Behindert sein - behindert werden: Texte zu einer dekonstruktiven Ethik der Anerkennung behinderter Menschen [1. Aufl.] 9783839428009

A call for a policy of difference! Self-chosen or less externally determined constructs of identity for people with disa

194 92 1MB

German Pages 310 Year 2014

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Behindert sein - behindert werden: Texte zu einer dekonstruktiven Ethik der Anerkennung behinderter Menschen [1. Aufl.]
 9783839428009

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Körperpolitik und Behindertsein
2. Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit
3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen
4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik
5. Jenseits normalisierender Anerkennung
6. Behindertsein als kulturelles Wahr-Zeichen
7. Inklusion allein ist zu wenig!
8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz
9. Im Angesicht des dementen Anderen
10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien
11. Auf’s Spiel gesetzte Anerkennung
12. Sehnsucht nach Normalität
Drucknachweise

Citation preview

Hans-Uwe Rösner Behindert sein – behindert werden

KörperKulturen

2014-07-24 10-42-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607840270|(S.

1-

4) TIT2800.p 372607840278

Hans-Uwe Rösner (Dr. phil.) unterrichtet politische und ethische Themen am Bildungszentrum Trier. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorien der Anerkennung und neuere Ansätze der Gesellschaftstheorie im Kontext von Behinderung.

2014-07-24 10-42-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607840270|(S.

1-

4) TIT2800.p 372607840278

Hans-Uwe Rösner

Behindert sein – behindert werden Texte zu einer dekonstruktiven Ethik der Anerkennung behinderter Menschen

2014-07-24 10-42-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607840270|(S.

1-

4) TIT2800.p 372607840278

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Hans-Uwe Rösner Satz: Mark Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2800-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2800-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-24 10-42-38 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03cc372607840270|(S.

1-

4) TIT2800.p 372607840278

Inhalt Einleitung  | 9 Die ethische Gewalt moderner Moraltheorien | 11 Gleichbehandlung und Fürsorge | 15 Skizze einer dekonstruktiven Ethik | 20 Zu den einzelnen Beiträgen | 26 Literatur | 31

1. Körperpolitik und Behindertsein  | 35 Am Leitfaden des Körpers  | 35 Das Schicksal des Körpers | 37 Eine Kritik der politischen Medizin | 40 Behinderte und Behindernde | 43 Literatur | 46

2. Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit. Behindertsein und Anerkennungspolitik  | 49 Der Kampf um Anerkennung als Rechtsperson  | 50 Behindertsein ist kein Gemeinschaftswert  | 52 Recht ist nicht Gerechtigkeit | 53 Wege einer anderen Gerechtigkeit | 55 Literatur | 59

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen. Ethische Überlegungen zum Behindertsein  | 61 Die Gerechtigkeit für das Selbst  | 63 Der behinderte Körper als Gefängnis der Seele  | 64 Selbstgestaltung als Freiheitspraxis  | 68 Die Gerechtigkeit für den Anderen  | 70 Die Nähe zum Anderen als Aufruf zur Verantwortung  | 71 Die Entsorgung des Anderen  | 76 Literatur  | 80

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik. Eine Auseinandersetzung mit Riccardo Bonfranchi  | 83 Die verleugnete Herkunft der Heilpädagogik | 85 Lebensschutz als Denkverbot? | 90 Lebensschutz als verleugneter Tötungswunsch? | 96 Lebensschutz als verordnete Technologieblindheit? | 102 Literatur | 106

5. Jenseits normalisierender Anerkennung. Zur Kritik der politischen Medizin  | 111 Sex und Rassismus | 111 Das Ende der Natürlichkeit | 117 Verlockungen der Anthropotechnik | 122 Medizinische Politik der vollendeten Tatsachen | 127 Literatur | 131

6. Behindertsein als kulturelles Wahr-Zeichen. Umrisse einer dekonstruktiven Kritik  | 135 Schwierigkeiten mit der dekonstruktiven Kritik | 135 Was heißt dekonstruktive Kritik bzw. kritische Genealogie? | 139 Die Materialisierung des Behindertseins | 142 Butlers Konzept der subversiven Responsivität | 145 Dekonstruktion als ethische Bewegung | 148 Literatur | 153

7. Inklusion allein ist zu wenig! Plädoyer für eine Ethik der Anerkennung  | 157 Vorüberlegungen | 157 Inklusion in der Systemtheorie | 159 Systemtheorie und Inklusiven Pädagogik | 161 Inklusion aus machttheoretischer Sicht | 163 Sozialintegration durch Anerkennung | 167 Ausgesetztsein an den Anderen | 170 Literatur | 171

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz. Über die normativen Grundlagen der Heilpädagogik als Kulturwissenschaft  | 175 Einleitung | 175 Gerechtigkeit als Fairness (John Rawls) | 177

Gerechtigkeit als Befähigung zum guten Leben (Martha C. Nussbaum) | 179 Gerechtigkeit als Kritik sozialer Anerkennungsverhältnisse (Judith Butler) | 182 Gerechtigkeit als Denken der kommenden Demokratie (Jacques Derrida) | 186 Schlussbetrachtung | 188 Literatur | 191

9. Im Angesicht des dementen Anderen. A xel Honneths Fürsorgebegriff und seine Bedeutung für die »Kontaktarbeit« in der Altenpflege  | 195 Anerkennung und Gerechtigkeit | 196 Fürsorge als Prinzip der Anerkennung | 198 Anerkennung in der Kontaktarbeit | 200 Elementare Strukturen der Anerkennung | 204 Ausblick | 207 Literatur | 208

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien. Michel Foucaults Bedeutung für eine kritische Sozialarbeit  | 213 Genealogie als Kritik | 216 Die Produktivität der Macht | 218 Technologien der Sicherheit | 228 Selbstsorge als Freiheitspraxis | 235 Probleme mit der Fürsorge | 239 Literatur | 244

11. Auf’s Spiel gesetzte Anerkennung. Judith Butlers Bedeutung für eine kulturwissenschaftlich orientierte Heilpädagogik  | 249 Kritik als Praxis | 252 Über das Recht hinaus | 255 Eine neue Ontologie des Körpers | 258 Die moralische Handlungsfähigkeit des Subjekts | 261 Eine Ethik der Verantwortung | 265 Anerkennung im heilpädagogischen Prozess | 268 Literatur | 272

12. Sehnsucht nach Normalität. Eine Nachbetrachtung zu Andreas Kuhlmann  | 277 Die Tyrannis des behinderten Körpers | 277 Zwischen allen Stühlen | 281 Normalität als Affront. Ein Kulturkampf im Namen von Behinderten gegen die Herrschaft der Üblichkeiten (Andreas Kuhlmann 2002) | 290 Anerkennung als Sorge für den Anderen | 294 Versuch einer Annäherung | 298 Literatur | 301

Drucknachweise  | 305

Einleitung »Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, dass es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.« Theodor W. Adorno (1980: 192)

Die hier versammelten Aufsätze umfassen einen Zeitraum von zwanzig Jahren. Sie bewegen sich im epistemologischen Rahmen der »Disability Studies«, die in den 80er Jahren in den USA und Großbritannien entstanden sind und sich als eine sozial- und kulturwissenschaftlich orientierte Forschungsrichtung zur Untersuchung des Phänomens »Behinderung« verstehen. Für die Disability Studies stellt »Behinderung« ein historisches Dispositiv aus veränderbaren Diskursen und Machtpraktiken dar, durch das ein kulturelles Wissen über Körperlichkeit und Subjektivität erzeugt wird. Dadurch lassen sich Einsichten in die Art und Weise gewinnen, wie Behinderung als Differenzierungskategorie erzeugt wird und wie Normalitäten entstehen, die zu gesellschaftlichen Praktiken der Ein- und Ausschließung führen. Die moderne Erfahrung des Behindertseins, so lautet auch eine zentrale These in meinen Texten, steht in einem gleichursprünglichen Zusammenhang mit einer historisch veränderbaren Erfahrung der Normierung und Normalisierung seit zweihundert Jahren. Unser gegenwärtiges Verständnis von Normalität beruht auf inkorporierten kulturellen Werten und ist eine Folge rascher Veränderungen in einer wachstums- und wissenschaftsorientierten Gesellschaft. Das rechts- und sozialstaatliche Modell der Gerechtigkeit ist nicht wirklich dazu geeignet, alle Kennzeichen der Ungerechtigkeit zu untersuchen. Es sind nicht nur fehlende Bürgerrechte, ökonomische Interessen und mangelnde Verteilungsgerechtigkeit, die die Autonomie und die soziale Inklusion von behinderten Menschen beeinträchtigen: Behindert sein bedeutet immer auch behindert werden durch Kontrollen, Interventionen und Sanktionen, die Normabweichungen produzieren und durch die »Behinderung« konstituiert wird.

10

Behinder t sein - behinder t werden

Gleichzeitig sehe ich mich zunehmend auch in einer kritischen Distanz zu den Disability Studies, insoweit sie sich noch im Dogmatismus normativer Enthaltsamkeit bewegen und ethische Diskurse grundsätzlich immer mit einer normierenden Macht einhergehen sehen, die über behinderte Menschen ausgeübt wird: Die kritisch-evaluative Haltung, mit der sie den herrschenden diskursiven Normen begegnen, wird nicht selbst an einem normativen Maßstab gemessen, von dem aus ihre Kritik erfolgt.1 Das ist insofern erstaunlich, als eine auf Foucault zurückgehende These besagt, »dass die Macht sogar den Begriffsapparat, der versucht, über die Macht zu verhandeln, durchdringt, ebenso wie die Subjekt-Position des Kritikers.« (Butler 1993: 36). Die Behauptung, Behinderung sei eine naturalisierte Verkörperung von Differenz und man müsse nicht die Menschen korrigieren, sondern die Umwelt so verändern, dass die Betroffenen ungehindert am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können,2 hat ihren guten Sinn. Sie darf aber nicht dazu führen, ethische Fragen der Verantwortung und des Umgangs mit Behinderung generell auszublenden.3 Wenn die psycho-physischen Bedingungen für Hilfebedürftigkeit aus dem ethischen Diskurs verbannt werden, birgt das letztlich die Gefahr in sich, dem Abbau notwendiger Therapie- und Rehabilitationsangebote nichts mehr entgegensetzen zu können. Meine einleitenden Überlegungen stellen den Versuch einer theoretischen Standortbestimmung dar, wie sie sich auf der Zwischenstation eines Weges ergibt, der alles andere als gradlinig verläuft. Ich meine nun klarer überschauen zu können, inwieweit sich aus den einzelnen Überlegungen allmählich das noch unscharfe Bild einer dekonstruktiven Ethik gestalten lässt. Im Parforceritt werde ich über das Gelände bekannter Moraltheorien galoppieren und behaupten, dass sowohl die auf Kant zurückgehenden deontologischen Gerechtigkeitstheorien als auch die mit Aristoteles am guten Leben orientierten Moralentwürfe blind sind gegenüber jenen Zuschreibungspraktiken und Normalisierungstechniken, von denen behinderte Menschen in besonderer Weise betroffen sind. In meinen weiteren Überlegungen beschäftige ich mich mit Axel Honneths Entwurf einer demokratischen Sittlichkeit. Meine Kritik lautet 1 | Vgl. zum deutschsprachigen Diskurs der Disability Studies Waldschmidt (2003), Weisser u.a. (2004), Hermes u.a. (2006), Dederich (2007), Waldschmidt u.a. (2007), Bösl (2010). 2 | Vgl. die Webseite www.disability-studies-deutschland.de, in der die Rede davon ist, »dass die wirklichen Probleme behinderter Menschen nicht in ihrer individuellen Beeinträchtigung, sondern in den ausgrenzenden gesellschaftlichen Bedingungen, dem eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und den massiven Vorurteilen gegenüber Behinderung bestehen.« 3 | Vgl. als symptomatisches Beispiel Mechthild Hetzel (2007), die ethische Gewalt prinzipiell dort ansiedelt, wo es um ethische Fragen der Hilfe und Rehabilitation geht.

Einleitung

an dieser Stelle, dass behinderte Menschen und deren Belange in seiner Anerkennungstheorie bisher nicht vorkommen. Gleichwohl teile ich Honneths Bestreben, unter Rückgriff auf einen gesellschaftstheoretisch erschlossenen Begriff der Anerkennung Phänomene der Demütigung und Missachtung zu rekonstruieren. Über Honneth habe ich den Weg zu den Ethiken von Lévinas und Derrida gefunden. In Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die ethische Herausforderung der Postmoderne (1994) vertrat er die These, beide würden einen moralischen Standpunkt der Fürsorge begründen können, der mit dem liberalen Prinzip der Gleichbehandlung nicht abgedeckt sei. In dieser Zeit war ich mit dem Werk Michel Foucaults gut vertraut; dessen Ethik einer Selbstgestaltung erschien mir als jemanden, der einige Jahre mit schwerstbehinderten Menschen gearbeitet hat, jedoch nicht auszureichen. Die Subjektivität nicht nur als ein »Für-sich«, sondern als ein »Für-den Anderen« zu denken, erschien mir nach anfänglichen Schwierigkeiten mit Emmanuel Lévinas zunehmend plausibler zu sein. Einige Zeit sprach ich noch gleichwertig von einer »Sorge um sich« und einer »Sorge um den Anderen«. Im Laufe der Zeit sah ich die Notwendigkeit, eine dekonstruktive Ethik zu entwerfen, innerhalb derer der andere Mensch nicht der Idee vom wahren so genannten normalen Menschen unterworfen wird, sondern als Nächster immer auch unvordenklich Anderer bleibt. Es sind heute vor allem die Arbeiten Judith Butlers, die mich auf diesem Weg bestärken. Inzwischen glaube ich sogar, Gemeinsamkeiten zwischen ihrer Theorie subjektivierender Anerkennung und Honneths intersubjektiver Anerkennungstheorie erkennen zu können.

D ie e thische G e walt moderner M or altheorien In den ethischen Überlegungen um rechtliche Gleichbehandlung und politische Repräsentation wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es eine vorgegebene Kategorie von Menschen gibt, die sich als »Behinderte« bezeichnen lassen und besonderen rechtlichen Schutz in unserer Gesellschaft benötigen. Dabei sind bereits vorab schon die normativen Kriterien festgelegt, nach welchen Gesichtspunkten sich Behindertsein konstituiert. Die Grenzen von John Rawls’ Politischer Liberalismus (2003) und Jürgen Habermas’ Faktizität und Geltung (1992) sehe ich darin, dass sie sich gegenüber Fragen nach gefährdeten Lebensformen verschließen. Beide betrachten den demokratischen und sozialen Rechtsstaat als ein Sicherungsmedium, mit dem den moralischen Prinzipien Geltung verliehen wird: Innerhalb einer Rechtsgemeinschaft besteht eine Form allgemeiner und gleicher Anerkennung als Rechtsperson, die von der konkreten Identität der Person absieht. Im Rahmen der für alle gleichen Rechte soll jedem Individuum seine private Lebensplanung selbst

11

12

Behinder t sein - behinder t werden

überlassen bleiben.4 Man erwartet von ihm insbesondere ein Rechtsbewusstsein, mittels dessen es dem Anderen als Rechtsperson Autonomie gestattet und dem Rechtssystem einen obersten Orientierungswert für das gesellschaftliche Handeln zuweist. Die Solidarität für den gefährdeten Mitmenschen beschränkt sich auf ein rechtliches Gebot zur Unterstützung sozialstaatlicher Fürsorgeleistungen. Aber auch jenen Moraltheorien, die eine Kombination von Gerechtigkeit und gutem Leben anstreben, mangelt es zumeist daran, die Belange behinderter Menschen ausreichend zu berücksichtigen. So spricht Ernst Tugendhat in seinen Vorlesungen über Ethik (1993) Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen den Status eines moralischen Gegenübers sozialer Interaktion ab; er beschränkt sie darauf, Adressaten eines praktisch-moralischen Diskurses zu sein.5 Auch in Ronald Dworkins Gerechtigkeit für Igel6 wird der Maßstab für ein gelungenes Leben so hoch gelegt, dass ihn viele behinderte Menschen nicht erreichen. Ein gedeihliches Leben ist für ihn mit der Fähigkeit verbunden, »eine Erzählung zu produzieren, die die Werte des Charakters – Loyalitäten, Ambitionen, Wünsche, Geschmacksvorlieben und Ideale – miteinander verwebt.« (Dworkin 2012: 416). Viele behinderte Menschen werden damit aus dem Kreis glücksfähiger Menschen ausgeschlossen: »Ein geistig minderbemittelter Mensch ist nicht dazu in der Lage, einen ausreichend großen Bestand an stabilen wahren Meinungen über die Welt zu bilden, um ein sicheres (ganz zu schweigen von einem ergiebigen) Leben führen zu können.« (Ebd.: 415) In Martin Seels Versuch über die Form des Glücks (1995) und in Martha Nussbaums Die Grenzen der Gerechtigkeit (2010) wird dagegen explizit der Frage 4 | Rawls und Habermas vertreten das Konzept eines Vorrangs des Rechten vor dem Guten. Die Ideen des Guten haben bei Rawls zwar Geltung, aber nur insoweit sie als Ergänzung einer politischen Gerechtigkeitskonzeption verstanden werden. Gut ist, »was öffentlich als Bedürfnis der Bürger und damit als vorteilhaft für alle anzuerkennen ist.« (Rawls 2003: 273) Rawls nennt folgende Grundgüter, die für alle gelten sollten: Grundreche und Grundfreiheiten, Freizügigkeit und freie Berufswahl, Befugnisse und Zugangsrechte zu Ämtern und Positionen, Einkommen und Besitz, soziale Grundlagen der Selbstachtung (ebd.: 275). 5 | Insofern heißt es bei ihm: »Die Totalität derjenigen, die wechselseitige Forderungen aneinander stellen können – die ›Subjekte‹ der Moral –, ist identisch mit der Totalität derjenigen, denen wir moralisch verpflichtet sind – die ›Objekte‹ der Moral. Nur gegenüber diesen Wesen ist Achtung möglich.« (Tugendhat 1993: 187) 6 | Dworkin vertritt die These von der »Einheit der Werte«. Mit dem Titel Gerechtigkeit für Igel spielt er auf einen Vers des altgriechischen Dichters Archilochos an, dessen heutige Bekanntheit vor allem auf Isaiah Berlins Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis (2009) zurückgeht: »Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.« (Berlin 2009: 7)

Einleitung

nachgegangen, inwieweit sich unter Bezugnahme auf das, was wir mit einem gelungenen Lebens verbinden, die moralische Rücksichtnahme auf behinderte Menschen begründen lässt. Seel entwickelt eine formale Theorie des Glücks, die ihn zu dem Ergebnis führt, dass zu einem guten Leben die Teilnahme an intersubjektiver Praxis und die Erfahrung gelingender dialogischer Interaktionen gehören: Menschen sind auf moralische Rücksicht, d.h. auf interaktive Ansprache und Zuwendung durch moralfähige Subjekte angewiesen, unabhängig davon, ob sie diesen Anspruch selbst äußern können oder nicht. Das Kriterium der »Angewiesenheit« macht es möglich, die Frage, ob wir jemanden als moralisches Gegenüber betrachten oder nicht, nicht nach persönlichen und willkürlichen Vorlieben und Meinungen zu entscheiden. Mit ihm soll deutlich werden, dass eine Ethik der Anerkennung in der Lage ist, den Sinn und die Reichweite moralischer Verpflichtungen auch in Fällen plausibel zu machen, wo es sich um eine einseitige Anerkennung in asymmetrischen Beziehungen handelt: »Moralische Rücksicht ist Rücksicht unter Personen, gegenüber Personen und allen anderen, die in ihrem Wohlergehen gleichfalls auf eine interaktive Teilnahme an personalem Leben angewiesen sind. Kurz: Moralische Rücksicht betrifft alle, die in ihrem Wohlergehen auf die Rolle eines sozialen Gegenübers in personalen Interaktionen angewiesen sind.« (Ebd.: 299)

Martha Nussbaum bezweifelt dagegen, dass es genügt, einen Begriff der Gerechtigkeit auf dem Prinzip der wechselseitigen Achtung zu begründen. Sie kritisiert John Rawls’ Vertragstheorie, dessen Parteien im Urzustand Eigenschaften und Fähigkeiten mitbringen müssen, die »im Bereich des Normalen« (Rawls 2003: 93, zit.n. Nussbaum 2010: 157) liegen. Menschen mit schweren Behinderungen, so Nussbaum, werden bei ihm von der Festlegung grundlegender politischer Prinzipien ausgeschlossen: Rawls berücksichtigt nur Personen, »die als freie und gleiche und lebenslang uneingeschränkt kooperative Gesellschaftsmitglieder betrachtet werden können« (ebd.: 86, zit.n. ebd.: 158).7 Damit blendet er menschliche Erfahrung schwerer körperlicher oder geistiger Behinderung bzw. zeitweiliger oder dauerhafter Abhängigkeit aus. Indem die Belange behinderter Menschen auf nachgeordnete Gesetzgebungsverfahren verschoben werden, bleibt ihr Anspruch auf gleichberechtigtes Wohlergehen gefährdet. Nussbaums »Capability approach« setzt mit einer Liste zentraler menschlicher Fähigkeiten auf Kriterien des guten Lebens, die einen Prüfstein 7 | Vgl. Rawls (2003): »Mit Blick auf unser Ziel klammere ich solche zeitweiligen Einschränkungen von Fähigkeiten jedoch ebenso aus wie dauerhafte Behinderungen und psychische Störungen, die so ernsthaft sind, dass die von ihnen Betroffenen keine kooperativen Gesellschaftsmitglieder im üblichen Sinne sein können.« (Ebd.: 87)

13

14

Behinder t sein - behinder t werden

für die Einhaltung der Menschenwürde darstellen soll. Obwohl viele behinderte Menschen die genannten Fähigkeiten nicht besitzen bzw. erreichen können, fallen sie laut Nussbaum nicht unter die Schwelle der Menschenwürde. Vielmehr sollen sich daraus Ansprüche ableiten lassen, die Gesellschaft zum Adressaten entsprechender Verpflichtungen ihnen gegenüber zu machen. Axel Honneth geht in Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit (2011) einen entscheidenden Schritt weiter: Für ihn reicht es nicht aus, den normativen Rahmen kantischer Gerechtigkeitstheorien zu erweitern, indem Werte, Ideale und Normen des guten Lebens festlegt werden.8 Die eigentliche »Beschränkung« gegenwärtiger Moraltheorien sieht er darin, sich »von der Gesellschaftsanalyse« (Honneth 2011: 14) abgekoppelt zu haben: Sie begnügen sich damit, normative Prinzipien bzw. evaluative Standards festzulegen, um sie von außen auf eine gegebene Sozialordnung zu beziehen und daraus Urteile über gerechtfertigte Veränderungen abzuleiten. Demgegenüber hält es Honneth für geboten, »eine Theorie der Gerechtigkeit aus den Strukturvoraussetzungen der gegenwärtigen Gesellschaften selbst zu entwerfen« (Honneth 2008: 15). In diesem Sinn untersucht er die Sittlichkeit gegebener sozialer Praktiken und Institutionen – persönliche Beziehungen (Freundschaft, Intimbeziehungen, Familien), marktwirtschaftliches Handeln (Konsumsphäre, Arbeitsmarkt), demokratische Willensbildung (Öffentlichkeit, Rechtsstaat). Diese drei Anerkennungssphären werden von ihm insoweit kritisch rekonstruiert, als die in ihnen verkörperten und allgemein akzeptierten normative Prinzipien der Liebe, der Leistungsgerechtigkeit und der Rechtsgleichheit gegenwärtig in der Gefahr stehen, ihre Geltungskraft zu verlieren. Honneth lässt sich von der Idee leiten, dass sich die Selbstverwirklichung und soziale Inklusion der Gesellschaftsmitglieder in allen drei Anerkennungssphären über den Vorgang wechselseitiger Anerkennung vollziehen. »[D]ie Gerechtigkeit oder das Wohl einer Gesellschaft bemisst sich an dem Grad ihrer Fähigkeit, die Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung sicherzustellen, unter denen die persönliche Identitätsbildung und damit die individuelle Selbstverwirklichung in hinreichend guter Weise vonstatten gehen kann.« (Honneth 2003b: 206)

8 | Damit spreche ich mich nicht für eine »Negativistische Sozialpsychologie« (Liebsch u.a. 2011) aus, die den Königsweg der Gesellschaftsanalyse darin sieht, ausschließlich »soziale Pathologien« zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen zu machen. Sie bringt sich um den Ertrag, zwischen sinnvollen und ideologischen Formen der Anerkennung unterscheiden zu können. Mit Axel Honneth bin ich der Überzeugung, dass sich mit dem Begriff der Anerkennung auch »ein Moment der immanenten innerweltlichen Transzendenz« (Honneth 1994: 79) benennen lässt, um der Kritik an der mangelnden gesellschaftlichen Anerkennung behinderter Menschen einen sozialen Halt zu verschaffen.

Einleitung

Die Anerkennungssphären stellen insoweit Bezugspunkte der Kritik dar, als sie einen normativen Geltungsüberschuss enthalten, der es moralfähigen Subjekten in ihrem Kampf um Anerkennung ermöglicht, bislang unberücksichtigt gebliebene personale Bedürfnisse, Ansprüche auf Würdigung sozialer Beiträge und Rechtsansprüche vorzubringen. Die Anerkennung individueller Bedürftigkeit und Abhängigkeit findet bei Honneth nur im Rahmen persönlicher Beziehungen wie Familie und Freundschaft statt, wobei die Praktiken der Zuwendung und Fürsorge hier unter dem Aspekt der Einforderung eines symmetrischen und reziproken Anerkennungsverhältnisses gedeutet werden. In Honneths auf reziproke Anerkennungsverhältnisse zielender Anerkennungstheorie bleibt der soziale Bereich ausgespart, in dem längerfristig oder dauerhaft asymmetrische Beziehungen der Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft und Fürsorge vorherrschen. Sein bisheriges Theoriedesign ist darauf angelegt, nur jene Anerkennungskämpfe ins Auge zu fassen, in denen es um unzulänglich eingelöste Formen wechselseitiger Anerkennung geht.9

G leichbehandlung und F ürsorge In Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die ethische Herausforderung der Postmoderne (1994) gibt Honneth selbst eine Erklärung, warum er jene Verhaltensweisen ausblendet, »die in asymmetrischen Akten der Wohltätigkeit, der Hilfsbereitschaft und der Nächstenliebe bestehen« (Honneth 2000a: 166).10 Seine damalige These lautete, dass Lévinas und Derrida eine Phänomenologie der Fürsorge vorlegen, in denen moralische Gesichtspunkte berücksichtigt werden, die den Denkhorizont einer auf Gleichbehandlung bzw. symmetrische Anerkennung ausgerichteten Ethik sprengen. Damit stellen sie eine Herausforderung für jene Gerechtigkeitstheorien dar, die ihre moralischen Wurzeln im Prinzip der Gleichbehandlung haben. Mit ihrer »Ethik der Fürsorge« machen sie auch einen moralischen Standpunkt außerhalb des Begriffs 9 | Honneth weist darauf hin, dass mit dem Begriff der Anerkennung inzwischen ein »Dickicht von begrifflichen Verwirrungen« (Honneth 2010: 110) einhergeht. Während er »im Deutschen im Wesentlichen nur jenen normativen Sachverhalt« bezeichnet, »der mit der Verleihung eines positiven Status verknüpft ist«, umfasst »er im Englischen und Französischen zusätzlich noch die epistemische Bedeutung des Wiedererkennens oder Identifizierens« (ebd. 109). Hinzu kommt, dass er »in allen drei Sprachen auch für Sprechakte des Eingeständnisses oder des Einräumens verwendet werden kann, wodurch das Anerkennen primär einen rein selbstbezüglichen Sinn erhält« (ebd.). 10 | Der Text ist auch deshalb bemerkenswert, weil er eine erste Öffnung von Seiten der Kritischen Theorie gegenüber dekonstruktivistischen Ansätzen in der Philosophie darstellt.

15

16

Behinder t sein - behinder t werden

der »Solidarität«11 kenntlich. »Fürsorge«, so Honneth, besitzt im »Unterschied sowohl zur Gleichbehandlung wie auch zur Solidarität den Charakter einer vollkommen einseitigen, nicht-reziproken Zuwendung« (ebd.: 169). Nach Lévinas sei mit ihr »strukturell die Erfahrung einer moralischen Verantwortung verknüpft, die die unendliche Aufgabe enthält, der Besonderheit der anderen Person durch immerwährende Fürsorge gerecht zu werden« (ebd.: 162). Lévinas’ Phänomenologie intersubjektiver Beziehung ist für Honneth von Interesse, weil er uns darauf hinweist, »dass in dem visuell gegebenen Bedeutungshorizont eines Gesichtes stets auch der kognitive Hinweis auf eine moralische Verpflichtung einbezogen ist« (ebd.: 161).12 Lévinas zufolge entsteht Verantwortung aus einer asymmetrischen Beziehung zu einem irreduzibel Anderen, dessen Anspruch jedem Bewusstsein eines Ichs vorausgeht. Diese »Ausgesetztheit ihm gegenüber, die früher ist als sein Erscheinen« (Lévinas 1992a: 200) wird von Honneth jedoch zu der Wahrnehmung extremer Hilfebedürftigkeit eines Gegenübers umgedeutet. Dementsprechend hält er den Standpunkt der Fürsorge nur da für erforderlich und berechtigt, »wo sich eine Person in einem Zustand so extremer Not befindet, dass der moralische Grundsatz der Gleichbehandlung auf sie nicht mehr in einem ausgewogenen Maße anzuwenden ist« (Honneth 2000a, 169f.). Hier stellt sich jedoch die Frage, worauf sich aus der Tatsache der Angewiesenheit auf personelle Zuwendung eine Verantwortung gegenüber dem hilfebedürftigen Anderen gründen soll. Die Pointe einer dekonstruktiven Ethik wird verfehlt, wenn die ethische Verpflichtung gegenüber dem schutzbedürftigen konkreten Anderen nur in einer möglichen und nicht in der konstitutionellen Hilfebedürftigkeit und Schutzlosigkeit des anderen Menschen begründet wird. Wenn Lévinas in Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht (1992a) davon ausgeht, dass mich das Gesicht des Anderen anspricht, sind es für ihn nicht allein die empirisch wahrnehmbaren Besonderheiten, die den ethisch motivierten Anstoß für Anteilname und Fürsorge auslösen: Der Begriff des Gesichtes geht über ein bereits Erkennbares oder Beobachtbares in der sichtba11 | Habermas sieht zwar im solidarischen Handeln eine positive Kraft, mittels derer sich Menschen wechselseitig um das Wohl des jeweils anderen kümmern. Doch auch in seinen Erklärungen zur Begründung dieses »guten Willens« bleibt der Bereich konkreter Erfahrungen völlig unberücksichtigt. Bei ihm ist lediglich die Rede von einem Bewusstsein »der Zugehörigkeit zu einer idealen Kommunikationsgemeinschaft«, das der »Gewissheit der Verschwisterung in einem gemeinsamen Lebenszusammenhang« (Habermas 1991: 72) entspringt. 12 | Laut Simon Critchley ist es völlig berechtigt, der ethischen Beziehung zum Anderen auch eine empirische Bedeutung abzugewinnen. Honneths Problem, so Critchley, besteht aber darin »das Ockham’sche Rasiermesser von Empirischem und Normativem« (Critchley 1994: 1028) anzusetzen.

Einleitung

ren Erscheinung des Anderen hinaus. In ihm symbolisiert sich die Kontingenz des Anderen, seine Schwäche und Sterblichkeit, seine schutzlose Ausgesetztheit, d.h. seine stumme Bitte (und Frage und Forderung), die er durch seine bloße Präsenz an mich richtet. Der Andere »geschieht« und die Erfahrung des Geschehens kommt für das Subjekt immer zu spät, da es in einer zeitlichen Uneinholbarkeit verhaftet bleibt. Mit »Verantwortung« meint Lévinas folglich eine »auf das Bewusstsein irreduzible Beziehung« in Form einer ethisch zu verstehenden »Besessenheit« (Lévinas 1992a:, 223). Sie verfolgt das Subjekt wie ein vorauseilender Ruf, dem es nachgeht, ohne ihn jemals zu erreichen. Der Andere setzt das Subjekt in eine Beziehung mit einer ursprünglichen Differenz, die dessen objektivierenden Horizont durchbricht. Lévinas zufolge ergibt sich Fürsorge als bindungserzeugende Kraft vor allem aus der sozialen Nähe zum Anderen. Seine reflektierte Einsicht in ein erweitertes moralisch-praktisches Handeln im Sinne eines »Der-Eine-fürden-Anderen« ermöglicht eine plausible Begründung für die Anerkennung derer, die man oft abschätzig als »Grenzfälle des Lebens« bezeichnet: »Den Anderen anerkennen heißt geben. […] In der Großmut sehe ich die von mir besessene Welt – Welt, die sich dem Genuss bietet – von einem Standpunkt aus, der von meiner egoistischen Position unabhängig ist.« (Lévinas 1987: 103) Der Gedanke der Verantwortung in der Nähe zum Anderen führt Lévinas zu einem neuen kritischen Bewusstsein für die soziale Welt. Die Universalisierung moralischer Normen, die durch die Anwesenheit des »Dritten« bzw. der Allgemeinheit entsteht, ist ohne die Verstrickung in dieser vorintentionalen Beziehung zum Anderen nicht denkbar. Unter dem Prinzip der normativen Gerechtigkeit erscheint der Andere nicht mehr als unvertretbare Person, die sich meiner Verantwortung darbietet, sondern als Individuum, das Mitglied einer Gesellschaft ist, Bürger eines Staates mit Gesetzen, die für alle gelten. Im Rahmen gesellschaftlicher Öffentlichkeit treten meine asymmetrischen ethischen Verpflichtungen gegenüber dem Anderen in einen politischen Kontext und verwandeln sich in die universale Symmetrie der Beziehung zwischen Gleichen. »Die Gerechtigkeit ist unmöglich, ohne dass derjenige, der sie gewährt, sich selbst in der Nähe befindet. Seine Funktion beschränkt sich nicht auf die ›Funktion der Urteilskraft‹, auf die Subsumtion von Einzelfällen unter die allgemeine Regel. Der Richter steht nicht außerhalb des Streitfalls, das Gesetz aber gilt innerhalb der Nähe. Die Gerechtigkeit, die Gesellschaft, der Staat und seine Institutionen – die verschiedenen Weisen des Sich-Austauschens und der Arbeit, von der Nähe her verstanden – bedeuten jeweils, dass nichts sich der Kontrolle der Verantwortung des Einen für den Anderen entziehen kann.« (Lévinas 1992a: 347)

17

18

Behinder t sein - behinder t werden

Gleichbehandlung schließt Verantwortung für den konkreten Anderen also nicht aus; ebenso ist in der Verantwortung die Gleichbehandlung des allgemeinen Anderen aufgehoben. Die Einzigkeit des Subjekts und die Radikalität seiner Verantwortung, die es an niemanden delegieren kann, beruhen auf dieser Asymmetrie. Die praktische Vernunft tritt daher nicht erst auf den Plan, wenn egoistisches Einzelinteresse als Sorge um den eigenen Nutzen und Gemeinwohl als Sorge um die Allgemeinheit in Harmonie gebracht werden sollen. Sie lebt bereits in der unmittelbaren Begegnung der Menschen, der Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht. »Die interpersonale Beziehung, die ich mit dem Anderen herstelle, muss ich auch mit den anderen Menschen herstellen; es besteht also die Notwendigkeit, dieses Privileg des Anderen einzuschränken; daher die Gerechtigkeit. Diese muss, wird sie durch Institutionen ausgeübt, die unvermeidlich sind, immer durch die anfängliche interpersonale Beziehung kontrolliert werden.« (Lévinas 1992b: 69)

Honneth konnte sich damals nur auf Derridas The Politics of Friendship (1988/1999) und Gesetzeskraft: Der »mystische Grund der Autorität« (1991)13 beziehen, um sich mit dessen These auseinanderzusetzen, dass es ein Verhältnis des gewaltsamen und unlösbaren, zugleich aber auch produktiven Konfliktes zwischen den beiden moralischen Gesichtspunkten »der wechselseitigen Anerkennung der Menschen als gleichberechtigte Personen« und der Fürsorge gibt.14 Während der Konflikt in Beziehungen der Freundschaft noch eine Einheit zu bilden vermag, bricht er auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Individuum und Recht gewaltsam auf: »Unlösbar ist dieser Konflikt, weil die Idee der Gleichbehandlung zu einer Einschränkung der moralischen Perspektive zwingt, aus der heraus die andere Person in ihrer Besonderheit zum Empfänger meiner Fürsorge werden kann; […] produktiv ist dieser Konflikt, 13 | Honneth konnte damals noch nicht auf Derridas weiterführende Texte wie u.a. Adieu (1999), Politik der Freundschaft (2000), Von der Gastfreundschaft (2001), Politik der Freundschaft (2002) und Schurken. Zwei Essays über die Vernunft (2003) zurückgreifen. 14 | Simon Critchley bemerkt mit Recht, dass sich Honneth nur auf Totalität und Unendlichkeit (1987) bezieht und dadurch die »Verschiebung des Sinns von ›Gerechtigkeit‹ übersieht, die in den Lévinas’schen Arbeiten zwischen Totalität und Unendlichkeit und Jenseits des Seins stattfindet« (Critchley 1994: 1031). Dadurch entgeht ihm laut Critchley, dass es für Lévinas keine »zwei Perspektiven des Moralischen« gibt. »Was Lévinas vorlegt, ist ein einziger moralischer Gesichtspunkt sowie ein Vorschlag, wie dieser Gesichtspunkt in einen gesellschaftlich-politischen Kontext und in ein rechtliches Verfahren integriert werden könnte.« (Ebd.: 1032)

Einleitung weil der Gesichtspunkt der Fürsorge stets wieder ein moralisches Ideal eröffnet, an dem sich der praktische Versuch einer schrittweisen Verwirklichung der Gleichbehandlung korrektiv zu orientieren vermag.« (Honneth 2000a: 165)

Honneth schließt sich also Derridas Behauptung an, dass sich die beiden Moralperspektiven der Gleichbehandlung und der Fürsorge nicht in einen gemeinsamen Orientierungsrahmen bringen lassen; seine Übereinstimmung mit Derrida endet jedoch da, wo jener in Gesetzeskraft auf begriffsanalytischer Ebene den Nachweis erbringen möchte, dass ein auf dem Prinzip der Gleichbehandlung beruhendes Recht nicht in der Lage ist, dem individuellen Anliegen einzelner Personen wirklich gerecht zu werden (vgl. Derrida 1991: 46ff.). Derridas Dekonstruktion, so lautet auch ein Einwand von Habermas, orientiert sich hier auf problematische Weise nicht an der Faktizität gesellschaftlicher Machtverhältnisse, sondern an der »Gewalt der Begriffe einer in sich verkehrten Normativität« (Habermas 2005: 284f.). Es spricht nichts gegen Derridas Versuch, die Mechanismen politischer und sozialer Gewalt dadurch zu demaskieren, dass er die mit dem Begriff des Rechts verbundenen Antinomien analysiert. Eine dekonstruktive Ethik vermag aber mehr zu überzeugen, wenn es ihr gelingt, ihren moralischen Gesichtspunkt durch die Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse zu rechtfertigen. Honneth bietet auf der Grundlage von Hegels Rechtsphilosophie eine sozialtheoretische Analyse unterschiedlicher gesellschaftlicher Sphären der Anerkennung an, über die Selbstentfaltung und soziale Inklusion von Menschen geregelt wird. Er rekonstruiert dort Anerkennungsnormen, die als Medien der Liebe, der Achtung oder der Solidarität wirksam sind und über die entschieden wird, wer auf welche Weise zur »sozialen Sichtbarkeit« (Honneth 2003a: 20) gelangt. Dabei betrachtet er die sozialen Normen einer Gesellschaft nicht nur als Ermöglichungsbedingungen für soziale Anerkennung, sondern spricht auch von einer »Anerkennungsordnung«, die »normativen Zwängen« unterliegt, mit denen festgelegt wird, »in welchen Aspekten Individuen auf soziale Anerkennung rechnen oder zu ›sozialer Existenz‹ (Judith Butler) gelangen können« (Honneth 2003b: 287). Honneths Anerkennungstheorie wirft allerdings da Probleme auf, wo sie sich damit begnügt, die Einschränkung kommunikativer Freiheiten eines handlungsfähigen Subjekts in interaktiven Prozessen zu beleuchten. Darüber hinaus stellt sie sich auch nicht ausreichend die Frage, inwieweit die Handlungsfähigkeit des Subjekts durch subjektivierende Praktiken und Diskurse eingeschränkt wird, die es an eine Identität binden.15 Seine Kritik an Derridas gesellschaftsvergessener Dekonstruktion des Rechts trifft daher nicht dessen 15 | Vgl. hier auch Patchen Markell (2003), der mit Wittgenstein davon ausgeht, dass die Wurzeln mangelnder Anerkennung in der Grammatik einer politischen Ordnung zu

19

20

Behinder t sein - behinder t werden

dekonstruktive Ethik als Ganzes. Im Gegenteil, mit Derridas Dekonstruktion lässt sich an eine von Marx über Adorno bis zu Foucault ausholende Kritik an der Konstitution moderner Formen der Subjektivität anknüpfen, die in der kritischen Theorie von Habermas und Honneth unterbelichtet bleibt. Derridas dekonstruktive Ethik beruht auf einer »doppelten Bewegung« (Derrida 2001: 40). Einerseits geht es um eine »Befragung des Ursprungs, der Grundlagen und der Grenzen unseres begrifflichen, theoretischen, normativen Apparates«, andererseits schöpft sie ihren moralischen Impuls aus Verantwortung in der Nähe zum Anderen: von seinem »immer unzufriedenen Ruf, von dieser nie zufriedenzustellenden Forderung, jenseits der vorgegebenen und überlieferten Bestimmungen dessen, was man in bestimmten Zusammenhängen als Gerechtigkeit, als Möglichkeit der Gerechtigkeit bezeichnet« (Derrida 1991: 42).

S kiz ze einer dekonstruk tiven E thik Derridas dekonstruktive Ethik macht auf die Tragik aufmerksam, dass es eine unaufhebbare Differenz gibt zwischen den je individuellen Ansprüchen und den allgemeinen Annahmen, die die politische Gleichbehandlung in unvermeidbarer Weise impliziert. Sie eröffnet als ethische Bewegung die Möglichkeit, auf das Leid aufmerksam zu machen, das mit einer von den individuellen Belangen behinderter Menschen abstrahierenden Gerechtigkeit einhergeht. Ihren spezifischen Sinn als ethisches Unternehmen gewinnt die Dekonstruktion gerade deshalb, weil die Verantwortung für den Anderen – nicht nur in existenziell herausfordernden Situationen der Not – die normative Grundlage für die Bewertung von Politik bildet. Honneth schließt diesen Weg aber prinzipiell aus. Er lehnt es ab, »die Fürsorge oder die Wohltätigkeit […] zum logischen Anfangsgrund aller Prinzipien des Moralischen zu erklären« (Honneth 2000a: 170).16 Die Tür zu einer dekonstruktiven Ethik hält Honneth aber insofern einen Spalt breit offen, als er bereit ist, der Fürsorge einen genetischen Vorrang einzuräumen: »[J]a es mag sein, dass ein Sensorium für das, was Gleichbehandlung in einem unbeschränkten Sinn heißen kann, überhaupt nur dann zu entwickeln ist, wenn an der eigenen Person einmal die Erfahrung

suchen sind, die mit dem Prinzip der Gleichbehandlung bzw. der wechselseitigen Anerkennung eher verdeckt als kenntlich gemacht werden. 16 | Im Vergleich zur Fürsorge stellt der moralische Standpunkt der Gleichbehandlung für Honneth einen »universalistischen Grundsatz« (Honneth 2000a: 170) dar. Er hält ihn für ausreichend, um ihn als moralisches Prinzip gelten zu lassen, »an dem die Praxis der Rechtsanwendung sich idealerweise zu orientieren hat« (ebd.: 158).

Einleitung

einer unbegrenzten Fürsorge, einer Ungerechtigkeit, gemacht worden ist.« (Ebd.: 169)17 Durch Derridas dekonstruktive Ethik verschiebt sich das, was unter Anerkennung zu verstehen ist, zu einer auf eine unüberwindbare Alterität bzw. Differenz als moralischem Gesichtspunkt angelegten Ethik. Die soziale Sphäre wechselseitiger Anerkennung erscheint nun als ein Bereich, in dem sich die Beteiligten als jemand oder als etwas vom Standort eines Dritten aus gleichsetzen. Man könnte hier von einer im Kern »verkennenden Anerkennung« (Thomas Bedorf) sprechen. Sie besteht darin, dass in den Prozess der Anerkennung eine diskursive Zuschreibung tritt, die eine Differenz erzeugt: »Die Differenz, die sich aus dem Vorgang des Anerkennens ergibt, besteht darin, dass das Anerkannte nie als es selbst anerkannt wird, sondern nur im Horizont eines Mediums, nämlich der Hinsicht, in der es erkannt wird.« (Bedorf 2010: 124) Was jeweils als die Identität des Anerkannten in Erscheinung tritt, ist nicht sein bloßes Sein, sondern eine gesellschaftlich zugewiesene Identität. Eine dekonstruktive Ethik lässt sich als eine unendliche Bewegung verstehen, »in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin« (Foucault 1992: 15). Sie orientiert sich folglich nicht mit Hegel in affirmativer Weise an der Sittlichkeit gegebener sozialer Praktiken, sondern mit Michel Foucault in kritischer Weise an einer historisch veränderbaren Form der Macht: »Diese Machtform gilt dem unmittelbaren Alltagsleben, das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben. Diese Machtform verwandelt die Individuen in Subjekte. Das Wort ›Subjekt‹ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine Identität gebunden ist. In beiden Fällen suggeriert das Wort eine Form der Macht, die unterjocht und unterwirft.« (Foucault 1982: 275)

17 | Honneth verdeutlicht in Kampf um Anerkennung (2003: 148-172), wie stark das Kleinkind auf die Erfahrung einer liebevollen Anerkennung angewiesen ist, durch die es zur sozialen Existenz kommt. Wie ich in meinem in diesem Band abgedruckten Aufsatz Im Angesicht des dementen Anderen (2011) zeige, benennt Honneth neuerdings elementare Strukturen der Anerkennung im Sinne von »Besorgtheit«, die über den Bereich »Kleinkind-Bezugsperson« hinausweisen.

21

22

Behinder t sein - behinder t werden

Honneths kritische Theorie orientiert sich vorrangig an den negativen Mechanismen einer die Identität unterdrückenden Macht.18 Laut Foucault beruft sie sich damit gerade auf das, »was durch diese Macht in Amt und Würden eingesetzt wird«. Jene, die das »›Recht‹ auf die Wiedergewinnung alles dessen, was man ist oder sein kann – jenseits aller Unterdrückungen und ›Entfremdungen‹« (Foucault 1983, 172f.) fordern, bleiben Teil jenes Machtzusammenhangs, in der sich die moderne Gesellschaft reproduziert. Verbote, Verweigerungen, Zensuren und Verneinungen bilden lediglich beschränkte Taktiken innerhalb einer umfassenderen Strategie, in der u.a. das Subjekt eines Behindertseins als Wissensgegenstand hervorgebracht wird. Die auf Anerkennung von Identität bezogenen Bürgerrechtsbewegungen müssen sich daher der Kontingenz ihrer eigenen geschichtlichen Genese stellen. Nur so können sie das paradoxe Spiel beenden, das sie stets von neuem dazu zwingt, für den essentiellen Charakter einer willkürlich zugeschriebenen Identität einzutreten. Foucaults genealogische Kritik bewegt sich an den Grenzen gegenwärtiger Gerechtigkeit. Sie hat in dem Spiel dessen, was man die »Politik der Wahrheit« (Foucault 1992: 15) nennen könnte, im Wesentlichen die Funktion, die Begriffe zu prüfen, mit denen diese Gesellschaft sich öffentlich legitimiert. Die gegenwärtige Gesellschaft wird nicht nur an den normativen Ansprüchen gemessen, die aus den einzelnen gesellschaftlichen Sphären – Nahbeziehungen, Wirtschaftsordnung, Rechtsbeziehungen – heraus rekonstruiert werden können, vielmehr werden die normativen Ansprüche und Ideale darauf geprüft, in welcher Weise sie zur Legitimierung demütigender sozialer Praktiken der herabwürdigenden Identitätszuschreibung von Individuen oder Gruppen beitragen.

18 | Wenn Honneth mit dem »genalogischen Vorbehalt« eine theoretische Komponente in das Verfahren der Rekonstruktion moralischer Prinzipien einbaut, so hat das wenig mit Foucaults Genealogie zu tun. Honneth verbindet mit seinem Begriff von Genealogie die Untersuchung »unmerklicher Bedeutungsverschiebungen« (Honneth 2007: 68) im ursprünglich positiven Sinngehalt moralischer Normen, während Genealogie bei Foucault darin besteht, die mit Werten, Praktiken und Institutionen verwobenen Identifikationen und Subjektivierungen zu untersuchen, die soziale Teilhabe regulieren und über Wert und Unwert von Lebensformen entscheiden. Vgl. dazu den interessanten Vorschlag von Rahel Jaeggi, die einen Begriff von »immanenter Kritik« entwickelt, der sich von Honneths Typologie unterscheidet: »Immanente Kritik ist […] weniger auf die Rekonstruktion oder Einlösung normativer Potentiale als auf eine durch die immanenten Probleme und Widersprüche einer bestimmten sozialen Konstellation beförderte Transformation des Bestehenden ausgerichtet. […]. Sie stellt also nicht eine ehemals funktionierende Übereinstimmung zwischen Norm und Realität, die verloren gegangen war, wieder her, sondern will eine widersprüchliche und krisenhafte Situation in etwas Neues überführen.« (Rahel 2014: 277, 295)

Einleitung

Foucaults Untersuchungen zu Subjektivität und Macht stellen ein historisches und sozialkritisches Unternehmen dar, mit dem es gelingt, die Verwobenheit von Macht und Subjekt sichtbar zu machen. Sie führen zu dem Befund, dass die moderne Erfahrung des Behindertseins in einem strukturellen Zusammenhang mit »Machtverfahren« steht, »die nicht mit dem Recht sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe sondern mit der Kontrolle, und die sich auf Ebenen und in Formen vollziehen, die über den Staat und seine Apparate hinausgehen« (Foucault 1983: 110f.). Die Rechtsnormen, mit denen das »Volk« in den staatlich organisierten liberaldemokratischen Gesellschaften auf sich selbst einwirkt, bilden eine Sphäre der Gerechtigkeit, die gerade deshalb funktioniert, weil unterhalb dieser Ebene eine Technik der sorgfältigen Verwaltung der Körper und der rechnerischen Planung des Lebens wirksam ist. Die Aufklärung, welche die formellen individuellen Freiheitsrechte entdeckt hat, hat zugleich auch eine Macht erfunden, mit der sie den Körper und das Leben der Menschen in eigene Regie nimmt. Während sich im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zunächst institutionell verankerte disziplinierende Machttechniken entwickelten, die wesentlich auf die Körper der Individuen gerichtet waren, kommt es im 19. Jahrhundert zur staatlichen Regulierung der Phänomene menschlichen Lebens: »Die neue Technologie […] richtet sich an die Vielfalt der Menschen, nicht insofern sie sich zu Körpern zusammenfassen lassen, sondern insofern diese im Gegenteil eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Geburt, des Todes, der Produktion, Krankheit usw.« (Foucault 1983: 166)

Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer »Biopolitik der Bevölkerung« als einer besonderen Art, wie man im 19. Jahrhundert versucht, die Probleme wie Hygiene, Geburten- und Sterblichkeitsrate, Lebensdauer, Gesundheitsniveau usw. zu lösen. Mit dem Auftauchen des Problems der Bevölkerungsregulation fällt der Medizin die Rolle einer präventiv-politisch wirkenden Interventionstechnik zu. Im Zusammenhang mit einer medizinisch ausgerichteten Regierungskunst der Bevölkerung wird der »Behinderte« als behandlungsbedürftiges Individuum entdeckt und medizinisch-pädagogischen Heiltechniken unterworfen. In der Folge bildete sich der moderne Staat als ein heterogenes Ensemble biopolitischer Eingriffe heraus, das Diskurse, Institutionen, Apparate, Gesetze, wissenschaftliche Aussagen usw. miteinander verbindet, um in die Art des Lebens, in das »Wie« des Lebens einzugreifen. Foucaults Genealogie ermöglicht es auch, einen Prozess in Gang zu setzen, der zu Veränderungen von individuellen Haltungen und Vollzügen und damit von subjektivierenden Praktiken und Institutionen führt. Am Ende seines Lebens sucht er nach ethischen Möglichkeiten einer Freiheitspraxis in

23

24

Behinder t sein - behinder t werden

Form alternativer Selbsttechniken, die dem Subjekt eine relative Autonomie innerhalb veränderter Machtverhältnisse ermöglichen. Foucault entwickelt die Vorstellung von Selbstsorge, in der die Individuen nach den Gründen ihres So-Seins in einer Art und Weise fragen, dass sie die normalisierenden Subjektivierungstechniken selbst zum Ausgangspunkt ihrer Problematisierungen machen und Selbsttechniken zu einer veränderten Lebenspraxis entwickeln. Mit seinem Vorschlag einer »Ästhetik der Existenz« bietet er vielen behinderten Menschen eine ethische Alternative an. Sie brauchen sich ihre Identität nicht länger durch Zwangspraktiken geben lassen, die von Institutionen der Pädagogik, Psychologie oder Medizin usw. eingesetzt werden, sondern können sie durch Selbstpraktiken innerhalb ihres Existenzbereichs gewinnen.19 Foucaults Konzept einer »Sorge um sich« gibt behinderten Menschen Mittel an die Hand, Widerstand gegen Formen der Fremdbestimmung zu leisten und der kritiklosen Verinnerlichung geforderter Verhaltensnormen entgegenzutreten. Sein Begriff der Selbstsorge ist jedoch Heidegger entlehnt, für den die »Selbstsorge« ethisch vorrangig gegenüber der Intersubjektivität des »Man« ist. So wie Heidegger das verantwortliche Verhältnis zum Anderen lediglich im defizitären Modus einer »einspringend-beherrschenden« Fürsorge (Heidegger 1986: 121f.) begreift, erscheint es bei Foucault nur im Modus der Unterwerfung unter eine »Bio-Macht«.20 Lévinas dagegen begreift die Selbstsorge als eine abgeleitete Strategie der Selbstbegrenzung innerhalb einer vorgängigen Verantwortung gegenüber dem Anderen.21 Seine Ethik legt eine Tiefenstruktur menschlichen Daseins frei: Aus der Nähe zu Anderen erwächst eine vor aller Selbstsorge liegende einseitige und unabweisbare Verantwortung für dessen Wohl. Anders gesagt: Es geht nicht mehr nur darum, sich im anderen Menschen zu erkennen, sondern ihn anzuerkennen. Jenseits von Respekt und Achtung gegenüber einem anderen Menschen, den man zu verstehen glaubt, ist es die intersubjektive Begegnung mit einer ursprünglichen Differenz – das, 19 | Ich teile Honneths Ansicht, dass Foucault Überlegungen zu einer Ästhetik der Existenz angestellt hat, weil sich ihm »normative Fragen« aufgedrängt haben. Es galt nämlich zu begründen, »worin eine spezifische Lebensform einem anderen Regelsystem über- oder unterlegen sein kann« (Honneth 2003c: 21). Ein anderer Grund liegt aber auch darin, dass er Ende der 70er Jahre seine Machtanalyse ausgeweitet und den Begriff der Regierung (gouvernement) eingeführt hat. Seine historische Analyse unterschiedlicher Gouvernementalitäten führte ihn zu dem Ergebnis, dass der moderne Staat auf einer politisch-philosophische Theorie beruht, in der die Beziehung zwischen Regierung und Regierten nunmehr nach dem Modell des Anleitens zur Selbststeuerung modelliert wird. Dies geschieht, indem er die Freiheit der politischen Subjekte aktiv organisiert. 20 | Vgl. dazu meine Kritik in Rösner (2002: 392-397). 21 | Vgl. dazu Lévinas (1993): »Das Ich kann im Namen dieser grenzenlosen Verantwortung aufgerufen sein, sich auch um sich selbst zu sorgen.« (Ebd.: 23)

Einleitung

was den anderen Anderer sein lässt –, die jeden nur objektivierend-diagnostizierenden Blick auf ihn ausschließt und zur Verantwortung aufruft. In Judith Butlers Kritik der ethischen Gewalt (2007) werden fast alle hier beschriebenen Fäden aufgegriffen. Sie verbindet »ethische Überlegung und Kritik« (Butler 2007: 16), indem sie Michel Foucaults Gesellschaftsanalyse mit den Mitteln einer an Lévinas orientierten Ethik normativ unterfüttert. Ihr Vorschlag einer Ethik ermöglicht es, die Kategorie »Behinderung« einer dekonstruktiven Überarbeitung zu unterziehen, nicht um sie zum Verschwinden zu bringen, sondern um ihre Bedeutungsvielfalt zu erweitern. Die Gemeinsamkeiten mit Honneths Theorie der Anerkennung sind dabei nicht zu übersehen. In beiden Theoriedesigns konstituieren die Subjekte ihre Identität und damit ihre Handlungsfähigkeit innerhalb einer bereits bestehenden gesellschaftlichen Anerkennungsordnung. Die gemeinsame anthropologische Grundlage beruht darauf, dass das Subjekt in einer bedrohten Abhängigkeit von der Anerkennung anderer Menschen steht. Es wird bei ihnen grundsätzlich als ein für die verletzende Anrede empfängliches Wesen betrachtet, das Gefahr läuft, im Rahmen kulturell erzeugter »Schemata der Anerkennung« (Butler 2009:11) gedemütigt und ausgegrenzt zu werden. Erst durch die Einwirkung Anderer können sie jene Eigenschaften und Fähigkeiten ausbilden, die sie zu Mitgliedern einer Gemeinschaft machen.22 Allerdings kommen Butler und Honneth nach wie vor zu verschiedenen Ansichten über den Vorgang der Anerkennung. Während Honneth von handlungsfähigen Subjekten ausgeht, die legitime Ansprüche auf historische gewachsene Formen der Anerkennung stellen, geht Butler von Machtzusammenhängen aus, die mit der Anerkennung durch gesellschaftliche Normen einhergehen. Eine Ethik der Anerkennung macht für sie nur Sinn, wenn sie mit Foucault den Konstitutionsprozess von Subjekten in den Blick nimmt, die durch unterwerfende Normen der Gesellschaft geprägt sind. Auf diese Weise fördert sie die Einsicht zutage, dass mit dem Prozess der Anerkennung nicht nur Möglichkeitsbedingungen des Subjekts einhergehen, sondern ebenso Akte der Unterdrückung, Demütigung und Ausgrenzung. Eine Gerechtigkeitstheorie, die das moralisch und politisch handlungsfähige Subjekt voraussetzt, begeht »ethische Gewalt«, denn sie übersieht, dass die Individuen erst dann eine Handlungsfähigkeit erlangen, wenn sie sich einem in Praxen und Ritualen verkörperten »Wahrheitsregime« unterwerfen, das »die Bedingungen vorhält, unter denen Selbstanerkennung möglich ist« (Butler 2007: 33). Die Normen der Wahrheitsregime werden von Butler jedoch nicht nur in ihrer einschränkenden und ausschließenden Funktion erfasst. Sie hält es im Gegenteil für einen »Fehler zu behaupten, alle Formen der Anerkennung seien nichts als trügerische Arten der Regulierung und Zeichen der Unfreiheit« 22 | Vgl. dazu die wegweisenden Aufsätze von Stefan Deines (2007a, 2007b).

25

26

Behinder t sein - behinder t werden

(Butler u.a. 2014: 122). Insofern werden die regulatorischen Machtstrukturen liberaler Gouvernementalität im Sinne des späten Foucault unter dem moralischen Gesichtspunkt der Freiheiten und Handlungsspielräume evaluiert. Die sozialen Normen schränken »das postsouveräne Subjekt« (Butler 2006: 219) zwar darin ein, vollständig Rechenschaft von sich abzulegen, doch eine Ethik, die bereit ist, die »Grenzen der Selbsterkenntnis« anzuerkennen, kann laut Butler »sehr wohl im Dienst einer ethischen Konzeption und sogar im Dienst einer Konzeption von Verantwortung stehen« (Butler 2007: 30). Die Einsicht, dass sich das Subjekt in Abhängigkeit von einem »primären Ausgesetztsein gegenüber dem Anderen« konstituiert, eröffnet die Möglichkeit, eine Ethik zu entwickeln, die »es als Zeichen, als Erinnerungsposten einer geteilten Verletzlichkeit, einer gemeinsamen Körperlichkeit, eines geteilten Risikos begreift« (ebd.: 135). Butler übernimmt von Lévinas den Gedanken, dass Verantwortung dadurch entsteht, dass wir der ungewollten Anrede durch den Anderen ausgesetzt sind: »Auf das Gesicht zu reagieren, seine Bedeutung zu verstehen heißt, wach zu sein für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, oder vielmehr wach zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich.« (Butler 2005: 160)23

Z u den einzelnen B eitr ägen Mit dem Titel Behindert sein – behindert werden riskiert das Buch einen Vorwurf von zwei Seiten. Je nach Betrachtungsperspektive kann dahinter eine Rückkehr zu essentialistischen Grundannahmen oder aber zu einer konstruktivistischen Zerfaserung bzw. Auflösung des Begriffs »Behinderung« vermutet werden. Doch auch wenn die einzelnen Beiträge auf der Vorannahme von der Konstruktivität des Begriffs »Behinderung« beruhen, so behaupte ich dennoch nicht, dass es sich hierbei um eine frei schwebende Konstruktion handelt. Vielmehr geht es mir um den Hinweis, dass die mit diesem Begriff verbundene Wirklichkeit reicher und vielfältiger ist als seine historisch und sozial geronnenen propositionalen Bestimmungen. In den einzelnen Aufsätzen dieses Buches werden zwar unterschiedliche Themenfelder angesprochen, sie bewegen sich von da aus aber auf denselben Grundgedanken zu: dass Recht nämlich nicht Gerechtigkeit ist, sondern Praktiken der Normierung und Normalisierung verdeckt, die »Behinderung« als soziales Konstrukt erzeugen. In23 | Lévinas’ Ethik wird von Butler in der Weise transformiert, dass der Andere nicht in einem Antlitz aufgeht, das auf einen vor-ontologischen Gott verweist: »Für unsere Zwecke wollen wir Lévinas’ Anderen als Teil einer idealisierten dyadischen Struktur des sozialen Lebens verstehen. Die Handlungen des Anderen sind in dem Sinne an mich ›adressiert‹, dass sie Handlungen eines irreduzibel Anderen sind, dessen ›Antlitz‹ einen ethischen Anspruch an mich formuliert.« (Butler 2007: 122)

Einleitung

sofern kommt es hin und wieder zu inhaltlichen Überschneidungen und zur Wiederholung der einen oder anderen Formulierung. In Körperpolitik und Behindertsein (1994) gehe ich der Frage nach, welche Wahrheitsaussagen und Normalitätsvorstellungen heute über Körperbilder gesellschaftlich vermittelt werden und inwieweit sie mitbestimmen, wer sich als behindert zu fühlen hat und wer nicht: In den körperlich eingelagerten Alltagsordnungen wird Lebensglück zunehmend in medizinischen Kategorien gemessen. Sie bewegen sich innerhalb eines Machtkomplexes, der im Rahmen der Binarität behindert/behindernd funktioniert und stets neu das Subjekt des Behindertseins hervorbringt und kontrolliert. Das Habituskonzept von Pierre Bourdieu liefert eine Erklärung, inwiefern die Herstellung eines sozialen Sinns über körperlich eingeschriebene Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungschemata erfolgt, die immer auch kulturelle Distinktionen und soziale Hierarchien festschreiben. Mit Foucaults historischen Untersuchungen über die Wirksamkeit moderner Machttechnologien lässt sich zeigen, dass der Kampf behinderter Menschen um Anerkennung auch auf der Ebene herabwürdigender Distinktionspraktiken geführt werden muss. In Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit. Behinderung und Anerkennungspolitik (1996) begründe ich mit Foucault die These, dass Ungleichheiten zwischen Behinderten und Nichtbehinderten heute weniger rechtlich verbürgt als symbolisch verankert sind, nämlich unterhalb einer normativ kodifizierbaren Gerechtigkeitssphäre, in Bereichen, wo »Behinderte« nicht so sehr als Subjekte formaler Rechte in Erscheinung treten, sondern als ethische Subjekte mit Anspruch auf ein nicht verfehltes Leben und gelungene Identitätsbildung. Mein Anliegen ist es, den Nachweis zu erbringen, dass der Kampf behinderter Menschen um Anerkennung – über die rechtliche Gleichbehandlung hinaus – ihre persönliche Integrität und ihre je individuellen Lebensformen umfasst. Meine Grundthese lautet, dass rechtlich garantierte Anerkennungsverhältnisse eine zwar notwendige, jedoch keine hinreichende Schutzhülle für ethische Möglichkeiten der Wahl zwischen verschiedenen Lebensformen und Identitätsbildungen darstellen. In Selbstsorge und Sorge für den Anderen. Ethische Überlegungen zum Behindertsein (1997) beziehe ich mich auf Foucaults »Ethik der Selbstsorge« und Lévinas’ »Ethik der Sorge für den Anderen«, um die blinden Flecken bisheriger Vorstellungen über die Anerkennung behinderter Menschen sichtbar zu machen. Auf dieser Grundlage setze ich mich mit den Ergebnissen einer psychoanalytischen Untersuchung über die Selbstwerdung des körperbehinderten Kindes der Universität Würzburg (1984-1987) auseinander. Dabei komme ich zu dem Ergebnis, dass die angewandten Techniken der Untersuchung und Befragung jenen Gegenstand erst hervorbringen, dessen Wahrheit sie zu erforschen glauben. Am Ende beziehe ich mich im Kontext einer ausführlichen Beschreibung von Lévinas’ Ethik kritisch auf Norbert Hoersters interessen-

27

28

Behinder t sein - behinder t werden

theoretischen Begriff personaler Anerkennung und den damit verbundenen Lebensrechtsstatus behinderter Menschen. In Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik (2000) zeige ich vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung mit einem Vertreter der Heilpädagogik, warum die doppelte und paradoxe Aufgabe dieser Disziplin darin bestehen sollte, sich kritischer als bisher in der Funktion als machtvolles Medium zur Konstruktion von Behindertsein zu reflektieren und zugleich behinderte Menschen im Kampf gegen festlegende Identitätszuschreibungen zu unterstützen. Dazu unternehme ich einen historischen Rückblick auf die heilpädagogischen Gründergestalten Jan Daniel Georgens und Heinrich Marianus Deinhardt (1861/1863), die ihre Ideen im Kontext einer eugenisch geprägten Gouvernementalität entfalten. Die systemtheoretisch bzw. psychoanalytisch ausgerichteten Studien von Peter Fuchs (1995) und Susanne Ehrlich (1993) dienen mir als symptomatische Beispiele, um zu verdeutlichen, inwieweit wissenschaftliche Diskurse Geschichten über die bedrohliche und widerständige Fremdheit des »Behinderten« erzählen und damit gegebene Machtverhältnisse zwischen »Behinderten« und »Behindernden« festschreiben. In Jenseits normalisierender Anerkennung. Zur Kritik der politischen Medizin (2002) beschäftige ich mich mit neueren Tendenzen zu einer »liberalen Eugenik« (Habermas 2001). Meine These lautet, dass die Entwicklungen neuer Biotechnologien in der Humangenetik und ihre Anwendung in der modernen Medizin auf eine Lösung der »sozialen Frage« mit eugenischen Mitteln zielen: Maßnahmen zur »Eugenik von unten« lassen sich heute auf elegante Weise mit der Berufung auf das individuelle Recht zur Selbstbestimmung verbinden. Im Begriff der Selbstbestimmung zeigt sich die Ambiguität sozialer Anerkennung. Einerseits wird darin die Rechtmäßigkeit individueller Ansprüche gesehen, andererseits dient er der neoliberalen Gesellschaft zur Implementierung individuellen Risikomanagements. Der Streit zwischen Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk über eine Ethik des Umgangs mit biomedizinischen Möglichen gibt Aufschluss darüber, auf welchen Begriff von »menschlicher Natur« wir uns nach dem Ende aller Natürlichkeit noch berufen können. In Behindertsein als kulturelles Wahr-Zeichen. Umrisse einer dekonstruktiven Kritik (2004) entwickle ich einen an Judith Butler ausgerichteten Begriff von »Behinderung« als kulturelle Konstruktion durch ritualisierte Wiederholung von Normen. Die Materialität des behinderten Körpers wird als Wirkung von machtvollen diskursiven Prozessen verstanden, innerhalb derer es zu einer Naturalisierung von Behinderung kommt. Der genealogischen und dekonstruktiven Kritik geht es darum, die Bedeutungsvielfalt der Kategorie »Behinderung« zu erweitern, so dass sich neue Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Partizipation für behinderte Menschen eröffnen. Die theoretischen Ansätze von Foucault, Derrida, Agamben und Butler werden kurz skizziert, um

Einleitung

die Plausibilität des sozialkonstruktivistischen Begriffs von Behinderung zu verdeutlichen. In Inklusion allein ist zu wenig! Plädoyer für eine Ethik der Anerkennung (2006) setze ich mich mit dem kritischen Gehalt von »Inklusion« im Bereich der Heil- und Sonderpädagogik auseinander. Dabei kritisiere ich den Kontext einer an der Beobachterperspektive orientierten Systemtheorie und stelle die Frage, welchen normativen- bzw. sozialtheoretischen Bezugsrahmen eine »Inklusive Pädagogik« benötigt, um ihr Ziel einer Anerkennung von Verschiedenheit zu erreichen. Mit Foucault zeige ich, warum sich eine Inklusive Pädagogik, die den individuellen Ansprüchen von Schülerinnen und Schülern folgen möchte, mit dem Thema »Macht« auseinandersetzen muss. Auf der Grundlage von Judith Butlers 2003 veröffentlichter Kritik der ethischen Gewalt lässt sich ein Begriff von Anerkennung skizzieren, der die Verletzbarkeit des Anderen in der intersubjektiven Begegnung sichtbar macht: Soziale Gewalt, so das vorläufige Ergebnis, lässt sich ebenso in Wahrheitsregimen ausüben, die nicht auf dem binären Schema von »behindert – nicht behindert« beruhen. In Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz. Über die normativen Grundlagen der Heilpädagogik als Kulturwissenschaft (2009) vergleiche ich unterschiedliche moralische Ansätze miteinander. Meine These lautet, dass sich nur mit Judith Butler und Jacques Derrida eine kulturwissenschaftlich und philosophisch-normativ geprägte Vorstellung von Heilpädagogik begründen lässt. Sie stellen John Rawls und Martha C. Nussbaum eine dekonstruktive Ethik gegenüber, in der die unaufhebbare Spannung zwischen den je individuellen Ansprüchen und dem moralischen Standpunkt der Gleichbehandlung produktiv gemacht wird. Gleichzeitig deute ich an, dass sich mit der Dekonstruktion allein aber noch nicht die evaluative Frage nach einem Umgang mit behinderten Menschen beantworten lässt. Mein Vorschlag lautet hier: Weil sich in der Pädagogik die Spannung zwischen einem hermeneutisch-identifizierenden Verstehen und der Einsicht in die unaufhebbare Differenz des Anderen nicht auflösen lässt, sollten sie nicht gegeneinander ausgespielt, sondern in ein produktives Verhältnis gebracht werden. In dem Text Im Angesicht des dementen Anderen. Axel Honneths Fürsorgebegriff und seine Bedeutung für die »Kontaktarbeit« in der Altenpflege (2011) widme ich mich der Frage, inwieweit sich Axel Honneths Begriff der Fürsorge nicht nur im Bereich interpersonaler Bindung zwischen Kleinkind und Bezugsperson bewährt, sondern auch die normativen Grundlagen einer Care-Ethik im Rahmen helfender Berufe bereithält. Den Referenzrahmen zur Erforschung von Fürsorge findet Honneth nicht bei Lévinas, sondern in der anerkennungstheoretisch gedeuteten Psychoanalyse Donald W. Winnicotts. Die Psychoanalyse Winnicotts ermöglicht jedoch keine befriedigende Antwort auf die Frage, welche moralischen Beweggründe Menschen dazu motivieren, um ihre Anerkennung zu kämpfen. In seinen neueren Arbeiten legt Honneth eine

29

30

Behinder t sein - behinder t werden

existenziale Struktur der Anerkennung im Sinne von »Besorgtheit« bzw. »Anteilnahme« frei, die nach meinem Eindruck in frappierender Weise den verantwortungsethischen Überlegungen von Lévinas ähnelt. In Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien. Michel Foucaults Bedeutung für eine kritische Sozialarbeit (2011) verfolge ich die Logik der Foucault’schen Machtanalyse Schritt für Schritt. Dabei rekonstruiere ich verschiedene seiner Sichtweisen: von der Disziplinarmacht bis zu dem Punkt, an dem er seinen Begriff der »Gouvernementalität« einführt Mein Ziel ist es, die unterschiedlichen Sicherheitsdispositive – Pastorat, Staatsräson, Polizeiwissenschaft, liberale Gouvernementalität –in ihrer Bedeutung für die Herausbildung des Bereichs der sozialen Arbeit nachzuzeichnen. Am Beispiel der unterschiedlichen Einschätzungen des Empowerment-Konzepts verdeutliche ich, dass Foucaults Begriff der Selbstsorge keine ausreichende Grundlage bietet, um die Freiheit verbürgenden Handlungsspielräume in der Sozialen Arbeit angemessen wahrzunehmen. Mit einem abschließenden kurzen Blick auf Judith Butlers Anerkennungstheorie setze ich mich kritisch mit seinem Versäumnis auseinander, dem Begriff der Fürsorge einen angemessenen Stellenwert einzuräumen. In Auf’s Spiel gesetzte Anerkennung. Judith Butlers Bedeutung für eine kulturwissenschaftlich orientierte Heilpädagogik (2012) setze ich meine Rezeption der Arbeiten Judith Butlers fort. Dabei unternehme ich den Versuch, ihre Theorie in ihrer Gesamtheit zu skizzieren und als Folie für eine Kritik des Sprechens über Behinderung zu nutzen. Ein Ziel ist es, mit ihren Gedanken zur performativen Materialisierung des verletzbaren Körpers Einwände gegenüber einem rechtsbasierten Anerkennungsverständnis zu entwickeln, wie es u.a. in der seit 2009 in Deutschland geltenden UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zum Ausdruck kommt. Weiterhin geht es mir darum, Butlers Gedankengang von der Konzeption postsouveräner Subjektivität zur anerkennungstheoretischen Begründung von Verantwortung nachzuzeichnen und die Ergebnisse für die heilpädagogische Reflexion fruchtbar zu machen. In Sehnsucht nach Normalität. Eine Nachbetrachtung zu Andreas Kuhlmann (2014) lasse ich die kritische Stimme eines Freundes zu Wort kommen, der die These problematisiert, dass die Identität von behinderten Personen ein performativer Effekt sei. Andreas Kuhlmann sieht darin weniger eine gewinnbringende heuristische Formel als das Resultat eines in seine modischen Begriffsschöpfungen verliebten und realitätsenthobenen akademischen Milieus. Wenn Behinderung nur noch als »lifestile« deklariert wird, so lässt sich seiner Meinung nach keine Verständigung über den angemessenen Umgang mit behinderten Menschen mehr erzielen. Darüber hinaus belaste dieser Diskurs all jenen Menschen mit einem schlechten Gewissen, die sich mit einer renitenten Physis auseinandersetzen müssen und den berechtigten Wunsch entwickeln, körperlichen Normalitätsstandards zu genügen. Schließlich sei zu befürchten,

Einleitung

dass wir auf eine entsolidarisierte Gesellschaft hinsteuern, wenn nicht mehr zur Kenntnis genommen wird, dass Individuen und Gruppen tatsächlich besondere Defizite und Bedürfnisse haben, die fürsorgliches Handeln erforderlich machen. Für ihre Mithilfe beim Korrigieren einzelner Aufsätze danke ich herzlich Corry Rose, Pia Fischer und Martin Häfner. Danken möchte ich an dieser Stelle auch den Mitarbeitenden des transcript Verlags, insbesondere Jörg Burkhard und Kai Reinhardt für ihre umsichtige redaktionelle Mithilfe bei der Suche nach einem geeigneten Buchtitel und beim Endlektorat.

L iter atur Theodor W. Adorno (1980): Negative Dialektik. Frankfurt a.M. Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Frankfurt a.M. Berlin, Isaiah (2009): Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis. Frankfurt a.M. Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hg.) (2010): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Bielefeld. Butler, Judith (1993): »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹«, in: Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/ Nancy Fraser (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und die Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2007): Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesung 2002. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt a.M. Butler, Judith/Athanasiou, Athena (2014): Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen. Zürich/Berlin. Critchley, Simon (1994): »Habermas und Derrida werden verheiratet«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 6, S. 1025-1036. Dederich, Markus (2007): Körper, Kultur und Behinderung: Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld. Deines, Stefan (2007a): »Verletzende Anerkennung. Über das Verhältnis von Anerkennung, Subjektkonstitution und ›sozialer Gewalt‹«, in: Steffen K. Herrman/Sybille Krämer/Haennes Kuch (Hg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Bielefeld, S. 275-293.

31

32

Behinder t sein - behinder t werden

Deines, Stefan (2007b): »Soziale Sichtbarkeit, Anerkennung, Normativität und Kritik bei Judith Butler und Axel Honneth«, in: Georg W. Bertram/Robin Celikates/Christophe Ladou/David Lauer (Hg.): Socialité et reconnaissance. Grammaires de l’humain. Paris, S. 139-157. Derrida, Jacques (1988): »The Politics of Friendship«, in: Journal of Philosophy 85 11, S. 632-644. (Dt. »Die Politik der Freundschaft«, in: Klaus-Dieter Eichler (Hg.) (1999): Philosophie der Freundschaft. Leipzig, S. 179-200. Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«. Frankfurt a.M. Derrida, Jacques (1999b): Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. München/ Wien. Derrida, Jacques (2000): Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M. Derrida, Jacques (2001)): Von der Gastfreundschaft. Wien. Derrida, Jacques (2003): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1982): »Subjekt und Macht«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 306. Frankfurt a.M., S. 269-294. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1984): »Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 339. Frankfurt a.M., S. 747-776. Foucault Michel (1990): Was ist Kritik? Berlin. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Frankfurt a.M. Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M. Habermas, Jürgen (2005): »Kulturelle Gleichbehandlung – und die Grenzen des Postmodernen Liberalismus«, in: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M., S. 279-323. Heidegger, Martin (1986): Sein und Zeit. Tübingen. Hermes, Gisela/Rohrmann, Eckhard (Hg.) (2006): »Nichts über uns – ohne uns!« Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung. Materialien der AG SPAK. Bd. 187. Neu-Ulm. Hetzel, Mechthild (2007): Provokation des Ethischen. Diskurse über Behinderung und ihre Kritik. Heidelberg.

Einleitung

Honneth, Axel (1994): »Die soziale Dynamik von Missachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesellschaftstheorie«, in: Leviathan 22, S. 7893. Honneth, Axel (2000a): »Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die Herausforderung der poststrukturalistischen Ethik«, in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt a.M. S. 133-170. Honneth, Axel (2000b): »Zwischen Aristoteles und Kann. Skizze einer Moral der Anerkennung«, in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt a.M. S. 171-192. Honneth, Axel (2003a): »Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von ›Anerkennung‹«, in: Ders.: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität. Frankfurt a.M. S. 10-27 Honneth, Axel (2003b): »Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser«, in: Nancy Fraser/Axel Honneth: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a.M., S. 129-224. Honneth (2003c): »Foucault und die Humanwissenschaften. Zwischenbilanz einer Rezeption«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a.M., S. 15-26. Honneth, Axel (2003d): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort. Frankfurt a.M. Honneth, Axel (2007): »Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der ›Kritik‹ in der Frankfurter Schule«, in: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie. Frankfurt a.M. Honneth, Axel (2008): »Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse. Überlegungen im Anschluss an Hegel«, in: Christoph Menke, Juliane Rebentisch (Hg.): Axel Honneth. Gerechtigkeit und Gesellschaft. Potsdamer Seminar. Berlin, S. 11-29. Honneth, Axel (2010): »Anerkennung als Ideologie«, in: Ders.: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Berlin, S. 103-130. Honneth, Axel (2011): Das Recht der Freiheit. Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit. Berlin. Jaeggi, Rahel (2014): Kritik von Lebensformen. Berlin. Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/München. Lévinas, Emmanuel (1992a): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/München. Lévinas, Emmanuel (1993): Vier Talmud-Lesungen. Frankfurt a.M.

33

34

Behinder t sein - behinder t werden

Lévinas, Emmanuel (1992b): Ethik und Unendliches, hg. Von Peter Engelmann. Wien. Liebsch, Burkhard/Hetzel, Andreas/Sepp, Hans-Rainer (Hg.): Negativistische Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Berlin 2011. Markell, Patchen (2003): Bound by Recognition. Princeton/Oxford. Rawls, John (2003): Politischer Liberalismus. Frankfurt a.M. Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein. Frankfurt a.M. Waldschmidt, Anne (Hg.) (2003): Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies: Tagungsdokumentation. Kassel. Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.) (2007): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung: Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld. Weisser, Jan/Renggli, Cornelia (Hg.): (2004): Disability Studies. Ein Lesebuch. Luzern.

1. Körperpolitik und Behindertsein A m L eitfaden des K örpers Als Erving Goffman 1962 den traditionsreichen Begriff »Stigma« in die Fachdiskussionen einführte, erwarb er sich das Verdienst, darauf hinzudeuten, wie es zur Zuordnung von Individuen zu Randgruppenexistenzen aufgrund bestimmter negativ bewerteter Attribute kommt. Er lieferte die Beschreibung dafür, welche möglichen Anpassungsstrategien hierdurch bei den Betroffenen ausgelöst werden, um die Geltung als »Normale« zu erwerben. Aus späterer Sicht erschien an seinem Stigmabegriff jedoch problematisch, dass er eigentümlich abstrakt definiert und damit stillschweigend von einem Normalitätsbegriff hergeleitet wird, der unhinterfragt bleibt. So bildet »Stigma« für Goffman eine allgemeine Kategorie u.a. zur Bezeichnung von »Abscheulichkeiten des Körpers« (Goffman 1967: 12), ohne dass in den Blick kommt, inwieweit die mit Stigmatisierungsmacht versehenen »Normalen« in ihrer Wahrnehmung gesellschaftlichen Einflüssen unterliegen. Genau an dieser Stelle möchte dieser Beitrag seine Gedanken entfalten. Mit vielleicht provozierenden und überzeichneten Ansichten soll an gesellschaftlichen Wahrnehmungsformen von Körperbildern gerüttelt werden, mittels derer heute üblicherweise Unterscheidungen wie schön und hässlich, gesund und krank, normal und verrückt, attraktiv und abstoßend, leistungsfähig und unproduktiv festgeschrieben werden. Damit findet in gewisser Weise ein Anschluss an den Labeling Approach (Etikettierungsansatz) der 70er Jahre statt, der sich als Kritik an den Stigmatisierungsprozessen verstand, indem er den gesellschaftlichen. Formierungsrahmen der als Stigma wirkenden Zuschreibungen in das Blickfeld nahm. Instanzen sozialer Kontrolle – Polizei, Psychiatrie, Fürsorge, Strafvollzug – wurden als Definitionsmächte abweichenden Verhaltens – deviant, delinquent, anormal, schwererziehbar, verwahrlost, gestört, krank, behindert – kritisiert. Diese Institutionen sollten mittels ihrer professionellen Helfer – Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter – dafür verantwortlich sein, dass sich negative Etikettierungen herausbilden, die schließlich von den Betroffenen verinnerlicht werden und im Alltagsleben die Sichtweise der sog. Normalbevölkerung beeinflussen.

36

Behinder t sein - behinder t werden

In einer Art Umkehr dieses perspektivisch-kritischen Blickes wird hier dagegen weniger die gesellschaftliche Produktion sozialer Abweichung untersucht, sondern der Frage nachgegangen, welche »politische Besetzung des Körpers« (Foucault 1977: 40) sich heute ereignet, d.h. welches Wissen sich vom menschlichen Körper bildet, welche Wahrheitsaussagen über ihn gemacht werden und welche normierenden Machtwirkungen dadurch zustande kommen. In unserem Zusammenhang: Welche Normalitätsvorstellungen werden heute über Körperbilder gesellschaftlich vermittelt und inwieweit führen sie im Alltagsleben zu Urteilsbildungen darüber, wer sich als behindert zu fühlen hat und wer nicht. Man kann eine Fülle von Auskünften darüber erhalten, inwieweit wir mittlerweile einem Körperideal unterliegen, das weitgehend nicht mehr nur den Leistungsnormen der Arbeit, sondern auch denen des Sports, den Schönheitsgeboten in der Sexualität und Mode und den Gesundheitsimperativen der Gesundheitspolitik und Medizin ausgeliefert ist. Die Ausgangsüberlegung lautet: Die Erfahrung des Behindertseins wird gemacht, insbesondere weil der Behinderte von den normierten Körperbildern in der Gesellschaft – vom Ideal des Leistungsfähigen, Gesunden, Tüchtigen und Schönen – abweicht. Zur Verdeutlichung erscheint es notwendig, einige methodologische Vorabklärungen über den Körper und seine symbolische Funktion in der Gesellschaft vorauszuschicken. Die theoretische Grundlage bildet eine am Leitfaden des Körpers geübte Sichtweise, in der die Geschichte gegen die ganze von Platon ausgehende philosophische Tradition neu gelesen wird. Diese »historische Anthropologie« beruft sich nicht mehr auf den transzendenten Charakter einer ehrwürdigen und unsterblichen Seele; sie sitzt auch nicht einer Zurückzum-Körper-Mentalität auf, indem sie ihn als den Ort menschlicher Unmittelbarkeit und unverfälschter Natürlichkeit verklärt. – Der Körper gilt ihr insbesondere als Ort sozialisatorischer Praktiken in der Geschichte und das, was man einst Seele nannte, als Wirkung vielfältiger Techniken an den Körpern und ihrer sinnlichen Potentiale. Entgegen Platons Diktum vom Leib als dem Grab der Seele, orientiert sie sich an dem Postulat, dass die Seele, über die »man verschiedene Begriffe und Untersuchungsbereiche konstruiert: Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit, Bewusstsein, Gewissen usw.« (Foucault 1977: 42) Effekt und Instrument einer politischen Besetzung des Köpers ist. In ihr offenbaren sich präreflexive körperlich eingeschriebene Werthaltungen, für die Bourdieu den glücklichen Begriff »Habitus« gewählt hat (vgl. Bourdieu 1983: 125ff.). Der Habitus wirkt gleichsam als ein in Fleisch und Blut übergegangenes Bewertungsschema auf der Grundlage eines Wissens um soziale Differenzen, die wahrgenommen und übernommen werden. In den Habitusformen werden die Menschen zu sozialen Operatoren, indem ihre Körper selbst zentrale symbolische Funktionen übernehmen. Gruppen- und schichtspezifische kulturelle Normen und Einstellungen haben sich in ihnen in Figur, Frisur,

1. Körperpolitik und Behinder tsein

Gestik, Haltung, der Art, seinen Körper zu pflegen, ihn zu kleiden, zu trainieren objektiviert. Im Habitus erscheint der Körper in der Doppelrolle von wahrgenommenem Träger und zugleich handelndem Produzent von Zeichen. Insofern verabschiedet sich Bourdieu nicht nur gründlich von der Vorstellung eines neutralen Blickes, indem er davon ausgeht, dass wir immer durch eine erworbene und nicht einfach absetzbare kulturelle Brille schauen; er zwingt auch alle Vorurteilstheorien, die noch von der Grundannahme ausgehen, dass zwischen einem Vorurteil und einem Urteil wohlunterschieden werden kann, zur Neuorientierung. Denn entgegen Goffmans »Symbolischem Interaktionismus« sind für ihn die Sicht- und Verhaltensweisen der Menschen nicht bloße Resultate mehr oder weniger bewusster Absichten, sondern intentionale Verdoppelungen dessen, was durch gesellschaftlich eingekörperte Distinktionspraktiken soziale Geltung erhält. Was sind nun die Grundlagen, auf der die Formen der körperlichen Präsentation, die eigenen so gut wie die der anderen, wahrgenommen werden? Welche kulturellen Codes beeinflussen unsere mehr oder weniger flüchtige oder intensive Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers? Welche Fähigkeiten zur Bewertung von Körperbildern haben wir schon lange vor der eigenen Erfahrung des Behindertseins erworben? Welche Grenzen sozialer Wahrnehmung führen zur Erfahrung körperlicher Andersheit?

D as S chicksal des K örpers Der Körper als »gesellschaftlich produzierte und einzige sinnliche Manifestation der ›Person‹ gilt gemeinhin als natürlichster Ausdruck der innersten Natur – und doch gibt es an ihm kein einziges bloß ›physisches Mal‹« (Bourdieu 1982: 310). Seine Sinnlichkeitspotentiale bilden den Naturstoff, an dem seit jeher gesellschaftliche Arbeit geleistet wird. Um den zeitgenössischen Mythos vom natürlichen Körper zu zerstören, ist ein Exkurs in die neuere Zivilisationsgeschichte hilfreich. Foucault beschreibt, wie es vom 17. bis 19. Jahrhundert einen entscheidenden Wandel im Umgang mit dem menschlichen Körper gegeben hat (vgl. Foucault 1977). Gesellschaftlich unerwünschte. Verhaltensweisen wurden weniger durch körperliche Bestrafungsrituale wie die Folter, Marter oder Brandmarkung unterdrückt, um dadurch die möglicherweise bedrohte Macht eines Souveräns durch Abschreckung zu stärken – der Körper wurde nicht mehr unerträglichen Schmerzen ausgesetzt, um ihn gefügig zu machen. Demgegenüber entstanden sogenannte Humanisierungspraktiken in neu entstandenen Institutionen wie Gefängnis, Schule, Spital, Kaserne usw., in denen man durch die moderne Technik des überwachenden Blickes sozial erwünschte Verhaltensweisen hervorbrachte. Kurz, der Mensch wurde von nun an auf der Grund-

37

38

Behinder t sein - behinder t werden

lage neuer Wissenschaften vom Menschen (Medizin, Pädagogik, Psychologie) gemäß deren Programmen gebildet, erzogen, resozialisiert, rehabilitiert und arbeitsfähig gemacht. Auf diese Weise entstanden gelehrige, gesunde, leistungsfähige und gefügige Körper, ohne dass noch direkte physische Gewalt von Menschen über Menschen notwendig war. Die Tötung und Verstümmelung Behinderter verschwand im 18. Jahrhundert zugunsten von Einrichtungen für Taubstumme und Geistig Behinderte. Für diese Veränderungen in der Umgangs- und Verfügbarmachungsweise menschlicher Körper hat Foucault eine machttheoretische Deutung: All die neu entstandenen Institutionen basieren weniger auf einem humanistischen Denken, als auf einer neuen Ökonomie der Macht, in der es darum geht, Sichtbarkeitsräume zu schaffen, die es erlauben, die Körper nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu objektivieren und analytisch zu durchdringen. So lassen sich die Körper über die Fabrik an einen Produktionsapparat anschließen. Indem die Körper der Arbeiter kooperativ zusammengeschlossen und beobachtend kontrolliert werden, steigert man ihre Arbeitsproduktivität. Indem die Schüler nach Alter in Klassen unterteilt wurden und man ihnen, je nach Leistungsgrad und Benehmen, unterschiedliche Plätze im Klassenraum zuwies, optimierte man den Lernprozess. Indem man Kliniken einrichtete, in denen Menschen, je nach Krankheitsbild, stationär untergebracht wurden, spezialisierte sich das menschliche Wissen über den menschlichen Körper. Indem man den finsteren Kerker durch das lichtbeherrschte Gefängnis ersetzte, schuf man eine architektonische Anlage, durch die man die Delinquenten aus dem unbeobachtbaren Verließ in einsehbare Zellen brachte und mit wohlüberlegten Tagesplänen an die Normen der Gesellschaft heranzuführen versuchte. Wie Norbert Elias in seinen Untersuchungen »über den Prozess der Zivilisation« zeigt, wandelten sich im gleichen Zeitraum die Affekt- und Verhaltensstrukturen der Menschen entscheidend (vgl. Elias 1976). Die Menschen lernen einen verhalteneren Umgang mit ihren körperlichen Reaktionen und entwickeln größere Fähigkeiten zum gesprächsbereiten, gewaltfreien Austragen von Konflikten. Sprache verliert immer mehr ihre Bedeutung als Ausdrucksmittel für Beleidigungen: man verkehrt höflicher und verbindlicher miteinander. Leibliche Regungen müssen kontrolliert werden. Im alltäglichen Gebrauch des Körpers, wie z.B. beim Essen, wird auf gute Manieren geachtet. Unwillkürliche Körperreaktionen wie Niesen, offenes Husten, Rülpsen und Furzen werden unterbunden. Das unvermeidliche Schnäuzen hat in ein Taschentuch zu erfolgen; der Gebrauch der anderen Ausscheidungsorgane wird geflissentlich vor jeder Öffentlichkeit verborgen. Als Folge dieser Verhaltenskontrollen vermehren sich bei den Menschen die Anlässe zu Gefühlen von Peinlichkeit und Scham, und zwar immer in Augenblicken, in denen sie mit ihren Wünschen oder Verhaltensweisen gegen die neuen Rituale der Körperkontrolle verstoßen. Mittlerweile, so Elias, sind uns diese einstigen, von außen herangetragenen

1. Körperpolitik und Behinder tsein

Zwänge zu Selbstzwängen in Form einer zweiten Natur geworden, so dass wir sie als selbstverständliche und natürliche Tugenden eines jeden voraussetzen. Wer sie nicht erfüllt, löst bei Anderen Abwehr in Form »körperlicher Fremdheit« aus. Diese »ist gerade deshalb so schwer zu bewältigen, weil sie implizit erfahren wird: Sie wird gespürt, sinnlich wahrgenommen, ist aber für die Beteiligten außerordentlich schwer greif- und einordbar. Sie entzieht sich der Artikulation, weil die einverleibten Prinzipien der kulturellen Willkür jenseits des Bewusstseins wirksam sind, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt noch selbst davor, explizit gemacht zu werden. Nichts erscheint unaussprechlicher und dadurch um so kostbarer als die einverleibten zu Körpern gemachten Werte […]« (Bourdieu 1979: 200). In der Gegenwart hat sich das Verhältnis von individueller Körperwahrnehmung und kollektiver Inbesitznahme des Körpers gewandelt. Es scheint, als habe die alte Auf klärungsmaxime: »Habe Mut Dich Deines Verstandes zu bedienen«, mit der man noch auf einen Geist setzte, der seinen Körper im Griff hat, damit der Mensch zum verstandesmäßigen Gebrauch seiner Sinne fähig ist, heute ausgedient. Wir leben eher gemäß dem therapeutisch-pädagogischen Imperativ: »Erfahre Dich selbst über Deinen Körper.« Dem Kopf wird zunehmend weniger Macht zugesprochen, Wahrheiten über sich selbst erfahrbar zu machen. Er gilt als Ort möglicher Täuschung und falscher Herrschaft über den Bauch. In körperlichen Selbsterfahrungen wird der Körper zum Seismograph für Erschütterungen in unserem Seelenleben und in Körperübungen zum Medium der Selbstheilung. Wir sollen lernen, in ihn hineinzuhorchen, um verschüttete Wahrheiten über uns freizulegen. Wir verleihen ihm heute die Dignität einer Identitätsnorm und machen uns so in fataler Weise von ihm abhängig, denn es ist nicht der orakelnde Körper, der zu uns spricht, sondern der politische Körper, der uns als Träger sozialer Zeichen und Gegenstand öffentlicher Diskurse zunehmend tyrannisiert. »Der heutige Körper ist Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung und offener Thematisierung, er ist nicht unter-thematisiert, sondern im Gegenteil über-thematisiert. Dass das zu ganz neuen Peinlichkeitsanlässen führen kann, liegt auf der Hand. Peinlichkeiten – nicht mehr aufgrund traditioneller Tabuierungen, sondern Peinlichkeiten im grellen Scheinwerferlicht der Normen von Körperästhetik oder gesundheitsorientierter Selbstdisziplin.« (Ziehe 1991: 43)

Die elektronischen Medien bringen den Körper ins Bild. Sie vermitteln uns zur Unterhaltung begnadete Körper, scheinbar ohne Makel – jung, beweglich, dynamisch und schön. Die Werbung bedient sich des Körpers als Vehikel zur Absatzsteigerung ihrer Produkte. Perfekt arrangierte Körper bilden das Ambiente zu Autos, Seifen, Margarine, Pelz usw. Mit Schweiß und Kondition geht man neue Wege zu zeitgenössischen Formen der Körperaneignung, um

39

40

Behinder t sein - behinder t werden

mit einer neuen Ästhetik des muskulösen Outfits neue Persönlichkeitsmaßstäbe zu setzen. Stretching, Tanz- und Gymnastikformen, importierte Kampfsportarten und Meditationstechniken bieten neue Wege der Selbstfindung. Der zunehmend enthüllte Körper wird zur neuen Verkleidung, die dann präsentationswürdig ist, wenn er schlank und jugendlich erscheint. Den Frauen predigt man es schon lange: Das traditionell Weibliche, der Frauenkörper mit einem Fettansatz an Oberschenkel und Hüfte, ist megaout. Der dicke Mensch ahnt, dass er immer schlechteren Zeiten entgegengeht, denn er muss sich der Unterstellung erwehren, er würde seinen Launen nachgeben. Die Zeiten sind vorbei, wo Dicksein mit der Tugend der Gemütlichkeit in Verbindung gebracht wurde. Denn nur der schlanke Mensch hat den Beweis angetreten, dass er über die schon von den Griechen gepriesene Tugend der Mäßigung verfügt; am Körper des dicken Zeitgenossen zeichnen sich dagegen die Sünden einer schwächlichen Psyche ab. Fast jeder, der an sich herabschaut, weiß, dass er in einem falschen Körper lebt und die Wahrheiten seines eigentlichen Körpers verrät. Er ist zu groß, zu klein, zu dünn, zu dick, zu faltig, zu blass und vermisst die Ausbuchtungen seines Körpers an den richtigen Stellen. Allen Unkenrufen zum Trotz hat die sog. sexuelle Befreiung nicht zu einer Erotisierungswelle in der Gesellschaft geführt. Im Gegenteil, es scheint, als werde der Spielraum für sexuelle Phantasien durch die ins Bild gesetzte Körperpräsentation kolonialisiert. Der nackte, makellose Körper wird zur uniformen Ersatzkleidung eines autistischen Neutrums. Er soll unangreif bar machen. Dazu muss er unentwegt gedrillt und zur Ordnung gerufen werden, damit er seine Form nicht verliert. Ansonsten zeigt er seinen Besitzer als disziplinlos und dieser muss für die Folgen aufkommen, indem er sich unattraktiv fühlt und weniger an die Zuneigung durch andere glauben kann. Das schon immer vorhandene Problem des Sich-nicht-geliebtFühlens äußert sich heute zunehmend an einem kritischen Verhältnis zu seinem Körperäußeren.

E ine K ritik der politischen M edizin Jede Wahrnehmung wird angeleitet und organisiert durch Ordnungsvorstellungen, die auf den basalen Disjunktionen wahr/falsch, gut/böse und schön/ hässlich gegründet sind. Daraus entwickelten sich so unterschiedliche Disziplinen wie die Naturwissenschaften, die Ethik und der Bereich der Kunst. In unserer Zeit schiebt sich jedoch ein weiteres lebenswichtiges Bewertungsmuster auf der Grundlage einer Klassifikation gesund/krank in den Vordergrund – die Medizin. Körperliche Äußerungsformen – Handlungen, Gesten, Bewegungen, Empfindungen, Wahrnehmungen, Wünsche – werden danach sortiert, ob sie noch als gesund oder schon als pathologisch einzustufen sind.

1. Körperpolitik und Behinder tsein

Die moderne Medizin ist mittlerweile dabei, eine »Ausdehnung der Krankheit auf alle nicht ganz normalen »körperlichen Erscheinungen« zu betreiben, so dass potentiell »die Möglichkeit der Gesundheit zum Verschwinden« gebracht wird (Lenzen 1991: 12). Indem die Medizin heute vorbehaltlos auf das Leben setzt; indem sie die Bezwingbarkeit menschlicher Vergänglichkeit suggeriert, arbeitet sie im Dienst einer Macht, »die ihre Zugriffe auf das Leben und seinen ganzen Ablauf« richtet und für die »der Augenblick des Todes […] ihre Grenze« ist (Foucault 1983: 165). Diese korrespondieren mit einer hohen Bereitschaft der Menschen, sich medizinischen Ratschlägen zu beugen und medizinische Dienstleistungen zuzulassen, welche ihre gesamte Lebensgestaltung beeinflussen. Mit der Medikalisierung der Lebenswelt werden individuelle Glückserwartungen versprochen. Glück – darauf weisen regelmäßig Umfragen hin – wird in medizinischen Kategorien gemessen: Gesundheit erscheint als höchstes Gut. Entsprechend haben Produkte und Aktivitäten, die Gesundheit versprechen, Konjunktur. Dies gilt für die pharmazeutischen Erzeugnisse ebenso wie für die natürlich belassenen Lebensmittel oder den aus Gesundheitsmotiven betriebenen Fitness-Sport. Gesundheit ist heute längst nicht mehr nur die Abwesenheit von Krankheit, sondern etwas Herstellbares, für das Opfer erbracht werden müssen, damit Lebensglück erfahrbar wird. War die Medizin bisher eine Heilkunst, so ist sie in der heutigen Gesellschaft zu einer Ethik der Lebensführung avanciert. Die Menschen haben sich mittlerweile bereitwillig ihren Gesundheitsimperativen unterworfen. Damit Gesundheit messbar wird, muss sie am Körperäußeren sichtbar gemacht werden. Der gesundheitliche Erfolg für die Bemühungen, Entsagungen und Genussverzichte zeigt sich durch einen sportlich-dynamischen Körper. Gesund bleibt, wer sich sportlich fit hält. Darüber hinaus kann er damit rechnen, dass er mit dem erkennbaren Erfolg seiner Bemühungen in der Gunst seiner Zeitgenossen gewinnt. Der gesunde Körper weist sich durch den sportlich schlanken Körper aus, dieser wertet sich wiederum als sexuell attraktiver Körper auf, und alles zusammen führt zu sozialem Prestigegewinn und damit größerem Glück. Der moderne Slogan lautet: »Gesundheit ist machbar, Herr Nachbar!« Wo die eigene Anstrengung nicht ausreicht, kann die plastische Chirurgie zu einer körperlichen Runderneuerung verhelfen. Ihrem Ruf folgen jene, die sich den immer höher geschraubten Schönheitsnormen eines gesund und jugendlich erscheinenden Körpers unterwerfen. Für sie fängt subjektiv Behinderung schon da an, wo sie mit ihrem Selbstbild hadern, weil sie täglich geringe Veränderungen an ihrem Körperbild erleben. Der stumme Aufschrei der Seele: So wie ich von Natur aus geworden bin, kann nichts mehr aus mir werden! Wird aber erst die äußere Form durch Gnaden der Medizin neu geschaffen, lebt es sich leichter, besser und schöner. Für die Psychologen ist somit eine neue Klientel herangewachsen, denn problematisch bleibt, dass gegen imagi-

41

42

Behinder t sein - behinder t werden

nierte Hässlichkeit kein plastischer Eingriff gewachsen ist. Menschen, die sich selbst innerlich ablehnen und als nicht liebenswert empfinden, projizieren immer mehr dieses Gefühl auf einen Teil ihres Körpers und empfinden diesen dann als hässlich. Die Schönheitschirurgie arbeitet letztlich erfolglos darauf hin, die individuelle Lebensgeschichte zu löschen, indem man dem Körper nicht mehr ansehen soll, was der Mensch erlebt hat. Mittels gentechnischer Eingriffe hofft der Mensch, dem Traum von Unsterblichkeit näher zu kommen. Er arbeitet daran, den Körper zu einer ewig lebenden und störungsfrei verlaufenden Maschine werden zu lassen. Mit präventiv- und reproduktionsmedizinischen Zugriffsmöglichkeiten, etwa im Rahmen der pränatalen Diagnostik, mit Embryonenforschung und Genmanipulation ist die vor kurzem noch unmöglich scheinende Eugenik wieder präsent. Nicht mehr einem Staat und seiner rassistischen Ideologie soll diese Aufgabe obliegen, sondern den Angehörigen oder den Betroffenen selbst, denen man die Verantwortung auf bürdet, in der Allianz mit beratenden Ärzten über Lebensverbesserung bzw. lebenswert und lebensunwertes Leben zu entscheiden. Die moderne Medizin wird mehr und mehr zum Hoffnungsträger von Menschen, die angesichts einer schwer begreif baren hyperkomplexen Wirklichkeit Sinn nur noch aus ihrem Körper entwerfen können. »Je mehr die Menschen die Kontrolle über äußere Ereignisse verlieren, je mehr sie in einer durchbürokratisierten und unbegreiflich komplexen Welt leben, desto angestrengter versuchen sie das zu beeinflussen, was sie scheinbar noch am leichtesten können: ihren eigenen Körper und ihre Gesundheit.« (Milz 1992: 214f.)

Unseres sinnlichen Vermögens zur Erfahrung von Wirklichkeit zunehmend entmächtigt, suchen wir in unseren Körpern jenen Halt, den uns die Außenwelt immer weniger bietet. Durch technische Geräte »entlastet«, sind wir mit unserer natürlichen Sinnesausstattung an eine Wahrnehmungsschwelle geraten. Medien, die uns über eine Realität hinter der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit informieren, bilden technische Krücken und berichten uns von Strahlenbelastungen, dem sauren Regen, dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien, der Geschwulst im Gehirn usw. Die Realität ist zu einem Satelliten der Medien geworden, und der Mensch schaut fassungslos zu. Sinn kann er aber nur da erfahren, wo er sich mit seinen Sinnen auf eine begreif bare Wirklichkeit beziehen und diese gestalten kann. Sein Körper bietet sich geradezu an als ein neuer, erfahrbar zu machender Kontinent. Er erfüllt das Bedürfnis nach ichnahen und konkreten Erlebnisqualitäten, nachdem klassische Sinninstanzen wie Tradition, Religion und Nation (?) zerfallen sind und die Menschen aus Mangel an Alternativen Halt in sich selber suchen müssen.

1. Körperpolitik und Behinder tsein

B ehinderte und B ehindernde Symbolische Gewalt entfaltet subtil und unsichtbar in der Interaktion ihre Wirkung, weil sie bei den Betroffenen als Nötigung nicht bewusst wird. Sie wirkt »nur auf Menschen […], die (gemäß ihrem Habitus, d. Verf.) für sie empfänglich sind, während andere sie gar nicht bemerken« (Bourdieu 1990: 27f.). Nach Bourdieu entwickelt der Behinderte einen »sozialen Sinn« unterhalb der Bewusstseinsschwelle, der es ihm ermöglicht, behindernde Signale – oft nur Blicke, kleine Gesten, beiläufige, unwillkürliche Körperhaltungen zu decodieren und auf deren verdichtete soziale Botschaft zu reagieren. Die körperpolitische Gewalt, die von den Behindernden im Alltag überall ausgeht – auf der Straße, bei der Arbeit, auf der Party, in Diskussionen – bleibt für jene unbewusst und doch wirkungsvoll: »Von den Stigmatisierten wird taktvoll verlangt, wie Gentlemen zu sein und ihr Glück nicht zu erzwingen; sie sollen die Grenzen der ihnen gezeigten Akzeptierung nicht auf die Probe stellen und sie auch nicht zur Basis immer weiterer Forderungen machen. Toleranz ist gewöhnlich Teil eines Geschäfts. Die Natur einer ›guten Anpassung‹ ist nun offensichtlich. Sie erfordert, dass das stigmatisierte Individuum sich heiter und unbefangen als den Normalen wesentlich gleich akzeptiert, während es zur gleichen Zeit jene Situationen vermeidet, in denen es Normale schwierig finden würden, das Lippenbekenntnis abzulesen, sie akzeptierten ihn gleichermaßen.« (Goffman 1967: 150)

Indem Täter und Opfer in ihrem Habitus jene körperpolitische Ordnung eingelagert haben, werden sie im geheimen Einverständnis über die gegenseitigen Erwartungen zu Komplizen, deren Handlungen miteinander korrespondieren. Ein alltägliches Beispiel soll genügen: Wenn öffentliche Räume – Cafés, Gaststätten, Discos usw. – den Behindernden vorbehalten sind, dann hält sich ein anständiger Behinderter dort nicht auf. Sollte ihm das noch nicht ganz klar sein, welche Räume sozial vermint wurden, so genügen bereits Blicke und Gesten, um ihm deutlich zu machen, dass er hier nicht hergehört. Im normiert-normierenden Blick der Behindernden steht der Behinderte in der Gefahr seine Souveränität zu verlieren. Wie immer er sich und seine Welt auch begreifen und entwerfen mag, ist er im Wahrnehmungsfeld der Behindernden erst einmal fixiert, wird er von dort aus in seiner Persönlichkeit zunächst auf die Aspekte seines Körperbildes reduziert. Indem der Behindernde den Behinderten für seine Freiheit verfügbar macht, gewinnt jener im Augenblick des Erblicktwerdens somit auf tragische Weise Bewusstsein seiner selbst (vgl. Sartre 1962: 338f.). Einmal der Verdinglichung durch den Behindernden ausgesetzt, kann sich der Behinderte nur schwer außerhalb des Horizontes jener fremden Wahrnehmung auf sich beziehen. Ihm wird der Status eines Objektes zugewiesen, das einer Bewertung unterliegt und in seiner

43

44

Behinder t sein - behinder t werden

Selbsteinschätzung veranlasst, tatsächlich jenes Objekt zu sein, das der andere taxiert, beurteilt und damit für sich instrumentalisiert hat. Die heutigen Grenzen der Integration bestehen darin, dass es immer weniger soziale Räume gibt, in denen sich die Behinderten möglicher Ausschließungspraktiken durch Behindernde entziehen können. So stehen sie ständig in der Gefahr, ihre Selbstachtung zu verlieren und Gefühle der Nichtzugehörigkeit, Unterlegenheit und sozialen Scham zu entwickeln. Symbolische Ausschließungspraktiken gestalten sich weniger in Form direkter Zutrittsverweigerungen, sondern durch Distinktionsgesten. Durch Nichtbeachtung oder Missachtung, die Behinderten entgegenschlägt, die den Eintritt in die sozialen Räume Behindernder suchen, verweigert man ihnen selbst die Rechte eines »Gastes«. Ein Gast steht jenseits möglicher Gesten der Identifizierung bzw. Ausschließung. Das Verhältnis zu ihm ist von einer unaufdringlichen Neugier geprägt, die sein Gegenüber leitet, ein vorläufiges Wissen über ihn als Gast zu vermehren. In der Ausschließung wird der Gast jedoch zum Fremden und in jene Distanz gebracht, durch welche er wieder identifiziert ist, ehe sein Gegenüber etwas über ihn erfahren und wissen kann. Dem Gast kommt man entgegen, auch wenn man ihn verfehlt. Man begegnet ihm nicht innerhalb oder außerhalb eines einheitlichen Bildes der Identifikation oder des Fremden, sondern eher bei den vielfältig zerbrochenen und nichtidentischen Scherben eines Spiegels (vgl. Bahr 1986: 27ff.). Gleichgültigkeit ist eine der erfolgreichsten Distinktionspraktiken gegenüber Behinderten. In der Kultivierung des eigenen Lebensstils und der Ignoranz gegenüber Behinderten vollzieht sie sich als Machtgeste, ohne dafür gehalten zu werden. Der Träger eines Körpers, der zur erlebnisorientierten Identitätsnorm geworden ist, dessen Grad an öffentlicher Legitimität über bloß subkulturell positive Attribute hinausweist, kann sich in der Pose scheinbarer Selbstvergessenheit gebärden. Tatsächlich zieht er jedoch Gewinn aus dem Gefühl des Besserweggekommenseins, verfügt er doch über allgemein geschätzte und zugleich natürlich erscheinende Körpermerkmale. So kann er jene, von denen er sich abgrenzt, als ebenso natürlich defizitär zurückweisen. Bezieht sich nun der Behinderte in seiner Selbstwahrnehmung über die Fremdwahrnehmung auf sich selbst, muss er zu dem stillen Geständnis kommen, der körperpolitischen Gewalt Behindernder tatsächlich nichts entgegensetzen zu können. Meidet er den Kontakt mit den Behindernden, bietet er sich zwar nicht mehr als Angriffsfläche für Lebensstile an, die mit seiner Erscheinung ihre Überlegenheit gewinnen; er ruiniert dabei aber seine Selbstachtung, weil sich in ihm das Gefühl sozialer Scham zu verfestigen droht. »Soziale Scham ist die tiefste Art einen persönlichen Mangel zu empfinden, weil sie […] das Wertempfinden der Person über die Art des eigenen Seins herabdrückt, mit einer Unterlegenheit einhergeht und gerade jene Diskrepanzerfahrung zwischen dem realen

1. Körperpolitik und Behinder tsein und dem idealen Selbst im Inneren einer Person hervorruft, die im Verhältnis zwischen sich und dem anderen eine erfolgreiche Distinktion von außen erzeugt.« (Neckel 1993: 283)

In der Begegnung mit Behindernden begibt sich der Behinderte dagegen in die Gefahr, im Moment der Herabsetzung durch sie Schamgefühle zu offenbaren, die in jenen die Berechtigung hervorruft, ihre Erwartungen an den Beschämten zu erhöhen. So besteht das Dilemma des Behinderten darin, sich der Fremdwahrnehmung einerseits nicht zu verschließen und andererseits diese nicht zur ausschließlichen Erfahrung seiner selbst zu machen. »Das äußere Vehikel bleibt immer die Aufmerksamkeit anderer, die freilich durch die Spaltung unserer selbst in ein beobachtendes und beobachtetes Teil-Ich ersetzt werden kann […]. Wie wir uns überhaupt beobachten, beurteilen, verurteilen, wie Dritte es tun, so verpflanzt sich auch jene zugespitzte Aufmerksamkeit anderer, an die sich das Schamgefühl knüpft, in uns selbst hinein.« (Simmel 1983: 144)

Eine einmal eingetretene Scham kann sich zu einem Inferioritätshabitus verfestigen. Darin gefangen, neigt man entweder zu einem Engagement in Gruppen, die zur möglichen Selbstaufwertung beitragen sollen, oder zur moralischen Selbstverurteilung der eigenen Unterlegenheit. Defizite werden dann so gedeutet, dass man andere für deren Verursachung verantwortlich macht oder sich selbst dafür verurteilt. Im Zentrum dieser leidvollen Sozialerfahrung steht immer das eigene Behindertsein. Paradoxerweise führt gerade der Gedanke einer prinzipiell realisierbaren Gleichheit in einem System wie dem unseren automatisch zur Individualisierung der Inferiorität. Denn eine Gesellschaft, die die nicht nur formale Gleichheit hochhält, tendiert dazu, symbolische Ungleichheit zu verleugnen bzw. um den Preis aufzuheben, dass die eigene Stellung nicht mehr als Folge von Macht, sondern als defizienter Modus individueller Selbstverwirklichung in Erscheinung tritt. Das Tragische am Behindertsein – man verletzt Normen, ohne unmoralisch zu sein. Es genügt heute die bloße Tatsache, den Normen einer körperorientierten Kultur nicht zu genügen. Glücklicherweise bildet der Mensch in seinem auf sich selbst gerichteten Blick nicht die bloße Verlängerung eines machtvollen Außen, sondern entwickelt auch Fähigkeiten zur Überschreitung in alternative habituelle Selbstentwürfe. Die Behinderten haben mehr und mehr gelernt, ihre eigenen Identitätskämpfe auszufechten. Doch können sie das so umstandslos durch Trauerarbeit leisten, wie jene Experten behaupten, die in der Rehabilitation psychologisch darauf hinarbeiten, dass der Behinderte Realitätseinsicht gewinnt und darüber seine Behinderung sinnvoll verarbeiten lernt? Ist nicht gerade jeher lebenstüchtiger, der es versteht, seine Behinderung im richtigen Maß zu verdrängen, indem er entdecken lernt, dass

45

46

Behinder t sein - behinder t werden

er mit anderen Charakteristika zu identifizieren ist als mit seinem physischen Handicap? Neuere Untersuchungen zeigen, so Christoph Leyendecker, dass Behinderte durch ein realistisch erscheinendes Optimistisch-Sein und »Positives Denken« ihr Schicksal besser bewältigen. Leyendecker wendet sich daher gegen die »arrogante Einstellung vieler Rehabilitationsfachleute«, die auf eine Auseinandersetzung und Verarbeitung der Behinderung setzen: »Denn realistische Akzeptanz der Behinderung bedeutet nicht nur den eigenen Körper anzunehmen, sondern gleichzeitig auch, die abgewertete Rolle des Behinderten in unserer Gesellschaft akzeptieren zu müssen.« (Leyendecker 1992: 54)

L iter atur Bahr, Hans-Dieter (1986): »Xenia – oder ein ephemerer. Aufenthalt«, in: Spuren 16, S. 27-30. Bourdieu, Peter (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis (auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft). Frankfurt a.M. Bourdieu, Peter (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. Bourdieu, Peter (1983): Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. Bourdieu, Peter (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien. Elias, Norbert (1976): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (2 Bde.). Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. Goffman, Erving (1967): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M. Leyendecker, Christoph (1992): »Die Behinderung akzeptieren – oder ausblenden?«, in: Psychologie heute. Januar, S. 52-56. Lenzen, Dieter (1991): Krankheit als Erfindung. Medizinische Eingriffe in die Kultur. Frankfurt a.M. Milz, Helmut (1992): Der wiederentdeckte Körper. Vom schöpferischen Umgang mit sich selbst. München/Zürich. Neckel, Sighard (1991): Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt a.M. Neckel, Sighard (1993): »Soziale Scham. Unterlegenheitsgefühle in der Konkurrenz von Lebensstilen«, in: Gunter Gebauer/Christoph Wulf (Hg.): Pra-

1. Körperpolitik und Behinder tsein

xis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus. Frankfurt a.M., S. 270-291. Sartre, Jean-Paul (1962): Das Sein und das Nichts. Versuche einer phänomenologischen Ontologie. Hamburg. Simmel, Georg (1983): »Zur Psychologie der Scham« (zuerst 1901), in: Ders.: Schriften zur Soziologie. Frankfurt a.M., S. 140-150. Ziehe, Thomas (1991): »Wie die Körper ›moderner‹ geworden sind«, in: Neue Sammlung 81 (1), S. 39-47.

47

2. Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit Behindertsein und Anerkennungspolitik Behinderte Menschen fordern mehr Gerechtigkeit. Doch was ist Gerechtigkeit? An welchen normativen Grundlagen kann sie sich orientieren, nachdem heute kein göttlich verbrieftes Naturrecht mehr Geltung beanspruchen kann? Reicht eine Gerechtigkeit aus, die die behinderte Person als einen »verallgemeinerten Anderen« mit Anspruch auf gleiche Rechte betrachtet, oder muss von einer Gerechtigkeitstheorie ein Standpunkt verlangt werden, in dem der Kontext des »konkreten Anderen« (Benhabib 1989) berücksichtigt wird? In den USA wird darüber eine schon zehn Jahre währende Debatte zwischen »Kommunitaristen« und »Liberalen« geführt; in der feministischen Philosophie diskutiert man über eine »Care-Ethik«, und postmoderne Philosophen fordern eine »Politik der Differenz«. Trotz aller Diversität der Ansätze eint alle das Engagement, der Frage nachzugehen, welche Überlegungen notwendig sind, um Benachteiligung von Minderheiten als ein politisches und ethisches Problem zu erfassen und ein Handeln zu begründen, durch das ein »System begrenzter Unverantwortlichkeit plus fürsorglicher staatlicher Intervention« (Frankenberg 1994: 214) überwunden wird. Mangelnde Anerkennung Behinderter, so lautet bisher das ernüchternde Fazit, beruht heute weniger auf der Tatsache ungleicher Rechte, sondern bei zunehmend gleichen Rechten auf inkorporierten sozialen Normen wie Gesundheit, Schönheit, Leistungsfähigkeit usw. Insofern sind hier die weiteren Überlegungen von der Überzeugung getragen, dass Ungleichheiten zwischen Behinderten und Nichtbehinderten heute weniger rechtlich verbürgt als symbolisch verankert sind, nämlich unterhalb einer normativ kodifizierbaren Gerechtigkeitssphäre, in Bereichen, wo Behinderte nicht so sehr als Subjekte formaler Rechte in Erscheinung treten, sondern als ethische Subjekte mit Anspruch auf ein nicht verfehltes Leben und gelungener Identitätsbildung. Daher ist hier das Anliegen, den Nachweis zu erbringen, dass der Kampf Behinderter um Anerkennung nicht nur ein Kampf um rechtliche Gleichbehandlung sein kann, sondern weit mehr um ihre persönliche Integrität und ihre je

50

Behinder t sein - behinder t werden

individuellen Lebensformen. Die Grundthese lautet, dass rechtlich garantierte Anerkennungsverhältnisse eine zwar notwendige, jedoch keine hinreichende Schutzhülle für ethische Möglichkeiten der Wahl zwischen verschiedenen Lebensformen und Identitätsbildungen darstellen. So können Menschen andere zwar als Rechtspersonen in ihrer Würde achten; das heißt jedoch noch lange nicht, dass sie sie auch in ihren ethischen Differenzen anerkennen.

D er K ampf um A nerkennung als R echtsperson Die US-amerikanische Behindertenbewegung hat mit der Verabschiedung des »American with Disabilities Act« im Jahre 1990 einen Erfolg im Kampf gegen Diskriminierungen errungen. Auch in der Bundesrepublik wurde in den letzten Jahren der Ruf lauter, die deutsche Gesetzgebung dahingehend zu verändern, dass Menschen mit Behinderungen mehr Schutz vor Benachteiligungen erhalten. Dies führte dazu, dass der Deutsche Bundestag am 30. Juni 1994 eine Verfassungsreform verabschiedet hat, die den Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes durch den Satz »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« ergänzte. Damit hat man eine allgemeine Norm von Verfassungsrang geschaffen, die Bindungswirkung für die weitere Rechtsprechung besitzt. Indem es nicht mehr nur um den im allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG garantierten Schutz einer individuellen Rechtsperson geht, sondern um die versehrbare Integrität von etwa acht Millionen behinderter Menschen, werden dem bisher »liberalen« Selbstverständnis des demokratischen Rechtsstaates »kommunitaristische« Elemente hinzugefügt. Ein individualistisch angelegtes Rechtsverständnis wird erweitert, insoweit ihm misstraut wird, den Gerechtigkeitsansprüchen von Mitgliedern einer partikularen Gruppe genügen zu können. Der Gleichheitsgrundsatz, so wird implizit bekundet, führt nicht automatisch zur Gleichbehandlung der Belange behinderter Menschen. Unser auf subjektive Rechte zugeschnittenes und in diesem Sinn ,,liberales« Verständnis des demokratischen Rechtsstaates soll die Achtung vor der unverwechselbaren Identität jedes Individuums unabhängig von Geschlecht, Rasse, ethnischer Zugehörigkeit oder Behindertsein garantieren. Diese Achtung sollte sich eigentlich auch auf dessen besondere Lebensweise als Angehöriger einer partikularen Gruppe erstrecken. Das Benachteiligungsverbot in der Verfassung dokumentiert jedoch, dass Menschen mit Behinderungen Angehörige einer nach wie vor diskriminierten Gruppe sind. Damit wird eingestanden, dass sich die formelle Gleichberechtigung als unzureichend erweist. Für behinderte Menschen führt sie dazu, dass zu wenig getan wird, damit sie die Möglichkeiten, die ihnen de jure zustehen, etwa im Hinblick auf Ausbildung sowie berufliche und politische Tätigkeit, auch de facto ergreifen können.

2. Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit

Kann man jedoch in diesem Zusammenhang schon vom Beginn einer kommunitaristischen Wende in der Gesetzgebung sprechen, die dahin führt, was Marion Young, eine Vertreterin der kommunitaristischen Bewegung in den USA fordert? Young argumentiert für ein »Konzept des differenzierten Staatsbürgerstatus« (Young 1993: 268), um die Integration und Teilhabe von Mitgliedern benachteiligter Gruppen zu ermöglichen. Ihre Kritik am liberalen Rechtsverständnis lautet, dass ihm ein allgemeiner Begriff von Öffentlichkeit zugrunde liegt, durch den Partikularität zugunsten unparteilichen, universalen Standpunkten, die alle besonderen Interessen, Perspektiven und Erfahrungen transzendieren, aufgehoben wird. Dies habe zu Ausschlusspraktiken geführt und zum Zwang marginalisierter Gruppen, sich an Normen messen zu lassen, die von den privilegierten Gruppen stammen und von ihnen definiert werden. Eine Gerechtigkeit, die darauf beruht, »ohne Ansehen der Person« einzelnen Personen »gerecht« zu werden, bleibe blind gegenüber den Bedürfnissen der Gruppe Behinderter. Nach Young sind Behinderte Mitglieder einer diskriminierten Gruppe, weil sie von der Partizipation an wichtigen sozialen Tätigkeiten ausgeschlossen werden; weil sie wenig Gelegenheit erhalten, ihrer Erfahrung und ihrer Sichtweise von sozialen Geschehnissen Ausdruck zu verleihen; weil sie oft unter der Autorität anderer leben müssen, die ihre Autonomie einschränken; weil sie stereotypisiert, etikettiert werden und willkürlicher Gewalt und Schikane ausgesetzt sind. All dies spricht ihres Erachtens dafür, das Recht gegenüber gruppenspezifischen Unterschieden zu öffnen und zu überprüfen, wo ein formales Prinzip der Gleichbehandlung unfair macht, weil es zu einer Benachteiligung der Betroffenen führt. In der Tat dürfen Rechte nicht blind sein für unterschiedliche Lebenslagen. Sie müssen einem »positiven Geltendmachen des Differenten in den verschiedenen Formen des Lebens« (ebd.: 296) Ausdruck verleihen. Doch sind die »liberalen« Bedenken nicht von der Hand zu weisen, dass besondere Gruppenrechte Gefahren mit sich bringen. Statt einer demokratischen Gesellschaft der Gleichheit, kann es zu einer standesrechtlichen Privilegiengesellschaft kommen, wenn besondere Gruppenrechte Hierarchien auf bauen und sie verstärken. Darüber hinaus können Differenzen, die zum Maßstab für besondere Bedürfnisse und Forderungen gemacht werden, zu essentialistisch-naturalistischen Deutungen führen. Es darf nicht übersehen werden, dass behinderte Menschen aufgrund gesellschaftlicher Zuschreibungsformen als Gruppe unterschieden werden. Rechtliche Kodi­fizierungen dürfen daher nicht dazu führen, dass das was augenscheinlich hohe alltagsweltliche Plausibilität besitzt, nicht mehr als Resultat gesellschaftlich wirkender Distinktionsmechanismen erkennbar bleibt. Sie dürfen nicht die Kraft lähmen, immer wieder darauf zu reflektieren, dass das, was sich eventuell eingeübter Sichtweisen verdankt, weniger auf tatsächlichen Unterschieden beruht als auf »Mythen des

51

52

Behinder t sein - behinder t werden

Alltags« (Roland Barthes). Es ist daher unabdingbar, die Analysen über symbolische Konstruktionen des Behindertseins weiterzuführen. Natürlich müssen auf der rechtlichen Ebene Bedingungen geschaffen werden, dass kulturell vorherrschende Diskriminierungsformen keine Auswirkungen auf verschiedene individuelle Freiheitsrechte und politische Teilhaberechte besitzen. Doch darf es keinen rechtlich garantierten »Artenschutz« für partikulare Gruppen geben. Besonders dann nicht, wenn es sich um keine starke Gemeinschaft mit gemeinsamen Handlungsformen, Praktiken, Weltauffassungen und Werten handelt.

B ehindertsein ist kein G emeinschaf tswert Drei Vorstellungen von Gemeinschaft lassen sich grob unterscheiden: l. Zweckgemeinschaft unabhängiger Einzelner mit unterschiedlichen Interessen. »Gemeinschaft« hat hier den Sinn des instrumentell Vorteilhaften für ihre Mitglieder. 2. Kooperationsgemeinschaft von Einzelnen, die gewisse Ziele miteinander teilen und über diese gefühlsmäßig miteinander verbunden sind. 3. Wertegemeinschaft, die ihre Mitglieder stark in ihrem Selbstverständnis prägt. Die solidarische Einheit zwischen dem Einzelnen und der Gruppe führt dazu, dass man die Gemeinschaft nur um den Preis der Identitätsaufgabe verlassen kann. Behinderte haben, gemessen an dieser Typologie, zumindest ein Minimum an Einigkeit und Solidarität. Dennoch bleiben sie eine höchst differenzierte, ja teilweise auch zerrissene Gruppe. Sie bilden keinesfalls eine Wertegemeinschaft im starken Sinne. Die Gemeinschaft dient einer behinderten Person nicht als quasi transzendentale Bedingung für die Konstitution seiner Subjektivität, wie es in ethnischen Gemeinschaften der Fall ist, sondern eher als Medium für zielorientierte Selbstverständigungsprozesse. Sie bildet keinen Kosmos für vertraute, subkulturelle Wertzusammenhänge, in dem sich »Schicksalsgenossinnen« zusammenfinden, sondern einen Verbund, in dem sich Menschen aufgrund allgemeiner menschlicher Eigenschaften als Personen schätzen. Als schwache Identifikationsgemeinschaft haben Behinderte dennoch Mechanismen – Selbstorganisation, Öffentlichmachung, Widerstandsformen – entwickelt. Dadurch finden sie sich in einem »Kampf um Anerkennung« zusammen und erzeugen allgemein ein Bewusstsein über die tiefgreifenden Verschiedenheiten menschlicher Lebensformen. Der Nichtbenachteiligungspassus im Grundgesetz ist lediglich als nachdrücklicher Hinweis zu verstehen, das Prinzip der gleichen Achtung für jedermann nicht vor behinderten Menschen enden zu lassen, insoweit sie rechtliche Ansprüche chancengleich realisieren können sollen. Es geht darum, den Statuserwerb von der gesellschaftlich konstituierten Identität des Behindert-

2. Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit

seins zu entkoppeln und behinderten Menschen eine tatsächliche Gleichheit der Chancen in der Ermöglichung von Arbeit, sozialem Ansehen, Bildungsabschlüssen, politischer Partizipation zu gewährleisten. Dazu gehört auch, dass sozialrechtlich normalisierende Eingriffe in die Lebensführung Behinderter kontrolliert werden und ausreichend Schutz gegen einen sozialstaatlichen Paternalismus gewährt wird. Im Kampf um Anerkennung kann es nicht mehr nur um die objektiv zu gewährleistenden Leistungsansprüche für Behinderte als Klienten wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien gehen. Differenzen zwischen Erfahrungen und Lebenslagen behinderter und nichtbehinderter Menschen müssen sichtbar und für die chancengleiche Nutzung subjektiver Handlungsfreiheiten dienstbar gemacht werden. Jürgen Habermas hat in jüngster Zeit darauf aufmerksam gemacht, dass die Differenz zwischen bloßer Recht- und Sozialstaatlichkeit und wirklicher Demokratie gerade darin besteht, dass diskursive Prozesse zugelassen werden, mittels derer Betroffene oder ihre Fürsprecher in öffentlichen Diskussionen Erfahrungen von tatsächlicher Ungleichbehandlung artikulieren und begründen können (Habermas l993: 157). Nichtbenachteiligung soll heißen, dass mit Bürgerrechten nicht vor behinderten Personen haltgemacht wird, denn sie schaffen die Voraussetzung, dass sie als Bürger selbst ihre eigenen Identität sichernden Lebenskontexte herstellen können. Der Verschiedenheit der Lebensbedingungen kann so in einer Weise Rechnung getragen werden, dass sie von den Betroffenen nicht als nur ausgleichsbedürftiger defizitärer Zustand empfunden, sondern in ihrer Besonderheit akzeptiert werden.

R echt ist nicht G erechtigkeit Fredi Saal stellt als Betroffener die Frage, welche Bedeutung die Einstellung des Nichtbehinderten zur Tatsache eines körperlichen Ausfalls für die Selbsteinschätzung des Behinderten hat. Er findet folgende Antwort: »Sie entscheiden darüber, ob im Behinderten ein gleichwertiger und psycho-sozial normaler Partner gesehen wird, dem man die gleichen Daseinserwartungen zubilligen muss wie jedem anderen auch. Weshalb das Urteil des Unbehinderten über den Behinderten für dessen Selbsteinschätzung solch schwerwiegendes Gewicht hat, ist leicht einzusehen. Denn in der Welt des Nichtbehinderten gilt das Ideal des schönen und unversehrten Körpers.« (Saal 1992: 113)

Diese Worte machen deutlich, dass eine Gerechtigkeitstheorie nicht einfach nur den Menschen als Subjekt rechtlicher Gleichbehandlung in den Blickpunkt nehmen kann. Recht garantiert noch keine Gerechtigkeit. In der »Kommunitarismusdebatte« bleibt dieser Tatbestand allzu unberücksichtigt. So

53

54

Behinder t sein - behinder t werden

richtet man das Augenmerk zu sehr darauf, dass das Ziel einer gerechten Gesellschaft in der rechtlichen Sicherung individueller oder eben gruppenbezogener Entscheidungsfreiheit liegt. Doch die Frage muss auch sein, welche weiteren sozialen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit der Einzelne von der ihm rechtlich gewährten Freiheit der Selbstbestimmung auch tatsächlich Gebrauch machen kann. Die Möglichkeiten der Selbstbestimmung können im Rahmen eines Rechtssystems zwar garantiert werden; doch um Wege der Selbstverwirklichung beschreiten zu können, bedarf es eines neuen »Ethos«, einer neuen Einstellung unterhalb des Rechtskodes. Axel Honneth hat verschiedene Formen gesellschaftlicher Anerkennung unterschieden, die jeweils den Menschen in seinen Dimensionen als Rechtsperson bzw. als ethische Person betreffen (vgl. Honneth 1992: 107-226). Seiner Ansicht nach gewähren die liberal-demokratischen Staaten ihren Mitgliedern zunehmend rechtliche Anerkennung in Form von individuellen Freiheitsrechten, politischen Teilnahmerechten und sozialen Wohlfahrtsrechten. Damit haben sie einstige Unterprivilegierungen abgeschafft, die mit Achtungsverlust von Personen einhergingen. Heute können die Mitglieder unseres Gemeinwesens daher weitgehend Selbstachtung genießen, insoweit sie zunehmend Anerkennung als Gleichberechtigte in einer rechtlich-politischen Gemeinschaft erfahren. Doch Menschen bedürfen darüber hinaus auch noch Anerkennung in Form sozialer Wertschätzung, die es ihnen erlaubt, sich auf ihr Selbstsein positiv beziehen zu können. Aus der Selbstachtung wird ein Selbstwertgefühl, wenn eine Person weiß, dass die in ihr verkörperten Eigenschaften und Fähigkeiten von den übrigen als wertvoll anerkannt werden. Aus gleichgültiger Toleranz gegenüber einer Rechtsperson wird affektive Anteilnahme für eine ethische Person. Der Mensch ist in seiner ethischen Dimension auf zustimmende Reaktionen seiner Mitmenschen angewiesen. Er wird in seiner Integrität verletzt, wenn Missachtung, Gleichgültigkeit, Mitleid oder Beleidigung die Reaktionsweisen der anderen bilden. Denn zwischen der Unversehrtheit des Einzelnen und der Zustimmung durch andere besteht ein unauflöslicher Zusammenhang. Der behinderte Mensch ist eine ethische Person, die in ihrer Identität des Selbst auf vielfältige Weise mit der Erfahrung des Behindertseins verbunden ist. Gleichzeitig ist er als Mitglied einer politischen Gemeinschaft als Rechtsperson normativ integriert. Diese Doppelstruktur aus ethischer und rechtlichpolitischer Identität muss analytisch berücksichtigt werden, denn sie verweist auf zwei nicht aufeinander reduzierbare Anerkennungsverhä1tnisse. Es ist ein Unterschied, ob ich eine behinderte Person als gleichberechtigten Träger von Rechten achte oder ob ich sie aufgrund all ihrer Eigenschaften wertschätze. Menschen können andere zwar a1s Rechtspersonen achten, das heißt jedoch noch lange nicht, dass sie in ihrer ethischen Dimension bejaht werden.

2. Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit

Zwar sind es heute weniger direkte handgreifliche Erniedrigungen, sondern subtile Demütigungen, denen Behinderte ausgesetzt sind. Gleichwohl können diese zu Verletzungen führen, die die gesamte Identität beeinträchtigen. Der Behinderte wird der Möglichkeit beraubt, den eigenen Eigenschaften und Fähigkeiten einen sozialen Wert beizumessen. Das kann zur Folge haben, dass er sich nicht auf seinen Lebensvollzug als auf etwas beziehen kann, dem innerhalb einer Gesellschaft eine positive Bedeutung zukommt. Als Missachteter reagiert er beschämt oder empört und erfährt damit auch, in welch’ konstitutiver Abhängigkeit sich seine Person von der Anerkennung durch andere befindet. In der Folge kann sich sein Kampf um Anerkennung durch das Engagement in Selbsthilfegruppen äußern. Diese haben zunächst die Funktion, aus der lähmenden Situation der passiven Erduldung von Demütigungen herauszufinden und zu einem positiven Selbstverhältnis zu verhelfen. Dort teilt er mit anderen die Erfahrung, dass ihm eine politische Gemeinschaft, selbst wenn ihre Wohlfahrt auf die bestmögliche Weise seine Bedürfnisse als Behinderter stillt, die Wertschätzung durch andere auf dem Rechtswege nicht garantieren kann.

W ege einer anderen G erechtigkeit In den vergangenen Jahren hat eine Gegenbewegung zu den einflussreichen, auf Kant zurückgehenden bzw. utilitaristischen Gerechtigkeitstheorien stattgefunden. Selbstverständlich geht man immer noch davon aus, dass »Gerechtigkeit« eine unverzichtbare moralische Norm darstellt. Doch wird der Vorwurf laut, dass sich diese Ethiken allzu sehr in Begriffen der Gleichbehandlung und wechselseitigen Verantwortung erschöpfen und jene moralischen Vorstellungen vernachlässigen, mit denen wir uns, ohne Berücksichtigung wechselseitiger Verpflichtung oder allgemeiner Glücksansprüche, dem Nächsten zuwenden und ihm in der Einstellung asymmetrischer Verpflichtung begegnen. So berufen sich kantische Ethiken auf eine Interessengemeinschaft freier Bürger, in der alle dank ihrer Würde Anspruch auf faire Behandlung haben. Utilitaristische Ethiken orientieren sich dagegen im Wesentlichen daran, was der größten Zahl das größte Glück verspricht. Bei beiden taucht Solidarität ohne die Kraft auf, positive Pflichten zur Beseitigung privater und sozialer Probleme begründen zu können. Beide treten mit dem Anspruch auf, universelle Normen für gerechtes Handeln zu begründen. Allein der advokatorische Diskurs über das »Lebensrecht schwerbehinderter neugeborener Kinder« hat deren Grenzen deutlich werden lassen. Das Problem des Hiatus zwischen universalistischen Geltungsansprüchen und partikularer Geltungserzeugung, d.h. die unaufhebbare Asymmetrie zwischen denjenigen, die sprechen und denen über die gesprochen wird, können sie nur schönreden. Peter Singer lässt diejenigen

55

56

Behinder t sein - behinder t werden

Behinderten, die fordern, dass nicht über ihr Lebensrecht diskutiert werden darf, in die »Diskursethik-Falle« laufen. Er erklärt sie zu Nichtbetroffenen, die unfähig sind, eine ethisch neutrale Gerechtigkeitsperspektive einzunehmen (Singer 1994). Die weitreichendste Kritik kommt von jenen, die zumeist abschätzig »postmoderne Philosophen« genannt werden. Sie folgen dem Gedanken von Emmanuel Lévinas, dass die Grundlage aller Gerechtigkeit nicht ein Vertrag oder ein am Konsens orientierter Diskurs sein kann, sondern eine »Verantwortung für Andersheit«. Lévinas’ Ethik ist von der ontologischen Einstellung geprägt, dass das Verhältnis zwischen dem der spricht und dem der antwortet, genuin asymmetrisch ist. Da wo man glaubt, den anderen zu verstehen, beansprucht ihn zu kennen, erfüllt man lediglich die Funktion, sich die Ansprüche des »Anderen« vom Leibe zu halten. »Der Nächste betrifft mich vor jeder Übernahme, vor jeder bejahten oder abgelehnten Verpflichtung. Ich bin an ihn gebunden an ihn, der gleichwohl der Erstbeste ist, ohne Personenbeschreibung, nicht zum Ganzen passend – […] Nicht deshalb betrifft mich der Nächste, weil er als einer erkannt wäre, der zur selben Gattung gehört wie ich. Er ist gerade Anderer. Die Gemeinschaft mit ihm beginnt in meiner Verpflichtung ihm gegenüber. Der Nächste ist Bruder. Als unkündbare Brüderlichkeit, als unabweisbare Vorladung ist die Nähe eine Unmöglichkeit, sich – ›ohne Entfremdung‹ oder schuldlos – davonzumachen […].« (Lévinas 1992: 194f.)

Das Prinzip der Gerechtigkeit als Basis der Moral und des Rechts wird hier um den Gesichtspunkt der »absoluten Andersheit« der einzelnen Person zu einer »Ethik der Sorge« erweitert. Jacques Derrida wirft den am Vertrag (Rawls) oder am konsensuellen Diskurs (Apel; Habermas) orientierten Gerechtigkeitstheorien ebenso vor, dass sie sich nur an rechtlich kodifizierbaren Normen orientieren, und dass sie daher den Bereich fortdauernder und faktischer Machtverhältnisse, innerhalb dessen sich konsensuelle Gerechtigkeitsvorstellungen vollzogen haben, nicht ins Blickfeld bekommen. »Das Recht ist nicht die Gerechtigkeit. Das Recht ist das Element der Berechnung; es ist nur (ge-)recht, dass es ein Recht gibt, die Gerechtigkeit indes ist unberechenbar; sie erfordert, dass man mit dem Unberechen­baren rechnet.« (Derrida 1991: 33f.) Diese schwer deutbaren Worte werden klarer, wenn man Michel Foucaults aufsehenerregende Untersuchungen über die Funktionsweise der Macht in modernen Gesellschaften zur Kenntnis nimmt. Foucault zeigt, dass die Macht keineswegs durch ein Rechtssystem in eine legitime Form gebracht werden kann. Die Rechtsnormen, mit denen die staatlich organisierten liberaldemokratischen Gesellschaften auf sich selbst einwirken, bilden eine Sphäre der Gerechtigkeit, die nur deshalb funktionieren kann, weil unterhalb der Ebene formaler Freiheit und Gleichheit eine Technik wirksam ist, die sich der Körper

2. Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit

der Menschen bedient. »Machtverfahren […], die nicht mit dem Recht, sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern mit der Kontrolle.« (Foucault 1983: 110) Foucaults unausgesprochene Kritik an den bisherigen Gerechtigkeitstheorien lautet, dass sie »Macht« nur im rechtsförmigen Sinne verstehen. So war die Kritik an einer untersagenden Macht im 18. Jahrhundert zweifellos hilfreich im Kampf des Bürgertums um gesellschaftliche Anerkennung. Doch in dem Augenblick, da freie Bürger im republikanischen Gründungsakt proklamatorisch von »Wir, das Volk …« zu sprechen begannen, veränderte sich laut Foucault die Funktionsweise der Macht. Sie löst sich vorn personell besetzten und eindeutig lokalisierbaren Ort des sakralen Körpers eines Souveräns und erfährt eine scheinbar identitäre Symbolisierung im »Volk« als einem neuen »politischen Körper«. »Die alte Mächtigkeit des Todes, in der sich die Souveränität symbolisierte, wird nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens […]; verschiedenste Techniken zur Unterwerfung der Körper und zur Kontrolle der Bevölkerung schießen aus dem Boden und eröffnen die Ära einer ›Bio-Macht‹.« (Ebd.: 166)

Diese Bio-Macht unterhält zusehends das alte Rechtssystem des Souveräns, das sich darin erschöpfte, »sterben zu machen und leben zu lassen« (ebd.: 162). Sie bildet eine Art »Gegenrecht«, indem sie nicht mehr mit dem Gesetz, sondern mit staatlichen Eingriffen in Form von Techniken der Normalisierung des Einzelnen und der Regulierung der Bevölkerung arbeitet. Die Bio-Macht wirkt gleichsam als »politische Technologie«, die keine freien und gleichen Staatsbürger hervorbringt, sondern mittels überwachender Kontrollen der Fortpflanzung, der Geburten- und Sterblichkeitsrate, dem Gesundheitsniveau, der Lebensdauer usw. den gesamten Raum des Lebens besetzt. Foucault »will da­mit nicht sagen, dass sich das Gesetz auflöst oder dass die Institutionen der Justiz verschwinden, sondern dass das Gesetz immer mehr als Norm funktioniert, und die Justiz sich immer mehr in ein Kontinuum von Apparaten (Gesundheits-, Verwaltungsapparat), die hauptsächlich regulierend wirken, integriert. Eine Normalisierungsgesellschaft ist der historische Effekt einer auf das Leben gerichteten Machttechnologie« (ebd.: 172). Das »ethische Subjekt«, von dem bisher die Rede war, verschwindet unter Foucaults nüchternem Blick und erscheint unversehens wieder als ein »Gehorsamssubjekt« (Foucault 1977: 167), das in einem Universum von Normalisierungspraktiken heimisch wird, indem es unentwegt versucht, sich selbstkorrigierend einer Norm anzupassen und gleichzeitig durch die Abweichung von der Norm definiert wird. Während »die rechtlichen Systeme nach allgemeinen Normen Rechtssubjekte qualifizieren; […] charakterisieren, klassifizieren, spe-

57

58

Behinder t sein - behinder t werden

zialisieren« die neuen Machttechnologien das ethische Subjekt. Sie »verteilen die Individuen entlang einer Skala, ordnen sie um eine Norm herum an, hierarchisieren sie untereinander und am Ende disqualifizieren sie sie zu Invaliden« (ebd.: 286). Foucault liefert keine Argumente dafür, dass wir die Sozialrechtsgesellschaft aufgeben müssen. Doch er wendet sich in all seinen historischen Untersuchungen gegen wohlfahrtsstaatliche Praktiken, in denen die Wahrheitsspiele der Humanwissenschaften, an vorderster Stelle die Medizin, zum technischen Ensemble für die Ausweitung sozialer Normen wird. Er kritisiert deren Wahn einer selbstläuferischen Lebenssteigerung. »Man könnte sagen, das alte Recht, sterben zu machen oder leben zu lassen wurde abgelöst von einer Macht, leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.« (Foucault 1983: 165) Foucault plädiert für eine Ethik, die sich dagegen richtet, dass die Techniken Menschen als Ressourcen behandeln. Zehn Jahre nach seinem Tod schreibt Paul Virilio darüber, in welch‹ be­k lemmender Weise die Kolonialisierung des Körpers weitergeht. »[M]an bereitet sich jetzt also darauf vor, die Masse des Lebendigen mit Mikromaschinen auszurüsten, mit deren Hilfe unsere Fähigkeiten wirkungsvoll zu stimulieren sind: Der Invalide, der dank seiner Ausrüstung seine Behinderung überwinden kann, wird plötzlich zum Vorbild für den mit Prothesen jeder Art überreizten Gesunden […].« (Virilio 1994: 110)

Foucaults Geschichte moderner Machttechnologien offenbart einen fundamentalen Umbruch in der Subjektivität des modernen Menschen. Die BioMacht produziert ihn unentwegt neu im Modus des Behindertseins. Das moderne Individuum ist aufgefordert, sich in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Behindertsein als jemand anzuerkennen, der trotz allem leistungsfähiger, gesünder, schöner usw. als der andere ist. Überspitzt lässt sich vielleicht sogar sagen, dass die schlechte Wirklichkeit im Sinne einer Ontologie des Verhältnisses »Behindert – nichtbehindert« funktioniert. Foucaults kritisches Denken begründet sich darin, die Kosten dieser Selbstkonstitution herauszustellen, indem er der Frage nachgeht: Welche Formen von Rationalität sichern unsere Identität und inwieweit schränken sie uns in unseren Möglichkeiten des »guten Lebens« ein. Die Konsequenz, sich der Allgemeinheit des Daseins als Behindertsein zu verweigern, soll nicht heißen, dass das worauf sich dieser Begriff bezieht nicht existiert. Er ist keine Chimäre, die aus irgendeinem Grund erfunden worden ist. Dennoch regelt er die gegenwärtige Beziehung zwischen Subjektivität und Macht, und Not tut laut Foucault eine veränderte Form der Selbst-Gestaltung. Doch dessen Aufruf zu einer Ethik als »Ästhetik der Existenz« ist zu sehr am Begriff der »Selbstsorge« interessiert und könnte als Einspruch gegen die Bio-Macht nur überzeugen, wenn wir eine Welt hätten, in der Menschen nicht

2. Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit

tatsächlich einer Fürsorge bedürften. Daher bleibt auch seine Gerechtigkeitsvorstellung unvollständig, insoweit er das ethische Subjekt einer hegenden Fürsorge einfach vergisst. Außerdem wird seine unausgewogene Kritik an der Bio-Macht dort zynisch, wo er nicht zur Kenntnis nimmt, dass dem, was er kritisiert, viele Behinderte heute ihr Leben verdanken. Insofern kommt der Ethik von Lévinas in diesem Zusammenhang eine größere Überzeugungskraft zu. In ihr erhält auch das Prinzip der asymmetrischen, einseitigen Verpflichtung in der unmittelbaren Beziehung zum Anderen – als konkreter, unvertretbarer Einzelperson – Geltung. Für Lévinas ist mit der intersubjektiven Begegnung strukturell eine moralische Verantwortung verknüpft, die die unendliche Verpflichtung hervorruft, der Besonderheit der anderen Person durch immerwährende Fürsorge gerecht zu werden. Diese asymmetrische Verpflichtung, dem menschlichen Wesen in seiner existentiellen Bedürftigkeit uneingeschränkt Fürsorge entgegenzubringen, gilt für Lévinas vor jeder rechtlich festgelegten Pflicht zur Gleichbehandlung. »In Wirklichkeit schließt mich die Gerechtigkeit nicht in das Gleichgewicht ihrer Universalität ein – die Gerechtigkeit nötigt mich, über die gerade Linie der Gerechtigkeit hinauszugehen, und nichts kann danach das Ende dieses Ganges bestimmen: hinter der geraden Linie des Gesetzes erstreckt sich unendlich und unerforscht das Land der Güte, das alle Hilfsmittel einer singulären Präsenz benötigt.« (Lévinas 1987: 360)

Jenseits von Respekt und Achtung ist es die Beziehung des ethischen Subjekts mit einer ursprünglichen Differenz – das, was den anderen »Anderer« sein lässt –, die jeden nur objektivierend-diagnostizierenden Blick auf ihn ausschließt. »In der Nähe wird ein Gebot vernehmbar, das gleichsam aus einer unvordenklichen Vergangenheit kommt: die niemals Gegenwart war, die in keiner Freiheit begonnen hat. Diese Weise des Nächsten heißt Gesicht. Das Gesicht des Nächsten bedeutet mir eine unabweisbare Verantwortung, die jeder freien Zustimmung, jedem Pakt, jedem Vertrag vorausgeht.« (Lévinas 1992: 198f.)

L iter atur Apel, Karl-Otto (1988): Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a.M. Benhabib, Seyla (1989).: »Der verallgemeinerte und konkrete Andere. Ansätze zu einer feministischen Moraltheorie«, in: Elisabeth List/Herta Studer (Hg.): Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Frankfurt a.M., S. 454487.

59

60

Behinder t sein - behinder t werden

Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. Frankenberg, Günter (1994): »Solidarität in einer ›Gesellschaft der Individuen‹? Stichworte zur Zivilisierung des Sozialstaats«, in: Ders. (Hg.): Auf der Suche nach einer gerechten Gesellschaft. Frankfurt a.M., S. 210-223. Habermas, Jürgen (1983): Moral Bewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a.M. Habermas, Jürgen (1993): »Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat«, in: Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a.M., S. 147-196. Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M. Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/München. Lévinas, Emmanuel (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/München. Rawls, John (1993): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. Saal, Fredi (1992): Warum sollte ich jemand anders sein wollen? Gütersloh. Singer, Peter (1994): Praktische Ethik. Neuausgabe. München/Wien. Virilio, Paul (1994): Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. München/Wien. Young, Iris Marion (1993): »Das politische Gemeinwesen und die Gruppendifferenz. Eine Kritik am Ideal des universalen Staatsbürgerstatus«, in: Herta Nagl-Docekal/Herlinde Pauer-Studer (Hg.): Jenseits der Geschlechtermoral. Beiträge zur feministischen Ethik. Frankfurt a.M., S. 267-304.

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

Ethische Überlegungen zum Behindertsein

Mit den folgenden Überlegungen möchte ich zeigen, welche Formen symbolischer Gewalt im Gewande wissenschaftlicher Aussagen unterhalb einer am Recht orientierten Anerkennungspolitik gegenüber behinderten Menschen wirksam sind. Meine These lautet, dass sich mit dem Prozess der übergreifenden Verrechtlichung auch eine »Ent-Weltlichung« vollzogen hat, durch die Menschen voneinander isoliert und als Individuen, die von sozialen Normen abweichen, produziert werden. Daraus ziehe ich den Schluss, dass es für die Selbstachtung behinderter Menschen nicht genügt, allgemein über gleiche Rechte zu verfügen, die in Form von Ansprüchen eingeklagt werden müssen. Sie benötigen zusätzlich die ethische Anerkennung anderer in ihrer je eigenen Lebensweise, um sich selbst schätzen und respektieren zu können. Wir alle werden in unserer Identität stark von der Anerkennung oder Nichtanerkennung, vielleicht auch von der Verkennung durch die anderen geprägt und können Schaden nehmen, wenn die Umwelt ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild unser selbst spiegelt. »Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen.« (Taylor 1993: 14) – Das Recht bezieht sich lediglich auf gleiche Freiheiten unvertretbarer und sich selbst bestimmender Individuen bzw. auf staatlich garantierte fürsorgerische Interventionen gegenüber Hilfsbedürftigen. Unterhalb dieser Sphäre kann sich jedoch das Schlechte ausbreiten – Egoismus, Machtstreben, Ausgrenzung, Verachtung. Mit wirklicher Gerechtigkeit wäre jedoch eine gesellschaftlich verankerte zwischenmenschliche Verantwortung um die Erhaltung der Integrität des Einzelnen und seiner je eigenen Lebensform gemeint. Auf meiner Suche nach Alternativen gegenüber bisherigen Gerechtigkeitsauffassungen lasse ich mich folglich davon leiten, dass nicht nur eine veränderte Rechtsform, sondern vielmehr auch ein erweiterter Begriff zwischenmenschlicher Wertschätzung die Voraussetzungen dafür sind, Selbstachtung bei und verantwortungsvolle Solidarität mit behinderten Menschen zu gewähr-

62

Behinder t sein - behinder t werden

leisten. Dabei ist es weniger meine Absicht, zu der schon vorhandenen Fülle gegenwärtig diskutierter Gerechtigkeitstheorien eine weitere hinzuzufügen. Vielmehr sollen mit Michel Foucaults »Ethik der Selbstsorge« und Emmanuel Lévinas’ »Ethik der Sorge für den Anderen« die blinden Flecken bisheriger Vorstellungen über die Anerkennung behinderter Menschen sichtbar gemacht werden. Beide fordern dazu auf, das irreduzible Anderssein sowohl des Selbst als auch des Mitmenschen zum zentralen Bestimmungsgrund moralischen Denkens zu erklären. »Andersheit« heißt bei ihnen, sich in einer moralischen Haltung – einem Ethos – zu üben, das die Nichtidentität zwischen jeglichem gesellschaftlichen Entwurf oder Diskurs über das Selbst und den Anderen herausstellt. In ihrer gesellschaftlichen Kritik leiten sie den Mangel an individuellem Wohlergehen der Menschen aus dem Mangel an sozialer Berücksichtigung dieses Tatbestandes ab. Sie orientieren sich nicht nur an einem Begriff der »Handlungsverantwortung«, also der Suche einer Antwort auf die kantische Frage »Was soll ich tun?«, sondern stellen sich in ihrer Verantwortung für Andersheit dem vorausliegenden moralischen Problem, wie wir mit unserem Tun der Gewalt entkommen können, den Anderen zum Selben zu machen und dabei als Anderen zu vernichten. Die einflussreichsten Moraltheorien – Utilitarismus, Vertragstheorie, Diskursethik – werden insoweit als ungenügend zurückgewiesen, als sie sich am Paradigma der Rechtsförmigkeit von universalen Handlungsregeln orientieren und bestenfalls darin erschöpfen, einem sprach- und handlungsfähigen Subjekt die gleichen Chancen zur Artikulation seiner Interessen und Ansprüche bei der verständigungsorientierten Suche nach moralischen Handlungskriterien zu gewährleisten. Sind sie nicht Folge einer »Entfremdung« des Anderen? Entfremdung nicht im Marx’schen Sinne als »Verfügbarmachung für ein dem menschlichen Wesen Fremdes«. Dagegen im wörtlichen Sinne: Aberkennung einer zur Transzendenz hin offenen Seinsstruktur des Menschen und Reduktion auf die Immanenz weltdiesseitiger Funktionalität aufgrund einer Objektivierung dessen, was als Fremdes aufschien. Gerade die aktuellen ethischen Diskussionen – vornehmlich in der Bioethik – veranschaulichen in erschreckender Weise, wie die praktische Philosophie mehr und mehr zum Servicebetrieb für die Folgen einer hybriden Bio-Politik verkommt. Ihre Vertreter mögen damit argumentieren, dass sich das Problem einer angewandten Ethik heute dringlicher stellt als je zuvor. Ihr Vorwurf an die Philosophie, sie könne nicht länger im Elfenbeinturm verharren (so Sass, in DIE ZEIT Nr. 26/1994), klingt jedoch angesichts betriebsamer Experten-Fürsorge und Betroffenen-Entsorge zynisch. Im Übrigen ist der Einwand, Philosophie habe vor der Realität resigniert, nicht neu. Bereits Adorno hat darauf geantwortet, dass es Zeiten gibt, in denen er zum Defätismus gegenüber der Vernunft werden kann (vgl. Adorno 1975: 15). In seinem Sinne

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

gilt vielleicht heute mehr denn je, dass Metaethik, die überholt schien, sich am Leben erhalten muss, weil ansonsten ein Ausverkauf der Philosophie an den Wissenschaftsbetrieb weitergeht.

D ie G erechtigkeit für das S elbst Foucault hat am Ende seines kritischen Denkweges zur Überraschung aller eine optimistische Wende vollzogen. Seine »Ethik der Selbstsorge« ist als Hinweis zu verstehen, dass nunmehr der Moment gekommen ist, an dem die Menschen aufhören werden, die Praktiken zu akzeptieren, die sie definieren. Demgegenüber haben seine früheren Untersuchungen zur historischen Entwicklung der Humanwissenschaften noch ergeben, in welcher bedeutsamen Weise sich Pädagogik, Psychiatrie und Medizin nicht nur einer hehren Wahrheitssuche über den Menschen verpflichtet fühlen, sondern die moralische Funktion übernehmen, mittels des zwanglosen Zwangs objektivierender Diagnosetechniken und subjektivierender Therapieverfahren neue menschliche Identitäten um soziale Normen herum hervorzubringen. Seine skandalöse Behauptung lautet, dass diese Disziplinen gleichsam wie Sollensethiken wirken, indem sie die Menschen dazu bringen, sich als wahnsinnige, behinderte, kranke usw. zu erkennen. Dabei bedienen sie sich vornehmlich des »natürlichen« Körpers als Medium zur Beschreibung von Abweichungen. Im Jahr 1975 hat Foucault noch gestanden: »In den Irrenanstalten habe ich ein Problem wahrgenommen, das mich nicht mehr losgelassen hat, nämlich das Problem der Macht. […] Hier fand ich es in Reinform vor, denn das scheinbar leidenschaftslose und spekulative Erkennen des Psychiaters ist untrennbar verknüpft mit einer unerhört pedantischen, kunstvoll abgestuften Machtausübung.« (Foucault, zit.n. Marques 1990: 22)

Zunächst will ich am Beispiel der Ergebnisse eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts »Selbstwerden des körperbehinderten Kindes« der Universität Würzburg die Aktualität der Foucault’schen Kritik an der »Moral« der Psychoanalyse veranschaulichen. Anschließend werde ich mit Hilfe seiner Individualethik einen Weg aus deren normierenden Zwängen vorschlagen – eine Ethik der Selbstsorge, in der die kreativen Leistungen individueller Lebensführung zum Zentrum gemacht werden.

63

64

Behinder t sein - behinder t werden

D er behinderte K örper als G efängnis der S eele Die Teilnehmer dieses Projekts (vgl. Bittner/Thalhammer 1989) wollen der Frage nachgehen, wie ein körperbehindertes Kind mit seiner eingeschränkten Bewegungsfähigkeit seine Subjektwerdung vollzieht. Der Ausgangspunkt ihrer Forschung sind Spielstunden, die sie mit insgesamt sechzehn Kindern eines Körperbehindertenzentrums zwischen 1984 und 1987 durchführten. Dabei verfolgen sie nach eigenem Bekunden ein »psychologisch-anthropologisches Erkenntnisinteresse«, insofern sie die »Leiblichkeit als ermöglichende Bedingung der Subjektgenese« betrachten. Das innere Erleben und das Selbstwertgefühl des körperbehinderten Kindes soll »mit den Mitteln subjektorientierter Datensammlung und tiefenpsychologischer Interpretation« erforscht werden. Ihr Interesse »für die leiblichen Bedingungen menschlicher Subjektivität« begründen sie mit »einem Gefühl des Ungenügens an dem zeitgenössischen, einseitig soziologisch orientierten Zugang in der Pädagogik« und einer »Vernachlässigung der biologischen Grundlagen« (Bittner 1989: 225). Demgegenüber orientieren sie sich an der klassischen Psychoanalyse, die in ihrer Leibmetaphysik auf die vorgeblich nichtgesellschaftlichen Vitalphänomene des Körpers und dessen Funktion für die Herausbildung einer stabilen Ich-Identität setzt. Es wird sich zeigen, wie diese naturalistische Vorstellung vom »Ich« in besonderer Weise dazu geeignet ist, die Ich-Entwicklung des körperbehinderten Kindes als genuin defizitär zu bewerten. Das scheinbar neutrale und objektive Beobachten der Mitarbeiter des Projekts ist untrennbar verknüpft mit diesem psychoanalytischen Macht-Wissen. Schon Sigmund Freud war der Überzeugung, dass »für das Psychische […] das Biologische wirklich die Rolle des unterliegenden gewachsenen Felsens« spielt (Freud 1937: 392). Der Bezug des Ich zum Handeln besteht bei ihm vor aller zwischenmenschlichen Kommunikation darin, Muskelaktionen zur Befriedigung von Wünschen zu beherrschen. »Als Grenzwesen will das Ich zwischen der Welt und dem Es vermitteln, das Es der Welt gefügig machen und die Welt mittels seiner Muskelaktionen dem Es-Wunsch gerecht machen.« (Freud 1923: 322) Das Handeln des Ich wird bei ihm auf rein körperliche Aktionen verkürzt. Es hat weniger einen direkten Bezug zu mental zugänglichen SinnPhänomenen der Umwelt, als zu den motorischen Rindenfeldern des Gehirns. »Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche. Wenn man eine anatomische Analogie für dasselbe sucht, kann man es am ehesten mit dem ›Gehirnmännchen‹ der Anatomen identifizieren, das in der Hirnrinde auf dem Kopf steht, die Fersen nach oben streckt, nach hinten schaut und wie bekannt, links die Sprachzone trägt.« (Ebd.: 294)

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

Bei Freud fehlt vollständig der Aspekt, dass das Kind in seiner Ausbildung auf die Entwicklung von Formen des Handelns angewiesen ist, mittels derer es weniger die Vitalphänomene des Körpers, sondern eher seinen Wunsch nach sozialer Anerkennung befriedigen kann (vgl. Flader 1995). Stellt sich zu diesem Wunsch komplementär die Bereitschaft der Bezugsperson ein, ihn zu befriedigen, so entsteht ein Ich-förderndes Interaktionsmuster. Weniger der intakte Körper als das intakte Befriedigungsmuster der frühen Kind-UmweltBeziehung bildet somit die Matrix für die Entwicklung einer intakten IchIdentität. Möglicherweise verläuft diese Entwicklung bei behinderten Kindern konflikthafter als bei nichtbehinderten – Konflikt zwischen dem Wunsch des Kindes und seiner vollkommenen Befriedigung durch die Umwelt. Während wir bei Freud lediglich allgemeine Hinweise auf den Körper als basalen Faktor für die psychische Entwicklung des Kindes finden, bezieht sich seine Tochter explizit auf den behinderten Körper. Nach Anna Freuds Meinung führt eine Schädigung von Körperfunktionen »zu den verschiedensten psychischen Folgen […], je nach den Umwelteinflüssen, denen das Kind ausgesetzt ist, und je nach den seelischen Hilfsmitteln, die ihm zur Bewältigung seiner Schwierigkeiten zur Verfügung stehen« (A. Freud 1968: 130). Für sie sind »die schrittweise Beherrschung der eigenen Körperfunktionen, das heißt die Selbständigkeit im Essen, Urinieren, Defäkieren, Waschen, Anziehen usw. […] nichts als Stationen auf dem Weg der Ichentwicklung […] Jeder Rückschritt auf diesem Wege zugunsten der Krankenpflege […] bedeutet darum einen gleich großen Verlust an Ichfunktion.« (A. Freud 1976, 238)

Ihr Diktum an die Nachwelt lautet entsprechend: »Fehlende Gliedmaßen und Spastizität schaffen ihre eigene Psychopathologie, die noch nicht genügend erforscht ist.« (A. Freud 1980, 2522) Fröhlich und Kannicht erweisen sich in ihrem Beitrag »Erschwerte Entwicklungsbedingungen bei körperbehinderten Kindern« als gehorsame Schüler von Anna Freud. Sie geben zwar vor, das subjektive Erleben von körperbehinderten Kindern hermeneutisch zu erschließen, in Wirklichkeit benutzen sie die Spielstunden mit den Kindern jedoch als experimentelles Arrangement zur Bestätigung szientistischer Hypothesen. »Kindliche Größenphantasien sind weitgehend an den Körper und seine Funktionen geheftet; der Körper ist Ausgangspunkt und Träger von narzisstischen Vorstellungen. Kinder wetteifern um den stärksten Bizeps oder identifizieren sich mit Schlagerstars, möchten selbst einmal schön und berühmt sein. In allen Fällen solcher narzisstischer Phantasien steht der Körper im Mittelpunkt; einmal ist es der Funktionsleib, ein andermal der Erscheinungsleib. Man kann sagen, dass der Körper Quelle von Größenvorstellungen ist, die sich an reale Leistungen des Körpers heften und diese narzisstisch

65

66

Behinder t sein - behinder t werden überhöhen. Der Körper ist aber nicht nur Quelle solcher Vorstellungen, er setzt auch Grenzen. Die Kinder spüren ständig, dass ihr Körper den gesetzten Vorstellungen nicht gerecht wird, dass sie schwächer sind, als sie möchten, nicht so verführerisch, wie sie vielleicht erträumt haben, nicht so ausdauernd, um die kühnen Erwartungen zu erfüllen. Der Körper vermittelt immer wieder die Erfahrung, dass doch nicht alles in der Weise geht, wie man es sich wünscht; er begrenzt narzisstische Vorstellungen.« (Fröhlich/Kannicht 1989, 203)

Während nun das gesunde Kind durch die Einübung seiner realen körperlichen Leistungen eine Entschädigung »für manchen verlorenen Traum vom Helden oder vom Superstar« erfährt und somit zu realitätsnäheren Selbstentwürfen findet, sollen bei einem behinderten Kind die Größenphantasien ein abgehobener Wunschtraum bleiben. Es soll ihnen umso mehr verhaftet bleiben, je weniger der eigene Körper in seinen realen Funktionen und Leistungen einen Ausgleich bietet. Im Extremfall wird »der Wunschtraum für Realität gehalten«, so »dass Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr differenziert werden« (ebd.). In ihrer Beschreibung der Wirklichkeitserfahrung des körperbehinderten Kindes orientieren sich Fröhlich und Kannicht an Anna Freuds normativem Maßstab des psychosexuellen Phasenmodells. Danach findet bei Kindern mit Spina bifida, die oft ihren Anal- und Genitalbereich vermindert spüren, in der analen Phase eine »libidinöse Besetzung der Körperinhalte« nicht statt. Ein »Widerstand des Kleinkindes gegen jede äußere Einmischung in diese ihm so wichtig gewordenen Vorgänge« bleibt aus. Der Darminhalt als »ein hochgeschätzter Stoff« kann weder als Liebesgabe noch als Waffe der Mutter gegenüber eingesetzt werden (vgl. A. Freud 1968: 76). Insofern folgern die Autoren aus ihren Beobachtungen in den Spielstunden mit Spina bifida-Kindern, dass »die Spannung deshalb fehlte, weil sie zu den von den Ausscheidungsorganen und Genitalien ausgehenden Spannungs- und Lustmöglichkeiten keine psychische Repräsentation bilden konnten« (Fröhlich/Kannicht 1989, 204). Anna Freuds Ansicht, dass sich beim Übergang von der oralen zur analen Phase die libidinöse Besetzung der »Körperinhalte« steigert und zugleich die »Freude am Spiel mit Wasser, Sand und plastischen Stoffen, am Füllen und Ausleeren von Gefäßen, Ansammeln von Mengen irgendwelcher Art« (A. Freud 1968: 76), führt bei ihnen zu der Beobachtung, dass sich unter den Bedingungen einer Anästhesie im Blasen- und Mastdarmbereich, wie sie bei den Spina-bifida-Kindern gegeben ist, ein Hang zu Chaotischem und Zerfahrenem im Umgang mit Materialien einstellt. Während der phallischen Phase räumen sie dem intakten Körper eine noch größere Bedeutung für die Ich-Entwicklung des Kindes ein. Denn sie soll begleitet werden von »Phantasien der eigenen Macht, der Autonomie und eines – im Gegensatz zu den vorherigen Phasen – aktiven Wunsches, sich des gegengeschlechtlichen Elternteils zu be-

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

mächtigen« (Fröhlich/Kannicht 1989: 204). Körperbehinderten Kindern soll es dagegen aufgrund ihres körperlichen Unvermögens und ihrer Pflegeabhängigkeit schwerer fallen, »die Mutter als ödipales Liebesobjekt zu wählen bzw. in Konkurrenz mit ihr zu treten« (ebd.: 205). Daher soll in der Phantasie des Kindes eine Verschmelzung von destruktiven und libidinösen Impulsen ihr gegenüber erfolgen: »Mit der libidinösen Energie bleiben auch die aggressiven Strebungen in der primären Mutterbeziehung gebunden. Sie können nicht als Zerstörungswunsch gegenüber dem gleichgestellten Rivalen in die ödipale Dreiecksbeziehung einfließen und bleiben deshalb in der inneren Dynamik gefangen.« (Ebd.: 206) Während der Leser anhand dieser gewagten Interpretationen den Eindruck gewinnen soll, dass sich unter den Bedingungen angeborener Körperbehinderung ein lebendiges Subjekt im Sinne eines aktiven schöpferischen Selbst nur rudimentär entwickelt, zieht Bittner (1989, 236) als Leiter des Projekts am Ende eine vorsichtigere Bilanz. Er geht zwar nicht so weit, zu sagen, dass die besondere Leiblichkeit, die ein körperbehindertes Kind von Geburt aus hat, insofern eine unwesentliche Rolle bei der Ich-Entwicklung spielt, als sich das Kind immer so annimmt wie es ist, wenn es von anderen in seinem Sosein anerkannt wird. Er dämpft jedoch ganz offensichtlich den Interpretationseifer seiner Mitarbeiter, indem er feststellt, dass die »eingangs formulierte Alternative – gibt es eine seelische Entwicklungsstörung des körperbehinderten Kindes, die gewissermaßen ein direktes Abbild der körperlichen ist, oder entsteht die Konflikthaftigkeit erst sekundär über die Beziehungspersonen? – auf Grund des vorliegenden Materials nicht entschieden werden« (Bittner 1989: 236) konnte. Bittners Vorschläge für die Körperbehindertenpädagogik stehen daher auch in keinem unmittelbaren Bezug mehr zu den kruden Diagnosen seiner Mitarbeiter. Sie orientieren sich an einem anderen neurosenpsychologischen Gesichtspunkt, nämlich dem der »grundlegende[n] Veränderung der frühen Mutter-Kind-Beziehung unter dem Vorzeichen der organischen Schädigung des Kindes« (ebd.: 231). So ist bei ihm nur noch von »Beziehungseinschränkungen«, »Missverständnissen« und »Kommunikationsverfehlungen« die Rede, »die durch unbewusste Abwehr und Blockierung auf Seiten des nichtbehinderten Betreuers bedingt sind« (ebd.: 235). Gleichwohl wird von ihm die heilpädagogische Aufgabe darin gesehen, »Hilfe zur Identitätsfindung unter Einschluss der Erfahrung des eigenen problematischen Körpers als Hilfe zur Selbstakzeptanz und Behinderungsverarbeitung« (ebd.: 234) zu gewährleisten.

67

68

Behinder t sein - behinder t werden

S elbstgestaltung als F reiheitspr a xis Nichtbehinderte Experten unterstellen umstandslos, dass ein Mensch mit einer angeborenen Körperbehinderung die Auseinandersetzung mit der Erfahrung des eigenen problematischen Körpers benötigt, um eine stabile Ich-Identität zu entwickeln. Sie gehen davon aus, dass er therapeutischer Hilfe bedarf, um die Auseinandersetzung, Verarbeitung und realitätsgerechte Identifikation mit seinem Behindertsein zu leisten. Der behinderte Mensch soll sein Behindertsein als problematische Existenzform erkennen, nicht weil andere Probleme mit ihm haben, sondern weil sein geschädigter Körper das Problem ist. Er wird an den Imperativ gebunden, sich über seine Behinderung zu definieren. Das zeigen auch die Erfahrungen einer Betroffenen mit der Psychotherapie: »Meine Therapeutin bezog am Anfang alle Probleme, die ich hatte, auf meine Behinderung. Es war ein ganz schön langer Weg für mich, ihr klar zu machen, dass die Probleme, die ich im Moment hatte, mit meiner Behinderung erst mal gar nichts zu tun hatten. Und trotzdem bin ich jetzt wieder da angelangt, wo ich merke, dass Behinderung zwar nichts mit meinem eigentlichen Problem zu tun hat; aber dass das natürlich auch ein Teil meines Lebens ist, mit dem ich mich irgendwann auseinandersetzen muss, was ich bisher nicht so getan habe:« (die randschau 1995: 16)

Foucault bietet dagegen mit seinem Vorschlag einer »Ästhetik der Existenz« eine ethische Alternative für jene behinderten Menschen an, die zu einem selbstbestimmten Leben in der Lage sind. Sie brauchen sich ihre Identität nicht länger durch Zwangspraktiken geben lassen, die von Institutionen der Pädagogik, Psychologie oder Medizin usw. eingesetzt werden, sondern können sie durch Selbstpraktiken innerhalb ihres Existenzbereichs gewinnen. Für sie gilt nun der ethische Ratschlag: Kümmere dich um dich selbst! (vgl. Becker 1985: 13). Die Basis dieser nichtdisziplinierenden Ethik bildet ein mittels »Selbsttechniken« erprobendes Verhalten der Menschen zu sich. Darunter sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sie selbst die Regeln ihrer Lebensform festlegen können, indem sie sich in ihrem besonderen Sein – Behindertsein – von dem freimachen, was sie im Namen anderer zu sein haben. Foucault entwirft ein Rahmenkonzept, das es ermöglicht, die Art und Weise zu analysieren, wie die Individuen dazu gebracht worden sind (bzw. sich in autonomer Weise selbst dazu bringen), Techniken auf sich selbst anzuwenden und als ethische Subjekte zu erkennen. Dazu unterscheidet er innerhalb der Selbstpraktiken vier Aspekte: • den Teil seiner selber (die ethische Substanz), auf den das Subjekt seine Aufmerksamkeit richtet und den es einer Beurteilung unterzieht

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

• die Art und Weise (der Modus der Unterwerfung), in der es sein Verhältnis zu vorgegebenen Regeln bestimmt • die Form von Handlungen (asketische Übungen), die es unternimmt, um sich zu erkennen und sein Verhalten zu modifizieren • die Art von Individualität (das telos), die es mit Hilfe dieser Handlungsweise zu werden versucht (vgl. Foucault 1986: 40f.). Mit Hilfe dieses Analyserasters lässt sich nun fragen, in welcher Weise die Erfahrungen behinderter Menschen durch Praktiken zustande kommen, mittels derer sie dazu verhalten worden sind, sich als Subjekte vorgegebener Wahrheiten zu erkennen. Darüber hinaus kann es zur Suche nach neuen Spielregeln für ein selbstbestimmtes Leben anregen. Wenden wir es in unserem Fall auf die Ergebnisse des Projekts »Selbstwerden des körperbehinderten Kindes« an, so zeigen sich folgende Konstitutionsmerkmale: Die ethische Substanz der Sorge, so wird über körperbehinderte Kinder gesagt, soll ihr beschädigter Körper sein, der sie in ihrer Existenz beschränkt und ihre Identität beeinträchtigt. Daher werden sie auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich den vorgegebenen Regeln psychologischer Selbstbefragung zu unterwerfen. Ihr beschädigter Körper wird zum hermeneutischen Objekt, um an ihm die Beschädigungen der Seele zu entziffern. Es wird von ihnen gefordert, ihre Behinderung in realistischer Weise als Problem anzunehmen. Dagegen meint »Ästhetik der Existenz«, dass sich der behinderte Mensch aus den Gesetzen der Wahrheit befreit, mittels der man ihm seine Individualität auferlegt und ihn an seine Identität fesselt. Es entspräche gerade nicht der Intention dieser Ethik der Selbstgestaltung, Wege zur eigenen Identitätsfindung vorzuschreiben. Foucaults Aufforderung zur Selbststilisierung bedeutet zugleich, sich radikal von einer Ethik als Suche nach universellen Verhaltensstandards abzuwenden. Sie meint eine Freiheitspraxis, in der sich jedes Individuum von dem Platz aus, auf den es gesellschaftlich festgelegt wurde, seine Möglichkeiten der autonomen Selbsterfahrung eröffnet. Daher möchte ich an dieser Stelle lediglich auf den biographischen Essay von Fredi Saal (1992) verweisen, der sich zeitlebens von dem freigemacht hat, was andere ihm als Identität auferlegen wollten. Von einem Anderswo kann er ihnen nun zurufen: »Warum sollte ich jemand anderes sein wollen?« Es ist an der Zeit, ihm zu glauben, wenn er als Mensch mit einer schweren spastischen Lähmung versichert, dass mit einer angeborenen körperlichen Behinderung kein Leiden verbunden ist, das ursprünglich in der Behinderung liegt. »Diese ist die Normalität eines ganz bestimmten Menschen. Die Rede von dem ›schweren Schicksal‹ und die sich daraus ergebende ›Leid-Bewältigungs-Theorie‹ mancher universitärer Behinderten-Pädagogen trifft zwar manchmal für die ›leidgeprüften‹ Angehörigen zu oder auch für manchen ›Spät-Behinderten‹, seltener jedoch auf den ›so Ge-

69

70

Behinder t sein - behinder t werden borenen‹. Er lebt mit seiner Behinderung in Einklang, solange er darin nicht verunsichert wird.« (Saal 1994: 655f.)

D ie G erechtigkeit für den A nderen Foucault hat mit seiner »Kritischen Theorie« die Kosten unserer Ich-Konstitution offengelegt. Damit ermöglicht er selbstbestimmungsfähigen Menschen, das zu analysieren, von dem ihnen bisher nicht bewusst war, dass sie es sagen und tun mussten, um zu werden, wie sie sind. Er hat uns mit seinen historischen Untersuchungen über die Normierungsmacht der Humanwissenschaften gezeigt, dass das formale Recht durch diskursive Praktiken unterfüttert wird. Er beschreibt ihr Entstehen als einen Vorgang der gewaltsamen Abstraktion von primären Erfahrungen, die sich in der Intersubjektivität mit dem Anderen vollzieht und das ethische Subjekt in seiner radikalen Andersheit zum Verschwinden bringt. Die historische Herausbildung eines Sozialrechts verdankt sich seines Erachtens weniger einer Verantwortung gegenüber dem konkreten unverfügbaren Anderen, sondern dem anderen als Produkt gesellschaftlich zugeschriebener Abweichungen, die ihrerseits staatlich fürsorgerische Interventionen rechtfertigen. Lévinas vergegenwärtigt uns dagegen mit seiner »Phänomenologie zwischenmenschlicher Begegnung« eine bisher verborgene Tiefenstruktur menschlichen Daseins. Aus der Nähe zum Anderen erwächst eine vor aller Erfahrung liegende einseitige und unabweisbare Verantwortung für dessen Wohl. Diese zentrale Einsicht hat, wenn ich richtig sehe, unübersehbare Folgen bei der Suche nach weiteren Ansprüchen gegenüber der Gerechtigkeit behinderter Menschen. Eine der Grundaussagen von Lévinas lautet, dass die ethische Beziehung zum Anderen jenseits partikularer Interessen und universalisierbarer Rechtscodes liegt, also außerhalb der Sphäre, in der sich Rechtssubjekte mit gegenseitigen Verpflichtungen begegnen. Der Andere ist kein alter ego und ich verpflichte den Anderen nicht in derselben Weise, in der er mich verpflichtet. Die Einzigkeit des Subjekts und die Radikalität seiner Verantwortung, die es an niemanden delegieren kann, beruhen auf dieser Asymmetrie. Die praktische Vernunft tritt daher nicht erst auf den Plan, wenn egoistisches Einzelinteresse als Sorge um den eigenen Nutzen und Gemeinwohl als Sorge um die Allgemeinheit in Harmonie gebracht werden sollen. Sie lebt bereits in der unmittelbaren Begegnung der Menschen, der Situation des Von-Angesicht-zuAngesicht. Es muss daher keine unpersönliche Allgemeinheit der Vernunft den »Krieg aller gegen alle« beenden. Vor allen äußeren sozialen Regeln gibt es einen zwischenmenschlichen moralischen Bezug.

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

Zunächst will ich diese ungewohnte und schwierige Ethik der Sorge für den Anderen genauer vorstellen. Auf dieser Grundlage werde ich mich danach mit Hoersters interessenstheoretischer Begründung einer aktiven Sterbehilfe bei schwerstbehinderten Neugeborenen kritisch auseinandersetzen.

D ie N ähe zum A nderen als A ufruf zur V er ant wortung Die vorgängige Struktur jedes Interesses ist für Lévinas die Exteriorität des Seins, die in der Nähe zwischenmenschlicher Begegnung erfahren wird. Hier wird sozusagen eine »metaphysische Asymmetrie« wirksam, die sich durch die radikale Unmöglichkeit begründet, »sich von Außen zu sehen und von sich und den Anderen in derselben Weise zu reden« (Lévinas1987: 67). Da der Andere nicht in mir ist, so Lévinas, kann meine Aktivität des Erkennens, des Denkens, des Betrachtens etc. in diesem Fall kein intentionales Gegenüber haben. Der Andere ist in der Exteriorität der Unendlichkeit, und keine Ontologie kann diesen Abgrund überbrücken. So wie ich mich nicht von außen betrachten kann, kann der Andere nicht in mir sein. Es bleibt ein Abgrund der Trennung zwischen mir als Betrachter und ihm als Betrachtender, der ihn als Fremder resp. Anderer erfahren sein lässt. Versuche, die Nicht-Adäquation zwischen Adressat und Adressant durch Ontologie oder Universalität zu schließen, bedeutet für Lévinas eine Vergewaltigung des Anderen. Lévinas ist überzeugt davon, dass sowohl die Konstitution des ethischen Subjekts als auch sein Scheitern im Mord oder Krieg erst verständlich wird aus der Beziehung des »der-Eine-für-den-Anderen«. Der Andere setzt das ethische Subjekt in eine Beziehung mit einer Transzendenz, die außerhalb dieses Systems des objektivierten Denkens bleibt. In seinem Antlitz symbolisiert sich die reine Kontingenz des Anderen, seine Schwäche und Sterblichkeit, seine schutzlose Ausgesetztheit, d.h. seine stumme Bitte (und Frage und Forderung), die er durch seine bloße Präsenz an mich richtet. Das Antlitz offenbart mir die Realität des Anderen in seiner unverstellten Menschlichkeit, jenseits aller sozialen Rollen, die zu spielen er gelernt haben mag. Es besagt ursprünglich: »Du sollst nicht töten/Du wirst nicht töten!«, was nicht heißen soll, dass dieses Gebot den Mord ausschließt. Doch, der »Mord übt Macht aus über das, was der Macht entkommt.« (Ebd.: 284) Jeder auch noch so erfolgreiche Versuch, den Anderen umzubringen, muss scheitern. Denn der Akt des Tötens macht den Anderen zu einem Ding und verfehlt ihn damit in seiner einzigartigen, unverwechselbaren und unvordenklichen Andersheit. »In dem Augenblick, in dem mein Töten-können sich realisiert, entkommt mir der Andere. Gewiss kann ich, indem ich töte, ein Ziel erreichen, ich kann töten, wie ich jage oder wie ich Bäume oder Tiere umlege. Aber dann habe ich den Anderen in der Offenheit des

71

72

Behinder t sein - behinder t werden Seins überhaupt ergriffen als Element in der Welt, in der ich mich aufhalte, ich habe ihm nicht in die Augen gesehen, ich bin nicht seinem Antlitz begegnet. Die Versuchung der vollständigen Negation, die das Unendliche dieses Versuchs und seine Unmöglichkeit ermisst, das ist die Gegenwart des Antlitzes. Dem Anderen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen – das bedeutet, nicht töten zu können. Dies ist zugleich die Situation der Rede.« (Lévinas 1983: 116f.)

In der Unmittelbarkeit des Antlitzes vollzieht sich eine Rede, die jede Unterscheidung von Sein und Sollen unterläuft: »Das Antlitz spricht. Die Erscheinung des Antlitzes ist die erste Rede. Sprechen ist vor allem anderen diese Weise, hinter seiner Erscheinung, hinter seiner Form hervorzukommen, eine Eröffnung in der Eröffnung.« (Ebd.: 221) Der Begriff des Antlitzes bezieht sich nicht auf ein bereits Erkennbares oder Beobachtbares in der sichtbaren Erscheinung des Anderen. Es ist keine Gegebenheit der Anschauung, sondern vor aller Erfahrung »die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet« (Lévinas 1987: 63). Es stört die vermeintliche Ruhe, die die Intentionalität durch die Rückführung des Anderen auf das Selbe garantieren sollte. Insofern ist in »einem bestimmten Sinne nichts störender als der Nächste. Dieser Begehrte, ist er nicht der Nichtbegehrenswerte schlechthin?« (Lévinas 1992: 197). Dieses Nicht-gleichgültig-sein-Können vollzieht sich als unbewusster Vorgang der Sozialität. Während die Intentionalität des Bewusstseins stets eine Weise des Subjekts ist, sich besitzend, identifizierend und genießend einen »Aufenthalt« in der Welt zu verschaffen, mutet die Begegnung mit dem Antlitz dem Ich eine Beunruhigung zu. Seine Anwesenheit spaltet das Subjekt als herrscherliches Ich, indem es eine soziale Schuld offenbart, die an die Existenz und die Selbstbehauptung als solche gebunden ist. Dieser Bruch mit der Totalität der Selbstheit erst schafft die Voraussetzung für eine ethische Praxis. Lévinas geht davon aus, dass die Universalisierung moralischer Normen im Zeichen des »Dritten« ohne die Verstrickung in der vorintentionalen Beziehung zum Anderen gar nicht denkbar ist. »In den Augen des Anderen sieht mich der Dritte an.« (Lévinas 1987: 307f.) Im Rahmen gesellschaftlicher Öffentlichkeit treten meine ethischen Verpflichtungen gegenüber dem Anderen in einen politischen Kontext, in dem die Frage nach der Gerechtigkeit für alle anderen aufgeworfen werden kann. Durch die Anwesenheit des Dritten transformiert sich die ethische Asymmetrie der Beziehung zum Anderen in die universale Symmetrie der Beziehung zwischen Gleichen. Der Gedanke der Andersheit des Anderen im ethischen Verhältnis führt Lévinas somit zu einem neuen kritischen Bewusstsein für die soziale Welt. Der ursprünglich verantwortungsvolle Bezug zum Anderen bildet die conditio sine qua non aller Gerechtigkeit: »Den Anderen anerkennen heißt geben. […] In der Großmut sehe

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

ich die von mir besessene Welt – Welt, die sich im Genuss bietet – von einem Standpunkt aus, der von meiner egoistischen Position unabhängig ist.« (Ebd.: 103) Eine Gesellschaft, die sich in ihren Gerechtigkeitsmaßstäben allein auf das Prinzip der Ausgewogenheit unterschiedlicher Interessen ihrer Mitglieder gründet, bleibt für ihn eine abstrakte und gefährliche Idee. Das Prinzip interessensorientierter formaler Gleichheit unter den Mitgliedern der Gesellschaft übersieht nämlich die konkrete Ungerechtigkeit gegenüber Ansprüchen von Menschen, die keine Interessen formulieren können. Eine elementare Fürsorge für den Anderen – selbst da, wo sie zu Lasten des eigenen Wohlbefindens ginge – kann es in ihr nicht geben. »Die Moralität entsteht nicht in der Gleichheit; sie entsteht vielmehr darin, dass die unendlichen Forderungen in einem Punkte des Universums konvergieren, darin, dass man den Armen, dem Fremden, der Witwe und den Waisen dient.« (Ebd.: 361) Lévinas’ Ethik der Sorge für den Anderen führt letztlich zu einer Kritik moderner Vertragstheorie mit ihrer vorrangigen Forderung nach Gerechtigkeit für autonom gedachte Individuen. Für ihn ist die Grundlage des Sozialpaktes nicht ein Vertrag, sondern eine Gerechtigkeitsforderung zugunsten des Anderen. Sowenig sich Gerechtigkeit auf ein System von Gesetzen und Institutionen, dessen Funktionsweise nicht von der Sorge um den Anderen getragen ist, verwirklichen lässt – sie lässt sich ebenso wenig allein durch die ethische Nähe zweier Menschen bestimmen. Zur gesellschaftlichen Dimension erweitert sich die Gerechtigkeit erst durch die Anwesenheit des Dritten. Der Dritte ist der Nächste des Nächsten, die dritte Person, die im Feld des Ethischen die Dimension der Allgemeinheit eröffnet. Hier, unter dem Prinzip der objektiven Gerechtigkeit, erscheint der Andere nicht mehr als unvertretbare Person, die sich meiner Verantwortung darbietet, sondern als Individuum, das Mitglied einer Gesellschaft, Bürger eines Staates ist, in dem gleiche Gesetze für alle gelten. Als Nächster des Anderen ist der Dritte für die Erste Person Singular ein »Ferner«. Die Nötigung zur Sorge für ihn umschreibt Lévinas folgendermaßen: »In der Nähe des Anderen bedrängen mich – bis zur Besessenheit – auch all die Anderen, die Andere sind für den Anderen, und schon schreit die Besessenheit nach Gerechtigkeit.« (Lévinas 1992: 344) Der ursprüngliche ethische Anspruch vervielfältigt sich, so dass der Dritte nicht Teil einer Masse ist, sondern der Nächste des Nächsten des Nächsten usw. Gegenüber dem Dritten steht somit die Verantwortung des ethischen Subjekts unter derselben Verpflichtung wie gegenüber jedem anderen Menschen. Doch die Ambiguität zwischen dem Anderen und dem Fernen ist nicht übersehbar. Die Gerechtigkeitssphäre kann den Bereich der Güte absorbieren, der immer in Gefahr steht, im System der universalen Gesetze unterzugehen, obschon ihn dieses System erfordert und trägt.

73

74

Behinder t sein - behinder t werden

Für Lévinas stellt somit der egalitäre liberal-demokratische Staat nicht das letzte Wort der Gerechtigkeit dar. Er steht immer noch in der Gefahr, das beständige Wohl um den Anderen zugunsten einer formellen rechtlichen Gleichheit aus den Augen zu verlieren. Gewalt gegen die Schwachen, gegen die Ausgeschlossenen und Opfer können sich darunter perpetuieren. Die politische Utopie zieht sich endlos im Subjekt als verantwortlichem Ich zusammen. Ist das Subjekt im direkten Bezug zum Anderen Untertan, so wird es im Bezug zur Allgemeinheit zum letzten Grund des Urteils. Dieses Urteil bemisst sich an keiner »Goldenen Regel« und an keinem »Universalisierungsgrundsatz«, sondern an der verpflichtenden Nähe zum Nächsten des Nächsten der Anderer im ursprünglichen Sinne ist. Die normativen Ausgangsbedingungen des modernen Rechtsverhältnisses lauten dagegen, dass allen Rechtssubjekten die gleichen Chancen in der Ausübung ihrer individuellen Freiheitsrechte, sozialen Rechte auf Fürsorge und politischen Teilhaberechte garantiert werden. Im Einzelfall wird bei konkreten Rechtsstreitigkeiten nach dem Grundsatz interessensorientierter Gleichbehandlung berechtigter Ansprüche geprüft. Lévinas’ Idee einer Gerechtigkeit gegenüber der »Unendlichkeit« des konkreten Anderen bleibt in der bisherigen Rechtsanwendung jedoch unberücksichtigt. Das, was er mit der unendlichen und asymmetrischen Verantwortung für das Wohl des Einzelnen meinte, wird zu einer wechselseitigen Pflicht zur Gleichbehandlung nivelliert. »In Wirklichkeit schließt mich die Gerechtigkeit nicht in das Gleichgewicht ihrer Universalität ein – die Gerechtigkeit nötigt mich, über die gerade Linie der Gerechtigkeit hinauszugehen, und nichts kann danach das Ende dieses Ganges bestimmen; hinter der geraden Linie des Gesetzes erstreckt sich unendlich und unerforscht das Land der Güte, das alle Hilfsmittel einer singulären Präsenz benötigt.« (Lévinas 1987: 360)

Das Denken von Lévinas könnte man leicht als Glaubensmanifest abtun, wenn es ihm nicht gelänge, die ethische Beziehung zum Anderen mit den theoretischen Mitteln moderner Philosophie plausibel zu machen. Mit seiner Unterscheidung zwischen einem Zeichensystem des »Gesagten« und dem »Sagen« als Verantwortung für den Anderen erweitert er die »Theorie der Sprechakte« von Austin und Searle um einen wesentlichen Gesichtspunkt. Die Differenz zwischen Sagen und Gesagtem meint, dass Sagen mehr ist als ein Komplement zum Gesagten. Nicht das Kalkül oder die Verständigung, sondern vor aller Intentionalität – in einer Verantwortlichkeit für den Anderen – liegt der Grund des Sagens. Davon zeugen die Schwierigkeiten, in der Anwesenheit des Anderen zu schweigen. Ohne einen definitiven und bedeutsamen Akt der Abwendung, der Indifferenz, ist es mir nicht möglich, ihn gleichgültig zu behandeln. Die Beziehung von Angesicht zu Angesicht ist der Ort des Sagens vor aller Sprache. Er weckt das Subjekt aus dem Zustand der Selbstheit und

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

nötigt zum Eintritt in den symbolischen Raum. Diese Nötigung begründet sich nicht aus der Intentionalität eines erkennenden Subjekts, sondern aus einer ursprünglicheren Verantwortung für den Anderen: »Im Sagen kommt das Subjekt dem Nächsten nahe, indem es sich ausdrückt im buchstäblichen Sinne des Wortes, hinausgetrieben wird aus jeglichem Ort, keine Bleibe mehr hat, keinen Boden betritt.« (Lévinas 1992: 118) Damit eröffnet Lévinas einen Denkraum, durch den sich die ethische Kraft des Subjekts erstmals erklären lässt. Er expliziert eine stillschweigende Voraussetzung, die von Kant bis zur Diskursethik gemacht wird. Diese setzen nämlich das Subjekt des »guten Willens« immer schon voraus, d.h., sie attestieren ihm eine Verantwortung für den Anderen kraft einer Autonomie und Vernünftigkeit. So sieht z.B. Habermas in der Solidarität die andere Seite der Gerechtigkeit, weil sich in ihr alle Menschen wechselseitig um das Wohl des jeweils anderen kümmern. Doch in seinen Erklärungen zur Begründung dieser positiven Kraft lässt er den Bereich konkreter Erfahrungen völlig unberücksichtigt und spricht kognitivistisch von einem Bewusstsein »der Zugehörigkeit zu einer idealen Kommunikationsgemeinschaft«, das der »Gewissheit der Verschwisterung in einem gemeinsamen Lebenszusammenhang« (Habermas 1991, 72) entspringt. Lévinas würde entgegnen: »Gewiss besteht unsere Beziehung zu ihm [dem Anderen, H.-U. R.] darin, ihn verstehen zu wollen, aber diese Beziehung geht über das Verstehen hinaus. Nicht nur, weil die Erkenntnis des Anderen, unabhängig von der Neugier, auch Sympathie oder Liebe verlangt, Seinsweisen, die von der interesselosen Betrachtung unterschieden sind. Sondern weil der Andere in unserer Beziehung mit ihm uns nicht auf der Grundlage eines Begriffs affiziert. Er ist seiend und gilt als solcher.« (Lévinas 1983, 110)

Ethik führt laut Lévinas genau dann zu einer Krise, wenn von einem aktiven und autonomen Subjekt ausgegangen wird, das seiner Macht und Gewalt gegenüber anderen Ichs selber Beschränkungen auferlegen muss. Das intentionale Subjekt hat keinen Zugang zum Anderen; seine Tätigkeit besteht darin, sich das Andere anzueignen, es sich unterzuordnen, es seinen Kategorien und Intentionen gefügig zu machen. Daher versucht er, die Konstitution des ethischen Subjekts nicht als Tätigkeit eines schon gegebenen Bewusstseins zu denken, sondern als Verantwortlichkeit über unsere Intentionen, unseren Willen und unser Vermögen hinaus. Das Ethische kann keine Zugabe sein, kein Prädikat, das einem altruistischen Bewusstsein anzuheften wäre, einem egoistischen dagegen nicht. Die Subjektivität des Subjekts, mit der das Bewusstsein entsteht, ist aus einer Verstrickung entstanden, durch die der Knoten der Subjektivität vom Anderen her geknüpft wird (vgl. Lévinas 1987, 68).

75

76

Behinder t sein - behinder t werden

D ie E ntsorgung des A nderen Der Rechtsphilosoph Norbert Hoerster hat in der Vergangenheit in zahlreichen Fachartikeln die Ideen Peter Singers in die juristische Debatte über die Tötung lebensunwerten Lebens eingeführt. Mit seinem neuen Buch Neugeborene und das Recht auf Leben (1995), das er dem australischen Bioethiker widmet, werden seine Ansichten nun einem breiten Leserpublikum zugänglich gemacht. Im Folgenden werde ich seine angeblich weltanschaulich neutrale Begründung eines Nicht-Lebensrechtes vorstellen, um sie anschließend mit der Ethik von Lévinas zu konfrontieren. Interessenstheoretische Begründung: Hoerster versteht den Lebensschutz als einen Interessenschutz. Das Lebensrecht eines Individuums hängt davon ab, ob es Personeneigenschaften wie Bewusstsein und Fähigkeit zu zukunftsorientierten Wünschen besitzt. Sein Fazit lautet: »Ein Recht auf Leben lässt sich auf eine metaphysikfreie und säkulare Weise allein auf dem Weg über ein schutzwürdiges Interesse am Überleben begründen. Das Neugeborene aber hat noch kein Interesse am Überleben. Um seiner selbst willen steht deshalb dem Neugeborenen ebenso wenig wie dem Fötus oder der unbefruchteten Eizelle ein Recht auf Leben zu.« (Hoerster 1995: 20)

• Argument des Speziesismus: Er ist der Ansicht, dass die Zugehörigkeit zur Gattung Mensch kein hinreichender Grund für ein Lebensrecht darstellt. Das biologische Faktum, dass wir Gattungswesen sind, ist moralisch irrelevant. Wer einem Menschen ein Lebens-recht zuspricht, nur weil er unserer Gattung angehört, macht sich daher einer erweiterten Form des Sexismus bzw. Rassismus schuldig. Er hängt dem speziesistischen Glauben an, es sei moralisch richtig, menschliches und nichtmenschliches Leben verschieden zu behandeln. Daher »sollten wir es für illegitim halten, die Gattungszugehörigkeit als solche zum Anknüpfungspunkt der Einräumung irgendwelcher Rechte, also auch des Lebensrechtes zu machen« (Hoerster 1989: 174). • Lebensrecht nur für Personen: Das Lebensrecht wird an das Vorliegen moralisch bedeutsamer Eigenschaften und Fähigkeiten geknüpft: »Unter einem personalen Wesen oder einer Person verstehe ich […] ein Wesen, das Ich-Bewusstsein und Rationalität besitzt. Ein solches Wesen lebt nicht nur im Augenblick, sondern hat das Bewusstsein seiner Identität im Zeitlauf. […] Ein in diesem Sinne personales Wesen kann offensichtlich Bedürfnisse und Interessen haben, die über sein momentanes Dasein weit hinausgehen.« (Ebd.: 175) Doch weil der Durchschnittsbürger kaum Verständnis für die Tötung eines bereits geborenen Kindes auf brächte, ist aus pragmatischen Gründen der Lebensschutz auf die Geburt des menschlichen Individuums zurückzudatieren (vgl. Hoerster 1995: 23ff.).

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

• Ablehnung des Potentialitätsarguments: Dem Neugeborenen werden zwar Entfaltungsmöglichkeiten zugesprochen. Doch selbst wenn diese zu einem späteren Überlebensinteresse führen würden, wäre das kein Grund, ihm heute ein Recht auf Leben zuzugestehen. Denn durch »die Tötung des Neugeborenen kann […] nicht nur kein relevantes gegenwärtiges, sondern auch keinerlei künftiges Überlebensinteresse in irgendeiner Weise verletzt werden« (ebd.: 18). • Plädoyer für aktive Sterbehilfe: »Es gibt […] Leidenszustände (etwa infolge einer Behinderung), die zwar nicht lebensgefährdend, aber trotzdem unerträglich und auf Dauer unzumutbar sind. Auch in diesen Fällen muss es zulässig sein, den Tod des Betroffenen in seinem eigenen Interesse herbeizuführen.« (Ebd.: 110) Gibt es Meinungsverschiedenheiten zwischen Sorgeberechtigten und Ärzten, soll ein Vormundschaftsgericht die Einwilligung der Eltern ersetzen dürfen. Hoersters Denken beruht auf einem naturwissenschaftlichen Seinsbegriff (vgl. Pöltner 1993). Menschliches Leben ist zunächst nur biologisch-menschliches Leben ohne moralischen Eigenwert. Als reine Faktizität – Seiendes unter Seiendem – bildet es keine Quelle eines Sollens. Sein außermoralischer Wert besteht lediglich darin, eine instrumentelle Voraussetzung für die Realisierung von moralisch relevanten Eigenschaften zu sein. Nur wer über Eigenschaften wie Ich-Bewusstsein und Rationalität verfügt, ist Person. Warum ist biologisch-menschliches Leben moralisch irrelevant, und warum werden sozialisatorisch erworbene Fähigkeiten zum Maßstab für ein Lebensrecht gemacht? Der Verdacht drängt sich auf, dass man zwar vorgibt, den Speziesismus zu überwinden, um durch die Hintertür jedoch einen radikalen Anthropozentrismus einzuführen, mit dessen Hilfe man eine »Klasse« lebenswerter Selbstbewusstseinsbesitzer von einer »Rasse« lebensunwerter Vegetierender zu trennen vermag. Hoerster vertritt den Standpunkt, wer lebt, muss sein Lebensrecht erst unter Beweis stellen. Erst ein Interesse am Überleben berechtigt zum Leben. Wer kein Überlebensinteresse in Form zukunftsorientierter Wünsche zu artikulieren vermag, ist kein Träger von Eigenschaften, die ein Lebensrecht rechtfertigen würden. Warum muss man in seinem Leben erst die Fähigkeit zum Überleben erwerben, bevor man ein Recht hat zu leben? Hoersters Problematisierungen des Lebensrechtes beruhen auf unerklärten und unhaltbaren Voraussetzungen, die aus nichts anderem zu begründen sind als dem Zweck, ein Recht auf Tötung einwilligungsunfähiger Menschen zu legitimieren. In Lévinas’ Ethik gibt es dagegen keine Trennung zwischen einem MenschSein als bloßer Faktizität und einem Wert-Sein als noch Hinzugefügtem. Für ihn ist die Beziehung zum Anderen das Ethische, das jedem Interesse eines intentionalen Subjekts vorausgeht. Hier erschließt sich dem praktischen Sub-

77

78

Behinder t sein - behinder t werden

jekt ein Verantwortlichsein aus der Transzendenz des Anderen. Die Moralität entsteht nicht erst in der Gleichheit Bewusstseinsfähiger Subjekte; sie entsteht vielmehr darin, dass man dem Menschen in seiner unbedingten Existenz dient. Dabei bildet die Furcht vor dem Tod des Anderen die Ausgangsbasis dieser Verantwortung. Wenn ich ihn töte, so habe ich die Unmöglichkeit versucht, ihn zum Seienden unter Seienden zu machen. Der Andere setzt mich nämlich in eine Beziehung mit einer Transzendenz, die außerhalb des Systems objektivierenden Denkens bleibt. In seinem Antlitz symbolisieren sich die reine Kontingenz des Anderen, seine Schwäche und Sterblichkeit, seine schutzlose Ausgesetztheit, seine unverstellte Menschlichkeit. In meiner Selbstlosigkeit als einem Sein für den Anderen (désintéressement) vollzieht sich eine Abkehr vom Interessiertsein als Sorge um den eigenen Nutzen. Gäbe es nur jene interessensorientierten Einzelsubjekte, ohne diese ethische Nähe des »der-Eine-fürden-Anderen«, so hätten wir eine Welt von »miteinander im Kampf liegenden Egoismen, im Kampf aller gegen alle, in der Vielfalt der gegeneinander allergischen Egoismen, die miteinander Krieg führen und auf diese Weise zusammen sind« (Lévinas 1992: 26). Hoerster kennt neben biologischem menschlichen Leben und bewusstem menschlichen Leben nur ein elendes menschliches Leben mit Leiden und Schmerzen. Sensomotorischen Kommunikationsfähigkeiten schenkt er nur insoweit Beachtung, als damit negative Gefühlszustände ausgedrückt werden können, die aktive Sterbehilfe rechtfertigen. Bereits Maurice Merleau-Ponty hat darauf aufmerksam gemacht, dass mir der Sinn meines Seins nicht durch mein Bewusstsein zukommt, sondern von der leiblichen Anwesenheit des Anderen her (vgl. 1966: 87). Lévinas arbeitet diesen Gedanken einer vorbewussten ursprünglichen Beziehung zum Anderen weiter aus. »Der Selbe hat mit dem Anderen zu tun, bevor […] der Andere für ein Bewusstsein erscheint.« (Lévinas 1992: 69) Die subjektive Struktur des »der Andere im Selben« besteht, bevor sich ein mit Bewusstsein begabtes Subjekt den Anderen zum Gegenstand macht – auf der Ebene leiblicher Kommunikation – und erzeugt eine erste Sozialität. Pflegeperson und schwerbehindertes Kind stehen in einem asymmetrischen ethischen Verhältnis zueinander. Für das Kind ist die Pflegeperson Bedingung, um aus einer Selbstheit herauszukommen, die einem sozialen Tod gleichkäme; für die Pflegeperson ist das Kind eine Beunruhigung in dem Sinne, dass dessen Antlitz als »Sagen vor aller Sprache« (ebd.: 52) das Bewusstsein aus einer selbstgenügsamen Selbstheit herausreißt und zur VerAntwortung ruft. Was für Lévinas eine Sonderstellung der Spezies Mensch gegenüber dem Tier rechtfertigt, ist nicht seine von Gott zugewiesene Rolle, Krone der Schöpfung zu sein. Auch nicht zuerst die Sprache und der Verstand, sondern diesen voraus seine Sozialität, die Offenheit für den Appell des Anderen, der seiner Hilfe bedarf, die spontane Bereitschaft, das Seinige mit ihm zu teilen und ihm

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

zu opfern bis zur Selbstaufgabe. Das Tier ist in seiner »animalischen Selbstgefälligkeit« (Lévinas 1987: 213) immer bei sich, in ungebrochener Identität. Der Mensch ist dagegen als Mensch außer sich, in der Beziehung zum Anderen an die »Idee des Unendlichen« gebunden. Für ihn ist das »Genießen in seiner Möglichkeit, sich in sich selbst zu gefallen« nicht die vorherrschende Daseinsform, sondern »die Bedingung des Für-den-Anderen« (Lévinas 1992: 167). Vor aller Sorge um den eigenen Tod ist er beherrscht von der Sorge um den Tod des Anderen. Daher ist der Lebensschutz des Menschen an keine Eigenschaft, Fähigkeit oder Leistung gebunden, sondern im Menschsein als Sein für den Anderen gegründet. Ganz gegenteilig plädiert Hoerster sogar dafür, dass im »Fall eines unmündigen Menschen, der seine Interessen nicht selbst wahren kann, […] eine Sterbehilfe nicht ohne weiteres am Widerspruch des Sorgeberechtigten scheitern« (Hoerster 1995: 112) darf. Er sieht keinen Unterschied darin, ob man sich gegen den Willen der Eltern für das Leben eines Kindes entscheidet, oder ob man sich über ihn hinwegsetzt, um das Kind zu töten. So heißt es: »Wie im Fall einer medizinisch indizierten Operation, die der Erwachsene kraft seiner Autonomie zwar für sich selbst, nicht aber für sein Kind endgültig ablehnen darf, muss auch im Fall der indizierten Sterbehilfe das Vormundschaftsgericht die Einwilligung der Eltern ersetzen können.« (Ebd.) Zweifellos würde es sich um eine fragwürdige fürsorgerische Handlung handeln, wenn sich Eltern weigerten, einer lebensnotwendigen Operation ihres Kindes zuzustimmen. Daher ist es sinnvoll, das Elternrecht einzuschränken, wenn ein offensichtliches Behandlungsgebot vorliegt. Gerade die Eltern-Kind-Beziehung ist jedoch ein Ort wo augenscheinlicher als anderswo gilt: »Du wirst keinen Mord begehen, du wirst mich nicht töten« (vgl. Lévinas 1987: 285f.). Hier herrscht ein Prinzip unbedingter Verantwortung und Fürsorge, das asymmetrische Züge trägt, weil ich mich der vorgängigen Bitte des Kindes ohne Erwägung wechselseitiger Pflichten schuldig weiß. Die Existenz des Kindes selbst – nicht seine moralisch bedeutsamen Eigenschaften – rufen mich zur Fürsorge auf. Wenn Hoerster Ärzten und Juristen als Vertreter einer diagnostizierenden Expertenkultur die Macht verleihen möchte, gegen den Willen der Eltern den Tod eines Kindes herbeizuführen, so ist das als ein Vorgang der gewaltsamen Abstraktion von jenen primären Erfahrungen zu bewerten, die die ethische Grundlage einer Gesellschaft bilden.

79

80

Behinder t sein - behinder t werden

L iter atur Adorno, Theodor (1975). W. : Negative Dialektik. Frankfurt a.M. Becker, Helmut/Wolfstetter, Lothar/Gómez-Muller, Alfred (Hg.) (1985): Freiheit und Selbstsorge. Interview mit M. Foucault 1984 und Vorlesung 1982. Frankfurt a.M. Bittner, Günther (1989): »Weißt du, dass ich nicht so bin wie du?«, in: Günther Bittner u.a. (Hg.) 1989. Bittner, Günther/Schmid-Cords, Edda (Hg.) (1976): Erziehung in früher Kindheit. München. Bittner, Günther/Thalhammer, Manfred (Hg.) (1989): »Das Ich ist vor allem ein körperliches…« Zum Selbstwerden des körperbehinderten Kindes. Würzburg. Die Randschau. Zeitschrift für Behindertenpolitik. (1995): Rundgespräch zum Thema Therapie 10, S. 12-16. Flader, Dieter (1995): Psychoanalyse im Fokus von Handeln und Sprache. Vorschläge für eine handlungstheoretische Revision und Weiterentwicklung von Theoriemodellen Freuds. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1990): »Interview mit Jacques Chancel, ›Radioscopie de Michel Foucault‹, (Radio France, 3. Oktober 1975), 6«, in: Marcelo Marques (Hg.), S. 11-74. Foucault, Michel (1986): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit II. Frankfurt a.M. Freud, Anna (1968): Wege und Irrwege in der Kinderentwicklung. Stuttgart. Freud, Anna (1976): »Die Rolle der körperlichen Krankheit im Seelenleben des Kindes«, in: Günther Bittner u.a. (Hg.), 1976. Freud, Anna (1980): Die kindliche Symptomatik. GS Band IX. München. Freud, Sigmund (1923): Das Ich und das Es. (1923) Studienausgabe Band III. (1975), Frankfurt a.M. Freud, Sigmund (1937): Die endliche und die unendliche Analyse. Studienausgabe Ergänzungsband. (1975), Frankfurt a.M. Fröhlich, Volker/Kannicht, Andreas (1989): »Erschwerte Entwicklungsbedingungen bei körperbehinderten Kindern«, in: Günther Bittner u.a. (Hg.), S. 199-207. Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M. Hoerster, Norbert (1989): »Forum: Ein Lebensrecht für die menschliche Leibesfrucht?«, in: Juristische Schulung 89, S. 172-178. Hoerster, Norbert (1995): Neugeborene und das Recht auf Leben. Frankfurt a.M. Lévinas, Emmanuel (1983): Die Spur des Anderen. Freiburg. Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität. Freiburg.

3. Selbstsorge und Sorge für den Anderen

Lévinas, Emmanuel (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg. Marques, Marcelo (Hg.) (1990): Foucault und die Psychoanalyse. Zur Geschichte einer Auseinandersetzung. Tübingen. Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin. Pöltner, Günther (1993): »Die konsequentialistische Begründung des Lebensschutzes«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 47, 184-203. Saal, Fredi (1992): Warum sollte ich jemand anderes sein wollen? Erfahrungen eines Behinderten – biographischer Essay. Gütersloh. Saal, Fredi (1994): »Warum die Frage falsch ist, warum unsere Gesellschaft Behinderte braucht«, in: Universitas 49, S. 651-666 Taylor, Charles (1993): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a.M.

81

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

Eine Auseinandersetzung mit Riccardo Bonfranchi

»Löst sich die Sonderpädagogik auf?« Riccardo Bonfranchi hat einen großen Teil seiner bisher veröffentlichten Einzelstudien unter dieser Fragestellung zu einem lesenswerten Buch verarbeitet (Bonfranchi 1997a). Er benennt klarsichtig Vorzeichen eines allmählichen Niedergangs seiner Disziplin – Pränatale Diagnostik, Gentechnologie, Kosten-Nutzen-Berechnungen, Independent-living-Bewegung, Integrationsgedanke usw. Darüber hinaus stellt er die Sonderpädagogik unter den Generalverdacht, für die externen Faktoren ihrer Selbstauflösung mitverantwortlich zu sein. Ihr wird vorgeworfen, sie habe die Entstehung der Pränatal-Diagnostik schlichtweg verschlafen. Außerdem weiche sie der Verantwortung aus, erträgliche Antworten auf Fragen zur Sterbehilfe zu finden. Weiterhin setze sich die Heilpädagogik nicht mit dem Ausmaß unbewusster und bewusster Tötungswünsche gegenüber behinderten Menschen in unserer Gesellschaft auseinander. Schließlich hätten es ihre professionellen Vertreter versäumt, beizeiten den Dialog mit lebenslang von Behinderung Betroffenen zu suchen. Bonfranchis kritische Haltung hat seiner Reputation nicht geschadet. Inzwischen ist er auch Herausgeber eines Sammelbandes Zwischen allen Stühlen. Die Kontroverse zu Ethik und Behinderung (Bonfranchi 1997b), in dem Autoren wie Anton Leist, Norbert Hoerster und Reinhard Merkel zu Wort kommen. Zuletzt hat er auf Bitte der renommierten Zeitschrift Universitas (1998) einen Rückblick auf die zehn Jahre währende Diskussion um Peter Singer verfasst (Bonfranchi 1998). Es soll hier nicht darum gehen, Bonfranchis zentrale These zu widerlegen. Was heute als Krise der Heilpädagogik erscheint und die Angst vor ihrer fachlichen Selbstauflösung hervorruft, kann ebenso als Chance gedeutet werden, sich im Interesse behinderter Menschen soweit wie möglich überflüssig zu machen. Stattdessen werde ich zeigen, wie Bonfranchi sich der Gefahr aussetzt, zum Symptom dessen zu werden, was er zu kritisieren glaubt. Er möchte »die Frage der Ethik, wie sie in der analytischen Philosophie thematisiert wird, im Zusammenhang mit der Wissenschaft ›Heilpädagogik‹ weiter vorantreiben« (Bonfranchi 1997b: 6f.). Doch er wird damit ungewollt zum Sympa-

84

Behinder t sein - behinder t werden

thisanten seiner einstigen Gegner und beschleunigt jene Zerfallsprozesse in der Heilpädagogik, die er so eindringlich beschreibt. Seine Überlegungen und Vorschläge zur Sterbehilfe und zur Pränatalen Diagnostik sind dazu geeignet, ihre einstige Feigenblattrolle gegenüber der Medizin zu erneuern. Demgegenüber hat sich die Heilpädagogik mit ihrer konsequenten Haltung in der Euthanasie-Debatte neues Ansehen erworben. Bonfranchi sieht das nicht so und wirft seiner Disziplin vor, sie verweigere sich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den von Singer und Anstötz aufgezeigten Problemkreisen: »Die ›Sonderpädagogik tabuisiert und verdrängt Themen, die eigentlich in ihr eigenes Feld gehören, und schiebt die Verantwortung der ohne Zweifel brisanten Beantwortung dieser Fragen anderen Wissenschaften zu‹.« (Ebd.: 9) So seien rational vorgetragene Argumente auf einen Wall von Ablehnung gestoßen, deren Motive eindeutig und nahezu ausschließlich emotionale Ursachen haben (ebd., S.  95). Weiterhin kritisiert Bonfranchi, dass sich ihre Vertreter immer des gleichen Reaktionsmusters bedient hätten: »Sie griffen nach einer in der Philosophie weitgehend anerkannten Theorie (von Kant oder Portmann oder Maturana u. Varela oder Spinoza oder Lévinas und so weiter), referierten diese ausführlich und erklärten dann lapidar zum Schluss der Ausführungen dieser jeweiligen Theorie, dass die Theorie von Singer eben ›deshalb‹ falsch sei.« (Bonfranchi 1998: 682)

Nach Bonfranchi muss die Sonderpädagogik Antworten auf die Probleme der Euthanasie und der Humangenetik finden. Ansonsten sei zu befürchten, dass sie »gegenüber der Medizin, Justiz und Philosophie an Reputation« verlieren werde (Bonfranchi 1997b: 8). Mit einem Rückblick auf die Anfänge der Heilpädagogik möchte ich deutlich machen, dass die Heilpädagogik gut daran tut, ihre Autonomie als parteinehmende Pädagogik zu bewahren. Anschließend werde ich Bonfranchis Aussagen zur Euthanasie-Problematik anhand verschiedener Kriterien innerhalb einer Moralkonzeption – Begründung, Anwendung, Motivation, Institutionalisierung – überprüfen. Außerdem setze ich mich mit seiner These auseinander, es gäbe einen ubiquitären Tötungswunsch gegenüber »Behinderten«, und wir müssten uns alle mit dem »Singer« in uns kritisch auseinandersetzen. Am Ende werde ich seine ambivalente Haltung zur Pränatalen Diagnostik kritisch bewerten. Insgesamt wird sichtbar, dass Bonfranchi seinen Diskussionspartnern zu weit entgegenkommt. Gleichwohl würden sich die Vertreter der Heilpädagogik selbst ein Armutszeugnis ausstellen, wenn sie sich seiner Aufforderung entzögen, im direkten Gespräch mit Vertretern der Philosophie und Medizin über problematische Themen einen konsequenten Standpunkt zu vertreten (vgl. ebd.: 12).

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

D ie verleugne te H erkunf t der H eilpädagogik Das Dilemma des heilpädagogischen Diskurses besteht darin, dass sich das eigene System der Wahrheit nicht dort ansiedeln lässt, wo Machtverhältnisse überwunden sind. Stets aufs Neue muss man sich eingestehen, dass diejenigen, denen man helfen möchte, durch den eigenen Diskurs auf eine Identität festgelegt werden. Das schafft in theoretischer und praktischer Hinsicht eine fragile Situation. Die doppelte und paradoxe Aufgabe hat darin zu bestehen, sich kritisch in der Funktion als machtvolles Medium zur Konstruktion von Behindertsein zu reflektieren und zugleich behinderte Menschen im Kampf gegen festlegende Zuschreibungen zu unterstützen. Der heilpädagogische Diskurs liefert keine präkonstruierten Wahrheiten über die soziale Welt, sondern ist selbst konstitutiver Bestandteil symbolischer Praxis. Ihre Vertreterinnen und Vertreter täten gut daran, einer »Denktradition zu entsagen, die von der Vorstellung geleitet ist, dass es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind« (Foucault 1977: 39). Noch fehlt bisher ein mutiges Bekenntnis zur historischen Relativierung heilpädagogischer Theorie und Praxis – eine Genealogie, die den Blick auf die eigene Herkunft richtet (vgl. Foucault 1978: 91f.). Stattdessen beschwichtigt man sich mit halbherzigen und wenig überzeugenden Distanzierungsritualen gegenüber einer allzu großen Orientierung am »medizinischen Modell« (Bleidick 1985: 255) und beschwört wie eine Gebetsformel Paul Moors Diktum, »dass Heilpädagogik Pädagogik ist und nichts anderes« (Moor 1974: 273). Mit der Herausbildung der Humanwissenschaften hat sich in der Neuzeit ein besonderer Erfahrungsraum eröffnet, in dem es zum ersten Mal möglich wurde, den Menschen mit den Mitteln wissenschaftlicher Wahrheit zu einer moralischen Lebensführung zu bewegen (vgl. Foucault 1974). Innerhalb ihres Codes normal/anormal hat sich im 19. Jahrhundert ein weiteres lebensweltliches Bewertungsmuster auf der Grundlage der Klassifikation gesund/ krank in den Vordergrund geschoben. Angesichts dieser Tatsache mutet die offizielle hermeneutische Auffassung der heilpädagogischen Historiographie schönfärberisch und selbstgefällig an. Nach wie vor ist das Bedürfnis groß, den Ursprung der eigenen Disziplin feierlich aus den einsamen aufklärerischen »Initiativen persönlicher Menschlichkeit« (Speck 1996) und der Erziehungsnotwendigkeit derjenigen entstanden zu sehen, die von der allgemeinen Erziehungspraxis bisher ausgeschlossen blieben. »Revolutionär war die heilpädagogische Bewegung insofern, als sie die Abwendung von der natürlichen Gleichgültigkeit und Grausamkeit darstellt, die alle Menschen von innen bedroht.« (Möckel 1988: 26) Insofern sollen hauptsächlich »religiöse, humanitäre und caritative Gründe dazu geführt haben, sich der Erziehung und Bildung von Menschen mit Beeinträchtigungen anzunehmen« (Eberwein 1996: 12).

85

86

Behinder t sein - behinder t werden

Jan Daniel Georgens und Heinrich Marianus Deinhardt gelten als die wahren Begründer einer seriösen wissenschaftlichen Heilpädagogik. Ihr zweibändiges Werk Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten (1861/1863) wird immer wieder als Beleg für den ursprünglichen Charakter »der heilpädagogischen Bewegung zur Pädagogik« genannt (Möckel 1988: 155). Nach Andreas Möckel verdient ihr Denken »auch heute noch Gehör« (ebd.). Er verklärt sie zu Gestalten einer menschlicheren Geschichte, die einen ernstzunehmenden Reformversuch schufen, »der den Zusammenhang von Pädagogik – und damit von Sozialpädagogik und Heilpädagogik –, Gesundheitspflege und Wohltätigkeit erhellt« (ebd.). Die gesellschaftliche Machtkonfiguration, innerhalb der sie ihr weltanschaulich-politisches Programm entfalteten, wird dabei völlig beiseite gelassen. Möckel nimmt nicht zur Kenntnis, dass Georgens und Deinhardt ihre Ideen im Kontext einer neuen politischen Rationalität äußerten, mit der man die Bevölkerung und der Körper des Individuums als einen biologischen Organismus betrachtet, dessen Degenerationserscheinungen mit Hilfe der Medizin und Pädagogik erklärt und reguliert werden können. Hier lohnt sich ein genauerer Blick! Die Heilpädagogik setzte in ihren Anfängen im Namen einer lebenssteigernden Macht auf die biologisch-medizinische Erneuerung des Gesellschaftskörpers. Sie wurde zum natürlichen Erfordernis staatlichen Handelns, da die Abweichung von der Norm eine vermeintlich lebenszerstörende Gefahr darstellte. Nach Georgens u. Deinhardt muss sich die Heilpädagogik gegenüber der Medizin »einestheils, und zwar unzweifelhaft zuerst, empfangend verhalten, weil sie die Resultate der ärztlichen Erfahrung, Beobachtung und Forschung als solche anzunehmen hat« (Georgens u. Deinhardt 1861, zit.n. Möckel u.a. 1997: 247). Andererseits versteht sich die Heilpädagogik der Medizin gegenüber »aber gewährend und anregend, weil sie ihr pädagogisches Vermögen mitbringt, um es da zu verwerthen, wo die ärztliche Hülfeleistung thatsächlich eine ansatzweise, unzulängliche und resignierende geblieben ist« (ebd.). Die Autoren geben zwar vor, einen genuin pädagogischen Begriff des Heilens zu entwickeln. Tatsächlich implantieren sie jedoch die Kategorien Krankheit und Gesundheit in die Pädagogik. Die Heilpädagogik wird von ihnen vollständig in den Dienst einer biologistischen Kritik an der technischindustriellen Zivilisation gestellt. Diese neue Disziplin ist für sie deshalb Bestandteil einer allgemeinen Pädagogik, weil pädagogisches Handeln von ihnen in einem volksgesundheitlichen Sinne als Heilsbringung verstanden wird. Im 19. Jahrhundert fällt der Heilpädagogik die Rolle einer weiteren politischen Interventionstechnik zu. Erst im Zuge einer »Medizinalisierung der Bevölkerung« (Foucault 1993: 63) wird der »Behinderte« als behandlungs- und erziehungsbedürftiges Wesen entdeckt und einem »Warum-Wissen« unterworfen, »das sowohl auf den Körper als auch auf die Bevölkerung, auf den Organismus und die biologischen Prozesse gerichtet ist« (ebd.: 65).

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

Geschichte und Leben werden von Georgens u. Deinhardt in einem neuen Verhältnis betrachtet. Die menschliche Natur steht nicht mehr außerhalb der Geschichte, indem sie ihr biologisches Umfeld bildet. Sie unterliegt nunmehr gefahrvollen Prozessen der Entartung und Degeneration, die aus der Natur selbst oder aus der Gesellschaft kommen. Pädagogik und Medizin wachsen zu einem strategischen Ensemble zusammen, »um es zu steigern und zu vervielfältigen, um es im einzelnen zu kontrollieren und im gesamten zu regulieren« (Foucault 1983: 163). Was im 19. Jahrhundert mit ihrer Hilfe hergestellt werden soll, ist nicht die freie Vereinigung gleicher Staatsbürger mit Hilfe des Rechts, »sondern das gehorchende Subjekt, das Individuum, das Gewohnheiten, Regeln, Ordnungen unterworfen ist und einer Autorität, die um es und über ihm stetig ausgeübt wird und die es automatisch in sich selber wirken lassen soll« (Foucault 1977: 167). Nach Georgens u. Deinhardt lassen sich von einem »höheren, d.h. socialen Gesichtspunkt« aus betrachtet daher mit der Medizin und der Pädagogik »die verschiedenen Seiten der einen Aufgabe« begründen und gestalten: »eine gesunde Cultur gegenüber der Verwilderung, Erschlaffung und Ausartung, die trotz den Fortschritten der Civilisation zurückbleiben und theilweise durch sie bedingt sind« (Georgens u. Deinhardt 1861, zit.n. Möckel u.a. 1997: 248). Pädagogik und Medizin haben gemeinsam für die höhere Idee von der biologischen und sittlichen Vervollkommnung des Menschen einzustehen. Die Heilpädagogik vermag eine ideale Synthese zu schaffen, »indem sie pädagogisch, d.h. durch Thätigkeitsregelung heilen will, sie muss also zunächst ihre Aufgaben und Mittel als durch den Heilzweck bedingte Modificationen der Aufgaben und Mittel, welche die allgemeine Pädagogik hat oder haben sollte, auffassen, weiterhin aber […] die allgemeine pädagogische Thätigkeitsregelung unter ihren Gesichtspunkt bringen, d.h. als eine die Entartung in ihrem Grunde aufhebende, für die gesunde Entwicklung der Einzelnen und der Gesellschaft nothwendige Thätigkeit erkennen und fordern« (ebd.: 247). Im 19. Jahrhundert ist aus dem »Volk« als Massenphänomen die »Bevölkerung« als Produkt einer Verstaatlichung des Biologischen geworden, das sich wie ein organischer Körper erklären und regulieren lässt. Eine Politik zur Normalisierung des Einzelnen und zur Regulierung der Bevölkerung hat sich entfaltet. Der Begriff Normalität erhält auch bei Georgens u. Deinhardt eine zentrale Bedeutung, weil »die Erziehung mit hervortretenden Abnormitäten und Deformitäten stets zu kämpfen« hat: »Der Begriff der Normalität schliesst den der Gesundheit überall ein, und diese besteht in demjenigen Zusammenhalte der organischen Functionen, durch welche sich die Selbständigkeit des in sich bestimmten Lebens in dem nothwendigen Verhältnisse zu dem Natursein behauptet und entwickelt.« (ebd.: 253f.) Nach Georges Canguilhem kommt »normal« 1759 und »normalisé« 1834 im Französischen in Gebrauch. Im 19. Jahrhundert wird der Begriff »normal« »über Terminologien zweier Institu-

87

88

Behinder t sein - behinder t werden

tionen, des Erziehungs- und des Gesundheitswesens« zum festen Bestandteil umgangssprachlichen Handelns. »›Normal‹ ist jener Terminus, mit dem das 19. Jahrhundert dann sowohl den Prototyp der Schule wie den organischen Gesundheitszustand bezeichnet.« (Canguilhem 1974: 161) Die modernen Staaten haben seit dem 18. Jahrhundert die Bevölkerung als beeinflussbare Masse verstanden, die nicht durch Gesetze zum Gehorsam gezwungen werden muss, sondern die wie ein biologischer Organismus erklärt und reguliert werden kann. Auf die Kritik an den Phänomenen der Zivilisation – Pauperisierung der Massen, Urbanisierung und ihre Nebenfolgen, schlechte Arbeitsbedingungen, unzureichende Ernährungslage, mangelhafter Gesundheitszustand, fehlende Hygiene mit der Folge von Krankheiten – folgte u.a. eine demographisch-medizinische Erfassung der Bevölkerung. Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit usw. wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen. Insofern vollzog sich die Moderne von Anbeginn auch in der Absicht, den sozialen Fortschritt der Menschheit in der biologischen Natur des Individualkörpers »Individuum« und des Kollektivkörpers »Volk« hervorzubringen. »Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben, sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum, in dem man sie optimal verteilen kann. Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen. […] Die ›biologische Modernitätsschwelle‹ einer Gesellschaft liegt dort, wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht. […] Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1983: 170f.)

Mit der Rassenidee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Herausbildung des nationalsozialistischen Staates wurde jedoch die »Symbolik des Blutes« (ebd.: 176) im Volkskörper neu herauf beschworen. Aus der »mythischen Sorge um die Reinheit des Blutes und den Triumph der Rasse« vollzog man mittels disziplinarischer Machtmechanismen eine »eugenische Reglementierung der Gesellschaft« (ebd.: 178). Der Rassismus funktioniert gemäß der binären Logik, innerhalb der Spezies Mensch bestimmte Rassen als gut und andere als minderwertig zu beurteilen. Er stellt eine Art und Weise dar, innerhalb der Bevölkerung Gruppen gegeneinander zu differenzieren. Mit dieser Logik rechtfertigt er seinen Appell: »Je mehr du tötest, je mehr du sterben machst oder je mehr du sterben lässt, desto mehr wirst du dadurch leben.« (Foucault 1993: 65) Je mehr die minderwertigen Glieder im Volkskörper verschwinden und je mehr die Anormalen eliminiert werden, umso weniger Degenerierte wird es im Verhältnis zur Bevölkerung geben. Es bedurfte daher

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

keiner Lügen oder Ideologien, um den Rassismus zu rechtfertigen. Es genügte, der inneren Logik der neuen Bio-Macht bis zum Exzess zu folgen. Der Rassismus setzte im Namen einer lebenssteigernden Macht auf die biologisch-medizinische Reinigung des Gesellschaftskörpers. Sie wurde zum natürlichen Erfordernis staatlichen Handelns, da die Abweichung von der Norm eine lebenszerstörende Gefahr darstellt. »Der Rassismus gewährleistet […] die Funktion des Todes in der Ökonomie der BioMacht, gemäß dem Prinzip, nach dem der Tod der anderen die biologische Stärkung seiner selbst ist, insofern, als man ein Element in einer unitären und lebendigen Vielfalt ist.« (Ebd.: 66)

Am Ende des 20. Jahrhunderts treibt die moderne Medizin mit Hilfe der Molekulargenetik die damals entstandenen Gesundheitsstandards durch neue biotechnische Verfahren auf den Höhepunkt – durch die Humangenetik (Genomprojekt, Gentests, Gentherapie usw.), durch die Embryologie (In-vitro-Fertilisation, Pränatal-, Präimplantationsdiagnostik, Embryonentransfer usw.), durch die Transplantationstechnik (Herz, Nieren, Leber, embryonales Hirngewebe, Xenontransplantation usw.). Sie erweitert ihre Zuständigkeit von klar definierten Krankheitsbildern auf den Bereich des alltäglichen Lebens, indem sie den Katalog der Kriterien für gesundheitliche Risiken immer mehr in den Bereich des »Normalen« verschiebt – vom Genussmittel zum Nahrungsmittel, vom Übergewicht zum fehlenden Sport, vom Stress zum Wetter, vom Umweltsmog zur Federkernmatratze usw. Man ist dabei, eine »Ausdehnung der Krankheit auf alle nicht ganz ›normalen‹ körperlichen Erscheinungen« zu betreiben, so dass potenziell »die Möglichkeit der Gesundheit zum Verschwinden« gebracht wird (Lenzen 1991: 12). Indem die Biomedizin heute vorbehaltlos auf das Leben setzt, indem sie die Bezwingbarkeit menschlicher Vergänglichkeit suggeriert, arbeitet sie im Dienst einer Macht, »die ihre Zugriffe auf das Leben und seinen ganzen Ablauf« richtet und für die »der Augenblick des Todes […] ihre Grenze ist« (Foucault 1983: 165). Dabei wird ihr öffentliches Ansehen kaum mehr davon abhängen, ob sie in der Lage ist, bereits eingetretene Erkrankungen zu heilen. Allein schon deswegen nicht, weil sie mit ihren neuen Technologien klinisch-neutral und ohne Anwendung sichtbarer Gewalt an der Verwirklichung des eugenischen Traumes arbeitet. Die Diagnostik wird für lange Zeit den therapeutischen Möglichkeiten weit vorauseilen. Die Aufklärung des Individuums über wahrscheinliche Risiken wird mit der Aufforderung einhergehen, die Lebensweise gemäß genokratischer Regulationsprinzipien einzurichten. Angesichts dieser Entwicklungen sollte sich die Heilpädagogik davor hüten, historische Fehler zu wiederholen. Es ist vielmehr ihre Pflicht, sich als Stellvertreter be-

89

90

Behinder t sein - behinder t werden

hinderter Menschen argumentativ vor erneuten politischen Vereinnahmungen zu schützen.

L ebensschut z als D enk verbot ? Moraltheorien müssen sich zuallererst nach dem Gehalt ihrer Begründung fragen lassen, d.h. die Angabe von Gründen für moralisches Handeln muss intersubjektiver Überprüfung standhalten. Für die Begründung von Normen sind zunächst nur diese selbst, unabhängig von ihrer Anwendung in Problemsituationen, bedeutsam. Während sich in der Euthanasie-Debatte die meisten Fachvertreter in der Heilpädagogik gerade auf der Begründungsebene mit Peter Singer und Christoph Anstötz ernsthaft auseinandersetzten, hat sich besonders Bonfranchi mit Polemik hervorgetan. Er nannte Singers Praktische Ethik »ein Ärgernis«, weil »seicht bzw. leicht zu widerlegen« und attestierte ihm vollmundig fehlende wissenschaftliche Qualität: »Mit Begriffen wie Rationalität und Selbstbewusstsein geht er schlampig um; er definiert sie nicht, kann es wohl auch nicht und benutzt sie trotzdem dazu, um mit ihnen Grenzziehungen zwischen Leben und Tod zu markieren.« (Bonfranchi 1992a: 41) Insofern trifft Bonfranchis Vorwurf gegenüber Autoren wie Ulrich Bleidick, Manfred Thalhammer, Georg Theunissen, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen u.a., sie hätten sich mit Singer nicht wirklich auseinandergesetzt, auf ihn selbst wohl eher zu. Andere haben sich bereits 1991 um eine nüchterne Einschätzung bemüht: So erklärt Emil E. Kobi, dass Singer nicht zum Kindermord anstiftet und seine Argumentation weder rassentheoretisch noch sozialdarwinistisch zu nennen ist. Im Wesentlichen ziele Singer darauf ab »personales Leid zu vermindern, das durch das Leiden von Wesen bedingt ist, die außerhalb personaler Existenzwahrnehmung stehen« (Kobi 1991: 53). Bonfranchi vernimmt in der Hauptsache Gesinnungsduselei, fundamentalistische Abwehr und Zitatengestöbere, wo es den meisten Autoren im Gegenteil um eine Alternative zu Singers utilitaristischer Begründung eines Lebensrechtes geht. Die Beschäftigung mit moralischen Standpunkten ist deshalb so wichtig, weil sich nur so entscheiden lässt, welcher unter den verschiedenen heute vertretenen der richtige oder beste ist. Bonfranchi behauptet, ein Singer habe es nicht nötig auf Kritiken dieser Art zu reagieren, »weil Kant oder Spinoza sich gar nicht mit der Pränatalen Diagnostik oder dem Unterschied von aktiver und passiver Euthanasie beschäftigt haben« (Bonfranchi 1998: 682). Dagegen liegt für ihn die Stärke der Singer’schen Argumentation darin, »dass er, auf der Basis einer sich als analytisch verstehenden Philosophie, nur Schlüsse zulässt, die rational begründbar sind oder sich stringent ableiten lassen. Hier kann man ihm wohl keinerlei Fehler nachweisen« (ebd.: 687). Bonfranchi scheint tatsächlich zu glauben, dass Singer oder Hoerster nur analytische Sät-

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

ze formulieren und in moraltheoretischen Begründungsfragen ohne die Hilfe von Bentham, Mill, Hume und Locke auskommen. Eine Lösung des moralischen Konfliktes zwischen Singer und der Heilpädagogik kann nicht darin bestehen, auf Begründungsfragen für Moral zu verzichten. Bonfranchi hat sich jedoch mit der Behauptung, dass die logischen Ableitungen Singers, Norbert Hoersters, Reinhard Merkels, Dieter Birnbachers u.a. in Bezug auf die passive und aktive Euthanasie logisch unwiderlegbar und widerspruchfrei seien, den eigenen Begründungsspielraum eingeengt. Ihm bleibt nur noch der problematische Ausweg, den Gefühlen, vorzüglich dem des Mitleides, in der Moralbegründung eine zentrale Rolle zuzuweisen. Bonfranchi stützt sich zunächst auf die Psychologie und ihre attributionale Theorie der Emotionen. Danach attribuieren wir ein Ereignis, indem wir physiologische Erregungen wahrnehmen und kognitiv mit einer Situationseinschätzung in Zusammenhang bringen. Daraus entstehen Emotionen. Emotionen hängen folglich von Kausalkognitionen ab und sind durch Änderungen dieser Kognitionen auch beeinflussbar. Die gefühlsmäßigen Reaktionen, um die es sich im Zusammenhang mit der aktiven Euthanasie handelt, sind in erster Linie Schuld, Angst, Bedrohung, Ärger und Mitleid. Singer wird vorgeworfen, er hätte sich mit diesen starken Emotionen nicht wirklich auseinandergesetzt: »Es ist meiner Meinung nach eine Unterlassungssünde von Peter Singer, Emotion und Intuition, diese für unser Handeln mitentscheidenden (je nach Psychologie sogar: entscheidenden) Faktoren nicht berücksichtigt zu haben.« (Ebd.: 689f.) Bonfranchi betreibt mit Schopenhauers Mitleidsethik genau jene Stellvertreter-Begründung, die er seinen Kollegen so sehr als Mangel anlastet (vgl. Bonfranchi 1997b: 113ff.). Immerhin erhalten wir dadurch Einblick, warum er sich gegenüber der utilitaristischen bzw. interessentheoretischen Moralbegründung von Singer und Hoerster aufgeschlossen zeigt (vgl. Bonfranchi 1996). Auch für Schopenhauer entspringen die Handlungsweisen des Menschen aus interessengesteuerten egoistischen Motiven. Jeder ist sich unmittelbar gegeben, während die Anderen nur mittelbar durch die Vorstellung von ihnen existieren. Lediglich im Mitleid sieht Schopenhauer eine Triebfeder, die all jenen tief in seiner Natur wurzelnden Neigungen widerspricht. Über das Mitleid kann die egozentrische Leiblichkeit gesprengt werden und durch die Erfahrung des Leidens anderer eine Quasiidentifikation mit ihnen erfolgen. Insofern kommt nach Schopenhauer nur einer Handlung moralischer Wert zu, die aus dem Mitleid entsprungen ist (vgl. Schopenhauer 1988). Natürlich weiß Bonfranchi um die Ambivalenzen des Mitleidbegriffs. Er verweist auf die Tatsache, dass nach deutschem Recht aktive Euthanasie, die durch sog. Mitleid motiviert ist, allenfalls als Todschlag gewertet wird (vgl. Bonfranchi 1997a: 50f.). Außerdem ist ihm Klaus Dörners Buch Tödliches Mitleid (1989) bekannt, wo eindrücklich beschrieben wird, wie sich in einer leis-

91

92

Behinder t sein - behinder t werden

tungsethischen Gesellschaft die entsolidarisierende Mentalität von früheren Kosten-Argumenten zum Argument des Mitleids hin verschiebt. Bonfranchi ist auch bekannt, dass sich die Euthanasiebefürworter auf das Mitleid berufen, indem sie den Tötungsakt als humanere Alternative gegenüber der Basisversorgung eines schwerstgeschädigten Neugeborenen hervorheben. Ein Beispiel von vielen: »Stellt man die Behandlung einfach ein, dann kann sich das Sterben des Patienten noch hinauszögern, so dass er also mehr leiden müsste, als wenn sich der Arzt sofort zu direktem Handeln entschlösse und ihm eine tödliche Spritze gäbe. Diese Tatsache legt den Schluss nahe, dass aufgrund der einmal getroffenen Entscheidung, das Leben nicht zu verlängern, die aktive Sterbehilfe in der Tat der passiven vorzuziehen ist, nicht aber umgekehrt.« (Rachels 1989: 255)

Dennoch hat Bonfranchi keine Zweifel an der Eignung dieses Gefühls für die Rechtfertigung eines Tötungsverbotes. Doch die inhaltliche Norm »Du sollst nicht töten!« kann auf der Grundlage einer Mitleidsethik jederzeit gegenüber der Norm »Niemand soll leiden!« in den Hintergrund treten und zur Rechtfertigung einer aktiven Sterbehilfe dienen. Mitleid ist bestenfalls ein Motiv, aus dem heraus moralisch gehandelt wird. In der Moral benötigen wir jedoch Urteile, die durch Mitleid aber, das zeigt die Euthanasiedebatte nur zu gut, unterschiedlich ausfallen können. Bonfranchi müsste eigentlich auch die eindringliche Botschaft von Menschen mit Behinderungen kennen, dass Mitleid von ihnen als Nötigung empfunden wird. Dennoch instrumentalisiert er in paternalistischer Weise sein Gegenüber in der Heilpädagogik zum »Sozius patiens« (Bonfranchi 1997b: 118), zum leidenden Menschen, der durch seine Schädigung unserer besonderen Zuwendung bedarf (Konviktion), um seinem trügerischen Mitleidsbegriff die Weihe einer inneren Sollensvorschrift zu verleihen. Nach der Begründungsfrage muss in einem weiteren Schritt die Frage nach der Anwendungsfähigkeit des moralischen Standpunktes geklärt werden. Anwendungsdiskurse ohne normatives Selbstverständnis sind blind; Begründungsdiskurse ohne Bezug zur Praxis sind leer. Tatsächlich hat man sich in der Heilpädagogik bisher zu wenig mit der weiteren Frage nach der praktischen Anwendbarkeit eigener ethischer Begründungen auseinandergesetzt hat. Eine Moralkonzeption muss sich aber der Schwierigkeit stellen, dass möglicherweise die Moralprinzipien mit den Anwendungsregeln in Konflikt geraten. Das darf nicht dazu führen, auf feste Handlungsregeln in der medizinischen Praxis ganz zu verzichten. Ansonsten öffnet man Tür und Tor für Willkürhandlungen. Wer nur eine aus den faktischen Problemsituationen gewonnene Güterabwägung möchte, die nicht zu Beginn eines Begründungverfahrens schon das Ergebnis Pro und Contra aktive Sterbehilfe festlegt, begibt

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

sich auf schlüpfrigen Boden. Er müsste nachweisen, wie es auf dieser Grundlage möglich wird, Handeln vor Beliebigkeit zu schützen. Die geringsten Plausibilitätsprobleme hat anscheinend derjenige, der seine Moral entweder auf eine metaphysisch-religiöse Begründungsbasis stellt oder auf die vermeintlich weltanschauungsfreie rationale Grundlage der analytischen Philosophie. So sieht es jedenfalls Bonfranchi und teilt den analytischen Standpunkt, dass es in Anwendungsfragen keinen Unterschied zwischen aktiver und passiver Euthanasie gibt. Dabei orientiert er sich an einer Studie von Dieter Birnbacher. Sie führt zu dem Schluss, dass »eine prinzipielle moralische Differenzierung zwischen aktiv und passiv, handelndem und unterlassendem Bewirken, Töten und Sterbenlassen nicht zu rechtfertigen ist« (Birnbacher 1995: 371). Danach lässt sich die Schranke zur aktiven Euthanasie nur aus pragmatischen Gründen rechtfertigen. Die pragmatisch zulässigen Hilfsargumente lauten: Missbrauchs-, Dammbruchgefahr, Schwächung des generellen Lebensschutzes usw. Auch Norbert Hoerster und andere Befürworter einer aktiven Sterbehilfe bestreiten, dass es einen moralisch relevanten Gegensatz zwischen passiver und aktiver Euthanasie gibt. Hoerster stellt die Frage: »Und ist dem Frühgeborenen in aussichtsloser Situation durch ein langsames Sterbenlassen wirklich besser gedient als durch die schmerzlose, aktive Tötung?« (Hoerster 1996: 447) Es gibt für Hoerster keinen logisch zwingenden Grund, die Tötung einwilligungsunfähiger Personen zu verbieten, die Beendigung von ärztlichen Maßnahmen im gleichen Fall aber zu rechtfertigen (vgl. Hoerster 1995: 97). Wer folglich passive Sterbehilfe in besonderen Fällen befürwortet, kann keine prinzipiell stichhaltigen Gründe nennen, die aktive Sterbehilfe völlig abzulehnen und erntet den Vorwurf, er sei widersprüchlich und damit wissenschaftlich unredlich (Hegselmann u. Merkel 1991: 7ff.). Die Einschätzungen der analytischen Philosophie beruhen auf einer konsequentialistischen ethischen Grundhaltung. Danach sind Handlungen nicht nach den ihnen zugrundeliegenden Maximen zu beurteilen, wie es die deontologischen Ethiken behaupten, sondern nach den durch sie eintretenden Folgen. Mit anderen Worten, bei der Zugrundelegung von Prinzipien, die ausschließlich die Folgen einer Handlung zu deren moralischer Bewertung heranziehen, sind folgengleiche Fälle unabhängig von Tun oder Unterlassen auch gleich zu bewerten. Demgegenüber kann Thomas Fuchs mit einer Phänomenologie der Sinnstruktur ärztlichen Handelns bei der Sterbehilfe überzeugende Gründe für einen ethisch bedeutsamen Unterschied zwischen z.B. Behandlungsabbruch und Tötung nennen (Fuchs 1997). Er macht deutlich: Während unsere Rechtsprechung mit guten Gründen bei verwerflich motivierten Handlungen keine prinzipielle Differenz zwischen unterschiedlichen Kausalitäten, Intentionalität und Motivation zur Herbeiführung des Todes macht, erweist sich diese konsequentialistische Haltung in der Sterbehilfe als haltlos.

93

94

Behinder t sein - behinder t werden

• Auf der Ebene der Kausalität bedeutet ein Handeln durch Töten (Bsp.: tödliche Injektion) eine vom Krankheitsprozess losgelöste, den Organismus unmittelbar schädigende Einwirkung. Ein Handeln durch Unterlassen (Bsp.: Extubation bei einem Todkranken) ist dagegen Sterbehilfe im eigentlichen Sinn, weil jede weitere Behandlungsmaßnahme den Sterbeprozess nicht aufhält. »Die tödliche Injektion beendet das Leben des Kranken ebenso wie das des Gesunden; der Behandlungsabbruch dagegen führt nur beim Sterbenskranken zum Tod, bei einem Gesunden hätte er gar keine Auswirkung.« (Ebd.: 84) • Auf der Ebene der Intentionalität liegt das Ziel des Tötens im Tod des Patienten. Dagegen liegt das Ziel des Behandlungsabbruchs im Sterben können. Auch wenn das Motiv des Arztes der Tod des Patienten sein mag, so bestehen Sinn und Zweck der Handlung in einem Verzicht auf Weiterbehandlung, der das Sterben möglich macht. »Bei der passiven Euthanasie will der Arzt nicht zusätzliche, d.h. menschlich herbeigeführte und unnötige Leiden verursachen; bei der Tötung will er bestehende, in der Natur des Lebens liegende Leiden dadurch nehmen, dass er dem Patienten das Leben nimmt.« (Ebd.: 85) • Auf der motivationalen Ebene dient die Sterbehilfe einer der Humanität verpflichteter Leidminderung. Doch die Sinnrichtung des Tötens verursacht ganz offensichtlich einen ethischen Widerspruch zwischen innerer Einstellung und tatsächlichem Handeln. »Ob er sich darüber Rechenschaft ablegt oder nicht: der Arzt, der einen Menschen auch auf dessen Wunsch hin tötet, gerät durch sein Tun in eine Handlungsorientierung und Gesinnung, die in letzter Konsequenz die Achtung vor der Person aufheben muss.« (Ebd.: 86) Aktive Sterbehilfe ist und bleibt trotz humanitärer Absicht des Arztes »eine Fortsetzung des technischen Handelns mit anderen Mitteln« (ebd.: 87). Dagegen verzichtet der Arzt bei der passiven Sterbehilfe auf ein instrumentelles Zweck-Mittel-Handeln und lässt das Sterben geschehen. Diese veränderte Situation eröffnet dem Arzt, den Pflegenden und den Angehörigen ein kommunikatives Handeln in Form von Sterbebegleitung. Eine Moraltheorie muss ebenso das Problem der motivationalen Basis zur Einhaltung von Regeln im Menschen berücksichtigen, d.h. sie muss eine Auseinandersetzung mit der Frage gewährleisten, inwieweit sich die Verpflichtungen zum Handeln mit der Neigung in den Individuen vereinbaren lassen. Nach Bonfranchi gibt es für die Einführung der aktiven Sterbehilfe trotz rationaler Begründung keine ausreichende motivatonale Basis in der Bevölkerung: »Ein Argument, das […] gegen die aktive Euthanasie spricht, ist die Tatsache, dass in unserer Kultur (und nur darauf möchte ich mich beschränken) die Tötung eines anderen Menschen mit gewissen Hemmungen verbunden ist, die sich

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

›nur‹ emotional begründen lassen.« (Bonfranchi 1997b: 103) Insofern ist er dafür, die aktive Euthanasie zu verweigern, weil sie uns in emotionale Zwangslagen führt. Singer missachte die starken und festverwurzelten moralischen Gefühle eines großen Teils der Bevölkerung (vgl. Bonfranchi 1998: 687). Das Ergebnis einer 1995/1996 durchgeführten Befragung von 101 deutschen Kinderkliniken zur Behandlungspraxis bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen bestätigt diese Einschätzung. Danach lehnen 88% der Ärzte die Möglichkeit eines Infantizides ab. Zwei Drittel der Ärzte halten an einem generellen Unterschied zwischen Abtreibung und Kindstötung mit dem Hinweis auf verschiedene Entwicklungsstadien fest (vgl. Zimmermann u.a. 1997). Die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung vom 11.09.1998 tragen dessen Rechnung. In der Präambel erklären sie die aktive Sterbehilfe für unzulässig und fordern in jedem Falle eine Basisbetreuung (Menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie Stillen von Hunger und Durst). Für weiteren Zündstoff sorgt jedoch die Aussage, dass bei Neugeborenen mit schwersten Fehlbildungen oder schweren Stoffwechselstörungen unter Umständen eine lebenserhaltende Behandlung beendet werden kann, die die ausgefallene oder ungenügende Vitalfunktion ersetzt. Gleiches gilt für extrem unreife Kinder, deren unausweichliches Sterben abzusehen ist und für Neugeborene, die schwerste Zerstörungen des Gehirns erlitten haben (vgl. Bundesärztekammer 1998: 4). Wir müssen auf der Suche nach der richtigen Moral auch Wege zur Institutionalisierung von anwendungsbezogenen Regeln aufzeigen. Diese Diskussion kann erst am Ende erfolgen. Eine wahrheitsbezogene Diskussion darf nicht durch die Darstellung schlechter medizinischer Praktiken einseitig dirigiert werden. Ansonsten droht die Gefahr, den Nutzeffekt von Moral zum Kriterium ihrer Berechtigung zu vereidigen. Im medizinischen Alltag herrscht nach Singer und anderen noch die Praxis vor, bei schwerstgeschädigten Neugeborenen auf eine lebensnotwendige Grundversorgung (Nahrung und Flüssigkeit) zu verzichten. Damit hätte man in unserem Land den untragbaren Zustand geduldet, die vorherrschende Institution der Klinik zur Legitimationsinstanz für Handeln in Grenzsituationen des Lebens zu erklären. Singer hat auf die skandalöse Praxis des »Liegenlassens« von schwerstgeschädigten Neugeborenen in deutschen Kliniken hingewiesen. Dafür erhält er von Bonfranchi Lob: »Mir geht es im Moment nicht um eine Aufzählung der von Singer vorgeschlagenen Lösungen, sondern darum, dass er insofern Recht hat als dass sich hier Probleme auftun, die mit Niederschreien, Gesprächsverweigerung, Androhung von Amtsenthebung und dergleichen nicht zu lösen sind und nie zu lösen sein werden.« (Bonfranchi 1998: 684f.)

Tatsächlich würde es sich um eine groteske moralische Urteilskraft handeln, wenn man Nahrungsentzug oder Flüssigkeitsverlust, die das Leiden eines

95

96

Behinder t sein - behinder t werden

Menschen über Tage hinweg unerträglich sein lassen, nicht anprangerte. Insofern kann man dem Überbringer der Nachricht – Singer – dafür dankbar sein. Freilich lassen sich damit dessen ähnlich grausam klingende Botschaften nicht entschuldigen. Bonfranchi will nicht erkennen: Die Gemüter haben sich nicht wegen der schlechten Neuigkeiten Singers erhitzt, sondern angesichts seiner skandalösen Folgerungen. Außerdem hat die besagte Befragung unter deutschen Kliniken keinerlei Anhaltspunkte über eine Praxis des sog. Liegenlassens ergeben. Insofern lässt sich darüber nur spekulieren. Dagegen hat sich gezeigt, dass die Grenzen der Behandlungspflicht unterschiedlich festgelegt werden: In 36% der Kliniken findet z.B. eine Diskussion über Weiterbehandlung bei Spina bifida statt; in 12% der Kliniken sogar häufig. Nur in 53% der Kliniken wird bei Hydrocephalus ausnahmslos behandelt, bei 30% wird selten, dagegen bei 17% der Kliniken häufig über den Einsatz operativer Methoden diskutiert. Selbst bei ultra-kleinen Frühgeborenen wird nur in einem Drittel der Kliniken immer eine Maximaltherapie durchgeführt, bei zwei Drittel dagegen wird im Einzelfall abgewogen. 30% diskutieren häufig über den Einsatz einer Intensivtherapie. Besonders kontrovers werden jedoch Osteogenesis imperfecta letalis, Trisomie 18 und Potter Syndrom beurteilt, denn hier wird in fast ebenso vielen Kliniken generell nie behandelt, wie andere grundsätzlich ohne Diskussion behandeln (Zimmermann 1997). Bonfranchi erweckt immer wieder den Eindruck, man könne sich auf der Suche nach der richtigen Moral auf faktische institutionelle Regelungen beziehen: »Tatsache ist […], dass es neugeborene Babys gibt, die schwerstbehindert sind und leiden und die durch selektive Nichtbehandlung in unseren Spitälern passiv dem Tod überlassen werden (müssen). Diese sogenannte passive Euthanasie erscheint mir nun in der Tat diskussionswürdig zu sein bzw. geworden zu sein.« (Bonfranchi 1997b: 7)

Wer jedoch empirische Sachverhalte zur Grundlage moralischer Entscheidungen macht, fügt sich in die Faktizität vorherrschender zweckrationaler Erwägungen der modernen Medizin. Ethik kann nicht nur mit Verweisen auf gelebte Praxisstrukturen und Einstellungsmuster begründet werden, sondern muss mit faktizitätsenthobenen Begründungszusammenhängen operieren. Ansonsten ergibt sich ein Konzept ohne Grundlagen und Sicherheit.

L ebensschut z als verleugne ter T ötungswunsch ? In seinen begründungstheoretischen Überlegungen zum Lebensschutz hat Bonfranchi den Gefühlen und Intuitionen eine wichtige Rolle bei der Beurteilung von moralischen Handlungsweisen eingeräumt. Sie dienen ihm als

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

Argument, um den Befürwortern einer aktiven Sterbehilfe vorzuhalten, sie widersprächen mit ihrem Lösungsansatz den in unserer Kultur gewachsenen Normen und Regeln. Die »aktive Euthanasie sollte verweigert werden, weil sie uns in emotionale Zwangslagen führt« (Bonfranchi 1997b: 104). Bonfranchi plädiert dafür, »bei den jetzt gängigen Verfahrensweisen zu bleiben« (ebd.). Gleichzeitig konterkariert er seine begründungstheoretischen Überlegungen zur Moral mit einer weiteren Behauptung: »Wir stellen […] fest, es gibt ein nicht zu unterschätzendes Potential an unbewussten und bewussten Tötungswünschen gegenüber Behinderten von Seiten Nichtbehinderter. Es ist das Bestreben Nichtbehinderter, vermeintlichen Behinderungen und ihre Träger verdrängen, d.h. töten zu wollen. Diese Tatsache ist für unser eigenes emotionales Empfinden, das auf der Basis christlich abendländischer Kultur geprägt ist, ungeheuerlich und im eigenen Bewusstsein nicht auszuhalten. Wir müssen uns deshalb gewisser Mechanismen bedienen, um diesen Tötungswunsch gesellschaftlich legitimieren zu können.« (Bonfranchi 1992b: 627f.)

Anfänglich setzte Bonfranchi diese Behauptung noch als Argument gegen Singer ein. Er vermutete, dass viele Singer aus »falschem Mitleid« zustimmen würden: »Es geht, so vermute ich, um unsere unbewussten Todeswünsche, die wir gegenüber einem behinderten Menschen hegen. Diese unbewussten Strömungen sind vermutlich der Nährboden, auf dem die Singer’schen Thesen wachsen und weitertransportiert werden können. Er rührt an einer Stelle in uns, die wir normalerweise verdrängt haben und die in ihrer verbalen Ausprägung zu ungeheuerlich für uns wäre« (Bonfranchi 1992a: 42).

Und weiter: »Es kann unterstellt werden, dass viele Menschen diesen Thesen insgeheim zustimmen. Das heißt, es wird ihnen ein Gewicht zugemessen, das mit dem Buch Praktische Ethik von Singer (oder Tooley) allein nicht zu erklären ist, denn dessen Aussagekraft ist nach hermeneutischen, aber auch empirischen Kriterien gemessen zu gering.« (Ebd.: 43)

Mittlerweile dreht Bonfranchi den Spieß um. Es sind nicht mehr die möglichen Anhänger Singers, sondern die vermeintlich irrationalen Gegner in der Heilpädagogik, denen kritisch unterstellt wird, sie neigten durch unbewusste Abwehr des Tötungs- bzw. Ablehnungswunsches gegenüber behinderten Menschen zur Suche nach einem Stellvertreter-Konflikt:

97

98

Behinder t sein - behinder t werden »Eine Folge davon ist, dass diejenigen, die es wagen, zum Beispiel über die passive Euthanasie – also die Tötung eines Patienten durch Entzug von medizinischer Behandlung, von Pflege oder Nahrung – auch nur zu reden, mit dem Phantasma (sic!) des Tötungsbeziehungsweise Ablehnungswunsches von Behinderung belegt werden.« (Bonfranchi 1998: 684f.)

Bonfranchi bemüht ein psychoanalytisches Erklärungsmuster, das sich immer wieder großer Beliebtheit erfreut, wenn man andere auf unwiderlegbare Weise diskreditieren möchte. Aus Entrüstungsäußerungen gegenüber Singer und Anstötz werden heftige Abwehrreaktionen herausgelesen, die ein vermeintliches Ablehnungsgefühl gegenüber »Behinderung« nur umso deutlicher zum Ausdruck bringen. Singer und Anstötz sprechen angeblich nur das aus, was in der Bevölkerung und bei Sonderpädagogen als verdrängter Wunsch schlummert. Ein »Denk- oder Sprechverbot, das man über einzelne Personen wie Anstötz oder Singer verhängt, ändert an den Problemen selbst nichts. […] Es lenkt von diesen Problemen sogar ab und verzögert für die Betroffenen tragfähige Lösungen, die sowohl emotional wie rational akzeptiert werden können« (Bonfranchi 1998: 684). Nach Bonfranchi müssen sich die »Nichtbehinderten« fragen, inwieweit sie den Thesen von Singer stillschweigend zustimmen: »Es gilt der Frage nachzugehen, wie stark die zweifellos latent vorhandenen Tötungswünsche gegenüber Menschen mit einer Behinderung manifest werden können, da uns Behinderte ständig daran erinnern, dass wir jederzeit auch selbst behindert werden können und damit gegen das von uns selbst propagierte Leitbild eines ästhetisch vollkommenen Menschen verstoßen würden.« (Bonfranchi 1997a: 39) »Seien wir doch ehrlich, wer kann sich von dem Gedanken freimachen, dass es doch eigentlich gut wäre, wenn es keine Behinderten (mehr) gäbe. Sie ermahnen uns an Unvollständiges, Immer-Leidendes, an Kot, Schleim und an seelisch für uns kaum zu verkraftende Pflegearbeit, die wir aber leisten wollen, und die uns doch mit viel Ambivalenzen erfüllt.« (1992a: 45)

Bonfranchi hat meines Wissens an keiner Stelle diese Behauptung ausreichend begründet, sondern sich stets mit dem Verweis auf andere Quellen (Niedecken 1989; Ehrlich 1993) begnügt. Lediglich in seiner jüngsten Monografie finden wir eine kurze Aufreihung sozialgeschichtlicher Fakten (Bonfranchi 1997a: 41-52). Er zieht die erschreckende Bilanz, dass jeder seines Nächsten Krüppels sei, nachdem er vor dem Leser ein Panorama menschlicher Niedertrachten ausgebreitet hat. Wer immer in seinem Aussehen und Verhalten von dem in der jeweiligen Gesellschaft definierten Maß der Normalität abwich, wurde zum Hässlichen, Bedrohenden, Abstoßenden und Bösen gemacht, dem man sich am liebsten entledigte. Behinderte seien bis heute Monstren (monstrare=hinwei-

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

sen), die auf einen verborgenen Tatbestand hindeuten. Sie wurden mit Zeichen des Unheils und der Sünde, der Entartung und Degeneration belegt. Sucht man bei Bonfranchi nach den Motiven für brutale Tötung, soziale Ausgrenzung, ästhetische Verabscheuung und obszöne Zurschaustellung, so lassen sich im wesentlichen religiöse Einstellungen, rassistische Vorbehalte, medizinisch-eugenische Sichtweisen und sozialhygienische Überlegungen nennen. Bonfranchi glaubt, damit die These belegen zu können, in der Menschheitsgeschichte gäbe es einen immerwährenden Tötungswunsch. Auf wissenschaftlich drängende Fragen, wie unsere Kulturen mit Behinderungen umgehen und welchen symbolischen Zuschreibungen »Behinderte« unterliegen, erhalten wir die Antwort: Der Tötungswunsch gegenüber »Behinderten« ist eine conditio humana. Die Auswirkung von historisch und kulturell divergierenden Weltbildern und Einstellungsmustern auf den Umgang mit Abweichungen interessieren Bonfranchi nur, insoweit sie diese These bestätigen. Angesichts seiner spärlichen psychoanalytischen Erklärungen lohnt sich ein Blick in die sozialpsychologische Studie von Susanne Ehrlich. In Denkverbot als Lebensschutz. Pränatale Diagnostik, Fötale Schädigung und Schwangerschaftsabbruch (1993) untersucht sie die verschiedenen Strategien der Verdrängung und Projektion aggressiver Regungen gegenüber Behinderten (vgl. Ehrlich 1993: 9). Mit Sigmund Freud werden die vorurteilsbeladenen Einstellungsmuster gegenüber behinderten Menschen triebtheoretisch aus der Innenperspektive des unversehrten Individuums abgeleitet. Freuds zentrale Annahme war es, dass der Trieb sich als eine anarchische Macht immer schon im Innern des Verstandessubjekts und seines moralischen Bewusstseins Geltung verschafft. Mit dem gleichzeitigen Versprechen, dadurch das Vermögen der Vernunft und die Macht des Ich zu stärken, hielt er der Tradition einer skeptischen europäischen Aufklärung die Treue. Seine psychologische Dezentrierung menschlicher Subjektivität ruht weitgehend auf den lebensphilosophischen Gedanken Nietzsches, der es bedauert hat, dass die zivilisierten Menschen ihrer natürlichen Instinkte beraubt worden seien und die Kultur gleichsam nur ein dünnes Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos bildet. So hat Freud die Formel »Biologie ist Schicksal« ausgegeben und uns sein pessimistisches Menschenbild in Das Unbehagen der Kultur (1930) offengelegt: »Die Schicksalsfrage der Menschheit scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.« (Freud 1975: 270) Der praktische Sinn des biblischen Gebotes »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« ist von Freud stark bezweifelt worden. Er meinte dazu, dass sich bestenfalls der Nächste als Freund meine Liebe verdienen kann; als Fremder ist er jedoch so lange mein Feind, bis er mich vom Gegenteil überzeugen kann. »Ja, wenn jenes großartige Gebot lauten würde: ›Liebe deinen Nächsten, wie

99

100

Behinder t sein - behinder t werden

dein Nächster dich liebt‹, dann würde ich nicht widersprechen.« (Ebd.: 239) Er schleudert dem Christentum das Hobbes’sche »Homo homini lupus« mit dem Kommentar entgegen: »Wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?« (Ebd.: 240) Ganz in diesem Sinn möchte Ehrlich klären, »aufgrund welcher identitäts- und meinungsbildenden Prozesse die Abgrenzung gegenüber andersartigen und behinderten Menschen sich vollzieht. »Dann kann an die Stelle moralischer Appelle […] die Fähigkeit sowohl der Gesellschaft als auch des Einzelnen treten, Andersartigkeit zu akzeptieren.« (Ehrlich 1993: 32) Die Ablehnung und Distanz gegenüber »Behinderten« interpretiert Ehrlich als Folge einer Abwehrleistung, die das rationale Subjekt gegenüber seinen eigenen Triebansprüchen erbringen muss. Der geistig Behinderte wird zum Stein des Anstoßes, weil er durch sein ungehemmtes und triebbejahendes Verhalten an das eigene Verdrängte erinnert. Da er von der Mühsal befreit ist, sich über Arbeit die Mittel zu seiner Triebbefriedigung selbst zu beschaffen, ruft er bei denjenigen Neid wach, die dem Leistungsdruck dieser Gesellschaft unterworfen sind. Fällt der Behinderte durch körperliche Entstellung auf, so wird eine durch sublimierte Sexualität hervorgerufene Sehnsucht nach Schönheit verletzt und die verdrängte Angst vor körperlicher Versehrtheit wachgerufen. Alles in allem führt die »Unterdrückung der unbewussten Missbilligung […] dazu, dass jene ›Stimmung‹ entsteht, die dann als Diskriminierung, Ablehnung, ja sogar Hass und tödliche Verachtung erlebt wird« (ebd.: 39). »Die Tatsache, dass Behinderte versorgt und anerkannt werden (sollen), ohne eine produktive, zumindest aber normative (Anpassungs-)-Leistung zu erbringen, löst eine Aggressivität aus, die mit jener des älteren Geschwisterkindes gegenüber dem bedingungslos versorgten, ohne alle Verpflichtungen existierenden Säugling zu vergleichen ist. Der eifersüchtige Wunsch des Geschwisterkindes, der Säugling möge sterben und ihm selbst wieder dessen Anteil an mütterlicher Zuwendung zufallen, löst Schuldgefühle aus. Stirbt der Säugling tatsächlich, so fühlt sich das Geschwisterkind schuldig an seinem Tod.« (Ebd.: 198)

Nach Ehrlich werden die Menschen immer dazu neigen, Behinderte als Außenseiter zu betrachten und ihnen mit Vorurteilen zu begegnen, denn Empfindungen und Wahrnehmungen lassen sich ihres Erachtens nicht beeinflussen. Wir können bestenfalls die Umgangsweise mit Aggressionen erlernen, wenn wir aufhören, an der Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie zu arbeiten, die darin besteht, behinderten Menschen eine bedingungslose Wertschätzung entgegenzubringen. So behauptet sie kühn, dass bereits das Nachdenken über die sinngebende gesellschaftliche Rolle des Behindertseins ein gesellschaftlich auferlegtes Verbot befördere, sich die eigenen verdrängten Ressentiments zu vergegenwärtigen: »Insbesondere soll jener Zynismus kri-

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

tisiert werden, der Behinderte und Behinderung eigens herbeiwünscht, um jenen Sinn für die Gesellschaft oder die einzelnen Subjekte zu gewährleisten.« (Ebd.: 33) Auch soziologische Deutungsversuche von Ressentiments sollen an einem kollektiven Verdrängungsprozess innernatürlich bedingter Aggressionen teilhaben. Indem die Soziologie äußere gesellschaftliche Strukturen für Negativeinstellungen gegenüber Behinderten verantwortlich mache, bringe sie die Nichtbehinderten um die Möglichkeit, ihre verdrängten Aggressionen kulturell-ethisch zu überformen. Dieser pauschale Vorwurf wird bei Ehrlich zur üblen Nachrede, wenn sie engagierten Stellvertretern wie Klaus Dörner und Ernst Klee unterstellt, sie würden mit ihrem empathischen Einsatz für die Anerkennung behinderter Menschen eigene aggressive Triebimpulse verbergen. Wer sich um eine größere Akzeptanz behinderter Menschen in unserer Gesellschaft bemüht, hat nach Ehrlichs Ansicht gefälligst zu prüfen, ob er nicht an einem »Helfersyndrom« leide, das sich darin ausdrückt, eine ursprünglich gegen Behinderte gerichtete aggressive Regung in einen höheren Sinn des Behindertseins zu sublimieren. »Akzeptiert man nämlich einen ›höheren Sinn‹ der Behinderung, so verbietet es sich, die Behinderung selbst zu problematisieren.« (Ebd.) Ehrlich übersieht dabei, dass gerade Dörner mit den Instrumentarien der Psychoanalyse den Blick dafür geschärft hat, dass starke positive Affekte und Gefühle oft Reaktionsbildungen an der Oberfläche des Bewusstseins sind, mit denen andere tiefe Regungen in kulturell erwünschte Formen gebracht werden. So spricht er in Tödliches Mitleid (1989) von dem »Mitleid« als einem falschen und gefährlichen Gefühl, hinter dem sich der egoistische Wunsch nach einem entsorgenden leidfreien Leben verbergen kann (vgl. Dörner 1989). In Ehrlichs Schwarz-Weiß-Gemälde gibt es keinen Raum für antinomische Erfahrungen, wie sie in der Erzählung einer Mutter über ihr »ungeliebtes Wunschkind« zum Ausdruck kommen: »Jens, ihm verdanke ich all die Grübeleien und Entdeckungen der vergangenen Zeit, ohne ihn und sein Anderssein wäre ich nicht gezwungen, mich selbst anzuschauen. Keineswegs bin ich glücklich darüber, aber auch nicht unglücklich, ich verliere nicht nur etwas, ich finde auch etwas.« (Dreyer 1993: 87) Überall – in der Behindertenfeindlichkeit ebenso, wie im Engagement für behinderte Menschen – sieht sie gleichermaßen die Gespenster einer individuellen und kollektiven Verdrängung am Werk, mit der das Individuum und die Gesellschaft daran arbeiten, alles vom Bewusstsein fernzuhalten, was ihre Stabilität bedrohen könnte. Ehrlichs und Bonfranchis Ansichten eignen sich vorzüglich als Anschauungsmaterial, um zu zeigen, wie sich mit der machtvollen psychoanalytischen Universalformel von der Verdrängung unbewusster Triebimpulse so gut wie alles in beliebiger Weise kritisieren lässt – nicht nur die brutale Gewalt auf der Straße, sondern eben auch das Eintreten für Minderheiten und der Kampf um Euthanasieverbot (vgl. ebd.: 183ff.).

101

102

Behinder t sein - behinder t werden

L ebensschut z als verordne te Technologieblindheit ? Bonfranchi verdächtigt die professionelle Sonderpädagogik, »die Entstehung der pränatalen Diagnostik sowie der Gentechnologie schlichtweg verschlafen« zu haben (Bonfranchi 1992b: 625; 1997a: 15). »Sonderpädagogen sollten sich in Zukunft vermehrt an solchen Forschungsvorhaben wie eben z.B. Gentechnologie bzw. Pränatal-Diagnostik beteiligen bzw. sich darin einmischen. Es wäre ihre Pflicht und Schuldigkeit.« (Ebd.) Die Hoffnung trüge, durch eigene Professionalisierungsbestrebungen vorhandene Insuffizienzgefühle gegenüber einer übermächtigen Medizin abbauen zu können. Dagegen hält es Bonfranchi für angebracht, sich an »diesen Forschungen bzw. der Konzeptualisierung der betreffenden Forschungsdesigns« zu beteiligen (ebd.: 626). Doch ist die Heilpädagogik meines Erachtens mit der ethischen Bewertung der Biotechnologien überfordert, sobald sie den Widerstreit mit deren wissenschaftlichen Vertretern zugunsten einer Beteiligung an Anwendungsprogrammen aufgibt. Der Heilpädagoge würde ebenso rasch wie der Biowissenschaftler als Moralsubjekt hinter jenen Versuchsmodellen verschwinden, die ihm die Anwendungspraxis vorschreiben. Darf sich die Heilpädagogik der bioethischen Bewertung dieser Technologien und ihrer Frage »Was können wir tun?« naiv anschließen? Würde sie dann nicht die Techniken, auf die sie sich bezieht, wie einen Sortimentkatalog betrachten und damit dem Machbaren Sinn verleihen? Als Stellvertreter behinderter Menschen hat sie einen parteiischen Standpunkt zu beziehen. Im Gegensatz zur Bioethik muss sie sich zuallererst die Frage zu stellen, warum etwas zum lösungsbedürftigen Problem geworden ist, das die Aufmerksamkeit einer Öffentlichkeit auf sich zieht. Jeder neutrale Versuch bioethischer Bewertung der Entschlüsselung des menschlichen Genoms, der Regelung der Anwendung von Gentherapien, der Legitimität von Reproduktionstechniken in der Medizin, der sozialen Folgen der vorgeburtlichen Diagnosen usw. führt in ein Vexierspiel (vgl. Bayertz 1996). Einerseits kann man sie preisen, weil sie uns die Möglichkeit eröffnen, ein tieferes Verständnis der molekularen Grundlagen von Krankheit und Behinderung und eine Modernisierung medizinischer Diagnostik und Therapie herbeizuführen. – So können Eltern durch spezielle Beratung frühzeitig auf besondere Anforderungen und gezielte Fördermöglichkeiten vorbereitet werden. Andererseits verrät man mit der Befürwortung ihrer Anwendung mühsam erkämpfte moralische und rechtliche Ansprüche von potenziellen und tatsächlich behinderten Menschen. Sie erweitern unsere individuellen und sozialen Möglichkeiten ebenso, wie sie fürsorgliche Bestrebungen in der Gesellschaft lähmen (vgl. Leist 1990: 9). Bonfranchis widersprüchliche Aussagen zur Pränatalen Diagnostik (PND) geben ein beredsames Zeugnis davon ab, wie man sich im Labyrinth dieser Technologie verlieren kann. Außerdem wird für den sorgfältigen Leser seine

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

unterschiedliche Haltung offensichtlich. Im internen Fachdiskurs entwickelt Bonfranchi einen eindeutig kritischen Standpunkt gegenüber der PränatalDiagnostik. Dagegen bringt er ihr gegenüber im Kontakt mit Experten Verständnis auf: »Ich wage zu behaupten, dass durch die Existenz der Pränatalen Diagnostik das Lebensrecht behinderter Menschen in unserer Gesellschaft nachhaltiger gefährdet sein wird als durch die Diskussion um die sogenannte ›neue Euthanasie‹.« (Bonfranchi 1997a: 73) Bonfranchi fordert, dass die Heilpädagogik zum Boykott der Pränatal-Diagnostik aufrufen bzw. wenigstens eine Diskussion darüber in Gang zu setzen versuchen sollte: »Eine Frau bzw. ein Paar hat kein Recht auf ein normgerechtes Wunschkind, das sowieso – wie alle Menschen – ständig von möglichen Schicksalsschlägen in seiner wunschgemäßen Form bedroht ist« (ebd.). Weiterhin entwickelt er mit der Behauptung, es gäbe einen logischen Automatismus auf dem Weg von der Pränatal-Diagnostik zum Infantizid (ebd.: 77), ein fragwürdiges Dammbruch-Argument. In feierlicher Sprache formuliert er seinen Aufruf: »Ich plädiere deshalb für einen Boykott der Pränatalen Diagnostik und für ein Zurückgewinnen der verlorenen Ehrfurcht vor dem Leben und der Natur.« (Ebd.: 79) An anderer Stelle neigt Bonfranchi zu nüchternem Pragmatismus. Zur Tatsache, dass die Pränatal-Diagnostik in der Bevölkerung auf immer größere Akzeptanz stößt, heißt es knapp: »Dies kann meines Erachtens nicht verurteilt werden, denn, um es offen auszusprechen, auch ich selbst würde mit großer Wahrscheinlichkeit das nichtbehinderte Kind wählen, wenn ich als Vater zwischen einem behinderten und einem nichtbehinderten Kind wählen könnte.« (Bonfranchi 1997b: 9) Den allzu großen Kritikern wird ins Stammbuch geschrieben: »Wenn jemand als betroffener Elternteil oder als Sonderpädagoge Behinderung für einen unerwünschten Zustand hält, löst das bei ihm ein schlechtes Gewissen aus. Geht nun jemand hin und sagt, dass er sich kein behindertes Kind wünscht, so wird ihm quasi als Sündenbock die eigene Ablehnung von Behinderung mitaufgebürdet und er wird gleichzeitig als Person diffamiert, am Reden gehindert und somit an den Pranger gestellt, bestraft.« (Ebd.: 10)

Bonfranchi weist auf den Skandal hin, dass hierzulande um das Leben eines Frühgeborenen auch um den Preis iatrogener Schädigungen gerungen wird, während andererseits auf der Grundlage geltenden Rechtes die Möglichkeit des Fetozids offensteht. Ich teile seinen Standpunkt: »Bei der Abtreibung – gleichgültig, ob man nun dafür oder dagegen ist – handelt es sich nach unserem allgemeinen Verständnis immer um einen Sachverhalt, der nur bis zum dritten Schwangerschaftsmonat diskutiert werden kann.« (Bonfranchi 1998: 686) Doch leider kann Bonfranchi diese Äußerung nur ungenügend begrün-

103

104

Behinder t sein - behinder t werden

den, denn er sympathisiert mit Tooleys und Singers analytischer Herleitung, dass einem Wesen, ohne Bewusstsein von sich selbst, das Lebensrecht aus prinzipiellen Gründen abzusprechen ist (vgl. Bonfranchi 1997b: 86, 92). Die Heilpädagogik hätte aber inzwischen ein ausreichendes theoretisches Potenzial, um eine zuverlässige Grenze für das Tötungsverbot aufzustellen bzw. gegenüber der Humangenetik Schranken aufzubauen (vgl. Rödler 1993; Stinkes 1993; Kleinbach 1994; Rösner 1997). Man vermisst bei Bonfranchi wichtige Problemhinweise gegenüber seinen neuen Gesprächspartnern. Wie ist z.B. die Tatsache zu beurteilen, dass es mit der Pränatal-Diagnostik in Verbindung mit dem neuen § 218a Abs.1 StGB zu Fetozid an empfindungsfähigen Kindern mit Spina bifida, Mukoviszidose, Down-Syndrom, Mikrozephalie, Chorea Huntington, Muskeldystrophie, Bluterkrankheiten u.a. kommt? Was soll man davon halten, dass behinderten Menschen mit der Pränatal-Diagnostik unmissverständlich signalisiert wird: »Jemand wie dich wollen wir nicht, einen Menschen mit einer natürlichen ›Ausstattung‹ zur Welt zu bringen, wie du sie uns vor Augen führst, finden wir unerträglich.« (Kuhlmann 1996: 161). Wie lässt sich verhindern, dass Eltern in Zukunft eine Wunschkindmentalität ausbilden, die mit der Berufung auf ihr Selbstbestimmungsrecht über die Forderung nach einem gesunden Kind weit hinausgeht? Mit Hilfe des Genomprojekts will man in Zukunft nicht nur schwere monogenetische Erkrankungen prognostizieren, sondern Prädispositionen für verbreitete Gesundheitsstörungen wie Krebs, Herzerkrankungen, mentale Störungen, Bluthochdruck, Diabetes, Alkoholismus, Verhaltensauffälligkeiten usw. Das Verhältnis zur »kurativen« Medizin hat damit einen grundlegenden Wandel erfahren. Eine »prädiktive« Medizin soll die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung mittels genetischer Tests langfristig auf ein neues Niveau anheben. Durch besondere Untersuchungsverfahren ist es schon möglich, fetale Zellen aus dem mütterlichen Blut zu isolieren. Somit werden risikoreiche Eingriffe in das Fruchtwasser oder die Plazenta (nach der 12. Schwangerschaftswoche) schon bald der Vergangenheit angehören. Mit dem 1996 vorgestellten »DNA-Chip« ist bereits eine Synthese von Computer- und Gentechnologie gelungen, mit der in wenigen Jahren die vollautomatische Analyse des kompletten Genbestandes eines Menschen möglich sein wird (Henn 1998). Es wird keine Rolle spielen, ob von der Diagnose eines bestimmten genetischen Zustandes bestimmte Merkmale gleich welcher Art prognostiziert werden können, oder ob die vererbten DNA-Strukturen nur im Zusammenspiel mit anderen kausalen Faktoren an der Entwicklung von Krankheiten oder Verhaltensweisen beteiligt sind. Allein der wissenschaftlich vermittelte öffentliche Konsens über genetische Dispositionen genügt, um aus einer Hermeneutik des Verdachts eine Technik identifizierender Kontrolle werden zu lassen.

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik »Die Genetiker und Mediziner können eine Politik der vollendeten Tatsachen praktizieren und haben schon immer längst überholt, was in Öffentlichkeit und Enquete-Kommissionen noch als Neuestes verhandelt wird. Sie sind überdies Partei. Denn die Gentechnik muss die Forschung vom Danach, von ihrer Anwendung her modellieren. Forschungsfreiheit setzt Anwendungsfreiheit […] voraus.« (Beck 1988: 40)

In der aktuellen Diskussion über die Gefahren einer neuen Eugenik wird immer wieder der Einwand laut: Eine biologisch am gesunden Volkskörper orientierte Rassenhygiene ist durch eine kulturalistisch am Selbstbestimmungsrecht des Individuums orientierte Humangenetik abgelöst worden. Wenn davon gesprochen wird, dass sich mit der modernen Molekularbiologie und Humangenetik eine neue Eugenik etabliert habe, werde darüber hinweggetäuscht, dass heute die Frauen und Paare nicht dazu genötigt werden, die Angebote einer Biomedizin zu nutzen (vgl. Kuhlmann 1996: 28). Für die modernen Gesellschaften gelte aber, dass das Recht auf individuelle Selbstbestimmung in allen Fragen der persönlichen Lebensführung eine Errungenschaft darstellt, die nur um den Preis der Anwendung illegitimer staatlicher Zwangsmaßnahmen rückgängig gemacht werden kann. Es wird versichert, dass sich die biotechnologischen Strategien der Eugenik als rassenhygienischer Wissenschaft mit den Legitimationsanforderungen einer demokratisch verfassten Gesellschaft nicht vereinbaren lassen. Die moderne Humangenetik verfolge kein darwinistisch-populationsgenetisches Interesse an Höherzüchtung, sondern diene dem genetisch-klinischen Interesse an der Verhinderung schwerer Erbkrankheiten. Gleichwohl kann damit jedoch noch nicht von einem Ende des eugenischen Denkens die Rede sein. Vielmehr müssen wir heute davon ausgehen, dass sich langfristig eugenische Ziele eleganter mit einer auf das individuelle Selbstbestimmungsrecht bezogenen Strategie verfolgen lassen. Der moderne Begriff der Selbstbestimmung enthält die trügerische Suggestion einer Autonomie, mittels der der Mensch in dem Maße glücklich wird, wie er imstande ist, jede Einzelheit des Lebens und den Zeitpunkt seines Todes planmäßig bestimmen zu können. Im Namen des selbstbestimmten Individuums werden heute die Wünsche des Einzelnen zu einer über jeden Zweifel erhabenen wahrheits- und authentizitätserhabenen Instanz ethisch verklärt. Als ob sie sich wie durch Zauberhand nunmehr jenseits gesellschaftlich imprägnierter Machtzusammenhänge herausbilden würden. Der moderne Vorsorgestaat hat eine hedonistische Gesellschaft hervorgebracht, in der die Menschen eine Vollkaskomentalität und eine Pflicht zum Glücklichsein entwickelt haben. Sie beugen sich zunehmend dem terroristischen Imperativ, dass Behinderung, Krankheit und Leiden nicht zum Leben zählen. Da die Medizin in vielen Fällen dieser Moral nicht entsprechen kann, soll das Leiden beseitigt werden, indem man sich des Leidenden entledigt.

105

106

Behinder t sein - behinder t werden

Die moderne Reproduktionsmedizin arbeitet daran, die Stigmatisierung und Marginalisierung von »Behinderten« als vermeidbare Ausnahmeexistenzen voranzutreiben. So vollzieht sich ein gleitender Übergang von ehemaligen rassenhygienischen Gesichtspunkten zu neuen eugenischen Tendenzen auf der Grundlage übersteigerter Ansprüche an körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit. Damit geht der Traum von einer »Sozialeugenik« in Erfüllung, die keines äußeren Zwangs und keiner staatlichen Bevormundung bedarf (vgl. Kautsky 1910: 266). Der paradigmatische Wechsel von der »Rasse als Wertprinzip« (Lenz 1933) zur Humangenetik vollzog sich unter dem Einfluss der American Eugenics Society (AES) in den USA der fünfziger Jahre. Ihr Präsident Frederick Osborn entwickelte bereits 1937 das Konzept einer Eugenik ohne Zwangsmaßnahmen. Er war davon überzeugt, dass sich in einem reformierten Sozialstaat mit hohem Lebensstandard, gesundheitspolitischer Aufklärung und verbesserter Verhütungsmethoden ein verantwortungsethisches Bewusstsein für genetische Qualitätskontrolle ausbreiten würde: »Das eugenische Ideal fordert eine Gesellschaft, die so organisiert ist, dass die eugenische Selektion als selbstverständlicher und weitgehend unbewusster Prozess stattfindet.« (Osborn 1940: 297, zit.n. Wess 1992: 75) Nicht durch Massenbewegung oder gesetzliche Maßnahmen, sondern durch die Etablierung humanwissenschaftlich orientierter Sozialtechnologien – Humangenetik, Anthropologie, Fortpflanzungsmedizin, Bevölkerungsstatistik, Psychologie und eben auch der Heilpädagogik – ließe sich die Spannung zwischen Einzel- und Gemeinwohl in idealer Weise auflösen.

L iter atur Bayertz, K (Hg.) (1996): Moralischer Konsens. Technische Eingriffe in die menschliche Fortpflanzung als Modellfall. Frankfurt a.M. Beck, Ulrich (1988): Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt a.M. Birnbacher, Dieter (1990): Tun und Unterlassen. Stuttgart. Bleidick, Ulrich (1995): Theorie der Behindertenpädagogik. Handbuch der Sonderpädagogik. Bd.1. Berlin. Bonfranchi, Riccardo (1992a): »Ethik und Behinderung«, in: Behindertenpädagogik 31, S. 41-51. Bonfranchi, Riccardo (1992b): »Die Mitschuld der Sonderpädagogik an der ›Neuen Euthanasie‹«, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 43, S. 625-628. Bonfranchi, Riccardo (1993): »Welche Konsequenzen zieht die Sonderpädagogik aus der Diskussion um die ›Neue Euthanasie‹?«, in: Christian Mürner u.a. (Hg.), S. 75-96.

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

Bonfranchi, Riccardo (1996): Rezension zu N. Hoerster. In: Universitas 51, S. 1028-1029. Bonfranchi, Riccardo (1997a): Löst sich die Sonderpädagogik auf? Luzern. Bonfranchi, Riccardo (Hg.) (1997b): Zwischen allen Stühlen. Die Kontroverse zu Ethik und Behinderung. Erlangen. Bonfranchi, Riccardo (1998): »Nach zehn Jahren. Rückblick auf die Diskussion um Peter Singer«, in: Universitas 53, S. 681-690. Bundesärztekammer (Hg.) (1998): Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung vom 11.09., S. 1-6. Canguilhem, George (1994): Das Normale und das Pathologische. München. Dörner, Klaus (1989): Tödliches Mitleid. Gütersloh. Dreyer, Petra (1993): Ungeliebtes Wunschkind. Frankfurt a.M. Eberwein, Hans (Hg.) (1996): Einführung in die Integrationspädagogik. Interdisziplinäre Zugangsweisen sowie Aspekte universitärer Ausbildung von Lehrern und Diplompädagogen. Weinheim. Ehrlich, Susanne (1993): Denkverbot als Lebensschutz. Pränatale Diagnostik, fötale Schädigung und Schwangerschaftsabbruch. Opladen. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1978): Subversion des Wissens. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1993): »Leben machen und sterben lassen. Zur Genealogie des Rassismus«, in: Lettre International. Frühjahr, S. 62-67. Freud, Sigmund (1975): Das Unbehagen in der Kultur. (1930) Studienausgabe. Band IX. Frankfurt a.M., S. 197-270. Fuchs, Thomas (1997): »Was heißt ›Töten‹? Die Sinnstruktur ärztlichen Handelns bei passiver und aktiver Euthanasie«, in: Ethik in der Medizin 9, S. 279-290. Georgens, Jan Daniel/Deinhardt, Heinrich M. (1861): Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten (2 Bde.) Bd. 1 Leipzig. Hegselmann, Rainer, Merkel, Reinhard (Hg.) (1991): Zur Debatte über Euthanasie. Beiträge und Stellungnahmen. Frankfurt a.M. Henn, Wolfram (1998): »Der DNA-Chip -Schlüsseltechnologie für ethisch problematische neue Formen genetischer Screenings?«, in: Ethik in der Medizin 10, S. 128-137. Hoerster, Norbert (1995): Neugeborene und das Recht auf Leben. Frankfurt a.M. Hoerster, Norbert (1996): »Ist menschliches Leben unverfügbar?«, in: Universitas 51, S. 443-448.

107

108

Behinder t sein - behinder t werden

Kautsky, Karl (1910): Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft. Stuttgart. Kleinbach, Karlheinz (1994): Zur ethischen Begründung einer Praxis der Geistigbehindertenpädagogik. Heilbrunn. Kobi, Emil E. (1991): »Vom Grenznutzen des Utilitarismus und den Nutzungsgrenzen des Inutilen«, in: Christian Mürner (Hg.), S. 51-73. Kuhlmann, Andreas (1996): Abtreibung und Selbstbestimmung. Die Intervention der Medizin. Frankfurt a.M. Leist, Anton (1990): Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord. Frankfurt a.M. Lenz, Fritz (1933): Die Rasse als Wertprinzip. Zur Erneuerung der Ethik. München. Lenzen, Dieter (1991): Krankheit als Erfindung. Medizinische Eingriffe in die Kultur. Frankfurt a.M. Möckel, Andreas (1988): Geschichte der Heilpädagogik. Stuttgart. Möckel, Andreas/Adam, Heidemarie/Adam, Gottfried (Hg.) (1997): Quellen zur Erziehung von Kindern mit geistiger Behinderung. Bd. 1: 19. Jahrhundert. Würzburg. Moor, Paul (1974): Heilpädagogik. Ein pädagogisches Lehrbuch. Bern, Stuttgart, Wien. Mürner, Christian (Hg.) (1991): Ethik. Genetik. Behinderung. Kritische Beiträge aus der Schweiz. Luzern. Mürner, Christian, Schriber, Susanne (Hg.) (1993): Selbstkritik der Sonderpädagogik. Stellvertretung und Selbstbestimmung. Luzern. Osborn, Frederick (1940): Preface to Eugenics. New-York. Rachels, James (1989): »Aktive und passive Sterbehilfe«, in: Hans-Martin Sass (Hg.), S. 254-264. Rödler, Peter (1993): Menschen, lebenslang auf Hilfe anderer angewiesen. Grundlagen einer allgemeinen basalen Pädagogik. Frankfurt a.M. Rösner, Hans-Uwe (1997): »Selbstsorge und Sorge für den Anderen. Ethische Überlegungen zum Behindersein«, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 48, S. 46-54. Sass, Hans-Martin (Hg.) (1989): Medizin und Ethik. Stuttgart. Schopenhauer, Arthur (1988): Sämtliche Werke. Vierter Band. Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik. Mannheim. Speck, Otto (1996): System Heilpädagogik. Eine ökologisch reflexive Grundlegung. Dritte, völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage. München, Basel. Stein, Anne-Dore (Hg.) (1992): Lebensqualität statt Qualitätskontrolle menschlichen Lebens. Berlin. Stinkes, Ursula (1993): Spuren eines Fremden in der Nähe. Würzburg.

4. Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik

Wess, Ludger (1992): »Eugenik im Zeitalter der Gentechnologie. Vom Zwang zur freiwilligen Inanspruchnahme«, in: Anne-Dore Stein (Hg.), S. 65-82. Zimmermann, Mirjam/Zimmermann, Ruben/Loewenich, Volker von (1997): »Die Behandlungspraxis bei schwerstgeschädigten Neugeborenen und Frühgeborenen an deutschen Kliniken«, in: Ethik in der Medizin 9, S. 5677.

109

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

Zur Kritik der politischen Medizin

»Während ich in der Behinderung etwas Selbstverständliches erlebe, bedeutet sie fast für alle anderen ein schlimmes Unglück. Ich empfinde mich ursprünglich als ›richtig‹ in meinem gelähmten Körper. Er ist die Bedingung meiner Teilnahme am Dasein, das ich nicht weniger lustvoll empfinde als andere. Erst allmählich geht mir zu meinem Schrecken auf, z.B. meine Eltern hatten eigentlich gar nicht mich erwartet, sondern einen anderen, einen Sohn aus dem Bilderbuch mit intakten Gliedern und artikulierter Aussprache.« Fredi Saal (1992: 10)

S e x und R assismus Seit nunmehr zweihundert Jahren ist eine Machttechnologie am Körper des Einzelnen und in der Bevölkerung wirksam, die jedes einseitige Bild vom medizinisch-technischen Fortschritt und der linearen Steigerung von Gesundheit und Lebensglück problematisch erscheinen lässt. Gegenwärtig lässt sich hinter dem offiziellen Geschäft rechtsstaatlicher Politik – auf der kulturellen Ebene der Biowissenschaften – wieder jener eugenische Ungeist wahrnehmen, der schon einmal für das biopolitische Programm moderner Gesellschaften stand. Foucaults historische Untersuchungen zur Bevölkerungsregulation führen mich im Weiteren zu der eher beunruhigenden als provokanten Behauptung, dass das eugenische Denken, verstanden als (staatliche) Regulierung der Phänomene menschlichen Lebens und seiner Fortpflanzung, vielleicht keinen Bruch mit der Tradition liberaldemokratischen Staats- und Regierungsdenken darstellen muss. Möglicherweise wird der biologische Kampf gegen Krankheiten und Behinderungen im Namen einer eugenischen Utopie geführt, die den

112

Behinder t sein - behinder t werden

defekten Körper nicht mehr nur heilen, sondern ihn langfristig durch einen gesteigerten Körper ersetzen will.1 Wie ich bereits dargelegt habe, wird in den modernen Staaten seit dem 18. Jahrhundert die Bevölkerung als beeinflussbare Masse verstanden, die nicht durch Gesetze zum Gehorsam gezwungen werden muss, sondern die wie ein biologischer Organismus erklärt und reguliert werden kann. Auf die Kritik an den Phänomenen der Zivilisation – Pauperisierung der Massen, Urbanisierung und ihre Nebenfolgen, schlechte Arbeitsbedingungen, unzureichende Ernährungslage, mangelhafter Gesundheitszustand, fehlende Hygiene mit der Folge von Krankheiten – folgte u.a. eine demographisch-medizinische Erfassung der Bevölkerung. Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit usw. wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen (vgl. Barthel 1989). Die Moderne vollzog sich von Anbeginn in einem eugenischen Sog, in dem der soziale Fortschritt der Menschheit in der biologischen Natur des Individualkörpers »Individuum« und des Kollektivkörpers »Volk« erfasst wurde. »Der abendländische Mensch lernt allmählich, was es ist, eine lebende Spezies in einer lebenden Welt zu sein, einen Körper zu haben sowie Existenzbedingungen, Lebenserwartungen, eine individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren, und einen Raum in dem man sie optimal verteilen kann. Zum ersten Mal in der Geschichte reflektiert sich das Biologische im Politischen. […] Die ›biologische Modernitätsschwelle‹ einer Gesellschaft liegt dort, wo es in ihren politischen Strategien um die Existenz der Gattung selber geht. […] Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1983: 170f.)

Seit Charles Darwins Von der Entstehung der Arten (1859) kann die soziale Wirklichkeit in den Kategorien eines wissenschaftlichen biologischen Naturgesetzes interpretiert werden. Soziale Probleme brauchen nicht mehr die Folge moderner Lebensbedingungen sein; es kann nun umgekehrt die biologisch gedeutete Degeneration der Bevölkerung zur Ursache von existentiellen Übeln gemacht werden. Während der malthusianische Gedanke einer Reglementierung des quantitativen Bevölkerungswachstums lange schon bekannt war, tritt 1 |  Vgl. Gunter Gebauer (2001): »Es ist nahezu unmöglich geworden, den Körper ohne Zukunftsprojektionen, Verbesserungswünsche, Versprechungen wahrzunehmen und ihn als Projekt des zeitlichen Prozesses von Altern und Vergehen aufzufassen oder ihn aus der utopischen Perspektive herauszunehmen; dies erfordert ein Denken gegen den Strom der Entwicklung. Auf die Körper-Utopien im Diesseits zu verzichten, stellt uns vor das Problem, einen nichtutopischen und nichtmythischen Lebensentwurf zu denken und im eigenen Handeln zu verwirklichen.« (Ebd.: 896)

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

nun die Frage nach einer qualitativen Beeinflussung der Bevölkerung auf. Mit Francis Galtons Eugenics: Its Definition, Scope and Aims (1905) ordnet sich die Eugenik als Wissenschaft zur Steuerung und Kontrolle der menschlichen Erbgesundheit in ein demographisch-medizinisches Wissensfeld ein. Als »Wissenschaft vom guten Erbe« nimmt sie für sich in Anspruch, bestimmen zu können, was als gutes bzw. schlechtes Erbgut zu gelten habe. Krankheiten werden nicht mehr nur als medizinisch behandlungsbedürftiges Leiden behandelt, sondern ebenso als Zivilisationsmerkmale und mögliche Symptome einer unheilvollen Bedrohung des Volkskörpers moralisch verurteilt. Während nach Ansicht der Rassenhygieniker die Heilung einer individuellen Krankheit antiselektorische Folgen zeitigen kann, ließe sich mit der rationalen Kontrolle der Sexualität und Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens einer Bevölkerung an der biologischen Spezies »Mensch« etwas verbessern: »Dass durch unser sexuelles Verhalten auch die erbbiologische Stammesentwicklung beeinflusst wird, diese uns so naheliegende Erkenntnis lag nicht im Gesichtskreis der vordarwinschen Zeit.« (Schallmayer 1909: 211, zit.n. Weingart u.a. 1988: 139) Man wollte die Zeugung »nicht irgendeinem Zufall, einer angeheiterten Stunde überlassen«; sie sollte vielmehr »nach den Grundsätzen, die die Wissenschaft für Zeit und sonstige Bedingungen aufgestellt hat« (Ploetz 1895: 144, zit.n. Weingart u.a. 1988: 139), geregelt werden. Die Handlungsregeln lauteten, entweder »positiv« eugenische Maßnahmen zur Höherzüchtung der Art einzuleiten oder die Degeneration durch »negative« Eugenik zu verhindern. Dabei können sich die Eugeniker »in die bereits eröffnete, im weitesten Sinne bevölkerungspolitische Arena hineindefinieren und brauchen dem bereits etablierten Zielkanon lediglich eine neue Facette hinzuzufügen: die qualitative Bevölkerungspolitik« (Weingart u.a. 1988: 22). Die Aufklärung hat nicht nur die individuelle Freiheit der Liebe und der Wahl des Ehepartners entdeckt. Mit der »Sexualität« hat sie zugleich ein Dispositiv eingerichtet, mit dessen Hilfe man bevölkerungspolitisch wirksam werden kann. Während für eine Standes-Gesellschaft das »Geblüt« den eigentlichen Wert darstellte, um die Erbfolge nachzuweisen, diente dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts der »Sex« zur »Selbstaffirmation« (Foucault 1983: 148). Es setzte dem Geblüt des Adels und dessen alter Sorge um die Wahrung von Standesprivilegien »den Körper, die Stärke, die Langlebigkeit, die Zeugungskraft und die Nachkommenschaft« (ebd.: 148) entgegen. Das Sexualverhalten der Menschen wurde zum Gegenstand und zur Zielscheibe, weil es um Gesundheit, Fortpflanzung, Rasse, Zukunft der Art, Lebenskraft des Gesellschaftskörpers ging. Die »Sexualität« bildete als historisches und kulturelles Phänomen eine Art »Scharnier zwischen beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens« (ebd.: 173): Über die Diskursivierung des Sexualverhaltens konnten sich bis heute die Disziplinartechniken der Körper mit den

113

114

Behinder t sein - behinder t werden

Regulierungsverfahren der Bevölkerung verbinden und eine vollständige politische Verwaltung des Lebens und der Menschen als Lebewesen herbeiführen. In der politischen Verfolgung und in den Versuchen, die Sexualität zu kontrollieren, entfaltete sich zwischen dem Ende des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts ein »großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstärkung der […] Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten« (ebd.: 128). Über mehrere Strategien konstituierten sich die Familien und pädagogischen/medizinischen Institutionen so als Angriffsflächen sexueller Diskursivierung, die in eine Technologie des Lebens einmündete: 1. Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes – In den Familien und Bildungsanstalten des 18. Jahrhunderts wird das Sexuelle der Kinder und Jugendlichen zusehends zum Problem gemacht. Die kindliche Onanie wird wie »eine Epidemie bekämpft, die es einzudämmen« (ebd.: 56f.) gilt. Mit ausgeklügelten »Überwachungseinrichtungen und Fallen« erzwingt man das Geständnis und setzt »unerschöpfliche, korrigierende Diskurse« durch, die nicht dazu führen, dass die Onanie verschwindet, sondern dass »rund um das Kind endlose Durchdringungslinien gezogen« (ebd.: 57) werden. Diese Sexualisierung des Kindes vollzieht sich in Form einer Kampagne für die Gesundheit der Rasse, da in ihr eine epidemische Gefahr vermutet wird, die zur Gefahr für die ganze Gesellschaft und die menschliche Art selbst werden kann. 2. Die Hysterisierung des weiblichen Körpers – Der weibliche Körper wird im 19. Jahrhundert in seiner »organischen Verbindung mit dem Gesellschaftskörper (dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muss), mit dem Raum der Familie (den er als substantielles und funktionales Element mittragen muss) und mit dem Leben der Kinder (das er hervorbringt und das er dank einer die ganze Erziehung währenden biologisch-moralischen Verantwortlichkeit schützen muss« (ebd.: 126) gebracht. Die Medizinierung ihres Körpers und ihres Sexes stand ganz im Zeichen gesunder Nachkommen. 3. Die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens – An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert wird die ehemals christliche Kontrolle der ehelichen Beziehung mit dem moralischen Gebot zu gesunder Lebensführung im Dienste einer Kräftesteigerung des Gesellschaftskörpers verbunden. Über so genannte soziale und steuerliche Maßnahmen wird die Fruchtbarkeit der Paare gefördert oder gezügelt. Durch die Förderung politischer Verantwortung wird ein Interesse am Wachstum bzw. an der Schrumpfung des Gesellschaftskörpers geweckt. Das Gebot zur Übernahme medizinischer Verantwortung verpflichtet die Paare, sich vor schädlichen Einflüssen

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

durch sexuelle Unachtsamkeit zu schützen. So entsteht eine »ganze gesellschaftliche Praktik, die im Staatsrassismus ihre äußerste und systematischste Form erlangt[e]« und der »Technologie des Sexes eine ungeheure Macht und weitreichende Wirkung« (ebd.: 143) verleiht. 4. Die Psychiatrisierung der perversen Lust – In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spaltet sich mit der Psychiatrie eine »Medizin des Sexes« (ebd.: 142) von einer allgemeinen Medizin ab. Damit kommt es zur Isolierung eines sexuellen Triebes, »der selbst ohne organische Veränderung konstitutive Anomalien, erworbene Abweichungen, Schwächen oder pathologische Prozesse aufweisen kann« (ebd.: 142). Der Sexualtrieb wird auf seine Anomalien hin analysiert und auf eine besondere Natur des jeweiligen Individuums bezogen. Dadurch spezifiziert man ihn zugleich nach eingekörperten Perversionen. »Die Medizin der Perversionen und die Programme der Eugenik bildeten innerhalb der Technologie des Sexes die beiden großen Neuerungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese beiden Errungenschaften fügten sich gut zusammen, weil die Theorie der ›Entartung‹ sie aufeinander verweist. Diese Theorie liefert die Erklärung dafür, wie eine drückende Vererbung verschiedener Krankheiten […] schließlich einen Sexualperversen hervorbringt« bzw. wie »eine sexuelle Perversion zu einer Erschöpfung der Nachkommenschaft führt.« (Ebd.: 142f.)

Aus dem eugenischen Denken resultierte das biologische Thema »des Kampfes ums Leben […], um Kampf im biologischen Sinn, um Differenzierung der Arten, Selektion des Stärksten, Bewahrung der am besten angepassten Rasse usw.« (Foucault 1986: 49f.). Es ermöglicht einem Staat, der nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, eine nichtmilitärische Beziehung zwischen dem eigenen Leben und dem Tod des Anderen. Die Gesellschaft wurde unter diesem Blickwinkel zu einer Formation, die »biologisch monistisch ist. […] Das sind die Fremden, die sich eingeschlichen haben, das sind die Abweisenden; das sind die Nebenprodukte dieser Gesellschaft. Der Staat […] wird zum Schützer der Integrität, Überlegenheit und Reinheit der Rasse« (ebd. 50). Er schaffte es mit Hilfe eines Ensembles von Institutionen, Diskursen und Praktiken, die um das menschliche Sexual- und Fortpflanzungsverhalten zentriert sind. Mit den rassenhygienischen »Träumen von der Vervollkommnung der Art« schlug »das gesamte Problem des Blutes in eine Zwangsbewirtschaftung des Sexes« (Foucault 1983, 177) um. Das revolutionäre Bürgertum hatte die Besonderheiten des aristokratischen Geblüts ausgelöscht. Mit der Rassenidee in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Herausbildung des nationalsozialistischen Staates wurde jedoch die »Symbolik des Blutes« (ebd.) im Volkskörper als Gemeinschaft der Fruchtbarkeit, Gesundheit und Langlebigkeit neu herauf beschworen. Aus der

115

116

Behinder t sein - behinder t werden

»mythischen Sorge um die Reinheit des Blutes und den Triumph der Rasse« vollzog man mittels disziplinarischer Machtmechanismen eine »eugenische Reglementierung der Gesellschaft« (ebd.: 178). Die Funktionsweise des Rassismus beruhte dabei auf der binären Logik innerhalb der Spezies »Mensch« bestimmte Rassen als gut und andere als minderwertig zu beurteilen. Er stellt eine Art und Weise dar, innerhalb der Bevölkerung Gruppen gegeneinander zu differenzieren. Mit dieser Logik etabliert er »eine positive Beziehung vom Typ ›je mehr du töten wirst, umso mehr wirst du sterben machen‹, oder ›je mehr du sterben lässt, umso mehr wirst du eben deswegen leben‹ […]« (Foucault 1999: 295). Dabei garantierte der Tod des Anderen als Vertreter einer degenerierten oder anormalen Rasse nicht nur die persönliche Sicherheit, sondern die Sicherheit des gesunden Lebens im Allgemeinen. Nach Foucault bedarf der Rassismus keiner Lügen oder Ideologien, um sich zu rechtfertigen. Vielmehr muss er nur der inneren Logik der Bio-Macht bis zum Exzess folgen. »Rasse, Rassismus ist die Bedingung für die Akzeptanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft« (ebd.: 296). Seine Legitimation lautet, dass der Staat die Bereiche des Lebens nur schützen, verbessern und absichern kann, wenn er sie biologisch kultiviert. Je mehr die minderwertigen Glieder im Volkskörper verschwinden und je mehr die Anormalen eliminiert werden, umso weniger Degenerierte wird es im Verhältnis zur Bevölkerung geben. Im Namen einer lebenssteigernden Macht setzt er auf die biologisch-medizinische Reinigung des Gesellschaftskörpers. Sie wird zum natürlichen Erfordernis staatlichen Handelns, da die Abweichung von der Norm eine lebenszerstörende Gefahr darstellt. »Im Großen und Ganzen sichert der Rassismus, denke ich, die Funktion des Todes in der Ökonomie der Bio-Macht gemäß dem Prinzip, dass der Tod der Anderen die biologische Selbst-Stärkung bedeutet, insofern man Mitglied einer Rasse oder Bevölkerung ist, insofern man Element einer einheitlichen und lebendigen Pluralität ist.« (Ebd.: 299)

Soviel zum Staatsrassimus! Doch gibt es nicht auch einen Rassismus ohne Nationalismus und folglich auch ohne staatlichen Auftrag, einen Rassismus, der nicht mehr einer Technologie des Sexes zu seiner Entfaltung bedarf, sondern einer Strategie zur Vermeidung des genetischen Risikos; einen Rassismus, der auf der (zwischen-)menschlichen Basis von Vormundschaft, Elternliebe und Selbstbestimmung als Technologie der Genetifizierung seine Wirkung entfaltet? An dieser Frage orientieren sich meine weiteren Überlegungen.

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

D as E nde der N atürlichkeit Normalität und Natürlichkeit werden oft synonym verwendet. »Das bürgerliche Ideal der Natürlichkeit meint nicht die amorphe Natur, sondern die Tugend der Mitte.« (Horkheimer/Adorno 1980: 31) Je mehr unsere Lebenswelt von Technik beeinflusst wird und je mehr wir deren Folgen als bedrohlich wahrnehmen, desto mehr steigt der Gegenbegriff »Natur« als Leitwert und Sinngarant auf, mit dem sich öffentlichkeitswirksam Kritik und Widerstand mobilisieren lässt. Seine Faszination scheint darin zu liegen, dass er im Meer der Komplexität »eine Norm der richtigen Ordnung suggeriert – ähnlich wohl wie einmal der Begriff Kosmos« (Bolz 2001: 772). Die Liebhaber einer unverfügbaren Natur im Menschen berufen sich heilsorgend auf das kritische Paradigma der Naturbeherrschung. Doch die Waffen der Kritik, mit der man sich auf Natürlichkeit als einen Rest des Menschentums beruft, sind mittlerweile stumpf geworden. Die menschliche Natur gibt keine objektive Norm vor, an der sich richtiges Handeln orientieren könnte. Nur menschliche Begriffe und Kriterien können uns darüber belehren, auf wen oder was wir in unserem Handeln Rücksicht zu nehmen haben. Die ethische Annahme, eine menschliche Natur qua Körper könnte uns sagen, was sein soll, erweist sich als ein »naturalistischer Fehlschluss«, mit der man ebenso Kritik über Formen innerer Naturbeherrschung an Menschen mit Behinderungen üben kann, wie sich auch Argumente für den hybriden instrumentellen Einsatz von Diagnose und Therapie bei ihnen rechtfertigen lassen. Im Namen der Natur können sich die einen auf ein rational-empirisches Wissen als Basis für die Befreiung des Menschen aus der bedrohlichen Abhängigkeit eines unnatürlich-versehrten Körpers berufen; die anderen können Kritik daran üben, indem sie ihrerseits einen natürlich-versehrten Körper zugrunde legen, der durch Zivilisation und instrumentelle Vernunft entstellt wird. Eine »Naturethik« in dem Sinne, dass sich aus der Faktizität der menschlichen Natur ein Sollen ableiten ließe, kann es nicht geben. Hinter der Rechtfertigung des »Natürlichen« als objektiver Wahrheit, steckt die Arglist, an die Stelle moralischer Auseinandersetzungen Pseudoerkenntnisse zu setzen. Aus der menschlichen Natur lässt sich kein sittliches Eigenrecht auf Schonung oder Förderung ableiten. Gleichwohl machen manche den Vorschlag, den Begriff »Natur« moralisch rein zu belassen, indem sie sich aller Bewertung enthalten: »Wer bedenkt schon, dass Krankheit wie Behinderung ›natürliche‹ Ereignisse sind? Einfach zu unterstellen, bei Behinderung seien ›der Natur‹ grobe Fehler unterlaufen, sie habe alles falsch gemacht, ist reichlich kühn.« (Krebs/Dörr 1994: 11) Mit dieser Vorstellung, der geschädigte Körper sei normal, weil er natürlich ist, wird freilich übersehen, dass wir Natur niemals außerhalb normativer Wertungen wahrnehmen können. Wer sagt, dass Behinderungen natürlich und

117

118

Behinder t sein - behinder t werden

daher normal seien, begibt sich in Teufels Küche. Im Namen einer geheiligten Natur muss er konsequenterweise allen diagnostischen und therapeutischen Versuchen zur Rehabilitation und Heilung die Legitimation absprechen und den problematischen Schluss ziehen: »Werden Diagnostik und auch Therapie instrumentell als Mittel zur Feststellung bzw. Wiederherstellung von sogenannten Normalfunktionen benutzt […], kann Menschsein mit einer Behinderung nur als unerwünscht, sinnlos, unzumutbar und letztlich sogar so ›eingestuft‹ werden, dass es tunlichst schon präventiv zu verhindern sei ›rechtzeitige‹ Tötung nicht ausgeschlossen.« (Ebd.: 11)

Die Frage, mit welchen technischen Mitteln der Diagnose und Therapie wir leben wollen, lässt sich nicht mit einem wertfreien Begriff von Natur und Natürlichkeit beantworten. »Natur« hat keine ursprüngliche Bedeutung, von der sich ableiten lässt, was normal ist. Die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens wird immer an die Bedingungen einer deskriptiv-normativen Auseinandersetzung mit Natur gebunden bleiben. Der Gedanke, es gebe eine Natur, deren ethische Substanz in einer vor aller Kultur liegenden Wahrheit begründet liegt, ruht auf den beiden traditionellen Entgegensetzungen von Natur und Kultur bzw. Subjekt und Objekt. Wir müssen uns aber von dem Gedanken verabschieden, es gäbe einen ungetrübten Spiegel der Natur als Objekt, deren zeitlose und vor allen Diskursen liegende Regeln durch den Menschen als Subjekt kulturell angeeignet werden können (Derrida 1983; Rorty 1987). Die romantische Vorstellung einer unterdrückten und zu befreienden Natürlichkeit ist der Einsicht gewichen, dass der natürliche Körper nicht nachträglich mit einer Bedeutung versehen werden kann. Auch ihn gibt es nur als Wissenskörper und damit als performativer Effekt gesellschaftlicher Praktiken. Der Körper als »gesellschaftlich produzierte und einzige sinnliche Manifestation der ›Person‹ gilt gemeinhin als natürlicher Ausdruck der innersten Natur – und doch gibt es an ihm kein einziges bloß ›physisches Mal‹« (Bourdieu 1982: 310). Natur hat bereits eine Transsubstantiation in Zeichen erfahren, die nicht mehr abbilden, sondern produziert werden. Mit der experimentellen Anordnung des Körpers in den Biowissenschaften wurde das Reale zum beliebig wiederholbaren Zeichen gemacht.2 Mit der seriellen Produktion bildet es als 2 | Vgl. Jean Baudrillard (1982): »Die wirkliche Definition des Realen lautet: das, wovon man eine äquivalente Reproduktion herstellen kann. Sie entsteht zur gleichen Zeit wie die Wissenschaft, die postuliert, dass ein Vorgang unter gegebenen Bedingungen exakt reproduziert werden kann […]. Am Ende dieses Entwicklungsprozesses der Reproduzierbarkeit ist das Reale nicht nur das, was reproduziert werden kann, sondern das, was immer schon reproduziert ist. Hyperreal.« (Ebd.: 116)

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

Zeichen die materielle Voraussetzung mit sich identischer Produkte. Daher müssen wir uns vor einem Mythos hüten, in dem das körperliche Dasein von Menschen mit einer Behinderung zum Natürlichen gemacht wird. Die Begriffe »natürlich« und »normal« repräsentieren nichts, was außerhalb gesellschaftlicher Zuschreibungen liegt. »Was wir meinen, wenn wir sagen, dass für geschädigte Menschen ihr Körper ›normal‹ sei, ist doch, dass er ihnen vertraut ist, dass er ihnen ›recht‹ ist; dass ihnen von außen veranlasste Veränderungen an ihrem Körper fremd sind, dass es nur die anderen sind, die ihren Körper anders, eben normentsprechend wollen.« (Jetter 1997: 46)

Die Vergleiche zwischen Natürlichem und Gesellschaftlichem werden von einer kulturellen Position aus gezogen, in der die Bewunderung gegenüber den vermeintlichen Resten unverfügter Natur bereits zum Luxus totaler Mobilmachung gehört.3 Es ist daher vorbei mit der Behauptung, dass die Macht nur Kontrolle über die menschliche Natur ausübt. In ihrem heißen Kern will sie im Namen des »guten Lebens« menschliche Natur machen (Sloterdijk 1989). Die postmoderne Mobilmachung von machender Natur vollzieht sich seit längerem auf der Grundlage einer ökologischen Kritik an der unterdrückten Natur. Die modernen Machtverhältnisse funktionieren gerade deshalb, weil man sich im Namen eines humanistischen Befreiungsdiskurses auf dieses romantische Konzept einer durch Gesellschaft unterdrückten menschlichen Naturform beruft. Mit dem Ende der Vorstellung von einer zu befreienden Natur als »ethischer Substanz« wächst freilich die Gefahr, jegliche Skrupel gegenüber den technischen Potentialen der Biowissenschaften zu verlieren und den Begriff der Menschenwürde als »semantische Altlast« (Jongen 2001) zu entsorgen. So begeistern sich inzwischen kanadische Sektierer, kalifornische Transhumanisten und Sloterdijk-Jünger in je eigener Weise daran, auf moralische Reflexion zu verzichten. Stattdessen wollen sie in »kreative Intelligenz« investieren und Nietzsches Ruf folgen, »uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen« (Nietzsche 1980: 468).4 Vergesellschaf3 | Gero von Randow weist auf eine Paradoxie in den naturethischen Ansätzen hin: »Wenn das Natürliche das Richtige wäre, dann wäre eine ausdifferenzierte Moral stets unrichtig, denn sie ist nicht Natur, sondern Kultur. Rechnete man hingegen die Moral zur Natur des Menschen, dann folgerichtigerweise die gesamte Kultur; der Unterschied von Natur und Kultur wäre aufgelöst, und es gäbe kein Außerhalb mehr, von dem aus das Unnatürliche abgelehnt werden könnte. Natur ist kein Kriterium.« (Randow: 28.12.2000) 4 | Vgl. Marc Jongen (2001): »Als das ›nicht festgestellte Tier‹ ist der Mensch in dem Maß, als er zu sich selbst findet, dazu verurteilt, sich zu er-finden, denn er ist nichts anderes als dieses Sich-Erfinden. Diesen im ›Wesen des Menschen‹ gründenden Zug

119

120

Behinder t sein - behinder t werden

tung wird einzig unter dem Vorzeichen eines technischen Schicksalszwanges begriffen, um moralische Fragen zur normativen Regelung des Zusammenlebens vergessen machen zu können. Jede »Ethik der Verweigerung, des Tabus oder der Umkehr« erscheint ihnen insofern als »hilflose Donquichotterie« innerhalb einer von permanenter moralischer Überforderung und der Frage »Was sollten wir tun?« entlastender »autopoietischen Natur-Kultur-Maschine« (Jongen 2001). Kann uns hier nur noch das Eingedenken einer unverfügbaren menschlichen Natur helfen oder der Appell, das endlose Spiel eines reduplizierenden Bezugs auf etwas, das nie anwesend war, zu beenden?5 Jürgen Habermas gibt mit seinem neuen Buch Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? (2001)6 eine mögliche Antwort auf diese Frage. Seines Erachtens drängen uns die neuen Technologien einen öffentlichen Diskurs »über das richtige Verständnis der kulturellen Lebensform als solcher auf. Und Philosophen haben keine guten Gründe mehr, diesen Streitgegenstand Biowissenschaftlern und Science-Fiction-begeisterten Ingenieuren zu überlassen« (ebd.: 33). Habermas sucht nach einem »minimalen gattungsethischen Selbstverständnis« (ebd.: 74), das ohne die »Errichtung künstlicher Tabuschranken, also eine Wiederverzauberung der inneren Natur« (ebd.: 49) als Begründung gegen eine molekulargenetische Programmierung menschlicher Natur auskommt. Auf der einen Seite sieht er mit der »Moralisierung der menschlichen Natur« (ebd.: 46) die Gefahr eines »dumpfen antimodernistischen Widerstandes« verbunden; auf der anderen Seite möchte er jedoch der Verschmelzung der elterlichen Chromosomensätze »ein gewisses Maß an Kontingenz und Naturwüchsigkeit« sichern (ebd.: 49). In diesem Sinne spricht er sich entschieden dagegen aus, durch »merkmalsverändernde gentechnische Eingriffe« in den »Modus unseres Lebens« einzugreifen (ebd.: 123). Seines Erachtens lässt sich der Begriff der Menschenwürde zwar nur auf Personen beziehen, die in zur Selbsttranszendenz bildet den nüchtern logischen Kern von Nietzsches berüchtigter Lehre vom Übermenschen, die erst heute, im Horizont ihrer technischen Umsetzbarkeit, ihr volles prophetisches Potential entfaltet.« 5 | Vgl. Jacques Derrida (1983: 244): »Die begehrte Präsenz entzieht sich uns im Gestus der Sprache, durch den wir uns ihrer bemächtigen wollen.« 6 | Soweit ich sehe, schlägt Habermas (2001) seine Moralphilosophie in das Gewand eines mit Kierkegaard versetzten jungen Hegel: Mit seiner Rückbindung aller Moral an Ressourcen des Selbstseinkönnens (Kierkegaard) und der reziprok-symmetrischen Anerkennung (Hegel), erhebt er den Anspruch, allgemeine Maßstäbe für das gattungsethische Selbstverständnis des Menschen gefunden zu haben. Freilich kann er diesen sittlichen Maßstäben nur insoweit universelle Geltung zusprechen, als sie sich in ihrer Kontextualität, Historizität und Kontingenz bisher noch als alternativlos bewährt haben.

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft die Anlage zu einer vernunftbegabten Person entwickeln können; das will jedoch nicht heißen, dass sich »jenseits der Grenzen einer strikt verstandenen Gemeinschaft moralischer Personen« eine Grauzone erstrecke, »in der wir normativ rücksichtslos handeln und ungehemmt hantieren dürften« (ebd.: 68). Auch wenn ein Embryo als vorpersonales Wesen keine Menschenwürde besitze und damit den Status einer Rechtsperson nicht erreiche, so sei er dennoch insoweit »unverfügbar« (ebd.: 59), als er für eine »Technisierung der menschlichen Natur« (ebd.: 46) nicht zur Verfügung stehen dürfe. Die Notwendigkeit einer »Moralisierung der menschlichen Natur« ergibt sich für Habermas letztlich aus folgenden Bedenken: »Die Genmanipulation könnte unser Selbstverständnis als Gattungswesen so verändern, dass mit dem Angriff auf moderne Rechts- und Moralvorstellungen zugleich nicht hintergehbare normative Grundlagen der gesellschaftlichen Integration getroffen würden« (ebd.: 50f.); freilich nur insoweit diese Techniken »sich durch einen Eingewöhnungsprozess ganz aus dem Zusammenhang therapeutischen, an den Einzelnen adressierten Handelns emanzipieren« (ebd.: 123) und damit den Tatbestand einer »liberalen Eugenik« (ebd.: 93) erfüllen: »Solange der medizinische Eingriff vom klinischen Ziel der Heilung einer Krankheit oder der Vorsorge für ein gesundes Leben dirigiert wird, kann der Behandelnde das Einverständnis des – präventiv behandelten – Patienten unterstellen. Die Konsensunterstellung überführt egozentrisch gesteuertes in kommunikatives Handeln. Der intervenierende Humangenetiker braucht den Embryo, solange er sich als Arzt versteht, nicht in der objektivierenden Einstellung des Technikers wie eine Sache zu betrachten, die hergestellt, repariert oder in eine erwünschte Richtung gelenkt wird. Er kann in der performativen Einstellung eines Interaktionsteilnehmers antizipieren, dass die künftige Person das grundsätzlich anfechtbare Ziel der Behandlung bejahen würde.« (Ebd.: 91f.)

Habermas ist also davon überzeugt, dass es einen internen Zusammenhang zwischen einer Unverfügbarkeit der biologischen Grundlage personaler Identität und unserem Selbstverständnis als Gattungswesen gibt, das darin besteht, »uns auch weiterhin als ungeteilte Autoren unserer Lebensgeschichte verstehen zu können und »uns gegenseitig als autonom handelnde Personen anerkennen« zu können (ebd.: 49). Aus der Sicht einer »gattungsethisch erweiterten Sorge um sich selbst«, müsse es darum gehen, unsere »kommunikativ strukturierte Lebensform intakt zu halten« (ebd.: 122). Mit der liberalen Eugenik komme es dagegen zu einer Entdifferenzierung von bisher selbstverständlichen kategorialen Unterscheidungen: zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Naturwüchsigem und Gemachtem. Habermas bezieht sich dabei auf Hanna Arendts Begriff der Natalität, um die Notwenigkeit einer Unverfügbarkeit menschlicher Natur für die Freiheit des Einzelnen hervorzu-

121

122

Behinder t sein - behinder t werden

heben: Danach setze mit der Geburt eine Differenzierung ein zwischen dem Sozialisationsschicksal einer Person und dem Naturschicksal ihres Organismus. Die weitere Differenzierung von Aktiv und Passiv, Bewirken und Geschehen, Eigenem und Fremdem sei nur möglich auf der Grundlage, dass sich der junge Mensch mit einem als naturwüchsig erfahrenen Leib identifiziere (ebd.: 101). Dagegen sei die genetisch programmierte Person im Vergleich zu herkömmlichen Prägungen durch Sozialisation nicht in der Lage, zu Veränderungen ihrer Erbanlagen Korrekturen vorzunehmen. In der Folge verbleibe sie in einer uneinholbaren Asymmetrie gegenüber ihren Erzeugern, auf die sie nur mit Ressentiment oder Fatalismus reagieren könne. »Das genetische Programm ist eine stumme und in gewissem Sinne unbeantwortbare Tatsache; denn der, der mit genetisch fixierten Absichten hadert, kann sich nicht wie natürlich geborene Personen im Laufe einer reflexiv angeeigneten und willentlich kontinuierten Lebensgeschichte zu ihren Begabungen (und Behinderungen) so verhalten, dass sie ihr Selbstverständnis revidiert und auf die Ausgangslage eine produktive Antwort findet.« (Ebd.: 108)

V erlockungen der A nthropotechnik 7 Habermas hat in seiner Friedenspreisrede vom 14.10.2001 eindringlich vor dem Verlust der Freiheit durch die Möglichkeiten der Biomedizin gewarnt. Damit erteilt er allen eugenischen Merkmalsplanungen, wie sie Peter Sloterdijk in seinem berühmt-berüchtigten Vortrag auf dem bayerischen Schloss Elmau (1999) unterstellt werden, eine deutliche Absage. Sloterdijk hatte dort über »Regeln für den Menschenpark« nachgedacht. In vielen überregionalen Zeitungen sah man darin einen Eklat und warf dem Autor elitär anmutende Züchtungsfantasien vor. Der Angeklagte sah sich seinerseits als Opfer eines Marionettentheaters und warf Habermas vor, zwischen Hamburg und Jerusalem umhertelefoniert und »Alarmartikel« in Auftrag gegeben zu haben. Habermas wies diesen Vorwurf schroff von sich und beargwöhnt seither Sloterdijks Rechtfertigungen8 als Augenwischerei, mit der uns vorgetäuscht werde, 7 | Der Terminus Anthropotechnik stammt ursprünglich von Peter Sloterdijk (1999). Er verwendet ihn nicht nur im engeren Sinne als Synonym für das Konzept einer biotechnologischen Merkmalsplanung. Vielmehr stehe er »für ein klar umrissenes Theorem der historischen Anthropologie: nach ihm ist der Mensch von Grund auf ein Produkt und kann daher in den engen Grenzen bisherigen Wissens nur verstanden werden, wenn man seinen Produktionsverfahren analytisch nachgeht« (Sloterdijk 2001c: 12f.). 8 | Vgl. dazu eine jüngere Äußerung von Sloterdijk: »Man muss kein Kantianer sein, um zu verstehen, dass Menschen nicht Mittel sein dürfen, schon gar nicht Mittelglieder in

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

die Rede habe als solche mit Fantasien über die sogenannte Menschenzüchtung nichts zu tun. Soweit ich sehe, verfolgt Sloterdijk in seiner Menschenparkrede die Absicht, von Heidegger aus, über »die Humanität jenseits der humanistischen Harmlosigkeit« (Sloterdijk 1999: 11) nachzudenken. »Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben ist, wer oder was die Erzieher wozu erzieht? Oder lässt sich die Frage nach der Hegung und Formung des Menschen im Rahmen bloßer Zähmungs- und Erziehungstheorien gar nicht mehr auf kompetente Weise stellen?« (Ebd.: 9)

Mit seiner letzten Frage geht Sloterdijk über Heidegger hinaus. Unter Bezugnahme auf Nietzsche zeichnet er das Bild einer (Bio-)Technologie, die als »seinsgeschichtliches Geschick« (Heidegger 1981: 31) nicht nur zähmend, sondern auch züchtend wirksam wird. Durch das Zarathustra-Projekt werde »der humanistische Horizont gesprengt, sofern der Humanismus niemals weiter denken kann und darf als bis zur Zähmungs- und Erziehungsfrage.« Denn Nietzsche nehme »Maß an den zurückliegenden tausendjährigen Prozessen, in denen bisher dank intimer Verschränkungen von Züchtung, Zähmung und Erziehung Menschenproduktion betrieben wurde – in einem Betrieb freilich, der sich weitgehend unsichtbar zu machen wusste und der unter der Maske der Schule das Projekt Domestikation zum Gegenstand hatte« (Sloterdijk 1999: 11). Nach Sloterdijk lassen die molekularbiologischen Anthropotechniken die neuzeitliche Vorstellung von einer Differenz zwischen Zähmung und Züchtung als eine allzu lange gehegte Illusion erkennbar werden. So sei bereits »die umweltdistanzierende Technik der Vormenschen und erst recht der beginnenden Menschen immer schon indirekte Gen-Technik gewesen (Sloterdijk 2001c: 47).« Auch ermöglichten die menschenbildenden Großmächte der Schrift und des Lesens nicht nur »einen telekommunikativen Brückenschlag« (Sloterdijk 1999: 4) zu einer Politik der Freundschaft. Stets war dort auch eine »Macht hinter der Macht im Spiel«: Auch »wenn es uns bis auf weiteres […] unmöglich scheint, den Zusammenhang zwischen Lesen und Auslesen hinreichend präzise zu rekonstruieren, so ist es doch mehr als eine unverbindliche Ahnung, dass dieser Zusammenhang als solcher seine Realität besitzt« (ebd.: 11f.). Die Humanitas beinhalte nicht nur »die Freundschaft des Menschen mit dem Meneiner Züchtungssequenz, sondern dass sie in jeder Lebenslage, in jeder Kultur und in jeder Zeit ihren Daseinszweck in sich selber tragen.« (Sloterdijk/Heinrichs 2001: 131)

123

124

Behinder t sein - behinder t werden

schen«, sondern ebenso die Tatsache, »dass der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.« Insofern komme es in Zukunft darauf an, in die als Machtspiel wahrgenommene Anthropogenese einzugreifen und einen »Codex der Anthropotechniken zu formulieren« (ebd.: 12). Die Elmauer Rede hinterlässt in der Tat einen irritierenden Eindruck. Sloterdijk liefert dort eine universalgeschichtlich angelegte anthropologische Beschreibung des Menschen als einer zur Selbstzähmung qua Technik (nicht qua Moral) verdammten Bestie. Vor diesem Hintergrund entwirft er das Bild einer Gesellschaft, die sich auf autopoietische oder treibhausähnliche Weise als Menschenzüchtungspark reproduziert. Es enthält die kulturpessimistische Suggestion, als stünden wir heute am Ende einer moralitätsgenerierenden Gutenberg-Technologie und als könnten uns nun nur noch die neuen Anthropotechniken vor einem Rückfall in die Barbarei retten.9 »Moderne Großgesellschaften können ihre politische und kulturelle Synthesis nur noch marginal über literarische, briefliche, humanistische Medien produzieren. […] Es sind inzwischen neue Medien der politisch-kulturellen Telekommunikation in Führung gegangen, die das Schema der schriftgeborenen Freundschaften auf ein bescheidenes Maß zurückgedrängt haben.« (Ebd.: 5)

Auf dieser Grundlage plädiert Sloterdijk inzwischen für das Ende »antitechnologischer« Hysterie« (2001a: 106). Sie beruhe auf der überkommenen Vorstellung, es gäbe den Menschen als ein »Herrensubjekt, das über eine dienende Materie Macht ausübt« (ebd.: 107). Dagegen gelte umgekehrt: »Wenn ›es‹ den Menschen gibt, dann weil eine Technik ihn aus der Vormenschheit hat herauskommen lassen. Sie ist das eigentlich Menschen-Gebende oder der plan, auf dem es Menschen geben kann. Daher geschieht den Menschen nichts Fremdes, wenn sie sich weiterer Hervorbringungen und Manipulationen aussetzen, und sie tun nichts Perverses, wenn sie sich autotechnisch verändern, vorausgesetzt diese Eingriffe und Hilfen geschehen auf einer so hohen Ebene von Einsicht in die biologische und soziale 9 | Vgl. dazu die polemische Reaktion von Habermas (2001, 43). Er bezeichnet Sloterdijk als einen von »nietzscheanischen Phantasien« geprägten »Selbstdarsteller«, der im »›Kampf zwischen den Kleinzüchtern und den Großzüchtern des Menschen‹ den ›Grundkonflikt aller Zukunft‹« sehe »und den ›kulturellen Hauptfraktionen‹ Mut« mache, »›die Selektionsmacht auszuüben, die sie faktisch errungen haben […].‹« Während der Fertigstellung der Druckvorlage zur vorliegenden Arbeit ist von Sloterdijk (2001d) eine Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen unter dem Titel Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger erschienen. Soweit ich sehe, wurde darin die ältere Fassung der Rede Regeln für den Menschenpark gründlich umgeschrieben und in den Kontext einer umfassenden anthropologischen Auseinandersetzung mit Heidegger gestellt.

5. Jenseits normalisierender Anerkennung ›Natur‹ des Menschen, dass sie als authentische, kluge und gewinnende Koproduktionen mit dem evolutionären Potential wirksam werden können.« (Ebd.)

In Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft heißt es: »Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art. […] Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen.« (Nietzsche 1980: 468f.) In diesem Sinne sieht Sloterdijk in den Anthropotechniken eine Art »Homöotechniken« (Sloterdijk 2001a: 109) am Werk. Sie sollen sich von den bisherigen »Alltotechniken« (ebd.) insoweit unterscheiden, als sie keine gewaltsamen und kontranaturalen Einschnitte in das Vorgefundene mehr ausführen.10 Sie sollen nun leisten, was Götter, Priester und Pädagogen nicht geschafft haben: Homöotechnik »greift Intelligenz intelligent auf und erzeugt neue Zustände von Intelligenz; sie hat Erfolg als Nicht-Ignoranz gegen verkörperte Qualitäten« (ebd.). Nach Sloterdijk soll jetzt zum ersten Mal die Schwelle erreicht sein, wo sich die Technik in einer naturähnlichen Weise vollzieht, indem sie sich »in Eigenproduktionen des Lebendigen« einschleust. Wir werden nun »Zeugen dessen, dass mit den intelligenten Technologien eine nicht-herrische Form von Operativität im Entstehen ist« (ebd.: 108), in der man »es mit real existierenden Informationen zu tun hat« (ebd.: 109). Insofern hat sich für Sloterdijk die Frage nach dem ethischen Gehalt der Anthropotechniken bereits entschieden: Sie besitzen das »das Potential […], eine Ethik der feindlosen und herrschaftsfreien Beziehungen freizusetzen« (ebd.: 111).11 10 | Im Gegensatz dazu waren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno noch der Überzeugung, dass der Zivilisationsprozess unwiderruflich »die Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus« hervorbringe: »Der Körper ist nicht wieder zurückzuverwandeln in den Leib. Er bleibt die Leiche, auch wenn er noch so sehr ertüchtigt wird. Die Transformation ins Tote, die in seinem Namen sich anzeigt, war ein Teil des perennierenden Prozesses, der Natur zu Stoff und Materie machte.« (Adorno/Horkheimer 1980: 208f.) 11 | In Zeitungsinterviews warnt Sloterdijk zwar vor einer »mediokratischen Gesellschaft«; auch wendet er sich unmissverständlich gegen »biologische Optimierungskonzepte«; gleichwohl findet er es »mindestens genauso skandalös, dass überhaupt missgebildete Kinder aus der Hand der Evolution hervorgehen« und tritt daher für einen »therapeutischen Meliorismus« und ein »Konzept der gestuften Schutzwürdigkeit« ein: »Ich bekomme immer wieder Post von Hilfsorganisationen, die Erbkranke vertreten, und von Angehörigen Erbkranker. Die protestieren sehr bitter gegen den Zynismus der ›Moralpartei‹, die ihnen nahe bringen will: Behaltet eure Krankheiten, die Therapien erscheinen uns ethisch bedenklich.« (Sloterdijk 2000: 41f.) Die Verhütung von schwersten Erbkrankheiten sei »keine heillose Machenschaft, sondern »Ausdruck von Verantwortlichkeit«. Zwischen Pille und Reproduktionstechnologie gebe es nur einen techni-

125

126

Behinder t sein - behinder t werden

Sloterdijk würde wohl jede Vorstellung von einer unverfügbaren menschlichen Natur als eine neue Form religiöser Unterwerfung unter den biologischen Zufall und damit als einen Rückfall in ein »Nicht-Wissen-und-NichtKönnen-Wollen« ablehnen. Er dagegen will nämlich Akzeptanz schaffen für die Plastizität der Natur jenseits der jüdisch-christlichen Tabuvorstellungen. Für Habermas wiederum dürften Sloterdijks Gedanken zu einer Einebnung der absoluten Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf führen. In seiner Friedenspreisrede führt Habermas gute Gründe an, um auf dieser Differenz bestehen zu können: Denn nur solange bedeutet die göttliche Formgebung keine Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in den Arm fällt. Möglicherweise ist es nicht Habermas, sondern Sloterdijk, der einer quasi-religiösen Unterwerfung Vorschub leistet. Die Biotechnologien sind heute dabei, den Platz einer »säkularisierten Religion« (Lemke 2000: 227) einzunehmen. Sie haben das Universum göttlicher Gesetze durch eine »Metaphysik des Codes« (Baudrillard 1982, 90ff.) ersetzt. Dabei werden sie ebenso wirkungsmächtig sein wie alle bisherigen theologisch-politischen Heilserwartungen. Ihre zunehmende Überzeugungskraft verdanken sie nämlich der Tatsache, dass sie »dem wissenschaftlichen Fortschritt einen sakralen Charakter« verleihen können (Lemke 2000: 227). Gottes Schöpfungskraft entpuppt sich als auflösbares biogenetisches Betriebsgeheimnis. Der genetische Code hat die verlassene Stelle des Göttlichen eingenommen und bestimmt über unser Schicksal und unsere Zukunft: »Wie das corpus christi mysticum ist das Gen Zeichen und Fleisch zugleich, eine Metapher für den individuellen und kollektiven Körper, und es bietet das Versprechen einer fleischlichen Unsterblichkeit. Wie Hostie und Heiliges Abendmahl macht es das Göttliche ›gegenwärtig‹, es birgt die Erlösung von der ›Erbsünde‹ (erbliche Krankheit oder Behinderung). Und wie bei der Transsubstantiation verspricht es wundersame Verwandlungen und ›Wunderheilungen‹. […] Mit dem unsterblichen Gen wird die christliche ›Auferstehung des Fleisches‹ Wirklichkeit – und zwar auf Erden.« (Braun 2000: 17)

schen Unterschied. Sloterdijk möchte, dass nicht auf der Grundlage des Prinzips der »Menschenwürde«, sondern der Grundlage von »Elternliebe« und »Vormundschaft« im Einzelfall über »Tests per DNA-Chip, Embryo-Diagnostik und Gentherapie« entschieden wird: »Bei der biologischen Zuwanderung lag die Rolle der Grenzbeamten seit jeher bei den Müttern; sie spielen die Rolle der Einwanderungsoffiziere, die darüber entscheiden, wer hereingelassen wird und wer nicht; das war und ist ein unvordenkliches Recht der Frauen. Über diese Tatsachen muss man sich verständigen, bevor man anfängt über Prinzipien zu reden.« (Sloterdijk 2001b: 6f.)

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

Im Vergleich zum molekurarbiologischen Lauschangriff durch Genchips mutet die mittelalterliche Seelenbefragung der Priester geradezu harmlos an. Diese fingernagelgroßen Glasplättchen, auf denen zehntausende winziger Antennen aus Erbmolekülen angebracht sind, werden schon bald eine gründlichere und rationalere Selbstentzifferung des Subjekts bewerkstelligen. »Das Ziel dieser genetischen Pastorat liegt nicht mehr in einem jenseitigen Heil, sondern verspricht Heilung von diesseitigen Übeln und – bei guter Führung – Wohlbefinden und Wohlstand, Gesundheit und Glück« (Lemke 2000: 227). Während die Theologen den Leib immer nur verschieden entziffert haben, kommt es den Gentechnikern nun darauf an, ihn zu verändern. Seit der Aufklärung ist Biologie nicht mehr nur Schicksal (Freud), sondern Ausgangsmaterial, um mit Hilfe moderner Technologien ein Kunstwerk zu formen. Während Psychologie und Pädagogik bisher daran gescheitert sind, die anthropologische Frage nach der Conditio humana zu beantworten, können die Humangenetiker mit ihrer Disziplin nun die Hoffnung ausstreuen, mit der vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Genoms eine endgültige Antwort darauf zu finden.12 Nunmehr soll das Wesen des Menschen nicht mehr das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse sein; vielmehr sollen seine Gene alle relevanten Informationen des Menschseins enthalten und uns darüber aufklären, wer sich zukünftig als gen-behindert zu betrachten hat und wer nicht.

M edizinische P olitik der vollende ten Tatsachen Die Medizin ist schon lange keine Heilkunst mehr, die sich am Menschen orientiert, sondern eine dem Zwang der Rationalisierung und der Logik technologischer Steigerung folgende Produktivkraft. In Verbindung mit der Fortpflanzungstechnologie begreift sie das menschliche Leben nicht mehr als eine Organisation mit der eigentümlichen Fähigkeit, sich fortzupflanzen, sondern sieht gerade im Mechanismus der Reproduktion das, was ihr über das vorhandene Lebendige hinaus einen Zugriff auf erwünschtes Leben ermöglicht (vgl. Foucault 1983: 98). Sie schafft sich einen eigenen Markt, der seine Nahrung durch das Verwertungsinteresse der Anleger und den Erfolgsdruck nationaler

12 | Bereits legendär geworden ist eine Formulierung Joshua Lederbergs anlässlich des Ciba-Symposions im Jahre 1963: »Jetzt können wir den Menschen definieren. Gentypisch besteht er jedenfalls aus einer 180 Zentimeter langen bestimmten molekularen Folge von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Sauerstoff-, Stickstoff- und Phosphoratomen – das ist die Länge der DNA, die im Kern des Ursprunges und im Kern jeder reifen Zelle zu einer dichten Spirale gedreht ist, die fünf Milliarden gepaarte Nukleotide lang ist.« (Lederberg 1963: 292)

127

128

Behinder t sein - behinder t werden

Regierungen erhält und dem Prozess öffentlicher normativer Klärung zuvorkommt: »Neue biomedizinische Hilfen werden zunächst eingeführt, um bei einem eng definierten Katalog eindeutiger ›Problemfälle‹ Leiden abzuwenden oder zu mildern. Dann setzt eine Übergangs- und Gewöhnungsphase ein, in deren Verlauf der Anwendungsbereich immer weiter ausgedehnt wird. Das Endstadium ist absehbar: Alle Frauen und Männer werden als potentielle Klienten definiert – jetzt freilich nicht mehr, um direkte Gesundheitsschäden abzuwenden, sondern wegen der ›Effektivitätsvorzüge‹ des technischen Zugriffs über die Zufälle, die Unberechenbarkeiten und Störanfälligkeiten der Natur.« (Beck-Gernsheim 1987: 287f.)

Ihrer Konzeption nach ist die Biomedizin unlöslich mit der Herstellung der menschlichen Natur verbunden. Sie orientiert sich nicht mehr an körperlichen Funktionen und Symptomen, um sie einer Diagnose und anschließenden Therapie zu unterziehen. Ihr Handeln ist operativ durch das Modell der DNA definiert, das im Prinzip bereits die Verhaltensweise codiert, die der Wissenschaftler gegenüber der Natur einnehmen muss. Seine Ergebnisse erfassen die Natur nicht an sich, sondern in Bezug auf ein Modell des menschlichen Lebens. Das Programm im Zellkern alles Lebendigen soll es Biologie und Medizin erlauben, nach Belieben über den Rohstoff menschliche Natur zu verfügen. Insofern können Biowissenschaftler nicht mehr als verantwortlich im ethischen Sinne für das angesehen werden, was als Ergebnis bei ihrer Tätigkeit herauskommt. Sie sind lediglich für die wissenschaftsimmanente Einhaltung von operativen Regeln verantwortlich, nicht jedoch für die ethische Bewertung der Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. Mit der Aufgabe ethischer Bewertung sind sie auch deshalb überfordert, weil sie als Wissenschaftler im Vollzug ihrer Erkenntnisgewinnung geradezu immun gegenüber moralischen Ansprüchen bleiben müssen. Die Biotechnologen verschwinden als verantwortliche Moralsubjekte hinter ihren Versuchsmodellen, die ihnen ihre Anwendungspraxis vorschreiben: »Die Genetiker und Mediziner können eine Politik der vollendeten Tatsachen praktizieren und haben schon immer längst überholt, was in Öffentlichkeit und Enquete-Kommissionen noch als Neuestes verhandelt wird. Sie sind überdies Partei. Denn die Gentechnik muss die Forschung vom Danach, von ihrer Anwendung her modellieren. Forschungsfreiheit setzt Anwendungsfreiheit […] voraus.« (Beck 1988: 40)

Sie unterliegen einem wissenschaftlichen Systemzwang aus Konkurrenz und Leistung, der ihnen nur die Alternative lässt, entweder auszusteigen oder mitzumachen. Als ethisch Handelnde müssen sie zwangsläufig in das moralische Dilemma geraten, die Prinzipien ihres wissenschaftlichen Tuns zu unter-

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

höhlen. »Es widerspricht dem Wesen der amoralischen Methodik moderner Wissenschaft, ethische Fragen als immanente Konstituentia für den Erkenntnisprozess zuzulassen, da sie im Selbstverständnis szientistischer Wahrheit dysfunktional sind.« (König 1996: 237) Während die Vererbungslehre bis zum Zweiten Weltkrieg im Dienst einer eigenständigen biologisch-rassistischen Anthropologie stand, wird nun umgekehrt die moderne Humangenetik zur eigenständigen Anthropologie. Damit die Biowissenschaftler ihre Legitimationsgrundlage nicht verlieren, treten sie offensiv der ethischen Infragestellung ihrer Forschungsmethoden und ihrer Anwendungsvorhaben entgegen. Eigentlich müsste man erwarten können, dass sie dabei eine besonders intensive Reflexion über die Verstrickung ihrer Disziplin in die Politik der Nationalsozialisten und die wissenschaftliche Kontinuität in den Nachkriegsjahren entwickeln würden. Doch das ist nicht der Fall (Weingart u.a. 1988, 562ff.). Bis heute will sich die Biowissenschaft die Kontinuität »objektiver« Forschung sichern, indem sie das Märchen vom »politischen Missbrauch« (Propping 1993: 8) einer angeblich wertfreien Wissenschaft vorträgt. Die präventiv- und reproduktionsmedizinischen Zugriffsmöglichkeiten weisen heute freilich starke Analogien zur Eugenik des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf. Etwa im Rahmen der bereits etablierten pränatalen Diagnostik und der kaum noch umstrittenen Präimplantations-Diagnostik, bei der eine Zelle eines im Reagenzglas gezeugten Embryos auf genetische Erkrankungen untersucht wird. In gewissem Sinne kann von einer Wiederkehr der Eugenik ohne staatlichen Auftrag gesprochen werden. Nicht mehr einem Staat und seiner rassistischen Ideologie soll diese Aufgabe obliegen, sondern den Angehörigen oder den Betroffenen selbst, denen man die Verantwortung überträgt, gemeinsam mit beratenden Ärzten über Lebensverbesserung bzw. lebenswertes und lebensunwertes Dasein zu entscheiden. Dabei lassen sich die damaligen Utopien heute technisch auf eine Weise lösen, von der die Nationalsozialisten nur träumen konnten. Mit der Möglichkeit genetischer Prädiktion und Manipulation hat sich das naturwissenschaftliche Wissen in den letzten Jahrzehnten den Bereich der menschlichen Fortpflanzung erobert. Es scheint so, als sei damit das biopolitische Problem moderner Gesellschaften gelöst, nämlich »das Recht auf Mord und die Funktion des Todes« (Foucault 1999: 305) auszuüben, ohne auf rassistische Ideologien zurückgreifen zu müssen. In jüngster Zeit ist ein neuer Zweig der Ethik entstanden: die Bioethik. In dieser Disziplin geht es um Dinge wie die moralische Bewertung der Entschlüsselung des menschlichen Genoms, um die Regelung der Anwendung von Gentherapien, um die Frage nach den Kriterien für die Definition des Todes, um die Möglichkeiten der Organtransplantation, um die Legitimität von Reproduktionstechniken in der Medizin, um die sozialen Folgen der vorgeburtlichen Diagnose, um Möglichkeiten der Sterbehilfe (Abbruch lebensver-

129

130

Behinder t sein - behinder t werden

längernder Maßnahmen bei besonderen Fällen, aktive Sterbehilfe aufgrund eines Tötungswunsches des Patienten, Tötung einwilligungsunfähiger Menschen). Die Vorsilbe stammt aus dem griechischen Wort bios, womit ursprünglich das Leben in seiner natürlichen, kulturellen und geschichtlichen Dimension eingeschlossen ist. Im Gegensatz dazu schließt sich die Bioethik weitgehend einem verkürzten und eingeschränkten Verständnis von Leben an, wie er von der Biomedizin vorgegeben wird. Ihre Antworten bewegen sich innerhalb eines naturwissenschaftlich geprägten Menschenbildes. Anthropologische, philosophische oder kulturwissenschaftliche Bemühungen, das Lebendige zu erfassen, werden systematisch ausgeblendet: Die Bioethik »schöpft ihre Daseinsberechtigung und öffentliche Anerkennung daraus, dass sie Begründungen für das liefert, was technisch machbar ist, und darum auch ohne Bedenken gemacht werden sollte. Sie ›entschuldet‹ in einem Vorwegverfahren die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und bereitet so den Boden für Grenzüberschreitungen und -erweiterungen vor. Sie hat sich damit aus der kritischen Tradition der philosophischen, christlichen und humanistischen Ethik verabschiedet. Das ›Sein‹ vorhandener Machbarkeiten wird zum Maßstab für das ›Sollen‹ und nicht mehr der Entwurf eines guten, mitmenschlichen und lebensdienlichen Zusammenlebens in Freud und Leid.« (Iserloher Aufruf 2000: 9)

Eine überzeugende Ethik kann die Techniken, auf die sie sich bezieht, nicht wie einen Sortimentkatalog betrachten und dem Machbaren Sinn verleihen. Sie muss dem Recht auf Forschungsfreiheit13 da eine Grenze setzen, wo die Kontrolle über die Ziele und die Modalitäten der Forschung einzig in der Verantwortung des Wissenschaftlers liegt. Dabei hat sie Argwohn gegenüber dem Argument zu hegen, dass die Biowissenschaften dem gesellschaftlichen Ziel dienen, die Lebensbedingungen zu verbessern und die allgemeine Gesundheit voranzutreiben. Der Bioethik und ihrer Frage: »Was können wir tun?« kann sie sich nicht länger naiv realistisch anschließen. Gleichzeitig geht es um kulturwissenschaftliche Fragen: »Wie und warum wird etwas zum lösungsbedürftigen sozialen Problem erklärt?« »Welche Produktionsmechanismen sind hier wirksam und welche Machtwirkungen zeigen sich durch den öffentlichen Problematisierungsprozess?« Der moderne Vorsorgestaat hat bis heute eine hedonistische Gesellschaft hervorgebracht, in der die Menschen eine Vollkaskomentalität und eine Pflicht 13 | Vgl. Norbert Campagna (2000): »Forschungsfreiheit kann nicht heißen, dass der Wissenschaftler alles tun kann, was er will. Forschungsfreiheit heißt nur, dass niemand dem Wissenschaftler vorschreiben kann, was als Wahrheit zu gelten hat bzw. welche Forschungsmethode die beste ist, um in einem bestimmten Bereich zur Wahrheit zu gelangen.« (Ebd.: 292)

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

zum Glücklichsein entwickelt haben. Sie sollen zu ihrem eigenen Biounternehmer werden und beugen sich zunehmend dem terroristischen Imperativ, dass Behinderung, Krankheit und Leiden nicht zum Leben zählen. Da die traditionelle Medizin als Heilkunst in vielen Fällen dieser Moral nicht entsprechen kann, soll das Leiden beseitigt werden, indem man sich des Leidenden entledigt. Die moderne Reproduktionsmedizin arbeitet bereits daran, die Stigmatisierung und Marginalisierung von »Behinderten« als vermeidbare Ausnahmeexistenzen voranzutreiben. Auf diese Weise vollzieht sich ein gleitender Übergang von ehemaligen rassenhygienischen Gesichtspunkten zu neuen eugenischen Tendenzen auf der Grundlage übersteigerter Ansprüche an körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit.14 Menschen mit Behinderung mögen Entscheidungen gegen »behindertes« Leben auf der Grundlage vorgeburtlicher Tests möglicherweise nicht unmittelbar auf sich selbst beziehen. Gleichwohl wird dadurch eine konfliktreiche Auseinandersetzung mit den physischen oder psychischen Beeinträchtigungen ihrer Persönlichkeit verstärkt. Es ist durchaus denkbar, dass ihr Behindersein dadurch noch mehr als bisher zu einem konstitutiven Bestandteil eines negativen Selbstbildes wird.

L iter atur Adorno Theodor W./Horkheimer, Max (1980): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. Barthel, Christian (1989): Medizinische Polizey und medizinische Aufklärung. Aspekte des öffentlichen Gesundheitsdiskurses im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York. Baudrillard, Jean (1982): Der symbolische Tausch und der Tod. München. Beck, Ulrich (1988): Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit. Frankfurt a.M. Beck-Gernsheim, Elisabeth (1987): »Ganz normale Familien? Neue Familienstrukturen und neue Interessenkonflikte durch Fortpflanzungstechnologie«, in: Burkhart Lutz (Hg.): Technik und sozialer Wandel. Verhandlun14 | Die steigende Nachfrage nach »Töten auf Verlangen« in den Niederlanden beweist: Wenn einmal diese Praxis freigegeben ist, dann schließt sich ein Zirkel von sozialen Tatsachen und rückläufigen Bedürfnissen. Dann ist vorauszusehen, dass man von alten und kranken Menschen erwartet, dass sie endlich den »selbstbestimmten« Wunsch äußern, getötet zu werden. Wenn einmal ein behinderter Mensch sieht, wie er seinen Mitmenschen zur Last fällt und von der allgemeinen Akzeptanz weiß, solch einen Wunsch zu äußern, dann wird in der Tat für ihn das Weiterleben unerträglich. Seine Bereitschaft, das Leiden zu ertragen, käme einer persönlichen Schuld gleich, da andere Lebenszeit, Kraft und Geld aufwenden müssen, um ihn zu pflegen.

131

132

Behinder t sein - behinder t werden

gen des 23. Deutschen Soziologentages in Hamburg 1986. Frankfurt a.M., S. 277-292. Bolz, Norbert (2001): »Sind Sinnfragen überholt? Der Zerfall des Repräsentativen«, in: Universitas 56, S. 770-780. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. Braun von, Christina (2000): »Heilige Botschaft. Das Gen als Verkörperung Christi«, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 145, 27. Juni. Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a.M. Campagna, Norbert (2000): »Von der Bioethik zum Biorecht – Demokratietheoretische Übersetzungsprobleme«, in: Matthias Kettner (Hg.): Angewandte Ethik als Politikum. Frankfurt a.M., S. 280-310. Derrida, Jacques (1983): Grammatologie. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1986): Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Berlin. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Frankfurt a.M. Gebauer, Gunter (2001): »Körper-Utopien. Neue Mythen des Alltags«, in: Sonderheft Merkur 55, 885-896. Habermas, Jürgen (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a.M. Heidegger, Martin (1981): Über den Humanismus. (1947) Frankfurt a.M. Iserloher Aufruf zum Dialog über eine zukunftsfähige Ethik (leicht gekürzt) (2000): »Eine zukunftsfähige Ethik verschafft kein ruhiges Gewissen. Genforschung, Klonen, Sterbehilfe«, in: Frankfurter Rundschau, 29. Juni, S. 9. Jetter, Karlheinz (1997): »Körper-Kultur und Identitätsentwicklung bei schwerstbehinderten Menschen«, in: Behinderte Heft 2, S. 45-56. Jongen, Marc (2001): »Der Mensch ist sein eigenes Experiment«, in: Die Zeit Nr. 33, 9. König, Eugen (1996): »Kritik des Dopings: der Nihilismus des technologischen Sports und die Antiquiertheit der Sportethik«, in: Gunter Gebauer (Hg.): Olympische Spiele – die andere Utopie der Moderne. Olympia zwischen Kult und Droge. Frankfurt a.M., S. 223-246. Krebs, Heinz/Dörr, Günter (1994): »Einleitung«, in: Therese Neuer-Miebach/ Rudi Tarneden (Hg.): Vom Recht auf Anderssein. Anfragen an pränatale Diagnostik und humangenetische Beratung. Düsseldorf, S. 10-12.

5. Jenseits normalisierender Anerkennung

Lederberg, Joshua (1966): »Die biologische Zukunft des Menschen«, in: Robert Jungk/Hans-Josef Mundt (Hg.): Das umstrittene Experiment: Der Mensch. München, S. 292-301. Lemke, Thomas (2000): »Die Regierung der Risiken. Von der Eugenik zur genetischen Gouvernementalität«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), S. 227-264. Nietzsche, Friedrich (1980): »Die fröhliche Wissenschaft« (1882), in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 3, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München und Berlin/New York. Ploetz, Alfred, J. (1885): Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Bd. 1 der Reihe »Grundlinien einer Rassen-Hygiene«. Berlin. Propping, Peter (1993): »Genetik des Menschen – ein Fach mit problematischer Geschichte«, in: Klaus Zerres/Reinhardt Rüdel (Hg.): Selbsthilfegruppen und Humangenetiker im Dialog. Erwartungen und Befürchtungen. Stuttgart, S. 1-10. Randow von, Gero (2000): »Das Jahr der Biopolitik«, in: Die Zeit Nr. 1, 28. Dezember. Rorty, Richard (1987): Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie. Frankfurt a.M. Saal, Fredi (1992): Warum sollte ich jemand anders sein wollen? Erfahrungen eines Behinderten – biographischer Essay. Gütersloh. Schallmayer, Wilhelm (1909): »Generative Ethik«, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 6, S. 199-231. Sloterdijk, Peter (1989): Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt a.M. Sloterdijk, Peter (1999): »Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus – die Elmauer Rede«, in: Zeitdokument 2, S. 4-15. Sloterdijk, Peter (2000): »Elternliebe statt genetischem Wettrüsten«, in: Bild der Wissenschaft. 10, S. 40-43. Sloterdijk, Peter (2001a): »Der operable Mensch«, in: Stiftung Deutsches Hygiene-Museum und Deutsche Behindertenhilfe – Aktion Mensch e.V. (Hg.): Der (im)perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit. Begleitbuch zur Ausstellung im deutschen Hygiene-Museum vom 20.12.2000 bis 12.08.2001. Ostfildern-Ruit, S. 97-116. Sloterdijk, Peter (2001b): »Ich glaube nicht an den Gott, der Hasenscharten schuf.« Interview, in: Der Tagesspiegel 8.3. Sloterdijk, Peter (2001c): Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie. Weimar.

133

134

Behinder t sein - behinder t werden

Sloterdijk, Peter (2001d): Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger. Frankfurt a.M. Sloterdijk, Peter/Heinrichs, Hans-Jürgen (2001): Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen. Frankfurt a.M. Stein, Anne-Dore (Hg.) (1992): Lebensqualität statt Qualitätskontrolle menschlichen Lebens. Berlin. Weingart, Peter/Kroll, Jürgen/Bayertz, Kurt (2002): Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a.M.

6. Behindertsein als kulturelles Wahr-Zeichen

Umrisse einer dekonstruktiven Kritik

»Wenn man einen Begriff […] in Frage stellt, fragt man danach, welche Funktionen der Begriff erfüllt, was mit ihm auf dem Spiel steht, auf welche Ziele er sich richtet, wie er sich verändert. Das veränderliche Leben des Begriffs bedeutet nicht, dass er nicht zu gebrauchen ist […]. Haben wir nicht eine lähmende Furcht vor der unbekannten Zukunft der Worte, die uns davon abhält, die Begriffe zu befragen, die wir zum Leben brauchen; und die uns daran hindert, das Risiko einzugehen, Begriffe zu leben, die noch ungeklärt sind?« Judith Butler (1998: 229f.)

S chwierigkeiten mit der dekonstruk tiven K ritik Kann die Kategorie »Behinderung« als festgeschriebener Referent für die Auseinandersetzungen in Politik und Wissenschaft gelten, oder wäre es nicht umgekehrt besser, sie als Zeichen der gewaltsamen Identifizierung in Frage zu stellen? Ist der behinderte Körper eine »natürliche Tatsache« oder eine »kulturelle Performanz«? In welcher Weise ist die Macht in der Produktion des binären Rahmens, der das Denken über Behindertsein und Normalität bestimmt, am Werke? Welche Konfiguration von Macht konstruiert die Beziehung zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen? Wie vollzieht sich eine Wahrnehmung, die unentwegt damit beschäftigt ist, Menschen nach diesen kategorialen Einteilungen zu sortieren? Ist Behinderung – festgemacht an körperlichen Zeichen wie Schädigungen und Funktionsausfällen – nur Metapher in einer binär organisierten Matrix »behindert/nichtbehindert«, die u.a. auf die Erkenntnispolitik der modernen Medizin verweist? Welche Möglichkeiten der kulturellen Transformation der Behindertenzugehörigkeit bestehen durch performative Akte der Betroffenen?

136

Behinder t sein - behinder t werden

Wer solche Fragen stellt, problematisiert ein essentialistisches Verständnis von »Behinderung« als natürliche Gegebenheit und unhinterfragbare soziale Tatsache. Es geht ihm darum, die Kategorie »behindert« aus dem Rahmen substantieller Identitätsmodelle herauszunehmen und in einen Kontext zu versetzen, der die Konzeption einer sozialen Zeitlichkeit erfordert. Er fordert dazu auf, Behinderung als veränderbare historische Idee und nicht als feststehendes natürliches Phänomen zu begreifen. »Behinderter« sein heißt für ihn folglich: den Körper zwingen, sich einer historischen Idee von »Behindertsein« anzupassen und ihn einem kulturellen Wahr-Zeichen zu unterwerfen. Behindertsein liegt nicht als prädiskursive Wesenheit der Kultur voraus, sondern bildet ein gesellschaftlich erzeugtes und veränderbares Medium, in dem sich Wissen und Macht in unterschiedlicher Weise vereinen können. Es stellt keinen objektivierbaren Sachverhalt dar, sondern eine Lebensform, die das Sein bestimmter Menschen festlegt. Insofern versteht sich die Dekonstruktion von Behinderung als genealogische Kritik und ethische Bewegung zugleich. Sie beinhaltet das Ziel, das begriffliche Denken von innen her für das zu öffnen, was dieses seit jeher ausgeschlossen hat, um so dem Anderen gerecht werden zu können. In ihrem Selbstverständnis will die Dekonstruktion als Chance verstanden werden, Erziehung und Bildung, Förderung und Therapie, pädagogische Intention und erzieherische Verantwortung neu zu bestimmen. Dieser theoretische Blick für die Konstruiertheit von Existenz im Modus des Behindertseins und der damit einhergehenden Reproduktion von Herrschaft irritiert seit längerem die Heil-, Sonder- oder Behindertenpädagogik. Der Angriff auf das dyadische System »behindert/nichtbehindert« wird als Affront gegenüber Positionen empfunden, die diese Differenz für unhintergehbar halten und der Behindertenseite dieser Differenz zu einer angemessenen Repräsentation verhelfen wollen. Nach wie vor werden Modelle der Konstruktion des Behindertseins bevorzugt, in denen davon ausgegangen wird, dass kulturelle Mächte auf eine gegebene Natur einwirken, die als eine Objektivität außerhalb des Sozialen vorausgesetzt wird. Die anhaltende Irritation hat Tendenzen zu selbstkritischen Veröffentlichungen ausgelöst (vgl. Mürner u.a. 1993, Opp u.a. 1996, Albrecht u.a. 2000, Greving u.a. 2000, Greving u.a. 2002) und auch zu einem gewandelten Verständnis von Behinderung geführt (vgl. Lindmeier 1993). Die Heil- und Sonderpädagogik setzt sich vermehrt damit auseinander, dass sich ihr »Gegenstand« – die Behinderten – nur um den Preis identifizierender Objektivierung und Normalisierung untersuchen lässt (Mattner 2000, Gröschke 2000, Dederich 2001, Rösner 2002). Ein zentraler Streitpunkt ist nach wie vor die Frage, ob Behindertsein im Sinne kulturell unterscheidbarer Zuschreibungen gleichwohl nur auf der Grundlage eines außersprachlichen Referenten Namens »Schädigung« zu verstehen sei. Der biologisch-medizini-

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

sche Aspekt und damit die Tatsache, dass der Referenzpunkt von Behinderungen bei einer Schädigung des Organismus liegt, sind allem Anschein nach von zweifelsfreier und Evidenz. Insofern wundert es auch nicht, dass sich die Kritik an einem dekonstruktivistischen Behinderungsbegriff jeder fachlichen Standortbestimmung entzieht. Markus Dederich, Professor für Heilpädagogik an der Universität zu Köln, weist in diesem Zusammenhang auf die Gefahr paradoxaler Verläufe hin und warnt vor »der doppelten Gefahr zuschreibender, ontologisierender Festlegung einerseits und moralisierender Tabuisierung von Begriffen andererseits« (Dederich 2001: 91). Wenn bestimmte Tatsachen wie Behinderung nicht mehr benannt werden könnten, so Dederich, werde »auch die Möglichkeit erschwert, sich über diese Tatbestände zu verständigen, sich mit den Betroffenen zu solidarisieren und für eine Veränderung der Situation einzutreten.« Er befürchtet, dass »die Überbetonung des Konstruktionsaspekts individueller und kollektiver Lebenswirklichkeiten zumindest einen partiellen Wahrnehmungsverlust gesellschaftlicher Dimensionen nach sich« (ebd., 124) zieht. Erfahre die menschliche Natur eine vollständige Transsubstantiation in kulturell erzeugte Zeichen, so treibe man die Erosion alter Ordnungen voran und begünstige ungewollt die Tendenz, jegliche Skrupel gegenüber einer biotechnologischen und biopolitischen Entfesselungsdynamik zu verlieren (Dederich 2000). Geboten sei daher auch eine »Ethik als Schutzbereich« (Dederich 2002), mit dem Ziel, Menschen mit Behinderungen, psychisch Kranke, altersdemente und komatöse Patienten in ihrem Sosein anzuerkennen und vor Ausschluss zu bewahren. Anton Leist, Professor für praktische Philosophie an der Universität Zürich, wundert sich, dass es der Heil- und Sonderpädagogik, trotz einiger Bemühungen, bis heute nicht gelungen ist, sich auf einen Begriff der Behinderung zu einigen: »Obwohl es doch eigentlich dieser Grundbegriff sein sollte, der die Sonderpädagogik als Disziplin vereint, ist er teils heftig umstritten, teils gilt er für unerklärbar und deshalb uninteressant« (Leist 1997: 17). Leist kritisiert die »Merkwürdigkeit« einer zunehmenden »Wertungshemmung« in der Heil- und Sonderpädagogik und empfiehlt mit Nachdruck, »die bio-medizinische Erfahrung« zu bewahren, »dass Schädigungen (ähnlich wie Krankheiten) nicht einfach sozial wegdefiniert werden können, sondern eine eigenständige Objektivität haben. Die sozialnormative Sicht der Behinderung ist die eine Seite – ihr steht aber eine biologisch-objektive gegenüber. Dass es letztere gibt oder geben könnte, wird manchmal gerade auch in der Sonderpädagogik bestritten oder gar nicht erwogen« (ebd.: 20). Andreas Kuhlmann, Philosoph und freiberuflicher Publizist, fordert auf der Berliner Tagung PhantomSchmerz. Debatten um den (im-)perfekten Menschen im 20. Jahrhundert (30.05.-01.06.2002) zur Auseinandersetzung mit der Frage auf, »ob die Rede über Behinderung nicht allen Realitätsgehalt verliert, wenn geleugnet wird, dass es in vielen Fällen der Beeinträchtigung der Körper

137

138

Behinder t sein - behinder t werden

ist, der die betroffene Person ›behindert‹ – der sie herabzieht und ihre Intentionen durchkreuzt, indem die Ausübung bestimmter Funktionen unmöglich gemacht oder das Gesamtbefinden in Mitleidenschaft gezogen wird« (Kuhlmann 2002). Kuhlmann sieht mit der dekonstruktiven Rede von Behinderung als »sozialem Konstrukt« oder »kulturellem Artefakt‹« eine legitime intellektuelle und moralisch-politische Intention über ihr Ziel hinausschießen. Sie erweise sich gegenüber allen theoretischen Versuchen, die innere Perspektive versehrter Existenz zur Geltung zu bringen als ausgesprochen externe Sicht: »Wenn geleugnet wird, dass die physische und psychische Realität von Behinderung und chronischer Erkrankung mit Ängsten, Entwürdigung, Schmerzen, Mängelerfahrungen aller Art verbunden und diese eben nicht stets einem feindlichen gesellschaftlichen Umfeld anzukreiden sind, dann muss es zu einer Fehlwahrnehmung der realen Bedürftigkeit betroffener Personen kommen.« (Kuhlmann 2001)

Die dekonstruktive Kritik am Behinderungsbegriff wird nicht nur deshalb als problematisch empfunden, weil man glaubt, sie belaste die heilpädagogische Theorie und Praxis. Vielmehr sieht man auch die alltäglichen Lebensumstände der Menschen mit Behinderungen in Gefahr und befürchtet, dass mit dem Wort »Behinderte« künftig nichts anderes zu verbinden sei, als ein unbezeichenbares Feld von Differenzen. Demnach dürfe der Begriff »Behinderung« auch nicht zu einer fluktuierenden, veränderbaren Variablen werden, die sich je nach spezifischen historischen Kontexten transformiere. Es bestünde dann keine Möglichkeit mehr, eine Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Behinderung festzustellen. Letztlich, so die weiteren Bedenken, entziehe man sich damit auch die Grundlage für eine emanzipatorische Behindertenpolitik. Wenn Behindertsein eine historisch kontingente Bezeichnungskategorie und keine feste Eigenschaft von Individuen darstelle, sei damit Tür und Tor für eine »Ver-wahr-losung« geöffnet. Im Folgenden werden die sozialkonstruktivistischen Theorien von Michel Foucault, Jacques Derrida, Giorgio Agamben und vor allem von Judith Butler grob skizziert und am Beispiel Behindertsein einer Bewährungsprobe unterzogen. Mit ihrer Hilfe wird die Kategorie »Behinderung« – ähnlich wie es die Gender Studies mit der Kategorie »Geschlecht« tun – untersucht und in Frage gestellt. Der Fokus liegt dabei in der Auseinandersetzung mit den oben genannten Zweifeln, ob die radikale Infragestellung einer biologischen und binären Konstruktion von Behindertsein und Unversehrtheit überhaupt Sinn macht. In den Vereinigten Staaten firmiert das dekonstruktive Modell von Behindertsein bereits einige Zeit unter dem Namen Disability Studies (Mitchell 1997, Snyder 2001). Man konzentriert sich auf Behindertsein als eine mit Geschlechts- und Rassenzugehörigkeit vergleichbare Erfahrung der Identitätszuschreibung. Auch in Deutschland gibt es seit 1998 an der Universität

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

Dortmund ein Projekt Leben an der Normalitätsgrenze. Am Beispiel von Behinderung wird die Interdependenz von Normalität, Geschlecht und negativ bewerteter Abweichung unter diskursanalytischen, kulturhistorischen und normalismuskritischen Gesichtspunkten untersucht (vgl. Schildmann 2000, 2001).

W as heisst dekonstruk tive K ritik bz w . kritische G ene alogie ? Jacques Derridas Dekonstruktion und Michel Foucaults genealogische Historiographie verabschieden auf je eigene Weise die Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein geschichtsenthobenes transparentes Wissen, das ohne Irrtum und ohne Trugbilder funktioniert. Für Derrida gibt es innerhalb der Wahrheitspolitik keine reinen Erkenntnisse, die »dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind« (Derrida 1976: 441). Das »Subjekt, und in erster Linie das bewusste und sprechende Subjekt, (ist) von dem System der Differenzen und der Bewegung der différance abhängig« (Derrida 1986: 70). Foucault sieht dieses Subjekt Macht/Wissensformationen unterworfen, die es ihm nicht mehr erlauben, sich selbst einen privilegierten Zugang zu einer reinen Wahrheit vorzubehalten (vgl. Foucault 1977: 39). Kritik, so beide, muss sich daher zurücknehmen und innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Kontexte als eine dekonstruierende Erfahrung im Einzugsbereich sozialer Kämpfe situieren. Die Gewissheit, dass etwas so ist, wie es scheint, wird abgelöst durch die Verzeitlichung der Kategorien, die Historisierung der Perspektiven und die Öffnung universeller Begriffsschemata hin zu den Singularitäten und Ereignissen. Foucault zufolge macht die dekonstruktive Kritik eine Reihe genealogischer Untersuchungen erforderlich, die »nicht retrospektiv an dem ›wesentlichen Kern der Rationalität‹ orientiert« sind, »der in der Auf klärung gefunden werden kann und der auf jeden Fall bewahrt werden müsste« (Foucault 1990: 46). Vielmehr werden sie »an den ›gegenwärtigen Grenzen des Notwendigen‹ orientiert sein, das heißt an dem, was nicht oder nicht länger zur Konstitution unserer selbst als autonome Subjekte erforderlich ist« (ebd.). Er bezeichnet seine genealogische Geschichtsschreibung als »Verbindung von gelehrten Kenntnissen und lokalen Erinnerungen, eine Verbindung, die es ermöglicht, ein historisches Wissen der Kämpfe zu erstellen und dieses Wissen in aktuelle Taktiken einzubringen« (Foucault 1999: 17). Die Genealogie zeigt, wie sich Wissen innerhalb von Macht- und Wahrheitspraktiken konstituiert, sich durchsetzt und Machtwirkungen ausübt (vgl. Foucault 2002). Nach Foucault haben sich die Wirkungsweisen unseres historischen Realitätsverständnisses als identifizierende Normalisierungsstrategien gegenüber dem Anderen erwiesen. Auf der Grundlage seiner genealogischen Kritik lässt

139

140

Behinder t sein - behinder t werden

sich deutlich machen, dass mit dem Begriff »behindert« bestimmte Personen weniger repräsentiert, sondern als Subjekte auf eine gesellschaftlich vorgegebene Identität festgelegt werden. Foucault will die Einsicht schaffen, dass die Macht/Wissens-Regime, die vorgeben, Subjekte zu repräsentieren, diese zuallererst produzieren. In unserem Zusammenhang heißt das: Mit »behindert« und »Subjekt« wird keine vorgängige ontologische Realität bezeichnet, die sich durch die Grammatik der Sprache abbilden lässt. Ideen über den »Charakter« des Behindertseins entstehen aus Machtbeziehungen, in denen sich Diskurse mit Institutionen, Gesetzen, Programmen etc. zu einem strategischen Imperativ verbinden. Das behinderte Subjekt ist performativer Effekt diskursiver und institutioneller Praktiken, die als dichtes Netz von Zuschreibungen die Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Gruppe von Individuen hervorbringen. Es genügt also nicht, zu untersuchen, wie behinderte Menschen in Sprache und Politik vollständiger repräsentiert werden können. Die Kritik muss auch begreifen, dass der »Behinderte« als das Subjekt der Sozialpolitik und Heilpädagogik gerade durch jene Machtstrukturen hervorgebracht und eingeschränkt wird, mittels derer das Ziel der Emanzipation erreicht werden soll. »[D]ie rechtlichen Systeme (qualifizieren) nach allgemeinen Normen Rechtssubjekte […], während die Disziplinen charakterisieren, klassifizieren, spezialisieren; sie verteilen die Individuen entlang einer Skala, ordnen sie um eine Norm herum an, hierarchisieren sie untereinander und am Ende disqualifizieren sie sie zu Invaliden.« (Foucault 1977: 286)

Die Genealogie will die Verdinglichungen ans Licht bringen, die stillschweigend als substantielle Ausdrucksformen des Behindertseins dienen. Die bestehende Differenz von »behindert/nichtbehindert« soll nicht länger dadurch aufrechterhalten werden, dass man der vermeintlich unversehrten Seite dieser binären Opposition normative Bedeutung verleiht. Sie folgt nicht dem Bestreben, »Behinderung« als Kategorie aufzuheben, sondern diese Zugehörigkeitsformel in ein komplexes »dramatisches kulturelles Zusammenspiel« (Butler 2002: 319) zu integrieren. Als körperliches Feld eines kulturellen Spiels ist die Trennung »behindert/nichtbehindert« eine von Grund auf innovative Angelegenheit. Genealogie heißt also nicht, die Geschichte der Ereignisse zu erforschen, die den versehrten Körper gewaltförmigen Einschreibungen unterzieht. Es handelt sich vielmehr um eine Geschichte, in der der versehrte Körper als Kulturkörper biopolitisch erst hervorgebracht wird. Genealogie und Dekonstruktion berühren sich in ihrem gemeinsamen Gestus, die bestehenden Identitäten des Behindertseins neu zu beschreiben, wie auch eine Perspektive für die Art zukünftiger Wirklichkeitsbeschreibungen zu eröffnen. Mit »dekonstruktive Kritik« ist nicht nur ein Verfahren gemeint, durch das die gesellschaftlichen Verhältnisse rekonstruktiv an gege-

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

benen normativen Ansprüchen gemessen werden können; darüber hinaus sollen sich damit diese normativen Ansprüche und Ideale selbst kritisieren lassen – indem gezeigt werden kann, in welcher Weise sie zur Legitimierung demütigender sozialer Praktiken gegenüber dem konkreten Anderen beizutragen vermögen. Genealogie und Dekonstruktion geht es darum, innerhalb der symbolischen Ordnung und damit an den realen Machtverhältnissen in der Gesellschaft Veränderungen zu erzeugen, welche für Menschen mit Behinderungen neue Ausdrucks- und Lebensmöglichkeiten eröffnen. Sie wollen eine Entnaturalisierung des Denkens betreiben, mittels dessen Behinderung als eine natürliche Kategorie angesehen wird, die eine abnorme Natureigenschaft von Körpern bezeichnet. Sie möchten den Horizont möglicher Identitäten für Menschen mit Behinderungen erweitern und den Spielraum für die Erprobung alternativer Lebensformen eröffnen. Was für alle gerecht ist, muss nicht unbedingt jedem gerecht werden. Mit der Gerechtigkeitsperspektive kommt ein prinzipiell universalisierbarer Standpunkt der Moral ins Spiel, der nicht von der Frage ausgeht, was gut für mich oder für uns ist. Nach Derrida bedarf es daher eines erweiterten Gerechtigkeitsstandpunktes, einer unentwegten Aufklärung durch eine dekonstruktive Kritik, die sich gerade nicht an einem allgemeinen Gesichtspunkt und der Frage »Was ist gleichermaßen richtig für alle?« (vgl. Derrida 1991) orientiert. Auf dieser Grundlage geht es also nicht darum, die Binarität »behindert/nichtbehindert« in ein neutrales »Es ist normal, nicht normal zu sein« aufzulösen. Die Dekonstruktion des Begriffs »Behinderung« soll vielmehr heißen, dass man ihn weiterhin verwendet, verschiebt und ihn aus dem Kontext herausnimmt, in dem er als Instrument der Unterdrückung eingesetzt wurde. Die Dekonstruktion des behinderten Subjekts hat also nichts mit Zensur oder moralisierender Tabuisierung von Begriffen zu tun, sondern mit einer Öffnung für das freie Spiel vielfältiger und unvorhergesehener Bedeutungen. Die Kategorie »Behinderung« ist daher auch nicht von ihrem feststehenden Referenten – Schädigung – abzukoppeln, sondern bildet einen Schauplatz möglicher Umdeutungen. In Signatur, Ereignis, Kontext (1988) übernimmt Derrida den Begriff Performativität von John L. Austin, um ihn aus der Sprechakttheorie und ihrer Vorstellung von einem Zeichen als Ausdrucksmittel eines souveränen Subjekts zu entlassen. Eine performative Äußerung, so sein Einwand, kann »an sich nur eine wiederholende oder zitathafte […] Struktur haben« (ebd.: 313) und funktioniert deshalb nur als ritualisierter Effekt früherer Handlungen. Denn: »Könnte eine performative Äußerung gelingen, wenn ihre Formulierung nicht eine ›codierte‹ oder iterierbare Äußerung wiederholte, mit anderen Worten, wenn die Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel

141

142

Behinder t sein - behinder t werden laufen zu lassen, nicht als einem iterierbaren Muster konform, wenn sie nicht in gewisser Weise als ›Zitat‹ identifizierbar wäre.« (Ebd.: 310)

Derrida macht deutlich, dass die Wiederholung einer vorgängigen Performanz auch Brüche mit dem Kontext zulassen, der das Sprechen erzeugt. »Die Iteration, die sie [die Äußerung, H.-U.R.] strukturiert, führt a priori in sie eine wesentliche Dehiszenz und einen wesentlichen Bruch ein« (ebd.). Das Subjekt ist niemals vollständig konstituiert. In sprachphilosophischer Weise geht Derrida davon aus, dass Sprache durch ihr Zitieren vorgängiger Konventionen und diskursiver Ordnungen performativen Charakter hat und die Fähigkeit besitzt, Wirklichkeit zu generieren und zu verändern. Dieser Einwand Derridas hat Folgen für die Vorstellungen über die Konstitution des behinderten Subjekts. Die Grundlage des Behindertseins ist nunmehr die stilisierte Wiederholung von Akten durch die Zeit und keine scheinbar nahtlose Identität. Es lässt sich damit in Frage stellen, ob es eine Gemeinsamkeit unter den »Behinderten« überhaupt gibt, die ihrer identifizierenden Zuschreibung vorangeht. Es sind die verschiedenen Akte der Konstitution des Behindertseins, die erst die Idee einer Gemeinschaft der Behinderten erzeugen; ohne diese Akte gäbe es diese Gemeinschaft überhaupt nicht. Ein emanzipatorisches Programm, das die gesellschaftliche Rolle behinderter Menschen zu verändern sucht, bleibt folglich solange fragwürdig, als es der Frage ausweicht, ob die Kategorie des Behindertseins nicht schon auf eine Art gesellschaftlich konstruiert ist. Im verständlichen Wunsch nach Stärkung solidarischer Bindungen hat sich der kritische Diskurs über Behindertsein auf die Kategorie »behindert« als universeller Voraussetzung für eine bestimmte Art und Weise des Andersseins verlassen. Dem »Behinderten« wurde eine Aufmerksamkeit zuteil, ohne dass man sich um die Klärung jener Unterdrückungsbedingungen kümmerte, die sich aus der Aufrechterhaltung klar abgegrenzter binärer Kategorien »behindert/nichtbehindert« ergibt. Die Zugehörigkeit zum Status Behindertsein wurde durch eindeutige Signifikanten – Wahr-Zeichen – festgelegt, innerhalb derer diese Zugehörigkeit stabilisiert und gegenüber dem Bereich des Normalen bis heute abgegrenzt wird. Behindertsein wird innerhalb einer Identitätspolitik konstituiert, die sich zugleich als Regime der Regulierung und Kontrolle dessen erweist, den man als Menschen mit Behinderung bezeichnet.

D ie M aterialisierung des B ehindertseins In den folgenden Überlegungen wird der kühne Versuch unternommen, Judith Butlers Modell der Performativität von Geschlecht auf den Bereich Behinderung zu übertagen. Für Butler, die in Berkeley Philosophie lehrt, ist der

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

Körper »keine unabhängige Materialität, die von ihr äußerlichen Machtbeziehungen belehnt wird, sondern er ist dasjenige, für das Materialisierung und Belehnung deckungsgleich sind« (Butler 1997: 59). Sie versteht unter »Materialisierung« den Vorgang der unlösbaren Verschränkung formierender Diskurse und Materie. Erzeugungsmodus körperlicher Materialität sind diskursive Operationen und ihre performative Wirkung. »Wenn Materie nie ohne ihr Schema auftritt, bedeutet das, dass sie nur unter einer bestimmten grammatischen Form in Erscheinung tritt und dass das Prinzip ihrer Erkennbarkeit, ihre charakteristische Geste oder ihr übliches Gewand, von dem, was ihre Materie konstituiert, nicht ablösbar ist.« (Ebd.: 57) Nach Butler ist der versehrte Körper im eigentlichen Sinne weniger Naturgegebenheit gewisser Menschen, sondern von Anfang an vergesellschaftete, einer sozialen Norm unterworfene körperliche Materialität. Er wird nicht nur kontrolliert, sondern bereits in seiner medizinisch-biologischen Beschaffenheit machtförmigen Vorgängen unterworfen, die ihn einer künstlichen Norm entsprechend formen und modellieren. Materialisierung heißt also nicht nur Einverleibung oder »Inkorporierung« sozialer Normen, sondern, dass die stofflich-materielle Wirklichkeit – des Körpers – selbst sprachlich-diskursiv erzeugt wird und nicht nur auf der Oberfläche der Einschreibungen Resultat von sozialen Praktiken ist. Die moderne Konstruktionslogik einer Spaltung des (behinderten) Subjekts in einen biologischen und einen sozialkulturellen Anteil lässt sich überwinden, wenn u.a. gezeigt werden kann, dass bereits die biologisch-medizinische Bestimmung des Körpers samt der binären Konzeption »behindert/nichtbehindert« kulturellen Kategorien folgt. Biologisches erscheint dann als Einschreibung von Normen einer kulturellen Matrix in einen Organismus. Demzufolge werden unbestimmte Merkmale des Körpers als bestimmte Eigenschaften eines medizinisch diagnostizierbaren Körpers des Behindertseins erst definiert. Die Produktion des Behindertseins als vordiskursive Tatsache erscheint so als »Effekt des kulturellen Konstruktionsapparates« (Butler 1991: 24). Behindertsein lässt sich nicht mehr nur als Zuschreibung verstehen, die der Oberfläche der Materie – in der Weise ihrer vorhandenen diagnostizierbaren Schädigung – auferlegt wird. Sobald das medizinische Konstrukt »Schädigung« selbst in seiner Normativität verstanden wird, kann es nicht länger unabhängig von der Materialisierung jener regulierenden Norm gedacht werden, sondern lässt sich in den kulturellen Konstruktionsapparat seiner Herstellung auflösen. Es wird nicht mehr als ein körperlich Gegebenes ausgelegt, dem das soziale Konstrukt »Behinderung« künstlich auferlegt wird, sondern als eine kulturelle »Norm«, die die Materialisierung von Körpern regiert. Die Annahme, dass Körper durch Diskurse und performative Sprechakte konfiguriert werden, bedeutet für Butler freilich nicht, dass Körper als materielle Realitäten vollständig auf Diskurse zurückführbar sind, sondern soll

143

144

Behinder t sein - behinder t werden

lediglich deutlich machen, dass es keine von der symbolischen Ordnung unberührte körperliche Materialität gibt. Diskursive Praktiken und körperliche Materialität bilden eine unauflösliche Einheit, deren Voraussetzung Diskurse als Apriori körperlicher Materialität sind (vgl. Butler 1993: 53). Es geht Butler nicht darum, die Materialität der Körper zu leugnen, sondern sie als gesättigt mit abgelagerten Diskursen zu begreifen. Über das Außersprachliche kann nichts gesagt werden, ohne es zu einem sprachlich Vermittelten zu machen. Gleichwohl geht Materialität in den Diskursen nicht auf (vgl. Butler 1997: 54f.). Doch wie soll es der Macht gelungen sein, den Eindruck zu erwecken, als handele es sich beim Körper um eine biologische Voraussetzung gesellschaftlicher und politischer Prozesse? Giorgio Agamben, der in Verona Philosophie lehrt, sieht in der genealogischen Untersuchung des biologischen Lebensbegriffes eine der zentralen Aufgaben zukünftiger Philosophie. Er wendet sich u.a. der Relevanz des Biologischen bei der technologisch-diskursiven Erzeugung biologischer Körper als klinisch auffälliger Körper zu, die sich bestimmten Menschen normierend als Matrix auferlegt. Eine berühmte Äußerung Foucaults dient ihm zur Untermauerung der These, dass auf der Schwelle zur Moderne das natürliche Leben der Menschen in die Mechanismen und Kalküle der Staatsmacht einbezogen wurde und sich Politik in Biopolitik verwandelte. »Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1983: 171) Foucault hat schon sehr früh (1963) darauf aufmerksam gemacht, dass Biologie und Medizin als die Wissenschaften vom Leben, die Frage nach dem Leben und dem Tod zum spezifischen Gegenstand ihrer Erkenntnis gemacht und in das Feld der Unterscheidung von Normalem und Pathologischem hineingeholt haben. Für die moderne Gesellschaft ist es seit dem Ende des 18. Jahrhundert »unmöglich, eine Wissenschaft vom Leben zu konstituieren, ohne die Möglichkeit der Krankheit, des Todes, der Monstrosität, der Anomalie, des Irrtums als für ihren Gegenstand wesentliche in Rechnung zu stellen« (Foucault 1988: 65f.). Nach Foucault vollzog sich die Herausbildung der modernen Medizin im 19. Jahrhundert innerhalb der unterschiedlichen Entwicklungslinien von disziplinärer Technologie des Körpers und regulatorischer Technologie des Lebens – im Konnex einer »Bio-Macht«, die sich sowohl auf den Organismus des Individuums als auch auf die biologischen Prozesse der Bevölkerung erstreckt und eine »Normalisierungsgesellschaft« (Foucault 1999: 292f.) hervorbringt. Die pathologischen Phänomene wurden nicht mehr einer vorgängigen Welt der Wesenheiten zugeordnet, sondern dem lebenden Individuum eingepflanzt. In den biologischen und medizinischen Wissenschaften wurden die Krankheiten als Bestandteil eines biologisch verstandenen Lebens wahrgenommen, das sich im Austausch mit der Umwelt abnutzt.

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

Es kam zur »Einfügung der Krankheit in den Organismus« (Foucault 1988: 16). Die Krankheiten wurden zu deutbaren und veränderbaren Zeichen, innerhalb einer durch Risiken bedrohten und hygienisch-statistisch zu erfassenden Bevölkerung. Nach Agamben steht die souveräne Macht, auch die im Namen des Volkes, immer schon über dem Gesetz und entscheidet über den Ausnahmezustand, d.h. zwischen politischer Existenz (bíos) und nacktem Leben (zoé). Das nackte Leben, »ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt«, fällt in der Moderne »im Gleichschritt mit dem Prozess, durch den die Ausnahme überall zur Regel wird, immer mehr mit dem politischen Raum« (Agamben 2002: 19) zusammen. Die demokratische Rechtsordnung erweist sich als Fassade einer Logik, die ihre Gewalt in der Einrichtung von außerhalb des Rechts befindlichen Zwischenzonen offenbart – Zonen der moralischen Indifferenz, in denen Menschen gezwungen werden, das »nackte Leben« zu repräsentieren. Agamben ortet sie u.a. in der modernen Biomedizin, welche menschliche Körper auf ihr biologisches Dasein, die nackte Existenz reduziert, indem sie sie künstlich am Leben erhält, zu Versuchszwecken bzw. zur Forschung und als Organspender. Einer der Wege auf denen die Medikalisierung der Gesellschaft erzwungen und zugleich verborgen wird, verläuft über die Aufteilung von Körpern in verschiedene Grade der Versehrtheit, die den Anschein des »Natürlichen« und »Evidenten« haben: »Dieselbe Abziehung des bloßen Lebens, die der Souverän unter bestimmten Umständen an den Lebensformen vornehmen konnte, wird nun in massivem Ausmaß und Tag für Tag umgesetzt – durch die pseudowissenschaftlichen Repräsentationen des Körpers, der Krankheit und der Gesundheit und die – Medikalisierung immer weiterer Bereiche des Lebens und der individuellen Einbildung. Das biologische Leben als die säkularisierte Form des bloßen Lebens […] konstituiert so die realen Lebensformen buchstäblich als Überlebensformen, in denen es unangetastet bestehen bleibt als dunkle Bedrohung, die sich schlagartig aktualisieren kann: in der Gewalt, in der Fremdheit, in der Krankheit, im Unfall.« (Agamben 2001: 17)

B utlers K onzep t der subversiven R esponsivität Nach Butler ist die Materialisierung des versehrten Körpers Produkt einer performativ wirksamen Macht, die sich im Inneren des Subjekts verdoppelt und als dessen psychische Struktur erscheint. Das Subjekt wird in der Sprache durch einen vorhergehenden performativen Sprachgebrauch, durch eine »Anrufung« oder »Interpellation« (Louis Althusser) hervorgebracht. Zweck der Anrufung ist es, »ein Subjekt in der Unterwerfung zu zeigen und einzusetzen, sowie seine gesellschaftlichen Umrisse in Raum und Zeit hervorzubrin-

145

146

Behinder t sein - behinder t werden

gen« (Butler 1998: 54). Die Anrufung zitiert eine soziale Ordnung oder Konvention und schreibt diese – auch gegen den Willen der betreffenden Person – in das Individuum ein. Über den »Ruf« hinaus, ist sie »eine ganz bestimmte Inszenierung des Rufes«, nämlich eine »Aufforderung, sich dem Gesetz anzuschließen, als Umwendung […] und Eintritt in die Sprache der Selbstzuschreibung« (Butler 2001: 101). Das behinderte Subjekt und damit seine Existenz verdanken sich folglich einer Unterwerfung unter soziale Normen. Macht bildet den Ort, an dem das Soziale das Psychische impliziert und an dem sie sich über institutionalisierte Sprechakte als innere Stimme etabliert. Die Psyche ist der Ort, an dem die Gesellschaft den versehrten Körper immer schon als Kulturkörper herstellt und durchdringt. Die Bildung des (behinderten) Subjekts ist zugleich die Einrahmung, die Unterordnung und die Reglementierung des Körpers. Butler vertritt mit Nietzsche die These, dass erst die Verinnerlichung der Normen die Unterscheidung des Psychischen und des Sozialen einführt und damit der Macht ein reibungsloses und »stillschweigendes Funktionieren innerhalb des Sozialen« (ebd.: 25) erlaubt. Butler würde sich freilich nicht mit der Dekonstruktion der Vorstellung vom Behindertsein als naturhaft-defizitär vorausgesetzter Form der Körperlichkeit begnügen. Ihre Frage lautet darüber hinaus, inwieweit das Subjekt über Möglichkeiten der Zurückweisung normativer Zuschreibungen und Verletzungen verfügt: »Ist eine Bruchstelle erkennbar, die dazu führen könnte, diesen Prozess der diskursiven Konstitution aufzulösen? […] Ist also eine Wiederholung denkbar, die den Sprechakt von den ihn stützenden Konventionen ablösen kann und damit seine verletzende Wirksamkeit eher in Verwirrung bringt als konsolidiert?« (Butler 1998: 34f.) Die ständige Wiederholung von Normen verweist auch auf deren Instabilität und zeigt, dass »die Materialisierung nie ganz vollendet ist, dass Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen wird« (Butler 1997: 21). Die Psyche als gesellschaftliche Erfindung entzieht sich paradoxerweise der Macht, die sie schuf. Macht ist immer auch die Bedingung für die Möglichkeit des Subjekts, sich reflexiv, d.h. auf sich selbst, auf die eigene Lebenserhaltung gerichtet, gegen die Normen zu wenden, die eine Selbstanerkenntnis verhindern. »Widerstand erscheint […] als Wirkung der Macht, als Teil der Macht, als ihre Selbstsubversion.« (Butler 2001: 89) In der reflexiven Wendung der Macht im Subjekt liegt zugleich die Bedingung für die Entmachtung der das Subjekt konstituierenden Macht und deren Verschiebung zur Ermächtigung des Subjekts. Im Anschluss an Derrida (1988) geht Butler davon aus, dass der Sprechakt auch eine nicht-konventionale Bedeutung annehmen und in einem veränderten Kontext funktionieren kann. Im Herzen der Performativität zeigt sich eine ambivalente Struktur. Sie kommt zustande, weil der Körper weder

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

lebloser Empfänger gänzlich vorgegebener kultureller Beziehungen ist, noch ein verkörpertes Selbst existiert, das kulturellen Konventionen vorausgeht (vgl. Butler 2002: 313). »Das Sprechen wird […] durch den gesellschaftlichen Kontext nicht nur definiert, sondern zeichnet sich auch durch die Fähigkeit aus, mit diesem Kontext zu brechen. Die Performativität besitzt eine eigene gesellschaftliche Zeitlichkeit, indem sie gerade durch jene Kontexte weiter ermöglicht wird, mit denen sie bricht.« (Butler 1998: 63)

Das Subjekt wird in der performativen, wiederholenden Reartikulation seiner selbst zum Anlass weiterer Schöpfungen. Performanz ermöglicht als Wiederholung auch die Umdeutung und Verschiebung von Bedeutung. »Die Resignifizierung des Sprechens erfordert, dass wir neue Kontexte eröffnen, auf Weisen sprechen, die noch niemals legitimiert wurden, und damit neue und zukünftige Formen der Legitimation hervorbringen.« (Ebd.: 65) Das sprechende Subjekt kann zwar »nur nach Maßgabe eines bereits umschriebenen sprachlichen Feldes« entscheiden, »aber diese Wiederholung macht die Entscheidung des sprechenden Subjekts nicht redundant. Der Zwischenraum zwischen Redundanz und Wiederholung ist der Raum der Handlungsmacht« (ebd.: 183). Hierin liegt für Butler »das politische Versprechen der performativen Äußerung, ein Versprechen, das die performative Äußerung ins Zentrum einer hegemonialen Politik stellt und dem dekonstruktivistischen Denken eine unvorhergesehene politische Zukunft eröffnet« (ebd.: 228). Sie wirbt für einen »gesellschaftlichen und kulturellen Sprachkampf, in dem sich die Handlungsmacht von der Verletzung herleitet und ihr gerade dadurch entgegentritt« (ebd.: 64). Eine zukünftige Gesellschaft soll darauf verzichten, den performativen Status von verletzenden Äußerungen – »hate speech« – durch juristische Entscheidungen zu kontrollieren; stattdessen den teilhabenden Einspruch derjenigen ermöglichen, die den Fremdzuschreibungen ihrer Identität widersprechen. Der Appell an die Staatsgewalt und die juristisch-strafrechtliche Verfolgung diskriminierender Redeweisen helfen politisch nicht weiter, sondern fördern möglicherweise sogar die Positionen, die bekämpft werden sollen. Performative Äußerungen »funktionierten« nur deshalb, weil sie diejenigen Konventionen in Anspruch nehmen und mobilisieren, durch die sie hervorgerufen werden. Die Gewalt geht weniger vom sprechenden Subjekt oder von der Äußerung selbst aus, sondern von der sedimentierten Geschichte der Äußerung, die im Sprechakt verborgen bleibt. Anstelle juridischer Entscheidungen zieht Butler die Möglichkeit vor, dass sich diejenigen, die einer verletzenden Sprache ausgesetzt sind, durch politischen Zusammenschluss die Begriffe aneignen, durch die sie stigmatisiert werden. Sie plädiert für eine »subversive Resigni-

147

148

Behinder t sein - behinder t werden

fikation« (ebd.: 222) von diskriminierenden, hasserfüllten Redeweisen durch die Betroffenen selbst. Allerdings stellt sich hier das Problem, dass sich »Behinderte« auf einen operativen Essentialismus stützen müssen, auf eine Ontologie des Behindertseins als universale Gegebenheit, um überhaupt ein politisches Programm formulieren zu können. Auf dieser Grundlage funktioniert die rechtliche Repräsentationspolitik, die ohne Rückgriff auf behindertenspezifische Identitätskategorien nicht sinnvoll möglich ist. Aktivisten der Behindertenbewegung müssen die Kategorie Behindertsein als politisches Werkzeug verwenden und zugleich sein ontologisches Ungenügen erkennen. Das Subjekt des Behindertseins ist »genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es nicht selbst hervorgebracht hat, und damit sucht es das Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst – in einem Diskurs, der zugleich dominant und indifferent ist« (Butler 2001: 25). Es gibt innerhalb der Behindertenbewegung immer auch eine gewisse politische Notwendigkeit, als und für »Behinderte« zu sprechen – eine Notwendigkeit, die Butler nicht in Frage stellen würde. Andererseits haben Identitätskategorien jedoch niemals nur einen deskriptiven, sondern immer auch einen normativen und damit ausschließenden Charakter. Der Terminus »behindert« soll daher auch als ein unbezeichenbares Feld von Differenzen Verwendung finden. Dadurch eröffnet sich die Chance, dass er sich in einen Schauplatz ständiger Neubeschreibung und Umdeutbarkeit verwandelt.

D ekonstruk tion als e thische B e wegung Der Dekonstruktivismus muss sich dem Einwand stellen, dass sein Versuch, für die an den Gegebenheiten des Normalen akut und real Leidenden das Wort zu ergreifen, auf einer äußerst fragilen Konstruktion beruht (vgl. Detel 1997, Ludewig 2002). Ihm wird vorgeworfen, er vollziehe sich im Dilemma zwischen Referenzbezug und dessen permanenter Abschwächung. Dabei laufe er Gefahr, auf einen erkenntnistheoretischen Idealismus zu regredieren, mit dem es nicht mehr möglich sei, sich zum Fürsprecher der an der Materialität ihrer Körper real leidenden Menschen zu machen. So soll der politischen Forderung der Behinderten entsprochen werden, die Realität des Behindertseins nicht als medizinisch diagnostizierbares Schicksal zu zementieren. Das sei jedoch nicht möglich, wenn Behindertsein als Faktizität zu einem bloßen Bewusstseinsinhalt verflüchtigt bzw. zu einem diskursiv produzierten Effekt wegerklärt werde. »Wenn nur das Normierte und Normale materielle Substanz besitzt, woher erwächst uns dann die Möglichkeit der Erfahrung von schmerzhafter Begrenzung, Krankheit, Nichtübereinstimmung und Versagen?« (Ludewig 2002: 195f.)

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

Die dekonstruktive Kritik leugnet jedoch nicht, »dass Körper leben und sterben, essen und schlafen, Schmerz empfinden und Freude verspüren, Krankheit und Gewalt erleiden, und diese ›Tatsachen‹, so könnte man skeptisch erklären, können nicht als bloße Konstruktion abgetan werden« (Butler 1997: 15). Behinderung als Kategorie dekonstruieren heißt nicht, sie zu verneinen oder abzulehnen, sondern eine Genealogie dieses Begriffs zu entwickeln, die seine ausgrenzende Macht- und Herrschaftsgeschichte aufzeigt, die in ihm abgelagert ist und einen naiven Gebrauch verbietet. »Der Kritiker verdächtigt die Konstruktivistin auch einer gewissen Körperfeindlichkeit und will sich vergewissern, dass diese abgehobene Theoretikerin zugesteht, dass zumindest minimale, nach Geschlecht differenzierte Körperteile, Tätigkeiten und Fähigkeiten und hormonelle sowie in den Chromosomen verankerte Unterschiede vorhanden sind, die ohne Bezugnahme auf eine Konstruktion eingeräumt werden können.« (Ebd.: 33.)

Butler sollte als eine Theoretikerin der Andersheit gelesen werden. Sie darf nicht so verstanden werden, dass der Diskurs über Behindertsein das, was er erschafft, auch erschöpfend ausmacht. Materialisierung ist für sie mehr als nur die sedimentierende Wirkung einer regulierten Wiederholbarkeit. Körper sind für sie mehr als nur das Ergebnis einer »Bezeichnungspraxis« (Butler 1991: 204). Geburt, Schmerz, Alter, Krankheit und Tod sind für sie mehr als nur die Folge stets erneuerter Anrufung und Zitierung der Gesundheitsnormen. Insofern hätte Butler keine Probleme mit dem Einwand, dass die Erfahrung des Schmerzes ebenso prägend sein kann, wie die semiotische Zurichtung und Abrichtung in den Status des Behindertseins. Kuhlmanns Hinweis könnte auch aus ihrer Feder stammen: »Die Erfahrung, die die Einzelnen mit ihrem Körper machen, ist zweifellos dadurch mitbestimmt, wie sich die jeweilige Gesellschaft über die menschliche Physis und über körperliche Versehrtheit verständigt. Es ist aber sicherlich falsch zu sagen, nachhaltig negative Erfahrungen mit physischer Beeinträchtigung bestünden aus nichts anderem als jenen Deutungsmustern, die den Betroffenen angeblich von außen aufgenötigt werden.« (Kuhlmann 2002)

Butler definiert einerseits den »Anruf der Anerkennung« (Butler 1998: 44) als performativen Akt innerhalb eines Geflechtes von »diskursiven Gesten der Macht« (Butler 1997: 309); auf der anderen Seite sucht sie nach einem erweiterungsfähigen und mitfühlenden »Vokabular der Anerkennung« jenseits identifizierender Zuschreibungen, das die »partizipatorische Basis des demokratischen Lebens« (ebd.: 10) verbreitern soll. Das, was der Andere ist, ist für sie nicht auf das Sagbare reduzierbar. Der Andere wird als das den Sprechakt

149

150

Behinder t sein - behinder t werden

Überschreitende betrachtet. Die Anrufung des Subjekts durch die symbolische Ordnung misslingt insofern, als sie zwar ein Subjekt einsetzt und entwirft, es zugleich jedoch in seiner lebbaren Realität verfehlt. Der Versuch, das Subjekt vollständig zu determinieren und der symbolischen Ordnung zu unterwerfen, scheitert an einem handlungsmächtigen Subjekt des Widerstands. Die Pointe des dekonstruktivistischen Theoriekonzepts besteht darin, dass das – nicht nur behinderte – Subjekt, gerade weil es durch Machtstrukturen eingesetzt wird, zugleich ein Ort der Umdeutung machtvoller Sprachprozesse ist. Die Handlungsmacht des Subjekts ist als Machteffekt zwar eingeschränkt, aber durch die Strukturen der Macht nicht determiniert. Normen, Rituale und Konventionen können sich verändern, indem sie dekontextualisiert werden und damit Bedeutungen und Funktionen erhalten, für die sie niemals bestimmt waren. Hier stellt sich freilich die Frage, wo in Butlers Konzept jene Menschen bleiben, die nicht in der Lage sind, am Schauspiel eines Kampfes um Anerkennung teilzunehmen? Butlers Konzept der subversiven Responsivität erscheint bisher noch als eine Ethik des handlungsfähigen Individuums und nicht als eine der Verantwortung gegenüber demjenigen, der auf Fürsorge angewiesen ist. Hier kommt den Ethiken von Emmanuel Lévinas (1987,1992) und Jacques Derrida (1991, 2000) eine wichtige Korrekturfunktion zu. In ihnen erhält das Prinzip der einseitigen Verpflichtung in der unmittelbaren Beziehung zum Anderen – als konkreter, unvertretbarer Einzelperson – Geltung. Lévinas beschreibt ein Verhältnis menschlicher Nähe, in welchem der Andere in das Denken einfällt und die Verpflichtung hervorruft, ihm Hilfe zu leisten, ihm beizustehen. In diesem Sinne vollzieht sich die Dekonstruktion des Behinderungsbegriffs als eine ethische Bewegung der Anerkennung, die nicht in Gleich-Gültigkeit endet, sondern im Bewusstsein um die eigene Verantwortung gegenüber dem verobjektivierten Anderen. Sie beruht weniger auf der Idee der Gleichheit, als auf der Verantwortung für den Anderen in seiner Unendlichkeit. Also nicht »auf einem berechneten Gleichmaß, auf einer angemessenen Verteilung, auf einer austeilenden Gerechtigkeit, sondern auf einer absoluten Asymmetrie« (Derrida 1991: 45f.). In der gegenwärtig noch unklaren Rede von Andersheit oder Differenz geht man zuallererst von den »Behinderten« als einer durch rechtliche Ansprüche getragenen Gemeinschaft aus. Allzu leichtfertig wird der Begriff »Wohltätigkeit« gegenüber dem des »Anspruchs auf Rechte« ausgespielt. In diesem Zusammenhang enthält die Deklaration von Madrid zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 eine sehr scharfe Kritik am Gedanken der Wohltätigkeit. Es wird kritisiert, dass er von einer Asymmetrie der Hilfeleistung ausgehe, wobei unterstellt wird, dass die Menschen mit Behinderungen durch Wohltätigkeit als »behindert« etikettiert und als Objekte paternalistischer Fürsorge mit einer Mitleidsideologie überzogen werden. Natürlich

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

ist nicht zu leugnen, dass es eine Entwürdigung durch Wohltätigkeit gibt, insofern behinderte Menschen als »hilfebedürftige Kreaturen« wahrgenommen werden, die unablässig an ihren Defiziten leiden. »Fürsorge verknüpft sich schnell mit einer durch und durch paternalistischen Attitüde. Den betreffenden Personen wird dann nämlich die Fähigkeit abgesprochen, selbst darüber zu entscheiden, in welchem Ausmaß sie zum Gegenstand der ›Sorge‹ gemacht werden sollen.« (Kuhlmann 2001) Die Autoren der Deklaration übersehen jedoch, dass viele behinderte Menschen, um in Würde leben zu können, vorrangig einer Fürsorge bedürfen, mithin einer auf ihre spezifischen Bedürfnisse eingehenden und von Anteilnahme geleiteten Unterstützung. Für Menschen mit Behinderungen ist es immer noch nicht selbstverständlich, gleiche Bürger mit gleichen Rechten zu sein. Nach wie vor lassen sich zahlreiche Anlässe feststellen, die mangelnde Gleichstellung rechtlich einzuklagen. Andererseits darf das nicht dazu führen, asymmetrische Beziehungen der Fürsorge durch vertragliche Regelungen ersetzen zu wollen. Die rechtliche Anerkennung »macht Rückfragen von dort aus an die unausweichliche Fürsorge im Sinne der Verantwortung für den Anderen nicht überflüssig. Sie wird nicht etwa überflüssig, weil der Mensch mit Behinderung oder in prekärer Lebenslage kompetent, autonom und in eigener Regie sein Leben führen kann. Sie wird auch nicht überflüssig, weil er ein defizitäres Doppel des Normalen ist und der Bevormundung und Sorge bedarf. Beide Begründungslinien sind einseitig und polarisierend. Denn Fürsorge oder unausweichliche Verantwortung für den Anderen gehören zum Subjektiven des Menschen« (Stinkes 2002: 218). Abschließend soll es hier noch einmal um die irritierende Behauptung der dekonstruktiven Kritik gehen, der behinderte Körper – einschließlich der Differenz zwischen Schädigung und Behindertsein – erweise sich als sozial konstruiert und lasse sich nur als Bündel verfestigter sozialer und semiotischer Praktiken auffassen. Sicher kann nicht geleugnet werden, dass es sich bei biologisch-medizinischen Erkenntnissen ebenso um menschliche Annahmen, Hypothesen, konstruierte Behauptungen handelt wie im Falle sozialer Theorien und Orientierungen. Insofern hat der Dekonstruktivismus gute Gründe, Behindertsein als einen Prozess zu verstehen, bei dem regulierende Normen das biologisch-medizinische Behindertsein materialisieren und diese Materialisierung durch eine erzwungene, ständige Wiederholung jener Normen erzielen. Das biologisch-medizinische Behindertsein bildet keine Wesenheit, die dem sozialen Behindertsein und dem Bereich des Sozialen vorhergeht, sondern ist selbst Wahr-Zeichen, das sozialen Konstruktionsbedingungen unterliegt. Doch die Kritik am Dekonstruktivismus führt umgekehrt auch gute Gründe an, warum es ratsam ist, weiterhin an der Unterscheidung zwischen einem biologisch-medizinischen und einem sozialen Begriff des Behindertseins festzuhalten. Wenig überzeugt dabei das Argument, dass die Behindertenpoli-

151

152

Behinder t sein - behinder t werden

tik andernfalls ihr zentrales sprachliches Referenzobjekt – die Behinderten – verlieren würde, über deren interkulturelle und transhistorische Diskriminierung nachgedacht wird und deren Befreiung die Behindertenbewegung politisch durchsetzen will. Dekonstruktion, das macht Judith Butler deutlich, wird nicht zu einer Auflösung der Kategorie »Behinderung« führen. Schwerer wiegt der Hinweis, dass Behinderung in der Folge als nicht mehr therapiebedürftige Normalität begriffen werden könnte und in diesem Zusammenhang sinnvolle medizinisch-therapeutische Maßnahmen und Möglichkeiten abgelehnt werden. Der Dekonstruktivismus muss sich mit dem Sachverhalt auseinandersetzen, dass das Selbstgefühl von Schmerz, Schwäche und auch Qual durch die Überwindung kultureller Festlegungen des behinderten Körpers nicht einfach verschwindet. Andreas Kuhlmann stellt fest, dass eine verzerrte Verständigung über Behinderung in Deutschland inzwischen »zu einer nicht selten bizarren Leugnung der Tatsache geführt (hat), dass behinderte oder chronisch Kranke natürlich auf medizinische Unterstützung angewiesen sind und oftmals auf therapeutische Innovationen hoffen« (Kuhlmann 2001). Er befürchtet, dass behinderte Menschen in Zukunft nicht mehr nur darunter zu leiden haben, dass ihr Leben als minderwertig abqualifiziert wird, sondern auch darunter, dass ihre Mitmenschen sich von den Schwierigkeiten, mit denen sie zu tun haben, kein angemessenes Bild mehr machen können. Kuhlmann und Susan Wendell fordern mit Recht, dass der Dekonstruktivismus auch über die Erfahrung leidender Körper sprechen muss, d.h. dem, »was sich nicht ohne Schmerz wahrnehmen und nicht ohne Ambivalenz feiern lässt« (Wendell 1999: 815). Viele Menschen mit Behinderungen verdanken medizinisch/therapeutischen Techniken und anderen Normalisierungsmaßnahmen einen Zugewinn an Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Der Dekonstruktivismus muss deshalb damit beginnen, Begriffe wie »Bio-Macht« und »Normalisierung« in diesem Zusammenhang nicht mehr allein – wie vor allem Giorgio Agamben – im Sinne von ausgrenzender Herrschaft und Gewalt zu deuten. Angesichts der Tatsache, dass die Bio-Macht nicht nur Behinderung als soziales Konstrukt hervorgebracht hat, sondern Menschen mit Behinderungen auch das Leben sichert, teilweise sogar ermöglicht, sollte er von einem weniger dramatischen und deprimierenden Bild dieser Macht ausgehen. Auf dieser Grundlage wäre es dann möglich, nach evaluativen Standards Ausschau halten, mit denen wir entscheiden können, welche medizinisch/therapeutischen Techniken zu begrüßen sind und welche nicht. Die Entscheidungen im Kontext der Bioethik sollten dabei auf fundamentalere Fragen nach den Zusammenhängen mit der Bio-Macht zurückgeführt werden. Fatal wäre es jedoch, wenn man die berechtigten Bedürfnisse und Interessen behinderter Menschen, sich an üblichen Lebensplänen auszurichten und therapeutische Maßnahmen einzugehen, gegen

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

eine verschwörerische Lesart von Bio-Macht als unentrinnbarem Gewebe repressiver Herrschaft ausspielen würde.

L iter atur Agamben, Giorgio (2001): Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik. Freiburg, Berlin. Agamben Giorgio (2002): Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. Albrecht, Friedrich/Hinz Andreas/Moser, Vera (Hg.) (2000): Perspektiven der Sonderpädagogik. Disziplin- und professionsbezogene Standortbestimmungen. Neuwied. Bonfranchi, Riccardo (Hg.) (1997): Zwischen allen Stühlen. Die Kontroverse zu Ethik und Behinderung. Erlangen. Benhabib, Seyla/Butler Judith/Cornell, Drucilla/Fraser, Nancy (1993): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a.M. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. Butler, Judith (1993): »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹«, in: Seyla Benhabib u.a.: Frankfurt a.M., S. 31-59. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Frankfurt a.M. Butler, Judith (1998): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2002): »Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie«, in: Uwe Wirth (Hg.): Frankfurt a.M., S. 301-320. Dederich, Markus (2001): Menschen mit Behinderung zwischen Ausschluss und Anerkennung. Bad Heilbrunn. Dederich, Markus (2002): »Der imperfekte Mensch und das moderne Heilsdenken – Ambivalenzen moderner »Anthropotechniken« diskutiert aus behindertenpädagogischer Sicht«, in: Martin W. Schnell (Hg.): Bern, S. 263283. Derrida, Jacques (1976): Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a.M. Derrida, Jacques (1986): »Semiologie und Grammatologie. Gespräch mit Julia Kristeva«, in: Positionen. Wien, S. 52-82. Derrida, Jacques (1988): »Signatur Ereignis Kontext«, in: Randgänge der Philosophie. Wien, S. 291-314. Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«. Frankfurt a.M. 1991 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M.

153

154

Behinder t sein - behinder t werden

Detel, Wolfgang (1997): »Ein wenig »Sex« muss sein. Zum Problem der Referenz auf die Geschlechter«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45, S. 63-98. Erdmann, Eva/Forst Rainer/Honneth, Axel (Hg.) (1990): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1973): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1988): »Das Leben: die Erfahrung und die Wissenschaft«, in: Marcelo Marques (Hg.): Tübingen, S. 52-72. Foucault, Michel (1990): »Was ist Aufklärung?«, in: Eva Erdmann u.a. (Hg.), Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Frankfurt a.M. Foucault Michel (2002): »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, in: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band II 1970-1975. Frankfurt a.M., S. 166191. Greving, Heinrich/Gröschke Dieter (Hg.) (2000): Geistige Behinderung – Reflexionen zu einem Phantom. Ein interdisziplinärer Diskurs um einen Problembegriff. Bad Heilbrunn. Greving, Heinrich/Gröschke Dieter (Hg.) (2002): Das Sisyphos-Prinzip. Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik. Bad Heilbrunn. Gröschke, Dieter (2000): »Geistige Behinderung: Un-Begrifflichkeit oder Unbegreiflichkeit?«, in: Heinrich Greving u.a. (Hg.): Bad Heibrunn, S.  104125. Kuhlmann, Andreas (2001): Fürsorge und Behinderung. In: Frankfurter Rundschau 4.12.2001. Kuhlmann, Andreas (2002): »Schmerz als Grenze der Kultur«. Vortrag auf der internationalen Tagung »PhantomSchmerz«. Debatten um den (im-) perfekten Menschen im 20. Jahrhundert. 30. Mai bis 1. Juni 2002 im Abgeordnetenhaus Berlin. Leist, Anton (1997): Dimensionen einer Ethik der Behindertenpädagogik. In: Riccardo Bonfranchi (Hg.): Erlangen, S. 15-42. Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg, München. Lévinas, Emmanuel (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg.

6. Behinder tsein als kulturelles Wahr-Zeichen

Lindmeier, Christian (1993): Behinderung – Phänomen oder Faktum? Bad Heilbrunn. Ludewig, Karin (2002): Die Wiederkehr der Lust. Körperpolitik nach Foucault und Butler. Frankfurt a.M./New York. Marques, Marcello (Hg.) (1988): Der Tod des Menschen im Denken des Lebens. Tübingen. Mattner, Dieter (2000): Behinderte Menschen in der Gesellschaft. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Stuttgart, Berlin, Köln. Mitchell, David T./Snyder Sharon L. (1997): The Body and Physical Difference. Discourses of Disability University of Michigan Press. Mitchell, David T./Snyder Sharon L. (2001): Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse. University of Michigan Press. Opp, Günther/Freytag, Andreas/Budnik, Ines (Hg.) (1996): Heilpädagogik in der Wendezeit. Brüche, Kontinuitäten, Perspektiven. Luzern. Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein. Frankfurt a.M./New York. Schildmann, Ulrike (2000): »Forschungsfeld Normalität – Reflexionen vor dem Hintergrund von Geschlecht und Behinderung«, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 51, S. 90-94. Schildmann, Ulrike (Hg.) (2001): Normalität, Behinderung und Geschlecht. Ansätze und Perspektiven der Forschung. Opladen. Schnell, Martin. W. (Hg.) (2002): Pflege und Philosophie. Interdisziplinäre Studien über den bedürftigen Menschen. Bern. Stinkes, Ursula (1999): »Zur schwierigen Frage nach Anerkennung – Fürsorge oder Solidarität für Menschen mit Behinderung«, in: Heinrich Greving/ Dieter Gröschke (Hg.), S. 203-219. Wendell, Susan (1999): Feminismus, Behinderung und die Transzendenz des Körpers. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47, S. 803-815. Wirth, Uwe (Hg.) (2002): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a.M.

155

7. Inklusion allein ist zu wenig!

Plädoyer für eine Ethik der Anerkennung

»Anerkennung zu fordern oder zu geben heißt gerade nicht, Anerkennung dafür zu verlangen, wer man bereits ist. Es bedeutet ein Werden für sich zu erfragen, eine Verwandlung einzuleiten, die Zukunft stets im Verhältnis zum Anderen zu erbitten. Es bedeutet auch, das eigene Sein und das Beharren im eigenen Sein im Kampf um Anerkennung aufs Spiel zu setzen.« Judith Butler (2005, 62)

V orüberlegungen Die modernen Gesellschaften stehen heute vor dem Problem, inwieweit fremd oder anders erscheinende Minderheiten nach ihren Möglichkeiten, Gewohnheiten und Überzeugungen leben dürfen und bei Unterstützungsbedarf in nicht bevormundender Weise Hilfe erhalten können. Moralischer Fortschritt lässt sich daran bemessen, ob demokratische Regeln der Anerkennung gefördert werden oder Techniken der Normalisierung. Es bleibt die Verpflichtung einer Gesellschaft, marginalisierte Gruppen mit dem Ziel ihrer Befreiung von negativen Zuschreibungen und einer uneingeschränkten gesellschaftlichen Teilhabe zu unterstützen. In diesem Zusammenhang erobert das Paradigma der »Inklusion« zunehmend die Landschaft gegenwärtiger sozialtheoretischer Auseinandersetzungen und wird dazu benutzt, die normative Basis politischer Ansprüche von Menschen in modernen Gesellschaften zu charakterisieren (vgl. Gusy 2005, Stichweh 2005). Auch die heil- und sonderpädagogische Debatte um die richtigen Konzeptionen pädagogischer Integration wird vermehrt in Form einer Auseinandersetzung um »Inklusion« geführt. Im Blick auf die internationale Debatte um »inclusive education« findet »Inklusion« hierzulande zunehmend Eingang im Kontext einer Weiterentwicklung der Integrationspädagogik (vgl. Hinz 2002, Schnell u.a. 2004, Geiling u.a. 2005). Der Begriff Integration wird proble-

158

Behinder t sein - behinder t werden

matisiert, insoweit sich darin immer noch ein Verhältnis von Dominanz und Unterwerfung zwischen Integrierenden und Integrierten ausdrückt, so dass diejenigen, die integriert werden sollen, im Status des Besonderen und Defizitären verbleiben. Mit der Forderung nach Integration, so der zentrale Einwand, setze man noch zu sehr auf einseitige Teilhabe behinderter Menschen an einer unveränderten Normalitätsstandards folgenden Gesellschaft und Bildung (vgl. Tervooren 2003). Demgegenüber erhofft man sich, mit »Inklusion« die Unterschiedlichkeit der Menschen besser berücksichtigen und einen kritischen Bildungsbegriff in die Diskussion bringen zu können, der dichotome Zuschreibungen aufzubrechen vermag. Mit seiner Hilfe soll es möglich sein, diverse Dimensionen von Heterogenität zu berücksichtigen: in den Geschlechterrollen, in unterschiedlichen sexuellen und weltanschaulichen Überzeugungen, in unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Herkünften, in unterschiedlichen Bildungsmilieus und Lebensentwürfen, in unterschiedlichen Eigenschaften und Begabungen usw. Im Blick auf behinderte Kinder und Jugendliche soll es darum gehen, die Opposition zwischen den Kategorien behindert und nichtbehindert in Frage zu stellen und damit das Problem der Macht auf neue Art und Weise aufzuwerfen. Andreas Hinz, Professor für Allgemeine Rehabilitations- und Integrationspädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, sieht »mit dem Aufnehmen des Inklusionsbegriffs die große Chance verbunden, von der sonderpädagogischen Orientierung der Integrationsdebatte hin zu einer allgemein pädagogischen Verortung der Inklusionsfrage zu kommen« (Hinz 2004: 70) und fordert die Integrationspädagogik auf, sich daran zu beteiligen. Allerdings sieht er zurecht, dass die pädagogische Integrationsbewegung seit den 70er Jahren nicht nur zum Ziel hatte, behinderte Kinder in den normalen Kindergarten bzw. die normale Grundschule zu integrieren, sondern sich ebenso wie die Vertreter einer Inklusiven Pädagogik immer schon dafür einsetzte, die gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen zu hinterfragen und zu kritisieren. Die Frage stellt sich also in der Tat, ob es wirklich Sinn macht, immer wieder neue Begriffe einzuführen und sie mit Deutungsmacht zu versehen. Es bleibt zu prüfen, ob es sich bei der Einführung des Begriffs »Inklusion« um mehr als nur einen problematischen Vorgang der Simulation im Sinne Jean Baudrillards (1978) handelt, wonach Begriffe zuerst aktualisiert, anschließend entwertet und schließlich durch andere ersetzt werden. Die Debatte um den kritischen Gehalt von Inklusion wird im Bereich der Pädagogik versanden, wenn es der Inklusiven Pädagogik nicht gelingt, einen überzeugenden normativen bzw. sozialtheoretischen Bezugsrahmen für das neue Paradigma ihrer Disziplin zu entwickeln. Nach Lage der Dinge richten sich hierbei die Hoffnungen auf die im deutschsprachigen Raum geführte Auseinandersetzung

7. Inklusion allein ist zu wenig!

um Inklusion und Exklusion im Kontext der Systemtheorie von Niklas Luhmann (vgl. Hinz 2004: 69). In den folgenden Überlegungen gehe ich der Frage nach, inwieweit der in der Systemtheorie verwendete Begriff »Inklusion« eine tiefergehende theoretische Reflexion über kritisierbare Zustände in der Gesellschaft anzustoßen vermag. In diesem Zusammenhang prüfe ich, in welcher Weise die von Vera Moser (2003) unternommene systemtheoretische Rekonstruktion der Sonderpädagogik einer »Inklusiven Pädagogik« als Referenzrahmen dienen kann. Mit dem machttheoretischen Instrumentarium Michel Foucaults sollen anschließend blinde Flecken des systemtheoretischen Inklusionsbegriffs aufgedeckt werden. Am Ende geht es mir darum, die Kategorie der »Anerkennung« als fundamentalen, übergreifenden Moralbegriff zu formulieren, aus dem sich eine recht verstandene Inklusion als Zielsetzung ableiten lässt. Die neuerliche gesellschaftstheoretische und pädagogische Forderung nach Inklusion wird von mir als wichtige und notwendige Folge einer Anerkennungspolitik gedeutet. Umgekehrt jedoch sehe ich in einer Politik der Inklusion allein jedoch nicht die Gewähr für eine unverkürzte Anerkennung von Menschen mit Behinderung. Innerhalb des kategorialen Rahmens einer hinlänglich ausdifferenzierten Anerkennungstheorie, so meine Überzeugung, lassen sich verschiedene Aspekte sozial verursachter Verletzungen von normativen Ansprüchen behinderter Menschen besser kenntlich machen.

I nklusion in der S ystemtheorie Nach Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, hat man sich die moderne Gesellschaft in erster Linie als ein funktional differenziertes autopoietisches System vorzustellen, das sich ausschließlich durch Kommunikation reproduziert. Funktionale Differenzierung soll bedeuten, dass die Gesellschaft nicht auf der Grundlage menschlicher Handlungsentscheidungen, sondern nach Maßgabe gesellschaftlich relevanter Funktionen in spezifische Teilsysteme ausdifferenziert ist. Ihre sozialen Systeme – Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Religion, Politik oder Erziehung – entfalten sich so durch den Einsatz binärer Codes und spannen zugleich eine Umwelt auf, in der unter anderem Menschen vorkommen. So ist für die Wirtschaft entscheidend, ob man zahlt oder nicht, für die Wissenschaft, ob eine Aussage wahr ist oder nicht, für das Recht, ob etwas als rechtmäßig angesehen wird oder nicht, für Religion, ob etwas dem Heil oder dem moralischen Standpunkt dient oder nicht und für Erziehung, ob etwas im Hinblick auf Chancen im Lebenslauf gelernt wird, oder nicht. Während soziale Integration auf die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen verweist und über den intentionalen Charakter sozialer Beziehungen vermittelt ist, beschreibt Inklusion eine Form der Adressierbarkeit von Menschen in

159

160

Behinder t sein - behinder t werden

funktionalen Systemen, nämlich die Art und Weise, in der sie in Kommunikationszusammenhängen als Personen behandelt werden. Inklusion hängt also davon ab, in welcher Art und Weise Menschen in ihren Äußerungen und Handlungen als relevante Ereignisse für die den jeweiligen Systemen eigenen Kommunikationen erfasst werden. In der Regel erfolgt dies mit Hilfe der Unterscheidung »zugehörig/nichtzugehörig« für Personen beziehungsweise »relevant/irrelevant« für die mit Personen verbundenen Kommunikationen. Inklusion stellt mithin eine abstrakte Beschreibung der Adressierung von Personen im Gesellschaftssystem bzw. in einzelnen Teilsystemen dar. Die systemischen Strukturen der modernen Gesellschaft sind hinsichtlich ihrer Funktionalität offensichtlich nicht auf soziale Integrationsformen angewiesen, sondern im Gegenteil: Der Zugriff auf die Adressaten erfolgt nicht mehr durch die Ermöglichung individueller Internalisierung sozial integrierter Norm- und Wertemuster; Menschen sind in der modernen Gesellschaft potentiell desintegriert, insofern die Gesellschaft nicht mehr auf soziale Integrationsformen wie Familie, soziale Klassen usw. angewiesen ist, sondern den desintegrierten, freien, flexiblen, mobilen Menschen benötigt, der sich den unterschiedlichen Inklusionsanforderungen der Funktionssysteme anpassen kann. Wer an den Funktionssystemen teilhaben will, der muss sich deren Erwartungsstrukturen oder besser Inklusionsbedingungen anpassen können. Die binären Codes der Funktionssysteme sind in der modernen Gesellschaft so allgemein konzipiert, »dass es in der Semantik der Funktionssysteme im Prinzip keine argumentativen Ressourcen mehr gibt, mit deren Unterstützung man behaupten könnte, dass es Menschen gibt, denen die Fähigkeit fehle, Wahrheiten nachvollziehen zu können, denen man kein Unrecht antun könne, oder für die niemand denkbar sei, der sie zu lieben imstande sein könnte« (Stichweh 2005: 182). Gleichwohl, »Inklusion muss man […] als eine Form begreifen, deren Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen bezeichnet ist und deren Außenseite unbezeichnet bleibt. Also gibt es Inklusion nur, wenn Exklusion möglich ist« (Luhmann 1998: 620f.). Nicht jedes Wer bringt die personalen Voraussetzungen mit, um die Zugangsbedingungen zu bestimmten sozialen Feldern zu erfüllen. Darüber hinaus hängt das Was der Kommunikation von den Erwartungsstrukturen sozialer Systeme ab. Um sich den jeweiligen und sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen, familiären, politischen, pädagogischen etc. Inklusionsanforderungen personellhandelnd anzupassen, muss man sich als erwartungsstabile Person erweisen, d.h. man muss Geld haben, sich den schulischen Forderungen anpassen können, an Gott glauben, beziehungs- und konfliktfähig sein, ein Staatsbürger sein, der öffentlich reden und Interessen durchsetzen kann usw. Dysfunktionale Arten der Exklusion treten dann auf, wenn man möglicherweise eine dieser unterschiedlichen Systemerwartungen enttäuscht. Insofern lässt sich fest-

7. Inklusion allein ist zu wenig!

stellen, »dass dieses Prinzip der Inklusion aller denkmöglichen Adressen in alle Funktionssysteme in der sozialen Wirklichkeit der Systeme nicht realisiert ist« (Stichweh 2005: 182): »Empirisch wird laufend sozialen Adressen die Vernunft- und Wahrheitsfähigkeit abgesprochen, werden sie als nicht rechtsfähige Subjekte aufgefasst und negiert man mit Blick auf sie ihre Liebesfähigkeit – und sei es nur in der Form, dass man sie in diesen verschiedenen Hinsichten nicht in Betracht zieht, sie gewissermaßen übersieht. Es kommen also Exklusionen massenhaft und millionenfach vor.« (Ebd.)

In einer funktional differenzierten Gesellschaft ist jedes Individuum dazu aufgefordert, entsprechende Kompetenzen auszubilden und über geforderte Eigenschaften und Fähigkeiten zu verfügen, damit es bestimmte Inklusionsregeln erfüllen kann. Vom Individuum wird insofern »Erwartungsdisziplin, deshalb Einschränkung des Verhaltensrepertoires« verlangt (Luhmann 1995: 149). Der Mensch ist zur bloßen Umwelt einer ihm gegenüber verselbständigten Gesellschaft abgewertet, die sich zum dezentrierten Gebilde differenter Systeme verdichtet hat. Er ist folglich nur noch für die Erhaltung und Erweiterung eines eigensinnigen Systembestands von Bedeutung und zerfällt zu einem diversifizierten Individuum ohne moralischen Wert, dem die sozialen Systeme als lebenswichtige und Sinn spendende Kreuzungspunkte dienen. Menschen mit einer Behinderung stellen diesen gesellschaftlichen Anspruch auf Inklusion ganz offensichtlich in Frage, »weil sie Inklusionsnotwendigkeiten (schon qua Körper) konterkarieren« (Fuchs 1995: 272). Mit ihren abweichenden Morphogenesen, eingeschränkten Wahrnehmungen, verlangsamten Prozessen der Informationsverarbeitung entsprechen sie nicht den routiniert erwartbaren Verhaltensweisen. Sie verfügen nicht über die geforderten systemrelevanten Eigenschaften und erfüllen damit nicht die Bedingungen, nach denen sich die Funktionssysteme selbst die Inklusion konditionieren. Der Sozialstaat tritt als Instrument der Inklusionsvermittlung auf. Die Bearbeitung von Exklusion fällt einem Konglomerat von Organisationen der Zweitsicherung innerhalb des Sozialstaates zu. Schwierigkeiten der Inklusion in verschiedene Funktionssysteme werden durch staatliche Angebote kompensiert. Experten der Fürsorge werden dafür bezahlt, Exklusionsvorgänge gegenüber Menschen mit Behinderungen aufzufangen.

S ystemtheorie und I nklusiven P ädagogik Bisher hat es den Anschein, als käme die Theorie sozialer Systeme »gar nicht umhin, sich auf die Komplexitätssteigerung moderner Gesellschaften affirmativ einzustellen« (Habermas 1985: 426). Die handelnden und leidenden

161

162

Behinder t sein - behinder t werden

Menschen scheinen darin zu Spielbällen gesellschaftlicher Systemimperative abgewertet: Sie bekommen die Folgen ihres Handelns durch die Realität sozialer Systemzwänge abgerechnet – der Politiker am Erfolg, der Arbeiter an der Kontrolle seiner Leistungen, der Mensch mit Behinderung an der Widerspenstigkeit seines Körpers. Die unterschwellige Botschaft an Menschen mit Behinderung scheint zu lauten, dass man sich Exklusionsmechanismen nur durch Unterwerfung unter Organisationen der Fürsorge oder Anpassung an übliche Normalitäten entziehen kann. Die Sonder- und Heilpädagogik ließe sich mithin bestenfalls als ein sekundäres Funktionssystem sozialer Hilfe begreifen. Ihr fiele die Aufgabe der sozialstaatlichen Exklusionsbetreuung bei Risiken wie Behinderung und Krankheit zu. Doch die Systemtheorie sieht nicht mehr daran vorbei, dass es im Zuge von Globalisierung und fortschreitendem Abbau des Sozialstaates in westlichen Demokratien wie auch weltweit verstärkt zu Ausgrenzungs- und Ausschlussmechanismen kommt. Luhmann selbst hat in seinen letzten Arbeiten eindringlich darauf hingewiesen, dass die in funktional differenzierten Gesellschaften gegebene Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen Exklusionseffekte verstärkt (Luhmann 1995, 1998, 2000). Er sah sich daher sogar zu der Befürchtung veranlasst, dass »die Variable Inklusion/Exklusion in manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren« (Luhmann 1998: 632). Vera Moser, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Allgemeine Heil- und Sonderpädagogik an der Justus-Liebig-Universität Gießen, greift diesen Gedanken auf. In Konstruktion und Kritik. Sonderpädagogik als Disziplin (2003) untersucht sie unter Zuhilfenahme der Systemtheorie die exkludierende bzw. selektierende Erzeugung von Differenz durch die Heilund Sonderpädagogik. Kritisiert wird eine Sonderpädagogik, die ihre zentrale Differenz zur allgemeinen Pädagogik in anthropologischer Ausrichtung entwickelt hat: Der Begriff Behinderung erst liefert die Grundlage für eine besondere Klientel und die Ableitung spezifischer methodischer und didaktischer Konzeptionen. Exklusionsprozesse werden nicht mehr in ihrer gesellschaftlichen Dimension wahrgenommen, sondern den einzelnen Individuen zugerechnet, um diese weiterhin pädagogisch behandeln zu können. »Wenn davon auszugehen ist, dass der Bildungsbegriff die Semantik des gesamten Erziehungssystems bestimmt, ließe sich die These formulieren, dass der Behinderungsbegriff in der Sonderpädagogik daran angeschlossen die Zuschneidung als Teildisziplin vornimmt.« (Ebd.: 19) In Anlehnung an eine kritische Erziehungswissenschaft versucht Moser einen Bildungsbegriff zu entwickeln, mit dem »die soziale Problembeschreibung ›Exklusion‹ in den Blick« genommen und die Perspektive der Heterogenität ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden kann. »Sonderpädagogisches Handeln wäre

7. Inklusion allein ist zu wenig! damit weder durch eine eigene Institution, noch durch eine eigene Handlungsspezifität im Sinne einer Sonderform von Vermittlung/Aneignung und Lernen mit spezifischem Bildungsauftrag gekennzeichnet, sondern lediglich durch eine eigene Perspektivität, sowie durch einen eigenen theoretischen Referenzbereich bestimmt. Letzterer […] wäre zu ergänzen um Kenntnisse hinsichtlich institutioneller und gesellschaftlicher Inklusions- und Exklusionsprozesse.« (Ebd.: 145)

Nach Moser soll die Sonderpädagogik im Erziehungssystem eingebunden bleiben. Ihr obläge die Aufgabe, soziale Inklusion innerhalb des Systems aufrechtzuerhalten – durch den Bezug auf Heterogentität als zwangsläufigem Bestandteil des Systems selbst. Bildung erführe eine neue inhaltliche Bestimmung, insoweit sie nicht mehr nur der Produktion »Gebildeter«, sondern der Bewerkstelligung von Inklusion als gesellschaftlicher Aufgabe dienen würde. Sie hieße nicht mehr nur Ermöglichung oder zumindest Verbesserung von Inklusion in andere Subsysteme, sondern »dauerhafte Bearbeitung von Inklusion«. Im Zeichen lebenslangen Lernens würde sich die funktionale Ausrichtung der Sonderpädagogik von primärer Sekretion hin zu sozialer Inklusion verändern. »Damit käme Sonderpädagogik dem erteilten Auftrag der Integrationspädagogik nach.« (Ebd.: 160) Einerseits stellt Moser die Sonderpädagogik auf der Basis der soziologischen Systemtheorie Luhmanns in den Kontext gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse, andererseits sieht sie die Leistung des Erziehungssystems aber gerade nicht in der »Selektion« für andere Teilsysteme. Den systemimmanenten Exklusionsprozessen soll entgegengewirkt werden, indem die sonderpädagogische Theoriebildung »vom Code normal/anormal bzw. behindert/ nichtbehindert auf Exklusion/Inklusion im Sinne eines Wechsels von einer personalen hin zu einer strukturbezogenen Perspektive« (ebd.: 134) umgestellt wird. Darüber hinaus soll ein kritischer Bildungsbegriff – über die Erzeugung von Lernfähigkeit hinaus – auch in Bezug auf Anerkennung und Gerechtigkeit weiter entwickelt werden (ebd.: 129). Allerdings vermisst man genauere Hinweise, wie eine solche doppelte Orientierung an sozialtheoretischer Analyse und normativer Reflexion entwickelt werden kann. Dem eigenen Anspruch, ihren bildungstheoretischen Entwurf für »das Feld der Ethik« (ebd.: 15) zu öffnen, kann Moser nicht gerecht werden.

I nklusion aus macht theore tischer S icht Peter Fuchs (1995, 14) weist darauf hin, dass mit einer nur moralischen Forderung nach Integration zu wenig berücksichtigt wird, inwieweit jeder Versuch der (Re)Inklusion von Menschen mit Behinderungen in vorhandene soziale Systeme dort zur Einschränkung bereits eingespielter Handlungsab-

163

164

Behinder t sein - behinder t werden

läufe führt: »Wenn ein schwer mehrfachbehindertes Kind in einem Normalkindergarten betreut wird (worauf man denn auch, lieber auf problemlosere Fälle zurückgreifend, weitgehend verzichtet), wird der Kindergarten es mit Wickel- und Fütterproblemen, mit Problemen zeitlicher, sachlicher und sozialer Ressourcen zu tun bekommen.« Die mit Integration verbundenen Einschränkungen für die vorhandenen sozialen Systeme müssten infolgedessen mitberücksichtigt werden. »Die wie mir scheint, weitgehende moralisierte (deswegen diffuse) Diskussion von Integration/Segregation sollte (und deswegen die Betonung der Last- und Strapazenseite) zurückgeführt werden auf die Ausgangslage: Behinderung wird sichtbar, problematisch, regelungsbedürftig, weil es soziale Systeme gibt.« (Ebd.: 15) Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich allerdings auch umgekehrt die Frage, inwieweit eine an der Logik von System und Umwelt orientierte Beobachterhaltung zu wenig berücksichtigt, welche Veränderungen eine Kritik möglich macht, die die Gesellschaft nicht nur an den normativen Ansprüchen von funktionalen Systemen misst. »Wenn die Gesellschaft, in der wir leben, tatsächlich durch die Unterscheidung von Inklusion/Exklusion ›subercodiert‹ ist, wie Luhmann nahe legt […] und wofür vieles spricht, dann wäre die Soziologie gut beraten, die Foucaultsche Perspektive in den Mittelpunkt ihrer Forschungen zu rücken.« (Schroer 2001: 45) Das Potential einer genealogischen Kritik im Sinne Michel Foucaults besteht darin, dass sie Ungerechtigkeiten nicht nur an den Ansprüchen der Gesellschaft und ihren Teilsystemen misst, sondern sich das Recht herausnimmt, diese Ansprüche selbst auf ihre Machteffekte hin zu befragen. Vom normativen Standpunkt seiner machttheoretischen Forschungen aus gibt es keinen Grund mehr, Inklusion gegenüber Exklusion prinzipiell zu bevorzugen. Vielmehr sind beide Seiten im Blick zu halten, insofern von einem machtvollen Zusammenspiel von Einschluss und Ausschluss auszugehen ist. Mit seinen Befunden zur »Bio-Politik« und »liberalen Gouvernementalität« lässt sich zeigen, dass die individuellen Freiheiten und Rechte, welche die Individuen in ihrem Anerkennungskampf erlangen, zugleich auch mit einer wachsenden Inkludierung ihres Lebens in die gesellschaftliche Machtordnung verbunden sein können. Mit Bio-Politik ist »nichts Geringeres als der Eintritt des Lebens in die Geschichte – der Eintritt der Phänomene, die dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind, in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken« gemeint (Foucault 1986: 169). Foucault umschreibt damit »die Weise, in der man seit dem 18. Jahrhundert versuchte, die Probleme zu rationalisieren, die der Regierungspraxis durch die Phänomene gestellt wurden, die eine Gesamtheit von als Population konstituierten Lebewesen charakterisieren: Gesundheit, Hygiene, Geburtenziffer, Lebensdauer, Rassen […]« (2004 II: 435). Im Laufe des 19. Jahrhunderts sieht er Machttechniken entste-

7. Inklusion allein ist zu wenig!

hen, die nicht mehr nur normierend auf den individuellen Körper und seine Leistungssteigerung gerichtet sind, sondern normalisierend auf die Vielfalt der Körper als durch Unfälle, Gebrechen und Tod geprägte Masse einwirken. So gesehen weist »Bio-Politik« auf eine Gegenbewegung innerhalb der von der Systemtheorie angenommenen funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in Subsysteme hin. Im Kontext einer alle gesellschaftlichen Subsysteme mediatisierenden Macht wird der Mensch als behandlungs- und erziehungsbedürftiges Individuum entdeckt und medizinisch-pädagogischen Interventionstechniken unterworfen. Durch Pädagogik und Medizin soll er von Bildungslosigkeit, Verhaltensauffälligkeit, Krankheit und Behinderung befreit werden. Krankheiten und Behinderungen werden zu gefahrvollen Risiken, denen man mit einem demographischen Wissen um die Häufigkeit, Ausbreitung der Ansteckungen, Statistiken und Sterblichkeitsraten begegnet. Menschen mit Behinderungen erscheinen nicht mehr als Vertreter einer besonderen Delinquenz, die in Hospitälern, Armenhäusern, Arbeits- oder Zuchthäusern verwahrt werden. Sie werden nach körperlichen, geistigen oder psychischen Auffälligkeiten unterteilt und in Sondereinrichtungen – Irren-, Taubstummen-, Blinden-, Krüppel- und sog. Heilanstalten für Schwachsinnige und Idioten – zum Zwecke der Heilung, Erziehung und Besserung interniert. Nicht zuletzt aus Furcht, die Gesellschaft könnte als Ganzes entarten, entsteht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Heilpädagogik (Rösner 2002: 252ff.). Foucault neigte lange dazu, mit »Bio-Politik« die totale Verwaltung der heterogenen Biomasse »Bevölkerung« zum Fluchtpunkt moderner Politik und Staatlichkeit zu erklären (Foucault 1986: 1999). In seiner Forschung zur »Geschichte der Gouvernementalität« (Foucault 2004 I: II) zeichnet er jedoch ein weniger dramatisches Bild von Macht, die sich in der Form liberaler Staatlichkeit mit der Freiheit der Individuen eine inhärente Grenze setzt. Er beschreibt, wie die Bevölkerung seit dem 18. Jahrhundert zum Objekt und Instrument einer »aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken« gebildeten Gesamtheit wird, »welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat« (Foucault 2004 I: 162f.). Die Analyse der Bio-Politik wird in das Konzept einer Gouvernementalität des modernen Staates eingebunden. »Gouvernementalität« (abgeleitet von dem französischen Adjektiv gouvernemental: die Regierung betreffend) ist eine Kunst der Regierung von Individuen, insofern sie Teil einer heterogenen und statistisch beschreibbaren Bevölkerung sind. »Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels deren man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung« (Foucault 2005: 116). Die entscheidende theoretische Verschiebung gegenüber dem Konzept der

165

166

Behinder t sein - behinder t werden

Bio-Politik besteht darin, dass die gouvernementale Vernunft sich »nur durch die Freiheit und auf die Freiheit eines jeden sich stützend« vollziehen kann (Foucault 2004 I: 79). Die neue Regierungskunst stellt sich als Management der Freiheit in der Weise dar, dass der Liberalismus »nicht so sehr der Imperativ der Freiheit, sondern die Einrichtung und Organisation der Bedingungen ist, unter denen man frei sein kann« (Foucault 2004 II: 97f.). Freiheit, so Foucault, bildet folglich nicht das notwendige Gegengewicht zur Sicherheit und Kontrolle, sondern deren treibendes Prinzip. Sie stellt einerseits ein Kalkül der liberalen Macht dar, andererseits bleibt sie von nun an unhintergehbarer Anknüpfungspunkt für Kritik und bildet daher eine als Risiko erscheinende Grenze für die Macht. Im Zentrum der liberalen Regierungspraxis wird »ein problematisches, ständig wechselndes Verhältnis zwischen der Produktion der Freiheit und dem hergestellt, was, indem es sie herstellt, sie auch zu begrenzen und zu zerstören droht. […] Mit einer Hand muss die Freiheit hergestellt werden, aber dieselbe Handlung impliziert, dass man mit der anderen Einschränkungen, Kontrollen, Zwänge, auf Drohungen gestützte Verpflichtungen usw. einführt« (ebd.). Foucault lässt also keinen Zweifel daran, dass der moderne Staat auf die Produktion »normaler« Individuen wie auch auf die Sicherheit der Gesellschaft vor inneren Gefahren zielt. Das Leben des Einzelnen wie auch das Leben der Bevölkerung bilden nach wie vor den Bezugspunkt vielfältiger Politiken zu seiner Sicherung, Verlängerung und Qualitätssteigerung. »Leben« bleibt dabei mehr als nur ein von außen zu fassender Angriffspunkt für politische Interventionen. Es bildet ein gestalterisches Terrain, auf dem Steuerungs- und Optimierungsmaßnahmen operieren. Gleichwohl besitzt der von der liberalen Regierungspraxis verordnete Begriff der Freiheit für Foucault das Potential zur Überschreitung. Die Einsicht, dass Freiheit nichts anderes ist als »ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten« (Foucault 2004 II, 97), eröffnet die Möglichkeit einer Kritik, in der es darum geht, »nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert (d.h. inkludiert bzw. exkludiert, H.-U. Rösner) zu werden« (Foucault 1992: 12). Das Verhältnis von Regierenden und Regierten wird auch durch eine Inklusive Pädagogik nicht überwunden, die dem Anspruch der Heterogentität von Schülerinnen und Schülern folgen möchte. Insofern ist mit Foucault daran zu erinnern, dass »es keine Machtbeziehungen gibt, ohne dass sich nicht ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert« (Foucault 1977: 39). Wenn die Inklusive Pädagogik der Gefahr entgehen möchte, einer naiven Inklusionsideologie zu verfallen, darf sie sich nicht damit begnügen, ihre Methoden und Konzepte losgelöst von machttheoretischen Überlegungen zur Problematik des Inklusionsbegriffs zu entwickeln. Ihre doppelte und paradoxe Aufgabe sollte sie darin sehen, sich einerseits für eine Pädagogik der Vielfalt einzu-

7. Inklusion allein ist zu wenig!

setzen und andererseits, sich selbstkritisch als machtvolle Kulturtechnik zu hinterfragen.

S ozialintegr ation durch A nerkennung Die bisherigen Überlegungen sollten deutlich machen, dass die Einführung des Begriffs Inklusion in zweierlei Hinsicht zu Problemen führt. Zum einen benutzt ihn eine soziologische Systemtheorie gerade nicht dazu, bestehende Strukturen zu ändern und behindertenspezifische Zuschreibungen aufzulösen. – Auf dem Monitor ihrer Beobachterperspektive erscheinen behinderte Menschen bestenfalls als Objekte der Sorge notwendiger Exklusionsbetreuung. Zum anderen lässt sich »Inklusion«, unter machttheoretischen Gesichtspunkten betrachtet, auch als euphemistische Umschreibung neuer Techniken und Verfahren der sozialen Kontrolle beschreiben: Individuen werden nicht mehr auf der Grundlage vorgegebener Normen hierarchisiert und in Behinderte und Nichtbehinderte getrennt, sondern das Normale, die Verschiedenheit der Menschen, dient nun als Norm, um die Bedingungen zu organisieren, nach denen sie sich frei entfalten können. Ein disziplinierendes Prinzip der Ausrichtung an äußeren Normen wird durch ein regulatorisches Prinzip der Orientierung an faktischer Verschiedenheit ersetzt. Das Gleiche lässt sich freilich auch über den Begriff der Anerkennung sagen, der in einer »affirmativen Kultur« zu einem öffentlichen »Instrument der symbolischen Politik« (Honneth 2004: 51) geworden ist, mit dem man es erreicht, »eine Art von Selbstwertgefühl zu schaffen, das die motivationalen Ressourcen für Formen der freiwilligen Unterwerfung liefert« (ebd.: 53). Hier kann mit Foucault von einer Macht der Anerkennung gesprochen werden, die »dem unmittelbaren Alltagsleben gilt« und »die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben« (Foucault 2005: 275). Gleichwohl, so der weitere Gedanke dieses Beitrags, sind wir dieser normalisierenden Anerkennung nicht ausgeliefert. Wir haben die Möglichkeit, die Fragen nach den Normen zu stellen, die die Macht haben, mich und den Anderen »als anerkennbares Subjekt einzusetzen oder auch auszusetzen« (Butler 2003: 32f.). Der Begriff Anerkennung ist heute zu einem zentralen Begriff der politischen Philosophie geworden. Er bildet eine normative Richtschnur, um politische Ansprüche von marginalisierten Gruppen zu charakterisieren. Dabei wird die Hegelsche Figur eines »Kampfes um Anerkennung« von Axel Honneth (vgl. 1992, 2003) und Judith Butler (vgl. 2003, 2005) zur Grundlage unterschiedlicher Erklärungen einer sozialen Dynamik gemacht: Inzwischen setzt man sich auch in einer »Pädagogik der Anerkennung« (Hafeneger u.a. 2002)

167

168

Behinder t sein - behinder t werden

zum Ziel, Anerkennung als »zentrale Dimension pädagogischer Theorie und Praxis« für einen kritischen Bildungsbegriff stark zu machen. Zahlreiche Veröffentlichungen finden sich auch im Kontext der Heil- und Sonderpädagogik (vgl. Dederich 2001, Lindmeier 2001, Sasse 2001, Deppe-Wolfinger 2002, Jantzen 2002, Rösner 2002, Stinkes 2002, Katzenbach 2004, Wils 2004, Graumann u.a. 2005, Kuhlmann 2005). Nach Honneth lassen sich die normativen Kriterien für Anerkennung »im Maß sowohl der sozialen Inklusion als auch der Individualisierung« (Fraser u.a. 2003: 299) erkennen. In der modernen Gesellschaft, so Honneth, wurde »die soziale Anerkennungsordnung von Hierarchie auf Gleichheit, von Exklusivität auf Inklusion umgestellt« (ebd.: 298f.). Eine durch den Gleichheitsgrundsatz geprägte Form der Sozialintegration macht es möglich, »dass alle Gesellschaftsmitglieder von nun an in gleichem Maße in das Netzwerk von Anerkennungsbeziehungen einbezogen werden, durch das die Gesellschaft im Ganzen sozial integriert wird« (ebd.: 299). Sozialintegration wird umso eher den normativen Erwartungen der Gesellschaftsmitglieder gerecht, »je stärker sie jeden Einzelnen in die Anerkennungsbeziehungen einbezieht und ihm zur Artikulation seiner Persönlichkeit verhilft« (ebd.: 302). In einer Sozialordnung, »in der die Individuen die Möglichkeit einer intakten Identität der affektiven Fürsorge, der rechtlichen Gleichstellung und der sozialen Wertschätzung verdanken« (ebd.: 215), sind für Honneth die Voraussetzungen dafür gegeben. Mit dieser Anerkennungsordnung ist für ihn zugleich aber auch der normative Rahmen gesetzt, innerhalb dessen sich soziale Inklusion zu vollziehen hat. Die institutionalisierten Prinzipien der Liebe, des Rechts und der Leistung legen im Einzelnen auch fest, »in welchen Aspekten Individuen auf soziale Anerkennung rechnen oder zu ›sozialer Existenz‹ (Judith Butler) gelangen können« (ebd.: 287): In Intimbeziehungen, die Praktiken Zuwendung und Fürsorge umfassen, haben sich die Mitglieder einer Gesellschaft als Individuen mit einer jeweils eigenen Bedürftigkeit wahrzunehmen. In Rechtsbeziehungen, die sich nach dem Muster der wechselseitigen Einräumung von gleichen Rechten wie auch Pflichten entfalten, müssen sie sich als Rechtspersonen achten, denen dieselbe Autonomie wie allen anderen Gesellschaftsmitgliedern zukommt. In den Sozialbeziehungen, in denen es um Konkurrenz und beruflichen Status geht, sollten sie sich als Subjekte schätzen, deren Leistungen von Wert für die Gesellschaft sind. Von Fortschritt lässt sich nach diesem Konzept dennoch sprechen, insofern in den drei Prinzipien der Liebe, des Rechts und der Leistung ein »Geltungsüberhang« wirksam ist. Honneths Vorstellung läuft im Kern »auf die Hypothese hinaus, dass jede soziale Integration von Gesellschaften auf geregelte Formen der wechselseitigen Anerkennung angewiesen ist, an deren Unzulänglichkeiten und Defiziten sich stets wieder Empfindungen der Missachtung festmachen, die als Antriebsquelle gesellschaftlicher Veränderungen

7. Inklusion allein ist zu wenig!

gelten können« (ebd.: 282). Durch einen unentwegten Kampf um Anerkennung soll es dazu gekommen sein, dass »mit der Ausdifferenzierung der drei Anerkennungssphären der Liebe, der Rechtsgleichheit und des Leistungsprinzips zugleich eine Steigerung an sozialen Individualisierungsmöglichkeiten als auch ein Wachstum an sozialer Einbeziehung einhergeht« (ebd.: 219). Problematisch erscheint in Honneths Architektonik, dass er die Wertschätzung des Anderen mit dessen besonderen »Leistungen« verbindet und damit die internalisierten Wertmaßstäbe einer kapitalistisch orientierten Gesellschaft normativ auszeichnet (Rösner 2002: 120ff.). Hinzu kommt, »dass er die Wahrnehmung individueller Bedürftigkeit der Anerkennungsform der ›Liebe‹ zuordnet und praktizierte Fürsorge damit in die Sphäre personaler Nahbeziehungen wie Familie und Freundschaft verweist« (Kuhlmann 2005: 157). Aus diesem Grund empfiehlt Iris Marion Young (2005), die von Honneth gesetzten Grenzen zwischen den Sphären der Liebe und Fürsorge einerseits und der Wertschätzung andererseits, durch eine Neubewertung des Leistungsbegriffs abzumildern. Für Honneth sind es vor allem die »Expansionstendenzen des Prinzips der rechtlichen Gleichbehandlung, denen das Potential innewohnt, korrigierend in andere Anerkennungssphären einzugreifen und hier für die Sicherstellung von minimalen Identitätsbedingungen Sorge zu tragen« (Fraser u.a. 2003: 223). Gleichwohl sind es abhängige und verletzbare »Individuen, und nicht Rechtspersonen, die den Prozess einer moralisch sensibilisierten Sicht auf unsere Lebensverhältnisse immer wieder neu anstoßen« (Wils 2004: 89). Es ist die »Anerkennung der Abhängigkeit« (MacIntyre 2001) bzw. das »primäre Ausgesetztsein vor dem Anderen« (Butler 2003: 100), die dem Kampf um Anerkennung als moralische Triebfeder dienen. Nach Butler (2003) haben alle bisherigen Anerkennungstheorien mehr über die Beziehung des Subjekts zur Moral nachgedacht und weniger darüber, inwieweit die Moral qua institutionalisierter Normen bei der Hervorbringung des Subjekts verantwortlich ist. Sie setzen voraus, dass Anerkennung bereits unversehrte Identität garantiert und Schutz vor deren Verletzung ermöglicht. Erst die Macht sozialer Normen, so Butler, erzeugt jedoch die Bedingungen für Identität und soziale Anerkennung. Die Verhältnisse, unter denen wir für uns soziale Anerkennung erlangen und soziale Existenz gewinnen, sind zugleich auch die Verhältnisse, die uns reglementieren. Nur eine Theorie der Anerkennung, die diese Grenzen der Selbsterkenntnis akzeptiert, kann für Butler im Dienste eines verantwortlichen Umgangs mit sich selbst und dem Anderen stehen. Den »Schauplatz der Anerkennung« verortet sie einerseits im Rahmen von »Wahrheitsregimen« (Butler 2003: 32), auf der anderen Seite sucht sie aber auch nach einem erweiterungsfähigen und mitfühlenden »Vokabular der Anerkennung« jenseits identifizierender

169

170

Behinder t sein - behinder t werden

Zuschreibungen, das die »partizipatorische Basis des demokratischen Lebens« (Butler 1997: 10) verbreitern soll.

A usgese t z tsein an den A nderen Im Rahmen des Selbstverständnisses der Inklusiven Pädagogik wird »von einer – zwar administrativ teilbaren, aber – pädagogisch ununterteilbaren Gruppe mit einem großen Spektrum individueller Unterschiede und Gleichheiten ausgegangen.« Die bisher in der Sonderpädagogik angesiedelten Unterstützungssysteme sollen weiterhin ihre Funktion erfüllen, »ergänzend für alle Situationen zuständig zu sein, in denen Exklusion oder Egalisierung droht. […] Dabei erfolgt eine Eingrenzung von Fragestellungen nicht nur nach inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern auch entsprechend den Bedürfnissen aller Beteiligten, nach dem Motto: Wer Bedarf hat, nimmt Unterstützung in Anspruch« (Hinz 2005: 77f.). Das pädagogische Eingehen auf Heterogentität besteht darin, den Anderen in all seinen Facetten anzuerkennen und ihm eine volle Teilhabe am Bildungssystem zu ermöglichen. Die Menschen werden zunächst so genommen und gutgeheißen, wie sie sind, ohne dabei eine Perspektive ihrer gezielten Förderung aus den Augen zu verlieren. Nicht näher erklärt wird jedoch, wie sich hierbei die Innenperspektive und Außenperspektive im Verstehen des Anderen zur Deckung bringen lassen. Bei ihrer »Hinwendung zur ganzen Person« (Hinz 2004: 63) sollten sich die Vertreter einer Inklusiven Pädagogik jedoch vergegenwärtigen, dass das Vokabular, mit dem sie sich verstehend ihren Gegenüber zu nähern glauben, gleichwohl in perspektivische und kontextgebundene »Wahrheitsspiele« (Foucault) verstrickt bleibt. Es wird immer von einem Wahrheitsregime festgelegt, »wer als Subjekt der Anerkennung in Frage kommt, und es bietet verfügbare Normen für den Akt der Anerkennung selbst« (Butler 2003: 32). Anerkennungstheorien üben Gewalt aus, wenn sie von der Voraussetzung ausgehen, dass verstehendes Anerkennen bereits unversehrte Identität garantiert und Schutz vor deren Verletzung ermöglicht. Zwischen Gerechtigkeit, die durch Institutionen oder Disziplinen ausgeübt wird und interpersonaler Anerkennung bleibt immer ein Spannungsverhältnis. Butler geht davon aus, »dass wir nicht deshalb aneinander gebunden sind, weil wir vernünftig denkende Wesen sind, sondern vielmehr deshalb, weil wir einander ausgeliefert sind und einer Anerkennung bedürfen, die den Anerkennenden nicht durch den Anerkannten ersetzt« (Butler 2005: 67). »Was könnte es heißen, eine Ethik aus der Sphäre des Ungewollten zu entwickeln? Es könnte bedeuten, dass man sich diesem primären Ausgesetztsein vor dem Anderen

7. Inklusion allein ist zu wenig! nicht verschließt, dass man nicht versucht, das Ungewollte ins Gewollte zu überführen, sondern stattdessen eben die Unerträglichkeit des Ausgesetztseins als Zeichen einer geteilten Verletzlichkeit, einer gemeinsamen Körperlichkeit, eines geteilten Risikos begreift« (Butler 2003: 99f.). In der Beziehung der Nähe betrachten wir den Einzelnen nicht unter dem Gesichtspunkt abstrakter Bestimmungen, die für alle gelten. Er tritt aufgrund einer ursprünglichen und geteilten Erfahrung der Verletzbarkeit als das einzigartige Gegenüber einer asymmetrischen Verantwortung auf. »Die Aufgabe besteht zweifellos darin, diese primäre Prägbarkeit und Verletzbarkeit mit einer Theorie der Macht und Anerkennung zu durchdenken.« (Butler 2005: 63)

L iter atur Adorno, Theodor W. (1980): Negative Dialektik, Frankfurt a.M. Ahrbeck, Bernd., Rauh, Bernhard (Hg.) (2004): Behinderung zwischen Autonomie und Angewiesensein, Stuttgart. Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen. Berlin. Butler, Judith (1998): Hass spricht, Zur Politik des Performativen. Berlin. Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben, Politische Essays, Frankfurt a.M. Deppe-Wolfinger, Helga (2002): »Integration und Solidarität«, in: Birigt Warzecha (Hg.), S. 39-57. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1986): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Erster Band. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975/1976), Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2003): Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band III (1976-79), Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2005): Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), Frankfurt a.M. Fraser, Nancy, Honneth, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung. Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a.M. Fuchs, Peter (1995): »Behinderung von Kommunikation durch Behinderung«, in: Werner Strubel, Horst Weichselgartner (Hg.), S. 9-18.

171

172

Behinder t sein - behinder t werden

Geiling, Ute, Hinz, Andreas (Hg.) (2005): Integrationspädagogik im Diskurs. Bad Heilbrunn. Graumann, Sigrid, Grüber, Katrin, Nicklas-Faust, Jeanne, Schmidt, Susanna, Wagner-Kern, Michael (Hg.) (2004): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivwechsel. Frankfurt a.M. Graumann, Sigrid, Grüber, Katrin (Hg.) (2005): Anerkennung, Ethik und Behinderung. Beiträge aus dem Institut Mensch, Ethik, Wissenschaft. Münster. Greving, Heinrich, Gröschke, Dieter (Hg.) (2002): Das Sisyphos-Prinzip. Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik. Bad Heilbrunn. Greving, Heinrich, Mürner, Christian, Rödler, Peter (Hg.) (2004): Zeichen und Gesten – Heilpädagogik als Kulturthema. Gießen. Gusy, Christoph, Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.) (2005): Inklusion und Partizipation. Politische Kommunikation im historischen Wandel. Frankfurt a.M./ New York. Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. Hafeneger, Benno, Henkenborg, P. Scherr, Albert (Hg.) (2002): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach/Ts. Hinz Andreas (2002): »Von der Integration zur Inklusion – terminologisches Spiel oder konzeptionelle Weiterentwicklung?«, in: Zeitschrift für Heilpädagogik 53, 9, S. 354-361. Hinz, Andreas (2004): »Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion!?«, in: Irmtraud Schnell/Alfred Sander (Hg.), S. 41-74. Hinz, Andreas (2005): »Zur disziplinären Verortung der Integrationspädagogik – sieben Thesen«, in: Ute Geiling u.a. (Hg.), Bad Heilbrunn., S. 75-79. Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M. Honneth, Axel (2004): Anerkennung als Ideologie, in: WestEnd 1 (2004) Heft 1, S. 51-70. Jantzen, Wolfgang. (2002) »Dialog und symbolisches Kapital – über verborgene Voraussetzungen der Anerkennung«, in: Birgit Warzecha (Hg.), S. 21-38. Katzenbach, Dieter (2004): »Anerkennung, Missachtung und geistige Behinderung – sozialphilosophische Perspektiven auf den sogenannten Paradigmenwechsel in der Behindertenpädagogik«, in: Bernd Ahrbeck, Bernhard Rauh (Hg.), S. 127-144. Kuhlmann, Andreas (2005): »Behinderung und die Anerkennung von Differenz«, in: WestEnd 2, 1, S. 153-164.

7. Inklusion allein ist zu wenig!

Lindmeier, Christian (2001): »Die Legitimation der Heilpädagogik im Spannungsfeld der ethischen und politischen Anerkennung von Gleichheit und Verschiedenheit«, in: Die neue Sonderschule, 46, 6, S. 1-18. Luhmann, Niklas (1992): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. Luhmann, Niklas (1995): »Inklusion und Exklusion«, in: Ders. Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Die Soziologie und der Mensch. Opladen, 237-264. Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. Luhmann, Niklas (2000): Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a.M. MacIntyre, Alasdair (2001): Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden, Hamburg. Moser, Vera (2003): Konstruktion und Kritik, Sonderpädagogik als Disziplin. Opladen. Nassehi, Armin (1999): Differenzierungsfolgen, Beiträge zur Soziologie der Moderne. Opladen. Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung, Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein. Frankfurt a.M./New York. Rösner, Hans-Uwe (2004): »Behindertsein als kulturelles Wahr-Zeichen, Umrisse einer dekonstruktiven Kritik«, in: Heinrich Greving u.a. (Hg.), S. 209-227. Schnell, Irmtraud/Sander, Alfred (Hg.) (2004): Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn. Schroer, Markus (2001): »Die im Dunkeln sieht man doch«, in: Mittelweg 36, Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 10, S. 33-46. Steinfath, Holmer (Hg.) (1998): Was ist ein gutes Leben? Philosophische Reflexionen. Frankfurt a.M. Stichweh, Rudolf (2005): Inklusion und Exklusion, Studien zur Gesellschaftstheorie. Bielefeld. Stinkes, Ursula (2002): »Zur schwierigen Frage nach der Anerkennung – Fürsorge oder Solidarität für Menschen mit Behinderung?« in, Heinrich Greving u.a. (Hg.), S. 203-219. Strubel, Werner, Weichselgartner, Horst (Hg.) (1995): Behindert und Verhaltensauffällig, Zur Wirkung von Systemen und Strukturen. Freiburg. Tervooren, Anja (2003): »Pädagogik der Differenz oder differenzierte Pädagogik?«, in Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 26, 1, S. 26-36. Warzecha, Birgit (Hg.) (2002): Zur Relevanz des Dialogs in Erziehungswissenschaft, Behindertenpädagogik, Beratung und Therapie. Münster. Wils, Jean-Pierre (2004): »Respekt statt Ausgrenzung – Die Ethik der ›Anerkennung‹«, in Sigrid Graumann u.a. (Hg.), S. 81-91. Young, Iris Marion (2005): »Anerkennung von Liebesmühe – zu Axel Honneths Feminismus«, in DZPhil 53, 3, S. 415-433.

173

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

Über die normativen Grundlagen der Heilpädagogik



als Kulturwissenschaft »Gibt es eine Möglichkeit, wie ich in vielen Bereichen für Autonomie kämpfen, aber auch die Forderungen berücksichtigen kann, die uns auferlegt werden, weil wir in einer Welt von Wesen leben, die per definitionem physisch voneinander abhängig sind und wechselseitig physisch verletzbar sind? Wäre das nicht eine andere Art, sich Gemeinschaft vorzustellen, eine Gemeinschaft, in der wir uns nur gleichen, insofern wir jeweils einzeln diese Voraussetzungen haben und daher eine Bedingtheit gemeinsam haben, die ohne Differenz nicht gedacht werden kann?« Judith Butler (2005: 44)

E inleitung Die Heilpädagogik ist eine Fachdisziplin mit eigenem konzeptionellem Rahmen, eigener theoretischer Ausrichtung, eigenen methodischen Verfahren und eigener professioneller Identität. Ihr Ziel ist es, behinderte Kinder und Jugendliche zu fördern, um ihnen ein Höchstmaß an Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen. Zur Kulturwissenschaft wird sie, wenn sie kritisch hinter die Prämissen der disziplinär akzeptierten Gegenstandsbezüge und Problembeschreibungen zurückfragt, um »herauszufinden, auf welchen Erkenntnissen, Gewohnheiten und erworbenen, nicht reflektierten Denkweisen die akzeptierte Praxis beruht« (Foucault 2005a: 221). Innerhalb des soziologisch-analytischen Bezugsrahmens der Disability Studies (Dederich 2007, Waldschmidt u.a. 2007), befasst sie sich dann mit dem Verhältnis von Macht und symbolischer Bedeutung, auf deren Grund-

176

Behinder t sein - behinder t werden

lage Wissen über Körperlichkeit und Subjektivität entsteht und Behindertsein als das konstruierte und abgewertete Gegenstück zu Normalität erscheint (vgl. Rösner 2002: 215ff.). Heilpädagogik als Kulturwissenschaft kann sich gemeinsam mit den Disability Studies da auf Foucault berufen, wo jener ein grundlegendes Phänomen der modernen Gesellschaften darin sieht, »was man die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht nennen könnte« (Foucault 1999: 276). Ihre normativen Sichtweisen weichen jedoch voneinander ab, wenn sich die Disability Studies dem Anspruch entziehen, eine kulturwissenschaftliche und eine philosophisch-normative Perspektive zu verbinden und Foucaults zeitweise geteilte »Hypothese Nietzsches« (ebd.: 27) übernehmen, dass der Krieg die Grundlage des Sozialen bildet. Kultur ist mehr als nur ein »Ort der Teilhabe an Kämpfen zwischen konkurrierenden Praktiken, die unvermeidlich mit Machtverhältnissen verknüpft sind« (Dannenberg 2007: 113). Die notwendige Suche nach den normativen Grundlagen der eigenen Kritik lässt sich nicht einfach dadurch ersetzen, dass man sich apodiktisch zum Bestandteil innerhalb eines kulturellen »Ringen(s) um Definitionsmacht im Feld von Behinderung« (ebd.) macht. Die Disability Studies lassen den normativen Gesichtspunkt unkenntlich, vor dessen Hintergrund ihr kritischer Diskurs erfolgt. Die Idee der Gerechtigkeit mag für sie eine Vorstellung sein, die »in vielen verschiedenen Gesellschaften erfunden wurde, um als Werkzeug für oder als Waffe gegen bestimmte politische und wirtschaftliche Mächte eingesetzt zu werden« (Foucault 2008: 52). Sie ist aber auch mit der Suche nach den Gründen verbunden, weshalb wer welche Rechte oder Güter hat bzw. nicht hat, wer worauf einen Anspruch hat, wie die Beteiligten zueinander stehen und welche Veränderungen der politischen oder sozialen Machtverhältnisse vonnöten sind. Heilpädagogik als Kulturwissenschaft nimmt daher der Gerechtigkeit gegenüber eine doppelte und paradoxe Perspektive im Sinne Adornos (Foucault 1997: 250) ein: »Man muss an dem Normativen, an der Selbstkritik, an der Frage nach dem Richtigen oder Falschen und gleichzeitig an der Kritik der Fehlbarkeit der Instanz festhalten, die eine solche Art der Selbstkritik sich zutraut.« Sie hält insofern an dem Allgemeinbegriff der Gerechtigkeit fest, jedoch im Sinne Jacques Derridas als einer »Erfahrung des Unmöglichen« (Derrida 1991: 33). Im Folgenden werde ich unterschiedliche moralische Standpunkte vorstellen und danach überprüfen, inwieweit sie sich als normative Grundlage einer kulturwissenschaftlich orientierten Heilpädagogik eignen. Die in der Heilpädagogik noch uneinheitlich benutzten Begriffe »Differenz« und »Abhängigkeit« werden dabei den Gang meiner Argumentation strukturieren. Nachdem ich die Grundzüge von John Rawls liberaler Gerechtigkeitstheorie in groben Zügen vorgestellt habe, werden die Einwände Martha C. Nussbaums vor dem Hintergrund ihrer neoaristotelischen Gerechtigkeitsvorstellungen rekonstruiert. Am Ende soll deutlich werden, dass von Gerechtigkeit im Sinne einer kul-

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

turwissenschaftlich orientierten Heilpädagogik nur gesprochen werden kann, wenn auch Judith Butlers »Kritik ethischer Gewalt« und Jacques Derridas dekonstruktives »Denken der kommenden Demokratie« Aufnahme finden.

G erechtigkeit als F airness (J ohn R awls) Mit A Theorie of Justice (1971) hat der 2002 verstorbene amerikanische Philosoph John Rawls die politische Philosophie neu belebt und das Thema Gerechtigkeit ins Zentrum allgemeiner Aufmerksamkeit gerückt. Seine liberale Konzeption der »Gerechtigkeit als Fairness« beruht auf der »Idee der Gesellschaft als eines fairen Systems sozialer Kooperation zwischen freien und gleichen Personen, die als lebenslang uneingeschränkt kooperative Mitglieder einer Gesellschaft betrachtet werden« (Rawls 1998: 74). Nur solche Normen, so Rawls, können allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen, die vor dem Hintergrund entgegen gesetzter und widerstreitender philosophischer und religiösen Lehren von allen Beteiligten unter der Voraussetzung fairer Bedingungen auf rationale Weise anerkannt werden können. Insofern ist nur ein auf Fragen grundlegender politischer und sozialer Gerechtigkeit beschränkter »übergreifender Konsens« zwischen unterschiedlichen ethisch-kulturelllen Milieus möglich, der auf einer allgemeinen öffentlichen Sprache beruht, die rationale Argumente zur Geltung bringt und für Kritik offen bleibt. Auf dieser Grundlage entstehen die wesentlichen Verfassungsinhalte, die sich auf jene Grundgüter beziehen, die der zufälligen Mehrheitsentscheidung entzogen sind und eine Voraussetzung für die Legitimation allgemeiner Gesetze bilden. Rawls veranschaulicht diese Überlegung anhand seines Modells einer fiktiven Situation, in der die Mitglieder der Gesellschaft hinter einem »Schleier der Unwissenheit« beraten und gemeinsam entscheiden, welche obersten Gerechtigkeitsgrundsätze die Grundstruktur ihrer Gesellschaft regulieren sollen. In diesem »Urzustand« wissen die verhandelnden Parteien weder, welche persönlichen Präferenzen und Fähigkeiten sie haben, noch kennen sie ihre besonderen moralischen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Darüber hinaus ist ihnen die in ihrer Gesellschaft bestehende Verteilung sozialer Positionen und Lebenslagen nicht bekannt. Gleichwohl verfügen sie über zwei moralische Vermögen – die Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn und die Befähigung zu einer Konzeption des Guten. Ausgeklammert bleiben »zeitweilige(n) Einschränkungen von Fähigkeiten« wie auch »dauerhafte Behinderungen und psychische Störungen, die so ernsthaft sind, dass die von ihnen Betroffenen keine kooperativen Gesellschaftsmitglieder im üblichen Sinne sein können« (ebd.: 87). Die Mitglieder der Gesellschaft, so Rawls, würden sich unter diesen Umständen auf zwei Gerechtigkeitsprinzipien einigen (Rawls 2003: 78). Das erste fordert für alle Bürger ein adäquates System gleicher politischer Rechte und

177

178

Behinder t sein - behinder t werden

liberaler Freiheiten. Das zweite Prinzip bezieht sich auf soziale und ökonomische Ungleichheiten. Sie sind nur dann gerecht, wenn 1. Ämter und Positionen allen Bürgern unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offen stehen und 2. sich bestehende Ungleichheiten zum Vorteil der am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft auswirken (Differenzprinzip). Das erste Prinzip hat für Rawls einen absoluten Vorrang vor dem zweiten, wie auch im zweiten Prinzip die faire Chancengleichheit Vorrang vor dem Differenzprinzip. In einer wohlgeordneten Gesellschaft entsprechen die gesellschaftlichen Institutionen den anerkannten Gerechtigkeitsprinzipien und die Gesellschaftsmitglieder handeln in Übereinstimmung mit ihnen, indem sie ihre sittlichen Vorstellungen mit den Prinzipien in ein »Überlegungsgleichgewicht« bringen und auf »allen Ebenen der Allgemeinheit« wohlerwogene politische Urteile fällen« (ebd.: 61). Rawls geht davon aus, dass die Idee des politischen Liberalismus nicht ohne eine »schwache Theorie des Guten« formuliert werden kann. Die beiden Gerechtigkeitsprinzipien werden von ihm inhaltlich durch eine Liste fünf verschiedener Arten von Grundgütern konkretisiert. Sie umfasst die aus den Verfassungen moderner Demokratien vertrauten politischen Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten (aktives und passives Wahlrecht, Freiheit der politischen Rede, Religions- und Gewissensfreiheit, persönliche Schutzrechte und Freiheiten), Freizügigkeit und freie Berufswahl, die mit öffentlichen Ämtern und gesellschaftlichen Positionen verbundenen Vorrechte, Einkommen und Vermögen, soziale Grundlagen der Selbstachtung (ebd.: 100f.). Eine gerechte Güterverteilung zeichnet sich dadurch aus, dass jeder genau den Anteil dieser kollektiv verfügbaren Güter und Ressourcen erhält, der ihm unter Berücksichtigung aller moralisch relevanten Gesichtspunkte zusteht. In Rawls »Differenzprinzip« wird zwischen leistungs- und bedarfsbezogenen öffentlichen Ansprüchen auf Ungleichbehandlung unterschieden. Bedarfsbezogene Ansprüche für unterschiedliche Güterzuteilungen sind dann gerechtfertigt, wenn eine Person aufgrund besonderen Lebensumstände ohne fremde Hilfe allgemein als wertvoll anerkannte Lebensvorstellungen nicht realisieren kann, die für sie selbst vor dem Hintergrund ihrer Bedürfnisse und Interessen wichtig sind. Für den Fall einer Behinderung heißt das, dass Ungleichverteilungen von Gütern dann gerechtfertigt sind, wenn dies dazu dient, mit dem für ein selbstbestimmtes Leben und der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendigen Minimum an Gütern und Handlungsmöglichkeiten versorgt zu werden. So benötigen kranke und behinderte Menschen häufig mehr Ressourcen und wertvolle Güter (Betreuung, Assistenz, Pflege, medizinische Behandlung) als durchschnittlich gesunde Menschen, um eine vergleichbare Stufe persönlichen Wohlergehens zu erreichen. Rawls macht deutlich, dass »jemand, der nur aufgrund zufälliger Umstände nicht an der ursprünglichen Vereinbarung teilnehmen kann, in den

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

Genuss gleicher Gerechtigkeit kommen soll« (Rawls 1979: 553). Nach seinem Dafürhalten »liegt es auf der Hand und entspricht dem Common sense, dass wir gegenüber allen Menschen in der Pflicht stehen, einerlei, wie schlimm sie behindert sind« (Rawls 2003: 270, Fußn. 59). Er setzt jedoch das unabhängige und autonome Subjekt voraus, bei dem die Aspekte der Verletzlichkeit und Abhängigkeit von sozialen Beziehungen sowie die lebensgeschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Formen von Differenz tendenziell ausgeblendet bleiben. Seine Liste der Grundgüter zielt nicht auf Menschen mit schwerer Behinderung, sondern auf »ein Leben lang voll normale und voll kooperierende Bürger« (ebd.: 260). So entsteht eine Hierarchie zwischen dem Anspruch auf faire Gleichbehandlung kooperationsfähiger Subjekte und dem Anspruch auf Anerkennung als bedürftiges und abhängiges Subjekt mit konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten. Wenn verletzbare und sich in Abhängigkeit befindliche Menschen auf der Begründungsebene einer Gerechtigkeitstheorie nur in indirekter Weise – als Adressaten von Fürsorge – Berücksichtigung finden, werden Verhältnisse möglich, in denen auf der Ebene praktischen Umgangs das Solidaritätsband zerrissen werden kann. Rawls bestätigt diese Sorge, wenn er davon ausgeht, dass die »Stärke der Ansprüche auf medizinische Versorgung […] mit der Aufrechterhaltung unserer Fähigkeit« korreliert, »als normale Mitglieder der Gesellschaft zu fungieren« (ebd.: 268). Inzwischen wird auch von Vertretern des Liberalismus zugestanden, dass eine Konzeption der Gerechtigkeit auf der Einsicht in die vielfältigen Risiken menschlicher Verletzbarkeit und Abhängigkeit beruhen sollte. »Ohne das Bewusstsein dieser Verletzbarkeit und die entsprechende Sensibilität, ohne das Bewusstsein, dass das eigene Handeln den ›Willen des leidenden Subjects‹, mit Kant zu sprechen, berücksichtigen muss, bliebe eine sittliche Einsicht, die ja eine Einsicht in menschliche Verantwortung ist, blind« (Forst 2007: 67).

G erechtigkeit als B efähigung zum guten L eben (M artha C. N ussbaum) Martha C. Nussbaum, Philosophin an der University of Chicago, geht davon aus, dass Fragen der Gerechtigkeit nur auf der Grundlage einer für alle Gemeinschaften und Kulturen gültigen Vorstellung des guten Lebens beantwortet werden können. Ihr Konzept knüpft die Legitimation des Staates an die Bedingung, allen seinen Mitgliedern den Zugang für ein menschenwürdiges oder gutes menschliches Leben zu ermöglichen. Auf dieser Grundlage ergeht an die Politik die Forderung nach einem Engagement zu sozialer Gerechtigkeit, durch das die Menschen sich ihren unterschiedlichen Vermögen und Fähigkeiten gemäß entwickeln können. Die wesentliche öffentliche Aufgabe

179

180

Behinder t sein - behinder t werden

der Regierung besteht darin, »die materiellen, institutionellen sowie pädagogischen Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die ihnen einen Zugang zum guten menschlichen Leben eröffnen und sie in die Lage versetzen, sich für ein gutes Leben zu entscheiden« (Nussbaum 1999: 24). Sie ist erst dann erfüllt, wenn alle Hindernisse beseitigt sind, die zwischen dem Bürger und der vollen Entfaltung seiner Fähigkeiten entstehen. Nussbaum möchte die »falschen, tief sitzenden Bilder korrigieren, die uns zu den unangemessenen Resultaten geführt haben. Ideen von Unabhängigkeit, von Produktivität und dem Austausch des Beitrags der einen Person durch den Beitrag einer anderen Person« (Nussbaum 2003: 194). Rawls’ liberales Gerechtigkeitsmodell stellt für sie eine gewaltförmige Abstraktion von jenen primären Erfahrungen realer Abhängigkeiten dar, die in der intersubjektiven Begegnung zwischen Menschen existieren (ebd.: 184). Das moralische Prinzip der Gleichbehandlung von lebenslang kooperationsfähigen Personen wird mit dem Differenzprinzip zwar um jenes der Fürsorge gegenüber Menschen mit Behinderungen erweitert; seine Nachrangigkeit führt jedoch dazu, »Leute mit lebenslangen geistigen Behinderungen nicht vollständig wertzuschätzen, wird doch Fürsorge von dieser Theorie eigentlich nur um dessentwillen, was sie für die ›voll Kooperierenden‹ leistet, als wertvoll erachtet« (ebd.: 192). Auch ist nicht allein die Menge der zugeteilten Güter von Bedeutung, sondern was Menschen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Gütern tun können, welche Fähigkeiten und Funktionen sie umzusetzen vermögen. Rawls Liste primärer Güter erweist sich insofern als unzureichend gegenüber dem »Bedürfnis vieler realer Leute nach der Art von Fürsorge, die wir Menschen angedeihen lassen, die nicht unabhängig sind« (ebd.: 185). Nussbaums »starke vage Konzeption des Guten« (Nussbaum 1999: 45ff.) trägt dem Umstand Rechnung, dass spezifische Bedingungen unseres Menschseins, – dass wir von internen und externen Vermögen (capabilities) abhängige Wesen mit einer begrenzten Lebenszeit sind –, für die Ethik und moralische Ansprüche und Verpflichtungen relevant sind. Während sich interne Vermögen auf Eigenschaften und Fähigkeiten beziehen, die es einer Person unter geeigneten Bedingungen erlauben, ihre persönlichen Vorstellungen von einem guten Leben zu realisieren, beziehen sich externe Vermögen auf die äußeren materiellen und sozialen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine Person in der Lage ist, Dinge zu tun, die für sie von Wert sind. Sie nennt eine Liste von zehn Bereichen der Erfahrungen und des Handelns, die von ihr als vage und offen für Revisionen und Ausformulierungen im konkreten Kontext begriffen wird. Diese Liste soll als Parameter dienen, um die von den Grundsätzen der Gerechtigkeit beeinflussten Verteilungen und deren institutionelle Rahmenbedingungen zu überprüfen. Sie fordert Fähigkeiten ein, die der Einzelne für seinen Lebensentwurf nutzen kann. Darüber hinaus soll sie

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

aber auch die Möglichkeit lassen, »das Fähigkeiten-Ziel mit Bezug auf einen bestimmten Typus von Behinderten zu spezifizieren« (Nussbaum 2003: 198). Ein Leben ist für Nussbaum ein gutes menschliches Leben, wenn folgende zentralen Funktionsfähigkeiten vorliegen: 1. Leben – Ein menschliches Leben von normaler Länge zu leben … 2. Körperliche Gesundheit – Sich guter Gesundheit zu erfreuen… 3. Körperliche Unversehrtheit – Sich von einem Ort zu einem anderen bewegen zu können; Schutz vor gewalttätigen Angriffen …4. Sinn, Vorstellung und Gedanke – Seine Sinne und seine Phantasie zu gebrauchen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen … 5. Gefühle – Beziehungen zu Dingen und Menschen außerhalb unser selbst einzugehen… 6. Praktische Vernunft – Eine Vorstellung des Guten zu entwickeln … 7. Zugehörigkeit – A. Mit anderen und für andere zu leben … B. Die sozialen Hintergründe für Selbstachtung und Schutz vor Demütigung besitzen…8. Andere Spezies – In Gemeinschaft und Beziehung mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben. 9. Spiel – Zu lachen, zu spielen, sich an erholsamen Tätigkeiten zu erfreuen. 10. Kontrolle über die eigene Umgebung – A. Politisch: Wirksam in politischen Belangen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen… B Materiell: Das Recht zu Besitz von Eigentum haben… (Nussbaum 2006: 76-78). Neuerdings verbindet Nussbaum diese Fähigkeitenliste mit dem Anspruch auf einen Begriff von Menschenwürde und Menschenrechten. Indem sie jedem behinderten Menschen die Fähigkeit zuspricht, auf seine Weise »capabilities« zu verwirklichen, distanziert sie sich von ihren früheren problematischen Vorstellungen über konstitutive Bedingungen des Menschenseins und der Aussage, »dass bestimmte schwerstbehinderte Kinder keine menschlichen Wesen sind, auch wenn sie von menschlichen Eltern abstammen« (Nussbaum 1999: 198f.). Nun macht sie deutlich, dass ein Mensch auch bei Nichterreichen des mit der Befähigungsliste verbundenen Entwicklungsniveaus nicht unter die Schwelle der Menschenwürde fällt, sondern sich vielmehr daraus Ansprüche ergeben, die Gesellschaft zum Adressat entsprechender Verpflichtungen ihm gegenüber zu machen (vgl. Nussbaum 2006: 179ff; 432, Anm. 18). Damit vermag sie die Kritik zu entkräften, sie lege »die Hürde für die Anerkennung von Menschen als Menschen sehr hoch« (Kuhlmann 2005: 159.). Unter den Begriff der Menschenwürde fällt auch jemand, bei dem lediglich »Kapazitäten« (ebd.: 160f.) gefördert werden können, die eine elementare Zugänglichkeit der Welt und Teilnahme am menschlichen Leben eröffnen. In Eva Kittays Care-Ethik sieht Nussbaum eine gelungene Antwort auf Rawls und damit auf die Frage, was getan werden muss, um das Problem der Fürsorge und Abhängigkeit hinreichend in den Vordergrund zu rücken. Kittay geht davon aus, »dass Fürsorge unabdingbar und sogar zentral ist für ein gutes Leben für Menschen mit einer bestimmten Art von Behinderungen« (Kittay 2004: 71). Sie begreift die Care-Ethik als politische Ethik, auf deren Grundlage sich »unsere Gesellschaften so strukturieren, dass […] unvermeidbaren Ab-

181

182

Behinder t sein - behinder t werden

hängigkeiten mit Fürsorge, Ressourcen und Würde begegnet wird, die für ein erfülltes Leben notwendig sind« (ebd.: 76). Nicht allein »die unvermeidbare Abhängigkeit bestimmter Formen von Behinderung« soll anerkannt werden. Vielmehr sind diese »in den Kontext unvermeidbarer Abhängigkeiten jeglicher Art« zu stellen (ebd.: 79). Gerechtigkeitstheorien, so Kittay, wandeln sich zu Care-Ethiken, indem sie die Vorstellungen entwickeln, »dass wir alle in verwobenen Abhängigkeiten eingebettet sind, und dass für eine wirklich fürsorgende Gesellschaft die Fürsorge für Abhängige wesentlicher Zweck und zentrales Ziel der sozialen Organisation ist« (ebd.: 78). Inzwischen finden sich Beiträge, die im Capabilities Approach die Möglichkeit sehen, das gesellschaftspolitische Ziel der Integration von Menschen mit Behinderungen durch eine radikalere Inklusionsperspektive von Menschen mit unterschiedlichen Vermögen und Fähigkeiten zu erweitern (vgl. Klauss 2006, Liesen 2006, Steckmann 2007, Dabrock 2008). Mit Nussbaums Fähigkeitenliste, so die allgemeine Überzeugung, sei die Erstellung eines Leitfadens für die Bewertung sozialstaatlicher Leistungen gelungen, die von legislativen Weichenstellungen bis hin zu konkreten Hilfeplanungen für (behinderte) Menschen reichen. Einwände lassen sich hier jedoch von dekonstruktiven moralischen Positionen aus erheben, die sich an den kritischen Befunden über Machtzusammenhänge und der gesellschaftlichen Konstruktionen von Ungleichheit und hierarchischer Differenz orientieren.

G erechtigkeit als K ritik sozialer A nerkennungsverhältnisse (J udith B utler) Auch für die in Berkeley lehrende Philosophin Judith Butler ist Rawls’ »Gerechtigkeit als Fairness« durch mangelnde Sensibilität gegenüber besonderen Lebensformen gekennzeichnet. Mit Adorno (1997) kritisiert sie gesellschaftliche Bedingungen, unter denen eine »lebendige Aneignung« einer »allgemeinen Regel« nicht möglich ist, weil sie »von einem indifferenten Außen auf Kosten von Freiheit und Besonderheit« (Butler 2007: 14) ausgeht. Der Weg zu einem kontextsensitiven Universalismus führt für Butler über eine »Kulturkritik«, die es sich zur Aufgabe macht, »uns zum Menschlichen zurückzuführen, wo wir nicht erwarten, es zu finden: in seiner Fragilität und an den Grenzen seiner Fähigkeit, verständlich zu sein« (Butler 2005: 178). Mit ihrer Kritik sozialer Anerkennungsverhältnisse möchte sie einen Selbstreflexionsprozess induzieren, der zu einer Auseinandersetzung mit fragwürdig gewordenen Ordnungen und Haltungen, Institutionen und Identitäten führt. Im Zentrum steht für Butler die Frage, »ob das ›Ich‹, das moralische Normen auf lebendige Weise anzueignen hat, nicht selbst durch Normen bedingt ist, Normen, die das Subjekt erst lebensfähig machen« (Butler 2007: 17). Mit

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

Foucault geht sie davon aus, dass sich Subjekte durch das paradoxe Zusammenspiel von Fremd- und Eigensteuerung innerhalb von Wissens-, Macht- und Selbstpraktiken bilden. Die Art und Weise, wie sie in einer Lebensform leben können, hängt von den eingespielten und öffentlich legitimierten sozialen und institutionellen Arrangements innerhalb einer sozialen Anerkennungsordnung ab. Es sind die mit Werten, Praktiken und Institutionen verwobenen Subjektivierungen, die soziale Teilhabe regulieren, über Wert und Unwert von Lebensformen entscheiden und die Unterscheidungen in Normalität und Anormalität vornehmen. Während liberale Moraltheorien Subjekte als kompetente Sprecher und Ausgangspunkt für Verständigungsprozesse vorstellen, erscheinen sie bei Butler (2001a) als Effekt und Resultat von Prozeduren, die sie überhaupt erst zum sozialen Akteur und Teilnehmer an den kulturellen Praktiken werden lassen. Sie beziehen ihre Handlungsfähigkeit von eben der Macht, gegen die sie sich stellen. Der Einzelne wird durch die Macht dazu genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in nicht gewählten Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten. So gesehen stellt »die Autonomie die logische Konsequenz einer verleugneten Abhängigkeit« (Butler 1994: 44) dar. »Wahrheitsregime« (Butler 2007: 33ff.) entscheiden zwar darüber, welche Form die Anerkennung annehmen kann, aber sie legen diese Form nicht vollständig fest und können in Frage gestellt und verändert werden. Die Macht ist daher immer auch die Bedingung für die Möglichkeit des Subjekts, sich reflexiv gegen die Normen zu wenden, die eine Selbstanerkenntnis verhindern. Butler schließt an Foucault an, für den der Liberalismus eine Rationalität des Regierens darstellt, durch die die Freiheit der Subjekte nach dem Modell des Anleitens zur Selbststeuerung aktiv organisiert wird (vgl. Foucault 2004 II: 105.). Mit ihm sind so genannte »Dispositive, die die Freiheit erzeugen«, verbunden. Sie ermöglichen es dem Einzelnen, »sich die Rechtsregeln, die Führungstechniken und auch die Moral zu geben, das Ethos, die Sorge um sich, die es gestatten, innerhalb der Machtspiele mit dem Minimum an Herrschaft zu spielen« (Foucault 2005b: 899). Der Liberalismus lässt somit eine Vorstellung von Gerechtigkeit zu, innerhalb derer »die ethische Hauptaufgabe und der politische Kampf für die Achtung vor dem Gesetz, die kritische Reflexion gegen die missbräuchlichen Techniken des Regierens und die ethische Suche nach dem, was die individuelle Freiheit zu begründen gestattet, ineinander greifen« (ebd.: 900). Foucaults kritische Perspektive auf Normen, so Butler, beruht allein auf der Frage: »Wer kann ich sein angesichts des Wahrheitsregimes, das die Ontologie für mich festlegt?« (Butler 2007: 37) Wir finden bei ihm »keine Befragung jener Leidenschaften der Seele, die von einer irreversiblen Prägung des Selbst durch den Anderen zeugen und per definitionem jeden Versuch, Herr seiner selbst zu werden, stören« (ebd.: 170). Butler weist demgegenüber auch auf

183

184

Behinder t sein - behinder t werden

eine intersubjektive Seite von Anerkennung hin. Sie geht davon aus, dass wir als körperliche Wesen durch »Verletzlichkeit« und primäres »Ausgesetztsein gegenüber dem Anderen« (ebd.: 135) bestimmt sind. »Wenn das ›Ich‹ und das ›Du‹ erst entstehen müssen und wenn für diese Entstehung und Begegnung ein normativer Rahmen erforderlich ist, dann leiten Normen nicht nur mein Verhalten an, sondern sie legen auch die Bedingungen fest, unter denen es zu einer Begegnung zwischen mir und dem Anderen kommen kann.« (Ebd., 38) Die Frage Foucaults »Was bin denn nun eigentlich ich…?« entspringt nicht meiner Autonomie oder meiner Reflexivität. Sie erfolgt innerhalb einer Anredestruktur, die von einer »grundlegenden Abhängigkeit vom Anderen« (Butler 2007: 48) geprägt ist. »Was uns moralisch verpflichtet, hat damit zu tun, wie wir von anderen angesprochen werden, in Formen, die wir nicht verhindern oder vermeiden können. Dieser Einfluss, den die Ansprache des Anderen auf uns ausübt, konstituiert uns zuallererst gegen unseren Willen, oder vielleicht passender formuliert, noch vor der Ausbildung unseres Willens.« (Butler 2005: 155)

Die vor-ursprüngliche, nicht erinnerbare Anrede »Wer bist du?« des Anderen schließt allererst die vergegenwärtigte, im Selbstbewusstsein einholbare Zeit des Subjekts auf: »Das Kleinkind tritt in die Welt ein und ist damit von Anfang an einer Sprache und einer Reihe von Zeichen ausgeliefert, die einen bereits operativen Modus der Rezeptivität und des Anspruchs zu strukturieren beginnen. Aus dieser Primärerfahrung des Ausgeliefertseins von Anfang an entsteht schließlich ein ›Ich‹« (Butler 2007: 105f.). Dieses »Ich« kann keine Rechenschaft von einem Zustand vor seiner Entstehung als wissensfähiges Subjekt ablegen. Butler setzt sich mit Lévinas’ Vorstellung des »Gesichts« des Anderen auseinander, »um zu erklären, wie es kommt, dass andere moralische Forderungen an uns richten, die wir nicht wollen und die wir nicht ohne Weiteres ablehnen können« (Butler 2005: 157). Mit »Gesicht« verbindet sie im Vergleich zu Lévinas keine ethische Forderung, »die allem Anschein nach göttlichen Ursprungs ist« (ebd.: 14). Es zeigt sich für Butler immer im Rahmen einer vorgegebenen Anredeszene und damit innerhalb einer gesellschaftlich konstituierten Beziehung. Gleichwohl sieht sie in der Empfänglichkeit für das Gesicht des Anderen »eine ethische Ressource« (Butler 2007: 123), die uns verletzlich macht und Gefühle der Verantwortung hervorruft, die sich auf den Anderen richten. »Auf das Gesicht zu reagieren, seine Bedeutung zu verstehen heißt, wach zu sein für das, was an einem anderen Leben gefährdet ist, oder vielmehr wach zu sein für die Gefährdetheit des Lebens an sich.« (Butler 2005: 160) Für Butler ermöglicht das Scheitern beim Versuch, Auskunft von sich zu geben »die Möglichkeit, eine Relationalität anzuerkennen, die mich tiefer

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

an die Sprache und den Anderen bindet, als mir das zuvor bewusst gewesen ist« (Butler 2007: 57). Sie fasst Relationalität als »eine dauerhafte normative Dimension unseres sozialen und politischen Lebens, als eine Dimension, in der wir gezwungen sind, uns über unsere wechselseitige Abhängigkeit klar zu werden« (Butler 2005: 44). Abhängigkeit heißt bei Butler, dass das »Ich« von Anfang an durch eine Anrede entsteht, an die es sich nicht zu erinnern vermag und die es nicht einholen kann. Sie bildet die Möglichkeitsbedingungen der Auskunft über sich selbst und ist zugleich das, was ich thematisch nicht vollständig einholen kann. Sie ist mit einer Verantwortung verbunden, das selbstgenügsame, als Besitz verstandene »Ich« im Verhältnis zu Anderen hinter sich zu lassen und anders zu werden. »Unsere politische Situation bestünde teilweise darin zu lernen, wie wir am besten mit diesem permanenten und notwendigen Ausgesetztsein umgehen – und wie wir es am besten würdigen.« (Butler 2007: 46) Ethische Gewalt wird für Butler weiterhin vorherrschen, solange wir ein selbsttransparentes »Ich« postulieren, das sich ohne kritische Brechung auf die eigenen Entstehungsbedingungen der Frage nach der Verantwortung widmet. Wir können uns nicht als abgegrenzte Wesen verstehen, da die vor allem Bewusstsein prägenden Anderen, die für uns Vergangenheit sind, sich in Augenblicken bemerkbar machen, wo uns Gefühle der Trauer, des Schmerzes, der Verletzung usw. enteignen. »Wenn ich nicht immer weiß, was mich bei solchen Anlässen ergreift, und wenn ich nicht immer weiß, was es ist, das ich in einer anderen Person verloren habe, dann ist diese Sphäre der Enteignung vielleicht genau die, die meine Unwissenheit, den unbewussten Abdruck meiner primären Sozialität aufdeckt.« (Butler 2005: 45) Diese Einsicht ruft nicht nur mehr »Bescheidenheit und Großzügigkeit« (Butler 2007: 60) gegenüber dem Anderen hervor, sondern ermöglicht eine vertiefte öffentliche und politische Reflexion über die »Menschlichkeit« des Anderen unter »Bedingungen des aufgeschobenen Urteils« (ebd.: 63). Butlers Kritik macht deutlich: Die historische Dynamik der demokratischen Inklusion behinderter Menschen bleibt unverstanden, wenn man davon ausgeht, die Ansprüche von Individuen als unverwechselbare Einzelne ließen sich bereits einlösen, wenn die rechtlich gesicherte Chance besteht, an öffentlichen Diskursen und Entscheidungen teilzunehmen. Die soziale Teilhabe behinderter Menschen wird durch Identifikationen und Subjektivierungen reguliert und kanalisiert, die mit durch Mächte eingerichteten Werten, Praktiken und Institutionen verwobenen sind. Mit Lévinas weist sie darauf hin, dass ein in der Nähe zum Anderen entstehender verantwortlicher Bezug die ethische Grundlage für eine »normative[n] Neuorientierung in der Politik« (Butler 2005: 45) darstellt. Man vermisst bei ihr jedoch eine Auseinandersetzung, inwieweit die Verstrickung der vorintentionalen Beziehung zum Anderen – im Zeichen des Dritten – auch mit einer damit verbundenen Universalisierung

185

186

Behinder t sein - behinder t werden

moralischer Normen zu betrachten ist. Denn erst dadurch, dass der Andere als Nächster in einer Beziehung mit dem Dritten steht, stellt sich die Frage: »›Was habe ich gerechterweise zu tun?‹« (Lévinas 1992: 343)

G erechtigkeit als D enken der kommenden D emokr atie (J acques D errida) Der 2004 verstorbene französische Philosoph Jacques Derrida hat ein kritisches Verfahren entwickelt, das sich nicht darauf beschränkt, problematische gesellschaftliche Verhältnisse rekonstruktiv an gegebenen normativen Ansprüchen zu messen. Seine Dekonstruktion ermöglicht es, normative Ansprüche und Ideale daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie zur Legitimierung demütigender sozialer Praktiken gegenüber dem unvertretbaren Einzelnen beitragen. Derrida bringt einen Begriff von Gerechtigkeit als einer »Erfahrung des Unmöglichen« (Derrida 1991: 33) in die Diskussion ein, mit dem Butlers Ethik der Alterität in den erweiterten Rahmen einer Gerechtigkeitstheorie gestellt werden kann. »Eine kommende und im Kommen bleibende Demokratie müsste eine Gleichheit zu denken aufgeben, die mit einer bestimmten Asymmetrie, mit der Heterogenität und der absoluten Singularität nicht bloß nicht unvereinbar ist, sondern sie vielmehr erfordert, uns an sie bindet, uns zu ihnen auf brechen lässt – von einem Ort aus, der unsichtbar bleibt und mir doch von fern einen Weg weist.« (Derrida 2000: 443) Derrida führt die normative Unterscheidung von »gerecht« und »ungerecht« auf einen »mystischen Grund der Autorität« (Derrida 1991: 29) zurück. Mystisch ist das, was sich als »grund-lose Gewalt(tat)« dem diskursiven Verständnis entzieht und nicht mehr begründet werden kann. Im performativen Akt der Rechtssetzung wirkt sie als Voraussetzung für Gerechtigkeit. Auch wenn die Gerechtigkeit nicht nur auf einer öffentlich verbindlichen Ordnung von Gründen beruht, kommt man nicht umhin, »rechtsförmig« zu entscheiden, um dem »immer anderen Besonderen« (ebd.: 51) gerecht zu werden. Der Doppelcharakter rechtsförmiger Entscheidung, einsetzend und überschreitend zu sein, führt zwangsläufig in eine Aporie: »Ein Gerechtigkeitswille, ein Gerechtigkeitswunsch, ein Gerechtigkeitsanspruch, eine Gerechtigkeitsforderung, deren Struktur nicht in einer Erfahrung der Aporie bestünden, hätten keine Chance jenes zu sein, was sie sein wollen: ein gerechter, angemessener Ruf nach Gerechtigkeit.« (Ebd.: 33) Derrida entfaltet den Widerspruch zwischen Recht und Gerechtigkeit in drei Aporien: 1. Aporie der Regel der Entscheidung: Die gerechte Entscheidung muss eine Regel anwenden, und sie darf nicht bloß eine Regel anwenden. »Sie muss das Gesetz erhalten und es zugleich so weit zerstören oder aufheben, dass sie es in jedem Fall wieder erfinden und rechtfertigen muss.« (Ebd.: 47) 2.

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

Aporie des Aktes der Entscheidung: Die gerechte Entscheidung muss ausschlaggebend fallen, zugleich ist sie nur im Bewusstsein der Unentscheidbarkeit möglich. Eine Entscheidung kann nur gerecht sein, die durch die Erfahrung und die Prüfung des Unentscheidbaren hindurch gegangen ist, ohne dass diese Prüfung jemals ein Vergangenes, Überholtes oder Überschrittenes ist. 3. Aporie der Zeit der Entscheidung: Die gerechte Entscheidung ist sofort, unmittelbar erforderlich, und sie bleibt immer noch im Kommen. Nur eine Praxis des Entscheidens, die sich des Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Unentscheidbarkeit bewusst wird, kann gerecht sein. Die Aufgabe besteht darin, das geltende Recht immer wieder im Horizont einer unbedingten Anerkennung bzw. Gerechtigkeit zu überprüfen und es gegebenenfalls zu überschreiten. Für Rawls gibt es »keine soziale Welt ohne Verluste« (Rawls 1998: 294). d.h. keine Gerechtigkeit ist für ihn ohne Ausschluss einiger Lebensweisen möglich. Diese liberalen Grenzziehungen sind für Derrida Folge einer Vorrangigkeit des Prinzips der Gleichheit im Sinne der gleichen Berücksichtigung von allen. Für ihn geht es um eine Überschreitung dieses Feldes der Gleichheit, indem das Gleichheitsprinzip an der im Individuellen liegenden Differenz reflektiert wird. Die liberale Demokratie gründet sich auf der Herrschaft durch Recht – einer Ordnung der Gleichheit als Gewalt über das Individuelle. Gerechtigkeit beinhaltet für Derrida jedoch eine normative Orientierung am individuellen Gerechtwerden, das in keiner Rechtsordnung aufgehoben werden kann, so dass sie sich stets wieder gegen das jeweilig geltende Recht zur Geltung bringt: »Die Gerechtigkeit beruht […] nicht auf Gleichheit, auf einem berechneten Gleichmaß, auf einer angemessenen Verteilung, auf der austeilenden Gerechtigkeit, sondern auf einer absoluten Asymmetrie.« (Derrida 1991: 45f.) Sie ist stets mit der unentscheidbaren, asymmetrischen und paradoxen Erfahrung des Anderen verbunden und muss daher immer auch außerhalb jeder Identifizierung, Kodifizierung oder vertraglichen Regelung stehen. Im Feld des Sozialrechts werden freilich auch Arten der Verbindlichkeit anerkannt und auferlegt, die nicht die gleiche Berücksichtigung von allen, sondern jedes Einzelnen ausmachen. Doch räumt das moderne Recht gegenüber diesen nicht-egalitären Verpflichtungen einen grundsätzlichen und allgemeinen Vorrang der Gleichheit ein. Das führt dazu, dass mit individuellen Besonderheiten nur dann normative Ansprüche oder Verpflichtungen einhergehen, wenn sie nicht gegen das Grundgebot der gleichen Berücksichtigung aller verstoßen. Gegen Rawls kann geltend gemacht werden, dass das Ideal der Einbeziehung und Berücksichtigung des Anderen nicht nur in einer primären Gleichheit der Individuen als Teilnehmern an der sozialen Kooperation gründet. Vielmehr setzt es eine potenziell unendliche Vielzahl von Ansprüchen Einzelner voraus, die von Person zu Person differieren und in den Schemata der politischen Gleichheit nur ungenügend berücksichtigt werden können. Derridas Dekonstruktion macht eine »tragische« Logik unvereinbarer Anfor-

187

188

Behinder t sein - behinder t werden

derungen oder Ansprüche geltend, die in das liberale Legitimationsprinzip eingeschrieben ist. Sie formuliert eine unauflösbare Spannung zwischen den je individuellen Ansprüchen und den allgemeinen Annahmen, die die politische Gleichheit unvermeidbarer Weise impliziert. Derrida plädiert für ein Denken der »kommenden Demokratie« (Derrida 2003: 13). Er geht davon aus, dass mit der Freiheit der Individuen immer auch ein gewisser »Spielraum von Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit im Begriff der Demokratie selbst, in der Interpretation des Demokratischen« (ebd.: 45) einhergeht, der es ermöglicht, eine demokratische Politik in vielfältiger Weise zu institutionalisieren. Das normative Ziel politischen Handelns sieht er mit Aristoteles darin, »soviel Freundschaft wie möglich zu stiften« (Derrida 2000: 27): »Keine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität. Aber auch keine Demokratie ohne ›Gemeinschaft der Freunde‹ (koina ta philon), ohne Berechnung und Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare, feststellbare, stabilisierbare, vorstellbare, repräsentierbare und untereinander gleiche Subjekte. Die beiden Gesetze lassen sich nicht aufeinander reduzieren; sie sind in tragischer und auf immer verletzbarer Weise unversöhnbar.« (Ebd.: 47) Die unaufhebbare Kluft zwischen ihnen hält stets aufs Neue ein »politisches Begehren« (ebd.) wach, die moralischen Ansprüche, die von den Bürgerinnen und Bürgern als Individuen ausgehen, in einen Gleichheitsbegriff zu integrieren. Judith Butlers Ethik lässt sich in Derridas Gerechtigkeitstheorie einrücken, wo dieser deutlich macht, dass der verletzbare Einzelne durch eine soziale Ordnung und ihre Operationen verallgemeinernder Zuschreibungen und Abgrenzungen hervorgebracht wird: »Sich an den anderen in der Sprache des anderen zu richten, ist, wie es scheint, die Bedingung jeder möglichen Gerechtigkeit; anscheinend lässt sich dies jedoch nicht mit aller erforderlichen Strenge durchführen (ich kann nämlich die Sprache des anderen einzig in dem Maße sprechen, in dem ich sie mir aneigne und sie mir nach dem Gesetz eines eingeschlossenen Dritten anverwandle).« (Derrida 1991: 35) Die Einbeziehung des Individuums in seiner Besonderheit ist auch für Derrida nur möglich, wenn ich die Differenz berücksichtige, zwischen dem, was es als moralische Quelle legitimer Ansprüche ist und dem, wie ich es »durch den Rekurs auf ein Drittes« wahrnehme, »das die Einseitigkeit oder die Besonderheit der jeweils eigenen Sprachen aufhebt« (ebd.).

S chlussbe tr achtung In den hier vorgestellten Moraltheorien dienten die Begriffe »Differenz« und »Abhängigkeit« in unterschiedlicher Weise als Parameter der Anerkennung. Für Rawls stellt »Differenz« lediglich ein abgeleitetes Prinzip im Rahmen

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

vorrangiger Gleichheit dar. Das »Differenzprinzip« stellt sicher, dass soziale Gerechtigkeit nicht allein auf Solidarität und Wohltätigkeit gegründet wird, sondern auf einklagbaren Rechtsansprüchen beruht. Menschen mit Behinderungen bleiben dadurch nicht auf die sporadische Hilfsbereitschaft oder Nächstenliebe anderer angewiesen. In der Heilpädagogik hat Rawls bisher wohl deshalb so wenig Resonanz gefunden, weil er dem Differenzprinzip eine nur nachrangige Bedeutung beimisst und von der Idealisierung ausgeht, Menschen verfügten über einen derart hohen Grad an Unabhängigkeit und Rationalität, dass sie ihr Leben lang kooperative Mitglieder der Gesellschaft seien. Diese Grundannahmen führen zur Einschränkung einer moralischen Perspektive der Fürsorge, aus der heraus Menschen auch in ihrer Verschiedenheit und Abhängigkeit voneinander wahrgenommen werden. Martha C. Nussbaum verfeinert das Prinzip der Gleichbehandlung in dem Sinn, dass behinderte Menschen sich in ihrer konkreten Verschiedenheit ins Spiel bringen können und jene Unterstützung erfahren, die für ein gutes Leben notwendig ist. Erforderlich ist für sie eine Einstellung des individuellen Gerechtwerdens, wie sie in der Care-Ethik vorherrscht. Ihr Capabilities Approach stellt für eine Heilpädagogik als Disziplin, die sich in einer Stellvertreterrolle für Menschen mit schweren Behinderungen sieht, einen brauchbaren Referenzrahmen dar. Er ermöglicht es, Behinderung nicht nur medizinischanthropologisch über den physischen und psychischen Mangel zu bestimmen, sondern als Ausdruck natürlicher Abhängigkeit (vgl. Dederich 2004). Daraus lassen sich Forderungen an Befähigungen ableiten, die von der Gesellschaft geschaffen werden müssen, um die Würde und das Wohlergehen von Menschen mit Behinderung zu gewährleisten. Nussbaums Ansatz erweist sich für eine kulturwissenschaftlich orientierte Heilpädagogik jedoch als ungenügend, insofern er die statusförmige Benachteilung durch die symbolischen Gegensätze »behindert/nicht behindert« bestehen lässt. Mit Judith Butler lässt sich kritisch die Frage stellen, ob wir Menschen, die der Normalität nicht entsprechen, weiterhin als mehr oder weniger schlechte Kopien normativer Standards von Lebensqualität im Sinne einer Befähigungsliste betrachten, oder ob wir die Idealität der Normen dekonstruieren, die sie uns als solche erscheinen lassen – Normen, »die Anerkennung als Mensch verleihen können, eine Anerkennung, ohne die das Menschliche kein Dasein findet, sondern jenseits der Grenze des Seins verharren muss als das, was nicht ganz geeignet ist zum Sein und was nicht ganz zu dem gehört, was sein kann« (Butler 2001b: 130). Manche Menschen mit Behinderungen befinden sich am Rande der »normative[n] Schemata der Intelligibilität« (Butler 2005: 173), durch die festlegt wird, was wir als menschlich anerkennen, mit der Folge, dass sie keine ausreichende Repräsentanz im öffentlichen Bewusstsein und in der Sphäre des Rechts finden.

189

190

Behinder t sein - behinder t werden

Neoaristotelische und dekonstruktive Gerechtigkeitsvorstellungen verweisen darauf, dass Fürsorge nicht nur in besonderen Fällen zur Geltung kommt, sondern alle unsere Beziehungen auszeichnet. Während der Neoaristotelismus in der konstitutiven Hilfsbedürftigkeit des einzelnen Menschen und einer erweiterten Form der sozialen Gleichbehandlung das Proprium moralischer Forderung sieht, liegt es laut Butler und Derrida zuvorderst in der unaufhebbaren Differenz aller menschlichen Wesen und einer asymmetrischen Verpflichtung. Sie stellen Rawls und Nussbaum eine Konzeption des demokratischen Ideals gegenüber, nach der die Individuen in der demokratischen Politik in ihrer Einzigartigkeit – dort, wo jeder Andere ganz anders ist – zu berücksichtigen sind. Gerechtigkeit lässt sich ihrer Meinung nach nur dann verwirklichen, wenn sie in einem ebenso notwendigen wie unabschließbaren Prozess in unser alltägliches Verhalten, in geltendes Recht und in unsere gesamte Kultur einfließt. Die Dekonstruktion ist weder mit einer Absage an rechtliche Regelungen noch mit einem Affekt gegen (heil-)pädagogische Förderprogramme (vgl. Kuhlmann 2003) verbunden. Sie erachtet sie im Gegenteil als nötig, um vor gewalttätigen Übergriffen zu schützen und jene Personen zu unterstützen, denen ihre Lage nicht erlaubt, ihre Lebenspläne aus eigener Kraft zu verwirklichen. Auch wenn sie von einer Unbestimmtheit dessen ausgeht, was behinderte Menschen benötigen, unterliegt sie damit nicht der Gefahr, eine damit verbundenen ethischen Indifferenz gegenüber behinderten Menschen auszulösen. Vielmehr ist sich Derrida bewusst, dass es für das Gelingen eines bestimmten Lebens auch des Beistands einer durch Normen geregelten Gesellschaft und normativ-politischer Orientierungen bedarf. Die normativen Gerechtigkeitstheorien müssen sich von Derrida sagen lassen, dass die Spannung zwischen den Normen einer Gesellschaft und den individuellen Ansprüchen auf ein gutes Leben unauflösbar bleiben. Andererseits lässt sich mit seiner Dekonstruktion allein die Frage nicht beantworten, welche Handlungen und welcher Umgang mit behinderten Menschen angemessen wären. Wie die Disability Studies begnügt sie sich damit, auf eine bestimmte Art und Weise mit dem Dispositiv »Behinderung« (vgl. Rösner 2004) umzugehen, indem sie dessen überlieferte Gestalt und Traditionsstränge in Unruhe und Bewegung versetzen. Die Frage nach dem, was gerecht ist, wird dadurch in eine unauflösbare paradoxe und zirkuläre Struktur hineingeführt. Der behinderte Mensch, auf den sich die Sonder- und Heilpädagogik als Profession und Disziplin bezieht, ist bereits in den Horizont einer paradoxen Struktur bedingten Verstehens des Anderen im Status des Behindertseins eingeschlossen, in der der Andere nicht mehr anonym bleibt, d.h. als »absolut Anderer« aufhoben wird. Er begegnet mir in einer Doppelrolle, indem er als ethische Person einerseits an meine asymmetrische Verpflichtung appelliert, andererseits aber auch als moralische Person wie jeder andere Mensch Res-

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

pekt und Achtung verdient. Es ist diese unaufhebbare Spannung zwischen zwei unterschiedlichen Formen der Verantwortung, die das moralische Band in Care-Beziehungen stiftet. Einerseits tritt der Andere als einzigartiger Adressat von asymmetrischen Verpflichtungen auf, andererseits begegnet er mir als Adressat der Anwendung moralischer Normen, die für alle Menschen gelten. Es geht nicht darum, die unaufhebbare Differenz des Anderen gegen das pädagogisch-hermeneutische Verstehen auszuspielen. Vielmehr stellt diese Differenz eine Möglichkeit dar, die pädagogischen Erkenntnisse paradox werden zu lassen. Wenn nämlich der Umgang mit Verschiedenheit den Anderen zu einem behinderten Gegenüber werden lässt, haben wir immer auch zu fragen, wie wir ihm jenseits einer solchen disziplinären Sichtweise begegnen können.

L iter atur Adorno, Theodor W. (1997): Probleme der Moralphilosophie. Frankfurt a.M. Butler, Judith (1994): »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der ›Postmoderne‹«, in Seyla Benhabib/Judith Butler/Drucilla Cornell/ Nancy Fraser (Hg.): Der Streit um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart. Frankfurt a.M., S. 31-58. Butler, Judith (2001a): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2001b): Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2007): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M. Dabrock, Peter (2008): »Befähigungsgerechtigkeit als Ermöglichung gesellschaftlicher Inklusion«, in: Hans-Uwe Otto/Holger Ziegler (Hg): Capabilities – Handlungsbefähigung und Verwirklichungschancen in der Erziehungswissenschaft. Wiesbaden, S. 17-53. Dannenbeck, Clemens (2007): »Paradigmenwechsel Disability Studies? Für eine kulturwissenschaftliche Wende im Blick auf die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disabilitiy Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld, S. 103-125. Dederich, Markus (2004): »Die Anerkennung des Abhängigseins«, in: Angelika Gäch (Hg.): Phänomene des Wandels. Wozu Heilpädagogik und Sozialtherapie herausgefordert sind. Luzern, S. 103-122. Dederich, Markus (2007): Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld.

191

192

Behinder t sein - behinder t werden

Derrida, Jacques (1991): Gesetzeskraft. Der ›mystische Grund der Autorität‹. Frankfurt a.M. Derrida, Jacques (2000): Politik der Freundschaft. Frankfurt a.M. Derrida, Jacques (2003): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a.M. Forst, Rainer (2007): Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2005a): »Ist es also wichtig, zu denken?«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988). Frankfurt a.M., S. 219-223. Foucault, Michel (2005b): »Die Ethik der Sorge um sich als Preis der Freiheit«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988). Frankfurt a.M., S. 875-902. Foucault, Michel/Chomsky, Noam/Elders, Fons (2008): Absolute(ly) Macht und Gerechtigkeit. Freiburg. Kittay, Eva Feder (2004): »Behinderung und das Konzept der Care Ethik«, in: Sigrid Graumann/Katrin Grüber/Jeanne Nicklas-Faust/Susanna Schmidt/ Michael Wagner-Kern (Hg.): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivwechsel. Frankfurt a.M., S. 67-80. Klauss, Theo (2006): »Menschen mit schweren Behinderungen im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen«, in: Geistige Behinderung 45 1, S. 3-18. Kuhlmann, Andreas (2003): »Therapie als Affront. Zum Konflikt zwischen Behinderten und Medizin«, in: Ethik in der Medizin 15 3, S. 151-160. Kuhlmann, Andreas (2005): »Behinderung und die Anerkennung von Differenz«, in: WestEnd 2 1, S. 153-164. Lévinas, Emmanuel (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg, München. Liesen, Christian (2006): Gleichheit als ethisch-normatives Problem der Sonderpädagogik. Dargestellt am Beispiel »Integration«. Bad Heilbrunn. MacIntyre, Alasdair (2001): Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden. Hamburg. Nussbaum, Martha C. (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Herausgegeben von Herlinde Pauer-Studer. Frankfurt a.M. Nussbaum, Martha C. (2003): »Langfristige Fürsorge und soziale Gerechtigkeit. Eine Herausforderung der konventionellen Ideen des Gesellschaftsvertrages«, in: DZPhil, Berlin 51 2, S. 179-198. Nussbaum, Martha, C. (2006): Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species, Membership. Cambridge, Mass./London. Rawls, John (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.

8. Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz

Rawls, John (1998): Politischer Liberalismus. Frankfurt a.M. Rawls, John (2003): Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt a.M. Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein. Frankfurt a.M./New York. Rösner, Hans-Uwe (2004): »Behinderung als kulturelles Wahr-Zeichen. Umrisse einer dekonstruktiven Kritik«, in: Heinrich Greving/Christian Mürner/Peter Rödler (Hg.): Zeichen und Gesten. Heilpädagogik als Kulturthema. Gießen, S. 209-227. Scherer, Christiane (1993): »Das menschliche und das gute menschliche Leben. Martha Nussbaum über Essentialismus und menschliche Fähigkeiten«, in: DZPhil, Berlin 41 (1993) 5, S. 905-920. Steckmann, Ulrich (2007): »Behinderungen und Befähigungen. Gerechtigkeit für Menschen mit geistiger Behinderung«, in: Geistige Behinderung 46 2, S. 100-111.

193

9. Im Angesicht des dementen Anderen

Axel Honneths Fürsorgebegriff und seine Bedeutung



für die »Kontaktarbeit« in der Altenpflege

Gerechtigkeit ist eine zentrale Zielvorstellung moralischen und politischen Handelns in modernen Gesellschaften. Für alle Regelungsbereiche, Institutionen, Instrumente und Verfahrensweisen der Politik gilt, dass sie dem Anspruch nach gerecht sein müssen, um gerechtfertigt werden zu können. Was aber ist Gerechtigkeit? Wenn von ihr die Rede ist, so wird zumeist davon ausgegangen, dass eine legitime Gesellschaftsordnung im Prinzip der individuellen Autonomie verankert sein muss. Die Schaffung gerechter Sozialverhältnisse soll heute vor allem dem Zweck dienen, allen Menschen eine Form von Selbstbestimmung zu ermöglichen, die sie möglichst unabhängig von ihren Interaktionspartnern sein lässt. Die persönliche Freiheit des Einzelnen wird daran gemessen, inwieweit er seine selbst gewählten Ziele im Leben ungestört entfalten kann. Es wird das unabhängige und autonome Subjekt vorausgesetzt, bei dem die Aspekte der Verletzlichkeit und Abhängigkeit von sozialen Beziehungen ausgeblendet bleiben. In den letzten Jahren ist an dieser normativen Sichtweise aus guten Gründen Kritik entwickelt worden. Von neoaristotelischer, feministischer und poststrukturalistischer Seite aus wird eine radikalere Inklusionsperspektive für Menschen mit unterschiedlichen Vermögen und Fähigkeiten gefordert. Auch wird die Tatsache der sozialen Abhängigkeit und der Angewiesenheit auf Fürsorge (vgl. Kittay 2004, Dederich 2004, Rösner 2009) stärker in den Vordergrund gerückt. In der Tradition Hegels, in den Diskussionen über Multikulturalismus und in der theoretischen Selbstverständigung des Feminismus hat insbesondere der Begriff »Anerkennung« an Bedeutung gewonnen (vgl. Honneth 1992, Taylor 1993, Düttmann 1997, Benjamin 2002, Cavell 2002, Ricoeur 2006, Butler 2007, Bedorf 2010). Mit ihm wird die Vorstellung verbunden, dass soziale Gerechtigkeit nicht allein durch eine gleichmäßige Gewährung von individuellen Grundfreiheiten erreicht werden kann, sondern Bedingungen der Partizipation sicherzustellen sind, unter denen sich die persönliche Identitätsbildung vollzieht.

196

Behinder t sein - behinder t werden

Im Folgenden werde ich Axel Honneths Anerkennungstheorie grob skizzieren (I.). Insbesondere will ich der Frage nachgehen, inwieweit sie sich als Referenzrahmen für helfende Berufe eignet. Nach meiner Überzeugung stellt Honneths Anerkennungsbegriff die normativen Grundlagen einer nichtexklusiven Care-Ethik bereit. Seine psychoanalytischen Untersuchungen zur affektiven Bindung zwischen Kleinkind und Bezugsperson enthalten bereits einen Begriff von Fürsorge (II.), den ich am Beispiel der von Garry Prouty ausgehenden »Kontaktarbeit« in der Betreuung und Pflege von Menschen mit Altersdemenz veranschaulichen werde (III.). Im Anschluss daran lautet meine These, dass Honneth dem Care-Gedanken jedoch erst mit seiner neuerlichen existenzial-phänomenologischen Analyse der Anerkennung als »Besorgtheit« einen zentralen Stellenwert zu verleihen vermag (IV.). Am Ende werde ich auf die sich daraus ergebende Gemeinsamkeiten hinweisen, die Honneth mit Lévinas verbinden (V.).

A nerkennung und G erechtigkeit Für Honneth kann ein Begriff der Gerechtigkeit nur in Verbindung mit einer Gesellschaftsanalyse entwickelt werden, die rekonstruktiv und kritisch zugleich verfährt: Die »gegebenen Institutionen und Praktiken werden auf ihre normativen Leistungen hin in der Reihenfolge analysiert und dargestellt, in der sie für die soziale Verkörperung und Verwirklichung der gesellschaftlich legitimierten Werte von Bedeutung sind« (2008: 21). Auf diesem Weg lassen sich diese Praktiken und »Institutionen der bereits existierenden Sittlichkeit […] im Lichte der jeweils verkörperten Werte« (ebd.: 26) kritisieren, so dass deutlich wird, inwieweit sie diese nicht umfassend oder vollständig genug repräsentieren. Honneths Anerkennungstheorie wendet sich den unterschiedlichen sozialen Sphären der Anerkennung zu. Er geht davon aus, dass ein unverkürzter Begriff der Gerechtigkeit im Rahmen hoch entwickelter Gesellschaften an drei Anerkennungssphären und entsprechenden Selbstbeziehungen ansetzen muss: Neben dem Bereich des Rechts sind das insbesondere die affektiven Intimbeziehungen der Liebe und Freundschaft und die Arbeitssphäre mit ihrem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Innerhalb dieser unterschiedlichen Sphären sollen die Bedürfnisorientierung, der Gleichheitsgrundsatz und das Verdienstprinzip Geltung erlangen. Zusammengenommen legen sie fest, was unter den gegenwärtigen Bedingungen soziale Gerechtigkeit heißen kann. Das Moralprinzip der Fürsorge erhält insbesondere im Rahmen der Liebe Geltung, als es »unter glücklichen Umständen am Beginn des kindlichen Entwicklungsprozesses steht«, d.h. genetisch […] der Begegnung mit allen anderen Gesichtspunkten der Moral voraus[geht]« (Honneth 2000: 169).

9. Im Angesicht des dementen Anderen

Die normativen Prinzipien der Liebe, des Rechts und der Leistung werden zugleich als »Ausdruck von moralischen Forderungen verstanden«, die sie in Hinblick auf die gerechte Gestaltung von Lebensverhältnissen beinhalten. Diese Forderungen »sind umfangreicher oder anspruchsvoller als das, was von ihnen jeweils aktuell schon in der sozialen Wirklichkeit realisiert worden ist« (2003f: 296). Der »Geltungsüberhang dieser Anerkennungsprinzipien gegenüber der Faktizität ihrer sozialen Auslegung« erlaubt das »Einklagen von bislang unberücksichtigt gebliebenen Differenzen oder Tatbeständen« (2003e: 220f.). Mit den Begriffen Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl unterscheidet Honneth drei von diesen Sphären der Anerkennung abhängige Ebenen einer positiven Selbstbeziehung: 1. Das Selbstvertrauen stellt eine individuelle Selbstbeziehung dar, die notwendig ist, um persönliche Identität und Autonomie zu entwickeln. 2. Die Selbstachtung geht mit der Fähigkeit einher, autonom aus vernünftiger Einsicht zu handeln. 3. Bei der Selbstschätzung geht es, über die Selbstachtung als Rechtssubjekt hinaus, um ein gefühlsmäßiges Vertrauen, Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die als gesellschaftlich wertvoll angesehen werden. Werden dem Einzelnen diese für die Identitätsbildung notwendigen Voraussetzungen verweigert, so kommt es zu sozialen Konflikten. Diese basieren nicht auf utilitaristischen Interessen, sondern auf dem moralischen Antrieb, bislang unberücksichtigt gebliebene Bedürfnisse vorzubringen, rechtliche Anerkennung einzufordern oder unterschätzte Tätigkeiten und Fähigkeiten zur Geltung zu bringen. Die Fortschritte innerhalb einer jeweiligen Anerkennungsordnung lassen sich daran messen, ob die damit einhergehenden Konflikte den Spielraum individueller Selbstverwirklichung erweitern und den Prozess der sozialen Inklusion befördern: »Entweder werden neue Persönlichkeitsanteile der wechselseitigen Anerkennung erschlossen, so dass das Maß an sozial bestätigter Individualität steigt, oder ein Mehr an Personen wird in die bereits existierenden Anerkennungsverhältnisse einbezogen, so dass der Kreis der sich wechselseitig anerkennenden Subjekte anwächst.« (Ebd.: 220)

Anerkennung ist für Honneth mehr als nur ein Mittel, um die Inklusion in verständigungsorientierte Diskurse zu gewährleisten: »[B]evor Prozesse der kommunikativen Verständigung überhaupt begonnen werden können, müssen sich die beteiligten Subjekte bereits in einer bestimmten Weise anerkannt

197

198

Behinder t sein - behinder t werden haben, da sie ohne das Einverständnis ihrer Abhängigkeit vom Andern an dessen Urteil gar nicht interessiert sein könnten.« (2004b: 104)

Die Anerkennung individueller Bedürfnisse vollzieht sich für ihn auch auf der nicht sprachlichen Ebene körperlicher Gesten oder mimischer Ausdrücke: »[D]ie Tatsache, dass die Integrität menschlichen Personseins wesentlich von der Erfahrung emotionaler Fürsorge und Liebe abhängig ist, ließ in mir Zweifel entstehen, ob die Teilnahme an Diskursen wirklich zur vollen Erfüllung der moralischen Erwartungen beitragen kann, die durch das ›Streben‹ nach sozialer Anerkennung geweckt werden.« (Ebd.: 102)

F ürsorge als P rinzip der A nerkennung Inwieweit lässt sich eine Anerkennungstheorie für den Bereich helfender Beziehungen fruchtbar machen? Welche Besonderheiten erhalten hier moralische Geltung? Mit diesen Fragen hat sich Honneth in seinem vieldiskutierten Schlüsseltext Das Andere der Gerechtigkeit (2000) beschäftigt. Mit den Namen Jacques Derrida und Emmanuel Lévinas verbindet er eine ernstzunehmende ethische Herausforderung gegenüber den Gerechtigkeitstheorien, die sich am Prinzip der Gleichbehandlung orientieren. Insbesondere bei Lévinas sei mit der intersubjektiven Begegnung »strukturell die Erfahrung einer moralischen Verantwortung verknüpft, die die unendliche Aufgabe enthält, der Besonderheit der anderen Person durch immerwährende Fürsorge gerecht zu werden« (ebd.: 162). Honneth sieht sich dadurch zu der Forderung veranlasst, der »fürsorgende[n] Gerechtigkeit […] im Phänomenbereich des Moralischen wieder den Platz zurückzuerstatten, der ihr in der auf Kant zurückgehenden Tradition der Moralphilosophie allzu häufig versagt geblieben ist« (ebd.: 169f). Den Schlüssel zur Erforschung der Fürsorgebeziehung sucht Honneth gleichwohl nicht bei Lévinas, sondern in den »Ausgangsprämissen einer anerkennungstheoretisch verstandenen Psychoanalyse« (2003d: 145) und den Erkenntnissen der neueren empirischen Säuglingsforschung. In beiden Disziplinen konnte gezeigt werden, welche große Bedeutung emotionale Interaktionen für die frühkindliche Entwicklung haben. So konnten Beobachtungen von René A. Spitz (1976) beweisen, »dass der Entzug mütterlicher Zuwendung auch dann zu schweren Störungen im Verhalten des Säuglings führte, wenn ansonsten die Befriedigung all seiner körperlichen Bedürfnisse sichergestellt ist« (Honneth 1992: 155). Weiterhin ergaben Untersuchungen von John Bowlby (1975), »dass der menschliche Säugling schon in seinen ersten Lebensmonaten eine aktive Bereitschaft zur Herstellung interpersoneller Nähe entwickelt, welche die Basis für alle späteren Formen von emotionaler Bindung abgibt«

9. Im Angesicht des dementen Anderen

(ebd.: 156). Schließlich konnte Daniel Stern (1979) den Nachweis erbringen, »dass sich die Interaktion zwischen Mutter und Kind als ein hochkomplexer Prozess vollzieht, in dem beide Beteiligten sich wechselseitig in die Fähigkeit zum gemeinsamen Erleben von Gefühlen und Empfindungen einüben« (Honneth 1992: ebd.). In der Psychoanalyse Donald W. Winnicotts (1984, 1989) wird den Ergebnissen der Säuglingsforschung Rechnung getragen: Der Säugling ist in einer ersten Phase der »absoluten Abhängigkeit« (Honneth 1992: 160) nicht nur von der Befriedigung seiner Bedürfnisse durch die Bezugsperson abhängig, sondern auch das Erleben seiner selbst und der Welt ist mit ihr verschmolzen. Die Beziehung von Selbst und Umwelt wird noch als ununterscheidbare Einheit erlebt. Durch die »Gewährung leiblichen Kontaktbehagens« (ebd.) von Seiten der Mutter kommt es allmählich zu einer »abgestuften Ent-Anpassung« (Winnicott 1984: 112). Der Säugling entwickelt die »Fähigkeit zur kognitiven Differenzierung von eigenem Ich und Umwelt« und beginnt mit sechs Monaten, »akustische und optische Signale als Hinweise auf zukünftige Bedürfnisbefriedigungen zu verstehen, so dass er die kurzfristige Abwesenheit der Mutter allmählich zu ertragen vermag« (Honneth 1992: 161). Die Mutter wird nun als etwas in der Welt erlebt, das sich der »Kontrolle der eigenen Omnipotenz« (ebd.) entzieht. Die frühen Akte der Erlangung von Selbständigkeit, so Winnicott, gehen mit einer affektiven Vergegenwärtigung der Unabhängigkeit einher, die für das Kleinkind eine Überforderung darstellt. Es verlässt das Stadium des Erlebens symbiotischer Gemeinsamkeit dadurch, dass es lernt, seine noch symbiotisch gespeiste Anhänglichkeit mit der Erfahrung von Selbständigkeit in Einklang zu bringen. Zu einer frühen Form der Balance zwischen Selbständigkeit und Symbiose kommt es, indem das Kind im spielerischen Umgang mit affektiv hoch besetzten Gegenständen die schmerzhaft erlebte Kluft zwischen innerer und äußerer Realität symbolisch überbrückt. Als »Übergangsobjekte« ermöglichen sie es ihm, »seine ursprünglichen Allmachtsphantasien über das Trennungserlebnis hinaus weiterleben zu lassen und zugleich kreativ an der Realität zu erproben« (ebd.: 165). Mit Winnicotts Objekttheorie geht Honneth davon aus, »dass dem Kind durch den Zwang zur Anerkennung einer unabhängigen Interaktionswelt eine schwer kompensierbare Verletzung zugefügt wird, die zeitlebens als Tendenz zur Wiederherstellung symbiotischer Einheiten wirksam bleibt« (2001b: 244): Die zeitweiligen Erlebnisse der Fusion haben im Kleinkind »ein psychisches Erwartungsschema der leiblich-seelischen Geborgenheit wachgerufen […], das durch den wachsenden Realitätssinn alsbald zunehmend enttäuscht wird, so dass Angst und Schmerz, Wut und Trauer in spannungsvoller Einheit die nahe liegenden Reaktionen sind« (Honneth 2001a: 801). Diese Reaktionsmuster wir-

199

200

Behinder t sein - behinder t werden

ken lebenslang fort, »indem sie das Subjekt stets wieder gegen die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Anderen auf begehren lassen« (Honneth 2003a: 314). Winnicotts Annahme, dass es einen »Zustand symbiotischen Einseins« (Honneth 1992: 159) gibt, sieht Honneth durch die experimentellen Untersuchungen Daniel Sterns (1992) inzwischen in Frage gestellt. Stern konnte nachweisen, dass es »schon für die ersten Lebensmonate die Herausbildung eines elementaren Selbstgefühls beim Säugling« (Honneth 2001a: 794) gibt. Was er erlebt, ist lediglich ein »zeitweise als ungeschieden erlebtes Liebesobjekt« und kann nicht als »Zustand phantasierter Omnipotenz« begriffen werden (ebd.: 800). Dennoch hält er daran fest, dass es zeitlebens eine »tiefsitzende Tendenz zur Negation von Intersubjektivität« (2003a: 313) gibt: Der »kommunikativ verfasste Emanzipationsprozess der Subjekte« (2003d: 154) bleibt insofern gebrochen, »als das lebenslange Fortwirken eines frühkindlichen Symbioseempfindens zur Triebfeder eines antisozialen »Revoltierens gegen etablierte Anerkennungsverhältnisse« (2003a: 315) wird. Bis hierher lässt sich sagen: Honneth glaubt, in Winnicotts Objektbeziehungstheorie ein verallgemeinerbares Muster der Persönlichkeitsentwicklung gefunden zu haben. Die Besonderheit dieser Entwicklung besteht für ihn darin, dass sie auf einer emotional getönten Fürsorge beruht. Sie endet im Erfolgsfall mit einem reifen Subjekt, »das sein Potential an innerer Dialogfähigkeit, an kommunikativer Verflüssigung seiner Selbstbeziehung dadurch zur Entfaltung zu bringen vermag, dass es möglichst viele Stimmen der unterschiedlichsten Interaktionsbeziehungen in seinem eigenen Inneren Gehör verschafft« (2003d: 160). Honneth kann mit Winnicotts Objekttheorie auch die Frage beantworten, wie »das Abweichende, das Widerständige im einzelnen Subjekt kategorisch angemessen gefasst werden soll, wenn dieses seine Identität und Persönlichkeitsstruktur vollständig einem Prozess der sozialen Anerkennung verdankt« (2001a: 797). Allerdings vermag er damit aber nur einen Kampf um Anerkennung zu begründen. Er kann diesen aber nicht »mit den moralischen Erfahrungen in Verbindung« bringen, »die wir meinen, wenn wir von Empfindungen mangelnder oder vorenthaltener Anerkennung sprechen« (2003a: 315).

A nerkennung in der K ontak tarbeit In meinen weiteren Überlegungen werde ich prüfen, inwieweit Honneth hier bereits in der Lage ist, wichtige normative Gesichtspunkte für eine nichtexklusive Ethik der Bildungs- und Heilberufe einzubringen: Mit der Objekttheorie Winnicotts hat er auf die zentrale Bedeutung früher und lebenslang prägender Formen affektiver Intersubjektivität zwischen primären Bezugspersonen und Kindern aufmerksam gemacht. Seine psychoanalytisch ansetzende Erklärung

9. Im Angesicht des dementen Anderen

interpersonaler Anerkennung, so meine weitere Überlegung, erweitert den bisherigen normativen Begründungsrahmen der Arbeit mit Menschen, die aufgrund Komplexer Behinderungen oder Krankheiten gemeinhin als »schwer kontaktgestört« und »nicht therapiefähig« gelten: Personen mit schwerer geistiger Behinderung, psychischer Krankheit oder Altersdemenz (vgl. Dederich u.a. 2007, Fornefeld 2008). Am Beispiel der von Garry Proutys »Prä-Therapie (1994, 1998) ausgehenden »Kontaktarbeit« (Pfeifer-Schaupp 2009b) möchte ich das veranschaulichen. Proutys prä-therapeutischer Ansatz gilt heute als eine der wichtigsten Weiterentwicklungen der klientenzentrierten (später personzentrierten) Psychotherapie von Carl R. Rogers. Er ist vielfach erprobt und in einigen Ländern Europas weiterentwickelt worden (Prouty u.a. 1998: 161ff.). Der Begriff »PräTherapie« sollte darauf verweisen, dass es Menschen gibt, bei denen die Fähigkeit zu jenem »psychologischen Kontakt« fehlt, den Rogers als die wichtigste Voraussetzung für seine personzentrierte Psychotherapie ansieht. Inzwischen liegen auch aus dem Bereich der Altenpflege Erfahrungen vor (vgl. Morton 2002, Pörtner 2007, Pfeifer-Schaupp 2009a). Sie belegen, dass der prä-therapeutische Ansatz – neben der Validationstherapie (Feil 1992), der erlebnisorientierten Pflege und Mäeutik (Schindler 2003) und dem personzentrierten Ansatz von Tom Kitwood (2008) – auch im Pflegealltag in Form von »Kontaktarbeit« eingesetzt werden kann. Prouty unterscheidet in seiner »Kontakt«-Theorie drei Bereiche: die Kontaktfunktionen der Klienten, die Kontaktreflexionen des Therapeuten und das Kontaktverhalten, das messbar ist. Die »Kontaktfunktionen« wiederum bestehen normalerweise auf drei Ebenen: dem Kontakt zur Realität, dem Kontakt zu sich selbst und dem Kontakt zu anderen. Prouty geht davon aus, dass die damit verbundenen Fähigkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung, psychischer Erkrankung oder Demenz in der Regel beeinträchtigt sind. Ziel der Arbeit ist es folglich, Brücken zu bauen, um ihnen eine realistische Beziehung zur äußeren Welt (Menschen, Orte, Dinge und Ereignisse), eine affektive Beziehung zu sich selbst (Stimmungen, Gefühle und Emotionen) und eine kommunikative Beziehung zu anderen Menschen (Symbolisierung von Welt und Affekt gegenüber Anderen) zu eröffnen. Das Erleben des Patienten wird mittels »Kontaktreflexionen« aufgegriffen, um Zugang zu seinen so genannten »prä-expressiven« Erfahrungen zu finden. Sie »ermöglichen Kontakt zwischen der Therapeutin und dem Klienten, wenn dieser nicht in der Lage ist, Kontakt zur Realität, zu sich selbst und zu anderen aufzunehmen« (Prouty u.a., 1998: 33): »1. Situationsreflexionen: Mit ganz einfachen Hinweisen auf Dinge im unmittelbaren Umfeld wird die momentane Situation angesprochen: ›Wir sitzen am Tisch‹, ›Die Lampe brennt‹, ›Es ist heiß heute‹, ›Das Zimmer ist groß‹, ›Wir sind beide sehr still‹, ›Sie spielen

201

202

Behinder t sein - behinder t werden mit dem Bleistift‹. Situationsreflexionen dienen dem Kontakt zur Realität – hier im Sinne der momentanen unmittelbaren Umgebung. 2. Körperreflexionen: Das Ansprechen der Körperhaltung regt den Kontakt zum eigenen Körper an: zum Beispiel ›Sie sind ganz steif‹, ›Sie haben den Kopf auf die Arme gelegt‹, ›Sie wippen mit dem Fuß‹ etc. Bei Menschen, die auf verbale Kommunikation nicht reagieren, kann es hilfreich sein, die gleiche Körperhaltung einzunehmen wie sie. […] Körperreflexionen fördern den Kontakt zu sich selbst auf der körperlichen Ebene. 3. Gesichtsreflexion: Das Ansprechen des Gesichtsausdrucks – zum Beispiel: ›Sie haben Tränen in den Augen‹, ›Sie sehen heute fröhlich aus‹, ›Sie runzeln die Stirn‹, ›Sie lächeln‹ – bringt Menschen in Kontakt mit ihren Gefühlen und vermittelt ihnen die Erfahrung, dass und wie andere ihre Gefühle wahrnehmen und an ihnen teilnehmen können. Gesichtsreflexionen fördern den Kontakt zu sich selbst auf der Gefühlsebene. 4. Wort-für-Wort-Reflexionen: Das wortwörtliche Wiederholen ist besonders sinnvoll bei Menschen, […] die vielleicht nur ganz leise, unzusammenhängende oder nicht verständliche Wortfetzen oder Laute von sich geben. Wenn dazwischen einzelne Worte oder Satzteile verständlich sind, können diese wiederholt werden, oder aber man wiederholt Laute oder Worte, die zwar nicht verständlich sind, aber spürbar Gefühle beinhalten. […] Wort-für-Wort-Reflexionen fördern den Kontakt zu anderen. 5. Das Prinzip des Wiederaufgreifens: Reflexionen, bei denen ein Kontakt gelungen ist, werden erneut aufgegriffen, um die Verbindung wiederherzustellen und den entstandenen Kontakt neu anzuregen. Wiederaufgreifende Reflexionen dienen der Verankerung des Kontaktes und der Festigung der Kontaktfunktionen.« (Pörtner 2007: 36f.)

Die Kontaktreflexionen sind nicht als mechanisch anwendbare Techniken zu verstehen, sondern als situativ einsetzbare methodische Hilfsmittel, um auf einfühlende Weise die drei Ebenen der Kontaktfunktion aufzubauen und zu festigen. Die Pflegeperson konzentriert sich dabei auf das konkrete, wahrnehmbare Erleben und intensiviert die inneren Gefühle des Klienten durch Reflexionsarbeit so weit, dass es zu einer Verbindung mit den drei genannten Kontaktebenen kommen kann. Im Bereich des »Kontaktverhaltens« lässt sich nun erkennen, welche Veränderungen die Anregung der Kontaktfunktionen durch Kontaktreflexionen bewirkt haben. Angestrebt ist die Entwicklung von einem prä-expressiven zu einem expressiven Selbst. Prouty verbindet mit »prä-expressivem Selbst« ein »metapsychologisches Konzept, das eine Neigung bezeichnet, Erleben zum Ausdruck zu bringen, das erst noch integriert werden muss. Diese Neigung kann als ein Aspekt der Selbstbestimmungstendenz […] betrachtet werden« (Prouty 1998: 39f.). In der Realität lässt sich die Grenze zwischen prä-expressiven und expressiven Funktionen jedoch nicht immer deutlich erkennen, weshalb Dion van Werde diesen mehrdeutigen Bereich, in dem sich die beiden Zustände überschneiden, mit »Funktionen in der Grauzone« (Van Werde 1998: 199) umschreibt. Van Werde macht mit Recht auch auf die besondere Bedeutung auf-

9. Im Angesicht des dementen Anderen

merksam, die der Gestaltung institutioneller Rahmenbedingungen und der näheren Umgebung zukommt, damit die einzelnen Kontaktfunktionen gefördert werden können. Honneths Fürsorgebegriff stellt ein alternatives normatives Angebot an die »Kontaktarbeit« dar, die sich bisher noch an den Prämissen der humanistischen Psychologie von Carl R. Rogers (1983) orientiert, der im psychotherapeutischen Prozess eine Haltung fordert, mit der drei Bedingungen erfüllt sein müssen: Wertschätzung oder nicht wertendes Akzeptieren, Empathie oder einfühlendes Verstehen und Kongruenz oder Echtheit. Die Begegnung mit dem Anderen ist auch für Rogers an die »leibhaftige Existenz konkreter Anderer« (Honneth 1992: 153f.) gebunden, denen man Gefühle besonderer Wertschätzung entgegenbringt. Anerkennung hat hier »den Charakter affektiver Zustimmung und Ermutigung« (ebd.: 153). Die Besonderheit des Anderen wird anerkannt, insofern er den Status einer Person erhält, deren Wohlergehen einen Wert darstellt. In den Persönlichkeitstheorien von Rogers und Honneth ist das Subjekt mit einem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung verbunden, die sich nur erreichen lässt, wenn Anerkennung bzw. Wertschätzung durch signifikante Bezugspersonen erfahren werden. Wird dieses Bedürfnis nach Entfaltung des eigenen Selbst durch Wertschätzung befriedigt, so kann das jeweilige Selbstkonzept des Einzelnen auf ihr auf bauen. Ebenso begreifen beide die individuelle Psyche »als einen Organismus […], dessen Entwicklung sich in Form eines ständigen Austauschs mit seiner Umwelt vollzieht« (Honneth 2003d: 155). Das »Selbstkonzept« (Rogers 1985) verändert sich mit dem Heranwachsen, als den Bewertungen, die das Kind von außen aufnimmt, zunehmend mehr Bedeutung zukommt. Allerdings sind die Bezugspersonen des Kindes bei Rogers vorrangig nur von Bedeutung, als sie ein auf Wachstum und Selbstaktualisierung ausgerichtetes leibgebundenes Geschehen fördernd begleiten. Hier stellt sich die Frage, ob er damit dem intrapsychischen Geschehen des Menschen heute noch ausreichend Rechnung tragen kann. Mit Honneth ist eine kommunikationstheoretische Revision der Psychologie Rogers‹ möglich, in der nicht mehr die Stärkung organismischer Entwicklung als Ziel vorherrscht, sondern die »Bereicherung des Ich durch kommunikative Verflüssigung des Innenlebens« (Honneth 2003d: 145). Auf der Grundlage der Objektbeziehungstheorie beschreibt er die Entstehung der individuellen Psyche des Kindes auf komplexere Weise als einen Vorgang der Internalisierung von Interaktionsbeziehungen. Im Wechsel von affektiven Bindungen und Ablösungsängsten nimmt das Kind die Verhaltensweisen eines immer größer werdenden Kreises von Bezugspersonen in sich auf: »Die intrapsychischen Instanzen, die das Produkt eines gelingenden Verinnerlichungsvorgangs sind, schaffen gewissermaßen den inneren Kommunikationsraum, der nötig

203

204

Behinder t sein - behinder t werden ist, um sich von dem stets wachsenden Kreis von Kommunikationspartnern unterscheiden zu können und zu einer autonomen Lebensgestaltung zu gelangen.« (Ebd.: 148)

Allerdings können die Anhänger der Persönlichkeitstheorie Rogers‹ hier mit Recht den Einwand erheben, dass sich Honneth mit seiner Bezugnahme auf Winnicotts Psychoanalyse in Selbstwidersprüchen verfängt, verfehlt er doch damit die von ihm selbst und Rogers geteilte Überzeugung eines moralischen Bestrebens nach Anerkennung.

E lementare S truk turen der A nerkennung Wie wir gesehen haben, erhält Honneth von der Psychoanalyse keine zufrieden stellende Antwort auf die Frage, welche moralischen Beweggründe es sind, die Menschen zu einem Kampf um Anerkennung motivieren. Diesem Dilemma begegnet er nun mit einer existential-phänomenologischen Analyse der Anerkennung. Mit John Deweys »praktischem Engagement«, Martin Heideggers »Sorge« und Georg Lukács‹ »Anteilnahme« teilt er den Grundgedanken, dass dem Erkennen von Objekten ein existentielles Interesse an der Welt vorausgeht, das sich aus der Erfahrung ihrer Werthaftigkeit speist. Für deren Umschreibungen praktischer Besorgtheit setzt Honneth kühn den Begriff der Anerkennung ein: »[D]amit soll hier vorläufig nur der Umstand hervorgehoben werden, dass wir uns in unserem Handeln vorgängig nicht in der affektiv neutralisierten Haltung des Erkennens auf die Welt beziehen, sondern in der existentiell durchfärbten, befürwortenden Einstellung des Bekümmerns: Wir räumen den Gegebenheiten der uns umgebenden Welt zunächst stets einen Eigenwert ein, der uns um unser Verhältnis mit ihnen besorgt sein lässt.« (2005: 41f.)

Unserem objektivierenden Weltverhältnis liegt folglich »eine Schicht der existentiellen Anteilnahme« zugrunde, die »Züge einer existentiellen Besorgnis« (ebd.: 46) trägt. Auf der anderen Seite münden Honneths Überlegungen zum Thema »Verdinglichung« »in einen rabiaten Übersetzungsvorschlag« (Seel 2009: 158). Er erhebt nicht nur seinen Leitbegriff in »intersubjektiver, subjektiver und objektiver Hinsicht […] zu einer anthropologischen, ethischen und epistemologischen Grundkategorie« (ebd.: 157), sondern deutet ihn negativ: Verdinglichung ist »Anerkennungsvergessenheit«, durch die »in unserem Wissen um andere Menschen und im Erkennen von ihnen das Bewusstsein verloren geht, in welchem Maß sich beides ihrer vorgängigen Anteilnahme und Anerkennung verdankt« (Honneth 2005: 68). Mit »Anerkennungsvergessenheit« verbindet

9. Im Angesicht des dementen Anderen

Honneth nicht nur die Beziehung der Menschen untereinander; vielmehr besteht sie auch darin, dass das Subjekt vergisst, dass sich der primäre Zugang zu sich selbst und zu der Welt von natürlichen und künstlichen Objekten auf einer befürwortenden, anerkennenden Haltung beruht. Der Verlust einer befürwortenden Einstellung gegenüber sich selbst, anderen Personen und Dingen erfolgt über die Einrichtung gesellschaftlicher Praktiken und Institutionen, durch die es zu emotional neutralisierten Orientierungen und Einstellungen kommt. Honneths Vorstellung einer existenzialen Struktur der Anerkennung lässt sich nun mit der einer Fürsorge im Sinne von »Besorgtheit« bzw. »Anteilnahme« (ebd.: 34f.) gleichsetzen, die wir gegenüber uns selbst, Menschen und Dingen einnehmen. In einer früheren Kritik an Hans-Georg Gadamers (1986) Fürsorgebegriff deutete sich diese Wende bereits an (Honneth 2003c): Für Gadamer besteht die Besonderheit interpersonaler Beziehung darin, dass wir es mit einem Anderen als Gegenüber zu tun haben, der selbst handelnde Person ist. Er unterscheidet drei epistemisch-moralische Stufen der Intersubjektivität: Wir können den Anderen in »reine[r] Selbstbezüglichkeit« (Gadamer 1986: 365) auf festgelegte Eigenschaften reduzieren, die für die Verfolgung eigener Zwecke die wesentlichen Ansatzpunkte bilden, so dass er als Gegenüber aller Überraschungswerte beraubt wird. Wir können in einer »Weise der Ichbezogenheit« (ebd.) glauben, ihn zu verstehen und seinen Forderungen und Ansprüchen vorgreifend begegnen. Wir können aber auch um die »Andersheit des Anderen« (ebd.: 366) wissen und dadurch mit einer Haltung der Offenheit versuchen, ihn »als Du wirklich zu erfahren, d.h. seinen Anspruch nicht zu überhören« (ebd.: 367). Gadamer ordnet die professionelle helfende Beziehung prinzipiell auf der zweiten Stufe im Sinne eines fürsorglichen Paternalismus ein: Eine »Dialektik der Fürsorge« (ebd.: 366) führt dazu, »sich selber aus der Beziehung zum anderen herauszureflektieren und dadurch von ihm unerreichbar zu werden« (ebd.): »Indem man den anderen versteht, ihn zu kennen beansprucht, nimmt man ihm jede Legitimation seiner eigenen Ansprüche. […] Der Anspruch, den anderen vorgreifend zu verstehen, erfüllt die Funktion, sich den Anspruch des anderen in Wahrheit vom Leibe zu halten.« (Ebd.) Die Pflegeperson kommt nach Gadamer gar nicht umhin, in ihr Gegenüber Bedürfnisse oder Ansprüche hineinzuprojizieren, von denen sie annimmt, ein besseres, unbefangenes Wissen zu haben. Im Verstehen des anderen Menschen reklamiert sie eine überlegene Sichtweise und leugnet damit eine vorgängige Bindung an ihn und dementsprechend eine Art von Vorurteilslosigkeit im Umgang mit ihr. Axel Honneth (2003c: 62ff.) wendet mit Recht kritisch ein, dass Gadamer das fürsorgeabhängige Subjekt ausschließlich im Modus des Verfallens an die Uneigentlichkeit des »Man« bestimmt, indem er sich an Heideggers problematischem Verständnis von »Mitsein« orientiert, das am Maßstab der »Ent-

205

206

Behinder t sein - behinder t werden

schlossenheit zu sich selbst« ausgerichtet ist. Von einer »autoritativen Form der Fürsorge« (Gadamer) lässt sich aber erst dann sprechen, wenn die Pflegeperson auf der kognitiven Ebene von der anerkennenden Bindung abstrahiert, die sie vorgängig bereits mit dem hilfebedürftigen Anderen unterhält. In diesem Fall käme sie dem Anspruch des Anderen bereits zuvor und würde sich in ihrem Verhalten zu ihm einer Anerkennungsvergessenheit schuldig machen. Von diesem Fehler kommt die helfende Person aber in dem Augenblick frei, wo sie sich vor allem Erkennen in affektiver Verbundenheit mit ihrem Gegenüber weiß, so dass sie sich in wertschätzender Weise dem Anderen gegenüber zu öffnen vermag. Honneth bezieht sich auf Michael Tomasellos (2003) evolutionäre Anthropologie, um erneut seine These zu untermauern, dass die emotionale Identifikation mit Anderen im genetischen Sinn die notwendige Voraussetzung darstellt, um jene Perspektivübernahme zu ermöglichen, die zur Entwicklung symbolischen Denkens führt. Darüber hinaus führt er Peter Hobsons (1993) empirische Vergleiche mit autistischen Kindern an, um zu veranschaulichen, dass es affektiv bedingte Barrieren geben kann, »ein Verbundenheitsgefühl mit seinen primären Bezugspersonen zu entwickeln« (Honneth 2005: 49): »Weil das autistische Kind ›gefühlsmäßig nicht ansprechbar ist, bleibt es in seiner Perspektive auf die Welt gefangen und lernt keine andere kennen. Es sieht, oder genauer ausgedrückt, es fühlt nicht, dass in Gesichtsausdrücken, Bewegungen und kommunikativen Gesten Einstellungen zum Ausdruck kommen. Es ist blind für den expressivmentalen Gehalt solcher Äußerungen oder, wie man auch sagt, für ihre Bedeutung‹.« (Ebd. 50f.)

Lernprozesse des Kindes erfolgen in einer »Art von existentieller, ja affektiver Anteilnahme am Anderen, die es überhaupt erst ermöglicht, dessen Perspektive auf die Welt als bedeutsam zu erfahren.« (ebd., 51) In einem weiteren Schritt führt Honneth die neue Idee ein, »dass unsere kognitiven Weltbeziehungen […] in einem begrifflichen Sinn an Einstellungen oder Anerkennung gebunden sind« (Honneth 2005: 54.). Mit Stanley Cavell (2002) kritisiert er die Vorstellung, wir könnten »von den mentalen Zuständen anderer Personen, dem so genannten ›Fremdpsychischen‹, ein direktes, unmittelbares Wissen besitzen« (Honneth 2005: ebd.). Sprachliches Verstehen, so Honneth, ist »an die nicht-epistemische Voraussetzung der Anerkennung des Anderen gebunden« (ebd.: 59). Honneth schlägt daher vor, »den kommunikativ Handelnden nicht als ein epistemisches, sondern als ein existentiell involviertes Subjekt (zu) denken, das von den Empfindungszuständen der anderen Person nicht neutral Kenntnis nimmt, sondern davon in seinem eigenen Selbstverständnis affiziert ist« (ebd.: 56).

9. Im Angesicht des dementen Anderen

Den Vorgang intersubjektiver Anerkennung bestimmt Honneth nun dadurch, dass er ihn gegenüber dem bloßen Erkennen von Personen abgrenzt: »Die Entgegensetzung von ›Erkennen‹ und ›Anerkennen‹ stellt, so bin ich heute überzeugt, den Schlüssel für ein angemessenes Verständnis dessen dar, was sich im Akt der Anerkennung vollzieht.« (Honneth 2003b: 8f.) Anerkennung geht über den kognitiven Akt der individuellen Identifikation hinaus, insofern wir damit »den expressiven Akt bezeichnen, durch den jener Erkenntnis die positive Bedeutung einer Befürwortung verliehen wird« (ebd.: 15). Im Vergleich zum Erkennen besitzt sie folglich einen performativen Charakter. Sie ist mit entsprechenden Handlungen, Gesten oder Mimiken verbunden, die zum Ausdruck bringen, dass wir den Anderen befürwortend zur Kenntnis nehmen: Im »liebevollen Lächeln artikuliert sich die motivationale Bereitschaft zu Handlungen der Fürsorge, während im respektvollen Grüßen eher die negative Bereitschaft zum Ausdruck gelangt, auf alle bloß strategischen Handlungen Verzicht zu leisten« (ebd.).

A usblick Auf der Grundlage seiner existenzial-phänomenologischen Analyse einer »anerkennenden Primärerfahrung« (Honneth 2005: 102) hat Honneth den Nachweis erbracht, dass es moralische Erfahrungen verletzter Anerkennung sind, die die Menschen zu einem Kampf um Anerkennung bewegen. Von einer psychoanalytischen Genealogie der Interaktion in der Eltern-Kind-Beziehung ist er zur begrifflichen Klärung einer primären Anerkennung übergegangen, »die ein Moment der unwillkürlichen Öffnung, Hingabe oder Liebe enthält‹« (ebd.: 51). Honneth geht davon aus, dass »dieser ›existenzielle‹ Modus der Anerkennung allen anderen, gehaltvolleren Formen der Anerkennung zugrunde liegt« (ebd.: 60, Fußn. 19). Der Andere wird durch eine grundlegende Haltung der Besorgtheit mit der »moralischen Autorität« ausgestattet, »insoweit über die eigene Person zu verfügen, als man sich selber zur Ausführung oder Unterlassung bestimmter Klassen von Handlungen verpflichtet weiß« (Honneth 2003b: 22): »Was Cavell als ›acknowledgement‹ bezeichnet, Heidegger als ›Sorge‹ oder ›Fürsorge‹ und Dewey als ›Involviertheit‹, liegt unterhalb der Schwelle, auf der die wechselseitige Anerkennung bereits die Bejahung spezifischer Eigenschaften des jeweiligen Gegenübers impliziert.« (Honneth 2005: 60)

Auf der Grundlage dieser Existenzialstruktur der menschlichen Lebensform können nicht nur diskriminierende Formen des Unsichtbarmachens (Honneth 2003b), der ideologischen Anerkennung (Honneth 2004c) oder der »Ver-

207

208

Behinder t sein - behinder t werden

dinglichung« (Honneth 2005) untersucht werden; darüber hinaus lassen sich auch die vielfältigen Vorgänge der Missachtung und Demütigung gegenüber Personen beschreiben, die aufgrund ihrer komplexen Behinderungen und Krankheiten nicht selbst dazu in der Lage sind, für ihre Anerkennung einzutreten. Es erinnert sehr an Lévinas, wenn Honneth schreibt, mit »Anteilnahme« (ebd.: 59) sei die »existentielle, bis ins Affektive hineinwirkende Tatsache verbunden, »dass wir den Wert des Anderen in der Einstellung der Anerkennung bejahen müssen, selbst wenn wir ihn im Augenblick verfluchen oder hassen« (ebd.: 59f.). Auch bei Lévinas wird die Dimension des Ethischen eröffnet, wenn ein Anderer sich auf irgendeine Art und Weise an mich richtet. In der direkten Begegnung vollzieht sich eine Erfahrung, die grundverschieden ist von der äußeren Perspektive eines Sprechens oder Denkens über einen anderen Menschen: Wenn ich über einen Menschen (mit Demenz) spreche, höre, ihn sehe oder fühle, bin ich derjenige, der mehr oder weniger kompetent vergleicht und kategorisiert. Seine Andersheit ist aufgehoben worden. Nur innerhalb der Begegnung zeigt sich, was den Anderen als solchen einzigartig macht, nämlich sein Ansehen oder Ansprechen, das sich nicht verdinglichen lässt. Abschließend stellt sich daher die Frage, warum Honneth nach wie vor Lévinas nur insoweit Bedeutung einräumt, als sich mit dessen Hilfe die normative Geltung des Prinzips der Gleichbehandlung in Fällen »extremer Bedürftigkeit oder Not« (Honneth 2000: 170) außer Kraft setzen lässt.

L iter atur Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Frankfurt a.M. Benjamin, Jessica (2002): Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität, Gender, Psychoanalyse. Frankfurt a.M./Basel. Bowlby, John (1975): Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. München. Butler, Judith (2007): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M. Cavell, Stanley (2002): Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays, hg. von Davide Sparti und Espen Hammer. Frankfurt a.M., S. 35-110. Dederich, Markus (2004): »Die Anerkennung des Abhängigseins«, in: Angelika Gäch (Hg.): Phänomene des Wandels. Wozu Heilpädagogik und Sozialtherapie herausgefordert sind. Luzern, S. 103-122. Dederich, Markus/Grüber, Katrin (Hg.) (2007): Herausforderungen. Mit schwerer Behinderung leben. Frankfurt a.M. Düttmann, Alexander G. (1997): Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung. Frankfurt a.M.

9. Im Angesicht des dementen Anderen

Feil, Naomi (2000): Validation: Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. München. Fornefeld, Barbara (Hg.) (2008): Menschen mit komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. München. Gadamer, Hans-Georg (1986): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen. Hobson, Peter (1993): Autism and the Development of Mind, Hove/Hilsdale. Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a.M. Honneth, Axel (1999): »Kampf um Anerkennung. Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität«, in: Ders: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. Erweiterte Neuausgabe. Frankfurt a.M., S. 165-176. Honneth, Axel (2000): »Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die Herausforderung der poststrukturalistischen Ethik«, in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt a.M., S. 133-170. Honneth, Axel (2001a): »Facetten des vorsozialen Selbst. Eine Erwiderung auf Joel Whitebook«, in: Psyche, 55 Heft 8, S. 790-802. Honneth, Axel (2001b): »Das Werk der Negativität. Eine psychoanalytische Revision der Anerkennungstheorie«, in: Werner Bohleber/Sibylle Drews (Hg.): Die Gegenwart der Psychoanalyse – Die Psychoanalyse der Gegenwart. Stuttgart, S. 238-245. Honneth, Axel (2003a): »Der Grund der Anerkennung: Eine Erwiderung auf kritische Rückfragen«, in: Ders.: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort. Frankfurt a.M., S. 305-341. Honneth, Axel (2003b): »Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von ›Anerkennung‹«, in: Ders.: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt a.M., S. 10-27. Honneth, Axel (2003c): »Von der zerstörenden Kraft des Dritten. Gadamer und die Intersubjektivitätslehre Heideggers«, in: Ders.: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität. Frankfurt a.M., S. 49-70. Honneth, Axel (2003d): »Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veralten der Psychoanalyse«, in: Ders.: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität. Frankfurt a.M., S. 138-161. Honneth, Axel (2003e): »Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser«, in: ders.: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a.M., S. 129-224. Honneth, Axel (2003f): »Die Pointe der Anerkennung. Eine Entgegnung auf die Entgegnung«, in: Ders.: Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a.M., S. 271-305.

209

210

Behinder t sein - behinder t werden

Honneth, Axel (2004a): »Gerechtigkeit und kommunikative Freiheit. Überlegungen im Anschluss an Hegel«, in: Barbara Merker/Georg Mohr/Michael Quante (Hg.): Subjektivität und Anerkennung. Paderborn, S. 213-227. Honneth, Axel (2004b): »Antworten auf die Beiträge der Kolloquiumsteilnehmer«, in: Christoph Halbig, Michael Quante (Hg.): Axel Honneth: Sozialphilosophie zwischen Kritik und Anerkennung, Münster, S. 99-121. Honneth, Axel (2004c): »Anerkennung als Ideologie«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 1 Heft 1, S. 51-70. Honneth, Axel (2005): Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt a.M. Honneth, Axel (2008): »Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse. Überlegungen im Anschluss an Hegel«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.): Axel Honneth. Gerechtigkeit und Gesellschaft. Potsdamer Seminar. Berlin, S. 11-29. Kittay, Eva Feder (2004): »Behinderung und das Konzept der Care-Ethik«, in: Sigrid Graumann/Katrin Grüber/Jeanne Nicklas-Faust/Susanna Schmidt/ Michael Wagner-Kern (Hg.): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivwechsel, Frankfurt a.M./New York, S. 67-80. Kitwood, Tom (2008): Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit Menschen. 5. erg. Aufl, Bern. Morton, Jan (2002): Die Würde wahren. Personenzentrierte Ansätze in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Stuttgart. Pfeifer-Schaupp, Ulrich (2009a): »Prä-Therapie in der Altenpflege«, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 42 4, S. 336-341. Pfeifer-Schaupp, Ulrich (2009b): »Achtsamkeitsbasierte Kontaktarbeit – PräTherapie in der Altenpflege«, in: Person, Internationale Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung, 13 1, S. 1424. Pörtner, Marlis (1998): »Die Weiterentwicklung der Prä-Therapie in Europa«, in: Garry Prouty/Dies./Dion Van Werde: Prä-Therapie. Stuttgart, S.  159228. Pörtner, Marlis (2005): Brücken bauen. Menschen mit geistiger Behinderung verstehen und begleiten. Stuttgart. Pörtner, Marlis (2007): Alt sein ist anders. Personzentrierte Betreuung von alten Menschen. Zweite, durchgesehene Aufl. Stuttgart. Prouty, Garry (1994): Theoretical Evolutions in Person-Centered/Experiential Therapy – Applications to Schizophrenic and Retarded Psychoses. Westport. Prouty, Garry (1998): Die Grundlagen der Prä-Therapie, in: Ders./Dion Van Werde/Marlies Pörtner: Prä-Therapie. Stuttgart, S. 15-83. Ricoeur, Paul (2006): Wege der Anerkennung. Frankfurt a.M.

9. Im Angesicht des dementen Anderen

Rogers, Carl, R. (1983): Therapeut und Klient. Grundlagen der Gesprächspsychotherapie. Frankfurt a.M. Rogers, Carl, R. (1985): Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart. Rösner, Hans-Uwe (2009): »Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz. Über die normativen Grundlagen der Heilpädagogik als Kulturwissenschaft«, in: Markus Dederich/Heinrich Greving/Christian Mürner/ Peter Rödler (Hg.): Heilpädagogik als Kulturwissenschaft. Gießen, S. 204220. Schindler, Ulrich (Hg.) (2003): Die Pflege dementiell Erkrankter neu erleben. Mäeutik im Praxisalltag. Hannover. Seel, Martin (2009): »Anerkennung und Aufmerksamkeit. Über drei Quellen der Kritik«, in: Rainer Forst u.a. (Hg.): Sozialphilosophie und Kritik. Frankfurt a.M., S. 157-178. Spitz, Réne A. (1976): Vom Säugling zum Kleinkind. Stuttgart. Stern, Daniel, N. (1979): Mutter und Kind. Die erste Beziehung. Stuttgart. Stern, Daniel, N. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart. Taylor, Charles (1993): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a.M. Tomasello, Michael (2003): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt a.M. Van Werde, Dion (1998): »Prä-Therapie im Alltag einer psychiatrischen Station«, in: Garry Prouty/Marlis Pörtner/Ders: Prä-Therapie. Stuttgart, S. 85158. Winnicott, Donald W. (1984): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt a.M. Winnicott, Donald W. (1989): Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart.

211

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien Michel Foucaults Bedeutung für eine

kritische Sozialarbeit

Nach Stefen Lukes häufig zitierter Einschätzung beruhen alle bisherigen Machttheorien auf der gemeinsamen Annahme, dass sich die Macht eines oder mehrerer Handelnder A in Hinblick auf ein Ziel Z dann manifestiert, wenn A das Ziel Z durch das Einwilligen eines oder mehrerer Handelnder B erreicht (vgl. Lukes 1983: 107). In der langen Tradition politischer Theorien lassen sich seines Erachtens zwei unterschiedlichen Interpretationen dieses Grundgedankens feststellen: Entweder wird die Auffassung vertreten, dass beiden Parteien das Ziel Z gemeinsam ist, oder man nimmt B’s Einwilligung in das Ziel Z als erzwungen an. Während Platon, Hannah Arendt und Talcott Parsons auf die Seite derer zu rechnen sind, die von einer Macht als Kooperation und Konsens ausgehen, lassen sich Max Weber, Karl Marx oder Michel Foucault jenen zuordnen, die Macht als Hierarchie und Herrschaft verstehen. Im Vergleich zu Lukes kommen Thomas Lemke und Stephan Moebius zu dem Schluss, dass sich Foucaults Konzeption einer produktiven Macht in keines der beiden Schemata einordnen lässt. So habe er seine Machtanalyse weder an Fragen von Legitimität und Konsens noch umgekehrt von Zwang und Gewalt gekoppelt. Indem er die produktive Kraft und materiale Wirkung von Macht im Sinne einer Konstituierung von Subjekt und Wahrheit hervorhebt, habe er etwas vergleichsweise Neues geschaffen. Foucault müsse daher einer dritten Interpretation von Macht zugeordnet werden (vgl. Lemke 2005: 319; Moebius 2008: 158f.). Foucault löst sich von einem »juridischen« Machtverständnis, in dem Macht entweder mit Verbot, Gesetz, Zwang, Ausschluss und Gewalt oder mit Legitimität und vertraglicher Einigung in Verbindung gebracht wird. Er fordert uns zur Verabschiedung oppositioneller Bestimmungen wie der von Macht und Subjekt bzw. Macht und Freiheit auf. Die humanistische Vorstellung, man stünde auf der richtigen Seite, wenn man sich auf den Menschen

214

Behinder t sein - behinder t werden

und seine Befreiung berufe, ist ihm suspekt. Wer in den Kategorien Macht und Befreiung denkt, kann daher seinen Schriften nicht viel abgewinnen. Für Foucault gibt es kein Entweder-Oder von repressiver Macht oder Befreiung, bei der Menschen zu gefügigen Opfern oder emanzipierten Opponenten gegenüber einer mit Gewalt und Zwang einhergehenden Herrschaft erklärt werden können: »Die[se] Serie von Subjektivitäten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stellen, das ›der Mensch‹ wäre. Die Menschen treten ständig in einen Prozess ein, der sie als Objekte konstituiert und sie dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der sie als Subjekte umgestaltet.« (Foucault, 1981a: 94)1

Foucault stellt die Bereitschaft und Fähigkeit zu Kritik in den Theorien der Pädagogik, der Psychologie und der Sozialen Arbeit damit vor eine harte Probe. Wer sich auf ihn einlässt, sollte sich mit seiner Überzeugung anfreunden, dass es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann. Darüber hinaus muss er davon Abstand nehmen, »Macht« tendenziell im Sinne eines abzuschaffenden Übels zu deuten. Foucaults Bestreben liegt nicht darin, die Macht zu überwinden, sondern einen positiven und produktiven Begriff von Macht zu entwickeln, der Spielräume für Freiheitspraktiken eröffnet. In der Behauptung, mit Foucaults Machtanalyse sei die Moderne »nur als ein sinnloses Auf und Ab anonymer Überwältigungsprozesse« (Habermas 1985: 129). wahrzunehmen, schwingt noch die hartnäckige Unterstellung mit, dass bei Foucault alle Felder der Gesellschaft von einem unentrinnbaren Gewebe repressiver Strukturen durchdrungen sind, die sich zwar ändern, aber niemals abgestreift werden können. Foucault zieht jedoch keineswegs den Schluss, dass die bestehenden Machtbeziehungen notwendig sind oder dass Macht innerhalb der Gesellschaft ein unabwendbares Schicksal darstellt. Vielmehr sieht er eine ständige politische Aufgabe darin, die Machtbeziehungen und den Antagonismus zwischen ihnen und der intransitiven Freiheit zu analysieren, in Frage zu stellen und zu verändern. Seit Ende der 70er Jahre hat Foucault seine Machtanalyse weder nur auf die Mikroverhältnisse in Institutionen wie Gefängnis, Schule, Besserungsanstalt, Klinik usw. beschränkt, noch auf die totale Verwaltung der heterogenen Biomasse »Bevölkerung« ausgeweitet. Stattdessen führt er den Begriff der Regierung (gouvernement) ein, der ihm als Referenzrahmen dient, innerhalb 1 | Das war es, was Foucault nach eigener Aussage meinte, als er in Die Ordnung der Dinge in Aufsehen erregender Weise vom Tod des Menschen sprach. Eine erfolgreiche Gegenwehr gegen die Macht ist für ihn somit nicht möglich. Es kann immer nur Formen des Widerstands innerhalb von Machtbeziehungen geben, die deren Gefüge aufbrechen, verschieben oder verändern. (Vgl. Foucault 1974: 462)

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

dessen seine gesamten machtanalytischen Arbeiten einzuordnen sind:2 Mit »Regierung« umschreibt Foucault ein Regierungsdenken, das darin besteht, das Verhalten der Menschen innerhalb eines staatlichen Rahmens zu reflektieren. Darüber hinaus dient ihm dieser Begriff zur Untersuchung unterschiedlicher Regierungstechnologien, d.h. der Verfahren, mit denen auf das Verhalten des Einzelnen wie der Bevölkerung eingewirkt wird. Schließlich verwendet er »Regierung« im Rückgang auf die Antike unter dem Aspekt des Sich-SelbstRegierens, d.h. im Sinne von Macht über sich selbst und damit auch über die anderen. In keinem dieser Bereiche fragt Foucault nach der wirklichen Regierungspraxis, wie sie sich entwickelt hat. Vielmehr untersucht er die »Regierungskunst«, d.h. die reflektierte Weise, über die bestmögliche Regierungsweise des Staates, der Menschen und seiner selbst nachzudenken. Seine Untersuchungen führen zu dem Ergebnis, dass sich die Entstehung und das Funktionieren der Sozialen Arbeit nicht von Arrangements politischer Technologien des Regierens3 trennen lassen, mit denen man den Einzelnen und die Bevölkerung zum Gegenstand der Sorge macht. Wer in Helfenden Berufen tätig ist, steht für Foucault nicht auf der Seite suspendierter Machtverhältnisse, sondern agiert innerhalb zeitgenössischer »Sicherheitsdispositive«. Seine Untersuchungen zur Regierungskunst gestatten es aber auch, Freiheiten im Rahmen des Dispositivs »Soziale Arbeit« eltend zu machen und damit Raum für anerkennungstheoretische Überlegungen zu eröffnen. Mit der vorliegenden Arbeit will ich in erster Linie deutlich machen, inwieweit sich Foucaults Machtanalyse für die heutige Soziale Arbeit konstruktiv anwenden lässt.4 Dazu ist es notwendig, sich von hartnäckigen Mythen über sein Werk zu verabschieden: Nach Foucault leben wir heute weder in einer Gesellschaft des disziplinarischen Typs, in der Individuen durch Dressurtechniken erzeugt werden, noch in einer Normalisierungsgesellschaft, die einen Ausschluss der Nicht-Normalisierbaren hervorbringt. Foucault liest aus der gegenwärtigen liberaldemokratischen Regierungskunst eher die Idee einer 2 | Vgl. im Gegensatz dazu Anhorn u.a., die es ablehnen, Foucaults Gouvernementalitätsstudien »als Kulminationspunkt seiner theoretischen Entwicklung« (Anhorn u.a. 2007: 12) zu betrachten. 3 | Darunter fallen auch die in der Sozialarbeit vorherrschenden Interventionstechniken zur »Lenkung des Verhaltens von Individuen und Gruppen: von Kindern, Seelen, Gemeinschaften, Familien, Kranken« (Foucault 1982a: 286). 4 | Foucault gründet seine gesamte Forschung auf das Postulat eines unbedingten Optimismus. Nach eigenem Bekunden führt er seine Analysen nicht durch, »um zu sagen: Seht, die Dinge stehen so und so, ihr sitzt in der Falle.« Vielmehr hält er das, was er sagt, für geeignet, die Dinge zu ändern: »Ich sage alles, was ich sage, damit es nützt.« (Foucault 1981a: 115f.)

215

216

Behinder t sein - behinder t werden

von Toleranz geprägten Gesellschaft heraus, in der es »eine Optimierung der Systeme von Unterschieden« (Foucault 2004b: 359) gibt: Die Individuen werden nicht nur durch Herrschaft unterworfen, sondern darüber hinaus als handlungs- und kritikfähige Subjekte gebildet und geformt. Im Folgenden führe ich zunächst Foucaults Verständnis von »Genealogie« ein, das darin besteht, sich nicht an gegebenen normativen Ansprüchen der Gesellschaft zu orientieren, sondern diese selbst in ihre Kritik einzuschließen (I). Nach einer ersten Sondierung grundsätzlicher Annahmen Foucaults zur Machtanalyse rekonstruiere ich verschiedene seiner Sichtweisen: von der Disziplinarmacht bis zu dem Punkt, an dem er seinen Begriff der »Gouvernementalität« einführt (II). Daraufhin skizziere ich die unterschiedlichen Sicherheitsdispositive – Pastorat, Staatsräson, Polizeiwissenschaft, liberale Gouvernementalität, – innerhalb derer die Soziale Arbeit situiert werden kann (III). Schließlich folge ich Foucaults Vorschlag einer »Ästhetik der Existenz«, indem ich sein Analyseraster vorstelle, mit dem sie sich erfahrbar machen lässt (IV). Meine Absicht ist es, die »Logik« der Foucault’schen Machtanalyse Schritt für Schritt zu entfalten und dabei in ihrer Bedeutung für die Sozialarbeit zu verdeutlichen. Am Beispiel der unterschiedlichen Einschätzungen des Empowerment-Konzepts werde ich abschließend zeigen, dass Foucaults Begriff der Selbstsorge nicht ausreicht, die Freiheit verbürgenden Handlungsspielräume in der Sozialen Arbeit angemessen wahrzunehmen. Mit einem abschließenden kurzen Blick auf Judith Butlers Anerkennungstheorie setze ich mich kritisch mit seinem Versäumnis auseinander, dem Begriff der Fürsorge einen angemessenen Stellenwert einzuräumen (V).

G ene alogie als K ritik Foucault hat eine Form der Kritik entwickelt, die er im Anschluss an Nietzsche »Genealogie« nennt. Sie unterscheidet sich von anderen Kritikverfahren dadurch, insofern es sich hier um eine neue Form von Historiografie handelt. Seine genealogische Kritik verabschiedet sich nicht nur von der Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein der Geschichte enthobenes transparentes Wissen, das ohne Trugbilder funktioniert. Darüber hinaus will sie zeigen, wie sich Wissensformen innerhalb von Macht- und Wahrheitspraktiken konstituieren, sich durchsetzen und ihrerseits Machtwirkungen hervorrufen. Die historischen Gewissheiten werden durch eine Verzeitlichung der Kategorien und Perspektiven und eine Absage an universelle Strukturen und formale Allgemeinbegriffe abgelöst. Foucault zufolge macht die genealogische Kritik eine Reihe genauer historischer Untersuchungen erforderlich, die nicht darauf ausgerichtet sind, den »wesentlichen Rationalitätskern« der Aufklärung zu rekonstruieren, sondern die »aktuellen Grenzen des Notwendigen« (Foucault 1984a: 700) hin-

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

sichtlich der Konstitution unserer Subjektivität zu befragen. Foucault bezeichnet seine genealogische Geschichtsschreibung als »Verbindung von gelehrten Kenntnissen und lokalen Erinnerungen, eine Verbindung, die es ermöglicht, ein historisches Wissen der Kämpfe zu erstellen und dieses Wissen in aktuelle Taktiken einzubringen« (Foucault 1999: 17). Der historische Gegenstand, auf den sich die genealogische Kritik bezieht, wird nicht nur gedeutet, sondern auch verändert. Genealogie ist in diesem Sinn mit der Entdeckung verbunden, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern das zufällige Ereignis. Rückblickend unterscheidet Foucault drei mögliche genealogische Achsen: »Als Erstes ein historische Ontologie unserer selbst in unseren Beziehungen zur Wahrheit, die es uns erlaubt, uns als Erkenntnissubjekt zu konstituieren; dann eine historische Ontologie unserer selbst in unseren Beziehungen zu einem Machtfeld, auf dem wir uns als Subjekte konstituieren, die im Begriff sind, auf die anderen einzuwirken; schließlich eine historische Ontologie unserer Beziehungen zur Moral, die es uns erlaubt, uns als ethisch Handelnde zu konstituieren.« (Foucault 1984d: 759)

Es geht ihm also nicht mehr nur um eine Geschichte von Wissensformen, sondern um historische Analysen der Erfahrungen seiner selbst in Bezug auf unterschiedliche Wahrheitsspiele; nicht mehr nur um eine Geschichte der Herrschaft, sondern um die historische Analyse unterschiedlicher Gouvernementalitäten, durch die wir als Subjekte konstituiert werden und auf uns selbst bzw. andere einwirken; schließlich nicht mehr um einer Theorie des Subjekts, sondern um die historische Analyse der veränderbaren Formen eines praktischen Umgangs mit sich selbst. Foucault ist keineswegs für eine radikale Systemveränderung. Er rät davon ab, dem aktuellen System dadurch entgehen zu wollen, dass man umfassende Programme für eine anderen Gesellschaft, einer anderen Denkungsart, einer anderen Kultur oder einer anderen Weltanschauung ausgibt. Mit dem genealogischen Instrumentarium will er komplexe Phänomene der Verwobenheit von Macht, Wissen und Subjekt aufspüren, die auf dem Radar anderer Kritikverfahren nicht erscheinen. Dadurch soll ein Reflexionsprozess in Gang gesetzt werden, durch den wir uns mit unseren unhinterfragten Überzeugungen konfrontieren, um eingeübte und habitualisierte Praxismuster und Selbstverständnisse zu destabilisieren: »Kritik heißt nicht, dass man lediglich sagt, die Dinge seien nicht gut so, wie sie sind. Kritik heißt herauszufinden, auf welchen Erkenntnissen, Gewohnheiten und erworbenen, aber nicht reflektierten Denkweisen die akzeptierte Praxis beruht.« (Foucault 1981b: 221f.)

217

218

Behinder t sein - behinder t werden

Genealogie als Kritik leitet sich folglich nicht mehr aus der Form dessen ab, was wir sind. Vielmehr wird sie aus der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit herauslösen, nicht mehr das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken. Genealogische Kritik beruft sich auf kein »Wir« als normative Grundlage, sondern fragt nach den Normen, durch die die Frage, was wir zu tun haben, vorgeprägt ist. Im Vergleich zu Jürgen Habermas besteht für Foucault das Problem daher darin, »herauszufinden, ob es wirklich angebracht ist, sich innerhalb eines ›Wir‹ zu platzieren, um die Prinzipien die man anerkennt, und die Werte, die man akzeptiert, geltend zu machen; oder ob man nicht mit der Ausarbeitung der Frage die zukünftige Ausbildung eines ›Wir‹ möglich machen muss« (Foucault 1984c: 728). Dazu ist es notwendig, sich nicht auf vorhandene Identitäten zu berufen, sondern sich als Subjekt in Frage zu stellen und damit zu einer Art Verflüssigung von fixierten und in der Unterwerfung fixierenden Identitätsformen beizutragen. Genealogie ist so gesehen der Versuch, »Verstehen« als eine veränderte Erprobung seiner selbst zu praktizieren und nicht zu Zwecken der Einigung im Rahmen kommunikativen Handelns. Die genealogische Kritik ist von einer individuellen und zugleich kollektiven Haltung geprägt, nicht regiert zu werden, d.h. im Sinne Kants aus seiner Unmündigkeit herauszutreten. Auf der Grundlage einer Untersuchung der spezifischen Mechanismen der Macht, welche das menschliche Leben hervorbringt, ergibt sich das politische Ziel, mit Möglichkeiten für ein Freiheiten eröffnendes Vokabular zu experimentieren. Genealogie beruht so gesehen auf einer philosophischen Übung, in der es darum geht, »zu wissen, in welchem Maße die Arbeit, seine eigene Geschichte zu denken, das Denken von dem lösen kann, was es im Stillen denkt, und inwieweit sie es ihm ermöglichen kann, anders zu denken« (Foucault 1986b: 16). Sie steht in Verbindung mit »Existenzkünsten«, die »gewusste und gewollte Praktiken« darstellen, »mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht« (ebd.: 18).

D ie P roduk tivität der M acht Der Begriff »Macht« spielt bereits in Wahnsinn und Gesellschaft5 (Foucault 1973a) und Die Geburt der Klinik (Foucault 1973b) eine zentrale Rolle. Aller5 | Noch im Jahr 1975 hat Foucault gestanden: »Ich würde sagen, dass mir von der Irrenanstalt aus ein gewisses Problem deutlich geworden ist, das mich seitdem unaufhörlich umgetrieben hat, das Problem der Macht. […] Erkennen und Unterwerfen, Wis-

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

dings versteht ihn Foucault noch im traditionellen Sinne als Instanz bzw. Struktur der Repression und Unterdrückung. In den 1970er Jahren argumentiert er gegen ein Verständnis der Wirkungsweise von Macht, der zufolge sie in erster Linie in Verboten, Verweigerungen, Zensuren und Verneinungen besteht: »Macht« ist nicht zu verwechseln mit Zwang, Gewalt, Ausbeutung oder Unterdrückung. Sie schließt weder Konsens noch Gewalt aus, doch sind sie in diesem Fall nur Mittel oder Wirkungen, nicht aber Prinzip oder Wesen der Machtausübung. »Macht« ist nicht an Institutionen oder Personen gebunden, sondern durch Dispositive und Funktionsweisen geprägt. Sie ist im nominalistischen Sinne der Name, den Foucault einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt. Wenn er von »Machtbeziehungen« spricht, dann nicht, um sich auf eine Macht (mit einem großen M) zu berufen. Er entfaltet seine Machtanalyse mit der empirischen Frage nach dem »Wie« und nicht mit der ontologischen nach dem »Was« oder dem »Warum« der Macht. Dadurch verschiebt er die Fragestellung gegenüber der Annahme einer fundamentalen Macht auf Machtbeziehungen, die er sowohl von objektiven Fähigkeiten als auch von Kommunikationsbeziehungen unterscheidet. Foucault wehrt sich gegen die Behauptung, die Analyse der Machttechnologien auf eine »Metaphysik der Macht schlechthin« (Foucault 1978: 790) zu reduzieren. Es gibt für ihn auch keine Macht, die die gesamte Gesellschaft beherrscht. Den Geltungsbereich seines Beschreibungsvokabulars von Macht bezieht er lediglich auf die konkreten Objekte und Phänomene, an denen es sich herausbildet. »Macht« erschließt sich ihm auf diese Weise als »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren; das Spiel, das in unaufhörlichen Kämpfen und Auseinandersetzungen diese Kraftverhältnisse verwandelt, verstärkt, verkehrt; die Stützen, die diese Kraftverhältnisse aneinander finden, indem sie sich zu Systemen verketten – oder die Verschiebungen und Widersprüche, die sie gegeneinander isolieren; und schließlich die Strategien, in denen sie zur Wirkung gelangen und deren große Linien und institutionelle Kristallisierungen sich in den Staatsapparaten, in der Gesetzgebung und in den gesellschaftlichen Hegemonien verkörpern« (Foucault 1986a: 113f.). »Macht« besitzt folglich einen strikt relationalen Charakter in dem Sinn, als mit ihr Beziehungen in einem Feld politischer Technologien verbunden sind, die sich in der Gesellschaft verteilen. Sie ist gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv. Anders gesagt, sie basiert zwar auf einem Kalkül, auf Absichten und Zielsetzungen, aber ihre Wirkungen gehen nicht

sen und Befehlen sind innerlichst verbundene Dinge; das habe ich im Reinzustand in der Irrenanstalt entdeckt, in der das medizinische Wissen, das scheinbar ungetrübte beobachtende Erkennen des Psychiaters auf keine Weise von einer außerordentlich genauen, geschickt hierarchisierten Macht getrennt werden kann.« (Foucault 1975: 981)

219

220

Behinder t sein - behinder t werden

auf die Entscheidungen eines individuellen Subjekts zurück, sondern sind das nicht-intendierbare Resultat eines wandelbaren Kräfteverhältnisses. Im Rahmen seiner Machtanalyse fordert Foucault zur Überwindung eines Denkens auf, das von der Vorstellung geleitet ist, dass es Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind. Macht/Wissens-Beziehungen bilden einen Nexus, der sich nicht von einem entweder gegenüber ihnen freien oder unterworfenen Erkenntnissubjekt aus analysieren lässt. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, dass das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht/ Wissens-Komplexe und ihrer historischen Transformationen bilden. Nach 1978 spricht Foucault allerdings nicht mehr von Macht/Wissens-Komplexen, sondern von »Regierung« im Sinne von Techniken und Verfahrensweisen, die den Zweck haben, das Verhalten der Menschen zu steuern. Regierung der Kinder, Regierung der Seelen oder des Gewissens, Regierung eines Hauses, eines Staates oder seiner selbst. Er sucht folglich »Macht« nicht im Bereich der Gewalt oder des Kampfes und auch nicht im Bereich des Vertrags, sondern in den zahlreichen Formen und Orten des Regierens von Menschen durch andere Menschen. Die unterschiedlichen Formen und Orte des Regierens überlagern, kreuzen und begrenzen einander, zuweilen heben sie sich gegenseitig auf, und in anderen Fällen verstärken sie sich wechselseitig. Als produktives Netzwerk entfaltet Macht somit auch Widerstandspunkte, die mit größerer oder geringerer Dichte in Raum und Zeit verteilt sind. Diese Widerstandspunkte können verhindern, dass es zu einer Totalisierung der Macht kommt. Gleichwohl bleibt jeder Widerstand den Spielregeln des Machtfeldes unterworfen, in dem er sich bewegt. Widerstand ist kein Ausstieg aus der Macht; er agiert nicht »von irgendwelchen ganz anderen Prinzipien her« und kann daher nicht auf das »reine Gesetz des Revolutionärs« (ebd.: 117) rekurrieren. Widerstand funktioniert vielmehr als Versuch einer taktischen Umkehrung der lokalen Machtverhältnisse. Machtausübung hat folglich nichts mit Herrschaft gemein, sondern ist mit Spielräumen der Freiheit verbunden: »Der ›Andere‹ (auf den Macht ausgeübt wird) muss durchgängig und bis ans Ende als handelndes Subjekt anerkannt werden. Und vor den Machtbeziehungen muss sich ein ganzes Feld möglicher Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen öffnen« (Foucault 1982a: 285). Machtbeziehungen kann es für Foucault insofern nur in dem Maße geben, in dem die Subjekte frei sind.

Disziplin, Recht und Wahrheit Foucault experimentiert mit unterschiedlichen Machttypen, die sich nicht historisch voneinander ablösen lassen, sondern verschiedene gleichzeitige Funktionsweisen der Macht darstellen. In Überwachen und Strafen (1977) geht es

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

ihm zunächst darum, institutionelle Verfahren zur politischen Besetzung des Körpers zu untersuchen, mit denen der Körper durchdrungen, zergliedert und anschließend zu einem unterworfenen wie auch produktiven Körper gemacht wird. Im Mittelpunkt steht die Analyse der »Disziplinarmacht«, die sich im 17. und 18. Jahrhundert herausbildet und deren Verfahren sich auf die politische Besetzung des Körpers richten, den sie durchdringen und zergliedern, um am Ende eine gesteigerte Tauglichkeit und eine vertiefte Unterwerfung hervorzubringen. Am Beispiel des Gefängnisses, das stellvertretend für das psychiatrische Asyl, das Besserungshaus, das Erziehungsheim, das Spital, die Kaserne, die Fabrik usw. steht, zeigt Foucault, wie sich unterhalb der Mechanismen rechtlicher Normierung und gesetzlicher Kodifizierung disziplinäre Techniken Geltung verschaffen, die die rechtliche Sphäre kolonisieren und hierarchisierende Trennungen zwischen Normalen und Anormalen installieren. Die Disziplinartechniken sind wesentlich auf die einzelnen Individuen gerichtet und ermöglichen die räumliche Verteilung ihrer Körper. Ihre ideale Gestalt finden sie in Benthams Entwurf des Panopticons, einem verallgemeinerungsfähigen architektonischen Modell der visuellen Überwachung. Die »Disziplin«, so Foucault, kann jedoch »weder mit einer Institution noch mit einem Apparat identifiziert werden. Sie ist ein Typ von Macht; eine Modalität der Ausübung von Gewalt; ein Komplex von Instrumenten, Techniken, Prozeduren, Einsatzebenen, Zielscheiben; sie ist eine ›Physik‹ oder eine ›Anatomie‹ der Macht, eine Technologie« (Foucault 1977a: 276f.). In ihrer Funktion gewährleistet sie eine infinitesimale Verteilung der Machtbeziehungen bis in die entlegendsten Bereiche der Gesellschaft. Als praktisches Handeln kann sie sich nur legitimieren, indem sie zugleich an sozialwissenschaftliche Wahrheitsdiskurse – Medizin, Pädagogik, Sozialarbeit usw. – gekoppelt wird, die sie stabilisieren und ihr Dauerhaftigkeit verleihen. Eine rechtliche Ordnung, die auf chaotischen Verhältnissen beruht, ist für Foucault nicht denkbar. Vielmehr muss zugleich ein durch vielfältige Machtverhältnisse hergestellter Nährboden zum Funktionieren des Rechts geschaffen werden. Rechtsnormen, so Foucaults erster großer machttheoretischer Befund, beruhen auf einer durch Disziplinarpraktiken geprägten Gestaltung von Lebensverhältnissen, auf welche sie Anwendung finden. Er wehrt sich gegen eine juridische Auffassung des Politischen, die darin besteht, die Macht durch die rechtliche Legitimation von Souveränität und die Konstruktion von Vertragsbeziehungen zu begrenzen. Den politischen Theorien von Rousseau bis John Rawls wird vorgeworfen, dass sie von der Gestalt des Souveräns besessen geblieben seien und es versäumt haben, auch im Reich der Philosophie dem König den Kopf abzuschlagen: »Das Recht sollte meines Erachtens nicht von einer festzusetzenden Legitimität aus betrachtet werden, sondern von den Unterwerfungsprozessen, die es ins Werk setzt.« (Foucault 1999: 36). Während die souveräne Macht bis zum 18. Jahrhundert nur leben ließ, indem sie die Ein-

221

222

Behinder t sein - behinder t werden

haltung von Recht und Ordnung forderte und Übertretungen um der eigenen Machterhaltung willen ahndete, wird durch die Disziplinarmechanismen eine »Mikrophysik der Macht« wirksam, die es ermöglicht, den Gesellschaftskörper bis hin zum kleinsten Element, dem Individuum, zu kontrollieren. Foucaults frühe Analysen der Disziplinarmacht lassen noch nicht erkennen, dass es ihm letztlich um einen positiven und produktiven Begriff Repression vermeidender Macht geht. Er zeigt auf rigorose Weise, wie Macht bis in die körperlichen Gesten und kleinsten Verästelungen gesellschaftlicher Verhältnisse hineinreicht. Das führt zu der irreführenden Vorstellung, dass alle Felder der Gesellschaft von einem Gewebe repressiver Machtbeziehungen durchdrungen sind. Foucault lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass er methodisch das Prinzip der aufsteigenden Analyse verfolgt, die ihn von mikrophysikalischen Untersuchungen bis zu immer allgemeineren Mechanismen und globaleren Herrschaftsformen führt, in denen die Disziplinarmechanismen nur noch verstreute Elemente darstellen. In Überwachen und Strafen geht es ihm folglich nicht darum, die Macht umfassend zu analysieren. Sein Anliegen ist es vielmehr, zunächst die »zahllosen Konfrontationspunkte und Unruheherde« sichtbar zu machen, »in denen Konflikte, Kämpfe und zumindest vorübergehende Umkehrung der Machtverhältnisse drohen« (Foucault 1977a: 39).

Regulierung, Kontrolle und Bevölkerung In Der Wille zum Wissen (1986a) und in den Vorlesungszyklen In Verteidigung der Gesellschaft (1999) stellt Foucault nicht mehr produktive Disziplinarmechanismen einer repressiven Souveränitätsmacht gegenüber. Nunmehr bilden eine disziplinierend-individualisierende Unterwerfung der Körper auf der einen und eine administrativ-totalisierende Kontrolle der Bevölkerungen auf der anderen Seite die zwei Pole oder Entwicklungsstränge der Macht über das Leben. Foucault richtet nun den Akzent von der disziplinierenden Zurichtung des Körpers auf die umfassenderen politischen Prozesse einer »Biomacht«, die nicht auf Disziplin und Dressur beruht, sondern auf Regulierung und Kontrolle: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sieht er eine Machttechnologie entstehen, die die Disziplinartechnik nicht ausschließt, sondern sie umfasst, integriert, modifiziert und benutzt. Diese neue Technologie richtet sich nun an die Vielfalt der Menschen, insofern sie eine globale Masse bilden, die von dem Leben eigenen Gesamtprozessen geprägt sind wie Prozessen der Anzahl der Geburten, der Sterblichkeit, der Produktionsrate, der Häufigkeit von Krankheit usw. Das Aufkommen biopolitischer Mechanismen stellt für Foucault insofern eine historische Zäsur dar, als sie den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

umfassen. Mit dem Begriff »Biomacht« umschreibt er einen sich in der Moderne besonders ausformenden regulierenden Machttyp, der auf die Bevölkerung und die Steigerung ihrer Kräfte ausgerichtet ist. Sie befasst sich mit der Registrierung und der Steuerung der Bevölkerungsbewegungen in einer Gesellschaft, angefangen bei der statistischen Erfassung von Geburten und Todesfällen über die staatlichen Anstrengungen zur Steigerung der Geburtenrate bis zu den verschiedenen Formen der öffentlichen Hygiene und Gesundheitspflege. Das Leben des Einzelnen und das Leben der Bevölkerung bilden von nun an den Bezugspunkt vielfältiger Politiken zu seiner Sicherung, Verlängerung und Qualitätssteigerung. Sein Leben wird zum bevorzugten Objekt der Macht, die an seiner Optimierung arbeitet und daraus ihre Legitimation gewinnt: »Mir scheint, dass eines der grundlegenden Phänomene des 19. Jahrhunderts in dem bestand und noch besteht, was man die Vereinnahmung des Lebens durch die Macht nennen könnte: wenn Sie so wollen, eine Machtergreifung über den Menschen als Lebewesen, eine Art Verstaatlichung des Biologischen oder zumindest eine gewisse Tendenz hin zu dem, was man die Verstaatlichung des Biologischen nennen könnte.« (Foucault 1999: 276)

In der Kombination von disziplinierender Reglementierung der einzelnen Individuen und bevölkerungspolitischer Regulierung der Bevölkerung wird ebenso auf die Produktion »normaler« Individuen gezielt wie auch auf die Sicherheit der Gesellschaft vor inneren Gefahren.6 Foucaults Machtanalysen ergeben bisher, dass sich Disziplinen wie Pädagogik, Medizin und Sozialarbeit weniger einer hehren Wahrheitssuche über den Menschen verpflichtet fühlen, als vielmehr die moralische Funktion übernehmen, mittels des zwanglosen Zwangs objektivierender Diagnosetechniken und subjektivierender Therapieverfahren neue menschliche Identitäten um soziale Normen herum hervorzubringen. Sie wirken gleichsam wie Sollensethiken, indem sie die Menschen dazu bringen, sich als wahnsinnige, behinderte, kranke usw. Individuen zu erkennen. Dabei bedienen sie sich vornehmlich des »natürlichen« Körpers als Medium zur Beschreibung von Abweichungen. Das Individuum soll von Bildungslosigkeit, Verhaltensauffälligkeit, Krankheit und Behinderung befreit werden. Krankheiten und Devianzen werden zu ge6 | Foucaults Begriff der »Bio-Politik« weist auf eine Gegenbewegung innerhalb der von der Systemtheorie Luhmanns angenommenen funktionalen Differenzierung der Gesellschaft in Subsysteme hin. Im Kontext einer alle gesellschaftlichen Subsysteme mediatisierenden Macht wird der Mensch als behandlungs- und erziehungsbedürftiges Individuum entdeckt und medizinisch-pädagogischen Interventionstechniken unterworfen. Vgl. Rösner (2006: 132f.).

223

224

Behinder t sein - behinder t werden

fahrvollen Risiken, denen man mit einem demographischen Wissen um die Häufigkeit, Ausbreitung der Ansteckungen, Statistiken und Sterblichkeitsraten begegnet. Für eine Sozialarbeit, die von ihrem Selbstverständnis her auch für eine humanistische Befreiungspraxis steht, stellen diese Befunde eine Herausforderung dar. Mit dem Konzept der Bio-Macht scheint Foucault der Sozialarbeit einen Spiegel vorzuhalten, in den sie nicht hineinschauen kann, ohne befürchten zu müssen, darin ihr Gesicht zu verlieren: Sie befindet sich nicht mehr auf der Seite eines nicht entfremdeten Subjekts, das sich mit ihrer Hilfe von unterdrückenden Mächten befreit und dadurch ganz bei sich selbst ist. Jeder Befreiungsdiskurs scheint auf einer überholten »Repressionshypothese« (Foucault 1986a: 19) zu beruhen, nach der die Wirkungsweise der Macht sich darin erschöpft, nein zu sagen, außerstande etwas zu produzieren und nur dazu fähig, Grenzen zu ziehen. Foucault hält dazu an, Abschied zu nehmen von einem Pathos, indem man noch wie selbstverständlich davon ausgeht, durch professionelle Unterstützung eigenverantwortlichen Alltagsmanagements emanzipatorische Veränderungsprozesse auf individueller, organisatorischer und gesellschaftlicher Ebene zu bewirken. Der Mensch, von dem die Sozialarbeit spricht und zu dessen Befreiung sie einlädt, entpuppt sich als das Resultat einer Unterwerfung, an der sie in Theorie und Praxis maßgeblich mitwirkt. In den helfenden Berufen arbeiten »Ingenieure der Menschenführung« und »Orthopäden der Individualität« daran, »gelehrige und taugliche Körper« herstellen (Foucault 1977a: 380). Sie bringen mit der »Norm« eine neue Form des Gesetzes zur Geltung, an der sich die Individuen auszurichten haben. Diese »Normalitätsrichter« sind heute überall anzutreffen. Sie kolonialisieren die Lebenswelt, indem sie sich nicht nur auf den Menschen als Rechtssubjekt beziehen, sondern als Subjekt normalisierender Anerkennungsverhältnisse: »Wir leben in der Gesellschaft des Richter-Professors, des Richter-Arztes, des Richter-Pädagogen, des Richter-Sozialarbeiters; sie alle arbeiten für das Reich des Normativen; ihm unterwirft ein jeder an dem Platz, an dem er steht, den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen, die Fähigkeiten, die Leistungen.« (Ebd.: 392f.) Begriffe wie Inklusion, Partizipation und Empowerment verlieren auf dieser Grundlage ihre Harmlosigkeit und werden ambivalent bzw. paradox. Sie eröffnen keinen Ausstieg aus der Macht, indem sich mit ihrer Hilfe von irgendwelchen ganz anderen Prinzipien her agieren lässt. Die auffällig lange Zurückhaltung der Sozialarbeitswissenschaft gegenüber Foucault wird damit erklärt, dass sich aus Foucaults Untersuchungen der in Institutionen (Gefängnis, Kliniken, Erziehungsheimen usw.) und Humanund Sozialwissenschaften (Medizin, Pädagogik, Soziale Arbeit usw.) eingebundenen Wissen-/Machtpraktiken eher eine fundamentale Absage an die So-

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

ziale Arbeit ableiten lasse als eine konstruktive Begründung dieser Disziplin.7 Foucault leistete diesen Tendenzen lange selbst Vorschub, denn bis 1976 sind seine Arbeiten von der »Hypothese Nietzsches« geprägt, dass »die Grundlage des Machtverhältnisses die kriegerische Auseinandersetzung der Kräfte« sei (Foucault 1999: 27). Seine Verallgemeinerung des Modells des Krieges zeigt insoweit Schwächen, als damit das Politische allein von seiner konflikthaften Seite beleuchtet wird und der Konsens lediglich den Stellenwert eines vorübergehenden Waffenstillstands oder taktischen Spielzugs im Rahmen des fortwährenden Kampfes erhält.8 Indem er jedoch in seiner Vorlesungsreihe von 1975/1976 diese Auffassung problematisiert und auf ihre Diskursgeschichte hin befragt, lässt er deutlich werden, dass er sie nun selbst als eine zu erläuternde Idee und nicht mehr als operative Prämisse versteht. Er modifiziert nun seine Vorstellung von der Kriegsförmigkeit der Machtverhältnisse, indem er die Problematik der »Regierung« auf den weder kriegerischen noch juristischen Handlungsmodus verlagert, den das Regieren darstellt.

Sicherheit, Regierung und Freiheit Die disziplinäre Technologie des Körpers und die regulatorische Technologie des Lebens stellen zwei Seiten einer politischen Rationalität dar, mittels derer das Individuum und die Bevölkerung zu Angriffzielen einer Macht werden, in der der Begriff der Freiheit keinen Raum zu finden scheint. Das ändert sich jedoch mit Foucaults Einführung des Begriffs der Regierung. Foucault versteht, 7 | »Diese Nähe zur Alltagspraxis der Sozialen Arbeit und der damit verbundene, an konkreten Erfahrungen anknüpfende »Wiedererkennungswert« der Analysen Foucaults nötigt nicht nur zu einer radikalen (Selbst-)Kritik der Sozialen Arbeit (mit allen Folgen eines desillusionierenden Verlustes von Gewissheiten). Foucaults mikrophysikalische Machtanalytik reicht noch weiter. Indem er mit seinen Untersuchungen – z.B. zu den säkularisierten Formen der ›Beicht- und Bekenntnispraktik‹ in der Beratung, in der Therapie etc. – auf vertraute, erfahrbare und tagtäglich erfahrene Alltagsrealitäten und die in diese eingesponnene Machtpraktiken zielt, gehen die ›individuellen Entlastungseffekte‹ einer strukturellen Erklärung, wie sie z.B. kapitalismuskritische oder feministische Ansätze mit ihrer Kritik des Patriarchats formulieren, paradoxerweise bei der Auseinandersetzung mit Foucaults Mikrophysik der Macht verloren.« (Anhorn u.a. 2007: 11) 8 | Vgl. Nancy Fraser, die 1989 hierzu noch kritisch anmerkte: »Foucault ruft ganz eindeutig zum Widerstand gegen Beherrschung auf. Aber warum? Warum soll der Herrschaft Widerstand geleistet werden? Erst nach Einführung irgendeiner Art von normativen Begriffen könnte Foucault mit der Beantwortung solcher Fragen beginnen. Nur mit normativen Vorstellungen könnte er daran gehen, uns zu sagen, was an dem modernen Macht/Wissens-Regime falsch ist und warum wir ihm entgegentreten sollen.« (Fraser 1994: 48)

225

226

Behinder t sein - behinder t werden

wie gesagt, darunter nicht die staatliche Regierung als Institution, sondern die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten. In der Vorlesungsreihe zur Geschichte der Gouvernementalität von 1977-1979 (2004a, 2004b) und weiteren Vorträgen und Artikeln geht Foucault den historisch veränderbaren Rationalitäten des Regierens nach und bezieht das Konzept der Biopolitik auf die Regierungsform des liberalen Staates. Hinterließen die Begriffe der Disziplinarmacht und Biomacht noch den Eindruck, als stünde die Macht im Gegensatz zur Freiheit und als gebe es für das Subjekt kein Entkommen gegenüber einer infinitesimal auf den Körper einwirkenden Disziplin, durch die eine Seele geschaffen wird, die zum Gefängnis dieses Körpers wird, so heißt es nun: »Der Ausdruck ›Macht‹ bezeichnet eine Beziehung unter ›Partnern‹.« (Foucault 1982a: 282) Foucaults entscheidende theoretische Verschiebung besteht darin, dass die Regierungsmacht sich nur durch die Freiheit und auf die Freiheit eines jeden sich stützend vollziehen kann. Sein Freiheitsbegriff hat freilich nichts mit der Vorstellung von negativer Freiheit im liberalen Sinn zu tun. Er bezeichnet vielmehr ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, ein Verhältnis, bei dem das Maß des »zu wenig« an bestehender Freiheit durch das »noch mehr« an geforderter Freiheit bestimmt wird. Das Verhältnis von Regierenden und Regierten besteht für Foucault nun darin, dass Menschen das Verhalten anderer Menschen mehr oder weniger bestimmen können, jedoch nie erschöpfend oder zwingend. Der Regierte, auf den Macht ausgeübt wird, muss durchgängig und bis ans Ende als handelndes Subjekt anerkannt werden. Und vor den Machtbeziehungen muss sich ein ganzes Feld möglicher Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen eröffnen. Foucault spricht in diesem Zusammenhang auch von »Führung« (conduite), die mit einem Regieren als »Ensemble aus Handlungen« verbunden ist, das sich auf mögliches Handeln richtet, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte« (ebd.: 286).9 Mit der Wortschöpfung »Gouvernementalität« – abgeleitet von dem französischen Adjektiv gouvernemental: die Regierung betreffend –, bezeichnet Foucault jenen in der frühen Neuzeit entstandenen Typus politischer Machtausübung, der »als Zielscheibe die Bevölkerung, als Hauptwissensform die Politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat« (Foucault 2004a: 162). Darüber hinaus versteht Foucault »Gouvernementalität« auch im Sinne eines umfassenden Veränderungsprozesses: von den 9 | Foucault bindet seine bisherige Analyse der Bio-Macht nun in das Konzept einer Gouvernementalität des modernen Staates ein. Von »Biopolitik« spricht er nur noch im Sinne einer Interventionstechnik der medizinischen Institutionen, analog zu Absonderungstechniken der Psychiatrie und Disziplinartechniken des Strafsystems. Vgl. Foucault (2004a: 180).

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

antiken Führungskonzepten, über die Staatsräson und Polizeiwissenschaft bis hin zu klassisch-liberalen und neoliberalen Regierungsformen, die im Ergebnis zur Gouvernementalisierung des Staates geführt haben. Die disziplinarische Normalisierung mit ihrer Spaltung des Normalen und des Anormalen stellt jetzt nur noch eine mögliche Verfahrensweise der Macht dar. Foucault lehnt eine Theorie des Staates als einer transzendenten Wirklichkeit ab, deren Geschichte man allein mit Bezug auf sie selbst schreiben könnte. Er untersucht den Entwicklungsprozess zum modernen Staat, indem er auf einen Komplex historisch-spezifischer Regierungsprogramme und Techniken der Menschenführung verweist, die ihn möglich gemacht haben. Der moderne Staat ist das Produkt einer Rationalisierung der Regierungspraxis bei der Ausübung der politischen Souveränität und der damit verbundenen Interventionsformen, zu der auch die Sozialarbeit gerechnet werden kann. Er ist »Effekt eines Systems von mehreren Gouvernementalitäten« (Foucault 2004b: 115), dessen Besonderheit darin besteht, dass er durch eine liberale Regierungskunst geprägt ist. Diese stellt sich für ihn in doppelgesichtiger Weise als »Manager der Freiheit« dar: »Wenn dieser Liberalismus […] die Einrichtung und Organisation der Bedingungen ist, unter denen man frei sein kann, dann wird im selben Zug im Zentrum dieser liberalen Praxis ein problematisches, ständig wechselndes Verhältnis zwischen der Produktion der Freiheit und dem hergestellt, was, indem es sie herstellt, sie auch zu begrenzen und zu zerstören droht. […] Mit einer Hand muss die Freiheit hergestellt werden, aber dieselbe Handlung impliziert, dass man mit der anderen Einschränkungen, Kontrollen, Zwänge, auf Drohungen gestützte Verpflichtungen usw. einführt.« (Ebd.: 97f.)

Im Zentrum steht für Foucault nun die Untersuchung von »Sicherheitsdispositiven« (Foucault 2004a: 87)10, um die Risiken zu bewältigen, die aus den organisierten Freiheiten im Rahmen der Bevölkerungspolitik erwachsen. Innerhalb der Sicherheitsdispositive geht man von einem statistischen Begriff der Normalität aus: Normalität im Sinne von Fällen und Verteilungskurven von Ereignissen innerhalb einer Bevölkerung. Diese Fälle werden nicht diszipliniert, sondern in ihrer Natur und ihre Bewegungen verstanden, um den sich daraus ergebenden Risiken entgegenzusteuern. Insofern toleriert man eine Reihe unterschiedlicher, abweichender und sogar gegensätzlicher Verhaltensweisen, sofern diese Verhaltensweisen sich in einem gewissen Rahmen 10 | Die Sicherheitsdispositive gehen nicht wie die Disziplinartechnologien von einer vorgegebenen Norm aus, an denen die Individuen ausgerichtet werden, sondern orientieren sich an dem Gegebenen als Norm. Foucault unterscheidet zwischen der rechtlichen Norm, der disziplinären Normation und der Normalisierung im Rahmen von Sicherheitstechnologien (Foucault 1984a: 88ff.).

227

228

Behinder t sein - behinder t werden

bewegen, der als gefährlich erachtete Dinge, Menschen oder Verhaltensweisen ausschließt. Es ist dieser Bereich der Sicherheitsdispositive oder Regierungstechnologien und ihrer vielfältigen Weisen, Modalitäten und Möglichkeiten der Leitung von Menschen, der Steuerung ihrer Handlungen und Reaktionen, der im Rahmen künftiger Untersuchungen zur Entstehung und Funktionsweise der Sozialen Arbeit von größter Bedeutung ist.

Technologien der S icherheit Zu Beginn seiner Vorlesungsreihe Geschichte der Gouvernementalität stellt sich Foucault die Frage, ob die Gesamtökonomie der Macht in unseren Gesellschaften dabei ist, zur Sicherheitsordnung zu werden. Am Ende seiner genealogischen Untersuchung wird ihn die Analyse der liberalen Gouvernementalität jedoch von der anfänglichen Vermutung einer totalitären Kontrolle durch Sicherheitstechnologien wegführen: Die Sicherheitstechnologien des liberalen Staates stellen keinen Gegensatz zur Freiheit dar, sondern bilden eine normative Bedingung, um Freiheit zu organisieren. Der moderne »Wohlfahrtsstaat« hat nichts mit dem totalitären Staat zu tun, denn er beruht nicht auf einem staatlichen Entzug von Freiheit, sondern auf einer Rücknahme des Staates, damit Freiheiten im Rahmen von Sicherheitsdispositiven möglich sind: »Ein Staat, der Sicherheit schlechthin garantiert, muss immer dann eingreifen, wenn der normale Gang des alltäglichen Lebens durch ein außergewöhnliches, einzigartiges Ereignis unterbrochen wird. Dann reicht das Recht nicht mehr aus. Dann sind Eingriffe erforderlich, die trotz ihres außerordentlichen, außergesetzlichen Charakters dennoch nicht als Willkür oder Machtmissbrauch erscheinen dürfen, sondern als Ausdruck der Fürsorge.« (Foucault 1977b: 498f.)

Pastorat Foucault leitet den Begriff des Regierens und die damit verbundene Entwicklung von Sicherheitstechnologien historisch vom orientalisch-jüdischen und vom christlichen Typus pastoraler Macht her ab. Dabei bildet das christliche Pastorat den historischen Hintergrund neuzeitlicher Gouvernementalität. Er hebt den Kontrast zum politischen Denken der Griechen hervor, zeigt die Bedeutung auf, die die pastoralen Themen seit dem 3. Jahrhundert im christlichen Denken angenommen haben und verweist auf Verbindungen, die sich zwischen Pastorat und Staat seit dem 16. Jahrhundert entwickelt haben. Mit Pastoralmacht verbindet er eine christlich-religiöse Konzeption der Beziehung zwischen Hirte und Herde: Wie der Schäfer seine Herde führt, für sie sorgt und sie in diesem Sinne regiert, bedeutet Regierung die Führung und die Sor-

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

ge um eine Menge von Menschen. Die pastorale Macht erstreckt sich nicht nur auf ein Territorium. Sie ist eine sorgende und wohltätige Macht, die sich auf das Heil des Einzelnen wie auch der gesamten Herde richtet. Im Christentum wird das Pastorat zum konstitutiven Moment einer kirchlichen Organisation, die durch eine »Kunst des Führens [conduire], Lenkens [mener], Anleitens [guider], des In-die-Hand-Nehmens, des Menschen-Manipulierens, zu einer Kunst des Ihnen-Schritt-für-Schritt-Folgens und des Sie-Schritt-für-Schritt-Antreibens, einer Kunst, die diese Funktion hat, sich der Menschen ihr ganzes Leben lang und bei jedem Schritt ihrer Existenz kollektiv und individuell anzunehmen« (Foucault 2004a: 241): Dabei dienen die zu erbringenden Gehorsamsleistungen keinem anderen Zweck als dem, »gehorsam sein zu können, um zu einem Zustand des Gehorsams zu gelangen« (ebd.: 258). Im 16. und 17. Jahrhundert erfahren diese im christlichen Kontext entwickelten Führungstechniken eine Ausweitung und Säkularisierung. Innerhalb der katholischen Kirche gibt es von Beginn an antipastorale Revolten, »die eine andere Art der Verhaltensführung zum Zielobjekt haben, das heißt Andersgeführt-werden-wollen, durch andere Leiter [conducteur] und durch andere Hirten, zu anderen Zielen und zu anderen Heilsformen, mittels anderer Prozeduren und anderer Methoden« (ebd.: 282). Mit den reformatorischen Bewegungen und den Religionskriegen kommt es schließlich zu einer Krise des bisherigen Pastorats und der Entwicklung der Künste des Regierens, also der Spezifizierung eines neuen politischen Interventionsfeldes im Rahmen der Staatsmacht: Die Pastoralmacht verallgemeinert sich über den kirchlich-religiösen Entstehungskontext hinaus und wandert in die beschriebenen Disziplinartechniken11 wie auch in Sicherheitstechnologien ein, die nicht mehr von einer Norm ausgehen, an der die Individuen ausgerichtet werden, sondern von einer »Normalität«. Foucault setzt das 18. Jahrhundert als das Ende des pastoralen Zeitalters an. Gleichwohl geht er davon aus, dass diese Macht in ihrer Typologie, ihrer Organisation, in ihrer Funktionsweise immer noch etwas ist, von dem wir uns nicht frei gemacht haben.

11 | In Der Wille zum Wissen (1986a) hat Foucault das Individuum, das sich als Subjekt eines Begehrens erkennt, als Gefangenen altehrwürdiger pastoraler Techniken der Selbsthermeneutik beschrieben. Wo es glaubt, die Wahrheit seiner selbst zu entdecken, befolgt es nur Befragungstechniken, die einst das Christentum erfand und deren Erbe die Disziplinartechniken des 17. und 18. Jahrhunderts angetreten haben. Sein Verhältnis zur Wahrheit bleibt somit an die moralischen Imperative herrschaftlichen Expertenwissens gebunden, das sich auf die Regierung der Seelen, nicht mehr im Hinblick auf ein Heil im Jenseits, sondern auf ein Funktionieren im Diesseits konzentriert.

229

230

Behinder t sein - behinder t werden

Staatsräson Da Deutschland und Italien mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, um sich als Staaten zu konstituieren, entstanden in diesen beiden Ländern die meisten Abhandlungen zur »Staatsräson« und zur »Polizei«. Der Ausdruck »Staatsräson« erinnert heutzutage eher an Willkür und Gewalt. Die damaligen Autoren verstanden darunter eine Kunst, die bestimmten Regeln gehorcht und sich auf ein rationales Wissen stützt. Mit der Lehre von der Staatsräson kommt es zur Gouvernementalisierung des Staates: Es ist nicht mehr Aufgabe des Fürsten, die natürlichen und göttlichen Rechte zu verwirklichen (Thomas von Aquin) bzw. die eigene Macht zu stärken (Niccolò Machiavelli). Die Kunst des Regierens ist dann rational, wenn sie die Natur des Staates ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt: »Regieren nach dem Prinzip der Staatsräson bedeutet, dass man es so einrichtet, dass der Staat dauerhaft und stabil gemacht wird, dass er reich gemacht werden kann, dass er stark gemacht werden kann angesichts all dessen, was ihn zerstören könnte.« (Foucault 2004b: 17)

Der gute Regent muss sich dazu mit der »Statistik« ein umfassendes Wissen über die Ressourcen und Kräfte eines Staates aneignen, und er benötigt mit den »Politikern« entsprechender Experten, die ihn dabei unterstützen. Die Regierung im 16. Jahrhundert macht es sich zum Ziel, die Stärke des Staates nicht nur zu bewahren, sondern beständig zu erhöhen. Sie kümmert sich nur in dem Maße um die Menschen, wie diese dem Ziel der Stärkung des Staates dienen. Der Einzelne ist in der Sicht des Staates also nur insofern von Belang, als das, was er tut, eine positive oder negative Veränderung in der Stärke des Staates bewirkt: »Nicht die Menschen müssen glücklich sein, nicht den Menschen muss es gut gehen, äußerstenfalls sind es nicht einmal die Menschen, die reich sein müssen, es ist der Staat selbst. Genau dies ist einer der grundlegendsten Züge der merkantilistischen Politik damals. Das Problem ist der Reichtum des Staates und nicht derjenige der Bevölkerung.« (Foucault 2004a: 401)

Es gibt eine nach den Kriterien einer Grenznutzentheorie deklarierte Unterordnung des Individuums unter den Nutzen des Staates und die Aufgabe, diese Idee umzusetzen fällt nunmehr einer speziellen Technik zu, die man damals mit dem Ausdruck »Polizei« versah.

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

Polizei Mit dem »diplomatisch-militärischen Dispositiv« und dem »Dispositiv der Polizei« unterscheidet Foucault zwei Technologien der Sicherheit im Rahmen der Staatsräson: Der diplomatisch-militärische Apparat besteht aus Verfahrensweisen – Einrichtung einer ständigen Armee und Diplomatie –, die für das Gleichgewicht Europas von Interesse sind; die Polizei stellt vom 17. Jahrhundert an die Gesamtheit der Technologien dar, welche die Schaffung einer flexiblen, aber dennoch stabilen und kontrollierbaren Beziehung zwischen der inneren Ordnung des Staates und dem Wachstum seiner Kräfte ermöglicht. Die ehemalige Feudalgewalt gründete in Beziehungen zwischen Rechtssubjekten, insofern sie durch Geburt, Stand oder persönliches Zutun in rechtliche Verhältnisse zueinander traten. Die Polizei hat es nun mit Individuen zu tun, und zwar nicht nur, soweit deren rechtlicher Status betroffen ist, sondern mit Individuen als lebendigen, arbeitenden, wirtschaftlichen Wesen. Das Thema »Bevölkerung«, das in der Staatsräson anfänglich nur insoweit eine Rolle spielte, als mit ihr die Stärkung des Staates ermöglicht werden sollte, nimmt nun insbesondere in der deutschen Polizeiwissenschaft des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle ein: »Es ist gewissermaßen ›ganz natürlich‹, dass sie sich den Problemen der Population zuwendet, die möglichst groß und möglichst aktiv sein soll – für die Stärke des Staates: Gesundheit, Geburtenziffer, Hygiene finden hier problemlos einen wichtigen Platz.« (Foucault 2004b: 437)

Was Deutschland betrifft, so beschäftigt sich Foucault u.a. mit Johann Peter Franks sechsbändigem Werk System einer vollständigen Medicinischen Polizey, das zwischen 1779 und 1790 erschien. Er spricht hier von einem obskuren Werk, das für ihn dennoch von großer Bedeutung ist, weil es das erste große Programm eines öffentlichen Gesundheitswesens für den modernen Staat darstellt. Frank erläutert detailreich, was eine Regierung tun muss, um für die Bevölkerung ausreichende Ernährung, ordentliche Wohnverhältnisse, verlässliche ärztliche Versorgung und solide medizinische Einrichtungen zu gewährleisten. Sein Buch lässt erkennen, dass die Sorge für das Leben des Einzelnen um diese Zeit zu einer Aufgabe des Staates wird. Als bedeutendsten Theoretiker der Polizei betrachtet Foucault jedoch Johann Heinrich Gottlob von Justi, der in seinem Buch Grundsätze der Polizeywissenschaft (1756) eine wichtige Unterscheidung trifft zwischen dem, was er die »Polizey« und dem, was er »Staatskunst« nennt. »Staatskunst bezeichnet für ihn die negative Aufgabe des Staates. Sie umfasst den Kampf des Staates gegen innere und äußere Feinde, die Anwendung der Gesetze gegen

231

232

Behinder t sein - behinder t werden innere, den Einsatz der Armee gegen äußere Gegner. Die Polizei dagegen hat eine positive Aufgabe. Ihre Instrumente sind weder Waffen und Gesetze noch Abwehr und Verbot.« (Foucault 1982b 1012f.)

Von Justi ist für Foucault deshalb von größtem Interesse, weil er mit der »Bevölkerung« einen Begriff hervorhebt, der im 18. Jahrhundert wachsende Bedeutung erhält. So bestimmt von Justi »Bevölkerung« als eine Gruppe lebender Individuen, die eine bestimmte Art der räumlichen Verteilung aufweisen und durch Sterblichkeits- bzw. Fruchtbarkeitsraten wie auch Epidemien und Erscheinungen der Überbevölkerung gekennzeichnet sind: »Bevölkerung und Umwelt [stehen] in einer ständigen lebendigen Wechselwirkung, und der Staat hat diese Wechselwirkung zu lenken. Man kann also sagen, das wahre Objekt der Polizei wird am Ende des 18. Jahrhunderts die Bevölkerung. Sie übt Herrschaft über Lebewesen als Lebewesen aus, und ihre Politik ist deshalb Biopolitik.« (Ebd.: 1013f.)

Von Justi beschäftigt sich mit dem Territorium –Städte und Ländereien – unter dem Gesichtspunkt, auf welche Weise es bevölkert ist, dann mit seinen Bewohnern – Anzahl, demographisches Wachstum, Gesundheit, Sterblichkeit, Einwanderung. Weiterhin analysiert er die Waren, die Manufakturprodukte sowie ihren Umlauf. Der letzte Teil ist schließlich dem Verhalten der Individuen gewidmet: ihrer Moral, ihren beruflichen Fähigkeiten, ihrer Ehrlichkeit und ihrer Achtung vor dem Gesetz. Ist es übertrieben zu sagen, dass Foucault mit seiner Bezugnahme auf Justi nicht nur die Bedeutung der Polizeiwissenschaft beschreibt, sondern auch die Geburtsstunde einer über den Staat organisierten Sozialen Arbeit? Foucaults Untersuchungen zur Polizei legen jedenfalls die Vermutung nahe, dass die damalige Bedeutung des Begriffs »Polizei« eine technologische Ungeschiedenheit enthält und es noch nicht zur Arbeitsteilung zwischen repressiven und kontrollierenden Aufgaben und karitativen Hilfemaßnahmen gekommen ist.12 Mit der Polizei entwickelt sich eine politische Technologie, durch die der Zugriff des Staates auf das Dasein des Einzelnen immer nachdrücklicher wird. Die Probleme des Lebens gewinnen für die Politik an Bedeutung, so dass »sich neue Arbeitsfelder für die Sozial- und Humanwissenschaften herausbilden, 12 | Seit dem 19. Jahrhundert verwendet man den Begriff »zur Bezeichnung einer ganz bestimmten Institution, die […] nicht immer in einem sonderlich guten Ruf gestanden hat. Doch vom Ende des sechzehnten bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts besaßen die Worte ›police‹ und ›Polizei‹ eine weite und zugleich sehr präzise Bedeutung. Wenn Menschen damals von ›Polizei‹ sprachen, dann meinten sie die spezifischen Techniken, durch die eine Regierung im Rahmen des Staates in die Lage versetzt wurde, Menschen zu regieren.« (Foucault 1982b: 1007)

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

insofern sie sich mit den Themen individuellen Verhaltens innerhalb der Bevölkerung sowie mit den Beziehungen zwischen einer Bevölkerung und ihrer Umwelt befassen« (ebd.: 1014).

Liberalismus Foucault nimmt nun einen modernen Staat in den Blick, der sich nach der Überwindung des Polizeistaates – trotz der bekannten staatsrassistischen Rückschläge – bis heute ausformt und einer permanenten Kritik im Rahmen liberaler Gouvernementalität ausgesetzt wird. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts sieht er eine Regierungskunst am Werk, die zum Ziel hat, von innen her die Ausübung der Regierungsmacht zu begrenzen. Die aufkommende Kritik des alle Bereiche der Gesellschaft durchringenden »Polizeistaates« erfolgt nicht im Namen des Rechtsstaates, sondern von Seiten der Ökonomie, die ein völlig neues Konzept von Freiheit entwickelt, das der künstlichen Politik der Staatsräson und der Polizei die Natürlichkeit der Gesellschaft und des Marktes gegenüberstellt: »Es handelt sich um die Natürlichkeit jener Mechanismen, die bewirken, dass, wenn die Preise steigen, wenn man sie steigen lässt, sie von alleine anhalten werden.« (Foucault 2004a: 501) Der liberale Staat schafft auf diese Weise neue »Sicherheitsmechanismen«, damit sich die Freiheit des Marktes und der Individuen ausformen kann: »Man kann jetzt nur noch unter der Bedingung gut regieren, dass die Freiheit oder bestimmte Formen der Freiheit wirklich geachtet werden.« (Ebd.: 506) Die »Kunst, so wenig wie möglich zu regieren« führt zu einer inneren Ausdifferenzierung der Staatsräson, insofern sich mit dem Erscheinen der politischen Ökonomie eine »Vernunft des minimalen Staats im Inneren« etabliert. In der politischen Ökonomie wird der Markt zu einem Ort mit Mechanismen zur Bildung eigener Wahrheiten, insofern der Tausch es ermöglicht, die Produktion, den Bedarf, das Angebot, die Nachfrage, den Wert, den Preis usw. miteinander zu verknüpfen. Anstatt ihn fortwährend mit einer grenzenlos reglementierenden Gouvernementalität zu sättigen, wird gefordert, ihm mit sowenig Interventionen wie möglich zu begegnen. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts und dem Utilitarismus tritt man in ein Zeitalter ein, in dem das Interessenssubjekt ins Zentrum rückt. Eine gute Regierung ist nur in dem Maße rechtlich und vernunftgemäß legitimiert zu intervenieren, wenn das Interesse des Einzelnen wie der Allgemeinheit auf dem Spiel steht: »Persönliches Unglück, alles, was jemand in seinem Leben zustoßen kann, ob es sich nun um Krankheit oder um das handelt, was auf jeden Fall eintritt, nämlich das Alter, darf weder eine Gefahr für die Individuen noch für die Gesellschaft darstellen. Kurz, allen diesen Forderungen – dafür zu sorgen, dass die Mechanik der Interessen keine Gefahren für die Individuen und für die Gesamtheit erzeugt – müssen Sicherheitsstra-

233

234

Behinder t sein - behinder t werden tegien entsprechen, die gewissermaßen die Kehrseite und die Bedingung des Liberalismus sind.« (Foucault 2004b: 100)

Für Foucault ist der Liberalismus eine politisch-philosophische Theorie, in der die Beziehung zwischen Regierung und Regierten nunmehr nach dem Modell des Anleitens zur Selbststeuerung modelliert wird. Dies geschieht, indem er die Freiheit der politischen Subjekte aktiv organisiert. Foucault spricht in diesem Zusammenhang von einer »Vielgestaltigkeit und Rekursivität« des Liberalismus, der mit einer Kritik an früheren Gouvernementalitäten verbunden ist. Er spricht sogar von einer »Form der kritischen Reflexion über die Regierungspraxis«. Spätestens an dieser Stelle muss es schwer fallen, zu übersehen, dass er sich damit selbst in diese Tradition kritischer Praxis stellt. Die Paradoxie des Liberalismus besteht für Foucault allerdings darin, dass mit ihm Freiheiten erzeugende Dispositive einhergehen, die immer das Risiko in sich bergen, diese Freiheiten durch Regulierung wieder zu zerstören: »Es gibt keinen Liberalismus ohne die Kultur der Gefahr.« (Ebd.: 102) Foucault widmet den Hauptteil seiner Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik den deutschen und US-amerikanischen Schulen des Neoliberalismus, die seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Gegenentwürfen auf die Krise des Liberalismus reagierten. Nach den Vorstellungen des deutschen OrdoLiberalismus und des amerikanische Neoliberalismus der Chicagoer Schule kann es nicht darum gehen, die Sphäre des Marktes von staatlichen Einflüssen freizuhalten; vielmehr muss die Regierung die Marktwirtschaft ständig begleiten. Der Staat des Neoliberalismus ist ein aktivierender Staat. Während die deutschen Ordoliberlalen einer Ausweitung marktwirtschaftlicher Mechanismen auf den Bereich des Sozialen mit Skepsis begegnen, radikalisieren die Ökonomen der Chicago School die Wettbewerbslogik, indem sie sie zu einer allgemeinen Beschreibung menschlichen Handelns entwickeln. Hauptmerkmal ihrer »Theorie des Humankapitals« (ebd.: 305) ist die Ausweitung ökonomischer Erklärungen auf soziale Lebensbereiche. Sie modelliert den Menschen als Homo oeconomicus, insofern er nicht mehr als Tauschpartner beschrieben wird, sondern als »Unternehmer seiner selbst« (ebd.: 314), der für sich selbst sein eigenes Kapital ist, sein eigener Produzent, seine eigene Einkommensquelle. In der Verwertungslogik des amerikanischen Neoliberalismus ist Lohn nicht mehr das, was die Arbeitnehmer zu ihrer Reproduktion benötigen, sondern ein »Einkommensstrom« für den »Kapitaleinsatz« und die »Kompetenz« (ebd.: 312f.) des Einzelnen.

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

S elbstsorge als F reiheitspr a xis In einer späten Selbstdeutung seiner theoretischen Arbeit kommt Foucault zu dem Schluss, dass nicht die Macht sein eigentliches Thema war. Immer schon sei er der Frage nachgegangen, wie es dazu kommt, »dass das menschliche Subjekt sich selbst als ein Objekt möglichen Wissens hergibt, durch welche Formen von Rationalität, durch welche historischen Bedingungen und letzten Endes zu welchem Preis?« (Foucault 1983: 536)13 Er geht davon aus, dass man mit einer »Ästhetik der Existenz« auf das heutige Verschwinden der Idee einer Moral als Gehorsam gegenüber einem Kodex von Regeln reagieren muss. Allerdings kehrt er dazu der Gegenwart des 20. Jahrhunderts für mehrere Jahre den Rücken. Im zweiten und dritten Band seiner Geschichte der Sexualität wie auch in den Vorlesungen der 80er Jahre14 richtet er seine Aufmerksamkeit auf die griechisch-römische Antike sowie das frühe Christentum. Das Feld der Macht wird nicht mehr von den Techniken der Menschenführung aus betrachtet, sondern im Rahmen von Selbstpraktiken. Foucault stellt die Frage, wie man Herrschaft über sich selbst erlangen soll durch Aktivitäten, in denen man selbst zugleich Ziel, Handlungsfeld, Mittel und handelndes Subjekt ist. Das Problem der »Gouvernementalität« erscheint hinfort unter dem neuen Blickwinkel der Herrschaft über sich selbst im Zusammenhang mit den Beziehungen zu den anderen, wie sie in der Pädagogik, den Ratgebern zur Lebens13 | So betrachtet hatten die archäologischen Arbeiten der 60er Jahre das Entstehen des Subjekts im »Diskurs der Humanwissenschaften« zum Thema; die historischen Analysen der 70er Jahre galten den machtvollen »Verfahren, durch welche das Subjekt dazu gebracht wird, sich selbst zu beobachten, sich zu analysieren, sich zu entschlüsseln und als Bereich eines möglichen Wissens anzuerkennen.« Diese Weisen historisch-kritischer Selbstreflexion, so Foucault, gilt es nun in Form einer »Geschichte der ›Subjektivität‹« weiterzuentwickeln, »wenn man unter diesem Wort die Art und Weise versteht, wie das Subjekt die Erfahrung seiner selbst in einem Wahrheitsspiel macht, in dem es sich auf sich selbst bezieht.« (Foucault 1984d: 779) 14 | Vgl. Foucault (1986b, 1986c). In seinen Vorlesungen Die Regierung der Lebenden des Jahres 1979/1980 geht es Foucault um die Entwicklung der Geständnispraktiken. Foucault zeigt, wie sich in einigen klösterlichen Gemeinschaften der ersten nachchristlichen Jahrhunderte eine Verpflichtung durchsetzte, Wahres über sich zu sagen. In Über Subjektivität und Wahrheit von 1980/81 sind die antiken Selbsttechniken, die sich auf die aphrodisia beziehen, das Thema. Bisher vollständig veröffentlicht und ins Deutsche übersetzt sind die Vorlesungen Hermeneutik des Subjekts von 1981/82 (2004c), in denen es um die Sorge um sich, losgelöst vom Thema der Sexualität geht, Die Regierung des Selbst und der Anderen von 1982/83 (2009) und Der Mut zur Wahrheit von 1983/84 (2010), in denen die parrhesia, das freimütige, öffentliche und das eigene Leben aufs Spiel setzende Sprechen im Zentrum steht.

235

236

Behinder t sein - behinder t werden

führung, der spirituellen Anleitung oder den Anweisungen für ein geglücktes Leben zu finden sind. Foucault konzentriert sich also darauf, die Konstitution des Subjekts als Objekt für sich selbst zu untersuchen, d.h. die Ausbildung der Verfahren, durch welche das Subjekt dazu gebracht wird, sich selbst zu beobachten, sich zu analysieren, sich zu entschlüsseln und als Bereich eines möglichen Wissens anzuerkennen. Auch wenn er damit den Aspekt der Freiheit noch stärker akzentuiert, kehrt er nicht zu einer Subjektphilosophie zurück. Auf die Frage, ob er nun wieder das souveräne Subjekt entdecke, gibt Foucault in aller Klarheit zur Antwort: »Ich bin sehr skeptisch und sehr feindselig gegenüber dieser Konzeption des Subjekts. Ich denke im Gegenteil, dass das Subjekt durch Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert wird, wie in der Antike, selbstverständlich ausgehend von einer gewissen Anzahl von Regeln, Stilen, Konventionen, die man im kulturellen Milieu findet.« (Foucault 1984f: 906)

Während sich das moderne Subjekt im ersten Band von Sexualität und Wahrheit als »Geständnistier« (Foucault 1986a: 77) den Wahrheitsspielen der Humanwissenschaften unterwirft, ist die »Selbstbeherrschung« (enkráteia) des antiken Bürgers eine Form der Herrschaft als aktiver Freiheit. Die mit ihr verbundene Kontrolle von Leidenschaften und Begierden dient nicht als Selbstzweck wie im christlichen Pastorat und den Disziplinartechniken, sondern dem Gewinn von Freiheit gegenüber der eigenen Person und der Ausübung von Herrschaft in der Polis. Auf dieser Grundlage vermag sich das antike Subjekt nicht nur zum Objekt seiner Arbeit an sich selbst zu machen, sondern auch die Fähigkeit zu freimütigen und wahrhaftigen Rede (parrhesia) zu entwickeln: »Man soll die Wahrheit über sich selbst sagen« ist das moralische Prinzip in der gesamten griechischen und römischen Kultur (Foucault 2010: 16). Es beruht darauf, das Subjekt zu transformieren, ohne dass es sich selbst zum Gegenstand einer wahren Rede macht. Die Parrhesia bringt keine im Subjekt verborgene Wahrheit zutage, sondern steht im Dienste eines geglückten Lebens wie auch einer gerechten Politik. Mit seinem Vorschlag einer »Ästhetik der Existenz« bietet Foucault den »Regierenden und Regierten« innerhalb der Sozialarbeit eine ethische Alternative an. Die Adressaten Helfender Berufe brauchen sich ihre Identität nicht länger durch vorschreibende Praktiken geben lassen, die von Institutionen der Pädagogik, Psychologie oder Medizin usw. eingesetzt werden. Sie können sie durch relativ autonome Selbstpraktiken innerhalb ihres Existenzbereichs gewinnen. Der ethische Ratschlag »Kümmere dich um dich selbst!« ist im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe zu verstehen. Er dient als Basis eines sich selbst erprobenden Verhaltens, mit denen Menschen selbst die Regeln ihrer Lebens-

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

form festlegen können, indem sie sich in ihrem besonderen Sein von dem freimachen, was sie im Namen anderer zu sein haben. Foucaults Konzeption einer »Ästhetik der Existenz« ist die eines agonalen, pluralen und seine Identität bastelnden Selbst, das immer nach Erweiterung und Veränderung in seinem Werden sucht. Es entspräche gerade nicht der Intention dieser Ethik der Selbstgestaltung, Wege zur eigenen Identitätsfindung vorzuschreiben. Foucaults Aufforderung zur Selbststilisierung bedeutet, sich radikal von einer Ethik als Suche nach universellen Verhaltensstandards abzuwenden. Sie meint eine Freiheitspraxis, in der sich jedes Individuum von dem Platz aus, auf den es gesellschaftlich festgelegt wurde, seine Möglichkeiten der autonomen Selbst-Erfahrung eröffnet. Darunter versteht er »gewusste und gewollte Praktiken […], mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selbst zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht« (Foucault 1986b: 18). Gleichwohl sind Fremd- und Eigensteuerung auch im antiken Subjekt der Selbstbekümmerung unauflösbar ineinander verwoben. Der Vorgang der Subjektivierung verläuft für Foucault stets als paradoxes Geschehen ab. Das Wort »Subjekt« hat für ihn stets zwei Bedeutungen: »Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.« (Foucault 1982a: 275) Wenn nun aber jede »Subjektivation« den Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozess der Subjektwerdung bezeichnet, anhand welcher Kriterien lässt sich dann eine geglückte Subjektivation von einer zu überwindenden Unterwerfung (assujettisement) unterscheiden? Foucault ist der Ansicht, dass die relative Autonomie, die die Individuen der griechischen Antike in ihren Selbstpraktiken bezüglich adressierender Wahrheitsspiele einnahmen, mit der Entwicklung des Pastorats und der Disziplinartechniken zwar verloren ging. Gleichzeitig stellt er aber auch fest, dass sie mit der liberalen Gouvernementalität wieder zurückkehrt. Seine Forschungsarbeit enthält hier freilich insofern eine Lücke, als er sein Augenmerk nach seiner Rückkehr zur griechisch-römischen Antike nicht mehr auf die Selbstpraktiken der politischen Neuzeit vom 16. Jahrhundert an richtet. Um unterscheiden zu können, ob sich das Subjekt aufgrund vorgegebener Zwangspraktiken konstituiert, oder durch autonomere Formen der Selbstbekümmerung, hinterlässt uns Foucault jedoch ein Analyseraster, das bisher kaum zur Kenntnis genommen wird. Innerhalb der Selbstpraktiken unterscheidet Foucault gemäß den von Aristoteles benannten vier Verursachungen: 1. den Teil seiner selbst, auf den sich das Subjekt als ethische Substanz seines moralischen Verhaltens bezieht (Ontologie); 2. die Art und Weise, in der es sein Verhältnis zu einer vorgegebenen

237

238

Behinder t sein - behinder t werden

Regel bestimmt (Deontologie); 3. die Form der ethischen Arbeit an sich selbst (Asketik); 4. die Zielsetzung, die mit der Handlungsweise verfolgt wird (Teleologie). Auf der Grundlage dieses Analyseschema verfolgt er die Veränderungen des Verhältnisses von Subjekt und Wahrheit und stellt fundamentale Unterschiede zwischen der antiken Lebenskunst (techne tou biou) und den Selbsttechniken im christlichen Mittelalter fest. Die heutigen Wandlungsprozesse im Verhältnis von Subjekt und Wahrheit anhand dieses Analyseschemas freizulegen, bleibt eine noch ausstehende Aufgabe. Zur Ontologie: Während in der der Antike die »aphrodísia«, d.h. Akte, Gesten, Berührungen, die eine bestimmte Form von Lust verschaffen, den zentralen Gegenstand einer moralischen Sorge bildeten, sind es in der Spätantike bereits die Übel des Körpers und der Seele, welche die Aufmerksamkeit beanspruchen. Im Mittelalter wird das Geschäft der Seel-Sorge vom Christentum übernommen, indem es dem Individuum einschärft, dem Begehren als einer sich dem Willen Gottes entziehenden Macht, in selbstreinigender Weise nachzuspüren. Seit dieser Zeit ist dem Subjekt die Möglichkeit einer selbst gewählten Technik der Selbstbekümmerung aus der Hand genommen und in der Neuzeit zur Aufgabe Bevölkerung regulierender und Körper disziplinierender Mächte geworden. Zur Deontologie: Die Problematisierungen der Lüste laufen in der Antike nicht darauf hinaus, die Begehrensakte auf einer Skala von erlaubten und verbotenen innerhalb eines einheitlichen Codes aufzureihen. Man will Maß, Zeitpunkt und Form eines ›Gebrauchs‹ ausarbeiten: den Stil dessen, was die Griechen den Gebrauch der Lüste (chresis aphrodision) nannten. In der Spätantike bezieht sich die Kunst der Selbstbekümmerung mehr und mehr auf allgemeine Grundsätze einer Natur oder der Vernunft, in die sich alle gleichermaßen fügen müssen. Sie wird zu einer verändernden Erprobung seiner selbst zum Zwecke einer Kommunikation, in der sich die Handelnden in den unterschiedlichen Rollen von Lebensberatern und Ratsuchenden begegnen. Im Christentum löst sich das Selbstverständnis schließlich vollkommen aus lebenspraktischen Bezügen heraus und folgt dem Gebot der Unterwerfung unter die Gebote eines Hirten-Gottes, der sein Herden-Volk behütet und für jedes seiner Schafe sorgt. Die kommunikative Praxis wechselseitiger Lebensberatung zerfällt. Zur Asketik: Die »asketischen Übungen« als Form von Handlungen, die das Individuum unternimmt, um sich zu erkennen und sein Verhalten zu modifizieren, bestehen in der Antike aus einer aktiven Form der Selbstbeherrschung, mit der es seine willenlose Unenthaltsamkeit kontrolliert (epimeleia heautou). Allmählich löst sich die Übung jedoch von dem ursprünglichen Zweck eines schönen und guten Lebens (techne tou biou) ab. Die Frage nach dem richtigen Erkennen seiner selbst wird zum zentralen Bestandteil einer Selbstsorge. Die »Wahrheit dessen, was man ist, dessen, was man tut, und des-

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

sen was man zu tun vermag rückt ins Zentrum der Konstitution des Moralsubjekts. Der Christ betreibt nicht mehr Selbstprüfung und Gewissenslenkung als eigener Inspekteur, sondern hat seine Seele dem Hirten überantwortet. Es genügt nicht mehr, sich den Regeln moralischer Lebensführung zu unterwerfen, sondern sich als »Libidowesen« (Augustinus) zu prüfen, dessen Wille über den von Gott gebotenen Willen hinausschießt. Zur Teleologie: Die asketische Übung ist in der Antike eine als Machtspiel wahrgenommene Freiheit zu verstehen, mit der sich der freie, männliche Bürger in einen Zustand der Mäßigung (sophrosyne) bringt, um sich selbst zu Regierungskünsten zu befähigen. Der Gemäßigte ist zugleich Wissender, der sich mit der Ordnung des Logos in einem isomorphen Verhältnis weiß. In der Spätantike wird die Selbstsorge zum Selbstzweck. War es vormals der Bezug zur Welt, der den Maßstab für das Selbstverständnis abgab, so rückt nun die unendliche Aufgabe der Selbstbemeisterung ins Zentrum. Im Christentum verändert sich das Telos, indem das Heil nicht mehr in einem diesseitigen Leben, sondern in einer jenseitigen Unsterblichkeit und den entsprechenden Praktiken der Selbstreinigung und Weltentsagung gesucht wird. Die Wahrheit des Selbst liegt gewissermaßen dort, wo sich das Selbst durch Reinigung einer Nichtexistenz auf Erden angenähert hat. Wenn Foucault nun auf die Gegenwart bezogen dazu auffordert, aus seinem Leben ein »Kunstwerk« (Foucault 1984d: 758) zu machen, um seinem Leben die beste und schönste Gestalt zu geben, so geschieht das mit der Hoffnung, dass Widerstandsformen möglich sind, die den Status des Individuums in Frage stellen und das Recht auf Anderseins einklagen. Diese Kämpfe werden gegen die »Lenkung durch Individualisierung« ausgetragen. Sie sind von dem Willen getragen, »nicht dermaßen, nicht von denen da, nicht um diesen Preis regiert zu werden« (Foucault 1992: 52).

P robleme mit der F ürsorge Bei Foucault stehen die antiken »Existenzkünste« in Differenz zum »Unternehmer seiner selbst«, wie er ihn im Rahmen des neoliberalen Humankapitalkonzepts der Chicagoer Schule vorfindet. Sein früher Tod hat es verhindert, deutlich zu machen, worin genau die Unterschiede zwischen diesen beiden Selbsttechniken bestehen. Das hat zur Folge, dass Foucaults Suche nach einer Ethik des Selbst zum einen mit einer die Machtverhältnisse ausblendenden Philosophie der Lebenskunst beantwortet wird, zum anderen im Rahmen sozialwissenschaftlicher Untersuchungen des unternehmerischen Selbst (vgl. Krasmann u.a. 2007) in Vergessenheit gerät: Wo Wilhelm Schmid (1991) von Existenzkünsten als Freiheitspraktiken spricht, sieht Ulrich Bröckling (2007) das unternehmerische Selbst in alle Poren der Gesellschaft eindringen. Mit

239

240

Behinder t sein - behinder t werden

dem unternehmerischen Selbst sind für ihn nicht nur praktische Anforderungen verbunden, durch die festgelegt wird, wie Menschen zu agieren haben, um am Marktgeschehen teilzunehmen. Foucaults »Unternehmer seiner selbst« firmiert als ein alle gesellschaftlichen Bereiche umspannendes Dispositiv aus »institutionellen Arrangements« bzw. »Sozial- und Selbsttechnologien« (ebd.: 7)15, mit denen die Menschen ihre Existenzweise verstehen und ihr Verhalten regulieren sollen. Die Berechtigung von Bröcklings Kritik am Arbeitskraftunternehmer lässt sich nicht in Abrede stellen.16 Allerdings schüttet er das Kind mit dem Bade aus, wenn er die Konditionierung zum unternehmerischen Selbst auch mit dem Empowerment-Konzept einhergehen sieht, welches in der Sozialen Arbeit eine große Rolle spielt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem »Subjektivierungsregime«, das durch »Subjektivierungsregisseure« gemanagt wird: »Diese ›Experten der Subjektivität‹ und ihre präventiven, kurativen oder korrektiven, in jedem Fall aber normalisierenden Interventionen« treten »im appellativen Gestus einer Autorität auf«, die weiß, was gut ist für die, zu denen sie sprechen (ebd.: 41f.). Leuten wie Paolo Freire oder Saul Alinsky wird die perfide sozialarbeiterische Strategie unterstellt, ihren Adressaten zuallererst ein Gefühl der Ohnmacht zugeschrieben zu haben, um sie im Anschluss daran zu Adressaten von ermächtigenden Maßnahmen erklären zu können. Nach Bröckling lautet die goldene Regel des Empowerment: »Handle stets so, dass du dir selbst das Gesetz deines Handelns gibst, statt es dir von anderen vorgeben zu lassen oder in Passivität zu verharren.« (Ebd.: 196) »Wir müssen uns nicht nur verteidigen, sondern auch bejahen und nicht nur als Identität, sondern auch als schöpferische Kraft bejahen« (Foucault 1984g: 911). Dieser Satz stammt von Foucault und nicht von einem Empowerment-Trainer im Rahmen neoliberaler Gouvernementalität. Kurz vor seinem Tode war er überzeugt davon, dass auf diese Weise neue »Lebensformen, Beziehungen und Freundschaften in Gesellschaft, Kunst und Kultur« (ebd.) geschaffen werden können. Sein Ratschlag lässt sich ganz im Sinn von »Empowerment« verstehen. Er unterstellt nicht Machtlosigkeit, sondern sieht die 15 | Als Beleg zieht Bröckling heterogenes Material heran – nationalökonomische, psychologische und sozialarbeiterische Theorien, Managementprogramme, Lehrbücher, Erfolgsratgeber usw., also Texte, die nach seinem Dafürhalten mit dem Anspruch geschrieben wurden, Anweisungen nach der Maxime »Handle unternehmerisch!« zu erteilen. 16 | Vgl. Pongratz u.a. (2003), die einen Wandlungsprozess vom Arbeitnehmer zum Arbeitskraftunternehmer beschreiben. Der Arbeitskraftunternehmer wird nicht durch disziplinierende Zwangsmittel zur Teilnahme am kapitalistischen Verwertungsprozess bewegt, sondern gewinnt den motivationalen Antrieb aus dem Selbstverständnis, kompetenter Unternehmer seiner selbst zu sein.

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien Möglichkeit zur »Selbst-Ermächtigung«, Selbst-Bemächtigung« oder »Selbst-Befähigung«. Die Menschen ermächtigen sich im Sinne Foucaults, die Differenz zwischen sich und dem, was sie sein sollen, zu erkennen. Sie wehren sich gegen eine »Machtform«, die »dem unmittelbaren Alltagsleben« gilt, »das die Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben« (Foucault 1982a: 275).

Vor einigen Jahren habe ich mit Bezug auf Foucault die Meinung vertreten, dass mit »Empowerment« das spannungsreiche Verhältnis von »Selbstsorge« und »Sorge für den Anderen« auf neue Weise ausgelotet werden kann (vgl. Rösner 2002: 373ff.). Damals habe ich zu begründen versucht, warum Empowerment nicht heißt, für Menschen zu denken, zu planen und zu handeln, sondern mit ihnen Prozesse anzuregen und auf konsultativer und kooperativer Basis zu unterstützen. Gleichwohl habe ich auf eine Schwäche in Foucaults Machtanalyse und seinem theoretischem Konzept der Selbstsorge hingewiesen: Wenn Foucault glaubt, dass wir unser Selbst in relativer Autonomie zu gegebenen Individualisierungspraktiken erschaffen und damit politische Veränderungen hervorrufen können, so beruft er sich allem Anschein nach auf ein Subjekt, das aus eigener Kraft dazu in der Lage ist, sich von der Art von Individualität zu befreien, die man ihm auferlegt. Mit seinem ethischen Vorschlag einer »Ästhetik der Existenz« denkt er nicht an Menschen, denen es nicht möglich ist, unabhängig von Fürsorge zu leben. Foucaults ethischer Vorschlag einer Ästhetik der Existenz trägt nicht der Tatsache Rechnung, dass manche Menschen (z.B. mit Komplexer Behinderung auf die lebenslange Unterstützung durch Angehörige oder professioneller Vertreter angewiesen sind (vgl. Fornefeld 2008). Er hat uns zwar neue Instrumente der Machtanalyse an die Hand gegeben, mit denen wir die Kosten unserer Ich-Konstitution offen zu legen vermögen. Diese hinterlassen aber mit Recht den Eindruck, dass »Fürsorge« immer nur da entsteht, wo man zuallererst Machtlosigkeit unterstellt, um sich anschließend in helfenden Berufen anzudienen. Mit Foucaults ethischem Begriff der Selbstsorge, so meine abschließende These, können wir das fürsorgeabhängige Subjekt ausschließlich – mit Martin Heidegger gesprochen – im Modus des Verfallens an die Uneigentlichkeit eines »Man« bzw. – mit Bröckling gesprochen – im Modus der Unterwerfung unter eine »neoliberale Gouvernementalität« bestimmen. Foucault, so meine Überzeugung, hat es nicht mehr zu leisten vermocht, seine Machtanalyse in den intersubjektiven Rahmen einer Anerkennungstheorie überführen, die dem Begriff der Verantwortung für den Anderen einen Stellenwert einzuräumen vermag.

241

242

Behinder t sein - behinder t werden

Foucault bringt seinen Begriff der »Selbstsorge« mit Heideggers Vorstellung zusammen, dass der existenziale Sinn des Daseins in der »Sorge«17 besteht (Heidegger 1986: 41). Gleichsam mit einem »heideggerschen Instrumentarium« (Sarasin 2005: 193) untersucht er, wie die Selbsttechniken Formen von Subjektivität hervorbringen: Mit »Dasein« ist für Heidegger bekanntlich ein In-der-Welt-sein gemeint, das ebenso das »Sein bei Zuhandenem« wie das »Mitsein mit Anderen« umfasst. Insofern unterscheidet er zwischen »Besorgen« als Begegnung mit bloßem Zeug und »Fürsorge« als Begegnung mit Anderen. Das Miteinandersein fasst Heidegger durch die Unterscheidung zweier Begriffe der Fürsorge: die »einspringend-beherrschende« als entsorgendes Abhängigkeitsverhältnis und die »vorspringend-befreiende« als Hilfe zur Selbstsorge. Für den Anderen einspringen heißt für ihn, »im Besorgen sich an seine Stelle setzen« und ihn damit seiner Andersheit berauben. Mit Vorspringen ist gemeint, dem Anderen dazu verhelfen, »in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden« (Heidegger 1986 122). In Heideggers Begriff der Fürsorge kommt der Andere also lediglich im Horizont der zentralen Bestimmung der Selbstsorge in den Blick. An Heidegger hat bereits Lévinas kritisiert, dass er nicht ausweisen kann, wie sich die »Seinsart des Miteinanderseins« zum Anderen verhält, durch den das In-derWelt-sein als Mit-Anderen-sein ermöglicht wird. Die praktische Verbindung in der Fürsorge ergibt sich bei Heidegger zwar aus dem In-der-Welt-Sein. Doch die Frage des Wie bleibt bei ihm wie auch bei Foucault weithin unaufgeklärt. Lévinas spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer »neutrale[n] Intersubjektivität« (Lévinas 1987: 91)18 bei Heidegger, in der die ethisch-soziale Dimension der Begegnung mit dem Anderen unausgewiesen bleibt. Für Heidegger, so Lévinas weiter, hat die moderne Gesellschaft die »bodenlose Organisation des Normalmenschen« im Sinne, der sich »gegen alles Schöpferische und Freie« (ebd.: 29) wendet. Im Zeichen von Nietzsches Artistenmoral steht er für das Subjekt der Selbstsorge ein und vergisst dabei das von Fürsorge und Verantwortung abhängige Individuum.19 Weder Heidegger noch Foucault, so 17 | Vgl. dazu auch Foucault (2004c: 240). Hier macht Foucault deutlich, dass er die antiken Selbsttechniken »auf Heideggers Seite und von Heidegger aus« reflektiert hat. 18 | »Die ethische Beziehung, das Miteinandersein, ist bei Heidegger nur ein Moment unserer Präsenz in der Welt. Sie hat keine zentrale Bedeutung. Mit, das heißt immer sein neben […], das ist nicht in erster Linie das Antlitz, das ist zusammensein, vielleicht zusammenmarschieren.« (Lévinas 1995: 148) 19 | »Die entlastende Fürsorge wird nur als stillschweigende Herrschaft thematisiert […]. Zwar kann nicht bestritten werden, dass jede ›selbstlose‹ Fürsorge die Gefahr der Entmündigung des Versorgten in sich birgt, aber kann nicht mit gleichem Recht darauf verwiesen werden, dass es auch einspringende Hilfe als eine positive Weise der Fürsorge gibt?« (Meyer-Drawe 1987: 106)

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

mein Befund (vgl. Rösner 2002: 392ff.), haben dem Anderen in ihren Untersuchungen einen expliziten Platz eingeräumt. Foucault macht zwar deutlich, dass der Andere für die Selbstpraxis unabdingbar ist: Jeder bedarf des Anderen als »Vermittler in der Beziehung des Individuums zu dessen Konstituierung als Subjekt« (Foucault 2004c: 170). Seine Ethik der Selbstvervollkommnung bezieht sich aber primär auf den Handelnden und nicht auf den Adressaten in asymmetrischen helfenden Beziehungen. Die amerikanische Philosophin Judith Butler zeigt in ihrer jüngsten Auseinandersetzung mit Foucault, inwieweit sich aus dessen Machtanalyse eine Ethik entwickeln lässt, die nicht allein auf den Möglichkeiten der Selbstsorge gründet, sondern sehr wohl im Dienst einer Konzeption von Verantwortung für den Anderen stehen kann.20 Nach Butler macht Foucault zwar deutlich, dass uns jedes Wahrheitsregime um den Preis konstituiert, nur in begrenzter Weise Auskunft über uns ablegen zu können. Allerdings berücksichtigt er nicht, dass die Infragestellung des Wahrheitsregimes, das unsere eigene Wahrheit begründet, eben durch das Begehren motiviert ist, einen Anderen anzuerkennen oder von ihm anerkannt zu werden. Foucault stellt zwar die Frage: »›Wer kann ich sein angesichts des Wahrheitsregimes, das die Ontologie für mich festlegt?‹ Er stellt hingegen nicht die Frage: ›Wer bist du?‹, und er verfolgt auch nicht den Weg, auf dem sich von jeder der beiden Fragen aus eine kritische Perspektive auf Normen gewinnen ließe« (Butler 2007: 37). Es geht also nicht nur um die Frage Foucaults: »Wer will ich sein?«, sondern auch darum, zu fragen: »Wie soll ich den Anderen behandeln?« Butler fordert dazu auf, sich mit der spezifischen Anredesituation zu befassen, die diese Normen für eine lebendige Aneignung der Moral relevant werden lassen. Mit Lévinas öffnet sie sich gegenüber dem Gedanken, dass es ein ursprüngliches Ausgesetztsein vor dem Anderen gibt, dem wir uns nicht verschließen können und das uns zur Verantwortung nötigt. Den »Anruf der Anerkennung« definiert sie einerseits als performativen Akt innerhalb eines Geflechtes von »diskursiven Gesten der Macht«, auf der anderen Seite macht sie sich auf die Suche nach einem erweiterungsfähigen Vokabular der Anerkennung jenseits identifizierender Zuschreibungen, durch das sich die partizipatorische Basis des demokratischen Lebens verbreitern soll. 20 | An anderer Stelle beschäftige ich mich ausführlicher mit Butlers Verantwortungsethik. (Rösner 2011) Butler geht mit Foucault davon aus, dass die Handlungsfähigkeit des Subjekts nur mit Einwirkung einer produktiven Macht möglich wird. Allerdings vermisst sie bei ihm, dass er in seinem Spätwerk die beiden Perspektiven einer Konstitution des Subjekts durch Macht und einer Konstruktion des Subjekts im Verhältnis zu sich selbst zusammengeführt: »In seiner Theorie bleibt nicht nur die gesamte Sphäre der Psyche weitgehend unbeachtet, Foucault geht auch dem Doppelaspekt der Macht als Unterwerfung und Erzeugung nicht nach.« (Butler 2001: 8)

243

244

Behinder t sein - behinder t werden

Die Begegnung in der helfenden Beziehung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen: Sie kann sich im imperialen Gestus von Aneignung vollziehen, sie kann sich aber auch in dem Bewusstsein gestalten, dass die Art und Weise, wie ich den Anderen wahrnehme, von mir äußerlichen sozialen Normen abhängt. Man stellt dann fest, dass der einzige Weg zur Selbsterkenntnis und Erkenntnis des Anderen über eine Vermittlung führt, die sich außerhalb des eigenen Selbst kraft einer durch soziale Normen vorgegebenen Konvention vollzieht. Butler macht deutlich, dass sich Soziale Arbeit in einem Wahrheitsregime bewegt, das kulturellen Vorgaben von Werten und Normen folgt. Sie formuliert eine Ethik postsouveräner Sozialer Arbeit, in der sich die handelnden Personen im Klaren darüber sind, dass sie keine vollständige Rechenschaft über ihr in Machtverhältnisse verstricktes Tun ablegen können. Ihre Ethik ist mit Tugenden in Helfenden Berufen verbunden, die darin bestehen, eine tiefere Einsicht in diese Machtverhältnisse zu besitzen und damit eine Wahrnehmung der Bedingungen für die Gefährdung eines Lebens zu entwickeln. »Fürsorge« erscheint dann nicht als Regieanweisung souveräner und selbsttransparenter Subjektivität, sondern als eine responsive »Erfahrung des Anderen unter Bedingungen des aufgeschobenen Urteils« (ebd.: 63). Die Sozialarbeiterin erfährt sich dann nicht mehr nur als ein »helfendes Ich«, das gegenüber einem »hilfebedürftigen Du« spricht und handelt, sondern geht davon aus, dass das »Du« immer auch einen Teil von dem ausmacht, wer ihr »Ich« ist. Um die Beziehung zum Anderen zum Austragungsort der eigenen ethischen Verantwortlichkeit zu machen, ist es somit erforderlich, dass wir uns der ethischen Frage stellen: »Wie können wir einer Verschiedenheit begegnen, die die Raster unserer Intelligibilität in Frage stellt, ohne den Versuch zu machen, diese Herausforderung auszuschließen, die von der Verschiedenheit ausgeht? Was könnte es bedeuten, mit der Beunruhigung durch diese Herausforderung leben zu lernen – zu spüren, wie sich die Sicherheit der eigenen epistemologischen und ontologischen Verankerung verflüchtigt und gleichwohl im Namen des Menschlichen den Willen aufzubringen, dem Menschlichen zuzubilligen, etwas anderes zu werden als das, für was man es traditionellerweise hält?« (ebd.: 62f.).

L iter atur Anhorn, Roland/Bettinger, Frank/Stehr, Johannes (Hg.) (2007): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Wiesbaden. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M.

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

Butler, Judith (2007): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt a.M. Fornefeld, Barbara (Hg.) (2008): Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben in der Behindertenpädagogik. München. Foucault, Michel (1973a): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1973b): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München. Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1975): »Eine Durchleuchtung von Michel Foucault« in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band II (1970-1975), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2002), Nr. 161. Frankfurt a.M., S. 970-997. Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1977d): Michel Foucault: »Die Sicherheit und der Staat«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band III (1976-1979), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange (2003), Nr. 213. Frankfurt a.M., S. 495-502. Foucault, Michel (1978b): »Erläuterungen zur Macht. Antwort auf einige Kritiker«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band III (1976-1979), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2003), Nr. 238. Frankfurt a.M., S. 784-795. Foucault, Michel (1981a): »Gespräch mit Ducio Trombadori«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 281. Frankfurt a.M., S. 51-119. Foucault, Michel (1981b): »Ist es also wichtig, zu denken?«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 296. Frankfurt a.M., S. 219-223. Foucault, Michel (1982a): »Subjekt und Macht«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 306. Frankfurt a.M., S. 269-294. Foucault, Michel (1982b): »Die politische Technologie der Individuen«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 364. Frankfurt a.M., S. 999-1015. Foucault, Michel (1983): »Strukturalismus und Poststrukturalismus«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 330. Frankfurt a.M., S. 521-555.

245

246

Behinder t sein - behinder t werden

Foucault, Michel (1984a): »Was ist Aufklärung?«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 339. Frankfurt a.M., S. 687-707. Foucault, Michel (1984b): »Politik und Ethik: ein Interview«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 341. Frankfurt a.M., S. 715-724. Foucault, Michel (1984c): »Polemik, Politik und Problematisierungen«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 342. Frankfurt a.M., S. 724-734. Foucault, Michel (1984d): »Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 344. Frankfurt a.M., S. 747-776. Foucault, Michel (1984e): »Foucault«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 356. Frankfurt a.M., S. 776-782. Foucault, Michel (1984f): »Eine Ästhetik der Existenz«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 357. Frankfurt a.M., S.  902909. Foucault, Michel (1984g): »Sex, Macht und die Politik der Identität«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988), hg. von D. Defert und F. Ewald unter Mitarbeit von J. Lagrange (2005), Nr. 358. Frankfurt a.M., S. 909-924. Foucault, Michel (1986a): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1986b): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1986c): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin. Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975-1976. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2003): Die Anormalen. Vorlesung am Collège de France 1974-1975. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2004a): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hg. von M. Sennelart. Frankfurt a.M.

10. Freiheiten im Feld sozialer Sicherheitstechnologien

Foucault, Michel (2004b): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Vorlesung am Collège de France 1978-1979, hg. von M. Sennelart. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2004c): Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France 1981-82. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2009): Die Regierung des Selbst und der anderen, Vorlesung am Collège de France 1982-83. Frankfurt a.M. Foucault, Michel (2010): Der Mut zur Wahrheit, Vorlesung am Collège de France 1983-84. Frankfurt a.M. Fraser, Nancy (1994): Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt a.M. Gadamer, Hans-Georg (1986): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen. Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M. Heidegger, Michel (1986): Sein und Zeit. Tübingen. Krasmann, Susanne/Volkmer, Michael (Hg.) (2007): »Michel Foucaults ›Geschichte der Gouvernementalität‹«, in den Sozialwissenschaften. Bielefeld. Lemke, Thomas (2005) »Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht«, in: M. Foucault: Analytik der Macht. Frankfurt a.M., S. 319-347. Lévinas, E. (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg. Lévinas, Emmanuel (1995): Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen. München/Wien. Lukes, Stefen (1983): »Macht und Herrschaft bei Weber, Marx, Foucault«, in: Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg, hg. v. J. Matthes. Frankfurt a.M./New York, S. 106119. Meyer-Drawe, Käthe (1987): Leiblichkeit und Sozialität. München. Moebius, Stephan (2008): »Macht und Hegemonie: Grundrisse einer poststrukturalistischen Analytik der Macht«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M., S. 159-174. Pongratz, Hans J./Voß, Günter G. (2003): Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierung in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Behindertsein und Macht. Frankfurt a.M./New York. Rösner, Hans-Uwe (2006): »Inklusion allein ist zu wenig! Plädoyer für eine Ethik der Anerkennung«, in: M. Dederich/H. Greving/Ch. Mürner/P.

247

248

Behinder t sein - behinder t werden

Rödler (Hg.): Inklusion statt Integration? Heilpädagogik als Kulturtechnik. Gießen, S. 126-141. Rösner, Hans-Uwe (2011): »Aufs Spiel gesetzte Anerkennung. Judith Butlers Bedeutung für eine kulturwissenschaftlich orientierte Heilpädagogik«, in: Nicole Balzer/Norbert Ricken (Hg.): J. Butler: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden. Erscheinungsdatum: März 2011. Sarasin, Philipp (2005): Michel Foucault zur Einführung. Hamburg. Schmid, Wilhelm (1991): Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. Frankfurt a.M.

11. Auf’s Spiel gesetzte Anerkennung

Judith Butlers Bedeutung für eine kulturwissenschaftlich



orientierte Heilpädagogik

Im moralphilosophischen und politischen Denken ist der von Fichte und Hegel ausgehende Begriff der Anerkennung inzwischen zu einer normativen Richtschnur geworden, um die Lücke in jenen Gerechtigkeitstheorien zu schließen, die das Individuum nur als Rechtsperson ins Auge fassen und dementsprechend nur rechtsförmige Geltungsansprüche berücksichtigen können. Mit seiner Hilfe ist es möglich, Fragen nach gesellschaftlichen Strukturen, Gerechtigkeitsverhältnissen und dem Selbst nicht mehr getrennt zu behandeln. Gesellschaften werden danach bewertet, ob sie demokratische Regeln der Achtung fördern oder Techniken der Normalisierung, die es einer Majorität erlaubt, Einzelnen oder Minderheiten, die einen anderen Weg gehen, ihren Mehrheitswillen aufzuzwingen.1 Die Anerkennungstheorien von Axel Honneth und Judith Butler zeichnen sich gegenüber liberalen Gerechtigkeitstheorien vor allem dadurch aus, dass sie nicht von außen normative Prinzipien festlegen, sondern mit den Mitteln der Gesellschaftsanalyse gegebene soziale und politische Institutionen und Praktiken auf ihre normativen Leistungen für die Anerkennung befragen und kritisieren. Während Anerkennung für Honneth bereits unversehrte Identität garantiert und Schutz vor deren Verletzung ermöglicht, werden für Butler die Bedingungen für Identität und soziale Anerkennung durch die Macht sozialer Normen erzeugt: Die Verhältnisse, unter denen wir für uns soziale Anerkennung erlangen und soziale Existenz gewinnen, »sind gesellschaftlich artikuliert und veränderbar« (Butler 2009a: 10).2 Butler geht es »nicht nur um das Prob1 | Vgl. u.a. Andreas Bedorf (2010), Jessica Benjamin (2002), Judith Butler (2003a, 2007), Stanley Cavell (2002), Alexander G. Düttmann (1997), Axel Honneth (2003a, 2003b), Paul Ricoeur (2006), Charles Taylor (1993). 2 | Im Vergleich zu Butler geht Honneth (2003a) von normativen Prinzipien – rechtliche Gleichstellung, Liebe, soziale Wertschätzung – aus, die er als Ausdruck weitergehender moralischer Forderungen in Hinblick auf die gerechte Gestaltung von Lebensverhältnis-

250

Behinder t sein - behinder t werden

lem, einen größeren Kreis von Menschen in den Geltungsbereich bestehender Normen aufzunehmen, sondern vielmehr darum zu klären, wie bestehende Normen Anerkennung ab- und ausgrenzend zuweisen« (Butler 2010: 14). Ein Programm, das die gesellschaftliche Situation behinderter Menschen zu verändern sucht, bleibt für sie solange fragwürdig, wie es der Frage ausweicht, ob die Kategorie des Behindertseins nicht schon auf eine Art gesellschaftlich konstruiert ist.3 Wir erhalten von ihr Mittel an die Hand, um über die affirmative Bezugnahme auf die vielfältigen kulturellen Erscheinungsformen von Diversität hinaus Formen der »Anerkennbarkeit«4 zu befragen, die mit Normen, Praktiken und Institutionen verwoben sind, durch die sich Wert und Unwert bzw. Normalität und Anormalität von Lebensformen entscheiden. Mit Butler lässt sich die Kategorie »behindert« aus dem Rahmen substantieller Identitätsmodelle herausnehmen und zeigen, dass sie keine vorgängige ontologische Realität bezeichnet, die sich durch die Grammatik der Sprache abbilden lässt. In der deutschen Heilpädagogik haben Butlers Arbeiten bisher noch keine große Resonanz gefunden.5 Möglicherweise sieht man mit ihrer Vorstellung von performativ erzeugter Subjektivität die Gefahr der Überbetonung des Konstruktionsaspekts von Behinderung einhergehen und befürchtet, dass damit die Möglichkeit erschwert wird, sich mit behinderten Menschen zu solidasen begreift. Er entfaltet seine Kritik auf den normativen Grundlagen eines Geltungsüberhangs dieser Anerkennungsprinzipien gegenüber der Faktizität ihrer sozialen Auslegung (Honneth 2003b: 220f.). 3 | »Hier ist ein kritisches Denken gefragt, das den Rahmen des Kampfes um Identität nicht einfach hinnimmt, einen Rahmen, der immer schon existierende Subjekte voraussetzt, die einen ganz bestimmten öffentlichen Raum besetzen und deren Differenzen grundsätzlich beigelegt werden können, wenn wir nur die rechten Mittel finden, um sie zusammenzubringen.« (Butler 2010: 151) Vgl. zur doppelten Bedeutung von Anerkennung bei Butler auch Katrin Meyer (2001) und Nicole Balzer (2007). 4 | »Bezeichnet ›Anerkennung‹ einen Akt oder eine Praxis oder gar ein Aufeinandertreffen von Subjekten, so steht der Begriff der ›Anerkennbarkeit‹ für die allgemeineren Bedingungen, die ein Subjekt auf die Anerkennung vorbereiten oder ihm die dazu nötige Form vermitteln. […] Diese Kategorien, Konventionen und Normen, die ein Subjekt zum möglichen Subjekt der Anerkennung machen und überhaupt erst Anerkennungsfähigkeit herstellen, liegen dem Akt der Anerkennung selbst voraus und ermöglichen ihn zuallererst. In diesem Sinne geht die Anerkennbarkeit der Anerkennung vorher.« (Butler 2010: 13) 5 | So wird im 2. Band Behinderung und Anerkennung (2009) des neuen Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik lediglich Axel Honneths Anerkennungsbegriff vorgestellt u.a. um zu behaupten, dass nur derjenige der moralischen Gemeinschaft angehört, der nach dem Prinzip des fairen Tausches Rechte und Pflichten übernehmen kann (Horster 2009: 152ff.).

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

risieren und für eine Veränderung ihrer Lebenssituation einzutreten. Butlers Konzept der Anerkennbarkeit scheint auch nicht so recht in den Rahmen einer Inklusionspädagogik zu passen, in der die Verschiedenheit von Menschen als Norm dient, um die Bedingungen für ihre Teilhabe zu organisieren.6 Selbst in den kulturwissenschaftlich orientierten Disability Studies (vgl. Weisser u.a.: 2004, Dederich 2007, Waldschmidt u.a.: 2007) findet sie hierzulande noch selten Erwähnung, was möglicherweise auf eine grundsätzliche Skepsis gegenüber allen Ansprüchen zurückzuführen ist, eine machttheoretische und eine ethische Perspektive zu verbinden.7 Im Folgenden geht es mir darum, die Relevanz von Butlers Arbeiten für eine Heilpädagogik herauszuarbeiten, die sich kulturkritischen Fragen gegenüber aufgeschlossen zeigt.8 Dazu werde ich einige ihrer zentralen Grundbegriffe schrittweise rekonstruieren: Zunächst führe ich ihr Verständnis von Kritik ein, das sich wesentlich von denjenigen unterscheidet, die damit das Verfahren einer kritischen Prüfung normativer Prinzipien verbinden (I.). Anschließend veranschauliche ich ihre Einwände gegenüber einem rechtsbasierten Anerkennungsbegriff am Beispiel der UN-Behindertenrechtskonvention (II). Daraufhin skizziere ich ihre Überlegungen zur performativen Materialisierung des verletzbaren Körpers, die sie mit Foucault als Verschränkung von Psyche und Macht, Körper und Diskurs entwickelt (III.). Schließlich stelle ich Butlers Konzept postsouveräner Subjektivität vor (IV.), um ausgehend davon zu zeigen, wie sie einen Übergang von der Anerkennbarkeit des Subjekts zu einer damit verbundenen ethischen Verantwortung vollzieht (V.). Im letzten Teil setze ich mich aus heilpädagogischer Perspektive mit der Tragfähigkeit ihres Begriffs der Verantwortung im Hinblick auf Bildung von Menschen mit »Komplexer Behinderung« (Fornefeld 2008) auseinander (VI.). 6 | Im Blick auf die internationale Diskussion um »inclusive education« findet »Inklusion« hierzulande zunehmend Eingang im Kontext einer Weiterentwicklung der Integrationspädagogik (Greving, Heinrich 2004, Schnell, Irmtraud u.a. 2004, Geiling, Ute u.a. 2005, Hinz, Andreas u.a. 2008). Vgl. dazu meine Kritik (Rösner 2006). 7 | Vgl. Mechthild Hetzel (2007), die sich ausführlich mit Butlers Kritik der ethischen Gewalt (2003a) beschäftigt. Indem Butlers moraltheoretischen Entwurf jedoch mit Adornos Diktum: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« interpretiert wird, kommt Hetzel zu dem etwas voreiligen Schluss: »Eine als Projekt oder Programm verstandene Ethik, die Probleme (etwa die Frage nach dem richtigen ›Umgang mit Behinderten‹) zu lösen beansprucht, lässt sich ausgehend von Butler zurückweisen.« (Ebd.: 197f.) 8 | Zur Kulturwissenschaft wird Heilpädagogik, wenn sie kritisch hinter die Prämissen der disziplinär akzeptierten Gegenstandsbezüge und Problembeschreibungen zurückfragt, »um herauszufinden, auf welchen Erkenntnissen, Gewohnheiten und erworbenen, nicht reflektierten Denkweisen die akzeptierte Praxis beruht« (Foucault 1981: 221). Vgl. Rösner (2009).

251

252

Behinder t sein - behinder t werden

K ritik als P r a xis Behinderte Menschen machen immer wieder die einschneidende Erfahrung, dass ihre Lebensform nicht zu den in der gesellschaftlichen Ordnung anerkannten gehört. Gleichzeitig erhält ihr So-Sein den Schein des »Natürlichen« aufgeprägt, so dass es ihnen schwer gemacht wird, die ihnen auferlegten Identitätsmerkmale abzuschütteln. Im verständlichen Wunsch nach Stärkung solidarischer Bindungen hat sich der kritische Diskurs über Behindertsein lange Zeit auf die Kategorie »behindert« als universeller Voraussetzung für eine bestimmte Art und Weise des Andersseins verlassen. Eine traditionelle Kritik des Behindertseins hat mit Erfolg danach gestrebt, die behindertenspezifische Besonderheit in den Blick zu bringen und in eine Kulturgeschichte einzubetten, die der Präsenz, der Unterdrückung und der Emanzipation behinderter Menschen Rechnung tragen. Der »Behinderte« wurde in eine Sichtbarkeit gebracht, ohne nach dem Status seines Seins zu fragen und sich um die Klärung der Unterdrückungsbedingungen zu kümmern, die sich aus einer nicht hinterfragten Reproduktion von versehrten und unversehrten Identitäten ergeben und für die Aufrechterhaltung klar abgegrenzter binärer Kategorien sorgen. Mit Butlers Kritikverfahren lässt sich eine gewisse Distanz zu der derzeit herrschenden hegemonialen Unterscheidung »behindert/nicht behindert« gewinnen. Es lässt erkennen, dass die Ideen über den »Charakter« des Behindertseins aus Machtbeziehungen resultieren, in denen sich Diskurse mit Institutionen, Gesetzen, Programmen etc. zu einem strategischen Imperativ verbinden: Das behinderte Subjekt ist performativer Effekt diskursiver und institutioneller Praktiken, die als dichtes Netz von Zuschreibungen die Selbstund Fremdwahrnehmung einer Gruppe von Individuen hervorbringen. Die kritische Wendung gegen die Formen des Subjekts bedeutet für Butler ein Riskieren, Suspendieren oder Aufs-Spiel-Setzen der »Sicherheit innerhalb einer vorhandenen Ontologie« (Butler 2009b: 238).9 Ihr theoretisches Unternehmen wendet sich gegen das, was man ist und sein kann in einer gegebenen sozialen Anerkennungsordnung und möchte zu einer Art Verflüssigung von fixierten und in der Unterwerfung fixierenden Identitätsformen beitragen. Das Subjekt macht sich in einer bestimmten Anerkennungsordnung selbst zum Spieleinsatz. Es riskiert »seine Deformation als Subjekt«, indem es »jene ontologisch

9 | Butler (2003b) weist darauf hin, dass Foucault in Was ist Kritik? von 1978 klarmacht, »dass der Standpunkt der Kritik das Risiko der Aussetzung des eigenen ontologischen Status mit sich bringt.« Er »sucht klar nach der Möglichkeit eines Begehrens, das die Bedingungen der anerkennbaren Identität überschreitet, wenn er beispielsweise fragt, was man werden könnte« (ebd.: 65).

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

unsichere Position einnimmt, die von Neuem die Frage aufwirft: Wer wird hier Subjekt sein, und was wird als Leben zählen« (ebd.: 246)?10 Laut Butler entspringt Kritik »nicht aus der angeborenen Freiheit der Seele, sondern wird vielmehr im Schmelztiegel eines bestimmten Austausches zwischen einer Reihe (schon vorhandener) Regeln oder Vorschriften und einer Stilisierung von Akten geformt, die diese schon vorhandenen Regeln und Vorschriften erweitert und reformuliert« (ebd.: 234).11 Sie ist mit der Inszenierung einer gewissen Art des Fragens verbunden, die nicht nur das Urteil aussetzt, sondern aufgrund dieser Suspension eine neue Praxis von Werten eröffnet. Ihre Aufgabe besteht nicht darin »zu bewerten, ob ihre Gegenstände – gesellschaftliche Bedingungen, Praktiken, Wissensformen, Macht und Diskurs – gut oder schlecht, hoch oder niedrig geschätzt sind. Vielmehr soll die Kritik das System der Bewertung selbst herausarbeiten« (ebd.: 225). Kritik lässt sich daher nicht auf Urteile reduzieren, bei denen »ein Besonderes unter eine bereits konstituierte Kategorie« subsumiert wird. Sie stellt eine Praxis dar, die »nach der verschließenden Konstitution des Feldes der Kategorien selbst fragt« (ebd.: 223).12 Butler geht es darum, »mit den Gewohnheiten des Urteilens zugunsten einer riskanten Praxis [zu] brechen, die versucht, den Zwängen eine künstlerische Leistung abzuringen« (ebd.: 246). Die Schwierigkeit, die Butler mit einer normativ ausgerichteten Anerkennungstheorie im Sinne Honneths hat, »ergibt sich einfach aus der doppelten Wahrheit, dass wir zwar Normen brauchen, um leben zu können, und gut leben zu können, und um zu wissen, in welche Richtung wir unsere soziale Welt verändern wollen, dass wir aber auch von den Normen in Weisen gezwungen werden, die uns manchmal Gewalt antun, so dass wir sie aus Gründen sozialer

10 | »[D]as Verfassen von Texten kann ein Weg sein, das neu zu gestalten, was als die Welt gilt. Weil Texte nicht das Ganze ihrer Autoren oder ihrer Welten wiedergeben, gelangen sie als parteiliche Provokationen in ein Feld des Lesens, und sie brauchen nicht nur eine Reihe von vorhergegangenen Texten, um lesbar zu werden, sondern sie geben – im günstigen Fall – den Anstoß zu einer Anzahl von Aneignungen und Kritiken, die ihre grundlegenden Prämissen in Frage stellen« (Butler 1997: 44). 11 | »Inmitten der sozialen Veränderung sind wir alle laienhafte Philosophen, weil wir alle eine Weltsicht voraussetzen, eine Sicht dessen, was richtig ist, was gerecht ist, was abscheulich ist, was menschliches Handeln ist und sein kann, was notwendige und was hinreichende Lebensbedingungen ausmacht.« (Butler 2009a: 326) 12 | »Butlers Anspruch besteht […] weniger in der Formulierung ahistorisch geltender Wahrheiten als vielmehr in der Aufforderung, unaufhörlich dem Gegebenen gegenüber eine fragende Haltung einzunehmen, und auf diese Weise zu ethisch motivierten Verbesserungen beizutragen.« (Schönwälder-Kuntze 2010: 85f.)

253

254

Behinder t sein - behinder t werden

Gerechtigkeit bekämpfen müssen« (Butler 2009a: 327).13 Normativität hat für sie eine doppelte Bedeutung: »Einerseits verweist sie auf die Ziele und Bestrebungen, die uns leiten, die Prinzipien, nach denen wir gezwungen sind, zu handeln oder miteinander zu sprechen, die gemeinsam geteilten Vorannahmen, von denen wir Orientierung erhalten und die unseren Handlungen die Richtung weisen. Andererseits verweist Normativität auf den Prozess der Normalisierung, die Art, wie bestimmte Normen, Ideen und Ideale unser verkörpertes Leben im Griff haben.« (Ebd.: 327f.)

Während Adorno »eine negative Dialektik am Werk« (Butler 2007: 16) sieht, die verhindert, dass ein Subjekt in der Lage ist, Normen auf lebendige Weise anzueignen, heißt Kritik für Butler gerade nicht, die Beziehung des Subjekts zur Moral zu untersuchen. Vielmehr müssen wir uns fragen, »ob das ›Ich‹, das moralische Normen auf lebendige Weise anzueignen hat, nicht selbst durch Normen bedingt ist, Normen, die das Subjekt erst lebensfähig machen« (ebd.: 17). Das soll nicht heißen, dass »Behinderung« nicht existiert. Es geht eher um die Frage, wie Behinderung in den verschiedenen Definitionen, die man von ihr hat geben können, zu einem gegebenen Zeitpunkt als eine natürliche Kategorie angesehen wurde, die eine abnorme Natureigenschaft von Körpern bezeichnet.14 Eine Dekonstruktion des Begriffs »Behinderung« heißt laut Butler, dass man ihn weiterhin verwendet, verschiebt und ihn aus dem Kontext herausnimmt, in dem er als Instrument der Unterwerfung/Subjektivierung

13 | »Eine Norm wirkt innerhalb sozialer Praktiken als impliziter Standard der Normalisierung. […] Die Norm regiert die Intelligibilität, sie ermöglicht, dass bestimmte Praktiken und Handlungen als solche erkannt werden können. Sie erlegt dem Sozialen ein Gitter der Lesbarkeit auf und definiert die Parameter dessen, was innerhalb des Bereichs des Sozialen erscheinen wird und was nicht.« (Butler 2009a: 73) »Einerseits scheinen Normen die regulative oder normalisierende Funktion der Macht zu signalisieren, aus einer anderen Perspektive sind Normen jedoch genau das, was Individuen verbindet, weil sie die Grundlage ihrer ethischen und politischen Ansprüche bilden.« (Ebd.: 348) 14 | Die Kategorie »Behinderung« soll daher auch nicht abgeschafft werden, sondern ihre Verwendung soll auf Weisen Bedeutung erhalten, die niemand vorhersagen kann: »Wenn man einen Begriff […] in Frage stellt, fragt man danach, welche Funktionen der Begriff erfüllt, was mit ihm auf dem Spiel steht, auf welche Ziele er sich richtet, wie er sich verändert. Das veränderliche Leben des Begriffs bedeutet nicht, dass er nicht zu gebrauchen ist. […] Haben wir nicht eine lähmende Furcht vor der unbekannten Zukunft der Worte, die uns davon abhält, die Begriffe zu befragen, die wir zum Leben brauchen; und die uns daran hindert, das Risiko einzugehen, Begriffe zu leben, die noch ungeklärt sind?« (Butler 2006: 253f.)

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

eingesetzt wurde.15 Auf der Grundlage einer Untersuchung der spezifischen Mechanismen der Macht, welche das menschliche Leben hervorbringt, ergibt sich für sie das politische Ziel, nach einem erweiterungsfähigen und mitfühlenden »Vokabular der Anerkennung« jenseits identifizierender Zuschreibung zu suchen, das die »partizipatorische Basis des demokratischen Lebens« (Butler 1997: 10) verbreitert.

Ü ber das R echt hinaus Mit der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen16 (UN-BRK) vom 29. März 2009 hat sich Deutschland verpflichtet, sofortige wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um auf allen Ebenen der Gesellschaft das Bewusstsein für die Belange behinderter Menschen zu erhöhen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern. Die Leitprinzipien der Behindertenrechtskonvention sind die Achtung der Menschenwürde und die Anerkennung von Behinderung als Teil der menschlichen Vielfalt. Das Prinzip der Gleichbehandlung wird in dem Sinn erweitert, dass behinderte Menschen sich in ihrer konkreten Verschiedenheit ins Spiel bringen können und jene Unterstützung erfahren, die für ein menschenwürdiges Leben notwendig ist. Gefordert wird ein angemessener Lebensstandard wie auch die Möglichkeit der freien Wahl des eigenen Lebensorts, damit ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben sowie volle gesellschaftliche Partizipation möglich sind. Daraus leitet sich an die Politik der Auftrag ab, ein Maß sozialer Gerechtigkeit herzustellen, durch das die Menschen sich ihren unterschiedlichen Vermögen und Fähigkeiten gemäß entwickeln können. Insbesondere der Artikel 24 Abs. 2 S. 1 UN-BRK stellt die deutsche Politik vor die Aufgabe, das Recht auf Anerkennung der Differenz in Form inklusiver Bildung umzusetzen. Darüber hinaus sollen Gleichberechtigung in Bezug auf Schulbildung und Zugang zur Arbeitswelt sowie volle Arbeitnehmerrechte gelten. Der im englischen Originaltext verwendete Begriff der »inclusive educa-

15 | Das Kriterium, nach dem wir beurteilen, ob eine Person behindert ist, »beeinflusst auch, wie wir uns selbst wahrnehmen oder nicht – auf der Ebene des Gefühls, des Begehrens oder des Körpers, in Augenblicken vor dem Spiegel oder Fenster und in Zeiten, in denen psychologischer, psychiatrischer, medizinischer oder rechtlicher Beistand gesucht wird« (Butler 2009a: 99). Die Selbstbeschreibung findet »in einer Sprache statt, die bereits in Gebrauch ist, die schon von Normen gesättigt ist und die uns beeinflusst, wenn wir versuchen, über uns zu sprechen« (ebd.: 114). 16 | Vgl. BGBl. 2008 II, Nr. 35,1419-1457.

255

256

Behinder t sein - behinder t werden

tion«17 setzt ein verändertes Verständnis von Normalität und Vielfalt voraus. Mit ihm wird nicht mehr nur die integrierende Anpassung des behinderten Kindes an ein vorgefundenes Bildungssystem verbunden, sondern eine Ausrichtung der Bildungsinstitutionen an den besonderen Fähigkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Kinder. Die Aussonderung behinderter Kinder und Jugendlicher in spezielle Fördereinrichtungen lässt sich nunmehr als eine Menschenrechtsverletzung verstehen, die sich nicht mehr so ohne Weiteres mit dem Theorem des »sonderpädagogischen Förderbedarfs« legitimieren lässt.18 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es dieser internationalen normativ-politischen Orientierung für behinderte Menschen bedurfte, um den Übergang von der Exklusion zu sozialer Inklusion und diskriminierungsfreier Partizipation zu ermöglichen. Aus Objekten der Fürsorge und medizinischer Heilbehandlung werden Rechtssubjekte mit Anspruch auf sozialstaatliche Leistungen, die von legislativen Weichenstellungen bis hin zu konkreten Hilfeplanungen reichen. Mit der UN-BRK ist das normative Prinzip fairer Gleichbehandlung durch einen differenzsensiblen Gesichtspunkt für Menschen erweitert worden, »die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können« (Artikel 1). Sie zielt »auf eine Verwirklichung der staatlichen Verpflichtung zur Anerkennung und Sicherstellung der gleichen Ausübung aller Menschenrechte für alle Menschen mit Behinderungen sowie die innerstaatliche Garantie dieser Rechte« (Porscher u.a.: 2008, 11). Butler hält es für »einen Fehler, wenn wir die Definitionen, wer wir rechtlich betrachtet sind, für angemessene Beschreibungen dessen halten, worauf es uns ankommt« (Butler 2009a: 39): Rechtliche Anerkennung ist immer auch »Teil eben jener Praxis der Anordnung und Regulierung von Subjekten nach Maßgabe bereits vorgegebener Normen« (Butler 2010: 132). Das Rechtssubjekt »Mensch mit Behinderungen«, auf das sich die UN-BRK bezieht, ist bereits im Horizont einer ambivalenten Struktur normalisierender Anerkennung hervorgebracht und naturalisiert worden. Anstatt vom behinderten Subjekt auszugehen und den mit ihm verbundenen Rechtsverletzungen, sollten wir 17 | »Inclusion« ist in der deutschen Fassung fälschlicherweise mit »Integration« übersetzt. 18 | Vor diesem Hintergrund erscheint die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 8.10.1997 als fragwürdig, wonach behinderten Schülerinnen und Schülern nur dann ein Anspruch auf Integration in das allgemeine Schulsystem zusteht, wenn sie mit vertretbarem personellem, organisatorischem und finanziellem Aufwand für die jeweilige Schule zu vereinbaren ist. Die Verpflichtung zu einem inklusiven Schulangebot kann nach Art. 7 Abs. 2 BRK künftig im Einzelfall nur dann eingeschränkt werden, wenn dies dem Kindeswohl entspricht.

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

mit Foucault eher danach fragen, wie sich die Dinge auf der Ebene der Unterwerfung des Körpers, Beherrschung der Gesten und Diktierung unseres Verhaltens verhalten. Die unterzeichnenden Staaten haben nicht nur soziale Rechte für behinderte Menschen entdeckt, sondern ebenso Diskurse und soziale Praktiken entwickelt, mit denen das Subjekt des Behindertseins konstituiert wird.19 Indem man behinderte Menschen international zu einer rechtlichen Gemeinschaft aufgrund gemeinsamer medizinisch feststellbarer Merkmale und Eigenschaften erklärt, wird es ihnen zugleich schwer gemacht, die gesellschaftlich auferlegten Identitätsmerkmale abzuschütteln.20 Gleichzeitig wendet sich Butler gegen einen »reduktive[n] Relativismus«, der kontextualistisch unterstellt, »dass wir nicht vom Menschlichen oder von internationalen Menschenrechten sprechen können, da es immer nur ein lokales und vorläufiges Verständnis dieser Begriffe gibt« (Butler 2009a: 66). Sie regt daher dazu an, »eine doppelte Strategie« (ebd.) bei der politischen Verwendung von Kategorien wie Gender oder Disability zu verfolgen. Im Sinne eines »strategischen Essentialismus« (Gayatri Spivak) hält sie einerseits eine rechtliche Sicht für notwendig, um Ungerechtigkeiten anzuzeigen, die mit den spezifischen Situationen von behinderten Menschen einhergehen. Andererseits vertritt sie die These, »dass die Notwendigkeit, unsere Vorstellung vom ›Menschlichen‹ für eine zukünftige Formulierung offenzuhalten, für das Projekt eines kritischen internationalen Diskurses über Menschenrechte und für die Menschenrechtspolitik unabdingbar ist« (ebd.: 352). »Mein Vorschlag wäre, dass eine antiimperialistische oder allerwenigstens nichtimperialistische Konzeption internationaler Menschenrechte hinterfragen muss, was mit dem Menschlichen gemeint ist, und von den verschiedensten Methoden und Mitteln lernen muss, mit denen es an kulturellen Veranstaltungsorten definiert wird«. (Ebd.)

19 | In Hass spricht (2006) äußert Butler die Befürchtung, dass mit rechtlichen Lösungen »die Handlungsmacht vollständig an den Staat übergeht« (ebd.: 70). Demgegenüber wirbt sie für einen »gesellschaftlichen und kulturellen Sprachkampf« (ebd.). 20 | Theresia Degener (2009) geht irrtümlicherweise davon aus, dass der Behinderungsbegriff der UN-BRK an kritisch-konstruktivistische Denkrichtungen in den Disability Studies anknüpft (ebd.: 273). Auch wenn mit »Behinderung« vorrangig eine am Begriff der Menschenwürde ausgerichtete gesellschaftliche Situation und damit kein Merkmal von Personen gemeint sein soll: Mit dem »menschenrechtlichen Modell von Behinderung« (ebd.) wird das medizinische/individuelle Modell von Behinderung insofern nicht verabschiedet, da bei der Frage einer Auswahl der in den Schutzbereich der Konvention fallenden Personen eine »Grenzziehung« (ebd.: 280) nach medizinisch diagnostizierbaren Merkmalen vorgenommen werden musste.

257

258

Behinder t sein - behinder t werden

E ine neue O ntologie des K örpers Der Körper ist für Butler keine vorgängige und natürliche Gegebenheit, an den soziale Praktiken angreifen, um ihn auf unterschiedliche Weise wahrzunehmen und zu bewerten. Vielmehr stellt sich das gesellschaftliche Leben des Körpers durch soziale Anrufungen her, die sprachlich und produktiv zugleich sind und im Rahmen gesellschaftlicher Normalitätsvorstellungen funktionieren.21 Eine nur leibphänomenologische Perspektive auf den Körper greift für sie zu kurz, weil mit ihr der Frage ausgewichen wird, was es historisch mit der Materialität des menschlichen Körpers auf sich hat. Butler fordert »eine neue Ontologie des Körpers« (Butler 2010: 10), in der berücksichtigt wird, dass er »gesellschaftlich und politisch geprägten Kräften ebenso wie den Forderungen des sozialen Zusammenlebens« (ebd.: 11) ausgesetzt ist, die sein Bestehen und Gedeihen erst ermöglichen: »Als in der öffentlichen Sphäre geschaffenes soziales Phänomen gehört mein Körper mir und doch nicht mir. Als Körper, der von Anfang an der Welt der anderen anvertraut ist, trägt er ihren Abdruck, wird im Schmelztiegel des sozialen Lebens geformt. Erst später und mit einiger Unsicherheit erhebe ich Anspruch auf meinen Körper als den, der mir gehört, wenn ich das überhaupt jemals tue.« (Butler 2005: 43)22

Die moderne Konstruktionslogik einer Spaltung des (behinderten) Subjekts in einen biologischen und einen sozialkulturellen Anteil ist auf Grundlage dieser Ontologie nicht mehr haltbar: Was wir »Materie« nennen, ist mit einem »Prozess der Materialisierung« verbunden, »der im Laufe der Zeit stabil wird, so 21 | Gegenüber Pierre Bourdieu (1979) wendet Butler (2006) ein, dass der »körperliche Habitus« mehr als nur eine »stillschweigende Form von Performativität« (ebd.: 242) darstellt: »Die Beziehung zwischen Sprechen und Körper ist chiastisch. Sprechen ist körperlich, aber der Körper geht über das Sprechen hinaus, das er hervorbringt, und das Sprechen lässt sich nicht auf die körperlichen Mittel seiner Äußerung reduzieren.« (Ebd.: 243) 22 | Butler wurde lange Zeit so verstanden, als würde sie die Relevanz des Biologischen bei der Determinierung der Geschlechtsidentität gänzlich verneinen. Ihr Vorschlag zur »Entnaturalisierung« des weiblichen Körpers erschien gar als ideologische Rechtfertigung biotechnologischer Eingriffe am menschlichen Körper. Dagegen lautet ihr Einwand, »dass Körper außerhalb der Norm noch immer Körper sind, und für sie und in ihrem Namen suchen wir ein erweiterungsfähiges und mitfühlendes Vokabular der Anerkennung« (Butler 1997: 10). Sie distanziert sich von einer Sichtweise, in der man meint, »der Körper werde vollkommen oder erschöpfend linguistisch konstituiert. Eine solche Behauptung läuft auf einen linguistischen Idealismus hinaus, den ich unannehmbar finde« (ebd.: 11).

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

dass sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche herstellt« (Butler 1997: 32). Der Blick auf die Materialität des Körpers führt zur Feststellung, »dass Materie selbst durch eine Reihe von Verletzungen begründet wurde, die in der heutigen Berufung auf Materie unwissentlich wiederholt wurden« (ebd.: 55): »Körper werden nicht wie räumliche Gegebenheiten bewohnt. Sie sind in ihrer Räumlichkeit auch in der Zeit unterwegs: Sie altern, verändern ihre Gestalt, verändern ihre Bedeutung – in Abhängigkeit von ihren Interaktionen – und das Netz visueller, diskursiver und taktiler Beziehungen, die zu einem Teil ihrer Geschichtlichkeit werden, ihrer konstitutiven Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.« (Butler 2009a: 344)

Der Körper existiert »im Modus des Werdens und weil er ständig mit der konstitutiven Möglichkeit lebt, anders zu werden, ist der Körper das, was die Norm auf zahllose Weisen besetzen kann, über die Norm hinausgehen kann, die Norm umarbeiten kann und was zeigen kann, dass die Realitäten, von denen wir glaubten, wir wären auf sie festgelegt, offen für Veränderungen sind« (ebd.). Folgt man Butler, dann gibt es »keine einfache Methode […], zwischen dem zu unterscheiden, was am behinderten Körper echt ›materiell‹ und was echt ›kulturell‹ ist« (ebd.: 143). Insofern lässt sich auch nicht sagen, »dass rein kulturelle Zeichen einen materiellen Körper produzieren« (ebd.); vielmehr ist davon auszugehen, dass der Körper ohne Zeichen, die »unhintergehbar kulturell und materiell zugleich sind« (ebd.), nicht lesbar ist. Als »Schauplatz der Machtanwendung« unterliegt er einer Ausrichtung innerhalb binärer Unterscheidungen.23 Der behinderte Körper wird nicht nur kontrolliert, sondern ist bereits in seiner medizinisch-biologischen Beschaffenheit machtförmigen Vorgängen unterworfen, die ihn einer künstlichen Norm entsprechend formen und modellieren. Materialisierung heißt also nicht nur Einverleibung oder »Inkorporierung« sozialer Normen, sondern, dass die stofflich-materielle Wirklichkeit – des Körpers – selbst sprachlich-diskursiv erzeugt wird und nicht nur auf der Oberfläche der Einschreibungen Resultat von sozialen Praktiken ist. 23 | »Die Normen, die eine idealisierte menschliche Anatomie regieren, produzieren einen selektiven Sinn dafür, wer menschlich ist und wer nicht, welches Leben lebenswert ist und welches nicht.« (Butler 2009: 14) Diese »unterschiedsgenerierende Einteilung« wird bei einem großen »Spektrum von Behinderungen« (ebd.) vollzogen. Diese Sichtweise Butlers findet sich auch den Disability Studies, in denen die Vorstellung eines »defizitären« Körpers zur Disposition gestellt wird, »der aufgrund seiner Abweichung von als natürlich gesetzten (Körper- und Sinnes-)Funktions- und Vollständigkeitsvorgaben als unhinterfragter Ausgangspunkt des Phänomens ›(körperlicher) Behinderung‹ galt« (Gugutzer u.a.: 2007: 32).

259

260

Behinder t sein - behinder t werden

Behindertsein lässt sich nicht mehr nur als Zuschreibung verstehen, die der Oberfläche der Materie – in der Weise ihrer vorhandenen diagnostizierbaren Schädigung – auferlegt wird. Mit Butler lässt sich der behinderte Körper als ein in der Öffentlichkeit geschaffenes soziales Phänomen verstehen, das zuerst gesellschaftlichen Gestaltungskräften und Formierungen ausgesetzt ist, bevor es zu dem wird, aufgrund dessen das Subjekt Anerkennung verlangt: »Das ›Sein‹ des Körpers […] ist ein immer schon anderen überantwortetes Sein, es ist immer schon auf Normen und soziale und politische Organisationen verwiesen, die sich ihrerseits geschichtlich entwickelt haben, um die Gefährdung der einen zu maximieren und die der anderen zu minimieren.« (Butler 2010: 10f.)

Wenn die Körpermerkmale auf eine Behinderung (disability) hinweisen, dann sind es die kulturellen Mittel der Medizin, die anzeigen, wie eine Schädigung (impairment) gelesen oder verstanden werden soll.24 Das medizinische Konstrukt »Schädigung« muss selbst in seiner Normativität verstanden und kann nicht länger unabhängig von der Materialisierung jener regulierenden Norm gedacht werden. Es wird nicht mehr als ein körperlich Gegebenes ausgelegt,

24 | Die biologisch-medizinische Bestimmung des Körpers samt der binären Konzeption »behindert/nicht behindert« folgt kulturellen Kategorien. Biologisches erscheint dann als Einschreibung von Normen einer kulturellen Matrix in einen »Organismus«. Foucault hat schon früh (1963) darauf aufmerksam gemacht, dass Biologie und Medizin als die Wissenschaften vom Leben die Frage nach dem Leben und dem Tod zum spezifischen Gegenstand ihrer Erkenntnis gemacht und in das Feld der Unterscheidung von Normalem und Pathologischem hinein geholt haben (Foucault 1973). Nach Foucault vollzog sich die Herausbildung der modernen Medizin im 19. Jahrhundert innerhalb der unterschiedlichen Entwicklungslinien von disziplinärer Technologie des Körpers und regulatorischer Technologie des Lebens – im Konnex einer »Bio-Macht«, die sich sowohl auf den Organismus des Individuums als auch auf die biologischen Prozesse der Bevölkerung erstreckt und eine »Normalisierungsgesellschaft« (Foucault 1999, 292f.) hervorbringt. Die pathologischen Phänomene wurden nicht mehr einer vorgängigen Welt der Wesenheiten zugeordnet, sondern dem Individuum, verstanden als lebendem Organismus, eingepflanzt. In den biologischen und medizinischen Wissenschaften wurden die Krankheiten als Bestandteil eines biologisch verstandenen Lebens wahrgenommen, das sich im Austausch mit der Umwelt abnutzt. Es kam zur »Einfügung der Krankheit in den Organismus« (Foucault 1973:16). Die Krankheiten wurden zu deutbaren und veränderbaren Zeichen innerhalb einer durch Risiken bedrohten und hygienisch-statistisch zu erfassenden Bevölkerung. Vgl. zur medizinisch-pädagogischen Konstruktion von Behindertsein auch Rösner (2002: 233ff.).

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

dem das soziale Konstrukt »Behinderung« künstlich auferlegt wird, sondern als eine kulturelle »Norm«, die die Materialisierung von Körpern regiert.25 Auf der Grundlage dieser Vorstellung von einer »sozial ekstatischen Struktur des Körpers« (ebd.: 39) gibt es keine Möglichkeit mehr, die »Bedingung einer primären Verletzbarkeit wegzudiskutieren, dieses Ausgeliefertsein an die Berührung durch den anderen, selbst wenn oder gerade dann, wenn kein anderer da ist und unser Leben keine Unterstützung erfährt« (Butler 2009a: 45). Insofern geht diese neue Ontologie des Körpers mit einem »neuen Verständnis von Gefährdung, Schutzlosigkeit, Verletzlichkeit, wechselseitiger Abhängigkeit, Exponiertsein, körperlicher Integrität, Begehren, Arbeit, Sprache und sozialer Zugehörigkeit« (Butler 2010: 10) einher. Gefährdung ist für Butler nicht mehr einfach als Merkmal des behinderten Lebens zu begreifen; »sie ist vielmehr eine allgemeine Bedingung, deren Allgemeingültigkeit nur geleugnet werden kann, wenn das Gefährdetsein selbst geleugnet wird« (ebd.: 29). Indem man von einem Körper ausgeht, der Anderen ausgesetzt ist, eröffnet sich ein ethischer Weg, »der es uns erlaubt, in vielen Bereichen für Autonomie zu kämpfen, aber auch die Anforderungen zu berücksichtigen, die uns auferlegt sind, weil wir in einer Welt der Mitgeschöpfe leben, die per definitionem physisch aufeinander angewiesen sind, im Verhältnis zum anderen physisch verletzlich sind« (Butler 2009a: 42).

D ie mor alische H andlungsfähigkeit des S ubjek ts In Butlers Theorie der Subjektivation26, wird das Subjekt »als Effekt einer vorgängigen Macht wie als Ermöglichungsbedingung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit« betrachtet (Butler 2001: 19). Diese »Handlungsfähigkeit« des »postsouveränen Subjekts« (Butler 2006: 218f.) beruht nicht auf einem Willen oder einer Freiheit, sondern wird durch Machtverhältnisse konstituiert, die zu einer Trennung von psychischer und sozialer Sphäre führen und die Bedingungen von Handlungsmöglichkeiten festlegen: »Weder bringt die Norm das Subjekt als ihre notwendige Wirkung hervor, noch steht es dem Subjekt völlig frei, die Norm zu missachten, die seine Reflexivität in Gang setzt; unweigerlich ringt man mit den Bedingungen seines Lebens, die man sich nicht hätte aussuchen können. Wenn es Handlungsfähigkeit, ja Freiheit in diesem Ringen gibt, dann 25 | »Der Kampf darum, die Normen zu verändern, durch die Körper erfahren werden, ist daher […] für die Behindertenpolitik entscheidend […], insoweit sie die zwangsweise auferlegten Ideale, wie Körper sein zu haben, in Frage stellen.« (Butler 2009a: 52) 26 | Butler verwendet den englischen Neologismus »subjectivation«, um damit Foucaults »assujettisement« (»Unterwerfung/Subjektwerdung«) zu bezeichnen.

261

262

Behinder t sein - behinder t werden stets in Bezug auf ein ermöglichendes und begrenzendes Feld von Zwängen.« (Butler 2007: 29)

Die Prägung durch Normen ist folglich nicht einfach etwas, gegen das sich das Individuum zu wehren vermag, weil sie zugleich das ist, was seine Subjektivation ermöglicht. Die Macht, die zunächst von außen kommt und dem Subjekt aufgezwungen wird, nimmt »eine psychische Form an, die die Selbstidentität des Subjekts ausmacht« (Butler 2001: 9). Das behinderte Subjekt, so ließe sich aus Butler ableiten, »ist genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es nicht selbst hervorgebracht hat, und damit sucht es das Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst – in einem Diskurs, der zugleich dominant und indifferent ist. Soziale Kategorien bezeichnen zugleich Unterordnung und Existenz. Anders gesagt: im Rahmen der Subjektivation ist Unterordnung der Preis der Existenz« (ebd.: 25). Seine Subjektivierung entsteht aufgrund einer wiederholten gesellschaftlichen »Anrufung«27 von Behinderung durch Diskurse, die sich in dem, was als Behindertsein performiert wird, jedoch nicht mehr zeigen: »Diese Bedingungen werden jedoch nicht einfach angenommen oder verinnerlicht; psychisch werden sie nur durch jene Bewegung, durch die sie verborgen und ›gewendet‹ werden. Ohne ausdrückliche Reglementierung entsteht das Subjekt als ein solches, dem die Macht zu Stimme geworden ist und die Stimme zum Reglementierungsinstrument der Psyche.« (Ebd.: 183)28

Mit der von Kant ausgehenden moralischen Frage »Was soll ich tun?« wird wie selbstverständlich unterstellt, dass es ein selbsttransparentes und in sich gründendes »Ich« gibt, das seine Handlungen ursächlich bewirken kann und daher in vollem Umfang für sie verantwortlich ist. Auf diese Weise setzt man normativ ein selbstreflexives Subjekt voraus, das Rechenschaft von sich abgeben kann 27 | Butler übernimmt diesen Begriff von Louis Althusser (1977), der von »Interpellation« spricht, durch die sich die Unterwerfung des Subjekts durch Sprache vollzieht. Vgl. dazu Honneths Kritik, der im Unterschied zu dem, was Butler im Anschluss an Althusser mit Anerkennung verbindet, darauf besteht, dass mit dem »Originalmodus der ›Anerkennung‹« nicht nur eine »Anrufung« verbunden ist, sondern mit Stanley Cavell »zunächst die Affirmierung von positiven Eigenschaften menschlicher Subjekte oder Gruppen« (Honneth 2004: 55). 28 | Butler unterscheidet zwischen »Psyche«, die das Unbewusste mit einschließt und »Subjekt«, dessen Bildung durch den Ausschluss des Unbewussten bedingt ist. Insofern sind Begriffe wie »Verhaftetsein« und »Besetzung« nicht als intentional im phänomenologischen Sinne zu verstehen, weil die Psyche und nicht das Subjekt daran beteiligt ist.

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

und glaubt, sich unmittelbar der Frage zuwenden zu können: Welche Normen soll ich folgen, wenn ich entscheide, was ich tun soll? Laut Butler müssen wir jedoch von einem fragilen und fehlbaren moralischen Subjekt ausgehen, das sich bis zu einem gewissen Grad undurchschaubar und fremd bleibt und deshalb nicht in der Lage ist, vollständig Rechenschaft über sich selbst abzulegen: »Ethische Systeme oder Moralcodes, die von der Selbsttransparenz des Subjekts ausgehen oder die uns die Verantwortung für eine uneingeschränkte Selbsterkenntnis zuschreiben, neigen dazu, fehlbaren Geschöpfen eine Art ›ethische Gewalt‹ anzutun.« (Butler 2003a: 10f.) Sie stellen sich nicht der Tatsache, dass Handlungsfähigkeit nur entsteht, weil ein postsouveränes Subjekt durch eine soziale Welt zustande kommt, die es nicht gewählt hat.29 Butler geht nicht von einer Kritik der Zerstörung von Handlungsfähigkeit mit dem Ziel der Wiedergewinnung einer Souveränität aus, sondern sagt umgekehrt: Handlungsfähigkeit beginnt da, wo die Souveränität schwindet. Sie stellt sich die Frage »Wenn Unterordnung die Möglichkeitsbedingung der Handlungsfähigkeit ist, wie lässt sich die Handlungsfähigkeit des Subjekts dann als Gegensatz zu den Kräften seiner Unterordnung verstehen?« (Butler 2001: 15) Butlers Antwort bewegt sich im Sinne des späten Foucault, bei dem sich »das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin« (Foucault 1992, 15).30 Darüber hinaus verknüpft sie dessen Theorie der Macht mit Hegels Vorstellung eines »Begehren[s] nach Anerkennung« (Butler 2003b: 63): »Die Macht kann nur auf ein Subjekt einwirken, wenn sie der Existenz dieses Subjekts Normen der Anerkennung aufzwingt. Überdies muss das Subjekt Anerkennung begehren und muss sich damit von Grund auf an die Kategorien gebunden fühlen, die die soziale Existenz gewährleisten« (ebd.).31 Eine regle29 | Vgl. Butlers Kritiken an Habermas’ Diskursethik, die den Versuch darstellt, »eine kommunikative Situation so zu konzipieren, dass Sprechakte in ihr im Konsens gegründet sind und kein Sprechakt zulässig ist, der dem anderen performativ die Möglichkeit nimmt, einen Konsens durch Sprache herzustellen« (Butler 2006: 138ff.). Vgl. auch Butler (2009: 348ff.). 30 | Foucault stellt die Frage: »Wer kann ich werden in einer Welt, in der die Bedeutung und Grenzen des Subjekts im Voraus für mich festgelegt sind?« Durch welche Normen werde ich zwangsweise bestimmt, wenn ich frage, was ich werden kann? Und was geschieht, wenn ich etwas zu werden beginne, was im gegebenen Wahrheitsregime nicht vorgesehen ist?« (Butler 2009a: 98) Allerdings, so Butler, ersetzt Foucault in seinem Spätwerk die Konstruktion durch Unterwerfung des Individuums unter die Macht noch recht unvermittelt durch den ethischen Prozess der Konstitution des Subjekts im Selbstverhältnis. 31 | Vgl. die Kritik von Stephan Moebius und Dirk Quadflieg (2005) an Butlers Entscheidung, den Begriff des Begehrens »in der Tradition des Deutschen Idealismus«

263

264

Behinder t sein - behinder t werden

mentierende Macht, so Butler, nötigt den Einzelnen zwar, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in nicht gewählten Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, doch ist sie immer auch die Bedingung für die Möglichkeit des Subjekts, sich reflexiv, d.h. auf sich selbst, auf die eigene Lebenserhaltung gerichtet, gegen die Normen zu wenden, die eine Selbstanerkenntnis verhindern: »Wenn das ›Ich‹ nicht mit den moralischen Normen zusammenfällt, die es aushandelt, so heißt das nur, dass es über diese Normen nachdenken muss und dass diese Überlegungen auch zu einer kritischen Einsicht in deren gesellschaftliche Genese und Bedeutung führen werden. In diesem Sinne sind ethische Überlegung und Kritik miteinander verknüpft.« (Butler 2007: 16)

Menschen mit Behinderung »können nicht anerkannt werden, ohne sich zuvor dem Gesetz der Wahrheit zu beugen« (Butler 2003b: 63) und ohne Anerkennung gibt es kein behindertes Subjekt. Ihre Subjektwerdung geht daher immer auch mit der melancholischen Verleugnung bzw. Verwerfung32 eigener Möglichkeitsbedingungen einher. Indem behinderte Menschen jedoch den Ruf zur Anerkennung in Richtungen wiederholen, die ihre ursprünglichen Ziele umkehren und verschieben, ergreifen sie »die Gelegenheit, die mobilisierende Macht der Verwundung, einer Anrufung, die man niemals gewählt hat, auszunutzen« (Butler 1997: 176).33 Die »Resignifizierung des Sprechens« ermöglicht, dass sie »neue Kontexte eröffnen, auf Weisen sprechen, die noch niemals legitimiert wurden, und damit neue und zukünftige Formen der Legitimation hervorbringen« (Butler 2006: 71). Die Möglichkeiten des behinderten Subjekts, aktiv »in die Arbeit des Gesetzes der Wahrheit« einzugreifen, beinhaltet jedoch die Gefahr, seinen besonderen Rechtsstatus als behindertes Subjekt zu verlieren: »Um zu sein, können wir sagen, müssen wir anerkennbar sein; aber die Normen in Frage zu stellen, durch die uns Anerkennung zuteil wird, bedeutet in mancher Hinsicht, sein schieres eigenes Sein zu gefährden, (ebd.: 161) zu verwenden. Im Rückgriff auf Foucault plädieren sie dafür, »die von Butler angeführte Handlungsfähigkeit durch eine ›Genealogie des Begehren‹« (ebd.: 172) zu radikalisieren. 32 | Zur Unterscheidung von Verwerfung und Verdrängung bei Butler vgl. Susanne Dungs (2006): »Verdrängung meint, dass ein Subjekt, das bereits da ist, einen Teil seines Inhalts verdrängt. Verwerfung dagegen ist eine negative Geste des Ausschlusses, die als Gründungsmoment des Subjekts fungiert. Das Verworfene bleibt rigoros versperrt, ›womit das Subjekt durch eine bestimmte Art vorgängigen Verlusts konstituiert wird‹.« (Ebd.: 241) 33 | Als Beispiel für die »ambivalente Struktur im Herzen der Performativität« (Butler 2006: 70) lassen sich hier die »Krüppelgruppen« nennen, die sich ab 1978 um Franz Christoph und Horst Frehe gründeten.

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

in seiner eigenen Ontologie fragwürdig zu werden, seine Anerkennbarkeit als Subjekt aufs Spiel zu setzen.« (Butler 2003b: 64)34

E ine E thik der V er ant wortung Angesichts der Gefährdungslage, die mit dieser aufs Spiel gesetzten Anerkennung einhergeht, stellt sich Butler die Frage, inwieweit sich auf Basis einer Theorie postsouveräner Subjektivität eine Ethik persönlicher oder sozialer Verantwortung entwickeln lässt. In Kritik der ethischen Gewalt (2003a, 2007)35 spannt sie einen Bogen von einer Theorie der Anerkennbarkeit des Subjekts zu einer Ethik der Verantwortung aufgrund eines »primären Ausgesetztseins gegenüber dem Anderen« (Butler 2007: 135). Sie versucht, die Konstitution des moralischen Subjekts nicht als Tätigkeit eines schon gegebenen Bewusstseins zu denken, sondern als Verantwortlichkeit über unsere Intentionen, unseren Willen und unser Vermögen hinaus. Das moralische Subjekt der Verantwortung, so Butler, bleibt für sich bis zu einem gewissen Grad undurchschaubar und in einer Erklärungsnot, wenn es sagen soll, warum es so und nicht anders gehandelt hat. Es kann sich auch nicht für seine Selbstidentität in der Zeit verbürgen: »Wenn das ›Ich‹ versucht, über sich Rechenschaft abzulegen, kann es sehr wohl bei sich beginnen, aber es wird feststellen, dass dieses Selbst bereits in eine gesellschaftliche Zeitlichkeit eingelassen ist, die seine eigenen narrativen Möglichkeiten überschreitet. Ja, wenn das ›Ich‹ Rechenschaft von sich zu geben sucht, Rechenschaft oder eine Erklärung seiner selbst, die seine eigenen Entstehungsbedingungen einschließen muss, dann muss es notwendig zum Gesellschaftstheoretiker werden.« (Ebd.: 15)

Butler sucht nach einer »Reformulierung der Anerkennung als ethisches Projekt« (Butler 2007: 61). Um ihrer Ethik Plausibilität zu verleihen, verlagert sie ihre Untersuchungen in den »intersubjektiven Raum« (Butler 2009a: 237). Mit Emmanuel Lévinas geht sie davon aus, dass der Andere immer schon kommunizierend auf mich antwortet, noch bevor ich als sprachliches Subjekt »Ich« sagen kann und mich auf ihn beziehe. Sein Sagen ist bereits (An-)Spruch auf 34 | Vgl. dazu Andreas Kuhlmann (2005), der eindringlich darauf hinweist, dass gerade Menschen mit Komplexer Behinderung, ihr Leben einem an der »Fürsorge« orientierten Begriff von Behinderung verdanken. 35 | Der Text ist 2003 ursprünglich auf Deutsch veröffentlicht worden. Eine überarbeitete Version ist 2005 im Englischen unter dem Titel Giving an Account of Oneself (2005) erschienen. In der deutschen Übersetzung von 2007 fehlt daher das Vorwort zur deutschen Erstausgabe.

265

266

Behinder t sein - behinder t werden

bzw. an mich, vor allem Fragen und Ermöglichungsbedingung für mein IchSagen. Es nötigt mich zur unendlichen (Ver-)Antwortung ihm gegenüber.36 In diesem Sinne begreift Butler Subjektivität »als eine radikale Empfänglichkeit, dem Übergriff des Anderen unterworfen« (Butler 2007: 120).37 Sie führt Lévinas’ Begriff der »Verfolgung« ein, um die unentwegte Ansprache zu verdeutlichen, durch die das Ego als Objekt eingesetzt wird, »auf das andere handelnd einwirken, noch bevor es selbst die Möglichkeit zu handeln hat« (ebd.: 118). Mit dem Begriff »Verantwortung« verbindet sie die Möglichkeit, »eine ungewollte Empfänglichkeit als Ressource zu nutzen, um für den Anderen ansprechbar zu sein und auf ihn zu reagieren« (ebd.: 124). Der Umschlag von Empfänglichkeit in Verantwortung resultiert für sie aus der Tatsache, dass das »Ich« durch das substituiert wird, was es verfolgt: »Etwas setzt sich an meine Stelle, nimmt meinen Ort ein, woraus ein ›Ich‹ hervorgeht, das seinen Ort nicht anders verstehen kann als diesen bereits von jemand anderem besetzten Ort. Am Anfang werde ich also nicht nur verfolgt, sondern belagert, besetzt.« (Ebd.: 121) Bei der Formulierung ihres Verantwortungsbegriffs schließt Butler an eine spinozistisch-hegelianische Tradition an, in der davon ausgegangen wird, »dass Anerkennung die Bedingung für ein Leben ist, welches fortgesetzt und bewältigt werden kann« (Butler 2009a: 372).38 Diesen Gedanken erweitert sie um die Einsicht, dass die »Bestimmungen, anhand deren wir als menschlich anerkannt werden, […] gesellschaftlich artikuliert und veränderbar sind« (ebd.: 10). Während Lévinas mit dem »Antlitz« des Anderen in erster Linie die ethische Wirkung einer Anrufung durch eine primäre und nicht aufhebbare Al36 | Für Lévinas (1992) liegt die Sphäre, in der ein Subjekt entsteht, außerhalb des Seins in dem Sinne, dass die phänomenale Welt der Personen und Dinge erst zugänglich wird, nachdem ein primärer Übergriff ein Subjekt hervorgebracht hat: Dem Ursprung des Bewusstseins, der eine »wiedereinholbare Zeit« (ebd.: 83) entstehen lässt, geht eine »irreduzible Diachronie« (ebd.: 86) voraus. Von dieser Zeit einer anarchischen Geburt des intentionalen Subjekts her ist dem Bewusstsein bereits die ethische Struktur des »der-Eine-für-den-Anderen« (ebd.: 189) eingeschrieben. 37 | Vgl. Lévinas (1987): »Die Subjektivität ist Verwundbarkeit, die Subjektivität ist Sensibilität.« (Ebd.: 131) 38 | Da das Subjekt ein in Relation zu Anderen stehendes Produkt ist, ist die Subjektwerdung mit der leidenschaftlichen Verhaftung an eine äußerliche Gegebenheit verbunden: »Es war Spinoza, der behauptete, dass jeder Mensch bestrebt ist, in seinem Sein zu verharren, und er machte dieses Prinzip der Selbstbeharrung, den conatus, zur Grundlage seiner Ethik und sogar seiner Politik. Als Hegel die Behauptung aufstellte, das Verlangen sei stets ein Verlangen nach Anerkennung, extrapolierte er gewissermaßen diesen spinozistischen Gedanken, indem er uns praktisch mitteilte, im eigenen Sein zu beharren sei nur unter der Bedingung möglich, dass wir uns am Nehmen und Geben von Anerkennung beteiligen.« (Butler 2009a: 56f.)

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

terität verbindet39, sieht Butler darin lediglich »die umfassende Ambivalenz einer ungewollten Anrede«, die uns Verletzungen ausgesetzt sein und für den Anderen verantwortlich sein lässt« (Butler 2007: 123). Sie übernimmt Hegels Vorstellung von Anerkennung als eines wechselseitigen Prozesses: »Die Einzigartigkeit der anderen ist mir ausgesetzt, aber meine ist auch ihr ausgesetzt, was nicht bedeutet, dass wir gleich sind, sondern nur, dass wir durch unsere Unterschiede, d.h. durch unsere Singularität, aneinander gebunden sind.« (Ebd.: 49)40 Auch wenn es das »Faktum des vereinzelnden Ausgesetztseins« gibt, »das sich unserer körperlichen Existenz verdankt« (ebd.: 50), so sind wir dennoch einer Allgemeinheit im Sinne von Foucaults »Wahrheitsregime« (ebd.: 33) unterworfen, außerhalb dessen das Antlitz des Anderen nicht als menschlich und anerkennbar entziffert werden kann. In Butlers Lesart »hat Hegel uns eine ek-statische Idee des Selbst geliefert, eines Selbst, das notwendig außerhalb seiner selbst ist, nicht selbstidentisch, von Beginn an differenziert« (Butler 2009a: 240). Die »Vorstellung von dem, was moralisch bindend« ist, gibt sich das Subjekt daher nicht selbst. Sie entspringt nicht seiner Autonomie und Reflexivität, sondern fällt ihm »von anderswo zu, unerbeten, unerwartet und ungeplant.« (Butler 2005: 156) Eine beiderseitige Einsicht, dass man sich dem »primären Ausgesetztsein an den Anderen« (Butler 2007: 135) nicht verschließen kann, geht mit einer Tugend der »Bescheidenheit und Großzügigkeit« (ebd.: 60) wie auch der »Geduld« (ebd.: 59) und des »aufgeschobenen Urteils« (ebd.: 63) einher, in der jede Seite davon ablässt, »das Ungewollte in Gewolltes zu überführen, sondern vielmehr eben 39 | Das »Antlitz« ist für Lévinas keine Gegebenheit der Anschauung, sondern ein Jenseits des Erkennbaren oder Beobachtbaren in der sichtbaren Erscheinung des Anderen, d.h. »die Weise des Anderen, sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet« (Lévinas 1987: 63). Der Andere geht folglich nicht in einem Wissen auf; er ist der unendliche Andere, der sich jeder Vermittlung in eine Totalität entzieht. In seiner Nähe gibt es kein »Wir« einer zeitlich geteilten Gegenwart. Im Von-Angesichtzu-Angesicht der ethischen Beziehung erfahren wir eine diachronische Transzendenz, welche die Totalität unterbricht. Butler lehnt die Vorstellung einer primären Alterität des Anderen ab, insofern sie »eine Szene zwischen zwei Menschen heraufbeschwört, von denen jeder ein Gesicht hat, das eine ethische Forderung übermittelt, die allem Anschein nach göttlichen Ursprungs ist« (Butler 2005: 14). 40 | Vgl. Slavoj Žižek (2005), der Lévinas’ Darstellung der Begegnung mit dem Antlitz des Anderen ebenso ablehnt, »da sie der Art und Weise nicht gerecht wird, in der der Dritte immer schon da ist« (ebd.: 100). Vgl. dagegen Susanne Dungs (2006), die bemängelt, dass »sich Butler zu sehr auf die Undurchsichtigkeit des Subjekts konzentriert und dadurch die Einzigartigkeit des Anderen vernachlässigt (ebd.: 259ff.) und Thomas Bedorf (2010), der für eine säkulare Lesart der Lévinasschen Alteritätstheorie plädiert (ebd.: 118ff.).

267

268

Behinder t sein - behinder t werden

die Unerträglichkeit des Ausgesetztseins als Zeichen, als Erinnerungsposten einer geteilten Verletzlichkeit, einer gemeinsamen Körperlichkeit, eines geteilten Risikos begreift« (ebd.: 135).41 Im Bekenntnis zu einer eingeschränkten Transparenz, eröffnet sich für das Subjekt die Möglichkeit, eine durch Sprache und den Anderen entstandene Relationalität zu erkennen: »Ich stelle fest, dass schon mein Entstehungsprozess den Anderen in mir impliziert, dass meine eigene Fremdheit mir selbst gegenüber paradoxerweise die Quelle meiner ethischen Verbindung mit anderen ist.« (Ebd.: 114) Anerkennung vollzieht sich innerhalb eines Prozesses, »durch den ich ein anderer werde als der, der ich gewesen bin, wodurch ich die Fähigkeit einbüße zu dem zurückzukehren, was ich gewesen bin« (ebd.: 41).

A nerkennung im heilpädagogischen P rozess Butlers Entscheidung, das »Ausgesetztsein an den Anderen« mit Hegels Theorie reziproker Anerkennung zu verbinden, hat Folgen für den Bildungsbegriff in der (Heil-)Pädagogik: Wenn das Antlitz des Anderen keine normative Größe – jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht – mehr darstellt, dem man sich ethisch anzunähern hat, dann kann auch nicht mehr mit Lévinas von »Bildung« als Entfremdung gegenüber dem irreduziblen Anderen ausgegangen werden: Mit »Bildung« ist dann nicht nur eine der zentralen gesellschaftlichen Praktiken moderner Subjektivierung zu verstehen, von der wir uns stets aufs Neue in negierender Weise distanzieren müssen, um »den Anderen in seiner wirklichen Rede von Angesicht zu Angesicht an[zu]sprechen« (Lévinas 1987: 95).42 Vielmehr ist mit ihr die ethische Aufgabe verbunden, neue Arten von Subjektivität hervorzubringen, »wenn sich die uns konstituierenden begrenzenden Bedingungen als formbar erweisen; sie entstehen, wo ein bestimmtes Selbst in seiner Verständlichkeit und Anerkennbarkeit bei dem Versuch aufs

41 | Auffallend ist hier die Nähe zu Richard Rortys Vorstellung einer Tugend der Ironikerin: »Sie meint, dass sie nicht durch eine gemeinsame Sprache, sondern nur durch Schmerzempfindlichkeit mit der übrigen Spezies humana verbunden ist, besonders durch die Empfindlichkeit für die Art Schmerz, die die Tiere nicht mit den Menschen teilen – Demütigung.« (Rorty 1989: 158) 42 | »Unsere pädagogische oder psychagogische Rede ist Rhetorik, Rede aus der Position dessen, der seinen Nächsten überlistet. […] Sie spricht den Anderen nicht von Angesicht zu Angesicht an, sondern von der Seite. […] Auf die […] Pädagogik verzichten, heißt, den Anderen in einer wirklichen Rede von Angesicht ansprechen. Dann ist das Sein in keiner Weise Objekt, es ist außerhalb aller Aneignung.« (Lévinas 1987: 94f)

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

Spiel gesetzt wird, die nach wie vor unmenschlichen Arten des ›Menschseins‹ offen zu legen und zu erklären« (Butler 2007: 177).43 (Heil-)Pädagogik ist voller Anredeszenen in einem »Wahrheitsregime«, das kulturellen Vorgaben von Werten und Normen folgt. Die Begegnung mit dem behinderten Anderen kann sich im imperialen Gestus von Aneignung vollziehen, sie kann sich aber auch in dem Bewusstsein gestalten, dass die Art und Weise, wie ich ihn wahrnehme, von verinnerlichten sozialen Normen abhängt. In diesem Fall würde ich feststellen: Diese Relationalität erweist sich als eine »normative Dimension unseres sozialen und politischen Lebens, als eine Dimension, in der wir gezwungen sind, uns über unsere wechselseitige Abhängigkeit klarzuwerden« (Butler 2005: 44). Der einzige Weg zur Selbsterkenntnis und Erkenntnis des Anderen führt über eine Vermittlung, die sich außerhalb des eigenen Selbst kraft einer durch soziale Normen vorgegebenen Konvention vollzieht. Mein »Ich« und der Andere sind beide außerhalb unserer selbst disponiert, weil »wir sozial verfasste Körper sind: an andere gebunden und gefährdet, diese Bindungen zu verlieren, ungeschützt gegenüber anderen und durch Gewalt gefährdet aufgrund dieser Ungeschütztheit« (ebd.: 37). Die postsouveräne (Heil-)Pädagogin ist sich im Klaren darüber, dass sie von konventionellen und ritualisierten Anredeszenen abhängig ist. In der pädagogischen Beziehung bringt sie nicht nur ihren eigenen Körper, sondern ebenso den des Kindes ins Spiel und enthüllt damit, dass dessen Körper durch die Anrede verletzbar ist: Als »›Instrument‹ einer gewaltsamen Rhetorik« übersteigt ihr Körper »die ausgesprochenen Worte und enthüllt den angesprochenen Körper, insofern dieser nicht mehr unter der eigenen Kontrolle steht (und niemals gänzlich stand)« (Butler 2006: 26f.).44 Diese Einsicht führt sie zu der ethischen Frage: »Wie können wir einer Verschiedenheit begegnen, die die Raster unserer Intelligibilität in Frage stellt, ohne den Versuch zu machen, diese Herausforderung auszuschließen, die von der Verschiedenheit ausgeht? Was könnte es bedeuten, mit der Beunruhigung durch diese Herausforderung leben zu lernen – zu spüren, wie sich die Sicherheit der eigenen epistemologischen und ontologischen Verankerung verflüchtigt und gleichwohl 43 | Vgl. Norbert Ricken (2006), der in seiner Genealogie des Bildungsbegriffs den verdeckten Zusammenhang von Bildung und Subjektivierung aufzeigt: »Weil Menschsein allein formal schon als ›Subjektsein‹ gilt, wird der überaus spezielle ›Modus der Subjektivierung‹ […] durch ›Bildung‹ als eine Figuration der Macht übersehen oder gar verdeckt.« (Ebd.: 340) 44 | »Wir sind bereits soziale Wesen mit komplexen sozialen Deutungen, sowohl wenn wir Entsetzen empfinden als auch wenn wir überhaupt nichts empfinden. Unsere Affekte sind niemals ausschließlich unsere eigenen: Affekte werden uns von Anfang an von anderswoher übermittel.« (Butler 2010: 54)

269

270

Behinder t sein - behinder t werden im Namen des Menschlichen den Willen aufzubringen, dem Menschlichen zuzubilligen, etwas anderes zu werden als das, für was man es traditionellerweise hält?« (Butler 2009a: 62f.)

Für den (Heil-)Pädagogen ist es unwichtig, ob einem Menschen »der Status einer ›Person‹ zukommt oder nicht; die Frage ist vielmehr, ob die sozialen Beziehungen für sein Bestehen und Gedeihen möglich sind oder nicht« (Butler 2010: 26).45 Da ein Leben, soll es lebbar sein, Unterstützung und förderliche Bedingungen benötigt, lehnt er eine »Ontologie der streng abgegrenzten Person« (ebd.) ab. Stattdessen spricht er sich für »eine Ontologie der Interdependenz von Personen mit reproduzierbaren und stabilisierenden Sozialbeziehungen und mit Beziehungen zur Umwelt und allgemein zu nicht-menschichen Lebensformen« (ebd.) aus. Das Recht auf Leben impliziert »die Pflicht zur Bereitstellung von Basisförderungen zur egalitären Minderung von Gefährdungslagen: Nahrung, Unterkunft, Arbeit, medizinische Versorgung, Ausbildung und Bildung, Bewegungsfreiheit und Meinungsfreiheit, Schutz vor Unterdrückung und Schutz der körperlichen Unversehrtheit« (ebd.: 28).46 Planung, Intentionalität und Handlungsorientierung werden folglich nicht außer Kraft gesetzt. Sie gelten als notwendig, aber unter anderen Voraussetzungen und unter Berücksichtigung einer Differenz, die sich als offener Interaktionsspielraum und als Möglichkeit zum Fremdwerden des eigenen Denkens gestalten lässt. Die ethische Aufgabe jeder Pädagogik besteht so gesehen darin, »uns zum Menschlichen zurückzuführen, wo wir nicht erwarten, es zu finden: in seiner Fragilität und an den Grenzen seiner Fähigkeit, verständlich zu sein« (Butler 2005: 178). »Bildung« erscheint dann nicht als Regieanweisung souveräner und selbsttransparenter Subjektivität, sondern als eine responsive »Erfahrung des Anderen unter Bedingungen des aufgeschobenen Urteils« (Butler 2007: 63). Die (Heil-)Pädagogin erfährt sich nicht mehr nur als ein »bildendes Ich«, das gegenüber einem »bildungsbedürftigen Du« spricht und handelt, sondern geht davon aus, dass das »Du« immer auch einen Teil von dem ausmacht, wer ihr »Ich« ist. Die reflexive Struktur des Ich wird verlassen, und nach der Be45 | Im Vergleich dazu sind für Axel Honneth nur solche Lebewesen »moralisch überhaupt verletzbar, die sich in dem Sinn reflexiv auf ihr eigenes Leben beziehen, dass es ihnen voluntativ um ihr eigenes Wohlsein geht« (Honneth 2000: 180). 46 | Mit Blick auf die Biowissenschaften bleibt Butlers Gedanke eines »lebbaren Lebens« allerdings noch recht vage: Stammzellenforschung und Abtreibung lassen sich ihrer Meinung nach rechtfertigen, »soweit klar ist, dass die Nutzung lebender Zellen die Chancen auf lebbares Leben verbessern kann. Ebenso lässt sich die Entscheidung zur Abtreibung damit begründen, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen nicht gegeben sind, die das spätere Leben dieses Fötus lebbar machen würden.« (Butler 2010: 28)

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

gegnung mit dem Anderen kehrt das Selbst nicht einfach in sich selbst zurück. Die Begegnung mit dem Anderen führt vielmehr zu einer Veränderung des Selbst, für die es kein Zurück gibt: »Anerkennung wird zu jenem Prozess, durch den ich ein anderer werde als der, der ich gewesen bin, wodurch ich die Fähigkeit einbüße, zu dem zurückzukehren, was ich gewesen bin.« (Ebd.: 41) Während Honneth den Begriff Anerkennung im Sinne existenzialer »Besorgtheit« bzw. »Anteilnahme« (Honneth 2005: 34f.) versteht, die wir gegenüber uns selbst, Menschen und Dingen einnehmen47, ist Anerkennung für Butler mit einer reflektierten Haltung verbunden, dass »man nicht souverän sein [muss], um moralisch zu handeln; vielmehr muss man seine Souveränität einbüßen, um menschlich zu werden« (Butler 2003a: 11): »Anerkennung zu fordern oder zu geben heißt gerade nicht, Anerkennung dafür zu verlangen, wer man bereits ist. Es bedeutet, ein Werden für sich zu erfragen, eine Verwandlung einzuleiten, die Zukunft stets im Verhältnis zum Anderen zu erbitten« (Butler 2005: 62). Um die Beziehung zum Anderen zum »Austragungsort der eigenen ethischen Verantwortlichkeit« (ebd.: 31) zu machen, ist es also erforderlich, dass wir die Anerkennung des Selbst wie des Anderen »in den Momenten unseres Unwissens aufs Spiel setzen« (ebd.: 180). Butlers Ethik ist kein reines Spiel, sondern mit gewissen Tugenden verbunden. Sie läuft darauf hinaus, eine tiefere Wahrnehmung der Bedingungen für die »Gefährdung eines Lebens« (Butler 2010: 10) zu entwickeln.48 »Wir werden nicht zunächst geboren und sind irgendwann später gefährdet; vielmehr ist das Gefährdetsein als solches mit der Geburt koextensiv« (ebd.: 22). Angesichts von Menschen mit Komplexer Behinderung müssen wir »uns fragen, was es heißen könnte, einen Dialog fortzuführen, für den wir keine gemeinsame Grundlage annehmen können, und wo wir uns gleichsam an den Grenzen unseres Wissens befinden und dennoch Anerkennung zu geben und

47 | Honneth (2005) leitet die elementare Struktur der Anerkennung anthropologisch aus dem Umstand ab, »dass wir uns in unserem Handeln vorgängig nicht in der affektiv neutralisierten Haltung des Erkennens auf die Welt beziehen, sondern in der existentiell durchfärbten, befürwortenden Einstellung des Bekümmerns« (ebd.: 2005: 41f.). 48 | Ähnlich wie die Systemtheorie warnt Butler (1997) zugleich vor möglichen Zwängen, die mit dem Anspruch auf Totalinklusion (behinderter Menschen) verbunden sein können: »Dass es keine letzte oder vollständige Inklusivität geben kann, ist […] eine Funktion der Komplexität und Geschichtlichkeit eines sozialen Feldes, das niemals durch irgendeine gegebene Beschreibung zusammengefasst werden kann und das aus demokratischen Gründen auch nie jemals zusammengefasst werden sollte« (ebd.: 301f.)

271

272

Behinder t sein - behinder t werden

zu empfangen haben: weil da jemand ist, der anzureden und dessen Anrede zu empfangen ist« (Butler 2005: 33).49

L iter atur Althusser, Louis (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg, Berlin. Balzer, Nicole (2007): »Die doppelte Bedeutung der Anerkennung. Anmerkungen zum Zusammenhang von Anerkennung, Macht und Gerechtigkeit«, in: Michael Wimmer/Roland Reichenbach/Ludwig Pongratz (Hg.): Gerechtigkeit und Bildung. Paderborn, S. 49-75. Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Frankfurt a.M. Benjamin, Jessica (2002): Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität, Gender, Psychoanalyse. Frankfurt a.M. Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2003a): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2003b): »Noch einmal: Körper und Macht«, in: Axel Honneth/ Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a.M., S. 52-67. Butler, Judith (2005): Gefährdetes Leben. Politische Essays. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2006): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2007): Kritik der ethischen Gewalt. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt a.M. 49 | Vgl. Ursula Stinkes (2008), die ähnlich argumentiert und davon ausgeht, dass Menschen mit Komplexer Behinderung keinen eigenen Bildungsbegriff benötigen: »Sie benötigen Anerkennung und Antworten auf ihre Selbst- und Lebensgestaltung. Wie alle Menschen sind sie genötigt, auf ihren Verhältnissen in ein Verhältnis zu treten. Sie dürfen pädagogische Anregungen, Hilfen, Unterstützungen erwarten, die ihre Verletzbarkeit achten und verantwortungsvoll experimentelle, schöpferisch-neue, begrenzte, aber niemals gewaltvolle Selbstrelationen zulassen. Hierfür sind entsprechende Bedingungen zu schaffen, die man als ›bildende Verhältnisse‹ bezeichnen kann, weil sie in Bedingungen und Kontexten leben, weil sie jede/r für sich eine/r unter anderen sind« (ebd.: 104).

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

Butler, Judith (2009a): Die Macht der Geschlechternormen. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2009b): »Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M., S. 221-246. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt a.M. Cavell, Stanley (2002): »Anerkennung und die Wiederentdeckung des Gewöhnlichen«, in: Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays, hg. von Espen Hammer und Davide Sparti. Frankfurt a.M., S. 35-110. Dederich, Markus (2007): Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld. Degener, Theresia (2009): »Die neue UN Behindertenrechtskonvention aus der Perspektive der Disability Studies«, in: Behindertenpädagogik 48 (3), S. 263-283. Dungs, Susanne (2006): Anerkennen des Anderen im Zeitalter der Mediatisierung. Sozialphilosophische und sozialarbeitswissenschaftliche Studien im Ausgang von Hegel, Lévinas, Butler, Žižek. Hamburg. Düttmann, Alexander G. (1997): Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung. Frankfurt a.M. Fornefeld, Barbara (Hg.) (2008): Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. München. Foucault, Michel (1973): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München Foucault, Michel (1981): »Ist es also wichtig, zu denken?« in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band IV (1980-1988) (2005), hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Nr. 296. Frankfurt a.M., S. 219-223. Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin. Foucault (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Frankfurt a.M. Geiling, Ute/Hinz, Andreas (Hg.) (2005): Integrationspädagogik im Diskurs. Auf dem Weg zu einer inklusiven Pädagogik? Bad Heilbrunn. Gugutzer, Robert/Schneider, Werner (2007): »Der ›behinderte‹ Körper in den Disability Studies. Eine körpersoziologische Grundlegung«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld, S. 31-53. Hetzel, Mechthild (2007): Provokation des Ethischen. Diskurse über Behinderung und ihre Kritik, Heidelberg. Hinz, Andreas/Körner, Ingrid/Niehoff, Ulrich (Hg.) (2008): Von der Integration zur Inklusion: Grundlagen – Perspektiven, 2. durchgesehene Auflage. Marburg.

273

274

Behinder t sein - behinder t werden

Honneth, Axel (2000): »Zwischen Aristoteles und Kant. Skizze einer Moral der Anerkennung«, in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt a.M., S. 171-192. Honneth, Axel (2003a): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Mit einem neuen Nachwort. Frankfurt a.M., S. 305341. Honneth, Axel (2003b): »Umverteilung als Anerkennung. Eine Erwiderung auf Nancy Fraser«, in: Ders. (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt a.M., S. 129-224. Honneth, Axel (2004): »Anerkennung als Ideologie«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung. 1 (2004) 1, S. 51-70. Honneth, Axel (2005): Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt a.M. Horster, Detlef (2009): »Anerkennung«, in: Markus Dederich/Wolfgang Jantzen (2009) (Hg.): Behinderung und Anerkennung. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik. Behinderung, Bildung, Partizipation, hg. von Iris Beck, Georg Feuser, Wolfgang Jantzen, Peter Wachtel. Band 2. Stuttgart, S. 153-159. Kuhlmann, Andreas (2005): »Behinderung und die Anerkennung von Differenz«, in: WestEnd 2 (2005) 1, S. 153-164. Lévinas, Emmanuel (1987): Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg a.M./München. Lévinas, Emmanuel (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg a.M./München. Mayer, Katrin (2001): »Was bedeutet Anerkennung der Differenz? Untersuchungen und weiterführende Bemerkungen im Anschluss an Judith Butler«, in: Monika Hofmann-Riedinger/Urs Thurnherr (Hg.): Anerkennung. Eine philosophische Propädeutik. Freiburg a.M./München, S. 122-134. Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk (2005): »Ambivalente Freiheit. Praktiken des Widerstands und leidenschaftliches Verhaftetsein bei Judith Butler«, in: DemoPunK/Kritik und Praxis Berlin (Hg.): Indeterminate! Kommunismus. Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur. Münster, S. 160-172. Porscher, Ralf/Rux, Johannes/Langer, Thomas (2008): Von der Integration zur Inklusion. Das Recht auf Bildung aus der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen und seine innerstaatliche Umsetzung. Baden-Baden. Ricoeur, Paul (2006): Wege der Anerkennung. Frankfurt a.M. Ricken, Norbert (2006): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. Wiesbaden. Rorty, Richard (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein, Frankfurt a.M./New York.

11. Auf’s Spiel geset zte Anerkennung

Rösner, Hans-Uwe (2006): »Inklusion allein ist zu wenig! Plädoyer für eine Ethik der Anerkennung«, in: Markus Dederich, Heinrich Greving, Christian Mürner, Peter Rödler (Hg.): Inklusion statt Integration? Heilpädagogik als Kulturtechnik. Gießen: Psychosozial, S. 126-141. Rösner, Hans-Uwe (2009): »Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz. Über die normativen Grundlagen der Heilpädagogik als Kulturwissenschaft«, in: Markus Dederich/Heinrich Greving, Christian Mürner, Peter Rödler (Hg.): Heilpädagogik als Kulturwissenschaft. Gießen: Psychosozial, S. 204-220. Schnell, Irmtraud/Sander, Alfred (Hg.) (2004): Inklusive Pädagogik. Bad Heilbrunn. Schönwälder-Kuntze, Tatjana (2010): »Zwischen Ansprache und Anspruch. Judith Butlers moraltheoretischer Entwurf«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 58 1, S. 83-104. Stinkes, Ursula (2008): »Bildung als Antwort auf die Not und Nötigung, sein Leben zu führen«, in: Barbara Fornefeld (Hg.): Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. München, S. 82-107. Taylor, Charles (1993): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a.M. Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.) (2007): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld. Weisser, Jan/Renggli, Cornelia (Hg.) (2004): Disability Studies. Ein Lesebuch. Luzern. Žižek, Slavoj (2005): Die politische Suspension des Ethischen. Frankfurt a.M.

275

12. Sehnsucht nach Normalität

Eine Nachbetrachtung zu Andreas Kuhlmann

D ie T yr annis des behinderten K örpers Die Nachricht vom Tod Andreas Kuhlmanns erschien in der Frankfurter Rundschau vom 9. Februar 2009. Sie trug den berührenden Titel »Mit der Kraft am Ende. Der Publizist Andreas Kuhlmann ist tot«. Andreas Kuhlmann wurde vor allem durch sein Buch Politik des Lebens. Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie (2001) über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Nur in Fachkreisen weiß man jedoch, dass er sich als Betroffener kritisch mit der zunehmenden Tendenz auseinandersetzte, »Behinderung« vorrangig als soziales Konstrukt zu betrachten. Sein Augenmerk richtete er hierbei u.a. auf die »Disability Studies« mit ihren Versuchen, »Behinderung« als Abweichung von Normalität zu beschreiben. Dabei hat er seine Argumente auf konzise Weise in den vier Texten Schmerz als Grenze der Kultur. Zur Verteidigung der Normalität (2003a), Therapie als Affront. Zum Konflikt zwischen Behinderten und Medizin (2003b), Akzeptanz ist zu wenig: Behinderte zwischen Angleichung und Abweichung (2004) und Behinderung und die Anerkennung von Differenz (2005) dargelegt und begründet. Die solidarische Botschaft im Nachruf der »Frankfurter Rundschau« stand ganz im Zeichen dieser Aufsätze. Sie lautete, dass es nicht nur die sozialen Verhältnisse waren, die Kuhlmann zeitlebens behinderten, sondern ebenso eine renitente Physis. »Er gehörte zu den brillantesten Köpfen seiner Generation, doch seine schwere körperliche Behinderung beeinträchtigte auch die Möglichkeiten, als Intellektueller akademisch und publizistisch so wirksam zu werden, wie es seiner Begabung gebührt hätte. Die spastische Lähmung, mit der Andreas Kuhlmann von klein auf leben musste, und besonders die damit einhergehenden Sprachschwierigkeiten, verhinderten ein Leben in der Öffentlichkeit, so dass er, solange das noch möglich war, allein als Autor tätig werden konnte.« (Frankfurter Rundschau, 09.02.2009)

278

Behinder t sein - behinder t werden

Wenig später hat sich Axel Honneth in seiner Erinnerung an Andreas Kuhlmann (2009) in ähnlicher Weise geäußert.1 Andreas Kuhlmanns intellektueller Werdegang wird von ihm im Kontext eines permanenten Kampfes mit einem »versehrten, aufsässigen und tyrannischen Körper« beschrieben, dem er in bewundernswerter Weise »ein Maß an geistiger Beweglichkeit und Freiheit abgetrotzt« (Honneth 2011: 7) habe. »Andreas Kuhlmann litt seit seiner Geburt, ausgelöst durch eine kurzzeitige Beeinträchtigung der Hirnfunktionen, an einer spastischen Lähmung, sie ließ ihn seinen Körper nie als angenehm, als entgegenkommend und mitschwingend erfahren, sondern stets nur als Grenze seiner vielen Vorhaben und Begabungen.« (Ebd.)

Eine der zentralen Herausforderungen seines Leben bestand Honneth zufolge darin, die Begrenzungen durch einen versehrten Körper »nicht bloß resignativ hinzunehmen, sondern so weit wie eben nur möglich mit seinen überreichen Geisteskräften zurückzudrängen, die Unverfügbarkeit des eigenen Körpers durch Auf bietung von Vorstellungsvermögen und intellektueller Phantasie zu kompensieren« (ebd.). Am Ende habe er schließlich sein Schicksal wie auch seinen Freitod »ohne jede Bitterkeit und Missgunst auf sich genommen« (ebd.). Für Axel Honneth steht nicht die Frage im Raum, inwieweit es institutionelle Barrieren waren, die verhinderten, dass es Andreas Kuhlmann nicht vergönnt war, eine angemessene akademische Karriere zu durchlaufen. Stattdessen beschreibt er ihn als einen hochbegabten Menschen, der einen letztlich aussichtslosen Kampf gegen seine Behinderung führen musste. Insbesondere sei es die Anthropologie Helmuth Plessners gewesen, die es Andreas Kuhlmann ermöglicht haben soll, »eine lange vertraute Erfahrung theoretisch« zu verarbeiten (ebd.: 12): Durch Plessner, der »die persönliche Autonomie des Menschen an die Voraussetzung eines spielerischen Umgangs mit der eigenen Physis« bindet (ebd.: 10), konnte er sich »zum ersten Mal in systematischer Selbstbesinnung klar« darüber werden, »welcher Abstand ihn aufgrund seiner körperlichen Behinderung von der Normalität des Menschen trennt« (ebd.). »Diese Vorstellung einer unaufhebbaren ›Differenz‹ des körperlich Behinderten, nicht in persönlicher, sondern in verallgemeinerter Form vorgetragen, bildet von nun an den 1 | Axel Honneth veröffentlichte seinen Nachruf zuerst in »WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung« 6. Jg. Heft 1, 2009, S. 3-12, die er zusammen mit Andreas Kuhlmann und anderen herausgibt. Der Test erschien erneut im Rahmen einer Aufsatzsammlung, Andreas Kuhlmann: An den Grenzen unserer Lebensform. Texte zur Bioethik und Anthropologie. Frankfurt a.M./New York (2011), die von Axel Honneth im Auftrag der vom Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a.M. herausgegeben wurde.

12. Sehnsucht nach Normalität roten Faden aller Arbeiten Kuhlmanns; sie ist in der anthropologischen These verankert, dass jeder physische Mangel an Beherrschung und Beseelung des eigenen Körpers eine Beeinträchtigung der eigenen Freiheit bedeutet, die durch keine noch so gut gemeinte Kompensationsmaßnahme aufzuheben ist.« (Ebd.: 10)

Das Wissen über den Zusammenhang von leiblichem Ausdrucksgeschehen und sprachlicher Kommunikation löste laut Honneth in Andreas Kuhlmann nach 1994 die Bereitschaft zu einer neuen Selbstverortung an den Rändern unserer Lebensform aus: »[E]r verfasste nun seine Beiträge nicht mehr aus der Mitte einer intellektuellen Öffentlichkeit, sondern begriff sich zunehmend als ein Außenseiter, der von einer existentiellen Randposition aus theoriepolitische Vorgänge beobachtet.« (Ebd.: 12) Die Themen seiner Zeitschriftenartikel, Rezensionen und Buchartikel sind nun die mit philosophischem Ernst betriebene Folge dessen, »was seine Behinderung ihm auferlegt hat« (ebd.: 12). In ihnen sedimentiert sich folgende Gewissheit: »Zur individuellen Selbstbestimmung gehört trivialerweise, auch wenn dies philosophisch häufig ignoriert wird, die Fähigkeit, ungeschmälert über seinen Körper verfügen und sich als leibliches Wesen erfahren zu können; entfallen bei einer Person wichtige Elemente dieses Vermögens, so kann sie auch nicht einfachhin wie ein autonomes Individuum betrachtet und als Gleicher unter Gleichen behandelt werden.« (Ebd.: 12)

Andreas Kuhlmann versuchte nun Honneth zufolge nicht mehr länger, »mit der überlieferten Rolle des Intellektuellen und Publizisten einfach zurechtzukommen«2, sondern gab sich »als Mitglied einer sozialen Minderheit zu erkennen« (ebd.: 13). Mit der Hinwendung zu ethischen Fragen über Chancen und Gefahren der Biomedizin veränderte sich »sein öffentliches Erscheinungsbild« (ebd.). Seine Bücher Sterbehilfe (1995) und Abtreibung und Selbstbestimmung. Die Intervention der Medizin (1996) kennzeichnen ihn als Vertreter eines »medizinethischen Humanismus, der das Leiden der physisch Behinderten und Schwerkranken ernst nimmt, ohne sie im gleichen Atemzug sofort als pure Objekte paternalistischer Bevormundung zu begreifen; gefragt ist vielmehr ein besonnener Diskurs mit den Betroffenen, in dem in jedem Einzelfall aufs Neue entschieden wird, wie die angemessene Balance zwischen faktischer physischer Beeinträchtigung und Autonomieanspruch zu wahren ist« (Honneth 2 | Andreas Kuhlmann arbeitete als Publizist für die »Frankfurter Rundschau«, »DIE ZEIT« und »Die Woche«. Mit Veröffentlichungen wie Fragile Freiheit. Die Linke muss den Liberalismus weiterdenken (1993), Saddam Hussein ist überall. Die neuen Szenarien der Gewalt und die Etablierung einer schwarzen Anthropologie (1994) und der Edition des Sammelbands Ansichten der Kultur der Moderne (1994) profilierte er sich als kritischer Intellektueller.

279

280

Behinder t sein - behinder t werden

2011: 12f.). Honneth sieht Andreas Kuhlmann zu dieser Zeit am Zenit seiner »Schaffenskraft und öffentliche[n] Wirkung« angekommen. Es seien aber auch »erste Symptome einer weiteren Beeinträchtigung seiner physischen Konstitution« zu erkennen gewesen (ebd.: 14): »[D]as Sprechen fällt ihm merklich schwerer, die Bewegungsabläufe sind mühsamer zu koordinieren, das kluge, Einvernehmen signalisierende Lächeln wird seltener – insgesamt ist nicht zu übersehen, dass die Langzeitwirkungen der spastischen Lähmung an Körper und Psyche zehren.« (Ebd.) Andreas Kuhlmanns Hauptwerk Politik des Lebens. Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie (2001) stellt eine auf kasuistischen Beschreibungen beruhende Auseinandersetzung mit dem Phänomen der neuen Reproduktionsmedizin und mit den Auswirkungen der Intensivmedizin, Transplantationschirurgie, Gendiagnostik und Gentherapie dar. Er begibt sich hier in eine doppelte Frontstellung sowohl gegen die Verfechter einer mit Heilsversprechen einhergehenden prädiktiven Medizin als auch gegen die Verächter einer kurativen Medizin, die sich zuvorderst an der Bedürftigkeit ihrer Patienten orientiert. Im Stil eines Michael Sandel (2012) beschreibt er als jemand, der vom Gegenstand seiner Untersuchungen unmittelbar affiziert ist, die »höchst ambivalenten Gefühle« (Kuhlmann 2001: 197), mit denen viele behinderte Menschen dieser Medizin begegnen: »Sie sind auf Hilfe angewiesen, weil sie nur so ihr Leben fristen können, und sie sind zumeist auch willens, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Bewusstsein, an die eigene, prekäre physisch-psychische Konstitution gebunden und auf Unterstützung angewiesen zu sein, ruft aber zugleich den Wunsch hervor, das eigene Leben dennoch so weit wie möglich selbst zu gestalten. Das Gefühl der Abhängigkeit und das Streben nach Unabhängigkeit können sich gegenseitig verstärken: Je mehr sich das Gefühl geltend macht, eingeschränkt zu sein, um so verzweifelter mag die Bemühung sein, die Grenzen, an die man stößt, zu überwinden. Und gerade dieser Versuch kann dann dazu führen, die körperlichen, seelischen und sozialen Eingrenzungen der eigenen Existenz besonders schmerzhaft zu empfinden.« (Ebd.)

Andreas Kuhlmann nimmt in seinem Buch auch die Perspektive von Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und Betreuenden ein, die sich »vor eine praktisch unlösbare Aufgabe gestellt sehen« (ebd.: 198): Einerseits sollen sie den Bedürfnissen und Autonomieansprüchen ihrer Patienten entgegenkommen, andererseits müssen sie ihnen auch auf fürsorgliche Weise begegnen, weil sie Menschen wahrnehmen, »die auf ihre Hilfe angewiesen sind und nur bis zu einem gewissen Grad wissen, was ›wirklich‹ gut für sie ist« (ebd.). In diesem Zusammenhang warnt er eindringlich vor der nicht selten vorkommenden Anmaßung advokatorisch handelnder Personen, die glauben »selbst am besten zu wissen, was für die Betroffenen wirklich gut ist« und dabei jene Grenzen

12. Sehnsucht nach Normalität

ignorieren, »die der Respekt vor dem Patienten« (ebd.) gebietet. Seine Kritik richtet sich aber ebenso gegen jene, die mit dem Foucault’schen »Konzept der ›Biomacht‹« zu Werke gehen, die »als eine Art Super-Subjekt, als Hyper-Organismus vorgestellt wird, der in unzähligen Einzeloperationen die Gesellschaft zu einem totalitären Zwangsverband zusammenschweißt« (ebd.: 205).

Z wischen allen S tühlen Ich lernte Andreas Kuhlmann auf der Berliner Tagung »PhantomSchmerz« vom 30. Mai bis 1. Juni 2002 kennen, die von der Stiftung Deutsches Hygiene Museum, der Aktion Mensch und der Humboldt-Universität Berlin veranstaltet wurde. Sein dortiger Vortrag Schmerz als Grenze der Kultur. Zur Verteidigung der Normalität (2003) schien in keiner Weise in diese Veranstaltung zu passen. Sein durch Susan Wendells Buch The rejected body. Feminist Philosophical Reflections on Disability (1996)3 ermutigtes Anliegen, die »Normalität« zu verteidigen, fand dort kaum Anklang.4 In normalitätskritischer Absicht wollte man auf dieser Tagung nämlich der Frage nachgehen, wie kulturelles Wissen über den Körper und das behinderte Subjekt produziert wird, wie sich Normalitäten und die damit verbundene Differenzkategorie »Behinderung« etablieren. Das Phänomen Behinderung sollte daher vor allem unter der Leitdifferenz »Normalität – Abweichung« als soziale, historische und kulturelle Konstruktion betrachtet werden.5 Wenige Tage vor Beginn der Tagung hatte ich meine Dissertation Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein (2002) fertiggestellt. Als ich mit Andreas Kuhlmann in einer Tagungspause darüber sprach, war das der Beginn einer mehrjährigen Diskussion 3 | In einer Mail vom 18. November 2002 schrieb er: »Wendell gelingt es auf bewundernswerte Weise, persönliche Erfahrung mit theoretischer Reflexion zu verbinden. Über weite Strecken macht gerade sie für mich besonders plausibel, in welchem Sinne es sinnvoll ist, von Behinderung als ›Konstrukt‹ und ›Artefakt‹ zu reden, um dann aber auch ganz deutlich die Grenzen zu benennen, an die man mit einem solchen Ansatz stößt.« 4 | Vgl.: Markus Dederich (2007: 25) und Anne Waldschmidt u.a. (Hg.) (2007: 14). Die Berliner Tagung gilt heute, gemeinsam mit der Dresdner Tagung Der (im-)perfekte Mensch (2001), als Gründungsveranstaltung der Disability Studies. 5 | Andreas Kuhlmann beschrieb mir seine damalige Position wie folgt: »Was ich in meinem Berliner Beitrag einzuklagen versucht habe, ist so etwas wie eine ›lebensweltliche‹ Perspektive: Der Rekurs auf die – selbst erlebte oder ›nachempfundene‹ – subjektive Erfahrung Betroffener muss erweisen, ob eine Abweichung von der Norm sie so sehr in ihren alltäglichen, elementaren Lebensvollzügen stört, eben ›behindert‹, dass dadurch ihre Lebensführung erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird.« (Kuhlmann 18.11.2002)

281

282

Behinder t sein - behinder t werden

zwischen uns. Es stellte sich schnell heraus: Während ich all seinen Beiträgen immer sehr viel abgewinnen konnte, sparte er seinerseits nicht mit pointierter Kritik an meiner Position. Ich erlebte Andreas Kuhlmann in Berlin als einen sehr aufmerksamen und gut verständlichen Gesprächspartner, der sich, wie ich noch im gleichen Jahr von ihm erfuhr, »in der deutschen Debatte völlig isoliert« fühlte. Axel Honneth bringt Andreas Kuhlmanns damalige Situation treffend auf den Punkt: »Von den Repräsentanten der Behindertenbewegung wurde er beargwöhnt, weil er die Realisierbarkeit einer einfachen Gleichbehandlung in Zweifel zog, die dekonstruktiven Kritiker einer sogenannten ›Differenzpolitik‹ brachten ihm ihren Unwillen entgegen, weil er auf der tatsächlichen‹ nicht bloß politisch-diskursiv erzeugten ›Differenz‹ des Behinderten bestand, und die Vertreter der offiziellen Medizin schließlich begegneten ihm mit Vorbehalten wegen seiner Warnungen vor den pathologischen Effekten einer medizinischen Technokratie.« (Honneth 2011: 14)

Andreas Kuhlmanns Grundgedanke beruht auf einer einfachen Überlegung: Wir können nicht über Behinderung reden, wenn geleugnet wird, dass es in vielen Fällen der Beeinträchtigung auch der Körper ist, der die betroffene Person »behindert«.6 Sein Argwohn richtete sich gegen Tendenzen, Behinderung als bloße Zuschreibung zu bagatellisieren: »Alles, was de facto in einer Gesellschaft über Behinderung gesagt wird, erscheint in dieser Sicht als das Produkt machtkonstituierender und machtstabilisierender Diskurse. Als grundlegende Unterscheidung, die im Sinne der Marginalisierung getroffen werde, wird dann stets die Dichotomie von Normalität und Anormalität genannt. Ein Mangel, eine Abweichung oder eine Behinderung wird dieser Argumentation zufolge im6 | Da ich selbst aufgrund eines Autounfalls seit Jahren unter chronischen Schmerzen leide, war mir dieser Standpunkt vertraut. In unseren Gesprächen kamen wir aber nie an den Punkt, um darüber zu reden, wie sehr der Schmerz oftmals »unsere Aufmerksamkeit in Beschlag« nahm und »den Horizont des Bewusstseins zusammenschrumpfen« (Kuhlmann 2003a: 122) ließ. Andreas Kuhlmann hätte von mir dann sicher gehört, wie einsam und dünnhäutig Schmerzen machen können, wie sehr die Textarbeit einerseits dabei hilft, »Abstand von den schmerzhaften Empfindungen« (ebd.) zu gewinnen, wie sehr das damit verbundene lange Sitzen am PC aber auch dazu beiträgt, die Schmerzen wachzuhalten. Wir hätten vielleicht auch über Erfahrungen mit unterschiedlichen Therapien gesprochen. Ich habe nichts davon erzählt, weil es mir anmaßend erschienen wäre, ihn als unversehrt erscheinender Mensch damit zu behelligen; Andreas Kuhlmann sprach wohl nicht darüber, weil er als behinderter Mensch gelernt hatte, nicht auf das Mitgefühl anderer zu setzen. Umso mehr hatte er das Anliegen, mit seinen Texten an dieses Mitgefühl zu erinnern.

12. Sehnsucht nach Normalität mer nur mit Bezug auf eine von der Gesellschaft vorgegebene Norm diagnostiziert; und dieses Urteil sei notwendigerweise mit der Abwertung, Kontrolle, Marginalisierung der als ›anormal‹ stigmatisierten Individuen verknüpft.« (Ebd.: 123f.)

Andreas Kuhlmann hielt es für falsch und auch für nicht wünschenswert zu glauben, wir könnten die Vorstellungen der Menschen über das, was Behinderung sei, von jeglichen negativen Konnotationen befreien: Im Interesse der betroffenen Menschen forderte er dazu auf, immer auch zu berücksichtigen, dass physische oder psychische Funktionsdefizite mit einer eingeschränkten oder sogar leidvollen Lebensperspektive verknüpft sein können. Sein Schicksal und seine theoretische Hinterlassenschaft erinnern in doppelter Weise daran, dass Behindertsein auch mit der spezifischen Konstitution des Einzelnen einhergeht. Auch nach seinem Tod bleibt die Frage aktuell und virulent, inwieweit sich sein Anliegen mit einer normalitätskritischen Sichtweise auf sinnvolle Weise verbinden lässt. Michel Foucaults Intention, in einem genealogischen Projekt Geschichte, Macht und Subjektivität zusammenzudenken, stand Andreas Kuhlmann skeptisch gegenüber. Gleichwohl blieb er hellhörig gegenüber Hinweisen, Foucault sei kein von verschwörungstheoretisch anmutenden Grundannahmen getriebener Theoretiker einer Biomacht, die als ein historisch veränderliches transzendentales Apriori sämtliche Felder der Gesellschaft durchdringe.7 Foucault spricht selbst von einer »Analytik« und nicht von einer »Theorie« der Macht (Foucault 1983: 102). »Macht« ist für ihn der Name einer komplexen strategischen und vor allem veränderlichen Situation8 und Namen tendieren dazu, 7 | Vgl. Honneth (1985: 196ff.) und Habermas (1985: 313ff.). Zur Jahrhundertwende dominierte zwar Thomas Lemkes Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität (1997), in der von Foucault als Kritiker einer neoliberalen Rationalität die Rede ist, der den Abbau sozialstaatlicher Leistungen und den zunehmenden Appell an Eigenverantwortung und Selbstsorge problematisiere. Doch es gab mit Wolfgang Detels Foucault und die klassische Antike. Macht, Moral, Wissen. (1998) auch andere Positionen, in denen eine weichere Lesart des Foucault’schen Machtbegriffs vorgeschlagen wird. Aus ihr folgt »keineswegs, […], dass alle Formen der regulativen Macht und alles sozialen Regeln allein aufgrund ihres Ausschlusscharakters zu beklagen sind. Vielmehr hängt es von unseren besten evaluativen Standards ab, welche sozialen Regeln wir ob ihres Ausschlusscharakters kritisieren und welche wir im Gegenteil gerade deswegen akzeptieren wollen« (Detel 2006: 302). 8 | Mit den Vertretern der Kritischen Theorie neigte ich anfangs selbst dazu, den Foucault’schen Machtbegriff einer allzu harten Lesart auszusetzen. Es gilt jedoch, ihn nicht mit dem einer repressiven Herrschaft gleichzusetzen, aus der man sich um jeden Preis zu befreien hat. Foucault geht mit dem Begriff der Biomacht viel vorsichtiger um als seine Befürworter hierzulande. An häufig zitierter Stelle heißt es: »Zweifellos muss

283

284

Behinder t sein - behinder t werden

»das Benannte festzuschreiben, es erstarren zu lassen, zu umgrenzen und als substanziell darzustellen« (Butler: 1998: 56). Es gilt daher, mit dem Aussprechen des Namens »Biomacht« nicht in die Falle zu laufen, alles was in unserer Gesellschaft abläuft darauf festzulegen.9 Andreas Kuhlmann lehnte nicht die sozialkonstruktivistische Perspektive auf »Behinderung« ab, sondern die Vorstellung, man habe nun damit eine »Formel« für das gefunden, was Behinderung »eigentlich« sei. Wenn man im Rahmen der Disability Studies von »Behinderung« als sozialem Konstrukt spreche, so argumentiere man zumeist auf jener essentialistischen Grundlage, die man andererseits vermeiden will. Mit deren strikter Grenzziehung zwischen Behinderung und chronischer Krankheit sah er die Gefahr verbunden, zu übersehen, wie sehr eine versehrte Physis »die Ausübung bestimmter Funktionen unmöglich« macht »oder das Befinden in Mitleidenschaft« (Kuhlmann 2003a: 122f.) zieht. Damit aber, so Andreas Kuhlmann, würde man einen guten Teil der Erfahrungen vieler behinderter Menschen ausgrenzen.10 man Nominalist sein: die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.« (Ebd.: 114) 9 | Mit einem Zitat aus Foucaults gerade auf deutsch erschienener Zusammenfassung der Vorlesungen von 1978/79 versuchte ich gegenüber Andreas Kuhlmann zu belegen, inwieweit Foucault den liberalen demokratischen Gesellschaften offen begegnete: »Der Liberalismus ist vom Prinzip durchdrungen: ›Es wird stets zu viel regiert‹ – oder dass man zumindest stets den Verdacht haben muss, dass zu viel regiert wird. Die Gouvernementalität darf nicht ausgeübt werden ohne eine ›Kritik‹, die viel radikaler ist als eine Prüfung der Optimierung. […] In ihrem Namen sucht man zu wissen, warum es notwendig ist, dass es eine Regierung gibt, inwieweit man ohne sie auskommt, wo ihr Eingreifen unnütz oder schädlich ist.« (Foucault 1979: 1021f.) 10 | Andreas Kuhlmann setzte sich auch mit meinem Versuch auseinander, die Foucault’sche Machttheorie mit einer durch Lévinas inspirierten Ethik zu verknüpfen. In einem Schreiben teilte er mir hierzu mit: »Im Wesentlichen glaube ich, dass unsere Fragen, was die moralische Seite angeht, die selbigen sind, wenn ich mir auch beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie man bei ihrer Beantwortung ohne jeden Essentialismus, ohne jede ›Anthropologie‹ auskommen soll. Ich glaube auch, dass eine Anthropologie, die an Plessner anschließt, ohne falsche ›Festschreibungen‹ auskommt. Wie sie aber mit Hinblick auf die akuten Fragestellungen ›fortzuschreiben‹ wäre, ist mir selbst noch ein Rätsel; dieses zu lösen, überfordert wohl auch meine philosophische Kompetenz.« Außerdem berichtete er mir von dem großen Eindruck, den Judith Butlers in Frankfurt gehaltene Adorno-Lectures auf ihn gemacht haben, die wenig später unter dem Titel Kritik der ethischen Gewalt (2003) erschienen sind: »Da ich zur Zeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung eine kleine, halbe Stelle habe, war ich vor Ort. Butler hat mich überaus positiv überrascht, sie hat in eindrucksvoller Weise ver-

12. Sehnsucht nach Normalität

Im Rückblick lassen sich manche seiner Sätze als versteckte Hinweise auf die eigene körperliche Verfassung zur damaligen Zeit lesen und als Ausdruck der Befürchtung, dass das eigene Leiden an einem versehrten Körper von anderen nicht mehr wahrgenommen werden könnte: »Die Feststellung, dass Beeinträchtigungen keineswegs die gesamte Lebensführung einer Person in Mitleidenschaft ziehen müssen, darf nicht dazu führen zu leugnen, dass viele eben tatsächlich mit ihrem Körper höchst negative, häufig dramatisch frustrierende Erfahrungen machen. Und es reicht auch nicht aus, hastig zu beteuern, dass man dies auch keineswegs beabsichtige, und dann doch wieder plakativ von der »Konstruiertheit« von Behinderung zu sprechen. Behinderte leiden ja nicht nur darunter, dass ihr Leben als minderwertig abqualifiziert wird. Sie leiden in vielen Fällen auch darunter, dass ihre Mitmenschen sich von den Schwierigkeiten, mit denen sie zu tun haben, kein angemessenes Bild machen können und vielleicht auch nicht wollen.« (Ebd.: 123)

Andreas Kuhlmanns Überzeugung, die Dekonstruktion würde zu einer schleichenden Aufgabe therapeutischer Maßnahmen in unserer Gesellschaft führen, hat mich damals erstaunt, glaube ich doch, in meinen Arbeiten den Begriff der »Sorge für den Anderen« mit Bezug auf Emmanuel Lévinas stark zu machen. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, sinnvolle therapeutische Maßnahmen als gewaltförmige Normalisierungspraktiken abzuqualifizieren. In der Diskussion machte ich ihn damals auf Ursula Stinkes‹ wichtigen Beitrag Zur schwierigen Frage nach der Anerkennung – Fürsorge oder Solidarität für Menschen mit Behinderung? (2002) aufmerksam. Stinkes teilt mit mir die Überzeugung, dass die Dekonstruktion des Behindertenbegriffs eine ethische Bewegung der Anerkennung darstellt, die nicht in Ignoranz bzw. Wahrnehmung von bloßer Differenz endet.11 Beide problematisieren wir Axel Honneths Ansucht, ihre ja hinlänglich bekannte Kritik von Identitätskonstruktionen in Hinblick auf eine richtig verstandene Ethik der Anerkennung zu überschreiten. Auch sie rekurriert dabei auf den späten Foucault einerseits, auf Lévinas andererseits. Ich kann allerdings nicht behaupten, dass ich ihre sehr dichten Reflexionen schon wirklich begriffen hätte.« (Kuhlmann: 18.11.2002) 11 | Dabei bemühte ich auch Jacques Derrida, um deutlich zu machen, dass der »Essentialismus« nicht überwunden, sondern nur stets auf Neue dekonstruiert werden kann. Mit Derrida, so meine weitere Überlegung, lässt sich sogar auf die Gefahr hinweisen, dass ein naiver Antiessentialismus zu einer gefährlichen Neutralisierung von Oppositionen (z.B. behindert-nichtbehindert) führen könnte: »Die Dekonstruktion kann sich nicht auf eine Neutralisierung beschränken oder unmittelbar dazu übergehen: sie muss durch eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wissenschaft, eine doppelte Schrift eine Umkehrung der klassischen Opposition und eine allgemeine Verschiebung des Systems bewirken. Allein unter dieser Bedingung wird die Dekonstruktion sich die Mittel

285

286

Behinder t sein - behinder t werden

erkennungstheorie, insoweit in ihr »die Fürsorge der Solidarität und Gerechtigkeit gleichsam ›angeheftet‹ wird« (Stinkes 2002: 215, Rösner 2002: 120ff.). Gemeinsam gehen wir mit Lévinas von der Grundannahme aus: »Verantwortung für den Anderen entsteht […] nicht durch Übernahme der Verantwortung oder durch nachträgliche Achtung, Respektierung, Toleranz. Denn sie entspricht nicht den freiheitlichen Möglichkeiten des Subjekts. Sie geht der Freiheit voraus und kennt kein Warum.« (Stinkes 2002: 214)

Auf dieser Grundlage setzt sich Stinkes gegen eine polarisierende Kritik am Begriff der Fürsorge und Wohltätigkeit ein, wie sie z.B. die Madrider Deklaration zum »Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen« 2003 vornahm: War »ehedem von Menschen mit Behinderung die Rede, so wurden sie als defizitäre Dubletten des Normalen begriffen. Nun werden sie verstanden als kompetente autonome Dubletten des Normalen« (ebd.: 216). Andreas Kuhlmann schrieb mir Ende 2002, mit meinem Verweis auf Lévinas hätte ich einen Aspekt aufgegriffen, den er bisher gedanklich noch nicht ausreichend eingeholt habe. Im Januar 2003 sendete er mir seinen Vorabruck von Therapie als Affront (2003b).12 Darin würdigte er zunächst das neuere politische Anliegen, behinderte Menschen nicht mehr primär als Objekte der Beverschaffen, um in das Feld der Oppositionen, das sie kritisiert, und das auch ein Feld nichtdiskursiver Kräfte ist, eingreifen zu können.« (Derrida 1988: 313) 12 | Weiterhin schrieb mir Andreas Kuhlmann: »Wie Sie sehen werden, reagiere (!) ich mit meiner Position vor allem auf Vereinseitigungen und Abstraktionen, die ich in der Debatte über Behinderung zu beobachten glaube. Deshalb spreche ich auch von Fürsorge in einem durchaus konkreten Sinne als von einer solchen, die bestimmte Personen in besonderer Weise beanspruchen dürfen. Auch bei Stinkes sehe ich die Tendenz, dass sie diese Form der Fürsorge mit mitleidiger Herablassung, Entmündigung etc. gleichsetzt. Hiergegen argumentiert Susan Wendell in »The rejected body« meiner Ansicht nach sehr einleuchtend: Wir fordern doch auch im pädagogischen Bereich, insbesondere in Hinblick auf Kleinkinder, fürsorgliches Verhalten, und wir trauen es uns zu, dieses mit der Respektierung, ja der Förderung einer zunehmend autonomen Persönlichkeit zu verbinden. Deshalb bleibe ich dabei: Es geht an der Realität vorbei und muss fatale Konsequenzen haben, Fürsorge in dem von mir gemeinten Sinne zu diskreditieren. Sie und Ursula Stinkes argumentieren auf einer ganz anderen Ebene: Sie wollen den ›moral point of view‹ ›begründen‹, Sie fragen, wie sich Fürsorge, Verantwortung, Respekt, Achtung etc. zueinander verhalten, und hier taucht Verantwortung und Fürsorge auf einer sehr fundamentalen und deshalb in der begrifflichen Fassung notwendigerweise abstrakt anmutenden Ebene auf. Hier gibt mir Ihre Antwort, soweit ich sie verstehe, zunehmend zu denken, und die anders lautende Position, die Axel Honneth am Ende des Aufsatzes Das Andere der Gerechtigkeit (2000) gibt, erscheint auch mir inakzeptabel.

12. Sehnsucht nach Normalität

treuung und als Empfänger von Fürsorgeleistungen zu betrachten, sondern als Personen mit eigenen Fähigkeiten und mit subjektiven Rechtsansprüchen. Er sah nun den Gewinn der dekonstruierenden Kritik an einem naturalistischbiologistischen Reduktionismus darin, dass sie mit der Sicht aufräumt, das Befinden einer behinderten Person manifestiere sich weitgehend durch ein Leiden an einer körperlichen, seelischen oder geistigen Schädigung. Gleichwohl warnt er davor, »den Konnex zu lockern oder aufzulösen […], der für viele zwischen der Schädigung einer Person und einer ihr zugeschriebenen eingeschränkten Lebensqualität zu bestehen scheint« (Kuhlmann 2003b: 151): Sowohl die auf sozialpolitische Veränderungen ausgerichteten Bürgerrechtsperspektive als auch die kulturwissenschaftlich orientierten Disability Studies bringen die fatale Botschaft in die Welt, dass behinderte Menschen nicht primär an dem Zustand ihres Körpers oder ihrer Psyche leiden, und auch nicht darunter, bestimmte Fähigkeiten wie Gehen, Hören, Sprechen nicht zu besitzen; leidvoll sei vor allem die Erfahrung, allgemeine Möglichkeiten der Partizipation und selbstbestimmten Lebens durch Kommunikation, Mobilität und Arbeit nicht zu besitzen. Während die Bürgerrechtsbewegung postuliere, »dass beeinträchtigte Personen unter optimierten Bedingungen praktisch alle wesentlichen Funktionen ausüben können sollen, die ihnen die gesellschaftliche Partizipation erlauben würden« (ebd.: 154), gingen die dekonstruktiv ausgerichteten Normalisierungskritiken über die Erwartung hinaus, dass die Gesellschaft die volle Funktionsfähigkeit herstellen sollte: »Nicht so sehr manifeste Barrieren, sondern mentale Strukturen und kulturelle Schemata sind es demnach, die beeinträchtigte Personen daran hindern, ihr eigenes, sich generalisierenden Behauptungen gerade entziehendes Dasein zu führen« (ebd.). Das Skandalöse in beiden Positionen besteht für Andreas Kuhlmann erneut darin, dass eine Beeinträchtigung nicht mehr in einen kausalen Zusammenhang mit der Tatsache gestellt wird, dass sich jemand zuweilen »als ›defizient‹ erfährt und an seiner Existenz leidet« (ebd.: 155). »Die Diagnose, dass ein Mangel, eine Abweichung, eine Behinderung besteht, wird dieser Argumentation zufolge immer nur im Hinblick auf eine vorgegebene Norm gestellt. Und dieses Urteil soll notwendigerweise mit der Abwertung, Kontrolle, Marginalisierung der als ›anormal‹ stigmatisierten Individuen verknüpft sein. Dieser argumentative Zusammenhang ist für die Theorie der ›Normalisierung‹ zentral: Jede Form der Unterscheidung zwischen ›behindert‹ und ›nichtbehindert‹ soll die praktische Ausgrenzung und Unterjochung bereits implizieren.« (Ebd.: 156)

Ich fühle mich durch Ihre Anregung motiviert, diese Fragestellung auch lektüremäßig weiter zu verfolgen.« (Kuhlmann 23.01.2003)

287

288

Behinder t sein - behinder t werden

Mit Recht argumentiert Andreas Kuhlmann scharf gegen die fahrlässige Behauptung, dass jede Art der kurativen oder therapeutischen Intervention eine unzulässige Beschneidung der Selbstbestimmung und des Anspruchs auf eine eigene Identität darstellt: »Es ist dieses Verständnis von diagnostischen und therapeutischen Verfahren als im doppelten Sinne ›diskriminierenden‹ Praktiken, das zum Generalverdacht gegenüber der neuen Medizin führt.« (Kuhlmann 2003b: 156f.) In diesem Zusammenhang erneuert er seinen Vorwurf, dass damit »die Erfahrung, die Betroffene selbst mit ihrem Körper oder ihrer Psyche machen, schon aus systematischen Gründen irrelevant« (ebd.: 157) wird: »Und ohne die Berücksichtigung solcher Erfahrungen kann dann auch nicht mehr darauf reflektiert werden, dass diese Personen eben in unterschiedlicher Weise durch ihre ›Beeinträchtigung‹ in Mitleidenschaft gezogen werden, spezielle Bedürfnisse haben, häufig tatsächlich auf individuelle Betreuung angewiesen sind. Es wird nur noch pauschal in der Diktion der poststrukturalistischen Philosophie von ›Differenzen‹ oder ›dem absolut Anderen‹ gesprochen, die oder den es zu respektieren gelte; reale Unterschiede, die für das Handeln relevant wären, werden jedoch konsequent ausgeblendet.« (Ebd.: 157)

Andreas Kuhlmann sieht in allen Daseinsbereichen negative Folgen für behinderte Menschen. Im Alltag: die Gefahr einer Überforderung durch Partizipation, dadurch dass behinderte Menschen mit ihren besonderen Bedürfnissen und Wünschen allein gelassen werden. Auf der politischen Ebene: Wenn von den realen Bedürfnissen und konkreten Befindlichkeiten und Situationen behinderter Menschen völlig abstrahiert wird, kann auch keine Unterstützung durch die Solidargemeinschaft mehr eingefordert werden. Die eigentlich Leidtragenden sind dann diejenigen, insbesondere Frauen, die keine Entlastungshilfen mehr erhalten und darauf verpflichtet werden Fürsorgeleistungen zu erbringen. Im therapeutischen Kontext: Die Skepsis gegenüber einer Medizin als Biomacht kann dazu führen, dass Menschen mit Behinderungen ihre Repräsentanz im Medizinsystem verlieren. Darüber hinaus, so Andreas Kuhlmann, lassen sich keine evaluativen Standards in der Biomedizin mehr benennen, wenn das ganze System als Bedrohung für versehrte Menschen abqualifiziert wird. Auf der Tagung »Behinderung und medizinischer Fortschritt« vom 14.16. April 2003 in Bad Boll, die von der Akademie für Ethik in der Medizin e.V., Göttingen und dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft, Berlin, in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie veranstaltet wurde,13 trug 13 | Das Zustandekommen dieser Tagung ging auf einen Vorschlag zurück, den Andreas Kuhlmann Ende 2011 der Akademie für Ethik in der Medizin gemacht hat. Seine Absicht war es, ein öffentliches Forum herzustellen, in dem man sich dem spannungsvollen Ver-

12. Sehnsucht nach Normalität

Andreas Kuhlmann im Wesentlichen die Gedanken seines zeitgleich in der Zeitschrift »Ethik in der Medizin« veröffentlichten Beitrags Therapie als Affront (2003b) vor. Thema der Tagung war es, Probleme im Verhältnis zwischen Behinderung und Medizin im direkten Kontakt zwischen Vertretern von Medizin, Medizinethik und Behindertenbewegung anzusprechen. Im Ergebnis kam es dabei zu der Gründung einer Arbeitsgruppe »Medizin(ethik) und Behinderung«, die den Auftrag erhielt, das Thema Behinderung systematisch auf die Agenda der Medizinethik zu setzen. Doch auch hier muss Andreas Kuhlmann wohl die ernüchternde Erfahrung gemacht haben, dass man seinen Vorschlag, das Thema der körperlichen Behinderung aus philosophisch anthropologischem Blickwinkel zu beleuchten, von Seiten der Behindertenbewegung weitgehend ignorierte.14 Am 18. November 2002 teilte mir Andreas Kuhlmann mit, dass er seine Kritik an der Sichtweise der Disability Studies in einem kleinen Aufsatz für »DIE ZEIT« mit dem Titel Normalität als Affront noch einmal zugespitzt habe. Er sandte mir den Text zu, zumal ich darin als »exemplarischer Fall« erscheinen sollte. Dabei versäumte er es nicht, mich vorzuwarnen, dass meine Position »nur knapp dargelegt« und mit »einer Spur Polemik« versetzt wurde: »Ich hoffe dass dennoch deutlich wird, dass ich Ihre Reflexionen sehr ernst nehme und sozusagen niemanden davon abschrecken möchte, sich intensiv mit ihnen zu befassen.« »DIE ZEIT« hat Andreas Kuhlmanns Beitrag damals nicht angenommen. Das bisher noch unveröffentlichte Manuskript (Kuhlmann 2002) zeugt im Vergleich zu dem wenig später ausgearbeiteten Text Therapie als Affront (2003b) noch von den schmerzhaft erlebten Erfahrungen, die Andreas Kuhlmann auf der Tagung »PhantomSchmerz« gemacht hatte. Daher erlaube ich mir mit Zustimmung von Bettina und Robert Kuhlmann, den Text an dieser Stelle zu veröffentlichen:15

hältnis von Behindertenbewegung und Medizin widmete. Am 17.12.2002 schrieb er mir, dass es sein Anliegen sei, Antworten auf folgende Frage zu finden: »Warum […] werden nicht nur ganz bestimmte, insbesondere ›selektive‹ medizinische Verfahren heute von Behinderten attackiert, sondern viel grundsätzlicher noch der Gedanke der »therapeutischen Korrektur« in Frage gestellt?« 14 | In einer Mail vom 26.10.2004 meinte er: »Ich glaube, meine Kritik an der Normalisierungskritik stets moderat und sachlich vorgebracht zu haben – soweit das eben möglich ist in einer Angelegenheit, von der man selbst betroffen ist. […] Leider gibt es eben im links-alternativen Milieu tatsächlich fest zementierte Diskursenklaven, die das hervorbringen, was von konservativer Seite oft denunziatorisch als »political correctness« oder »Gutmenschentum« bezeichnet wird.« 15 | Axel Honneth danke ich dafür, dass er bereit war, die Veröffentlichung zu unterstützen und den Kontakt mit Bettina und Robert Kuhlmann herzustellen.

289

290

Behinder t sein - behinder t werden

N ormalität als A ffront. E in K ulturk ampf im N amen von B ehinderten gegen die H errschaf t der Ü blichkeiten (A ndre as K uhlmann 2002) Die heftig umstrittene »selektive Fortpflanzung« wurde jüngst um eine befremdliche neue Option bereichert: Zur Debatte steht inzwischen, ob Behinderte – etwa Gehörlose oder Kleinwüchsige – gezielt Kinder zeugen dürfen, die dieselbe Schädigung wie sie selbst aufweisen. Diese Frage wurde kürzlich auf einer Tagung in Berlin von Rosemarie Garland Thomson, einer der führenden Vertreterinnen der »Disability Studies« in den USA, entschieden bejaht. Ihre Begründung: Die bewusste Zeugung von Menschen, die vom sogenannten »Normalmaß« abwichen, würde die durch die Gesellschaft vorgegebenen und sanktionierten Standards in Frage stellen und womöglich unterminieren. Man kann dieses Statement nicht ernst genug nehmen, wenn man verstehen will, wie radikal bestimmte Fraktionen der Behindertenbewegung etablierte Regeln inzwischen attackieren. So ist der Diagnose und Prognose des Soziologen Wolfgang van den Daele zwar durchaus zuzustimmen (vgl. DIE ZEIT vom 2. Oktober 2002): Die Tötung schwer geschädigter Föten oder Embryonen etwa nach einer Amniozentese oder Präimplantationsdiagnostik dürfte weder dazu führen, dass das Lebensrecht geborener Behinderter in Frage gestellt wird, noch, dass das inzwischen erreichte vergleichsweise hohe Niveau der Integration von Behinderten in die Gesellschaft rückgängig gemacht wird. Dieser Optimismus wird jedoch radikale Behindertensprecher und -fürsprecher keineswegs beruhigen. Im Gegenteil: Für sie ist gerade die Integration ein durchaus zwiespältiger Prozess. Aus ihrer Sicht führt diese nämlich dazu, dass die Mehrheitsgesellschaft in ihren Vorstellungen von menschlicher »Normalität« bekräftigt wird und Menschen mit Abweichungen zur Konformität gezwungen werden. Die Abtreibung oder Nicht-Implantation bei diagnostizierter schwerer Schädigung hingegen gilt ihnen als die rabiateste Form, sich der Behinderten durch »Vorsorge« ganz zu entledigen. Die These, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen einem allumfassenden, kaum zu entrinnenden »Normalisierungsdruck« ausgesetzt sind, beruht auf zwei überaus voraussetzungsreichen, fragwürdigen Behauptungen: Zum einen wird deklariert, der Zwang zur Anpassung an gesellschaftliche »Üblichkeiten« sei etwas, das nur für die entwickelten Gesellschaften der vergangenen zweihundert Jahre charakteristisch sei. Erst in den »Modernen Zeiten« also werde »Normalität« ausdrücklich zum Maßstab erhoben, an dem man die Verfassung und das Verhalten aller Mitglieder einer Gesellschaft bemisst. Zweitens – und nur hierum kann es im Folgenden gehen – heißt es, dass die Identität, das Selbstverständnis von Personen überhaupt erst dadurch entstehe, dass sie von der Gesellschaft in bestimmter Weise klassifiziert, im ungünstigen Falle stigmatisiert werden. Strittig kann natürlich nicht sein, dass

12. Sehnsucht nach Normalität

das Bild, das sich andere von uns machen, immer auch dazu beiträgt, wer wir selbst eigentlich »sind«. Die von den »Disability Studies« (wie auch den Nachbardisziplinen der »Gender Studies« oder »Queer Studies«) verfochtene These ist aber fundamentaler: Aus ihrer Sicht sind menschliche Individuen wirklich nichts anderes, als wozu sie von der Mehrheitsgesellschaft abgestempelt werden. Mit einer in akademischen Milieus unablässig reproduzierten Formel aus der Feder Michel Foucaults heißt dies, die Identität von Personen sei ein »performativer Effekt«, also das Produkt von Sprachregelungen und Handlungsweisen, mit denen die Einzelnen in das Prokrustesbett der Gesellschaft gezwängt werden. Für das Verständnis von Behinderung haben diese Prämissen weitreichende Folgen: Behinderung ist aus dieser Sicht nämlich nichts, was in irgendeiner Weise kausal mit der physischen oder psychischen Ausstattung der betroffenen Person verknüpft ist; Behinderung soll überhaupt erst dadurch entstehen, dass diese Person von anderen als abweichend wahrgenommen und ihr zugleich essentielle Mängel zugeschrieben wird. Genau dieser Zusammenhang ist für die maßgeblichen Autoren und Aktivisten zentral: Die Wahrnehmung von jemandem als andersartig, abweichend, fremd soll zwangsläufig dazu führen, dass er auch als minderwertig eingestuft und in mehr oder minder brutaler Form an den Rand gedrängt oder ganz aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Nur wenn überhaupt nicht mehr zwischen Normalität und Anormalität, zwischen durchschnittlichen und abweichenden Individuen, zwischen halbwegs integrer und massiv gestörter Identität unterschieden wird, soll die ganze Pluralität menschlicher Existenz sich entfalten können. Der paradoxe Slogan, der hierfür wirbt, lautet: »Es ist normal, nicht normal zu sein«. Nun hat die Infragestellung von Stereotypen natürlich ihren guten polemischen Sinn. Die verbreitete Vorstellung nämlich, dass eine Behinderung den »Kern« der betroffenen Person ausmacht und sie zu einer mangelhaften, unglücklichen Existenz verurteilt, hat schreckliche Konsequenzen nach sich gezogen. Wurden diese Menschen nicht zwangsinterniert oder gar getötet, so wurden sie häufig zum Objekt therapeutischer Zwangsbeglückung. Die Ausstellung Der (im)perfekte Mensch. Vom Recht auf Anderssein hat im letzten Jahr in Dresden, im vergangenen Frühjahr in Berlin erschreckende historische Beispiele medizinischer »Normalisierung« gezeigt. Nicht nur die Vertreter der »Disability Studies« wehren sich deshalb mit gutem Grund gegen jede Art biologistischer Reduktion beim Verständnis von Behinderung und vor allem gegen die Anmaßung jener Mediziner oder Sonderpädagogen, die meinen, nur sie könnten den Betroffenen durch Maßnahmen der »Korrektur« zu einem einigermaßen erträglichen Leben verhelfen. Dennoch sind die genannten Prämissen, an denen sich diese legitime Kritik heute meistens orientiert, nicht haltbar, und sie erschweren eine breite

291

292

Behinder t sein - behinder t werden

gesellschaftliche Verständigung über den angemessenen Umgang mit Behinderung. Zunächst einmal hat die ominöse Rede von Behinderung als »Effekt« von Diskursen und Praktiken mit der Selbsterfahrung vieler Betroffener wohl nichts gemein. Wer sich mit einer renitenten Physis auseinander zu setzen hat, kann gar nicht anders, als sich an »Üblichkeiten«, an Lebensplänen zu orientieren, die er in der Gesellschaft vorfindet. Auch eine Person, die sich weitgehend von der Macht der Stigmata freigemacht hat und ganz und gar ihr eigenes Leben führen möchte, muss sich ja an irgendwelchen Mustern orientieren. Meistens wird bei diesen Menschen der Wunsch vorherrschen, zunächst einmal ein möglichst normales Leben zu führen: die Welt auf vielfältige Art und Weise erfahren, sich freizügig bewegen, unbeschwert kommunizieren zu können und anderes mehr. Wo elementare Lebensvollzüge in Mitleidenschaft gezogen sind, erscheint die Möglichkeit, ein durchschnittliches Leben zu führen, als etwas, das sich keineswegs von selbst versteht und deshalb besondere Attraktivität besitzt. Dass nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die natürliche Ausstattung des Menschen Normalitätsstandards vorgibt, zeigt sich spätestens bei körperlichem Unwohlsein, bei Schmerz, schließlich und endlich beim Exitus. In diesen Fällen ist der Körper von der normalen Funktionsweise abgewichen, und die Natur hat mit entsprechenden Sanktionen reagiert. Doch auch der Umgang mit behinderten Personen dürfte keineswegs davon profitieren, wenn man die psycho-physische Realität durch die Behauptung zum Verschwinden zu bringen sucht, nur Stigmatisierungen seien daran schuld, dass Menschen überhaupt die Erfahrung von Entstellung, Störung, Hilflosigkeit machen. Wenn »Behinderung« in den entsprechenden Äußerungen ständig in Anführungszeichen gesetzt wird und damit signalisiert werden soll, dass es so etwas eigentlich gar nicht gibt, ist dies für die potentielle Solidargemeinschaft äußerst komfortabel. So genau möchten es die meisten Nicht-Behinderten nämlich tatsächlich gar nicht wissen. Wird auch das Ziel der Integration generell gutgeheißen, so bedeutet dies doch keineswegs, dass man bereit ist, im konkreten Fall genau hinzugucken, gar nachzufragen, wie es den Betroffenen geht, was ihnen in ihrer individuellen Situation das Leben vielleicht erleichtern könnte. Dass dem unsäglichen bundespräsidialen Diktum, dass wir eigentlich doch alle irgendwie behindert seien, von niemandem widersprochen wird, spricht Bände. In der kunterbunten Vielfalt menschlichallzumenschlicher »Abweichungen« werden dann die spezifischen Bedürfnisse jener, die in der Tat gravierende Probleme haben, gar nicht mehr wahrgenommen. Deshalb dürfte es das gesellschaftliche Klima keineswegs verbessern, wenn die prominente Behindertenaktivistin Theresia Degener gegen den »Terror der Normalität« zu Felde zieht und empfiehlt, Behinderung als »lifestyle« zu zelebrieren. Aber auch der Gewinn einer akribischen theoretischen »Dekonstruktion« ist zweifelhaft. So hat Hans-Uwe Rösner, der an der Zivildienstschule

12. Sehnsucht nach Normalität

Trier individuelle Schwerstbehindertenbetreuung lehrt, jüngst eine voluminöse Untersuchung über das »Verhältnis von Macht und Behindertsein« vorgelegt (»Jenseits normalisierender Anerkennung«, Campus Verlag 2002). Rösner hat das Verdienst, die wichtige, in anderen Ländern längst intensiv geführte Debatte über ein neues Verständnis von Behinderung für die deutschsprachige Debatte erstmals mit großem Ernst, über weite Strecken auch mit argumentativer Sorgfalt erschlossen zu haben. Rösners Intention besteht darin, die individuelle Seinsweise von behinderten Menschen sichtbar werden zu lassen und dadurch auch die Bereitschaft zu praktizierter »Sorge« zu wecken. Leider bedient sich aber auch Rösner eigentümlich dogmatischer, modisch-akademischer Formeln: »Das behinderte Subjekt ist performativer Effekt diskursiver und institutioneller Praktiken, die als dichtes Netz von Zuschreibungen die Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Gruppe von Individuen hervorbringen.« Als Heilmittel gegen die Übermacht »normierter Körperbilder« – gegen »das Ideal der Leistungsfähigen, Gesunden, Attraktiven und Schönen« – postuliert Rösner mit Emanuel Lévinas, den Einzelnen in seiner »absoluten Andersheit« wahrzunehmen und gelten zu lassen. Man muss dies wohl so verstehen, dass ein Mensch erst dann in der angemessenen Weise respektiert wird, wenn jeder Vergleichsmaßstab außer Kraft gesetzt wird, wenn man nur die unvertretbare, in ihrer Besonderheit gleichsam unerreichbare Person vor Augen hat. Es ist eine spannende philosophische Frage, ob hiermit so etwas wie ein moralischer Urimpuls benannt ist, der jedem Engagement vorausgehen muss. Für das konkrete moralische Handeln konkreter Menschen ist mit dieser quasi ehrfürchtigen Haltung jedoch wenig gewonnen. In ihrem alltäglichen Verhalten stellen Menschen nun einmal unablässig Vergleiche an, und man wird ihnen dies schwerlich austreiben können. Sie fragen, ob sie selbst dicker oder dünner, dümmer oder klüger, fixer oder schwerfälliger sind als andere. Und sie nehmen natürlich zur Kenntnis, ob jemand anderes besonders geschickt, begabt, faul, impertinent oder was auch immer ist. All das setzt Annahmen darüber voraus, was im durchschnittlichen Fall zu erwarten ist. Auch die habituelle Feststellung, dass es tatsächlich nicht normal ist, wenn jemand nicht gehen, nicht hören, keine Lernfortschritte machen kann, wird man nicht unterbinden können. Indem man solche elementaren Unterscheidungen zwischen Normalität und Abweichung leugnet oder kaschiert, wird man sicher nicht dazu beitragen, dass man zivilisiert mit ihnen umgeht. Dass Menschen auf körperliche Entstellung oder auf gestörtes Verhalten verunsichert, verängstigt, womöglich mit Abscheu reagieren, muss man realistischer Weise in Rechnung stellen. Erst dann ist es überhaupt möglich, sich solcher Gefühle bewusst zu werden und sie, wo nicht zu überwinden, so doch partiell außer Kraft zu setzen und den ersten Schritt hin auf jenen Abgrund hin zu tun, der uns zunächst von dem Anderen zu trennen scheint.

293

294

Behinder t sein - behinder t werden

Die Tatsache, dass andere als andersartig wahrgenommen werden, muss also nicht zwangsläufig zum Ausschluss führen. Mehr noch: Diese Wahrnehmung kann sogar die notwendige Voraussetzung für moralisches Engagement darstellen. Nur wo man zur Kenntnis nimmt, dass Individuen und Gruppen tatsächlich besondere Defizite und Bedürfnisse haben, kann Unterstützung mobilisiert werden. Warum sollte ich mich um den anderen sorgen, wenn er zwar irgendwie »different« ist, aber anscheinend keine Schwierigkeiten hat, die sich von den meinigen gravierend unterscheiden? Man sollte sich also von der kulturkämpferischen Attitüde der Normalisierungskritiker nicht einschüchtern lassen. Man sollte auch den Skandal beim Namen nennen, wenn die Nachwuchsplanung dazu herhalten muss, um der eigenen Ideologie Ausdruck zu verschaffen. Wenn man gezielt gehörlose Kinder zeugt, dann beraubt man diese einer Möglichkeit, den ganzen Reichtum der Welt zu erfahren. Kaum jemand wird heute noch behaupten, dass Gehörlose dazu verurteilt sind, ein armseliges Leben zu führen. Auch mag in diesem – für die ganze Bandbreite von Behinderungen aber nicht repräsentativen! – Fall Theresia Degeners Rede vom »lifestyle« nachvollziehbar sein. Dennoch ist es nicht einfach nur »üblich«, dass Kinder mit der Fähigkeit zu hören zur Welt kommen. Diese Fähigkeit ist keine unbedingt notwendige Voraussetzung, um ein erfülltes Leben zu führen. Aber es ist eben an und für sich eine gute und schöne Sache, menschliche Stimmen, Vogelgezwitscher, Meeresrauschen oder Musik in sich aufnehmen zu können. Niemandem steht es zu, andere der Möglichkeit zu berauben, solche Erfahrungen zu machen.

A nerkennung als S orge für den A nderen Ein letztes Mal traf ich Andreas Kuhlmann auf der Tagung »Differenz anerkennen. Ethik und Behinderung – ein Perspektivwechsel«, die am 5. und 6. Dezember 2003 in Berlin im Rahmen des »Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderung« stattfand. Anlässlich dieser Tagung erschien sein programmtaischer Aufsatz Akzeptanz ist zu wenig. Behinderte zwischen Angleichung und Abweichung. (2004), in dem er seine bisherige Kritik am Normalitätsbegriff verfeinerte. Im Zentrum stand nun der Versuch zu begründen, warum »die Anerkennung von Differenz« keine taugliche normative Grundlage bilden kann, um einen sorgenden Umgang mit Verschiedenheit zu gewährleisten. Ein Jahr später folgte mit Behinderung und die Anerkennung von Differenz (2005) ein Text, der sich als Höhepunkt und Abschluss seines langjährigen Bemühens verstehen lässt, die Bedürftigkeit und Abhängigkeit von Fürsorge

12. Sehnsucht nach Normalität

vieler behinderter Menschen angemessen in Politik und Öffentlichkeit wahrgenommen und vertreten zu sehen.16 Eine wesentliche Errungenschaft der liberalen politischen Kultur besteht laut Andreas Kuhlmann darin, dass sie von einem normativen Gleichheitsgedanken ausgeht, der im Gegensatz zur Vorstellung einer faktischen Gleichheit (Bürgerrechtsperspektive) bzw. einer faktischen Differenz (Normalisierungskritik) die Notwendigkeit der Fürsorge für behinderte Menschen beinhaltet: Behinderte Bürgerinnen und Bürgern werden nicht nur in ihrer Individualität akzeptiert, sondern in einer Weise gefördert, dass sie nach Möglichkeit wie andere Personen auch zu einer einem erfüllten Leben in der Lage sind. Die Besonderheit dieses normativen Gleichheitsbegriffs besteht folglich darin, dass Differenz nicht nur abstrakt anerkannt wird: »›Gleichheit‹ und ›Differenz‹ sind vielmehr bei der Legitimierung wie bei der Ausgestaltung liberaler Gesellschaftsordnungen streng aufeinander verwiesen« (Kuhlmann 2004: 52). Das liberale Prinzip der Chancengleichheit und der »moderne, revolutionäre Menschenrechtsgedanke« (ebd.: 56) gehen beide über den Anspruch hinaus, nur die Legitimationsgrundlage für Duldung oder Unterstützung von Differenz zu sein: »Die Anerkennung einer elementaren Gleichheit aller Mitglieder einer Gesellschaft ist zugleich ein Mittel, das dazu dient, der Verschiedenheit der Bürger tatsächlich Geltung zu verschaffen. Will man den Bürgern reale Chancen zur individuellen Lebensgestaltung eröffnen, so muss man sich nämlich der Frage stellen, was ein jeder Mensch benötigt, um sich als eigenständige Persönlichkeit entwickeln zu können. Um also die Möglichkeit zu erhalten, verschieden zu sein, müssen den Bürgern nach der Logik einer liberalen Theorie und Praxis der Menschen- und Bürgerrechte die gleichen Entwicklungschancen eingeräumt werden.« (Ebd.: 52)

Auf der Grundlage eines kulturtheoretischen Begriffs der »Differenz« könne, so Andreas Kuhlmann, »zwischen einem krass inhumanen und einem ›schwachen‹, am mutmaßlichen Interesse eines behinderten Patienten orientierten therapeutischen Paternalismus in entsprechenden Diskussionen gar nicht mehr unterschieden« (ebd.: 54) werden. Gegenüber der liberalen »An16 | Am 25.10.2004 schrieb mir Andreas Kuhlmann: »Die Mitarbeit an der Zeitschrift WestEnd ist inzwischen meine einzige Verbindung zum Institut. Aus gesundheitlichen Gründen musste ich meinen Plan, dort an einem großen interdisziplinären Projekt über Anerkennung mitzuarbeiten, aufgeben. Da ich jetzt meine – recht geringen – Kapazitäten nutzen muss, um mich wieder als freier Publizist zu verdingen, bedeutet dies zugleich, dass ich mich auf absehbare Zeit nicht mehr intensiv Fragen der Praktischen Philosophie widmen kann. All das hat bei mir zu so etwas wie einer Identitätskrise geführt, inzwischen aber habe ich wieder einigermaßen festen Boden unter die Füße bekommen.«

295

296

Behinder t sein - behinder t werden

erkennung« im Sinne von Chancengleichheit, werde Anerkennung hier »primär im Sinne der Akzeptanz von Personen mit einer besonderen, vom so genannten Normalmaß abweichenden Konstitution verstanden« (ebd.: 54): Mit bloßer Akzeptanz kann »jedoch ein elementarer Aspekt, der die Befindlichkeit vieler betroffener Personen kennzeichnet, keine Berücksichtigung finden; ihre Bedürftigkeit, die von ihnen erfahrenen Defizite, ihre partielle oder weitgehende Abhängigkeit« (ebd.: 55). Mit Akzeptanz verbindet sich eine letztlich indifferente Haltung, Menschen so zu betrachten und anzunehmen wie sie sind. Andreas Kuhlmann kritisiert Teile der Behindertenbewegung, für die jegliche therapeutische bzw. rehabilitative Einflussnahme auf behinderte Menschen als fragwürdig gilt: Sie verabschieden den liberalen Begriff der Chancengleichheit, der dazu dient, dass es ein Anliegen gibt, behinderte Menschen durch entsprechende Förderung und Therapie zu ermächtigen, »als Gleiche unter Gleichen über ihre individuelle Lebensgestaltung selbst [zu] befinden«. Diesen Vorwurf veranschaulicht er an drei ausgewählten Beispielen aus dem Bereich der Medizin: So gelte es vielen »schon als fragwürdig, behinderte Kinder Therapien auszusetzen, durch die sie ›normale Funktionen wie Gehen oder Sprechen erlernen« (ebd.: 53); weiterhin sprächen sich alle übergeordneten Behindertenverbände gegen die Stammzellenforschung aus; im gleichen Zug werde jedoch die Möglichkeit gehörloser Eltern begrüßt, die Angebote der Reproduktionsmedizin zu nutzen, durch pränatale Diagnostik Kinder gehörlose Kinder zu erzeugen. Mit dem Begriff der »Differenz« sieht Andreas Kuhlmann alle humanen Vorstellungen verloren gehen, mit denen sich noch angemessen sagen lässt, ab wann Menschen »ein zuträgliches, möglichst auch selbstbestimmtes Leben führen können« (ebd.: 55). Daraus zieht er den Schluss, dass wir um »eine Verständigung darüber, welche elementaren Eigenschaften eine Person nach Möglichkeit ausbilden können sollte, nicht herum« (ebd.) kommen. In der Vergangenheit hatten Martha Nussbaum (1999, 2003) und Elisabeth Anderson (2000) ebenso Versuche unternommen, »jene Persönlichkeitsmerkmale, Fähigkeiten und Teilhabeoptionen auszubuchstabieren, die […] es den Einzelnen erst erlauben, sich als Gleiche unter Gleichen im öffentlichen Raum zu bewegen« (Kuhlmann 2005: 158). Allerdings verbinden sie die Berücksichtigung menschlicher Bedürftigkeit mit dem Bestreben, eine Liste bzw. eine Definition menschlicher Kompetenzen zu erstellen, mit der sie »die Hürde für die Anerkennung von Menschen als Menschen sehr hoch« (ebd.: 159) legen. Demgegenüber reklamiert Andreas Kuhlmann für sich, einen vorsichtigeren Versuch zu unternehmen, »den nur allzu berechtigten Bemühungen um die Akzeptanz gerade auch schwer behinderter Personen gerecht zu werden« (Kuhlmann 2005: 153):

12. Sehnsucht nach Normalität »An Stelle sehr spezifischer und komplexer Kompetenzen sollte man […] einige wenige Kapazitäten nennen, über die die Einzelnen in der Tat verfügen müssen, um am menschlichen Leben Anteil nehmen zu können. Von ›Kapazitäten‹ statt von ›Kompetenzen‹ zu sprechen soll bedeuten, dass es nicht so sehr um konkrete Verhaltensweisen geht, auch nicht um eine ausgeprägte rationale Lebensführung, sondern um bestimmte Empfänglichkeiten, die es Menschen erst erlauben, sich überhaupt als Teil der natürlichen wie der sozialen Umwelt zu erfahren. Eine solche elementare Zugänglichkeit der Welt wird ermöglicht durch die sinnliche Wahrnehmung, durch elementare Formen der Kommunikation und durch die Fähigkeit zur emotionalen Anteilnahme.« (Kuhlmann 2004.: 55f.)

Andreas Kuhlmann genügt es nicht mehr, einfach nur festzustellen, dass manche behinderte Menschen in erheblichem Maße von emotionaler Zuwendung und von konkreter Fürsorge abhängig sind. Sein Vorschlag läuft in der Konsequenz darauf hinaus, medizinethische Standards festzulegen, mit denen ein Recht auf medizinische Therapien einhergeht, die dem liberalen Gedanken der Selbstbestimmung und Teilhabe Rechnung tragen. Er geht davon aus, dass »ein möglichst ausgebildetes wahrnehmungsphysiologisches und emotionales Sensorium und mannigfaltige Fähigkeiten zur Kommunikation« (Kuhlmann 2005: 161) von intrinsischer Bedeutung sind, um das Leben zu einem wahrhaft menschlichen Leben machen. Um die Integrität von Menschen zu schützen, auf die nicht nur behinderte Menschen einen Anspruch haben, sind daher therapeutische Maßnahmen zu gewährleisten, die den gleichen Zugang zu reziproken Anerkennungsverhältnissen ermöglichen. Einerseits, so Andreas Kuhlmanns eindringlicher Hinweis, habe niemand das Recht, jemandem, der nicht über diese Kapazitäten verfüge, die Menschlichkeit abzusprechen: »Was einen intrinsischen Wert hat, muss nicht Voraussetzung dafür sein, überhaupt ein lebenswertes Leben führen zu können.« Auf der anderen Seite heißt das für ihn aber auch, dass es niemandem zusteht »einen Menschen daran zu hindern, seiner Umwelt in einer bestimmten, potentiell bereichernden Art und Weise zu begegnen« (ebd.: 162), weder indem er ihn mit Hilfe der Biomedizin an der Fähigkeit hindert, hören zu können, noch indem er ihm die Möglichkeiten vorenthält, sinnvolle therapeutische Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Wie sehr er mit seiner Entscheidung gerungen hat, »Kapazitäten« für das zu benennen, was man ein menschliches Leben nennen könnte, verdeutlichen folgende Gedanken aus einem Schreiben vom 27.01.2005: »Mit Ihren jetzt noch ›nachgereichten‹ Bedenken haben Sie einen Nerv eigener Selbstzweifel bei mir getroffen. Mich beunruhigt tatsächlich, ob ich mit der Auszeichnung von »Kapazitäten« nicht auf dem gleichen Abweg bin wie die liberalen Autoren, die ich kritisiere. Um zu erläutern, warum ich auf dieser ›Schiene‹ gelandet bin, müsste ich ausführlicher erläutern, wie ich eigentlich zur Medizinethik gekommen bin. Daran war die

297

298

Behinder t sein - behinder t werden Singer-Debatte schuld, speziell die Debatte über Früheuthanasie. Ich habe damals ausführlich mit Medizinern gesprochen bzw. mich mit ihren Texten auseinandergesetzt, die Singers rationalistisches Kalkül verabscheuten, die aber dennoch nicht abstreiten konnten und wollten, dass Singer auf seine Weise Probleme zu Bewusstsein gebracht hat, die die medizinische Praxis tatsächlich bestimmen. Sie kennen die Argumente: Es gibt einfach Formen schwerer Schädigung, bei denen sich der Arzt fragt, was er für das Neugeborene tun soll. Ich habe nie den Ehrgeiz besessen, Singers ›Standards‹ durch bessere zu ersetzen. Als ich jetzt allerdings bei Rawls, Nussbaum, Anderson auf Argumente stieß, die genau dieselben Gefahren herausbeschwören wie diejenigen Singers, habe ich – wirklich vorläufig und tentativ – versucht, anzudeuten, wie man sich zumindest klar machen kann, warum und in welchem Sinne lebenswerte Lebensformen von solchen zu unterscheiden sind, die keinem menschlichen Wesen zuzumuten sind. Ich glaube und hoffe, dass gerade weil meine Andeutungen vage bleiben, keine Gefahr besteht, dass sie jemand als ›Selektionskriterien‹ missversteht.« (Kuhlmann 27.01.2005)

V ersuch einer A nnäherung Andreas Kuhlmann hielt bis zuletzt an der These fest, dass eine mit dem Begriff der Differenz verbundene Ethik der Anerkennung hinter die gegenwärtigen sozialmoralischen Verhältnisse in liberalen demokratischen Verhältnissen zurückfällt. Seine Befürchtung, dass in sozialkonstruktivistischen Ansätzen die Anerkennung von behinderten Menschen mit gefährlichen Ausschlussmechanismen einhergehe, muss ernst genommen werden. Sollte tatsächlich die Gefahr bestehen, dass sich eine Gesellschaft unter dem Signum einer »Anerkennung der Differenz« weigert, behinderten Menschen mit Hilfe medizinisch-therapeutischer Wege ein Leben in Selbstbestimmung und Teilhabe zu eröffnen, wäre das ein Desaster. Andreas Kuhlmann hat seine eigenen Überlegungen zur Theorie der Anerkennung behinderter Menschen nicht weitergeführt. In einem seiner letzten Schreiben teilte er mir mit, dass er aus gesundheitlichen Gründen aus einem Anerkennungs-Projekt des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt ausscheiden musste. Was seinen Aufsatz Behinderung und die Anerkennung von Differenz (2005) beträfe, so markiere dieser Text genau die Schwelle, jenseits derer seine Arbeit in dem ISF-Projekt ihren Anfang genommen hätte. Zusammenfassend heißt es dort: »Die unterschiedlichen Ansätze der Normalisierungskritik […] rekurrieren auf die doppelte Bedeutung des Wortes ›Diskriminierung‹: Ein begriffliches Prozedere – das Treffen einer Unterscheidung – wird mit einer moralisch verwerflichen sozialen Praxis – der Demütigung und Ausgrenzung von Personen – gleichgesetzt. Dieses allem Anschein nach äußerst suggestive Verfahren macht es dann aber praktisch unmöglich, von Behinderten als konkreten Personen mit bestimmten Eigenschaften überhaupt noch zu spre-

12. Sehnsucht nach Normalität chen, ohne sich des Verdachtes auszusetzen, sie abwerten zu wollen. Es bleibt dann nur noch, im Anschluss an Lévinas und Derrida von der ›absoluten Andersheit der einzelnen Person‹ zu sprechen und die rein defensive Anstrengung, ›mit unserem Tun der Gewalt (zu) entkommen‹, die ›den/das Andere(n) zum Selben macht‹ und dabei ›als Anderes vernichtet‹ (Rösner 2002: 151f.).« (Kuhlmann 2005: 156)

Andreas Kuhlmanns Argument, die »Normalisierungskritik« verfüge über einen eingeschränkten Begriff moralischer Anerkennung, der sich in »Akzeptanz« erschöpft, scheint mir bis heute nicht überzeugend zu sein. Im Kern lautet es: Die Normalisierungskritik artikuliert »in der Kritik standardisierender und stigmatisierender kultureller Mechanismen per negationem die Wertschätzung vielfältigster Formen menschlicher Existenz« (ebd.: 156). Sie geht von einer Anerkennung faktischer Differenz in der Weise aus, »dass Menschen sich schon ihrer physischen wie psychischen Konstitution nach voneinander unterscheiden und deshalb verschiedene Facetten menschlicher Existenz zum Ausdruck bringen« (ebd.: 157). Es ist aber gerade nicht die faktische Differenz, auf die sie sich beruft, vielmehr ist es eine »auf Differenz auf bauende Subjektivierung« (Rösner 2002: 151). Meine kritischen Studien zur normalisierenden Anerkennung sind insofern ein Plädoyer gegen jedes »Gerede von der Normalität des Behindertseins« (Honneth 2011: 16). Das Spannungsverhältnis zwischen normativer Gleichheit und realer Verschiedenheit soll nicht zugunsten faktischer Differenz ausgehebelt werden. Im Gegenteil geht es mir darum, den Widerstreit zwischen rechtlicher »Gleichbehandlung« und den »Verpflichtungen aus der Einstellung individuellen Gerechtwerdens« (Menke 2004: 41) am Beispiel »behinderter Menschen« hervorzuheben.17 Anerkennungsbeziehungen beruhen nicht auf einer vorgängig erkannten faktischen Differenz, »sondern in eins mit dem Erkennen als so oder so Anderen wird auch eine Anerkennung in einem normativen Horizont ins Werk gesetzt« (Bedorf 2010: 197). Sie vollziehen sich »auf der Ebene des sozialen Dritten« in Form einer »Einordnung der unverfügbaren radikalen Alterität in eine sozial konstruierte Andersheit«, was zur Folge hat, dass »die Anerkennung als die provisorische und nie vollends rechtfertigbare Stillstellung eines unaufhörlichen Prozesses des sozialen Anerkennens begriffen werden muss« (ebd.). Im Angesicht des Anderen sprechen mich aber zugleich auch die anderen Anderen an, was so etwas wie ein Vergleichen und Festlegen unterschiedlicher Identitäten notwendig macht. Die Struktur der Anerkennung stellt sich dabei so dar, »dass ›jemand jemanden als jemanden bzw. etwas‹ anerkennt« und 17 | »Wird die Bewegung des Anerkennens zu einer Identität verdichtet und wird jemand als jemand oder etwas anerkannt, so impliziert dies zugleich eine Verkennung, die im Horizont eines Mediums der Anerkennung gebildet wird. Jede Stabilisierung einer Identität hat demnach ihre Kosten« (Bedorf 2010: 193).

299

300

Behinder t sein - behinder t werden

das »im Horizont eines Mediums, nämlich der Hinsicht, in der es anerkannt wird.« Schließlich ist es die Antwort auf die Frage »als was oder wofür?« (ebd.: 124), die darüber entscheidet, welche Identität das Anerkannte annimmt. Als ich Andreas Kuhlmann Anfang 2003 meinen Entwurf zu Behindertsein als kulturelles Wahrzeichen. Umrisse einer dekonstruktiven Kritik (2004) zusandte, begrüßte er meine Anstrengungen, im Unterschied zu den Disability Studies eine sowohl sozial- wie auch moraltheoretische Fundierung der Normalisierungskritik zu entwickeln. Gleichwohl stellte er den normativen Fluchtpunkt meiner Überlegungen mit dem Argument in Frage, dass er in so etwas wie Beliebigkeit münde: »Wenn von der ›Öffnung für das freie Spiel vielfältiger und unvorhergesehener Bedeutungen‹ die Rede ist, so klingt das für mich sehr nach l’art pour l’art, nach einem Spiel permanenter ›Resignifikation‹ um seiner selbst willen. Mit anderen Worten: Hier scheint die Neuartigkeit einer Beschreibung schon dafür zu bürgen, dass sie den konventionellen, per se normierenden überlegen ist. Das ist für mich nicht plausibel.« (Kuhlmann 13.02.2003)

Die dekonstruktive Kritik an gegebenen identifizierenden Zuschreibungen ist jedoch weniger beliebig als die bloße Berufung auf so etwas wie »Chancengleichheit«, denn sie geht mit einer unentwegten ethischen Reflexion auf die mit Macht einhergehenden Anteile der Zuschreibung von Identitäten im Rahmen lebensweltlicher und normativer Ordnungen einher. Die mit einer dekonstruktiven Ethik der Anerkennung verbundene Idee der Gerechtigkeit orientiert sich nicht nur an einer Vorstellung normativer Gleichbehandlung, sondern resultiert aus der ethischen Verantwortung für den konkret anderen Menschen. In diesem Sinne gilt hier die Regel: »Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit aller getragen ist von meiner Ungleichheit, durch den Mehrwert meiner Pflichten über meine Rechte.« (Lévinas 1992: 347)

Andreas Kuhlmanns kritisch-analytische Herangehensweise an das Phänomen »Behinderung« bewegt sich auf der Ebene einer Ideologiekritik, die sich von der genealogischen Kritik unterscheidet. Nach Honneth kann von Ideologien der Anerkennung die Rede sein, wenn folgende drei Voraussetzungen erfüllt sind: Sie müssen mit positiven Wertaussagen verbunden sein und damit »den Individuen eine Chance eröffnen, sich auf sich selber in der Weise affirmativ zu beziehen, dass sie sich zur freiwilligen Übernahme bestimmter Aufgaben ermutigt sehen«. Darüber hinaus müssen sie »für die Betroffenen glaubwürdig sein«, indem sie sich »auf der Höhe des evaluativen Vokabulars

12. Sehnsucht nach Normalität

der jeweiligen Gesellschaft« bewegen, und schließlich müssen sie »auch in dem Sinn kontrastiv« sein, »dass sie einen jeweils neuen Wert oder eine besondere Leistung zum Ausdruck bringen« (Honneth 2010: 120f.). Ideologiekritik findet folglich vor allem dort statt, wo die Betroffenen sich im Rahmen einer gegebenen sozialen Anerkennungsordnung gegen neue Formen evaluativer Auszeichnung wehren, die »ein funktionsgerechtes, angepasstes Selbstverhältnis« (ebd.: 123) verlangen. Die genealogische Herangehensweise an das Phänomen »Behinderung« beruht dagegen auf einem Kritikverfahren, in dem es um die Frage geht, »auf welche konstitutive Weise Körper und Subjektivitäten diskurs- und machtabhängig sind und welche Techniken, Institutionen und Normen Effekte von Inklusion/Exklusion, Erkennbarkeit/Unsichtbarkeit, Wertigkeit/Verworfenheit produzieren.« (Saar 2003: 171). Sie schließt die Untersuchung von Formierungsregeln und Normen mit ein, durch »die sich Subjekte oder Individuen selbst verstehen und auf sich beziehen, aber auch, wie sie für andere erkennbar und beschreibbar sind« (ebd.: 164). Eine dekonstruktiven Ethik, die die Konstruktion dieses epistemischen Rahmens in den Blick genommen hat, geht der Frage nach, wie die Normen bzw. die Anerkennungsordnung einer Gesellschaft bestimmen, welche Formen von Subjektivität gebildet und aufgrund welcher Eigenschaften anerkannt werden. Dadurch gewinnt das »postsouveräne Subjekt« (Judith Butler) ein kritisch distanzierendes Verhältnis zu seinen gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen und das der anderen. Auf diese Weise können die Effekte der Anerkennung als bedeutsam für ein erfülltes und lebenswertes Leben akzeptiert werden. Es kann aber auch die Entscheidung getroffen werden, die Art und Weise, in der man anerkannt wird, aufs Spiel zu setzen.

L iter atur Anderson, Elisabeth S. (2000): »Warum eigentlich Gleichheit?«, in: Angelika Krebs (Hg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt a.M., S. 117-171. Bedorf, Thomas (2010): Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Frankfurt a.M. Butler, Judith (1998): Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin. Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002. Frankfurt a.M. Dederich, Markus (2007): Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld. Detel, Wolfgang (1998): Foucault und die klassische Antike. Macht, Moral, Wissen. Frankfurt a.M.

301

302

Behinder t sein - behinder t werden

Foucault, Michel (1979): »Die Geburt der Biopolitik«, in: Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Band III (1976-1979), hg. von Daniel Defert und Francois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange (2003), Nr. 274. Frankfurt a.M., S. 1020-1028. Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. Dederich, Markus (2007): Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld. Derrida, Jacques (1988): »Signatur, Ereignis, Kontext«, in: Randgänge der Philosophie. Wien. Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M., S. 279-343. Habermas, Jürgen (2003): »Kulturelle Gleichbehandlung und die Grenzen des postmodernen Liberalismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 51, 3, S. 367-394. Honneth, Axel (1985): Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a.M., S. 113-224. Honneth, Axel (2000): »Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die Herausforderung der poststrukturalistischen Ethik«, in: Ders.: Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt a.M., S. 133-170. Honneth, Axel (2010): »Anerkennung als Ideologie. Zum Zusammenhang von Moral und Macht«, in: Ders.: Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie. Frankfurt a.M., S. 103-130. Honneth, Axel (2011): »An der Peripherie unserer Lebensform. Zur Erinnerung an Andreas Kuhlmann«, in: Andreas Kuhlmann: Frankfurt a.M., New York, S. 7-18. Kuhlmann, Andreas (1993): »Fragile Freiheit. Die Linke muss den Liberalismus weiterdenken«, in: Norberto Bobbio (Hg.): What’s Left? Prognosen zu Linken. Berlin, S. 127-131. Kuhlmann, Andreas (1994): »Saddam Hussein ist überall. Die neuen Szenarien der Gewalt und die Etablierung einer schwarzen Anthropologie«, in: Hans-Martin-Lohmann (Hg.): Extremismus der Mitte. Vom rechten Verständnis deutscher Nation. Frankfurt a.M., S. 219-225. Kuhlmann, Andreas (1995): Sterbehilfe. Reinbek bei Hamburg. Kuhlmann, Andreas (1996): Abtreibung und Selbstbestimmung. Die Intervention der Medizin. Frankfurt a.M. Kuhlmann, Andreas (2001): Politik des Lebens – Politik des Sterbens. Biomedizin in der liberalen Demokratie. Berlin. Kuhlmann, Andreas (2002): Normalität als Affront. Unveröffentlichtes Manuskript. Bremen.

12. Sehnsucht nach Normalität

Kuhlmann, Andreas (2003a): »Schmerz als Grenze der Kultur. Zur Verteidigung der Normalität«, in: Petra Lutz u.a. (Hg.): Bonn, S. 121-127. Wiederabdruck in: Andreas Kuhlmann (2011): Frankfurt a.M./New York, S. 173-179. Kuhlmann, Andreas (2003b): »Therapie als Affront. Zum Konflikt zwischen Behinderten und Medizin«, in: Ethik in der Medizin (15) 3, S. 151-160. Kuhlmann, Andreas (2003c): »Ein neues Verständnis von Behinderung. Zur Kritik am ›medizinischen‹ Konzept«, in: AG Medizin(ethik) und Behinderung (Hg.): Behinderung und medizinischer fortschritt. Dokument der gleichnamigen Tagung vom 14.-16.04.2003 in Bad Boll. Göttingen, S. 2227. Kuhlmann, Andreas (2004): »Akzeptanz ist zu wenig: Behinderte zwischen Angleichung und Abweichung«, in: Sigrid Graumann/Katrin Grüber/ Jeanne Niklas-Faust/Susanna Schmidt/Michael Wagner-Kern (Hg.): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivwechsel. Frankfurt a.M./New York, S. 5257. Kuhlmann, Andreas (2005): »Behinderung und die Anerkennung von Differenz«, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung (2) 1, 153-164. Wiederabdruck in: Andreas Kuhlmann (2011): Frankfurt a.M./New York, S. 37-50. Kuhlmann, Andreas (2011): An den Grenzen unserer Lebensform. Texte zur Bioethik und Anthropologie. Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie, herausgegeben von Axel Honneth im Auftrag des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a.M. Band 16. Kuhlmann, Andreas (Hg.) (1994): Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne. Frankfurt a.M. Lemke, Thomas (Hg.) (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität. Hamburg. Lévinas, Emmanuel (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/München. Lutz, Petra/Macho, Thomas/Staube, Gisela/Zirden, Heike (Hg.) (2003): Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Für die Aktion Mensch und die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum. Bonn. Menke, Christoph (2004): Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach Adorno und Derrida. Frankfurt. Nussbaum, Martha, C. (1999): Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt a.M. Nussbaum, Martha C. (2003): »Langfristige Fürsorge und Gerechtigkeit. Eine Herausforderung der konventionellen Idee des Gesellschaftsvertrages«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 51. Jg., 2, S. 179-198.

303

304

Behinder t sein - behinder t werden

Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein. Frankfurt a.M./New York. Saar, Martin (2003): »Genealogie und Subjektivität«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frankfurt a.M., S. 157-177. Sandel, Michael J. (2012): Die moralischen Grenzen des Marktes. Berlin. Stinkes, Ursula (2002): »Zur schwierigen Frage nach der Anerkennung – Fürsorge oder Solidarität für Menschen mit Behinderung?«, in: Heinrich Greving/Dieter Gröschke (Hg.): Das Sisyphos-Prinzip. Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik. Bad Heilbrunn, S. 203-220. Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld. Wendell, Susan (1996): The rejected body: Feminist Philosophical Reflections on Disability. New York.

Drucknachweise

1

1. »Körperpolitik und Behindertsein«, Erstveröffentlichung unter gleichnamigem Titel in: Behindertenpädagogik, 33. Jg. Heft 2 (1994), S. 148-156. 2. »Auf der Suche nach einer anderen Gerechtigkeit. Behindertsein und Anerkennungspolitik«, Erstveröffentlichung unter gleichnamigem Titel in: Behindertenpädagogik, 35. Jg., Heft 2 (1996), S. 130-139. 3 »Selbstsorge und Sorge für den Anderen. Ethische Überlegungen zum Behindertsein«, Erstveröffentlichung unter gleichnamigem Titel in: Zeitschrift für Heilpädagogik, 48. Jg., Heft 2 (1997), S. 46-54. 4. »Die Feigenblattrolle der Heilpädagogik. Eine Auseinandersetzung mit Riccardo Bonfranchi«, Erstveröffentlichung in: Behindertenpädagogik, 39. Jg., Heft 4 (2000), S. 368-389. 5. »Jenseits normalisierender Anerkennung. Zur Kritik der politischen Medizin«, unter anderem Titel erstmals erschienen in: Rösner, Hans-Uwe (2002): Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zu Behindertsein und Macht. Frankfurt a.M., S. 327-252 und S. 361-369. 6. »Behindertsein als kulturelles Wahr-Zeichen. Umrisse einer dekonstruktiven Kritik«, Erstveröffentlicht unter dem gleichlautenden Titel in: Greving, Heinrich/Ch. Mürner, Christian/Rödler, Peter (Hg.) (2004): Zeichen und Gesten – Heilpädagogik als Kulturthema. Gießen, S. 209-227. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlages. 7. »Inklusion ist zu wenig! Plädoyer für eine Ethik der Anerkennung«, Erstveröffentlicht unter dem gleichlautenden Titel in: Dederich, Markus/Greving, Heinrich/Mürner, Christian/Rödler, Peter (Hg.) (2006): Inklusion statt Integration? Heilpädagogik als Kulturtechnik. Gießen, S. 126-141. Der

1 | Die Texte wurden inhaltlich unverändert aus den angegebenen Zeitschriften und Sammelbänden übernommen. Lediglich der fünfte Text setzt sich aus Kapiteln meines vergriffenen Buches »Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein« (2002) zusammen. Ansonsten wurden offensichtliche Fehler korrigiert und die Rechtschreibung insgesamt nach den Vorgaben des transcript Verlages vereinheitlicht.

306

Behinder t sein - behinder t werden

Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlages. 8. »Gerechtigkeit im Zeichen von Abhängigkeit und Differenz. Über die normativen Grundlagen der Heilpädagogik als Kulturwissenschaft«, Erstveröffentlicht unter dem gleichlautenden Titel in: Dederich, Markus/Greving, Heinrich/Mürner, Christian/Rödler, Peter (Hg.) (2009): Heilpädagogik als Kulturwissenschaft. Menschen zwischen Medizin und Ökonomie. Gießen, S. 204-220. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlages. 9. »Im Angesicht des dementen Anderen. Axel Honneths Fürsorgebegriff und seine Bedeutung für die ›Kontakt-Arbeit‹ in der Altenpflege«, Erstveröffentlichung unter dem gleichlautenden Titel in: Dederich, Markus/ Schnell, Markus W. (Hg.) (2011): Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin. Bielefeld, S. 187-206. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlages. 10. »Freiheiten im Feld politischer Technologien der Menschenführung. Foucaults Bedeutung für eine kritische Sozialarbeit«, Erstveröffentlicht unter dem gleichlautenden Titel in: Kraus, Björn/Krieger, Wolfgang (Hg.) (2011): Macht in der Sozialen Arbeit. Interaktionsverhältnisse zwischen Kontrolle, Partizipation und Freisetzung (2. überarb. u. erw. Auflage). Lage, S. 291-325. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jacobs Verlages. 11. »Auf’s Spiel gesetzte Anerkennung. Judith Butlers Bedeutung für eine kulturwissenschaftlich orientierte Heilpädagogik«, Erstveröffentlichung unter dem gleichlautenden Titel in: Ricken, Norbert/Balzer, Nicole (Hg.) (2012): Judith Butler: Pädagogische Lektüren. Wiesbaden, S. 373-397. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Springer VS Verlages. 12. »Sehnsucht nach Normalität. Eine Nachbetrachtung zu Andreas Kuhlmann«, Beitrag für diesen Band, der den bisher unveröffentlichten Aufsatz »Normalität als Affront« von Andreas Kuhlmann enthält.

KörperKulturen Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) Gesundheit 2.0 Das ePatienten-Handbuch Juni 2014, 144 Seiten, kart., 15,99 €, ISBN 978-3-8376-2807-4

Arno Böhler, Krassimira Kruschkova, Susanne Valerie Granzer (Hg.) Wissen wir, was ein Körper vermag? Rhizomatische Körper in Religion, Kunst, Philosophie Mai 2014, 258 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2687-2

Ulrike Busch, Daphne Hahn (Hg.) Abtreibung Diskurse und Tendenzen Dezember 2014, ca. 340 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2602-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-29 13-55-11 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051144534|(S.

1-

3) ANZ2800.p 373051144542

KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Dezember 2014, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Mischa Kläber Moderner Muskelkult Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings 2013, 276 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2376-5

Elisabeth Wagner Grenzbewusster Sadomasochismus SM-Sexualität zwischen Normbruch und Normbestätigung September 2014, 354 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2870-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-29 13-55-12 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051144534|(S.

1-

3) ANZ2800.p 373051144542

KörperKulturen Karl-Heinrich Bette, Felix Kühnle, Ansgar Thiel Dopingprävention Eine soziologische Expertise

Robert Gugutzer Verkörperungen des Sozialen Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen

2012, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2042-9

2012, 256 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1908-9

Arno Böhler, Christian Herzog, Alice Pechriggl (Hg.) Korporale Performanz Zur bedeutungsgenerierenden Dimension des Leibes

Birgit Heimerl Die Ultraschallsprechstunde Eine Ethnografie pränataldiagnostischer Situationen

2013, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2477-9

Kathrin Dengler, Heiner Fangerau (Hg.) Zuteilungskriterien im Gesundheitswesen: Grenzen und Alternativen Eine Einführung mit medizinethischen und philosophischen Verortungen 2013, 258 Seiten, kart., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2290-4

Tobias Eichinger Jenseits der Therapie Philosophie und Ethik wunscherfüllender Medizin 2013, 308 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2543-1

Nino Ferrin Selbstkultur und mediale Körper Zur Pädagogik und Anthropologie neuer Medienpraxen 2013, 246 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2505-9

Orsolya Friedrich Persönlichkeit im Zeitalter der Neurowissenschaften Eine kritische Analyse neurowissenschaftlicher Eingriffe in die Persönlichkeit

2013, 364 Seiten, kart., 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2551-6

Britta Pelters Doing Health in der Gemeinschaft Brustkrebsgene zwischen gesellschaftlicher, familiärer und individueller Gesundheitsnorm 2012, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2225-6

Charlotte Ullrich Medikalisierte Hoffnung? Eine ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2048-1

Karen Wagels Geschlecht als Artefakt Regulierungsweisen in Erwerbsarbeitskontexten 2013, 276 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2226-3

Andrea zur Nieden Zum Subjekt der Gene werden Subjektivierungsweisen im Zeichen der Genetisierung von Brustkrebs 2013, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2283-6

2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2307-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

2014-07-29 13-55-12 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c6373051144534|(S.

1-

3) ANZ2800.p 373051144542