend bunter Kleidung, im Erleiden der als Strafmaßnah­ men verhängten Stockschläge […]«180. Zwar ist Kleidung am Körper sichtbar und sie wirkt auch auf ihn ein, wird aber doch – gerade im Bereich der Mode – vor allem wegen ihrer habituellen (und damit leiblichen) Bedeutung erworben und zur Schau gestellt, um das eigene Selbstgefühl zu verändern, aber auch, um auf das Selbstgefühl ande­ rer distinktionsorientiert einzuwirken (z.B. durch Beeindruckung, Beschämung, Angleichung, Ausgrenzung usw.). Dass sich das Erlei­ den von Schmerzen nie körperlich, sondern allein leiblich-befindlich, also pathisch ausdrückt, versteht sich zwar von selbst. Wenn die Körpermetapher dennoch als Deutungsschablone herangezogen wird, Die theoretische Abschirmung der Leiblichkeit ist so selbstverständlich, dass offensichtlich leibliche Kategorien in die soziologische Körpermetaphorik gleichsam hineingezwungen werden. Schütz zitierend schreibt Schroer: »In jeder Situation wirkt mein Körper als ein Koordinatenzentrum in der Welt, mit einem Oben und Unten, einem Rechts und Links, Hinten und Vorn.«; Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 277. Noch nicht einmal in Zitatstellen, in denen der Begriff des Leibes explizit vorkommt, wird vom Monotheismus der Körper-Metapher Abstand genommen (vgl. ebd., Zitat Duby, S. 284), gibt es doch keine evidenteren Belege für die Leiblichkeit der Wahr­ nehmung, als die vom absoluten (leiblichen) Ort abhängigen Richtungen Oben, Unten usw. Aber auch wenn vom Körper die Rede ist (wie bei Foucault) ist oft nicht der materielle Körper gemeint, sondern seine leibliche Seite, gewissermaßen jene Dimension des eigenen Selbst, in der der Mensch etwas von sich als Gefühl zu spüren bekommt, ohne dass dieses Spüren Produkt seiner Imagination wäre. Die im Straf­ vollzug durchgesetzte Biopolitik ist – in ihrer historischen Entwicklung – nur zu ver­ stehen auf dem Hintergrund der Einverleibung einer Disziplin, die doch nur vorder­ gründig den Körper trifft, in ihrem Effekt aber doch ein Gefühl beugen soll, so dass die »innere« Disposition des Menschen sich verändert. Die Zelle ist das »schauervolle Grab, in welchem anstelle von Würmern Gewissensbisse und Verzweiflung euch zukriechen«; Abbé Petigny, zit. bei Foucault: Andere Räume, S. 306. Es ist mehr als offensichtlich, dass die Metapher der Würmer nicht auf den Fraß am Fleisch gemünzt ist, sondern die erniedrigende Wirkung, die als leibliches Gefühl des Niedergedrückt­ werdens erlebt werden soll. Wenn man auch darüber streiten kann, ob man in der Haft wohnen kann (vgl. dazu Hasse: Unbedachtes Wohnen, Kap. 4.1; zum Leben und Wohnen in einer JVA vgl. auch Fritzsche: Geschichte und Gegenwart der Justizvoll­ zugsanstalt Mannheim), so weist das Bild doch auf Vitalqualitäten des gelebten Raumes hin, die im Wohnen sowohl durch äußere Gegebenheiten vorhanden sind (Wohnräume im passiv sanierten Baubestand vs. im großbürgerlich inszenierten Her­ renzimmer) oder durch eine Kultur des Wohnens konstruierend hergestellt werden. 180 Löw: Raumsoziologie, S. 240. 179

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2. Wohnen

so dokumentiert sich darin zum einen die Macht eines disziplinären Diskurses, zum anderen aber auch eine Distanz gegenüber mensch­ lichen Situationen, die weder rein materiell-körperlichen, noch rein mental-geistigen Charakter haben. Auch die dinglichen Medien des Wohnens werden z.B. in der Platzierung repräsentativer Dinge eingesetzt, um das subjektive Befinden im Herumraum der Wohnung zu tingieren. Mit anderen Worten: Der Raum des Wohnens fungiert nach innen wie nach außen als ein medialer Raum leiblicher Kommunikation. Was nach innen als »Gemütlichkeit« empfunden werden mag und die Vitalqualität eines behaglichen Weiteraums schafft, kann infolge seiner besonde­ ren Symbolik soziale Abschirmung nach außen bewirken. Mit der dreidimensionalen Körperlichkeit der Dinge hat dies nur vordergrün­ dig zu tun, weil das intuitive Verstehen atmosphärischer Räume auf ganzheitlichem Verstehen komplexer Situationen basiert, die sich in Prozessen »leiblicher Kommunikation« konstituieren. Der leibliche Charakter des Wohnens wird auch in der histori­ schen Rekonstruktion des Zivilisationsprozesses bei Norbert Elias in dem Hinweis auf die sich verändernden Gepflogenheiten in der Gestaltung und Nutzung des Schlafraumes deutlich. Während im Mittelalter das Schlafen Fremder im eigenen Bett üblich war, hat sich die Intimisierung der Situation des Schlafens spätestens ab dem 17. Jahrhundert so weit verändert, dass nun als peinlich emp­ funden wurde, was zuvor als »normal« galt.181 So wurde die Mei­ dung einer ehemals für normal gehaltenen Situation gemeinsamen Wohnens als Folge der Einverleibung von Normen weniger rational als gefühlsmäßig inakzeptabel. Die wohnende Raumgestaltung und -nutzung spiegelt veränderte Sitten und ihnen zugrundeliegende Bedeutungen wider, die auf dem Hintergrund pathischen Verstehens leiblicher Gefühlsresonanzen verständlich gemacht werden können. Kulturelle Standards, Lebensstile und Moden wirken auf Wohnungsund Wohneinrichtungsmärkte ebenso ein, wie auf begehrte Gefühle eines So- oder Anders-Wohnens. Was für das Wohnen gilt, spiegelt sich in strukturell ähnlicher Weise in zahllosen Situationen der Verge­ sellschaftung wider – in besonders dichter Überlagerung im sozialen und ökonomischen Raum der Stadt. Der Leib erweist sich in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen als Medium der subtilen und immersiven Durchsetzung von Dispo­ 181

Vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, erster Band, S. 32.

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2.7 Wohnen als Verortung von Körpern?

sitiven der Macht. Die wissenschaftstheoretische Ausblendung des Wohnerlebens (zugunsten einer Fokussierung relationaler Raumund physischer Körper-Vorstellungen) begünstigt die systemischautopoietische Prolongierung einer Form der Vergesellschaftung. So fallen die modernen Sozialwissenschaften in der theoretischen Auf­ geschlossenheit gegenüber verdeckten Prozessen der emotionalen Konstitution wie kulturellen Sozialisation der Subjekte hinter den Stand jener Reflexionskultur weit zurück, wie sie um die Wende vom 19. und 20. Jahrhundert bestand, sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den 1950er Jahren dann aber in den Mäandern des Szientismus schnell verloren hat. Unter dem derzeit noch starken Einfluss von Systemtheorie und Konstruktivismus fällt der wissenschaftliche Blick selten »aufs Ganze«; er verliert sich vielmehr in einer theoretischen Deutung abstrakter Strukturen, die zum Ganzen bestenfalls in analytischen Beziehungen stehen.

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3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung

Wohnend zieht sich der Mensch aus der Öffentlichkeit ins Private zurück – ins umfriedete Zuhause seiner Wohnung. Diese profitiert nach Artikel 13 des Grundgesetzes von einem besonderen verfas­ sungsrechtlichen Schutz: »Die Wohnung ist unverletzlich.« Damit erhält sie einen weltartigen Status von gleichsam territorialem Cha­ rakter. Der Schutz der Wohnung hat notwendigerweise zwei Seiten. Er stärkt die Interessen der Wohnenden, und er tritt mit der Macht des Staates denen entgegen, die diesen Schonraum verletzen könnten – wie der Dieb, der sich einen unrechtmäßigen Zutritt verschafft.

3.1 Wohnen – eine gesellschaftliche Herausforderung Auf den ersten Blick scheint das Wohnen etwas Privates und Indivi­ duelles zu sein. Im Wohnen sind individuelle Grenzen aber immer schon überschritten. Bereits seine Anbahnung erfordert die ökono­ mische, technische wie bauliche Planung. Es ist dabei Sache der Poli­ tik, den Entfaltungsspielräumen des Lebens und damit auch des Woh­ nens eine gute Fassung zu geben. Das gelingt praktisch nur auf einem eher kläglichen Niveau. Wo die Menschen mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete oder die Finanzierung einer Eigentums­ wohnung ausgeben müssen, steht der dauerhafte soziale Frieden auf dem Spiel. Der zum Beispiel in München monatlich aufzubringende Mietpreis für ein 15 bis 18 m2 »großes« Zimmer in einer Wohnge­ meinschaft liegt bei zahlreichen Angeboten zwischen 800 und weit über 1.200 €182 und bedeutet damit eine radikale Ökonomisierung https://housinganywhere.com/de/s/München--Deutschland/wg-zimmer?ut m_source=google&utm_medium=cpc&utm_campaign=12663410130&utm_conte nt=516527966150&utm_term=wg%20münchen&g_campaignid=12663410130&g _adgroupid=120139073646&gclid=EAIaIQobChMIiIqZvuWm_QIVzRKtBh13Mg CwEAAYASAAEgJCavD_BwE (21.02.2023).

182

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3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung

der Wohnfrage. In der Folge droht allzumal unter Studierenden die affektive Zustimmung zur konstruktiven Teilhabe am Modell des Sozialstaates zu schwinden. Ein geradezu tollwütiges Spekulantentum erhöht in den Metro­ polen die für den Erwerb oder die Anmietung einer Wohnung aufzubringenden Mittel exponentiell und verschärft die Not jener Menschen, die ökonomisch ohnehin schon am Rande der Gesellschaft stehen. Zumindest die Rabiatesten unter den Akteuren der Immobi­ lienbranche kennen weder Gefühle noch ethische Bremsen, dafür umso mehr »gute« Gründe für die Umsetzung von Maßnahmen zur Steigerung der Profitraten. Für sie sind Wohn-Immobilien lukra­ tive Wirtschaftsgüter.183 Politisch ist die Thematisierung der Wohnungsfrage heute in anderer Weise als nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig und ihre breite gesellschaftliche Diskussion unverzichtbar. In der Gegenwart rückt in besonderer Weise die Aufgabe in den Fokus, einen sich dystopisch zuspitzenden Kapitalismus, der danach strebt, alles scheinbar NichtMonetäre zur Größe einer ökonomischen Gleichung zu machen, zu domestizieren: nicht »nur« das Essen und Trinken, die Kleidung und die Gesundheit, sondern alle Lebensfacetten und damit auch das Wohnen, in dem es sich nur ausdrückt.

3.2 Unbedachtes Wohnen In einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts heißt es: »Der Begriff des Wohnens ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigen­ gestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskrei­ ses sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet.«184 Damit wird es tief in bürgerliche Werteordnungen eingeschrieben und auf den Raum des Hauses fixiert. Lebensformen, die sich ortsfester Architekturen verweigern, rutschen damit a priori in die soziale Auffälligkeit ab, denn die Sicherung des bürgerlichen Lebens hat Hesse und Preckwinkel illustrieren an Fallbeispielen, in welcher Weise »lokale Lebenswelten mit den Handlungslogiken global agierender Akteure (hier Eigentümer großer Immobilienportfolios) konfrontiert werden.«; vgl. Hesse / Preckwinkel: Glo­ balisierung der Wohnungswirtschaft, S. 168. 184 BVerwG 4 B 302/95 – 25.03.1996. 183

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3.3 Wohnen fordert den Menschen existenziell heraus

den Vorrang vor der Ermöglichung des Experiments.185 Man kann aber auch in temporär errichteten Zelten wohnen wie die Nomaden oder auf schwimmenden Schiffen wie die Seeleute. Die sprachliche und normative Simplifizierung des Wohnens zu einer Kultur der Fest­ setzung in Architekturen »dauerhafter Häuslichkeit« leistet vor allem eines: Die Abschaltung der existenziellen Frage nach dem Wohnen. So wird es im Allgemeinen auch nicht als eine Herausforderung auf­ gefasst – weder als eine individuelle, geschweige denn als eine gesell­ schaftliche. Wer eine Wohnung mit Möbeln füllt, an zentraler Stelle des sogenannten »Wohnzimmers« ein Fernsehgerät aufstellt, über einen Internetanschluss verfügt und mit alle dem ein unaufgeregtes Leben führt, der wohnt. Es war in besonderer Weise Martin Heidegger, der (vor dem Hintergrund der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg) das Wohnen mit einer einfachen Bemerkung in die Denkwürdigkeit geradezu hineingetrieben hat: »Als ob wir das Wohnen je bedacht hät­ ten«186. Dabei wollte er nicht über das Wohnen sprechen wie es heute Makler, Immobilienmanager oder Wohnmöbelhändler tun, und auch nicht wie Soziologen, die das Wohnen pragmatisch auf das verengen, was man vordergründig tut, wenn man wohnt.187 Heidegger verstand das Wohnen in einem existenziellen Sinne als eine Verräumlichung des Lebens in einer Gegend.188

3.3 Wohnen fordert den Menschen existenziell heraus Im Wohnen stellen sich nicht nur rationale Aufgaben. Wer wohnt, ist – ob er will oder nicht – immer auch auf emotionale Weise in sein Herum verstrickt. Schon der dem Wohnen dienende Gebrauch von Dingen macht darauf aufmerksam, denn nicht alle sind nur einem praktischen Zweck unterworfen. Viele sind sogar ausschließ­ lich Medien der Ästhetisierung, die der Umfriedung mit Atmosphä­ Wer sich in einem Wohnwagen dauerhaft auf einem Campingplatz niederlässt (als sog. Dauercamper) wird ordnungspolizeilich meistens geduldet – noch gegen das geltende Baurecht. Dagegen müssen die in prinzipiell ganz ähnlichen mobilen Unterkünften lebenden Wagenburgbewohner oft mit der Kompromisslosigkeit der Ordnungs- und Polizeibehörden rechnen. 186 Heidegger: Was heißt denken?, S. 59. 187 Vgl. i.d.S. etwa Häußermann / Siebel: Soziologie des Wohnens, S. 15. 188 Vgl. Hasse: Unbedachtes Wohnen. 185

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3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung

ren dienen (Bilder, Kerzen, Skulpturen etc.). Auch scheinbar lediglich nützliche Dinge sollen »schön« aussehen und gefallen (Eierbecher, Möbel, Teppiche etc.). An Dingen spinnen sich die Fäden des Woh­ nens hervor, sie machen »die Vernetzungen und Gewebe, die Texturen des Wohnens«189 aus, und man kann Gefühle an ihnen unterbringen. Das berührt auch die Frage des Wohnens in der Stadt. Man kann als Einwohner und als Anwohner in einer Stadt wohnen. Das ist nicht dasselbe. Als Einwohner räumt man sich in die Stadt ein, macht sie sich zum subjektiv gelebten Raum und damit zum erweiterten Wohnraum. Der Anwohner ist in einem allein körperlichen Sinne in einem Haus, einer Straße oder einer Stadt. In der Art und Weise ihres Wohnens schaffen die Menschen je eigene Verhältnisse zu sich und ihrer herumwirklichen Welt. Wer ein liederliches Verhältnis zur eigenen Wohnung hat, neigt dazu, die eigene Wohnung zu ver-wohnen, nicht nur schlecht mit den Dingen in ihr, sondern auch mit ihrem architektonischen Bestand umzugehen. Ebenso kann man eine Stadt verwohnen, wenn man ihr keine Aufmerksamkeit widmet und in einem urbanistischen Sinne schlecht und schonungslos mit ihr umgeht. »Schonung« meint im Sinne von Martin Heidegger weit mehr als nur die Erhaltung einer sauberen und funktionierenden Stadt der Bauten, Brücken, Straßen und technischen Infrastrukturen. Schonung verlangt vor allen Dingen ihre Pflege als soziales Großgebilde, denn nur dann kann sich die Stadt als zukunftstaugliches Milieu für viele und unterschiedliche Menschen bewähren. Als eine immer wiederkehrende und sich dabei variierende Auf­ gabe stellt sich die Verknüpfung räumlicher Inseln eigenen Lebens, die man auch als »Gegenden«190 ansprechen könnte. Eine Gegend ist kein Irgendwo, geschweige denn etwas Abstraktes. In ihr sind – wie im eingerichteten Wohnraum – die Dinge und Wege zwischen Orten emotional wie bedeutungsgemäß verknüpft. Existenziell ist das Wohnen zunächst darin, dass man sich mit den Dingen und Orten, den Gerüchen von Bauten, den Klangbildern von Plätzen u.v.a.m. nicht nur auskennt, sondern all dies wortlos im Gefühl beheimateten Mit-Seins erlebt. Was die Existenz an einem Ort charakterisiert, geht über das hinaus, was das Leben in einem biologisch-naturwissenschaftlichen 189 190

Guzzoni: Wohnen und Wandern, S. 30. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 368.

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3.3 Wohnen fordert den Menschen existenziell heraus

Verständnis verlangt. Willy Hellpach hatte mit dem Begriff des »Akkordes«191 eine Metapher verwendet, in der Vieles in einer unsagbaren Weise so zusammenklingt, dass ein Ganzes dabei her­ auskommt. Mit dem Wohnen stellt sich vor allem deshalb eine existenzielle Aufgabe, weil sich der Mensch in der Einrichtung seines Wohnens weit über den Ort der Wohnung hinaus in ein komplexes Beziehungsnetz stellt – zu sich selber, seinen Zeitgenossen und seinem herumwirklichen Milieu.

3.3.1 Der Selbst- und Weltbezug des Wohnens In der Verfolgung eines guten Lebens ist der Mensch in der Art und Weise seines Wohnens anderen etwas schuldig, weil jedes Wohnen von anderen etwas nimmt (aktuell von Mitmenschen sowie von den Ressourcen und Möglichkeiten derer, die in Zukunft erst geboren werden). Wie wir beim Wohnen zunächst an die Gunst der Ver-sor­ gung denken und nicht an die Last der Ent-sorgung, so in erster Linie an das Nehmen von Gütern und Dienstleistungen und nicht an eine (zumindest) symbolisch ausgleichende (Rück-)Gabe an Natur und Gesellschaft. Hier verdienen die Tiere eine respektvoll würdigende Aufmerksamkeit, nehmen wir sie doch zur Ermöglichung eines satu­ rierten Lebens in einem radikalen Sinne in Gänze und nicht nur etwas »von« ihnen, wie die Milch von der Kuh oder die Wolle vom Schaf. Schon zu seiner Zeit (das war in den 1950er Jahren) sah Romano Guardini die Beziehung der Menschen zu den Dingen kritisch und forderte eine Umkehrung der Handlungsrichtung: »Nicht mit dem Zugehen auf die Dinge, sondern mit dem Zurücktreten von ihnen beginnt die Kultur.«192 Wenn Tiere auch keine Dinge sind, so werden sie von der Nahrungskittelindustrie doch zu dazu gemacht. Neben den vielen anderen Dingen, die die Menschen aus den Kreisläufen der Natur entnehmen, zeigen sie sich in einem verzerrten Spiegelbild prekären Wohnens. Nicht zuletzt in der Art und Weise des Wohnens entscheidet sich, ob die Menschen nur auf die Dinge zugehen oder von ihnen auch zurücktreten wollen. Zugehen korrespondiert mit der Steige­ rung der Wohnflächengröße einer Wohnung, der Erhöhung ihres 191 192

Hellpach: Sinne und Seele, S. 61. Guardini: Der unvollständige Mensch und die Macht, S. 22.

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3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung

energiezehrenden Komforts und der exzessiven ästhetizistischen Aufblähung. Zurücktreten bedeutet dagegen nicht die Rückkehr zur Urhütte, zunächst vielmehr ein Innehalten in der Beschleunigung von vermeintlichem Fortschritt. Im interkulturellen Vergleich der Stile des Wohnens werden Selbstverständlichkeiten fragwürdig und das Denken für Alternativen sensibilisiert. In den Blick kommen damit nicht nur bauliche, technische oder ästhetische Kriterien des Sich-Einrichtens in einer Wohnung. Die Infragestellung dessen, was wir unbedacht nur haben wollen, weil es andere schon vor uns hatten, mündet in eine Übung existentiellen Denkens: Was bedeuten uns die Dinge und Verhältnisse, in denen wir leben wollen und die letztlich die Kultur unseres Wohnens disponieren? Das Wohnen wird so zum Anlass der kritischen Reflexion des Lebens und dieses zu einem existenziellen Denkstück des Wohnens. Kein Wohnen soll einfach nur sein. Es soll fragwürdig werden und in seinen Gründen und Folgen für das Leben in einem existenziellen Sinne bedacht werden. Deshalb sah Martin Heidegger in seiner Philosophie des Wohnens die »Schonung« als ein normatives Gelenk. Schonung gelingt nur als ein facettenreiches Mitdenken des Vielen, Heterogenen und Widersprüchlichen. In einem ganzheitlichen Sinne sagt er daher: »Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind. […] Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen.«193

Heidegger spricht von Orten und Räumen und nicht vom Ort und Raum der Wohnung, denn das Wohnen ist in seiner Verräumlichung offen. Das ist es auch in seiner wesensmäßigen Bestimmung, wes­ halb es nachdenkend immer wieder neu »vermessen« werden muss. Genau dies tun wir in unserem Alltag besinnungslosen Wohnens jedoch nicht. Und ebenso versagt die Politik in der simplifizierenden Rede.194 Zum wohnenden Dahinleben merkt Heidegger aus diesem Grunde an:

Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 35 und 45. So setzt die Subventionierung des Bauens über sozialstaatliche Zuschüsse (»Bau­ kindergeld«) zunächst einen völlig diffusen und stumm tradierten Begriff des Woh­ nens voraus. Schließlich intensiviert sie die Bautätigkeit und die weitere Steigerung der Grunderwerbs- wie Mietkosten. 193

194

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»Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben. [...] Die eigene Not des Wohnens beruht darin, dass die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, dass sie das Wohnen erst lernen müssen.«195

Lebensweltlich gilt das Wohnen (wie die Kindererziehung) indes als etwas, das scheinbar jeder kann. Eine Erosion allgemeiner Bildung zugunsten fachlich verengter Ausbildungsdrills und eine schnell vor­ anschreitende Verdummung kommen diesem Schwundprozess ent­ gegen. Wenn Karl Jaspers in der Philosophie die Aufgabe sah, »das Selbstdenken und dadurch das selbstsein des Einzelnen [...] wachzu­ halten«196, so ist damit implizit ebenso eine Revision des Wohnens gefordert. Wenn es uns auch fern liegen mag, das Wohnen über lebenspraktische Anlässe hinaus in einem existenzphilosophischen Sinne zu bedenken, so stellt sich doch angesichts seines integralen Charakters genau diese Herausforderung. Auch Bollnow argumen­ tiert (mit Martin Heidegger und Merleau Ponty) für ein existenz­ philosophisches Verständnis des Wohnens. In der Beziehung zum (Wohn-)Haus wie zur Wohnung geht es auch ihm »um das Verhältnis des Menschen zur Welt im ganzen. [...] Darum müssen wir fragen: Welches ist dieses neue Verhältnis zur Welt, zu dessen Bezeichnung sich der Begriff des Wohnens aufdrängt.«197 Um sich planvoll und an Zielen orientiert in die Welt ausdehnen zu können, bedarf es eines Raumes, der jenseits der Wohnung weitergeht. Wo sollte auch all das geschehen und herkommen, was die Menschen für ein zufrieden­ stellendes Wohnen verlangen – Nahrung, Wärme, Wasser, Kleidung und alles übrige, womit sie sich gemeinsam ein gutes Leben machen. Deshalb sagt Bollnow: »Der Mensch wohnt in seinem Hause. Er wohnt in einem allgemeineren Sinne auch in der Stadt.«198 Gutes Wohnen ist daher auch etwas anderes als »schönes« Woh­ nen; es verdankt sich der Arbeit seiner Reflexion, aber nicht ästheti­ zistischer Bemühungen. Es zielt nicht auf gefälligen Geschmack und hohen Genuss des Konsumierten. Es strebt Lebensformen an, die sich in ihrer existenziellen Bedeutsamkeit durch sich selbst legitimieren. Es baut daher auf die Aktivierung aller Vermögen der Reflexion. Allein 195 196 197 198

Ebd.: S. 48. Jaspers: Die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart, S. 20. Bollnow: Mensch und Raum, S. 127. Ebd.: S. 125.

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3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung

arriviertes Können im Bereich spezieller Verstandesleistungen reicht dabei nicht aus. In den Dimensionen des Existenziellen ist die Ver­ nunft gefordert. Sie kann mehr als der Verstand, der sich aus je spezi­ ellen Wissensfeldern speist. Vernunft bewährt sich als übergreifendes Vermögen abwägender wie vorausschauender Synchronisierung vie­ ler Verstandes-Kompetenzen. Ohne Vernunft kein verantwortliches Bauen, keine gute Stadtplanung und kein rücksichtsvolles Wohnen. Zur Praxis schonenden Wohnens gehört das justierende Moment der Ethik. Schon der scheinbar simple An- und Umbau einer Wohnung verlangt das Innehalten der Vernunft, denn jedes Umbauen oder Neu­ machen des Alten, Übriggebliebenen und Maroden bedeutet nicht nur eine Wandlung der Dinge. Es vermittelt zugleich eine Wandlung von Zukunftsperspektiven aller, die mit dem werden leben müssen, was sich verändert. Das Neu- und Anders-Machen stellt sich weit über die Grenzen fachlicher Entscheidungen hinaus als eine existenzielle Aufgabe der Abwägung. Am Beispiel des tagtäglichen Essens und Trinkens, das wir üblicherweise gar nicht mit dem Wohnen in Beziehung setzen, wird die Abgründigkeit der Aufgabe schnell deutlich, das Wohnen in einem existenziellen Sinne zu bedenken. Am Integralcharakter des Wohnens zeigt sich die Dringlichkeit einer ethischen Revision des Lebens sowie der Übung schonender Praktiken wohnenden Hier-, Dort- und Unter­ wegs-Seins. Insbesondere das Essen von Tieren ist ein Nehmen, dem es an ausgleichenden Gaben mangelt. Dabei repräsentiert das Essen geradezu paradigmatisch einen konsumistischen Habitus spätmoder­ ner Zivilisationen in ihrem Verhältnis zur Natur wie zu allem, das sich der Kommerzialisierung anbietet. Der bei weitem größte Teil der Gesellschaft (nicht nur der Bundesrepublik Deutschland) erkauft sich ein scheinbar gutes (kulinarisches) Leben durch den rabiaten Umgang mit anderen Lebewesen. Je satter der »Normalverbraucher« ist, desto unbedachter und hemmungsloser nimmt er den massenhaften Tod von Tieren in Kauf – von zoologisch »niederen« Arten wie Muscheln und Garnelen bis zu allen möglichen Säugetieren (vom Schwein über das Rind und das Pferd bis zum Hirsch und Hasen). Darüber hinaus sind viele andere systemisch bedingte Prozesse im Stoffaustausch mit der Natur nur Ausdrucksformen einer sich in Orte, Städte und Regionen einwohnenden Kultur kommoden Dahinlebens. Das Beispiel des kulturhistorischen Bedeutungswandels des häuslichen Herdes pointiert anschaulich, in welcher Weise sich Zube­ reitung und Verzehr von (Speise-)Tieren im Wohnen ausdrücken. In

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3.3 Wohnen fordert den Menschen existenziell heraus

der Antike war der Herd – heilig gehalten wie der Altar – Quelle der Nahrung und der Wärme, garantierte in seiner Funktion für das Wohnen also etwas Unverzichtbares. Als mythischer Ort bildete er ein Zentrum des Wohnhauses, einen Ort der Götterverehrung, verschiedenster Orakel und kultischer Opferrituale.199 In gewisser Weise war der Herd ein existenzielles Lebensmittel – nicht nur ernäh­ rungsphysiologisch, sondern auch mythisch. »Bereits Homer läßt seine Helden am Herd schwören.«200 Noch in der Gegenwart ist der Herd ein mythischer Ankerplatz. Atmosphärisch wird er nun jedoch von neuen Bedeutungen umfasst. Wie einst beim Hochzeitsritus die Braut um den Herd herumgeführt wurde, so feiert sich heute der Alltagsmensch in der unaufhörlichen wie profanen Umkreisung der Kochinsel selbst – ohne Göttergedenken, in der reinen Lust am kulinarischen Zeitvertreib. Die Ordnung der Götter, die gleichsam über Herd und Rauchfang schwebte, ist einer sozialen Hierarchie statusverheißender Symbole gewichen. Der Ort wurde von den Göt­ tern emanzipiert und zu einer kulinarischen Stätte lustmaximierten Wohnens – hinter abschirmenden Mauern des Privaten und jeder ethischen Legitimation entwunden.

3.3.2 Wohnen in »Bewegung« Häuser, Wohnungen und Städte werden nicht nur neu errichtet; sie werden auch umgebaut. Umbauten im physischen Raum sind Ausdruck veränderter Lebensbedingungen. Architektonischer und technologischer Wandel gibt dem Leben eine neue Fassung. Dabei kommen in einem weiteren Sinne zunächst zivilisationshistorische Bewegungen in den Blick, die das individuelle wie gesellschaftliche Leben einem fortdauernden Wandel aussetzen. Synchron mit dem Wandel der Bauten und Dinge verändern sich die Bedeutungen, die dem Existierenden zugeschrieben werden und die Gefühle, die damit verbunden sind. Die Welt des Wohnens ist ein Milieu der Transformationen: der Stofflichkeit der Dinge und der Atmosphären ihres Erscheinens, des tatsächlich Bestehenden und des von der Zukunft Erhofften. Was unter einem guten Wohnen verstanden wird, ist Ausdruck einer Zeit und Spiegel gesellschaftlicher Standards. Noch im 19. 199 200

Vgl. auch HWdAgl, Band 3, Sp. 1758–1776. Link: Wörterbuch der Antike, S. 376.

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3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung

Jahrhundert wohnten die Menschen in kargen Moorlandschaften unter einfachsten Verhältnissen, die heute als unzumutbar, prekär, wenn nicht als menschenunwürdig empfunden würden. Zur selben Zeit lebten Adelige und höhere Bürger an den Boulevards der großen Städte unter luxuriösen Bedingungen. Heute würden die Angehöri­ gen ähnlich privilegierter Schichten jedoch weit höhere Ansprüche stellen. War der Besitz einer Musiktruhe in den 1950er Jahren Ausdruck modernen bürgerlichen Wohnens, gehört heute die via Smartphone aus der Pendlerferne steuerbare heimische Haustechnik zum Standard zeitgemäßen Wohnens. Bis in die Gegenwart integrie­ ren die Menschen technische Innovationen in ihr Leben, um noch bequemer zu wohnen. Es ist die gleichsam vertikale Bewegung in der Geschichte, die das Wohnen als Ausdruck des Lebens einem im Prinzip dauerhaften Wandel unterwirft. Es gibt aber auch eine horizontale Bewegung im dreidimensio­ nalen Abstandsraum, die das Wohnen situiert. Das Leben der Jäger und Sammler, wie später der Hirtenvölker, war überwiegend noma­ disch geprägt. Um für sich und ihre Nächsten sorgen zu können, mussten sie wandern. Indem die spätmodernen Menschen in ihrem Berufs- und Privatleben immer mobiler werden, wandeln sich auch ihre Lebensweisen zu Formen zählflüssiger Sesshaftigkeit hin, das plurale Wohnen an wechselnden Orten eingeschlossen. Würde sich das Wohnen in seinem Wesen aber auf die Erfüllung ortsfester Funktionen beschränken, müsste man auch die Behausung der Füchse in Erdhöhlen und den temporären Unterschlupf der Muräne in einer Felsspalte als Orte des Wohnens bezeichnen. Es ist nun aber (aus gutem Grunde) nicht üblich, das relativ ortsfeste Leben von Tieren als »Wohnen« zu bezeichnen. Das sollte zu denken geben. Im Wohnen kommt nämlich eine spezifisch menschliche Figuration des Lebens zum Ausdruck, die nicht nur ökologisch funktionierende, sondern kultivierte Milieus verlangt. Es sind oftmals »Grenzsituationen« im Sinne von Karl Jaspers, die – von gesellschaftlichen oder biographi­ schen Geschehnissen ausgelöst – existenzielle Bewegungen bewirken, die insofern die Frage des Wohnens berühren, als sich im Wohnen das So- und Da-Sein an Orten und im Raum nur ausdrückt. Der sprichwörtliche Schiffbruch im Leben stellt somit auch das Wohnen in einen von Grund auf veränderten Rahmen, so dass der Mensch gezwungen ist (zumindest bis auf weiteres), im Übergang zu wohnen. Damit »wird der Schiffbruch die Voraussetzung, sich auf den Weg hin zum eigenen Land zu machen […], im Unterwegssein zu

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3.3 Wohnen fordert den Menschen existenziell heraus

wohnen, in einer relativen Weise heimisch in der Fremde zu sein, niemals stehen zu bleiben.«201 Das Denken des Wohnens löst sich nun von seiner selbstverständlichen Bindung an den Ort einer fixen Wohnung im gemauerten Haus. Es kommt vielmehr als Sorge um das eigene Selbst als eine Suche nach möglichen Bahnen des Lebens in den Blick und pointiert, dass sich das Wohnen in einer Wohnung, in einem Zelt oder auf einem Schiff nur als eine verräumlichende Praxis existentiellen Wohnens im eigenen Selbst zu verstehen gibt.

3.3.3 Die Rolle der Architektur Vom örtlichen Zentrum des Wohnens her werden subjektiv relevante Weltbeziehungen aufgebaut. Die Architektur ist für die Gestaltung des Wohnens auf allen Maßstabsebenen maßgeblich und deshalb auch von existenzieller Bedeutung. Sie macht die Häuser des Woh­ nens im engeren Sinne, aber auch Brücken und Rathäuser sowie alle Bauten, die neben ihrem evidenten Nutzen vergessen lassen, welchen Preis das bequeme Wohnen fordert: das sind die Schlachthöfe, die das massenhafte Töten im Verborgenen betreiben, das sind die Theater, deren Spiele ästhetisch wiedergutmachen, was wir in der Art und Weise, wie wir auf Kosten zukünftiger Generationen leben, nicht aushalten wollen. Die Architektur baut aber nicht nur den physischen Raum der Wohnung wie der Stadt. Sie gestaltet nicht nur Häuser und Zimmer, sondern auch soziale Rollen und Menschenbilder: in der »Frankfurter Küche« (als Ort der Hausfrau) oder ihrer postmodernen Transformation zum Sinnzentrum exzessiver Begierden. Die existenzphilosophische Frage nach dem Wohnen mündet in eine der Architektur bzw. der Kultur des Bauens; in ihrem Zentrum stehen praktische Wege zur Bewältigung der sich in der Gestaltung lebensfördernder wie lebenswerter Umgebungen stellenden Heraus­ forderungen. Schon weil niemand am Beginn seines Lebens so wohnt wie in seinen letzten Jahren, reklamiert sich eine kritische wie selbstund gesellschaftsbezogene Reflexion von Lebensformen, welche sich in der Art und Weise spiegeln, wie die Menschen wohnen. Wie sich der Mensch biographisch wandelt, so auch sein Wohnen. Wie er »aus seiner Haut fahren« kann, wenn ihn etwas erschrickt, so zwingt ihn ein unerwartet ergreifendes Ereignis, sein ganzes Leben auf den 201

Joisten: Heimisch in der Fremde, S. 97.

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3. Wohnen – eine existenzielle Herausforderung

Kopf zu stellen. Auch die Bedeutung des »Häutens« steht – wie das Einspinnen, Verlarven und Verpuppen – für den Wandel. Eine Häutung bedeutet metaphorisch den Aufbruch in ein neues und sich veränderndes Leben. Diese Bedeutung der Haut berührt die Architektur in ihrem Selbstverständnis, lässt sich das Bauen von Wohnungen (festen wie mobilen) doch auch als ein Herstellen lebensdienlicher Häute begreifen. Wie sich das Leben wandelt, so müssen auch die Häute des Wohnens im Sinne kreativer Anpassung immer wieder anders werden – im Unterschied zur Strandkrabbe, die mit der Häutung ihr ganzes Haus als Abfall zurücklässt, weil sie nach einem Wachstumsschub nicht mehr in ihre alte Körperarchitektur passt. Das kulturelle Bauen im Sinne der Architektur muss ein intelligentes Bauen sein, in dessen Programm die Option des zukunftsweisenden Um-, An- und Weiter­ bauens schon enthalten ist. In Ergänzung zur Sesshaftigkeit setzt das zur Kultur des Men­ schen gehörende Wandern die Idee einer Vielfachverwertung von Wohnbauten voraus. Der Wandel des Lebens führt zu konträren Formen der Häutung des Wohnens. Die Architektur hat das techni­ sche und ästhetische Know How, um die Häutung des Gebauten auf ein sich immerzu transformierendes Leben einzustimmen. Wie sie das hoch- und tiefbautechnische Recycling des Verbrauchten und Zerschlissenen ermöglicht, so das gestalterische »Upgrading« dessen, was die Menschen aus ästhetischen Gründen nicht mehr um sich haben wollen. Nachdenkliches Bauen könnte – in der Zukunft wie in der Gegen­ wart – auf die Häutung des Vorhandenen setzen und das früher schon Gebaute zukunftsfähig machen. Ein eklatantes Defizit kreativen Bau­ ens im Bestand zeigt sich dagegen in zahllosen ländlichen Regionen, wo leerstehende Wohnhäuser zu keinem erwünschten Leben mehr passen und ungenutzt dahinrotten. Es ist aber nicht das Leben außer­ halb der großen Städte im Allgemeinen, das in einer abgrundtiefen Krise festsitzt. Es sind eher die ländlich-peripheren Räume, die sich dem Wohnen nicht mehr anbieten. Hohe Leerstandsquoten sind unter anderem die Folge einer zentralistischen Infrastrukturpolitik, die aus ländlichen Räumen öde und wüste Landstriche macht, in denen sich Hund und Katze gute Nacht sagen. Eine ganz andere Geschichte der Verödung schreibt die schnelle Expansion neuer länd­ licher Siedlungen in der Nähe infrastruktureller Hotspots. Trotz eines schlechten öffentlichen Personennahverkehrs werden diese Dörfer für

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3.3 Wohnen fordert den Menschen existenziell heraus

Häuslebauer wieder attraktiv. Fortschritte der Anpassung der Wohn­ kultur an veränderte ökologische und sozioökonomische Lebensbe­ dingungen sind darin nur selten zu erkennen. Das Wohnen in alten, im Prinzip aber nutzbaren Bauten versagt an einer systemisch tief verankerten Wergwerfmentalität. Sie macht auf einen krassen Mangel an ethischem Reflexionsvermögen insbesondere politischer Akteure aufmerksam. Apelle ans individuelle Besser-Können verpuffen im Arbiträren und verlieren sich ins Sporadische. Strukturell nachhal­ tige Innovationen verlangen deshalb juristisch bindende Regeln und damit (gegen den Dauererfolg lobbyistischer Interventionen) die Beschneidung der Interessen derer, die sich an den Früchten unbe­ grenzten Wachstums laben.

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

Immer mehr Menschen leben in prekären Wohnsituationen – allzu­ mal in den Metropolen. Probleme der Kostenerhöhung, der unzurei­ chenden Größe einer Wohnung sowie negativer Ökobilanzen eskalie­ ren zu Krisen von existenziellem Format. Im engeren Sinne hat aber nicht das Wohnen Problemcharakter, sondern seine immense Ver­ teuerung durch eine u.a. spekulationsbedingte Erhöhung der Mieten bzw. Kosten, die für den Erwerb einer Wohnimmobilie aufzubringen sind. Zunehmend fragwürdig wird aber auch die Art und Weise, wie die Menschen in ihrer Beanspruchung von Ressourcen (insbesondere der Natur) wohnen. Damit stellt sich die Frage nach dem Wesen des Wohnens.

4.1 Annäherungen an ein geisteswissenschaftliches Verständnis des Wohnens Tiere wohnen nicht, nur Menschen. Allein sie streben nach schöpferi­ scher Selbstüberschreitung und der Verbequemlichung ihres Daseins. Lebensformen, die sich affirmativ der Natur unterwerfen, sind wider die KulturNatur des Menschen, der sich auf kreativen Wegen in Räumen verortet. Das betrifft die Wahl der Wohn-Stätten wie der Mittel, sich wohnend einzurichten. Dazu werden nicht nur Einrich­ tungsgegenstände und Dinge des täglichen Bedarfs benötigt, sondern neben Technologien auch Ideen und Ideologien – selbst Religionen. Für Romano Guardini »wohnt« der Mensch schon in den vertrauten Bahnen seines Denkens.202 Im Laufe ihres Lebens streben die meisten Menschen nach einer »relativen« Verbesserung ihres aktuellen Wohnens. Zwar folgen sie dabei auch Wohn-Moden; in erster Linie gehen sie jedoch ihrer »Lust 202

Vgl. Guardini: Der unvollständige Mensch und die Macht, S. 192f.

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

am In-der-Welt-Sein«203 nach, suchen also Wege der Steigerung subjektiven Wohlergehens. In frühen biographischen Phasen werden andere Räume, Dinge und Atmosphären präferiert als in späten. Kein Mensch lebt in seinem Alter wie zu Zeiten seiner Kindheit. Weil sich im Wohnen ausdrückt, wie die Menschen leben, werden die Modi des Wohnens – wo immer das möglich ist – an aktuelle Lebenssituationen angepasst. Wo die Menschen diese Synchronisierung verpassen oder verweigern, finden sie sich allzu oft in einer Wohnung wieder, die den Ansprüchen des Alltages nicht mehr gerecht wird. Im Wohnen drückt sich eine existentielle Dimension der Entfaltung des eigenen Lebens aus. Wohnen soll im Folgenden nicht in seinem einfachsten Sinne lediglich als »Ansässigkeit« in Wohnräumen aufgefasst werden, son­ dern in einem existenziellen Verständnis als Leben auf der Erde. In diesem Sinne sah Martin Heidegger das Wohnen als die Art und Weise, »wie die Sterblichen auf der Erde sind.« Mit Bezug auf die Räumlichkeit des Wohnens führte er aus: »Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen.«204 Es ist ein »Grundzug des Seins«205. In einer sozioökonomisch wie -kulturell heterogenen Gesellschaft kristallisieren sich plurale Wohnformen heraus, die den Charakter bunter Lebensfigurationen haben. So gibt es das »schöne« Wohnen, das vor dem Hintergrund (klein-)bürgerlicher Werte zelebriert wird und daneben das »gute« Wohnen, das auf der Basis ethischer Prinzi­ pien zumindest keine gravierende Unwucht im Austausch mit anderen Menschen wie der Natur bewirken will. Es gibt das auf einen Ort fixierte und das wandernde Wohnen.206 Es gibt ekstatisch-ästhetizis­ tische Wohnpirouetten maximal narzisstischen Übermuts und reiner Dekadenz (anders in den Villenvierteln der mittleren Großstädte als in den Luxuswohntürmen der Global Cities New York, London und Frankfurt). Und schließlich gibt es obdachlose Lebensformen nackter existenzieller Ausgesetztheit.207 Am Rande deutet sich damit die Frage an, ob es überhaupt eine Grenze zwischen wohnenden und nicht-wohnenden Praktiken der Selbstverortung im Raum gibt 203 204 205 206 207

Ortega y Gasset: Betrachtungen über die Technik, S. 26. Heidegger: Bauen wohnen Denken, S. 35 und 45. Ebd.: S. 48. Vgl. Guzzoni: Wohnen und Wandern. Vgl. Hasse: Was bedeutete es, zu wohnen?

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4.2 Zum existenzphilosophischen Situationsbezug des Wohnens

oder ob nicht – im Sinne von Heidegger – allein zwischen höchst heterogenen Modi des Wohnens unterschieden werden sollte. Darin schwingt die Frage nach seiner Denkwürdigkeit mit.

4.2 Zum existenzphilosophischen Situationsbezug des Wohnens Ausgehend von Heideggers Verständnis des Wohnens als Ausdruck sich im Raum verortender Praktiken des Lebens, wird auch im Fol­ genden der Weg einer existenzphilosophischen Betrachtung einge­ schlagen. Indes gibt es nicht »die« Existenzphilosophie, sondern eine heterogene Vielfalt im engeren und weiteren Sinne existenzbzw. lebensphilosophischer Ansätze, die eher verschwommen als klar voneinander abgegrenzt sind. Die theoretischen Strömungen sind facettenreich und durch große bis nuancierte Differenzen gekenn­ zeichnet.208 Die folgenden verbindenden Akzente sollen herausge­ strichen werden: (a) Zunächst rückt die subjektive Verwurzelung Wohnender in persönlichen und gemeinsamen Lebens-Situationen in den Vorder­ grund. Kein Mensch wohnt nur für sich, d. h. im Rahmen einer per­ sönlichen Situation. Schon durch die Not des Nehmen-Müssens (von Nahrungsmitteln, Kleidung und Energie) ist jede persönliche Situa­ tion über offene wie verdeckte Wechselwirkungszusammenhänge mit gemeinsamen Situationen verknüpft. (b) Alles Tun und Lassen im Kontext wohnender Orts- und Raumbeziehungen steigt aus einer Gefühlswelt auf. Letztlich strebt jedes Individuum in seinem Wohnen nach emotionalem Wohlerge­ hen in behagenden, bergenden und beheimatenden Atmosphären. Im Blick auf das Wohnen als »Kultur der Gefühle im umfriede­ ten Raum«209 merkt Hermann Schmitz kritisch gegenüber Martin Heidegger an: »Heidegger scheint nicht gebührend berücksichtigt zu haben, daß es beim Wohnen im ernstesten Sinne um ein Einsammeln von Ergreifendem geht, das sich als ortlos ergossene Atmosphäre nicht antreffen läßt wie etwas, zu dem man hingehen kann«210. 208 209 210

Vgl. Kozljanič: Lebensphilosophie. Schmitz: System der Philosophie, Band III/Teil 4, S. 258. Ebd.: S. 223.

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

Das Veto impliziert eine »Kritik des rationalistischen Erfahrungsbe­ griffes«211 und handlungstheoretisch ausgerichteter Menschenbilder, eine Kritik, die für alle lebens- bzw. existenzphilosophischen Ansätze charakteristisch ist. So wird der Mensch nicht als animal rationale aufgefasst, sondern als Wesen, das auch außerhalb von Verstandes­ sphären lebt und sich emotional zu seiner Welt verhält. Damit rückt die Lebens- bzw. Existenzphilosophie methodologisch in die Nähe der Phänomenologie (z. B. der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz, in deren Zentrum das emotionale Sich-finden des Menschen in Situationen steht). Die Gefühle sind hier als evaluative Dimension des Lebens vorausgesetzt. Sie sind es letztlich, die u.a. ethische Erwägungen in der Bewertung von Bedeutungen orientieren und der praktischen Revision habitualisierter Muster des Wohnens eine Richtung weisen. (c) Ein weiterer Akzent lebensphilosophischer Reflexion des Wohnens hebt auf einer Objektseite gesellschaftlicher Verhältnisse die Folgen ökologisch ruinöser Lebens- und Wirtschaftsweisen her­ vor, die die Voraussetzungen bergenden Wohnens in der Zukunft suk­ zessive zerstören. Lebensphilosophie reklamiert sich damit in einem politischen Strang parallel zu ihrer phänomenologisch begründeten Subjektperspektive als Kritik industriegesellschaftlicher, insbeson­ dere kapitalistisch organisierter Natur-Beziehungen. Ludwig Klages merkte bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts in großer Sensibilität für die ökologischen Folgen der Industrialisierung erinnernd wie mahnend an, »irgendwie gehört zur Natur auch der Mensch«212. Im Fokus der Existenzphilosophie thematisieren sich Situationen objektiven Betroffen-Seins von praktisch gelebten Naturbeziehun­ gen, deren Folgen für den Menschen zerstörerisch sind.213 Der Radius der Denkwürdigkeit des Wohnens überschreitet damit die Welt der persönlichen Situationen, denn nicht nur die lokalen Orte des Woh­ nens sind von essentieller Lebensbedeutsamkeit, sondern ebenso deren globale Verflechtungsräume. Dies umso mehr, als alles, was in Gestalt objektivierbarer ökologischer Systemveränderungen vor sich geht, früher oder später (über den Klimawandel, die Vergiftung der Böden und des Trinkwassers etc.) ins spürbare Unbehagen im Hier und Jetzt durchschlägt. 211 212 213

Lersch: Grundsätzliches zur Lebensphilosophie, S. 147. Klages: Mensch und Erde, S. 26. Vgl. Picht: Der Begriff der Natur und seine Geschichte, S. 352ff.

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4.3 Zur Sinnlichkeit des Wohnens

Dennoch ist »Existenz« nie schicksalhaft allein von außen bestimmt. Im Fokus der Lebensphilosophie betont Ferdinand Fell­ mann mit Nachdruck die Relevanz der »individuellen Existenz«214. Danach begegnet der Mensch in seinem eigenen Tun sich selbst: im Milieu pathischen Mit-Seins, aber auch vor dem Hintergrund einer vom Subjekt ausgehenden Macht über die Bedingungen seines eige­ nen Lebens. »Existenz wird in der Weise des Ergreifens oder Versäu­ mens nur vom jeweiligen Dasein selbst entschieden.«215 Erfahrung vermittelt daher die mehrdimensionale Reflexion. Zum einen durch­ dringt sie die affektive Gestimmtheit des Wohnens216 und zum ande­ ren dessen »von außen« verfügte Bedingungen. Die Orientierung der Lebensphilosophie an der leiblichen Spürbarkeit individueller Exis­ tenz schließt die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse keineswegs aus. Mit anderen Worten: Kritik des Wohnens macht im Fokus der Lebens­ philosophie an Grenzen des Faktischen auch deshalb nicht Halt, weil sich in den realen Verhältnissen nur die Folgen dessen ausdrücken, was die Menschen in ihrem (affektiven) Streben nach individuellem wie kollektivem (aber nicht a priori schon gemeinwohlorientierten) Wohlergehen in gewisser Weise »zurückgelassen« haben. Angesichts des Umstandes, dass sich nach dem Ende einer »heißen« Phase gera­ dezu ubiquitärer Gesellschaftskritik in den 1990er Jahren eine gewisse Anästhesie gegenüber gesellschaftlichen Problemen ausge­ breitet hat, sind vor allem existenzielle Implikationen des Wohnens in eine Schattenzone der Denkwürdigkeit geraten. Damit sind auch die mit ihnen in einem eher verdeckten Zusammenhang stehenden zivilisationshistorischen Spätfolgen einer Umwertung der Sinne aus dem Blick geraten, obwohl sie doch Spiegel einer allgemeinen Tech­ nifizierung des Lebens sind und eine gesteigerte Macht der Ökonomie über ästhetische Seinsweisen des Menschen erkennen lassen.

4.3 Zur Sinnlichkeit des Wohnens Menschen sind in ihrer Wohnung anders als auf der Straße, im öffent­ lichen Raum oder an ihrem Arbeitsplatz. Der Unterschied besteht ganz wesentlich darin, dass atmosphärisch umfriedete Wohnräume 214 215 216

Fellmann: Lebensphilosophie, S. 189. Heidegger: Sein und Zeit, S. 12. Vgl. ebd.: S. 140ff.

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

»persönlicher« gestimmt sind als fremde Räume des Draußen und ein wohnendes Individuum sich in der »konkreten Mitte seiner Welt«217 befindet, d. h. in einem Milieu gewohnter Dinge und emotional naher Menschen, mit denen es sein Leben teilt. Wohnung und Haus bilden einen »persönlichen Weltraum« vom Charakter einer heterotopologi­ schen Zone, in der das ästhetisch Eingewohnte Vertrautheit stiftet und auf die Bedeutung der Sinne sowie der damit verbundenen Gefühle aufmerksam macht. Im sinnlichen Erleben spiegelt sich die aktuelle Verfasstheit der Welt ästhetisch wider. Die Synchronisierung aller Eindrücke leistet das ganzheitliche Wahrnehmungsvermögen des Leibes, den Friedrich Nietzsche deshalb auch als »eine große Vernunft […], eine Vielheit mit einem Sinne«218 auffasste. Wohnräume werden atmosphärisch als leibnahe Milieuqualitäten sinnlich empfunden. Historische Stildebatten über ästhetische Präferenzen der Gestaltung einer Wohnung bestätigen die überragende Bedeutung der Sinnlich­ keit, Ästhetik und Emotionalität im Erleben persönlicher Nahräume. So sah Hermann Muthesius zur Zeit der Lebensreform um 1900 im Jugendstil (seinerzeit das ideale ästhetische Gesicht der bürgerlichen Wohnung) nur einen »Maskenscherz«, der entschlossen überwunden werden sollte. Als Maßstab neuen Wohnens sollten besser Reformwerte wie Einfachheit, Zweckmäßigkeit, Sauberkeit, Hygiene und Gediegenheit dienen219, für Henry van de Velde zusätz­ lich Materialgerechtigkeit, Ehrlichkeit und Logik.220 Von nun an sollte der Grundsatz gelten: »Wenn die Wohnung nicht ihrem Zweck entspricht, so ist sie ja gar keine rechte Wohnung. Zweckmäßig soll sie sein – vor allem aber gesund. Laß Licht und Luft herein, verbanne Lichtdiebe, Luftverderber und Staubfänger, wo du sie nur verbannen kannst.«221

Die Bemerkung stellt zum einen die Bedeutung der Sinnlichkeit heraus. Zum anderen zeigt sie, dass das Ästhetische zu allen Zeiten nur Spiegel je herrschender (gefühlsmäßiger) Geschmacksnormen war. Allzumal im Gesicht von Moden der Wohnraumgestaltung geben sich Werte und Normen zu erkennen, die die »innere« Verfasst­ heit einer Gesellschaft in ein Bild setzen. 217 218 219 220 221

Bollnow: Mensch und Raum, S. 124. Nietzsche: KSA, Band 4, S. 39. Vgl. Buchholz / Ulmer: Reform des Wohnens, S. 547. Vgl. ebd.: S. 548. Ferdinand Avenarius zit. bei ebd.: S. 550.

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4.3 Zur Sinnlichkeit des Wohnens

Das illustriert auch die Idee der »Frankfurter Küche«222, die von der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entworfen und im Zuge des Neuen Bauens ab Ende der 1920er Jahre massenhaft verbaut wurde. In der kompakten Größe von nur 10 m2 beeindruckte sie weniger als gemütliches Nest, denn als kulinarischer Maschinenraum. Die zum neuen Raummodell gehörende Durchreiche ins »Wohnzim­ mer« ermöglichte nicht nur zweckmäßige Haushaltsabläufe. Schein­ bar ganz nebenbei sorgte sie für eine genderspezifische Regulierung sozialer Rollen, hier durch die Ein- und Ausräumung von Mann und Frau. Reine Zweckmäßigkeit hat es im Wohnen nie gegeben. Ästheti­ sche Programme der Architektur folgen bis in die Gegenwart meistens hintergründigen gesellschaftlichen Normen. In welcher Weise die Räume des Wohnens sinnlich erlebt werden, ist deshalb auch nicht allein Spiegel ästhetischer, sondern in besonderer Weise (sub)kultu­ reller Standards, kulturindustrieller Suggestionen und technischer Errungenschaften. In den so selbstverständlich erscheinenden Raum­ gestalten des Wohnens gären die Normen gleichsam vor sich hin. Mit anderen Worten: In der ästhetischen Produktion wie sinnlichen Rezeption von Wohnräumen hallt die Gesamtsituation einer Zivilisa­ tion wider. Zu ihr gehören soziale Rollenverständnisse ebenso wie (technische) Formen der Kommunikation, einverleibte Bequemlich­ keitsansprüche und symbolische Wunschprogramme der Repräsenta­ tion. Technische Artefakte scheinen das Gegenteil dessen zu sein, was den Menschen gefühlsmäßig wichtig ist. Genauer betrachtet, sind aber schon die im täglichen Leben ubiquitären technischen Medien über sinnliche und ästhetische Weltbeziehungen habituell einverleibt. Die tendenziell sedierende Macht des Gewohnten trübt jedoch das kritische Bewusstsein gegenüber dem Selbstverständli­ chen. So bleiben die sich mit dem Gebrauch spätmoderner Technolo­ gien verbindenden hohen Wirkungsreichweiten in ihrer Bedeutung für die Be- und mehr noch die Verwohnung des Planeten weitgehend ausgeblendet. Vergleichbare Rückkopplungs-Dilemmata gab es zur Zeit archaisch-vormodernen Wohnens von und mit den Erträgen der globalen Allmende nicht. Das »Dispositiv«223 des Technischen verän­ dert nicht nur die Handlungsabläufe des täglichen Lebens, sondern

222 223

Barr / May: Das Neue Frankfurt, S. 9. Foucault: Dispositive der Macht.

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

auch die Wahrnehmung und die ethische Reflexion der Bewohnung der Erde.

4.4 Die Bedeutung der Technik im Wohnen Zur KulturNatur des Menschen gehört seine Begabung zur Herstel­ lung und Verwendung technischer Artefakte. Das Wohnen war schon zu Urzeiten fest mit der Technik verbunden. Die einfachste Höhle bedurfte zu ihrer Herstellung simpler technischer Mittel wie Steinkeil, Hebel und Seil. Heidegger weist darauf hin, dass der Mensch der Technik zwar unterworfen ist, sich mit ihrem Gebrauch aber auch Möglichkeiten freien Daseins ankündigen.224 In früheren Jahrhun­ derten waren es einfache Erfindungen, die (wie der tragbare Ofen von Pompeji225) dem bequemen Wohnen entgegenkamen. In der Gegenwart sind »ansprechbare« Automatismen (Siri, Alexa & Co) in gewisser Weise zu artifiziellen »Lebensmitteln« aufgestiegen. Das sog. »Smart Home« schreibt als digitale Vernetzungs-Technologie den menschlichen Körper in veränderte Nähe-Ferne-Beziehungen ein, wonach z. B. die eigenleibliche Bewegung im Nahraum durch einen Knopfruck überflüssig gemacht werden kann. Letztlich unter­ wirft der Mensch seine Wohnwelt und sich selbst über die technolo­ gische Modernisierung auch einem sinnlichen »Lifting«, das weniger der Verbesserung seiner Wohnorte und -räume, seiner Zimmer und Häuser dient, als der Gefühlsoptimierung des eigenen Selbst. Nach Ortega y Gasset folgt die Technik der »Idee des Wohlbe­ findens«226. In der Konsequenz führt ihr lebensweltlicher Gebrauch auch zu einer Überschreibung ästhetischer Normen (wenn auch stets nur »bis auf weiteres«). Funktion und Macht der Technik haben sich im Laufe der Zivilisationsgeschichte oft gravierend verändert, eher im Zusammenhang mit der Transformation von Lebensstilen und -standards sozioökonomischer Gruppen, denn aus einer bedeutungs­ neutralen Eigendynamik. Zu einer immer neuen Technifizierung des Wohnens haben vor allem strukturelle (und nicht Bestehendes nur abwandelnde) Innovationen geführt – von geschmiedeten Klammern und Nieten in der vorchristlichen Zeit bis zum High-Tech-Herd 224 225 226

Vgl. Vetter: Grundriss Heidegger, S. 350. Vgl. Neuburger: Die Technik des Altertums, S. 257. Ortega y Gasset: Betrachtungen über die Technik, S. 40.

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4.4 Die Bedeutung der Technik im Wohnen

und Haushalts-Roboter in der Gegenwart, von steinernen Rinnen der Wasserversorgung bis zu computergesteuerten transnationalen Stromnetzen. Aufmerksamkeit verdienen aber nicht nur die Dinge und Strukturen, die das Wohnen bequemer und »schöner« machen, sondern auch technische Mikro-Module zur Implantierung in den menschlichen Körper. Zwar dient ein Herzschrittmacher nicht dem Wohnen im engeren, sehr wohl aber im weiteren Sinne. Nach Paul Virilio tangiert der technologische Umbau des »intraorganischen Raums des Subjekts«227 aber das leibliche Befinden im bewohnten Raum auf allen Maßstabsebene. Indem die Implantation organi­ scher Substitute (Herzen und Nieren) sowie funktionaler Elemente (Gelenke und Hörimplantate) die Lebensverlängerung und die Ver­ besserung des existenziellen Befindens anstreben, disponieren medi­ zinische Apparate im Körper des Menschen auch das Wohnen im Verständnis von Martin Heidegger.228 Subjektives Wohlergehen ver­ dankt sich noch dem chemischen »Design« der täglich konsumier­ ten Nahrungsmittel. Schon in naher Zukunft dürften »Professional Personal Robots« als Wohnhelfer eine zunächst noch ungewohnte aber kontinuier­ lich wichtiger werdende Rolle spielen. Vermehrt bringen computer­ gelenkte Maschinensysteme eine Schnittstelle hervor, an der der Mensch seine fleischliche Natur in die Welt der Cyborgs überschreitet. Darin variiert sich aber nur die Idee der Hybridität des Menschen, welche jedoch schon auf die christliche Mythologie zurückgeht. Wenn Gott zum Schöpfer des Menschen (wie der Tiere und Pflanzen) erklärt wird, so kommt damit implizit eine existenzielle Macht außerhalb der Natur in die Welt. Noch im religionsphilosophischen Blick gibt sich der normative Charakter aller Grenzziehungen zwischen Natur und Kultur zu erkennen und damit zugleich die Janusgestalt der Macht der Technologien.229 Im Zuge der Suche nach Wegen einer ökologischen Revision des Wohnens werden die Menschen mitunter selbst zu Objekten techno­ logischer wie techno-architektonischer Innovationen. Dies illustriert der Entwurf eines Wohnheims für 4.500 Studierende, das von dem Milliardär Charles Munger für die Universität Santa Barbara gestiftet

227 228 229

Virilio: Die Eroberung des Körpers, S. 115. Vgl. Weber / Zoglauer: Verbesserte Menschen. Vgl. ebd.: S. 38.

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

werden soll.230 Über 90 % der Zimmer des Gebäudes liegen in dessen fensterlosem Innerem.231 Das Sonnenlicht wird darin simuliert und von Bildschirmen in den Raum emittiert. Nach Auffassung des Stifters sei dies »fürs Wohlbefinden noch besser als die echte Sonne, […] weil die Bewohner so jederzeit selber entscheiden können, welche Tages­ lichtsituation sie gerade wollten.«232 Das Beispiel zeigt einmal mehr, in welcher Weise das sinnliche Leben durch technische Normen des Wohnens definiert wird. Weil das Wesen der Technik im »Ge-stell« liegt (dem Versammelnden233 allen Stellens, vom Vorstellen über das Feststellen zum Bestellen, Herstellen und Stellen der Natur234), begegnet der Mensch »überall nur noch sich selbst«, andererseits aber auch »nirgends mehr sich selber«235. Über die Apparatewelt des Woh­ nens kehrt diese dilemmatische Ambivalenz in der Sinnlichkeit des täglichen Lebens wieder. So folgt die Gestaltung der Wohnungen nicht nur Bedürfnissen nach Bequemlichkeit, Komfort, Sicherheit und atmosphärisch bergender Behaustheit; zugleich intensiviert sie exis­ tenzielle Abhängigkeiten von technifizierten Formen des Lebens. Wie sollte ein Wohnen in der Spätmoderne vorstellbar sein, in dem es angesichts des Mangels einer Stromquelle kein einziges elektrisches Gerät gäbe? Unter dem Druck ökologisch eskalierender Krisen setzt die Sicherung basaler Überlebensbedingungen den immer entschlosse­ neren Einsatz komplexer Technologien voraus (u. a. zur »Reparatur« systemdysfunktionaler Naturprozesse), die als Folge politischer Pro­ gramme der Krisenbewältigung die zügige Weiterentwicklung verlan­ gen (z. B. im Bereich »grüner« Technologien der Energiegewinnung). Schon durch das Tempo des Vortriebs von Innovationen und die kulturelle Fokussierung allein technischer Lösungen für existenzielle Probleme dünnen die Fäden der Achtsamkeit gegenüber der wirkli­ chen Welt aus.236 Das Wohnen verdient hier besondere Aufmerksam­ keit, gilt es atmosphärisch (und ideologisch verklärt) doch als Ideal Der Entwurf des elfgeschossigen Wohnblocks stammt von dem Architekturbüro Van Tilburg, Banvard & Soderbergh (VTBS Architects) mit Niederlassungen in Santa Monica, Denver und San Jose. 231 Vgl. von Fischer: Wohnen ohne Fenster? 232 Ebd. 233 Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 23. 234 Vetter: Grundriss Heidegger, S. 280. 235 Heidegger: Die Frage nach der Technik, S. 27. 236 Vgl. Marquard: Aesthetica und Anaesthetica. 230

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4.5 Der Einbruch der Sorge in das Wohnen

reinen Selbstseins (Rechtsstatus der Wohnung lt. Grundgesetz). Als Folge einer gesteigerten Technifizierung der Wohnungen beginnen Freiheitsphären der Kontemplation allerdings abzuschmelzen und Schutzräume der Kommunikation durch digitale Schleusen ins Offene zu entweichen. An den imaginären Toren und Knoten der WLANNetze werden auf diesem Wege zumindest Facetten des Wohnens beinahe unbemerkt veröffentlicht. Die Spielräume freier Selbstkon­ stitution im atmosphärisch umfriedeten Raum237 lösen sich mit der Bewusstwerdung ihres Verlustes sukzessive auf. Die Wohnung per­ foriert – oft zuerst technologisch, dann atmosphärisch. Eine utopische Welt der Intimität und Abgeschiedenheit gegenüber den abgründigen Wirren eines kalten Draußen verliert sie sich punktuell und situativ an diffuse wie ubiquitäre Einflussmächte.

4.5 Der Einbruch der Sorge in das Wohnen Wenn es den Menschen in ihrem Wohnen nicht nur auf faktisch nutzbaren Platz für den dauerhaften Aufenthalt ankommt, sondern zugleich auf die zukunftsorientierte Sicherung einer behagenden Welt, müssen sie sich um die Folgen ihres Tuns und Lassens sor­ gen. Das impliziert die Sorge um die Welt im Ganzen. Einen sub­ jektrelevanten Schnittpunkt bildet das Wohnen in seiner Spannung zwischen dem Streben nach bestmöglicher Verwirklichung partikula­ rer (meistens privater) Bedürfnisse und der Respektierung übergrei­ fender, gemeinwohlorientierter Interessen.238 Jedes Wohnen bedarf des Nehmens sozialer Ressourcen und solcher der Natur. Geben und Nehmen bilden aber ein wechselseitiges Gefüge. So läuft die Realisierung von Lebensvorzügen in der Durchsetzung monetärer Privilegien relativ Weniger auf die Verschärfung krasser Ungleichhei­ ten hinaus. Generell verlangt das selbstbezogene Nehmen angesichts der »Fundamentalität [der Gabe] für das Verständnis menschlichen In-der-Welt-Seins«239 nach Gegengaben. Diese gebieten sich schon aus der Sorge um die Erhaltung eines halbwegs gerechten und befrie­ denden Ausgleichs. 237 238 239

Vgl. Schmitz: System der Philosophie, Band III/Teil 4, 2. Kapitel. Vgl. Gatzemeier: »Gemeinwohl«, S. 730. Hoffmann / Link-Wieczorek / Mandry: Einleitung (zu: Die Gabe), S. 9.

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

Dem individuell motivierten, gleichsam »hemmungslosen« Nehmen aus den Ressourcen der Allmende kann letztendlich nur der Staat Grenzen setzen, wenn die institutionell durchsetzbaren Regulie­ rungen auch limitiert sind. Zu ihrem größten Teil reklamiert sich die Gegengabe so auch als Moment informeller Austauschbeziehungen der Subjekte untereinander wie zwischen Subjekt und Natur. Nicht jede Rückführung von Stoffen der Natur in deren Kreisläufe ist jedoch eine Gabe im hier gemeinten (philosophischen und theologischen) Sinne. So steht die »Rückgabe« unbrauchbarer Reste von Entnomme­ nem (von einfachem Abfall bis »langlebigem« radioaktivem Müll) explizit nicht in der Logik der Gabe im existenz- und religionsphi­ losophischen Verständnis. Solche »Gaben« repräsentieren vielmehr ein Nehmen zweiter Ordnung, das den sorglosen Raubbau an den natürlichen und sozialen Ressourcen noch verstärkt oder gar poten­ ziert. Gegen-Gaben, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und Fortbestand fördern, entziehen sich der Logik des Tausches. Sie basie­ ren vielmehr auf der (emotionalen) Anerkennung eines gemeinwohl­ orientierten Anspruchs auf Wiedergutmachung.240 Dieser stellt sich angesichts globaler Herausforderungen gegenwärtig kaum auf einem lokalen oder regionalen Maßstab; er hat vielmehr weltumspannende Bedeutung. Arno Anzenbacher spricht deshalb von einer »globalen Gemeinwohlperspektive«, in deren Fokus sich Gaben reklamieren (s. auch 4.6). Das Nehmen von allem, was dem atmosphärisch behagenden Wohnen dient, verlangt die ausgleichende Gegengabe – nicht in einem religiösen Sinne an Gott, sondern in einem ökologischen Sinne an die Natur. Nur hat sie nicht den Charakter dessen, was in Gestalt ihrer Stoffe genommen wurde. Die adäquate Gegengabe wirkt gleich­ wohl auf das Milieu zurück, aus dem genommen wurde. Weil die durchs Nehmen aufgerissene Lücke nicht unmittelbar ausgeglichen werden kann, erfolgt die Kompensation im Sinne einer humanitären Transformationsleistung auf dem Schnittpunkt einer kulturellen Wei­ che. Zurückgegeben wird nichts Gegenständliches, sondern »etwas« vom eigenen Selbst241: die Sorge um die Bewohnbarkeit von Orten und Regionen, mehr noch um die zukünftige Bewohnbarkeit der Erde als globalem Lebensraum. Diese Sorge richtet sich nicht selbstlos auf »die« Natur; sie ist Ausdruck eines a priori anthropozentrischen 240 241

Vgl. ebd.: S. 13. Vgl. Holm: Positive Ökonomie als Promissio, S. 151.

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4.5 Der Einbruch der Sorge in das Wohnen

Naturschutzes, der die Sicherung einer für den Menschen lebensfähi­ gen und im Sinne seiner Daseinsinteressen »funktionierenden« Natur anstrebt. Diese Sorge verdient jedoch nur und erst dann die Aner­ kennung ihres schonenden (in gewisser Weise »heilenden«) Charak­ ters, wenn sie auch auf eine Praxis der Überwindung strukturell dystopischer Mensch-Natur-Metabolismen hinausläuft. Erst dann ist Schonung weder rhetorisch, noch egoistisch, sondern (im engeren Sinne als Gabe) auf die Wahrung des Gemeinwohls orientiert. Atmosphärisch wie faktisch ist die Welt des Wohnens eine prädestinierte Sphäre der Sorge (örtliche Mitte des Lebens, in deren Milieu sich alles Tun tendenziell global vernetzt). In ihrer relativen räumlichen Autonomie bietet sich die Wohnung der Kontemplation an, welche einer Praxis der gelebten Sorge entgegenkommt, denn: Die »Erfahrung des Wirklichen gewinne ich nur, indem ich zu mir selbst komme.«242 Darin klingt ein ethischer Auftrag an: »Wir sind nicht bloß da, sondern unser Dasein ist uns anvertraut als Stätte und als Leib der Verwirklichung unseres Ursprungs.«243 Die in diesem Satz schwingende Religiosität darf insofern »profaniert« werden, als jedes individuelle Dasein der Kollektivität aller Menschen verpflichtet ist, denn sie eint die Angewiesenheit auf ein und denselben Planeten. Das Anvertraute verlangt allein wegen seiner dauerhaften Erhaltung die Sorge. Daher knüpft Jaspers die Freiheit des individuellen Menschen auch an die der Völker. »Alles liegt daran, daß Freiheit die Freiheit erweckt. Jeder Einzelne kann nur in dem Maße frei werden, als um ihn herum freie Menschen sind.«244 Verantwortliches Wohnen, das sich um die Zukunft guter (und nicht nur biologisch gerade noch ausreichender) Modi des Lebens sorgt, darf nicht in die Verwahrlosung führen, die sich als Folge gescheiterter Sorge zu verstehen gibt: Wer etwas verwahrlosen lässt, hat »die schuldige sorge für eine sache«245 nicht aufgebracht, vielmehr das zu Besorgende nachlässig versäumt, es geschädigt, verdorben, geringschätzt, gefährdet oder töricht behandelt.246 In jeder Verwahr­ losung spiegelt sich eine Form von Unachtsamkeit wider. Das gilt nicht nur für Dinge, Orte, Objekte und andere Menschen, für die 242 243 244 245 246

Jaspers: Existenzphilosophie, S. 68. Ebd.: S. 1. Ebd.: S. 225. DWB: Band 25, Sp. 2085. Vgl. DWB: Band 25, Sp. 2087f.

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

man Verantwortung trägt, sondern noch für den Umgang mit eigenen Fähigkeiten, deren Pflege und Entwicklung ein jedes Individuum (als Gabe) anderen Menschen im Rahmen der gemeinsamen Schaffung guter Lebensperspektiven schuldig ist.247 Fehlgeschlagene Sorge mündet über kurz oder lang in die Verwahrlosung der einen wie der anderen Art. Es gibt neben dem massenmedial überstrapazierten Bild der Verwahrlosung in Gestalt von Obdachlosigkeit, die oft genug gar nicht Folge selbst zu verantwortender Verwahrlosung ist, sondern Nebenfolge systemischen Scheiterns in der gesellschaftlichen Bewäl­ tigung existenzieller »Grenzsituationen«248, auch eine sozialpoliti­ sche und in letzter Konsequenz ökologische Form der Verwahrlosung: Jene Wohlstands-Verwahrlosung exzessiv glamourösen Wohnens, die vom hemmungslosen Nehmen profitiert und sich in keiner Pflicht zur Sorge um die Bedingungen wohlergehenden Wohnens anderer kümmert. Gerade diese Wohlstands-Verwahrlosung führt die Dring­ lichkeit einer Ethik des Wohnens vor Augen.

4.6 Die ethische Legitimation des Wohnens Wie sollen enharmonische Beziehungen zwischen Geben und Neh­ men in den Sphären des Wohnens zu einem Ausgleich gebracht werden? Einen wichtigen Schritt macht die Sozialethik, wenn sie dafür plädiert, dass alle das Wohnen regulierenden Werte, Normen und Praktiken denkwürdig zu machen sind.249 Darin klingt der Heidegger’sche Imperativ an, das Wohnen zu bedenken – gegen alle Macht der Betäubung durchs Süffige, Schöne und Behagliche. Doch auf welcher Maßstabsebene soll diese Reflexion erfolgen? Für Otto Friedrich Bollnow verläuft die Achse des Wohnens durch die Mitte des (Wohn-) Hauses.250 Das Wohnhaus gilt ihm als jene »feste Stelle im Raum«251, an der der Mensch verwurzelt ist und sich beheimatet fühlt. So merkt er an: »Die Weise wie der Mensch 247 248 249 250 251

Vgl. DWB: Band 25, Sp. 2086. Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, Kapitel III.2. Vgl. Höffe: »Sozialethik«, S. 240. Vgl. Bollnow: Mensch und Raum, S. 124. Ebd.: S. 128.

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4.6 Die ethische Legitimation des Wohnens

in seinem Hause lebt, bezeichnen wir als wohnen.«252 Zwar denkt auch er das Wohnen über die Grenzen der Wohnung hinaus, da der Mensch »in einem allgemeinen Sinne auch in der Stadt«253 wohnt. Letztendlich haftet Bollnow aber am großmaßstäblichen Raum der heimatlich vertrauten Nahwelt. Deshalb ist für ihn die Wohnung auch der Ort, an dem sich der Mensch »gewissermaßen festkrallen [muß], um sich gegen den Ansturm der Welt, die ihn dort wieder verdrängen will, behaupten zu können.«254 Wird die Reichweite des Wohnens auf den Raum der Wohnung begrenzt, suggeriert sich der Eindruck, dass sich alle Bedingungs- und Wirkungszusammenhänge an der Grenze der eigenen vier Wände verlieren. Ganz andere Akzente setzt Martin Heidegger mit seiner Vorstellung des Wohnens, das er in die Weite der Welt hineingespannt sieht: »Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen.«255 Bauend lebt der Wohnende einen Bezug »zu Orten und durch Orte zu Räumen«256. Wohnen ist nach Heidegger mit einem Bauen verbunden, das über die Bedeutung des Herstellens hinaus als ein Hegen und Pflegen gedacht ist. Ethisch produktive Sprengkraft birgt erst diese Weitung des räumlichen Denkens über die Grenzen von Zimmern hinaus. In den globalen Fokus rücken dann notwendigerweise weltumspannende Dimensionen natur- wie sozialökologischer Austauschbeziehungen, mit denen sich ethisch existenzielle Fragen stellen. Die Anerkennung der Verwickeltheit des Wohnens in multiple globale Zirkulationen öffnet den Blick für Ambivalenzen, in denen der lokale Wohnort als Verankerungspunkt eines Lebens, das schon lange weltumspannen­ den Charakter hat, Beachtung findet. Globale Beziehungen implizie­ ren Kreisläufe des Nehmens und Gebens, die die Ressourcen der Natur betreffen, wie die der sozialen Welt. Heideggers ethisches Gebot schonenden257 Bauens und Wohnens will das Kentern existen­ zieller Wechselwirkungen vereiteln:

Ebd.: S. 125. Ebd. 254 Ebd.: S. 128. 255 Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 33. 256 Ebd.: S. 45. 257 Heute würde man von »Nachhaltigkeit« sprechen, dabei aber über eine ubiquitäre politische Leerrhetorik hinaus (zumindest idealtypisch) auch meinen, was Heidegger mit »schonen« im Sinn hatte. 252

253

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4. Wohnen – eine existenzphilosophische Betrachtung

»Das Schonen selbst besteht nicht nur darin, daß wir dem Geschonten nichts antun. Das eigentliche Schonen ist etwas Positives und geschieht dann, wenn wir etwas zum voraus in seinem Wesen belassen, wenn wir etwas in sein Wesen zurückbergen, es entsprechend dem Wort freien: einfrieden.«258

Gelingendes (man könnte auch sagen »gutes« und nicht nur »schö­ nes«) Wohnen ist ein schonendes; es ist rücksichtsvoll, nachhaltig und vernunftbasiert. Es fußt auf einem schöpferischen Bauen, das in seiner etymologischen Wurzel259 noch das Bauen des eigenen Lebens einschließt. In diesem weiteren Verständnis kommt auch die existenzielle Bedeutung des Wohnens zur Geltung, deren Reflexion in die ethische Kritik mündet. Damit lichten sich die Schatten jener Unbedachtheit, wonach das Wohnen nur ökonomisch (z.B. immo­ bilienwirtschaftlich) aufgefasst wird, nur technologisch (als Welt der Apparate), ethnisch (aus der Perspektive subkultureller Inseln), kulturtheoretisch (im Blick auf Werte und Normen), religiös (als Welt mythischer Überzeugungen) oder psychologisch (als gefühlsmäßig umhüllende »dritte Haut«260). Am Ende seines Werkes über die Kulturgeschichte des Woh­ nens wirft Edmund Meier-Oberist in den 1950er Jahren vor dem Hintergrund der Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg die Frage auf: »Werden wir überhaupt wieder wohnen lernen?«261 Die Aktualität der Frag- und Denkwürdigkeit des Wohnens besteht nach rund 80 Jahren fort. Nur hat sie sich von Grund auf verändert. Das Wohnen steht heute – auf der Höhe eines fragwürdig gewordenen technischen Fortschritts – auf einem aporetischen Grat, auf dem die Problemgehalte des Wohnens in immensen gesellschaftlichen Herausforderungen kulminieren. Eine existenzphilosophisch bedeut­ same Richtung ethischer Revision des Wohnens deutet ebenfalls in den 1950er Jahren der Theologe Romano Guardini an, indem er die Einnahme einer würdigenden Haltung zum unmittelbar Gegebenen zu denken gibt: »Nicht im Zugehen auf die Dinge, sondern mit dem Zurücktreten von ihnen beginnt die Kultur.« Erst die Distanz ermögliche die »Freiheit geistiger Bewegung«262. Der dilemmatische Charakter des Wohnens besteht im Angesicht sich verschärfender 258 259 260 261 262

Ebd.: S. 35. Vgl. DWB: Band 1, Sp. 1170f. Funke: Die dritte Haut. Meier-Oberist: Kulturgeschichte des Wohnens im abendländischen Raum, S. 332. Guardini: Der unvollständige Mensch und die Macht, S. 22.

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4.6 Die ethische Legitimation des Wohnens

ökologischer Problemlagen darin, dass diese als eine das Leben im Allgemeinen erschütternde Herausforderung gar nicht aufgefasst, sondern in parzellierte Lösungserwartungen an gesellschaftliche Teil­ systeme (politische, juristische, ökonomische und technologische) abgeschoben werden. So kommt das Wohnen als gelebte Beziehung zur Welt im Ganzen gar nicht erst in den Blick. Zu allen Zeiten hat es mehr oder weniger eklatante Differen­ zen zwischen den Wohnformen gegeben, schon weil sich in sozio­ ökonomisch disparaten Gesellschaften auch extrem kontrastierende Lebensformen durchgesetzt haben. Der Unterschied zwischen den gegenwärtig vorherrschenden Wohnformen und denen früherer Jahr­ hunderte besteht neben veränderten Moden und technischen Stan­ dards nachdrücklich darin, dass der fiktive Anspruch zukünftig Leben­ der von zwei Gefahren überspannt ist: erstens der Unbewohnbarkeit der Erde und zweitens – als Folge sich zuspitzender sozialer Ungleich­ heiten – einem sozialen Unfrieden, der allzu leicht die Macht zur Destabilisierung der Gesellschaft entfalten kann. Politische Eliten, die nicht-zukunftsfähige Wohn- und Lebensformen stillschweigend ignorieren oder tolerieren, beschleunigen den Weg in existenziellökologische und sozial zersetzende Krisen nur. Sie verbauen die Perspektiven behagenden Wohnens all jener, die erst in der Zukunft auf der Erde leben werden. Die Wahrung der globalen (Über-) Lebensinteressen der Menschen verlangt deshalb heute eine kritische Begleitprognostik aller Praktiken des Wohnens.

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5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen

Im Wohnen kommt ein anthropologischer Zug der menschlichen Daseinsbewältigung zur Geltung. Wie die Menschen wohnen, ist zwar von Lebensstilen, Moden und ästhetischen Präferenzen abhän­ gig; es unterscheidet sich aber grundlegend von anderen Formen der Raumnahme wie der Landwirtschaft oder der industriellen Nutzung ganzer Regionen. Der Raum des Wohnens steht in vielfältigen Bezie­ hungen zu einer nicht nur menschlichen Welt.263 Bewohnt wird stets auch eine Welt der Tiere. Den WeltRaum außerhalb vertrauter Wohn­ blasen sprechen wir im Allgemeinen mit dem (systemtheoretischen) Umwelt-Begriff an. Während, was die Menschen im Wirkungsfeld von Unternehmen, Behörden und Institutionen tun, meistens durch gesellschaftliche Strukturen, Organisationsformen, formale Konstel­ lationen und Normen reguliert wird, folgen sie in ihrer spürbar nahen und gewohnten Welt eher individuellen Rhythmen. Diesen leiblich sich zu spüren gebenden Raum nennt Karlfried Graf von Dürckheim »Herumwirklichkeit«264. Diese ist aber nicht nur der ein­ gehegte Raum des Wohnens in einem Haus. Herumwirklich sind auch solche »Gegenden«, die der Mensch atmosphärisch in die Welt seines 263 Das wird gerade dann deutlich, wenn man die Sonderwelt des Wohnens mit Michel Foucault als »anderen Raum« begreift. »Die Heterotopie vermag an einen ein­ zigen Ort mehrere Räume, mehrere Platzierungen zusammenzulegen, die an sich unvereinbar sind.«; Foucault: Andere Räume, S. 42. Durch diese Ineinanderlagerung leben die Menschen neben ihrem täglichen Leben zugleich aber auch ihre Utopien, indem sie sich ein kontrafaktisch geträumtes Sein suggerieren. In mentalen Kompen­ sationsblasen bestreiten sie in gewisser Weise, was sie tatsächlich in ihrem täglichen Leben ausmacht. So hat der »innere« Raum des Wohnens nicht nur pragmatischen Zwecken gerecht zu werden (räumlich-sächlich repräsentiert durch Küche, Abstell­ raum, Keller und »Wohn«-Zimmer); er muss auch sozialpsychologische Sonderfunk­ tionen erfüllen und die plurale Schieflagen des erlebten gesellschaftlichen Lebens zwischen tatsächlichen Wänden und imaginären Traumsphären mindestens symbo­ lisch ins Lot bringen. Das setzt einen herausgehobenen Schutz der Wohnung als eige­ nen Rechtsraum voraus. 264 Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 36.

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5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen

Wohnens einbezieht. Im Wohnen temperieren sich Beziehungen zu Räumen im Modus der Gefühle; so entstehen Räume, Raumzonen und »Ecken«, die affektiv nahegehen und solche, die fern sind. Dabei sind mathematische Nähe- und Ferne-Beziehungen relativ unbedeu­ tend. Wenn die Unterschiede zwischen Stadt und Land am Anfang des 21. Jahrhunderts auch zu verwischen beginnen, so gibt es doch eine Reihe von lebensbedeutsamen Differenzen zwischen der sachverhalt­ lichen »Ausstattung« vieler ländlicher Räume fernab der großen Städte auf der einen Seite und dem, was es in den Metropolen gibt auf der anderen Seite. Dabei werden die Rhythmen des gesellschaft­ lichen Lebens hier wie dort wesentlich durch die technik-kulturellen Innovationen und Weichenstellungen der Zentren getaktet. Schon daher vollzieht sich das Leben und Wohnen auf dem Lande in gewisser Weise im Schatten der Metropolen. Ich will im Folgenden das Wohnen in der Stadt zum Thema machen und dabei der Frage nachgehen, in welcher Beziehung es zum Wandel der Städte steht. Das schließt die Frage ein, wie sich Urbanität unter der Bedingung ihrer strukturellen Transformation heute über Formen des Wohnens konstituiert.

5.1 Was heißt heute »wohnen«? In einem lebensphilosophischen Rahmen hatte insbesondere Martin Heidegger über das Wohnen gesagt, was vor allem in der Architek­ turtheorie Beachtung gefunden hat. Er stellte das Bauen in den Kontext des Wohnens und dachte den Raum des Wohnens über die Grenzen der Wohnung hinaus. Das Wohnen erscheint uns in diesem Verständnis in einer existenziellen Dimension: »Das Wohnen ist die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind.«265 Wohnen bezieht Heidegger aufs Ganze des Lebens. Darin übersteigt es die praktisch banale Bedeutung des »Eingerichtet-Seins« in einer Wohnung oder einem Haus, denn: »Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen.«266

265 266

Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 35. Ebd.: S. 45.

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5.1 Was heißt heute »wohnen«?

Heidegger spricht nicht von Ort und Raum, sondern (im Plural) von Orten und Räumen. Das heißt, er spricht von einem Wohnen, das sich nicht in der Singularität eines einzigen (Wohn-)Ortes erschöpft. Das Wohnen bewegt sich gewissermaßen in den offenen Raum hinein. Dazu muss es sich aber nicht nur allokativ, sondern auch mental (rational wie emotional) bewegen. Deshalb sieht es Heidegger auch in seiner wesensmäßigen Bestimmung als ein offenes Geschehen: »Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwür­ dige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben.«267 Ich werde im Sinne dieses Verständnisses im Folgenden der Frage nachgehen, in welcher Beziehung sich das Wohnen zu Urbanität als (mehr groß- als klein-) städtischer Lebensform verhält. Der existenzphilosophische Begriff des Wohnens, wie ihn Heidegger begründet hat, findet erstaunlicherweise selbst im Rah­ men phänomenologischer Betrachtungen des Wohnens nur bedingt Anklang. Wenn es zum Beispiel bei Otto Friedrich Bollnow heißt: »Die Weise, wie der Mensch in seinem Haus lebt, bezeichnen wir als wohnen«268, dann verortet er das Wohnen im Raum der Wohnung. Zwar bleibt Bollnow nicht bei dieser eher engen räumlichen Beschrän­ kung, denn er lässt auch einen allgemeineren Sinn von Wohnen gel­ ten. Auch die Stadt begreift er als Wohnraum. Wenn er sich auch auf Heidegger bezieht, so teilt er doch nicht dessen räumlich entgrenztes Verständnis des Wohnens. Für Bollnow wurzelt das Wohnen letztlich an einem heimatlich getönten Ort. Ein Wohnen aus der aporetischen und idiosynkratischen Kraft der Heimatlosigkeit gibt es für ihn nicht, damit auch kein Wohnen, das sich an Frag- und Denkwürdigkeiten erst entfaltet: »Wohnen aber heißt, an einem bestimmten Ort zu Hause sein, in ihm verwurzelt sein und an ihn hingehören.«269 In etymologischer Sicht lässt sich im Wohnen indes nichts Hei­ matliches ausmachen. Es spricht sogar einiges dafür, dass im Zentrum des Begriffes existenzphilosophisch konnotierte Bedeutungen liegen, die den engen räumlichen Rahmen der Wohnung eher sprengen als bekräftigen.

267 268 269

Ebd.: S. 48. Bollnow: Mensch und Raum, S. 125. Ebd.

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5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen

5.1.1 »Wohnen« – etymologische Facetten Nur zum Teil hat der Wohn-Begriff einen expliziten Orts- oder Raum­ bezug. Dieser ist bei all jenen sprachlichen Wendungen erkennbar, die auf den Aufenthalt in einer Wohnung und damit ein relatives Ausharren an einem Ort verweisen.270 Umgekehrt heißt dies, dass nur wohnen kann wie ein »unstäter sänger, der von ort zu orte ziehend sein brot verdiente«271, wer also keinen festen Ort hat. Wohnen können in diesem Bedeutungsfeld aber nicht nur Personen, sondern auch Dinge, die eine atmosphärisch mystifizierte Nähe zu Personen haben: »dunkel in heiliger gefangenschaft die glocken wohnen«272. Wohnend kann schließlich eine gefühlsmäßige Regung anwesend sein. Die ist dann aber nicht im objektiven Raum, sondern an einem leiblichen Ort: »der schrecken wohnte um seine augen«273. Es ist dies eher ein atmosphärisch düsteres Dräuen als ein dem menschlichen Wohnen verwandtes Da-Sein. Ein Mensch wohnt, wenn er sich in einem umfriedeten Bezirk niederlässt. Neben der festen Mauer des Hauses gibt es jedoch auch andere Formen des sich Behagens oder Umfriedens: die Umzäunung, die Anpflanzung einer Hecke, die Anlage eines Wassergrabens etc. Mit dem Begriff des Behagens und dem des Umfriedens tritt eine Gefühlskomponente des Wohnens hervor: Behagen schafft Behag­ lichkeit, Umfrieden ein Gefühl des Befriedet-Seins.274 Wohnen findet – selbst innerhalb einer Umfriedung – auch außerhalb der Woh­ nung, des Wohnraums und des Hauses statt. Auch der Garten dient dem Wohnen275, der Nutzgarten anders als der nach ästhetischen Wünschen inszenierte Ziergarten. Als erweiterter Wohnraum wird er als spezifischer Außenraum in die kulturhistorisch geprägte wie individuell gestaltete Kultur des Wohnens eingegliedert. Der Garten ist ein Programmraum, der als »gelebter Raum« (Dürckheim) mit symbolischen und atmosphärischen Bedeutungen gefüllt wird. Auch das Wohnen an einem Ort oder in einem Land276 ist in aller Regel mit Gefühlsnetzen überspannt. Man denke an ortsbezogene, regionale 270 271 272 273 274 275 276

DWB: Band 29, Sp. 1206f. und 1212. Ebd.: Sp. 1212. Ebd.: Sp. 1214. Ebd.: Sp. 1215. Vgl. ebd.: Sp. 1207. Vgl. ebd.: Sp. 1210. Vgl. ebd.

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5.1 Was heißt heute »wohnen«?

und nationale Identität als je maßstäblich differenzierte Form der Beheimatung in Landschaften und Gegenden. Wie man auf dem Lande oder in der Stadt wohnen kann, so auch in einer Landschaft, am Meer, am Wasser oder im Gebirge. Wohnen erweist sich hier in einem ganzheitlichen Verständnis als atmosphärische »Raumnahme«. Die folgenden drei Bedeutungsfelder haben keinen topographi­ schen Raum- oder Ortsbezug; sie unterstreichen vielmehr die Seins­ weisen eines wohnenden Aufenthalts an einem Ort. Wenn es heißt, man wohne bequem, übel, fürstlich277 oder »in aller zucht bey einan­ der«278, so ist damit eine befindliche wie sittliche Art des Lebens ange­ sprochen, jene Sittlichkeit, die im »kreise froher menschen wohnt«279. Auch die Frage der Eigentumsverhältnisse (»zur Miete wohnen«280) betrifft eine wohnende Seinsweise, die ihre unbezweifelbare Bedeu­ tung für die sozio-ökonomische Art des Wohnens hat, diesseits jeder sozialhierarchischen (Dis-)Qualifizierung. Eine metaphysische Überwölbung des Wohnens durch die numi­ nose Anwesenheit von Geistern und mystischen Atmosphären klingt bei Paracelsus an: »so nun der teuffel im selbigen hausz wohnet«281. Damit sind keine »frei« im Raum flottierenden Geister gemeint; vielmehr spielt die Metapher auf den Charakter eines Wohnenden an, seine Lebensführung und vor allem seine (verlorene) Gottgläubigkeit. Appelle, den Regeln eines gottesfürchtigen Lebens zu folgen, dürften auch jenen Redewendungen zugrunde liegen, in deren Mitte Gott oder etwas »Göttliches« unter den Menschen wohnt: »der heylig geist wonet in dir«282, oder die sünde, »die in den stätten wohnet«283. Auch Geisteshaltungen, Gesinnungen und gottesfürchtige Lebensformen werden insofern als »wohnend« bezeichnet, als sie »im« Menschen sind und sich als Eigenschaften in ihm gewissermaßen niedergelas­ sen haben. Metaphysische Bedeutungen des Wohnens imaginieren schließlich den Unort eines göttlichen Himmels als Sphäre, in der Gott wohnt.284

277 278 279 280 281 282 283 284

Vgl. ebd.: Sp. 1212. Ebd.: Sp. 1213. Ebd. Ebd.: Sp. 1212. Ebd.: Sp. 1213. Ebd. Ebd.: Sp. 1215. Vgl. ebd.: Sp. 1214.

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5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen

All diese Verweise implizieren einen engen Bezug zu Lebensfor­ men, aber nur einen eher weiten Bezug zu Orten. Die vielfältigen ety­ mologischen und metaphorischen Konnotationsfelder des Wohnens machen deutlich, dass Wohnen bis in den heutigen Sprachgebrauch auf strukturell unterschiedliche Formen von (»wesen« und) An– wesen(heit) verweisen kann. Aber die Bedeutungen des Wohnens sind nicht beliebig ausdehnbar. So wohnt kein Werkzeug in einer Werkstatt. Das bloße Verweilen an einem Ort macht kein Wohnen aus. Ein Mensch wohnt erst, wenn er einen Ort be–wohnt, ihn zu seiner Welt macht, an und in ihm etwas ihm Zugehöriges empfindet, in das er eingelassen ist. Ein zentrales Moment dieses Sich-Einlassens bringt der Begriff des Einwohnens zum Ausdruck. Ein Einwohner ist ja jemand, der zur Stadt gehört, weil er an ihrem Leben teilhat. Einwohner-Sein ist mehr als Anwohner-Sein. Für den Anwohner kommt es weniger auf das Mitsein im städtischen Leben an, als auf formale Rechte und Pflichten, die aus Eigentum oder Besitz von Wohnraum resul­ tieren. Im Wohnen lebt eine Person ihren Raum auf dem Boden einer gefühlsmäßigen Bindung, zu der auch idiosynkratische Gefühle gehören können. Dass und wenn ein Mensch dennoch nach Prinzipien verstandesrationaler Zweckgerichtetheit handelt, folgt er darin in aller Regel einem affektiv begründeten biographischen Pfad. Deshalb ver­ weisen auch so viele etymologisch vom Wohnen abgeleitete Begriffe auf ganzheitliche, situative und in all dem befindliche, ethische und metaphysische Bedeutungen. Im Wohnen überlagern sich nämlich zwei Formen des Welt- und Selbstbezuges: Ein geistig denkender und ein leiblich fühlender. Der vitale Antrieb einer Person verdankt sich einer leiblichen Disposition. Sie ist es auch, die Lenelis Kruse mit Merleau Ponty als »ursprüngliche Vertrautheit mit der Welt durch das Medium des Leibes«285 beschreibt. Als Wohnender ist der Mensch neben seiner körperlichen Verortung im Raum zugleich ein den Raum leiblich (in Gefühlen der Weite und der Enge) Be-Wohnen­ der. In der Be–Wohnung einer Gegend konstituiert sich ein Raum mit leiblichen »Vitalqualitäten«286 – zwischen annehmenden und ablehnenden Gefühlen. Mit dem mathematischen Raum oder einem eigentumsrechtlich »gesicherten« Grundstück hat dies nichts zu tun.

285 286

Kruse: Räumliche Umwelt, S. 47. Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 39.

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5.2 Wohnen im umfriedeten Raum

Martin Heidegger hatte das Wohnen in seiner leiblich-gefühls­ mäßigen Grundverfassung stets aus seinem sedierenden Immer-soWeiter herausreißen wollen, um es existenzphilosophisch in die Frag- und Denkwürdigkeit zu treiben. Jede selbstkritische Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen des Wohnens sowie nach wohnspezifischen Wünschen und Erwartungen macht zugleich das eigene Leben fragwürdig. Das Nach–denken über die leibliche Fassung des Wohnens mündet letztlich in die Reflexion jener Vertrautheit, die im wohnenden Verweilen gelebt wird – eher unbedacht als in einer Haltung kritischer Autopsie.

5.2 Wohnen im umfriedeten Raum Für den engeren Raum des Wohnens ist eine Umfriedung von essen­ tieller Bedeutung. Sie bietet Schutz und ein bergendes Gefühl der Sicherheit. Jene große, mächtige und steinerne Form der Umfrie­ dung, die noch im Mittelalter in Gestalt der Stadtmauer die Feinde abwehrte und die Physiognomie der Stadt bestimmte, hat sich in den modernen Gesellschaften weitgehend verloren – abgesehen von den sogenannten Gated Communities. Umfriedungen dienen nun weniger sicherheitsstrategischen Aufgaben als dem Ziel der atmo­ sphärischen Umhüllung – z. B. durch abstandsgebietende Zäune und Hecken. Zwar umfrieden auch kommunalpolitische bzw. staatliche Grenzen; aber ihre lenkende Funktion ist bestenfalls abstrakt (z.B. in steuerrechtlicher Hinsicht). Neben Otto Friedrich Bollnow bezieht sich auch Hermann Schmitz in der Frage der Bedeutung von Atmosphären des Wohnens im Hinblick auf das Gefühl des Beheimatet-Seins in den eigenen vier Wänden auf Heideggers Aufsatz Bauen Wohnen Denken. Schmitz wirft Heidegger indes vor, den atmosphärischen Charakter des Woh­ nens unzureichend berücksichtigt zu haben, gehe es im Wohnen doch in erster Linie um »ein Einsammeln von Ergreifendem«, das sich »nicht antreffen lässt wie etwas, zu dem man hin gehen kann.«287 In dieser Kritik kommt aber eine grundlegend unterschiedliche philoso­ phische Haltung gegenüber dem Wohnen der Menschen zur Geltung. Während Schmitz die Essenz des Wohnens in der kultivierenden Hervorbringung von Atmosphären sieht, versteht es Heidegger als 287

Schmitz: System der Philosophie, Band III/Teil 4, S. 223.

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5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen

Ausdruck, das eigene Leben in Bezug zu Orten und Räumen zu führen. Unterschiedlicher könnten die Perspektiven kaum sein. Welche Aufgaben erfüllt die Umfriedung der Wohnung als gefühlsräumliche Umwölkung? Schmitz’s Phänomenologie gibt darauf eine Antwort. Den gelebten Sinn der Umfriedung der Wohnung sieht er in einer die Ordnung der Gefühle sichernden Funktion. In der Wohnung umschließt die Umfriedung ihren »ersten« Ort im menschlichen Leben.288 Was als bedrohlich gilt, wird in einer Kultur des Umgangs mit der Umfriedung in einen (Sonder-)Raum verwiesen und materiell abgeschirmt. Die kritische Reflexion des Wohnens verlangt folglich nicht nur ein Bewußtsein des Wohnens, sondern auch das Bedenken subjektiv gelebter Umfriedungen, die ein- und ausgrenzende Praktiken des Wohnens beinhalten. Umfriedung schafft ein Inneres, »in dem namentlich den Gefüh­ len trotz ihrer Abgründigkeit und uferlosen Ergossenheit mehr oder weniger eine Heimstatt angewiesen ist, die sie menschlichem Verfü­ gen eher zugänglich macht.«289 Solches Verfügen über Atmosphäri­ sches bezeichnet Schmitz als Wohnen im allgemeinsten Sinn, »sofern ihm durch eine Umfriedung ein Spielraum gewährt wird«290. Dies heißt nun aber auch für Schmitz, dass Wohnen nicht auf die Woh­ nung beschränkt ist, denn Umfriedungen, die der Herstellung einer Ordnung der Gefühle dienen sollen, können auch im »Weltraum« Grenzen setzen. Schmitz macht auf die den Römern heilig gewe­ sene Stadtmauer aufmerksam, die den inneren Raum der Stadt auch atmosphärisch gegen abgründige Erregungen sichern sollte, welche außerhalb der Mauern zu befürchten waren.291 An die Stelle von Stadtmauern treten in der Spätmoderne High-Tech-Grenzen (z. B. mithilfe von W-Lan-Netzen), die Datenströme und -welten (mehr oder weniger erfolgreich) voneinander trennen und in der Folge ganz neue Erfahrungen von Sicherheit und Unsicherheit vermitteln. Für Heidegger wäre viel gewonnen, »wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben.« Dem Be-Denken fiele dabei die Aufgabe zu, nicht nur die Funktion von Fenster und Tür zu prüfen und heimatliche Geborgenheit des 288 »Eine Wohnung reicht nur so weit wie die durch eine Umfriedung eingeräumte Chance, abgründige Erregungen abzuhalten, zu dämpfen und einer harmonischen Gefühlskultur anzupassen.«; ebd.: S. 259. 289 Ebd.: S. 213. 290 Ebd. 291 Vgl. ebd.: S. 229.

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5.3 Zum Verhältnis von Wohnen und Denken

Ge–wohnten für sein Nach–denken zu öffnen, sondern auch alle Implikationen und Folgewirkungen konkret gelebter Kulturen der Umfriedung zu durchleuchten.

5.3 Zum Verhältnis von Wohnen und Denken Das gewöhnliche Denken begreift das Wohnen in der realräumlichen Dimension von Zimmern, in denen sich die Menschen überwiegend dauerhaft aufhalten. Bereits oben hatte sich jedoch schon gezeigt, dass dieses Denken in die Irre führt. Das Wohn-Verständnis Heideggers orientiert sich nämlich nicht am Wohnen im bürgerlichen Sinne. Die Vorstellung des Aufenthalts in den Zimmern einer Wohnung verfehlt das Denken Heideggers. Ihm geht es um die sich tendenziell global ausdehnenden Lebensbahnen der Menschen, auf denen sie an Orten ihr Wohnen »bauen«. In diesem Bauen schaffen oder verändern sie die Bedingungen ihres So-Seins in der Welt. In diesem Schaffen drückt sich das Resultat einer Wahl aus, die sich in all ihren Implikationen als verantwortungsbedürftig darstellt. Kein Mensch wird von der Macht einer göttlichen Hand von hier nach dort bewegt, kein Mensch wohnt (außerhalb totalitärer Bedingungen) gleichsam schicksalhaft jetzt an diesem und morgen an jenem Ort. Auch die lebenspraktische Beantwortung der Frage, wie er sich bewegen und was er in seinem Wohnen tun will, fällt nicht vom Himmel. Mit anderen Worten: Woh­ nen setzt nicht nur Lebendigkeit der Wohnenden voraus, sondern auch die bewusste Lenkung wohnenden Seins durch die Subjekte selbst, und zwar in kognitiver wie in affektiver Hinsicht. Heidegger stellt das Wohnen deshalb auch in den ethischen Kontext der Scho­ nung des Gevierts. Schonung (heute würde man von nachhaltigem Tun sprechen) reklamiert sich auch deshalb, weil die Menschen in ihrem Wohnen die Dinge in folgenreicher Weise verändern und mit ihnen Orte sowie die Bedingungen des Da-Seins anderer Menschen (und Tiere). Allzumal die Routinen des Lebens machen die den Dingen und Situationen angehefteten Bedeutungen aber auch wieder blasser. Somit reproduziert sich im Ein–wohnen das Ge–wohnte und entzieht sich seiner Denkwürdigkeit. Daher merkt Martin Heidegger an: »Es ist, als ob gerade das Wohnen der Gefahr des Gewöhnlichen am

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5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen

leichtesten erliege.«292 Solange die Bedeutungen (mit den Mitteln der Nachdenklichkeit und Kritik) noch »bewohnt« werden, bleiben die Dinge samt ihrer Orte in Bewegung. Die ins besinnungslose Wohnen gleichsam »einsickernden« Routinen entziehen sich unter der Erosion der Gewohnheit dagegen ihrem Bedenken. Wohnen, das in der dumpfen und unbedachten Wiederholung des Immer-selben erlahmt, geschieht zwar fortan im gelebten Raum; aber es büßt sein Potential zur Schonung ein, denn Schonung setzt ein Wach-Werden im Modus der Bedenklichkeit voraus. Schonen verlangt ein Be-Den­ ken des Wohnens, wenn der Grundhabitus des Wohnens auch ein ver­ bequemlichendes Sein-Lassen ist – eine Haltung des Sich-Behagens in gewohnten Umgebungen. Und so fordert Heidegger, das Wohnen möge in das Fragwürdige gelangen und etwas Denkwürdiges bleiben. Wie kann das Wohnen denkwürdig bleiben? Eine Antwort gibt Heidegger in seiner Vorlesung Was heißt denken?293 Die Denkwür­ digkeit des Wohnens verlangt danach die progressive Regression, d. h. die Rückführung des Gewöhnlichen ins Denkwürdige durch den erneut bewusst gemachten Gebrauch der Dinge und die Bewusstma­ chung situativer Bedeutungen. Die nach dem Sinn gelebter Bedeutun­ gen suchende Praxis »fragenden« Wohnens bahnt neues Be–wohnen an.294 Damit reklamiert sich eine lebendige »Arbeit des Wohnens«, in deren reflexivem Vollzug die auf gewohnte Weise gelebten Bedeu­ tungen wieder an Orte und Räume des Wohnens angeschlossen werden. Die blinde Wiederholung des Ge–Wohnten überführt jede Kultur des Wohnens ins halb-tote Anwesen, die Einwohnerschaft in die Anwohnerschaft. Durch seine aporetische Brechung fällt das immer schon gelebte Wohnen ins Fragwürdige. Das Ungewohnte und noch-nichtGewohnte wird in seiner Gewahrwerdung als Leer-Stelle des NochUngedachten bewusst. »Das Ungedachte ist sein höchstes Geschenk, das ein Denken zu vergeben hat. Für die Selbstverständlichkeit des gesunden Menschenverstandes aber bleibt das Ungedachte eines Denkens lediglich das Unverständliche« und »für den gewöhnlichen Verstand immer nur das Anstößige.«295 Erst wenn sich das noch ungewohnte Wohnen dem Widerstand des Unverständlichen stellt, kann es sich ins Neue, ins Noch-nicht-Gelebte überschreiten. 292 293 294 295

Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 83. Vgl. Heidegger: Was heißt denken? Vgl. ebd.: S. 83. Ebd.: S. 72.

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5.4 Die Transformation des Urbanen

Der leibliche Raum des Wohnens ist durch seine Umfriedung, Behagung oder Einfriedung gekennzeichnet. Nur im umfriedeten Raum kann Vertrautheit als Bedingung des Wohnens wachsen. Heidegger verknüpft das Denken mit dem Wohnen und dem Bauen neuer Möglichkeiten des Wohnens. Denken ist aber selbst eine Form des Umfriedens, Behagens und Einfriedens, hat es doch den Charakter umkreisenden Bedenkens. Das einwohnende Be–denken erweitert den Bereich des Gewohnten. Denken des Wohnens, das sich leiblich am Plötzlichen entzündet, ist etwas anderes als die wissen­ schaftlich-disziplintheoretische Durcharbeitung systematisch aufbe­ reiteter und diskursiv geordneter Themen von Stadt und Urbanität. Da sich das Gewohnte im Selbstverständlichen abschirmt, also im eigentlichen Sinne nicht von selbst versteht296, verhilft der Augenblick des Plötzlichen durch Segmentierung im Fluss des dahinströmenden Wohnens zur Bewusstmachung von Situationen des Lebens. Das sich am Moment des Plötzlichen herausschälende Denken öffnet das Mitsein im multiplen Raum der Stadt dem Bedenken in pathischer und gnostischer Hinsicht: erstens in Bezug auf das individuelle und kollektive Leben in der Stadt und zweitens in Bezug auf das sozio-öko­ nomische wie -kulturelle und in allem performative Leben der Stadt.

5.4 Die Transformation des Urbanen Das Urbane als Form des Lebens in der Stadt wie des Lebens der Stadt unterliegt als geschichtlicher Prozess einem meist kontinuierlichen, dann aber auch wieder plötzlichen Wandel. Am Beginn des 21. Jahr­ hunderts zeichnet sich dieser Wandel insbesondere durch folgende Teilprozesse umbruchartig aus: a) b) c) d) e)

296

eine sich ausdehnende und zugleich punktuell kollabie­ rende Globalisierung; eine Zuspitzung sozio-ökonomischer Differenzen; eine Eskalation globaler ökologischer Krisen; eine migrationsbedingt krisenhafte Pluralisierung kulturell dis­ parater Lebensformen; ein exponentielles Wachstum von Automatismen und Maschi­ nismen; Vgl. Heidegger: Was heißt denken?, S. 59.

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5. Wohnen als Prozess der Umfriedung und die Transformation des Urbanen

f)

eine Steigerung der Macht von Medien des Imaginären (Bilder­ welten, die in alle Lebensbereiche diffundieren); eine strukturelle Bedrohung der Zukunft des städtischen Einzel­ handels als Folge eines boomenden E-Commerce.

g)

All diese Entwicklungen haben einen starken Einfluss auf das Gesicht der Stadt, das städtische Leben und Wohnen. Sie bewirken eine tiefgreifende Veränderung von Urbanität, deren kulturelle Essenz für Simmel noch auf produktive Weise in einer differenzfreudigen Geisteshaltung des Großstädters kulminierte.297 Die eher »leise« vor sich gehende Transformation des Urbanen geht mehr auf auto­ poietische Anpassungsprozesse zurück denn auf politisch wirksam gesetzte Steuerungsimpulse. Im Umbau der Städte spielt die Architektur eine wichtige Rolle – nicht nur in der Herstellung materieller Substrate (Hochbau, Tiefbau, technische Infrastrukturen), sondern auch in der Inszenierung von Atmosphären und sich collagenhaft überlagernder Bedeutungswel­ ten. Architektur hatte je maßgeblich teil an der materiellen Ausgestal­ tung pluraler Orte und Räume des menschlichen Wohnens im Raum der Stadt.298 Ihre ästhetische Präsenz vermittelt nicht nur Bilder des Schönen und Anlässe öffentlicher Erregung; sie gibt dem dinglich erfüllten Raum auch ein Gesicht, an dem sich der Streit über die sich darin ausdrückende Formierung des urbanen Lebens entzündet. Für ein Be-denken des Worten und ein Wohnen im Denken kommt es heute — anders als in Heideggers Diagnosen kurz naWor­ ten em Ende des Zweiten Weltkrieges – darauf an, Sphären der Beheimatung wie solche der Entfremdung als diskursive Felder des gesellschaftlichen Streits über zukünftige Lebensperspektiven abzu­ stecken. Das scheinbar durch nichts zu verwirrende Anwohnen schafft weder Sicherheit, noch umfrieWorten e Situation des Status Quo. Der Wandel fragt nicht nach Akzeptanz, gleichwohl fordert er die Men­ schen dazu heraus, sich zu Bildern mWorten Zukunft in Beziehung zu setzen. Wohnen kann sich als Bauen im Denken nur als nachhaltige Lebensform konsolidieren, wenn es als eine immer wiederWorten eue lösungsbedürftige Aufgabe akzeptiert und angenommen wird. Wenn es ein kulturelles Merkmal des Urbanen gibt, das sich vom passiven Mitschwimmen im Wandlungsprozess der Städte abhebt, dann ist es der Wille, sich in diesen transformativen Prozess hineinzustellen. Als 297 298

Vgl. Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. Vgl. i.d.S. schon Frei: Wesensbestimmung der Architektur, S. 415ff.

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5.4 Die Transformation des Urbanen

Widerstand und nicht als unterstützendes Fluid eines Prozesses, der »aWorten ich heraus« allein systemischem Sinn gehorcht. Wohnen und Urbanität verdanken sich als Ausdrucksformen des Lebens cha­ rakteristischeWorten men der Umfriedung – durch Bauten, Dinge, ästhetische Gestalten, Normen und Imaginationen.

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens – Auf dem Weg zu einer Ethik des Wohnens –

»Das Loch sei für ein Schwein zu schlecht, aber wegeWorten wohlfei­ len Miete – 1 ½ Schilling (15 Groschen) die Woche – hätte sie es genommen, da ihr Mann wegen Krankheit die letzte Zeit verWorten tlos gewesen«299. Ein BerWorten on Friedrich Engels aus dem Jahre 1872, in dem er mit diesen Worten die Bewohnerin finsterer Keller­ räume in Manchester zitiert, klärt über die näheren Umstände auf. Danach lag der Fußboden der »Wohnung« nur einige Zoll über dem Spiegel des River Medlock. »Jeder tüchtige Regenschauer ist imstande, ekelhaft fauliges Wasser aus den Versenklöchern oder Abzugsröhren in die Höhe zu treiben und die Wohnung mit den Pestgasen zu vergiften, welche jedes Über­ schwemmungswasser zum Andenken hinterlässt.«300

Die Rede war hier eigentlich weniger von einer »Wohnung« als von einer üblen Behausung. Engels nannte solche Löcher auch »verfrühte Gräber«301. Die zu Beginn der Industrialisierung herrschende Woh­ nungsnot drückte im Prinzip eine Lebensnot aus, die im Wesentlichen aus einem Missbrauch der Macht ökonomisch Herrschender über die Masse weitgehend mittelloser Arbeiter resultierte. Viele Fabrikbe­ sitzer erwirtschafteten (über die Ausbeutung ihrer Arbeiter hinaus) zusätzliche Gewinne aus der Vermietung von Arbeiterwohnungen. Wer entsprechende Immobilien besaß, hatte daher auch gar kein Interesse daran, das Elend abzuschaffen, selbst wenn die Möglichkeit dazu bestanden hätte. Der Fortbestand der Wohnungsnot rentierte sich für das Kapital.

299 300 301

Engels: Zur Wohnungsfrage, 58. Ebd.: S. 57f. Ebd.: S. 58.

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

Noch in der Gegenwart leben Menschen im Elend, z.B. in der Obdachlosigkeit und damit weit diesseits dessen, was sich noch unter den Begriff des Wohnens subsumieren ließe. Als »Hauptstadt der Wohnungslosen in der Ersten Welt«302 nennt Mike Davis Los Ange­ les mit rund 100.000 Obdachlosen. In indischen oder afrikanischen Großstädten ist die Lage weit schlimmer. Wo, wie in Lagos, eine Schubkarre pro Nacht als Ersatz für ein Bett gewinnbringend vermie­ tet werden kann303, spitzt sich die Frage nach dem Wohnen auf maka­ bre Weise zu.304 Anfang des 20. Jahrhunderts herrschte in den meisten Städten eine aus heutiger Sicht unvorstellbare Wohnungsnot. In den zu Ende gehenden 1920er Jahren war es üblich, dann von »Wohnungsnot« zu sprechen, wenn die Obergrenze der zumutbaren Mietbelastung von seinerzeit 20 % des Einkommens überschritten wurde.305 Wer in der Gegenwart sogar mehr als die Hälfte seines Einkommens für die Miete oder Finanzierung einer Eigentumswohnung ausgeben muss, steht vor einer ökonomisch noch dramatischeren Situation. Wo Studie­ rende für die monatliche Kaltmiete eines WG-Zimmers schließlich so viel aufbringen müssen, wie eine Familie auf dem Lande für eine Wohnung, zeigt sich der neoliberale Wohnungsmarkt im Zerrbild nackter Gier.

6.1 Das Wohnen bedenken Mit einer einfachen Bemerkung machte Martin Heidegger zu Beginn der 1950er Jahre, und damit vor dem Hintergrund der Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg, das Wohnen denkwürdig: »Als ob wir das Wohnen je bedacht hätten«306. Dabei wollte er es nicht wie Mak­ ler, Immobilienmanager oder Wohnmöbelhändler thematisieren, aber auch nicht wie Soziologen, die es pragmatisch auf das verengen, Davis: Planet der Slums, S. 40. Vgl. ebd. 304 Aus der Reihe einer Vielzahl an einschlägigen Beispielen sei an dieser Stelle der Hinweis auf die sogenannten »urbanizaciones piratas« (ebd.: S. 41) hinzugefügt, für die der Slum schon lange zur eigentlichen Stadt geworden ist. Diese Menschen leben im Dreck und werden als Slumbewohner von der privilegierten Bürgerschicht als Schmutz der Stadt wahrgenommen. 305 Wasmuths: Band V, S. 617. 306 Heidegger: Was heißt denken?, S. 59. 302

303

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6.1 Das Wohnen bedenken

was man tut, wenn man wohnt.307 Heidegger verstand das Wohnen in einem existenziellen Sinne als »die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind. […] Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen.«308 Gegen die lebensweltliche Auffassung, wonach das Wohnen (wie die Kindererziehung) kein nennenswertes Können voraussetzt, merkte er schließlich an: »Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben.«309 Wenn es dem durchschnittlichen Alltagsmenschen auch fern liegen mag, sein Wohnen über lebenspraktische Anlässe hinaus (z.B. Ein­ richtung der Zimmer, Erledigung der Einkäufe, Bezahlung der Rech­ nungen für Strom und Internet, Putzen und Müllentsorgung) als etwas Existenzielles zu bedenken, so stellt sich doch angesichts seines integralen Charakters genau diese Herausforderung und damit die permanente Aufgabe seiner Übung.310 Der Überwindung der Selbstverständlichkeit des Wohnens steht indes der welthafte, gleichsam territoriale Charakter einer jeden Wohnung entgegen: Indem die Wohnung nach Artikel 13 des Grund­ gesetzes unter einem besonderen verfassungsrechtlichen Schutz steht (»Die Wohnung ist unverletzlich.«), gewinnt sie den Status eines inselhaften Inkubators vom Charakter eines »räumlichen Immun­ systems«311. Warum sollte also auf komplexe Verflechtungen und verdeckte Zusammenhänge hin bedacht werden, was sich als mona­ denartige Fluchtburg gerade in seiner Nicht-Hinterfragung immer wieder so gut bewährt? Die lebensweltliche Vorstellung des Wohnens bestätigend stellt das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil fest: »Der Begriff des Wohnens ist durch eine auf Dauer angelegte Häus­ lichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeich­ Vgl. i.d.S. etwa Häußermann / Siebel: Soziologie des Wohnens, S. 15. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 35 und 45. 309 Ebd.: S. 48. 310 »Die eigene Not des Wohnens beruht darin, dass die Sterblichen das Wesen des Wohnens immer erst wieder suchen, dass sie das Wohnen erst lernen müssen.«; ebd.: 48. Karl Jaspers hatte der Philosophie die Aufgabe zugeschrieben, »das Selbstdenken und dadurch das Selbstsein des Einzelnen [...] wachzuhalten«; Jaspers: Die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart, S. 20. Auch dieser Standpunkt läuft implizit darauf hinaus, das wohnende Selbst-Sein nicht als etwas Selbstverständliches zu betrachten. 311 Sloterdijk: Sphären III, S. 535. 307

308

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

net.«312 Damit wird das Wohnen tief in bürgerliche Werteordnungen eingeschrieben, an den Raum des Hauses gebunden und auf einfache Tätigkeiten beschränkt. Die Sicherung des bürgerlichen Lebens hat im Denken und Fühlen des kulturellen Mainstreams, den die Gerichte repräsentieren, Vorrang vor der Ermöglichung des Experiments.313 Und so sind es stets die experimentellen Formen nicht‑bürgerlichen Wohnens, die die Gemüter erhitzen und in den Appell münden, doch besser den »normalen« Gepflogenheiten des Man zu folgen. Wohnen kann der Mensch tatsächlich aber auch in Bauwagen auf sogenannten Wagenplätzen, in temporär errichteten Zelten wie die Nomaden oder auf Schiffen wie die Seeleute. Vielleicht sind es in besonderer Weise seltene und eigenartig erscheinende Wohnformen, die in ihren Beschränkungen fast wie von selbst zu einer Sache produktiven Bedenkens werden. Theodor W. Adorno sah die Menschen nicht zuletzt in ihrem unbedachten Wohnen tief in die Werte und Normen der Kulturin­ dustrie verstrickt. Zur heimlichen Macht oktroyierter »Bedürfnisse« merkte er pointierend an: »Wer sich in echte, aber zusammengekaufte Stilwohnungen flüchtet, balsamiert sich bei lebendigem Leibe ein.«314 Die starke Metapher der Einbalsamierung macht auf eine Selbstanäs­ thesie aufmerksam, die (allzumal im dissuasiven Gewand des »Schö­ nen«) Zeichen einer tiefgreifenden Serialisierung des Lebens ist.

6.2 Zur Situiertheit des Wohnens Wer als junger Single allein wohnt, steht in seiner persönlichen Lebenssituation vor einem anderen Horizont des Erwünschten und Befürchteten als ein alter Mensch, der in der Quasi-Gemeinschaft einer heimähnlichen Institution lebt. Wohnend organisieren die BVerwG 4 B 302/95 – 25.03.1996. Wer sich in einem Wohnwagen dauerhaft auf einem Campingplatz niederlässt (als sog. Dauercamper) wird ordnungspolizeilich meistens geduldet – noch gegen das geltende Baurecht. Dagegen müssen die in prinzipiell ganz ähnlichen mobilen Unterkünften lebenden Wagenburgbewohner oft mit der Kompromisslosigkeit der Ordnungs- und Polizeibehörden rechnen. 314 Adorno: Minima Moralia, S. 40. Gegen den normierenden wie genormten Stil im Wohnen und Gebrauch der Dinge des Wohnens polemisierte Adolf Loos schon 1898: »Aber einen Stil hatte die Wohnung, den Stil ihrer Bewohner, den Stil der Familie.«; Loos: Die Interieurs in der Rotunde, S. 20. 312

313

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6.2 Zur Situiertheit des Wohnens

Menschen ihr Leben, viele in einem sozialen Netz mit anderen und hauptsächlich an einem Ort. Die Art und Weise, wie sie leben, situiert sie auch in ihrem Wohnen. In Stilen, Kulturen und Praktiken des So‑Wohnens drückt sich die sozioökonomische wie ‑kulturelle Lebenssituation einer Person aus. Unter einer Situation verstand Karlfried Graf von Dürckheim in einem ganzheitlichen Sinne »jede sich für das erlebende Bewußtsein von Augenblick zu Augenblick als Einheit im Zugleich konstituierende Bewußtseinsmannigfaltig­ keit«315. Ein philosophisch systematisch aufgebautes und differen­ ziertes Situations-Konzept hat der Kieler Phänomenologe Hermann Schmitz als ein Kernstück seiner Neuen Phänomenologie316 vorge­ legt. Wegen der Bedeutung für diesen Beitrag soll es im Folgenden in seinen wesentlichen Grundlinien umrissen werden. Situationen versteht Schmitz als Horte von Bedeutungen, als »Heimstätten, Quellen und Partner«317 allen menschlichen Verhal­ tens. Eine Situation besteht mindestens aus Sachverhalten (»dass etwas ist, überhaupt oder irgendwie«318), aus Programmen (»dass etwas sein soll oder möge«319) und aus Problemen (als Resultat der Unsicherheit, ob etwas ist320). In einer extravaganten Wohnung am Flussufer zu residieren, ist in diesem Sinne ein Sachverhalt, die Art und Weise, das eigene Leben in bestimmter Weise darin zu führen, folgt einem Programm und die unsichere Frage, ob die monatlich fällige Miete auch in der Zukunft immer aufgebracht werden kann, ein Problem. Weil die Bedingungen einer Situation »rauschen« und in ihrer Weiterentwicklung schwer vorhergesehen werden können, ist sie nicht einfach wie ein simpler Gegenstand, den man für sich betrachten könnte. Für Schmitz stellt sich eine Situation als eine »chaotisch‑mannigfaltige Ganzheit«321 dar, in der es »keine vollständige Entschiedenheit über Identität und Verschiedenheit«322 gibt. Das liegt u.a. daran, dass Situationen nie einzeln, vielmehr selbst wiederum »unübersehbar in Situationen verschachtelt«323 sind. 315 316 317 318 319 320 321 322 323

Dürckheim: Erlebensformen, S. 267. Vgl. Schmitz: System der Philosophie. Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 91. Ebd.: S. 89. Ebd. Vgl. ebd. Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 65. Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 90. Ebd.: S. 92.

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

»Die persönliche Situation ist nicht eine isolierte Angelegenheit des Individuums, sondern eingebettet in gemeinsame Situationen, aus denen sie hervorwächst, die ihr Halt und Tiefe geben, in die sie aber auch hineinwächst«324. So verklammern sich in einer gemeinsamen partner- wie nachbarschaftlichen (Wohn-)Situation die ihr zugrunde­ liegenden persönlichen Situationen. Das heißt letztlich nichts anderes, als dass jedes persönliche Dasein nur aus dem »Mitsein Anderer«325 erschließbar ist. Die Synchronisierung mehrerer persönlicher Situationen zu einer gemeinsamen Situation setzt zwar Kommunikation voraus, nicht zwingend aber die wörtliche Rede. Verständigung verdankt sich nicht nur im lebensweltlichen Rahmen der leiblichen Kommuni­ kation326 der Gesten, des Habitus, der Blicke etc., deren Ein- und Ausdruckswirkung mehr affektlogisch erfasst als verstandesmäßig »decodierend« begriffen wird. Die selbstverständliche Welt des Woh­ nens baut ganz wesentlich auf die nonverbale Kommunikation. Die eine gemeinsame Situation tragenden Bedeutungen müssen sich aber nicht als Feld homogener Interessen erweisen. Auch sind sie keine romantizistisch verklärten Inselwelten. In ihren Sachverhalten und Programmen können sie sogar den Charakter eines Ausbeu­ tungsverhältnisses haben – etwa so, wie in der von Engels beschrie­ benen Wohnsituation eines üblen Kellers, der für den dauerhaften Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand, S. 76. Heidegger: Sein und Zeit, S. 123. 326 Unter »leiblicher Kommunikation« versteht Hermann Schmitz die leibliche Zuwendung eines Wahrnehmenden an einen Partner der Kommunikation; vgl. Schmitz: Kurze Einführung, S. 40. Zwei Personen, die sich in ihren aufeinander zuge­ henden Bewegungen intuitiv so organisieren, dass sie nicht zusammenstoßen, »ver­ ständigen« sich in diesem Sinne nicht expressiv verbis, sondern auf dem Wege leib­ licher Kommunikation. Solche »autopoietische« Abstimmung ohne wörtliche Rede wiederholt und behauptet sich täglich im gedrängten Aneinander-Vorbeilaufen der Menschen in innenstädtischen Dichteräumen. Leibliche Kommunikation setzt aber keine lebendigen Sozialpartner voraus. Auch »tote« Gegenstände erleben wir in For­ men leiblicher Zuwendung, indem wir z.B. einen spitzen Stein als hart und angreifend erleben, einen gerundeten aber als weich und aufnehmend; vgl. dazu meine Ausfüh­ rungen zur spitzen Ecke in der Architektur; Hasse: Atmosphären der Stadt, S. 101– 120. In solchen Fällen spricht Schmitz auch von antagonistischer Einleibung; diese »ist nicht nur unter Leibern möglich, sondern auch im Verhältnis zu einem leblosen Gegenstand wie einem heranfliegenden Stein. [...] Dies liegt an den Brückenqualitä­ ten, die sowohl am eigenen Leib gespürt als auch an begegnenden Gestalten – ruhen­ den, bewegten und ihren Bewegungen – wahrgenommen werden können.«; Schmitz: Kurze Einführung, S. 40. 324

325

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6.2 Zur Situiertheit des Wohnens

Aufenthalt »für ein Schwein zu schlecht« sei. In seinem So-Wohnen überschreitet jedes Individuum nicht nur in räumlicher Hinsicht den Rahmen seiner persönlichen Situation, denn kein Mensch kann nur in seiner Wohnung leben. Otto Friedrich Bollnow gab schon zu bedenken, dass es beim Wohnen »um das Verhältnis des Menschen zur Welt im Ganzen [geht]. Darum müssen wir fragen: Welches ist dieses neue Verhältnis zur Welt, zu dessen Bezeichnung sich der Begriff des Wohnens aufdrängt?«327 Jeder Mensch wohnt zwar in (s)einem Haus, aber »in einem allgemeineren Sinne noch in der Stadt«328. Die Art und Weise, in der jemand an einem Ort sowie im Raum wohnend »Platz nimmt«, hängt nicht zuletzt davon ab, ob eine Wohnung nur vorübergehend, d.h. im Rahmen einer aktuellen Situation bezogen wird oder (voraussichtlich) auf Dauer, d.h. im Rahmen einer zuständlichen Situation, und ob sie nur einer Person dient oder mehreren. Aus historischer Sicht waren es besonders die Ledigen- und Junggesellenheime, die als Orte gemeinsamen Lebens die Anpassung der Spielräume individuellen Wohnens verlangten. Kaum anders ist die Situation noch heute in Schwesternwohnheimen und (ganz anders) in Klöstern. Die meisten Heime haben, indem sie Orte für Lebensformgruppen sind (je nach der Art der Gemeinschaft) zuständlichen oder aktuellen Situationscharakter, werden also für eher kürzere, selten längere Zeit bewohnt. Eine aktuelle Situation kann »in beliebig kurzen Zeitabständen auf mögliche Veränderungen hin beobachtet werden«. Bei einer zuständlichen ist »die Suche nach Veränderungen erst nach längeren Fristen sinnvoll«.329 Vorüberge­ hende Wohnsituationen konstituieren sich z.B. für die Dauer einer Berufsausbildung in einem Schwesternwohnheim. Im Unterschied dazu wohnen sich die Mönche in aller Regel in die Welt ihres Klosters für längere Zeit ein, oder sogar für immer. Aktuelle Wohnsituatio­ nen können sich aber in zuständlichen verstetigen und zuständliche in aktuelle auflösen. So sehr eine Wohnung auch auf die relative Dauerhaftigkeit ihrer Nutzung angelegt sein mag, so zeigt sich das tagtägliche Wohnen in seiner vitalen Lebensdynamik doch in immer wieder veränderten Gesichtern. Ihr zuständlicher Kern bleibt dabei erhalten. Der Wandel zuständlicher Situationen setzt dagegen in aller 327 328 329

Bollnow: Mensch und Raum, S. 127. Ebd.: S. 125. Schmitz: Kurze Einführung, S. 48.

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

Regel den Eintritt signifikanter Ereignisse voraus, z.B. den Verlust des Arbeitsplatzes oder den Auszug eines erwachsen und selbständig gewordenen Kindes. Situationen des Wohnens sind in ihrer sachverhaltlichen und programmatischen Fundierung wie in ihrer »Anfälligkeit« für Pro­ bleme vielfältig. In ihren baulich persistenten Strukturen passen sie sich gesellschaftlich-historischen Veränderungen eher zäh als flüssig an. Stets sind sie Spiegel eigenartigen Lebens – vom »schönen« Woh­ nen bis zum provokanten Projekt sich jeder Normalität verweigern­ der Improvisation. Die folgenden sieben Beispiele werden vor dem Hintergrund je spezifischer historischer und gesellschaftlicher Ver­ hältnisse Situationen des Wohnens knapp skizzieren – frei gewählte bis oktroyierte. Die Skizzen lassen Ansatzpunkte einer Ethik des Wohnens vorscheinen, die abschließend in gebotener Kürze vertieft werden. Darin zeigt sich nicht zuletzt: Wohnen ist keine Tätigkeit, sondern eine Seinsweise.

6.2.1 Wohnhöfe In den Niederlanden wurden im 17. Jahrhundert in der Mitte großer Städte räumliche und bauliche Milieus für das gemeinsame Leben und Wohnen in der Gestalt von Wohnhöfen angelegt. Das 1517 in Groningen gegründete Sint Anthony Gasthuis330 bildete in einem (durch Mauern und Portale) umfriedeten Terrain einen Schon- und Schutzraum innerhalb wie zugleich außerhalb der Stadt. Es bot kleine Wohneinheiten und bewährte sich als sonderweltliches Milieu. Die sachverhaltlichen Merkmale einer z.B. durch Armut und Krankheit begründeten gemeinsamen Lebens-Situationen waren Anlass für die Entwicklung dieser institutionalisierten Wohnform. Die archi­ tektonische Struktur der Mikrosiedlung sollte sich historisch aber auch für einschlägige Programmwechsel anbieten, die auf spezielle Problemlagen gesellschaftlicher Gruppen reagierten. So diente das Groninger Gasthuis in einer von mehreren Folgenutzungen bis 1644 der Unterbringung Pestkranker; von 1702 bis 1844 wurde es zu einem Tollhaus. Es waren jeweils sozial- oder gesundheitspolitische Programme, die eine Antwort auf die krisenhafte Lebenssituation Stichting Sint Anthony Gasthuis te Groningen (Hg.): Sint Anthony Gasthuis; http://www.sintanthonygasthuis.com (07.01.2023).

330

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6.2 Zur Situiertheit des Wohnens

einer sozialen Gruppe gaben. Die Idee des Wohnhofes bot sich in so flexibler Weise für die Lösung gesellschaftlicher Probleme an, weil die Ordnung der persönlichen Räume in ihrer Kleinteiligkeit leicht nach unterschiedlichen Nutzungsanforderungen variiert werden konnte.

6.2.2 Seemannsheime Seemannsheime wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert insbeson­ dere von der evangelischen Kirche ins Leben gerufen, um Seeleute in den Häfen vor der Ausbeutung durch Heuerleute zu bewahren und im Geiste christlicher Werte zu betreuen.331 Wie aber sollte man sich den einer heimähnlichen Unterkunft bedürftigen Seemann vorstellen? Zum Zwecke der kirchenpolitischen Durchsetzung der Finanzierung solcher Häuser reklamierte sich deshalb zunächst die »Definition« (tatsächlich eher die generalisierende Zuschreibung) beklagenswerter Charaktermerkmale. Der Kieler Marinepastor Gerhard Heims schrieb im Jahre 1888 in einem Artikel über die sittlich-moralische Gefähr­ dung der Seeleute: »Branntwein und Dirnen, Spiel und Orgien, aus deren Bereich alle guten Geister fliehen, und aus denen her helles Kreischen und wüstes Brüllen, tobender Gesang und wildes Fluchen, wieherndes Lachen und stampfender Tanzschritt in die Nacht hinaushallen – dort bleibt das Geld der Trunkenen, Verführten, bis zur Bewußtlosigkeit Betäubten, die am nächsten Tage in tiefem Ekel am Leben und an sich selbst verzagen – und im nächsten Hafen es wieder ebenso machen!«332

Die meistens nur kurzzeitige Unterbringung der Seeleute an Land war nie auf Individuen bezogen, sondern auf eine (weitgehend) gleichge­ machte Schicksalsgemeinschaft. Die Heimbetreuung verstand sich als kirchliches Therapeutikum gegen die sittlich für anrüchig gehaltene Lebensweise eines die Weltmeere befahrenden Volkes. Die Häuser der Mission, in die die Seeleute einkehrten, waren sozial- und arbeits­ psychologische Inseln und Orte vermeintlicher Charakter-Besserung. Das Zentrum der gemeinsamen Situation war und ist der Gemein­ schaftsraum, der sich – mit Symbolen der Seefahrerei drapiert – als soziales und narratives Milieu einer auch an Land erfahrbaren (christlich geläuterten) Seemannsidentität suggeriert. Zwar unter­ 331 332

Vgl. auch Hasse: Versunkene Seelen, Kapitel 2.5. Zit. bei Heimerdinger: Der Seemann, S. 120.

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

scheidet sich das (situativ aktuelle) Wohnen in Seemannsheimen in seiner Rückbindung an das Leben und Arbeiten auf See ganz grund­ legend vom (situativ zuständlichen) Wohnen Büroangestellter in bür­ gerlichen Wohnungen. Das eine wie das andere zeigt sich jedoch in Spiegelbildern eines je eigenartigen Lebens. Darin gibt sich zu erken­ nen, wie die Menschen auf der Erde sind.

6.2.3 Wohnen in der Gartenstadt Die Idee der Gartenstadt verstand sich am Beginn des 20. Jahrhun­ derts als gebaute Kritik an den miserablen Wohnbedingungen der Arbeiter in den großen Industriestädten (Lärm-, Licht-, Geruchse­ missionen, Luftverschmutzung, Vergiftung der Lebensräume, Müll­ anhäufungen, Naturferne etc.). Mit den Worten ihres Begründers Ebenezer Howard verfolgte sie aber auch das Ziel einer »Dezen­ tralisation der Industrie und damit eine gleichmäßige Verteilung des Gewerbelebens über das Land«333. Die Gartenstadt sollte nicht nur die gemeinsame Wohnsituation von Fabrikarbeitern verbessern, sondern zugleich eine allgemeine Reform der Lebensbedingungen im ganzen Land bewirken. Angestrebt wurden neue Lebensformen, deren Voraussetzung das im engeren Sinne verstandene Wohnen »im Grünen« war. Als einer der bedeutendsten Planer englischer Gartenstädte hatte Raymond Unwin der »Freude an der Gegend«334 große Bedeutung beigemessen. »Die Schönheit der Umgebung bildet zweifellos eine der hauptsächlichsten Annehmlichkeiten und Anziehungsmomente eines Wohnviertels«335 (etwa durch die Schaffung »malerischer«336 Straßen, die Anlage von Plätzen und Treppen im öffentlichen Raum, die Gestaltung der Dachneigungen, die bewusste Wahl zwischen einer geraden und gekrümmten Straße, Sichtbeziehungen und Fens­ teraussichten, Lage und Gestaltung von Grünflächen, das Aussehen der Hinterhäuser und die Bebauung von Straßenecken). Wenn es nur um das Wohnen im engeren Sinne gegangen wäre, hätten her­ kömmliche Wohnungen genügt. Die Gartenstädte setzten aber einen 333 334 335 336

Ebenezer Howard, zitiert bei Wasmuths: Band II, S. 579. Unwin: Grundlagen des Städtebaues, S. 173. Ebd.: S. 270. Ebd.: S. 187.

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6.2 Zur Situiertheit des Wohnens

städtebaulichen Akzent und zielten unmittelbar auf die Optimierung der Lebensbedingungen im Ganzen337 – wenngleich die Arbeitswelt in ihren Zwängen und Restriktionen auch fortbestehen sollte.

6.2.4 Die Kommune als revolutionäre Praxis Idee und Praxis der Kommune unterstreichen, dass keine Form des Wohnens – nicht einmal jene, die aufs Krasseste vom Mainstream abweicht – etwas Eigenständiges ist. So verstand sich die Kommune der 1960er Jahre programmatisch als gelebte Kritik an der »Gewalt des Systems und seiner Unterdrückungsmethoden«338, an den Pro­ duktionsverhältnissen, der patriarchalischen Autorität, der Sexualität als Ware wie einer Reihe weiterer Merkmale des sogenannten Esta­ blishments. Der Versuch, das gemeinschaftliche Leben auf eine neue nicht-bürgerliche Wertebasis zu stellen, drückte sich zwangsläufig auch in veränderten Formen des Wohnens aus. Vor allem setzte es sich deshalb vom Modell der bürgerlichen Familie und der »Ideologie vom ›trauten Heim‹“339 ab: »Wir unterscheiden deshalb Kommunen von der Großfamilie dadurch, daß jene über die Verweigerung gegenüber drückenden Familienfor­ men hinausgehen und die Befriedigung der eigenen individuellen Bedürfnisse verbinden mit dem politischen Kampf gegen die Quellen ihrer Unterdrückung.«340

Kommunen waren nie Wohnprojekte. Sie verstanden sich als kollek­ tive Experimente auf dem Weg zu einem anderen Leben. Adornos Satz »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« wurde der Kommune zum 337 Vgl. ebd.: S. 184ff. Vgl. außerdem Bookhagen u.a.: Kommune 2, S. 7. Schon Ende des 19. Jahrhunderts gab es in England Stadtgründungen, die dem Modell der Gar­ tenstadt nahestanden. Auch sie dienten dem Ziel, den Fabrikarbeitern bessere Lebens­ bedingungen zu bieten. So gründete George Cadbury 1879 die Arbeitersiedlung Bourn­ ville, eine als Trabantenstadt von Birmingham; vgl. Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert, Band I, S. 18ff. Mit individuell gestalteten Reihenhäusern, zu denen ein Garten gehörte, entwickelte er ein »Modell zur Lösung der Arbeiterwohnfrage«; ebd.: S. 19. Es gab sogar einen Block mit Altenwohnungen, »die Rentnern zur Verfü­ gung gestellt wurden, die länger als 40 Jahre bei der Cadbury Brothers Company gearbeitet hatten.«; ebd.: S. 20. 338 Vgl. Bookhagen u.a.: Kommune 2, S. 7. 339 Ebd.: S. 8. 340 Ebd.: S. 9.

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

Anlass, ein »richtiges« zu (ver-)suchen. Die am Anfang ihrer Praxis stehende Problemanalyse gesellschaftlicher Verhältnisse konnte sich zwar in kongruenten Programmen aktualisieren, aber letztlich die all­ gemeine Durchsetzung dauerhafter Sachverhalte eines anderen Lebens (und Wohnens) doch nicht bewirken.

6.2.5 Serielles Bauen Eine neue Epoche des Wohnungsbaus bricht zu Beginn des 20. Jahr­ hunderts mit der Typisierung des Bauens an. Kritiker wie Henry van de Velde stellten sich dem neuen Uniformismus zunächst ent­ gegen, konnten die schwungvolle Dynamik ökonomischer wie woh­ nungsbaupolitischer Versprechen jedoch nicht nachhaltig fragwürdig machen. Die Serialisierung des Bauens bedeutete praktisch »eine Bil­ ligung der wirtschaftlichen Realitäten der Massenproduktion«341, und sie musste als Versuch verstanden werden, »eine adäquate Industrie­ ästhetik zu entwickeln«342. Mit der Normierung des Wohnens setzte sich jedoch auch eine Vereinheitlichung der Lebensweisen durch. Im Spiegel der Kritischen Theorie offenbarte der neue Trend sein Zerrbild: »Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit«343, die Wieder­ holung repräsentiere die »Totalität der Kulturindustrie«,344 und die ihr zugrundeliegende Kraft des Allgemeinen setze »Pseudoindividua­ lität«345 an die Stelle von Individualität. Der serielle Massenbau trieb letztlich die Vermassung fremdbestimmter Lebensweisen voran. Die Verwendung standardisierter und industriell vorgefertigter Module musste allerdings nicht notwendigerweise menschenunwür­ dige Wohnungsbauten hervorbringen. Mit Hilfe standardisierter Baustoffe und fließbandartig produzierter Formen ließen sich sogar Wohnräume realisieren, die dem geistigen und rituellen Leben von Mönchen geradezu idealtypisch entgegenkamen. Das zeigt sich etwa am für eine Dominikanergemeinschaft gebauten Kloster La Tourette, das nach einem Entwurf von Le Corbusier zwischen 1953 und 1960346 in Éveux-sur-l’Arbresle errichtet wurde. Die seriell hergestellten 341 342 343 344 345 346

Schwartz: Der Werkbund, S. 229. Ebd. Adorno / Horkheimer: Kulturindustrie, S. 108. Ebd.: S. 122. Ebd.: S. 139. Vgl. Cohen: Le Corbusier, S. 81–83.

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6.2 Zur Situiertheit des Wohnens

Klausen und Gemeinschaftsräume erwiesen sich in ihrer Nutzung als so flexibel, dass sie den Geboten der liturgischen Ordnung ebenso viel Spielraum boten wie der Praxis einer spirituell fundierten Lebenspra­ xis.

6.2.6 Großwohnsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre Die Serialisierung des Bauens war Voraussetzung für die zwischen den 1960er und 1970er Jahren in vielen europäischen Großstädten (London, Stockholm, Rom, Amsterdam, Paris u.a.) schnell und kos­ teneffizient errichteten Großwohnsiedlungen. In Bremen entstand 1959 die Siedlung Neue Vahr347, in Berlin 1974 das Märkische Vier­ tel, 1968 in Frankfurt am Main die Nordweststadt und von 1967 bis 1971 im Stadtteil Frankfurter Berg die Siedlung Berkersheim. Die persönliche Wohnsituation war hier gänzlich ideologisch verklärten Gemeinschaftsideen untergeordnet. Viele der aus Mitteln des sozialen Wohnungsbaus finanzierten Quartiere scheiterten jedoch und sanken bald zu sogenannten sozialen Brennpunkten herab. Am radikalsten ist der Mythos der Großwohnsiedlung mit dem zehngeschossigen Wohnkomplex Nuovo Corviale zu einem Trauma der Stadtpolitik geworden: einer rund ein Kilometer langen, von 1975 bis 1982 am Stadtrand von Rom errichteten bewohnbaren Betonwand.348 Großwohnsiedlungen lassen die vielen Facetten der Diskrepanz zwischen städtebaulichen Utopien und der Wirklichkeit sozialen Lebens im Quartier offenkundig werden. Wenn der Idee auch ein demokratisches Menschenbild zugrunde lag, so enttäuschte die Pra­ xis doch durch kompromisslosen Formalismus und uniformierende Egalisierung. Die aus dem Boden gestampften Mega-Situationen vereinheitlichten Wohnens verfehlten ihre sozialpolitischen Ziele.349 Im Milieu gigantischer Wohnmaschinen konstituierten sich dysto­ pische Welten, deren emotionale »Vitalqualitäten«350 die Bildung beengender Atmosphären begünstigte und das Leben ihrer Bewohner Vgl. Lampugnani: Die Stadt im 20. Jahrhundert, Band I, S. 717. Arvalia (Hg.): »Nuovo Corviale«, http://www.arvalia.it/nuovo-corviale/ (06.05.2020). 349 Im Prinzip ähnliche, wenn auch ideologisch mit einem sozialistischen Menschen­ bild legitimierte Großwohnsiedlungen entstanden etwa zeitgleich in der DDR und in anderen Ländern des ›Ostblocks‹. 350 Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 39. 347

348

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

minderte. Lebenskonzepte sind zwar stärker als Wohnideen; men­ schenverachtende Wohnbauten können die Realisierung eines guten Lebens jedoch in Gänze scheitern lassen.

6.2.7 Neoliberale Wohnexzesse Seit der Jahrtausendwende springt (nicht nur) in deutschen Metro­ polen wie Frankfurt am Main oder München die Schere sozioökono­ mischer Gegensätze immer weiter auf. Auf der einen Seite kämpft eine expandierende Zahl Obdachloser auf öffentlichen Plätzen ums nackte Überleben. Auf der anderen Seite residiert eine ihrerseits expandierende Zahl ökonomisch Privilegierter in Luxuswohnungen über der Stadt. Im Frankfurter Gallusviertel wurden im Sommer 2020 etwas mehr als 400 Eigentumswohnungen in einem extravaganten 180 Meter hohen Wohnturm (Grand Tower) fertiggestellt und für je 634.000 bis 9,1 Millionen Euro (bzw. 8.700 bis 30.000 Euro pro Quadratmeter) angeboten und verkauft.351 Die Ausstattungsmerk­ male zeugen von Lebens-Choreographien reinen Übermuts: Con­ cierge-Service, sechs Meter hohe Lobby, Lounge mit Kräutergarten, Rooftop Garden352, Panoramafenster über Eck mit spektakulärem Ausblick etc. Am unteren sozioökonomischen Ende großstädtischer Woh­ nungsmärkte setzt sich das Prinzip der Maximierung von Profiten durch Immobiliengeschäfte mit anderen Mitteln durch. So taugen noch die heruntergekommensten Absteigen als lukrative Spekulati­ onsobjekte zur Sicherung von Vermögenszuwächsen. In diese Logik ordnen sich auch die massenhaften Leerstände neuer Wohnungen ein; dies in einer Zeit immer größerer Wohnungsknappheit. Alle sieben Beispiele zeigen, dass sich in den unterschiedlichsten Formen des Wohnens Konstitutionsbedingungen des Lebens zum Ausdruck bringen. Aber das Wohnen kann die Bedingungen des Lebens und Arbeitens nur selten zum Besseren verändern. Umso mehr drängen sich ethische Bedenken auf. Dabei kommt es nicht auf die Setzung von Normen guten, gerechten oder »richtigen« Lebens an, sondern auf die Reflexion faktisch wie normativ wirksamer https://de.wikipedia.org/wiki/Grand_Tower_(Frankfurt_am_Main) (02.12.2020). 352 Vgl. Herrmann, Regine: Ein Hochhaus für die Reichen.

351

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6.3 Umriss einer Ethik des Wohnens

Handlungs- und Verhaltensweisen. Welche Folgen haben bestimmte Lebensformen für das eigene Wohnen wie das anderer – sowohl im Hier-und-Jetzt als auch in einer sich bestenfalls in vagen Perspektiven abzeichnenden Zukunft?

6.3 Umriss einer Ethik des Wohnens Die umfassende Lebensbedeutsamkeit des Wohnens mündet in das Gebot einer ethischen Reflexion all seiner Bedingungen und Prakti­ ken. Dies auch deshalb, weil kein Mensch nur in seinen eigenen vier Wänden wohnen kann, vielmehr über den aktuellen Wohnort hinaus durch sein Tun ins Offene des gesellschaftlichen Raumes gestellt ist. Global betrachtet ist das individuelle Leben in die gemeinsame Bewohnung der ganzen Erde verstrickt. Diese kann aber auf Dauer nur unter der Voraussetzung nachhaltiger und nicht destruktiver Lebensformen zukunftsfähig sein. Der Klimawandel macht indes darauf aufmerksam, dass ein Prozess der Verwohnung des ganzen Planeten schon lange begonnen hat. Nachhaltiges bzw. schonendes Wohnen verlangt die verantwortliche Pflege sozialer, ökonomischer und ökologischer Großgebilde. Nur dann kann sich der tatsächliche Lebensraum (vom Dorf bis zum Gestirn) als zukunftstaugliches Wohnmilieu für viele und unterschiedliche Menschen bewähren. Aufgrund ihrer Dichte, Heterogenität und Technifizierung ist es in besonderer Weise die urbane Welt, die das Wohnen zu einem existenziellen Denkstück macht. Noch vor dem Zweiten Weltkrieg merkte Dürckheim an: »Die vom Leben des Großstädters mitumfaßten Räume sind in einer Weise eingeklemmt und durchkreuzt von fremdem Leben, daß die im engeren Sinne zu seinem Leben gehörigen Räume gleichsam immer wieder verschluckt und einbezogen werden in das eigenständige Ganze des sich in unpersönlicher Abgehetztheit abspielenden Lebens der Stadt.«353

Heute spitzen gerade urbane Lebensformen soziale Spannungen und ökologische Krisen zu. Denkwürdig werden in der Gegenwart, weit über die urbanisierten Zentren hinaus, hochtechnologisch regulierte Natur-Verhältnisse, die dem spätmodernen Wohnen im Allgemeinen 353

Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum, S. 97.

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

zugrunde liegen. Die Eingespanntheit in dicht geflochtene Netze der Versorgung mit (vermeintlich) Lebensnotwendigem wie der Ent­ sorgung von (vermeintlich) Verbrauchtem macht auf die Dialektik von gemeinsamem und individuellem Leben aufmerksam. Nicht einmal in privaten Sphären des Wohnens gibt es (oberhalb von persönlichem Besitz) letztlich Eigenes, auf das nicht auch andere direkt oder indirekt berechtigte Ansprüche erheben (u.a. die Roh­ stoffressourcen der Natur, die Atemluft, aber auch das ästhetische Gut mehr oder weniger verschlissener Landschaften). Daraus folgt, dass eine Ethik des Wohnens auf lokalem wie globalem Niveau eine Ethik des Gebens und Nehmens einschließt. Dies umso mehr, als es zivilisationshistorisch vorschreitenden Praktiken des Nehmens an qualitativ ausgleichenden Rückgaben mangelt. Angesichts schnell expandierender Lasten, die aus der Art und Weise erwachsen, wie die Menschen die Erde bewohnen, reklamiert sich zunächst ein Diskurs über ein strukturelles Innehalten in einem wachstumsorientierten Prozess der Zivilisation, in dem Prinzipien der Nachhaltigkeit bis dato eine eher symbolisch-rhetorische als praxisverändernde Rolle spielen. Jedes Wohnen setzt die Raumnahme voraus, die in der Verwirk­ lichung des Lebens weitere Gesten des Nehmens nach sich zieht. So wird die Nahrung (u.a. in Gestalt von Tieren) mehrheitlich unter rabiaten Bedingungen produziert – zurückgegeben werden Abfälle und gesundheitspolitische Lasten. Auch die Bereitstellung »preiswer­ ter« Güter und Dienstleistungen setzt in komplexen Gesellschaften das Nehmen billig gemachter menschlicher Arbeit voraus; auch hier gibt es neben sozialpolitischen Floskeln keine tatsächlich wertäquiva­ lenten Rückgaben. Die Folgen der so verschiedenen Praktiken des Nehmens werden im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsord­ nung (außerhalb jeder Ethik) bestenfalls monetär kompensiert, im Bereich ökologischer Denaturierung z.B. durch die Bezahlung soge­ nannter Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. Insgesamt nimmt das Wohnen als verräumlichende Platzierung persönlichen und gemein­ samen Lebens mehr aus ökologischen und sozialen Kreisläufen, als es an diese kraft- und energiespendend zurückgibt. Die Modi des Nehmens stehen in einem direkten Wirkungszu­ sammenhang mit der Geschwindigkeit des Vorschreitens aller auf ökologisch relevanten Konsumpraktiken beruhenden gesellschaftli­ chen Veränderungen, an denen auch die Individuen teilhaben. So wäre auch eine auf ihre potentielle Gesamtwirkung bezogene kri­ tische Reflexion qualitativer wie quantitativer Beschleunigungen

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6.3 Umriss einer Ethik des Wohnens

gesellschaftlicher Prozesse nur situationsangemessener Ausdruck der Sorge um den gelingenden Fortgang der Zivilisation und damit eine Antwort auf die rationale Einsicht in die »limitierte Bewohnbarkeit« der Erde. Deshalb setzt das Dasein für Heidegger grundsätzlich die Sorge voraus. »Das Dasein ist Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht.«354 Da es auf die Zukunft des Möglichen gerichtet ist, kommt es von der Sorge um dessen Erreichbarkeit nicht los. Indem der Mensch durch sein »Sich-vorweg-Sein« auch »übersich-hinaus«355 ist, zeigt sich die Sorge im Gesicht der Vor- wie der Nachsorge. Ihr Gebot resultiert schon aus der rein sachverhaltlichen Beziehung des Gegenwartsmenschen zu den Lebenschancen der noch gar nicht Geborenen, gründet also in einer Sorge um die zukünftige Bewohnbarkeit der Erde. Heidegger sah den lebendigen »Ort« der Sorge im Leib und im Geist. Damit wird die Sorge zur sensiblen Ausdrucksgestalt affektiv fühlender wie intelligibel denkender Lebenswachheit. Mit anderen Worten: In der allein rationalistischen Reflexion der Voraussetzungen individuellen wie gesellschaftlichen Lebens bleibt Kritik unvollstän­ dig. Sie bedarf einer Integration der Gefühle als zweitem Modus des »Denkens« sowie als Ressource einer umfassenden Vernunft, die schon Edmund Husserl als transversales Vermögen sah, weshalb er »den Verstand eben zur Vernunft […] bringen«356 wollte. Verantwortliches Wohnen verlangt die rationalitätsübergrei­ fende Rekapitulation seiner Bedingungen. Die daraus folgende Sorge kann sich weder aus der Verantwortung für die Folgen individuel­ len Wohnens entwinden, noch das Wohnen anderer aussparen. Die Bewohnung der Erde ist im Kleinen wie im Großen eine legitimati­ onsbedürftige gemeinsame Situation. Auf politischem Niveau ginge es dabei aber nicht allein um die Überwindung von Formen prekären Quasi-Wohnens (z.B. sozialstaatliche Interventionen zur Überwin­ dung von Obdachlosigkeit). Vor einem gesellschaftspolitischen Hori­ zont reklamiert sich ebenso die Steuerung der Immobilienmärkte. Wo in der Mitte der Stadt demonstrativ zur Schau gestellte hyperluxuriöse Wohnpirouetten in den gleichsam gebauten Sozialzynismus abglei­ ten, steht der soziale Frieden auf dem Spiel und damit die Grundlage der Demokratie. Die Besorgung des Wohnens mündet deshalb in 354 355 356

Heidegger: Sein und Zeit, S. 191. Ebd.: S. 192. Husserl: Die Idee der Phänomenologie, S. 62.

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6. Wohnen als AusdruckWorten Worten es Lebens

eine Politik der vernunftbasierten Überwindung sozioökonomisch, kulturell wie ökologisch desaströser Formen der Bewohnung der Erde. Es wäre aber naiv, eine zwischen Selbst und Welt aufgespannte, letztlich praktische Ethik des Wohnens nicht vor das Problem einer doppelten Verpuffung gestellt zu sehen. Zum einen droht die ethi­ schen Impulsen folgende Sorge unter die Räder solipsistischer Selbst­ bezüglichkeit zu geraten, die in der Gegenwart zwei Gesichter hat: erstens das mächtiger spätkapitalistischer Gewinnermentalitäten, die mit einem Universaldarwinismus einhergehen, sowie zweitens das eines esoterischen Achtsamkeitskultes, der diesseits des Politischen um sich selbst kreist. Zum anderen übersteigert sich die Sorge unter dem Zwang zur politischen Überkorrektheit aber auch in die hyper­ moralisierende Selbstverpflichtung zur Rettung der Welt im Ganzen. Beide Wege führen in thematisch disparate Diskurse. Eine Praxis der Schonung wie sie Heidegger umrissen hatte, kann daraus nicht erwachsen, stellt sich diese doch als kritisch-dialektische Aufgabe einer praktischen Revision des Wohnens. Dabei steigt die Frage nach der Herkunft der rationalen und gefühlsmäßigen Kriterien auf, mit deren Hilfe das Wohnen bedacht und nachhaltig entwickelt werden soll – solange die gesellschaftlichen Systeme die Unbewusstmachung problematischer Bedingungen des Wohnens forcieren. In der Art und Weise, wie die Menschen wohnen, entscheidet sich nicht zuletzt, ob sie kultiviert leben oder nur nehmen, was sie kriegen können. Schon zu seiner Zeit (das war in den 1950er Jahren) for­ derte der Religionsphilosoph Romano Guardini eine Umkehrung der Handlungsrichtung in der Beziehung der Menschen zu den Dingen: »Nicht mit dem Zugehen auf die Dinge, sondern mit dem Zurücktre­ ten von ihnen beginnt die Kultur«357 – zugunsten einer geschärften selbst- wie weltbezogenen Aufmerksamkeit. Zugehen korrespondiert in der Frage des Wohnens mit der Steigerung der Wohnflächengröße, der Erhöhung des Verzehrs von prinzipiell allem und der exzessiven Aufblähung von Ästhetizismen. Zurücktreten bedeutet gleichwohl nicht die Rückkehr zur Urhütte. Zunächst verlangt es ein Innehal­ ten im Immer-so-Weiter vermeintlicher Fortschrittsbeschleunigung. Vor allem im interkulturellen Vergleich wird das gewohnte Wohnen fragwürdig und das Denken für Alternativen sensibilisiert. Die Infra­ gestellung dessen, was wir unbedacht nur haben wollen, weil es andere schon vor uns hatten, gipfelt in die Übung schonungsorientierten, 357

Guardini: Der unvollständige Mensch und die Macht, S. 22.

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6.3 Umriss einer Ethik des Wohnens

existentiellen Denkens und Wohnens: Was bedeuten uns die Dinge und Verhältnisse, mit denen wir leben wollen und die deshalb auch die Kultur unseres Wohnens disponieren sollen? Das Wohnen wird zum Anlass einer kritischen Reflexion des Lebens und dieses zu einem existenziellen Denkstück des Wohnens.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft – Plädoyer für eine Ethik des Wohnens –

In einigen Anmerkungen zum Wohnen schreibt George Perec: »Wenn ich an einem Haus vorbeigehe, in dem ich wohne, kann ich sagen, ich wohne da oder noch genauer, ich wohne im ersten Stockwerk nach hinten.«358) – oder: »ich wohne Hausnummer 13 […] in Paris […] in der Rue Linné […] im fünften Arrondissement […] am linken Seine-Ufer […] in der Hauptstadt […] in Frankreich […] auf dem Festland […] auf dem Planet Erde […] am Rande einer Galaxis […], die völlig willkürlich mit dem Namen Milchstraße bezeichnet wird«359. Perec spricht aber nicht über »das« oder sein Wohnen; in einigen maßstabsverkleinernden Schritten lokalisiert er lediglich die Lage seines Wohn-Ortes.

7.1 Wohnen – Versuch einer Annäherung Einen Versuch der Definition des Wohnens machte das Bundesver­ waltungsgericht in einem Urteil aus dem Jahre 1996: »Der Begriff des Wohnens ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigen­ gestaltung der Haushaltsführung und des häuslichen Wirkungskrei­ ses sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekennzeichnet.«360 Diese ernüchternd eindimensionale Definition verfehlt in ihrem pragmati­ schen Minimalismus das Wesen des Wohnens. In ihrer am common sense orientierten Oberflächlichkeit blockiert sie trotz ihrer lebens­ weltlichen Evidenz den Blick auf den substanziellen Charakter dessen, was das Wohnen ist und wie es geschieht. Im Unterschied dazu hatten die alten Mythen und vorchristlichen Religionen ein geradezu inspirierend polyvalentes Verständnis des 358 359 360

Perec: Denken/Ordnen, S. 11. Ebd.: S. 13. BVerwG 4 B 302/95 – 25.03.1996.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

Wohnens. Bis heute fordert es das philosophische Denken heraus; schon deshalb, weil das Wohnen als Seinsweise und nicht als Aufent­ halt an einem bestimmten Ort aufgefasst wurde. Danach war der Himmel auch kein Raum im geographischen Sinne; viel mehr eine sonderweltliche Sphäre der Götter und Geister. Da diese nicht wie Menschen leben, wohnen sie folglich auch anders, und so wurde der Himmel als »Stätte und Reich des überirdischen Lebens«361 angesehen. Das mythische Verständnis bleibt zwar unscharf, in sei­ ner Offenheit fordert es aber umso mehr das Denken und Fragen heraus. Auch Immanuel Kant dürfte in seinen Überlegungen zur »Bewohntheit bzw. Bewohnbarkeit verschiedener Planeten«362 nicht von der Suche nach tatsächlichen Möglichkeiten extraterrestrischen »Wohnens« (i.S. des o.g. Urteils) angetrieben worden sein, sondern von einem philosophisch-spekulativen Interesse an einer Erweiterung menschlicher Spielräume der Imagination. Jenseits der oberflächlichen Rede geht es der geisteswissen­ schaftlichen Frage nach dem Wohnen nie lediglich um die körperliche Anwesenheit von Menschen an einer Stelle im tatsächlichen Raum. Wohnen bedeutet mehr als nur stationäres oder temporäres Hierund Dort-Sein an einem Ort im Raum. Wer wohnt, folgt in dem, was er in und aus einer Gegend macht, kulturellen Traditionen. Vor deren gelebtem Hintergrund konstituieren sich neben rational nachvollziehbaren Um- und Mitwelt-Beziehungen auch solche, die sich in ihrem irrational-emotionalen Charakter dem Fremdverstehen oft entziehen (wie das Gefühl der heimatlichen Hingehörigkeit an einen Ort bzw. in eine Gegend). Tonino Griffero spricht von einer Magie des Wohnens.363 In Prozessen vitaler Teilhabe am gesellschaft­ lichen Leben schaffen sich die Menschen (er-)lebenswerte Gegenden – zumindest streben sie diesem Ziel zu. Unter einer »Gegend« will ich mit Heidegger »Erschlossenheit von Welt überhaupt für das wesenhaft räumliche In-Sein«364 verstehen: Die Welt des Wohnens ist in diesem Sinne eine existenzielle Sphäre, ein leiblich erfahrbarer Bewegungsraum, der sich zwischen einschnürender Enge und behag­ licher Weite, zwischen aversiven und bergenden Gefühlsqualitäten atmosphärisch zu spüren gibt. Jedes Wohnen setzt a priori einen 361 362 363 364

Bellinger: Knaurs Lexikon der Mythologie, S. 198. Maluschke: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, S. 15. Vgl. Griffero: Atmospheres: Aesthetics of Emotional Spaces, S. 93. Heidegger: Sein und Zeit, S. 186.

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7.2 Das Wohnen bedenken

topographisch konkreten Ort voraus, oder sogar mehrere. In vitalen Lebenspraktiken kann sich dort ein »zusammengehaltenes Gewoge verschwimmender Inseln«365 gefühlsmäßig geladener Räume her­ ausbilden. Beheimatende Gefühle verdichten sich (großmaßstäblich) am wärmenden Platz neben dem Ofen oder (im mittleren Maßstab) auf den Stufen einer großen Treppe am Fluss, kleinmaßstäblich in Stadt und Region. Der dinglich erfüllte und architektonisch gebaute Raum ist nur das »Schachbrett« eines gelebten Wohnmilieus, in dem tatsächlicher und atmosphärischer Raum zwei zusammengehörige Dimensionen einer mehr oder weniger umfriedeten Welt bilden.

7.2 Das Wohnen bedenken Warum und im Hinblick worauf sollten die Menschen ihr Wohnen überhaupt bedenken, ist es doch in gewisser Weise eine »Untätig­ keit«366. Man kann nicht wohnen, wie man zur Arbeit geht oder ein Essen kocht. Die kritische Hinterfragung seines Wesens läuft deshalb Gefahr, den kokonartigen Schutzcharakter atmosphärisch umfriede­ ter Wohnräume aufzubrechen. Das Gefühl, in einer Wohnung wie auf einer Insel zu sein, bewährt sich gerade darin, die beängstigende Viel­ zahl lokaler bis globaler gesellschaftlicher Probleme in einer sanften Anästhesie der Wahrnehmung »draußen« zu halten und nicht in das nestartige Milieu der eigenen vier Wände hereinbrechen zu lassen. Im Bedenken des Wohnens keimt die (Selbst-)Verunsicherung. Wenn es eine Magie des Wohnens gibt, wie Griffero sagt, so hat sie ihre umwölkende Macht wesentlich in atmosphärischen Rätseln. Der Habitus unbeirrten Mitschwimmens im Strom des Gewohn­ ten verspricht ein weitaus bequemeres Leben als der Beginn einer Aufdeckung dessen, was in seiner Selbstverständlichkeit Schutz und Geborgenheit bietet. Und so stellt sich die Frage nach dem Wesen des Wohnens für die meisten Menschen auch gar nicht erst. Wohnen »geschieht« lebenspraktisch in einer Endlosschleife der Wiederkehr desselben. Es umfasst das tagtägliche Tun und gewohnheitsmäßige Schmitz: Heimisch sein, S. 30. »Wir wohnen nicht bloß, das wäre beinahe Untätigkeit!« sagt Heidegger in einem etymologischen Exkurs zum Wort »wohnen«; vgl. Heidegger: Bauen Wohnen Den­ ken, S. 33.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

So-Sein auf stumme Weise – vom Einschlafen und Aufstehen bis zum Einkaufen und Zur-Arbeit-Gehen. Erst das verunsichernde Aufblit­ zen eines Problems, das in einem Zusammenhang mit dem Wohnen steht, entzündet sein Bedenken. Dies jedoch in aller Regel nicht im Allgemeinen, sondern im Rahmen eines sachverhaltlich definierten Themas. Zu einem explizit denkwürdigen Gegenstand im Sinne von Heidegger367 wird es erst dann, wenn es sich im Spiegel brüchig werdender Gewohnheiten aus sich heraus denkwürdig macht. Dann löst sich das quasiterritoriale368 Verständnis der Wohnung auf und das davon begründete Gefühl des Geborgen-Seins verliert sich an die Frage, ob das eigene Leben gesellschaftlich guten oder nur subjektiv gefälligen Wegen folgt. Schon die steigende Energiekostenrechnung kann zum Katalysator der Denkwürdigkeit werden, zeigt sie doch nicht nur ein monetäres Problem an, sondern viel grundlegender eine Unwucht im Mensch-Natur-Verhältnis. Gleichwohl kulminiert der Verlust von Selbstverständlichkeit auch dann nur bestenfalls in der Frage, ob sich die Menschen in ihrem Streben nach einem schönen Leben im Hier und Jetzt auch für andere (nicht nur Menschen, sondern auch Tiere) verantwortlich fühlen – die Gegenwärtigen wie die Zukünftigen. Die Dringlichkeit, das Wohnen zu bedenken, sah Martin Heidegger nach dem Zweiten Weltkrieg in einer seinerzeit hochaktu­ ellen Wohnungsnot. Angesichts zerbombter Häuser und massenhaft fehlender Wohnungen merkte er 1951 an: »Als ob wir das Wohnen je bedacht hätten«369. Siebzig Jahre später gibt es jene Wohnungsnot nicht mehr. In der Gegenwart gibt es aber eine neue und andere Woh­ nungsnot: Auch sie ruft uns ins Bedenken des Wohnens. Die aktuelle Wohnungsnot erwächst abermals aus einem Mangel an Wohnungen, hat ihre Ursachen nun jedoch zum einen im ethisch abgründigen Treiben eines profitgierigen Spekulantentums. Zu dessen Praktiken gehört die maßlos ausbeuterische Verteuerung von Wohnungsmie­ ten, wie das kaum weniger menschenverachtende Kaufen-und-Leer­ stehen-Lassen neuer Wohnungen. Einen gewichtigen Grund hat der neuerliche Wohnungsmangel zum anderen aber auch in einer nicht ganzheitlich betrachteten Migrationspolitik, die einen eklatanten Mangel an Wohnungen hätte vorhersehen und beheben müssen. Vgl. Heidegger: Was heißt denken? 1997, S. 11. Nach Artikel 13 des Grundgesetzes steht die Wohnung unter besonderem verfas­ sungsrechtlichem Schutz (»Die Wohnung ist unverletzlich.«). 369 Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 59. 367

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7.2 Das Wohnen bedenken

Wenn das Wohnen in der Gegenwart auch allzu oft und ganz zu Recht im Spiegel ökonomischer Fragen diskutiert wird, so kann es doch nicht auf die (verweigerte) Teilhabe am Immobilienmarkt redu­ ziert werden. In seinem existenziellen Charakter verstand es Martin Heidegger als »die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind. […] Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen.«370 Gegen die Bequemlichkeit wohnenden Dahinlebens merkte er daher an: »Genug wäre gewon­ nen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denkwürdiges blieben.«371 Zwar wird in der Gegenwart politisch intensiv über das Wohnen gestritten. In diesen Debatten drückt sich jedoch keine allgemeine Denkwürdigkeit im Heidegger’schen Sinne aus. Bestimmend ist die pragmatische Logik spezieller Themen der Ökonomie, Baukultur, Architektur, Stadtentwicklung und Ökologie. Damit ist es nicht das existenzielle Wohnen selbst, das denkwürdig wird, sondern etwas Partielles, das auf das Wohnen verweist bzw. dessen Ausdruck ist. Im Wohnen spiegelt sich jedoch etwas Ganzes wider – Abdruck eines so oder so geführten wie gefühlten Lebens, in dem sich die Men­ schen wohnend situieren. Umgekehrt gilt aber auch, wenn nicht noch mehr: Die Art und Weise, wie sie leben, situiert sie (oft genug wider Willen) ebenso in ihrem Wohnen. Die Vielfalt gesellschaftlicher Rah­ mensituationen lenkt auf einem überindividuellen Niveau jedes noch so individualistisch erscheinende Wohnen in Bahnen des Möglichen. Aber auch alle persönlichen Daseinsbedingungen disponieren das Wohnen in sozioökonomischer bis -kultureller Hinsicht. Es geschieht in einem performativen Sinne, und es erwächst aus Situationen. Unter einer Situation verstand schon Karlfried Graf von Dürck­ heim »jede sich für das erlebende Bewußtsein von Augenblick zu Augenblick als Einheit im Zugleich konstituierende Bewußtseins­ mannigfaltigkeit«372. Ein systematisch aufgebautes philosophisches Situations-Konzept hat der Kieler Philosoph Hermann Schmitz als ein Kernstück seiner Neuen Phänomenologie entwickelt.373 Situationen begreift er als Horte von Bedeutungen, als »Heimstätten, Quellen und 370 371 372 373

Ebd.: S. 45; vgl. i.d.S. auch: »Das Wohnen ist der Grundzug des Seins«, ebd.: S. 48. Ebd. Dürckheim: Erlebensformen, S. 267. Vgl. Schmitz: System der Philosophie.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

Partner«374 allen menschlichen Verhaltens, die wiederum komplex und »unübersehbar in Situationen verschachtelt«375 sind. Deshalb können sie auch nur begrenzt für sich betrachtet und aus größeren Zusammenhängen isoliert werden. Allzumal im Wohnen überlagern sich persönliche und gemeinsame Situationen. Noch nicht einmal ein Single wohnt im engeren Sinne alleine. In seinem Leben bedarf er stets auch der anderen und ihrer Welt. Deshalb merkte Otto Friedrich Bollnow mit Martin Heidegger an, dass es beim Wohnen »um das Verhältnis des Menschen zur Welt im Ganzen [geht]. Darum müssen wir fragen: Welches ist dieses neue[376] Verhältnis zur Welt, zu des­ sen Bezeichnung sich der Begriff des Wohnens aufdrängt.«377 Diese kritische Reflexion vermittelt die Bewusstwerdung des essentiellen Grundes, das Wohnen im Allgemeinen zu bedenken.

7.3 Die Sorge umkreist was wird, wenn sich nicht ändert, was ist Eine Ethik des Wohnens versteht sich nicht von selbst. Umso mehr gebietet sie sich, weil jedes wohnende In-der-Welt-Sein zwangsläufig Zumutungen für das Dasein anderer mit sich bringt. Mit anderen Worten: Alle Arten des Wohnens nehmen mehr aus der natürlichen und sozialen Welt anderer Individuen und Gesellschaften als sie an diese zurückgeben (s. dazu auch Kapitel 7.4.3). Wo das eigene Leben in der Art und Weise seiner Führung das Leben anderer überschattet, gerät es unter ethischen Legitimationsdruck: Die Fehl- und Überer­ nährung in der Ersten Welt, die übermäßige Beanspruchung von Energie und Rohstoffen, eine ökologisch wie tierethisch desaströse Agroindustrie, der freizeitbedingte Verbrauch von Landschaften und vielem anderen mehr schränken nicht erst die Lebensperspektiven Zukünftiger ein, sondern schon die Fortführung längst vertrauter Alltagsroutinen im Hier und Jetzt. Vor dem Horizont anthropologisch verengter Zukunftsperspektiven kann sich das gewohnte Leben nicht dauerhaft bewähren. Schmitz: Was ist Neue Phänomenologie?, S. 91. Ebd.: S. 92. 376 Das Adjektiv »neu« bezieht Bollnow auf ein Verständnis des Wohnens, das (ähnlich wie schon bei Heidegger) bei Merleau-Ponty über das Bleiben an einem Ort hinaus das Seins auf der ganzen Welt betrifft. 377 Bollnow: Mensch und Raum, S. 127. 374

375

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7.3 Die Sorge umkreist was wird, wenn sich nicht ändert, was ist

Die Sorge umkreist, was wird, wenn sich nicht ändert, was ist. In der Sorge ist sich der Mensch selbst vorweg.378 Darin liegt der Charakter ihrer spezifischen Zeitlichkeit. Als existenzielles Moment vitaler Lebenswachheit kehrt sie ins Wohnen ein, sobald die Bewusst­ werdung bevorstehender Verdunkelungen die sorgenfreie Zuversicht zerbricht. Ihre Quellgebiete hat die Sorge im Leib und im Geist379, im affektiven Fühlen und intelligiblen Denken. Neben der Rationalität des Verstandes erweisen sich die Gefühle als spürende Instanz der Kritik. Erst in der rationalitätsübergreifenden Perspektive öffnen sich Bewertungsspielräume einer umfassenden Vernunft. Gefühle zeigen an, wie es einer Person oder Gesellschaft ergeht: »Befindlichkeit […] macht offenbar, ‘wie einem ist‘«380. Es ist in besonderer Weise Sache der Ethik, solche Gefühle zu »bändigen«, die dem Nicht-Legi­ timierbaren, dem Zerstörerischen und Rücksichtslosen zustreben. Im Reflexionsmilieu der Vorsorge richtet sich die Ethik auf die Sicherung möglichen Wohnens unter erschwerten Bedingungen sich ankündigender Zukunft. Im Reflexionsmilieu der Nachsorge richtet sie sich auf die Bereinigung der Folgen mangelhafter Praktiken des Wohnens. Insgesamt kümmert sie sich um die Gewährleistung einer zukunftsorientierten Bewohnbarkeit lokaler bis regionaler Gegenden und damit auch der Erde im Ganzen. Umfassende Sorge ist nicht auf irgendein und irgendwie in Zukunft mögliches Wohnen gerichtet, sondern auf eines, das nicht schlechter sein soll als jenes, das die heute Lebenden teilen. Indes strebt die Macht der Kulturindustrie nur jede erdenkliche Vermehrung von allem möglichen Wohnkomfort durch den Erwerb materieller wie immaterieller Güter an. Sorge, die sich allein um das bequeme Weiter-Leben kümmert, ist keine existenzielle Sorge. Sie lässt vielmehr erkennen, dass das Wohnen in seinem Wesen noch gar nicht denkwürdig geworden ist. Von der affektiven Macht existenziell ergreifender Sorge bleibt die unbeirrbar naive Zuversicht unberührt, »die ganz auf eine gute Aussicht baut«381. Das ist die dumpfe Sorge der Dahinwohnenden um das ungebrochene Immer-so-Weiter subjektiv wohlergehenden Lebens in atmosphärisch einlullenden Milieus. Sie ist Ausdruck der »beruhigte[n] Selbstsicherheit« des Man und affektiver Spie­ 378 379 380 381

Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 327. Vgl. ebd.: S. 198. Ebd.: S. 188. Schmitz: System der Philosophie, Band III/4, S. 477.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

gel »selbstverständliche[n] ‚Zuhause-sein[s]‘«382. Ihre Spielräume schöpft sie aus Konventionen und Klischees sowie dem Festhalten an persönlichen Vorteilen »schönen« Eingerichtet-Seins auf allen Maß­ stabsebenen des Wohnens. Selbstbezügliche wie besitzstandsi­ chernde Sorge erwächst aus dem egozentrischen Gefühl der Furcht vor geldwerten Verlusten. Existenzielle Sorge verdichtet sich im Unterschied dazu in umsichtiger Vorsorge, wie sie die kritisch-refle­ xive Nachsorge impliziert. Indem das kritische Bedenken des Wohnens – wie es Heidegger verstand – zur Rekapitulation seiner Bedingungen vordringt, mündet es in die Bewusstwerdung der Verantwortung gegenüber dem eigenen Selbst wie dem Leben anderer, die mit den Lasten und Abfällen eigenen Wohnens leben müssen. Die Bewohnung der Erde bildet den Rahmen einer universell-gemeinsamen Lebenssituation. Darin gibt es keine »rettenden Inseln«. In den Perspektiven einer Ethik des Wohnens (die a priori politisch sind) werden sozial randständige Formen prekären Quasi-Wohnens daher ebenso zur Sache sorgenden Bedenkens wie exaltiert-narzisstische Wohnpirouetten im luxurier­ ten Speckgürtel der Stadtgesellschaft.

7.4 Eckpunkte einer Ethik des Wohnens In den Fokus einer ethischen Reflexion der Zukunftsfähigkeit des Wohnens rücken nicht Orte und Räume, an und in denen Menschen leben, sondern die Arten und Weisen, wie sie sich in ihrem Leben ver­ räumlichen. Wie die Gegenwärtigen der Erde und ihrer Natur (natura naturans und natura naturata) bedürfen, so auch alle Zukünftigen, die angesichts endlicher Ressourcen verengte Spielräume ihrer Lebensge­ staltung vorfinden werden. Eine Ethik des Wohnens bedarf deshalb auch der kritischen Reflexion des Umgangs mit der Erde, wie sie dessen Revision anstrebt. Wie die Mönche einen Sinn individuellen Wohnens in ihren Klausen nur vor dem Horizont der Bewohnbarkeit der gemeinschaftlichen Räume der Bruderschaft finden, so setzt das Wohnen im Allgemeinen die Schonung des Gestirns voraus. Nur dann kann die Erde den menschlichen Lebensbedürfnissen dauerhaft gerecht werden. Der Mensch wohnt – auch wenn er nur eine ein­ 382

Heidegger: Sein und Zeit, S. 188.

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7.4 Eckpunkte einer Ethik des Wohnens

zige Stube hat – stets auf allen Maßstabsebenen der Erde zugleich. Romano Guardini merkte – auf die anthropologische Situation des Wohnens übertragbar – an, »Welt ist das Ganze des Daseins«383. Diese Welt hat zwei Pole: einen im Raum aller bewohnten Orte und einen im leiblichen Selbst der Wohnenden. Beide Weltpole synchro­ nisieren sich in konkreten Praktiken des Wohnens, d.h. in der Art und Weise, »wie die Sterblichen auf der Erde sind.«384 Ethisch herausfor­ dernd sind (aus der Perspektive des Mangels) nicht nur alle möglichen Formen »wohnungslosen Wohnens«385, sondern (aus der Perspektive des Überflusses) ebenso – trotz juristischer Legalität – alle möglichen Varianten überprivilegierten Wohnens. »Überprivilegierung« erweist sich jedoch schnell als relativ, stellen sich im globalen Maßstab doch tendenziell alle bürgerlichen Wohnformen der Wohlstandsgesell­ schaften als begünstigt dar. Im Rahmen dieses Kapitels stellt sich weniger die Aufgabe einer begründeten Setzung von Normen als die einer Reflexion der Maßstäbe, an denen sich eine anzustrebende Verbesserung des Wohnens orientieren könnte sowie die Reflexion der Bedingungen, die einer solchen Verbesserung fördernd entgegenkommen und oder sie bremsend verlangsamen. Welche Rolle spielen dabei normative Orientierungen und die sie tragenden wie aushebelnden Gefühle? Was bedeutet es schließlich, das Wohnen im Sinne eines moralischen Imperativs in die Bahnen einer sozial verpflichtenden Schonung zu führen?

7.4.1 Zur Macht normativer Ordnungen Ethik hat diesseits bindender Normen des geltenden Rechts keinen festen Grund. Formalrechtlich legale, ethisch aber illegitime (sozialund natur-»gefräßige«) Modi des Wohnens dürften sich allein von Appellen und Geboten kaum zur Umkehr bewegen lassen. Dennoch setzt jede Ethik diesseits polizeistaatlicher oder ideologischer Totalita­ rismen auf Einsicht, Bildungsfähigkeit und Vernunft sowie die Macht von Gefühlen der Verantwortlichkeit gegenüber den Rechten Dritter auf ein gutes Leben in der Zukunft. 383 384 385

Guardini: Welt und Person, S. 75. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 35 und 45. Vgl. auch Kapitel 9 und 11.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

Jede Ethik stützt sich in ihrer normativen Ordnung auf Bedeu­ tungen unterschiedlichster Herkunfts- bzw. Quellbereiche, z.B. (i.S. von Karl Marx und Friedrich Engels) auf den Wertehorizont einer kategorialen Kapitalismuskritik, (i.S. von Ernst Haeckel und August Möbius) auf ökologische Einsichten in die Funktionsweise natürlicher Systeme oder (i.S. von Edmund Husserl, Maurice Merleau-Ponty, Hermann Schmitz u.a.) im Rahmen phänomenologischer Aufmerk­ samkeiten, auf die ambivalente Macht der Gefühle in Bezug auf das Wohnen sowie alle Lebensäußerungen, die auf das Wohnen Einfluss haben. Sache der Sozialethik ist es vor dem Hintergrund aller das Wohnen regulierenden normativen Ordnungen, das Tun menschli­ cher Gruppen in ihrer situativen Verwurzelung in Institutionen und Feldern gesellschaftlicher Werte denkwürdig zu machen.386 Gegen­ stand der (christlichen) Sozialethik ist »die menschliche Existenz in ihren Leben stiftenden und Leben erhaltenden sozialen Bezügen, in ihren Bedingtheiten, Zweideutigkeiten und vielfältigen Be- und Ver­ hinderungen«387. Sie steht auf dem Boden eines Wertekanons, der auch in einer säkularen Gesellschaft zustimmungsfähig ist, weil er mehr der Zukunftssicherung zustrebt, als der Teilung religiös-kon­ fessioneller Werte. Keine Ethik ist auf gesellschaftlich anerkannte Normen fixiert. Als sozial lebendiges Wertegefüge ist sie gegenüber einer Erweite­ rung ihrer Grenzen offen. Jedes sich historisch verändernde Leben verlangt nicht nur eine Anpassung der Leitlinien für die Festsetzung des formalrechtlich Zulässigen, sondern ebenso die prozesssensible Aktualisierung des moralisch Gebotenen. Diese perspektivische Öff­ nung ist nicht frei von Hindernissen. Dass sich die Voraussetzungen für die Anerkennung verhaltenslenkender Normen in einer religiös sich polarisierenden Gesellschaft erschweren, zeigt sich in der »mul­ tikulturellen« Gesellschaft tagtäglich.

7.4.2 Gefühle und die Macht der Normen Ethische Reflexion setzt voraus, dass »konkrete Situationen, Konstel­ lationen, Probleme als Herausforderung im ethischen Sinne«388 auch 386 387 388

Vgl. Höffe: »Sozialethik«, S. 240. Heimbach-Steins: Sozialethik, S. 169. Heimbach-Steins: Sozialethik, S. 177.

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7.4 Eckpunkte einer Ethik des Wohnens

wahrgenommen werden. In der Frage der Bewertung individuellen wie gesellschaftlich kollektiven Wohnens kommt es aber nicht an erster Stelle auf das rational handelnde Subjekt an, zeigt sich doch gerade in der Ausgestaltung der Sphären des Wohnens eine Macht der Gefühle, die sich nicht einfach unter die Logik von Handlungen subsumieren lässt. Wohnräume sollen als atmosphärische Milieus je nach ethnischer und kultureller Lebenssituation Behaglichkeit stiften und nicht nur reibungslos funktionieren. Gefühle spielen aber auch in der normativen Regulierung zukunftsfähiger Wege des Wohnens eine lenkende Rolle. So kommt es nach Hermann Schmitz in der Wirksam­ keit von Normen neben ihrer formalen Setzung und machtvollen Durchsetzung ganz wesentlich auf emotionale Anerkennung an.389 »Die verbindliche Geltung rechtlicher, moralischer und religiöser Nor­ men beruht lediglich auf der Autorität von Gefühlen. Statt ihrer kämen höchstens Zwang und Konvention in Betracht, aber Zwang braucht keinen Gehorsam, und Konvention ohne sie tragende Autorität eines Gefühls genügt nur zu unverbindlicher Geltung.«390

Allein polizeilich durchgesetzte Normen lenken das Verhalten ver­ bindlich. In der Welt ihrer Wohnung erleben sich viele Menschen meistens außerhalb der Reichweite und Wirkungsmacht gesellschaft­ licher Normen. Der verfassungsrechtliche Schutz der Wohnung för­ dert diese Einstellung. Das Leben in der »Privatheit« generiert in seiner Verinselung deshalb auch eher schwache Impulse für das kritische Bedenken des eigenen Wohnens nach moralischen Normen. Gebote, deren Wurzeln emotional nur oberflächlich im Bewusstsein verankert sind, setzen dem Gewissen kaum zu. Wenn sich dessen Gefühlsbasis391 als Folge fortgeschrittener Gewissensabstumpfung selbst bei offensichtlichen Verstößen gegen eine Norm nicht regt, kann sich die für die Durchsetzung von Verhaltenswirksamkeit nötige Macht der Ergriffenheit nicht entfalten. Eine über Zwangsmittel nicht durchsetzbare (»nur« moralische) Norm bewirkt bestenfalls auf freiwilliger Grundlage eine Revision konkreten Tuns. Man »darf« sie auch ignorieren. Schmitz spricht für diese Fälle vom »Ausweichen« gegenüber einer Norm. Darin spiegelt sich »die Unredlichkeit wider, 389 »Die Moral beruht allein auf dem Gewissen und besteht in den von diesem zur Verbindlichkeit erhobenen Normen«; Schmitz: System der Philosophie, Band III/3, S. 660f. 390 Schmitz: Kurze Einführung, S. 92. 391 Vgl. Schmitz: System der Philosophie, Band III/3, S. 648.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

sich über das Ergriffensein hinwegzutrügen, es zu verdrängen, sich in die Rolle des Unbetroffenen hineinzusteigern.«392 Aber auch »nur« moralische Normen fordern dann mit Autorität gebietender Macht ihre Anerkennung im praktischen Tun, wenn bei ihrer fortgesetzten Ignoranz schmerzliche Folgen für Viele zu befürchten sind. So schafft der Klimawandel Fakten, die eine Reflexion naturgefräßiger Lebens­ formen erzwingt und damit auch das Wohnen in einen veränderten Rahmen rückt. In der affektiven Verfolgung persönlicher Interessen lassen sich mit dem Medium des Geldes (in und an den Grenzen geltenden Rechts) ohne äußeren Widerstand auch ekstatische Wohnformen realisieren, die ungleich mehr vom globalen Gemeingut beanspru­ chen als die Mönchsklause in einem Kloster.393 Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird dann als Legitimationsbasis für die im Prinzip grenzenlose Auslebung privater Bedürfnisse radikal missverstanden. Dennoch bleibt auf dem Niveau von Politik und Gesellschaft weitgehend resonanzlos, was gegen Gemeinwohlinter­ essen verstößt und vor dem Hintergrund ethischer Erwägungen zwar anders sein sollte, nach formal geltenden Normen aber nicht verboten ist. Mehr noch kann – das moralisch »nur« Gebotene auf politi­ schen Wegen neutralisiert und damit entwertet werden, so dass das Widermoralische fortan ohne schlechtes Gewissen weiterhin getan werden kann. Dazu bietet sich die politische Lobbyarbeit an. Auch Interessenverbände sehen ihre Aufgabe darin, sich der erwünschten Austarierung des Gleichgewichts zwischen gängelnden Normen und Klientelinteressen zu widmen. Auf der Seite der Mieter von Wohnun­ gen agieren die Mietervereine in diesem Sinne, auf der der Vermieter die Hauseigentümervereine. Jeweils werden die Bedingungen des Wohnens nach eigenen und nicht nach allgemeinen Erwägungen der Vernunft »optimiert«.

Ebd.: S. 645. Diskussionswürdig erscheint die Frage der Vereinbarkeit exzessiven Luxuswoh­ nens mit dem Prinzip der Solidarität, verstanden als »die Fähigkeit (Kompetenz) eines Menschen, sich für das Gemeinwohl und darin für eine gerechte Verteilung der Lebenschancen (wie bewohnbare Welt, Nahrung, Wohnen, Familiengründung, freie Erziehung, Bildung, Arbeit, gemeinsame öffentliche Religionsausübung) stark zu machen.«; Heimbach-Steins: Sozialethik, S. 188. 392

393

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7.4 Eckpunkte einer Ethik des Wohnens

7.4.3 »Schonung« als ethische Norm Auf allgemeinem Niveau kulminiert eine Ethik des Wohnens in moralischen, politischen und rechtlich bindenden Normen der Scho­ nung. Spätestens in der Gegenwart folgen sie der Einsicht in die bereits erfolgte Überschreitung von Grenzen dauerhafter Nutzbarkeit der Erde (Klimawandel, Verschmutzung der Böden, Vergiftung des Grundwassers, Vermüllung der Weltmeere, Überbevölkerung u.v.a.). Notwendigerweise rücken damit alle Formen (sozial-)ökologisch pre­ kären Lebens und Wirtschaftens in den Fokus existenzieller Sorge um die Zukunft heimatstiftenden Wohnens. Die Norm der Schonung spiegelt sich in dem ethischen Gebot wider, dass »jede Generation die Erde treuhänderisch zu nutzen«394 hat. Das Prinzip der Schonung bildet das Sinnzentrum in Heideggers Geviert-Metapher, mit der er das Wohnen als Praxis der Verräum­ lichung des Lebens denkwürdig macht: »Das Geviert zu schonen, die Erde zu retten, den Himmel zu empfangen, die Göttlichen zu erwarten, die Sterblichen zu geleiten, dieses vierfältige Schonen ist das einfache Wesen des Wohnens.«395 Die Metapher des Gevierts steht »für die Einheit aller Weltbezüge und für die innere Bezogenheit von Menschen (den »Sterblichen«) auf außermenschliche Wesenheiten (die »Unsterblichen«), den Bereich des Bewohnbaren (die »Erde«) und den des Unerreichbaren (»den Himmel«)«396. Die »Göttlichen« sind dabei keine personalisierten, individuellen Götter; sie repräsen­ tieren das dem Menschen Unerklärliche und Unverfügbare, welches dem Übermächtig-Numinosen nahesteht.397 »Die Göttlichen« for­ dern schließlich eine sich gegenüber der inneren wie äußeren Natur gebietende Demut – eine besonnene und zukunftsfähige Haltung, die nicht in eine Präpotenz des Technischen und Verzerrung der inneren wie äußeren Natur mündet. Ebenso mahnen sie zum Eingedenken der Endlichkeit des individuellen Menschen und der sich daraus ergebenden Pflicht zur Bewahrung der Erde. Es sind in besonderer Weise die ressourcengefräßigen Lebens­ formen, die jene Spannung auf die Spitze treiben, unter der die Tragfähigkeit natürlicher Systeme schon lange brüchig geworden ist. All diesen Lebensformen liegen gesellschaftliche Verhältnisse 394 395 396 397

Ebd.: S. 195. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 46. Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 261. Vgl. Otto: Das Heilige.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

zugrunde, deren Funktionsparameter den irreversiblen Verbrauch von natürlichen und sozialen Ressourcen nicht nur ermöglichen, sondern evozieren und geradezu herausfordern – von der Tourismus- bis zur Autoindustrie, von der Produktion der Lebensmittel bis zur FinanzDienstleistung. Lebensformen disponieren letztlich die Wohnformen – z.B. zwischen dem vorübergehenden Bleiben an einem Ort und einer allein lustbetonten Dauermobilität, dem langfristig schonenden Gebrauch von Dingen und einem Verbrauch, der nur auf wechselnde Moden zurückgeht sowie der selbst- wie naturschonenden Ernährung einerseits und der blind-konsumistischen Teilhabe an einer mehrdi­ mensional ruinösen Agroindustrie andererseits. Ein nachhaltiger bzw. schonender Umgang mit der Erde basiert auf ganzheitlichen Strebungen. Während der Begriff der »Nachhaltig­ keit« durch die politische Rhetorik systematisch aufgeweicht und semantisch zur Catch-All-Floskel zerschlissen wurde398, zeichnet sich der Begriff der »Schonung« durch weit weniger festgelegte The­ men- und Handlungsfelder aus. Er sensibilisiert für die kritische Bewertung der Verflechtung aller gesellschaftlichen Felder sowie der Folgen struktureller Ungleichheiten zwischen Nehmen und Geben im Umgang mit Menschen wie natürlichen Ressourcen. Schonung gebietet sich aber nicht nur gegenüber Mensch und Tier, sondern schon gegenüber Dingen. Damit stellt sich die Aufgabe einer ethischen Revision tradierter Haltungen zum Material. Die atmosphärisch erlebte Raumqualität einer Wohnung verdankt sich u.a. der Platzierung alter, scheinbar nutzloser, aber dennoch in ihrem Fortbestand geschonter Gegenstände399, deren Wert sich jeder vor­ dergründig verstandenen Brauchbarkeit entzieht. Henry van de Velde forderte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Werkbund-Debatte zur Herstellung von Wohnraum eine »Moral des Gegenstandes«400 und eine »Achtung für das gebrauchte Material«401. Die aus der heu­ tigen Sicht einer exzessiven Konsumkultur kaum noch nachvollzieh­ bare Sensibilität van de Veldes liegt in ihrem Kern in einer pathischen Rationalität, die sich der Logik ökonomischer Wertschöpfungsket­ ten verweigert. Schonung des Immateriellen im Gegenständlichen gründet vor dem Hintergrund gelungener bzw. »guter« Verläufe der Geschichte in einer Demut gegenüber vergangenem Werden; dann 398 399 400 401

Vgl. auch Hasse: Bildung für Nachhaltigkeit statt Umweltbildung? Vgl. auch Hasse: Wohnungswechsel, Kapitel 3. van de Velde: Kunst und Industrie, S. 28. Ebd.: S. 29.

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7.4 Eckpunkte einer Ethik des Wohnens

mündet sie auch in eine mnemonische Wertschätzung konkreten wie allgemeinen (Gewesen-)Seins. Das Gebot der Schonung kehrt innerhalb einer Ethik des Woh­ nens in den Werten der Anerkennung und Solidarität wieder. Beides ist der Mensch im sozialen Nahraum besonders denen schuldig, mit denen er lebt und wohnt. Es sind spezifisch menschliche Ver­ mögen; umso mehr bedürfen sie der Übung. Sie bilden die ethi­ sche Basis verantwortlichen Wohnens, in dem sich die Menschen schrittweise bewusst werden, dass sie in allem Tun und Sein die Lebensrechte anderer zu respektieren haben. Letztlich zeigt sich auch darin, dass Wohnen in einfachen »Tätigkeiten« nicht aufgeht, vielmehr im »Können des Lebens« zu sich kommt – im Nahraum des Nestes wie im öffentlichen Raum der Stadtgesellschaft. Eine auf dem umfassenden Prinzip der Schonung fußende Ethik des Wohnens ver­ langt mit höchster Priorität die sensible Aufmerksamkeit gegenüber den sich abzeichnenden Folgen wachstumsorientierten Konsums. Gleichsam gegen die sedierende Macht kulturindustrieller Imperative ungebremsten Nehmens öffnet die bewusste Konsumverlangsamung Spielräume kathartischer Nachdenklichkeit. Deshalb plädiert Vittori Lampugnani für die schon in der Planung beginnende Sicherstellung langer Haltbarkeit: »Die Dauerhaftigkeit ist der Schlüssel der Nach­ haltigkeit.«402 Kathartische Nachdenklichkeit findet in einer »Dankbarkeit als Lebensstimmung«403 ihre Entsprechung. Dankbarkeit ist in diesem Kontext keine Einzeltugend, derzufolge sich ein Beschenkter bzw. Begünstigter jemandem zu Dank verpflichtet fühlt. Sie setzt keinen personalen Wohltäter voraus. Sie kann schon auf die Gunst glückli­ cher Umstände bezogen sein, dank derer man ein gutes Leben hat – so wie die Gegenwärtigen in den Genuss aktuell immenser Vorteile durch die Ausbeutung natürlicher Ressourcen kommen. Gesellschaft­ lich nicht-nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweisen laufen auf prinzipielle Undankbarkeit hinaus. Das rücksichtslose Nehmen des maximal Möglichen mündet angesichts des bereits Genommenen in die reine Habgier. Wer nur nimmt was er kriegen kann, denkt lediglich an das eigene Wohlergehen. In der politischen Rhetorik von Deklara­ tionen und Verträgen zur Sicherung zukunftssichernder Lebenswei­ sen drückt sich lediglich ein abstraktes Bewusstsein im Sinne einer 402 403

Lampugnani: Was Bauen mit Ethik zu tun hat, S. 5. Bollnow: Neue Geborgenheit, S. 134.

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diffusen Kollektivschuld gegenüber Zukünftigen aus. So weckt auch die Globale Nachhaltigkeitsagenda der UN vor dem Hintergrund der seit ihrer Proklamation weitgehend tatenlos verstrichenen Zeit das fade Gefühl, dass es dem abstrakten Regelwerk nur darum ging, »eine unangenehme Verpflichtung loszuwerden«404. Nachhaltiges, und das heißt vor allen Dingen zukunftssicherndes Wohnen verlangt mehr als nur Lippenbekenntnisse. Mit Otto Friedrich Bollnow reklamiert sich auf einem grundlegend philosophisch-anthropologischen Niveau die Gesinnung einer Dankbarkeit, die »die Gesamtverfassung des Verhältnisses zur Umwelt und zum Leben überhaupt«405 ausmacht; eine »gegenstandslose Dankbarkeit«406 – zum einen gegenüber der Natur und zum anderen gegenüber der noch kommenden Mensch­ heit, deren Lebensressourcen um das schon vermindert sind, das sich von selbst nicht mehr regenerieren kann. So ist Dankbarkeit nicht nur auf die Vergangenheit bezogen, sondern in der sich moralisch ankündigenden Sorge um das erst noch zu ermöglichende Wohnen zugleich auf die Zukunft. Alle Fragen und Facetten einer Ethik des Wohnens bleiben auf einem räumlich undifferenzierten Niveau so lange vage, wie sich die allgemeine Rede über das Wohnen an unverbindliche und hohe Abstraktionsgrade klammert. In seinem Wesen kommt das Wohnen erst in konkreten Praktiken verräumlichender Selbstsituierung zu sich. Diese entfalten sich zwischen dem mikrologischen Raum der eigenen vier Wände und dem makrologischen Raum globaler Weltbezüge. Ein solcher Ort im häuslichen Wohnen ist die Küche.

7.5 Das Exempel: Die Küche als existenzielle Weiche407 Was es für eine Ethik des Wohnens heißen kann, sich im Bewusstsein moralischer Implikationen eigenen Tuns im Hier und Jetzt zum globalen Raum und zum eigenen Selbst in Beziehung zu setzen, soll am Beispiel von Küche und Herdstelle skizziert werden. Die Küche ist (erstens) ein ubiquitärer Ort, (zweitens) ist sie eine ortsspezifische Konstante in der Architekturgeschichte des Wohnhauses, (drittens) 404 405 406 407

Reiner: »Dankbarkeit«, S. 9. Bollnow: Neue Geborgenheit, S. 123. Ebd.: S. 134. Vgl. dazu ausführlich auch Kapitel 8.

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7.5 Das Exempel: Die Küche als existenzielle Weiche

als Ort der Zubereitung der Nahrung eine Schnittstelle der Lebenser­ haltung; (viertens) zeigt sie an, wie sich die Menschen in ihrem Essen und Trinken zur Natur, insbesondere zu ihrem eigenen Natur-Sein stellen, und (fünftens) annotiert sich am Ort der Kochstelle der historische Stand der Technifizierung des Wohnens. Auf allen Ebenen stellen sich ethische Herausforderungen. Ein kurzer zivilisationshistorischer Exkurs streicht die einst umfassende Lebensbedeutsamkeit von Küche und Herdstelle heraus. Dabei kommen aber nicht nur auf dinglich-materielle Veränderungen in den Blick, sondern zugleich Umbrüche in der Konstitution wohnen­ der Selbst- und Weltverhältnisse. Sie machen auf eine nicht allein technische, sondern ebenso normative Transformation der Lebensfor­ men aufmerksam.

Kulturhistorischer Exkurs Schon die archaischen Wohngruben hatten in ihrem Zentrum den Herd408, der bei den Griechen und Römern »der Mittelpunkt des häuslichen Lebens«409 war. Im frühen Mittelalter wurde ein eigener Kochraum zunächst in vornehmen Wohnstätten eingerichtet, allmäh­ lich dann auch im volkstümlichen Haus. Der Begriff der »Rauchstube« weist auf das Kochen (ohne Rauchabzug) im Wohnraum410 hin. Einen Backofen gab es schon bei den germanischen Völkern. Er stand meis­ tens im Außenraum und diente dort der ganzen Sippe.411 Die soziale Bindung an die gemeinsame Situation des Dorfes machte ihn zu einem mythisch umwobenen Platz. Es hieß, die Zwerge hausen oder übernachten darin und er sei ein Ort der Feuerdämonen, Totengeister und Hexen.412 Noch im 18. Jahrhundert war er Opferstätte.413 »Mit der Einbeziehung des Feuers in das Hausinnere […] geht die Feuerverehrung […] auf die Herdstelle und auf den Herd über«414. Einst wurden dem Herd auch Menschenopfer gebracht, später Hah­

408 409 410 411 412 413 414

Vgl. Neuburger: Die Technik des Altertums, S. 252. Ebd.: S. 319. Vgl. HWdAgl: Band 5, Sp. 644f. Vgl. ebd.: Band 1, Sp. 782. Vgl. ebd.: Sp. 784. Vgl. ebd.: Sp. 785. Ebd.: Band 3, Sp. 1760.

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

nopfer.415 Noch lange war in vielen Kulturen die dreimalige Umkrei­ sung des Herdes durch die Braut bei Eintritt in das Heim üblich.416 Schließlich hatten die Geister der Verstorbenen in der vitalen Mitte der Wohnung ihren Aufenthalt.417 Im Bergischen wurde der »Sarg vor dem Begräbnis vor den Herd gestellt«. Auch die Tradition, den Täufling auf oder vor den Herd zu legen418, hatte dessen mythische Bedeutung im Raum des Wohnens unterstrichen. Ebenso eine Reihe von Hexenkulten: »Wenn Kinder oder Haustiere behext sind, läßt man ein Tierherz über dem Herd trocknen, dann muß auch die betreffende Hexe verdorren.«419 Noch in der Moderne bleibt die Küche eine Weiche, auf der sich im Wohnen ausdrückt, wie die Menschen in ihrer Zeit leben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erregte die sog. »Frankfurter Küche« der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky als Innovation des Neuen Bauens und serielles Industrieprodukt Aufsehen. Rund 15.000 mal wurde sie in die von Ernst May entworfenen Wohnungen eingebaut. In ihrer kompakten Größe von lediglich 10 m2 begeisterte sie als perfekt erdachter kulinarischer Maschinenraum. Sie war aber auch, indem sie über eine sog. Durchreiche mit dem »Wohnzimmer« ver­ bunden war420, ein exklusiver Raum der (Haus-) Frau – nicht nur ein praktischer Ort, sondern zugleich eine Zelle genderpolitischer Akkulturation. In einer Zeit, in der es noch das »Herrenzimmer« gab, festigte sie im Schein des Nützlichen und Fortschrittlichen die soziale Ordnung zwischen den Geschlechtern. In ihrem Wesen dienen Küche und Herd der nahrungsphysio­ logischen Selbsterhaltung des Menschen. Der Blick auf die Zivili­ sations- und Technikgeschichte offenbart indes eine aufspringende Kluft zwischen der eigentätigen (ehemals auf Subsistenzwirtschaft basierenden) Selbst-Versorgung und dem käuflichen Erwerb nah­ rungsmittelindustrieller Halb- und Fertigprodukte. Während einst die jagende Erbeutung von Tieren aus ihren Lebensräumen durch Rituale legitimiert und der Eingriff in die göttliche Ordnung symbolisch wieder gutgemacht werden musste, sind die ethischen Abgründe des Nehmens in der spätmodernen Organisation der gesellschaftlichen 415 416 417 418 419 420

Vgl. ebd.: Sp. 1765. Vgl. ebd.: Sp. 1769. Vgl. ebd.: Sp. 1771. Vgl. ebd.: Sp. 1773. Ebd.: Sp. 1775. Vgl. Barr / May: Das Neue Frankfurt, S. 9.

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7.5 Das Exempel: Die Küche als existenzielle Weiche

Versorgung der Menschen mit Nahrungsmitteln dem moralischen Empfinden beinahe in Gänze entzogen. Die gesellschaftliche Notwendigkeit einer Ethik des Wohnens resultiert nicht zuletzt aus Verwerfungen im Spannungsverhältnis von Geben und Nehmen, worin die Tiere eine Sonderrolle einneh­ men, weil wir nicht nur mit ihnen leben, sondern auch von ihnen. Die Menschen schulden den Tieren als Mit-Wesen mindestens die Bewahrung vor Barbarei. Die Art und Weise, wie sie unter dem Joch der Fleischindustrie zur Ware gemacht werden, bevor separierte Teile, Extrakte und transformierte Stoffe von ihnen in den persönlichen Raum des Wohnens gelangen, illustriert eine Anästhesie der Sinne und der Gefühle, in deren Folge Ekel und moralische Erregung in einem Akt kollektiver Selbstbetäubung421 aus dem Bewusstsein her­ ausgeschafft werden. Die vielfältig gelebten Beziehungen zu den Tieren geben indes nur einen allgemeinen Habitus zu denken, aus dessen Unwucht heraus die Erde bewohnt wird. Die schon längst selbstverständ­ liche kulinarische »Barbarei«422 vollzieht sich tagtäglich im Nah­ raum der Küche – nicht zuletzt am Ort des High-Tech-Herdes, einer Schnittstelle moderner Haushaltsmaschinen, an der die hand­ habungsbedingte Distanzierung an die Stelle der Berührung u. a. von rohem Fisch und Fleisch getreten ist. High-Tech-Apparate (Infra­ rotsensor, berührungssensible Kontaktflächen, technische Abstands­ halter wie elektrische Messer und Spezialhandschuhe) erleichtern die handwerklichen Mühen nicht nur. Sie sind vor allen Dingen Isolationsmedien gegenüber dem Bewusstsein eines allgegenwärti­ gen existenziellen Tausches, wonach genommenes Leben nicht nur der Selbsterhaltung dient, sondern der Luxurierung eigenen Lebens. Noch die Ernährungsfunktion des Kochens ist mindestens zweifach entfremdet: (a) zum einen durch die tendenzielle Verdrängung des Hungers durch die kulinarische Lust, (b) zum anderen durch die neomytische Überschreibung der Küche zu einem ästhetizistischen Ort der Repräsentation.423 Wo kulturindustriell justierte Moden Vgl. Hasse / Levin: Betäubte Orte. Vgl. Henry: Die Barbarei. 423 Es ist Kennzeichen moderner luxuriöser Penthaus-Wohnungen, dass sie über keine Küche im Sinne des Wortes mehr verfügen, sondern nur noch über eine beschei­ dene Kochstelle zur Aufwärmung des Menus, das der Catering-Service anliefert, sofern das Essen nicht in Gänze außerhalb der Wohnung »eingenommen« wird. 421

422

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7. Die Sorge um das Wohnen in der Zukunft

»schönen Wohnens« die technischen Dinge zu Fetischen machen424, wird die Beziehung zu den aus der Natur kommenden Ausgangsstof­ fen des Essens nicht nur artifizieller und abstrakter; auch wird sie von jeder ethischen Frage der Beschaffung, Zubereitung und Konsump­ tion entkoppelt. Als zentraler Ort des Wohnens ist die Küche seit eh und je eine Stätte der Regulierung des ernährungsbedingten Austausches mit der Natur. Wie kein Mensch wohnen kann, ohne sich zu ernähren, so lässt sich auch keine Kultur des Essens und Trinkens vom Wohnen abspalten. Mehr noch: Die Frage des Wohnens pointiert sich in ihrer ethischen Dimension beispielhaft an Praktiken des Essens und Trin­ kens.

7.6 Selbst- und Weltverhältnisse im Wohnen meistern Die Utopie nachhaltigen bzw. schonenden Wohnens glückt oder scheitert unter anderem am Ort der Küche. Essend und trinkend situiert sich der Mensch in der Natur – einschließlich jener, die er selbst ist. Wer sich ohne moralisches Innehalten schmecken lässt, was noch unter miserabelsten Voraussetzungen produziert wurde, hat elementar-empathische Züge seiner Menschlichkeit schon eingebüßt. Was und wie die Mehrheit einer Gesellschaft isst, gibt existenziell grundlegende Selbst- und Weltverhältnisse zu erkennen. In struk­ tureller Ähnlichkeit werden diese jedoch auch in anderen Facetten des Wohnens gelebt: im Erwerb und Gebrauch der Kleidung, in der individuellen Gestaltung der Mobilität und in der Freizeitgestaltung. In allen Modi des Wohnens erfährt sich der Mensch als ein Individuum, das nur in Grenzen Herr im eigenen Hause ist. So ist er in die Zwänge sozio-ökonomischer, bürokratischer, politischer, ideologischer und technischer Systeme eingespannt, die sein Tun und Lassen ungefragt disponieren. Damit wird die kritisch-politi­ sche Reflexion der Entstehung und Veränderung gesellschaftlicher 424 Die Funktion einer Küche rückt vor allem dann zugunsten repräsentativer Funk­ tionen in den Hintergrund, wenn der geforderte Kaufpreis mehr auf »Güte« verweist als auf guten Gebrauch. Im Rahmen eines Joint Venture bietet z.B. ein Produzent von Markenküchen eine überschaubare Ausstattung im Design des Autoherstellers Porsche für 50.000 – 150.000 Euro an; vgl. Dierig: Porsche baut jetzt auch Küchen für echte Männer.

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7.6 Selbst- und Weltverhältnisse im Wohnen meistern

Verhältnisse umso mehr zum Kernstück einer Ethik des Wohnens, mündet die selbstbezügliche wie eskapistische Einkapselung in die quasiterritoriale Welt der Wohnung doch geradewegs in die Ver­ antwortungslosigkeit. Im Namen derer, die noch geboren werden, reklamiert sich auf einem gesellschaftlichen Niveau daher die aus­ gleichende Rückgabe von Optionen guten Lebens an die fiktionale Gemeinschaft der Zukünftigen. Mit dem Wohnen verbindet sich auf einem existenziellen Niveau die ethische Herausforderung, »die eigene Macht zu meistern«425, die Macht über das eigene Selbst, die in der Entgleisung ihres Gebrauchs zum Grund existenzieller Sorge wird. Wohnend findet der Mensch zu sich und seiner Welt. Wie und womit er sein Leben führt, entscheidet nicht zuletzt darüber, was die Zukünftigen für ihr Wohnen noch von der Erde erwarten können. Erst wenn sich das (kollektive) Subjekt der Dringlichkeit einer Ethik des Wohnens bewusst wird, vermag es sich auch auf verantwortliche Weise im globalen Lebensraum zu situieren.

425

Guardini: Der unvollständige Mensch und die Macht, S. 22.

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8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere

Es kratzt und raschelt unter der Spüle. Die Geräusche haben – wie in Kafkas Bau – etwas Beunruhigendes und urplötzlich Lähmendes. Es kann nur ein Tier sein. Üblicherweise kommen sie erst in den Topf, die Pfanne oder den Backofen und dann auf den Teller. Immigrierende Tiere, die obendrein unsichtbar bleiben, bieten sich der Verspeisung eher nicht an. In ihrem ungebetenen Da-Sein erinnern sie jedoch daran, dass sie auch dann zum menschlichen Leben gehören, wenn sie gar nicht schmecken. In der Küche werden sie zu kulinarischen Putschisten, stellen alle Hygieneregeln auf den Kopf, nagen Leckeres an und lassen Exkremente zurück. Vielleicht muss die Abweichung vom Raumprogramm der Küche erst radikal sein, bevor wir auf unsere irreduzible Verwandtschaft mit den Tieren im Allgemeinen aufmerksam werden.

8.1 Die Küche – ein Schicksalsort der Tiere Die Küche ist eine Konstante in der Architekturgeschichte des Wohn­ hauses, ein zentraler Ort des Wohnens. Bruno Taut sagte, sie sei »der Nerv der Wohnung«426. Gottfried Semper sah die darin befindliche Kochstelle als »Seele«427 des Hauses. Eine Küche dient – infolge ihrer Bedeutung für die Zubereitung der Nahrung – der Zusammen­ kunft der Wohnenden beim (gemeinsamen) Essen – und dabei der Kommunikation über Gott und die Welt. Durch die Zubereitung der Nahrung wird sie zu einer existenziellen Schnittstelle und zentralen Drehscheibe des täglichen Lebens. Darin erweist sie sich nur auf den ersten Blick als ein rein »menschlicher« Ort. Eine abgründige Seite hat sie in der finalen Beendigung tierischen Lebens.

426 427

Taut: Die Neue Wohnung, S. 67. Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S. 55.

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8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere

Schon zu Vorzeiten steht in der (funktionalen) Mitte der Wohn­ stätte der Herd428 bzw. der Backofen – soziales Zentrum einer mythisch aufgeladenen Welt des Wohnens – umwirkt von Feuerdä­ monen, Totengeistern und Hexen.429 In der Gegend der Kochstelle spielten Tiere stets eine wichtige Rolle: nicht nur in Gestalt des wachsamen Hundes und der umschmeichelnden Katze. Da waren und sind vor allem die toten Tiere, die bis heute (ganz oder teilweise) für die Verspeisung herbeigeschafft werden. Die Küche ist eine lebenser­ haltende Schnittstelle zwischen Drinnen und Draußen. Unter die »Küchen-Tiere« sind letztendlich noch jene »grauen« Arten zu subsumieren, die von selbst kommen und von selbst wieder verschwinden. Sie entgehen der Aufmerksamkeit in aller Regel, bes­ tenfalls stoßen sie auf Gleichgültigkeit; nur manchmal erschrecken sie, wie das plötzlich durchs Dachfenster ins Zimmer springende Eichhörnchen, die Rabenkrähe, die einen scheinbar auffordernden Blick durchs Fenster wirft oder die Elster, die in ihrem Überflug eine schwarz-weiße Ausscheidungsspur auf die Fensterscheibe fallen lässt. Dem Menschen geben beiläufige Berührungen wie diese atmo­ sphärisch zu verstehen, dass nicht nur er berechtigte Ansprüche an die Erde als lebensspendende und -erhaltende Welt stellt. Es ist gerade die Küche, durch deren Mitte eine ethische Bruchlinie im Mensch-Natur-Verhältnis verläuft. Im Nahraum der Küche – an den Schnittstellen moderner Haus­ haltsmaschinen – aktualisiert sich eine kulinarische Barbarei. In der Komfortzonen der Ersten (allzumal metropolitanen) Welt dient das den Tieren genommene Leben noch nicht einmal mehr in erster Linie der Selbsterhaltung, eher der Luxurierung »schönen« Lebens. Das Kochen (bzw. die Zubereitung der Nahrung im Allgemeinen) ist min­ destens zweifach entfremdet; erstens durch die tendenzielle Verdrän­ gung des Hungers durch die kulinarische Lust und zweitens durch die neomytische Überschreibung der Küche zu einem ästhetizistischen Ort der Repräsentation, an dem das Essen zur Nebensache wird.

8.2 Beziehungen zum Tier: zwischen Konsum und Gefühl Die übliche Trennung der Tiere nach Zwecken ist schon deshalb suboptimal, weil jede Hereinnahme des Tieres in den menschlichen 428 429

Vgl. Neuburger: Die Technik des Altertums, S. 252. Vgl. HdA: Band 1, Sp. 784.

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8.2 Beziehungen zum Tier: zwischen Konsum und Gefühl

Handlungs-, Lebens- und Wohnkreis einem Zweck folgt – möge der Bulle nun zerlegt in Steaks auf den Teller oder die Katze als nächtlicher Begleiter ins Bett kommen. Nicht nur die nahrungsmittel­ industrielle Tierproduktion und -verwertung von »Massenvieh« folgt einem Zweck. Auch die emotionalisierende Instrumentalisierung besonderer Haustiere folgt einem Bedürfnis und hat damit einen Nutzen. Wenn Wellensittich und Goldfisch auch nicht – wie Schwein und Rind – eines Profites wegen gehalten werden, so stehen sie doch unter einem atmosphärischen Programm: dem der emotionali­ sierenden Einbindung ins eigene Wohnen. Der Hund dient, wenn er als spätabendlicher Spaziergeh-Partner an die Leine kommt, der persönlichen Sicherheit. Auf dem Teppich vor dem Ofen liegend, dient er der atmosphärischen Steigerung der Qualität des Wohnens. Tiere, die z. B. für ein therapeutisches Programm »arbeiten« (wie Hund, Delphin und Pferd) sind für den Menschen von emotionalem und monetärem Nutzen. Schließlich gibt es eine Reihe nicht ökono­ misierter Dienstleistungsverhältnisse, wonach Menschen Tiere für persönliche Zwecke einspannen. So bewacht der Hund das Haus, die Katze stellt der Maus nach und der Vogel warnt vor giftigen Gasen. Hier ist es der natürliche Instinkt einer Spezies, der zur Ressource wird und einen Nutzen verspricht. Selbst der wilde Wolf ist in seiner vexierhaften Gestalt zum einen Objekt naturidealisierender Verklärungen, zum anderen mythisches Symbol irrealer Märchen­ welten. Noch das vermeintlich »wilde« Tier sitzt in einem Korsett der Zwecke fest. Die Beziehung der Menschen zu den Tieren ist widersprüchlich. Sie folgt nicht aus dem Wesen eines Tieres, sondern von Menschen erfundenen Programmen. Sie sind es, die ein Tier in ein gutes oder böses, nützliches oder schädliches sowie schließlich schönes oder hässliches Bild setzen. Das Tier hat keine Wahl. In asym­ metrischen Mensch-Tier-Beziehungen kommt nur zum Ausdruck, dass der Mensch sich – wie Gernot Böhme sagt – mit den Tieren gar nicht verständigen will.430 Unterscheidungsfähiger als Zwecke sind Beziehungsqualitäten, die die Menschen situativ zu Tieren aufbauen oder vermeiden. Im Folgenden sollen die Tiere nicht nach formalen Kategorien (Nutztier, Heimtier, Haustier, Wildtier) unterteilt werden. In den Fokus rücken drei Arten von »Küchentieren«. Erstens die »Speisetiere« (8.2.1), die für den Verzehr gekauft und in die Küche gebracht werden, um ihre 430

Vgl. Böhme: Anthropologie in pragmatischer Sicht, S. 245.

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8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere

postmortale Existenz in einem menschlichen Magen auszulöschen. Zweitens heben sich die »Wohntiere« im engeren Sinne (als Haus­ tiere, s. 8.2.2) durch eine charakteristische Rolle von allen anderen Küchen-Tieren ab. Sie werden heimisch gemacht, um ihren atmosphä­ rischen Platz »in den Herzen« der Leute ausfüllen zu können. Ihren örtlichen Platz haben sie in einem Korb oder Käfig. Drittens werden die »Störtiere« (8.2.3) angesprochen, die den Menschen irritierend in die Quere kommen und allzu schnell gedankenlos zu Objekten der Bekämpfung mit Giftspray, Köder oder Falle werden.

8.2.1 Speisetiere Die ersten unter den sogenannten Nutztieren sind die »Speisetiere«. Ihre letzte schicksalhafte Passage endet fast immer in einer Küche. Eigentlich ist dieser Raumwechsel eine seinsspezifische Transversale; in der Küche erst einmal angekommen, sind sie mehr Rohstoff als Tier. An der Schnittstelle moderner Haushaltsmaschinen realisiert sich die letzte Phase einer allgemeinen kulinarischen Vertilgung: Im Zerrbild dessen, was vom Tier geblieben ist. Erkennbare Tiergestalt haben die Speisetiere in der Spätmoderne nur noch selten. Schon längst wurden sie industriell in Segmente oder derivathafte Extrakte gleichsam »auf­ gelöst«. Ans Tier erinnert dann noch die Keule vom Bein der Gans, die Scheibe von der Schweineleber oder – ästhetisch noch weiter weg vom ehemals lebendigen Wesen – Wurst und Frikadelle. Als ganze Tiere kommen bestenfalls kleinere Individuen in Betracht. Sie müssen in den Kühlschrank passen und sodann in den Topf, aufs Backblech oder in den Hitzeschlauch. Auf dem Tisch müssen sie »am Ende« auch noch eine gute Figur machen. Alle Speisetiere (wie abgetrennte Teile von ihnen) kommen auf einer Einbahnstraße in die Küche. Lange nach ihrer Schlachtung enden sie im finalen Sinne auf dem Teller. Ihre eher kurze als lange küchenspezifische RaumZeit ist nur eine von vielen Variablen ihrer Transformation zur Nahrung. In der Gegenwart ist die Ausrede, von all den bizarren Roh­ heiten nichts gewusst zu haben, nichts mehr wert. Der moderne Mensch weiß, dass er im Unterschied zum Tier aufs Fleisch gar nicht angewiesen ist (jedenfalls nicht so, wie der Löwe auf die Gazelle). Allein der Umstand, dass er wissen könnte, was er nicht wahrhaben will, macht den ausschlaggebenden Unterschied und den Verzehr zu einem ethisch prekären Akt. Solange er massenhaft, gedankenlos

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8.2 Beziehungen zum Tier: zwischen Konsum und Gefühl

und ungebremst weiterisst, nimmt der Homo Sapiens den gegesse­ nen Individuen noch postmortal die letzte Würde. Als wäre er (als immerhin vernunftbegabtes Tier) anderen zoologischen Wesen nicht das Mindeste schuldig. Der Blick auf die Zivilisations- und Technikgeschichte offenbart eine aufspringende Kluft zwischen der eigentätigen (ehemals subsis­ tenzwirtschaftlichen) Selbst-Versorgung und dem käuflichen Erwerb nahrungsmittelindustrieller Halb- und Fertigprodukte. In allen Hand­ lungsfeldern spielt das Tier – in welcher Form auch immer – eine zentrale Rolle. Nur die postmodernen Haushalte der Vegetarier (und mehr noch der Veganer) kommen teilweise oder in Gänze ohne »Speisetiere« aus. Während das ernährungsbedingte »Nehmen« der Tiere in frühe­ ren Jahrhunderten noch ethische und mythische Abgründe tangierte, vor der Tötung ein hemmendes Moment also erst überwunden wer­ den musste, ist es in den spätmodernen westlichen Gesellschaften weitgehend entsorgt und dem moralischen Empfinden entzogen. Man kauft ein Tier zum Essen wie einen Schuh zum Laufen. Einst galt das Tier selbst in der Subwelt der Küche als beseeltes Wesen, das man nicht nach Belieben einfach nehmen konnte, um es zu ver­ speisen. Seine Erbeutung aus angestammten Lebensräumen musste legitimiert und als Eingriff in eine göttliche Ordnung symbolisch wieder gutgemacht werden, z. B. in der Opferung von Hähnen und Kalbsherzen.431 Oder man zelebrierte in der Küche Hexenkulte. Dann symbolisierten die Tiere – von Mythen umwölkt – nicht nur das Gute und Rettende, sondern auch das Böse, Abgründige und Verderbliche. Zum Verzehr kommen heute meistens nicht mehr ganze Tiere auf die Tafel, sondern aufbereitete Teile von ihnen: Beine, Schenkel, Nieren und selbst Ohren sowie alle möglichen Fleischstücke. Als Ganzes kommen eher kleine Arten in Betracht – Fische, Vögel, Hasen oder Kaninchen. Überwiegend dürften es jedoch nur Stoffe bzw. Stücke vom Tier sein, die in den menschlichen Handlungsradius gelangen: Leberwurst, Gehacktes, Pastete etc. Die massenhafte Vorund Zubereitung der Tiere zu Halbfertigprodukten kommt der ethi­ schen Reflexion zuvor und der Ekelvermeidung entgegen. Das Filet hat keine Augen und die Frikadelle weder Fell noch Schwanz. Bis ins 19. Jahrhundert war das (nicht nur auf dem Lande) anders. Für die Zubereitung des Karpfens in der Röhre musste das zappelnde 431

Vgl. HdA: Band 3, Sp. 1765.

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8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere

Tier zunächst eigenhändig um sein Leben gebracht werden. Und die Hühnerbeine gelangten erst in den Backofen, nachdem sich jemand erbarmt hatte (meistens ein Mann), ein Huhn auf blutige Weise zu köpfen und das tot Tier zu rupfen. Die Küche ist ein Raum der Herstel­ lung lebensertüchtigenden Essens, zugleich aber auch der Beendigung von trierischem Leben. Im Prinzip hat sich bis heute daran nichts Wesentliches geändert. Nur werden die Zonen der Wahrnehmung in der Spätmoderne vor allem nach ästhetischen Erwägungen justiert.432 Unter abstrakten ökonomischen und logistischen Voraussetzun­ gen fühlen sich die Menschen in der Gegenwart kaum noch als Mit-Wesen unter den anderen Tieren. Überwiegend empfinden sie auch keine ethische Verpflichtung mehr, sie vor Barbarei zu bewahren. Das liegt u. a. an der Art und Weise, wie sie (abgeschottet gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung) im Maschinismus der Fleischindus­ trie zur Ware gemacht werden. Die Form von separierten Teilen, Extrakten und merkwürdig aussehenden aber »gut schmeckenden« Stoffen von ihnen forciert die systemische Steigerung einer Anäs­ thesie der Sinne und Gefühle.433 Der Abstraktionsgrad tierischer Nahrungsmittel beschleunigt den emotionalen Abstand gegenüber einem Lebewesen, das noch vor kurzem atmete und sich bewegte. Nicht zufällig kommt der Kaviar in gefälliger Färbung auf den Tisch, eingefüllt in edel glänzende Dosen und Gläser und nicht in Haufen reifer Eier (Rogen) vom weiblichen Fisch. Im systematischen Spiel des Wegsehens bewährt sich ästhetisierende Verpackung als Abwehr­ schild gegen die mögliche Empörung.

8.2.2 Haustiere als Wohntiere In tierschutzrechtlicher Hinsicht gelten die Haustiere neben den Nutztieren als sogenannte »Heimtiere«434. In diese Kategorie gehören Hund und Katze, sofern sie nicht in den Käfigen der Versuchslabore dahinvegetieren; dann sind sie Nutztiere. Im etymologisch gewachse­ nen Begriff des Haus-Tieres steckt eine euphemistische Fußnote, die eine besondere emotionale Nähe von Mensch und Tier suggeriert, 432 Dieser Prozess hat schon im späten Mittelalter mit der Heraufsetzung der Pein­ lichkeitsschwellen und Steigerung der Empfindlichkeit gegenüber Eindrücken des Ekels begonnen; vgl. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. 433 vgl. Hasse / Levin: Betäubte Orte. 434 Petrus: »Heimtier«, S. 144.

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8.2 Beziehungen zum Tier: zwischen Konsum und Gefühl

wonach dieses nicht erst einen Nutzen garantiert, wenn es gegessen wird. Letztlich verweist der Begriff aber doch nur auf den »ständigen Aufenthaltsort«, an dem ein Tier lebt. Ein Haus, aber keinen üblen dunklen Stall, keine Fabrik und erst recht kein Schlachthaus, vielmehr ein Wohnhaus des Menschen. Darin steht es, ganz in der Welt der Menschen aufgegangen, unter der Macht eines nehmenden Habitus, der von keiner ethisch ausgleichenden Gabe im Lot gehalten wird. In gerontopsychologischen Ausnahmesituationen sowie in Zeiten gesellschaftlicher und persönlicher Krisen mutieren allzumal Hund und Katze zu Quasi-Subjekten, um als »bessere Menschen« verklärt zu werden. Das Haustier ist dann – selbst bei bester »Behandlung« – der Verlierer. Seiner Natur darf es nicht folgen; es muss eine sentimentalisierte Rolle spielen und eine Lücke im sozialen Band der Menschen füllen. Der allzu oft beklagten Misshandlung aller mögli­ chen Haustiere steht selbst die tierethisch verantwortliche Haltung von Großvieh entgegen – auch wenn es unter der Logik hermetischer Rentabilitätszwänge frisst und stirbt. Ist das Leben unter der Fuchtel des Menschen erst einmal erlernt und der einverleibte Kontrollmodus in die Zweite Natur des Tieres eingewachsen, wird die Bindung zwischen Mensch und Tier zu einer Fessel. Die Haustiere werden zum Bleiben beschafft (meistens gekauft) und menschlichen Programmen unterworfen. Vor allem müssen sie gefallen, als Medien des »gestimmten Raumes«435 und Vermittler behaglichen Heimisch-Seins.436 Und so transzendiert das emotionali­ sierte Projektions- und Psycho-Tier in eine fleischerne Quasi-Hetero­ topie. Tiere garantieren nämlich nicht erst dann einen häuslichen Nutzen, wenn sie gegessen werden. Noch die im Terrarium gehaltene Vogelspinne hat in ihrem Schreckprogramm einen ästhetischen Nut­ zen. Darin unterscheidet sie sich eher graduell vom Pitbull, der als Repräsentationsmedium von Kraft und Gefährlichkeit als Objekt einwie ausgrenzender sozialer Kommunikation Verwendung findet. Die nicht-instrumentelle Kommunikation mit dem Haustier sucht der Mensch nur ausnahmsweise. In aller Regel sitzt es in der Rolle des Resonanztieres fest. Der Mensch bezieht das Tier in seine Gefühlswelt ein, das Tier den Menschen aber nicht in gleicher Weise in seine.

435 436

Vgl. Bollnow: Mensch und Raum, S. 231. Vgl. Schmitz: Heimisch sein.

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8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere

8.2.3. Störtiere Im engeren Sinne des Wortes gibt es keine Störtiere. Allein in der sozialen Welt des Menschen kommen sie vor – auf dem Acker, im Obstgarten, im Gemüsebeet und selbstverständlich in der Küche, wo sie von Menschen wie Sand im Getriebe behaglichen Wohnens erlebt werden. Im Vergleich zu den Haustieren befinden sie sich in einer geradezu entgegengesetzten Position. Die Kommunikation mit ihnen kennt nur ein Ziel: die Zerstörung, bestenfalls die Vertreibung. Der destruktive Beziehungscharakter zu ihnen liegt auch daran, dass sie niemand mitbringt, um sie – aus welchem Grunde auch immer – um sich zu haben. Sie kommen von selbst – über Dachrinne, Hauswand, Treppe und Abfluss. Oder sie werden mit dem Gemüse des letzten Einkaufs hereingeschleppt. Als »ungebetene Gäste« mischen sie sich ins menschliche Leben ein und geben uns beiläufig zu verstehen, dass die Natur nie in Gänze beherrschbar ist. Unter den Säugern sind es vor allem Maus und Ratte, die sich die Küche als gleichsam »zweiten« Lebensraum aneignen, oft auch nur als Fluchtraum, Durchgangslager oder win­ terliche Wärmeinsel. Zu den Mikro-Störtieren gehören u.a. Milbe, Küchen(!)-Schabe und Kakerlake. Manche von ihnen (wie Milbe und Kleidermotte) ziehen sich bevorzugt in Betten oder Kleiderschränke zurück. In die dunkle, klamme Küchenecke huscht die Assel, wenn ihre präferierte Welt auch eigentlich der feuchte Keller ist. Deshalb wird sie auch »kellerwurm«437 genannt. Stechmücke, Fliege und Falter »bewohnen« den Luftraum der Küche und plagen die Menschen. Archaisch wirkende Stinkwanzen bewegen sich ungelenk von hier nach da – als wäre es ihre ästhetische Funktion, uns akkulturierte Empfindlichkeiten und tief einverleibte Ekelschwellen bewusst zu machen. Die Küche ist nicht nur ein kulinarischer Maschinenraum; zugleich ist sie eine ästhetische Sphäre. Meistens geht es ums schmackhafte Essen im schönen Wohnen, nur ausnahmsweise um die ethische Reflexion des Gegessenen.438 Die Störtiere leben von dem, was ihnen niemand gibt, für sie hinstellt, -legt oder fallen lässt. Sie nehmen, was sie zu fassen bekom­ men. Aber nicht aus Habgier oder einem materialistischen Wollen. Allein ihr vitaler Antrieb erhält sie im Refugium der Küche am Leben, 437 438

Ebd. Vgl. dazu Röttgers: Die fehlende Kritik der kulinarischen Vernunft.

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8.2 Beziehungen zum Tier: zwischen Konsum und Gefühl

lässt sie in Ritzen kriechen, kleinste Löcher schlüpfen oder wie erstarrt in einer dunklen Ecke sitzen. »Gestört« wird von ihnen – sofern sie bemerkt werden – nur der Rundlauf selbstverständlicher Wohnrouti­ nen. Erst wenn sie auf störende Weise auffällig werden, geben sie uns zu spüren, wie es um das Verhältnis des Menschen zur Welt der Tiere bestellt ist. Die meisten Störtiere lassen sich nicht fassen, weder in die atmosphärische Welt des Wohnens emotional eingliedern, noch taktil stellen, oder mit Abwehrprogrammen nachhaltig eindämmen. Werfen wir einen je kurzen Blick auf zwei wohlbekannte Arten von Störtieren, die sich schon lange bevorzugt als Trittbrettfahrer subalternen Wohnens gerade in Küchen sesshaft gemacht haben. Thema soll zunächst die Maus sein, und sodann (begrenzt auf wenige Bemerkungen) die nicht selten so gefürchtete Spinne.

Die Hassliebe zur Maus Die Küche ist für die Maus in gewisser Weise ein paradiesisches Milieu. Willkommen ist der Nager aber nicht. Er gilt als Parasit schlechthin, frisst den Speck und treibt sein diebisches Unwesen. Ist die Küche als »Wohnung« erst einmal bezogen, bietet sich das Arrangement oft als die pragmatisch opportune Antwort auf die graue Immigration an. Um sich das ohnehin nicht Änderbare erträglich zu machen und die Anwesenheit des Tieres mit einer gewissen Nützlichkeit verbinden zu können, haben sich die Menschen schon vor Jahrhunderten allerlei Vorteile aus dem Leben mit der Maus eingebildet. So wurde sie zu einem Vexiertier – im einen Moment Allegorie von Satan, Dreck und Übel, im nächsten Symbol der Ver­ heißung des Rettenden, Bote des Guten und Zeichen des Glücks.439 Plinius riet einst, Mausasche (oder die Asche vom Mauskopf) gegen übelriechenden Atem einzunehmen.440 In unseren Tagen genießt der kleine Nager in Gestalt unendlich variierter Plüschtiere außerhalb der Küche eine ausgeprägt sentimentalisierende Aufmerksamkeit. In der »Sendung mit der Maus« repräsentiert das kleine Tier sogar hochge­ schätzte menschliche Eigenschaften wie Witz und Klugheit. In der kulinarischen Welt der Küche löst es als gefräßiges und Krankheiten bringendes Wesen dagegen eher Gefühle der Abwehr aus. 439 440

Vgl. HdA: Band 6, Sp. 47. Vgl. ebd.: Sp. 58.

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8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere

Die Mäusen zugeschriebene Übertragung von Krankheiten fin­ det in der Vorstellung ihr treffendes Bild, wonach sie noch aus Lumpen »mit den Schwänzen das Öl«441 heraussaugen. Deshalb wird der nackte Mäuseschwanz in manchen Überlieferungen auch für giftig gehalten. Die Maus ist grau wie der Nebel, der die Pest bringt. Als probates Mittel der Bannung von Ratte und Maus galt lange der bloße Blick.442 Praktisch bauten die Menschen aber doch lieber auf die abwehrende Kraft spezieller Pflanzen: besonders Knoblauch, geweihter Palmenwedel443, grüne Minze und Leinsamen. Als mys­ tisch probates Mittel galt das vom Pfarrer gesegnete Wasser.444 Wo Gott ist, lässt der Teufel nicht lange auf sich warten. Für die Welt des Wohnens hieß das: »Wer eine Maus zertritt, bringt den Teufel ins Haus.«445 Um sie von Haus und der Küche fernzuhalten, war es im Mittelalter in manchen Regionen üblich, »Stücke von verfaulten Särgen in die Dachpfannen«446 zu stecken. Wirkte der Zauber nicht und sie kam trotzdem, wurde ein Kirchenbann über sie verhängt. Blieb sie auch dann noch, »so kam es vor, daß sie in aller Form angeklagt und wie vernünftige Geschöpfe vor Gericht geladen«447 wurde. Rein praktisch traten die Leute ihr eher entgegen, indem sie als prädestiniertes Mittel der Mausabwehr eine Katze anstellten, die wiederum selbst als hexenhaft galt.448 Inmitten ein und derselben Realität der Küche verwandelt sich die Maus in eine ganz und gar phantastische Gestalt. Auf mystischen Wegen drang der Vierbeiner gar in den menschlichen Körper vor und beschwor böse Träume und Fieberdämonen449 herauf. Wo sie gar zahlreich vorkam, bedeutete dies sogar, dass bald jemand sterben musste.450 Aber schon ihr Herumwühlen unter dem Herd wurde als Todesomen gedeutet.451 Wenn sie gar auf den Tisch sprang, um Speisen wegzutragen, war das eine Strafe Gottes.452 Kurzum, die 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452

Ebd.: Sp. 33. Vgl. ebd.: Band 7, Sp. 519. Vgl. ebd.: Band 6, Sp. 50. Vgl. ebd.: Sp. 51. Ebd.: Sp. 39. Ebd.: Sp. 52. Ebd.: Sp. 53. Vgl. ebd.: Sp. 49. Ebd.: Sp. 43. Vgl. ebd.: Sp. 44. Vgl. ebd. Vgl. ebd.: Sp. 45.

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8.2 Beziehungen zum Tier: zwischen Konsum und Gefühl

Maus bleibt nicht lange sie selbst. Kommt sie dem Menschen zu nahe, wechselt sie schnell ins Geisterhafte.

Die Aura der Arachne Wenn die Maus schon als mythisches Wesen die Furcht vor allem Möglichen weckt, so erweist sich die Spinne in Gänze als dämonen­ haftes Wesen. Tatsächlich tut sie nicht viel mehr, als beinahe unsicht­ bare Fäden zu weben, auf dass sich ein Insekt im aufgespannten Netz verfangen möge. Wenngleich die Spinne höchst selten wohlwollende Aufmerksamkeit findet, so rettete ein alter Mythos doch etwas Gutes am Tier für den Nutzen des Menschen. Wer nämlich glaubte, etwas Giftiges verspeist zu haben, sollte eine Spinne verschlucken, weil man dachte, sie sauge das Gift auf.453 Im Allgemeinen verheißt der in die Familie der Skorpione und Milben gehörende Achtbeiner jedoch nichts Gutes. Als das gänzlich Unberechenbare wird sie gefürchtet; sie ist schnell, lautlos und oft obendrein noch giftig. Nicht nur die Maus bringt Krankheiten und die Pest, dies tut die Spinne gleichermaßen.454 Daher wurde sie als ein »verderbenbringendes« Hexentier455 gefürchtet, in dem der Teufel erschien. Und so sitzt sie noch heute für agoraphobische Zeitgenossen nicht einfach (ihrer Natur gemäß) in irgendeiner Ecke, sondern lauert als Schrecken verursachendes Wesen und transzendiert ins abgründig affizierende Untier. Die dunklen Phantasmen sind mitunter immer noch so mächtig, dass das Tier im Schadbild festsitzt. Ein ökologisch nützliches Wesen sehen Viele in ihr nur außerhalb der Wohnung – in jener »freien« Natur, auf die der Mensch einstweilen noch kein Nutzenkalkül projiziert hat. Wie bei der Maus, so übertragen sich auch bei der Spinne die »schlechten« Zuschreibungen ins Dämonische und Psychopathologische. Bis in die Gegenwart gilt als »Spinner«, wer seltsam denkt und spricht. In einer Bedeutungsnische »überzeugt« sie jedoch zugleich als Glücksbringer.456 Die Küche ist der mit Funktionserwartungen wohl am dichtesten überspannte Raum einer jeden bürgerlichen Wohnung. Funktionen 453 454 455 456

Vgl. ebd.: Band 8, Sp. 280. Vgl. ebd.: Sp. 270. Ebd.: Sp. 268. LSR, Band 3, Sp. 1505.

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8. Die Küche – Wohnraum und Welt der Tiere

haben in Küchen allerdings nicht nur Haushaltsmaschinen, sondern gleichermaßen Atmosphären, in deren spürbares Herum die Men­ schen sich einwohnen. Die Tiere spielen darin facettenreiche wie unterschiedliche Rollen. Entscheidend sind praktisch gelebte Bezie­ hungen der Menschen zu den Tieren. Diese sind immer von den Lebensformen abhängig, denen die Menschen in ihrem Wohnen Ausdruck verleihen. Sie können Tiere essen und vernichten; aber sie könnten sie im Heidegger’schen Sinne ebenso (ver-)schonen und übers bloße Leben-Lassen hinaus würdigen. Sie müssen weder von den Tieren leben, noch gegen sie. Sie können auch mit ihnen leben.

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9. Was bedeutet es, zu wohnen?

Im Alltag spielt die im engeren Sinne philosophische Frage nahezu keine Rolle, was es eigentlich bedeutet, wenn wir davon sprechen, dass wir wohnen. Sie wird von aktuellen praktischen Geboten der Organisation des Wohnens ebenso verdrängt wie von den immer grö­ ßer werdenden Herausforderungen der Finanzierung einer Wohnung, insbesondere in trendigen Boom-Towns und »teuren« Universitäts­ städten. Auch von den Wissenschaften wird im engeren Sinne das Wohnen selbst eher selten thematisiert; im Fokus stehen vielmehr abgeleitete Fragestellungen: in der Soziologie die gesellschaftliche Vermitteltheit des Wohnens, in der Ökonomie die Wohnung als Ware (als Anlage-, Rentabilitäts- und Spekulationsobjekt) und in Architektur und Ingenieurswissenschaften das gestalterische sowie technische Bauen von Wohn-Häusern. Das folgende Kapitel geht auf der Grenze zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften der Frage nach, wie und als was sich Orte und Praktiken des Wohnens darstellen. Darin folgt es der Aufforderung Martin Heideggers, das Wohnen denkwürdig zu machen, denn alle Bauten, die dem Wohnen (direkt und indirekt) dienen sollen, können erst dann nach- und vorausdenkend errichtet werden, wenn wir unser Verständnis des Wohnens geklärt haben.

9.1 Wohnen – eine Annäherung Wohnen geht über »anwohnen« hinaus. Vor allem bedeutet es »ein­ wohnen«457. Es verlangt von jedem Einzelnen das nachspürende, mitfühlende wie verantwortliche Denken, das umsichtige Planen und bauende Gestalten von Räumen und Orten. Wohnen ist nichts Passives. Als Sein-mit-anderen verändert es die Welt – nicht nur faktisch, sondern auch atmosphärisch. 457

Vgl. dazu auch Hasse: Wohnungswechsel, Kapitel 4.

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9. Was bedeutet es, zu wohnen?

Wie die Menschen wohnen, ist Ausdruck von Tradition und Gewohnheit, Spiegel der Zeit wie technischer Standards. Die ältesten (eiszeitlichen) Wohnungen waren Erdlöcher und natürliche Höhlen, steinzeitlich dann Halbhöhlen und Hütten aus Reisig und Laub. In der Jungsteinzeit gab es in Nordeuropa Pfahlbauten, in der Bronze­ zeit Rundbauten mit einfachen Kegeldächern. Nach der Entwicklung differenzierterer Zimmermannstechniken folgten einfache Blockbau­ ten.458 Alle Wohnstätten sollten Schutz vor Wind und Wetter, den Jahreszeiten, Feinden und wilden Tieren bieten.459 Bis in die Gegen­ wart bildeten sich mannigfaltige Wohn-Kulturen heraus. Im 20. Jahrhundert verbinden sich mit dem Wohnen nach Häußermann und Siebel die folgenden Schlüsselfragen: 1. Was tut man wenn man wohnt?, 2. Wer wohnt mit wem zusammen?, 3. Wie wird Wohnen erlebt?, 4. Wie kommt man zur Wohnung?460 Die Bedeutung des Wohnens konzentriert sich hier auf die räumli­ che Welt der Wohnung. Umso mehr wirft der Blick auf das Leben Obdachloser die Frage auf, wie und ob auch wohnt, wer gar keine Wohnung hat.461 Damit fragt sich zugleich: Kann man nur in persön­ lich oder gemeinschaftlich genutzten Innenräumen wohnen, die wir üblicherweise eine »Wohn-ung« nennen oder auch im offenen Raum der Stadt? Zur Wohnung gehört der über die Terrasse begehbare (noch so kleine) Garten, in der Stadtwohnung der Balkon. Folglich beschränkt sich das Wohnen nicht ganz auf das Leben in Innenräu­ men. »Draußen« sind auch Straßen, Geschäfte, der Markt und der Bahnhof. Nicht jeder Ort im öffentlichen Raum wird jedoch dem Wohnen zugerechnet werden dürfen. Für den Philosophen Hermann Schmitz zeichnet sich der Bewohner einer Stadt (im Unterschied zum »Benutzer«) dadurch aus, dass er in einem Gefühl des Heimisch-Seins mit Orten verwachsen ist, die nicht nur Stätten der Erledigung sind.462 Die Schwelle zwischen ge-wohn-ter Verwurzelung in einer Gegend und der rein zweckmäßigen Nutzung verorteter Stätten hat für ihn atmosphärischen Charakter. Die Grenze zwischen dem Eigenen der heimischen Welt des Wohnens und dem Fremden einer (mindestens psychologisch) fernen Welt ist fließend und bildet sich mit dem Wandel der Lebenssituationen aus und um. 458 459 460 461 462

Vgl. Wasmuths: Band IV, S. 718f. Vgl. Häußermann / Siebel: Soziologie des Wohnens, S. 12. Vgl. ebd.: S. 15. Vgl. Hasse: Unbedachtes Wohnen, Kapitel 4.2. Vgl. Schmitz: Heimisch sein, S. 38.

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9.1 Wohnen – eine Annäherung

In den 1950er Jahren führte eine Zunahme der Mobilität langsam zu einer Veränderung der Wohnformen. Das sesshafte Leben verlor mehr und mehr seine Selbstverständlichkeit.463 In hochmobilen und globalisierten Gesellschaften hat sich der Lebensalltag der Menschen seit dem immens beschleunigt, mal mehr (z.B. bei Geschäftsleuten), mal weniger (z.B. bei Büroangestellten) und auf ganz unterschiedliche Weise (von der Vielfliegerei bis zur intensivierten Benutzung des Fahrrades in der Innerstadt). Zwar haftet die Bedeutung von »woh­ nen« am Bleiben und Ausharren, Sich-Behagen und zufriedenen Wohl­ befinden an einem Ort464; sie läuft aber nicht auf eine Art »Festsitzen« im Raum hinaus. Der spätmoderne Mensch lebt »im-Übergang«465 – zwischen Unterwegs-Sein und Ruhen. Er wohnt (mal) hier und (mal) dort, auf seinen Wegen aber auch in einem Dazwischen. Im »Wandern« werden Räume des Wohnens erschlossen.466 Die allokativen Bewegungen von einem Ort zum anderen schreiben sich ebenso wie die existenziellen Bewegungen des Lebens in Biographien ein wie in die Geschichte(n) kleinerer und größerer sozialer Räume (des Dorfes, der Stadt, der Region etc.). In der Spätmoderne wohnen die meisten Menschen nicht für alle Zeiten an einem Ort. Sie üben sich im gleitenden Einwohnen in wechselnde Lebensmilieus. Die Masse der Menschen lebt in den Städten, oft in seriellen Großwohnanlagen. Solchen »Wohnfabriken« liegt das Leitbild der Charta von Athen467 zugrunde, die den Menschen in Funktionsseg­ mente zerlegte, um ihn sodann in eine maschinistische Systemwelt implantieren zu können. Diese modernistisch-antiindividualistische Fiktion hält die räumliche Organisation des Wohnens in den Städten noch in der Gegenwart in Schach. Die unter der Macht des Industria­ lisierungs-Mythos entstandenen Bauten setzten stets kryptische Pro­ gramme heimlicher Menschenbildung ins Werk. In ihrer Verortung in Großwohnsiedlungen sollten den Menschen ein sozialer Ort in der Gesellschaft zugewiesen und damit eine Identität zugeschrieben Vgl. Meier-Oberist: Kulturgeschichte des Wohnens, S. 12. DWB: Band 30, Sp. 1206. 465 Vgl. Joisten: Philosophie der Heimat, S. 131. 466 Vgl. Guzzoni: Wohnen und Wandern. 467 Die »Charta von Athen« wurde auf dem Internationalen Kongresse für neues Bauen 1933 in Athen verabschiedet. Sie galt als Manifest der funktionalen Stadt. Einer der maßgeblich beteiligten Urheber war Le Corbusier. Seinen Ausdruck fand das neuen Denken in der »autogerechten Stadt« sowie den Großwohnsiedlungen der 1960er und 70er Jahre; vgl. auch »CIAM«. 463

464

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9. Was bedeutet es, zu wohnen?

werden (in der DDR durch den »sozialistischen«, in der BRD den »sozialen« Wohnungsbau).

9.2 Wohnen als existenzieller Ausdruck In der Art (und Gestaltung) einer Wohnung spiegelt sich die LebensSituation einer Person, Familie oder wie auch immer gebildeten (Wohn-) Gruppe wider. Ebenso gilt umgekehrt: die Wohnung situ­ iert auch die Wohnenden. Bis ins frühe 20. Jahrhundert lebte der Grundherr mit Familie und Gesinde auf dem Gutshof, der Hochadel in aristokratischen Bauten (Schlössern und Palais), der Landarbeiter in einem einfachen Landarbeiterhaus, der Angestellte und Arbeiter in einer Mietwohnung usw. Dieser eher einfache hierarchische Auf­ bau ist schon längst implodiert: Pflegebedürftige alte Menschen wohnen in Altersheimen oder in Residenzen. Angestellte mieten und kaufen Einfamilienhäuser oder campieren – wie viele Dauercamper – in Wohnwagen und -mobilen. Junge Selbständige nehmen an alternativen Wohnprojekten teil oder lassen sich in luxuriösen Appar­ tements postmoderner Doorman-Häuser nieder. Die »Kommunen« der 1960er Jahre lebten zwar in Wohnungen; aber es ging ihnen weniger ums Wohnen als um den »Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individualismus«468 – die Findung alternativer Lebens­ formen. »Wohnen« und »leben« sind keine Gegenbegriffe, sondern zwei Falten einer existenziellen Situation. Nicht jeder Modus des Wohnens ist gewählt. Wer sich – wie die im Raum flottierenden Obdachlosen – von Ort zu Ort durchschlagen muss und dabei nicht das Mindeste eines halbwegs guten Lebens besitzt, ist anders im Raum der Stadt als ein sesshafter Mensch, allzu­ mal die ökonomisch Privilegierten unter ihnen. Wer keine Wohnung (mehr) hat, lebt meist »auf der Platte« im öffentlichen Raum. Die Betroffenen sind zweifach situiert – durch die Art ihres So-Lebens und (als Resultat der Zuschreibung von Identität) durch soziale Exklusion. Vor allem sie ist es, die das improvisierte Leben im Offenen und Ungeschützten dem Bedenken entzieht und nur ausnahmsweise als Ersatz-, Statt- oder Not-Wohnen bewusst werden lässt. Dabei könnte doch gerade der prekäre Aufenthalt Obdachloser im öffentlichen 468

Bookhagen et al: Kommune 2.

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9.3 Bauen und Wohnen

und halböffentlichen Raum das Wohnen im Allgemeinen denkwürdig machen. Fragende Aufmerksamkeit verdient allerdings schon der selbst­ verständlichste Ort einer ganz gewöhnlichen Wohnung – das Wohn­ zimmer. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurde es als Hot Spot bürgerlicher Ideale geradezu mythologisiert und von einer breit gefächerten »Wohnmöbel«-Industrie nach dem Takt zyklischer Modewellen bestückt. Hinter dem Vorzeichen der medien-techno­ logischen Postmoderne hat sich der Zweck des »Wohn«-Zimmers vielerorts jedoch gehäutet – vom sozialen Raum des »Wir« in die kommunikative Halbwüste einer permanent pulsierenden TV- und Entertainment-Blase. Der Einfluss gemeinschaftsbildender Anstren­ gungen schwindet – zugunsten immersiver wie uferloser Bilderfluten massenmedialer Imaginationsmaschinen aller Art.

9.3 Bauen und Wohnen Im Althochdeutschen bedeutete bauen: »Die Art wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen.«469 Bauend schafft sich der Mensch einen Ort des Wohnens. »Wohnen und Bauen stehen zueinander in der Beziehung von Zweck und Mittel.«470 Im Bauen entstehen (u.a. materielle) Bedingungen dafür, wie die Menschen auf der Erde sind und ihr Leben führen können. Deshalb steht »bauen« etymologisch neben »existieren«, das sich im »wohnen« stark ausdrückt, im »be–wohnen« dagegen eine eher oberflächliche Bedeutung hat. Menschen, die sich auf der Flucht befinden, können weder woh­ nen noch bauen, solange sie flüchten, denn ihre Mobilität folgt keiner kultivierten Form wandernden Lebens (wie bei den Nomaden). Aber auch die aus Pappe, Abfallholz und aufgegebenen Baustoffresten für eine oder zwei Nächte errichteten Hilfskonstruktionen, die Obdach­ losen als Notunterkünfte dienen und nur in minimalster Weise schüt­ zen, sind (improvisierte) Bauten.471 Sind sie schon deshalb aber auch Stätten des Wohnens? Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 33. Ebd.: S. 32. 471 Bauen bedurfte nie allein fester Stoffe wie Holz, Stein, Eisen und Glas. Vielmehr wurzelt die Technikgeschichte der Architektur ganz wesentlich in flüchtigen und ver­ 469

470

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9. Was bedeutet es, zu wohnen?

Auch Nomaden wohnen an (vorübergehend) fixen Orten – im Unterwegs-Sein. Aber ihr wanderndes Wohnen ist Ausdruck einer Tradition und nicht Folge blanker Not. Ihr oft nur kurzzeitiger Aufenthalt in demontierbaren Behausungen bietet dank der mitge­ nommenen, gewohnten Dinge und sich immer wieder entfaltenden Situationen temporären Heimisch-Seins einen behagenden, umfrie­ denden und atmosphärisch bergenden Rückzugsraum. Nicht zuletzt deshalb verbindet sich mit dem Namen der Jurte (für das Rundzelt) auch die Bedeutung des Heims. Im Unterschied dazu bedeutet die wohnungslose Situation des flottierenden Aufenthalts im öffentlichen Raum mehr Entbergung und rohe Freistellung ins Ungeschützte. Optionen der Beheimatung bietet sie nicht. Bauen hinterlässt Reste, Abfälle, Löcher, Leerstellen – Probleme für die Nachkommenden. Natürliche Personen, Unternehmen und Gesellschaften greifen in der Art ihres Bauens nicht nur auf »eigene« Ressourcen zurück, sondern zugleich auf Sachen der Almende: endli­ che Stoffe der Natur und soziale Ressourcen Dritter. Insbesondere, weil sich die Welt des Wohnens in sozioökonomisch bedenklicher Weise begonnen hat zu spalten, reklamiert sich eine kritische Revision des Wohnens. Wo die bauende Herstellung von Wohnungen primär der Maximierung von Profiten aus Wuchermieten dient, die kleinste ökonomische Lebensspielräume zunichte machen, müssen Bauen und Wohnen denkwürdig werden. Dies umso mehr, als es oft genug Obdachlose sind, die ihr statt-wohnendes Pseudo-Bauen mit den Abfällen und Resten materialgefräßigen »Normal«-Bauens ermögli­ chen.

9.4 Disparate Wohnkulturen Schon in den urbanen Gesellschaften der Antike waren die Verhält­ nisse des Wohnens nicht gleich(wertig), vielmehr von sozialer Diffe­ renz gekennzeichnet. In der neoliberalen Spätmoderne vertieft sich der Graben zwischen Arm und Reich und die Wohnformen folgen gänglichen Materialien wie Geäst, Schilf, Häuten und Eisblöcken, die bei der Erzielung praktischer Effekte gute Wirkungen versprechen (z.B. Stoffe und Folien). Gottfried Semper hatte schon auf die gemeinsame etymologische Wurzel von Wand und Gewand hingewiesen, damit implizit auf die schützend-umfriedende Funktion von textilen Strukturen und Flechtwerk; vgl. Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S. 57.

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9.4 Disparate Wohnkulturen

immer deutlicher einem ökonomischen Pfad. Die soziale Fragmentie­ rung der Gesellschaft zeigt in ihrem (stadt-)räumlichen Gesicht der Wohnstätten, wie und wo die Menschen verwurzelt sind. Das Hoch­ haus lockt in den Trend-Metropolen als Traumwelt des Wohnens par excellence. Klangvolle Namen wie Onyx, Omni Turm, Tower 90, One Forty West oder Praedium stehen (allein am Beispiel der Stadt Frank­ furt am Main) für maximale Extravaganz und höchste »Kultur« der Repräsentation. Radikal übersteigerte Quadratmeter-Preise garantie­ ren Closed-Shop-Effekte des Stadtwohnens, die jede sozialpolitisch motivierte »Inklusions«-Rhetorik der Lächerlichkeit preisgeben. Die Gegen-Welt des Glamourösen offenbart sich zum einen in der Vertreibung Obdachloser, zum anderen aber auch in ihrem StattWohnen in Gestalt einer flottierenden Be-setzung improvisiert-infor­ meller Notunterkünfte (u.a. B-Ebenen von U- und S-Bahnen) und finsterer Ecken (neben Brückenpfeilern und in den verdreckten Ein­ gängen von Abbruch-Immobilien). Es sind (temporäre) Rest-Räume, die Obdachlosen als nicht-monetäre Almosen gegeben werden – »Gaben« im Sinne des Wortes, weil sie diesseits jeder Logik des Tau­ sches kein Äquivalent verlangen. An den Orten des Statt-Wohnens offenbaren sich die sozioökonomischen Kollateralschäden einer neo­ liberal entfesselten Ökonomie: Biographien, die auf tragische Weise aus dem Ruder gelaufen und »auf der Strecke« ohnehin bescheidener Lebensträume geblieben sind. Wenn es in besonderer Weise auch monetäre »Spiel«-Räume sind, die das Leben situieren und den Rahmen des darin Möglichen abstecken, so gibt es doch nicht nur blendend-grelle Kontraste – gleichsam zwischen der die übelste Not dämpfenden Suppenküche der Kapuzinermönche und dem residierenden Nobel-Wohnen in luftigen Höhen »über« der Stadt. Es existieren auch experimentelle Wohnla­ bore für Menschen aus dem bürgerlichen Mittelfeld. Angesichts kolla­ bierender Wohnungsmärkte gelten die sogenannten »Tiny-Houses«, die auf kleinstem Raum ein Maximum an Wohn-Nutzen generieren sollen, als originell wie innovativ. Charakteristischerweise wurzelt die Renaissance einer alten Idee472 in der US-amerikanischen Immo­ bilienkrise und der Taktik, aus der Not eine Tugend zu machen. Die hierzulande erprobten Varianten beeindrucken durch einen geradezu dreisten Mut zur euphemistischen Umdeutung existenzieller Nöte Sogenannte »Kleinhäuser« gab es in Berlin schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vgl. Wasmuths: Band III, S. 380.

472

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9. Was bedeutet es, zu wohnen?

des Wohnens. Wenn das Bundesbauministerium 2015/2016 ein Pro­ gramm für die Förderung des Baus sogenannter »Variowohnungen« (14 – 30 m2) für Studierende und Senioren initiiert, so dürften diese Mikrowohnungen schnell über die intendierten Nutzergruppen hinaus reges Interesse wecken, weil sie bezahlbarer sind als gängige Formate auf dem »freien« Immobilienmarkt. Was es in der Gegenwart heißt zu wohnen, aktualisiert sich nicht erst an (luxurierten und mar­ ginalisierten) Rändern der Gesellschaft, sondern in einer schleichen­ den Dramatik schon in deren Mitte. Die in Trend-Metropolen wie New York, London und Amster­ dam ausgebrüteten urbanistischen Wohnideen mögen als »hip« gel­ ten; im Endeffekt sind sie weniger innovativ als resignativ. Verkleidet ins architektonische Gewand des »New wave of postmodernism«, illustrieren sie höchst eindrucksvoll die Schrumpfung politischer Scheinspielräume in der Gestaltung der Wohnungsmärkte. Auch das in postkritischer Naivität als Renaissance der Kommune gefeierte Modell des Cohousing oder Co-Living (Hybrid zwischen Apparte­ ment-Archipel und Service-Hotel) kann als »alternative« Form des Wohnens nur falsch verstanden werden. Kollektivistische Metaphern, Utopien von Nachhaltigkeit und Basisdemokratie verklären (oft mit einem kräftigen Schuss Esoterik) nur die sozialen Härten eines erdrü­ ckenden Immobilienmarktes.473 Tiny-Houses ganz eigener Art sind die sich de facto schon lange den Normen einer massenmedial justierten Wohnästhetik entziehen­ den »Mobilien« der Wagenburgen.474 Aber die bunten Bauwagen und Anhänger sind keine trendigen Kreationen »schönen Wohnens«. In ihrer miniaturisierten Form sind sie eher Thinktanks. Das hindert die Ordnungsbehörden jedoch nicht daran, die fliegenden Siedlungen in ihrem sichtbar-alternativen Programm immer wieder als Störfaktor wahrzunehmen und entsprechend zu behandeln. Sie sind ein Stachel im Fleisch der bürgerlichen Gesellschaft, nicht zuletzt, weil sie aus der Kraft der Gemeinschaft wie einem experimentellen Geist Alternativen zum »adretten« Wohnen und Leben erproben.

473 Vgl. Gottsauner-Wolf: Die neuen Kommunen; https://www.zeit.de/2013/14/G emeinschaftliches-Wohnen-Cohousing-Oesterreich (28.12.22022). 474 Vgl. Hasse: Unbedachtes Wohnen, Kapitel 4.8.

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9.5 Brauchen wir eine Ethik des Wohnens?

9.5 Brauchen wir eine Ethik des Wohnens? Das Gebot von Martin Heidegger, das Wohnen als etwas Fragwür­ diges zu bedenken, mündet in eine Ethik des Wohnens: »Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelang­ ten und so etwas Denkwürdiges blieben.«475 Das Ziel eines jeden Menschen, ein glückliches Leben zu führen, drückt sich auch in der Art und Weise seines Wohnens aus. Sache der Ethik kann es aber nicht sein, das individuelle Streben nach Glück unbegrenzt zu fördern, sondern nach Maßstäben für die Regulation eines guten und rücksichtsvollen Miteinander zu suchen. Die allzu »freie« Entfaltung Glück suchender Lebensformen wird von keiner Macht göttlicher Weisheit beschnitten. Viel mehr reklamiert sich die Sammlung refle­ xiver Vermögen des Menschen, um sein Leben zu hinterfragen. Dazu gehört die Kritik seines Denkens und Wollens. Es liegt auf der Hand, dass dabei die Gefühle eine leitende Rolle spielen. Deshalb müssten sie auch programmatisch Gegenstand einer kritischen Prüfung der Folgen einer (schrankenlosen) Verwirklichung von Wohnwünschen werden. Das normativ leitende Maß der Bewertung aller möglichen Wohnformen kann nur im Wissen um die Grenzen möglichen Woh­ nens liegen. Deshalb merkte Aristoteles zum Streben der Menschen nach Glückseligkeit an: »Daß aber die Schicksale der Nachkommen und aller Freunde die Glückseligkeit ganz und gar nicht berühren sollen, erscheint doch allzu inhuman und den allgemeinen Überzeu­ gungen widersprechend.«476 Eine Ethik des Wohnens liefe auf ein existenzphilosophisches Evaluations-Programm hinaus. Als Chiffre der »Sorge«477 und einer mehrdimensionalen Kultur nachdenklicher Vor- wie Rücksichtnahme verwendete Heidegger das Wort der »Schonung«478. Im Alltag poli­ tischen Zeitgeschehens mangelt es indes schon deshalb an Weitsich­ tigkeit wie vielperspektivisch prüfendem Denken, weil demokratisch erscheinende Rechte auf Selbstverwirklichung dann in ein kritisches Licht geraten müssten. Nicht nur aus diesem Grunde läuft das Wohnen allzumal in den schnell wachsenden Metropolen auf eine zweifache Krise zu: Erstens die der sozialen Spaltung der Gesellschaft 475 476 477 478

Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 48. Aristoteles: Nikomachische Ethik, S. 20. Vgl. Heidegger: Sein und Zeit, S. 58. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 37.

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9. Was bedeutet es, zu wohnen?

und der Preisgabe des zivilgesellschaftlichen Friedens sowie zweitens der desillusionierenden Einsicht in die praktische Konterkarierung von Zielen ganzheitlich verstandener Nachhaltigkeit. Auf der einen Seite steigern sich die luxurierten Formen des Wohnens in einer Choreographie des Übermuts zu einem Tanz auf dem Vulkan. Auf der anderen Seite lassen die wachsenden Probleme der Obdachund Wohnungslosigkeit das Vexierbild einer legitimationspolitisch zerreißenden Kultur des Wohnens erkennen. Schnell steigende Zahlen der von Obdachlosigkeit Betroffe­ nen479 machen darauf aufmerksam, dass es in der Siedlungs- und Wohnungsbaupolitik schon lange um die existenzielle Frage der Verfügbarkeit bezahlbarer Stadtwohnungen geht. Allein deshalb wäre das Wohnen als Sich-Einrichten mit Möbeln oder als Sicherstellung der regelmäßigen Belieferung mit Energie und Trinkwasser zu kurz verstanden. Zu einer vertrackten Problemlage spitzt es sich zu, wo die Binnenwanderung zu einer selektiven Attraktivitätssteigerung ohnehin schon begehrter Städte führt, während andere durch Abwan­ derung immer tiefer in der (Infra-)Strukturkrise versinken. In der Folge wächst die Gefahr einer dramatischen sozialen Spaltung. Diese beträfe dann nicht nur Stadtviertel, sondern ganze Städte. Umso dringlicher stellt sich die Aufgabe einer kritischen Revision der gesellschaftlichen Organisation des Wohnens im Sinne dessen, was Martin Heidegger darunter verstanden hatte: die Art und Weise, wie die Menschen (mit anderen) auf der Erde leben. Schon weil die Lebensbedingungen einem ständigen Wandel unterworfen sind, muss das Wohnen immer wieder geübt und umgelernt werden. Dazu gehört unverzichtbar nicht nur sein lebenspraktisches, sondern auch sein ethisches Bedenken.

479 Im Jahre 2018 gab es in Deutschland nach Angaben der BAG Wohnungslo­ senhilfe e.V. 237.000 wohnungslose Menschen, im Jahre 2020 waren es bereits 256.000; https://www.bagw.de/de/themen/zahl-der-wohnungslosen/uebersi cht (28.12.2022).

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10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum

Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt neben der Philosophie eine Reihe ihr nahestehender Disziplinen (seinerzeit u. a. die phänomenologische Psychiatrie) die Frage nach dem Wesen der Zeit. Dabei sollte es nicht um die chronologische »Uhrenzeit« gehen, sondern um die gelebte Zeit, mit anderen Worten: die Dauer als Maß subjektiven Zeit-Erlebens. Richtungsweisende Arbeiten stam­ men aus der Feder von Henry Berson (Zeit und Freiheit, 1888), später dann von Martin Heidegger (Sein und Zeit, 1926) und Eugène Minkowski (Die gelebte Zeit, 1933). Mit einem gewissen zeitlichen Verzug folgen theoretisch komplementäre Schriften zum Wesen des Raumes – im Sinne eines frühen »spatial-turn«. Dabei geht es – ähnlich wie bei der geisteswissenschaftlichen Neubestimmung der Zeit – um keine mathematische Dimension. In den Fokus rückt der Raum in seiner leiblichen Spürbarkeit und existenziellen Bedeutung. Zu nennen sind hier vor allem Karlfried Graf von Dürckheim (Der gelebte Raum, 1932), Ernst Cassirer (Philosophie der symbolischen Formen, bes. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, 1929) und in den 1950er und 60er Jahren Otto Friedrich Bollnow (insbesondere Mensch und Raum). Wenn im Folgenden das interdisziplinär rege rezipierte Buch Mensch und Raum (bei Kohlhammer 2010 in der 11. Auflage) in den Mittelpunkt rückt, so reklamiert sich bereits angesichts der Vielfalt der Facetten des Werkes eine Akzentuierung der Aufmerk­ samkeit. Die folgenden Überlegungen zu Bollnows Denken werden sich im Wesentlichen auf das Wohnen richten. Dabei muss aber die Gefahr gebannt werden, die ganzheitliche Weltsicht Bollnows, die sein gesamtes Denken orientiert, durch die nachträgliche Zerlegung seiner Schriften in ein thematisch kleinteiliges Puzzle auf den Kopf zu stellen. Sein Ziel war ja gerade nicht die Spaltung von Lebenszu­ sammenhängen, sondern deren Nachdenklichkeit stiftende Zusam­ menschau. Und so werden auch hier immer wieder Querverweise in

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10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum

angrenzende theoretische Felder unverzichtbar sein, um das Wohnen im Wechsellicht unterschiedlicher Themen erfassen zu können. Wenn die Themen in Mensch und Raum auch zeitlos sein mögen, so trifft das nicht auch im Allgemeinen für seine methodologische Herangehensweise an den Raum zu. Sein Nachdenken über den Raum wird daher zweifach zu reflektieren sein: Zum einen fragt sich, inwieweit sein Denken »nur« Ausdruck seiner Zeit ist und damit allein historische Bedeutung hat. Zum anderen stellt sich zugleich die Frage, inwieweit sein Werk in wissenschaftstheoretischer, -psy­ chologischer und -politischer Hinsicht noch auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen werden kann, wenn auch im Rahmen situativ gebotener Variationen.

10.1 Bollnows Stimmung und Einstimmung In seiner Einleitung streicht Bollnow die seine Philosophie prägende Sicht auf den Raum heraus. Dieser ist für ihn kein Gebilde, das nach metrischen Abständen und abstrakten Kategorien durchdacht werden soll. Es geht ihm viel mehr um die Räumlichkeit des menschlichen Lebens; zum einen um den Raum als aktionales Entfaltungsmilieu, zum anderen aber auch (komplementär dazu) um den Raum als bergende Sphäre und (mit einem Wort von Dürckheim) emotional einbettende »Herumwirklichkeit«. Im Spiegel des erlebten Raumes soll das Andere eines verstandesrationalistisch verkürzten Menschen­ bildes gewissermaßen ins Lot gebracht werden. Bollnow reduziert den Menschen nicht »auf ein bloßes Verstandessubjekt«480. Dies heißt nicht, dass er sprachlich mit Begriffen auch kreativ und über enge definitorische Grenzen hinaus »geschmeidig« im Sinne eines situa­ tionsangemessenen Gebrauchs umgehen würde. Mitunter »hinkt« seine Sprache seinem ganzheitlichen Anspruch hinterher. So wider­ strebt ihm in gewisser Weise Dürckheims Rede vom »gelebten Raum«, obwohl sie für ihn »insofern den Vorzug [habe], als in ihr zum Ausdruck kommt, daß es sich um nichts Psychisches handelt, sondern um den Raum selber, insofern der Mensch in ihm lebt und mit ihm lebt«481. Aber: Das Wort könne »nicht mit einem Objekt im Akkusativ 480 481

Bollnow: Mensch und Raum. Ebd.: S. 18.

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10.2 Heute ungewohnte Blicke aufs Wohnen

verbunden werden«482. Man könne »nicht sagen, daß der Mensch etwas lebt, etwa den Raum oder die Zeit«483. Obwohl er sich »sachlich […] in voller Übereinstimmung mit […] Graf Dürckheim und Min­ kowski«484 sieht, resümiert er: »So bleibe ich trotz aller Bedenken bei dem sprachlich richtigen, wenn auch sachlich weniger treffenden und leicht mißzuverstehenden Begriff vom ›erlebten Raum‹; denn es erscheint mir unzulässig, in der Philosophie gegen das Gesetz der Sprache zu verstoßen, selbst dort, wo es um die größere Deutlichkeit geht.«485 Dass er dann auf der vorletzten Seite seiner Einführung (nach all diesem Abgrenzungsaufwand) neben »seinem« Begriff des erlebten Raumes dann doch wieder den des gelebten Raumes verwen­ det, zeigt, wie widersprüchlich sein verstandesrationales Zaudern in der Sache doch war. Am Rande sei angemerkt, dass er mit seiner Sprachkritik an Dürckheim implizit zugleich Minkowskis Begriff der »gelebten Zeit« eine Absage erteilt. Das Beispiel scheint sich auf einen Nebenschauplatz zu verirren, tatsächlich erhellt es jedoch einen wissenschaftspsychologisch und -politisch brisanten Mechanismus der Regulierung des Sprechens im symbolisch und rituell umfriedeten Raum wissenschaftlicher Sprach­ gemeinschaften. Wer sich nicht eines Tages außerhalb der wärmenden Glocke »seiner« community wiederfinden will, sollte sprechen, wie es die ungeschriebenen Regeln derer verlangen, die im Treibhaus der Gleichen die Grenzpfähle des diskurshygienisch Akzeptablen setzen.

10.2 Heute ungewohnte Blicke aufs Wohnen In seinen Überlegungen zum Wohnen bezieht sich Otto Friedrich Bollnow mehrfach auf Martin Heideggers Aufsatz Bauen Wohnen Denken, den dieser 1951 im Rahmen der Darmstädter Gespräche erst­ mals gehalten hatte. Im Unterschied zu Heidegger argumentiert Boll­ now auf einem lebensweltlich relativ konkreten Niveau. Heidegger spannt dagegen einen ethischen Horizont auf, vor dem er das Wohnen als eine Praxis des Lebens thematisiert, die der ethischen Legitima­ tion nach Normen der Nachhaltigkeit bedarf (Heidegger spricht 482 483 484 485

Ebd.: S. 19. Ebd. Ebd. Ebd.

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10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum

von »Schonung«). Die sich gerade heute angesichts globaler Heraus­ forderungen politisch (mehr prinzipiell als tatsächlich) gebietende Methode, das Wohnen denkwürdig zu machen, übernimmt Bollnow nicht in sein Denken. Im Blick auf die (sozial-)ökologischen Folgen des Wohnens war Heidegger (zu seiner Zeit) bedeutend weitsichtiger als Bollnow. Dieser rückt nicht das Wohnen als Ausdruck des Lebens ins Zentrum seines Denkens, sondern die Alltäglichkeit wohnender Beheimatung im Haus und in der Stadt. In diesem Kontext stellt er zu Recht heraus, dass sogar Friedhof und Kirche zum Wohnen gehören – diesseits von Ansprüchen der Wohnlichkeit.486 Wer wohnt, hat »eine feste Stelle im Raum«487, gehört an diese Stelle hin und ist »in ihr verwurzelt«488. Das mobile Wohnen (in einem Wagen oder auf einem Schiff) erkennt er nicht als Wohnen an; eher sieht er darin entborgene Arten provisorischen Aufenthalts. Allein die fest gebaute Wohnung hat für ihn umfriedende Grenzen, in denen sich bergende Atmosphären ausbreiten können. Dank der architektonischen Medien Mauer, Dach, Zaun und Hecke kann sich ein Innen konstituieren, das sich gleichsam rettend aus der fremden Welt herausschält. Eine Wohnung vermittelt für Bollnow die Beheimatung nur dann, wenn sie auch »wohnlich« ist. Sein Wohnlichkeits-Verständ­ nis steht auf dem Boden einer bürgerlichen Wertewelt und der zu seiner Zeit herrschenden Gender- und Identitätsvorstellungen. Die Wohnung ist die soziale Welt der »einträchtig darin lebende[n] Familie«489. Was aus der Perspektive der Gegenwart kaum noch nach­ vollziehbar erscheint, ist ihm selbstverständlich: »Das Wohnen ist nur in der Gemeinschaft möglich, und das wahre Wohnhaus verlangt die Familie.«490 Deshalb ist auch »dem einzelnen Menschen, dem Junggesellen, […] eine wirkliche Wohnlichkeit der Wohnung uner­ reichbar.«491 Bollnows Rede über das sozial gedeihliche Wohnen ist in den 1950er und 60er Jahren von den Normen des damals herrschenden Zeitgeistes eingefasst. Ebenso gehorcht das in unserer Zeit übliche Denken über das Wohnen, die Rolle von Frau und Mann und das Leben in der Stadt dem aktuellen Zeitgeist und muss in ideologisch 486 487 488 489 490 491

Vgl. ebd.: S. 149. Ebd.: S. 128. Ebd. Ebd.: S. 153. Ebd. Ebd.

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10.2 Heute ungewohnte Blicke aufs Wohnen

empfindlichen Punkten deshalb fragil bleiben. Normen lenken das Denken und das Fühlen – nicht nur in Bezug auf das Wohnen. Vom noch so krassen Wertewandel sind nicht erst populäre Wohnratgeber und bunte Zeitschriften mit ihren Empfehlungen zum »schönen Woh­ nen« betroffen. Normen lenken selbst das wissenschaftliche Denken über das Wohnen. Wie sollte es sich auch sonst – allzumal in der Kritik nicht-nachhaltiger Lebensstile – auf die Situation der Zeit beziehen können. Bollnows Menschen- und Weltbild steht noch nicht unter dem Einfluss des Sozialkonstruktivismus. Für ihn ist der Mensch nicht zuletzt ein ins Leben (mit Heidegger gesagt) »Geworfener«. In seiner Welt passieren die Dinge auch, und die Fakten des Geschehenen lassen oft nur schmale Spielräume für die »freie« Wahl. Das »In-derWeltsein« des Menschen geht dann im rationalen Planen offener Zukünfte nicht auf. Für Bollnow steht das Denken des Wohnens unter den Vorzeichen einer krassen Wohnungsnot, die ein Resultat der kriegsbedingten Zerstörung der Städte war. Das bedeutet für den Menschen, »daß er ohne seinen Willen oder gar gegen seinen Willen in ein ihm fremdes Medium hineingebracht ist«492. Dann steht er unter dem Druck der Not in seiner Welt. Diese Not folgt für Bollnow (wie für Heidegger) in den 1950er Jahren aus den Wirren des Dritten Reiches, der Zeit des Zweiten Weltkriegs und einer dystopischen Nachkriegsepoche ruinierter Städte. Das Buch Mensch und Raum entsteht, wie ein unter sehr ähnli­ chem Titel erschienener Aufsatz Der Mensch und der Raum, in den ausgehenden 1950er Jahren – in Zeiten zerbombter städtischer Wel­ ten. Das erschreckende Ausmaß der damit verbundenen Wohnungs­ not dürfte für die meisten Menschen heute unvorstellbar sein. Die Städte waren keine beheimatenden Räume mehr, eher entbergende Wüsten, in denen die Hoffnung auf die Wiedergewinnung einer Heimat in der Starre des Verlustes, dem Gefühl der Bedrohung von Leib und Leben sowie in der Enge existenzieller Aussichtslosigkeit festsaß. Unter den Bedingungen radikalen Unbehaustseins blieben die gesellschaftlichen Lebensbedingungen noch recht lange fragil. Das heißt aber nicht, dass Bollnow deshalb dem Handeln entsagt und sich dem Schicksal überantwortet hätte:

492

Bollnow: Der Mensch und der Raum, S. 501.

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10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum

»Wenn der Mensch in der Welt wieder einen neuen Halt gewinnen soll, so ist es nur möglich, wenn er sich an einem bestimmten Punkt dieser Welt niederläßt, sich an ihm festkrallt, ihn zur Heimat gestaltet und diese immer wieder gegen die andrängenden chaotischen Mächte ver­ teidigt.«493

Im Unterschied zum gegenwärtigen Denken sieht er den Menschen als politisches Wesen in einem fahlen Licht. Spielräume der Herstel­ lung neuer Sphären behaglichen Wohnens bieten sich nach seiner Auffassung eher in privaten Milieus. Das Individuum sieht er heraus­ gefordert, nicht das politische Subjekt. So betrachtet Bollnow in einer ausgekühlten, nackten und ent­ bergenden Welt allzumal die persönlichen Dinge als rettende Anker. Sie machen für ihn in ihrer Sammlung biographischer Geschichte(n) nämlich eine gewisse Heiligung örtlicher Inseln im umfriedeten Feld des Wohnens möglich – auf dass die Wohnung (wieder) eine Welt der »glücklichen Stimmungen«494 werde. Mehr noch: »Selbst in unserer profanen Zeit behält das Haus noch immer einen gewissen sakralen Charakter, den jeder spürt«495. Diese jede Psychologie des Wohnens überhöhende Sichtweise mag noch in der Gegenwart in manchen gesellschaftlichen Nischen ihre wirklichen Milieus finden – sicher nicht in der Enge des sozialen Wohnungsbaus, viel mehr indes in den großzügigen Geschosswohnungen der Gründerzeit, dem romantizis­ tisch verklärten Einfamilienhaus am Stadtrand und dem ekstatischexklusiven Penthaus im Wohlstandsrand der modernen Metropole. In Hochzeiten einer spekulativen Immobilienwirtschaft wäre schließlich nach den ökonomischen Spielräumen zu fragen, die die Menschen – sofern sie überhaupt welche haben – nutzen können, um ihr Leben zu führen. Im Bollnow’schen Fokus drängt sich aktuell die Frage auf, was die ohnehin schon luxuriert lebenden Menschen in ihrem Wohnen zu so grenzenloser Gier nach immer Größerem und Repräsentativerem antreibt. Oder, vom anderen Ende her gedacht: Wie gelingt es denen, die im eklatanten Mangel leben, sich fatalistisch mit dem zu bescheiden, was einem Menschen kaum zugemutet werden darf? Oder ganz anders gedacht: Wie sind die gestimmt, die ihr elendes Wohnen gar nicht überwinden wollen?

493 494 495

Bollnow: Die Vernunft und die Mächte des Irrationalen, S. 80. Bollnow: Neue Geborgenheit, S. 139. Bollnow: Mensch und Raum, S. 139.

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10.2 Heute ungewohnte Blicke aufs Wohnen

Unter den Bedingungen der Corona-Krise rückt das Wohnen in einen situativen Rahmen, der in der Bollnow’schen Perspektive des erlebten Raumes nach Antworten drängt. Die indirekte Einker­ kerung der Menschen führte ja nicht nur zu einer Verringerung von Sozialkontakten und Mobilität. Sie vermittelte auch ein Gefühl des Eingesperrt-Seins und ließ Beziehungen, allzumal in prekären Wohnverhältnissen, in spannungsreiche Situationen verdriften. Wo das Wohnen seines humanen Wesens beraubt wird, wandelt es sich in einen nüchternen Aufenthalt in Räumen der Unruhe, Nervosität, Hektik und Aggressivität. Bollnows Konzept des Sich-Niederlassens und Eingelassen-Seins in den bergenden Stimmungsraum der eige­ nen Wohnung verliert sich, wenn die Menschen ohne zwingenden Grund massenhaft in ihren Wohnungen festgesetzt werden. Bollnows Denken zeigt, dass zum gelingenden Wohnen die Freiheit gehört, nach einem individuellen Plan mit subjektiv ausgewählten Menschen an beliebigen Orten sein zu dürfen. Wo diese Freiheit auf mittlere Dauer verloren geht, kehrt die Kälte und Fremdheit der Welt des Draußen ins Innere ein und das Drinnen wird zum Draußen. Bollnows anthropologische Phänomenologie ist auf den ersten Blick – wie die meisten phänomenologischen Schulen und Ansätze – apolitisch. Und tatsächlich ist seine Sensibilität gegenüber widerstrei­ tenden ökonomischen Prozessen und ideologischen Blöcken nicht besonders stark ausgeprägt. Ein Beispiel, das Bollnow selbst gibt, illustriert die Verortung der Phänomenologie in einem politischen Niemandsland, in dem es eine Welt des Kampfes um Macht, Geld und Herrschaft nicht gibt. In seinem Universitas-Aufsatz sagt er über die Verletzung der Grenzen des eigenen Hauses bzw. der eigenen Woh­ nung: »Der Bereich geht sogar weiter und bezieht sich, wenn auch in abgestufter Form, auf alles, was dem Menschen in der räumlichen Sphäre an Besitz angehört.«496 Indem er aber in der Kategorie des Besitzes zwischen Kochzeug und Immobilie nicht unterscheidet, lässt er ein gewisses Maß an politischer Unsensibilität erkennen. Bollnow denkt nicht politisch, sondern anthropologisch. So erklärt er die Tatsache, dass die Menschen sogleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit dem Wiederaufbau der Städte begonnen haben, damit, »daß alle menschliche Anstrengung nur möglich ist, wenn sie – wenn auch vielleicht unbemerkt – von einem letzten 496

Bollnow: Der Mensch und der Raum, S. 506.

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10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum

Vertrauen zur Welt und zum Leben getragen ist.«497 Er sieht in erster Linie die leibliche und gefühlsmäßige Disposition des Menschen in seiner Welt, nicht das zum Objekt werdende Subjekt, das von bein­ hart durchgepeitschten selbstsüchtigen Aktionen anderer zerrieben wird. Zielgerichtetes Handeln steht in seinem Denken des sich und seine Welt verändernden Menschen (dem heutigen Denken ganz entgegengesetzt) nicht am Anfang. Geborgenheit und Beheimatung sieht er als Voraussetzung dafür, dass sich der Mensch mit dem Ort seines Wohnens überhaupt identifizieren kann. Zielgerichtetheit folgt der gelungenen emotionalen Verwurzelung im Raum erst: »Das ursprüngliche Verhältnis des Menschen zum Raum ist das der Inkar­ nation und nicht der Intentionalität.«498 Diese Aktenzsetzung ist durchaus denkwürdig, macht sie doch darauf aufmerksam, dass alle Zielstrebigkeit im Leben in einem existenziellen Sinnzentrum ruht, das die meisten Menschen im kontemplativen Ruhepol ihrer eigenen vier Wände finden. Es könnte fälschlicherweise der Eindruck entstehen, Bollnow hätte sich dem emotionalisierenden Geist des Irrationalismus und Romantizismus angeschlossen. In einem Aufsatz, der noch vor Mensch und Raum erschienen ist, argumentiert er jedoch durch und durch engagiert gegen den Irrationalismus des 19. Jahrhunderts und plädiert für die Erstarkung aller Kräfte der Vernunft. Allzumal vor dem Hintergrund der schmerzlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges stellt er fest: »Das Wesen des Menschen als eines animal rationale ist neu zu bestimmen.«499 Das macht ihn aber zu keinem blinden Ratio­ nalisten. Er wusste zu gut, welchen Wert die Errungenschaften der Lebensphilosophie auch hatten. So wandte er sich (mit Nietzsche und Sartre) dem gefühlsmäßigen Menschen zu und damit der Sinn wie Sicherheit stiftenden Dimension der Gefühle. Der Irrationalismus ist nicht allein durch das Aufbrechen gesellschaftlich dunkler Abgründe charakterisiert; er spannt auch Horizonte guter Lebensperspektiven auf. Und das war Bollnow sehr bewusst. Ein philosophischer Zeitge­ nosse war Richard Müller-Freienfels, der mit seiner Philosophie der Irrationalität500 bekannt wurde. Besonders bei ihm wird deutlich, worum es auch Bollnow in seinem Plädoyer für die Vernunft ging: 497 498 499 500

Ebd.: S. 510. Ebd.: S. 513. Bollnow: Die Vernunft und die Mächte des Irrationalen, S. 76. Vgl. Müller-Freienfels: Irrationalismus.

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10.3 Der Mensch ist in Bewegung

die Anstrebung eines integralen Verhältnisses von Rationalität und Irrationalität. Den Bruch zwischen Gefühl und Verstand wollte er nicht. Müller-Freienfels stellte fest: »Alle großen Erkenntnisse sind intuitiv, d. h. irrational konzipiert und nur nachträglich in rationale Formen gegossen worden.«501 Und so ist auch Bollnow weit davon entfernt, irrationale Strebun­ gen als rumorende Kräfte zu begreifen und einer unkontrollierbaren Innerlichkeit finsteren Mächten zu überlassen. Sonst hätte er sich der »politischen Katastrophe unserer unmittelbaren Vergangenheit«502 nicht so bewusst sein können – vielleicht, weil er allzu gut wusste, wo Vorsicht geboten war. Wer hätte das besser wissen können, war er doch nicht nur Mitglied der NSDAP, sondern auch der SA. Kurzum, er will das Individuum wie die Gesellschaft vor blinden oder gar ekstatischen Affekten bewahren. Er weiß, dass die Rationalität nur eine Dimension der Vernunft ist, »Sitz des eigentlich Humanen im Menschen«503. Ihr Charakteristikum besteht indes darin, dass sie sich kategorial vom Verstand abhebt. Dazu sagt Bollnow selbst: »Vernunft, so schwer sie im einzelnen auch zu fassen ist, hat den Charakter einer über alle Partikularitäten hinausführenden Gemeinsamkeit.«504 In diesem Sinne wird Wolfgang Welsch im Kontext der Postmodernis­ mus-Debatte in der Philosophie viel später – fast tautologisch – von »transversaler Vernunft«505 sprechen. Deren Vermögen liegt ganz im Bollnow’schen Sinne darin, weiter auszugreifen als der Verstand, der eben nur innerhalb seines Bezirks funktioniert. Vernunft schafft dagegen kontrollierte Übergänge zwischen den Provinzen des Denkwie Fühlbaren. So sehr in Bollnows Denken des Wohnens politische Impulse auch schwach bleiben, so spielen sie in anderen seinsspezifi­ schen Facetten seines Werkes zumindest implizit eine gewisse Rolle.

10.3 Der Mensch ist in Bewegung Wohnen setzt Bewegung ebenso voraus wie es sich in ihr ausdrückt. Noch nicht einmal der sesshafteste Mensch wohnt »auf der Stelle« – 501 502 503 504 505

Müller-Freienfels: Philosophie der Individualität, S. 96f. Bollnow: Die Vernunft und die Mächte des Irrationalen, S. 82. Ebd. Ebd.: S. 86. Welsch: Unsere Postmoderne Moderne, S. 295.

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10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum

wenn er sich in der Stadt auch anders bewegt als auf dem Lande. Am Beispiel von Weg und Straße kommt nicht nur ein materielles Welt­ substrat in den Blick, sondern eine Sphäre, in deren spürbarem Milieu die Objekthaftigkeit von Straße, Weg und Platz zugunsten des erleb­ ten Raumes zurücktritt. In ihm situiert sich der Mensch, wie er durch diesen situiert wird. In Bewegungsräumen506 konstituiert sich auch eine Psychogeographie der Stimmungen. Bollnow spricht nicht expli­ zit vom atmosphärischen Raum, aber vom gestimmten Raum. Das ist insofern verwunderlich, als er wenige Jahre vor Mensch und Raum bereits ein Büchlein mit dem Titel Die pädagogische Atmosphäre507 publiziert hatte. Das deutet darauf hin, dass er Atmosphären gar nicht (wie gegenwärtig in Philosophie und Phänomenologie üblich) als etwas Räumliches auffasst, sondern als eine Erlebnisqualität der sozialen Welt. Wo sich die Menschen des Gehens willen bewegen und sich kontemplativ ins spürbare landschaftliche Herum versenken, mögen Stimmungen der Ruhe und Gelassenheit in Gefühlen »lebendiger Einheit«508 aufgehen. Aber das So-Sein auf einem Weg kann auch mit dunklen Zügen überraschen und Gefühle der Entbergung, Beengung und Beängstigung aufsteigen lassen. Bollnow richtet seinen Blick auf gelingende Wege der Beheimatung. Die dystopische Seite des Lebens dräut eher in einem bedrückenden Hintergrund der gerade überwundenen Geschichte des Dritten Reiches. Bollnow muss immer wieder gegen den Strich gelesen werden, um seine Gedanken über erkenntnistheoretische Grenzen hinaus weiterführen zu können. So fordert auch das Gefühlsbild der Beheimatung im trauten Famili­ enheim das von ihm weitgehend ausgeklammerte Bedenken von Vexiergestalten heraus, denn: Die Menschen wohnen ja auch dann noch im »Familienheim«, wenn sie im Scheitern eines misslingenden Lebens feststecken, wenn das umfriedende Glück der Zweisamkeit dahin ist und sie in ihrem Elend nicht mehr weiterwissen. Martin Heidegger merkte mit Recht an, dass das Wohnen immer wieder aufs Neue gelernt werden muss. Das trifft auch auf sein Bedenken zu – auf das Bedenken des ortsfesten wie des wandernden Wohnens. Für Bollnow ist der hodologische Raum (der Raum der Bewegung) ein großes Thema, das sich dem erlebten Raum unterordnet. Die 506 507 508

Vgl. Hasse: Die bewegte Stadt. Bollnow: Die pädagogische Atmosphäre. Bollnow: Mensch und Raum, S. 113.

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10.3 Der Mensch ist in Bewegung

Wege durch die (bei Bollnow tendenziell romantisierte) Landschaft erschließen allerdings andere Bewegungswelten als die Stadtstraßen mit ihrem überbordenden Verkehr. Der Mensch bewegt sich aber nicht nur allokativ. Er ist auch bewegt und erfährt sich als ein emotional Bewegter: Wenn er so oder so geht, auf der Stelle steht, auf verwunschenen Pfaden dahinschleicht oder auf abgaserfüllten Hauptverkehrsachsen voraushetzt. Mit Sartre weist Bollnow auf die Macht der Situierung des Selbst durch Bewegung im Raum hin. Der Mensch ist aber a priori in seiner Welt situiert – durch seine Handlungen wie durch sein GeworfenSein in einem existenziellen Sinne. Bollnows phänomenologischer Blick ist auf die Leiblichkeit der Bewegung gerichtet. Dabei kommt es nicht auf körperliche Muskelkraft an, sondern auf das weitende oder beengende Gespür im Gehen, Laufen oder Stehen. Deshalb ist die Leiblichkeit auch als ein auto-seismographisches Medium zu verstehen. Das befindliche Ergehen gibt gleichsam »Auskunft« über das habituelle Gefühl des eigenen Selbst. Im Gehen äußert sich ein »spezifisches Seins- und Wirklichkeits­ verhältnis«509. Dies dürfte noch in spätmodernen High-Tech-Zeiten der Fall sein, wo sich Heerscharen eher jüngerer als älterer Menschen mit dem Blick auf den Screen ihres Smartphones gleichsam einbetten, sich gegenüber der Welt des Herum abspalten und sinnlich in einer technischen Sphäre verinseln. Was in unserer Zeit anstünde, wäre eine Phänomenologie des Smartphone-Gebrauchs in Bewegung. Im Bollnow’schen Sinne hätte sie offenzulegen, welche gefühlten Bezie­ hungen zum eigenen Selbst wie zur sozialen und herumwirklichen Welt sich in diesem rein selbstbezogenen Sozialraum der Enge ent­ spinnen.

Inspiriert Bollnow das sozialwissenschaftliche Denken in der Gegen­ wart? Was sich am Werk Bollnows erkennen lässt, darf mit gewisser methodologischer Vorsicht auf andere phänomenologische Traditio­ nen übertragen werden. Mit wenigen Ausnahmen (man denke an Jean Paul Sartre oder – viel später – Bernhard Waldenfels und Michel Henry), bleibt Phänomenologie gegenüber den Gegenständen 509

Ebd.: S. 120.

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10. Zur Aktualität von Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum

und Herausforderungen des Politischen oft stumm. Gleichsam »zwi­ schen« Anthropologie und Psychologie wirkt sie mitunter hilflos. Das ist schwer nachvollziehbar. Vor allem deshalb, weil es gerade die philosophischen Denkwege der Phänomenologie sind (von Edmund Husserl über Maurice Merleau-Ponty bis Bernhard Waldenfels und Hermann Schmitz), die ein theoretisches und begriffliches Instru­ mentarium liefern, das dafür prädestiniert wäre, in die Tiefen jener kulturindustriellen Abgründe zu leuchten, in denen das Subjekt in der Kolonisierung seiner leiblichen Resonanzfähigkeit an die Grenzen seiner Autonomie getrieben wird. Im detaillierten Wissen um die atmosphärisch spürbare Bedeutung des Raumes ließe sich das Projekt der kritischen Sozialwissenschaften in seiner analytischen Schärfe optimieren und damit letztlich auch wirkungsvoller betreiben. Die Reflexion jener Themen, die in der Mitte von Bollnows Mensch und Raum stehen, erfordert vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Ausdrucksgestalten eine kritische Fortschreibung. Darin spielen u. a. die folgenden Themen eine wichtige Rolle: die Implikationen der menschlichen Bewegung, das Erleben der Weite, Ferne und Fremde der Welt, die emotionale Einstimmung der Woh­ nenden auf Orte und Räume ihrer näheren wie weiteren Umgebung, die Berührbarkeit der Menschen durch alle möglichen (mythischen) Raumprogrammierungen, die symbolischen und synästhetischen Bedeutungen von Tür und Fenster und vieles andere mehr. Bis heute kommt es jedoch auf der Schwelle von Phänomenologie und Sozial­ wissenschaft nur ausnahmsweise zu einem produktiven Austausch. Gerade angesichts globaler Krisen und Probleme der Menschheit bietet sich das Werk Bollnows der kritischen Rezeption an.

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11. Vom Weniger an Vielem zu einem Mehr im Ganzen – Obdachlosigkeit und die Frage nach dem Wohnen in der Zukunft –

Das folgende Kapitel rückt die Frage in den Fokus, ob und inwie­ weit obdachlose (bzw. wohnungslose) Menschen wohnen. Zumin­ dest auf den ersten Blick mag allein die Frage paradox erscheinen. Sie setzt aber nicht auch schon voraus, dass Obdachlose im Sinne des gesellschaftlich vorherrschenden Verständnisses wohnen. Die zu leistende Reflexion wird der Frage nachgehen, in welcher Weise das bürgerliche Wohnen »der Leute« in der Polarisierung mit dem entbehrungsreichen Leben Obdachloser seine Selbstverständlichkeit verlieren könnte, um zu einem Thema radikaler Zivilisationskritik zu werden. So betrachtet, stellt sich die Art und Weise des Aufenthalts Obdachloser an wechselnden Orten als eine Form existenziellen DaSeins dar und damit als das ganz Andere dessen, was in mehrheitlich gut versorgten, zufriedenen Gesellschaften der westlichen Welt als »wohnen« gilt. Mit diesem Verständnis von »wohnen« hat das Leben jener Menschen nicht das Mindeste zu tun, die weder ein Dach über dem Kopf haben, noch sich in eigene vier Wände minimalster Privatheit zurückziehen können. Im Jahre 2018 waren in Deutschland 678.000 Menschen obdachlos.510 Obdachlosigkeit kennt viele Gründe, die in ganz unter­ schiedlichen Lebenssituationen und -geschichten wurzeln. Zum Teil sind sie Ausdruck des Verlaufs einer individuellen Biographie, oft aber auch Folge gesellschaftlich, politisch, regional- oder national-ökono­ misch benachteiligender Situationen. Längst nicht jede Form des Aufenthalts an einem Ort entspricht dem, was der common sense »wohnen« nennt (weder das erzwungene Seit 2016 entfällt mehr als die Hälfte der Betroffenen auf die Gruppe der Flüchtlinge; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36350/umfrage/anzah l-der-wohnungslosen-in-deutschland-seit-1995/#professional (02.09.2021).

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11. Vom Weniger an Vielem zu einem Mehr im Ganzen

Einsitzen in einem Gefängnis, noch die verordnete Zeit in einer psychiatrischen Klinik oder – ganz anders – der Aufenthalt auf einem Schiff für die Dauer einer Passage). Auch wenn vielleicht gerade Obdachlose aufgrund der Flüchtigkeit ihres oft nur vorübergehenden Bleibens an einem Ort als freie Menschen erscheinen mögen, so ist dies doch nur eine Scheinfreiheit. Auf den zweiten Blick ist sie eher Spiegel existenzieller Not. Das obdachlose Heute-hier-und Morgendort-Sein ist kein Wohnen im bürgerlichen Sinne. Aber auch dieses Wohnen nimmt trotz aller Fixierung auf den festen und sicheren Ort der Wohnung nie allein die Räume eines Wohn-Hauses in Anspruch, sondern ebenso den offenen Raum der Stadt. Schon in der griechi­ schen Philosophie ist es gerade der urbane Raum, der den Menschen für die zweckgemeinschaftliche Bewohnung dient.511 Der Bestim­ mung der Wohnung als monadenhaftem oder gar festungsartigem Raum steht außerdem eine Reihe metaphorischer Bedeutungen der Wohnung entgegen, die das Denken zugunsten nicht-konventioneller Wohnformen öffnen.512

11.1 Bilder des Wohnens und Nicht-Wohnens Die obdachlose Existenz ist und bleibt in ihrer gewissen Ortlosigkeit auf die Idee und Praxis bürgerlichen Wohnens bezogen – insbe­ sondere dann, wenn sie als »Problem« definiert wird. Zumindest implizit wird ihr Defizienz-Charakter an der Fülle gesellschaftlich gewohnten (oder zumindest erwarteten) Haben- und Sein-Könnens gemessen. Damit fungiert das bürgerliche Wohnen als Projektionsmi­ lieu, an dem das improvisierte und mobile Leben »auf der Platte« gemessen wird. So zentriert der Begriff der Wohnungs-LOS-igkeit Vgl. Rabe: »Haus«, Sp. 1007. Nach Martin Luther ist das Herz ohne Glauben »des Teufels Wohnung und Herberge« (DWB: Band 30, Sp. 1233) in einem entmaterialisierten Sinne. Wohnung ist hier nur noch imaginärer Ort, zu dem etwas gehört – im Guten wie im Schlechten. Umgekehrt kann Wohnung auch sein, wo Christus und der Heilige Geist in den Menschen eingeht (ebd.: Sp. 1234). Der Gott zugewandte Mensch wird hier selbst zur Wohnung Gottes. Gott wohnt also im Menschen, hat sich im Sinne der christlichen Mythologie in ihm auf Dauer niedergelassen. Wenn schließlich die Eitelkeit als »Woh­ nung« angesehen wird (vgl. ebd.: Band 30, Sp. 1234), so kommt mit dem Wohnen eine Art des Lebens zur Geltung, in dem es gar nicht mehr auf das Sich-Einrichten in einem Zimmer ankommt, sondern auf eine Kultur des eigenen Selbst. 511

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11.1 Bilder des Wohnens und Nicht-Wohnens

ausschließlich den Mangel. In der Folge kommen mögliche Formen des Wohnens ohne eine gewöhnliche Wohnung noch nicht einmal »theo­ retisch« als Denkmodell in den Blick. Maßstab jeder Kritik ist die in der Mehrheitsgesellschaft vorherrschende Form selbstverständlichen Wohnens. In diesem Sinne stellt auch das Bundesverwaltungsgericht fest: »Der Begriff des Wohnens ist durch eine auf Dauer angelegte Häuslichkeit, Eigengestaltung der Haushaltsführung und des häusli­ chen Wirkungskreises sowie Freiwilligkeit des Aufenthalts gekenn­ zeichnet.«513 Zunächst knüpfen auch die Brüder Grimm das Wohnen an eine Wohnung in einem Wohnhaus. Aber sie kennen auch ein räumlich weiter gefasstes Verständnis. Danach umfasst der Wohnraum auch das Siedlungsgebiet, in dem sich die Menschen niederlassen, um ihr Leben zu führen.514 Der »feste« Platz eigenen Wohnens ist als »Wohnsitz«, d.h. jener Ort, an dem sich eine Person für eine gewisse Zeit niederlässt. Solches Wohnen richtet sich an einem Ort ein und strebt in seiner Verstetigung das Bleiben an.515 Dessen Dauer kann sich vom vorübergehenden bis lebenslangen Aufenthalt erstrecken. Kein wohnendes Bleiben setzt in seiner temporären Form aber eine ortsfeste Behausung voraus. Der in seinem Zelt lebende Nomade bewohnt einen gleichsam wandernden Ort. Von Dauer ist auch dort, was bleibt: das Zelt mit seinen hauchdünnen »vier Wänden«, die Menge der stets mitgenommenen Dinge und die Art und Weise, im »eigenen Raum« ein Leben nach Traditionen, Ritualen oder praktisch wiederkehrenden Abläufen zu führen. Schließlich widerspricht noch nicht einmal das Ziehen von einem Ort zum anderen dem bleibenden Wohnen. Der Wechsel zwischen verschiedenen Orten vorübergehen­ den Aufenthalts läuft doch nur auf ein relatives Bleiben hinaus, ein Sich-Einrichten an einer Stelle im Raum für eine bestimmte Zeit. Das Pendeln zwischen verschiedenen Wohnsitzen gehört schon lange zur Kultur spätmoderner Großstadtnomaden der gehobenen Mittel­ schicht. Der Obdachlose hat keine »feste« Wohnung – weder eine, geschweige denn mehrere. Er flottiert zwischen Orten, die proviso­ risch mehr an- als eingerichtet werden. Nach § 21 der Gemeindeord­ nung NRW ist jemand, der keinen festen Wohnsitz hat, auch kein 513 514 515

BVerwG 4 B 302/95 – 25.03.1996. DWB: Band 30, Sp. 1226. Vgl. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 35.

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11. Vom Weniger an Vielem zu einem Mehr im Ganzen

»Einwohner«. Aber da ihm die Stadt, in der er sich – wenn auch nur unregelmäßig und gleichsam »flottierend« – aufhält, einen Ausweis ausstellen muss, ist er doch ihr Bürger, wenn auch ein wohnungsloser. Da er nicht als Einwohner gilt, kann er sich (im melderechtlichen Verständnis) auch nicht im Sinne der Sesshaftigkeit ein-wohnen. Das heißt aber nicht, dass er sich nicht im philosophischen Sinne in ein »wanderndes Wohnen«516 ein-leben könnte. Aber dies ist kein Ein­ wohnen, das dem Auswohnen aus einer (eher freiwillig als erzwun­ genermaßen) aufgegebenen Wohnung gegenüberstünde. Wer seine Wohnung verliert (z. B. durch Kündigung, Rauswurf oder Vertrei­ bung), dem ist letztlich auch das Auswohnen verwehrt.517 Eine dysto­ pische Wohnkarriere ermöglicht keine psychologische Entbindung, die sich in der hoffnungsvollen Perspektive neuen Einwohnens der emotionalen Verarbeitung des erlittenen Verlustes anbieten würde. Ein Verlust ist ein Bruch, ein Schnitt, ein Abriss. In eine sich öffnende Wohngeschichte führt er nicht. Für Erwartung und Hoffnung gibt es keinen Grund. Am »Ende« geht die Perspektive ins Offene, Entbor­ gene und Unbehauste. Das ist das Andere jeder vorstellbaren bürger­ lichen Wohnkarriere.

11.2 Obdachloses versus schönes Wohnen Wie es klischeehafte Vorstellungen »schönen« Wohnens in der Mitte der Gesellschaft gibt, so grassieren in den Massenmedien Stereotype der Obdachlosigkeit. Sie drücken sich mit Nachdruck in ikonographi­ schen Klischees aus, in Bildern vom Charakter der Visiotype.518 Zu den erratischen und sich gleichsam von selbst reproduzierenden Vor­ stellungen gehört der auf einer Parkbank oder vor dem Nebeneingang einer Kirche schlafende Obdachlose. Meistens samt ein paar alten Plastiktüten, einem zerfledderten Bündel zerschlissener Kleidungs­ stücke, oft noch einem Schlafsack und einer Isomatte – das alles dicht zusammengequetscht auf einem Stück quasiterritorialer Wellpappe. Diese und ähnliche Vorstellungen vom »armen Obdachlosen« werden schon vom Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm ver­ Guzzoni: Wohnen und Wandern, S. 19. Zur Polaritiät von Ein- und Auswohnens vgl. auch Hasse, Wohnungswechsel, bes. Kapitel 4. 518 Vgl. i.d.S. Pörksen: Weltmarkt der Bilder.

516 517

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11.2 Obdachloses versus schönes Wohnen

breitet: »und jetzt irrte er … schlimmer als ein bettler, obdachlos, freundlos, hilflos in ferner fremde umher«519. Dem Mangel des sprich­ wörtlichen Daches über dem Kopf werden gleich drei weitere Merk­ male hinzugefügt: Freundlosigkeit, Hilflosigkeit und das Leben in fer­ ner Fremde. Solche Stereotype funktionieren wie grobe Holzschnitte: als reduktionistische Simplifizierungen. Kontexte, Hintergründe und Facetten der Denkwürdigkeit werden ausgeblendet. Schließlich ist das massenmedial zirkulierende Bild des Obdachlosen zumindest auf einem verdeckten Niveau negativ konnotiert. »Störende« sinnliche Eindrücke und eine Beeinträchtigung des öffentlichen Raumes sind von zentraler Bedeutung. Dagegen rutscht der Sachverhalt einer im Ganzen aus dem Lot geratenen und überaus fragilen Lebenssituation auf den Rang einer Fußnote. Eine sich mit Nachdruck reklamierende Reflexion der medien­ soziologischen Wirkung solcher und ähnlicher Klischees müsste sich dem Prozess der Zuschreibung von Eigenschaften höchst »bemitleidenswerter« und »bedauernswürdiger« Lebenswirklichkei­ ten Obdachloser widmen. Kritik dieser Art wird von den verschie­ denen sozialwissenschaftlichen Disziplinen besorgt. Aber auch im Fokus lebensweltlichen Denkens ist prinzipiell ein kritischer Umgang mit Stereotypen möglich. Dennoch sind Praxis und Verständnis bür­ gerlichen Wohnens in der Mehrheitsgesellschaft so mächtig, dass selbst das sozialpolitisch noch so engagierte Bedürfnis, neue Wege des Bedenkens zu gehen, schnell im Keim erstickt. Mit anderen Worten: In den normativen Netzen einer nach bürgerlichen Wert- und Realitätsvorstellungen geordneten Welt hängt auch die Gewissheit einer diffusen »Normalität« gewohnten Wohnens. Mehr noch: Das Wissen um die möglichen Formen dystopischer Abweichung nach »unten« macht es in gewisser Weise erst zu einem richtigen oder gar guten Wohnen.520 Die Massen hängen am Gewohnten, und dieses verdankt sich einer sedierenden Macht, die auf die Vermeidung kritischen Nachdenkens über das Gewohnte hinausläuft. Mindestens möge es weitergehen, wie es immer war. In den sozioökonomischen Eliten und noch den bürgerlichen Mittelschichten soll das Wohnen dagegen keineswegs weitergehen wie es war. Es soll besser werden, größer und vor allem exklusiver als das derer, die man kennt. Man kann immer noch größer, besser und schöner wohnen als je zuvor. 519 520

DWB: Band 13, Sp. 1065. Vgl. dazu auch Kapitel 13.

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Dabei strebt die wohnende Distinktion nach der wirksamen und für jedermann sichtbaren Exklusion gegenüber der »Masse«. Unbedacht bleibt dabei, dass auch das protzige bis dekadente »Besser«-Wohnen selbst schon längst in einer Masse stattfindet.521 Die medialen Gesten des Zeigens auf das in die Obdachlosigkeit mündende Scheitern des Wohnens zielen nur ausnahmsweise auf die Stiftung von Denkwürdigkeit. Allein oberflächliche Kritik dringt aber nicht vor zur Reflexion diskursiver Praktiken der Produktion fixer Bil­ der des »armen« Obdachlosen, noch zur dialektischen Analyse jener Architekturen und Objekte, die zu ihrer Vergrämung im öffentlichen Raum platziert werden (u. a. durch gerundete Sitzflächen von Bänken und vertikalen Armstützen zwischen den Sitzen). Mit weitaus größe­ rer Reichweite der Kritik an gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen reklamiert sich indes der Blick auf jene Formen obdachlosen Lebens, die unter der Bedingung global kippender ökologischer Systeme eine produktive Kontrastfolie der Bewertung des Wohnens im Allgemeinen bilden könnten. Es ist insbesondere die nomadische Unterausstattung mit dem Nötigsten im täglichen Leben Obdachloser, die die Frage nach der Bewusstmachung der Bedürfnisse bürgerlichen Wohnens provoziert. Dann rückt die temporäre Verortung Obdachloser im Raum der Stadt in ganz anderer Weise ins Fadenkreuz der Bedenklichkeit als in der massenmedialen Routine einer mindestens implizit abwertenden Fokussierung von Problemen der Hygiene, der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung. Zum Thema werden nun u. a. immobilienöko­ nomische Exzesse und der sozioökonomische Übermut exaltierten Luxuswohnens. Die bürgerliche Idee des Wohnens strebt nach quan­ titativem wie qualitativem Wachstum (wenn angesichts eines radikal überteuerten Wohnungsmarktes auch mehr in der Imagination als in der Praxis) und nicht nach Beschränkung, Begrenzung und Verzicht. Das Tiny House dürften die meisten Menschen deshalb als einen alter­ nativen Witz betrachten, bestenfalls als innovative Idee, die andere leben mögen. Dagegen ist das Penthaus mit Palmen für zahllose Normal-Wohnende ein Traum glücklichen Lebens – gleichsam das Phantasma gegen unüberwindbare sozioökonomische Realitäten.

521 Schon le Bon wusste, »dass der Überschwang der Massen sich nur auf die Gefühle und in keiner Weise auf den Verstand erstreckt«; le Bon: Psychologie der Massen, S. 55.

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11.3 Wohnen – ein Modus existenzieller Bewegung

11.3 Wohnen – ein Modus existenzieller Bewegung Wenn es auch jeder lebensweltlichen Plausibilität widerspricht, das obdachlose Leben als eine Form des Wohnens zu begreifen, so soll diese spezifische Lebenspraxis (eine tagtäglich immer wieder aufs Neue notwendig werdende Verortung im Raum) doch umso mehr den Ausgangspunkt einer nicht zuletzt ökologisch bedeutsamen Frage positionieren: Was macht das Wesen des Wohnens aus? Nicht des »schönen«, bequemen oder zufriedenen, sondern des existentiellen Wohnens. Dabei muss explizit vorangestellt werden, dass Wohnen keine Tätigkeit im üblichen Sinne ist. Geradezu kategorial unterschei­ det es sich von allen nur erdenklichen Verrichtungen des täglichen Lebens. Es ist – wie das Leben – eine existenzielle »Untätigkeit«. Martin Heidegger hat deshalb auf den tiefen etymologischen und lebenspraktischen Zusammenhang von Bauen und Wohnen aufmerk­ sam gemacht, wobei das Bauen in seiner schöpferischen Dimension den Rahmen des Wohnens absteckt. In der Wahl der Möglichkeiten, die Wohnung oder das Wohnhaus im Sinne des Herstellens und Einrichtens so oder anders zu »bauen«, hebt sich die Baukultur als architektonische Praxis vom Bauen der Tiere ab, an dessen Ende z. B. ein Nest steht, das im Prinzip immer denselben artspezifischen Erfordernissen gerecht wird, aber nie ästhetisch (»schön« oder »häss­ lich«) gestaltet ist. Eine weiter gefasste Bedeutung des Bauens hängt insofern mit dem Wohnen zusammen, als Menschen im Sinne des Einziehens, Einrichtens und Einwohnens nicht nur ihre Wohnung »bauen«522, sondern mehr noch ihr eigenes Leben. Daher weisen die etymologischen Wurzeln von bauen und wohnen auch unmittelbar auf existieren und sein.523 In diesem existenziellen Sinne versteht Martin Heidegger auch das Wohnen als »die Weise, wie die Sterblichen auf der Erde sind. […] Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen.«524 Leben ist Wandel, der bestimmten Bahnen folgt. Diese sind nicht nur kulturell und psychologisch vorgeprägt; ihre Richtungen resultieren auch aus extern disponierten Ereignisketten. Vor allem nach dem Übertritt in eine neue Lebenssituation werden mittelfris­ 522 523 524

DWB: Band 1, Sp. 1170. Ebd.: Sp. 1170f. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 35 und 45.

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tig mindestens zufriedenstellende Lebensbedingungen angestrebt. Dabei folgen die Modi des Wohnens denen des Lebens. Es ist nicht das Wohnen in einer kleinen und einfachen oder großen und luxuriösen Wohnung, das das Leben bestimmt. Viel mehr ist der Sachverhalt, dass jemand »nur« in einer kleinen und einfachen und nicht in einer großen und luxuriösen Wohnung wohnt, das Spiegelbild von Biographie und Lebenssituation. Dabei kommt es nicht darauf an, ob jemand für seine ökonomischen Möglichkeiten hart gearbeitet hat oder durch Spekulation oder gar Korruption zu Geld gekommen, durch Pech in eine Lebenskrise geraten ist oder seinen Wohlstand einfach nur dem Glück der Patronage zu verdanken hatte. Wie ein Mensch lebt, ist Ausdruck begünstigender und benachteiligender Lebensgeschicke und -wege, aber stets auch Resultat von Zufällen. Der sachverhaltliche Rahmen (was in einem persönlichen Leben ist) setzt die Bedingungen, innerhalb derer sich eine Person in seine Welt einwohnen kann. Mit anderen Worten: Die Orte des Wohnens sind die Bühnen alltäglicher Choreographien des Lebens. Damit rückt auch das Leben Obdachloser in den Fokus des Semi- oder Quasi-Wohnens zum einen bzw. des existenziellen Wohnens zum anderen. Wenn ein dystopischer Wandel in akuter Not wurzelt, muss sich das Wohnen im Allgemeinen in einen restriktiven Rahmen des Nur-noch-Möglichen fügen. Wenn sich dagegen eine anfänglich noch als Übergang suggerierende Situation am Ende dann doch als Sackgasse erweist und nicht als Schwelle zu einem Besseren, gerät das Leben in eine von Grund auf prekäre Lage – und damit das Wohnen. Wenn Leben Bewegung ist, dann ist auch das Wohnen nichts Starres, das zum Leben auf rätselhafte Weise hinzukommt, sondern eine Form des So-Seins in einem individuellen Leben. Wer unfreiwillig525 in die Situation der Obdachlosigkeit gerät, befindet sich darin nicht, weil sein Wohnen misslungen, sondern sein Leben aus der Bahn geraten ist. Wer in der Obdachlosigkeit schließlich nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer festsitzt, büßt die Freiheit existenzieller Selbst-Bewegung in seinem Leben ein. Die Paradoxie könnte größer kaum sein: Der Verlust der Freiheit, sich nach Belieben im Raum von Ort zu Ort zu bewegen, mündet ins Schicksal einer allokativen Dauerbewegung. An die Stelle des freien existenziellen Es mag rare Fälle geben, in denen die Obdachlosigkeit gewählt wurde und nicht Resultat schicksalhafter Kaskaden dystopischer Ereignisketten ist. Für diese Fälle müsste eine von Grund auf andere »Erzählung« der Obdachlosigkeit geschrieben wer­ den. 525

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11.3 Wohnen – ein Modus existenzieller Bewegung

Willens tritt die bedingte Freiheit der nur noch motorischen Bewe­ gung. Frei sind die wählbaren Orte dann aber auch nur in engen Grenzen, denn lange nicht auf allen Plätzen und an allen Orten werden Obdachlose toleriert. Wer keine Wohnung mehr hat, ist in gewisser Weise zwar immer in Bewegung, zugleich gehört er aber auch gerade deshalb nirgends hin. Wer wie – ein Wohnungsloser – zur allokativen Dauerbewegung verurteilt ist, muss sich seine Orte des prekären Aufenthalts immer wieder von vorn schaffen. Dabei sind die Übernachtungsstätten der Obdachlosen – wie der Name schon sagt – am Tage noch nicht einmal zugänglich. Leerstehende sowie ungenutzte Gebäude können nur temporär in Anspruch genommen werden. Oft ist schon der Zutritt ein Rechtsverstoß, weil legale Eigentumsansprüche eine Immobilie »schützen«. Selbst praktisch von niemandem genutzte »Resträume« wie menschenleere Arkaden unter Bahntrassen oder Seitengräben neben den Fahrbahnen von Unterführungen sind insofern potentiell umkämpfte Zonen, als sie im Prinzip noch nicht einmal als Notunterkünfte gegen Wind und Wetter von obdachlosen Menschen in Anspruch genommen werden dürften. Wenn das Wohnen auch – wie Heidegger sagt – dem Bleiben dient, so meinte er mit diesem Bleiben doch nicht nur das faktische Da-Sein an einer Stelle im Raum, sondern das Bleiben an einem behagenden bzw. umfriedenden Ort. Das dem Wohnen unmittelbar dienende Bauen ist deshalb auch ein umfriedendes Bauen – im Unter­ schied zum Bauen von Straßen und Bürotürmen. Das temporäre Sich-Niederlassen einer obdachlosen Person auf einem Quadratme­ ter weggeworfener Wellpappe vor dem Eingang eines abendlich geschlossenen Modehauses ist vom umfriedeten Da-Sein an einer Stelle im Raum im Heidegger’schen Sinne jedoch weit entfernt. Wenn die oft gefahrvollen Resträume der Obdachlosen schließlich auch noch »verbaut« bzw. unbenutzbar gemacht werden, dient das Bauen gar nicht mehr dem Wohnen, sondern dessen Zunichte-Machung. Dann entfällt zugleich die dem Wohnen eigene Sorge um die Sicherung eines guten Ortes für das eigene Leben. Wie und wozu sollte ein Mensch, der nicht nur das radikale Scheitern an sich selbst erfahren hat, auch noch in der Sorge »über-sich-hinaus«526 sein?

526

Heidegger: Sein und Zeit, S. 192.

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11.4 Das Wohnhaus – eine Enklave Die Wahrnehmung und Bewertung der Lebenssituation Obdachloser hängt in besonderer Weise mit der Bedeutung des Hauses als Hort ortsfesten Wohnens zusammen. In der bürgerlichen Lebensform ist das Haus der eigentliche Ort gedeihlichen Wohnens. Bis ins 19. Jahr­ hundert konstituiert sich in ihm die Welt der ehelichen Gemeinschaft und das Zentrum bürgerlichen Lebens. Wertfrei ist es nie verstanden worden. Mit anderen Worten: Das Haus war zu keiner Zeit nur eine Unterkunft, vielmehr Hort eines Herrschaftsverbandes527, der die sozialen Beziehungen regulierte. Dies waren meistens Beziehun­ gen zwischen Ungleichen; die Begriffe »Hausherr«, »Hausfrau« und »Hausmutter« deuten weniger auf Rollen hin als auf Herrschaftsver­ hältnisse.528 Zwar wird das Haus seit Ende des 18. Jahrhunderts vermehrt zu einem Privatbereich; aber auch der steht weiterhin unter der Macht einer »hausherrlichen Regentschaft«529. Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert kommt es zu einer Auflehnung gegenüber dem traditionellen Ideal des häuslichen Lebens.530 Kurzum: Schon im Begriff der Obdach- oder Wohnungslosig­ keit steckt ein Hinweis auf den Mangel eines festen Verweil- und Lebensortes. Mit einer unverkennbar suggestiven Macht impliziert der Begriff aber auch eine Fußnote zur symbolischen Abwehr gesell­ schaftlich nicht tradierter Lebensformen. Die offensichtliche Abwer­ tung setzt sich in einer zweiten substraktionsanthropologischen Min­ derung fort. Danach mangelt es obdachlosen Menschen an Dingen, die sie infolge ihres wandernden Wohnens nur äußerst begrenzt (bestenfalls in kleiner Zahl) mit sich herumtragen können. Wer wohnt, braucht Platz – nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Unterbringung der Wohn-Dinge. Der Ort, an dem die Dinge des täglichen Lebens versammelt werden, ist seit Aristoteles das Wohn­ haus.531

527 528 529 530 531

Vgl. Rabe: »Haus«. Sp. 1009. Ebd.: Sp. 1010. Ebd.: Sp. 1018. Vgl. ebd.: Sp. 1019. Vgl. ebd.: Sp. 1011.

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11.5 Die Dinge und ein verlorengegangenes Leben

11.5 Die Dinge und ein verlorengegangenes Leben Auch Obdachlose haben Dinge, die ihnen in ihrem Leben unverzicht­ bar sind; und sie werden an Orten versammelt, wenn auch nur an Plätzen vorübergehenden Aufenthalts. Diesen Verortungspraktiken liegen Ordnungen zugrunde. Zum einen sind sie Ausdruck einer praktischen Rationalität der Konzentration des Zuhandenen, zum anderen geben sie symbolische Beziehungen zum eigenen Selbst wie zur sozialen Welt zu verstehen. Während die Ordnung der Dinge in der bürgerlichen Gesellschaft (sub-) kulturell überlieferten und den meisten Menschen verständlichen Codes folgt, sind die symbo­ lischen Beziehungen in den Verortungspraktiken der Obdachlosen weitaus kryptischer und daher schwer bis gar nicht zu entziffern. Der dem Klischee entsprechende provisorische Übernachtungsplatz mit Schlafsack, Isomatte, ein paar Kleidungsstücken und einer Jutetasche scheint auf den ersten Blick nicht viel mehr auszudrücken als die evidente Not der Wohnungslosigkeit. Wer kein Bett mehr hat, weder einen Herd, noch das einfachste Bad und noch nicht einmal vier Wände als privates Refugium, der muss in seinem Leben »auf der Patte« selbst seine persönlichsten Dinge den Blicken anderer ungefil­ tert preisgeben. Im Offenen gibt es keinen Rückzug in umfriedete Nischen der Privatheit. Aber so einfach ist es nur auf den ersten Blick. Die Orte des tem­ porären Aufenthalts sind in ihrer kryptischen Symbolik und Bedeu­ tung für das Da-Sein in einem Raum der »Almende« oft viel komple­ xer als sie zu sein scheinen. In der Anordnung der unterschiedlichsten Gegenstände drücken sich mitunter nicht nur – wenn überhaupt – Gebrauchskulturen aus, sondern viel mehr Erinnerungen an das »normale« Wohnen oder entsprechende Wunschprogramme. Weil das obdachlose Leben gleichsam zwangsläufig bürgerlichen Normen nicht gerecht werden kann, bleiben sichtbare Ordnungen der Dinge oft rätselhaft. Während Schlafsack und Isomatte an einem Schlafplatz noch eine funktional evidente Bedeutung suggerieren, lässt sich der verdeckte Sinn vieler Dinge noch nicht einmal erahnen; vor allem dann nicht, wenn sich schon ihre Existenz der Logik existenzieller Not scheinbar widersetzt: Blumentöpfe mit gegossenen Pflanzen, eine Kühltruhe (ohne Stromanschluss), ein Kuscheltier, eine Mikrowelle (unter einer Brücke), eine Blumenvase mit ein paar »frisch verwelk­ ten« gelben Rosen. An diesen Dingen scheinen weniger nützliche Gewohnheiten des Alltags vor als Spuren eines verlorengegangenen

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Lebens. Vielleicht sind sie hauptsächlich autosuggestive Medien, um den aktuellen Ausnahmezustand wenigstens symbolisch abzuweh­ ren. Aus all dem ragen Signaturen subjektiver Betroffenheit hervor – und damit letztlich Chiffren, deren Verstehen dem Blick von außen weitgehend versagt bleibt. Die »exzentrischen Dinge« weisen auf etwas hin, das sich nicht deuten lässt, weil die hinter ihnen liegenden Sinnzusammenhänge unter der Arkade einer Bahnanlage oder vor dem Hintereingang eines Kaufhauses nicht sichtbar sind. Irritierende Arrangements werfen in ihrer Bedenklichkeit dagegen umso mehr Fragen auf und rücken das eigene Wohnen mit den schönen Dingen in gesicherten Räumen in ein anderes Licht. Die Bedeutung der Dinge ändert sich oft mit ihrer Plat­ zierung, also auch mit dem Wandern der Menschen. Das ganz andere Leben Obdachloser deutet deshalb im Erscheinen mitgenommener Sachen auch auf etwas hin, das aus der Sicht bürgerlichen Lebens kaum verstanden werden kann. Umso mehr gäbe es uns aber gerade darin etwas zu verstehen: Dass sich zwischen der biographischen Extremsituation der Obdachlosigkeit und dem Vermögen seines empathischen Verstehens aus der bürgerlichen Perspektive sicherer Behaustheit ein tiefer und in aller Regel unüberwindlicher Graben auftut – eine Barriere der Inkommensurabilität der Rationalitäten und Gefühle. Diese Einsicht mündet aber weder in die Passivität, noch in die Unfähigkeit zum produktiven Weiter-Denken. Sie verlangt vielmehr ein Innehalten angesichts einer verbreiteten Haltung vorschnellen Urteilens. Die Grenze zwischen dem gewohnten Wohnen in einem ökonomisch, lebenspraktisch, institutionell und kulturell mehr oder weniger gefassten Leben auf der einen Seite und einem in der Obdach­ losigkeit gestrandeten Leben auf der anderen Seite macht eines deut­ lich: In der nach bürgerlichen Normen formatierten Wahrnehmung von Lebensformen, die weit von der Normalität entfernt sind, verliert sich angesichts fehlender Erfahrung das Vorstellbare. Das ist in der wissenschaftlichen Annäherung im Prinzip kaum anders. Das Trennende liegt in einer Situation des Widerstreits – zwischen dem uns Selbstverständlichen und dem, was sich unserem empathischen Vermögen entzieht.

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11.6 »Wohnen« – Ein Blick auf die Stärke des Mangels

11.6 »Wohnen« – Ein Blick auf die Stärke des Mangels Wer auf der Straße lag und in der Fremde leben musste, galt bis ins 19. Jahrhundert als jemand, der das Elend »baute«532. Kreatives »Bauen« verlangt sich bis heute gerade da, wo das Leben »auf der Straße« mit Gefahren verbunden ist, die das »normale Wohnen der Leute« nicht kennt. Ganz gleich, ob sich Obdachlose mobil oder relativ fix im Raum verorten; indem sie ihre meistens nur temporären Lager einrichten, »bauen« sie, um halbwegs »durch den Tag zu kommen«, eine Stätte des vorübergehenden Aufenthalts. Der Mangel einer Küche und der daraus resultierende Zwang, das Essen kaufen zu müssen, mündet in eine prekäre Situation der Ernährung (schlechte oder teure Nahrung, Essen To GO, Junkfood oder gesponserte Hilfe von den Suppenkü­ chen und Tafeln). Das Fehlen sanitärer Anlagen gipfelt schließlich in Herausforderungen dieses eigenartigen Bauens, deren Vorstellung sich das Gros der Standardwohnenden verweigern dürfte. Im Unterschied dazu verlangt das bürgerliche Wohnen in der Organisation des Nötigsten äußerst wenig Einfallsreichtum. Es ruht gelassen in der (vermeintlichen) Gewissheit, dass alle Versorgungs­ sicherheit des Wohnens auch in Zukunft gewahrt bleibt. Die Aufent­ haltsstätten der Obdachlosen befinden sich dagegen nicht in einem »Stockwerk des Hauses«533, sondern an einem Ort oder Platz im Freien, gewiss jedoch auf einem Grundstück, das anderen gehört. Der Platz fürs temporäre Bleiben wird »genommen«, wo er sich »bietet«. Sobald sich rechtliche Schranken senken, kann er auch schon wieder verloren sein. In der Situation der Obdachlosigkeit gibt es keine Sicherheit, vielmehr eine große Fragilität des Daseins und Flüchtigkeit des Nötigsten. Die Ausgesetztheit in einem überaus zerbrechlichen Leben weist auf ein existenzielles Merkmal dieser Art des »Wohnens« hin. Das tägliche Durchkommen muss gleichsam in Permanenz immer wieder geübt werden, weit mehr als jedes bürgerliche Wohnen der Übung je bedurfte. Die Modi des Existierens Obdachloser können jedoch bestenfalls in etymologischer Hinsicht als ein »Wohnen« aufgefasst werden, nicht aber im Sinne der alltagssprachlich verbreiteten Bedeutung des Wortes. Umso mehr impliziert die Mangelsituation der Lebensform 532 »Die strasze, den weg bauen hiesz was wir heute nennen auf der strasze liegen«; DWB: Band 1, Sp. 1172. 533 Ebd.: Band 30, Sp. 1229.

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11. Vom Weniger an Vielem zu einem Mehr im Ganzen

den Imperativ des Innehaltens. In der Folge drehen sich gewisserma­ ßen die Relationen üblicher Vergleiche herum: Nicht der sich aufs Fehlende und Defizitäre fixierende Blick setzt denkerische Impulse des Redigierens tradierter Lebensformen frei, sondern der existenz­ philosophische Blick auf die »Stärken« des Mangels. Das Semi- bzw. Nicht-Wohnen der Obdachlosen wird damit (als »Negativ« allseits gewohnten Wohnens) zur Herausforderung der kritischen Revision bürgerlichen Wohnens, allzumal in der weltumspannenden ökologi­ schen Krise. In der Zeit des sogenannten »Anthropozän« wächst sich das grenzenlose Nehmen von nahezu allem, was die Prolongierung gewohnter Lebensstile verlangt, zu einer nachhaltig erdrückenden Hypothek aus. Angesichts dessen ist es kaum nachvollziehbar, mit welch optimistisch-naiver Leichtigkeit sich politische »Eliten« und »Experten« in der Zeit des vor sich gehenden Klimawandels u. a. die Elektromobilität als zukunftssichernden Weg suggerieren. Das lange geübte Absehen von den Folgen gewohnten Lebens aus der Substanz wirft seine immer länger werdenden Schatten voraus. Wenn es eine Lektion gibt, die die Lebensform obdachloser Existenz der bürgerlichen Welt zu bieten hat, so liegt sie in den Denkstücken einer erzwungenen Übung des Lebens mit dem Wenigsten. Solange es angesichts eines ungebremsten Wachstumswahns politisch aber unsagbar sein dürfte, dass nur ein Weniger an Vielem ein Mehr im Ganzen bedeuten kann, steht der Beginn zukunftsweisenden Denkens noch aus. In der Frage der Verfügbarkeit der Dinge des täglichen Lebens rückt die prekäre Lebenslage Obdachloser in produktiver Weise in den Fokus einer neu zu erfindenden Kultur des Wohnens im Heidegger’schen Sinne: als radikales Bedenken der Art und Weise, sein Leben nicht nur individuell, sondern mit anderen Menschen verantwortlich zu führen. Nicht ums Schöner-Wohnen geht es dabei, sondern um die Sicherung eines Lebensrahmens, in dem ein gutes Wohnen möglich werden könnte. Dieses wäre jedoch erst noch zu ent­ decken.

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12. Leben und wohnen in der Stadt

Auf die meisten Menschen unserer Zeit wirken Städte wie Magnete. Offizielle Bevölkerungsstatistiken rechnen für das Jahr 2030 (bezo­ gen auf Deutschland) mit einem urbanen Bevölkerungsanteil von mehr als 78 %; weltweit wird eine Quote von 60 % erwartet.534 Es sind insbesondere die Metropolen, die die Menschen faszinieren und zur Zuwanderung veranlassen. Unter ihnen haben die Millionen­ städte einen beinahe kosmologischen Charakter. Aber man kann die hoch komplexen Gebilde nicht in Bestandteile spalten, um zu sehen, was »in« ihnen ist. Ihr wesensmäßiger Charakter liegt in ihrer Unteil­ barkeit. Das Ganze soll in seiner autopoietischen Synchronisation den Menschen dienen. Als locus paratus ist die Stadt ein von und für den Menschen eingerichteter, ein sie umkleidender Ort.535 Vom Leben in den Zentren erhoffen sich die Massen ein gutes Leben – in jedem Falle ein besseres als das, was sie gerade haben. Der Begriff der Stadt beinhaltet einen etymologischen Bedeu­ tungskern, der auf etwas Gemeinschaftliches hinweist: »Gott hat die Menschen erschaffen zur weltlichen Gemeinschaft und Gesellschaft, dass sie Stätt und Flecken haben sollen«536. So findet der homo sociologicus in der Stadt die ihm gemäße Lebens- und Wohnform. Für den französischen Soziologen Henri Lefèbvre war das Urbane daher auch »der Punkt der Begegnung, der Ort einer Zusammenkunft, die Gleichzeitigkeit«537. Aber dies ist eine ungleichzeitige Gleichzei­ tigkeit, deren Dynamik einem heterogenen und widersprüchlichen Rhythmus folgt. Banker und Banditen, Reiche und Arme, Sesshafte und Wandernde, sie alle agieren in einer Welt – in einer glamourösen Stadt, die zugleich eine abgründige und finstere Welt ist.

534 Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/152879/umfrage/in-staed ten-lebende-bevoelkerung-in-deutschland-und-weltweit/ (11.03.2023). 535 DWB: Band 17, Sp. 421. 536 Ebd. 537 Lefèbvre: Die Revolution der Städte, S. 128.

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12. Leben und wohnen in der Stadt

Die urbanen Milieus spannen sich zwischen konträren Polen kaleidoskopisch auf. Die Kultur der großen Stadt ist mit Hoffnungen gesättigt, in deren Mitte für viele Menschen vor allem monetäre Werte stehen. Was Lewis Mumford über das New York des frühen 20. Jahrhunderts sagte, hat sich in der Sache kaum verändert, eher zeitgemäß nur variiert: »In dieser magischen Atmosphäre, in dem Wunsch, für nichts etwas zu bekommen, lebte und atmete ein ganzes Volk.«538 Städte sind überhitzte Zentren, Schmelztiegel schnell oszil­ lierender Kreisläufe – Sphären für Manische wie Depressive. Das eine kollabiert, das andere eskaliert, hier keimt das Neue, dort fault das Alte. Es gibt urbane Soziotope für Langeweiler, Spießer, Experi­ mentierfreudige, für »bunte Vögel«, aber auch für dunkle Gestalten. Das unendliche Meer des Vielen ist eine Welt der Transformation wie des Beharrens. Klare Grenzen zwischen dem Einen und dem ganz Anderen gibt es meistens nicht, vielmehr Nebelfelder, aus denen plötzlich das ganz Unerwartete auftaucht. Wie die Menschen in der Stadt leben, so wohnen sie auch in ihr. Im Wohnen entfaltet sich aber nichts Eigenes. Darin drückt sich nur aus, wie sich die Menschen auf der Erde einrichten und ihr Leben füh­ ren – auf Dauer oder bis auf weiteres, für sich allein oder mit anderen. Lebens-Räume sind immer situiert, also in spezifischer Weise mit Sinn und Bedeutung verknüpft. Lebenssituationen konstituieren sich in gesellschaftlichen Prozessen der Vergesellschaftung, individuell über Schicksal und Biographie, aber auch durch die besonnene Wahl und die rational abgewogene Entscheidung. Im performativen Thea­ ter des Urbanen kommt es nicht immer aufs Wünschen und Wollen an. Oft sind es allgemeine Umstände und Konstellationen, die die Menschen ungefragt in etwas hineinziehen. Immer wieder stellt sich die Aufgabe, Gegensätze zu meistern – zwischen persönlichen Wünschen und gesellschaftlichen Geboten, nüchternem Verstand und empathischem Gefühl, der Materialität der Dinge und den sie umhüllenden Atmosphären. Dieses Manövrieren ist Ausdruck höchst individualistischer Stile Einzelner, mehr aber noch Niederschlag einverleibter Verhaltenstrends der Massen. Sie alle be-wohnen die Stadt, wohnen sich in sie ein und verwachsen emotional mit ihrer Kultur. Das räumlich Nahe und das psychologisch Ferne kommen dabei bisweilen geräuschvoll zusammen. Bei ihrem Wohnen in der Stadt werden die Orte durch Bewegung in das perfor­ 538

Mumford: Megapolis, S. 39.

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12. Leben und wohnen in der Stadt

mative Netz einer fließenden urbanen Dynamik gespannt. Dieses Wohnen ereignet sich an Orten und in Räumen, auf Rauminseln und in Korridoren, die räumlich wie mental entfernte Welten verbinden. Individuelles Leben, das sich den Raum und die Welt der Stadt zu eigen macht, geschieht jetzt in der Zeit und hier im Raum. Raum und Zeit lassen sich nur in abstraktionistischen Denksphären analytisch trennen. Im tagtäglichen Leben gibt es zwar Uhren und Kilometer­ zähler, im sinnlichen Erleben fallen Raum und Zeit jedoch zu einem raumzeitlichen Hier-und-Jetzt zusammen. Bewegung und Wandel ereignen sich immer an Orten, gehen in gewisser Weise durch sie hindurch und bringen sie hervor. Man kann mit und gegen andere leben, in Prunk und Protz wohnen oder im Elend. Ein gutes Leben misst sich daran, ob und wie es gelingt, gedeihliche Sphären der Ermöglichung von ethisch verantwortbarem Lebenssinn zu erschließen. Es verlangt die Übung einer Selbstkultur bedachten Lebens, des fortwährend selbstreflexi­ ven Aus- und Aufbaus ethischer Kompetenz und einen Ausgleich zwischen Nehmen und Geben. Nur »schönes« Wohnen orientiert sich allein an Oberflächen vordergründiger Gefälligkeit – am Süffigen und Prächtigen, Glamourösen und Komfortablen. Schon infolge ihrer Dichte war und bleibt die Stadt eine heraus­ fordernde Welt, in besonderer Weise in philosophischer Hinsicht. Als was soll sie gelebt und wie bewohnt werden? Eine gute Zukunft hat sie nur, wenn die Utopien stärker bleiben als die Dystopien, flüssige und anpassungsfähige Ordnungen das Dauerchaos vereiteln und das öffentliche Leben eine größere kulturelle Bedeutung hat als das heimliche Schmieden machtvoller Pläne im Verborgenen.

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13. Was heißt »gutes« Wohnen?

Die meisten Menschen denken über ihr Wohnen erst nach, wenn es in eine Krise geraten ist. Sowenig man das Bett bedenkt, wenn man sich zur Nacht hineinlegt, so wird auch das Wohnen im Allgemeinen zu keiner Sache der Reflexion. Was »rundläuft«, gilt selbstverständlich als gut. Man wohnt eben, wie man Auto fährt oder das Essen macht. Die Wohnung unterscheidet sich aber von den gewöhnlichen Dingen des täglichen Lebens dadurch, dass sie nicht einfach nur da ist, sondern einen quasi-territorialen Raum- und Umgebungscharakter hat. Den garantiert sogar das Grundgesetz.539 Warum sollte in einer Welt überschäumender Krisen ausgerechnet das eigene Wohnen noch zu einem zusätzlichen Problem gemacht werden? Gegen das selbstverständliche Dahinwohnen sprach sich indes der Philosoph Martin Heidegger aus: »Genug wäre gewonnen, wenn Wohnen und Bauen in das Fragwürdige gelangten und so etwas Denk­ würdiges blieben.«540 Das sagte er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer entbehrungsreichen Zeit krasser Wohnungsnot. In einer Situation, in der es fast keine Wohnungen mehr gab. Heute ist für viele Menschen der Mangel an bezahlbarem Wohnraum die vielleicht drängendste Wohnungsnot. Jede Zeit hat ihre Wohnungsnöte. Aber nur selten entzündet sich daran das letztlich politische Bedürfnis, das Wohnen zu bedenken – nicht das »schöne« Wohnen, sondern (mit Heidegger) die Art und Weise, wie die Menschen auf der Erde sind, sie also bewohnen. Man kann nicht wohnen, wie man mit der U-Bahn fährt. Wohnen ist – trotz seines existenziellen Charakters – im engeren Sinne keine Tätigkeit, vielmehr beruht der »Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen« im Wohnen. In ihm drückt sich das so oder so geführte Leben aus, das ja im Übrigen nicht nur in den Zimmern eines Hauses stattfindet, sondern ebenso in der Stadt, auf dem Kontinent und auf der Erde. Nur scheinbar ist es allein der Wohnort, an dem 539 540

Nach Art. 13 des Grundgesetzes ist die Wohnung unverletzlich. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 48.

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13. Was heißt »gutes« Wohnen?

sich die Menschen in ihrer eigenen Kultur situieren. Er ist zugleich ein Platz auf der Erde. In einem Penthaus lebt man aber in einem von Grund auf anderen Verhältnis zur sozialen und natürlichen Welt als auf der »Platte«. Wer sich bevorzugt zu Fuß im Raum der Stadt bewegt, erzeugt einen kaum wahrnehmbaren ökologischen Schatten – im Unterschied zum Standesbewussten, der es liebt, mit dem repräsentativen Sechszylinder unterwegs zu sein. Nicht zuletzt werfen die Dinge, die wir essen, ethisch mitunter lange Schatten. Im häufigen und übermäßigen Konsum von Fleischgerichten wohnen die Menschen anders auf der Erde als jene, die lieber heimische Pflanzen essen. Heidegger hatte das Wohnen wegen seiner universellen Bedeu­ tung in den Rahmen ethischer Normen gestellt: »Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten.«541 Er strebte ein gutes Wohnen an, eines das die Welt schont. Die Art und Weise jedoch, wie die meisten Menschen heute (vor allem in der westlichen Welt) wohnen, ist nicht gut. Schon die Natur (ver)schonen sie nicht, denn sie leben von den Ressourcen derer, die noch gar nicht geboren sind. Unter der Voraussetzung sich absehbar verschärfender ökologischer Krisen sind die Maßstäbe guten Lebens heute andere als kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Schonendes Wohnen verlangt aber auch die soziale Rück­ sichtnahme; in all seinen Facetten bedarf es daher einer fühlenden und einer denkenden Lebenswachheit. Eine Ethik des Wohnens gebietet sich allein deshalb, weil jedes wohnende In-der-Welt-Sein in Folge eines allgemeinen Ungleichge­ wichts von Nehmen und Geben beinahe zwangsläufig Zumutungen für das Dasein anderer mit sich bringt. Vor dem Horizont sich verengender Zukunftsperspektiven kann sich das gewohnte Leben nicht dauerhaft bewähren, denn die relative Stabilität natürlicher Systeme ist viel zu störungsanfällig. Eine Ethik des Wohnens ver­ langt das Wachwerden einer existenziellen Sorge. Es ist an ihr, die Folgen dessen kritisch zu bedenken, die sich aus einer unbedachten Prolongierung herrschender Praktiken des Wohnens ergeben. Sie ist das Gegenteil der dumpfen Sorge der Dahinwohnenden um das ungebrochene Immer-so-Weiter persönlichen Wohlergehens. Der soziale und politische Konflikt zwischen den nicht zuletzt als Folge ungesteuerter Migrationsprozesse immer unterschiedlicher werdenden Kulturen des Wohnens wird immer größer. Den extra­ 541

Ebd.: S. 37.

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13. Was heißt »gutes« Wohnen?

vaganten Lofts ökonomisch Privilegierter stehen die feuchten und verschimmelten Kellerlöcher gegenüber – denen annähernd ähnlich, die Friedrich Engels Ende des 19. Jahrhunderts treffend »verfrühte Gräber«542 nannte. Im Wohnen spiegeln sich zu allen Zeiten sozio­ ökonomisch disparate Verhältnisse einer Gesellschaft wider. Die 200 Meter »über« der Stadt gleichsam schwebenden Luxuswohnungen postmoderner Wohntürme, die mehrere Millionen Euro pro Einheit kosten, nehmen ungleich mehr vom globalen Gemeingut als die Mönchsklausen der Klöster. Ekstatisches Wohnen ist angesichts steigender Wohnungsnöte (bis hin zur Obdachlosigkeit) auch nicht sozialverträglich. Wer in der Art und Weise seines konsumorientier­ ten Wohnens das systemisch hemmungslose Nehmen radikalisiert, lebt wie ein Parasit. Deshalb mündet das Leben nach Gewinnermen­ talitäten angesichts limitierter natürlicher und sozialer Ressourcen geradewegs in einen Universaldarwinismus. Was gut ist, bewährt sich durch Tauglichkeit in einem umfassen­ den Verständnis. Das Wohnen »taugt« im Sinne des Guten, wenn es den Menschen aufs Ganze gesehen und auf Dauer entgegenkommt. Das Gute wird seines Nutzens willen geschätzt, das Schöne nur seines Genusses wegen. Gut ist aber relativ. Nie kann jedoch gut sein, was nachhaltige Schäden zur Folge hat. Die Tauglichkeit des Wohnhauses darf deshalb auch nicht allein an den Bedürfnissen der darin Wohnenden gemessen werden, denn eine Wohnung ist kein inselhafter Inkubator heimatlicher Weltvergessenheit. Wenn die eigenen vier Wände auch als bergendes Nest empfunden werden mögen, so hängt auch dieses noch im fragilen Geäst eines brüchig wer­ denden Weltganzen. An der Zeit wäre eine kathartische, in gewisser Weise radikale Nachdenklichkeit. Der Religionsphilosoph Romano Guardini plädierte in diesem Sinne für Verlangsamung statt immer höherer Beschleunigung.543 Davon sind auch überhöhte Leistungsan­ sprüche an den Staat berührt, denn auch sie folgen dem Habitus eines Nehmen-Wollens zum Null-Tarif. An Stelle der staatlichen Gabe immer umfassenderer Sozialleistungen stellt sich die Herausforde­ rung an die Bürger, steigende Lebens- und Wohnansprüche kritisch zu prüfen. Die Art und Weise, wie die Menschen an einem Ort wohnen, wirft Schatten ins Leben anderer: im Verbrauch von Energie für die 542 543

Engels: Zur Wohnungsfrage, S. 58. Vgl. Guardini: Der unvollständige Mensch und die Macht, S. 22.

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13. Was heißt »gutes« Wohnen?

Heizung, in der Art der Fortbewegung, in dem, was und wieviel die Menschen essen, in dem, was sie in Gestalt ihrer Kleidung zu ihrer »zweiten Haut« machen und schließlich in ihrem Verhältnis zu den Dingen des täglichen Lebens. Gegen die in der Ersten Welt so verbreitete Wergwerf-Mentalität forderte Henry van de Velde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Werkbund-Debatte zur Herstellung von Wohnraum eine »Achtung für das gebrauchte Material«544. In besonderer Weise gilt heute: Wohnformen, die gegen das Gebot der Schonung verstoßen, retten die Erde nicht. Und sie machen außerdem die Hoffnung derer zunichte, die in mittlerer Zukunft noch von ihr werden leben wollen. Im globalen Fokus müssen sich die Menschen nicht zuletzt fra­ gen, ob es gut sein kann, mehr Nachkommen auf die Erde zu bringen, als diese tragen kann. Unter der Bedingung prekärer werdender Praktiken des Konsums von lokalen bis globalen Dingen des Ver- und Gebrauchs, des eigennützigen Nehmens von Dienstleistungen und der ethisch nicht abgewogenen Inanspruchnahme sozialer Ressour­ cen werden alle Praktiken des Lebens fragwürdig.

544

Van de Velde: Kunst und Industrie, S. 29.

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14. Wenn das Wohnen junger Menschen zum Problem wird – Was hat das Wohnen mit Ethik zu tun? –

Mit besonderer Härte werden in der Gegenwart vor allem junge Menschen von monetären Ansprüchen erdrückt, wenn sie dem Wunsch nachgehen wollen, von Eltern oder Verwandten unabhängig zu wohnen. Ihre objektive Lebenssituation (Lehre, Studium etc.) setzt ihnen vor allem finanzielle Grenzen, die die Wahl selbstbestimmter Lebenswege stark einschränken. Mit besonderer Härte zeigt sich auf dem Wohnungs-Markt, in welcher Weise sich die gesellschaftlichen Bedingungen des Wohnens (allein der Möglichkeit nach) in den letzten beiden Dekaden verändert haben. Die Frage, was das Wohnen mit der Ethik zu tun hat, scheint sich angesichts ökonomischer Fragen der Bezahlbarkeit von Miete und Energie nicht gerade aufzu­ drängen. Aber schon der Widerstreit von Interessen der immobilien­ wirtschaftlichen Gewinnmaximierung zum einen und dem Wunsch, ein eigenverantwortliches Leben zu führen zum anderen, führt in dilemmatische Situationen. Letztlich sind es – allzumal im Blick auf die Lebensrealität junger Menschen – oft moralisch strittige Entscheidungen Dritter, die existenzielle Rahmenbedingungen ver­ schlechtern.

14.1 Wohnen früher und heute Der Wandel der Formen und Stile des Wohnens trifft nicht nur dessen finanzielle Seite, sondern auch seine kulturelle. Auf krasse Verände­ rungen machen schon auf den ersten Blick die um 1900 in einer bür­ gerlichen Wohnung üblichen Räume und die darin befindlichen Dinge aufmerksam: Was wir heute ein Sofa nennen, hieß einst (als Sitz- und Liegemöbel) Chaiselongue, was heute als »Beistelltisch« bezeichnet wird, galt seinerzeit als Frühstückstisch, eine Durchreiche (Wandöff­

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14. Wenn das Wohnen junger Menschen zum Problem wird

nung zwischen Küche und Esszimmer) gibt es fast gar nicht mehr. Die Kochkiste, ein wärmedämmender isolierter Behälter, in dem die zubereiteten Speisen zu Ende garen sollten, ist gänzlich in Vergessen­ heit geraten, ebenso der Eisschrankaufzug. Nicht weniger exotisch muten die Namen für die verschiedenen Zimmer einer Wohnung an: Salon (Gesellschafts- oder Empfangszimmer), Speisekammer (heute durch den Kühlschrank überflüssig geworden), Elternzimmer, Ankleidezimmer, Schrankzimmer, Nähraum etc.545 In diesen Cha­ rakteristika des Wohnens vergangener Zeiten drücken sich weniger ästhetische Wohn-Präferenzen aus, als allgemeine gesellschaftliche Lebensbedingungen, die von zeitgemäßen Werten umfasst sind. So verfolgte Bruno Taut (ein seinerzeit bekannter Architekt des Neuen Bauens) in den großen deutschen Städten aus der Not eines gro­ ßen Wohnungsmangels den Plan, die Bestandteile einzelner Hausty­ pen durch »wenige Normenteile« zusammenzustellen, die in Fabriken »in Massen herzustellen« waren.546 Mit anderen Worten: Er wollte das Fließbandprinzip (das »Taylorsystem«547) auf den Wohnungsbau übertragen. Die Wohnung dachte er als eine effizienzorientierte Funk­ tionswelt. Alles, was nicht einem evidenten Zweck folgte, sollte aus ihr verbannt werden: »Die neue Wohnung muß unbedingt von jenem alten Vollgestelltsein mit Möbeln, Schränken usw. befreit sein.«548 Deshalb waren ihm für die Planung und Gestaltung der Küche auch »die in den Skizzen der Mrs. Frederick549 dargestellten Gangli­ nien beim Zubereiten und Anrichten sowohl wie beim Abräumen und Abwaschen«550 wichtig. Bruno Taut dachte aber nicht nur die Küche, sondern die ganze Wohnung als ein maschinenhaftes Gehäuse. Das Wohnen geriet schon zu seiner Zeit unter einen ersten größeren Einfluss der Technik. Die Abhängigkeit von technischen Geräten Vgl. Taut: Die Neue Wohnung, S. 83f. Ebd.: S. 102. 547 Ebd.: S. 64. 548 Ebd.: S. 69. 549 Bezogen auf Christine Frederick (1883–1970), eine amerikanische Hauswirt­ schaftsökonomin, die sich der Übertragung des Taylorismus auf die Nutzung der Küche widmete und in diesem Zusammenhang über sogenannte »Ganglinien« forschte. Das waren die typischen Bahnen, die eine Hausfrau immer wieder in der Küche zurücklegen musste, um ihre Arbeit zu erledigen. Diese Bahnen wollte sie durch die Möblierung und Raumgestaltung der Küche effizienter gestalten; vgl. auch https://nationalhumanitiescenter.org/pds/gilded/progress/text4/text4read. htm (22.10.2022). 550 Taut: Die Neue Wohnung, S. 67. 545

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14.2 Wozu das Wohnen bedenken?

hat sich in der Gegenwart immens vergrößert. Keine Wohnung ist heute ohne komplexe technische Infrastrukturen vorstellbar – vom einfachen Eierkocher bis zur funkbasierten Fernsteuerung für Herd und Heizung.

14.2 Wozu das Wohnen bedenken? Sache der Ethik ist es, moralische Werte zu reflektieren. Die ange­ wandte Ethik setzt sich mit spezifischen Fragen auseinander, die die Praxis der Lebensführung stellt. Eine Ethik des Wohnens widmet sich der Kritik der Daseinsweisen und aller aus dem Wohnen resul­ tierenden Nah- und Fernwirkungen. Sie mündet in die Frage, wie das Wohnen so gestaltet werden kann, dass der Mensch darin nicht nur heute, sondern auch morgen ein gutes und möglichst glückliches Leben führen kann. Dieses Ziel lässt sich jedoch nicht »von jetzt auf gleich« realisieren. Nach Aristoteles fordert es die lebenslange Übung eines tugendhaften Habitus.551 Eine wie auch immer zu bestimmende Ethik des Wohnens verlangt das im Prinzip andauernde Nachdenken über das Wohnen, in besonderer Weise über seine Folgen für Mensch, Tier und die Natur im Ganzen. Das ist leichter gesagt als getan. Kaum ein anderer Lebensbereich ist so umfassend von der Macht des Selbstverständlichen gegenüber seiner Reflexion abgeschirmt wie das Wohnen. Deshalb merkt Martin Heidegger auch an: »Als ob wir das Wohnen je bedacht hätten.«552 In spätmodernen Gesellschaften ist es zudem durch eine Erwartungs­ haltung gekennzeichnet, wonach der reibungslose Weiterlauf des Gewohnten auch in der Zukunft gesichert sein möge. Die Notwendig­ keit der Kritik einverleibten Immer-so-weiter-Wohnens drängt sich daher in aller Regel auch erst auf, wenn eine Irritation den leichten Lauf der Dinge unterbrochen hat. Das Nachdenken des Gewohnten ist dann aber eher von der Sorge um die eigene Not geprägt als von einer Verantwortung, die den Radius des persönlichen Lebens überschreitet. Zur moralischen Revision eigenen Lebens dringt es nur selten vor. Gernot Böhme gab zu denken, dass die Menschen schon längst verlernt haben, sich moralisch zu verhalten.553 Das Festhalten 551 552 553

Aristoteles: Nikomachische Ethik. Heidegger: Was heisst Denken?, S. 59. Vgl. Böhme: Brauchen wir eine neue Ethik?, S. 53.

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14. Wenn das Wohnen junger Menschen zum Problem wird

am Vertrauten und Bequemen wird durch die große Bereitschaft des Wohlfahrts- und Vorsorgestaates noch gefördert, für die Sicherung gewohnter Lebensstandards einzutreten. In der Gegenwart (am Ende des Jahres 2022) verliert das Ver­ trauen auf das gleichsam »glatte« Immer-so-weiter-Wohnen jedoch endgültig seine Basis. Es sind einstweilen die Preise für Heiz-Energie und Strom, die als Folge von Rückwirkungen der gegen Russland verhängten Strafmaßnahmen wegen seines gegen die Ukraine gerich­ teten Krieges, die die Perspektiven verfinstern. Ökonomische Sorgen konkretisieren sich in der Frage, ob die Kosten für die eigene Wohnung auch in Zukunft noch gedeckt werden können. In dieser krisenhaften Situation klafft eine schon lange bestehende Differenz zwischen den Interessen der Immobilienwirtschaft hier und der Mieter wie Wohnungseigentümern dort auf. Die Finanzierung einer Wohnung mündet mehr und mehr in sozioökonomisch prekäre Lebenslagen. Wohnen ist nicht schon dann »gut«, wenn es wenig kostet. Gut ist es erst, wenn es in all seinen Facetten »funktioniert«.

14.3 Ethik des Wohnens – über das Hier und Jetzt hinaus Der Sinn des Guten geht nicht nur im Vordergründigen auf, d.h. in dem, was aus der aktuellen Situation des runden Laufs der Dinge zufriedenstellend erscheint. Was gut ist, zeigt sich oft erst auf den zweiten Blick und auf ein damit verbundenes anderes Gutes.554 Im Fokus einer Verantwortungsethik kann im Sinne von Hans Jonas nur gut sein, was über den persönlichen und gegenwärtigen Horizont hinaus fortbesteht. Daher überwindet eine Ethik des Wohnens auch ihre Beschränkung aufs Hier und Heute. Sie reklamiert das Mitdenken der Rechte derer, die noch gar nicht leben. In der Art und Weise, wie die Menschen die Erde bewohnen, dürfen wir zwar das eigene Leben wagen, »aber nicht das der Mensch­ heit«555. Dies geschieht in der Gegenwart jedoch, weil das relativ luxurierte Wohnen in der westlich geprägten Welt über seine lokale Bedeutsamkeit hinaus in vielfältige globale System- und Kraftfel­ der ausstrahlt und sich Verstrickungen absehbar zum Nachteil vor allem menschlicher Überlebensinteressen auswirken (Klimawandel, 554 555

Vgl. Reiner: Gut, das Gute, das Gut, Sp. 938. Jonas: Das Prinzip Verantwortung, S. 36.

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14.3 Ethik des Wohnens – über das Hier und Jetzt hinaus

Zustand der Meere und der Böden). Aus dieser Einsicht erwächst ein Gebot zur prinzipiellen Korrektur gesellschaftlich organisierter Lebensformen im Austausch mit der Natur. Es richtet sich aber mehr an die Institutionen und Akteure der Politik als an das Individuum, das in seinem Tun nie aufs Ganze gehen kann, vielmehr in den Grenzen subjektiver Handlungsreichweiten gefangen bleibt. Vorausgesetzt ist dabei, dass menschlichem Leben, trotz aller zivilisationshistorisch vollbrachter Destruktion an den Arten und Ressourcen der Erde, ein höherer Wert zugemessen wird als seinem Nicht-mehr-Sein. Die Herausforderung zur ethischen Reflexion des Wohnens stellt sich aus zwei verschiedenen Perspektiven. Zum einen richtet sie sich auf das Tun derer, die das Wohnen anderer disponieren und ermöglichen: Das Agieren von Immobilieneigentümern, Wohnungs­ baugesellschaften, an erster Stelle jedoch des Staates, der durch den Erlass von Normen über eine umfassende Macht zur Regulierung prinzipiell aller Lebensbereiche verfügt. Zum anderen bezieht sie sich auf das Tun der Wohnenden selbst. Dabei geht es nicht um die Nutzung der Räume einer Wohnung. Viel mehr reklamiert sich die ethische Legitimation der Art und Weise, wie die Menschen – vom umfriedeten Hort ihrer Wohnung her – ihr Leben führen. Was also meinen wir, wenn wir vom »Wohnen« sprechen? Zwei Deutungen heben sich dabei fundamental voneinander ab. (a) In einem alltagsweltlichen Sinne wohnt, wer einen festen Wohnsitz hat, also über eine Wohnung verfügt, die die darin Woh­ nenden in einer umfassenden Freiheit willkürlichen Kommens und Gehens benutzen können. Wohnen beschränkt sich hier auf die vertragsrechtlich abgesicherte Nutzung von Wohnräumen, sofern sich diese nicht ohnehin im Eigentum der Wohnenden befinden. Dieses eng gefasste Verständnis des Wohnens mündet – insbesondere auf die Situation von Mietern bezogen – in ethische Fragen zur sozialen Legitimität überhöhter Mieten, die mitunter mehr als die Hälfte des monatlichen Nettoeinkommens einer Familie aufzehren, sowie eskalierender Energiekosten, die die monetären Spielräume zur Finanzierung des täglichen Lebens zusätzlich auf krisenhafte Weise verengen. (b) Im philosophischen Sinne müssen wir das Wohnen weiter fassen. Schon deshalb, weil es nie in den privaten vier Wänden der eigenen Wohnung bleibt. Martin Heidegger versteht das Wohnen so: »Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf

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14. Wenn das Wohnen junger Menschen zum Problem wird

der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen.«556 In den räumlichen Fokus des Wohnens rücken danach nicht die Zimmer einer abgeschlossenen Wohnung. Heidegger versteht das Wohnen in einem existenzphilo­ sophischen Sinne als das bauende Sein des Menschen auf der Erde: »Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen.«557 Dieses Verständnis unterstreicht Otto Schily als Politiker in einer Würdigung von Bruno Taut. Der Aufsatz trägt den Titel: Die Erde eine gute Wohnung.558 Ein weiterer Wohn-Begriff verlangt nach »größeren« ethischen Schlüsseln für eine Revision des Wohnens als sein engeres Verständ­ nis. Wie das Bauen nicht in der Errichtung von Wohnhaus, Kranken­ haus, Brücke und Straße aufgeht, sondern ebenso die der Ernährung dienende Agrikultur und Fischerei umfasst, so geht die Art und Weise, wie die Menschen an Orten in Räumen ihr Leben führen, in der Spätmoderne weit über die Welt privater Zimmer hinaus. Das Wohnen steht zum einen in einem Bedingungsrahmen, den sich die Menschen selbst geschaffen haben. Zum anderen werden ihnen vor allem unwirtliche Wohnbedingungen aber auch aufgezwungen, oder sie geraten gleichsam schicksalhaft in eine nicht-gewollte Lebenssi­ tuation. Deshalb muss man schließlich ebenso fragen, inwieweit auch Obdachlose wohnen, obwohl sie doch über gar keine Zimmer einer Wohnung verfügen.559 Aber auch sie leben an Orten auf der Erde und prägen diesen die Spuren ihres So-Lebens ein. Damit verorten auch sie sich in ihrem »Bauen«, wenn sie Beziehungen zu Räumen herstellen – mögen sie auch nur Pseudo-Behausungen aus Wellpappe »errichten«, die einen Schutz vor winterlicher Kälte kaum zu bieten haben.

14.4 Facetten einer angewandten Ethik des Wohnens An drei exemplarischen Themen sollen Facetten einer angewandten Ethik des Wohnens skizziert werden. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 20. Ebd.: S. 29. 558 Vgl. Schily: Die Erde eine gute Wohnung; inhaltlich wird die Metapher jedoch nicht ausgefüllt, bleibt eher unbestimmt. 559 Vgl. dazu auch Kapitel 11. 556 557

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14.4 Facetten einer angewandten Ethik des Wohnens

14.4.1 Die allgemeine Lebensführung im Fokus der Generationen Jedweder Anspruch, Praxen des Wohnens der ethischen Reflexion zugänglich zu machen, muss sich auf die biographische Situation einer Person beziehen. Was Menschen persönlich wichtig ist oder infolge des appellierenden Charakters moralischer Normen wichtig sein sollte, kann keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Selbst allgemeingültige Werte, in die eine Individuum verwickelt ist, müssen stets auf konkrete Lebenssituationen bezogen werden. Der Hoffnung liegt die grundlegendste Sinnorientierung voraus, dass die Menschen auch in Zukunft ein gutes Leben führen können. Zukunftsfragen sind bei einem jungen Menschen mit ganz ande­ ren Zeithorizonten und Bedeutungswelten verknüpft als bei einem alten. Jugendliche und junge Erwachsene »haben ihr Leben noch vor sich«, Senioren blicken mehr auf ihr gelebtes Leben zurück. Studierende kaufen preiswerte Möbel, weil das Geld für »Besseres« fehlt; vielleicht identifizieren sie sich auch (noch) gar nicht mit mate­ riellen Werten. Langjährige Rentner scheuen Neuanschaffungen, weil sie sich vielleicht »nicht mehr lohnen«. Die sich in der Gegen­ wart abzeichnenden krisenhaften gesellschaftlich-ökonomischen wie global-ökologischen Entwicklungen berühren Junge von Grund auf anders als Alte. Indem diese wie jene auf biographisch spezifische Weise wohnen, drücken sich darin auch Perspektiven auf die Zukunft ihres Lebens aus. Ein junges, expansives bis ekstatisches Leben entfaltet sich vor anderen Sinnhorizonten als ein altes und müde wer­ dendes. Nicht selten drücken sich biographische Phasen zusätzlich in soziokulturell höchst unterschiedlichen monetären Spielräumen aus. Ökonomische »Freiheiten« öffnen oder schränken die Gren­ zen ein, innerhalb derer lebenspraktische Weichenstellungen vorge­ nommen werden können. Die monetären Ressourcen bilden längst schon die »erste« Existenzbedingung menschlichen Lebens. Der von Heidegger aufgespannte Zusammenhang von Wohnen und Leben aktualisiert sich in einer der Logik des Geldes gehorchenden Gesell­ schaft zuvorderst über monetäre Fakten. Das zeigt sich auch dann, wenn Studierende wie Auszubildende trotz ihres eigenen Lebens- und Arbeitsalltages und gegen ihren eigenen Wunsch weiterhin bei ihren Eltern wohnen müssen, weil ihnen das Geld für die eigene Wohnung fehlt. Ihre Lebens-Situation zwingt sie dann in eine Wohn-Situation, die dem sozialen Rahmen eines »Familienlebens« unterworfen ist, zu dem sie sich vielleicht nur noch formal zugehörig fühlen.

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14. Wenn das Wohnen junger Menschen zum Problem wird

14.4.2 Unterwegs sein Kein Mensch wohnt ununterbrochen in den eigenen vier Wänden. Zwar dient eine Wohnung dem Bleiben. Aber auch das verlangt die Beschaffung des Nötigsten zum Leben und die Entsorgung der Reste, die tagtäglich an- bzw. abfallen. Mobilität ist eine Bedingung der Möglichkeit des Bleibens. Es gibt unbedeutende, aber auch lebens­ wichtige Anlässe, aus dem Haus zu gehen: der Weg zur Arbeit hat eine qualitativ andere Bedeutung als der Weg ins Krankenhaus, um sich einer medizinischen Behandlung zu unterziehen. In eine nochmals ganz andere Bedeutungswelt gehören touristische Freizeitreisen, die just for fun unternommen werden. Zum Wohnen gehört das Wan­ dern.560 In der Bewegung erschließt sich der Mensch die Welt. In der Bewegung begegnet er anderen Menschen, Tieren und der Natur. Existenziell ist er erst als ein sich bewegendes Wesen in der Welt. Fix an einem Ort ist er eher in Ausnahmesituationen seines Lebens. In mannigfaltigen Bewegungsströmen drückt sich in besonderer Weise das großstädtische Leben aus. Indem das Wohnen unaufhebbar mit der (meistens motorisierten) Bewegung verbunden ist, bedarf es auch der Versorgung mit Energie. Die damit zusammenhängenden ethischen Fragen stehen heute im Zentrum zahlloser klimapolitischer Debatten. Die unbedachte wie grundlose Herumfahrerei mit dem Auto gilt umweltethisch als angreifbar. In die Ethik des Wohnens, das nur Ausdruck des Lebens auf der Erde ist, gehört daher auch die Umweltethik. Eine Ethik des Wohnens ist an einer Praxis guten Woh­ nens orientiert und nicht nur an der »Geborgenheit des Hauses«561, geschweige denn dem Ziel schönen Wohnens.

14.4.3 Das tägliche Essen Zur Aufrechterhaltung seines Lebens muss der Mensch regelmäßig essen und trinken. Die Bedeutung, die das Essen in der Welt der Wohnung spielt, drückt sich in der funktional zentralen Platzierung der Küche aus. Bruno Taut sagte: »Der Nerv der Wohnung ist die Küche«562. Und für Gottfried Semper bildete der Raum der Küche 560 561 562

Vgl. Guzzoni: Wohnen und Wandern. Bollnow: Mensch und Raum, S. 123ff. Taut: Die Neue Wohnung, S. 67.

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14.4 Facetten einer angewandten Ethik des Wohnens

(bzw. der Herd als »Seele« des Hauses) das vitale Zentrum in der Welt des Wohnens: »Durch alle Entwicklungsphasen der Gesellschaft bildet er den heiligen Brennpunkt, um den sich das Ganze ordnete und gestaltete.«563 Die Küche ist Drehscheibe des täglichen Lebens, der erste Arbeitsraum einer jeden Wohnung – abgesehen von vielen spätmodernen Penthauswohnungen, in denen zwei Kochplatten zum Warmhalten des Catering-Menus ausreichen. In der bürgerlichen Welt erfüllt die Küche in der Versammlung der Wohnenden auch eine wichtige soziale Aufgabe. Darauf weist noch heute der Name der »Wohnküche« hin. In der Küche kreist vieles um das kulinarische Ereignis der Ernährung. Dabei spielt das Tier (insbesondere in Gestalt von Huhn, Fisch, Schwein und Rind) als Nahrungsressource eine wichtige Rolle – zumindest in den westlichen Gesellschaften. Aufs Ganze einer 85-Millionen-Gesellschaft gese­ hen, sind das schwer vorstellbare Fleischmengen. Dass die Praktiken des Essens immer wieder ethische Abgründe berühren, spiegelt sich vor allem in dem seit der Antike geltenden Grundsatz wider: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge«564. Bis in die Gegenwart dürfte er sich kaum relativiert haben. Die konsumistische Beziehung zum Tier akzentuiert ein existen­ zielles Ereignisfeld des Wohnens, und dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen, weil die Menschen mehrheitlich ihr Wohlergehen von der industriellen Serienproduktion und -tötung der Tiere abhängig machen, den überaus rabiaten Umgang mit dem Tier aber nur aus­ nahmsweise bedenken. Zum anderen, weil Tiere oft wie Waren und Sachen behandelt werden, auf die man in erster Linie aus ökono­ mischen Gründen Rücksicht nehmen muss. Anlass zum ethischen Innehalten gibt die Haltung der Menschen zur Natur allerdings schon im Allgemeinen. Im Essen könnte sie sich kaum deutlicher konkreti­ sieren – umhüllt von einem dichten Nebel des Selbstverständlichen. Wie und was die Menschen essen, lässt in der Kultur des Wohnens eine existenzielle Art und Weise ihres Lebens auf der Erde erkennen. Das Essen von Tieren und tierischen Produkten hat schon lange eine globale Dimension. Eher selten kommt das Fleisch wie in »guten alten Zeiten« vom Hof aus dem nahen Dorf, eher über die Speditionsketten der Nahrungsmittel- und Fleischindustrie, nicht zuletzt aus Übersee. Was die Menschen essen, ist nicht nur in Bezug auf den Umgang mit 563 564

Semper: Die vier Elemente der Baukunst, S. 55. Singer: Die Befreiung der Tiere, S. 233.

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»Speisetieren« ethisch bedenklich, sondern auch, weil die transkon­ tinentale Bewegung von Nahrungsmitteln über den Verbrauch von Energie die Ressourcen der Natur aufzehrt. Das beruhigte und einer ethischen Revision scheinbar gar nicht erst bedürftige Weiter-Essen wird nicht zuletzt durch anästhesierende Ekelprophylaxen gesichert: insbesondere die akustische und geruch­ liche Abschottung der Schlachthöfe von den Wohnungen. Sogenannte Schul-»Bauernhöfe« leisten schon im frühen Kindesalter einen unter­ stützenden Beitrag zur Betäubung systemgefährdender Kritik an der gesellschaftlichen Organisation der Produktion von Lebensmitteln. Die Vermittlung eines romantizistisch verklärten Bildes vom guten Leben glücklicher Kühe, Hühner, Gänse und Kaninchen fungiert als affektlogische Sedierung kritischer Wachheit. Das pädagogisch arran­ gierte Hinsehen ins Milieu des Schön-und-gut-Gemachten dient in seinem ideologisch-didaktischen Kern dem Erlernen systemati­ schen Wegsehen von Methoden einer in systemisch relevantem Umfang problematischen Agroindustrie und ethisch fragwürdigen Tierproduktion. Peter Singer merkt an: »Unwissenheit ist also die erste Verteidigungslinie der Speziesisten.«565 Als solche bezeichnet er jenen allgemeinen Menschentyp, der allein aus der Perspektive seiner eigenen Art das Leben aller anderen (Tiere) zu betrachten gelernt hat. Die allgemeine Lebensführung, das tagtägliche Mobilitätsver­ halten und das Essen sind nur drei beispielhafte Ausdrucksbereiche des Wohnens der Menschen auf der Erde. Während sich das Leben einer endlosen Verkettung von Tätigkeiten aller Art verdankt, darf das Wohnen doch nicht selbst als eine Tätigkeit missverstanden werden. Wohnend steht und bewegt sich der Mensch in seinem Leben, indem er sich an Orten und im Raum situiert. Weil er dabei mehr nimmt als gibt, prägt er nicht nur Spuren in die Welt ein, die anderes Leben heute und morgen disponieren. Indem er lebenswichtige Ressourcen irreversibel aufzehrt, verwohnt er die Erde auch. Allein deshalb bedarf das Wohnen seiner ethischen Begleitung.

565

Ebd.: S. 253.

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Literarturverzeichnis

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Quellenverzeichnis

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