Wald: Biotop und Mythos 9783205791263, 9783205786382

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Wald: Biotop und Mythos
 9783205791263, 9783205786382

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Grüne Reihe des Lebensministeriums Herausgegeben vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Wien

Band 23

Wald Biotop und Mythos

Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar

Coverabbildung: Edmund Weiß Gesamtredaktion der Grünen Reihe: Dr. Ruth M. Wallner, Lebensministerium

www.lebensministerium.at Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung

Der Inhalt des vorliegenden Buches gibt die Meinung der Autoren wieder und muss nicht mit der der Herausgeber übereinstimmen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78638-2 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. & Co. KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Imprint, Slowenien

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lebensraum Wald 1 Artenvielfalt von Waldpflanzen und seltene Holzgewächse. Kuratorium Wald .

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2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt. Wolfgang Scherzinger . . . . . . . . . 27 3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere. Friederike Spitzenberger . . . . . . . 155 4 Wie schädlich sind „Forstschädlinge“? –



Ökologie prominenter Borkenkäferarten (Buchdrucker, Kupferstecher, Lärchen/Kiefern-Borkenkäfer) und wichtiger Blatt- und Nadelfresser. Hannes Krehan, Christian Tomiczek, Gottfried Steyrer, Bernhard Perny . . . . . 175

Wirtschaftsraum Wald 5 So haben wir uns den Wohlstand erarbeitet –



Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre. Ursula Neumayr . . . . . . . . . 189

6 Klimawandel – Mögliche Auswirkungen auf die Forstwirtschaft und



erforderlicher Forschungsbedarf. Ernst Leitgeb, Michael Englisch, Markus Neumann, Thomas Geburek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

7 Wald und Tourismus – eine bislang wenig genutzte Beziehung.



Alfred Grieshofer, Arne Arnberger, Andreas Muhar, Renate Eder . . . . . . . . . 273

Wald im Recht 8 Das österreichische Forstgesetz. Ein gesetzliches Instrument



der Gesellschaft für die Forstwirtschaft. Leopold Ziehaus . . . . . . . . . . . . 283

1. Wenn Alleen ins Alter wachsen

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9 Forstliche Förderung: Ein bedeutendes Instrument der Forstpolitik.



Leopold Ziehaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Wald im Kopf 10 WaldBilder – Vorstellungen von Bäumen und Wäldern. Ursula Neumayr . . . 321 11 Film-Wald: ein katathymes Bilderlebnis. Helge Reindl . . . . . . . . . . . . . 347

Anhang



„Forst + Kultur“. Kulturelle Potentiale im Umfeld der Forstwirtschaft: ERKENNEN – DARSTELLEN – NUTZEN. Alfred Grieshofer . . . . . . . . 369

Vorwort

Der Wald spielt seit jeher eine besondere Rolle für den Menschen, als Lebensraum aber auch im Denken. In unserer gemäßigten Klimazone haben wir von Natur aus reichlich davon und das erste Besiedeln von Land war vielfach nur dort möglich, wo Wald gerodet wurde. Heute ist das Verhältnis umgekehrt: wir verwenden deutliche Anstrengungen darauf, Wälder zum Schutz und als Refugien einer außergewöhnlichen biologischen Vielfalt zu bewahren. Während in Österreich nachhaltige Waldwirtschaft Tradition hat, stellen wir seit Jahrzehnten weltweit vielfältige Umwelteinflüsse zum Schaden des Waldes fest: von der Zerstörung der Tropenwälder und massiven Kahlschlägen in den Wäldern Kanadas und Sibiriens bis zu den ersten Auswirkungen des Klimawandels. Kann das Prinzip „Nachhaltigkeit“, wie es beispielsweise die Österreichische Fortwirtschaft in den letzten hundertfünfzig Jahren vor allem zur Sicherung der Holzproduktion und Erhaltung der Waldfläche, aber auch zur Abwendung von Elementargefahren versteht, den neuen globalen Anforderungen genügen? Die Brisanz dieser Frage hat die Vereinten Nationen dazu veranlasst, das Jahr 2011 zum „Jahr des Waldes“ zu erklären. Mir ist es ein ganz besonderes Anliegen, aus diesem Anlass die Bedeutung des Waldes für unser gesamtes Leben – ob als Rohstofflieferant, Lebensraum für biologische Vielfalt, als Ort für Erholungs- und Freizeitaktivitäten, oder auch in den Geschichten unserer Kindertage – neuerlich in Erinnerung zu rufen. Dementsprechend breit ist in dem vorliegenden 23. Band der Grünen Reihe das Spektrum der Themen in und um Wald gefächert. In bewährter Weise berichten Experten zahlreicher Gebiete von ihren Forschungsergebnissen und zeigen auf, was der Einzelne tun kann, um seinen Beitrag für Wälder zu leisten. DI Niki Berlakovich Umweltminister

1 Artenvielfalt von Waldpflanzen und seltene Holzgewächse1 Kuratorium Wald

Von allen am Festland vorkommenden Lebensraumtypen beherbergen Wälder die höchste Biodiversität. Gemeinsam betrachtet bieten tropische, gemäßigte und boreale Wälder ein vielfältiges Spektrum an Habitaten für Pflanzen, Tiere und Mikroorganismen, in denen die Mehrheit der landlebenden Arten unserer Erde heimisch ist. Im Beobachtungszeitraum ab 1961 bis heute kam es zu einer Zunahme der Österreichischen Waldfläche von ursprünglich 3,69 Mio. Hektar auf 3,96 Mio. Hektar 2002. Das heißt, die in Österreich von Wald bedeckte Landesfläche nimmt kontinuierlich zu. 2002 waren 47,2 Prozent der österreichischen Fläche bewaldet (in Deutschland 29,5 Prozent). Die Waldausstattung ist dabei vor allem in den alpinen Regionen sowie im östlichen bzw. südlichen Alpenvorland sehr hoch, während sie in weiten Teilen Ost- und Nordostösterreichs (z.B. Weinviertel) deutlich niedriger ist – wenngleich auch hier die Österreichische Waldinventur eine Zunahme in der letzten Inventurperiode ausmacht. Das am dichtesten bewaldete Bundesland ist die Steiermark (61 Prozent); der am dichtesten bewaldete Bezirk Lilienfeld/NÖ (80 Prozent).

Graduell gestufte Naturnähe Ein großes Problem in den europäischen Wäldern stellt die mangelnde Naturnähe dar. Der Mensch hat seit der Jungsteinzeit Eingriffe in den Wald getätigt. In der vorindustriellen Zeit war Holz der wesentliche Energieträger. Verschiedenste Holzarten und -sortimente waren für das tägliche Leben, die bäuerliche Wirtschaft, Gewerbe und Industrie von existenzieller Bedeutung. Diese unterschiedliche Verwendbarkeit der Holzarten führte genauso zu Verschiebungen der Zusammensetzung der Waldbestände wie örtlich starker Holzbedarf für die damalige Industrie (Bergbau, Hüttenwesen u.a.). Damit wurde über Jahrhunderte die natürliche Zusammensetzung des Waldes in weiten Gebieten stark verändert. In Österreich sind infolge dieser jahrhundertelangen Nutzung der Kulturlandschaft nur rund drei Prozent des Waldes als „natürlich“ einzustufen. Diese Wälder befinden sich hinsichtlich ihrer Struktur und ihrer Baumartenzusammensetzung sowie ihrer Zerfallszyklen (Totholz) in einem Zustand, der vom Menschen gänzlich unbeeinflusst ist. Man unterscheidet zwischen stehendem Totholz (Trockenholz), liegendem Totholz (Mo1

Aus „Vielfalt im Wald. Eine Bestandsaufnahme in Hinblick auf das internationale Jahr der Biodiversität“, Kuratorium Wald, Wien 2010. 1 Artenvielfalt von Waldpflanzen

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derholz) und Stöcken. Trockenholz ist seltener, allerdings aus Sicht der Ökologie besonders wertvoll, zumal es vielen Arten ein ideales und rar gewordenes Habitat bietet. Spechte zimmern in das weiche Totholz ihre Bruthöhlen. Von etwa 13 000 im Wald lebenden Arten sind rund 4 500 an Totholz gebunden (LFW 1999). Viele dieser Arten sind seltene, vom Aussterben massiv bedrohte Spezialisten, die auf Totholz als Habitat angewiesen sind (vgl. Band 14 „Rote Listen gefährdeter Tiere Österreichs“ der Grünen Reihe des Lebensministeriums). Darunter finden sich rund 600 Pilzarten sowie Flechten, Moose, 1 300 Käferarten, Schmetterlinge, verschiedene Insekten oder Vögel. Auch ein Großteil der Bienen- und Wespenarten sind auf Totholz spezialisiert. Totholz spielt eine große Rolle im Mikroklima und im Nährstoffhaushalt des Waldes (Humusbildung und damit Anreicherung des Bodens mit Nährstoffen); außerdem bietet es Schutz vor Erosionen und Wuchshilfe für junge Bäume. Laut Österreichischer Waldinventur hat sich der Totholzbestand wieder deutlich erhöht, was auf geänderten Bewirtschaftungsmethoden (im Sinne des Österreichischen Waldprogramms) und entsprechenden Förderungen beruht (s. Abschnitt „Wald im Recht“ in diesem Buch): so finden sich in Österreichs Wäldern im Schnitt 6,1 Vorratsfestmeter pro Hektar (Vfm/ha) stehendes Totholz, was eine Steigerung um 35 Prozent gegenüber der letzten Erhebungsperiode 1992/1996 bedeutet. Beim liegenden Totholz kommt man auf 6,3 Vfm/ha. Laut Österreichischem Waldbericht 2008 wurden im Urwald Neuwald ca. 50 Vfm/ha stehendes und zwischen 20 und 280 Vfm/ha liegendes Totholz festgestellt. Ein derart hoher Wert kommt in bewirtschafteten Wäldern nicht vor und ist ökonomisch auch nicht erstrebenswert (ÖBF 2008). 22 Prozent der österreichischen Wälder gelten als „naturnah“, das heißt, der Mensch hat den Wald nur wenig verändert und wenige Spuren hinterlassen. Naturnahe Wälder sind Wälder mit einer Baumartenzusammensetzung nahe der natürlichen Waldgesellschaft in nachhaltiger Bewirtschaftung. Die Zerfallsphase des Waldes im natürlichen Zyklus ist aufgrund der Nutzung des Holzes durch den Menschen verhindert. Dadurch kommt dort weniger Totholz vor als im natürlichen Wald. Als „mäßig verändert“ gilt mit 41 Prozent der größte Anteil des heimischen Waldes; es handelt sich um Wälder mit intensiver forstwirtschaftlicher Nutzung unter Wahrung einiger natürlicher Elemente. 27 Prozent gelten als stark verändert und sieben Prozent der Bestände sind als künstlich einzustufen (Institut für Ökologie und Naturschutz, 1998).

Urwald Wald, der bislang vom direkten menschlichen Einfluss gänzlich unberührt ist, gilt als Urwald. Die Definition der FAO (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO) bezeichnet Urwälder als Wälder, „die eine natürliche Vegetation aufweisen, ohne sichtbaren menschlichen Einfluss sind und deren natürliche Dynamik ungestört verläuft“. Urwälder und Urwaldrelikte findet man auch in Europa, und dort hauptsächlich in Skandinavien, am Balkan und in Osteuropa, wie zum Beispiel die Rotbuchenwälder in

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den Karpaten. In West- und Mitteleuropa findet man kaum mehr Urwaldflächen. Eine Ausnahme bildet der „Urwald Rothwald“ im niederösterreichisch-steirischen Grenzgebiet südlich von Lunz am See. Der Wald erstreckt sich auf etwa 500 Hektar. Es handelt sich damit um den größten mitteleuropäischen Urwaldrest. Zwischen 950 und 1600 Meter Seehöhe befindet sich unberührter Naturwald, der sowohl als Forschungsgebiet, als auch als Naturreservat dient. Der Urwald Rothwald gehört zum Natura-2000-Gebiet „Ötscher-Dürrenstein“. Von den Großraubtieren lebt dort der Luchs. Daneben kommen zahlreiche seltene Arten wie Alpensalamander, Bergmolch und Kreuzotter vor. Der Alpenbock findet aufgrund der hohen Totholzvorkommen ideale Lebensbedingungen. Steinadler und alle vier in Österreich brütenden Raufußhuhnarten (Auerhuhn, Birkhuhn, Hasel- und Steinhuhn) sind hier verbreitet. Überdies gibt es ein Vorkommen typisch alpiner Arten wie Gämsen oder Schneehasen. Auch die Flora ist naturgemäß reich und ein wichtiges Areal wissenschaftlicher Forschungen. Der natürliche Bestand wird hauptsächlich aus Buchen-Tannen-Fichten-Wäldern gebildet, welche bis an die Waldgrenze heranreichen. Überdies finden sich andere seltene Laubbaumarten, wie die Bergulme an den steilen Hängen des Gebietes. Der Urwald Rothwald ist das erste Gebiet Österreichs, das von der IUCN (International Union for Conservation of Nature) im Jahr 2003 als „Wilderness Area“, also als Schutzgebiet der Kategorie I der IUCN-Kriterien, aufgenommen wurde. Im Gegensatz zu den österreichischen Nationalparks (Kategorie II) handelt es sich beim Urwald Rothwald um ein Gebiet, in dem der Schutz der Wildnis vor dem Menschen im Vordergrund steht. Der Urwald muss vom menschlichen Einfluss frei gehalten werden. Daher sind sehr strenge naturschutzrechtliche Bestimmungen mit Betretungsverboten erlassen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, geführte Wandertouren durch das Urwaldgebiet zu unternehmen. Die Österreichischen Bundesforste hegen Pläne, auch Gebiete im Bereich des Toten Gebirges und des Tiroler Ötztales als Wildnisgebiete auszuweisen. Mehr Informationen dazu bietet www.wildnisgebiet.at.

21 gefährdete/seltene Holzgewächse Österreichs Das Kuratorium Wald hat eine „Liste der 21 gefährdeten/seltenen Holzgewächse Österreichs“ zusammengestellt, aus deren Reihen jährlich eine Art zum „Baum des Jahres“ erkoren wird. Im Jahr des Waldes 2011 ist es die Zirbe, 2012 die Elsbeere, 2013 die Eibe. Blasenstrauch (Colutea arborescens), Foto 1.1 Botanische Kurzbeschreibung: Der (Gelbe) Blasenstrauch gehört zur Familie der Hülsenfrüchtler. Dieser giftige, sommergrüne, reich verzweigte Strauch wird ein bis fünf Meter hoch. Kennzeichen ist, dass sich die Rinde längsstreifig von Stamm und Blättern abfasert. Der Blasenstrauch blüht von Mai bis August in goldgelber Farbe. Aus den be1 Artenvielfalt von Waldpflanzen

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stäubten Blüten bilden sich fünf bis acht Zentimeter lange Hülsenfrüchte, die je etwa 20 Samen beinhalten. Wenn sie austrocknen, öffnen sich die Hülsen und der Wind kann die Samen herausreißen. Kommt es aber zu starken Stürmen, dann werden die ganzen Hülsen wie Ballons vertragen (Chamaechorie). Vorkommen: Der Blasenstrauch findet seine natürlichen Vorkommen im nördlichen Afrika, in Südeuropa und im südlichen Mitteleuropa, sowie in Westasien. Als Zierpflanze an Straßenrändern oder in Gärten und Parkanlagen wird er auch in anderen Gebieten eingesetzt. In seinem natürlichen Verbreitungsgebiet gedeiht er überwiegend auf meist trockenen Kalkböden. Er besiedelt vor allem trockene Hänge und Felsflure und ist gelegentlich auch in lichten, submediterranen Laubwäldern zu finden. Nutzen: Früher wurde der Blasenstrauch als Abführmittel sowie als harntreibendes und Blutreinigungsmittel verwendet. Sowohl die Blätter als auch die Früchte und Samen sind leicht giftig. Ihr Verzehr kann Magen- und Darmbeschwerden bis hin zu Erbrechen und Durchfall verursachen. Gefährdungseinschätzung: „gefährdet“. Deutsche Tamariske (Myricaria germanica), Foto 1.2 Botanische Kurzbeschreibung: Die Deutsche Tamariske, auch Rispelstrauch genannt, ist ein sommergrüner Strauch, der als Pionierpflanze auf Kies- und Schotterflächen von Flüssen oder an Wegrändern auftritt. Typisch sind die straffen, aufrechten und rutenförmigen, braunroten Äste. Der Strauch erreicht eine Wuchshöhe zwischen 0,5 und zwei Metern. Die Deutsche Tamariske lebt in Extremen: Zum einen verträgt sie extreme Trockenheit (Schotter), zum anderen extreme Nässe bei Überflutung. Beides ist ihr möglich durch fest im Untergrund verankerte Pfahlwurzeln. Damit kann sie bei Hochwasser auch Bodenverschiebungen überstehen. Da Myricaria germanica sehr viel Licht braucht, ist sie auf offen bleibende Flächen angewiesen. Vorkommen: Sie ist die einzige in Mitteleuropa vorkommende Art aus der Familie der Tamariskengewächse. Man findet sie von den Pyrenäen über ganz Mitteleuropa bis nach Skandinavien im Norden und bis zum Balkan im Süden. In Österreich gibt es nur wenige Vorkommen dieser Art, so an der Isel in Osttirol und am Lech. In Wien, Niederösterreich und Oberösterreich ist sie bereits ausgestorben. Bedroht ist der Rispelstrauch insbesondere durch die Zerstörung seines natürlichen Lebensraumes durch Flussregulierungen und Stauseen. So ist die Deutsche Tamariske auch entlang der Salzach völlig ausgestorben. Im Bereich der Enns starb sie im Verlauf deren Regulierung ab 1860 aus. Wiederansiedelungsprojekte in der Region des Nationalparks Gesäuse existieren. Nutzen: Als Pionierpflanze stabilisiert die Deutsche Tamariske lockere und erodierende Schotterflächen und andere labile Böden in und im Nahbereich von Gewässern. Gefährdungseinschätzung: „vom Aussterben bedroht“, in Ostösterreich gilt sie bereits als ausgestorben.

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Eibe (Taxus baccata), Foto 1.3 Botanische Kurzbeschreibung: Eiben sind giftige, immergrüne Sträucher oder kleine bis mittelgroße Nadelbäume. Sie wachsen äußerst langsam und können bis zu 2 000 Jahre alt werden. Damit sind Eiben die langlebigsten Bäume Europas. Sie besitzen die für Nadelbäume sehr seltene Eigenschaft, dass sie aus dem Stamm wieder ausschlagen können. In Europa ist baccata die einzige Eibenart. Charakteristisch sind die dünne, graue bis rötliche Schuppenborke sowie die Bewurzelung von Ästen, die den Boden berühren. Die Äste beginnen häufig am Boden und der Stamm wird ab einem Alter von zwei- bis dreihundert Jahren innen hohl. Da die Eibe immer wieder neu ausschlägt, entstehen oft bizarre Stammformen, die als Baum Wuchshöhen bis zu 15 Metern erreichen können. Vorkommen: Die Eibe kommt in weiten Teilen Europas und von Nordafrika bis in den Mittleren Osten vor. Sie verträgt nur leichten Frost, benötigt aber feuchtes, regenreiches Klima mit eher milden Wintern, weshalb sie in Österreich nur bis zu einer Seehöhe von etwa 1 300 Metern vorkommt. Am besten gedeiht diese schattenverträglichste Art aller Holzgewächse Europas im mäßig dicht bewachsenen Mischwald; häufig ist sie im Unterwuchs von Buchenwäldern zu finden. Ein besonders schönes Eibenvorkommen befindet sich in der Klamm am Mariahilfberg bei Gutenstein, NÖ. Ihre Gefährdung erklärt sich aus der Übernutzung zur Waffenherstellung sowie durch die Bekämpfung der für viele Pflanzenfresser giftigen Eibe im Rahmen der Waldweidepflege. Nutzen: Eibenholz wurde und wird wegen seiner hohen Elastizität zum Bau von Bögen verwendet. Die fast industrielle Erzeugung englischer Langbögen im Mittelalter brachte die Eibenbestände an den Rand der Ausrottung. Davon hat sich die europäische Eibenpopulation bis heute nicht vollständig erholt. Eibenholz besitzt eine äußerst hohe Dichte. Ein Kubikmeter wiegt rund 800 Kilogramm. Heute beschränkt sich dessen Verwendung auf den Instrumentenbau, ferner auf Schnittholz und Furnier. Eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung kommt der Eibe auch als Zierpflanze in Hecken zu, da sie sich hervorragend zurückschneiden lässt. Alle Organe der Eibe mit Ausnahme des roten Fruchtmantels sind in unterschiedlicher Intensität giftig. Bereits der Holzstaub bei der Verarbeitung kann beim Menschen Übelkeit auslösen. Haussäugetiere, allen voran Pferde, sind sehr empfindlich gegen Eibengift, während Wildtiere eine Immunität dagegen entwickeln können. Eibengift findet in der Humanmedizin zur Krebsbehandlung Anwendung. Gefährdungseinschätzung: „gefährdet“. Elsbeere (Sorbus torminalis), Foto 1.4 Botanische Kurzbeschreibung: Die Elsbeere ist eine sommergrüne Laubbaumart aus der Gattung der Mehlbeeren und gehört zur Familie der Rosengewächse. Sie wird durchschnittlich 15 bis 25 Meter hoch, einzelne Exemplare sogar über 30 Meter. Das Vorkommen von Elsbeeren ist oft nur bei genauem Hinsehen zu erkennen, da sie sich gerne zwischen anderen Bäumen verstecken. Die Elsbeere besitzt kleine Blätter, die der Form des Ahornblattes ähnelt. Ihre Blüten sind weiß und im Herbst ist sie einer der ersten 1 Artenvielfalt von Waldpflanzen

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Bäume, deren Blätter sich leuchtend rot färben. Ihre aschgraue, kleinschuppige Rinde ähnelt jener der Eiche. Vorkommen: Die Elsbeere bevorzugt wärmeres Klima und sonnenexponierte Hänge, weshalb ihr Hauptverbreitungsgebiet in Südeuropa liegt, vor allem in Frankreich, aber auch im südlichen Deutschland. Die Elsbeere bevorzugt nährstoffreiche und eher trockene Böden. Sie vergesellschaftet sich gern mit lichten Eichenbeständen. In Österreich gibt es einige schöne und große Exemplare im Wienerwald bei Neulengbach. In Wien findet man Elsbeeren im Bereich des Maurer Waldes nahe der „Schießstätte“. Regionale Vorkommen gibt es auch im westlichen Alpengebiet, im Kärntner Becken und im nördlichen Alpenvorland. Da die Samen und Keimlinge gerne von Waldtieren aufgenommen werden und sie mit der Buche eine mächtige Konkurrentin hat, ist die Elsbeere in Österreich gefährdet. Nutzen: Elsbeerenholz zählt zu den härtesten Hölzern überhaupt. Es werden daraus besonders stark beanspruchte mechanische Teile hergestellt, wie etwa Lineale oder Obstund Weinpressen – Weinpressen aus Elsbeerenholz findet man heute z.B. noch in Grinzing. Außerdem ist ihr Holz edles Funierholz. Aus den kleinen, bis zu 1,5 Zentimeter dicken Früchten werden Schnäpse erzeugt – insbesondere im Elsass: frz. „Alisier“ – und sie helfen laut Volksmedizin bei Darmerkrankungen. Gefährdungseinschätzung: „extrem selten“. Flaum-Eiche (Quercus pubescens), Foto 1.5 Botanische Kurzbeschreibung: Die Flaum-Eiche ist ein sommergrüner Laubbaum aus der Gattung der Eichen in der Familie der Buchengewächse. Der Baum wird bis zu 20 Meter hoch und besitzt eine breite, unregelmäßige, offene Krone; ihr maximales Alter erreicht Quercus pubescens mit etwa 500 Jahren. Die Flaumeiche kann auch als Strauch vorkommen. Ihre Rinde ist braun bis schwarz. Oft ist die Flaum-Eiche mehrstämmig. Ihre Blätter sind zwischen vier und zehn Zentimeter lang, eiförmig bis elliptisch geformt und gelappt: vier bis acht unregelmäßig geformte Lappen – sowie unregelmäßig gebuchtet. Bei jungen Bäumen sind Knospen, Triebe und Blätter behaart, daher der Name. Blütezeit ist im Frühjahr, zumeist im Mai. Vorkommen: Die Flaum-Eiche kommt in Südeuropa sowie im südlichen Mitteleuropa und in Kleinasien vor. In den Südalpen steigt sie bis auf 1  500 Meter Seehöhe. Sie bevorzugt sonnenwarme, nährstoffreiche Kalkböden, kann aber auch auf trockenen Böden wie Karst vorkommen. Häufig trifft man sie in der Nähe der Traubeneiche. Der nördliche Rand des Verbreitungsgebietes von Quercus pubescens verläuft durch Österreich. In Wien gibt es Baumgruppen aus Flaum-Eichen am Laaer-Berg im Bereich des Böhmischen Praters (Wiener Naturdenkmal Nr. 60). Regional findet man sie in den Alpen und im südöstlichen Alpenvorland. Nutzen: Das harte und schwere Eichenholz wird als Bauholz und zum Möbelbau gebraucht. Während der Zeit des Holzschiffbaus war sie als „Formholz“ für viele Spezialverwendungen sehr begehrt. In Südeuropa werden Flaum-Eichen zur Brennholzgewinnung

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kultiviert. Die Eicheln werden als Schweinefutter (Waldweide) und in Notzeiten auch zur menschlichen Ernährung (Brotzusatz, Eichelkaffee) genutzt. Gefährdungseinschätzung: „extrem selten“. Holz- oder Wildapfel (Malus sylvetris), Foto 1.6 Botanische Kurzbeschreibung: Der Holzapfel ist ein Wildapfel und vermutlich die Stammform des Kulturapfels. Er kommt als Strauch oder als sommergrüner Baum vor; in ganz Europa bis Vorderasien. Als Baum kann er bis zu zehn Meter hoch werden; häufiger gibt es ihn als Strauch von drei bis fünf Meter Höhe. Der Stamm ist niedrig, häufig gekrümmt. Die Rinde ist graubraun und anfangs glatt, später rissig, borkig. Der Holzapfel bildet sehr kleine, „verschrumpelte“ Früchte, die einen hohen Gehalt an Gerbstoffen aufweisen und deshalb weniger wohlschmeckend als Kulturäpfel sind. Außerdem unterscheidet sich der Holzapfel vom Kulturapfel dadurch, dass die Unterseite der Blätter keine oder nur äußerst geringe Behaarung aufweist. Vorkommen: Hauptverbreitungsgebiet von Malus sylvetris ist Mitteleuropa. In den Alpen kommt er bis 1 100 Meter Höhe vor, er bevorzugt jedoch Augebiete und Waldränder. Er benötigt nährstoffreiche, feuchte und basenreiche Lehm- und Steinböden. Manchmal wird er auch angepflanzt zur Produktion von Wildäsung. Als Lichtbaumart unterliegt der eher kleine Baum häufig der Konkurrenz anderer Arten. Schöne Vorkommen findet man beispielsweise in den Donau-Auen. Nutzen: Der Wildapfel erhöht die Artenvielfalt, dient als Bienenweide und Vogelbrutstätte. Es ist auch eine typische Art des Waldrandes und bietet dem Wild attraktive Äsungs- und Fegemöglichkeiten, womit er Verjüngungsflächen im Waldinneren entlastet. In der Küche können die herben Aromen der gerbstoffreichen Früchte als Zusatz zu Marmeladen verwendet werden. Gefährdungseinschätzung: „stark gefährdet“. Hopfenbuche (Ostrya carpinifolia), Foto 1.7 Botanische Kurzbeschreibung: Die Hopfenbuche ist ein sommergrüner Laubbaum aus der Familie der Birkengewächse. Sie kann als Laub werfender Baum oder als Großstrauch vorkommen. Die Krone ist breit, rundlich und dicht. Die Blüten ähneln jenen des Hopfens, das allgemeine Erscheinungsbild der Hainbuche, daher die Namengebung. Die Hopfenbuche wird bis zu 20 Meter hoch und trägt eine dunkle Schuppenborke. Sie besitzt hervorragendes Stockausschlagsvermögen. Die Blätter sind elliptisch-eiförmig und geadert, der Blattrand ist gesägt. Vorkommen: Die Hopfenbuche finden wir in der gemäßigten, nördlichen Hemisphäre vor. Die einzige europäische Unterart, die Europäische Hopfenbuche, kommt im mediterranen bis kleinasiatischen Raum vor. In der Südsteiermark und in Südkärnten liegt die nördliche Grenze ihres natürlichen Verbreitungsgebietes. In den Südalpen steigt sie von etwa 300 bis 1 300 Meter Seehöhe. 1 Artenvielfalt von Waldpflanzen

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Nutzen: Aufgrund ihres guten Stockausschlagvermögens wird die Hopfenbuche gerne zur Brennholzgewinnung kultiviert. Das widerstandsfähige Holz eignet sich auch für den Möbelbau, für Werkzeuge, Musikinstrumente, sowie generell zum Drechseln und Fräsen. Insbesondere Stühle werden gern aus Hopfenbuche gefertigt. Gefährdungseinschätzung: „extrem selten“. Lorbeerweide (Salix pentandra), Foto 1.8 Botanische Kurzbeschreibung: Die Lorbeerweide ist ein sommergrüner Baum; seltener kommt sie als Strauch vor. Sie gehört zur Gattung der Weiden. In Tieflagen wird die Lorbeerweide als Baum zwei bis 15 Meter hoch, in Hochlagen als Strauch ein bis drei Meter. Der Stamm ist dunkelgrau, die Borke weist Längsrisse auf. Die Rinde junger Zweige ist gelblich bis rötlich braun, glänzend und kahl. Die Blätter sind segelförmig, meist in sattem Grün und glatt-glänzend. Bei Sonneneinstrahlung verströmen die Drüsen der Lorbeerweide einen balsamartigen Duft. Vorkommen: Das Verbreitungsgebiet von Salix pentandra ist Eurasien, hauptsächlich in Bruch- und Auwäldern auf kiesig-sandigen, dauerfeuchten Anschwemmungen von Flüssen, Mooren und Moorwäldern. In Österreich findet man sie am ehesten in den westlichen Zentralalpen, während sie in Ostösterreich sehr selten ist. Nutzen: Aufgrund ihrer guten Steckholzvermehrung eignet sich die Lorbeerweide gut zur Hangsicherung und Uferverbauung (Faschinen, lebende Zäune). Gefährdungseinschätzung: „stark gefährdet“. Manna-Esche (Fraxinus ornus), Foto 1.9 Botanische Kurzbeschreibung: Die Manna-Esche ist eine Laubbaumart aus der Gattung der Eschen in der Familie der Ölbaumgewächse. Sie ist ein sommergrüner Laub werfender Baum, der zwischen fünf und 25 Meter hoch wird. Sie kann auch als Strauch wachsen. Charakteristisch sind die sehr schmalen, langen, hängenden Nussfrüchte, die mit Flügeln ausgestattet an Paddel erinnern. Die Krone ist rundlich, locker und licht. Die Rinde ist grau bis schwarz ohne deutliches Furchenmuster. Die weißen Blütenstände sind reich verzweigt; Blütezeit ist von April bis Juni. Die Blätter sind gefiedert und die Fiederblättchen gesägt; die Winterknospen sind graubraun. Die Früchte sind im Oktober reif und können dank ihrer etwa zwei Zentimeter langen, schmalen Flügel gut vom Wind vertragen werden. Vorkommen: Natürliches Verbreitungsgebiet der Manna-Esche liegt im mediterranen Raum; man findet sie vor allem in Ostspanien, Südfrankreich, Italien, in Österreich regional im pannonischen Raum, am Balkan und in der Türkei. Der kleine Baum oder Strauch wächst sowohl in der Ebene als auch im Bergland. Fraxinus ornus liebt kalkige Böden und lichte Standorte, vor allem auch trockene Habitate an steilen Hängen. Nutzen: Die Manna-Esche wurde vor der industriellen Zuckerproduktion in Plantagen zur Gewinnung des süß schmeckenden Blutungssaftes – in eingetrocknetem Zu-

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stand: „Manna“ – kultiviert. Da diese Art gut an steilen Hängen als Pionier wächst, wird sie zur Stabilisierung des Bodens und zum Schutz der menschlichen Anwohner eingesetzt. Gefährdungseinschätzung: „extrem selten“. Moorbirke (Betula pubescens), Foto 1.10 Botanische Kurzbeschreibung: Die Moorbirke ist eine Pionierbaumart, die in der Lage ist, neue Lebensräume rasch zu besiedeln. Sie wird über 30 Meter hoch und 100 bis 120 Jahre alt. Ihre Borke ist weiß bis grauweiß, die Blätter sind herzförmig. Die rötlichbraunen Zweige sind in jungem Stadium flaumig behaart. Betula pubescens ist ein wahrer Überlebenskünstler: Durch die hohe Samenproduktion – bis zu vier Kilogramm pro Blütesaison und 50 000 Samen pro Quadratmeter Boden – sowie eine tausende Kilometer weite Verbreitung der Pollen gelingt es ihr immer, an neuen Standorten Fuß zu fassen. Die Moorbirke ist gegen Kälte unempfindlich, da sie bei Temperaturen um minus 40 Grad Celsius die eingelagerte Stärke in Öl umwandelt und damit Wärme erzeugt. Außerdem schließt sie bei starker Kälte die Lüftungsrisse in der Borke. Moorbirken zeichnen sich auch durch eine sehr hohe Wasserdurchflutung aus: ein Exemplar kann bis zu 500 Liter an einem einzigen Tag aus der Erde saugen. Vorkommen: Die Moorbirke gilt als die nördlichste Baumart Europas, sie ist also jener Baum, dessen Verbreitungsgebiet am weitesten nach Norden reicht. Man findet sie von der gemäßigten Klimazone Eurasiens bis zur subarktischen Baumgrenze. In den Alpen wächst sie vom Talboden bis in Höhen von 2 000 Metern. Im Süden ist die Moorbirke bis Norditalien, zu Balkan und Kaukasus verbreitet. Sie benötigt saure bis sehr saure, luftarme, feuchte bis nasse Böden und viel Licht. Wo hohe Luftfeuchtigkeit vorherrscht oder viel Regen fällt, kann ihr Standort auch trockener sein. Am häufigsten ist sie in der Nähe von Mooren und Bruchwäldern anzutreffen, bei uns im Wald- und Mühlviertel. Durch das Zurückdrängen genau der Habitate Moore und Feuchtwiesen sowie die klimatisch bedingten trockeneren Sommer wird ihr Vorkommen zunehmend gefährdet. Nutzen: Bei größeren Beständen wird das Holz der Moorbirke – ebenso wie jenes der Hängebirke (Betula pendula) – vor allem für den Innenausbau und für Möbel, aber auch als Imitat von Edelholz verwendet. Tee aus Birkenblättern bewirkt eine vermehrte Salzund Wasserausscheidung. Die Harnsäurekonzentration wird gesenkt. Aus Birkenextrakt wird auch Haarwuchsmittel hergestellt. In ihrer nordischen Heimat fungiert Birkenholz als bedeutendes Brennmaterial und wird auch zum Fleisch- und Fischselchen bzw. -trocknen verwendet. Aus der Rinde können Gefäße hergestellt werden. Gefährdungseinschätzung: „gefährdet“, besonders im pannonischen Raum. Pimpernuss (Staphylea pinnata), Foto 1.11 Botanische Kurzbeschreibung: Staphylea pinnata ist eine Strauchart aus der Familie der Pimpernussgewächse. Die Sträucher werden drei bis vier Meter hoch. Ihre Blätter sind 1 Artenvielfalt von Waldpflanzen

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drei- oder fünfzählig gefiedert; die Blüten hängen in weißlichen Rispen. Die „Nuss“ ist eigentlich ein Samen, der im reifen Zustand in den Früchten klappert, woher wohl der Name der Pimpernuss rührt. Vorkommen: Die Pimpernuss kommt in Eichen-, Ahorn- und Buchenwäldern an Hängen und Waldrändern auf mäßig trockenen Böden vor. Ihr geografisches Verbreitungsgebiet liegt vor allem im südöstlichen Mitteleuropa. In Österreich findet man sie im pannonischen Raum und im Kärntner Zentralland. Nutzen: Der Pimpernuss wird aphrodisierende Wirkung nachgesagt. Aus ihren Blütentrauben können Süßigkeiten hergestellt werden. Außerdem sind die haselnussartigen Samen essbar und ähneln im Geschmack Pistazien. Auch Pimpernusslikör wird daraus hergestellt und ist eine beliebte Spezialität. Das harte Holz der Pimpernuss eignet sich hervorragend für Drechsel- und Zierarbeiten. Auch Pfeifenrohre und Teile von Musikinstrumenten werden gelegentlich aus Pimpernussholz gefertigt. Aufgrund ihrer spärlichen Verbreitung ist auch die ökonomische Bedeutung gering. Gefährdungseinschätzung: „selten“. Sanddorn (Hippophaë rhamnoides), Foto 1.12 Botanische Kurzbeschreibung: Der Sanddorn gehört zur Familie der Ölweidengewächse und ist ein sommergrüner, dicht verzweigter und buschiger Strauch. Er wird ein bis sechs Meter hoch und kann auch als Baum vorkommen. Hippophaë rhamnoides besitzt ein weit verbreitetes Wurzelsystem, das einen Durchmesser von über zehn Meter erreichen kann. Die Zweige bilden Kurztriebe aus. Charakteristisch sind die orangefarbigen bis roten, ovalen und bis zu acht Millimeter langen „Beeren“ – botanisch: Schein-Steinfrüchte –, die der Sanddorn von August bis Dezember trägt. Vorkommen: Das Heimatland des Sanddorns ist Nepal; durch eiszeitliche Verschiebungen kommt der Sanddorn heute in weiten Teilen Eurasiens vor. Das europäische Verbreitungsgebiet erstreckt sich über Mitteleuropa – von den Pyrenäen über die Alpen und das Alpenvorland – bis zum Kaukasus. Im nordwestlichen Europa findet der Sanddorn in Norwegen seine nördliche Grenze. Hippophaë rhamnoides ist eine Pionierart und häufig an Dünen von Küstenregionen oder in lichten Kiefernwäldern, Schottergruben und trockenen Augebieten auf nährstoffreichen, aber trockenen Sand- und Kiesböden anzutreffen. In den Alpen wächst der Sanddorn bis maximal 1 900 Meter Seehöhe. In der Nähe Wiens ist er im Nationalpark Donau-Auen zu finden. Nutzen: Als besonders wertvoll gelten Sanddorn-Hecken als Nistplätze für Vögel, welche die Früchte den Winter über auch als bedeutende Nahrungsressource aufsuchen. Außerdem ist er das ausschließliche Habitat des Sanddorn-Feuerschwamms, einer bedrohten Art. Zu Getränken werden die Früchte des Sanddorns in Form dicken Fruchtsaftes oder Nektars sowie als Bestandteil von Mixgetränken und Cocktails verarbeitet. Aus Sanddornfrüchten werden auch Alkoholika, wie Obstwein oder Likör (Fasanenbrause) gemacht. Das Fruchtfleisch ist reich an Vitamin C, Gerbstoffen und Beta-Karotin. Auch das gewonnene Öl ist reich an ungesättigten Fettsäuren und Vitaminen. Sanddornöl

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findet als Hauptpflegemittel in der kosmetischen Industrie Verwendung. Außerdem hat Sanddornöl Wert als Nahrungsergänzungsmittel. Sein weit und tief reichendes Wurzelsystem hilft im Pionierstadium, labile Böden zu befestigen. Gefährdungseinschätzung: „gefährdet“, besonders stark im östlichen Alpengebiet, im nördlichen Alpenvorland und im pannonischen Raum. Schnee-Birne (Pyrus nivalis), Foto 1.13 Botanische Kurzbeschreibung: Die Schneebirne ist ein kleiner, sommergrüner Baum mit dauerhaft filzig behaarten Blättern und dunkel blutroter Herbstverfärbung. Sie hat intensive Ausschlagfähigkeit und wird acht bis 15 Meter hoch. Auffällig ist ferner ihre späte Reifezeit in September/Oktober und dass ihre Früchte erst nach Frost essbar werden. Die Schneebirne treibt spät aus, ihre Blätter erscheinen erst fünf bis zehn Tage nach den Blüten. Die Borke hat hellgraue bis braune Färbung. Vorkommen: Die Schneebirne kommt in Südeuropa und im südlichen Mitteleuropa bis nach Kleinasien vor. Sie wächst stets in der Nähe von aufgelassenen Wein- oder Obstgärten und an trockenen, sonnenexponierten Standorten auf kalkreichen Böden. In allen von ihr besiedelten Biotopen ist ihre Zahl so stark rückläufig, dass sie konsequent geschützt werden muss. Nutzen: Wegen der prachtvollen Herbstfarben ihres Laubes sollte die Schneebirne häufiger als bisher als Ziergehölz gepflanzt werden. Ihre Frucht hat keine ökonomische Bedeutung; sie ist zwar essbar, aber weniger wohlschmeckend als Kulturbirnenarten. Als Wildäsungspflanze am Waldrand hat Pyrus nivalis Bedeutung für die Jagdwirtschaft. Gefährdungseinschätzung: „stark gefährdet“. Schwarz-Pappel (Populus nigra), Foto 1.14 Botanische Kurzbeschreibung: Die Schwarz-Pappel ist ein mächtiger Baum mit knorrigem Wuchs. Sie wird bis zu 30 Meter hoch. Ihr Stamm hat bis zu zwei Meter Durchmesser und sie kann ein Alter von 100 bis 200 Jahren erreichen. Im Alter bildet sie eine schwarz-gräuliche tiefrissige Rinde. Auf der Schwarz-Pappel entwickeln sich acht heimische Nachtschwärmer, darunter der Pappelschwärmer. Die Bäume werden oft auch von Galle erzeugenden Insekten, wie der Spiralgallenlaus, bewohnt. Vorkommen: Das Hauptverbreitungsgebiet der Schwarz-Pappel reicht über weite Teile Europas, mit Ausnahme des hohen Nordens. Man findet sie insbesondere entlang der großen mitteleuropäischen Flusstäler Donau, Loire, Rhein, Po. In Österreich wachsen Schwarz-Pappeln bevorzugt zwischen Linz und dem Strudengau, dann wieder im Tullner Feld und östlich von Wien. Einzelne Vorkommen sind noch für die March entlang der slowakischen Grenze, im Weinviertel, an der Leitha und im Burgenland, sowie in der Südsteiermark nachgewiesen. In Wien stehen Schwarz-Pappeln nur im Prater im Bereich Maria Grün/Freudenauer Wasser (Naturdenkmal Nr. 266) Populus nigra ist an nährstoffreichen, gut belichteten Sand- und Kiesböden zu finden. Überschwemmungen 1 Artenvielfalt von Waldpflanzen

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schaden ihr nicht, was ihr einen Standortvorteil in Flussnähe bringt. Der Schwarz-Pappel-Auwald gilt in Österreich als einer von vier heimischen Waldbiotoptypen, der von völliger Vernichtung bedroht ist. Grund dafür ist vor allem die Neigung der SchwarzPappel, auf Rohböden, wie Sand oder Schlick, zu keimen, und dass genau diese durch die Regulierung der Flüsse zurüc kgedrängt bzw. weitgehend verhindert werden. Gegen längerfristige Überschwemmungen reagiert die Schwarz-Pappel jedoch empfindlich; ihr Wasseraufnahmevermögen liegt unter jenem der Weide. Nutzen: Das Holz eignet sich hervorragend zum Schnitzen. Als Blindfurnier wurde es vom Biedermeier bis in die 60er Jahre an der Innenseite der Möbel verwendet. Die entzündungshemmenden Salben und Balsame aus den Knospen sind bis ins 12. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Die Schwarz-Pappel ist sehr wichtig für die Biodiversität im Auwald. Gefährdungseinschätzung: „gefährdet“, besonders stark im Alpengebiet. Speierling (Sorbus domestica), Foto 1.15 Botanische Kurzbeschreibung: Der Speierling ist ein zehn bis 20, gelegentlich sogar bis zu 30 Meter hoher Wildobstbaum, der bis zu 500 Kilogramm bittere, essbare Früchte trägt; daher sein Name. Die Früchte ähneln in ihrer Form Äpfeln, manchmal auch Birnen, mit deren Wildformen der Speierling verwandt ist. Sein österreichischer Bestand umfasst nur mehr etwa 500 Exemplare. Sorbus domestica wird bis zu 400 Jahre alt, womit er der älteste Vertreter der Mehlbeeren – Gattung „Sorbus“ – ist. Vorkommen: Speierlinge findet man von Nordwestafrika über die Iberische Halbinsel bis hin nach Kleinasien. Der Baum bevorzugt eher trockene, kalkige, sommerwarme Lehm- und Tonböden. Er war und ist ein sehr seltener Baum in Europa. Von den geschätzten 300 bis 500 Exemplaren in Ostösterreich gibt es 23 in Liesing und zwölf im Lainzer Tiergarten. Der Speierling mit dem dicksten Stamm in ganz Österreich (über 140 Zentimeter Durchmesser) steht in der Gemeinde Gieshübl bei Mödling. Neben Krankheiten wie Feuerbrand ist vor allem auch die Forcierung der europäischen Hochwälder ein Grund für den Rückgang dieser faszinierenden Baumart. Außerdem ist der Speierling durch den Schorpilz und den Rindenkrebs gefährdet. Nutzen: Seit vielen Jahrhunderten werden den Früchten des Speierlings in der Volksmedizin zahlreiche Wirkungen zugeschrieben: gegen Erbrechen, Ruhr und Durchfall sowie gegen andere Magen-Darm-Erkrankungen. Zurückzuführen ist dies auf den hohen Säuregehalt der Früchte. Im antiken Rom waren Speierlingfrüchte begehrtes Tafelobst. Das Holz von Sorbus domestica ist dunkelbraun, schwer, sehr hart und zum Schnitzen, Drechseln sowie als wertvolles Furnierholz geeignet; es wird gern zum Bau von Musikinstrumenten verwendet. Im Elsass stellt man aus dem Saft Schnaps, den „Sorbette“, her. Gefährdungseinschätzung: „stark gefährdet“.

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Steinweichsel (Prunus mahaleb), Foto 1.16 Botanische Kurzbeschreibung: Die Steinweichsel wächst als Strauch oder Baum und wird zwei bis zehn Meter hoch. Die runden Blätter sind vier bis acht Zentimeter lang und mit kurzen, runden Zähnen versehen. Blütezeit ist von April bis Mai. Die schwarzen Früchte sind klein und eiförmig. Vorkommen: Die Steinweichsel kommt rund um das Mittelmeer vor, von Nordafrika bis nach Vorderasien. In Mitteleuropa findet man sie in wärmebegünstigten Lagen. Meist besiedelt sie trockene und sonnige Gebüsche und lichte Flaumeichenwälder. Ihr Verbreitungsgebiet ist auf wenige Standorte im ostösterreichischen Raum beschränkt: entlang der Thermenlinie, im südlichen Wiener Becken und in den Hainburger Bergen. Regionale Vorkommen findet man auch im westlichen Alpengebiet. Durch Auspflanzung an Straßen findet man die Art heute an so manchem niederösterreichischen Straßenrand. Nutzen: Gelegentlich begegnet man noch Pfeifenrohren und Spazierstöcken aus ihrem wohlduftenden Holz; früher wurden Steinweichseln zu diesem Zweck in Österreich sogar kultiviert. Im Raum Mattersburg finden sich immer noch Reste solcher Kulturen. Die Früchte sind nicht genießbar, doch werden die gemahlenen Kerne im arabischen Raum als Gewürz – „Mahlab“ – verwendet. Gefährdungseinschätzung: „extrem selten“. Strauch-Birke und Zwerg-Birke (Betula humilis, Betula nana), Foto 1.17 Botanische Kurzbeschreibung: Strauch- und Moorbirke sind kleine Sträucher oder Bäume aus der Familie der Birkengewächse. Es handelt sich um sommergrüne, reichästige, einen halben bis drei Meter hohe Sträucher. Die Rinder der Strauch-Birke ist bräunlich, jene der Zwerg-Birke schwarz-grau. Beide Arten besitzen Kätzchen, welche aufrecht stehen. Die Blätter der Zwerg-Birke sind mit einem Durchmesser von etwa einem Zentimeter kleiner als jene der Strauchbirke, die vier Zentimeter erreichen können. Blütezeit ist April und Mai. Bei der Zwerg-Birke ist die beeindruckende goldig-rote Herbstfärbung zu beobachten. Vorkommen: Der nacheiszeitliche dicke Zwerg-Birkengürtel mit der enormen Verbreitung von den nördlichen Eisbeständen bis zu den Alpen ist heute bis auf wenige Reliktvorkommen geschrumpft. Das derzeitige Hauptverbreitungsgebiet der beiden Birkenarten sind Moorwälder, die der Mensch in ganz Europa massiv zurück gedrängt hat, Hochmoore sowie Flachmoore und Erlenbruche – worunter man vernässte, grundwassernahe, teils überflutete Wälder versteht. Die Zwerg-Birke kommt in weiten Teilen ­Eurasiens vor, in Mitteleuropa ist sie selten. Österreich liegt am westlichen bzw. süd­ lichen Ende des Verbreitungsgebietes. Bei uns ist sie selten bis sehr selten und man findet sie in Niederösterreich, in der Steiermark, in Kärnten, Tirol und Salzburg. In Vorarlberg und Oberösterreich war die Zwerg-Birke ausgestorben, wurde jedoch aus dem Salzburger Teil des Ibmer Moores wieder angesiedelt. Nutzen: Tee aus Birkenblättern wirkt harntreibend, beruhigend und soll gut für den Magen sein. Birkenholz brennt auch in feuchtem Zustand, weshalb es in Nordeuropa für 1 Artenvielfalt von Waldpflanzen

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Lagerfeuer verwendet wird. Reisig von Strauch- und Zwerg-Birken wird auch – vor allem in Finnland – in Saunen verwendet. Die essbaren Blätter können als Gewürz genommen werden. Gefährdungseinschätzung: „stark gefährdet“, regional besonders stark im nördlichen Alpenvorland, im westlichen Alpengebiet und im pannonischen Raum. (Weiß-)Tanne (Abies alba), Foto 1.18 Botanische Kurzbeschreibung: Die Tanne gehört zu den Kiefergewächsen und bildet 51 Unterarten, wobei in Mitteleuropa die Weißtanne vorkommt. Sie ist ein immergrüner, tief wurzelnder Nadelbaum mit Wuchshöhen von 20 bis 60 Metern, wobei die höchsten europäischen Exemplare am Balkan zu finden sind. Die Weißtanne ist eine typische Art des Bergmischwaldes, häufig vergesellschaftet mit Fichte, Buche und Bergahorn. Sie ist ein sehr schattenverträglicher Baum, der Jahrzehnte lang unter Beschirmung leben kann. Auffällig sind die nach oben gewölbten Äste der Baumkrone sowie der gerade und kräftige Stamm. Im Gegensatz zur Fichte sitzen die bis etwa zehn Zentimeter langen Zapfen nach oben zeigend auf den Ästen der Tanne und sind dort verankert. Der sogenannte „Tannenzapfen“ am Boden ist also eigentlich ein Fichtenzapfen. Die Borke von Abies alba ist im Gegensatz zur rötlichen Rinde der Fichte weiß bis weißgrau, woher sich der Name „Weißtanne“ ableitet. Die Nadeln sind etwa zwei bis drei Zentimeter lang und zwei bis drei Millimeter breit. Die Tanne wird bis zu 600 Jahre alt. Vorkommen: Ihr Verbreitungsgebiet liegt in Mittel- und Südeuropa. In Wien findet man Tannen (und auch Elsbeeren) im Bereich des Maurer Waldes in der Umgebung der „Schießstätte“. In den vergangenen 200 Jahren verlor die Tanne große Teile ihres vormaligen Verbreitungsgebietes. Ihre Gefährdung ergibt sich einerseits historisch durch die Verdrängung seitens der gewinnbringenden Fichte, andererseits durch Wildverbiss und Spätfrost. Außerdem bedrohen sie Trockenstress im Zuge des Klimawandels und Immissionen: Die Tanne reagiert äußerst empfindlich auf Luftschadstoffe. Nutzen: Große wirtschaftliche Bedeutung kommt der Tanne als Bauholz zu, da es ähnliche Eigenschaften hat wie Fichtenholz, aber ohne Verharzungen oder Wasserkerne, ferner im Möbelbau und auch für Wasserbauten; ebenso in der Papierindustrie und als „Weihnachtsbaum“, wofür sie in Plantagen kultiviert wird. Das Holz der Weißtanne ist weiß-gelblich-grau. Tannenholz ist allerdings schwieriger zu trocknen als Fichtenholz. Gefährdungseinschätzung: „gefährdet“. Ulmen (Ulmus sp.), Foto 1.19 Botanische Kurzbeschreibung: Die Ulmen, auch Rüster genannt, bilden eine Gattung innerhalb der Familie der Ulmengewächse. Ulmen sind sommergrüne Bäume und Sträucher; in Österreich kommen die Unterarten Berg-, Flatter- und Feldulme vor. Die Bäume können eine Höhe von bis zu 40 Metern erreichen. Typisch für Ulmen sind die asymmetrischen Blätter, bei denen eine Seite deutlich größer ist als die andere; sie sitzen

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wechselseitig am Stiel, sind eiförmig und doppelt gezähnt. Oft sind sie dreispitzig, weshalb es zu Verwechslungen mit Haseln kommen kann. Die ein bis drei Zentimeter lange Nuss reift im Mai/Juni. Vorkommen: Ulmen findet man von Spanien bis zum Ural sowie im Norden bis zu den Britischen Inseln und bis Südskandinavien. Die Bergulme steigt im alpinen Raum bis auf etwa 1 500 Meter Seehöhe. Ulmen sind in ihrem Bestand massiv durch das „Ulmensterben“ bedroht, das durch den Schlauchpilz Ophiostoma ulmi verursacht wird. Er lebt in den Tracheen der jüngsten Jahresringe und regt den Baum zur Verthyllung, dem Verschließen der Wasserleitungsbahnen, an. Dies führt zum Verstopfen der Tracheen und damit zum Absterben des Baumes. Der Pilz wird durch den Ulmensplintkäfer übertragen. Vor allem bei ungünstigen Standortbedingungen, wie dichten Anpflanzungen an Straßen, verbreitet sich die Krankheit rasant. Durch Grundwasserabsenkung wird sie zusätzlich gefördert. Erkrankte Äste oder auch die ganzen Pflanzen sollten sofort vernichtet werden. Nutzung: Junge Ulmenblätter sind essbar und eignen sich insbesondere für Salate. Das Ulmenholz, der eigentliche „Rüster“, ist ein sehr teures Holz, das für Furniere, Parkette und Edelmöbel verwendet wird. Früher wurden auch Bögen, Räder, Felgen und Speichen aus Rüster gefertigt. Typisch für ihn ist das rötliche Holz im Kern. Feldulmenrinde wurde früher auch eingekocht und gegen Durchfall verordnet. Gefährdungseinschätzung: Bergulme – „extrem selten“ im nördlichen und südöstlichen Alpenvorland und im pannonischen Raum; Flatterulme – „extrem selten“ im Alpengebiet, auf der Böhmischen Masse und im nördlichen und südöstlichen Alpenvorland; Feldulme – „gefährdet“ regional im Alpengebiet. Wildbirne (Pyrus pyraster), Foto 1.20 Botanische Kurzbeschreibung: Die Wildbirne ist ein sommergrüner Baum oder Strauch aus der Familie der Rosengewächse. Sie wird als Baum bis zu 20 Meter hoch, als Strauch 1,5 bis vier Meter. Die Wildbirne kann etwa 150 Jahre alt werden. Ihre Borke ist grau geschuppt. Die Blätter sind zwei bis acht Zentimeter lang, oval und gesägt. Sie können glatt oder behaart sein. Die braunen, bis 3,5 Zentimeter langen Früchte sind herb schmeckend und neigen zur Verholzung. Ähnlich wie beim Holzapfel sind auch hier die Früchte härter und weniger schmackhaft als bei den zahlreichen Kulturformen. Vorkommen: Als Baum der nährstoffreichen und warmen Auwälder ist Pyrus pyraster vornehmlich in den wärmeren Gegenden Mittel- und Süddeutschlands verbreitet, aber nirgendwo häufig. Wohingegen die Kulturform überall zu finden ist. Die Wildbirne ist eine Licht- bis Halbschattenbaumart, die sowohl auf trockenen Steinböden als auch auf tiefgründigen nährstoffreichen Böden vorkommt, häufig in Mischbeständen mit anderen Laubholzarten. Die Wildbirne ist eine typische Art des Waldrandes und somit eine Leitbaumart eines artenreichen Lebensraumes. In der Nähe Wiens findet man Wildbirnen in den Donau-Auen und ein prächtiges, einzeln stehendes, altes Exemplar am Damm zum Uferhaus in Groß-Enzersdorf, NÖ (Naturdenkmal). 1 Artenvielfalt von Waldpflanzen

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Nutzung: Das Holz der Wildbirne ist hart und dauerhaft und eignet sich hervorragend für Drechselarbeiten. Wildobstbestände an Waldrändern bieten nicht nur vielen Vögeln und Insektenarten Nahrung und Lebensraum, sondern auch Äsung für Wild, was zu einem Rückgang an Verbissschäden an nahe gelegenen Verjüngungsflächen führen kann. Gefährdungseinschätzung: Die Wildbirne findet sich nicht auf der „Roten Liste der Farn- und Blütenpflanzen“ nach Niklfeld. Dies wohl auch deshalb, weil umstritten ist, ob sie überhaupt existiert oder es sich lediglich um ausgewilderte Kulturformen handelt. Ein Indiz dafür wäre, dass sie fast ausschließlich in der Nähe von Kulturformen oder aufgelassenen Kulturen vorkommt. Zirbe (Pinus cembra), Foto 1.21 Botanische Kurzbeschreibung: Die Zirbe, auch Arve genannt, ist ein immergrüner Nadelbaum mit Wuchshöhen von 20 bis 30 Metern. Gemeinsam mit der Lärche bildet sie die hochalpine Waldform des Arven-Lärchenwaldes sowie die Waldgrenze. Die Äste sind kurz und gedrungen und zeigen an den Enden nach oben; die Borke ist anfänglich glatt und grau, später braun und längsrissig geschuppt. Die Zapfen sind etwa sieben Zentimeter breit, zwölf Zentimeter hoch und im reifen Zustand rötlich-braun. Die dunkelgrünen Nadeln sind fünf bis acht Zentimeter lang und nur etwa einen Millimeter dick. Im Unterschied zu den zweinadeligen Schwarz- und Weißkiefern ist die Zirbe fünfnadelig. Vorkommen: Die europäischen Zirbenbestände befinden sich in den Alpen und in den Karpaten. Zirbenwälder beginnen ab etwa 1 500 Meter Seehöhe, oft aber erst ab 1 700 Meter. Vergesellschaftungen mit Lärche sind häufig. Pinus cembra bevorzugt sauerhumose Steinböden und ist eine typische Lichtbaumart. Im alpinen Raum kommt sie bis auf Höhen um die 2 800 Meter vor, am liebsten aber um die 2 000 Meter, wo sie die Wald- und Baumgrenze bildet. Bedeutende österreichische Vorkommen befinden sich in den Hohen Tauern, den Ötztaler Alpen und auf der Turracher Höhe. Nutzen: Im Alpenraum wurde Zirbenholz früher häufig zum Hütten- und Hausbau verwendet. Das angenehm duftende, zähe und sehr dauerhafte Holz wird auch für den Möbelbau genommen. Außerdem fertigt man Schindeln häufig aus Zirbenholz. Medizinische Untersuchungen belegen die positiven Wirkungen von Zirbenholz auf den menschlichen Organismus: So senkt ein Bett aus diesem Holz die Pulsfrequenz nachweislich und bürgt für einen gesunden und erholsamen Schlaf. Die Samen der Zirbe („Zirbennüsse“) sind wohlschmeckend und bestehen bis zu 70 Prozent aus Öl und zu 20 Prozent aus Eiweiß. Eine weitere Spezialität ist der „Zirbengeist“, Schnaps, in den man Zirbenzapfen über mehrere Wochen einlegt. Gefährdungseinschätzung: außerhalb der gehäuften Vorkommen selten.

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Literatur Institut für Ökologie und Naturschutz (1998): Hemerobie österreichischer Waldökosysteme. Universität Wien LFW (1999): Informationen aus der Wissenschaft, LFW aktuell Nr. 18; Bayerische Landesanstalt für Wald und Forstwirtschaft Niklfeld, H. (1999): Rote Listen gefährdeter Pflanzen Österreichs. – Band 10 der Grünen Reihe des Bundesministeriums für Umwelt, Jugend und Familie; Austria Medienservice, Graz ÖBF – Österreichische Bundesforste AG (2008): Aktiv für Totholz im Wald

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2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt Wolfgang Scherzinger

Einleitung Auf überwiegender Fläche waren die Landschaften Mitteleuropas von Wäldern bedeckt. Bei der Vielgestaltigkeit der Landschaftsgliederung Österreichs erstreckten sich Wälder in sehr unterschiedlicher Baumarten-Zusammensetzung vom Tiefland am Neusiedlersee, über die Auen an den großen Flüssen, das Hügelland in der heutigen Oststeiermark oder im Weinviertel bis zu den diversen Bergstufen, die z.B. in der Böhmischen Masse Mittelgebirgscharakter erreichen, und dehnten sich vom Wienerwald oder dem Alpenvorland bis ins Hochgebirge des Alpenkammes, wo sie an die Waldgrenze stoßen. Alle diese Waldkomplexe fungieren als Lebensräume der Vogelwelt, und über die Jahrtausende durchlebten Wald und Vögel eine gemeinsame Geschichte. Mit der nacheiszeitlichen Rückkehr der Strauch- und Baumarten folgte auch die Wiederbesiedlung der Tierwelt aus ihren eisfrei gebliebenen Rückzugsgebieten in Süd- oder Osteuropa, selbst aus Asien. Den Vogelarten z.B. standen zunächst Waldsteppe und boreale Tundra offen (mit Hasel, Birke, Kiefer; attraktiv z.B. für Waldhühner und Eulen; etwa 9 000–10 000 Jahre vor heute), in deutlich wärmeren Zeitabschnitten gab es lichte Laubmischwälder (mit Eiche, Linde, Ulme, Esche; attraktiv z.B. für Spechte, Greifvögel und Singvögel; rund 4  500–7  000 Jahre vor heute). Erst mit Einwandern der dunklen Tannen und abschattenden Buchen (vor rund 4 000 Jahren) formten sich Wälder mit großflächig geschlossenem Kronendach, in dessen Schatten eine meist nur spärliche Boden- und Strauchvegetation gedeihen kann. Die Diversität der Avifauna in diesen „modernen“ Wald-Lebensgemeinschaften entspricht in groben Zügen der heutigen Artenausstattung an waldbewohnenden Vogelarten. Obwohl nur wenige Reliktflächen mit primären Urwäldern und naturnahen Altbeständen bis heute überdauert haben, die überwiegende Waldfläche in Mitteleuropa vielmehr durch jahrhundertelange Nutzung – wenn nicht gar Ausbeutung – durch den Menschen geprägt ist, beherbergen Wälder noch immer wesentliche Faunenelemente der ursprünglichen Naturausstattung unserer Landschaft (vgl. Waldenspuhl 1991, Scherzinger 1996). Somit sind Wälder wichtige Repräsentanten unseres Naturerbes, woraus sich eine hohe Verantwortlichkeit für die Bewahrung von Waldbeständen in ihrer primären Charakteristik ableitet. Die frühe Naturschutzbewegung beschäftigte sich vor allem mit der Ästhetik der vorindustriellen Kulturlandschaft, im Bemühen, die artenreichen Sekundär-Gesellschaften trotz großflächiger Ausweitung von Agrarindustrie, Straßenbau und Verstädterung auf ausreichender Fläche zu sichern. Seit die Methoden der Industrialisierung aber auch auf die Holzproduktion angewandt werden, rückte die wachsende Gefährdung der Waldnatur in den Blickpunkt einer kritischen Öffentlichkeit. Folgerich2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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tig wurde der Sicherung des Naturerbes unserer Wälder ein prioritäres Naturschutzziel zuerkannt (Scherzinger 2005.a; Tab. 2.1); zweifellos spielt die Vogelwelt dabei eine wichtige Rolle.

Zukunftsorientiert

Vergangenheitsorientiert

Tab. 2.1: Die unübersehbare Vielfalt an Naturschutz-Zielen lässt sich zu 4 Hauptaspekten bündeln. Im Gegensatz zum traditionellen Bewahren des kulturellen Erbes aus der vorindustriellen Bauernlandschaft wurde dem Bewahren des Naturerbes, als Relikt ursprünglicher Naturausstattung, erst in den letzten Jahrzehnten der entsprechende Stellenwert zuerkannt, z.B. durch die Ausweisung von Wald-Nationalparks und Wildnis-Gebieten.

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      Bewahren         Bewahren           Entwickeln      

      des Naturerbes         des Kulturerbes         einer nachhaltigen Bewirtschaftung

Naturwald-Reservate Kernzone Biosphären-Reservat Nationalparks primäre Wildnis ursprüngliche Artenvielfalt

Entwickeln  

    eines diversen HumanLebensraumes

bäuerliches Kulturland dörfliche Strukturen Alleen, Dorfbäume alte Nutz-Rassen heimische Artenvielfalt  ökonomisch: Biomasse, Energie Boden, Wasser, Luft ökologisch: Arten, Systeme, Prozesse sozial: Lebensqualität, Arbeit, Einkommen   Optimierung der Vielfalt an Arten, Strukturen und Erlebnisqualität, integriert auf Wirtschaftsfläche

 

 

und Siedlungslandschaft

Wolfgang Scherzinger

1 Artenreichtum der „Waldvögel“ So wie es für „Wald“ keineswegs eine klare Definition gibt (… jede größere Fläche mit mehr/minder geschlossenen Beständen an Holzgewächsen; vgl. Stinglwagner et al. 2009), sind auch die Arten an Waldvögeln nicht einfach aufzulisten: Zur Avifauna der Wälder zählen im Einzelnen ‚‚ Arten mit strikter Bindung an großflächig zusammenhängende Baumbestände (Vögel des Wald-Innenklimas [z.B. Waldbaumläufer, Weißrückenspecht], Waldvogelarten mit großem Flächenbedarf [z.B. Schwarzstorch, Auerhuhn]; vgl. Flade 1994, Duelli & Coch 2004); ‚‚ Arten der Waldlichtungen und Waldränder (Vögel des Wald-Außenklimas [z.B. Zilp­ zalp], Waldvogelarten, die auch Feldgehölze, Baumhecken und Baumgruppen besiedeln können [z.B. Grünspecht, Waldohreule, Birkhuhn]); ‚‚ Arten der Offenlandschaft, die – zumindest zeitweise – an Bäume oder Waldstrukturen gebunden sind (Vogelarten, denen Bäume als Jagdwarten und/oder Brutplätze dienen [z.B. Rotmilan – Horst, Blauracke – Baumhöhle], die sich aber vorwiegend in baumfreiem Offenland ernähren) ‚‚ An Gewässer gebundene Vogelarten, soweit deren Lebensraum in den Wald reicht [z.B. Wasseramsel] bzw. sie auf Bäumen [z.B. Fischadler – Horst] oder in Baumhöhlen brüten [z.B. Gänsesäger]; ‚‚ Arten, die Bäume oder Waldstrukturen fakultativ nutzen (Jagdwarten, Horstplätze, Baumhöhlen), alternativ aber auch an baumfreien Steilhängen, Felswänden oder Bodenabbrüchen siedeln können [z.B. Mauersegler, Dohle, Uhu, Steinadler] sowie in Buschwerk oder Schilf [z.B. Graureiher]. Die Artenliste Österreichs kennt an die 113 Vogelarten (davon 70 Brutvogelarten) mit Waldbezug, von denen 54 Arten als Waldvögel im engeren Sinn eingestuft werden können (Dvorak et al. 1993, Frühauf 2006, Wichmann & Frühauf 2008; vgl. Tab. 2.9. – Im Vergleich dazu nennen Mollet et al. 2008 für die Schweiz 60 an Waldlebensräume gebundene Vogelarten; auf Europäischer Ebene gelten 67 Arten als waldspezifisch; Telleria et al. 2003). Im älteren Schrifttum werden auch typische Offenlandbewohner – wie Kiebitz, Haubenlerche, Steinkauz, Stieglitz, Rohrsänger etc. – zu den „Waldvögeln“ gerechnet, da zum einen die Wald-Feldgrenze in der vorindustriellen Landwirtschaft nicht so strikt gezogen war, zum anderen „Wald“ generell mit „wild“ gleichgesetzt wurde (z.B. Floerike 1935, Vera 2000). Diese Artenliste ist in sich sehr inhomogen, und reicht – abgesehen von der unterschiedlichen Bindung an Baum- und Waldstrukturen – vom federleichten Wintergoldhähnchen (5–6 g) bis zum massigen Auerhahn (3 500 g), von Pflanzenfressern (wie dem Haselhuhn) bis zu Samenfressern (wie dem Erlenzeisig) und Insektenfressern (wie Grauschnäpper und Gartenrotschwanz), letztlich zu den Wirbeltierjägern (wie Waldkauz und Habicht); außerdem reicht die Spanne von Arten, die vorwiegend tagaktiv sind (wie der Haubenmeise) zu dämmerungs- (wie Singdrossel und Rotkehlchen) und nachtaktiven Vögeln (wie dem Ziegenmelker). 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Der Artenreichtum an Waldvögeln steht in meist enger Abhängigkeit zur Qualität der Waldlebensräume, weshalb Artenlisten vielfach zur naturschutzfachlichen Bewertung von Waldbeständen herangezogen werden. Besonders aussagekräftig sind Vergleiche des naturgegebenen Artenpotenzials eines Waldgebiets (Urwaldrest als reale Vergleichsfläche oder gedanklich rekonstruierter Naturzustand) mit der örtlich erhobenen Artenliste. Dabei sind allerdings naturgegebene Abstufungen des möglichen Artenreichtums zu berücksichtigen, damit auch nur tatsächlich Vergleichbares verglichen wird. Die Lebensraumqualität für Waldvögel wird ja durch standörtliche Unterschiede (geologischer Untergrund, Bodenbonität, Wasserhaushalt, Lokalklima) sowie Artenzusammensetzung und Altersstufen der Baumarten maßgeblich bestimmt, worauf im Einzelnen noch einzugehen sein wird. Dazu kommt der gravierende Einfluss von Exposition (Sonnen- oder Schatthang, wind- und wetterexponiert oder in geschützter Lage) und Seehöhe. Bei einer Höhendifferenz von nahezu 2  000  m vom Tiefland bis an die Baumgrenze im Gebirge unterscheiden sich die Lebensbedingungen für Waldvögel zwischen Planarstufe (wärmebegünstigte, sommertrockene Laubmischwälder), Kollinstufe (artenreiche Laubmischwälder in milder Lage), Montanstufe (von Buche dominierte Bergwälder, je nach Standort mit Tanne und/oder Fichte durchmischt) und Subalpinstufe grundlegend (von Nadelholz geprägte Gebirgswälder, z.T. im Reinbestand). Dies drückt sich zum einen in der Charakteristik der jeweiligen Artenzusammensetzung der Avifauna aus, zum anderen in einer deutlichen Abstufung des Artenreichtums. Nach Dvorak et al. (1993) erreicht die Artenzahl auf der Alpinstufe nur noch 10 % derjenigen auf der Planarstufe. Bei einer Bewertung örtlicher Artendichten sind natürlich auch die saisonalen Schwankungen zu berücksichtigen, da sich nur ein Bruchteil der Vogelarten eines bestimmten Waldgebiets vor Ort ganzjährig aufhält. Winterkahle Wälder (Laubbäume, Lärchen) bieten z.B. wenig Deckung, bei hoher Schneelage auch wenig Nahrung. Entsprechend hoch ist die Zahl der Vogelarten, die das Gebiet mit Wintereinbruch verlässt. Der immergrüne Nadelwald stellt ein ganzjährig gleichbleibendes Deckungsangebot; in hohen Gebirgslagen werden empfindlichere Vogelarten aber durch strengen Frost, kalten Wind und hohe Schneelagen abgedrängt. Die Faunistik unterscheidet nach Arten, die sich im Gebiet ganzjährig aufhalten (Standvögel: z.B. Wintergoldhähnchen, Waldbaumläufer, Kleiber, Waldkauz, Schwarzspecht, Auerhuhn), die von ungünstigen Lagen in günstigere Nahrungsgebiete kleinräumig ausweichen (Strichvögel: z.B. Schwanzmeise, Erlenzeisig, Kleinspecht), die großräumig, meist in schneefreie und milde Gebiete ausweichen (Teilzieher: z.B. Heckenbraunelle, Zaunkönig, Rotkehlchen, Mäusebussard), die letztlich den Sommerlebensraum nach endogen festgelegten Zugzeiten verlassen, dabei weite Strecken zurücklegen, z.T. weit über Europa hinaus (Kurzstreckenzieher: z.B. Mönchsgrasmücke, Wald-Amsel, Hohltaube; Langstreckenzieher: z.B. Gartenrotschwanz, Zwergschnäpper, Waldlaubsänger, Schreiadler). Daneben gibt es Vogelarten, die je nach lokalem Nahrungsangebot weit umherstreifen (Invasionsvögel: z.B. Fichtenkreuzschnabel, Bergfink) oder vor dem sibirischen Winter in unserem Raum Zuflucht suchen (z.B. Seidenschwanz, Tannenhäher).

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Das Verhältnis zwischen der Vogelfauna in Winter- und Sommerhalbjahr hat Scherzinger (1985) für urwaldartige Bergwaldgebiete unterschiedlicher Höhenlage des Inneren Bayer. Waldes dargestellt: in klimatisch günstiger Talnähe (700 m NN; Fichte-TanneBuche, 46 ha) wechselte die Artenzahl von 23 auf 43 (1 : 1,9), die Individuendichte von 207 auf 321 (1 : 1,6); ähnliche Proportionen fanden sich noch an der Grenze zwischen Bergmischwald und Bergfichtenwald (1050–1250 m NN; 51 ha: Artenzahl 20 : 37 = 1 : 1,9; Individuenzahl 116 : 244 = 1 : 2,1); etwas größer ist die Differenz im kalten Hochlagenwald mit 12 bzw. 30 Arten (1 : 2,5) und 63 bzw. 146 Individuen (1 : 2,3). Die Phänologie der Rückkehr im Frühjahr variiert artspezifisch, weshalb Balz, Reviergründung, Eiablage und Brut der Einzelarten nicht synchron verlaufen. Da die Ankunft im jeweiligen Brutgebiet außerdem von Witterung und Seehöhe beeinflusst wird, unterliegen Brutvogel-Gemeinschaften eines Waldgebietes einer ständigen Umformung der Artenzusammensetzung (vgl. Scherzinger 1985, 2006.a). Auf kontinentaler Ebene sind des Weiteren europaweite Gradienten der Artenvielfalt zu berücksichtigen, wie ein auffälliges Ost-West-Gefälle, mit einer Differenz von über 40 Waldvogelarten zwischen dem ostpolnischen Tiefland (Urwald Białowieża als Bezugsfläche) und den britischen Inseln. Tomialojc (1995) schätzt das natürliche Artenpotenzial der Tieflandwälder im östlichen Mitteleuropa auf wenigstens 135 Brutvogelarten ein (unter Einschluss von Osteuropa auf bis zu 170–180 Arten). Als Ursache für die geringere Artenzahl im Westen könnte zum einen die Barrierewirkung des Alpenhauptkammes gewirkt haben, die die nacheiszeitliche Rücksiedlung einiger Vogelarten aus den Rückzugsgebieten am Balkan und am Apennin erschwerte. Zum anderen wird auch eine anthropogene Verdrängung bzw. Ausrottung infolge von Waldrodungen angeführt, die vor allem Vogelarten getroffen hätten, die strikt an ein Wald-Innenklima oder an großräumig unzerschnittene Waldlandschaften angewiesen waren (vgl. Müller et al. 2008). Nach dieser Interpretation reichten die Artenverluste im westlichen Europa bis in die Jungsteinzeit zurück (Tomialojc 1995, 2000, Tomialojc & Weselowski 2003, McCollin 1998). Dieser Ost-West-Gradient schneidet sich in Mitteleuropa mit einem Nord-Süd-Gradienten, der von den borealen Nadelwäldern Nordeuropas mit relativ geringen Artenzahlen an Waldvögeln einen Kulminationspunkt der Artendiversität in den gemäßigten Mischwäldern Mitteleuropas erreicht (Differenz im Mittel 6,2 Vogelarten), und gegen Südeuropa wieder deutlich absinkt (Differenz im Mittel 2,9 Vogelarten; Telleria et al. 2003). Dieses Artendefizit wird zum einen auf kleinere Restflächen an Wald und ihre stärkere Fragmentierung durch offene Agrarlandschaften zurückgeführt. Auch dürfte in den Mittelmeerländern die intensive Waldnutzung, die bereits seit früher Siedlungstätigkeit des Menschen nachweisbar ist, zu deutlicher Reduktion des Artenpotenzials an Waldvögeln geführt haben. Österreichs Landschaften sind hinsichtlich ihrer Naturausstattung vergleichsweise begünstigt, da nicht nur die topologische und orografische Vielfalt zwischen Neusiedlersee und dem Tauernmassiv eine entsprechende Vielfalt an Lebensräumen bedingt (den 11 Großlandschaften Österreichs sind 9 Waldgebiete zugeordnet; nach Mayer 1974, Greif in Dvorak et al. 1993), sondern auch sehr unterschiedliche Faunenbereiche bis an den 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Alpenkamm heranreichen: Als nördliche Elemente der Vogelfauna sind beispielhaft die boreo-alpin verbreiteten Nadelwaldarten Ringdrossel, Haselhuhn, Dreizehenspecht, Sperlingskauz und Raufußkauz zu nennen; die Wacholderdrossel wird gar als sibirisches Faunenelement eingestuft (Voous 1962). Aus dem östlichen Pannonikum dringen z.B. Nachtigall, Würgfalke und Kaiseradler vor; aus dem südlichen Illyrikum und dem Mittelmeerraum stammen beispielsweise Zwergschnäpper, Blauracke und Zwergohreule (vgl. Dvorak et al. 1993). 1.1 Habitatangebot der Wälder

Wälder produzieren über ihre Vegetation wesentlich mehr an Phytomasse als Offenlandbereiche vergleichbarer Flächengröße, sie sind vor allem durch das Höhenwachstum der Bäume gekennzeichnet, das eine ausgeprägte Dreidimensionalität der Lebensraumstrukturen bewirkt. In reifen Mitteleuropäischen Uraltwäldern kann die Boden-Wipfeldistanz 40–60 m erreichen, sodass die einzelnen Höhenschichten durch eine breite Abstufung von Lichteinfall und Wärme, von Exposition gegenüber Regen, Schnee und Wind, von Zweig- und Stammmasse sowie Borkenstruktur und Epiphyten differenziert sind. Die Schichtung des Waldes bezieht sich nicht nur auf die Vertikalstruktur der Bäume (mit Wurzel-, Stamm- und Kronenbereich), sie wird noch durch die Ausformung unterschiedlich hoher Vegetationsschichten zwischen den Stämmen verfeinert: dazu zählt die Ausbildung von ‚‚ Waldboden mit Wurzelschicht (inklusive Laub- oder Nadelstreu, Moderholz), ‚‚ Bodenvegetation (je nach Bodenbonität, -feuchtigkeit, -pH-Wert und Lichtgenuss = Moose, Farne, Gräser, Geophyten, krautige Pflanzen, Hochstauden oder Zwergsträucher), ‚‚ Strauchschicht aus diversen Gehölzen (z.B. Roter Holunder, Hartriegel, Liguster, Weißdorn, Haselnuss, Stechpalme), ‚‚ Jungwuchs der Waldbäume, der je nach erreichter Wuchshöhe einen Unterstand oder Zwischenstand bilden kann (z.B. bis unter die Kronenschicht der Altbäume). ‚‚ Das Angebot wird mitunter durch Kletter- und Schlingpflanzen im Stamm- und Kronenbereich ergänzt (z.B. Hopfen, Wein, Waldrebe, Waldgeißblatt). Diese Stockwerkbildung erweitert deutlich das Potenzial an unterschiedlichen Vogelhabitaten, da jede Schicht andere Ressourcen und Strukturen bietet. Folgerichtig zeigen sich signifikante Korrelationen sowohl zwischen der Höhe der Waldbäume und ihrer Kronenlänge (aufgrund der Strukturdiversität innerhalb der Baumkrone) sowie der Anzahl an Vegetationsschichten unter dem Kronendach und dem Artenreichtum an Waldvögeln (Moss 1978, Müller 2005). Für einen buchenreichen Laubwald (Mittelfranken) konnte Müller (2005) Schwellenwerte für die Attraktivität der Strauchschicht (inklusive Waldverjüngung) für einzelne Vogelarten ermitteln: So fanden sich Buchfink und Zaunkönig in Beständen mit eher geringem Deckungsgrad der Strauchschicht (jeweils 0–25  % bzw. 0–45  %), während Mönchsgrasmücke, Zilpzalp und Fitis die Strauchschicht erst ab relativ hoher Dichte

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besiedeln (jeweils > 25  %, > 45  % und > 70  %). Im Beispiel eines Laubmischwaldes (Hartholzaue bei Leipzig) konnten Böhm & Kalko (2009) arttypische Präferenzen bei der Nutzung großer Baumkronen durch die Vögel beobachten: Demnach hielten sich Zilpzalp, Blaumeise, Star und Kleinspecht vorwiegend im obersten Kronenteil auf, während Gartenbaumläufer, Grauschnäpper, Kleiber und Buntspecht eher den mittleren, bzw. Mönchsgrasmücke und Mittelspecht den unteren Kronenraum aufsuchten. Zilp­ zalp, Blaumeise, Mönchsgrasmücke und Star nutzten auch die äußeren Kronenbereiche, während Gartenbaumläufer, Grauschnäpper und die Spechtarten eher im Inneren der Baumkrone blieben. Neben den „Alleskönnern“ in der Vogelwelt, die einen Großteil der Schichten und Straten nutzen können (wie z.B. Kohlmeise, Mönchsgrasmücke), spezialisierten sich einige Vogelarten auf enge „Nischen“, wofür sie besondere Anpassungen entwickelt haben. Besonders dünne Greifzehen weisen z.B. Haselhuhn, Haubenmeise und die beiden Goldhähnchenarten auf, um Knospen und Blütenkätzchen bzw. Insekten auf den äußersten Zweigen erreichen zu können. Durch das äußerst geringe Körpergewicht nutzen die Goldhähnchen diesen Randbereich der Baumkrone praktisch konkurrenzlos. Auffällig ist die Kletterleistung der Baumläufer, Kleiber und Spechte, die nicht nur die Borke im Stammbereich absuchen, sondern sich sogar auf der Unterseite des Astwerks im Kronenraum bewegen können. Zur Ausrüstung dieser Stammabsucher zählen des Weiteren besondere Schnabelformen, lange Krallen – bei z.T. zygodaktyler Zehenstellung (zangenartige Gegenüberstellung von je 2 Zehen) – sowie ein Stützschwanz mit harten Federkielen (vgl. Scherzinger 2002). Bemerkenswerterweise wirkt sich die räumliche und strukturelle Einnischung einzelner Vogelarten auch auf ihr Kommunikationssystem aus, da z.B. Stimmfrequenzen in den einzelnen Schichten des Waldes unterschiedlich gedämpft oder verstärkt werden: So tragen z.B. hohe Frequenzen über dem Kronendach besonders weit, weshalb Singdrossel oder Sperlingskauz auf exponierten Warten oder Waldschnepfen im Flug über den Wipfeln singen. Umgekehrt pflanzen sich tiefe Frequenzen über dem Waldboden bzw. unter dem Kronendach besser fort, was Hohltaube oder Habichtskauz auszunutzen verstehen. (In deutlichem Kontrast zu dieser Beziehung äußern Haselhähne, auf dem Waldboden oder auf niederen Zweigen sitzend, ein hochfrequentes „Spießen“, das auf nur geringe Distanz zu hören ist, was als Anpassung an ein hohes Prädationsrisiko interpretiert wird; Bergmann et al. 1996). 1.2 Nutzung von Requisiten und Ressourcen durch die Waldvögel

Vogelarten, die ähnliche Straten und Höhen über dem Waldboden bewohnen bzw. dort nisten, lassen sich zu Struktur- bzw. Nest-Gilden zusammenfassen (Bodenbrüter [z.B. Fitis, Waldschnepfe], Gebüschbrüter [z.B. Schwanzmeise, Amsel], Rinden- und Höhlenbrüter im Stammbereich [z.B. Waldbaumläufer, Hohltaube], Kronenbrüter [z.B. Eichelhäher, Wintergoldhähnchen]). Analog lassen sich Nahrungs-Gilden nach den bevorzugten Schichten ausscheiden (Bodenabsucher [z.B. Rotkehlchen, Ringdrossel], Strauchabsucher [z.B. Fitis, Mönchsgrasmücke], Stammabsucher [z.B. Kleiber, Spechte], Kronenabsucher 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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[z.B. Fichtenkreuzschnabel, Erlenzeisig], wobei der Luftraum außerhalb und über dem Kronendach einzubeziehen ist (Gilde der Flugjäger; [z.B. Trauerschnäpper]). 1.2.1 Nestgilden Der Nestbau ermöglicht den Vögeln Eiablage, Bebrütung und Jungenaufzucht in eigens geformten Strukturen, die – bei entsprechender Haltbarkeit – von anderen Tierarten zur Folgenutzung übernommen werden können. In Waldlebensräumen kommt den großen Reisighorsten der Greifvögel, Graureiher und Schwarzstörche eine hohe Bedeutung als zoogenen Requisiten zu, wie auch den Spechthöhlen, besonders jenen der großen Spechtarten. 1.2.1.1 Bodenbrüter, Gebüsch- und Kronenbrüter Bodenbrüter investieren hingegen meist deutlich weniger in den Nestbau, der im primitivsten Fall aus einer flachen Erdkuhle bestehen kann (z.B. Waldhühner; Foto 2.1), mit Federn ausgepolstert wird (z.B. Stockente) oder aus Gräsern und Halmen zur zierlichen Kugel geformt wird (z.B. Laubsänger). Da omnivore und karnivore Säugetiere vor allem den Waldboden und die unteren Vegetationsschichten nach Nahrung absuchen, scheint das Prädationsrisiko für Eier und Jungvögel in den Nestern der Bodenbrüter besonders hoch. Für ein Bergwaldgebiet der Slowakei bestätigt Saniga (2003) die hohen Verluste an Gelegen, Nestlingen bzw. Küken unter den Bodenbrütern (66 % von 373 Nestern), speziell bei frühen Bruten, die noch ohne Schutz der Vegetation auskommen müssen. Im Langzeitvergleich korreliert der Brutverlust negativ mit der Dichte an Kleinsäugern, da die Raubsäuger in Mangeljahren vermehrt Nester plündern. Weselowski & Tomialojc (2005) relativieren diese Einschätzungen nach Beobachtungen im Urwald von Białowieża, wo Singvogelbruten in gut getarnten Bodennestern (z.B. von Laubsängern, Rotkehlchen) höhere Überlebenschancen aufwiesen als z.B. jene in meist offenen Nestschalen der Gebüschbrüter (z.B. Finken, Drosseln). In einem vergleichbaren Beispiel aus Nordamerika war die Verlustrate bei Bodennestern mit 31 % gleich hoch wie bei den sekundären Höhlenbrütern (Folgenutzer der Höhlenbauer), dabei deutlich geringer als bei Nestern in der Strauchschicht (48 %) und etwas besser als bei Nestern in der Kronenschicht (36 %; Martin 1993). Die Nester der Gebüsch- und Kronenbrüter zeigen eine breite Variation bezügFoto 2.1: Die Nester von Bodenbrütern sind lich Baumaterial, Form und Komplexität durch Prädatoren besonders gefährdet (Auerhuhndes Aufbaus. Einfachste Zweignester sind Gelege).

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für die Ringeltaube typisch; sie werden nur einmal benutzt und zerfallen rasch wieder. Nur wenig stabiler sind Reisignester der Saat- und Rabenkrähen; sie können in Folgejahren noch von Turmfalke und Waldohreule benutzt werden (Foto 2.2). Zu enormen Asthaufen türmen sich die Horste von Bussard, Habicht und Fischadler, da die Brutvögel das Nistmaterial noch regelmäßig ergänzen. Zu noch größeren Gebilden wachsen im Laufe vieler Jahre die Horste von Schwarzstorch oder Seeadler an (vgl. Schumacher & Winter 2008). Solche Großhorste sind z.B. für Habichtskauz und Uhu hochattraktiv, zumal manche Greifvögel eine größere Anzahl an Horsten errichten als sie aktuell zur Brut benutzen (z.B. Schreiadler; Scheller 2008). – Es ist Foto 2.2: Eine Reihe von Kronenbrütern baut einleuchtend, dass die Ansprüche an Stabiselbst keine Nester; sie sind auf Reisighorste z.B. lität und Struktur der Baumkronen mit der von Krähen- oder Greifvögeln angewiesen (WaldGröße bzw. dem Gewicht der Reisighorste ohreule im Krähennest). anwachsen. Eine Kartierung der Horste im Nationalpark Donau-Auen zeigte Präferenzen der Horstbauer (Mäusebussard, Habicht, Schwarzmilan) für starkastige Kronen, die das übrige Kronendach etwas überragen, und dadurch An- und Abflug des Greifvogels erleichtern (Thoby 2006). Derartig exponierte Positionen sind speziell für den Fischadler-Horst charakteristisch, der meist auf oder knapp unter dem Wipfel überragender Bäume errichtet wird, wobei der freie Ausblick bei abgebrochenen oder abgedorrten Kronen am besten gewahrt ist. Schmidt & Müller (2008) ermittelten die Struktur des Waldbestandes und des Horstbaumes als Schlüsselfaktoren für die Ansiedlung dieses Fischjägers. Schwarzstörche hingegen wählen Bäume mit starken Ästen im unteren Kronenbereich, mit freiem An- und Abflug unter dem Kronendach. – Da solche über Jahrzehnte benutzbaren Horstbäume selbst in naturnahen Wäldern selten sind und auch ihre Position im Gelände meist nach komplexen Kriterien gewählt wird, unterliegen sie in den meisten Ländern strengem Schutz (z.B. Janssen 2008, Langgemach et al. 2008; vgl. Kap. 5.1.2). Die meisten Waldvögel bauen aber „Einmal-Nester“, unabhängig davon, wie aufwendig diese konstruiert sind. Zarte Halmnester hinterlassen z.B. Grasmücken im Unterwuchs aus Hochstauden und Gebüsch. Zaunkönige und Schwanzmeisen verwenden dichte Packungen aus Moos zur Herstellung ihrer kompakten Kugelnester. Mehrschichtige Napfnester konstruieren z.B. Finken und Drosseln, wobei letztere neben Moos, Flechten, Halmen und Tierhaaren auch Lehm verwenden. Besondere Kunstfertigkeit be2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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weisen Beutelmeisen mit ihren Hängenester aus verfilzter Pappelwolle, und der Pirol, der sein napfförmiges Nest mit Bändern aus Pflanzenmaterial im Geäst festbindet. Brutvögel halten das Nest i.R. sauber, indem sie den Kot der Jungen und Nahrungsreste regelmäßig entfernen. Dennoch können sich Ektoparasiten (wie Federlinge, Lausfliegen, Vogelflöhe oder Fliegenmaden) einnisten, weshalb selbst stabile Vogelnester nur ausnahmsweise zu weiteren Bruten genutzt werden. 1.2.1.2 Höhlenbrüter Nistplätze scheinen umso sicherer vor Nesträubern, je höher sie über dem Boden angelegt werden und je kürzer die Zeitdauer ihrer Nutzung (vgl. Johnson & Kermott 1994, Gatter & Schütt 1999). Einen noch weiter gehenden Schutz bieten aber Baumhöhlen, da ihr Inneres auch gegen Wetterunbilden abgeschirmt ist. Die Zahl der Höhlenbrüter unter den Waldvögeln ist entsprechend groß und stellt rund 1/3 der Brutvögel in Mitteleuropäischen Urwäldern. Unter dem Primat der Sicherheit vor Nesträubern bevorzugen manche Vogelarten möglichst enge Einfluglöcher, die weder Siebenschläfern, Wieseln oder Baummardern Zutritt ermöglichen (z.B. Meisen), oder möglichst tiefe Innenräume, sodass die Marderpfote nicht bis zum Höhlengrund reicht (z.B. Sperlingskauz; Wiesner 1986). Die klassischen Versuche von Löhrl (1982) mit unterschiedlich proportionierten Nistkästen haben ergeben, dass Sumpf- und Blaumeisen möglichst kleine Fluglöcher bevorzugen (Querschnitt 26 mm), womit sie der Nistplatzkonkurrenz durch Kohlmeise, Kleiber oder Star entgehen. Auch sind die kleinen Meisenarten samt ihrer Brut durch größere Vogelarten gefährdet, zumal sie bei Streitigkeiten um die Bruthöhle von Kohlmeisen getötet, bzw. ihr Gelege von Fliegenschnäppern mit Nistmaterial überbaut werden können. Kohlmeisen und Kleiber bevorzugen möglichst große Innenräume, die ihnen größere Gelege bzw. Jungenzahlen ermöglichen. Ähnliches gilt für waldbewohnende Mauersegler, die Höhlen in der Kombination aus engem Flugloch und großem Innenraum bevorzugen (Günther & Hellmann 2001). Form und Größe des Einflugs sind für den Kleiber hingegen nicht relevant, da er in der Lage ist, den Eingang mit einer sehr hart werdenden Lehmmasse zu zumauern (extrem: Eingang von Schwarzspechthöhle [9 x 11 cm] und HabichtskauzNistkasten [15 x 20 cm]; Scherzinger, unveröff.). – Bemerkenswerterweise werden auch Vogelarten, die normalerweise auf offenen Nestern brüten, durch ein reiches Angebot an zerklüfteten Bäumen mit großen Halb- und Vollhöhlen zur Höhlenbrut stimuliert, wie es z.B. für Amsel, Waldohreule, Turmfalke und Uhu bestätigt ist (z.B. Kropil 1996.b). Der überwiegende Teil der kleinen Höhlenbrüterarten nutzt enge Spalten, Risse, Klüfte und ausgefaulte Höhlungen nach Astausbruch, wie sie sich nur in sehr alten Baumindividuen ausbilden (Hohlfeld 1995, 2001, Günther & Hellmann 2001). Dementsprechend brütet die Sumpfmeise, als eine der kleinsten Meisenarten – scheinbar paradox – im Urwald von Białowieża in besonders massigen Altbäumen (BHD im Mittel 109  cm, maximal 250  cm; Weselowski 1989). Bei Höhlenmangel kommt es sogar zu Mischbruten, wenn Hauben-, Blau- und Kohlmeisen gezwungen sind, ins selbe Nest zu legen (Möckel 1990). Der Konkurrenzdruck um geeignete Nisthöhlen ist entsprechend groß, und kann durch Wespen, Hummeln und ebenfalls Höhlen benutzende

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Säugetiere noch verschärft werden (Anteil der durch Bilche, Mäuse und Fledermäuse besetzten Baumhöhlen bei durchschnittlich 24  %; in Gatter & Schütt 1999). Nur bei entsprechendem Überangebot an Kleinhöhlen bleiben auch für spät zurückkehrende Zugvögel noch ausreichend Nistmöglichkeiten (z.B. Gartenrotschwanz, Fliegenschnäpper; Gatter & Schütt 1999). Für einen über 100-jährigen Buchenbestand nennt Müller (2005) einen Schwellenwert von > 8 Kleinhöhlen/ha, damit konkurrenzschwache Arten, wie der Halsbandschnäpper, zur Brut schreiten können. 1.2.1.2.1 Primäre Höhlenbrüter Einige Meisenarten weichen dieser Konkurrenz aus, indem sie – wie die Tannenmeise – auch Erdlöcher, Felsritzen oder Höhlungen unter dem Wurzelanlauf großer Bäume als Alternative nutzen. Im Nadelwald des Erzgebirges erfasste Möckel (1990) 41  % der Tannenmeisen-Bruten in Baumhöhlen und 36 % in Felsspalten und Mauslöchern, wobei in Einzelfällen auch aktiver Höhlenbau in morschem Holz (nach Löhrl, 1982 möglicherweise auch im Waldboden) bestätigt wurde. Wenn auch nahezu alle Meisenarten in der Lage sind, weiche Hölzer mit ihrem Schnabel zu bearbeiten, so ist ein selbständiges Aushöhlen morscher Baumstämme speziell für Haubenmeise und Weidenmeise charakteristisch, kommt aber auch bei der Sumpfmeise vor. In strikter Abhängigkeit von angemorschten bzw. weißfaulen Hölzern ausreichenden Querschnitts erreicht die Weidenmeise in der reifen Weichholzaue hohe Siedlungsdichten (Späth 1985). Im Gebirgswald gilt dies für Alpen-Weidenmeise und Haubenmeise analog für mürbe Nadelhölzer. Als klassische Höhlenbauer unter den Waldvögeln gelten die Spechte. Mit Ausnahme des Wendehalses vermögen sie mit Hilfe ihres scharfkantigen Schnabels komplette Höhlen in artspezifischer Größe aus Baumstämmen zu meißeln, mitunter sogar bei frischem Hartholz. Von den 9 heimischen Spechtarten zeigen 7 eine enge Bindung an flächenhafte Baum- und Waldbestände. Bei einer Größenstaffelung vom finkengroßen Kleinspecht (mit 20 g Körpergewicht) bis zum krähengroßen Schwarzspecht (300 g Körpergewicht) weisen auch die arttypischen Spechthöhlen (sowie deren Fluglöcher) eine breite Größenvalenz auf: Sie lassen sich im Wesentlichen vier Größenklassen zuordnen, mit Flugloch-Durchmessern von 3,2–4,5  cm (Kleinspecht und Mittelspecht), 4,2–5,5  cm (Dreizehen-, Bunt- und Weißrückenspecht), 5,7–6,5 cm (Grau- und Grünspecht) und 8,5–9  cm x 11–13  cm (Schwarzspecht). Entsprechend variiert auch die Höhlentiefe von 10–18 cm (Kleinspecht) bis 31–55 cm (Schwarzspecht; Übersicht in Scherzinger 2002). Da die einzelnen Spechtarten darüber hinaus z.T. recht unterschiedliche Habitatpräferenzen zeigen bzw. verschiedene Baumarten und Holzqualitäten für den Höhlenbau nutzen, begründet diese Vogelgruppe eine einzigartige Vielfalt zoogener Requisiten, die als Schlüsselfunktion für die faunistische Diversität im Wald gilt (Blume 1983). Das Brutvorkommen der Spechte steht in enger Abhängigkeit zum Struktur- und Nahrungsangebot der Wälder. Ersteres muss dem Qualitätsanspruch für Deckung (z.B. zur Feindvermeidung) und für den Höhlenbau entsprechen (Rast- und Schlafplatz, Bruthöhle). Hohlfeld (2001) betont, dass für die Wahl durch die Spechte weniger die Baum­art als die Konsistenz des Holzes entscheidend ist. Im Beispiel eines nutzungsfreien Laub2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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mischwaldes fanden sich 30 % der Höhlen in absterbenden oder toten Bäumen; dabei dominierte die Eiche als Höhlenbaum (58 % von 104 Höhlenfunden; gefolgt von Kirsche 26 %, Hainbuche 9 % und Buche 6 %). Da Schlafhöhlen meist nur kurzzeitig genutzt werden, sparen sich manche Spechtarten höhere Investitionen und hacken „billige“ Höhlen auch in weiches oder anbrüchiges Holz (z.B. Dreizehenspecht). Der Bau solider Bruthöhlen erfordert hingegen eine intensive Hacktätigkeit, speziell bei hartem Laubholz. Aus einer Fülle von Beobachtungen lässt sich zusammenfassen, dass der zarte Klein­ specht und die auf Holzbearbeitung weniger spezialisierten Erdspechte (Grau- und Grünspecht) Laubbäume zum Höhlenbau bevorzugen, speziell Weichhölzer und durch Sickerwasser und/oder Verpilzung vorgeschädigte Baumstämme. Der eher zierliche Mittelspecht sucht zum Höhlenbau bevorzugt starke Totäste in den Kronen überalterter Eichen (auch Buchen, Erlen), sofern das Holz leicht zu bearbeiten ist (vgl. Tab. 2.3). Trotz seiner Schnabelgröße schätzt auch der Weißrückenspecht solche Holzqualität, weshalb sich seine Höhle typischerweise in wipfeldürrem Bergahorn, in kränkelnden oder abgebrochenen Buchen, auch in kernfaulem Weichlaubholz findet. Bei hoher Schnee­ belastung oder heftigen Winterstürmen brechen solche Höhlenbäume meist um, weshalb Bruthöhlen meist jährlich neu gebaut werden müssen. Wenn der kräftige Buntspecht auch sehr unterschiedliche Baumarten (Pionier-, Laubund Nadelbaumarten) und Holzqualitäten (Weich- und Hartholz; grünes, dürres, auch anbrüchiges Holz) zum Höhlenbau heranziehen kann, so legt er den Höhleneingang doch gezielt an Stammstellen, wo sich eine Schädigung des Kernholzes erkennen lässt. Gelingt ihm dennoch die Bearbeitung eines besonders harten Kerns nicht, so weicht er mit dem Höhlenbau ins äußere Splintholz aus, was einen völlig abweichenden Höhlenquerschnitt zur Folge haben kann (Übersicht in Wiesner 2001; Abb. 2.1). Die ausgeprägten Hackspechtarten, wie Dreizehen- und Schwarzspecht, beeindrucken durch die groben Späne, die sie bei Nahrungssuche oder Höhlenbau aus Baumstämmen zu schlagen vermögen. Dem Lebensraum im Gebirgswald entsprechend baut der Dreizehenspecht seine Höhle vorwiegend im Nadelholz (Fichte, Tanne, Lärche, Zirbe), wobei vitale, kränkelnde oder abgedorrte Bäume gleichermaßen Verwendung finden. Aus abgewitterten Dürrlingen oder Stümpfen meißelt er eher „schlampige“ Schlafhöhlen. Mit Hilfe ihres scharfkantigen Meißelschnabels sind Schwarzspechte nicht nur in der Lage, selbst sehr hartes Laubholz (wie Buche, Eiche) mit Abb. 2.1: Beim Höhlenbau in Fichtenstämmen weicht der Buntspecht dem harten Kernholz aus, was mitunter zu unregelmäßigen – und auch kaum brauchbaren – Höhlenquerschnitten führt (aus WIESNER 2001).

38 I

Wolfgang Scherzinger

gezielten Hieben zu bearbeiten, sie formen auch die größten Höhlen unter den heimischen Spechten, mit bis zu ½ m Tiefe. Zwar suchen auch sie Bäume mit Stammschäden (z.B. Blitzspur, Sonnenbrand, Schlagstreifen eines gestürzten Nachbarbaums, ausgebrochener Zwiesel, Wucherungen durch Baumkrebs), zumindest Stämme mit vorgeschädigtem Kernholz (z.B. Pilzbefall), doch erfordert allein die Anlage des großen Höhleneingangs samt Durchschlupf einen bemerkenswerten Kraftaufwand (rudat et al. 1985; Foto 2.4, 2.5). In unserem Raum bevorzugen Schwarzspechte meist starke Buchen, Eichen oder Kiefern (Föhren) für die Anlage ihrer Höhlen, doch kommen auch zahlreiche andere Foto 2.3: Große Baumhöhlen sind selbst im NaBaumarten zur Wahl, je nach örtlichem Anturwald selten; von manchen Höhlenbrüter-Arten gebot (z.B. Esche, Linde, Kirsche, Tanne, werden sie gegen Konkurrenten entsprechend vehement verteidigt (Waldkauz in hohler Fichte). Lärche; vgl. Abb. 2.2, Bildteil). Aufgrund der Wechselbeziehung zwischen Pilzbefall alter Waldbäume und ihrer Eignung für den Höhlenbau sind Baumbestände auf feuchten und nährstoffreichen Standorten für Spechte besonders attraktiv. Wo Bäume auf nährstoff- und wasserarmen Waldstandorten nur langsam wachsen und dadurch ein besonders hartes Holz ausbilden, kann selbst der kräftige Schwarzspecht keine Höhlen mehr anlegen (Brünner-Garten & Schmidt 1994). Meyer & Meyer (2001) beschreiben die Phasen des Höhlenbaus am Beispiel vitaler Altbuchen: Schwarzspechte suchen gezielt hohe, geradschaftige Stämme, möglichst mit fester, glatter Borke, astfrei und mit hohem Kronenansatz. Die ersten Einschläge formen einen engen Trichter; dann folgt der horizontale Einschlupf mit dem Höhlendach. In mehrtägiger Hackarbeit wird die senkrechte Brutkammer ausgehöhlt, wobei der Specht die losgehackten Späne immer wieder ins Freie transportieren muss. Bei sehr harten Hölzern bricht der Vogel die Arbeit ab, baut eventuell im Folgejahr weiter oder gibt die Baustelle auf, sodass unterschiedliche Initialhöhlen zurückbleiben (z.B. Einschlag, Trichter, Backofen; Abb. 2.4). An geeigneten Stämmen können Schwarzspechte im Lauf von Jahrzehnten immer wieder neue Höhlen anlegen, deren Inneres sich durch Verrottung allmählich erweitert, sodass die Einzelhöhen letztlich zur Röhre verschmelzen („Spechtflöte“). In Anbetracht des oft beschränkten Angebots an geeigneten Höhlenbäumen und des hohen Kraft- und Zeitaufwandes des Höhlenbaus, sind „gute“ Schwarzspechthöhlen für seinen Erbauer sehr wertvoll. Soweit möglich, meiden die Spechte den Aufwand eines jährlichen Höhlenbaus und nutzen die Anlage über Jahre, z.T. Jahrzehnte. Dies setzt aber eine laufende Höhlenwartung voraus, wie das Nachschärfen der „Tropfkante“ am oberen 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

I 39

Fluglochrand und das Abschrägen eines „Wasserschenkels“ am unteren Fluglochrand, beides Strukturen, die verhindern, dass am Stamm ablaufendes Regenwasser in die Höhle eindringt. Auch werden Kallusbildungen des Baumes regelmäßig abgestemmt, damit der Höhleneingang sich nicht verengt (Abb. 2.4). – Nadelbäume reagieren auf Beschädigung durch den Höhlenbau mit verstärktem Harzfluss. Damit die Höhle durch die Bildung eines mitunter stark klebrigen Ringes um das Flugloch nicht unbrauchbar wird, stemmen die Spechte die harzigen Wucherungen regelmäßig ab. Eine derartige Höhlenpflege leisten auch Bunt- und Dreizehenspecht. Abb. 2.3: Die Investition in den Höhlenbau bestimmt den „Wert“ einer Spechthöhle. Besonders „wertvoll“ sind z.B. Schwarzspechthöhlen in hartem Holz, an glattrindigen Stämmen und in sicherer Höhe. Sie können über Jahre genutzt werden, und werden von den Spechten daher regelmäßig gewartet und auch gegen Konkurrenten verteidigt.

 

„Wert“ einer Spechthöhle  

   

 

   

   

 

 

 

   

   

 

 

 

 

 

Qualitäts-Anspruch

 

 

 

 

 

 

       

 

   

 

   

 

   

 

 

   

   

   

     

 

 

   

 

   

 

   

 

   

 

   

 

   

Kurzzeit Schlafhöhle

 

 

 

 

 

 

   

 

   

   

   

Wolfgang Scherzinger

   

   

Langzeit-Bruthöhle

   

Ausweich- Bruthöhle Schlafhöhle

   

Höhle verteidigt

Höhle gepflegt

Bau aufwändig

Bau rasch

Bau schlampig  

   

einmal Bruthöhle

 

 

40 I

 

Höhlenzentrum  

mehrmals Bruthöhle

Investition

   

 

   

           

Abb. 2.4: Der sehr aufwendige Höhlenbau des Schwarzspechts erfolgt in mehreren Schritten, wobei vor allem die Holzqualität über Abbruch oder Ausformung entscheidet (im Beispiel Rotbuche; aus Meyer & Meyer 2001).

Je nach Spechtart bzw. Höhlengröße benötigen Höhlenbäume einen bestimmten Mindestdurchmesser in Höhe der Höhlenanlage. Dieser ist am geringsten beim Kleinspecht, wiewohl diese Art ihre Höhlen auch ins Totholz mächtiger Urwaldstämme hacken kann. Für Höhlenbäume des Buntspechts nennt Weselowski (1989) einen Brusthöhendurchmesser (BHD) von > 20 cm, wobei nach Kneitz (1961) die Präferenz bei 32 cm liegt. Der Mittelspecht wählt regelmäßig auch starke Dürräste im Kronenbereich (47 % der Höhlen im Urwald von Białowieża). Obwohl größer als der Buntspecht, begnügt sich der Weißrückenspecht oftmals mit relativ schwachen Stammdimensionen (> 25  cm); derart dünnwandige Bäume sind besonders bruchgefährdet. Für den Schwarzspecht gilt ein BHD von 35  cm als Untergrenze. Hohlfeld (1995) fand vollständig ausgebaute Höhlen erst ab BHD 45 cm. Je nach Standortqualität, Seehöhe und Baumart werden die erforderlichen Dimensionen meist erst in höheren Altersklassen erreicht (z.B. 40 Jahre bei Pappel, > 80 Jahre bei Fichte, > 100 Jahre bei Buche, > 120 Jahre bei Eiche und Kiefer; vgl. Rudat et al. 1985). Für den Buchenwald im Solling errechneten Wübbenhorst & Südbeck (2002) eine signifikante Korrelation zwischen Artenzahl (maximal 6) und Siedlungsdichte der Spechte (Höchstwert 1 Revier/10 ha) und dem Bestandsalter, wobei sich Spechtreviere erst ab einem Anteil von wenigstens 30 % Altholz im Waldbestand etablieren konnten. Oft entsprechen nur noch kleine Baumgruppen den Anforderungen des Schwarzspechts. Dort können dann mehrere Höhlen auf engem Raum entstehen (sogenannte „Höhlenzentren“). Wie Jedicke (1997.a) betont, kann der Schwarzspecht aber solche „Altholzinseln“ nur bei entsprechender Habitateignung des Umfelds besiedeln.

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

I 41

Im Spiegel der unterschiedlichen ökologischen Bedingungen in den heimischen Wäldern variiert die Höhlendichte erheblich: So erfasste Sachslehner (1992) auf Probeflächen im Wienerwald 13–92 Spechthöhlen pro ha, je nach Bestandsalter und Eichenanteil. In einem von Eichen und Buchen geprägten Naturwald kartierte Frank (1994, Hessen) 22 Spechthöhlen/ha. Im 300–400-jährigen Eichenwald des Spessarts erhoben Zahner & Loy (2000) 11 Höhlen/ha, die u.a. von Mauerseglern zur Brut genutzt wurden. Auf Probeflächen in einem Eichen-Linden-Buchen-Altholz wurden 17 Spechthöhlen/ha bestätigt (Nationalpark Hainich 2009). Innerhalb ausgewiesener „Altholzinseln“ lag die relative Höhlendichte im Laubmischwald bei 19/ha; unter Einbeziehung des jüngeren Bestandes im Umfeld noch bei 3,7/ha (Hessen; Jedicke 1997.a). – Beschränkt auf die faunistisch besonders wertvollen Schwarzspechthöhlen liegen die Höchstdichten bei 0,54 Höhlen/10 ha (160-jähriger Buchenbestand), 0,3/10 ha (Buchen-Naturwaldreservat), 0,26/10 ha (100-jähriger Buchenwald) und 0,1/10 ha (bewirtschafteter Laubmischwald; Übersicht in Jedicke 1997.b). Im bedeutendsten Urwald Österreichs, dem Rothwald, ermittelten Frank & Hochebner (2001) für die 5 Spechtarten im hochmontanen Mischwald eine Abundanz von 5,5 Rev./10 ha. Für den Gebirgswald im Raum Berchtesgaden errechnete Pechaček (1995) für 6 Individuen aus 4 Spechtarten eine Gesamtabundanz von 0,63 Bp/10 ha, was sich allerdings auf sehr kleine Probeflächen im Optimalhabitat bezieht. Auf Probeflächen im eichenreichen Mischwald erreichte allein der Buntspecht 5 Bp/10 (Höchstwert 6,4/10 ha; Wienerwald; Michalek et al. 2001). Nach der Abundanz der Spechtarten reihte Krištin (2002) innerhalb einiger Naturwaldgebiete der Slowakei den Eichenwald (mit 1,7 Revieren/10 ha) vor den Buchenwald (1,4 Rev./10 ha), gefolgt vom Bergmischwald (FichteBuche-Tanne; 1,3 Rev./10 ha) und dem Bergfichtenwald (0,7 Rev./10 ha). Für die Fläche des Nationalparks Bayer. Wald, dessen Wälder bis an den Subalpinbereich grenzen, ergab sich für 6 Spechtarten eine Abundanz von nur noch 0,2 Rev./10 ha (Scherzinger 1982). Von allen Nestgilden erleiden die primären Höhlenbrüter (Vogelarten, die sich ihre Bruthöhle selbst herstellen) die geringsten Verluste durch Prädation. Spechtbruten in großer Höhe über dem Waldboden und in Bäumen mit glatter Rinde werden von Nesträubern kaum tangiert (11 % gegenüber 31–48 % bei den übrigen Gilden; Martin 1993). In Bergwäldern der Slowakei ermittelte Saniga (2003) einen Gelegeverlust von 24 % und einen Jungvogelverlust von 44 % bei den Höhlenbrütern, was merklich unter den Werten für Strauch- und Kronenbrüter (47 % und 60 %) oder für Bodenbrüter lag (66 % und 71 %). Nach Weselowski & Tomialojc (2005) sind Höhlenbrüter vor Prädation keineswegs gefeit, doch können sie ihre Verluste durch hohe Jungenzahlen kompensieren. Bei regelmäßigem Wechsel der Bruthöhle ist auch das Risiko eines Parasitenbefalls reduziert. Das gilt vor allem für die kleinen und mittelgroßen Spechtarten, die nur selten dieselbe Bruthöhle in aufeinanderfolgenden Jahren nutzen. Die sekundären Höhlenbrüter hingegen (Arten, die als Folgenutzer in Spechthöhlen brüten), werden mit den Ektoparasiten konfrontiert, die vom Vormieter zurück geblieben sind. Auch wächst für diese Vogelgruppe das Risiko, dass ein mehrfach benutzter Höhlenstandort durch kleine Prädatoren gefunden bzw. gezielt kontrolliert wird.

42 I

Wolfgang Scherzinger

1.2.1.2.2 Sekundäre Höhlenbrüter Da eine bemerkenswerte Artenzahl an Waldvögeln auf die Nutzung von Spechthöhlen zur Brut angewiesen ist, gibt es eine klare Wechselwirkung zwischen der Lebensraumqualität eines Waldbestandes für Spechte und dem Brutplatzangebot für deren Folgenutzer. Bei der Waldbewertung werden daher sowohl die Abundanz der Spechthöhlen (Anzahl in Relation zur Flächengröße) als auch die Artenzahl und Siedlungsdichte der Höhlenbrüter zur Indikation der naturschutzfachlichen Bedeutung herangezogen. Für die Nachnutzer aus der Vogelwelt sind vor allem die ganz kleinen (Kleinspecht) und die sehr großen (Schwarzspecht) Spechthöhlen attraktiv. Erstere werden von Meisen und einigen Fliegenschnäppern präferiert, zumal sie ein Höchstmaß an Sicherheit vor Konkurrenten und Prädatoren bieten. Letztere stellen das essentielle Brutplatzangebot für Hohltaube und Raufußkauz (Foto 2.4, 2.5 Bildteil), auch für die Dohle, soweit sie in Wäldern brütet. An Gewässern kommt der Gänsesäger, in der wärmegetönten Parklandschaft auch Wiedehopf und Blauracke als Nutzer in Frage. Bei Mangel an Großhöhlen zwängt sich im Einzelfall sogar der Waldkauz in eine solche Schwarzspechthöhle (Tab. 2.2). Mitunter nutzen auch andere Spechtarten das Höhlenangebot durch den Schwarzspecht, zumindest als Schlafplatz (Bunt-, Grau- und Grünspecht; vgl. Meyer & Meyer 2001). Weitere Vogelarten nutzen die Höhlen als Beuteversteck und Fressplatz (Sperlingskauz; in Wiesner 2001). Wenn die Qualität von Schwarzspechthöhlen sich durch Wassereinbruch, verrottetes Nistmaterial oder Fäulnis mit den Jahren auch deutlich verschlechtern kann, sodass diese für den Schwarzspecht selbst nicht mehr geeignet sind, bleiben sie für Hohltaube und Dohle immer noch nutzbar, da diese Arten eine Nestunterlage aus Feinreisig eintragen. Foto 2.4: Bei geeigneten „Spechtbäumen“ legen Schwarzspechte immer wieder neue Höhlen an, sodass im Lauf der Jahre ganze Höhlen-Serien entstehen können (Buche, Innerer Bayer. Wald).

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

I 43

Tab. 2.2: Von den unterschiedlichen Größenklassen an Spechthöhlen sind die kleinsten und die größten unter den sekundären Höhlenbrütern (Folgenutzer) am meisten begehrt. Die kleinen wegen ihrer großen Sicherheit vor Konkurrenten und Prädatoren, die großen wegen ihrer Seltenheit und langjährigen Nutzbarkeit. Spechte als „Schirmarten“ für Höhlenbrüter bzw. Folgenutzer Höhlenbauer

Flugloch

in Höhlen brütende Vögel

Folgenutzer

 

 

 

 

 

 

 

Kleinspecht

3,2 cm

 

kleine Meisen

Hummeln

Haselmaus

 

 

 

 

 

 

 

  Fledermäuse

Dreizehenspecht

4,2–4,5

Sperlingskauz

Gartenrotschwanz

Wespen

Waldmaus

 

 

 

(Kleiber)

Hummeln

Baumschläfer

 

 

 

 

(Meisen)

 

 

 

Blutspecht

3,5–5,0

Wendehals

Feldsperling

Wespen

Waldmaus

Fledermäuse

 

 

 

Star

Hummeln

(Garten­schläfer)

 

 

 

 

Fliegen­schnäpper

 

 

 

Buntspecht

4,5–5,7

Sperlingskauz

Kleiber

Wespen

Waldmaus

Fledermäuse

 

 

Wendehals

Meisen

Hummeln

Siebenschläfer

 

 

 

 

Gartenrotschwanz

 

(Garten­schläfer)

 

 

 

 

Star

 

 

 

  Weißrückenspecht

 

 

Fliegen­schnäpper

 

 

 

5,5

(Sperlingskauz) Kleiber

Wespen

Waldmaus

Fledermäuse

 

 

 

Meisen

Hummeln

Siebenschläfer

 

 

 

 

Gartenrotschwanz

 

(Garten­schläfer)

 

 

 

 

Fliegen­schnäpper

Grauspecht

5,7

(Sperlingskauz) Kleiber

 

 

 

Wespen

Waldmaus

Fledermäuse

Hummeln

(Garten­schläfer)

 

 

 

Wendehals

Gartenrotschwanz

 

 

 

Fliegen­schnäpper

 

 

 

 

 

 

Star

 

 

 

Wespen

Waldmaus

Fledermäuse

Grünspecht

6,5

Zwergohreule

Gartenrotschwanz

 

 

Wendehals

Fliegen­schnäpper

Hummeln

(Siebenschläfer)

 

 

 

Wiedehopf

Star

 

(Garten­schläfer)

 

Schwarzspecht

8,5 x 13

Raufußkauz

Gartenrotschwanz

Hornissen

Eichhörnchen

(Fledermäuse)

 

 

Hohltaube

Fliegen­schnäpper

Wespen

Baummarder

 

Hummeln

(Steinmarder)

 

 

 

Dohle

(Kohlmeise)

 

 

(Wiedehopf )

(Tannenmeise)

(Siebenschläfer)

 

 

 

(Blaurake)

(Kleiber)

 

 

 

 

(Waldkauz)

(Star)

 

 

 

 

(Gänsesäger)

 

 

 

 

 

(Sperlingskauz)  

 

 

44 I

Wolfgang Scherzinger

 

Die mittleren Größenklassen (Dreizehen- bis Grünspechthöhlen) sind vor allem für Wendehals und Sperlingskauz von Bedeutung; in entsprechenden Lebensräumen auch für Gartenrotschwanz, Mauersegler und Zwergohreule. Wegen des relativ großen Fluglochs, das konkurrenzstarken Singvögeln (z.B. Kohlmeise, Feldsperling, Star) und kleinen Nesträubern Zutritt ermöglicht, meiden viele Kleinvögel solche Spechthöhlen, ausgenommen der Kleiber, der sich die Größe des Eingangs anpassen kann (Günther & Hellmann 2001). Langstreckenziehern, die erst spät ins Brutgebiet zurückkehren, wenn die Standvögel die kleinen Höhlen bereits besetzt halten, bleibt meist keine Auswahl, sie nutzen dann die Spechthöhlen in der weniger beliebten Größenklasse. Im Urwald von Białowieża wurden z.B. 26 % der Bruten des Halsbandschnäppers und 47 % des Trauerschnäppers in solchen Spechthöhlen registriert (Weselowski 1989; Tab. 2.3). Tab. 2.3: Wegen der höheren Sicherheit vor Prädation bevorzugen kleine Höhlenbrüter (z.B. Meisen, Fliegenschnäpper) Kleinhöhlen in Rissen und Spalten alter Bäume, während die größeren Spechthöhlen vor allem von robusten Vogelarten besetzt werden (z.B. Star). Für den Höhlenbau präferieren die Spechte artspezifisch verschiedene Holzqualitäten: Totholz ist für Klein- und Mittelspecht leichter zu bearbeiten, wobei letzterer auch mit Totästen im Kronenraum zurecht kommt (nach Weselowski 1898, verändert).

Sumpfmeise Blaumeise Kohlmeise Halsbandschnäpper Kleiber Trauerschnäpper Star Mittelspecht Kleinspecht Buntspecht

98,5 1,5 65 96,6 3,4 59 88,2 11,8 17

92,2 86,4 82,4

7,8 64 13,6 59 17,6 17

93,5 6,5 90,4 9,6 100 0

73,8 26,2 145 65,4 34,5 197

87,1 78,6

12,9 140 21,4 196

55,3 44,7 150 84,5 15,5 200

19 153      

90 78 52,9 71,4 83,6

10 22.0 47 28,6 16,4

52,6 43,8      

47,4 56,2 * * *

20 150 17 7 67

62 52 16

n

90,5 9,5 63 84,5 15,6 58 82,4 17,6 17 88,4 11,6 138 89,2 10,7 195 20 15,4 33,3 0 9,1

20 150 15 7 66

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

I 45

52,6 74,4 21,1 0 65,7

47,4 25,6 78,9 100 34,3

19 156 19 9 67

Stamm schräg %

n

Stamm senkrecht %

Baum tot %

n

Baum lebend %

Krone (Ast) %

n

Stamm %

Specht-Höhle %

Vogelart

Natur-Höhle %

Nutzung von Baum- und Spechthöhlen durch Waldvögel (Urwald von Białowieża)

80 84,7 66,7 100  

Gesamtartenvielfalt und Siedlungsdichte der Höhlenbrüter stehen jedenfalls in enger Abhängigkeit zum Baumalter, zum Totholzanteil in der Stamm- und Kronenschicht und zur Baumartenzusammensetzung, zumal das Höhlenpotenzial der einzelnen Waldgesellschaften von Natur aus sehr verschieden ist. – Aufgrund einer außerordentlichen Dichte an Schwarzspechthöhlen im Buchenurwald Badin (Slowakei) belegte die Hohltaube 10 % der Gesamtdichte an Waldvögeln, bei 38,7%-igem Anteil der Höhlenbrüter (Abundanz der Höhlenbrüter 27,4 Bp/10 ha; Kropil 1996a). In einem Bannwald der Oberrheinebene (Stieleiche-Hainbuche) registrierte Hohlfeld (2001) bei 80 Höhlenbäumen/10 ha die eindrucksvolle Abundanz von 75 Höhlenbrüter-Revieren/10 ha. Dem entspricht die Angabe eines Höhlenbrüteranteils von 62 % am Gesamtbestand der Vogelwelt eines 200-jährigen Eichen-Hainbuchenwalds bei Niebuhr (1948; in Luder et al. 1983). In einem Buchenaltbestand des Steigerwaldes erfasste Hofmann (1979) 14,4 Höhlenbrüter-Paare/10 ha (= 40 % der Gesamtvogeldichte). Für urwaldartige Bestände im Inneren Bayerischen Wald konnte Scherzinger (1985) die Abundanz der Höhlenbrüter (= Siedlungsdichte in Relation zur Fläche) entlang einem Höhengradienten von 700 m bis 1300 mNN nachzeichnen: Im artenreichen Bergmischwald (Fichte-TanneBuche) in Talnähe = 31,7 Individuen/10  ha (45  %), im Hochmontan-Wald (FichteTanne-Buche) am Übergang zum subalpinen Bergfichtenwald bei südlicher Exposition = 15,7 Indiv./10 ha (33 %), bei östlicher Exposition = 7,1 Indiv./10 ha (26 %). Diese Werte sind mit den Befunden aus dem Urwald Dobroč (Fichte-Tanne-Buche; Slowakei) durchaus vergleichbar, mit einer Abundanz der Höhlenbrüter von 19,5 Bp/10 ha (entspricht 31,3 % des Gesamtvogelbestands; Kropil 1996.b). Auch im Raum Berchtesgaden zeigen die Höhlenbrüter mit 11 Bp/10 ha im Gebirgswald noch sehr hohe Abundanzen (darunter sind die Spechte mit 6 % subsumiert; Pechaček 1995). 1.2.2 Nahrungsgilden So essentiell das Verhältnis zwischen dem Nahrungsangebot der Wälder und dem Nahrungsbedarf der Vögel für die Entwicklung der Waldlebensgemeinschaften ist, sind unsere Kenntnisse noch auf autökologische Einzelfälle beschränkt. Das liegt primär an der methodischen Schwierigkeit der Nahrungsanalyse, da Vögel zum einen hochmobil sind, bei mitunter großräumiger Nahrungssuche, und zum anderen großteils leicht verdauliche Nahrungsobjekte aufnehmen, deren Reste schwierig zu bestimmen sind, letztlich Unverdauliches nicht nur über Kot, sondern auch über Speiballen abgeben können. Solide Kenntnisse zu qualitativer Nahrungswahl und dem quantitativen Nahrungsbedarf liegen jedenfalls für die vorwiegend herbivoren Arten vor (z.B. Hasel- und Auerhuhn), da sich Pflanzenreste in deren Kotwürstchen gut erkennen lassen. Die Aufnahme von Samen und Früchten lässt sich sowohl direkt beobachten als auch über Reste im Kot nachweisen (vgl. Krištin 1992). Auch für die Vertebratenjäger gibt es differenzierte Beutelisten, die auf der Aufsammlung von Rupfungen und Beuteresten am Horst (z.B. Sperber und Habicht) oder der Analyse von Gewöllen (z.B. Raufußkauz) und Beuteresten aus der Bruthöhle (z.B. Sperlingskauz) basieren. Bei Spechten z.B. lassen sich aus Bearbeitungsspuren Rückschlüsse zur Nahrungsaufnahme ziehen (Zapfenschmiede, Öffnung von Ameisenkolonien). Am schwierigsten zu

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erfassen ist die Aufnahme von Wirbellosen, zumal diese oft sehr klein und weich sind, außerdem weitgehend verdaut werden können (z.B. Collembolen, Fliegenmaden, Ameisenpuppen, Blattlauslarven). Die Analyse von Insektenbeute aus Halsringproben (Nestlingsnahrung) oder Vogelkot ist jedenfalls aufwendig und wenigen Spezialisten vorbehalten. Wenn Vögel auch viele unterschiedliche Ressourcen des Waldes nutzen können, wie Gräser, Kräuter und Beeren aus der Bodenvegetation, Knospen und Blüten, Samen und Früchte sowie Blätter aus Gesträuch und Baumkronen, sogar Baumsaft aus dem Kambium unter der Borke (vgl. Tab. 2.4, 2.6), so bleibt doch das nahrungsökologische Paradoxon auffällig, dass ausgerechnet Wälder, die von allen Vegetationsformen die höchste Phytomasse produzieren, ein vergleichsweise sehr geringes Angebot an nutzbarer Pflanzenmasse für die Fauna stellen. Remmert (1973) kalkuliert den Anteil an der Primärprodukten, den Säugetiere und Vögel des Waldes konsumieren, mit nur 0,1 %. Zum einen wird der Großteil der Assimilationsprodukte als Holz in Stamm und Wurzeln der Bäume gespeichert, somit für Vögel nicht nur schwer erreichbar, sondern als Nahrung auch nicht verwertbar. Weiters schirmt das Kronendach des Waldes einen hohen Anteil der Sonneneinstrahlung ab, sodass eine reichere Bodenvegetation auf Sonderflächen – wie Baumsturzlücken, Lichtungen und Waldwiesen – beschränkt bleibt. Der überwiegende Teil an Blattmasse wird vielmehr an den äußeren Ästen der Baumkrone gebildet, wo sie nur für kletter- und flugfähige Tierarten erreichbar ist (Abb. 2.5, Bildteil). Letztlich ist es für Vögel noch viel schwieriger als für Säugetiere, Gräser, Blätter oder Triebe aus der Primärproduktion direkt zu nutzen, da diese meist von geringem Nährwert sind, und Pflanzenfresser deshalb sehr große Pflanzenmassen aufnehmen müssen, um ausreichend Energie daraus zu gewinnen. Waldhühner z.B. haben entsprechend große Kröpfe und massige Körper; die Herbivorie geht hier zu Lasten der Flugfähigkeit. Samen, Nüsschen und Blüten haben deshalb einen hohen Stellenwert für die Ernährung herbivorer Vogelarten, da sie – bei entsprechendem Nährstoffkonzentrat – von diesen keine so großen Mengen aufnehmen müssen, und ihre Flugfähigkeit und Wendigkeit damit nicht durch Gewicht oder Volumen der Pflanzenmasse beeinträchtigt werden, selbst bei kleinen Körpergrößen. Der überwiegende Teil der Waldvögel nutzt die Primärproduktion als sekundäre Konsumenten. Sie verzehren wirbellose Tiere oder kleine Wirbeltiere, die ihrerseits die Pflanzenmasse direkt nutzen können, oder selbst räuberisch von den primären Konsumenten leben. Mit nur wenigen Gramm Körpergewicht können insektivore Vögel somit die äußersten Spitzen des Kronendachs besiedeln. Bei der folgenden Darstellung der Nahrungs-Gilden sei vorweggenommen, dass die unterschiedlichen Ernährungsstrategien gegeneinander nicht strikt abgegrenzt sind, da Herbivore durchaus auch Insekten, im Einzelfall sogar Kleinsäuger fressen (z.B. Auerhuhn), und viele Insektivore auch Samen, zuckerhaltige Baumsäfte oder Früchte aufnehmen (z.B. Buntspecht, Grasmücken, Alpendohle); bei Beutemangel verzehren Vertebratenjäger ersatzweise auch Wirbellose (z.B. Regenwürmer, Käfer als Waldkauzbeute).

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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1.2.2.1 Herbivore Vögel Reine Pflanzenfresser sind unter den heimischen Waldvögeln die Ausnahme, weshalb ihre Artenzahl sehr beschränkt ist. Das liegt zum einen an dem meist unzureichenden Angebot leicht verdaulicher und energiereicher Phytomasse in geschlossenen Waldbeständen (vgl. nahrungsökologisches Paradoxon), zum anderen an den anatomischen und physiologischen Anforderungen einer Herbivorie, die in grundlegendem Widerspruch zu den Anforderungen an einen leichtgewichtigen und wendigen Vogelflug stehen. 1.2.2.1.1 Baumsäfte als Vogelnahrung Zu den besonders leicht verdaulichen Pflanzenstoffen zählen die Kambialsäfte der Bäume. Sie enthalten neben Zuckern und Proteinen auch Mineralstoffe und Spurenelemente. Meisen und andere Kleinvögel lecken an diesen Säften, wo sie an Bruchstellen von Zweigen oder Rissen in der Baumrinde austreten. Im Unterschied zu den Nutzern von junger Baumrinde und Kambium unter den Säugetieren und Insekten gibt es in der heimischen Avifauna aber nur wenige Arten, die sich diese Ressource gezielt erschließen. Dazu zählen in erster Linie einige Spechtarten, die Serien kleiner Löcher in die Borke schlagen, um den hier austretenden Saft mit dem Unterschnabel aufzufangen bzw. aufzulecken. Ein solches „Ringeln“ (Bezeichnung leitet sich von der Anordnung dieser Einschläge in horizontalen Zeilen ab, die mitunter den ganzen Baumstamm umrunden) ist z.B. für den Dreizehenspecht typisch, der unterschiedliche Nadelbäume (vor allem Lärche, Fichte, Kiefer, Zirbe, Eibe) anhackt, meist an ihrer besonnten Stammseite. Buntspecht und Mittelspecht ringeln vor allem Weichlaubhölzer und Obstbäume. Vereinzelt wurde Ringeln auch vom Schwarzspecht bestätigt (Tab. 2.4). Solche Bäume werden oft über Jahrzehnte immer wieder aufgesucht, sodass sich charakteristische Kallusringe ausbilden (Gatter 1972, Blume & Tiefenbach 1997). Tab. 2.4: Vom Baumsaft, der beim „Ringeln“ einiger Spechtarten austritt, profitieren auch Singvögel, Kleinsäuger und Insekten.

Baum-Ringeln von Spechten Ringeln Folgenutzer     Dreizehenspecht Kleinspecht Buntspecht Grünspecht Mittelspecht Grauspecht (Schwarzspecht)                              

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  Kohlmeise Blaumeise Sumpfmeise Weidenmeise Schwanzmeise Tannenmeise Haubenmeise Kleiber Waldbaumläufer Gartenbaumläufer Eichelhäher

  Rotkehlchen Amsel Feldsperling Buchfink Grünfink Erlenzeisig Kernbeißer Gimpel Goldammer Star Saatkrähe

  Siebenschläfer Eichhörnchen Waldmäuse Reh (Rothirsch)

 

  Waldameisen Wespen Nachtfalter Fliegen              

1.2.2.1.2 Blatt- und Nadelnahrung Phyllophagie trifft besonders für Vogelarten zu, die sich – wie die Waldhühner – vorwiegend von krautigen Pflanzen, Blättern und Nadeln ernähren. Sie benötigen spezifische Anpassungen für Aufnahme und Verwertung der energiearmen Kost. Im Beispiel des Auerhuhns sind das: • kräftiger Pflückschnabel (beißt bis zu bleistiftdicke Kiefernzweige ab), • dehnbar großer Kropf (speichert die voluminöse Nahrungsmenge für eine lange Winternacht), • starkwandiger Muskelmagen (zerreibt mit Hilfe von Magensteinchen [Gastrolithen] die groben Pflanzenteile), • ein Paar außerordentlich langer Blinddärme (hier findet die eigentliche Verdauung mit Hilfe Zellulose verarbeitender Einzeller statt; der Blinddarm wird täglich entleert [Falzpech]). Da das Nahrungsangebot im winterlichen Bergwald im Wesentlichen auf Nadeln von Kiefer, Fichte oder Tanne beschränkt ist, zeigen Raufußhühner darüber hinaus spezielle Verhaltensanpassungen zur Vermeidung von Energieverlusten, wie eine deutliche Reduktion der Aktivitätsphasen, speziell der Lokomotion, ein ausgiebiges Aufwärmen in der Wintersonne oder das Übernachten in selbst gegrabenen Schneehöhlen bei großer Kälte (vgl. Klaus et al. 1998). Auch lassen sich die Ansprüche der Waldhühner an die Lebensraumqualität in wesentlichen Punkten aus dem komplexen Verhältnis zwischen dem Aufwand bei der Nahrungssuche und der jeweiligen Energieausbeute ableiten: Als die größten (und schwersten) flugfähigen Waldvögel unserer Fauna verfolgen Auerhühner z.B. eine „Strategie der kurzen Wege“, weshalb Nahrungs-, Schlaf-, Balz- und Brutgebiete in möglichst enger Nachbarschaft bevorzugt werden. Über Fütterungsversuche im Labor haben Lieser et al. (2006) die Energiebilanzen für unterschiedliche Koniferen als Auerhuhnnahrung ermittelt. Sie bestätigen im Wesentlichen die im Freiland beobachteten Präferenzen von Kiefer vor Tanne, und dieser vor Lärche, ans Ende gereiht ist die Fichte. Die Verdauung der ohnehin energiearmen und rohfaserreichen Nahrung wird zusätzlich durch sekundäre Pflanzenstoffe erschwert. Zur „Feindabwehr“ haben Pflanzen Dornen, Gifte oder verdauungshemmende Ballaststoffe entwickelt. Koniferennadeln enthalten z.B. hohe Anteile an Tanninen, Harzen und ätherischen Ölen. Tierische Pflanzenfresser überwinden diese Abwehrstrategien der Pflanzen z.B. mit Hilfe von symbiontischen Mikroorganismen im Verdauungssystem. Der „Caecal-Typ“, bei dem Zellulose aufgeschlossen und Terpene, Tannine, Kieselsäure etc. in den voluminösen Blinddärmen abgebaut werden können, ist ein Erbe der Saurier (Guthrie 1984). Auch nehmen Auerhühner zur Neutralisierung der sekundären Pflanzenstoffe regelmäßig Hilfsstoffe, wie Moderholz, Lehmerde, Holzkohle oder Holzasche auf (Tab. 2.5). Des Weiteren nutzen die Vögel selektiv jene Baumindividuen, die infolge wiederholten Verbisses frische Ersatztriebe bilden, die dann aufgrund fehlender Ballaststoffe leichter verdaulich sind. – Trotz hoher Spezialisierung des Verdauungssystems können die Hühner nur einen Bruchteil der Pflanzenmasse verwerten, der Großteil wird in den Kotwürstchen wieder ausgeschieden, wobei die Struktur von Nadeln, Knospen, Gräsern etc. meist erkennbar erhalten bleibt. 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Tab. 2.5: Das herbivore Auerhuhn kommt im Winter mit einer sehr energiearmen Nahrung aus Kiefern- oder Fichtennadeln aus, stellt im Jahreslauf aber höhere Ansprüche an Eiweiß- und Zuckergehalt, weshalb das Angebot an Knospen und Blüten im Frühjahr (Eiproduktion), an Insekten im Frühsommer (Kükenaufzucht) und an Beeren im Spätsommer (Mauser, Jungenwachstum) für die Habitatqualität entscheidend ist (aus Scherzinger 2003). Winter BetriebsStoffwechsel

Frühjahr Eiproduktion

Frühsommer Hochsommer KükenJungenaufzucht wachstum

Herbst Spätherbst Ausreifung von Körper und Gefieder

Kiefer-Nadeln Fichten-Nadeln Tannen-Nadeln Lärchen-Knosp.

      Lärchen-Knosp.

  Fichten-Triebe   Lärchen-Triebe

Kiefer-Nadeln Fichten-Nadeln Tannen-Nadeln  

Kiefer-Nadeln Fichten-Nadeln Tannen-Nadeln  

Buchen-Knosp. Heidelbeer-Kn. Vogelbeer-Kn. Dünne Rinde     Fichten-Samen      

Buchen-Knosp. Heidelbeer-Kn.       „Kräuter“ Fichten-Samen   Wollgras-Blüte Diverse Blüten

(Buchen-Laub) Heidelbeeren   Frische Rinde Fein-Wurzeln „Kräuter“        

(Buchen-Laub) Heidelbeeren (Vogelbeeren)     „Kräuter“        

Buchen-Knosp. Heidelbeer-Kn. Vogelbeeren       Fichten-Samen Bucheckern    

 

Moos-Sporoph.

 

 

 

                     

    Weiden-Kätzch. (Birken-Kätzch.)              

        BuchenLaub         „Kräuter“         Moos-Sporoph. MoosStämmch. Gras-Spitzen       „Insekten“ (Ameisen?)        

Moos-Stämmch. Gras-Samen     (Wald-Beeren) „Insekten“ Ameisen Raupen (Regenwürmer) (Schnecken)  

  Gras-Samen Weiden-Laub   Wald-Beeren „Insekten“ Ameisen   (Regenwürmer) (Schnecken) (Kleinsäuger)

  Gras-Samen     (Wald-Beeren)           (Kleinsäuger)

Lehm-Erde Morschholz Gastrolithen

     

Humus-Erde Wurmfarn     Sand (Steinchen)

Wurmfarn   (Steinchen)

Fall-Laub Morschholz Gastrolithen

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Der Energiegewinn aus Koniferennadeln oder Laubknospen reicht den Waldhühnern zwar als Erhaltungsnahrung während der Wintermonate, jedoch weder zur Eiproduktion im Frühjahr noch für ein schnelles Jugendwachstum im Sommer. Auerhennen z.B. können den erhöhten Proteinbedarf über die quellenden Knospen von Vaccinien (z.B. Heidekraut, Heidelbeere), Vogelbeerbäumen oder Buchen decken. Besonderen Stellenwert haben Blüten krautiger Pflanzen (z.B. Wollgräser) und einiger Baumarten, soweit sie große Pollenmengen enthalten. Haselhühner z.B. ernten im Spätwinter die reifenden Blütenkätzchen von Hasel, Erle, Espe, Weide oder Birke in großen Mengen. Die quellenden Blütenknospen von Obstbäumen werden beispielsweise von Gimpeln ausgebeutet. 1.2.2.1.3 Samen-Fresser Der überwiegende Teil herbivorer Waldvögel nutzt die energiereicheren Samen und die leichter verdaulichen Früchte und Beeren aus der Kraut-, Strauch- und Baumschicht (Tab. 2.6). Dabei zeigen einige Vogelarten bemerkenswerte Anpassungen der Schnabelform zur Samenernte: So eignet sich der pinzettenartige Schnabel des Erlenzeisigs zum Aufspreizen von Erlen- und Fichtenzapfen. Beim Aufhebeln der Zapfenschuppen setzt der Kreuzschnabel die scherenartig überkreuzten Schnabelhälften ein. Ein komplexes Verhalten setzt der Buntspecht mit dem sogenannten „Schmieden“ zur Gewinnung von Koniferensamen ein: Er pflückt den reifen Zapfen, trägt ihn im Schnabel zu einer vorher präparierten Astgabel oder Stammnische, wo sich der Zapfen einklemmen lässt; letztlich hämmert er gezielt zwischen die Zapfenschuppen, um an die kleinen Samen zu gelangen. Mit der Schmiede-Technik öffnen Bunt- und Blutspecht auch große und harte Obstkerne, Hasel- und Walnüsse oder Eicheln (durch Schmieden präparieren sie auch erbeutete Vogeleier oder Jungvögel). Auch Meisen und Kleiber öffnen große Samen und Nüsschen, wie z.B. Bucheckern, durch kräftige Schnabelhiebe, wobei der Kleiber entsprechende Spalten und Klüfte in der Baumrinde als Amboss nutzt. Der besonders kräftige Schnabel des Tannenhähers vermag selbst Zirbel- und Haselnüsse direkt zu knacken; auch der massige Schnabel des Kernbeißers zerdrückt z.B. Kirschkerne mühelos. Krähenvögel haben gelernt, selbst große Nüsse durch wiederholtes Fallenlassen aus großer Höhe aufzubrechen. Mit ihren scharfkantigen Schnäbeln beißen Gimpel, Grün- und Bergfinken auch größere Samen auf, selbst hartschalige Bucheckern. Kleine Samen werden meist direkt aufgepickt, größere mitunter sogar ganz verschluckt. Eichelhäher, Ringeltaube und Auerhuhn verschlingen sogar die großen Eicheln unzerteilt.

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Tab. 2.6: Herbivore Waldvögel nutzen eine breite Palette aus der pflanzlichen Produktion, aus allen Schichten des Waldes, wobei auch Moderholz, Erde und Steinchen – als Hilfsstoffe der Verdauung – aufgenommen werden.

  Von Vögeln genutzte Waldprodukte Blüten

Blätter, Na- Samen, deln, Triebe, Nüsschen, Knospen alle Schichten

Beeren, Früchte. Bodenschicht

Beeren, Früchte, Strauchschicht

Beeren, Früchte, Bäume

Baumstamm, Waldboden

Birken­kätzchen

Buche

Ahorn-Samen

Brombeere

Alpen-Johannisbeere Eiben-Scheinfrucht Baumsaft

Erlenkätzchen

Erle

Bucheckern

Erdbeere

Efeu-Früchte

Haselkätzchen

Fichte

Distel-Samen

Heidelbeere

Hasenlattich Eicheln

Sauerklee

Heidelbeere

Eschen-Samen Moosbeere

Vogelkirsche

Himbeere

Weidenkätzchen Kiefer

Grassamen HainbuchenSamen

Preiselbeere Hartriegel-Beeren Rauschbeere Heckenkirsche

Vogelbeere

Steinchen

Wollgras

Lärche

Haselnuss

Steinbeere

Vogelkirsche

 

 

Löwenzahn

Hirtentäschl

Rosen-Hagebutten

Wildapfel

 

 

Moose

Löwenzahn

 

Roter Holunder

Wildbirne

 

 

Vogelbeere

Moose

 

Schlehen-Früchte

 

 

 

Vogelkirsche Simsen

 

Schwarzer Holunder

 

 

 

Walnuss

 

Stechpalmen-Beeren

 

 

 

Weiden Weidenröschen

 

 

Wacholderbeere

 

 

 

Wildapfel

 

 

Waldgeißblatt

 

 

 

 

 

Weißdorn-Früchte

 

 

 

 

Wilder Wein

 

 

wolliger Schneeball

 

 

 

 

 

Elsbeere

Flechten

Heidelbeere Faulbaum-Früchte

Kornelkirsche

Holzmoder

Himbeere

Mehlbeere

Humuserde

Mistel-Beere

Moderholz

Traubenkirsche

Rinde

 

Felsenmispel gemeiner Schneeball

Liguster

Nicht alle Waldbaumarten bilden jährlich Samen aus. Vielmehr wechseln Jahre mit sehr geringer Produktion mit Jahren mittlerer oder massenhafter Produktion. Forstleute haben für diese Wechseljahre die Bezeichnungen Fehlmast (Fruchtbehang am Baum < 10 %), Sprengmast (10–40 %), Halbmast (40–70 %) und Vollmast (70–100 %) eingeführt. In unseren Wäldern folgen vor allem Fichte, Kiefer, Buche und Eiche solchen unregelmäßigen Zyklen, wobei die Intervalle zwischen den Mastjahren (Jahre mit Vollmast) nicht konkret voraussagbar sind (Abb. 2.6, Bildteil). Die Massenproduktion von Samen setzt einerseits eine gute Nährstoffversorgung voraus und wird andererseits vom Verlauf der Witterung gesteuert. Wärme und Sonnenschein in den Sommermonaten stimulieren die Bildung von Blütenknospen im Folgejahr (bei Buche und Eiche) bzw. im übernächsten Jahr (bei Kiefer; Flade & Schwarz 2004). Das außergewöhnliche Samenangebot solcher

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Mastjahre zieht gravierende Auswirkungen für alle Samen fressenden Tierarten nach sich, insbesondere in Jahren mit synchroner Massenproduktion mehrerer Baumarten. Zum einen lösen sie Invasionen von Zeisigen, Kreuzschnäbeln und Bergfinken aus, die dann in Schwärmen von tausenden Individuen einfallen (Gatter 2004; vgl. Abb. 2.7, Bildteil); selbst Kohl- und Blaumeisen brechen zu Massenwanderungen auf. Zum anderen können die begünstigten Vögel ihre körperliche Kondition maximieren, was sich ganz erheblich auf deren Fortpflanzungserfolg auswirkt. Als Profiteure der Buchen- und Eichenmast zählen Flade & Schwarz (2004) unter den Brutvögeln Buntspecht, Ringeltaube, (Hohltaube), Kernbeißer, Gimpel, Buchfink sowie Kohl- und Blaumeise auf (bedingt auch Weiden- und Sumpfmeise). Jedenfalls zählt auch der Eichelhäher dazu. In Fichten- und Kiefernwäldern sind es neben Buntspecht, Erlenzeisig, Fichtenkreuzschnabel, Tannen-, Weiden- und Sumpfmeise, in Zirbenbeständen auch der Tannenhäher (Mattes 1978). – Da Mastjahre auch Gradationsjahre bei den Nagetieren ermöglichen, profitieren – indirekt – auch die Mäusejäger unter den Vögeln, deren Fortpflanzungserfolg dann jeweils um einige Monate „nachhinkt“, wie es speziell für Eulen typisch ist. Für ein Buchenwaldgebiet im Harz hat Zang (2003) die Reaktion des Kleibers nachgezeichnet: In Mangeljahren (infolge Fehlmast) ist die Siedlungsdichte nur halb so hoch wie in Mastjahren (Abundanz steigt von 3,6 Bp/10  ha auf 7,2  Bp/10  ha). Das ungewöhnliche Nahrungsangebot im Mastjahr wirkt sich in guter Kondition der Vögel aus, die nicht nur nahezu verlustfrei überwintern, sondern auch früher mit Nestbau und Eiablage beginnen. Letztlich verdoppelt sich aufgrund erfolgreicher Reproduktion die Zahl flügger Jungvögel (Abundanz steigt von 25,7 juv./10  ha auf 46,5 juv./ha). Eine derart außergewöhnliche Siedlungsdichte wirkt sich aber gleichzeitig als Dichtestress aus und zwingt die Jungvögel zu massenhafter Abwanderung. Da Vögel Samen und Nüsschen nicht nur verzehren, sondern z.T. auch in großen Mengen horten oder sonstwie deren Ausbreitung begünstigen, hat sich eine komplexe Wechselwirkung zwischen der Samenproduktion der Bäume und dem Samenkonsum der Vögel entwickelt. Innerhalb der heimischen Waldbäume lassen sich unterschiedliche Strategien der Samenausbreitung beobachten: Verbreitet ist die passive Verfrachtung durch Wind (Anemochorie), z.B. bei den leichten und „flugfähigen“ Samen von Weide, Pappel, Birke, oder den geflügelten Samen von Esche, Hainbuche, Ahorn, Linde oder Ulme sowie von den meisten Nadelbäumen. Diese Bäume profitieren i.R. nicht vom Verzehr ihrer Samen durch Vögel, ausgenommen einige Koniferen, bei denen ein Teil ihrer Flugsamen über das Kronendach verstreut wird, wenn Erlenzeisige oder Fichtenkreuzschnäbel die reifen Zapfen öffnen. Anders bei Eichen und Buchen, deren große und schwere Samen weder durch Wind noch Wasser verbreitet werden können, somit zur Gänze auf die Ausbreitung durch Tiere (Zoochorie) angewiesen sind. Diese Arbeit leisten im wesentlichen Kleiber und Eichelhäher, indem sie Vorratsspeicher in oft großer Entfernung anlegen, wo Baumsamen einzeln oder konzentriert versteckt werden. Eicheln wie auch Bucheckern sind dank eines hohen Ölgehalts sehr energiereich, groß und lagerfähig, und damit zur Hortung geeignet. Während der Kleiber die Samen meist in Klüfte und Spalten grobborkiger Bäume 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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stopft, sucht der Eichelhäher lockere Erde am Wurzelanlauf großer Bäume, bevorzugt an Lichtungen und besonnten Waldrändern, um Eicheln, Bucheckern, auch Hasel- oder Walnüsse zu vergraben. Da Eichelhäher in ihrer dehnbaren Speiseröhre jeweils mehrere Eicheln gleichzeitig transportieren, können sie im Lauf einer Herbstsaison an die 4 000– 5 000 Eicheln einpflanzen. Bei Transportstrecken von bis zu 6 km trägt diese Vogelart damit maßgeblich zur Ausbreitung der betroffenen Waldbäume bei (Stimm & Böswald 1994, Newton 2003). Noch „leistungsfähiger“ erscheint der Tannenhäher, der mit 50  000–100  000 verschleppten Zirbel- oder Haselnüssen insgesamt an die 35 kg Saatgut pro Herbst bis zu 15 km weit transportiert. Damit die Verstecke zur Brutzeit auch bei Schneelage zugänglich sind, wählt der Häher erhöhte Stellen, die früh ausapern, bevorzugt vermoderte Baumstrünke. Hier werden jeweils 3–4 Nüsschen versteckt, von denen stets einige zu Jungbäumen auskeimen (Mattes 1978). – Auch Sumpf- und Weidenmeise legen Samenvorräte an. Mit einer bemerkenswert hohen Wiederfundrate demonstrieren sie ihr besonderes Ortsgedächtnis. 1.2.2.1.4 Fruchtfresser (Frugivorie) Vergleichbar komplex erscheint die Beziehung zwischen Beeren tragenden Waldsträuchern und fruchtfressenden Vögeln. Waldfrüchte sind für das Vogelauge entweder durch ihre rote oder orangerote Färbung besonders auffällig (z.B. Preiselbeere, Hagebutte, Heckenkirsche, Gemeiner Schneeball, Johannisbeere, Roter Holunder, Kornelkirsche, Vogelbeere, Vogelkirsche), oder durch einen mehligen, UV-Licht reflektierenden Überzug („Bereifung“; z.B. Schlehen, Heidelbeeren, Wilder Wein, Efeubeeren). Obwohl die meisten Waldfrüchte den Vögeln einen nur geringen Nährwert bieten (geringer Protein- und Zuckergehalt), kann ihr Verzehr einen essentiellen Beitrag zur arttypischen Ernährung leisten. So haben die Experimente von Bairlein & Hampe (1998) in manchen Beeren sekundäre Pflanzenstoffe nachgewiesen, die den Stoffwechsel von Zugvögeln maßgeblich beeinflussen: z.B. stimulieren Triggerstoffe in den Beeren von Schwarzem Holunder und Roten Heckenkirschen die Einlagerung von ungesättigten Fettsäuren, die den Vogel – als „Zugfett“ – mit ausreichender Energie für die Querung von Mittelmeer oder Sahara versorgen. Selbst typische Insektenfresser (wie Grasmücken, Fliegenschnäpper, Rotschwänze, Braunkehlchen) fressen zu Beginn der Zugzeit gezielt solche Beeren. Waldhühner, die kein körpereigenes Vitamin C bilden können, sind auf den Verzehr von Vogelbeeren oder Weidenrinde angewiesen, die eine relativ hohe Konzentration von Salizylsäure enthalten. Auf die enge Beziehung zwischen Auerhuhn- und Heidelbeervorkommen wird im Schrifttum wiederholt hingewiesen (z.B. Storch 1995), da ihr hoher Zuckergehalt das Kükenwachstum begünstigt, außerdem Erkrankungen des Verdauungssystems dieser empfindlichen Vögel wirksam vorbeugt. Rund 30–40 % der heimischen Pflanzen, davon an die 70 % der Holzgewächse, nutzen Vögel zur Ausbreitung ihrer Samen, indem sie ihnen attraktive Beeren und Früchte bieten (Thiede 1995, zit. in Bairlein & Hampe 1998). Dabei können Fruchtsträucher den Samentransport durch die Vögel optimieren. Z.B. enthalten manche Früchte und

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Beeren Sekundärstoffe, die verhindern, dass die mit aufgenommenen Samen von den Vögeln verdaut werden (z.B. durch abführende Wirkung), oder aber verhindern, dass sie nach kurzer Zeit wieder ausgeschieden werden (z.B. durch verdauungshemmende Wirkung). Nach der Darmpassage sind die Keimungschancen für die Samen besonders günstig, wenn sie mit dem Kot, auf offenem Waldboden, an besonnten Lichtungen und Waldrändern ausgeschieden werden („safe sites“). Die klebrigen Samen der Mistelbeeren keimen direkt in der Baumkrone, wo sie z.B. von Drosseln oder Seidenschwänzen mit dem Kot abgesetzt wurden. Sehr große Samen, wie Kirschkerne, machen meist keine Darmpassage durch; sie werden z.B. von Drosseln oder Staren (nach Ablösung des Fruchtfleisches im Magen) einfach ausgespieen. 1.2.3 Tierische Ernährung Bei der meist breiten Beuteliste von Waldvögeln mit tierischer Ernährung ist eine strikte Klassifizierung der Gilden nach Invertebraten-Jägern, Insektivoren und Karnivoren nicht zweckmäßig, weshalb hier eine Differenzierung nach jenen Straten und Schichten bevorzugt wird, in denen der Beuteerwerb einzelner Arten vorwiegend zu beobachten ist. 1.2.3.1 Jäger am Waldboden Der Waldboden gilt als Lebensraum mit der höchsten Artendiversität und Siedlungsdichte an Organismen, speziell Humusschicht und Streudecke. Im Gegensatz zu wühlenden und grabenden Säugetieren (z.B. Dachs, Wildschwein, Spitzmäuse, Maulwurf ) ist den Vögeln nur die oberste Bodenschicht zugänglich. Einzig der Wespenbussard kann mit seinen Grabbeinen auch tiefere Erdgänge öffnen, um Wespenwaben auszugraben. Auch Arten mit langen Stocherschnäbeln können nur die obersten Zentimeter des Waldbodens durchdringen (z.B. „Stechen“ der Waldschnepfe). Regenwürmer, die durch ihren hohen Fettgehalt besonders nahrhaft sind, werden deshalb hauptsächlich erbeutet, wenn sie an die Oberfläche kommen (z.B. Drosseln, Schwarzstorch, Waldkauz). Vögeln, die auf dem Waldboden jagen, stehen vor allem Streuzersetzer, Abfallverwerter und räuberische Wirbellose zur Verfügung (Krištin 1992). Amseln wenden auf der Jagd nach Asseln und anderen Streuzersetzern die Laubstreu nahezu systematisch mit dem Schnabel. Auf der Suche nach Schnaken- und Käferlarven (Tipuliden, „Drahtwürmer“ bzw. Elateriden) stechen Stare den Schnabel „zirkelnd“ in den Boden. Der Großteil an Wirbellosen-Beute wird von den Vögeln aber einfach aufgelesen (z.B. Mollusken, Hundertfüßer, Milben, Spinnen, Fliegenlarven, Ameisen). Heuschrecken, Weich- und Blattkäfer, Zikaden und Blattläuse, Bienen und Hummeln, Schmetterlinge (bzw. deren Raupen) und Schwebfliegen werden direkt aus der Bodenvegetation gepickt. – In der Nahrung skandinavischer Auerhuhn-Küken gilt die Dichte kleiner Schmetterlingsraupen im Heidelbeergebüsch als Schlüsselfaktor. Ihre Abundanz bestimmt über Wachstumstempo und Überlebenschance. Aufgrund ihres massenhaften Vorkommens spielen Ameisen eine besondere Rolle in der Vogelnahrung. Nicht nur Auerhennen führen ihre Küken zu den Koloniehügeln der Waldameisen, wobei diese Beute meist auch bei Schlechtwetter zur Verfügung steht 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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(Foto 2.6, Bildteil). Der Wendehals und die sogenannten Bodenspechte (Grau- und Grünspecht) haben sich auf das Auflesen von Ameisen spezialisiert, und können mit ihrem Schnabel auch die Erdbauten der Rasenameisen aufgraben, um an die großen Puppen zu kommen. Nach der Analyse frischer Kotproben aus dem Bergwald betrug der Ameisenanteil bei Weißrückenspecht 42 %, Buntspecht 67 %, Schwarzspecht 83 %, Grünspecht sogar 98 % (Pechaček 1995). Mit derselben Technik ermittelten Michalek & Krištin (2009) für Eichen-Buchenbestände (Wienerwald) im animalischen Anteil der Buntspechtnahrung 60 % Ameisen im Winter und 93 % Ameisen im Sommer; noch unselbständige Jungspechte ernährten sich gar zu 99 % von Ameisen. Im Winter hacken der Schwarzspecht, wie auch die beiden Bodenspechte, mitunter tiefe Löcher in die Kolonien der Waldameisen, die sich vor dem Frost in den Waldboden zurückgezogen haben (vgl. Blume & Tiefenbach 1997). Der Waldboden ist jedenfalls zentrales Jagdgebiet der Vertebratenjäger, sind ja Frösche, Eidechsen, Wühl- und Langschwanzmäuse, Igel, Hasen sowie größere Vogelarten vorwiegend in dieser Schicht zu finden. Da mit jedem Übergang zur nächsthöheren Trophieebene grob gerechnet nur 10 % der Energie aus der aufgenommenen Nahrung dem Organismus des Konsumenten zu Gute kommen, ist das Nahrungsangebot für Prädatoren um so kleiner, je näher ihre Nahrungsnische an die Spitze der Nahrungspyramide reicht (vgl. Bick, in Otto 1994). Wirbeltierjäger sind in Wäldern daher grundsätzlich selten, zumal eine eher magere Bodenvegetation unter dem geschlossenen Kronendach nur wenige Kleinsäuger ernähren kann. Das gilt insbesondere für karnivore Großvögel, die sich von großen Wirbeltieren ernähren, wie Uhu (Beutegröße z.B. Mäusebussard, Igel bis Feldhase), Habicht (Beutegröße Ringeltaube, Feldhase bis Auerhenne) oder Steinadler (Beutegröße Feldhase, Jungfuchs bis Rehkitz). Zur Optimierung der Ausnutzung des Beuteangebots zeigen Habicht und Sperber einen ausgeprägten Sexualdimorphismus, mit jeweils kräftigen, eher massigen Weibchen und schlanken, wendigeren Männchen. Damit besetzen diese zwei waldtypischen Greifvogelarten de facto vier unterschiedliche Nahrungsnischen (Brüll 1984). – Da Graureiher, Schwarzstorch, Kormoran, Fischund Seeadler ihre Beute vorwiegend aus Gewässern holen, sind sie der Nahrungskette im Waldökosystem nur soweit zu zurechnen, als Kot und Beutereste die Bodenvegetation im Bereich der Schlaf- und Brutplätze eutrophieren (dadurch ganze Baumbestände zum Absterben bringen können). Bei plötzlicher Lichtstellung des Waldbodens, die eine raschwüchsige Sukzession von Hochstauden, Zwergsträuchern und Baumsämlingen zur Folge hat, kann es jedoch – örtlich – zu sprunghafter Anhebung der Kleinsäugerdichte kommen. Die starke Auflichtung eines Fichtenaltbestands im Inneren Bayer. Wald (infolge einer Borkenkäfer-Massenvermehrung) bewirkte z.B. eine derart hohe Mäusedichte, dass auf nur 70–100 ha Waldfläche gleich drei Sperlingskauzpaare erfolgreich brüten konnten (vgl. Scherzinger 1995, 2006.a). Zur Abpufferung der unvorhersehbaren Schwankungen des Beuteangebots schlagen manche Eulenarten über den aktuellen Bedarf hinaus, und sammeln den Überschuss in Beutedepots. Besonders typisch ist das für den Sperlingskauz, der speziell zum Winterbeginn Vogel- und Mäusebeute in Spechthöhlen und andere Baum-

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höhlen stopft, wo die Beute nicht selten hart gefriert. Zur Brutzeit legt der Kauz die Beute offen auf Bäumen ab (z.B. in Astgabeln, an Stamm-Bruchstellen). Raufußkäuze hingegen tragen alle Beute in die Bruthöhle, wo sich in Optimaljahren dutzende Mäuse stapeln können (Schwerdtfeger 1988). Als Reaktion auf außergewöhnliche Samenmasten der Waldbäume kann es zu Gradationen der herbivoren Kleinsäuger kommen (Echte Mäuse, auch Schläfer), wovon vor allem Mäusebussard und Eulen profitieren. WaldohrFoto 2.7: In enger Abhängigkeit zur Bestandsentwickeulen und Raufußkäuze streifen auf der lung der Kleinsäuger brüten große Greife und Eulen Suche nach solch örtlichem Beuteanmeist nur in „Mäusejahren“ erfolgreich (Habichtskauz gebot oft weit umher. Je nach Mäusein hohlem Ahorn). dichte siedeln sich diese Arten in hoher Dichte an, machen auch Schachtelbruten (zeitliche Überlappung von Erst- und Zweitbrut, auch mit unterschiedlichen Partnern) bzw. Zweitbruten, und gehen mitunter auch ungewöhnliche Paarbindungen ein (Polygynie mit 2–3 Weibchen; Übersicht in Mebs & Scherzinger 2008). R-Strategen unter den Prädatoren passen ihre Gelegegröße bzw. Jungenzahl dem jeweiligen Beuteangebot an. Offenbar sind Waldkauz-Weibchen in der Lage, aus der Häufigkeit von Beuteübergaben durch ihren Partner, bereits im Frühjahr auf das Mäuseangebot im Sommer zu schließen. Speziell aus den Wäldern Fennoskandiens ist bekannt, dass große Eulen, wie der Habichtskauz, überhaupt nur in sogenannten „Mäusejahren“ regelmäßig zur Brut schreiten (z.B. Saurola 2003; Foto 2.7). Die großen Vertreter der Greifvögel und Eulen nutzen auch frisch tote Wirbeltiere. An Aas gehen aber vorwiegend Vogelarten, die keine typischen Vertebratenjäger sind, wie Eichelhäher und Kolkrabe. Von Kadavern zehren jedoch auch Spechte und kleine Singvögel, welche meist auch Federn oder Haare zum Nestbau verwerten. – Zur potentiellen Beute auf dem Waldboden seien letztlich auch Vogelgelege der Bodenbrüter gezählt, die – trotz bestmöglicher Tarnung – speziell von den intelligenten Krähenvögeln entdeckt und verzehrt werden können. Von künstlich angelegten Auerhuhnnestern (mit eingefärbten Hühnereiern) wurden in Hessen 17 % von Vögeln zerstört (Müller 1984). – In einer Studie aus Norwegen wurden rund 45 % (im Einzelfall bis zu 80 %) der Auerund Birkhuhngelege von Eichelhäher, Rabenkrähe oder Kolkrabe geplündert (Storaas & Wegge 1984).

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1.2.3.2 Jäger in Strauch- und Kronenschicht An den äußersten Zweigen von Sträuchern und Baumkronen läuft die pflanzliche Produktion an Phytomasse schwerpunktmäßig ab. Zusammen mit höherer Licht- und Wärmeeinstrahlung sind hier die günstigsten Lebensbedingungen für phyllophage Wirbellose – und deren Prädatoren – geboten. Das gilt im Besonderen für breite, lockere und gut belichtete Baumkronen mit großem Gesamtvolumen (Böhm & Kalko 2009). Sowohl hinsichtlich Artenvielfalt als auch Angebotsdichte an potenzieller Vogelbeute sind hier die besten Voraussetzungen gegeben. Nur folgerichtig finden sich die meisten insektivoren Waldvögel im Gezweig der Strauch- und Kronenschicht, zumindest während der Vegetationsperiode. Dennoch gibt es nur wenige qualitative und quantitative Analysen zu Beutewahl und Nahrungsbedarf dieser Vogelgilden. Der klassische Vogelschutz war zwar bemüht hochzurechnen, wie viele Tonnen an Schadinsekten jährlich durch die „Arbeitsvögel“ im Forst vertilgt werden, doch basierten diese Beutelisten auf dem Nahrungsverbrauch einzelner Meisen- oder Fliegenschnäpperbruten (Henze 1943). Eine umfassende Studie scheiterte bisher wohl an den großen methodischen Schwierigkeiten. Beispielhaft für eine Erfassung der Wirbellosenbeute typischer Singvögel mitteleuropäischer Laubmischwälder sei aus der Studie von Krištin (1992) zitiert, die sich auf eine Analyse der Nestlingsnahrung stützt (Halsring-Methode): Die wichtigsten Gruppen an Wirbellosen sind • Schmetterlingsraupen (hauptsächlich Spanner = Geometridae, Eulen = Noctuidae, Wickler = Tortricidae), • Spinnen (z.B. Krabbenspinnen, Radnetzspinnen) und Weberknechte, • Dipteren (Stuben- und Schwebfliegen, Tanzfliegen = Empididae, Schnaken = Tipulidae), • Käfer (Rüsselkäfer, Schnellkäfer, Kugelkäfer, Weichkäfer), • Ameisen, • Blattläuse, Schildläuse, • Florfliegen, Wanzen, Zikaden, Heuschrecken, • Asseln, Hundert- und Tausendfüßler, • Egelschnecken, Regenwürmer. Die Nahrungsnischen der untersuchten Vogelarten sind zwischenartlich nicht scharf abgegrenzt. Trotz z.T. erheblicher Überlappung der Beutelisten lassen sich aber Gruppen ähnlicher Präferenz erkennen: In obigem Beispiel nutzten z.B. die Meisenarten vorwiegend Schmetterlingsraupen und Spinnen (bei einer mittleren Beutegröße von 13 mm). Ähnliche Beute nahm auch der Kleiber, doch verschmähte er zusätzliche Käfer und Wanzen nicht (mittl. Beutegröße 11 mm). Die Liste des Halsbandschnäppers war um Fliegen und Wildbienen erweitert (mittl. Beutegröße 10 mm). Durch die Aufnahme von Blattläusen (neben Spinnen, Raupen, Fliegen) sank die mittlere Größe der Beuteobjekte

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bei den Laubsängern auf 2–10 mm. In der Skala folgte das Rotkehlchen, das bei einer sehr breiten Beuteliste (Tausendfüßler, Asseln, Spinnen, Raupen, Fliegen, Käfer) Objekte von 8,4 mm mittlerer Länge aufliest. Der kleine Zaunkönig erbeutet ähnliche Tierarten, bevorzugt jedoch etwas kleinere Objekte (mittl. Beutegröße 6,3 mm). Die zarteste Beute holte der Waldbaumläufer aus den Borkenritzen (Spinnen, Zikaden, Fliegen, Blattläuse; mittl. Beutegröße 5,2 mm). Zum Nahrungserwerb verfügen die Singvögel über unterschiedlichste Techniken, um z.B. die Blattunterseite nach Blattläusen abzusuchen, Insektenlarven aus Ritzen und Löchern herauszuziehen, oder fliegende Beute hüpfend und mit den Flügeln rüttelnd einzuholen (vgl. Böhm & Kalko 2009). Luftjäger, zu denen vor allem die Fliegenschnäpper zu rechnen sind, lauern auf erhöhten Jagdwarten, um fliegende Beutetiere in elegantem Flugmanöver einzuholen. Damit gelingt ihnen die teilweise Nutzung des „Luftplanktons“ (= Vielzahl kleiner Wirbelloser, die sich vom Luftstrom mittragen lassen) auch über den Baumkronen, wo der Mauersegler eine nahezu konkurrenzlose Nahrungsnische gefunden hat. Die Brutphänologie der Insekten fressenden Vögel ist mit der Entwicklungsphänologie ihrer Hauptbeute im Regelfall eng synchronisiert. Bei Blaumeisen ist der Schlupftermin ihrer Jungen z.B. zeitlich auf das Massenauftreten entsprechender Raupen abgestimmt. Wird diese Passung gestört, kann das zu erheblichen Jungvogelverlusten führen. In den Beschreibungen einzelner Wald-Avifaunen dominieren die Insektenfresser der Strauchund Baumschicht typischerweise. Im boreal getönten Fichtenurwald am Brocken/Harz ereichte diese Gilde an die 60 % der 25 nachgewiesenen Brutvogelarten (Hellmann et al. 1998). Innerhalb des artenreichen Urwalds von Białowieża (Ostpolen) wiesen Tomialojc & Weselowski (1994) für die Insektenfresser der Strauch- und Kronenschicht z.B. für den Bruchwald Abundanzen von 35,0–43,8 Bp/10 ha nach (entspricht 46,1 % der Gesamtdichte an Brutpaaren); für den Eichen-Linden-Hainbuchenwald Abundanzen von 33,3–41,1 Bp/10 ha (53,4 % aller Brutpaare); selbst für die kalten Nadelwälder des Tieflandes noch Abundanzen von 20,1–23,2 Bp/10 ha (56,7 % der Brutvogeldichte). Im Buchenurwald von Badin (Slowakei) registrierte Kropil (1996.a) 21 Arten an Insektenfressern der Strauch- und Baumschicht (50 % der Gesamt-Artendichte), die bei einer Abundanz von 33,3 Bp/10 ha 47 % der Gesamtdichte entsprachen. (Addiert mit den bodenabsuchenden Insektivoren stellt diese Gilde 77 % aller Vogel-Paare). Für den natürlichen Bergmischwald von Dobroč (Slowakei) nennt derselbe Autor 23 insektivore Arten für diese Straten (37,5 % der Artendichte), die bei einer Abundanz von 28,1Bp/10 ha 45 % aller Brutpaare stellen. In einem der artenreichsten Bergmischwaldgebiete des Inneren Bayer. Waldes beobachtete Scherzinger (1985) 19 Brutvogelarten an Insektivoren der Strauch- und Kronenschicht, mit einer Abundanz von 34,5 Indiv./10 ha (entspricht 49,5 % der Gesamt-Individuendichte; addiert mit den bodenabsuchenden Insektivoren = 62,3 % aller Sommervögel). Die vergleichbaren Werte betrugen für den rauen Hochlagenwald 10 Arten an Insektivoren, bei einem Individuenanteil von 47,3 % (Abundanz 17 Indiv./10 ha).

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Je nach Witterung und Angebot an frischer Blattmasse können phytophage Insekten in kurzer Zeit zur Massenvermehrung kommen. Solche Gradationen werden von den Insektenfressern bestmöglich ausgenutzt. So weist Krištin (1992) darauf hin, dass die Singvögel ihre Nahrungswahl kurzfristig auf die im Überfluss gebotenen Insektenarten ausweiten (z.B. Blattläuse, Raupen von Spannern und Spinnern), sodass die zwischenartliche Abnischung verloren geht. Vergleichbares ließ sich während eines „Maikäferjahres“ im Eichenwald beobachten, wo von Turmfalke bis Waldohreule und Elster alles, was konnte, nur noch Maikäfer fraß (Marchfeld; Scherzinger, unveröff.). Mit Wintereinbruch verringert sich das Insektenangebot in den Wäldern erheblich, und empfindliche Vogelarten ziehen in günstigere Überwinterungsgebiete. Von den Standvögeln weichen einige Insektenfresser teilweise auf vegetabile Nahrung aus (z.B. Meisen, Kleiber, Buntspecht), doch spielen Wirbellose als Vogelnahrung weiterhin eine wichtige Rolle, z.B. für Schwanzmeise und Wintergoldhähnchen. Wo Zaunkönig und Rotkehlchen überwintern, ergänzen sie tierische Beute durch pflanzliche Nahrung in unterschiedlichen Anteilen. – An Ressourcen stehen z.T. noch Ameisen zur Verfügung, wenn auch unter dem Erdboden schlechter erreichbar; außerdem Eier, Puppen und – in geringem Umfang – auch Imaginalstadien von Schmetterlingen; des Weiteren Spinnen und Fliegen, die sich bei Frost in Ritzen und Klüften verkriechen, an sonnigen Wintertagen aber durchaus aktiv sind (vgl. 1.2.3.3); mit Einsetzen der Schneeschmelze bieten sich massenhaft Collembolen („Schneeflöhe“) auf der Schneedecke an. Trotz hoher Schneedecke überwintern im Bergmischwald des Inneren Bayer. Waldes auf 700–800  m Seehöhe noch bis zu 8 (vorwiegend) insektivore Vogelarten, das sind 50  % des Sommerbestands an Insekten-Jägern; in 1030–1290  m nur noch 3 (30  % des Sommerbestands; Scherzinger 1985). Im Laufe eines 12-jährigen Monitorings im durch Sturm und Borkenkäferbefall geprägten Hochlagenwald betrug bei den Insektivoren der Strauch- und Baumschicht die Differenz von Winterbestand (Januar–März) zu Sommerbestand (März–Juni) 9 zu 25 Vogelarten (entspricht 24 % zu 37 % der Gesamtartenzahl), bzw. einer Abundanz von 14,3 Indiv./10 ha zu 35,2 Indiv./10 ha (entspricht 18 % zu 21,9 % der Gesamt-Individuendichte; Scherzinger 2006.a). 1.2.3.3 Stammabsucher Von allen Waldvögeln zeigen die Stammabsucher die komplexesten Anpassungen, um die Stammschicht der Bäume (inklusive der starken Äste im Kronenbereich) nutzen zu können. Aus der heimischen Vogelwelt sind es in erster Linie die Spechte und Baumläufer, die eine besondere Kletterfähigkeit (dank besonderer Zehenstellung und langen Krallen), steife Schwanzfedern mit Stützfunktion und spezialisierte Schnabelformen zur Nahrungssuche an Borke und Stamm, sogar im Holz entwickelt haben. Eine entsprechend raue Oberfläche vorausgesetzt, können auch Meisen die Borke nach Beute absuchen; eine besondere Kletterfähigkeit beherrscht der Kleiber, der an Baumstämmen sogar kopfüber laufen kann. Stammabsuchern steht ein diverses Beuteangebot zur Verfügung, je nachdem ob sie die Baumstämme rein oberflächlich absuchen (Borke oder blankes Holz; z.B. Baumläu-

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Foto 2.8: Mit kräftigen Schlägen öffnet der Schwarzspecht kernfaule Fichtenstämme, um an die Kolonie der Rossameisen heran zu kommen. Diese aufwendige Form der Nahrungssuche ist typischerweise zum Winter-Ende zu beobachten.

Foto 2.9: Beim Entrinden abgestorbener Bäume (scaling) setzt der Schwarzspecht kräftige Schnabelhiebe, die am Stamm deutliche Schnabelmarken hinterlassen (vom Buchdrucker abgetötete Fichte).

fer, Kleiber), die Borke in Teilen oder flächig abzustemmen vermögen (z.B. Kleiber, Dreizehenspecht), das Splintholz aufhacken (z.B. Dreizehen- und Weißrückenspecht) oder gar tief bis zum Kernholz vordringen können (z.B. Schwarzspecht). Spechte beherrschen meist unterschiedliche Techniken, die sie bei der Jagd nach Holz bohrenden Insekten sukzessive einsetzen. Das größte Repertoire setzt der Buntspecht ein, mit Absuchen der Oberfläche (auch Blätter), Stochern in Borkenritzen, Anhacken und Abschuppen von Borkenstücken, Entrinden ganzer Stammteile, Öffnen von Bohrgängen und Herausangeln von Insektenlarven mit der Harpunenzunge. Mit erstaunlich kräftigen Schnabelhieben kann der Schwarzspecht nicht nur Bockkäferlarven in tiefem Stammholz freilegen, er schlägt auch große Öffnungen bis ins Kernholz, um die Kolonien der großen Rossameisen zu plündern (Übersicht in Scherzinger 2002; Foto 2.8). Das Angebot an Wirbellosen-Beute an der Stammoberfläche steht in strikter Abhängigkeit zu Qualität und Struktur der Borke. Je grobrissiger und vielgestaltiger die Borke, desto größer ist ihre Gesamt-Oberfläche und desto mehr Versteckmöglichkeiten bietet sie für Collembolen, Milben, Spinnen, Weberknechte oder Gelege von Schmetterlingen (vgl. Grübler & Pasinelli 1999). Die „Borkenrauigkeit“ bestimmt sowohl das Nahrungspotential der Stammabsucher als auch die Erreichbarkeit desselben, da sie das Klettern erleichtert. 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Die Borkenstruktur der Bäume ist einerseits arttypisch, wobei Espe, Silberpappel, Birke, Bergahorn, Hainbuche, Rotbuche, Vogelbeere und Kirsche bzw. Tanne und Eibe meist glattrindig sind, hingegen Silberweide, Schwarz-Pappel, Eiche, Erle, Linde, Esche und Ulme eine meist grobrissige, gefurchte oder sonst wie griffige Borke ausbilden (Foto 2.9). Andererseits ändert sich die Borkenstruktur mit dem Alter der Bäume. Uraltbestände beherbergen deshalb eine wesentlich reichere Diversität und Dichte an Borkensiedlern. Die Bedeutung der Borkenrauigkeit als Altersmerkmal wurde mehrfach am Beispiel der Habitatansprüche des Mittelspechts demonstriert: Diese zierliche Spechtart ernährt sich vorwiegend durch Absuchen der Stammoberfläche von Laubbäumen. Dabei erwies sie eine enge Bindung an Eichen, die von einer reichen Xylobionten-Fauna (Sammelbegriff für auf und in Holz lebende Tierarten) besiedelt wird. Mit dem europaweiten Rückgang der Eichenbestände ergab sich eine europaweite Gefährdung dieser Spechtart, da sie stenök an die Eiche gekoppelt schien. Doch seit der Einrichtung nutzungsfreier Waldreservate, in denen Bäume ihr physiologisches Höchstalter erreichen können, änderte sich die Situation für den Mittelspecht, er konnte seine Habitatansprüche ausweiten, da er nun auch alte Erlen- und Buchenbestände besiedelte. Die konventionelle Waldwirtschaft erntet Buchen z.B. im Alter von 80–120 Jahren. Bis in dieses Alter weisen Buchenstämme eine glatte Rinde mit sehr harter Oberfläche auf. Doch bei Uraltbäumen – an der Grenze ihrer natürlichen Lebenserwartung – platzt die Buchenrinde, sie bildet schwarze Klüfte und Wülste und bildet eine raue, griffige Oberfläche. Damit bietet sie durchaus ähnliche Qualitäten für Xylobionte bzw. zur Nahrungssuche des Mittelspechts. – Tatsächlich erwies sich das hohe und leicht erreichbare Beuteangebot auf grobborkigen Bäumen als Schlüsselkriterium; die Baumart selbst spielt eine untergeordnete Rolle (Hertel 2002). Die Lebensader der Bäume liegt unter der Borke, in der Basthaut (Phloem). Eine große Zahl an Insekten versucht, den Saftstrom in dieser Wachstumszone zu nutzen. Die Vielzahl sogenannter Borkenkäfer legt ihre Eier unter die Borke, sodass die daraus schlüpfenden Larven sich durch das Phloem („Rinde“) fressen können. In Abhängigkeit von Witterungsverlauf und dem Angebot geeigneter Bäume (z.B. infolge von Trockenstress oder Überalterung geschwächte Nadelbäume; frisch vom Sturm gebrochene Fichten) können die Bestände rindenbrütiger Käferarten innerhalb weniger Wochen millionenfach anwachsen. Damit sind gebrochene, geworfene oder sonst wie geschädigte Bäume, in denen Käferlarven in hoher Dichte heranwachsen, auch für Spechte besonders attraktiv, vorausgesetzt, sie können die Beute unter der Borke mit Hilfe ihrer Schnäbel freilegen. Im Fall des Buchdruckers Ips typographus könnten bis zu 28 Käfer pro m2 Fichtenborke bzw. mehrere tausend Jungkäfer aus einem Fichtenstamm erbeutet werden (Merkblatt Bayer. Staatsforstverwaltung/München 1993). Von den kräftigen Hackspechtarten schlägt der Dreizehenspecht zunächst einzelne Schuppen der Fichtenborke ab, stemmt dann sukzessive mehrere Zentimeter lange Borkenstücke bis auf das blanke Holz ab. Der Schwarzspecht leistet „Schwerarbeit“, indem er befallene Fichtenstämme – nahezu systematisch – entrindet (Foto 2.10). Dabei häufen sich bis zu handtellergroße Borkenplatten am Stammfuß. Von dieser Vorleistung profitieren nicht nur andere Spechtarten (z.B. Bunt- Dreizehenspecht), da sie ohne eigenen

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Kraftaufwand die freigelegten Fraßgänge nach Larven absuchen können. Auch suchen Meisen, Finken und Eichelhäher am Waldboden die abgeschlagenen Borkenplatten nach Insekten und Spinnen ab, da ein erheblicher Teil der Käferlarven an der Borke bleibt (Scherzinger 2006.a). In Gradationsjahren werden Borkenkäfer zur Hauptnahrung der Spechte, doch lässt sich eine arttypische Bevorzugung bestimmter Straten erkennen: Von den feinen Ästen der Baumkrone schuppt der Kleinspecht die Rinde ab, bis zur äußersten Zweigspitze. Bei Dreizehenspechten lässt sich eine räumliche Aufteilung nach Geschlechtern beobachten, wobei das Weibchen vor allem den oberen Foto 2.10: Da die Siedlungsdichte an Insekten, Wipfelraum absucht, dabei auch kopfüber Spinnen und anderen Wirbellosen an grobauf der Unterseite der Seitenäste klettert. Das rissiger und zerklüfteter Borke besonders hoch Männchen hackt vorwiegend im mittleren ist, gilt die „Borkenrauigkeit“ als wichtiges und unteren Stammbereich, klettert mitunHabitat-Kriterium für Stammabsucher (Linter bis zum Wurzelanlauf, selbst wenn dieser denstamm). unter die Schneedecke reicht. Schwarzspechte konzentrieren sich auf die Stammteile unterhalb der Krone und Bruchstämme auf dem Waldboden. Der Buntspecht zeigt keine Präferenz für bestimmte Baumregionen; er nutzt das Insektenangebot vom Wipfel bis zur Basis sowie das verstreute Lagerholz. – Infolge räumlicher Überlappung der Nahrungssuche einzelner Spechtarten werden Stammhöhen zwischen 3–15 m besonders intensiv abgesucht (vgl. Pechaček 1995). Für den Dreizehenspecht, der als Borkenkäferspezialist gilt, haben Bütler & Schläpfer (2002) einen jährlichen Nahrungsbedarf von 670 000 Borkenkäfern errechnet. Allein für die Aufzucht eines Jungvogels werden (bis zum Zeitpunkt der Familienauflösung) 270 000 Borkenkäfer (Larven oder Imagines) benötigt. Umgerechnet auf die vom Buchdrucker befallene Borkenfläche leiteten sie daraus einen Mindestbedarf von 14–19 befallenen Fichten/ha ab. (Da die Basthaut der Fichten erst ab einem gewissen Alter für den Buchdruckerfraß geeignet ist, wurde ein Mindest-Durchmesser von 21 cm BHD als weiterer Parameter in die Modellrechnung eingesetzt). Massiver Buchdruckerbefall bringt auch vordem vitale Fichten zum Absterben. Sobald ihr Kambium austrocknet, ist es für rindenbrütige Käferarten nicht mehr nutzbar. Die entrindeten und abgewitterten Dürrstämme haben dann auch für Spechte – vorerst – jede Attraktivität verloren. Jedoch setzt am Totholz eine neue Besiedlungs-Sukzession an, meist synchron mit fortschreitendem Pilzbefall. Zunächst nutzen Fliegenlarven die vom Borkenkäferkot noch gefüllten Fraßgänge, Kurzflügelkäfer verzehren die verrottenden Reste der Basthaut, unter haften gebliebenen Borkenplatten siedeln sich Tausendfüßler 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Foto 2.11: Wenn sich auch ein klarer Bezug zwischen Totholzmenge und Spechtdichte erkennen lässt, so bieten außergewöhnliche Totholzmengen doch bloß suboptimale Bedingungen, wenn andere Habitatkriterien fehlen (z.B. Deckung; abgewitterte Bergfichten nach Borkenkäferbefall; Innerer Bayer. Wald).

und Asseln, Spinnen oder Zangenbockkäfer an. Im feuchten Mulm, der sich hinter abgeplatzter Borke ansammelt, leben Fadenwürmer, Springschwänze, Nacktschnecken und Schnellkäfer. Im Totholz selbst entwickeln sich die Larven der Schlupf- und Holzwespen sowie der Bockkäfer, z.T. tief im Splint (Übersicht in Scherzinger 1996). – Diese Sekundärsiedler zählen großteils zur Beuteliste der Spechte, wobei der Arbeitsaufwand des Beuteerwerbs mit zunehmender Holztiefe erheblich ansteigt. Tiefe trichterförmige Einschläge im Nadelholz sind sowohl für Dreizehen- als auch Schwarzspecht typisch, können im Laubholz auch vom Weißrückenspecht stammen. Gleich mehrere, bis zu 25 cm tiefe Einschläge leistet der Schwarzspecht, um die Kolonien der Rossameisen (Gattung Camponotus) im Inneren kernfauler Bäume zu öffnen. (Bei entsprechender Ausformung werden solche Höhlungen von Singvögeln oder Kleineulen zur Brut genutzt). – Äste und Bruchstämme auf dem Waldboden sind anderen mikroklimatischen Bedingungen ausgesetzt als das stehende Dürrholz. Durch Schattwirkung und aufsteigende Bodenfeuchte werden Verpilzung und Verrottung beschleunigt. Im Moderholz entwickeln sich z.B. die großen Bockkäfer- und Hirschkäferlarven. Die Hackspechtarten zerspleißen selbst schwach dimensioniertes Lagerholz auf der Suche nach dieser Beute. Da das Beuteangebot für Stammabsucher eng an Borkenstruktur, Baumarten bzw. Altersklassen und die Brutsubstrate xylobionter Tiere gebunden ist, erreichen vor allem Baumläufer und Spechte ihre höchste Diversität und Abundanz in sehr alten und naturnahen Waldbeständen, die durch hohen Anteil stark dimensionierter sowie überal-

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terter, kränklicher, gebrochener, verpilzter oder sonst wie beschädigter Bäume gekennzeichnet sind, wobei dem Totholz ein besonderer Stellenwert zukommt (vgl. Kap. 2.4). In besonderem Maße gilt dies für Weißrücken- und Mittelspecht, deren Vorkommen in direkter Abhängigkeit zu starken, alten und geschädigten Laubbäumen steht. Dabei gelten Stamm­absucher nicht nur als wichtige Indikatoren für naturnahe Waldstrukturen, vielmehr wirken sie selbst durch die Aufbereitung von Totholz und den arttypischen Höhlenbau als Schirmarten in der Waldlebensgemeinschaft. Im Beispiel der artenreichen Bestände im Urwald von Białowieża machten insektivore Stammabsucher im nassen Bruchwald 7 % der Gesamtdichte aus (Abundanz 6,38 Bp/10 ha), im Eichen-Linden-Hainbuchenbestand 6,9 % (Abundanz 4,7 Bp/10 ha) und folgten mit 4,9 % einer deutlichen Reduktion im Nadelwald (Abundanz 1,93 Bp/10 ha; Tomialojc & Weselowski 1994). Im montanen Buchenurwald der slowakischen Karpaten beobachtete Kropil 7 Arten an stammabsuchenden Vögeln, mit einer Abundanz von 5,7 Bp/10 ha (entspricht 8 % der Gesamtdichte). Im höher gelegenen Bergmischwald waren es 9 Arten mit einer Abundanz von 7,5 Bp/10  ha (entspricht 12  % der Gesamtdichte; Kropil 1996.a,b). Diese Angaben sind vergleichbar mit Erhebungen aus dem Inneren Bayer. Wald, wo im urwaldartigen Bergmischwald tieferer Lagen 7 Arten an Stammabsuchern ganzjährig festgestellt wurden (entspricht 30,4 % der winterlichen bzw. 16,3  % der sommerlichen Artenvielfalt). Die Abundanz wechselte von 10,6 Indiv./10 ha im Winter- zu 8,9 Indiv./10 ha im Sommerbestand (entspricht 23,7 % der winterlichen und 17,4 der sommerlichen Gesamtdichte). Im deutlich raueren Umfeld an der Hochlagengrenze spielten Stammabsucher mit 5–6 Arten eine relativ bedeutende Rolle (entspricht 50 % der winterlichen und 16,7 % der sommerlichen Artenvielfalt), bei Abundanzen von 4,0 Indiv./10 ha im Winter (25,4 % der Gesamtdichte) und 3,5 Indiv./10 ha im Sommer (entspricht 9,6 % der Gesamtdichte; Scherzinger 1985). Die Reaktion der Spechte auf die Schädigung eines alten, von Fichten dominierten Gebirgswaldes durch Sturm und Borkenkäferbefall konnte Scherzinger (2006.a) im Inneren Bayer. Wald über 12 Jahre mitverfolgen: Ausgehend von 1 Paar Dreizehenspechte und 1 einzelnen Buntspecht auf rund 75 ha Kontrollgebiet vor der Kalamität (1975) schnellte – mit Aufkommen erster „Käfernester“ 1989–1990 – die Artenzahl auf 5, mit bis zu 12 Dreizehen-, 7 Schwarz-, 6 Bunt- und je 1 Klein- und Grauspecht-Individuen (Gesamtbestand 23–26 Individuen/Jahr). Die auffälligste Arbeit verrichtete der Schwarzspecht, der die absterbenden Fichten zu hunderten entrindete. Da der Borkenkäferbefall an den Sturmwurfkanten massiert auftrat, bildeten sich dort regelrechte Specht-Konzentrationen, obwohl die ungewöhnlich hohe Dichte laufend zu zwischen- und innerartlichen Auseinandersetzungen führte. – Mit Abdorren der Bäume ebbte die Attraktivität der gestörten Bestände aber rasch ab; bereits 1994 ging die Artenzahl auf 4, die Individuenzahl auf insgesamt 8 Spechte zurück (Foto 2.11, 2.36). Abgesehen vom Buntspecht, der noch das verbliebene Zapfenangebot nutzen konnte, fiel die Spechtbesiedlung wieder auf die niedrige Ausgangsdichte zurück, nachdem der Bestand an Altfichten zur Gänze abgestorben war, und die Dürrstämme allmählich in sich zusammenbrachen.

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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2 Was macht den Wald zum Lebensraum für Vögel? Aus der großen Fülle autökologischer und/oder synökologischer Bestandserfassungen von Vögeln in unseren Wäldern gibt es seit Langem die Erkenntnis, dass die erheblichen Unterschiede hinsichtlich Artenreichtum, Siedlungsdichte und dem Anteil besonders anspruchsvoller Vogelarten auf eine Reihe entscheidender Kriterien zurückgeführt werden, die aus dem Vergleich des Lebensraumpotentials von natürlichem Uraltwald und anthropogenem Forst besonders augenfällig werden. Für mitteleuropäische Wälder sind die qualitativen Kriterien heute weitgehend bekannt; dazu gibt es neuerdings Versuche, für diese Qualitätsmerkmale auch quantitative Schwellenwerte zu ermitteln. In der folgenden Darstellung werden die Merkmale der Lebensraumqualität in unterschiedlichen räumlichen Kontext gestellt. lokale Bestandsebene • • • • • • • •

Baumarten Baumalter und Wuchsformen Vertikale Bestandsstruktur Horizontale Bestandsstruktur Totholz Sonderstrukturen Waldentwicklungsphasen Waldränder und Ökotone

Landschaftsebene • • • • • • •

Geschichte der Waldlebensräume Faunengebiet und Klimazone Geologischer Untergrund und Böden Waldgesellschaften Kontinuität und Konstanz Störungsmuster Größe der Waldflächen

2.1 Baumarten

Über Wuchshöhe, Kronenform, Schattenwurf, Streumaterial, Samenproduktion und Nutzbarkeit ihrer Phytomasse steuern die einzelnen Baumarten das Artengefüge im Wald maßgeblich. Die als Weichlaubhölzer zusammengefassten Pionierbaumarten sind i.R. lichtliebend, schnellwüchsig und bieten herbivoren Vögeln Knospen, Blütenkätzchen (z.B. Weide, Espe, Erle, Birke, Hasel für Haselhuhn), feine Samen (z.B. für Erlen- und Birkenzeisig) oder Früchte (z.B. Vogelbeere für Waldhühner, Wacholderdrossel, Gimpel, Seidenschwanz). Wegen der Produktion nahrhafter und großer Nüsse spielt der Haselstrauch eine Sonderrolle (Nussernte z.B. durch Tannenhäher, Buntspecht). Junge Triebe und Stämmchen von Weiden, Pappeln und Vogelbeeren sind besonders saftreich (z.B. durch „Ringeln“ von Buntspechten genutzt) und bieten eine leicht verdauliche Rinde (z.B. von Waldhühnern genutzt). Das meist grobporige Weichholz eignet sich zum Höhlenbau (frisch = Spechte, angemorscht = Meisen) und wird von einer Vielzahl xylobionter Insekten präferiert (damit attraktiv für insektivore Stammabsucher). – Pionierbäume samen sich im Laufe junger Sukzession auf Störungsflächen an, weshalb die Auflichtung geschlossener Waldbestände durch Sturmwurf, Waldbrand, Erdrutsch, Lawinenabgang oder Erosion infolge Hochwasser Voraussetzung für die Entfaltung solcher Habitate ist (vgl. 3.3; Foto 2.12, Bildteil). Aufgrund

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der relativen Kurzlebigkeit dieser Pionierwälder und des wachsenden Konkurrenzdrucks durch nachfolgende Waldbäume werden die Lichtbaumarten meist schon nach wenigen Jahren wieder verdrängt. Von den Baumarten mit Pioniercharakter können lediglich Lärche, Fichte und Waldkiefer (Rotföhre) auch langlebige Waldbestände begründen. Am Aufbau langlebiger Waldgesellschaften (sogenannter „Klimaxwald“) können sehr unterschiedliche Baumarten beteiligt sein. Hinsichtlich Artenzusammensetzung und Dominanzstruktur entscheiden sie somit ganz wesentlich über die Biotopqualität für Waldvögel. 2.1.1 Nadelbäume Die Nadelbäume bzw. Koniferen bieten den Vögeln mit ihrem meist dichten und immergrünen Wipfel ein Höchstmaß an Deckung und Wetterschutz (Habitatkriterium z.B. für Wintergoldhähnchen, Haubenmeise, Tannenhäher, Haselhuhn; ausgenommen die winterkahle Lärche). Ihre Nadeln und Zweige dienen dem Auerhuhn als Winternahrung (Präferenzreihung Kiefer vor Tanne, diese vor Fichte), die Knospen der Lärche werden von Auer- und Birkhuhn abgeäst. Die Raupen zahlreicher Kleinschmetterlinge sowie die Larven der Blattwespen fressen an Koniferennadeln. Die meisten von ihnen neigen zur Massenvermehrung, und bieten in Gradationsjahren eine überreiche Singvogelnahrung. Die Samen aus den Zapfen sind wichtiger Bestandteil der Winternahrung von Erlenzeisig, auch Birkenzeisig (Lärche, Fichte), Fichten- und Kiefernkreuzschnabel, auch Buntspecht (Fichte, Tanne, Latsche, Kiefer) sowie vom Tannenhäher (Waldkiefer, Zirbe, auch Latsche, Tanne?) und werden auch von Meisen und Waldhühnern aufgelesen. Alle Nadelbaumarten liefern harzende Säfte, die vor allem vom Dreizehenspecht durch „Ringeln“ gewonnen werden können. Fichten beschatten den Waldboden mit ihrem dichten Gezweig ganzjährig, verdämmen dadurch bei Dichtstand der Bäume die Bodenvegetation. Ihre schwer verrottbare Nadelstreu führt zur Versauerung des Humus, wodurch Moose, Farne, Vaccinien oder Rhododendren begünstigt werden. Die Fichte selbst benötigt relativ viel Licht, weshalb sie vorwiegend im Lichtschacht von Baumsturzlücken und auf Lichtungen hochwächst, im Schatten unter dem Kronendach hingegen kümmert. Sie trägt ab dem Alter von etwa 30 Jahren (im Extrem nur 12–15 Jahre) erste Zapfen und erreicht in mitteleuropäischen Wäldern ein Alter von 250 bis 400 Jahren (Extremwerte 500? Jahre). Mastjahre, in denen außergewöhnliche Mengen an Blüten, Zapfen bzw. Samen produziert werden, können Invasionen von Zeisigen und Fichtenkreuzschnäbeln auslösen (Abb. 2.7). Im lückig-durchsonnten Fichtenaltholz finden sich zahlreiche Koloniehügel der Waldameisen, ein bedeutendes Nahrungspotenzial für Singvögel, Auerhuhn, Wendehals und andere Spechtarten. Fichtenäste sind sehr flexibel; bei hoher Schneebelastung biegen sie sich nach unten, so das sich die Krone „Regenschirm-artig“ schließt, und Singvögel, Kleineulen oder Raufußhühner in Stammnähe Schutz finden können. Uraltfichten weisen grobe Borkenschuppen, häufig auch abgewitterte Bruchstellen und mehrere Sekundärkronen auf; in nebelfeuchten Gebirgslagen sind sie mit Flechten dicht behangen. Grobastige oder 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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gebrochene Fichtenwipfel werden z.B. von Graureihern, selten auch von Steinadlern zum Horstbau genutzt. Fäulnishöhlungen können sich an großen Bruchstellen (Wipfel, Hauptäste) und infolge von Stammverletzungen (z.B. Blitzschlag) bilden. Altfichten sind häufig kernfaul; darin lebende Rossameisen stellen eine wichtige Beutereserve für den Schwarzspecht im Spätwinter (vgl. Scherzinger 1982). Bunt- und Dreizehenspecht stemmen ihre Höhlen ins Fichtenholz, seltener auch der Schwarzspecht. Wegen des starken Harzflusses frischgrüner Fichten werden kränkliche (z.B. kernfaule) oder abgestorbene Bäume zum Höhlenbau bevorzugt (Foto 2.13, Bildteil). Gesunde Fichten können Pilz- und Insektenbefall i.R. durch den zähen Harzfluss abwehren. Durch Hitze oder Trockenheit gestresst, oder durch Sturm, Schneebruch, Lawinendruck oder Feuer geschädigt, werden Fichten von diversen „Schädlingen“ überwältigt; allen voran können Borkenkäfer (vor allem Kupferstecher und Buchdrucker) ganze Fichtenwälder zum Absterben bringen – landschaftsweit. Solche Gradationen werden von den Stammabsuchern intensiv genutzt, allen voran den Spechten. Als Flachwurzler gilt die Fichte als besonders sturmgefährdet. Die aufragenden Wurzelteller umgerissener Altfichten stellen eine wichtige Struktur für Vogelarten bodennaher Schichten (z.B. Zaunkönig, Rotkehlchen). Im Tot- und Moderholz von Fichten entwickelt sich eine diverse Lebensgemeinschaft xylobionter Insekten, die vor allem von den kräftigen Hackspechten (Dreizehen- und Schwarzspecht) ausgebeutet werden kann. Die Tanne unterscheidet sich in ihrem ökologischen Potenzial deutlich von der Fichte, da sie einerseits auch im Schatten großer Baumkronen aufwachsen kann, den Waldboden tief durchwurzelt und mit 300 bis 400 Jahren (extrem 600? Jahren) Lebenserwartung deutlich älter als Fichten und gut doppelt so alt wie Buchen werden kann. Auch treiben plötzlich freigestellte oder gebrochene Tannen Adventiväste aus dem Stamm, sodass sie in hohem Alter skurrile Wuchsformen mit kandelaberartiger Kronenverzweigung bilden können. Uralttannen erreichen massige Brusthöhendurchmesser (z.B. BHD 175–235 cm, Hockenjos 2008) und Wuchshöhen von 50–60 m (z.B. Rothwald/NÖ), sodass ihre Wipfel das umgebende Kronendach überragen. Aufgrund ihrer starken Horizontaläste und der meist breit abgeflachten Krone eignen sich Alttannen besonders zur Anlage großer Reisighorste (z.B. Mäusebussard, Habicht, Schrei- und Steinadler). Jungtannen werden von Spechten geringelt, solange sie eine silbriggraue, meist glatte Borke aufweisen. Bei sehr alten Bäumen wird diese grob geschuppt. Da diese Baumart an Wunden weniger stark harzt, eignete sie sich für den Höhlenbau (z.B. Dreizehen- und Schwarzspecht), doch ist ihr Holz härter als das der Fichte und seltener durch Pilzbefall geschädigt. Borkenkäfer und andere „Schadinsekten“ können einzelne Tannen schädigen oder abtöten, doch bewirken sie kaum großflächige Kalamitäten. Aufgrund ihrer weit überragenden Wipfel und tiefreichenden Wurzeln sind Alttannen erhöhtem Blitzschlag ausgesetzt. Manche Bäume überleben diese Gewalt mit zersplitterter Krone. Die im Vergleich zur Fichte wenig flexiblen Tannenäste brechen bei Sturm- und Schneebelastung. Aufgrund des tief verankerten Wurzelsystems ist Windwurf selten, eher brechen – selbst massive – Tannenstämme bei großer Sturmstärke. Solche Stümpfe eignen sich besonders zum Bau von Spechthöhlen, zumal sie bald weißfaul werden.

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Foto 2.14: In kernfaulen Riesentannen können sich sehr große Höhlen bilden, die den Stamm röhrenförmig durchziehen (Sofien-Urwald, Böhmerwald).

Aufgrund ihrer Langlebigkeit, ihrer meist dominanten Wuchsform und -größe wirken Alttannen als markante Strukturelemente im Mischwald. Entsprechend werden sie von vielen Vögeln als Sing- und Jagdwarte angeflogen, von Spechten auch als Trommelbaum und von Großvögeln als Horstbaum genutzt. Im Stamm kernfauler Uralt-Tannen können sich Großhöhlen ausbilden, die selbst einem Braunbären spielend Raum gäben (Foto 2.14). Waldkiefern (Rotföhren) sind in allen Altersklassen lichtbedürftig und werfen mit ihrem relativ schütteren Nadelkleid auch selbst nur wenig Schatten. Da Kiefern vorwiegend auf Marginalstandorten wachsen (Dünensand, Schutt- und Felshänge, Moorränder), sind Kiefernbestände meist recht schütter und gut durchsonnt. Die schwer zersetzbare Nadelstreu benachteiligt eine krautige Bodenvegetation, begünstigt aber Vaccinien (Heidelbeere und Rauschbeere auf eher feuchten, Heidekraut und Preiselbeere auf eher trockenen Böden). Auf Extremstandorten gedeihen nur noch trockenresistente Flechten. Lückige und durchsonnte Altkiefernwälder gelten als Primärbiotop des Auerhuhns, dessen Nahrungsansprüche zur Gänze auf diese Bodenvegetation abgestimmt sind, wobei die groben und langen Kiefernnadeln die bedeutendste Nahrungsbasis für Auerhühner im Winter stellen. Aufgrund ihrer relativ geringen Belastung durch Tannine und Terpene sind sie gut verdaulich und werden gegenüber Tannen- oder Fichtennadeln deutlich präferiert. Die Nadeln werden auch von zahlreichen Insekten, speziell Schmetterlingsraupen verzehrt (Klimetzek 1992). Bei klimatisch besonders günstigen Standorten sind Kiefern regelmäßig Insekten-Gradationen ausgesetzt, die erhebliche Waldflächen durch Kahlfraß schädigen oder auch zum Absterben bringen (z.B. Nonne, Kieferneule). Dieses Beuteangebot wird vor allem von Meisen und Spechten intensiv genutzt. Kiefern produzieren in zweijährigem Rhythmus Zapfen bzw. Samen, doch treten in unregelmäßigen Zeitintervallen auch Mastjahre ein. Buntspecht, Kiefernkreuzschnabel nutzen Kiefernsamen als Winternahrung, auch Meisen und Waldhühner (Tannenhäher) können davon profitieren. Die recht schlanken Jungkiefern bilden eine glatte Borke aus, deren Oberfläche sich in feinen Schichten ablöst. Erst Altbäume entwickeln eine grobrissige Borke mit mehrere Zentimeter dicken Wülsten und Stegen. Diese dicke Schicht dient als Hitzeschutz bei Waldbränden, da Kiefernbestände sowohl aufgrund ihres meist trockenen Wuchsortes 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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als auch ihrer leicht brennbaren Nadeln (ätherische Öle, Harze) besonders feuergefährdet sind. Das trifft speziell für dicht stehende Baumhölzer mit hohem Anteil an Dürrästen zu, für sandige Standorte, wo sich trockene Nadelstreu über Jahrzehnte unzersetzt anhäufen konnte, und für Bestände mit reichlich dürrem Lagerholz („Brennstoff“; Foto 2.15) am Waldboden. Kiefern erreichen ein Höchstalter von 300–400 Jahren (besonders langsamwüchsige Bäume an Extremstandorten auch 500–600 Jahre; vgl. Rohmeder 1972). Uraltbäume zeichnen sich durch breite, vielgestaltige Kronen aus. Die sehr starken Hauptäste sind oft horizontal ausladend, und somit als Auflage für große Horste sehr geeignet (z.B. Seeadler). Vom Fischadler werden herausragende Altkiefern mit flacher oder abgebrochener Krone für den Horstbau bevorzugt (Schmidt & Müller Foto 2.15: Bleiben nach Waldbränden angekohle 2008). Innerhalb geschlossener BestänBaumskelette in großen Mengen zurück, so bilden de wächst die Kiefer mit geraden, bis in diese den „Brennstoff“ für künftige Brände in der nachwachsenden Baumgeneration (Drehkiefern; große Höhe astfreien Stämmen, was der Nationalpark Yellowstone). Schwarzspecht zum Höhlenbau schätzt, zumal die eher glatte Borke das Hochklettern von Prädatoren erschwert. Trotz des starken Harzflusses präferiert der Schwarzspecht (neben Buche und Eiche) regional die Waldkiefer. In der Kombination von Nadelholz und gutem Höhlenangebot dürfte der Raufußkauz – als Folgenutzer – seinen primären Lebensraum im Kiefernwald haben. Zirbe, Eibe und die sommergrüne Lärche sind selten bestandsbildend, meist im Unterstand oder auf Extremstandorte beschränkt (z.B. Eibe), bzw. als Mischbaumarten eingesprengt, weshalb hier anstelle von Einzeldarstellungen auf die Lebensraumbeschreibung in den Waldgesellschaften verwiesen wird (Kap. 3.2.7). 2.1.2 Laubbäume In den Wäldern der gemäßigten Zone werfen die Laubbaumarten im Herbst ihr Laub ab. Damit ist ein gravierender jahreszeitlicher Wechsel der Lebensraumqualität von sommergrünen zu winterkahlen Beständen verbunden. Die Bildung von Knospen und der Austrieb von Blüten, massenhaft Blättern und jungen Trieben stellt innerhalb einer kurzen Frühlingsperiode ein überdurchschnittliches Nahrungsangebot für Herbivore (z.B.

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Gimpel, Haselhuhn) unter den Vögeln und den Insekten – als Vogelbeute. Die leicht verdauliche Phytomasse, reich an Zuckern, Fetten und Proteinen, begünstigt die Eiproduktion der herbivoren Vögel und synchronisiert auch die Entwicklung phyllophager Insekten mit dem Beutebedarf der insektivoren Vögel. Da sich mit schlagartigem Laubaustrieb das Kronendach rasch schließt, wird der Waldboden zunehmend abgeschattet. Besonders Rotbuchen wirken mit ihrem dichten und hoch reichenden Laubdach als Schattenbäume. Geophyten und andere Frühlingsblüher, die eben noch die Bodenvegetation dominiert hatten, ziehen ihre Blattmasse großteils ein. Bei starker Beschattung fehlen Strauchschicht und selbst Baumsämlinge; im Unterwuchs kommen am ehesten noch die immergrünen Eiben und Stechpalmen zurecht. Unter Baumarten mit lichteren Kronen (z.B. Eichen) und in Baumsturzlücken hingegen kann sich eine sehr artenreiche Vegetation in der Kraut- und Strauchschicht ausbilden, ein wichtiges Nahrungs- und Strukturangebot für Kleinvögel (z.B. Rotkehlchen, Laubsänger). Den ganzen Sommer über ernährt das Blätterkleid unterschiedliche Insektenpopulationen in hoher Abundanz, von denen einige Arten auch zur Massenentwicklung neigen, die dann entsprechend intensiv von den Singvögeln genutzt werden (z.B. Buchenblattlaus, Kleinschmetterlinge; vgl. Krištin 1992). Alle Laubbäume produzieren Samen, Nüsschen oder Früchte, die als Vogelnahrung Verwendung finden. Besondere Bedeutung haben davon Buche und Eiche, die in „Mastjahren“ die Reproduktion und Siedlungsdichte der Samen fressenden Vogelarten ganz massiv beeinflussen (vgl. Kap. 1.2.2.1.3). Laubbäume bilden i.R. hartes Holz, weshalb es von Spechten nur in (leicht) geschädigtem oder abgestorbenem Zustand zum Höhlenbau genutzt werden kann. Der Großteil der Laubbaumarten bildet eine raurissige Borke aus, zumindest in hohen Altersklassen. Da solch strukturreiche Oberflächen an milden, gut durchsonnten Standorten von einer Vielzahl wirbelloser Organismen besiedelt werden, finden hier Stammabsucher reiche Beute. Der herbstliche Laubfall deckt den Waldboden mit oft hoher Laubstreu ab. Darin entwickeln sich unterschiedliche Nahrungstiere für die Vogelwelt, zumal die Mulchschichte den Boden vor Austrocknung schützt. Amseln z.B. wenden bei der Nahrungssuche die Blätter systematisch, Eichelhäher und Bergfinken wühlen verdeckte Samen heraus. Im winterkahlen Laubwald fehlen Deckung und Wetterschutz, das Nahrungsangebot ist im Wesentlichen auf Boden- und Stammschichte reduziert. – Laubbäume entwickeln meist ein tiefes und weit verzweigtes Wurzelsystem, weshalb sie relativ widerstandsfähig gegenüber Stürmen sind; obwohl bei großer Wuchshöhe durch Blitzschlag gefährdet, fangen sie kaum Feuer, und Waldbrände sind die Ausnahme, speziell in der Vegetationsperiode. Die Eichenarten unserer Wälder sind durchwegs auf klimatisch günstige Standorte beschränkt, und zeichnen sich durch späten Laubaustrieb, relativ lichtes Kronendach, raurissige Borke und sehr hohe Lebensspanne aus. Aufgrund der hohen Attraktivität dieser Laubbäume sowohl für Insekten (die sich an ihrer Borke ansiedeln und/oder das Laub verzehren), als auch für Mäuseartige, Schläfer und Vögel, die Eicheln sammeln und die Sonderstrukturen alter Bäume nutzen (z.B. Bruchstellen, Höhlungen, Totäste), können Anteile, Einmischung und Altersklassen der Eichen in einem Waldbestand maßgeblich 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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für die Artenausstattung in der Vogelwelt sein. Im Laufe eines 600- bis 1 000-jährigen Lebens (extrem 1 500 Jahre) bilden Eichen sehr individuelle Wuchsformen aus, mit massigen Hauptästen in meist breiten Kronen, sodass sie das Laubdach kalottenförmig überwölben. Lockere und starkastige Eichenkronen werden von Großvögeln zum Horstbau bevorzugt (z.B. Schrei-, Kaiser-, Seeadler). Besonders hervorzuheben ist der mitunter hohe Anteil an toten oder ausgebrochenen Kronenteilen sowie die Bildung von Fäulnishöhlen, die von kleinen Astlöchern bis zum durchgehend hohlen Baumstamm reichen können (Foto 2.16). Bemerkenswert ist auch die Zählebigkeit mancher Eichen, die trotz Pilzbefall, überwiegend toten oder gar morschen Stammteilen noch grüne Blätter tragen. Alle diese Strukturen und Ressourcen begünstigen ein außergewöhnlich reiches Insektenleben an Eichbäumen, zumal auch xylobionte Käfer, Schlupfwespen, Fliegen etc. verrottendes Eichenholz zur Larvenentwicklung bevorzugen. Von den heimischen Waldvögeln zeigt der Mittelspecht die engste Bindung an Struktur und Beuteangebot von Eichen. Auch in Baumhöhlen brütende Mauersegler präferieren den Eichenwald wegen der Langlebigkeit der Höhlenbäume und dem lichten Kronenraum. Mit dem gegenwärtigen Rückgang alter Eichenbestände steigt der Gefährdungsgrad speziell der Vogelarten, die lichte und lückige Altbestände benötigen (Zahner & Loy 2000, Südbeck & Flade 2004, Günther et al. 2004). Wegen ihres Lichtbedarfs sind Eichen nicht schattentolerant; in buchenreichen Mischwäldern können sie sich nicht verjüngen – und werden deshalb sukzessive abgedrängt. Die Ausbreitung der Eichen ist zur Gänze auf die Zoochorie durch Mäuse, Schläfer, Hörnchen und den Eichelhäher angewiesen. In letzter Zeit kam die Diskussion auf, wieweit auch Ansamung und Jungwuchs der Wechselwirkung mit großen Säugetieren bedürfen, z.B. durch Huftritt (Rohbodenstellen, safe sites) und Verbiss der konkurrierenden Vegetation durch große Pflanzenfresser (Vera 1999). Von allen heimischen Waldbaumarten ist die Rotbuche als letzte nach Mitteleuropa eingewandert, wo sie bis heute einen Verbreitungsschwerpunkt hat. Diese robuste Baum­ art kann eine sehr breite Valenz von Standorten und Höhenzonen besiedeln, sowohl saure als auch basische Böden, sowohl warme, eher trockene Lagen der Kollinstufe als auch den kühlen und niederschlagsreichen Bergwald der Hochmontan-Stufe (in den Abruzzen bildet sie z.B. die oberste Waldgrenze). Durch das fallweise sehr hohe Samenangebot können Buchen-Altbestände in Mastjahren große Zahlen an Eichelhähern, Ringeltauben und Buntspechten anlocken; im Winter durchsuchen dann Bergfinken in riesigen Schwärmen die Bodenstreu. In hohen Berglagen werden die im Spätwinter quellenden Buchenknospen von Auerhennen als wichtige Eiweißquelle genutzt. Eine Vielzahl an Insekten nutzt das sommerliche Buchenlaub, weshalb hier Waldlaubsänger, Zwerg- und Halsbandschnäpper unter dem Kronendach auf Jagd gehen (vgl. Fuxa 1990, Berg & Zuna-Kratky 1992). Innerhalb der Waldlebensgemeinschaft wirken Buchen vor allem durch ihr stark abschattendes Laubdach, das – zusammen mit einer nur langsam verrottenden Laubstreu – die Bodenvegetation großflächig verdämmen kann. In der Jugend durchaus schattenverträglich, bildet dann Buchenjungwuchs, vereinzelt auch Tannenverjüngung (örtlich

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auch Eibe), die Strauchschicht. Da die Stammoberfläche typischerweise glatt und hart ist, bleibt ein Buchenbestand wenig attraktiv für wirbellose Stammbesiedler sowie die Stammabsucher unter den Vögeln. Buchenwälder gelten daher als strukturund artenarm, zumal bei altersgleichen Hallenbeständen mit geschlossenem Kronendach und fehlendem Unterwuchs. Das Bild ändert sich aber merklich in den späten Alterungsphasen. Buchen haben zwar eine vergleichsweise geringe Lebenserwartung von 200 bis 300 Jahren (extrem bis 400 Jahre), doch entwickeln sie in der zweiten Lebenshälfte Altersmerkmale, die für die Lebensraum-Qualität bestimmend sind: wie eine derbe, grobgefurchte Borke, starke Totäste im Kronenraum und ausgebrochene Zwiesel, „Chinesenbärte“, ausgefaulte Astlöcher, Krebswucherungen und mitunter auch Aushöhlungen, die den Stamm röhrenartig durchziehen (z.B. Foto 2.16: Aufgrund der Ausbildung von Rissen, Spalten und Fäulnishöhlen werden Alteichen zu „Spechtflöte“). Mitunter treiben auch zentralen Orten der Biodiversität im Laubwald. völlig eingestürzte „Methusalem“-Bäume noch grüne Triebe aus. Urwaldartige Buchenaltbestände können daher eine deutlich reichere Tierwelt beherbergen als die jüngeren Entwicklungsstadien. Das Gilt sowohl für Pilze als auch anspruchsvolle Insektenarten unter den Xylobioten, von denen die Stammabsucher unter den Vögeln – allen voran der Mittelspecht – profitieren. Das hohe Angebot an ausgebrochenen Kronen, abgebrochenen Stämmen und verrottendem Lagerholz begünstigt auch Kleiber und Sumpfmeise, Zwerg- und Halsbandschnäpper. Überalterte und sukzessive zusammenbrechende Buchenbestände sind typisch für den Lebensraum des sensiblen Grauspechts, in Berglagen vor allem des Weißrückenspechts (vgl. Frank 2002.a,b). Trotz des sehr harten Holzes baut der Schwarzspecht seine Höhlen selektiv in geradschaftige Buchenstämme mit hohem Kronenansatz, da die glatte Rinde einen guten Schutz vor kletternden Raubsäugern bietet (vgl. Meyer & Meyer 2001). Im Buchenurwald Badin (Slowakei) machten große Höhlenbrüter, wie die Hohltaube, bereits 10 % der Gesamtabundanz aus (Kropil 1996.a). Großkronige Buchen mit massiven Verzweigungen eignen sich als Horstbäume für Großvögel, wie Schwarzstorch, Habicht, Schrei- und Seeadler (z.B. Langgemach et al. 2008). – Für einige Charakterarten des Buchenwaldes tragen die Länder Mitteleuropas eine besondere Verantwortung, soweit sie hier ihren Populationsschwerpunkt haben, wie z.B. Sommergoldhähnchen, Sumpfmeise und Kleiber (vgl. Flade 1999). 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Von den weiteren Baumarten heimischer Laubwälder sind zum einen die grobborkigen Typen (wie Linde, Esche, Ulme, Schwarz-Pappel) für die Lebensraumqualität der Waldvögel von Bedeutung, weiters Bäume mit ausladender und starkastiger Krone (wie Bergahorn), mit attraktiven Samen oder Früchten (wie Hainbuche, Walnuss, Elsbeere, Speierling, Vogelkirsche, Holzapfel, Wildbirne), letztlich große Bäume mit weichem Holz, das einen relativ bequemen Höhlenbau ermöglicht (z.B. Silberpappel). Da diese Baumarten meist einzeln oder in Kleingruppen innerhalb einer artenreichen Waldgesellschaft eingegliedert sind, bzw. nur ausnahmsweise einheitliche Bestände bilden, werden sie im Kontext der Waldgesellschaften angeführt (Kap. 3.2).

2.2 Baumalter und Wuchsformen

Im Vergleich zur tierlichen oder menschlichen Lebensspanne können Bäume uralt werden. Abgesehen von Extrembeispielen aus der Neuen Welt (wie Mammutbäume und Grannen-Kiefer mit einer Lebenserwartung von bis zu 3 000 bzw. 4 000 Jahren), liegt die Zeitspanne für mitteleuropäische Waldbaumarten bei Maximalwerten von 100–150 Jahren (z.B. Weiden, Erlen) bis zu 1 500–3 000 Jahren (Eiche bzw. Eibe; Rohmeder 1972). Das Alter der Bäume ist ein wichtiges Naturschutzkriterium, da Bäume und Waldbestände sich mit zunehmendem Alter morphologisch stark differenzieren und spezifische Waldstrukturen ausbilden. Auch Schichtung von Sträuchern und Bäumen unterschiedlicher Wuchshöhe, Kronenausformung und Samenproduktion sind Funktionen langer Entwicklungszeiten. Wenn innerhalb eines Waldbestandes auch stets nur Einzelbäume das physiologisch maximal mögliche Höchstalter erreichen, so sind diese „Methusalem“Bäume doch stets landschafts- und lebensraumbestimmend (Übersicht in Scherzinger 1996; Foto 2.17). An Altersmerkmalen sind für die Vogelwelt im Einzelnen relevant: • Große Baumhöhen, sodass Wipfel bzw. Kronen das übrige Kronendach markant überragen. Solche exponierten Höhen werden als Singwarte (z.B. Drosseln, Star, Tannenhäher, Kolkrabe, auch Buntspecht, Sperlingskauz, Uhu) oder Jagdwarte aufgesucht (z.B. Sperlingskauz, Mäusebussard). Fischadler bevorzugen überragende Baumkronen zum Horstbau. • Massige Stammdurchmesser, die eine sehr große Gesamtoberfläche der Bäume mit sich bringen, und im Holzkörper langfristig konstante Umfeldbedingungen für die Larven großer Totholzkäfer sichern (Maximalwerte des BHD in mitteleuropäischen Urwäldern: Buche 90–170  cm, Fichte 120–140  cm, Kiefer 129–160, Tanne 120– 200 cm, Linde 180–200 cm, Eiche 180–230 cm). • raurissige Borke, die sowohl Beuteangebot als auch Erreichbarkeit der Beute für Stamm­absucher maximiert (vgl. „Borkenrauigkeit“, Kap. 1.2.3.3), • ausladende und/oder hochgewölbte Baumkrone („Kronendachrauigkeit“), die aufgrund eines lückig-durchsonnten Innenraums eine hohe Dichte an herbivoren Insekten (und deren wirbellose Prädatoren) zulässt; somit als Jagdgebiet für Fliegenschnäp-

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per, Gartenrotschwanz, Baumläufer und kleine Spechtarten attraktiv ist, und Horst bauenden Großvögeln einen leichten Anflug ermöglicht. • Wipfeldürre und Totäste im Kronenbereich, die sowohl für xylobionte Wirbellose attraktiv sind als auch von Singvögeln (z.B. Sumpfmeise) und Spechten (z.B. Klein-, Mittel-, Weißrückenspecht) zum Höhlenbau und als Trommelwarte genutzt werden können. • Bruch- und Faulstellen, Blitzspuren und Sonnenbrandstreifen, an denen sich eine Vielzahl an Kleinhöhlen bildet, wie sie von Meisen und Fliegenschnäppern zur Brut bevorzugt werden (vgl. Höhlenbrüter, Kap. 1.2.1.2). • Spechthöhlen unterschiedlicher Dimensionierung und Verwitterung, die Kleiber, Gartenrotschwanz oder Zwergschnäpper als Brutplatz dienen können. • Schwarzspechthöhlen oder zu langen Gängen ausgefaulte Stammteile, die von Dohlen, Kleineulen, Hohltauben als Beuteversteck, Schlafplatz oder Bruthöhle genutzt werden können. • Großhöhlen und durch Bersten von Kronen- oder Stammteilen ausgebrochene Nischen, in denen selbst große Höhlenbrüter, wie Wald- und Habichtskauz, oder Uhu (im Einzelfall auch Turmfalke, Waldohreule) nisten können. • Bewuchs der Stamm- und Kronenteile mit Schlingpflanzen (z.B. Hopfen, Wilder Wein, Waldrebe, Waldgeißblatt) bzw. Kletterpflanzen (z.B. Efeu), die mit Blüten, Samen oder Beeren den Vögeln direkt als Nahrung dienen, oder zumindest Insekten – als Beute – anlocken. Darüber hinaus eignen sich „Lianen“ besonders zum Nestbau von Singvögeln, zumal solche schwer erreichbaren Stellen meist auch sehr sicher sind. • In nebelreichen Höhenlagen sind Uraltbäume oft mit dichtem Flechtenwuchs behangen, der entweder selbst als Nistmaterial Verwendung findet, sich auch zum Deponieren von Beute eignet (z.B. Sperlingskauz), jedenfalls die Deckung am Schlafplatz erhöht (z.B. Raufußkauz). Aus zahlreichen Bestandserhebungen waldbewohnender Vögel wird resümiert, dass der Anteil alter Bäume im Gesamtbestand sowohl Diversität als auch Abundanz ganz wesentlich mit entscheiden. Die Korrelationsanalyse der Nutzung von Baumkronen durch Waldvögel ergab im Beispiel des Leipziger Auenwaldes eine deutliche Präferenz für die höchsten und voluminösesten Bäume (Böhm & Kalko 2009). Die Überprüfung hessischer Laubwälder ergab, dass die Siedlungsdichte der Höhlenbrüter in sogenannten „Altholzinseln“ doppelt so hoch ist wie im angrenzenden Wirtschaftswald; auch die Kronenbrüter erreichten hier maximale Dichten (Jedicke 1997.a). Für den signifikanten Anstieg der Artendichte bzw. dem Auftreten von Altholzspezialisten im Eichenwald in England legten Smith et al. (1992) einen Schwellenwert von rund 180–200 Jahren fest. Müller (2005) verglich den Effekt zunehmender Altersklassen für die Siedlungsdichte einzelner Vogelarten im naturnahen Buchenwald: Mit Bestandszunahme reagierten Sumpfmeisen bei Baumalter ab 100 Jahren, Buntspechte ab 105 Jahren, Mittelspecht ab 140 Jahren und Hohltaube – infolge des anwachsenden Angebots an großen Baumhöhlen – ab 145 Jahren.

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Im Vergleich von über 100- und unter 100-jährigen Bestandsteilen innerhalb eines Urwaldreservats im Bayerischen Wald fand Scherzinger (1985) nur 52  % an Artenidentität, da der Altbestand von mehr und anderen Vogelarten besiedelt wurde als die niedrigere Altersklasse. Ebenda wurden im Fichten-Tannen-Buchen-Bergmischwald 50 Brutvogelarten bestätigt (Mittelsteighütte, untere Montanstufe; Abundanz 70 Indiv./10 ha); in vergleichbarer Höhenlage waren es im Sofien-Urwald (Österreichisch-Tschechisches Grenzgebiet) 43 Brutvogelarten, bei einer relativen Dichte von 52,6 Bp/10  ha (Bürger & Kloubec 1994). Im Vergleich zu durchschnittlich 25–35 Vogelarten im Wirtschaftswald (z.B. Hofmann 1979, Flade 1994, Bernet 1997) kann der Urwald um bis zu 40–50 % mehr Arten beherbergen. Helb (2002) verglich die Avifauna von ungeFoto 2.17: Zu den faunistisch bedeutenden Alnutzten und bewirtschafteten Buchentersmerkmalen der Bäume zählen grobastige, breit beständen im Pfälzerwald, und fand eine ausladende Baumkronen, die ausreichend Licht ins Differenz von 6 Vogelarten zu Gunsten des Innere lassen und von Epiphyten bewachsen sind Naturwaldreservats (insgesamt 44 Arten (alter Bergahorn). auf 20 ha Kontrollfläche). Bücking et al. (1998) haben im Schwarzwald jeweils 6 Bannwälder und Wirtschaftsflächen hinsichtlich ihrer Diversität verglichen: Trotz ähnlicher Altersstufung (und relativ kleiner Aufnahmeflächen) lag der Artenreichtum in nicht bewirtschafteten Gebieten um durchschnittlich 3,5 (Extreme 1–7) höher. In norddeutschen Buchenwäldern fand Schumacher (in Scherzinger & Schumacher 2004) in Waldteilen, die seit 50 Jahren ungenutzt geblieben waren, im Schnitt 3 Vogelarten mehr als im bewirtschafteten Abschnitt, bei 2–3 mal höherer Abundanz im Reservat. Für den Auwald am Rhein ermittelte Kreuziger (1999) innerhalb von nur 16 Jahren der Nutzungseinstellung eine Zunahme der Spechtdichte um 170–480 % (z.B. Anstieg der Abundanz von 0,9 Rev./10 ha auf 2,5 Rev./10 ha; bzw. Rasterfrequenz von 27,2 % auf 49,4 %, bei 6 Spechtarten. Natürlich spielt in diesem Beispiel auch das mit zunehmendem Baumalter ansteigende Totholzangebot eine Rolle). Die enge Relation zwischen Spechtdichte und Altersklassen von mindestens 80 Jahren wird auch von Wübbenhorst & Südbeck (2002) für den Buchenwald im Solling bestätigt. – Für alle großen Horstbrüter sind starkastige Altbäume Voraussetzung für den Horstbau, wobei Anflugmöglichkeit, Übersichtlichkeit und weitgehende Störungsfreiheit im Umfeld für einen erfolgrei-

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chen Brutverlauf ausschlaggebend sein können (vgl. Langemach et al. 2008, Scheller 2008, Schumacher & Winter 2008). Als wichtiger Unterschied zu naturnahen Wirtschaftswäldern sei die deutliche Dominanz der hohen Altersklassen in ursprünglichen Naturwäldern hervorgehoben. In völlig umgekehrter Reihung demonstriert die Österr. Waldinventur von 1990 einen Überhang an jungen (< 40 Jahre) und mittelalten Bäumen (40 bis 80-jährig), gegenüber einer Minderheit an 100 bis über 140-jährigem Altholz (Schieler 1993).

2.3 Bestands-Strukturen

2.3.1 Vertikale Bestandsstruktur Für viele Vogelarten sind Vielfalt und Dichte der vertikalen Schichtung ein wesentliches Qualitätsmerkmal von Wäldern. Die Vertikalstruktur von Baumbeständen ergibt sich zum einen aus der Gesamthöhe der Bäume und ihrer Kronenlänge (Merkmale die im Wesentlichen von Standortsbonität, Wuchstempo und Baumalter abhängen), zum anderen aus Vielfalt und Höhenstaffelung der Kraut- und Strauchschicht sowie der nachwachsenden Baumgenerationen (sogenannte „Verjüngung“, ein missverständlicher Begriff, der sich von der Altersklassen-Verteilung der Einzelbäume innerhalb eines Baumbestands ableitet). Im Beispiel eines sehr langsamwüchsigen Fichtenwaldes der Subalpinstufe stellte Leibundgut (1984) die Altersspannen für die einzelnen Schichten fest: Unterschicht = 100–250 Jahre (wobei im tiefen Schatten „Jungbäume“ in ihrem Wachstum über Jahrzehnte unterdrückt werden können), Mittelschicht = 70–350 Jahre, Oberschicht = 100–650 Jahre. Im Idealmodell eines mehrstufigen Plenterwaldes, dessen Kronenschicht aus AltFichten, -Buchen und -Tannen gebildet wird, schieben sich in den engen Lichtschacht ehemaliger Baumsturzlücken Verjüngungsgruppen aus den 3 Hauptbaumarten, die – je nach Lichtgenuss – räumlich verschieden angeordnet sind: höhere Fichten im gut belichteten Zentrum, halbhohe Buchen am leicht beschatteten Rand und kleine Tannen im Schatten der Altbäume. Aufgrund der unterschiedlichen Altersstaffelung solcher „Verjüngungskegel“ wachsen einzelne Jungbäume als Zwischenstand in die untere Kronenschicht, sodass letztlich eine breite Spreitung von Alters- und Größenklassen auf engstem Raum „verschachtelt“ wird (vgl. Abb. 2.11). Lassen größere Bestandslücken auch Blütenstauden und Beerensträucher zu, dann ermöglicht ein derart diverses Strukturangebot die Koexistenz von Vogelarten gänzlich verschiedener Habitatansprüche (z.B. Heckenbraunelle, Mönchsgrasmücke und Haselhuhn in der Strauchschicht, Baumläufer, Kleiber und Spechte in der Stammschicht, Meisen, Finken, Drosseln, Habicht und Fliegenschnäpper in der Kronenschicht; vgl. Scherzinger 1976, Scherzinger & Schumacher 2004). – Real sind Naturwälder noch wesentlich komplexer aufgebaut, da sie Prozessen unterliegen, die ein hoch diverses Raum-Zeitmuster zur Folge haben, sodass Wälder keine homogenen Struktur-Einheiten bilden, sich vielmehr aus patches unterschiedlicher Größe, 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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unterschiedlicher Vegetations-Zusammensetzung und unterschiedlicher Altersklassen – mosaikartig – zusammensetzen (vgl. Kap. 2.5; vgl. Abb. 2.11). 2.3.2 Horizontale Bestandsstruktur Natürliche Wälder sind nur ausnahmsweise homogen aufgebaut, mit mehr oder minder gleichaltrigen Bäumen gleicher Wuchshöhe, deren Kronen sich zu einem geschlossenen Dach zusammenschließen. Derartige Hallenbestände sind z.B. als Folge flächenhafter Störungen denkbar (z.B. Orkan, Waldbrand), mit weitgehend synchronem Keimen und Aufwachsen der neuen Baumgeneration. (Vergleichbare Strukturen kennt man aus der traditionellen Altersklassenbewirtschaftung). Typischer sind kleinräumige Standortsunterschiede (hinsichtlich Bodenfeuchte, Humusauflage und Bodentiefe, Hangneigung und Exposition), die sich i.R. in differenziertem Baumwuchs widerspiegeln. Selbst auf kleinem Raum können sich benachbarte Urwaldbäume daher markant unterscheiden (Baumart, Stammquerschnitt, Stamm- und Kronenhöhe, Kronenbreite und faunistisch relevante Strukturen [Borkenoberfläche, Risse, Klüfte, Höhlungen, Bruchstellen, Totholzanteile etc.]). Dazu kommt der Konkurrenzdruck um Wasser, Nährstoffe und Licht. Unterdrückte „Jungbäume“ kümmern z.T. bis über 100 Jahre in Warteposition, ehe sie eine Chance bekommen, sich im Lichtschacht eines gestürzten Urwaldriesen hochzustrecken (Foto 2.18). Zu weiterer Differenzierung auf der Waldfläche führt der Baumsturz selbst, zum einen durch die Holzmassen, die als „Baumkadaver“ das Aufwachsen von Baumsämlingen begünstigen, ehe sie zu Humus vermodern; zum anderen durch die aus dem Boden gerissenen Wurzelteller, die über Jahrzehnte ein Struktursystem aus feuchten Bodenmulden und nährstoffreichen Hügeln bilden (pit and mound-System). Analog zur Vertikalstruktur von Beständen beeinflusst auch die Horizontalstruktur die Artenvielfalt in den Vogelwelt positiv, speziell wenn die Dimensionen benachbarter Struktur-Typen gleichzeitig verschiedene Habitatelemente bilden (z.B. Gebüschgruppe für Heckenbraunelle, Gartengrasmücke und Haselhuhn in Nachbarschaft zu Altholzgruppe mit Schwarzspecht, Zwergschnäpper und Waldlaubsänger). Je gröber der Maßstab, desto größer ist dieser Effekt, zumal dann auch baumfreie Lichtungen, Quellmulden, Felsblöcke Foto 2.18: „Baumsturz-Lücken“ bereichern sowohl die vertikale als auch horizontale Struktur von Waldbeständen, wofür Lagerholz und Verjüngung neben dem besseren Lichteinfall entscheiden sind (Urwald Białowieża, Polen).

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und andere Sonderstrukturen eine habitatgestaltende Funktion im horizontalen FlächenMosaik erhalten können. (Zur Problematik durch Fragmentierung vgl. Kap. 3.3). 2.3.3 Sonderstrukturen Im Laufe einer z.T. mehrhundertjährigen Lebensspanne bilden Bäume sehr diverse Wuchsformen aus, verursacht durch schwierige Standortsverhältnisse (z.B. Säbelwuchs im Steilhang, Drehwuchs auf felsigem Untergrund, Zwerg- oder Krüppelwuchs am Hochmoor), infolge von Schädlingsbefall bzw. -Infektion (Krebswucherung, Hexenbesen, Kernfäule, Konsolen von Baumpilzen), meist aber als Reaktion auf exogene Störungen, wie Wipfelbruch (infolge Eisbildung, Schneedruck oder Sturm), Stammklüfte (durch Blitzschlag, Ausbrechen von Zwieselkronen), Kalluswucherungen (z.B. infolge Schälung durch Großwild), „Bonsai“-Wuchs (infolge von regelmäßigem Wildverbiss). Abgeplatzte Borkenplatten, auch eingewachsene Schlingpflanzen können ungewöhnliche Baumstrukturen hervorrufen. In unseren Wäldern fehlen entsprechende Vorbilder meist zur Gänze, doch gibt es eindrucksvolle Dokumente aus historischen Berichten (z.B. Böhmerwald; Göppert 1868). Jedenfalls bereichern alle diese Strukturen das Brutplatzangebot für Waldvögel, verbessern z.T. auch deren Beuteangebot. Das Gestrüpp aus abgestürzten Baumkronen bietet Deckung z.B. für Zaunkönig, Rotkehlchen oder Haselhuhn, auf Hexenbesen und in kandelaberartigen Verzweigungen bauen Drosseln, Ringeltauben, Sperber oder Eichelhäher ihre Nester. Im Geäst vielgipfeliger Uralttannen haben selbst große Adlerhorste Platz. Unter dem Wurzelanlauf uralter Bäume bilden sich mitunter vielgestaltige Höhlensysteme aus, in denen Kleinvögel brüten können. Soweit Bäume auf Moderholz, Moospolstern oder Felsköpfen wurzeln, bilden sie oft pittoreske „Stelzwurzeln“, mit z.T. verwinkelten Erkern und Verschneidungen (Foto 2.19). Solche Strukturen nutzen Zaunkönig, Rotkehlchen und andere Halbhöhlenbrüter zum Nestbau. Eine besondere Struktur stellen aufgeklappte „Wurzelteller“ dar. Speziell auf flachgründigen Standorten (Schotter- oder Moorböden) können solche Wurzelteller mehrere Meter Radius erreichen (z.B. 7,5 m im Urwald von Białowieża, Tomialojc & Weselowski 1994). Entsprechend werden beim Sturz riesiger Bäume oft große Anteile der Pflanzendecke, an Erde und Gestein mitgerissen (Foto 2.20). Daraus erwächst den Bodenvögeln eine Vielzahl an Mikrohabitaten. Neben Zaunkönig, Heckenbraunelle und Rotkehlchen wurden auch Mönchsgrasmücke, Gimpel und Amsel als Nutzer dieses Brutplatzangebots beobachtet, in Einzelfällen sogar Waldwasserläufer. Höhlungen im Erdreich besiedelte die Tannenmeise, mitunter auch der Eisvogel. Unter schräg gekippten Wurzeltellern können Auerhühner selbst bei hoher Schneelage noch Steinchen als Verdauungshilfe finden. Sammelt sich an solchen Stellen trockene Feinerde, nutzen Hasel- und Auerhuhn, aber auch Singvögel oder Eulen dies für ein Staubbad. In der vom stürzenden Baum herausgerissenen Bodenmulde sammelt sich mitunter Wasser zu einem kleinen Kolk, der sowohl für Stechmückenlarven, Kleinkrebse, Taumelkäfer oder Libellen als Lebensraum fungieren kann, bei entsprechender Tiefe sogar für Molche. Auf großen Sturmwurf-Flächen addieren sich die Strukturen der heraus gekippten Wurzelteller mit dem „Verhau“ gestürzter und gebrochener Stämme. Ein ähnlich wirres 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Foto 2.19: Sonderstrukturen, wie z.B. Büschelwuchs, Zwieselstämme, Kandelaber-Kronen und Stelzwurzeln, sind für eine naturbelassene Waldentwicklung kennzeichnend (StelzwurzelFichte).

Foto 2.20: Orkanböen sind in der Lage, selbst Bäume mit tiefreichenden Wurzelballen aus dem Waldboden zu kippen; dabei werden oft Stücke aus der Pflanzendecke, auch große Mengen an Erdmaterial und Steinbrocken mit herausgerissen – ein besonderes Strukturangebot für Boden- und Gebüschvögel (Sturmwurf-Fichten).

Bild hinterlässt großflächiger Borkenkäferbefall, sobald die vom Pilzbefall zermürbten Stämme in sich zusammenbrechen (vgl. Scherzinger 1995, 2003, 2006.a; Foto 2.21, 2.36). In kühlen Klimaten, die die Zersetzung solcher Holzmengen verzögern, kann sich das Lagerholz in mehreren Schichten auftürmen. Kein Zweifel, dass die Vogelwelt hier eine Fülle unterschiedlichster Sonderstrukturen vorfindet. Gewässer spielen im Habitat nahezu aller Vögel eine wichtige Rolle, sei es als Tränke, als Badeplatz (z.B. für Singvögel, Eulen) oder Jagdgebiet (z.B. für Gebirgsstelze, Wasseramsel, Waldwasserläufer, Gänsesäger, Schwarzstorch). Ein seichter Wasserstand im Wald ist Voraussetzung für den Nestbau des Kranichs. Natürlich sind für Vögel auch alle Kleinstrukturen nutzbar, die den Wald auflichten (wie Sümpfe, Moore, Blockhalden, Felsköpfe), zumal hier eine andere Vegetation und andere Wirbellosenbeute zu finden ist. Wildtiere nutzen nicht nur passiv das vorhandene Lebensraumangebot, sie beeinflussen – oder steuern sogar – dessen Potenzial. Solche zoogenen Strukturen umfassen die Vielfalt an Bruthöhlen, wie sie von Singvögeln, Spechten oder Säugetieren ausgeformt werden, auch alle Nistunterlagen, von der Schwanzmeisen-Kugel bis zum Eichhörnchenkobel oder Adlerhorst. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang die Wechselwir-

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Foto 2.21: Mit der Kombination aus Wurzeltellern, Lagerholz und wirr übereinander geworfenen Wipfelteilen bieten Windwurfgebiete nicht nur außergewöhnlichen Strukturreichtum in der Bodenschicht, dieser „Verhau“ ermöglicht auch einigen Vogelarten des Wald-Innenklimas ein Leben auf der Störungsfläche (z.B. Auerhuhn, Schwarzspecht; Sturmwurf im autochthonen Fichtenwald).

Foto 2.22: Eine Reihe wesentlicher Habitatstrukturen wird von Tieren induziert oder direkt hergestellt, wie Spechthöhlen oder Greifvogelhorste. Mit Baumfällung und Gewässeraufstau begründet der Biber ein zoogenes Habitatangebot, mit weitreichenden Auswirkungen auf die Diversität der Waldvögel.

kungen zwischen der Tätigkeit der Säugetiere und dem Strukturangebot für Vögel: Dazu zählt – klassischerweise – der Biberstau, mit dem Angebot an aquatischen Insekten, Amphibien und Fischen (z.B. für Gänsesäger, Schwarzstorch, Waldkauz oder Uhu), auch das durch Biberfraß induzierte Totholzangebot in Gewässernähe (Foto 2.22). Aber auch Erdbaue von Fuchs oder Dachs können für die Vogelwelt relevant sein (z.B. für Sandbad, Aufnahme von Gastrolithen oder Lehmerde). Durch Verbiss und Weidedruck großer Pflanzenfresser formen sich dichte Kugelbüsche, kurzrasige Lichtungen oder ein parkartig aufgelockerter Weidewald. Davon profitieren vor allem Vögel der Bodenschicht, speziell die Waldhühner, Erdspechte und andere Ameisenfresser. Der Kot großer Pflanzenfresser lockt koprophage Insektenarten an (vgl. Gerken & Görner 2001). Nicht zuletzt seien Kadaver, Aas und Knochenreste großer Säugetiere aufgezählt, die von den Vögeln nicht nur als Nahrung und Kalziumquelle genutzt werden (z.B. Meisen, Eichelhäher, Kolkrabe, auch Adler), sondern auch für den Nestbau geeignet sind (z.B. Tierhaare; Tab. 2.7).

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Tab. 2.7: Tiere nutzen nicht nur das gegebene Nahrungs- und Strukturangebot des Waldes, sie können dieses auch aktiv selbst gestalten (zoogen), wobei sich Wechselwirkungen zwischen allen Ordnungen ergeben können.

Zoogenes Nahrungs- und Strukturangebot im Vogelhabitat Angebot

Urheber

Ressource / Requisite

  Vögel

Säugetiere

Wirbellose

Nahrung

Wirbellose

   

Kot (Großherbivore)

 

      Mineralstoffe Nistmaterial Nistplatz           Sandbad

Samen Aas Baumsaft Kalzium   Reisighorst Reisighorst Reisighorst Baumhöhle Stammnische Erdhöhle Erdkuhle

                       

    Spechte   Federn Krähenvögel Greifvögel Schwarzstorch Spechte Spechte    

    z.B. Blattläuse Schneckenhaus Spinnennetz       Rossameisen      

offener Boden Totholz   Kleingewässer Weidengebüsch Waldlichtung

Wühlstelle stehend liegend strömungsarm

       

       

Kot (Großherbivore) Großraubtiere Wisent (Braunbär) Geweih, Knochen Haare (Kadaver) Eichhörnchen         Mäuse Dachs, Fuchs, Wisent Wildschwein, Braunbär Biber, Rothirsch Biber (Wisent) Biber

(Weidedruck) (Weidedruck)

       

Biber, Elch Großherbivore

   

  Borkenkäfer    

2.4 Totholz

In ihrer mitunter mehrere Jahrhunderte währenden Lebensspanne akkumulieren Waldbäume beeindruckende Massen an Assimilationsprodukten in Form von Holz. Dieses bleibt nach dem Absterben der Bäume als Totholz zurück („Totholz“ gilt als Sammelbegriff für das Holz toter Bäume, wiewohl – streng genommen – auch das Holz lebender Bäume unbelebt bzw. „tot“ ist). Einzelne Uraltbäume können bis zu 30  fm (Buche), 45 fm (Fichte) oder über 100 fm (Tanne) an Holzmasse bilden, die nach deren Ableben als Totholz bzw. Nekromasse zurückbleibt. Je nach Standort, Besonnung, Feuchtigkeit und Holzqualität dauert der Abbauprozess Jahre oder Jahrzehnte, wobei stehendes Totholz eher austrocknet und härtet, liegendes Totholz eher verpilzt und verrottet (Foto 2.23, Bildteil). Im Laufe von Baumgenerationen können sich in Urwäldern eindrucks-

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volle Totholzmassen ansammeln, wobei die unterschiedlichen Abbaustadien eine jeweils charakteristische Lebensgemeinschaft aus Pilzen, Asseln, Tausendfüßlern, Milben, Spinnen, Wanzen, Schwebfliegen, Schmetterlingsraupen, Holz- und Schlupfwespen sowie Käfern beherbergen (z.B. Bock-, Hirsch-, Blatthorn- , Bunt- und Kurzflügelkäfer; Jedicke 1997.a). Müller et al. (2007) nennen an Totholzsiedlern und -nutzern rund 14 000 Organismenarten allein für die heimischen Wälder. Damit stellt Totholz ein hochdiverses Angebot an xylobionten Beutetieren für Waldvögel, auch wird es gelegentlich direkt als Substrat aufgenommen, z.B. als Hilfsstoff zur Neutralisierung der Harze in Koniferennahrung (Samen bei Kreuzschnabel, Nadeln bei Auerhuhn). Bei natürlichem Alterstod einzelner Bäume, dem i.R. Schädigungen durch mechanische Verletzung (z.B. Wipfelbruch, Blitzschlag, Rindenschälung durch Hirsche), Befall durch Mistel und/oder Pilze oder durch rindenbrütige Insekten vorausgegangen sind, bleiben die Totbäume als „Dürrlinge“ – oft über Jahrzehnte – im Bestand stehen, oder sie brechen bereits in geschwächtem bzw. kränklichem Zustand in sich zusammen. Solche Baumsturzlücken durchbrechen das Kronendach und bilden für sich eine bedeutende Habitatbereicherung für Waldvögel. Davon völlig verschieden in Menge und Verteilung entwickelt sich das Totholz­ angebot nach katastrophalen Ereignissen, wie Eis- und Schneebruch, Lawinenabgang oder Sturmwurf (als abiotische Störungen) oder Massenbefall durch Pilze und/oder Insekten (als abiotische Störung), da sie zum einen auch völlig vitale Bäume aller Altersklassen zum Absterben bringen können, und zum anderen Baumbestände meist flächenhaft betreffen, mitunter landschaftsweit (Foto 2.24 Bildteil, 2.36). Im Vergleich zum borealen Nadelwald sind Waldbrände in Mitteleuropa eher die Ausnahme (abgesehen von künstlich begründeten Kiefernforsten); auch bleiben Totholzaufkommen infolge von Hochwasser örtlich sehr beschränkt. Die Zusammenschau in Gatter (2004) vergleicht die höchsten Totholzmengen aus europäischen Urwaldgebieten: Buchenwald = 140–290 m3/ha, Fichten-Tannen-Buchenwald = 80–400 m3/ha und Tannen-Buchenwald bis 560 m3/ha. Nach Zusammenbruch alter Fichtenbestände infolge großflächigen Borkenkäferbefalls erhoben Müller & Bütler (2010) bis zu 700m3 Totholz/ha in den Hochlagen des Bayerischen Waldes Waldes. In Relation zur gesamten Holzmasse eines Waldes weisen natürliche Bestände im Schnitt 10–30 % an Totholz auf (extrem 70 %; Pechaček 1995). Jedenfalls ist Totholz in ursprünglichen Wäldern praktisch ubiquitär und in meist auch in großen Mengen vorhanden, weshalb zahlreiche Organismen eine sehr enge Bindung an diese Ressource eingehen konnten. – Erst im Forst wurde Totholz zur seltenen Requisite, und die XylobiontenFauna kam auf die Rote Liste. Das Totholzangebot der Wälder prägt die Diversität der Waldvögel auffällig, wobei nicht die Masse für sich entscheidend ist, sondern das Lebensraumpotenzial von Qualität, Verteilung und Eingliederung von Dürrbäumen und Lagerholz innerhalb des vitalen Baumbestands bestimmt wird (vgl. Utschick 1991). Einigen Vogelarten reichen sogar starke Totäste oder Kronenteile für Nahrungssuche und Höhlenbau. Totholz als Strukturelement: freiragende Dürrlinge fungieren z.B. als Horstunterlage für Greifvögel, als Trommelplatz von Spechten, als Sing- und Jagdwarte von Luftjägern oder Vertebratenjägern. Nach Wipfelbruch dringt Regenwasser in den Stamm und zer2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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mürbt ihn von oben. Das erleichtert den Höhlenbau, z.B. für den Weißrückenspecht. Hohe Baumstümpfe bilden auch für Eulen einen günstigen Brutplatz, sobald die Bruchstelle muldenförmig ausgefault ist (z.B. Habichtskauz). In aufgeplatztem Dürrholz kann der Buntspecht Zapfen und Nüsse zum Schmieden leichter einklemmen. – Auf die Bedeutung von Bruch- und Totholz für das Angebot an Kleinhöhlen (als Brutplatz von Singvögeln) und Spechthöhlen (als Brutplatz von Sing- und Nicht-Singvögeln) wurde bereits in der Beschreibung der Höhlenbrüter-Gilde hingewiesen (vgl. Kap. 1.2.1.2). Als – indirekte – Nahrungsressource wird Totholz vor allem von Stammabsuchern genutzt, wobei alle Arten die Oberfläche und leicht erreichbare Spalten und Ritzen absuchen. Bei raurissig verwittertem Holz schaffen auch Kleiber, Klein- und Mittelspecht kleinere Einschläge. Selbst die Erdspechte können nur in anbrüchiges Holz tiefer eindringen. Das Innere toter Stämme können aber die Hackspechte erschließen. Totholz von Laubbäumen (allen voran von Eiche und Weichlaubhölzern) ist für eine reiche Insektenbrut geeigneter als das Holz toter Nadelbäume. Dabei sei hervorgehoben, dass das Beuteangebot an Wirbellosen an kränklichen bzw. absterbenden Bäumen um vieles höher ist als in abgewittertem Dürrholz, weshalb die Quantität an Nekromasse allein noch keine Rückschlüsse auf die Nahrungsressourcen für Stammabsucher zulässt (Bücking et al. 1998, Hertel 2002). Wegen der günstigeren Erwärmung besonnter Dürrbäume ist das Insektenangebot an stehendem Totholz meist höher als an liegendem. Aus trocken-harten, oft nur armstarken Buchenstangen hackt der Weißrückenspecht kleine Splintkäfer mit kräftigen Schnabelhieben heraus. Allerdings bieten Stämme mit starken Durchmessern ein konstanteres Innenklima, was die Abundanz an Insektenlarven fördert. In Konsequenz bietet starkes Totholz höhere Beutemengen für Spechte (Übersicht in Scherzinger 1996, Moning et al. 2009). Baumstümpfe und Lagerholz sind unter dem Kronendach gegenüber stehenden und besonnten Dürrbäumen mikroklimatisch benachteiligt. Morschendes Holz lagert aber über das dichte Geflecht aus Pilzmyzelien reichlich Stickstoff ein, sodass es speziell für große, langsamwüchsige Käferlarven attraktiv sein kann. Die kräftigen Hackspechte können diese Ressource erschließen; Dreizehenspechte scheuen sich auch nicht, zu solchen Nahrungsquellen unter das Niveau der Schneedecke zu klettern. Von den waldbewohnenden Ameisen sind nach Rauh (1993) 47 Arten bedingt und 25 Arten unbedingt auf Totholz angewiesen. Kleinere Arten siedeln in totem Astmaterial. Die Formengruppe der Roten Waldameisen, die in der Beuteliste fast aller Spechtarten und des Auerhuhns einen hohen Stellenwert hat, begründet ihre Kolonien auf großen Baumstrünken bzw. alten Wurzelstöcken, die in entsprechende Bodentiefe reichen. – Bemerkenswert ist die Beobachtung bei Lüthy (1983), dass Hasel- und Auerhuhn Bergwälder mit reichlich Lagerholz ganzjährig bevorzugen, da dieses bodennahe Deckung bietet (gleichzeitig totholzreiche Baumsturzlücken eine attraktive Bodenvegetation indizieren). In natürlichen Laubwäldern Ostdeutschlands hat Hertel (2002) die Nutzungsfrequenz von Totholz durch Spechte protokolliert: Demnach suchte der Buntspecht zu 47–100 % der Beobachtungen an Totholz nach Nahrung, davon zu 90 % an liegendem Totholz. Der Mittelspecht nutzte nur in 12 % der Beobachtungen tote Bäume, wohl aber zu 40–85 % Totholzbereiche in den Kronen lebender Bäume. Vergleichbare Werte nennt

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Frank (2002.b) für den Weißrückenspecht im Alpenvorland/NÖ, wo 55 % aller Beobachtungen die Nahrungssuche an toten Buchen betrafen. Aus Habitatanalysen leiteten Bütler & Schläpfer (2002) 20 m3/ ha an stehendem Totholz als Mindestmenge im Dreizehenspechtrevier ab. Für einen buchenreichen Laubwald werden als Schwellenwert für die Besiedlung durch den Trauerschnäpper rund 40m3 Totholz/ha, für den Weißrückenspecht nahezu 60 m3/ha genannt (Müller 2005, Frank & Hochebner 2001). Ein 15-jähriger Nutzungsverzicht führte in einem Buchenbestand des Spessarts zu 3–4-facher Erhöhung des Totholzanteils, worauf die Artenzahl von 7 auf 11 Waldvögel je ha und deren Dichte von 100 Indiv./10 ha auf 200 Indiv./10 ha anwuchs, wobei die Höhlenbrüter mit einer Steigerung von 40 Indiv./10 ha auf 100 Indiv./10 ha besonders stark reagierten (Bussler et al. 2007). Infolge zunehmender Alterung bzw. dem Absterben alter Buchen im Naturwaldreservat von Serrahn (Ostdeutschland) erhöhte sich die Artenzahl der Höhlenbrüter um 58 % (bzw. aller Brutvogelarten um 50 %; Spiess 1992). Umgekehrt kam es bei Fliegenschnäppern in einem Eichen-Hainbuchenbestand des Wienerwaldes zum Totalausfall der Bruten infolge der Beseitigung von Dürrlingen und Höhlenbäumen (Sachslehner 1992). Die Korrelation von wenig Totholz = wenige Spechte und viel Totholz = viele Spechte lässt sich nicht linear weiterverfolgen, da die Proportion zwischen toten und lebenden Bäumen für die Gesamtqualität im Habitat wichtig erscheint. Wie das 12-jährige Monitoring in einem durch Borkenkäferbefall sukzessive absterbenden Bergfichtenwald ergab, stiegen sowohl Artenvielfalt als auch Individuendichte der Spechte mit dem Zuwachs an befallenen und absterbenden Fichten zwar sprunghaft an (von 2 auf 5 Arten, bzw. von 3 auf 28 Individuen), doch fiel – infolge der raschen Ausweitung der Kalamität – die Abundanz nach nur wenigen Jahren wieder auf ein niedriges Niveau. Bei nahezu 100 % an Totbäumen schien das Areal nicht mehr nutzbar, vermutlich wegen völlig fehlender Deckung auf den Dürrholzflächen (Scherzinger 2006.a).

2.5 Waldentwicklungsphasen

Auch wenn uns Wälder aufgrund der Langlebigkeit von Bäumen und der Konstanz des Bestandsgefüges als „urewig stabil“ erscheinen mögen, durchlaufen sie – über große Zeiträume betrachtet – dauernde Veränderungen hinsichtlich Bestandestextur, Proportionen der Altersklassen und der Baumartenmischung, letztlich auch der Ausbildung von Krautund Strauchschicht, in Abhängigkeit zum jeweiligen Schlussgrad des Kronendachs. Im Regelfall erfolgt diese Umschichtung punktuell, infolge Sturz alter oder geschädigter Einzelbäume oder gleichzeitig betroffener Kohorten von Bäumen. Im Lichtkegel des plötzlich durchbrochenen Kronenraums kann sukzessive eine neue Baumgeneration heranwachsen. Je nach vorhandener Vorverjüngung, Bodenverwundung (z.B. durch herausgerissene Wurzelteller) und Größe der Lichtung rückt vorhandene Verjüngung aus ihrer „Warteposition“ nach oder kommt eine Sukzession mit Gräsern, Hochstauden und Pionierbäumen in Gang. In Mischwäldern findet dabei nicht selten ein Baumartenwechsel statt (Synopse in Scherzinger 1996; Foto 2.25, Bildteil). 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Infolge Überalterung gleichförmiger Bestände sowie exogener Störungen (z.B. Schneedruck, Windwurf, Pilz- und Insektenbefall) können auch deutlich größere Bereiche von Zusammenbruch und sukzessionaler Regeneration der Waldbäume betroffen sein, sodass vorübergehend auch größere Freiflächen entstehen, mit z.T. sogar waldfremder Vegetation (z.B. in Flutmulden, auf Muren, Schutt- und Blockhalden, Brandflächen, Entwicklung von Bergwiesen). Treten große Pflanzenfresser auf (in der ursprünglichen Fauna Mitteleuropas z.B. Wisent, Auerochs, Elch, Tarpan), so sind diese in der Lage, Waldwiesen durch regelmäßige Beweidung der Krautschicht zu begründen und die Wiederbewaldung der Freifläche durch Verbiss der Jungbäume hinauszuzögern (vgl. Bunzel-Drüke et al. 1993/94, Scherzinger 1999, Vera 2000). Wird die Langzeitentwicklung von Wäldern von Störereignissen katastrophalen Ausmaßes (z.B. Orkan, Flächenbrand) unterbrochen, kann die Folgeentwicklung auch in eine völlig neue Richtung verlaufen. – Es versteht sich, dass derart gravierende Veränderungen auch unmittelbar das Lebensraumpotential der Avifauna tangieren. Zunächst unabhängig von der Flächengröße betroffener patches lässt sich dieser permanente Strukturwechsel im Waldgefüge als Abfolge unterschiedlicher Wald-Entwicklungsphasen abstrahieren (Terminologie nach Zukrigl 1991, Leibundgut 1981, Korpel 1995): • Anfangswald (auch Vorwald: auf Freifläche nach Zerstörung des Baumbestandes), mit lichtbedürftigen Pionierpflanzen in der Krautschicht (z.B. Hochstauden), Sträuchern und rasch wachsenden Weichlaubhölzern (z.B. Weiden, Birke, Espe) • Übergangswald (auch Zwischenwald: Einmischung von Schattenbaumarten [sogenannter „Klimax-Baumarten“] in die Pioniergesellschaft; je nach Waldgesellschaft aus Laub- oder Nadelholz) • Schlusswald (auch Stadium des Heranwachsens: Kronenschluss der im Dichtstand hoch gewachsenen Jungbäume) • Optimalphase (Höhenwachstum und Holzzuwachs erreichen einen Kulminationspunkt; im Dichtstand bleibt das Kronendach weitgehend geschlossen.) Solche hochstämmigen Hallenbestände können über mehrere Jahrzehnte bestehen. • Alterungsphase (Merkmale reifer Bäume bilden sich aus, mit rauer Borke, großvolumigen, starkastigen Kronen, ersten Totästen und Wipfelbruch; an Stammverletzungen, Bruchstellen und Zwieseln brechen Spalten und Kleinhöhlen auf. Die Konkurrenz um Licht bringt etliche Bäume zum Kümmern und Absterben.) Bei störungsfreier Entwicklung folgt eine Plenterphase; exogene Störungen führen zur Zerfallsphase. • Plenterphase (Durch Einzelbaumsturz reißen Lücken – einzeln oder horstweise – im Kronendach auf, und wird ein Netzwerk aus Lichtungen geschaffen, in denen eine junge Vegetation aufkommt. Die Verschachtelung unterschiedlicher Baumarten und Altersklassen mit einer gut ausgebildeten Verjüngung in der Strauchschicht ergibt eine maximale Schichtung im Bestandsaufbau.) Bei ausreichendem Ersatz der ausgefallenen Altbäume kann dieses Gefüge über viele Baumgenerationen konstant bleiben. • Zerfallsphase (Der Großteil des Altbäume stirbt infolge von Überalterung oder exogener Störungen ab; Ansamung und Aufwachsen der Verjüngung kann mit dem Tempo der Auflichtung nicht Schritt halten, es entstehen stark durchbrochene, totholzreiche Bestände, mit überragenden Uraltbäumen, die einzeln oder truppweise überlebt

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haben.) Der Zerfall von Altbestand bzw. Kronenschicht schreitet meist rasch voran, weshalb diese Phase eine vergleichsweise kurze Periode überspannt. Betrachtet man – je nach Blickwinkel – das Schicksal des siechenden oder störungsbedingt vernichteten Altbestands, spricht man von einer Zusammenbruchsphase. Da mit der Auflichtung auf großer Fläche das Ansamen und Aufwachsen einer jungen Baumgeneration begünstigt wird, kann man dieselbe Situation auch als Verjüngungsphase beschreiben. Wird der Verfall des Altbestandes hingegen durch katastrophenartige Einwirkungen beschleunigt, dabei auch Jungwuchs und Samenbank zerstört (z.B. nach heftigem Feuer) fällt die Entwicklung auf eine basale Sukzession zurück, und sie beginnt von neuem mit einer Pioniervegetation im Anfangswald. • Verjüngungsphase (Nach dem überwiegenden Absterben der Altbäume dominieren die Jugendstadien der Verjüngung.) Bei Zusammenbruch des tragenden Bestandes häuft sich Totholz in außerordentlichen Mengen, und die geänderten Lebensbedingungen auf dem plötzlich Sonne und Regen ausgesetzten Waldboden induzieren eine rasch aufwachsende Sukzession. Je nach Resilienz des Ökosystems kommt es zu schrittweiser Regeneration der Waldvegetation (Entwicklung zum Übergangswald), oder es entstehen waldfremde Zwischenphasen, z.B. mit Steppen- oder BergwiesenCharakter (langfristige Entwicklung führt zum Anfangswald). • Übergangswald (Einmischung von Schattbaumarten in die Pioniergesellschaft). Damit schließt sich der Kreis, denn über sehr lange Zeiträume lässt sich die Sequenz zwischen der Pioniervegetation auf der Störungsfläche, der Etablierung einer Waldverjüngung bis zum Zerfall überalterter Bäume und dem Zusammenbruch der Bestände auch als Zyklus beschreiben. Allerdings gibt es im Ablauf der Einzelphasen zum einen keine strenge Reihung, diese wird vielmehr aus dem jeweils aktuellen Zusammenwirken von Standort, Waldgesellschaft und Störungsqualität determiniert (z.B. Zukrigl 1991). Zum anderen können sich während der dazwischen liegenden Zeiträume von mehreren hundert Jahren die Klima-, Standorts- und Wuchsbedingungen ganz erheblich ändern, weshalb eine identische Ausformung der Waldgesellschaften in aufeinander folgenden Zyklen unwahrscheinlich ist (vgl. Scherzinger 2005.c). Es liegt auf der Hand, dass diese Langzeitdynamik ganz erhebliche Auswirkungen auf die qualitative Eignung von Wäldern für die Vogelwelt hat (Abb. 2.8, Bildteil). Das gilt für einzelne patches wie auch deren Anordnung im Flächen-Mosaik auf Landschafts­ ebene. Infolge dieser Entwicklungsdynamik können Artenausstattung und Siedlungsdichte einzelner Flächen innerhalb einer Waldlandschaft erheblich differieren, je nach gerade durchlaufener Entwicklungsphase: • Nach Einwirkung einer katastrophalen Störung können Vogelarten des Waldrandes, der Park- und halboffenen Heckenlandschaft die baumfreie Fläche besiedeln (z.B. Goldammer, Neuntöter, Schwarzkehlchen, Feldschwirl, Baumpieper; Birkhuhn, Heidelerche, Brachpieper und Ziegenmelker gelten regelrecht als „Katastrophenarten“). • Für die anlaufende Sukzession der Anfangsphase sind Fitis, Zilpzalp, Garten- und Klappergrasmücke typisch; bei entsprechendem Beerenangebot auch Auerhuhn. 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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• Im Übergangswald schließt sich allmählich das Jungholz zur Dickung. Hier leben Rotkehlchen, Haselhuhn; auch Schwanzmeise. • Aufgrund der starken Abschattung unter dem geschlossenen Kronendach bietet der Schlusswald nur marginale Habitatqualitäten. Der Sperber schätzt die reiche Deckung für den Horstplatz, ein erstes Zapfenangebot nutzt der Buntspecht. Nach Resten von halbverrottetem Lagerholz sucht eventuell noch der Schwarzspecht. • In Beständen der Optimalphase findet sich weitgehend die Vogelgemeinschaft, wie wir sie aus heutigen Wirtschaftswäldern kennen: mit Kohl-, Hauben- und Tannenmeise, Waldlaubsänger, Grau- und Zwergschnäpper, Singdrossel, Eichelhäher und Buchfink sowie Ringeltaube, Buntspecht und Dreizehenspecht. • In der Alterungsphase kommen Kernbeißer, Sumpf- und Blaumeise, Kleiber, Waldbaumläufer und die beiden Goldhähnchen zum Vogelbestand; auch Schwarz- und Mittelspecht, Hohltaube, Habicht und Waldkauz. In der noch schütteren Boden- und Strauchschicht finden sich Zaunkönig, Amsel, Waldschnepfe ein, mitunter auch das Auerhuhn. • die Plenterphase bietet ein reiches Angebot an Nahrung und Strukturen für die Vogelwelt. Entsprechend wächst die Artenvielfalt auf ein Niveau, wie wir sie aus alten Naturwäldern kennen (z.B. mit Mönchsgrasmücke, Pirol, Raufußkauz, Mäusebussard, Schwarzmilan und Schwarzstorch). • Die starke Auflichtung des Kronendachs in der Zerfallsphase, gepaart mit der Ausformung dominanter Uraltbäume, hohem Totholzreichtum und einer diversen Vegetation in Kraut- und Strauchschicht ermöglicht eine höchstmögliche Artenvielfalt an Waldvögeln (vgl. Abb. 2.8, Bildteil). Nebeneinander finden sich Vogelarten ein, die an Tot- und Bruchholz (wie Grauspecht, Weißrückenspecht), an Baumhöhlen (Trauerund Halsbandschnäpper, Sperlings- und Raufußkauz, Hohltaube, Dohle, Mauersegler), oder an übersichtlich lückige Altbestände gebunden sind (Gartenrotschwanz, Kleinspecht, Grünspecht, Schreiadler, Seeadler) und solche, die eine an Kräutern, Beeren und Insekten reiche Bodenvegetation benötigen (Wacholder- und Ringdrossel, Auerhuhn). • Der Zusammenbruch bedeutet für die Vogelwelt einen gravierenden Übergang vom baumbetonten zum freiflächenbetonten Lebensraumangebot. Typischerweise reagiert sie darauf mit Arten-turnover, d.h. einem weitgehenden Austausch der Vogelarten. Profiteure sind – wenn meist auch nur für kurze Zeit – Arten der Waldränder, der halboffenen Park- und Heckenlandschaft, aus Waldsteppe und von Gebieten an der Waldgrenze (z.B. Heidelerche, Baumpieper, Wendehals, Ziegenmelker, Waldohreule, Habichtskauz, Mäuse- und Wespenbussard), auch Vogelarten, die das immense Totholzangebot nutzen können (z.B. Haus- und Gartenrotschwanz, Spechte; Scherzinger 1991.b, 1996, Scherzinger & Schumacher 2004). Für urwaldartige Laubwaldgebiete Ostdeutschlands bestätigten Winter et al. (2005) die höchste Artendichte in der Zusammenbruchsphase; für 23 von insgesamt 37 Brutvogelarten ließ sich eine signifikante Präferenz für derart überalterte Bestände errechnen. Im Beispiel (nach großflächigem Borkenkäferbefall) zusammengebrochener Bergfichtenbestände im Inneren Bayer. Wald wurden Arten der Kronenschicht (wie Goldhähnchen,

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Abb. 2.9: Schema des Strukturangebots im Auerhuhnbiotop, im Beispiel eines naturnahen Bergmischwaldes (1 = Jungfichte, Winternahrung des Hahnes; 2 = Balzbaum; 3 = Heidelbeeren; 4 = Bodenbalzplatz; 5 = Aufnahme von Magensteinchen am Wurzelteller; 6 = gedeckter Schlafplatz unter Baumkrone; 7 = Brutplatz, geschützt durch Lagerholz; 8 = Fichtenwipfel, Winternahrung der Henne; 9 = Huderpfanne in feiner Streu; 10 = ungedeckter Schlafplatz auf Dürrling; 11 = Waldameisen-Kolonie; Knospen und Blätter der Buche als Frühlingsund Herbstnahrung; aus Scherzinger 1976).

Tannen- und Haubenmeise, Zeisig und Kreuzschnabel), aber auch Stammabsucher (z.B. Waldbaumläufer, Dreizehenspecht) abgedrängt, dafür rückten Zaunkönig und Gartenrotschwanz in z.T. großer Dichte nach; mit Aufwachsen einer neuen Kraut- und Strauchschicht siedelten sich Zilpzalp, Fitis und Mönchsgrasmücke an. In Entsprechung der steppenartigen Struktur drangen auch Baumpieper und sogar Wendehals in den ehemaligen Baumbestand vor (Scherzinger 2006.a, Simonis, pers. Mitt.). Die Gesamt-Artenvielfalt einer Waldlandschaft setzt sich somit aus der Summe der Artenausstattung aller einzelnen Habitat-patches zusammen (vgl. Späth 1985). Da sehr junge (Anfangswald, Verjüngungsphase) und sehr alte Entwicklungsphasen (Alters- und Plenterphase, insbesondere Zerfallsphase) die artenreichsten Abschnitte langfristiger Waldentwicklung bilden, spielen deren proportionale Anteile innerhalb des Flächenmosaiks eine entscheidende Rolle für den Artenreichtum (γ-Diversität). Des Weiteren sind viele Vogelarten hinsichtlich ihrer Habitatansprüche nicht auf einen einzigen patch-Typ beschränkt; für sie ist vielmehr die räumliche Kombination unterschiedlicher Entwicklungsphasen ausschlaggebend. Z.B. gilt das für Auerhuhn (Abb. 2.9), Habichtskauz und Uhu, Rotmilan und Schreiadler, die im Altbestand Deckung und Brutplatz finden, zum Nahrungserwerb aber Lücken, Lichtungen oder größere Freiflächen bevorzugen. Noch komplexere Ansprüche stellen Großvögel, die auf alten Bäumen horsten, ihre Nahrung aber an Gewässern erbeuten (wie Schwarzstorch, Fisch- und Seeadler). – Nach der Idee des Mosaik-Zyklus-Konzepts kommen und gehen die einzelnen Entwicklungsphasen in nicht vorhersagbarem Zeitablauf. Wenn sich deren Verteilung im Gesamt-Mosaik auch fortlaufend ändert, so sollte die Summe der Einzel-patches doch ein langfristig konstantes Lebensraumangebot sichern, – entsprechend große Waldflächen vorausgesetzt (Remmert 1991.a,b, Scherzinger 1991.b, 2005.b).

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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2.6 Waldränder und Ökotone

Wo immer Wald an seine Grenzen stößt, bilden sich Waldränder. Die Grenze zwischen Wald und baumfreiem Offenland wird in der Naturlandschaft z.B. durch Klimazonen bestimmt (Savanne, Wüste; Gebirgslagen), durch ungeeignete Boden- und Standortsverhältnisse (durch Salze oder Giftstoffe belastete Böden, Schotterbänke, Dünen und Trockengebiete, Hochmoore, Sumpfgebiete, Fließgewässer und Seen, Felskuppen, Steilhänge). An der Schnittstelle solcher völlig verschiedenen Landschaftselemente (Ökotone) finden Vögel ganz spezifische Habitatbedingungen, wie sie speziell für Vogelarten wichtig sind, die spezifische Habitatfunktionen in Baum- bzw. Waldbeständen vorfinden, sich aber vorwiegend außerhalb geschlossener Wälder ernähren: wie z.B. Fischfresser (Graureiher, Kormoran, Gänsesäger, Schwarzstorch, Fisch- und Seeadler), Insektenfresser (Star, Würger, Dohle, Saatkrähe, Grünspecht, Zwergohreule, Wiedehopf, Blauracke), vorwiegend herbivore Vögel (Hohltaube, Birkhuhn, Kranich), oder große Beutegreifer (Uhu, Mäusebussard, Rotmilan, Schrei- und Steinadler; vgl. McCollin 1998). In kleinerem Maßstab entstehen Waldränder überall dort, wo durch endogene oder exogene Prozesse der Waldentwicklung unterschiedliche Altersklassen bzw. patches verschiedener Waldentwicklungsphasen aneinandergrenzen. Innere Waldränder trennen z.B. den Altbestand vom Verjüngungskegel in der Baumsturzlücke, das Birkengestrüpp auf einer ehemaligen Sturmwurffläche vom verbliebenen Fichtenbaumholz oder die Krüppelfichten im Umkreis eines Hochmoores vom massigen Bergmischwald auf mineralischem Untergrund. Verlauf und Länge solcher Grenzlinien können qualitätsbestimmend für das Lebensraumangebot von Waldvögeln sein, wie Stein (1974) am Beispiel des Auerhuhns dargestellt hat. Erst in der Kombination von lückigem Altholz mit starkastigen Baumkronen (Nadelnahrung, Schlafplatz, Baumbalz) und dichter Zwergstrauchdecke am Waldsaum (Beerennahrung, Brutplatz) sind alle Habitatfunktionen erfüllbar, wobei das Prädationsrisiko bei unübersichtlicher Linienführung gering bleibt. Ansitzjäger (wie Sperlingskauz, Sperber und Habicht) präferieren harte Anschnitte im Altholz, da sie hier – bei reichlich Deckung – einen guten Überblick über das angrenzende Jagdgebiet haben. Auch Mäuse- und Wespenbussard schätzen solche Beobachtungsposten. Soweit angerissene Waldränder stark besonnt werden, ist auch die Insektenbeute für Vögel der Kronenschicht, für Flugjäger und Stammabsucher erhöht, speziell, wenn damit Stammschäden (z.B. Sonnenbrand, Trockenrisse) verbunden sind. – Solche Waldränder haben eine meist nur kurze Wirkungsdauer, da Niveau- und Altersunterschiede durch das Wachstum der Bäume rasch ausgeglichen werden können (Flashpoler 2001). Innere Waldränder begünstigen in erster Linie die Vogelarten des „Wald-Innenklimas“ (Arten des Waldes-Inneren, bzw. die Walvogelarten im engeren Sinne). Grenzen hingegen Baumbestände an Lichtungen, Waldwiesen oder größere Freiflächen (z.B. Moore, Seggensümpfe, Lawinenschneisen, durch Sturm, Feuer oder Insektengradationen begründete „Katastrophenflächen“), formen sich Äußere Waldränder, die vermehrt von Vogelarten des „Wald-Außenklimas“ besiedelt werden (vergleichbar dem Effekt von Ökotonen; Foto 2.26). Aus zahlreichen Bestandserhebungen geht hervor, dass Wald-

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Foto 2.26: Am „Äußeren Waldrand“ treffen völlig unterschiedliche Lebensbedingungen aufeinander, die sowohl für Arten der Freifläche, des Wald-Außenklimas und des Wald-Innenklimas attraktiv sind, weshalb die Avifauna der Waldränder besonders artenreich ist (edge-Effekt).

ränder ganzjährig eine besonders hohe Anziehungskraft für die Avifauna haben, da sie sonnenexponiert sind, dadurch eine höhere Produktion an Blüten, Samen und Früchten in der Vegetation bewirken, da das tief in den Bestand dringende Seitenlicht eine besondere Vielfalt an lichtbedürftigen Sträuchern und Bäumen ermöglicht, und da die enge Nachbarschaft von Deckung und Brutplatz im Wald einerseits und Nahrungsgebiet auf der Freifläche andererseits einen guten Bruterfolg bei nur kleiner Reviergröße sichert. Der klimatische Randeffekt wirkt sich im Wald bis zu einer Tiefe von 240–300 m aus. Auch können Randbäume besonders breite Kronen mit starken Horizontalästen ausbilden, wie das z.B. Greifvögel zur Ansitzjagd oder Eulen als Singwarte schätzen. Natürliche Waldränder sind vielgestaltig, sowohl in ihrem Verlauf als auch in ihrer Abgrenzung zwischen Baumbestand und Offenland, da meist noch Gebüsch, Einzelbäume oder das Holz gestürzter Stämme vorgelagert sind; harte Trennlinien zwischen Wald und Grünland, wie wir sie seit der Mitte des 19. Jh. aus der Kulturlandschaft kennen, sind die Ausnahme (z.B. bei Lawinenschneisen, Murenabgang; vgl. Küster 1998). Diese besondere Attraktivität gilt sowohl für Vogelarten, die ihren Lebensschwerpunkt im Wald haben, als auch für Arten, die sich vorwiegend auf der Freifläche aufhalten. Dadurch können Waldränder übernormale Dichten an Arten und Individuen aufweisen, der sogenannte edge-Effekt. Grünwald (1997) fand am Rand eines Nadelwaldes eine um 33 % höhere Artenzahl als im Waldesinneren, beim Laubwald lag die Differenz sogar bei 48 %. Noch stärker wirkt der edge-Effekt auf die Individuendichte, die in diesem Beispiel 3,6- bzw. 7,6-fach höher lag. In einem Urwaldreservat des Inneren Bayer. Waldes lag die Beobachtungsdichte am Rand einer kleinen Waldwiese um das 1,7-fache höher als in den Optimalgebieten des angrenzenden Fichten-Tannen-Buchen-Mischwalds (Scherzinger 1985). Flashpoler (2001) fand bei Singvögeln, die am Waldsaum brüten, neben größeren Gelegen auch eine höhere Nestdichte. Allerdings haben all diese Vorteile ihren Preis, denn auch die Beutegreifer werden von der Attraktivität des Waldrands angezogen, sodass der Prädationsdruck durch Nesträuber ansteigt (z.B. durch Wiesel, Iltis, Steinmarder, Fuchs und Dachs bis zu Sperlingskauz oder Sperber). Da Raubsäuger entlang der Waldränder regelrechte Kontrolllinien abgehen, liegen z.B. die Schneehöhlen, in denen Haselhühner 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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übernachten, auf strukturfreien Freiflächen, wenigstens 4–6 m von der Randlinie entfernt (Scherzinger, unveröff.). Auch gibt es Erfahrungen aus der Artenschutzpraxis, dass Auerhühner an geradlinig verlaufenden Waldrändern, wo sie vom Habicht bereits aus großer Distanz entdeckt werden können, besonders gefährdet sind (Müller, pers. Mitt.). Den potentiellen Gefährdungsgrad für Vogelgelege haben Purger et al. (2004) mit Hilfe künstlich ausgebrachter Nester ermittelt. Dabei zeigte sich ein deutlich absteigender Gradient des Prädationsrisikos vom Waldrand gegen das Waldinnere. Kroodsma (1984) spricht deshalb vom Janus-Kopf der Waldrandsituation, Flashpoler (20011) gar von einer Fallensituation, da der Reproduktionserfolg der Vögel am edge unterdurchschnittlich gering ausfällt, trotz hoher Lebensraumqualität.

3 Waldentwicklung und Faunengeschichte Seit der nacheiszeitlichen Wiederbewaldung Mitteleuropas unterliegen die entscheidenden Umfeldparameter für Waldlebensräume (wie Klima, Bodenbildung, Artenausstattung der Waldvegetation) einer permanenten Veränderung. Entsprechend ist auch die heutige Faunenzusammensetzung in den Wäldern das Spiegelbild ihrer geschichtlichen Entwicklung. Im Vergleich zu den Waldlebensgemeinschaften vorangegangener Zwischeneiszeiten sind zahlreiche Tierarten verloren gegangen, doch traf das die Vögel weniger als die großen Säugetiere. Wälder, die sich hinsichtlich Wuchsbedingungen und Ausformung mit den heutigen Waldgesellschaften annähernd vergleichen ließen, etablierten sich am Übergang von der Mittel- zur Jungsteinzeit (grob 7 000–9 000 Jahre vor heute). Mit der Ausbreitung von sehr lichten und artenreichen Eichen-Mischwäldern boten sich für die Vogelwelt optimale Bedingungen, zumal grobborkige und breitkronige Baumarten dominierten (wie Eiche, Ulme, Linde, Esche), die sich sowohl durch besondere Langlebigkeit als auch die Neigung zu Kronenbruch und Höhlenbildung auszeichnen (damit besonders für Fliegenschnäpper, Spechte, Eulen und Greifvögel attraktiv sind). Nach Küster (1998) herrschten Eichen auf der Planarstufe vor, ein Mischungsanteil durch weitere Laubbaum­arten nahm mit der Seehöhe zu, mit den artenreichsten Laubmischwäldern im Mittelgebirge der Montanstufe. Aus Südosteuropa kamen die Ahornarten dazu und – als jüngstes „Mitglied“ heutiger Laubwaldgesellschaften – erreichte schließlich die Buche vor rund 4 000–5 000 Jahren den östlichen Alpenrand. Innerhalb zweier Jahrtausende konnte sie Mitteleuropa großflächig besiedeln, um Christi Geburt dominierte die Buche den Alpen-Nordrand (vgl. Pott 1992). Mit der Ausbreitung dieser sehr anpassungsfähigen und stark beschattenden Baumart durchliefen die Waldlebensräume bedeutende strukturelle und edaphische Veränderungen, da die bisher dominierenden Mischwälder mit ihrer z.T. reichen Baumartenmischung in lückigem Lichtstand zunehmend ausgedunkelt wurden. Von den alteingesessenen Laubbaumarten tolerieren die Sämlinge und Jungpflanzen der Eiche eine

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Beschattung am wenigsten. Darüber hinaus gelingt es der Buche, das Ansamen anderer Baumarten unter ihrem Kronenschirm über ihre leicht toxische Laubstreu zu behindern. Somit konnten sich auch weitläufige Buchenreinbestände bilden, speziell in der Kollinund unteren Montanstufe, wo der Arealgewinn der Buche vorwiegend zulasten der Eiche verläuft (ein Prozess, der vielerorts bis heute wirksam ist). Einer Reihe von Vogelarten gelang die Anpassung an die dunklen aber hochproduktiven Buchenwälder, sodass sie heute geradezu als typische Indikatoren für naturnahe Buchenbestände gelten (wie Kleiber, Zwerg- und Halsbandschnäpper, Weißrücken- und Schwarzspecht, Hohltaube; vgl. Flade 1994, 1999). Im Ostalpenraum traf die Buche auf Bergwälder, in denen die Kiefer noch und die Fichte schon gediehen. Gemeinsam mit der nachrückenden Tanne arrangierten sich diese so unterschiedlichen Baumarten vor 3 000–4 000 Jahren zu faunistisch besonders reichen Mischwäldern (z.B. Tannen-Buchenwald, Fichten-Tannen-Buchenwald), in denen die Rotbuche eine markante Bereicherung von Struktur- und Nahrungsangebot bewirkt, da ihre winterkahle Krone deutlich mehr Sonnenlicht in das Bestandesinnere lässt, ihr Laub für Herbivore gut verwertbar ist, ihre kalorienreichen Bucheckern mitunter massenhaft geboten werden und sich Buchen-Totholz für Xylobionte hochgradig eignet. Vogelarten der Nadelwälder durchliefen in Mitteleuropa eine regional sehr unterschiedliche Siedlungsgeschichte. Zwar gab es seit der Allerödzeit (vor rund 10 000–12 000 Jahren) Kiefern in Waldsteppe und Taiga, doch wurden diese Koniferen in der Wärmezeit (vor rund 8 000–9 000 Jahren) auf überwiegender Fläche von den Laubbaum­arten wieder abgedrängt. Lichte Kiefernbestände überdauerten am Alpenrand, durchmischt mit Haselbüschen. Doch den Gebirgswald prägten bereits lockere Nadelwälder aus Zirbe und Lärche bis zur Baumgrenze. Aus dem glazialen Refugium am Balkan drängte die Fichte nach Nordwest vor, erreichte den Alpenrand vor etwa 7 500–8 500 Jahren und stieg nur 1 000 Jahre später bereits bis in den subalpinen Nadelwald. Seit etwa 4 500–6 000 Jahren dominiert sie den Gebirgswald dieser Höhenstufe, von der merklichen Abkühlung in der Nach-Wärmezeit profitierend (Kral 1985, Küster 1999). Damit war im Bergland für Tannen- und Haubenmeise, Ringdrossel, Dreizehenspecht und Sperlingskauz sowie Auerhuhn ein langes Siedlungskontinuum gesichert.

3.1 Geologie und Waldböden

Der geologische Untergrund bestimmt über die Tiefgründigkeit des Wurzelraums, die Fähigkeit zur Wasserspeicherung und Bodenfeuchte sowie über Skelettanteile und Verwitterungsprodukte das Wuchspotential der Waldbäume (inkl. Wuchstempo und Stammquerschnitt, Stammfläche und Kronenbreite, Baumhöhe und Kronenlänge), aber auch über die Stabilität des Bestandes (inkl. Lebenserwartung und Störungsrisiko). Für die Waldvögel bietet der Waldboden selbst einen Nahrungsraum (für herbivore, und insektivore Bodenvögel, Vertebratenjäger), wobei das Nahrungsangebot je nach Humusbildung, Streuauflage, Lagerholz und Vegetation sehr unterschiedlich sein kann. Unge2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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störte Böden speichern Streu und Moderholz über Baumgenerationen, wichtige Basis komplexer Nahrungsnetze, durch die Pilze, Flechten, Algen und die artenreiche Bodenfauna funktionell verknüpft sind. Die störungsfreie Bodenbildung gilt entsprechend als naturschutzfachliches Bewertungskriterium (Übersicht in Scherzinger 1996). Auf „sauren“ Böden über kristallinem Grundgestein kann nur ein kleiner Ausschnitt der heimischen Bodenflora Fuß fassen. Das begünstigt – neben Moosen, Farnen, Bärlappen – die Heidekrautgewächse (Vaccinien). Ein reiches, flächenhaftes Vorkommen von Heidekraut, Heidelbeere (auf anmoorigen Waldböden auch Rauschbeere) und Preiselbeere ist in weiten Teilen Mitteleuropas Voraussetzung für ein vitales Auerhuhnvorkommen. Je nach Entwicklungsstufe und Jahreszeit nutzen die Waldhühner Triebe, Knospen, Beeren oder die darauf lebenden Insekten (vgl. Scherzinger 2003). Auf anmoorigen Böden gedeiht auch das Scheidige Wollgras, dessen Blüten für die Eiweißversorgung der Auerhenne wichtig sind. Auf basischen Böden über kalkhaltigem Gestein kann sich eine wesentlich artenreichere Flora ausbilden, die über ihr Blütenangebot den Reichtum an Insekten fördert. Verkarstete Böden lassen nur ein schütteres Waldwachstum zu, das vor allem Vogelarten aus Strauchschicht und Parklandschaft besiedeln können. Staunasse und versumpfte Böden hemmen das Baumwachstum; nur an verfestigten oder erhöhten Stellen können Baumhorste Fuß fassen. In solche Bruchwälder zieht sich der Kranich zurück. Das flache Wasser bietet Schutz vor Prädatoren und ist Jagdgebiet in einem.

3.2 Avifaunistisches Lebensraumpotential typischer Waldgesellschaften

Die Wälder Mitteleuropas sind durchwegs durch menschliche Eingriffe geprägt. Spätestens seit jungsteinzeitliche Ackerbauern Bäume für Anbauflächen rodeten und ihr Vieh in die Wälder trieben, sind anthropogene Einflüsse nachweisbar, z.T. bis an die Waldgrenze (vgl. Kral 1985, Cerwinka & Mandl 1996). Von Urbarmachung und Melioration waren keineswegs nur die fruchtbaren Böden in den Niederungen und im klimatisch günstigen Hügelland betroffen, wo der ursprüngliche Wald auf überwiegender Fläche beseitigt und Restflächen durch Austausch der Baumarten meist gravierend verändert wurden. Vielmehr reichen Rodungs- und Siedlungstätigkeit weit in die Alpentäler, klettern über die Berghänge bis in steilste Lagen und haben nur die landwirtschaftlich ungeeigneten Gebiete ausgespart. Mittels heutiger Erschließungstechnik sind aber selbst die peripheren Gebirgswälder und Hochalpen für Forstwirtschaft, Jagd, Almweide und Tourismus sowie Transitverkehr nutzbar geworden. Folgende Kurzbeschreibung einzelner Waldgesellschaften orientiert sich dennoch am „Urwald“ als natürlichem Vorbild (soweit bekannt oder rekonstruierbar), da arttypische Abnischung, spezifische Anpassung und die heutige Gefährdung einzelner Vogelarten oft erst aus dem Kontext zum Ressourcen- und Requisitenangebot der ursprünglichen Waldlebensräume verständlich werden. – Von der Vielzahl der für unseren Raum definierten Biotoptypen in Wäldern seien aber nur die prägnantesten Waldtypen – stark vereinfachend und primär in Bezug zum Lebensraumangebot für Vögel – zusammengefasst. Die Auswahl

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Abb. 2.10: Vogelgemeinschaften der Bergwälder werden typischerweise von nur wenigen Vogelarten dominiert, der Großteil kommt in nur geringer Dichte vor. Im Beispiel des Hochlagenwaldes im Inneren Bayer. Wald stellen 4 dominante Singvogelarten 62 % des Gesamtbestandes (von insgesamt 67 Vogelarten bzw. 1 326 Individuen; Scherzinger 2006.a).

folgt im Wesentlichen den Höhenstufen bis an die Waldgrenze. (Als Übersicht der Waldgebiete und Wuchsbezirke Österreichs sowie ihrer Höhenzonierung vgl. „Atlas der Brutvögel Österreichs“ von Dvorak et al. 1993; zur Beschreibung einzelner für den Vogelschutz bedeutender Waldgebiete Österreichs vgl. „Important Bird Areas in Österreich“ von Dvorak & Karner 1995; zu den „Urwaldgebieten Europas“ vgl. Mayer 1986). Für die Avifauna der Wälder ist eine sehr ungleiche Verteilung der Siedlungsdichte auf die einzelnen Arten charakteristisch, da der Großteil aller Vogelindividuen stets nur durch wenige Arten repräsentiert wird, das Gros der Vogelarten hingegen in nur geringer Dichte vorkommt (vgl. Glutz v. Blotzheim 2001). In der Reihung der Dominanzen kommt diese „schiefe“ Verteilung besonders deutlich zum Ausdruck: Im Beispiel eines urwaldartigen Bergmischwaldgebietes im Inneren Bayer. Wald (700 m NN) erreichten von 43 Vogelarten im Sommerbestand die 10 dominanten Arten (Anteil am Gesamtbestand jeweils > 3 %) in Summe 62,3 % der Gesamtdichte (mit 5 eudominanten Arten [Anteil > 5 %]; an der Spitze Buchfink [12,2 %], Tannenmeise, Kohlmeise und beide Goldhähnchen). Noch einseitiger war die Verteilung im Winter, wo von 23 Vogelarten 11 dominante Arten in Summe 89,6 % der Gesamtdichte stellten (davon 9 eudominante Arten; mit Kohlmeise [17,4 %], Tannenmeise [15,5 %], Wintergoldhähnchen [12,1 %], Buntspecht, Waldbaumläufer, Kleiber an der Spitze). Dieses Phänomen verschärft sich mit steigender Seehöhe bzw. raueren Umfeldbe-

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dingungen. Im Hochlagenfichtenwald in über 1  000  m Seehöhe stellten von 30 Arten im Sommerbestand 7 dominante Arten 71,5 % der Gesamtdichte (an der Spitze 3 eudominante Arten; Buchfink [20,8 %], Wintergoldhähnchen [18,3 %], Tannenmeise [12,2 %]; Scherzinger 1985). Infolge einer starken Fichten- und Buchenmast wurde die Dominanzreihung im Bergfichtenwald (1100–1300  m NN) durch die Invasionsvögel noch stärker verzerrt: Von 71 Vogelarten im Frühlingshalbjahr (Januar bis Juni) erreichten 6 dominante Arten einen Anteil von 69,4 % der Gesamtdichte. (Allein die 3 eudominanten Arten Erlenzeisig [29,8 %], Bergfink [20,2 %] und Buchfink [7,7 %] belegten 57,7 % der Gesamtdichte; Scherzinger 2006.a; vgl. Abb. 2.10). 3.2.1 Auenwald Im Wirkungsbereich jährlicher Hochwässer und der Grundwasserströme entlang der großen Flüsse durchleben Auwälder eine auffällige Dynamik. Ergießen sich gewaltige Wassermengen ins Tal, treten Bäche und Flüsse über die Ufer; selbst Land weit ab vom Strom wird überflutet und im Strömungsbereich werden Bäume mitgeschleppt und ganze Uferbänke fortgerissen (Foto 2.27). Unglaubliche Massen an Schotter und Sand, Treibholz und aquatischen Organismen werden umgelagert. Zum andern jedoch können Auen bei Niedrigwasser trockenfallen, Altarme veröden und große Mengen an organischem Material verwest. Der Auenwald reagiert auf diesen wiederkehrenden Milieuwechsel mit einer außerordentlichen Diversität im Waldbestand. Die rohen Standorte werden dabei von eher kurzlebigen Weiden, Erlen, Pappeln und unterschiedlichen Sträuchern besiedelt. Eine solche Weichholz-Aue profitiert vom hohen Nährstoffangebot in frisch aufgelandetem Schlick und Flusssand. Waldvögel aus jungen Sukzessionsstadien (z.B. Grasmücken, Laubsänger, Goldammer) treffen z.B. auf Sumpfrohrsänger, Gartengrasmücke, Nachtigall im gebüschhohen Pionierwald; mitunter gründen auch Nachtreiher ihre Kolonien im Dickicht des Pionierwaldes. Im rasch aufwachsenden Baumholz aus Weiden, Espen, Erlen und Silberpappeln finden sich Kleinspecht, Grünspecht, Wendehals, zumal die Bäume schon früh Totholz ausbilden und auch reichlich Schwemmholz anlandet. Abseits der Strömungsgewalt des Hochwassers können sich langlebige Laubbaumarten ansiedeln. Wenn auch die Bäume dieser Hartholz-Aue oft wochenlang unter Wasser stehen, so bilden sie mit ihrem bunten Artengefüge einen außerordentlichen Lebensraum, in dem sich die höchste Artenzahl an Waldvögeln beobachten lässt. Das liegt zum einen am hohen Anteil der präferierten Baumarten (wie Baumweiden, Schwarz-Pappel, Eiche, Ulme, Linde, Esche, auch Walnuss), typischerweise von wildem Hopfen, Wildem Wein und anderen „Lianen“ überwuchert, bei meist dichtem Unterwuchs aus Brennnesseln und diversen Sträuchern. Zum anderen wirkt die üppige Produktivität der Vegetation auf die Singvogeldichte zurück, örtlich noch verstärkt durch den Nährstoffeintrag über die Fischfresser (z.B. Kormoran, Graureiher, Schwarzstorch, Seeadler), deren Kot den Boden unter den Horsten bzw. Kolonien eutrophiert. Förderlich ist auch das hohe Totholzaufkommen durch Kronenbruch und Baumsturz, letztlich die Vernetzung der Baumbestände mit Röhrichten, Auenwiesen und unterschiedlichsten Gewässertypen zwischen Fluss, Altarm und Tümpel. Das hohe Beuteangebot an Insekten, Fischen, Amphibien, Reptili-

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Foto 2.27: Die saisonale Fluss-Dynamik bewirkt in Auwäldern nicht nur eine kleinräumige Verzahnung von Gewässern, Schlick- und Schotterböden, Auenwiesen, Weichholz- und Hartholzbeständen, sie drückt auch Schwemmholz in die Seitenarme. Diese hohe Standortsdiversität spiegelt sich in einer außergewöhnlichen Diversität der Avifauna wider (Nationalpark Donau-Auen, NÖ).

en und Kleinsäugern vermag entsprechend viele verschiedene Vogelarten zu ernähren. Im Ergebnis findet sich hier eine beeindruckende Palette an Vögeln unterschiedlichster Nestund Nahrungsgilden, vom Zaunkönig bis zum Pirol, vom Eisvogel bis zum Weißstorch. Flade (1994) nennt an weiteren Vogelarten Schwanzmeise, Beutelmeise, Schlagschwirl, Gelbspötter, Turteltaube, Waldkauz, Schwarzmilan, Grün- und Grauspecht sowie Kranich, denen im Auwald die Funktion von Leitarten zukommt. (Auf die Artenlisten aus dem Nationalpark Donau-Auen und den Marchauen sei hier beispielhaft verwiesen). 3.2.2 Eichen-Hainbuchen-Mischwald Im Hinblick auf die Waldgeschichte zählt die Eiche zu den ältesten bestandsbildenden Baumarten in Mitteleuropa. Einerseits selbst lichtbedürftig lässt die Eiche mit ihrer breitastigen Krone relativ viel Licht bis zum Waldboden, was eine artenreiche Strauchschicht und Bodenvegetation zulässt, zumindest im feuchteren Frühjahr. Im Laufe eines mehrhundertjährigen Lebens entfalten Eichen eine Reihe avifaunistisch relevanter Merkmale, wie ausgeprägte Borkenrauigkeit, voluminöse, hochgewölbte Baumkronen (Kronenrauigkeit), massige Starkäste, Risse, Höhlungen und Totholzanteile sogar in der vitalen Krone. Neben der harten, eher glattrindigen Hainbuche sind meist auch Linde, Ulme, Esche und Ahornarten eingesprengt, die bei meist geringerer Wuchsleistung eher die Mittelschicht im Kronendach bilden. Dieser Waldtyp ist durch langjährige Konti2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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nuität charakterisiert, zumal der Baumartenwechsel hauptsächlich Mischbaumarten mit geringerer Lebenserwartung betrifft. Da Eichenwälder vor allem in Trockengebieten überlebt haben, sind sie grundsätzlich feuergefährdet. Die starke Eichenborke schützt zumindest vor Bodenfeuern, denen die Mischbaumarten mit glatter und relativ dünner Borke nicht standhalten können. – Aus der Fähigkeit großer Weidetiere, durch Weidedruck und Verbiss ein System baumfreier Lücken in lichten Laubwäldern zu erhalten, wie es eine Voraussetzung für die Verjüngung der lichtbedürftigen Eiche zu sein scheint, wurde in jüngerer Zeit die These einer mutualistisch entwickelten Abhängigkeit zwischen dem Fortbestand der Eiche und dem Fraßdruck Foto 2.28: Wegen ihres hohen Stellengroßer Pflanzenfresser abgeleitet (Wallis de Vries werts als Requisite und Ressource prägen 1999, Vera 2000). bereits einzelne Alteichen das ArtengefüDie Bedeutung von Alteichen für die Vogelwelt ge der Vogelwelt im Laubmischwald. wurde wiederholt bestätigt, vor allem die teils hohe Übereinstimmung heutiger Faunenlisten mit der ursprünglichen Artenausstattung im eichengeprägten Altbestand (Foto 2.28). Bereits einzelne Alteichen im Laubmischwald erhöhen das Lebensraumpotential für Wendehals, Mittelspecht, Grau- und Schwarzspecht; auch Mauersegler. Als weitere Leitarten zählt Flade (1994) Sumpfmeise, Gartenbaumläufer, Kleiber und Trauerschnäpper auf. Aufgrund der meist wärmebegünstigten Eichenstandorte brütet hier auch der Rotmilan. – Bemerkenswerte Beispiele an Eichenmischwäldern finden sich z.B. im Weinviertel, in Teilen des Wienerwaldes und dem Hügelland zwischen Burgenland und Oststeiermark. 3.2.3 Buchenwald Buchen wirken aufgrund ihres starken Schattenwurfs, ihrer für manche Baumsämlinge toxischen Laubstreu und der meist gut ausgebildeten Vorverjüngung unter dem Schirm dominant über andere Baumarten, speziell über die lichtbedürftigen Eichen, Kiefern oder Lärchen. Diese Konkurrenzkraft kann auf entsprechenden Standorten zu landschaftsprägenden Buchen-Reinbeständen führen. Diese erscheinen oft gleichförmig, mit glatten und astfreien Stämmen, bei weitgehend fehlender Krautschicht unter einem einschichtig geschlossenen Kronendach. Nach Sturz alter Bäume werden die Lücken meist durch die im Schatten wartende Buchenverjüngung gleich wieder geschlossen; nur ausnahmsweise entstehen Öffnungen ausreichender Größe, die Hochstauden (wie Himbeere, Weidenröschen), Sträuchern (wie Roter Holunder) oder Pionierbäumen Raum geben (wie Vogelbeere). Trotz hoher Produktivität wirken solche Hallenbestände zunächst vogelarm (Neuert et al. 2001; Foto 2.29). Ihre Artenausstattung beschränkt sich in etwa auf Kohl- und Blaumeise, Amsel und Singdrossel, Waldlaubsänger, Kleiber und Buchfink,

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Foto 2.29: Buchenwälder neigen zu hallenartigem Aufbau mit mehr/minder geschlossenem Kronendach, dessen Schattenwirkung kaum Boden- oder Strauchvegetation aufkommen lässt (Wienerwald).

Ringeltaube, Bunt- und Schwarzspecht. Als Nachfolger der Höhlenbauer kommen noch Halsbandschnäpper und Hohltaube hinzu, eventuell Raufußkauz; ausreichend starke Kronen vorausgesetzt auch Habicht und Schwarzstorch (vgl. Flade 1994, Scherzinger & Schumacher 2004). Tatsächlich formen bei der Buche erst die reifen Altersklassen die faunistisch attraktiven Merkmale, wie grobrissige Borke, Risse, Klüfte und Bruchstellen, die sich zu Höhlen ausweiten können. Ein eindrucksvolles Beispiel bietet der Tiefland-Buchenwald im Reservat „Heilige Hallen“ (Mecklenburg-Vorpommern) in seiner Zerfallsphase: Aus den Kronen der säulenhaften Giganten brechen zunächst starke Äste, später ganze Kronen heraus, sodass letztlich nur noch die massigen Baumstümpfe stehen bleiben. Jüngere Buchen aus dem Unter- und Zwischenstand schieben sich in die freigewordene Position, sodass Uraltbäume, Baumskelette und vitale Buchen in enger Nachbarschaft stehen, und damit wohl einen Höhepunkt an Strukturvielfalt erreichen (Neuert et al. 2001). In dieser Altersphase erlebt die Vogelwelt einen merklichen Zuwachs. Im vitalen Zwischenstand finden sich Rotkehlchen und Mönchsgrasmücke, im Altholz Sumpfmeise und Waldlaubsänger. Vor allem profitieren die Höhlenbrüter und Totholznutzer von der Entwicklung, wie Gartenbaumläufer, Zwergschnäpper, Klein- und Mittelspecht, Grau- und Weißrückenspecht, Wald- und Habichtskauz, Mäusebussard; eventuell auch Mauersegler. In Nord- und Ostdeutschland bauen Kolkrabe, Schrei- und Seeadler ihre Horste in großkronigen Altbuchen. Im von Buchen dominierten Sofien-Urwald, im Tschechisch-Österreichischen Grenzgebiet, stellten Bürger & Kloubec (1994) unter 43 Vogelarten 36 % an Höhlenbrütern fest (darunter Weidenmeise, Zwergschnäpper, Sperlingskauz, Hohltaube). Im von Linden begleiteten Buchenurwald Hrby tieferer Seehöhe waren es sogar 59 % der Vogelarten. Die Autoren nennen die hohe Abundanz von 50–60 Bp./10 ha als typisch für altersreife Buchenwälder. Der Zyklus aus Zerfall und Erneuerung dauert im Beispiel eines kollinen Buchenwaldes etwa 200 Jahre und verläuft in klein verschachtelten patches, i.R. ohne flächigen Zusammenbruch. Da die Altbuchen vorwiegend Buchenjungwuchs begünstigen, kommt es

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in dieser Waldgesellschaft höchstens nach katastrophenartigem Zerfall zu einem Baum­ artenwechsel. Aufgrund der großen Wurzelballen gelten Buchen als relativ sturmfest. Auf tiefgründigen Waldböden ist deshalb Windbruch wahrscheinlicher als Windwurf. Bei flachgründigen Böden können sie aber nur flache Wurzelteller ausbilden und sind dann hochgradig sturmgefährdet (z.B. magerer Kalkschutt). Waldbrand ist im Buchenwald unwahrscheinlich, doch sind Jungpflanzen durch Bodenfeuer gefährdet. Je nach Bodenbonität kann die Buche mit der Eiche eine Gesellschaft eingehen, die aufgrund der Vorteile, die Eichen selbst in jungen Altersklassen oder im Zwischenstand für die Vogelwelt bieten, faunistisch sehr attraktiv ist. Beispiele für solche artenreichen Bestände gibt es z.B. aus dem Wienerwald (vgl. Berg & Zuna-Kratky 1992, ZunaKratky 1994). Ebenso bringt die Vergesellschaftung der Buche mit der Tanne eine Erhöhung der Artenzahl, da bereits wenige eingesprengte Nadelbäume die Habitatbedingungen für Sommergoldhähnchen, Waldbaumläufer oder Raufußkauz verbessern. Bei hoher Populationsdichte siedeln sogar Auerhühner im Tannen-Buchenwald. Im Gegensatz zum Buchen-Eichen-Mischwald potenziert sich aber im Tannen-Buchen-Mischwald der Beschattungsgrad, mit merklichem Einfluss auf die Bodenvegetation. Zur Wahrung der Naturschutz-fachlichen Verantwortlichkeit gegenüber der Biodiversität des Buchenwaldes haben die Verwaltungen reliktärer Buchenwaldgebiete Deutschlands bei der UNESCO einen gemeinsamen Antrag für das Prädikat „Welt-Naturerbe“ gestellt. Österreich beherbergt speziell im äußeren Ötschergebiet noch sehr naturnahe Bestände dieses Biotoptyps, und weist allein im Wienerwald noch wesentlich größere Flächen an Buchen-reichen Altbeständen auf. (Berg & Zuna-Kratky 1992, ARGE Wienerwald 2002). 3.2.4 Bergmischwald Im Montanwald hat sich die Laubbaumart Buche (auch Spitz- und Bergahorn, Vogelkirsche, Esche) mit den Nadelbaumarten Tanne und Fichte zu einer eigenständigen Waldgesellschaft vereinigt, von der es auch in Österreich noch sehr imposante Zeugnisse natürlicher Wuchskraft gibt (z.B. Rothwald/NÖ). Die hohe Stabilität solcher Bergmischwälder beruht zum einen auf der Langlebigkeit der Tanne, die mit tiefer Wurzel und hohem Wipfel wie ein „Stützgerüst“ fungiert. Vor allem aber wird die erstaunliche Langzeit-Konstanz der Bestände durch die Baumartenmischung erreicht, die trotz eines permanenten Umbaus im Inneren einen stets mehrschichtigen Bestandsaufbau ermöglicht. Die Verjüngung erfolgt in kleinen Lücken, wie sie durch Umstürzen großer Einzelbäume oder kleiner Baumtrupps entstehen. Nach einem idealisierten Modell wachsen – je nach Helligkeit im Lichtschacht – Fichte (lichtbedürftig), Buche (Halbschattentolerant) oder Tanne (Schatten-tolerant) auf, wobei ein kleinräumiger Baumartenwechsel typisch ist. Dieses Ineinandergreifen verschiedener Baumarten in verschiedener Wuchshöhe, Dimensionierung und Altersklasse bewirkt eine dicht gestufte Plenterstruktur, wie sie den Wald bestmöglich gegen exogene Störungen abzupuffern vermag (vgl. Leibundgut 1981, Mayer 1986, Schrempf 1986, Zukrigl 1991; Foto 2.30, Bildteil). Kleinräumig durchläuft natürlich auch der Bergmischwald eine Sequenz von Waldent-

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Abb. 2.11: Die Lebensraumqualität für Waldvögel ist in „Urwäldern“ keineswegs gleichmäßig gegeben. Die Darstellung des Artenreichtums im kleinteiligen Gitterfeld (50 x 50 m) lässt eine deutliche Differenzierung in Optimalgebiete (Uraltbestände in der Zerfallsphase; bis zu 22 Vogelarten/Gitterfeld) und Pessimalgebiete (kalte Quellmulden und buchenreiche Stangenhölzer) erkennen (Fichten-Tannen-Buchenwald, 46  ha; aus Scherzinger 1985).

wicklungsphasen, mit besonders hohen Artendichten in der totholzreichen Zerfallsphase. Im Beispiel eines urwaldartigen Bestandes im Mittelgebirge des Inneren Bayer. Waldes registrierte Scherzinger (1985) insgesamt 50 Vogelarten (auf 46 ha Reservatsfläche, 700–810 m NN), bei einer kleinräumigen Differenzierung innerhalb des Waldgebietes: Die höchste Artendichte – mit bis zu 22 Vogelarten pro ¼ ha (entspricht Gitterfeld von 50 x 50  m) – fiel auf grit-Flächen mit maximalem Mischungsgrad und lückig-gestuftem Aufbau in Sonnenlage (Abb. 2.11). Wipfelbruch einiger Uralttannen und große Pilzkonsolen auf Altbuchen kündigten den Beginn der Zerfallsphase an. Bei insgesamt 183 kontrollierten Gitterfeldern lag die gemittelte Artendichte bei 8,9; die niedrigsten Werte fielen auf hallenartige Bestände mit geschlossener Buchenverjüngung im Unterstand (sowie auf kalte Quellmulden). In Summe kamen 49 Vogelarten auf Flächen mit ausgereiftem Bergmischwald vor, im Vergleich zu nur 35 im Fichten-Buchenmischwald innerhalb desselben Reservats (Artenidentität 65 %). Nimmt man die Häufigkeit von Vogelbeobachtungen als indirektes Dichtemaß, kamen 78 Beob./ha auf den reifen und artenreichen Mischwald, und – abgestuft – jeweils 40,7 Beob./ha auf das Baumholzalter und 14 Beob./ha auf buchenreiche Dickungen. Entsprechend der sehr schneereichen Winter im Gebiet erreicht die Artenzahl des Winterbestands nur 50  % des Brutzeitbestands, doch kann der saisonale Wechsel der Habitatqualität durch das immergrüne Nadelkleid der Koniferen im Bergmischwald bes-

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ser abgepuffert werden als im reinen Buchenwald. Hier sei darauf hingewiesen, dass sich die überwinternden Standvögel zu einem hohen Prozentsatz aus Höhlenbrütern (56,5 % der überwinternden Arten), darunter 7 Stammabsuchern, zusammensetzten. – Trotz der niederschlagsreichen Gebirgslage wurden im und um das bedeutendste Urwaldgebiet Österreichs, dem Rothwald, bisher sogar rund 70 Brutvogelarten auf 24  km2 Fläche bestätigt (Leditznig & Pekny 2008). Aufgrund des Verbreitungsschwerpunkts im Gebirge ist der Bergmischwald extremen Wetterereignissen ausgesetzt. Stürmen mit Orkanstärke und nassem Lawinenschnee kann auch das stabile Gefüge im Mischwald nicht standhalten. Auf Störungsflächen läuft eine sehr artenreiche Sukzession ab, die z.B. wegen des hohen Angebots an Beerensträuchern für die Vogelwelt sehr attraktiv sein kann (vgl. Kap. 3.3). 3.2.5 Kiefernwald Rot- und Schwarzföhren wurden besonders auf wasser- und nährstoffarmen Böden zu großflächigen Forsten angepflanzt. Das natürliche Verbreitungsgebiet ist aber auf wenige Sonderstandorte mit geringer Konkurrenz für diese Hitze- und trockenheitstolerante Nadelbaumart beschränkt. Insbesondere gilt das für die Schwarzföhre, die mit einer bodenständigen Unterart vor allem die heißen Kalkfelsen an der Thermenlinie besiedeln konnte, dort aufgrund der Gebirgsmorphologie aber kaum großflächig geschlossene Bestände bildet. Zur ornithologischen Bedeutung dieses Kiefernvorkommens liegen kaum Arbeiten vor, was vermutlich in der räumlichen Überlappung mit den gleichförmigen und strukturarmen Kiefernaufforstungen liegt, die nur von wenigen Nadelholz-Ubiquisten aufgesucht werden. Als tragende Baumart im Schneeheide-Kiefernwald hat hingegen die Waldkiefer (Rotföhre) eine bedeutende Verbreitung in den unteren Bergstufen erreicht. Auf meist steilen, stark besonnten und wasserdurchlässigen Böden im Kalkgebirge besetzt sie extreme Standorte. In meist sehr schütterem Bestand überschirmt sie, oft nur einzelbaumweise, eine dichte Bodenvegetation, in der Erika und Waldreitgras dominieren. Sowohl das stark durchbrochene Kronendach als auch die trocken-heiße Exposition schränken die Artenvielfalt in der Vogelwelt stark ein. Neben Tannen-, Hauben- und Weidenmeise und den Goldhähnchen als Nutzer der Kronenschicht können Laubsänger und Gimpel beobachtet werden, soweit Gebüsch und Beerensträucher kleinräumig eingesprengt sind (z.B. Faulbaum, Wacholder). Die Misteldrossel nutzt das Beerenangebot in der Baumschicht (Mistel, Vogelbeere). Bei ausreichendem Dichtstand nutzt das Auerhuhn das Kiefernangebot, wobei oft schon kleinere Gruppen von Altkiefern im Fichten-Tannenwald zur maßgeblichen Bereicherung des Auerhuhn-Habitats beitragen. In manchen Regionen bevorzugt der Schwarzspecht hochstämmige Kiefern zum Höhlenbau. Als Folgenutzer kommt vor allem der Raufußkauz in Frage, doch benötigt dieser relativ frische Standorte mit geschlossenem Baumbestand. Weiters können Wendehals, eventuell auch der Mauersegler in Buntspechthöhlen brüten. Der Dreizehenspecht, typischer Bewohner der Kiefernwälder in Fennoskandien, fehlt in den trocken-heißen Schneeheide-Kiefernwäldern. Den Habitat-Ansprüchen von Baumpieper

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Foto 2.31: Natürliche Kiefernwälder sind durch großkronige Altbäume charakterisiert, deren lockerer Stand ausreichend Licht für eine Bodendecke aus Gräsern und Zwergsträuchern durchlässt (Naturwaldreservat, Schottland).

und Heidelerche kommen die großen Bestandslücken entgegen. In heideartig lückigem Kiefernwald brütet der Ziegenmelker. In Samenjahren nutzen Kreuzschnäbel und Buntspecht dieses Angebot, mitunter auch der Tannenhäher. Greifvögel und Uhu schätzen die Wipfel exponierter Kiefern als Ansitz, zumal in den aufgeheizten Hängen eine gute Thermik herrscht. Aufgrund der kargen Standortsverhältnisse wachsen Waldkiefern meist sehr langsam (Foto 2.31). Noch langsamer verläuft der Zersetzungsprozess von Kiefern-Totholz, speziell in trocken-heißer Lage. Altkiefern mit Wipfelbruch bleiben daher stabil, und können noch über Jahre z.B. als Horstbaum dienen. Der hohe Gehalt an ätherischen Ölen in den Kiefernnadeln, gepaart mit trocken-heißem Standort, birgt ein hohes Potenzial für heiße Kronenfeuer, speziell wenn reichlich dürre Nadelstreu sowie Ast- und Wipfelholz zur Verfügung stehen. 3.2.6 Fichtenwald Natürliche Fichtenwälder sind auf kühle Klimate, meist auch geringe Bodenbonitäten beschränkt. Ihre primäre Verbreitung haben sie in kalten Depressionen des Tieflandes (z.B. Lüneburger Heide, Urwald von Białowieża), vor allem aber im Gebirgswald der Hochmontan- bis Subalpinstufe (z.B. Böhmerwald, Alpen). Fichten sind Flachwurzler, was sie anfällig gegen Trockenheit und Sturm macht. Bei exponiertem Standort sind hochwüchsige Fichten durch Blitzschlag gefährdet. Im Umkreis solcher Blitzbäume sterben meist alle Baumindividuen, die in engem Wurzelkontakt stehen. Waldbrände sind selten, betreffen am ehesten dicht stehende Baumhölzer mit einem hohen Anteil an Dürrreisig. Alle diese abiotischen und biotischen Einflüsse prägen das natürliche Gefüge eines Fichtenurwalds: Zwar wirken auch ungleichaltrige Bestände relativ einförmig, da sich im Altbestand selbst Altersdifferenzen von über 150 Jahren nicht erheblich auf die Vertikalstruktur auswirken, doch ist für die Horizontalstruktur ein abwechslungsreicherer Wechsel von Dürrlingsgruppen, Baumsturzlücken und kleinen Verjüngungs-Trupps typisch. Randständige Altfichten reichen mit ihrer langen Krone bis zum Boden (Foto 2.32). Der Waldboden weist große Mengen an Lagerholz auf, in z.T. wirrem „Verhau“; die ver2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Foto 2.32: Fichtenwälder wären von Natur aus auf kalte Talbereiche und klimatisch raue Hochlagen beschränkt. Im natürlichen Bergfichtenwald wechseln dicht stehende Baumgruppen mit tief beasteten Solitärbäumen ab; die eher spärliche Verjüngung ist – truppweise – auf anbrüchiges Lagerholz konzentriert (Bergfichtenwald, Innerer Bayer. Wald).

witterten und brüchigen Stämme sind von Moos überzogen und von Fichtensämlingen gekrönt. Aufgekippte Wurzelteller zeugen von früheren Sturmereignissen. In bodensauren Fichtenwäldern dominieren Heidelbeere, Bergreitgras, Farne und Moose in der Bodenvegetation. Auf exponierten Graten, in Lawinenbahnen und im felsigen Steilhang gedeihen Hochstauden und Grünerlengebüsch; am Rand zum Hochmoor wachsen neben einigen Latschen nur kleine, z.T. verkrüppelte Fichten. – Hier haben Auerhuhn, Dreizehenspecht, Sperlingskauz und Raufußkauz sowie Ringdrossel, Alpenweidenmeise, Tannen- und Haubenmeise, Wintergoldhähnchen und Fichtenkreuzschnabel ihren primären Lebensraum. Im stark durchbrochenen Altbestand brütet der Gartenrotschwanz, an größeren Lichtungen singt der Baumpieper. Flade (1994) nennt auch den Tannenhäher als Leitart im Bergfichtenwald. Allerdings zieht dieser die Zapfen von Spirke, Waldkiefer und Zirbe den Fichtenzapfen vor. Aufgrund der kühlen Lagen, mit häufigen Niederschlägen und Kälteeinbrüchen bleibt die Artendichte im subalpinen Fichtenwald eher auf niedrigem Niveau. Im Fichtenurwald am Brocken/Harz erfassten Hellmann et al. (1998) maximal 26–30 Arten, bei relativ geringer Siedlungsdichte (Abundanz 20 Bp/10 ha); im naturnahen Bergfichtenwald des Inneren Bayer. Wald waren es maximal 33 Vogelarten (Abundanz maximal 36 Indiv./10 ha; Scherzinger 1985). 3.2.7 Lärchenwald In meist steilen und sonnigen Hanglagen der Gebirge ist die Lärche eine dominante Baumart bis zur Waldgrenze. Je nach Untergrund und geografischer Lage wird sie von Fichten und/oder Zirben begleitet. Lärchen-Reinbestände sind eher die Ausnahme (bzw. meist durch Weidenutzung entstanden; vgl. Holzner 2007). Unter den sehr locker verteilten Bäumen, die kaum ein gemeinsames Kronendach bilden, gibt es ausreichend Licht für eine sehr bunte Vegetation aus Rhododendren, Vaccinien und blütenreichen Kräutern (Foto 2.33, Bildteil). Bei langsamem Wuchs und langer Lebensdauer der Nadelbäume, verläuft die Bestandsdynamik auf der Hoch-Subalpin-Stufe kaum merklich langsam. Selbst abgestor-

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bene und dürre Bäume bleiben noch über Jahrzehnte – nahezu unverändert – bestehen. Durch den herbstlichen Nadelabwurf kann die Lärche selbst massivem Schneedruck trotzen. Den größten gestalterischen Einfluss haben Blitzschlag, Sturm und Lawinenabgang. Zur Verjüngung benötigt die Lärche offene Böden in guter Belichtung (solche Keimungsplätze werden z.B. durch den Huftritt des Weideviehs geschaffen). Die Zirbe „verlässt“ sich auf den Tannenhäher, der die Nüsschen bevorzugt in angemorschten Baumstümpfen deponiert. Mit ihrer kugelig-dichten Krone vermeidet die Zirbe große Oberflächen als Schneeablage. Auch erwärmt sich das dunkle Nadelkleid schon bei mildem Sonnelicht und kann so die Schneelast abschütteln In ihrer Jugendphase stützen Lärche und Zirbe einander gegenseitig, weshalb diese so unterschiedlichen Nadelbäume meist in engem Kontakt beisammen stehen. Die winterkahlen Lärchen bieten den Vögeln kaum Deckung oder Nahrung, sind aber aufgrund des freien Rundum-Blicks bei Birk- und Auerhahn als Balzbaum beliebt. Frisch austreibende Knospen bieten für Raufußhühner eine eiweißreiche und leicht verdauliche Nahrung im Frühling. Die sehr feinen Lärchensamen ernten vor allem Zeisige, z.T. auch Kreuzschnäbel. Wesentlich ergiebiger sind die holzigen Nüsse der Zirbe, deren schwere Zapfen vom Tannenhäher gepflückt und ausgebeutet werden. Alle Nadelbaumarten dieser Höhenstufe können vom Dreizehenspecht durch Ringeln genutzt werden. Für den parkartig aufgelockerten Lärchen-Zirbenwald sind Birkhuhn, Tannenhäher, Ringdrossel, Alpen-Weidenmeise, Erlen- und Birkenzeisig und Heckenbraunelle charakteristisch; nur regional kommen Berglaubsänger und Zitronengirlitz vor. Aus der Überlappungszone mit dem subalpinen Fichtenwald dringen neben Waldbaumläufer, Wintergoldhähnchen, Haubenmeise, Gimpel, Fichtenkreuzschnabel, Misteldrossel auch Kuckuck, Sperlingskauz (seltener Raufußkauz), Grau- , Bunt- und Dreizehenspecht (seltener Schwarzspecht), vereinzelt sogar das Auerhuhn herauf. Auch reicht dieser Biotop-Typ in die Reviere von Steinadler, Alpendohle, Kolkrabe, Hausrotschwanz und Bergpieper (vereinzelt auch des Rotsternigen Blaukehlchens). Wegen der sehr harten Lebensbedingungen ist der winterliche Vogelbestand in dieser Höhenstufe stark ausgedünnt, doch bleiben z.B. Weidenmeise, Kreuzschnabel, Dreizehenspecht und Birkhuhn im Gebiet.

3.3 Raum-Zeitmuster der Waldentwicklung

Wälder unterliegen einem steten Wandel, der alle Merkmale des strukturellen Bestandsaufbaus, der Baumartenmischung, der Altersklassenverteilung, des Totholzaufkommens betreffen kann, ja sogar die flächenhafte Dominanz von Bäumen einschränken kann (vgl. Kap. 2.5). Mit dem Leitspruch „nichts ist konstant, außer der Wandel“ hat Leib­ undgut (1981) dem traditionellen Bild vom „urewig-stabilen“ Wald ganz fundamental widersprochen. Eine vollkommene Stabilität – im Sinne von Statik – kann es in belebten Systemen grundsätzlich nicht geben, da (abgesehen von langfristigen Änderungen der Standortsbedingungen) allein der Rhythmus aus Geburt, Wachstum, Alterung und Tod der Organismen bereits fortlaufende Veränderungen nach sich zieht. Es stellt sich 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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hier aber die Frage nach Dimension und Amplitude dieser Dynamik, ob sie den Sturz einzelner Bäume betrifft, die rasch durch die wartende Verjüngung wieder ersetzt werden, ob große Lücken in den Bestand gerissen werden, auf denen eine Sukzession über Pionierpflanzen zu Verjüngung und späterem Lückenschluss führt, oder Baumbestände großflächig zugrunde gehen, vorübergehend sogar durch baumfreie Folgegesellschaften ersetzt werden, die erst über zahlreiche Zwischenstufen zur Wiederbewaldung kommen. Für das Lebensraumangebot waldbewohnender Vögel sind die Auswirkungen solcher Störungsmuster von essentieller Bedeutung, entscheiden sie ja nicht nur über die Qualität (source oder sink-Habitat) sondern auch über die Quantität (verfügbare Flächengröße), letztlich über die Verteilung von Lebensraum-patches in der Landschaft (Fragmentierungseffekte, Biotop-Verbundsystem, großräumig interagierende Meta-Population). – Bei aller Vielfalt möglicher Entwicklungswege sind 3 Kenngrößen entscheidend, ob sich ein Baumbestand zum mehr-hundertjährigen Uraltwald entwickeln kann, oder durch endogene und/oder exogene Störungen in seiner Entwicklung immer wieder zurückgeworfen wird: Das sind Intensität, Raum und Zeit der Störungsmuster (vgl. Scherzinger 2005.b). Von hochgradig stabilen Waldlebensräumen profitieren die „echten“ Waldvogelarten, die an die Strukturen von Uraltbäumen in mehr/minder geschlossenen Waldlandschaften gebunden sind. Zu den typischen Arten des Wald-Innenklimas zählen die Stammabsucher (allen voran die Spechte; ausgenommen Wendehals und Grünspecht), kleine Höhlenbrüter (wie Fliegenschnäpper), das Auerhuhn oder einige störungsempfindliche Großvögel (wie Schwarzstorch, Schreiadler). Unter einem weitgehend geschlossenen Kronendach sich „endlos“ ausbreitender Wälder sind licht- und wärmebedürftige Arten, auch herbivore und insektivore Vögel der Boden- und Strauchschicht hingegen deutlich benachteiligt. Im Extremfall kann anhaltende Bestandeskontinuität sogar zum Artenrückgang führen, wenn z.B. das ohnehin geringe Nährstoffangebot sehr armer Böden (z.B. boreale Moorwälder) durch das kontinuierliche Baumwachstum verbraucht wird, der Boden somit aushagert und die Produktivität des Waldes absinkt. Aus dem Blickwinkel der drei Lebensraum-relevanten Kenngrößen natürlicher Störungsmuster setzt eine Langzeitkontinuität – oder gar Langzeitkonstanz – großer Waldgebiete voraus, dass Störungen bei geringer Intensität auf kleinen Flächen (Raum), mit kurzer Dauer und in großen Intervallen (Zeit) einwirken. Die Naturgeschichte des Rothwald in NÖ scheint das zu bestätigen: Aus Pollenanalyse und Dendrochronologie konnte eine zumindest 1 000-jährige Bestandskontinuität belegt werden (Schrempf 1986). Daraus lässt sich einerseits folgern, dass die Urwaldbäume gegen Sturm, Insektengradation oder Schneedruck ausreichend Widerstand aufbieten konnten, und dass die Elastizität eines Bergmischwaldes über derart große Zeiträume in der Lage war, kleinräumige Störungseffekte zu überwinden. Zum anderen lässt diese bemerkenswerte Stabilität darauf schließen, dass etwaige Störungen bisher eher kleinflächig und in großen Zeitintervallen aufgetreten sind, da sich katastrophenartige Bestandseinbrüche in Gleichaltrigkeit der Baumschicht ausgewirkt haben sollten, vermutlich auch in reduzierter Artenvielfalt. Die Spannweite natürlicher Prozesse, die Störwirkung haben können, reicht im Beispiel von Waldlebensräumen vom langsam fortschreitenden Pilzbefall bis zum stürzenden

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Foto 2.34: Zu den natürlichen Prozessen der Waldentwicklung zählen nicht nur Wachstum und Alterung der Bäume, sonder auch Verfall und Zusammenbruch. Nach dem Modell des „MosaikZyklus-Konzepts“ laufen solche Prozesse auf benachbarten Flächen desynchron und phasenverschoben ab, sodass sich im Laufe der Baumgenerationen vielfältige Flächen-Mosaike herausbilden (Remmert 1991.a.b).

Baum, vom Schneebruch im Winter bis zu Trockenstress im Sommer, von der Sturmlücke bis zum Zusammenbruch ganzer Baumbestände. Im Unterschied zum negativen Beiklang des Störungs-Begriffs in der Alltagssprache, wird dieser in der Ökologie nicht wertend verwendet, denn jeder Verlust auf der einen Seite kann einen Gewinn auf der anderen mit sich bringen. So steht außer Zweifel, dass z.B. die Diversität an Waldvögeln durch störungsbedingte Ausformung von Sonderstrukturen (aufgekippte Wurzelteller, „Verhau“ aus massigem Lagerholz, Wipfelbruch, Höhlenbildung etc.; Foto 2.34; vgl. Kap. 2.3.3) ansteigt, insbesondere durch Aufbrechen des über lange Zeit geschlossenen Kronendachs, sodass Licht und Wärme bis zum Waldboden dringen können und eine hochproduktive Sukzession in Gang setzen. Unabhängig von der Störungsursache (z.B. durch Hochwasser ausgeschwemmte Mulden oder aufgelandete „Heißländen“, durch Dürre und Feuer freigelegte Bergkuppen, schmale Sturmschneisen und „Käferlöcher“, von Großherbivoren parkartig aufgelichtete Althölzer und offen gehaltene Waldlichtungen), können größere Offenbereiche innerhalb eines reifen Altbestandes die Habitatbedingen für Vogelarten des Wald-Innenklimas erheblich verbessern (z.B. für Mönchsgrasmücke, Drosseln, Schwarzspecht, Sperlingsund Waldkauz, Habicht, Schwarzstorch und Auerhuhn; Foto 2.35, Bildteil). Zusätzlich können Vogelarten des Wald-Außenklimas angezogen werden (z.B. Grauspecht, Heidelerche, Baumpieper, Gartenrotschwanz, Gartengrasmücke, Star, Würger, Elster, Rabenkrähe, je nach Größe der Freiflächen auch Blauracke, Wiedehopf ), sodass sich die Gesamtdiversität merklich erhöht (vgl. edge-Effekt, Kap. 2.6). Entsprechend werten Müller et al. (2008) Baumsturzlücken, Lichtungen und offene Kalamitätsflächen als wichtige Ergänzung zum Lebensraumangebot der geschlossenen Wälder, da sich in Summe höchste Artenzahlen einstellen können, wobei die Xylobionten vor allem von hohem Totholzangebot profitieren, und mit ihnen die insektivoren Vögel. Im hoch überschirmten Laubmischwald von Białowieża stellten Tomialojc & Weselowski (2003) fest, dass Baumsturzlücken zwar sofort von den bereits vorhandenen Waldvogelarten besiedelt wurden, die Flächengrößen zum Eindringen der Arten des Wald-Außenklimas jedoch nicht ausreichten. Bei lichten Eichen-Kiefernbeständen ge2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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nügten hingegen kleinere Sturmlücken zur Neubesiedlung durch den Baumpieper. Auf größeren Freiflächen gesellten sich Goldammer, Neuntöter und Heidelerche hinzu (Hübner 2009). Eine vergleichbare Entwicklung beschreibt Dierschke (1976) für Sturmflächen im Kiefernwald (Lüneburger Heide), wo die Artenzahl durch Ansiedlung von Goldammer und Heidelerche auf der Freifläche, bzw. von Fitis und Heckenbraunelle im aufwachsenden Gebüsch anstieg. Mit bis zu 440 % war besonders der Dichteanstieg auffällig, wobei die Boden- und Buschbrüter den größten Anteil hatten. Obwohl nach Waldbränden weniger Rest-Strukturen bleiben als nach Sturmwurf, beschreiben Raphael et al. (1987) eine durchaus vergleichbare Reaktion der Vogelwelt während der ersten 25 Jahre: In der Boden- und Strauchschichte nimmt die Artenzahl zu, Fliegenschnäpper und holzbearbeitende Vogelarten nutzen vermehrt die Foto 2.36: Katastrophenartige Störungen können angekohlten Bestandsreste, mit Aufwachsen auch im Naturwald zum Verlust der Lebensbedes Jungwaldes steigt die Zahl blattabsudingungen für bestimmte Vogelgruppen führen – zumindest vorübergehend. Im Beispiel des chender Arten sprunghaft an. Auch im Gegroßflächigen Absterbens alter Bergfichten infolge birgswald folgt die Entwicklung der Avifaueiner Borkenkäfer-Massenvermehrung kam es na auf Sturmwurfflächen der Sukzession in innerhalb von 10–12 Jahren zum Austausch der der Vegetation: Während eines 10-jährigen Vogelarten der Stamm und Kronenschicht gegen Monitorings stellte Glutz v. Blotzheim Vögel der Boden- und Strauchschicht (sogenannter Arten-turnover; Innerer Bayer. Wald). (2001) mit der Mehrung der Phytomasse auch eine sprunghafte Zunahme der Artenund Siedlungsdichte fest. Im Jungwuchs lag die Abundanz bereits bei 53 Rev./10 ha, in der älteren Dickung bei 62 Rev./10 ha, wobei allein die Anzahl an Singdrosseln innerhalb dieser Zeitspanne um 100-400 % anstieg. – Späth (1992) vergleicht den unterschiedlichen Sukzessionsverlauf nach Windwurf, Insektenkalamität und Feuer mit ihrem jeweils anderen Struktur- und Nahrungsangebot für Vögel, wobei das Tempo der Wiederbewaldung vom Anteil nicht zerstörter Restflächen und der Bodenbonität abhängt. Ob die Störungen zu einer solchen win-win-Situation sowohl für die Innenwald- als auch für die Außenwald-Arten führen, oder doch eher zum Habitatverlust auf der einen Seite mit nachfolgendem Arten-turnover durch Ausbreitung von der anderen Seite, oder gar zum völligen Verlust der Lebensmöglichkeiten für alle Waldvogelarten, wird durch die Proportionen innerhalb der Kenngrößen Intensität, Raum und Zeit bestimmt. – Die

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Störungs-Intensität entscheidet, ob ein Waldökosystem dank Widerstand und Elastizität die Regeneration der gestörten Bereiche kurzfristig erreichen kann, oder die Entwicklung zu völlig anderen Ökosystemen führt (z.B. Heide oder Bergwiese – nach Waldbrand und Ausbleiben von Waldverjüngung; Remmert 1991.a). Im Extremfall kann es somit zum Verlust von Lebensraum und zugehöriger Artenausstattung bzw. zum Austausch ganzer Ökosysteme kommen. Empirisch gilt, dass sich die höchstmögliche Artenvielfalt bei „mittlerer“ Störung einstellt (Dierschke 1976), während sowohl Langzeit-Konstanz als auch katastrophaler Zusammenbruch von Wäldern die Artendiversität beschränken. Auf der Basis eines 12-jährigen Monitorings zur Reaktion der Vogelbestände auf das Absterben größerer Waldflächen im Fichtenwald der Kammlagen des Inneren Bayer. Waldes, ließen sich die qualitativen und quantitativen Veränderungen von der Phase ersten Borkenkäferbefalls bis zum Umbrechen der abgewitterten Totbäume beschreiben: Mit Abnadeln der alten „Käferfichten“ verlassen die typischen Vogelarten der Kronenschicht das Gebiet (Dichterückgang bei Tannenmeise 20 %, bei Sommergoldhähnchen 72 %, Wintergoldhähnchen 80 %; Foto 2.36), sie sind die klaren Verlierer. Einige anpassungsfähige Arten schienen vom gravierenden Wandel der Lebensraum-Verhältnisse zunächst kaum tangiert (wie Rotkehlchen, Zaunkönig, Buchfink); erstaunlicherweise kamen auch Kleiber und Waldbaumläufer im zusammengestürzten Stamm-Verhau noch gut zurecht. Mit dem raschen Aufwachsen der Sukzessions-Vegetation besiedelten Vogelarten der Strauchschicht das Areal in kurzer Zeit (Dichteanstieg bei Zilpzalp 64 %, Mönchsgrasmücke 72 %, Gartenrotschwanz 90 %), sie sind die klaren Gewinner, allen voran der Fitis (92 %). Mit dem Wechsel vom baumbetonten zum gebüschbetonten Lebensraum kam es zur Umschichtung des Artenspektrums (turnover), wobei im Laufe von 12 Jahren insgesamt 22 „neue“ Arten eintrafen und 25 „alte“ Arten das Gebiet verließen (Scherzinger 2006.a; Abb. 2.12.a und b). Da die Lebensmöglichkeiten von Organismen von den zur Verfügung stehenden Flächengrößen geeigneter Habitate abhängen, spielt das räumliche Ausmaß von Störungen eine fundmentale Rolle. Im idealisierten Modell des Mosaik-Zyklus brechen stets nur so viele Störungsflächen aus dem Baumbestand, wie über die Sequenz der Waldentwicklungsphasen – an anderer Stelle – wieder ersetzt werden. Je kleiner die einzelnen Störungsflächen und je kleiner die Abstände zwischen gleichartigen patches sind, desto leichter finden die einzelnen Vogelarten passende Ersatzräume. Nach diesem Modell leidet keine Art unter Habitatverlust, die patch-dynamic garantiert vielmehr die LangzeitKonstanz im Gesamtmosaik (Picket & White 1985, Remmert 1991.a,b). Als Kehrseite der Diversitätsbereicherung durch Lückenbildung steigt für kleine Höhlenbrüter der Konkurrenzdruck, sobald Stare oder Feldsperlinge die bisherigen Lebensräume der Meisen und Fliegenschnäpper besetzen (Löhrl 1990). Auch erleichtert die Fragmentierung bisher geschlossener Waldgebiete das Vordringen von Nesträubern (wie Wiesel, Iltis, Steinmarder, bis zum Wildschwein; auch Rabenkrähe, Elster), wovon vor allem die Bodenbrüter betroffen sind (Storaas & Wegge 1984). Mit zunehmender Flächengröße der nicht-bewohnbaren Matrix werden auch die Distanzen bis zur nächsten geeigneten Habitatfläche länger. Dies wirkt auf das Lebens2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Foto 2.37: Sind die zeitlichen Intervalle aufeinander folgender Störungen kürzer als das Reifungsalter der Waldbäume, kann es zur Stagnation der Vegetationsentwicklung auf frühen Sukzessionsstadien kommen (Lawinenschneise; Engadin, Schweiz).

raumpotenzial in den verbliebenen Einzel-patches zurück – unabhängig von der Habitatqualität des Waldbestandes. Zum einen kommt es zu Fragmentierungseffekten, sobald die Matrix nur noch mit großem Risiko gequert werden kann (z.B. Auerhuhn; Storch 1993). Es kommt weiters zu Isolationseffekten, sobald die Matrix als unüberwindliche Barriere wirkt, und die betroffene Vogelart die ihr verbliebene Habitatfläche nicht mehr verlassen kann (z.B. Haselhuhn vor baumfreiem Offenland). Überdauern nach gewaltiger Störung nur noch kleine Bestandsinseln und Baumgruppen auf der Katastrophenfläche, können von diesem Lebensraumangebot zwar noch mehr Arten profitieren, doch beschränkt sich der Artenzuwachs – neben den Waldrandarten – auf Vögel, die den Wald nur partiell nutzen (wie für Schlaf- oder Horstplatz). Die auf zusammenhängende Waldflächen angewiesenen Vogelarten finden in kleinen, verstreuten Wald-patches keinen Lebensraum mehr (Blake & Karr 1984; vgl. Abb. 2.14). Opdam et al. (1995) haben am Beispiel von Waldfragmenten in Holland z.B. für den Kleiber einen Schwellenwert von > 1 ha ermittelt, damit die Art überhaupt auftritt, und von > 10 ha, damit die Art dort regelmäßig siedeln kann. Für typische Vogelarten des Wald-Innenklimas kalkuliert McCollin (1989) Mindestflächen von 100 ha, damit die Randeinflüsse (wie Licht, Temperatur, Verdunstung, Windgeschwindigkeit) abgepuffert werden. – Damit können selbst qualitativ geeignete patches für die Besiedlung einzelner Vogelarten aufgrund zu geringer Flächengröße verloren gehen, was mittelfristig zu schleichender Artenverarmung führt (vgl. Newton 2003). Bei Extremereignissen, wie z.B. dem Feuer im Nationalpark Yellowstone, von dem rund 4  000  km2 Kiefernwald betroffen waren, oder dem außergewöhnlichen Sturmwurf in der Hohen Tatra vom November 2004, der den Baumbestand auf unübersehbar vielen km2 niedergeworfen hatte, können die Lebensbedingungen für einzelne Vogelarten – zumindest vorübergehend – verloren gehen. Für das Auerhuhn im Inneren Bayer. Wald dürfte sich das Überwinterungsgebiet im Hochlagenwald durch das Absterben der Bäume auf bisher rund 50 km2 Fläche infolge eines Borkenkäferbefalls um etwa 80 % reduziert haben (Scherzinger 2003). Die zeitliche Dimension von Störungen betrifft zum einen die Intervalle ihres Auftretens. Folgen z.B. massive Stürme kurzfristig aufeinander, erreichen die Bäume keine Altersreife mehr, was einem Habitatverlust für alle Stammabsucher und Höhlenbrüter

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gleichkommt. Bei noch kürzeren Intervallen kann der eben erst etablierte Jungwald gar nicht mehr bis zur Samenproduktion heranreifen, und die Sukzession endet im Pionierstadium, wovon alle an (sogenannte) „Klimax-Baumarten“ gebundenen Vogelarten betroffen wären (z.B. Lawinengänge; Foto 2.37). – Zum zweiten wirkt sich auch die jeweilige Dauer des Störereignisses auf die Lebensräume in Wäldern sehr verschieden aus. Es liegt auf der Hand, dass lang anhaltende Störungen die Widerstandskraft von Systemen stärker belasten als Kurzzeit-Ereignisse. Das trifft z.B. für Regen- oder Kälteperioden wie auch Überschwemmungen zu, die von vielen Waldbewohnern schadlos überstanden werden können, wenn sie nur wenige Tage andauern. Bei mehrwöchiger Durchnässung, Unterkühlung oder Überflutung sterben hingegen zahlreiche Wirbeltiere an Erschöpfung und Unterernährung. In Summe gestalten sich natürliche Wälder im Spannungsfeld zwischen Langzeitkonstanz und Störung, wobei die Waldlebensräume ein sich ständig änderndes RaumZeit-Gefüge durchlaufen. Waldbewohnenden Vogelarten bieten sich dadurch vielfältige Habitatbedingungen, sowohl im Einzelbestand als auch im Netzwerk unterschiedlicher Biotoptypen, wobei das Flächenmosaik um so diverser ist, je größer die Altersspanne innerhalb der einzelnen Entwicklungsphasen und je größer die Gesamtfläche an Wäldern, die in einem funktionalem Zusammenhang stehen (vgl. Scherzinger 2005.b).

4 Sekundäre Wald-Lebensräume, geprägt durch Holznutzung, Waldbau und Erschließung Mitteuropas Naturlandschaften waren über nahezu alle Höhenstufen von „endlosen“ Wäldern geprägt. Unter dem Einfluss einer gut 10 000-jährigen Nutzung und Rodung durch den Menschen sind wesentliche Waldflächen heute nur noch auf vorwiegend schlechten Böden, in klimatisch rauen Lagen bzw. schwer erschließbaren Gebirgshöhen erhalten geblieben. Hier konnten am ehesten auch Naturwaldreste überdauern. Die fruchtbarsten Waldstandorte mit dem höchsten Wuchspotential – wie die Auewälder an den großen Flüssen und die massereichen Laubmischwälder auf tiefgründigen Löß, Lehm- und Braunerdeböden – sind großteils schon zur Römerzeit zu Gunsten von Landwirtschaft und Siedlungsbau gerodet worden; bis heute ungebrochen ist der Flächenverbrauch durch ausufernde Städte, für Verkehrswege und Industrieanlagen. Die mehrhundertjährige Nutzungsgeschichte unserer Wälder betrifft praktisch alle Waldprodukte, von der Waldbeweidung bis zur Waldstreu für das Stallvieh, von Borke bis Reisig, von Baumharz bis Eicheln, Honig, Pilzen und Beeren, und letztlich massenhaft Holz. Aus dieser Entwicklung ist auch das heutige – meist sekundäre – Lebensraumangebot für die Waldfauna zu bewerten. Alle unsere Wälder sind letztlich mehr oder minder intensiv vom Menschen beeinflusst, überformt oder auch künstlich begründet (Küster 1998, Gatter 2004). Reste primärer Urwälder finden sich nur noch punktuell.

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Die stark geraffte Übersicht über die Auswirkungen historischer Nutzungsformen für das Lebensraumpotenzial der Waldvögel folgt in wesentlichen Teilen den Übersichten in Scherzinger (1996, 2004) und Scherzinger & Schumacher (2004): Die ältesten gestaltgebenden Nutzungseinflüsse kommen nicht aus der Holz- sondern aus der Weidenutzung. Die jungsteinzeitlichen Viehzüchter setzten Feuer zur Auflichtung der Wälder ein; zusätzlich wurde die Verjüngung durch den ganzjährigen Eintrieb von Weidevieh unterdrückt. Besonders eigneten sich eichenreiche Laubmischwälder mit weitgehend geschlossener Bodenvegetation, doch weitete sich die Weidenutzung auf die Nadelwälder im Gebirge aus, z.T. bis an die Baumgrenze. Aus dem Alpenraum stammen Fundbelege für eine erste Almwirtschaft aus der Jungsteinzeit (z.B. Warscheneck-Gebiet; Kral 1985) und für eine florierende Almwirtschaft zur Bronze- und Eisenzeit (z.B. Čerwinka & Mandl 1996). Mit dem Vieheintrieb ging auch eine Bekämpfung giftiger Baumarten (z.B. Eibe) einher. Waldweide und Schwenden öffneten die Wälder zu parkartigen Hainen, unter Freistellung besonderer Mastbäume (z.B. Eiche, Buche zur Schweinefütterung; in Südeuropa auch Edelkastanie) oder von breitkronigen Hutebäumen als Schattenspender für das Weidevieh. Auf verlichteten Weideflächen konnten sich giftige oder verbissresistente Pflanzenarten ausbreiten (z.B. Wacholder, Schlehe, Stechginster, Adlerfarn, Borstgras). – Die parkartige Kombination aus Waldelementen, Buschwerk und Weidefläche bot für herbivore Bodenvögel und Insektenjäger sehr günstige Bedingungen. Speziell Höhlenbrüter fanden in den oftmals verkrüppelten Hutebäumen attraktive Brutplätze (z.B. Grauschnäpper, Gartenrotschwanz, Kleiber, Dohle, Blauracke; bei ausreichendem Offenland­ anteil auch Wiedehopf, Zwergohreule). In ausgehöhlten „Baumruinen“ konnten sogar Waldohreule, Habichtskauz und Uhu brüten (Scherzinger 2004). Der Dornbusch im Weidewald begünstigte Grasmücken und Laubsänger, auch Goldammer und Neuntöter; mitunter auch Schwarzkehlchen (vgl. Foto 2.46, Bildteil). Im jahrhundertealten Weidewald des „New Forest“ (England) fanden Smith et al. (1992) gleich viele Vogelarten wie in einem 150-jährigen Eichenwald, jedoch in geringerer Siedlungsdichte. Zur Anlage von Ackerflächen wurden Jungwälder mit Feuer und Axt gerodet; nach nur wenigen Jahren lösten Beweidung oder Pionierwald den Feldbau wieder ab. Eine derart ausbeuterische Nutzung der Waldflächen induzierte in Siedlungsnähe eine breite Palette an Lebensräumen für die Avifauna. Von starker Auflichtung profitierten z.B. Vogelarten der Waldsteppen (wie Heidelerche, Baumpieper, Gartenrotschwanz, diverse Würger, Waldohreule, Grauspecht, Ziegenmelker, Würgfalke, Kaiseradler), oder die „Katastrophen-Arten“ (wie Haubenlerche, Birkhuhn oder Mäusebussard). Im dicht aufwachsenden Pionierwald auf ehemaligen Brand- und Weideflächen erzielte das Haselhuhn mitunter Höchstdichten (z.B. Hauberge in Hessen, Birkenberge im Bayer. Wald; vgl. Scherzinger 1976, 1985). Zur Gewinnung von Brennholz, Gerberlohe und Werkzeugholz und zur Holzkohlenerzeugung wurden die Waldbäume im nur 10- bis 25-jährigen Umtrieb gefällt. In sogenannten „Niederwäldern“ wechselten Kahlschlag, Stockausschlag und junges Stangenholz einander ab. Hier fanden Laubsänger, Grasmücken, vor allem das Haselhuhn sehr geeignete Lebensbedingungen (vgl. Bergmann et al. 1996, Gatter 2004). In ei-

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nem Linden-Niederwald fanden Fuller & Green (1998; England) den höchsten Artenreichtum mit dem Austrieb der Schösslinge auf der frischen Kahlfläche. – Im Wirtschaftstyp des „Mittelwaldes“ wird das immer wieder abgehauene Jungholz von einzelnen Altbäumen überschirmt, typischerweise von starkwüchsigen Eichen. Die Kombination aus Kahlfläche, Jungwuchs und z.T. uralten Solitärbäumen bietet sehr attraktive Lebensräume für Vogelarten der lichten und wärmebegünstigten Laubwälder, zumal wenn neben Bodenund Buschbrütern auch Raum für Höhlenbrüter gegeben ist. In einem Schweizer Eichen-Mittelwald, dessen Überhälter ein gutes Angebot an Höhlen und Totholz aufwiesen, ordnete Niebuhr (zit. in Luder et al. 1983) allein 62 % der Vogelindividuen den Höhlenbrütern zu. Geschlossene Wälder oder gar naturnahe Altholzbestände wurden zunehmend auf Foto 2.38: Der plantagenmäßige Anbau von Naunerschlossene Berglagen zurückgedrängt. delhölzern hat mitunter völlig naturferne Bestände Hier fanden Vogelarten des Wald-Innengeschaffen, die nicht nur instabil und artenarm sind, sondern auch zur Verdrängung der ursprünglichen klimas, große Höhlenbrüter und HorstVogelwelt geführt haben. bauer am ehesten ein Rückzugsgebiet. Denn in den bewirtschafteten Beständen waren durchmesserstarke Bäume für die Anlage von Spechthöhlen Mangelware. Ganz entsprechend waren die Höhlenbrüter unter den Singvögeln, Kleineulen, Tauben etc. die Verlierer ungeregelter Waldwirtschaft. Da außerdem Totholz, wo immer erreich- und transportierbar, genutzt wurde, erlitten an Totholz gebundene Spechtarten eine besondere Benachteiligung: Wenn auch die Förderung der Eiche (als Mastbaum, zur Lohegewinnung, für Maschinen-, Haus- und Schiffsbau) den Stammabsuchern zu Gute kam, wurde der Mittelspecht doch in Folge der Seltenheit höherer Altersklassen großräumig verdrängt. Der Kleinspecht erhielt in Obstbaugebieten und an den Galeriewäldern schmaler Auen noch eine Ausweichmöglichkeit. Der Schwarzspecht jedoch verschwand wegen seines besonderen Anspruchs an Alter und Dimension von Höhlenbäumen aus weiten Teilen Mitteleuropas zur Gänze; erst Mitte des 20. Jh. gelang ihm die Rückkehr, z.B. in die verwaisten Waldgebiete Frankreichs, Westeuropas und Dänemarks (Cuisin 1998). Den größten Arealverlust erlitt der Weißrückenspecht, der – bis auf verstreute Refugien im Bergwald – aus dem ehedem großen Verbreitungsgebiet geeigneter Laubwälder praktisch verschwunden war. 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Der Raubbau am Wald führte spätestens im 18. Jh. zu großer Holznot. Mit Hilfe planmäßiger Forstwirtschaft wurden Versuche zum systematischen Anbau von Waldbäumen unternommen. Durch Ansaat und Anpflanzung wurden z.T. ganze Talschaften wieder aufgeforstet, vorwiegend mit unempfindlichen Nadelbäumen, wie Kiefer und Fichte. Die meist dicht geschlossenen Monokulturen wurden in altersgleichen Karrees als „schlagweiser Hochwald“ bewirtschaftet (mit stereotyper Abfolge von Kahlschlag – Aufforstung – Jungwuchspflege – Durchforstung – Kahlschlag). Solche monotonen Nadelforste bestimmten die Lebensraumqualität für die Waldfauna noch wenigstens bis zur Mitte des 20. Jh. auf großer Fläche. Die „Borealisierung“ ehemaliger Laubwälder durch die großflächige Förderung von Nadelholz erlaubte den Vögeln der Montanstufe eine großräumige Ausbreitung bis ins kolline Hügelland, die bis heute anhält (z.B. Wintergoldhähnchen, Tannen-, Weiden- und Haubenmeise, Waldbaumläufer, Misteldrossel, Sperlings- und Raufußkauz, Sperber, Waldohreule; Tomialojc & Weselowski 2003, Gatter 2004). Umgekehrt bedeutete der Ersatz der hellen Eichenwälder durch düstere Nadelforste massive Einbußen für die ursprüngliche Vogelwelt: Vordem dominante Vogelarten wie Heidelerche und Ziegenmelker, Grauschnäpper und Gartenrotschwanz wurden regelrecht ausgedunkelt, das Haselhuhn verlor die sonnigen Pionierwäldchen, der Mittelspecht selbst die Sekundärbiotope im Eichenmittelwald wieder (Foto 2.38). Die „Verfichtung“ erreichte auch den Bergwald, wo sie z.B. zum Rückgang der Heidelbeerflächen für das Auerhuhn führte. Zunehmend greift der Waldbau auch auf fremdländische Baumarten zurück (wie Douglasie, Stechfichte, Sitkafichte, Nordmanntanne, Coloradotanne, Japanlärche im Nadelwald; Roteiche, Robinie, Hybridpappel im Laubwald), die von der Vogelwelt durchaus besiedelt werden, wenn auch das Nahrungsangebot aufgrund eher marginaler Insektenpopulationen suboptimal bleiben kann. Vorwiegend auf Holzproduktion ausgerichteten Forste sind auf der einen Seite durch weiträumig geschlossene Waldflächen, Gleichaltrigkeit und Dichtstand der Bäume charakterisiert, arm an Strukturen, nahezu frei von Bodenvegetation und arm an bodenlebenden Insekten. Die Lebensraumeignung für Waldvögel bleibt über den weitaus größten Lebensabschnitt solcher Baumbestände eher suboptimal. Zur teilweisen Kompensation dieses Qualitätsmangels konzentrierte sich der forstliche Vogelschutz auf die Bereitstellung von Nistkästen, zumindest für die wirtschaftlich relevanten Meisen, Kleiber oder Schnäpper – als „Arbeitsvögel“ (vgl. Berlepsch 1926, Henze 1943). Bei derart stereotypem Bewirtschaftungsmuster können nur die höchsten Altersklassen erste Merkmale naturnaher Wälder entfalten, sodass sie für Spechte und kleine Höhlenbrüter, auch für horstbauende Greife, in günstigen Fällen sogar für Auerhühner bewohnbar werden.

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Abb. 2.13: Das Ideal eines reich gestuften Naturwaldes weist mit der hohen Diversität an Baumarten und Altersklassen eine „Verschachtelung“ von Strukturen und Ressourcen auf, die ein Nebeneinander von Vogelarten mit sehr unterschiedlichen Habitatpräferenzen auf engstem Raume erlaubt (linke Seite). Der schematische Altersklassenwald zerlegt diesen Strukturen-Komplex in einzelne Alterstufen – und damit auch die Lebensgemeinschaft des „Urwaldes“ in Vogelarten-Cluster der einzelnen Schichten (aus Scherzinger 1985).

Andererseits bietet die Altersklassenwirtschaft immer wieder Kahlschläge mit stark besonnten Freiflächen und einer reichen Bodenvegetation, wo – zumindest vorübergehend – ein attraktives Angebot an Blüten, Beeren und Pionierbäumen zu finden ist, mit entsprechendem Reichtum an Spinnen, Ameisen, blütenbesuchenden Insekten, Reptilien und Kleinsäugern. Von besonderer Attraktivität für die Fauna sind dabei die „Säume“ an der Schnittstelle zwischen verbliebenem Altbestand und frischer Kahlfläche. Von dem klassischen edge-Angebot profitieren z.B. Waldschnepfe (durch Anstieg der Bodenfeuchte und höherer Wurmdichte auf der Freifläche), Auerhuhn (durch vermehrte Beerenproduktion infolge höheren Lichteinfalls am Waldrand), Schwarz- und Bodenspechte (durch Konzentration von Waldameisen-Kolonien am Saum), Ansitzjäger (durch gute Übersicht am Bestandsanschnitt). Auf der offenen Kahlfläche finden die Waldrand- und „Katastrophenarten“ Ersatzlebensräume (wie Heidelerche, Baumpieper, Birkhuhn). In Folge können sich in den jungen Altersklassen geeignete Habitate für Gebüschbewohner und das Haselhuhn ausbilden, soweit auf den Aushieb der Pioniervegetation und der Weichlaubhölzer verzichtet wird. Bei rascher Wiederaufforstung schließt sich aber bald die Pflanzung zur finsteren Dickung. Im Zuge von Läuterung und Bestandspflege werden üblicherweise die Mischbaumarten und alle Baumindividuen mit Bruchstellen, Zwieselbildung oder sonst wie „abnormem“ Wuchs herausselektiert. Die durchschnittliche Umtriebszeit von 80-100 Jahren unterbindet zusätzlich eine strukturelle Differenzierung alternder Bäume (durch Risse, Spalten oder gar 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Faulhöhlen); die Maxime einer „sauberen Waldwirtschaft“ verhindert letztlich auch die Ansammlung von Totholz (vgl. Tab. 2.8, Bildteil). Doch bereits zum Ende des 19. Jh. zeigten sich unübersehbar die Probleme am „Holzacker“: Die gleichaltrig und dicht herangezogenen Nadelbäume waren besonders anfällig gegenüber Pilzbefall, Windwurf und Schneebruch; außerdem stieg bei Fichten-Monokulturen das Risiko von Borkenkäferbefall, bei Kieferndickungen die Waldbrandgefahr. Vor allem aber verschlechterten sich die Wuchsbedingungen durch Nährstoffaustrag in der Kahlhiebsphase, durch Bodenversauerung unter einer schlecht abbaubaren Nadelstreu, letztlich auch durch Bodenverdichtung und Absterben der symbiontisch wichtigen MykorFoto 2.39: Die „naturgemäße“ Waldwirtschaft orirhizapilze infolge des Einsatzes schwerer entiert sich am bäuerlichen Plenterwald und sichert Ernte- und Rückefahrzeuge. – Mit klaren über die „Verschachtelung“ diverser Altersklassen und Baumarten eine Langzeitkonstanz im gut Appellen zur Rückkehr zu „naturnäheren“ gestuften Bestandsaufbau (Stiftswald Schlägl, OÖ). Wäldern, in standortgemäßer Baumartenmischung und breiter Altersstaffelung, wurde zum einen der Plenterwald aus dem kleinbäuerlichen Betrieb zum Vorbild. Bei maximaler Altersspreitung innerhalb jeden Bestandes können die jeweils benötigten Holzqualitäten nachhaltig entnommen werden (Gayer 1886, Rebel 1928). Die Idee von einem „Dauerwald“ durch „naturgemäße“ Waldwirtschaft besticht durch die Langzeitkonstanz naturnaher Waldstrukturen, eines Kontinuums aller Altersklassen – mit hohem Altholzanteil – und einer gebietstypischen Baumartenzusammensetzung (vgl. Möller 1922). Diese Kriterien können für die Vogelarten des Innen-Waldklimas ausschlaggebend sein, weshalb mit diesem Bewirtschaftungskonzept die Lebensbedingungen für kleine Höhlenbrüter (Meisen, Kleiber, Fliegenschnäpper, Sperlingskauz), für Bunt- und Mittelspecht, Drosseln etc. gesichert werden. Wieweit auch Schwarz-, Dreizehen- oder Weißrückenspecht (und deren Folgenutzer, wie Raufußkauz, Hohltaube, Dohle) im Dauerwald zurechtkommen, hängt von der angestrebten „Zielstärke“ des Baumdurchmessers ab (vgl. Reininger 1987; Foto 2.39). Außerdem fehlt ein Totholz­ angebot bei der Maximierung nachhaltiger Erträge völlig. Auch unterbindet das Dauerwald-Konzept bestmöglich eine Lückenbildung mit reicher Pioniervegetation in der Kraut- und Strauchschicht, weshalb die Vogelarten des Wald-Lückensystems im dicht gestuften Plenterwald ausgeschlossen bleiben.

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4.1 Auswirkungen forstlicher Eingriffe auf die heutige Lebensraumeignung der Wälder

Holz als nachwachsender Rohstoff wird auch in Zukunft seine hohe wirtschaftliche Bedeutung behalten. Somit wird die Holznutzung das Bild unserer Wälder auch weiterhin formen. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, das gerade die Organismen des Waldes einen wesentlichen Teil unseres Naturerbes repräsentieren. Der Imperativ zur Nachhaltigkeit muss in der Waldbewirtschaftung daher auf die Waldlebensräume und deren Artenausstattung ausgedehnt werden, wobei die Diversität und Dynamik des Naturwaldes als bestmögliche Vergleichsgröße erscheinen (Tab. 2.8, Bildteil). Im Folgenden seien die basalen Eingriffe im Forstbetrieb in stark geraffter Form aufgelistet, soweit sie Lebensraumeignung und Artenreichtum unserer Wälder maßgeblich tangieren. 4.1.1 Holzernte Da das Holz der Bäume ein pflanzliches Assimilationsprodukt ist, das vorwiegend aus dem Kohlenstoff der Luft und Wasser (unter Einwirkung von Sonnenenergie) aufgebaut wurde, sehen selbst viele Ökologen die Holzernte als irrelevant für den Stoffkreislauf im Waldökosystem. Tatsächlich aber wirkt sich die Holzentnahme nicht nur auf die Struktur und die Altersverteilung des Bestandes sowie die nachfolgende Sukzession auf der Hiebsfläche aus, sondern sie unterbindet von vorne herein die Ansammlung von Totund Lagerholz, das durch Verrotten und Vermodern eine wesentliche Funktion bei der Bodenbildung hat. Die Mengen an Mineralstoffen aus Borke und Holz mögen relativ gering erscheinen, doch sammelt sich in Baumkadavern Stickstoff über das Myzel holzzersetzender Pilze in beträchtlichem Umfang an. Folgerichtig bietet angemorschtes Lagerholz ein wichtiges Keimsubstrat für Baumsämlinge in ungünstigen Lagen („RannenVerjüngung“). Auch kann Moderholz die Versauerung der Waldböden abpuffern. Der mechanische Holzeinschlag selbst öffnet Lücken im Kronendach, lässt Schlagabraum und Restholz auf der Fläche zurück und verursacht beim Abtransport der Baumstämme meist Bodenverwundung und -verdichtung, auch Schädigung der Vorverjüngung (Foto 2.40). – Bei Einzelbaumfällung bleibt der Effekt für die Avifauna gering bis unmerklich. Femelhieb schafft innere Waldränder und durchsonnte Lichtungen mit gut entwickelter Pioniervegetation. Dieses Angebot nutzen in erster Linie die „echten“ Waldarten, wobei besonders die Ameisenfresser profitieren (wie Grau- und Schwarzspecht), bei reicher Krautschicht auch Auerhuhn, Waldkauz und Kleineulen. Im schlagweisen Hochwald werden jeweils große Waldflächen im Stück abgeholzt, sei es in scharf abgegrenzten Einheiten (z.B. Wienerwald) oder vertikalen Streifen (z.B. Steiermark). Im Effekt grenzen mehr oder minder gleichaltrige und auch gleichförmige Bestände, in jeweils unterschiedlichen Altersstufen, aneinander. Dieser Altersklassenbetrieb bietet auf Kahl- und Verjüngungsflächen (meist Aufforstungen) Lebensraum für „Katastrophenarten“, Bodenvögel und Gebüschbewohner aus der Vogelwelt. Zurückgelassenes Reisig und Astholz bieten dem Zaunkönig auf der Kahlfläche vorübergehend Deckung und 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Nistplatz. Vögel des Wald-Außenklimas, Ansitzjäger und Waldhühner können vor allem an inneren Waldrändern und äußeren Säumen leben. Bei räumlich günstiger Kombination von Freifläche, Saumbiotop und Altbestandsrest kann sogar das Auerhuhn Lebensmöglichkeiten finden. Für anspruchsvolle Altwaldarten ist aber eher kein Platz. – Am Waldrand gelagertes Scheitholz und Bloche werden von Hausrotschwanz oder Bachstelze nach Insekten abgesucht; mitunter nutzen sie die Lücken auch als Nistplatz. 4.1.2 Begrenzung der Altersklassen Es ist evident, dass die Holznutzung in erster Linie das Altholz betrifft. Die Hiebsreife wird i.R. mit dem Zeitpunkt nachlassenden Holzzuwachses gleichgesetzt, bei der ZielFoto 2.40: Mit der Holznutzung werden nicht nur die Bestandsstruktur verändert und dem Ökosystärkennutzung vorwiegend nach dem BH stem Biomasse in erheblichem Umfang entnomDurchmesser entschieden, im Wesentlichen men, sondern auch die Lebensraumbedingungen heute durch die Nachfrage am Holzmarkt. der Waldvögel nachhaltig beeinflusst. Die HabitatIn jedem Fall wird die Altersverteilung der verbesserungen für die Vogelarten des Wald-AußenBäume massiv beeinträchtigt, die im Naklimas (durch Auflichtung, Kahlfläche, AltholzSäume und nachkommende Verjüngung) gehen turwald durch eine Dominanz sehr hoher meist auf Kosten der Arten des Wald-Innenklimas Altersklassen gekennzeichnet wäre. Die (durch Fragmentierung, Randeffekte, Konkurrenzphysiologisch mögliche Lebenserwartung verschiebung). heimischer Waldbäume liegt 2 bis 10-fach über der forstlichen Umtriebszeit (vgl. Foto 2.43, Bildteil). Der Produktionswald wird künstlich jung gehalten. Mit der Senkung des durchschnittlichen Bestandesalters wird zwangsläufig auch der natürliche Rhythmus aus Alterung, Zusammenbruch und Verjüngung drastisch verkürzt. Damit werden alle Baumarten ausgeschaltet, die nur in großen Zeitintervallen ausgiebige Samenmasten produzieren (z.B. Tanne) oder sehr lange Zeiträume zur Verjüngung benötigen (z.B. Eibe). Die Abfolge der Waldentwicklungsphasen wird durch die Stammholzernte exakt an jener Stelle abgebrochen, an der die strukturelle Differenzierung des Bestandes einsetzt – dem Wirtschaftswald fehlen die faunistisch essentiellen Altersmerkmale (Scherzinger 1991.b, 1996; vgl. Abb. 2.8, Bildteil). Selbst in der naturnahen oder naturgemäßen Waldwirtschaft sind Uraltbäume mit grobrissiger Borke, voluminösen, starkastigen Kronen – reich an Totästen, Bruch- und Faulstellen etc. – die Ausnahme, da die späten Entwicklungsphasen von Zerfall und Zusammenbruch nach Möglichkeit gekappt werden. – Für die Vogelwelt bedeutet dies einen Verlust eben jener Strukturen (Borkenrau-

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igkeit, Kronenrauigkeit, Bruchstellen, Höhlenbildung, Baumsturzlücken, Totholz; vgl. Kap. 2) und Ressourcen (Samenmast, xylobionte Insekten und andere Wirbellose; vgl. Kap. 1.2.3.3), die den Artenreichtum ermöglichen, speziell bei den – heute großteils gefährdeten – Altholzbewohnern. 4.1.3 Selektion nach Wuchsformen Im Rahmen „sauberer“ Waldbewirtschaftung und zur Ertragsoptimierung bemüht sich die Waldpflege, sowohl die Räumigkeit im Baumbestand als auch die Wuchsformen der Einzelbäume möglichst früh zu lenken. Truppweise Verjüngung, Zwillingsstämme, Zwieselkronen und mehrgipflige Kandelaberbäume, wie sie im Naturwald unsere Aufmerksamkeit erregen, werden dabei grundsätzlich ausgemerzt. Dasselbe gilt erst recht für Drehwuchs, Wipfelbruch, Wipfeldürre, Kernfäule – bis vor kurzem auch für höhlenreiche „Spechtbäume“. Zur Prävention von Schädlingsbefall, oft auch nur aus deplaziertem „Ordnungssinn“, wird in manchen Forstbetrieben auch Reisig und Dürrholz beseitigt. Mit maschineller Bodenbearbeitung, Kalkung und auch Düngung, oder Aufforstung in schnurgerader Reißbrettgeometrie kann die Nivellierung von Waldstruktur und Standortsqualität auf die Spitze getrieben werden. In solchem „Försterwald“ leben nur noch die anspruchslosen Ubiquisten; folgerichtig spricht Glutz v. Blotzheim (2001) von einer „Trivialisierung“ der Avifauna im durchgestylten Wald. Neben der permanenten Auslese von Wertholz im Rahmen der Waldpflege versucht der Forstmann auch das Erbgut zu lenken, damit die erwünschten Wuchs- und Stammmerkmale für die Folgegenerationen gefestigt werden können. Gelingt die Domestikation zu schnellwüchsigen Elitebäume mit geradem und hohen Schaft und möglichst kleiner Krone sowie ihre Etablierung auf großer Fläche, so kommt neben der strukturellen Verarmung der Waldbestände noch eine genetische hinzu. Tatsächlich stammt das zertifizierte Saatgut heimischer Bäume von nur ganz wenigen Auslesebäumen, mit dem Risiko von genetischer Drift und Inzucht, letztlich von mangelnder Anpassungsfähigkeit an sich veränderte Umfeldbedingungen (Übersicht in Scherzinger 1996). 4.1.4 Waldhygiene und Totholz Über Generationen von Forstleuten wurde jegliches Totholz im Wald mit großem Aufwand beseitigt bzw. sein Aufkommen präventiv verhindert. Dieser Aufwand schien gerechtfertigt, um das Befallsrisiko gesunder Bäume durch Pilze oder Schadinsekten zu minimieren, vor allem aber deren Massenvermehrung zuvorzukommen. Die Forstgeschichte kennt tatsächlich verheerende Kalamitäten, die nahezu alle wichtigen Wirtschaftsbäume betrafen: Ulme, Eiche, Kiefer, Fichte, Lärche sind z.B. durch Pilze gefährdet, die über beschädigte Wurzeln oder Bruchstellen am Stamm eindringen, durch rindenbrütige Käfer, Bock- und Splintkäfer, Kleinschmetterlinge, Blattwespen usw. Die Schädlingsprävention durch Waldhygiene ist eine logische Konsequenz – und für den Forstmann eine permanente Herausforderung. Im Rahmen konventioneller wie naturnaher oder naturgemäßer Waldwirtschaft ist das Belassen oder gar Fördern von Totholz deshalb nicht vorgesehen. Abgesehen von der allmählichen Schwächung des Waldbodens 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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und der Baumverjüngung durch dauerhaften Totholzentzug wird auch das Lebensraumpotential für die Waldvögel künstlich auf einem verhältnismäßig niedrigen Niveau gehalten. Wie in Kap. 2.4 beschrieben trifft ein Totholzmangel nicht nur die Spechte sondern auch deren Folgenutzer unter den Höhlenbrütern, die weiteren Stammabsucher und selbst große Eulen und Greifvögel, soweit sie Totbäume als Nistplatz wählen. – In diesem Zusammenhang sei auch auf die forstliche Tradition hingewiesen, die Wurzelteller umgestürzter Bäume möglichst rasch wieder zurückzukippen, damit für Aufforstung oder Verjüngung keine Waldbodenfläche verloren geht. Da gerade in strukturarmen Forsten solche Sonderstrukturen über Jahre eine herausragende Bedeutung für Brutvögel der Boden- und Strauchschicht haben, selbst für Hasel- und Auerhuhn, ist diese „Fleißaufgabe“ grundsätzlich in Frage zu stellen (vgl. Kap. 5.2.2). Wegen der hohen Bedeutung von Totholz für die natürliche Entwicklungsdynamik, für Nährstoffkreisläufe und die Biodiversität der Wälder, gibt es heute Initiativen, ein Maximum an Totholz im Bestand zu belassen (im Extremfall sogar künstlich bereit zu stellen – z.B. durch Abtöten vitaler Bäume), ohne das Schädlingsrisiko zu ignorieren. Basis der Überlegungen ist ein stark differenzierender Ansatz, demzufolge die Gefahr von Insektengradationen z.B. bei Buchen geringer einzustufen ist als bei Fichten, weiters abgewitterte Fichtendürrlinge von rindenbrütigen Käfern nicht mehr besiedelt werden, ihr Verbleib im Bestand deshalb eher unproblematisch ist. Einen großen Fortschritt brachten auch die neuen Prognosemethoden, da das Gradationsrisiko nicht für alle Standorte, Waldgesellschaften und Höhenlagen gleich groß ist. 4.1.5 Lenkung der Baumartenzusammensetzung Von Natur aus folgt die Verteilung der Baumarten nacheiszeitlichen Ausbreitungswegen, dem standörtlichen Wuchspotential sowie der Höhenlage. Sowohl die gebietstypischen Anteile an Laub- und Nadelholz als auch die Verbreitungsgebiete einzelner Baumarten wurden im Zuge von Nutzungen durch Forstwirtschaft, Jagd und Landwirtschaft sowie durch Waldbau z.T. erheblich verändert. Nach der Hemerobiestudie für den Österreichischen Wald (Grabherr et al. 1998) betrifft dies im Wesentlichen die Pflanzung von Kiefern im Flachland, die Einmischung von Lärchen im Hügelland und die massive Förderung der Fichte über nahezu alle Höhenstufen. Auf untergeordneter Fläche (rund 7 % des Österr. Waldes) wurden Bestände auch völlig künstlich begründet, mit standortsfremden, z.T. sogar mit florenfremden Baumarten. Die Pflanzung fremdländischer „Gastbaumarten“ kann zur Erhöhung der VogelartenDiversität im Wald führen, speziell wenn Nadelholz in einen eher gleichförmigen Laubwald eingesprengt wird (Erhöhung des Deckungsangebots, speziell im Winter). Bei großflächiger und monotyper Bestandsbegründung mit gebietsfremden Nadelbäumen sind hingegen nur wenige Vogelarten in der Lage, einen solchen Kunstforst zu besiedeln. Grundsätzlich können aber auch fremdländische Baumarten für die Vogelwelt attraktiv werden, speziell in hohen Altersklassen und in hochdiverser Artenvielfalt (z.B. alte Parkanlagen und Friedhöfe). Hier gilt die – scheinbar paradoxe – Feststellung „Je untypischer und gestörter ein Waldtyp ausgeprägt ist, desto höher ist in vielen Fällen die Diversität“ (Flade 1994).

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Foto 2.41: Die forstliche Förderung der Fichte außerhalb ihrer naturgegebenen Standorte hat einerseits zur “Borealisierung“ der Avifauna geführt (z.B. anthropogene Arealausweitung von Tannenmeise, Fichtenkreuzschnabel, Sperlingskauz), andererseits eine deutliche Artenverarmung in Flora und Fauna verursacht. Die Fichte begünstigte letztlich die Altersklassen-Wirtschaft (mit ihrer stereotypen Abfolge von Kahlschlag, Aufforstung, Läuterung, Fällung) durch die Eignung als Pionierbaumart selbst auf degradierten Böden.

Alte Föhrenbestände inmitten der Agrarlandschaft (z.B. Marchfeld, NÖ) fungieren – obwohl standortfremd – als Biotopinseln und weisen einen oft erstaunlichen Reichtum an Vogelarten der Waldränder und des Wald-Außenklimas auf, speziell bei guter Ausbildung der Strauchschicht (z.B. Haubenmeise, Goldhähnchen, Mönchsgrasmücke, Nachtigall; Ringeltaube, Rabenkrähe und Elster sowie als Nutzer deren Horstbaus Turmfalke und Waldohreule). Für Arten des Wald-Innenklimas sind die Flächen aber meist zu klein. Trotz ausschließlich gebietsfremder Baumarten werden selbst die schütteren „Remisen“ in der baumfreien Agrarsteppe aus Robinie, Ölweide, Eschenahorn, Götterbaum etc. von den Vögeln besiedelt (wie Feldsperling, Schwarzstirnwürger, Sperbergrasmücke, Pirol, Turteltaube, Waldohreule; z.B. Seewinkel, Bgld.). – Die stereotyp aufgereihten Hybridpappel-Kulturen in den Donau-Auen demonstrieren ebenso die hohe Plastizität der Vogelwelt, wobei diese strukturarmen Bestände durch eine bunte Strauchschicht an Habitatpotenzial gewinnen können (z.B. Nachtigall, Gartengrasmücke, Sumpfrohrsänger, Fliegenschnäpper, Laubsänger, Pirol). Eine Erhebung der Greifvogelhorste im Nationalpark Donau-Auen ergab sogar eine gewisse Präferenz der schmalkronigen und schütter belaubten Hybridpappeln durch Schwarzmilan, Mäusebussard und Habicht (Thoby 2006). – Die Besiedlung von standorts- oder gebietsfremden Baumbeständen durch die Vögel darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Sekundärgesellschaften kein Ersatz für die am jeweiligen Ort verdrängten Faunen ursprünglicher Laubmischwälder sein können, da sie sich ja vorwiegend aus „AllerweltsArten“ zusammensetzen. Sehr viel problematischer für das faunistische Lebensraumangebot in den Wirtschaftswäldern sind aber Selektion und Reduktion der Baumartenvielfalt, die eine prägnante Verarmung der Gesamtdiversität zur Folge haben, zumal, wenn dieser Einfluss die überwiegende Waldfläche betrifft. Sowohl durch gezielten Aushieb „forstlicher Unkräuter“ als auch durch Kahlschlagsverfahren mit rascher Wiederaufforstung gingen in vielen Beständen die Pioniergehölze und Mischbaumarten verloren; auf großer Fläche sogar die 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Tanne – als einstmals prägender Waldbaum (vgl. Hockenjos 2008). Der Ausfall z.B. von Salweide, Birke, Espe, Erle oder Vogelbeere in dichter Fichtenverjüngung verunmöglicht von vorneherein eine Besiedlung des Dickungsstadiums durch Haselhühner, oder im späteren Stammholz die Arealnutzung durch Erlen- und Birkenzeisig, Grau- und Weißrückenspecht. Bei fehlender Läuterung im dunklen Baumholz und/oder überhöhter Rothirschdichte erleiden beispielsweise auch Bergahorn, Ulme, Esche oder Wildobstbäume eine Verdrängung, die sich auf die Stammabsucher und Höhlenbrüter unter den Vögel negativ auswirkt. Eine ganz andere Dimension hat die massive forstliche Förderung der Fichte für die Waldlebensräume, allein schon wegen der betroffenen Flächengröße. Zum einen ermöglichte sie eine Ausbreitung der Vogelarten aus dem hochmontanem und subalpinen Nadelwald bis in die Kollinstufe (z.B. Goldhähnchen, Tannen-, Haubenmeise, auch Sperlings- und Raufußkauz. Mancherorts profitierten sogar Hasel- oder Auerhuhn von der anthropogenen Verbreitung der Nadelgehölze). Zum anderen ging mit der Verfichtung eine Verfinsterung der Wälder einher (Foto 2.41). Die Verarmung der Wälder an Ressourcen und Strukturen spiegelt sich in der Verarmung der Vogelwelt wider, die nicht selten auf Rotkehlchen, Zaunkönig, Amsel und ein paar Meisen reduziert ist. Hiebsreife Fichtenforste können – neben Kohlmeise und Buchfink – noch Misteldrossel, Ringeltaube, Buntspecht beherbergen. Infolge des strukturarmen Dichtstands wurden mit der Begünstigung der Fichte sowohl Laubholz-Mischbaumarten verdrängt (wie Esche, Bergund Spitzahorn, Vogelkirsche, Vogelbeere, mitunter auch Buche), als auch die Tanne auf großer Fläche. Mit dieser stabilisierenden Stütze verlor der Bergwald gleichzeitig wichtige Strukturmerkmale (Höhlen- und Horstbaum, Sing- und Jagdwarte) und Nahrungsressourcen (z.B. Nadelnahrung für das Auerhuhn). Selbst wenn ein Wirtschaftswald mit anthropogen überhöhtem Fichtenanteil immer noch einige Naturschutz-relevante Vogelarten beherbergen kann, so bleibt sein Lebensraumpotenzial doch weit hinter der Diversität der ursprünglichen Waldvegetation desselben Standorts zurück (wie z.B. Eichen-Kiefernwald, Tannen-Buchenwald, FichtenTannen-Buchen-Mischwald). 4.1.6 Fragmentierung Zweifellos hat die dichte Erschließung der Wälder mit LKW-befahrbaren Forstwegen und Rückegassen, dazu Holzlagerplätzen und Standplätzen für die Maschinen des Erntezugs, oft auch noch mit Schneisen an den Abteilungsgrenzen oder Begangs- und Pirschsteigen, nicht nur ein hohes Maß an Flächenzerschneidung bislang weitgehend geschlossener Waldlandschaften verursacht, sie hat damit auch eine Reihe von Sekundäreffekten induziert, auf die die Vogelwelt sehr unterschiedlich reagiert. – Zum ersten ist die direkte Unfallgefahr durch den Kfz-Verkehr zu nennen. Bei meist sehr unregelmäßiger Frequentierung bleibt es unwahrscheinlich, dass Wildtiere ein herannahendes Fahrzeug als Gefahrenquelle kennenlernen bzw. ihm entsprechend ausweichen. Verkehrsverluste an Forststraßen sind typisch bei Fichtenkreuzschnabel (Steinchen- oder Salzaufnahme), Auerhuhn (Magensteinchen-Aufnahme), Habichtskauz (niedriger Jagdflug), Bodenspechte

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Foto 2.42: Kahlschlag auf großer Fläche führt zur Fragmentierung der Waldlebensräume, mit dem Risiko der Verinselung verbliebener Waldflächen. Bei gravierender Reduktion der einzelnen Bestandsflächen gehen auch die Lebensraumbedingungen für Vogelarten des Wald-Innenklimas verloren (Wienerwald).

(Ameisensuche; – abgesehen von Erdkröte, Grasfrosch, Eidechsen, Kleinsäugern, Eichhörnchen, Baummarder, Dachs usw.; Hopfner, unveröff.). In Gebieten mit lehmigen, sandigen oder moorigen Böden suchen z.B. Auerhühner gezielt nach Magensteinchen im Belag der Forstwege. Entlang der Wegeschneisen erlaubt der verbesserte Lichteinfall eine kräftigere Kraut- und Strauchschicht an den Böschungen, was für Waldhühner und Laubsänger attraktiv sein kann. Bei entsprechender Wegebreite siedeln sogar Waldrandarten an den Bestandsanschnitten der Wegtrasse. Mit den Zuwanderern verändern sich aber die Konkurrenzverhältnisse, und die eingesessenen Arten des Waldinneren werden von den künstlichen Waldrändern abgedrängt. Als Folge des Wegebaus wandern auch Spitz- und Wühlmäuse entlang der begrünten Bankette, und mit ihnen einige Prädatoren ein (wie Iltis, Steinmarder, Waldkauz), in bisher von ihnen nicht bewohnte Waldgebiete. Damit wächst das Prädationsrisiko für die Waldvögel. Z.B. kann der Sperlingskauz durch die indirekte Förderung von Waldkäuzen unter Druck kommen. Auch verbessert die gerade Linienführung von Forststraßen den Jagderfolg des Habichts, sehr zum Nachteil der Waldhühner. Langfristig bedeutender ist für die Artenzusammensetzung der Waldvogel-Gemeinschaft vermutlich aber die Reduktion der Flächenausdehnung einzelner Waldbestände durch die Holznutzung, speziell bei großen Hiebsflächen. In Anlehnung an die Arten-Areal-Beziehung lassen sich Mindestflächen kalkulieren, die für den Erhalt der Vogelgemeinschaft eines bestimmten Wald-Biotoptyps erforderlich sind. Dabei sind für die Kalkulation des örtlichen Potentials an Waldvogelarten unterschiedliche Maßstäbe heranzuziehen. Bereits auf Landschaftsebene entscheidet die vorhandene Flächengröße eines Biotop-Typs über den Erwartungswert an Vogelarten. Für Norddeutsche Waldgesellschaften hat Flade (1994) versucht, die Korrelation zwischen Waldfläche und der jeweils Biotop-typischen Artenzusammensetzung beispielhaft nachzuzeichnen: Demnach wird die Sättigungskurve für den Artenreichtum bei etwa 120–150 ha Flächengröße in der Hartholz-Aue (55–60 Vogelarten) erreicht, bei 140–150 ha im Eichen-Hainbuchenwald und Tiefland-Buchenwald (jeweils 45–50 Arten), bei 150–160  ha im Bergbuchenwald (40–50 Arten) und bei wenigstens 100–110 ha im Bergfichtenwald (25 Arten; aufgrund des höheren Artenpotenzials der Gebirgswälder in Österreich liegen hier die Werte für Mindestflächen sicher höher). 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Abb. 2.14: Da die Effekte des Waldrandes („Wald-Außenklima“) tief in den Waldbestand reichen, kann sich nur bei sehr großen Waldflächen ein „Wald-Innenklima“ ausbilden. Eine starke Fragmentierung von Wäldern trifft daher speziell die Vogelarten des Waldes-Inneren, während Waldrandarten auch noch mit kleinen Bestandsresten auskommen können (aus Hovestadt et al. 1992).

Auf der Ebene des einzelnen Wirtschaftswaldes entscheidet die Flächengröße der nach der Holznutzung verbliebenen Altholzfragmente über die Artenvielfalt sowie über Fortpflanzungserfolg und Überlebenschance einzelner Vogelgilden im Rest-Bestand (Foto 2.42). Dabei gelten für Vogelarten des Wald-Außenklimas grundsätzlich andere Maßstäbe als für jene des Wald-Innenklimas, ebenso für Kurzstrecken- und Langstrecken-Zieher. Als Basis-Modell zogen Blake & Karr (1984) „Waldinseln“ in der Offenlandschaft heran (Illinois). Erwartungsgemäß können Individuen der Waldrandarten auch kleine Feldgehölze ab etwa 1–2 ha erfolgreich besiedeln. Kurzstrecken-Zieher erreichten erst bei rund 20 ha großen Waldflächen die gebietstypische Artenvielfalt, für Langstrecken-Zieher gab es bei dieser Flächengröße noch keine Sättigung im Artenspektrum. Die Ergebnisse bestärken die deutlich höheren Flächenansprüche bei den Vögeln des Wald-Inneren, von denen die meisten Arten 100 ha als Mindestfläche benötigen. Auf vergleichbarer Grundlage bestimmten Čieslak & Dombrowski (1993; Polen) Wald-Mindestareale für die dauerhafte Besiedlung durch einzelne Vogelarten = 0,4 ha, kleine Artengruppen = 2 ha, einzelne Arten des Wald-Innenklimas = 25 ha. Eine Mindestausstattung an InnenwaldVögeln kam erst ab 50 ha Waldfläche zu Stande (vgl. Abb. 2.14).

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Für große Vogelarten, bzw. Waldarten mit großem Raumbedarf gelten deutlich größere Mindest-Flächenmaße (z.B. Tannenhäher, Schwarz- und Weißrückenspecht, Habichtskauz, Schwarzstorch, Schreiadler, Auerhuhn). Von Fragmentierungs- bzw. Isolations-Effekten innerhalb von Waldlandschaften sind die ganzjährig ortstreuen Arten (Standvögel), darunter die großen Höhlenbrüter, Waldhühner und der Habicht, besonders betroffen, selbst die gemischten Winterschwärme der Meisen (Čieslak & Dombrowski 1993, Čieslak 1994, Newton 2003).

4.2 Gefährdung durch Verfolgung und Störung

Seit Beginn historischer Zeiten war nicht nur das Lebensraumangebot einem steten Wandel unterworfen, sondern auch die Wertschätzung der Waldvögel – im positiven wie im negativen Sinn. Zumindest bis in die Mitte des 20. Jh. (örtlich sogar bis in die Gegenwart) waren zahlreiche Vogelarten einer direkten Verfolgung ausgesetzt: In völliger Unkenntnis der Komplexität waldbezogener Lebensgemeinschaften sahen sich Forstleute wie Jäger zu gezielter „Schädlingsbekämpfung“ verpflichtet, in deren Rahmen nicht nur Uhu und Habicht, Fischadler, Kormoran und Reiher erlegt wurden, mancherorts vernichtete man sogar Spechte – als Holzzerstörer. Auch die „Strauchritter“ und Singvogel-Mörder wie Sperber, Raubwürger, Eichelhäher, Elster, Rabenkrähe und Kolkrabe mussten kurz gehalten werden. Was an Eulen und Rabenvögeln nicht aus Aberglauben liquidiert wurde, musste dem Schießsport dienen, wie Auerhahn und Waldschnepfe; daneben wurden Drosseln und Tauben, Haselhühner und Eichelhäher als Fleischlieferanten gefangen bzw. bejagt. Für Hüttenjagd und Falknerei wurden Nestlinge von Uhu, Steinadler, Habicht, Würg- und Wanderfalke regelmäßig ausgehorstet; für die Stubenvogelhaltung wurden vor allem Gimpel, Erlenzeisig, Fichtenkreuzschnabel, Buchfink, aber auch Grasmücken, Rotkehlchen, Gartenrotschwanz und Nachtigallen gefangen (vgl. Kučera 1972, Strasser, in Lindner 1976). – Neben den Veränderungen der ökologischen Parameter in den Waldlebensräumen sind diese massiven Beeinträchtigungen der Vogelwelt bei einer Interpretation der aktuellen Entwicklung mit in Betracht zu ziehen. Denn dank dem Abbau der utilitaristischen Dichotomie von „nützlich-schädlich“, mit der Einstellung systematischer Verfolgung und dem gesetzlichen Schutz konnten letztlich zahlreiche Vogelarten, die in ihren heimlichen Rückzugsgebieten als anspruchsvolle „Habitatspezialisten“ galten, ihre reale Nische plötzlich beträchtlich ausweiten, was z.B. bei Hohltaube, Uhu und den Greifvögeln besonders auffällig ist. Lange Zeit nur empirisch festgestellt, lassen sich anthropogene Störwirkungen heute durch Messung der Herzschlagrate oder Analyse der Stresshormone direkt am Vogel nachweisen. Ob eine „Störung“ durch Waldarbeit, Holzabfuhr oder Waldwanderer auch bei dem betroffenen Tier als „Störung“ empfunden wird, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab (z.B. Scheu durch negative Erfahrungen infolge Verfolgung oder Jagddruck, über die Mutter oder die Gruppe tradierte Scheu, oder – umgekehrt – Gewöhnung, ja sogar Vertrautheit gegenüber dem Menschen und seiner Tätigkeit). Für die Lebens2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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raumqualität zählt, ob menschliche Störung die Ortswahl eines Vogels beeinflusst (z.B. großräumiges Ausweichen beim Auerhuhn), ob die körperliche Fitness oder gar die Fortpflanzungleistung eines Vogels beeinträchtigt werden (z.B. bei Ausweichen in suboptimales Nahrungsgebiet bei Birkhuhn, Brutaufgabe oder mangelnde Brutpflege aufgrund von Störung bei Schwarzstorch und großen Greifvögeln; vgl. Abb. 2.15, Bildteil). Der Forstbetrieb verursacht eine ganze Reihe von Störungen im Wald, speziell, wenn während der winterlichen Aktivitätspause oder während der nächtlichen Ruhezeiten, sowie zur Balz- und Brutzeit der Vögel gearbeitet wird. – Während vor allem kleinere Vogelarten im Hinblick auf die begleitenden Störungen durch Maschineneinsatz, Lärm oder Licht – sogar bei Nachteinsatz – weniger empfindlich sind, können andere wie Schwarzstorch, Großeulen, Greifvögel, Raufußhühner oder große Spechte durch solcherart menschliche Aktivitäten auch zum Verlassen des Brutplatzes veranlasst werden. Eine direkte und besonders intensive Störung bewirkt die Zerstörung von Nistplätzen, Nestern oder Gelegen, z.B. durch Fällen des Höhlenbaumes, Überfahren eines Bodennestes oder Entfernen eines Niststrauches. Wenn auch indirekt, so wirkt natürlich auch das Fällen von Ansitzwarten (Uhu, Fischadler), Balzbäumen (Auerhuhn), die Entfernung von Wurzeltellern oder Lagerholz (Haselhuhn) als grobe – und nachhaltige – Störung. Des Weiteren kann jede forstliche Maßnahme, soweit sie die Qualität eines Jagd-, Balz- und Brutgebietes gravierend mindert, eine indirekte Störwirkung haben. Häufig unterschätzt wird das Mortalitätsrisiko für Vögel durch Forstzäune. Im Bemühen, trotz hoher Dichte an Wild- oder Weidetieren eine reiche Verjüngung zu sichern, werden Aufforstungsflächen und verbissempfindliche Kulturen meist durch aufwendige Zäune geschützt. Hohe Unfall- und Todesraten an solchen Zäunen sind belegt für Haselhuhn, Sperlings- und Habichtskauz, seltener Sperber oder Habicht (in Norddeutschland auch für den Kranich; Neumann 2008); insbesondere aber für das Auerhuhn, wobei lokale Bestände durch wiederholte Zaunopfer sogar ausgelöscht werden können (Müller 1988, Catt & Dugan 1994). Die Anlage forstlicher Wirtschaftswege induziert eine Reihe touristischer Sekundärnutzungen. Ob die Strecken durch Spaziergänger, Jogger, Reiter, Rad- oder Skifahrer genutzt werden – die Auswirkung der Störung steigt mit Art und Intensität der touristischen Frequentierung. Scheinbar paradox sind dabei Gruppen mit einem gewissen Lärmpegel für viele Vogelarten weniger störend als fast unbemerkt durch den Wald schleichende Besucher, die störende Überraschungseffekte auslösen. Jahreszeitlich und tageszeitlich ungünstig auftretende Störungen – zur Brutzeit bzw. nachts und in der Dämmerungsphase – können für empfindliche Arten, wie Großvögel oder Raufußhühner, Brut- und Arealverlust bedeuten. Die Freizeitindustrie hat ein breites Arsenal von Geländesportarten entwickelt, von denen Nachtwanderungen (Fackellauf ), Schneeschuhwandern im Tiefschnee, Schifahren bei Flutlicht, Canyoning, Rafting, MotoCross oder Eisklettern die wildlebende Tierwelt massiv beeinträchtigen können, speziell während der Zeiten gedrosselten Energiehaushalts. In Ergänzung sei auf Gefährdungen von Waldvögeln durch den Jagdbetrieb hingewiesen. Die mit den Waldbauzielen meist eng verknüpfte Jagd übt einen vielseitigen Einfluss auf die Lebensgemeinschaften des Waldökosystems aus, wenn auch meist indi-

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rekt. Zum einen sind Ansitz- und Bewegungsjagden mit mehr oder minder intensiven Störungen verbunden, und tangieren vor allem Großvögel, insbesondere, wenn deren Revier zu besonders sensiblen Zeiten begangen wird (z.B. Auerhahnbalz, Eiablage bei Schrei-, Fisch- und Seeadler, Brut und Jungenaufzucht bei Schwarzstorch, Kranich). Allein An- und Abfahrten sowie die Anwesenheit des Menschen, ganz besonders der Schießbetrieb, können nachhaltig stören, in noch größerem Umfang die Entnahme von jagdbaren Vögeln. Durch Verwechslung werden regelmäßig auch geschützte Arten erlegt (z.B. Dohlen, Eulen, Greifvögel). Zum anderen zieht die Erschließung des Waldes für Jagdbetrieb und Wildfütterung ein erhebliches Störungspotenzial nach sich (Anlage von Wegen, Wildäckern, Futterstellen, Aufstellen von Jagdkanzeln), speziell wenn sie für den motorisierten Verkehr ausgerichtet wird. In einigen Waldgebieten hat sich die Freihaltung breiter Schussschneisen eingebürgert, möglichst vom Hochsitz aus in alle Richtungen weisend. Damit wird nicht nur der Zerschneidungsgrad der Waldflächen erhöht, sondern auch das Lebensraumpotential für Vögel des Wald-Innenklimas geschwächt, bei gleichzeitiger Anhebung des Prädationsrisikos für die Brutvögel der Boden- und Strauchschicht. – Dass Bachstelze, Hausrotschwanz, Waldkauz oder andere Brutvogelarten die jagdlichen Einrichtungen als Nistplatz und das erhöhte Mäuseangebot an den Wildfütterungen zur Ernährung nutzen können, sollte da – als indirekte Förderung – nicht überbewertet werden.

5 Konzepte für den Vogelschutz im Wald Der Vogelschutz zählt zu den ältesten Artenschutzbewegungen in Wald und Forst. Die Initiative ging schon früh von Forstleuten aus, im Bemühen um ein Gleichgewicht zwischen „Nützlingen“ und „Schädlingen“. Entsprechend selektiv zielten Schonung und Förderung noch zur Mitte des 20. Jh. vor allem auf die „Arbeitsvögel“ ab (wie Meisen, Kleiber, Fliegenschnäpper und Gartenrotschwanz), von denen man sich eine wirksame Unterdrückung, wenn nicht Bekämpfung von Insektengradationen erwartete. Zur Stabilisierung ihrer Siedlungsdichte wurde jeweils ein großflächiges Netz an Winterfütterungen und an Nistkästen installiert (Anonymus 1910, Berlepsch 1926, Henze 1943). Daneben genossen – vor allem in Zusammenhang mit der Kahlschlagswirtschaft – auch die Mäusevertilger (wie Waldkauz, Waldohreule oder Mäusebussard) Vollschonung, und man stellte diesen Ansitzjägern auch gezielt Sitzkrücken auf Kahlflächen und Schonungen auf. Als Auswuchs komplexer Hochrechungen, wieweit die einzelne Vogelart für das „ökologische Gleichgewicht“ im Wald eher nützlich oder eher schädlich sei, wurden im Rahmen dieses forstlichen Vogelschutzes aber ebenso viele Vogelarten verteufelt, wie der Eichelhäher – als Eierräuber, der Sperber – als Singvogeljäger, der Uhu – als potenter Jäger von Niederwild usw. Lange Zeit zählte auch das Auerhuhn zu den „Schadvögeln“, da es die Triebspitzen in Kiefernkulturen verbeißen konnte. Eine halb-amtliche Schrift weist sogar auf das potentielle Schadensrisiko durch Überhandnehmen von Buchfink und Fichtenkreuzschna2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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bel (Anonymus 1910). Schwierig fiel auch die Bilanz für den Kuckuck aus, der einerseits massenhaft schädliche Raupen vertilgt, durch seinen Brutparasitismus aber gleichzeitig die Reproduktionsrate der Singvögel mindern könnte. Besonders konfliktträchtig schienen die Spechte, die sich als Borkenkäfersammler zwar nützlich machen, durch ihre Hacktätigkeit aber den Marktwert von Stammholz mindern können (vgl. Kučera 1972).

5.1 Direkte Schutzmaßnahmen

Das Management des heutigen Vogelschutz im Wald ist auf wissenschaftlicher Grundlage konzipiert, und wird – neben emotionaler Begeisterung für Formenvielfalt und Lebensweise der Vögel – von der Erkenntnis getragen, dass die uns überlieferte Diversität der Waldnatur wesentliche Elemente des mitteleuropäischen Naturerbes repräsentiert. Darüber hinaus wurden spezifische Zielvorgaben in nationalen und internationalen Vereinbarungen verbindlich festgelegt. Basis für Trendeinschätzung und Stützungsmaßnahmen sind jedenfalls seriöse Erhebungen und langfristiges Monitoring der Bestände, speziell bei den gefährdeten Vogelarten. Österreichs Vogelkunde kann da auf aktuelle Verbreitungskarten und Statusangaben aus allen Bundesländern zurückgreifen. Aus den Trendanalysen leitet sich die jeweilige Einstufung einzelner Vogelarten in den „Roten Listen“ ab. Bei der außergewöhnlichen Vielfalt der Naturlandschaften Österreichs sichert die länderweise Ausarbeitung eine ausreichende Differenzierung. Im Bezug zu den Waldvögeln ist ein positiver Bestandstrend bei den Arten des WaldAußenklimas bemerkenswert, der vor allem auf die Ausbreitung reich bepflanzter Gärten zurück geführt wird, – denn innerhalb der Waldbestände lässt sich keine vergleichbare Entwicklung erkennen: Für deutsche Verhältnisse z.B. stellen Flade & Schwarz (2004) zu Anfang des 21. Jh. einen Anstieg bei insgesamt 21 Waldvogelarten an der Peripherie der Städte, aber nur bei 4 von diesen auch in Waldbeständen fest (Sommergoldhähnchen, Haubenmeise, Mönchsgrasmücke, Buntspecht). Hingegen sank im selben Zeitraum die Dichte bei 10 Waldvogelarten (rund 20 % von durchschnittlich 52 Arten); im besonderen Maße waren davon Waldlaubsänger, Fitis und Baumpieper betroffen. Bei Betrachtung der letzten 25–30 Jahre zeigt sich eine Bestandsstabilisierung bei den Altholzarten (z.B. Buntspecht und Kleiber, Schwarzspecht und Hohltaube), bei den Bewohnern reifer Nadelwälder (z.B. Tannen- und Haubenmeise, Sommergoldhähnchen); sogar der Bestand des sensiblen Schwarzstorchs folgt einem positiven Trend. Diese Meldung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass rund 65 % der heimischen Vogelarten in die Kategorie „ungünstiger Erhaltungszustand“ abgerutscht sind, von den Waldbewohnern etwa Grauspecht, Haselund Auerhuhn, Wespenbussard, Rotmilan und Schreiadler (Sudfeldt et al. 2007, 2008). 5.1.1 Europäische Netzwerke Für eine effektive Artensicherung ist entscheidend, dass Datenerhebung, gesetzliche Regelung und praktische Schutzmaßnahmen nicht auf die lokale oder nationale Ebene be-

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schränkt bleiben, sondern – länderübergreifend – in einen Bezug zur gesamteuropäischen Situation gestellt werden. Aus der pan-europäischen Perspektive kristallisieren sich zum einen artspezifische Verbreitungsschwerpunkte heraus, aus denen sich die Verantwortlichkeit einzelner Länder für bestimmte Vogelvorkommen ablesen lässt. Zum anderen bietet sie die Chance, die oft nur kleinräumigen und weit verstreuten Verbreitungsareale zu einem funktionalen Netzwerk aus Schutzgebieten zu verknüpfen. Bei der Entwicklung internationaler Vereinbarungen zur Sicherung der Biodiversität mitteleuropäischer Landschaften war der Vogelschutz jedenfalls ein maßgeblicher Vorreiter. Der Schutz von Waldvogelgemeinschaften ist auf internationaler bzw. europäischer Ebene über wenigstens 2 Schienen geregelt: zum einen durch die Vereinbarungen auf der Forstseite (z.B. Strategie der EU für die Forstwirtschaft 1998, Arbeitsprogramm zur Biologischen Vielfalt in Wäldern 2002 in Den Haag; Konferenzen der Forstminister 1998 in Lissabon, 2003 in Wien, 2007 in Warschau), zum anderen durch die Übereinkommen auf Naturschutzseite (z.B. Übereinkommen über die Biologische Vielfalt Rio de Janeiro 1992, Pan-Europäische Strategie der Umweltminister zur biologischen und landschaftlichen Vielfalt 1995, Beschluss der Biodiversitäts-Strategie und Aktionspläne innerhalb der EU 2001, Umweltaktionsprogramm der EU zum Erhalt der biologischen Vielfalt 2001, Weltgipfel zum Stopp des Diversitätsverlustes weltweit 2002 [„Ziel 2010“], Vertragsstaaten-Konferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt in Bonn 2008; vgl. Schumacher & Winter 2008, Obermayer 2009). Ein erster wichtiger Schritt für den Vogelschutz wurde bereits 1979 mit der europäischen Vogelschutz-Richtlinie (Richtlinie 79/409 EWG) gesetzt, gefolgt von der FaunaFlora-Habitat-Richtlinie 1992 (Richtlinie 92/43 EWG), die beide sehr umfassende Ziele und Aufgaben vorgeben: • Die für die Artensicherung geeignetsten Gebiete sind zu eruieren, zu melden und flächenscharf auszuweisen. (Als Kriterium der Eignung gilt ein Artvorkommen, das örtlich wenigstens 5 % des Gesamtbestandes eines Landes umfasst.) • Die Bestandesentwicklung in den Schutzgebieten ist zu beobachten und in regelmäßigen Zeitabständen darüber zu berichten. • Das Management im Schutzgebiet ist zu überprüfen, um den Schutzstatus zu sichern bzw. Verschlechterungen zu verhindern. • Die gemeldeten Einzelgebiete sind durch Trittsteine, Korridore etc. zum europaweiten Netzwerk „Natura 2000“ räumlich und funktional zu verknüpfen. In Österreich wurden bisher rund 6 500 km2 für dieses europäische Habitat-Netzwerk bereitgestellt; nahezu 50 % der Einzelgebiete haben einen relevanten Waldanteil (Österr. Bundesmin. LMFUW 2005) Die Europ. Vogelschutz-Richtlinie listet im Anhang I die besonders gefährdeten Arten auf; 30 davon sind an Waldlebensräume gebunden (beispielsweise Mittel- und Weißrückenspecht, Zwerg- und Halsbandschnäpper, Hasel- und Auerhuhn, Sperlings- und Raufußkauz). Für diese Vogelarten sind Sonderschutzgebiete auszuweisen (Special Protected Areas = SPA). In Überlappung zu diesem EU-Programm haben die internationalen 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Vogelschutz-Organisationen die Vogelarten – aus globaler Sicht – nach 4 GefährdungsKategorien gruppiert: Kat. 1 = weltweit bedroht, Kat. 2 = europaweit bedeutend, Kat. 3 = aufgrund sehr kleiner Population bedroht, europaweit bedeutend, Kat. 4 = Schwerpunktverbreitung in Europa (> 50 % des Weltbestandes). Zumindest für Arten der Kat. 1–3 sollen Schutzgebiete ausreichender Größe festgelegt werden. Für diese Funktion wurden in Österreich 58 Gebiete mit einer Gesamtfläche von 12 400 km2 (entspricht rund 15 % der Landesfläche) als „Important Bird Areas“ benannt, wenigstens 31 dieser Gebiete beherbergen Waldvogelarten in „national bedeutenden Beständen“ (Dvorak & Karner 1995). Aus der Zusammenführung von Roter Liste, der Artenliste im Anhang I der Europ. Vogelschutz-Richtlinie und der Auflistung durch BirdLife International von „Vogelarten europäischer Relevanz“ (SEC) haben Wichmann & Frühauf (2008) eine Liste der „Naturschutz-relevanten Vogelarten“ Österreichs erarbeitet, die eine wichtige Arbeitsbasis für den Vogelschutz im Wald darstellt (Tab. 2.9). In auffälligem Kontrast zur europaweiten Abstimmung von Gefährdungsgrad, Schutzstatus und Schutzmaßnahmen ist es innerhalb Österreichs bisher nicht gelungen, die Naturschutz- und Jagdgesetze der 9 Bundesländer im Sinne der Artensicherung zu harmonisieren. Als geradezu anachronistisch muss die Eingliederung von Eulen, Greifvögeln, Schnepfen – auch Waldhühnern – in die Jagdgesetzgebung einiger Bundesländer wirken, zumal bei den sehr seltenen und/oder hochgradig gefährdeten Vogelarten, die von einer Bejagung ohnehin auszunehmen sind. 5.1.2 Artenschutz Praxis Der „klassische“ Vogelschutz operierte vorwiegend mit künstlichen Nisthilfen, Fütterungsangebot und Prädatoren-Reduktion. Wenn der „Nistkasten-Vogelschutz“ zur Maximierung von Singvogeldichten zur Schädlingsbekämpfung heute auch keinen Schwerpunkt mehr bildet, kann im Einzelfall das Angebot künstlicher Höhlen und Horste für die Bestandsstützung von gefährdeten Höhlenbrütern (z.B. Hohltaube, Dohle, Wasseramsel, Schellente oder Gänsesäger, Raufuß- und Habichtskauz, sogar Uhu; vgl. Asmussen 2003) oder von Kunstnestern für die Ansiedlung seltener Horstbrüter hilfreich sein (z.B. Weiß- und Schwarzstorch, Wanderfalke, Kaiser- und Seeadler, Fischadler; vgl. Kelm 2008, Langgemach et al. 2008, Schmidt & Müller 2008). Dieses Angebot gilt vielfach nur als Überbrückungsmaßnahme, bis ausreichend Altbäume mit geeigneten Baumkronen für den Horstbau oder mit entsprechenden Großhöhlen als natürliche Requisiten vorhanden sind. Für besonders störungsempfindliche Großvögel erwies sich die Festlegung von Hortschutzzonen als zielführend. Z.B. gilt in Niedersachsen ein forstliches Nutzungsverbot im Radius von 100 m um den Horst; im 300 m Umkreis schließt sich eine Ruhezone an, in der die forstliche Bewirtschaftung ab Anfang Januar bis zum Ausfliegen der Jungvögel untersagt ist. Eine vergleichbare Regelung gilt für Brandenburg, wo das Nutzungsverbot bis 31. August reicht; im restlichen Halbjahr ist neben einer maschinel-

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Nicht-Singvögel (17 Arten)

Birkhuhn Ziegenmelker Kranich        

W-Wasserläuf.            

Gänsesäger Zwergohreule Grünspecht Blutspecht Kleinspecht Wendehals Blauracke

Nachtreiher Seeadler Fischadler Kaiseradler Baumfalke Turteltaube  

Sing-Vögel (13 Arten)

Wasseramsel Heidelerche Baumpieper Ortolan Berglaubsänger

Sprosser Raubwürger Neuntöter    

Gartenbaumläufer Gartenrotschwanz Grauschnäpper Feldsperling  

Saatkrähe        

Nicht-Singvögel (10 Arten)

Uhu              

               

Wiedehopf              

Kormoran Graureiher Weißstorch Steinadler Schwarzmilan Sakerfalke Wanderfalke Turmfalke

 

 

Dohle

 

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fakultative Nutzung von Bäumen (11 Arten)

Bindung an Gehölze und Bäume (30 Arten)

Tab. 2.9: Aus der Kombination von Roter Liste, nationaler Verantwortlichkeit und Gefährdungsgrad der Waldlebensräume haben WICHMANN & FRÜHAUF (2008) eine Liste der „Naturschutz-relevanten Waldvogelarten Österreichs“ erstellt. Unter den insgesamt 75 Vogelarten leben 64 in besonderer Bindung an Wälder bzw. Bäume, darunter überwiegen die Höhlenbrüter mit 27 Arten (Nicht-Singvögel 25%, Singvögel 17%).

len Waldarbeit auch die Jagdausübung untersagt. Nach Janssen (2008) können Fällungsarbeiten eine Schwarzstorchbrut noch aus 1 000 m Entfernung beeinträchtigen (vgl. Abb. 2.15, Bildteil)! Zur Gebietsberuhigung können auch Wanderwege während der Brut- und Aufzuchtszeit gesperrt werden (Kelm 2008, Kollmann 2008, Langgemach et al. 2008). Die meisten Artenschutzverordnungen machen die Berücksichtigung der Winterruhe, Balzund Brutzeiten von Waldvögeln bei forstlichen Arbeiten zur Auflage. Seitens des Vogelschutzes wird eine Wirtschaftsruhe zumindest für die Monate März-Juli gefordert. Da Winterfällung in schneereichen Gebirgslagen nur ausnahmsweise möglich ist, kommt es speziell im Bergwald zu zeitlicher Überlappung von Brutgeschehen und Holznutzung, und damit nicht selten zu Verlust von Gelegen (z.B. Auerhuhn) oder Jungvögeln (z.B. Spechte, Kleineulen). Vogelfütterungen werden in breiter Öffentlichkeit hauptsächlich zur persönlichen Erbauung und der Erleichterung der Vogelbeobachtung angelegt. In Einzelfällen kann systematisches Futterangebot aber auch eine wichtige Artenschutzmaßnahme darstellen, z.B. um Greifvögel und Aasfresser vom Verzehr kontaminierter Kadaver abzulenken (Projekte z.B.

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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für Seeadler). In diesem Zusammenhang wird die letale Wirkung von jagdlicher Bleimunition noch immer unterschätzt: Sowohl Adler als auch Geier können eine tödliche Vergiftung durch Aufnahme von Geschoss-Partikeln im Wildbret oder Blei­schrot im Aufbruch erleiden. Zu den „klassischen“ Artenschutzmaßnahmen zählt auch die Reduktion des Prädationsrisikos. Zwar können Eingriffe in das komplexe Räuber-Beute-System negative Rückwirkungen auf das Wald-Ökosystem bewirken, doch wird z.B. die Bekämpfung von Wildschweinen und Füchsen zur Bestandsstützung von Bodenbrütern (Waldhühnern, Waldschnepfen), der Fang von Krähenvögeln und Habichten zur Senkung der Verlustrate bei Waldhühnern, die Abwehr von Uhus zur Sicherung der Wanderfalkenbrut und von Mardern zur Sicherung von Wanderfalken- und Eulenbruten regelmäßig gefordert. Wegen des hohen Konfliktpotenzials, speziell bei Maßnahmen gegen gefährdete bzw. schützenswerte Vogelarten, und den erheblichen Unsicherheiten über die Effektivität solcher Eingriffe muss im Einzelfall und auf der Basis wissenschaftlicher Expertisen entschieden werden. Einer dringenden Überprüfung bedürfen jedenfalls die jagdlichen Regelungen der Bundesländer, die in einzelnen Fällen die Verfolgung, den Abschuss oder die Erlegung selbst hochgradig gefährdeter Vogelarten zulassen (wie Krähenvögel, Greifvögel, Waldschnepfe, Auer-, Birk- und Haselhuhn; vgl. Johann & Hagenstein 2007). Der Vogelfang, der in einigen Gebirgslandschaften Österreichs noch aus Traditionsgründen genehmigt ist, wird aufgrund der sehr beschränkten Auswahl an meist häufigen Vogelarten (z.B. Erlenzeisig, Gimpel, Fichtenkreuzschnabel) und der gefangenen Mengen deutlich überschätzt. Hier handelt sich eher um ein Tierschutz- als ein Artenschutzproblem. Unbedingt zu fordern ist ein Abbau von Gefährdungsursachen in der Landschaft, zumal der Abbau von Forstzäunen, die Absicherung von Stromleitungen im Wald und eine Geschwindigkeitsbegrenzung an Forststraßen einen wesentlichen Beitrag zur Artensicherung – bei geringem Aufwand – leisten können. – Ein künftig zunehmendes Pro­blemfeld bringt die Errichtung von Windkraftanlagen auf bewaldeten Bergrücken, zumal die Erfahrungen über die Risiken für die Vogelwelt durch Störgeräusch, Schattenwurf und vor allem den direkten Anflug gegen die Rotoren noch sehr lückenhaft ist. Die Vogelschutzwarten Deutschlands haben Vorschläge für Mindestabstände zwischen Windrädern und Brut- und Schlafplätzen für besonders sensible Arten vorgelegt: > 1 000 m z.B. für Auerhuhn, Kranich, Graureiher, Fischadler; > 1 200 m für Kranichschlafplätze; > 3 000 m für Seeadlerhorst; > 6 000 m für Schreiadler-Brutplatz (LAG-VSW 2007). In begründeten Fällen kann eine künstliche Bestandsaufstockung oder eine Wiederansiedlung von Waldvogelarten durch Umsiedlung von Wildfängen (z.B. HaselhuhnProjekte in Niedersachsen und Thüringen; Bergmann & Niklasch 1995, Klaus et al. 2009) oder Auswilderung von Nachzuchten aus der Gefangenschaft (z.B. Auerhuhnund Habichtskauz-Projekte im Inneren Bayer. Wald; Scherzinger 1991.a, 1994, 2003, 2006.b) die Sicherung bedrohter bzw. die Etablierung örtlich ausgestorbener Arten unterstützen. Als wichtige Maßnahme ist letztlich eine breite Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit einzustufen, die für den Arten- und Biotopschutz wirbt, wobei sich gerade eine Reihe besonders attraktiver Waldvögel als flagship-Arten bevorzugt eignen (z.B. Schwarzspecht, Raufußkauz, Auerhuhn, Schwarzstorch).

132 I

Wolfgang Scherzinger

5.1.3 Biotopschutz-Praxis Als bester Weg der Lebensraum-Sicherung gilt traditionell die Ausweisung spezieller Vogelschutzgebiete. Solche wurden in Österreich sowohl durch die Naturschutzbehörden als auch durch private Verbände begründet (z.B. Blauer Kreis, WWF). Mit der Ratifizierung der Europäischen Übereinkommen hat sich Österreich zur Nennung von Special Protected Areas, Important bird areas und FFH-Gebieten verpflichtet (vgl. Tab. 2.11, Bildteil). Rein statistisch unterliegen 3 % der Österreichischen Waldfläche einem strengen Schutz (z.B. Naturschutzgebiet, nutzungsfreie Kernzone der Nationalparks) und 23 % sind Teil von Landschaftsschutzgebieten. Diese Gebiete haben sehr unterschiedlichen Schutzstatus und differieren auch hinsichtlich der forstlichen Nutzungsregelungen. Von forstlicher (und z.T. auch jagdlicher) Nutzung freigestellte Waldgebiete sind meist kostspielig und daher flächenmäßig beschränkt. Neben diesen wenigen Flächenprozenten, die den „ökologischen“ Schutzzielen vorbehalten sind, bleibt daher die überwiegende Fläche einer „ökonomischen“ Entwicklung vorbehalten. Eine solche Auftrennung in Schutz- und Nutzgebiete folgt dem „Segregations-Modell“. Überwogen bisher Klein- und Kleinstflächen im Biotop- und Artenschutz, wurden in den letzten Jahren mit der Ausweisung von nutzungsfreien Naturwaldreservaten, den Kerngebieten von Biosphären-Reservaten und Nationalparks sowie dem Wildnisgebiet Dürrenstein auch große, geschlossene Waldflächen den Naturschutzaufgaben gewidmet (nach der Inventur aus 2002 beträgt der nutzungsfreie Waldanteil 12  % [inklusive Schutzwald außer Ertrag]; Österr. Bundesmin. LMFUW 2008). Entsprechend der überragenden Bedeutung für den Vogelschutz sind diese Waldflächen, die einer natürlichen Differenzierung überlassenen bleiben, im Wesentlichen als Important Bird Areas benannt (Dvorak & Karner 1995). Zweifellos sind derartige Schutzgebiete für den vielseitigen Naturschutzauftrag in jeder Größenordnung unverzichtbar. Doch können sie niemals ausreichende Flächenprozente in allen Naturschutz-relevanten Biotop-Typen abdecken. Deshalb gilt es heute als evident, dass das Überleben oder Aussterben der waldspezifischen Pflanzen- und Tierarten letztlich auf der wesentlich größeren und weiter verbreiteten Fläche des bewirtschafteten Waldes entschieden wird (vgl. Möhring 1999, Heinrich 2003; Tab. 2.10, Bildteil). Zur Sicherung der waldspezifischen Biodiversität müssen daher Naturschutzleistungen bestmöglich in die Konzeptionen von Waldbau und Holznutzung integriert werden. Einem solchen „Integrations-Modell“ kommt es sehr entgegen, dass innerhalb der Avifauna mitteleuropäischer Wälder keine der Vogelarten auf unberührte Urwälder angewiesen ist. – Es gibt in Österreich keine stenöken „Urwaldarten“ – wohl aber zahlreiche Vögel, deren Existenz eng an die Dynamik und die Strukturmerkmale natürlicher Wälder gebunden ist. Unter Berücksichtigung dieses Bedarfs an Ressourcen und Requisiten der heimischen Vogelwelt sollte das großflächige Angebot an Sekundärbiotopen bewirtschafteter Wälder für die Sicherung der Artendiversität grundsätzlich geeignet sein. Die Konzepte von „Segregation“ und „Integration“ sollten dabei nicht als Alternativen verstanden werden, vielmehr bedarf es einer bestmöglichen Verknüpfung beider Konzepte, um den Erfordernissen eines „Naturschutz´ auf ganzer Fläche“ gerecht zu werden. 2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Denn die Zukunftssicherung der waldspezifischen Biodiversität kann nur im Zusammenwirken von Schutz- und Nutzwald erfolgen (vgl. Scherzinger 1996). Die Konzeption der „Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie“ der EU folgt im Grundsatz diesem Weg, da zeitgemäße Bestandssicherung von Vogelarten nicht automatisch mit Flächenstilllegung und Nutzungsverzicht gleichgesetzt werden muss, vielmehr die Entwicklung einer naturschonenden und – in jeder Hinsicht – nachhaltigen Bewirtschaftung impliziert.

5.2 Anforderungen für eine Integration im Wirtschaftswald

Bis vor wenigen Jahren gingen die Forstleute noch davon aus, dass im konventionellen Forstbetrieb ohnehin eine ausreichende Ausstattung an Lebensraumrequisiten geboten wird. Daher müssten weder Beschränkung oder gar Einstellung der Holznutzung diskutiert werden, zumal selbst bedrohte Pflanzen- und Tierarten im „Kielwasser“ der Waldbewirtschaftung automatisch eine Überlebenschance erhielten. Tatsächlich sind aber die forstlichen Eingriffsqualitäten sehr uneinheitlich, und – als Folge der raschen technischen Entwicklung - vor allem einem sprunghaften Wandel unterworfen. Aus dem fundierten Vergleich von Naturwald, naturnah bewirtschaftetem Wald und konventionellem Forstbetrieb geht jedenfalls eindeutig hervor, dass die für die Bestandssicherung waldspezifischer Biodiversität erforderlichen Ressourcen und Requisiten durch die forstliche Lenkung und Nutzung Zug um Zug verloren gehen – und nur über die Integration gezielter Schutzkonzepte erhalten werden können (Tab. 2.12). – Die sogenannte „Kielwassertheorie“ ist im Spiegel des realen Gefährdungsgrades von Pilzen, Flechten, Bärlappen und Kleinfarnen, Laufkäfern und xylobionten Insekten, Waldhühnern und höhlenbrütenden Vögeln des Waldes heute jedenfalls nicht mehr glaubhaft (vgl. Scherzinger 1996, Kleinschmit 1999). Unsere heutigen Kenntnisse über die Biologie der gefährdeten Arten reichten aus, um den Bedarf an erforderlichen Requisiten und Ressourcen artspezifisch aufzulisten. Traditionell werden solche rein autökologischen Ansätze z.B. zur Stützung von Auerhühnern, Raufußkauz- oder Weißrückenspechtvorkommen diskutiert. Bei der beschränkten Waldfläche ist es aber völlig unrealistisch, für jede einzelne Vogelart ein eigenes Managementkonzept zu verwirklichen. Daher werden die essentiellen Parameter hinsichtlich Waldstruktur und Nahrungsangebot zusammengefasst, soweit sie für die Sicherung der Diversität naturnaher Waldlebensgemeinschaften maßgeblich erscheinen, unter besonderer Berücksichtigung der Naturschutz-relevanten Vogelarten (vgl. Auswahl bei Wichmann & Frühauf 2008).

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Nutzungs-Konzepte

Waldweide Weidewald

Niederwald

Mittelwald

Schirmschlag

schlagweiser Hochwald Groß-Kahlschlag

Saumschlag

Femelschlag kleinflächige Schläge

Plenterung Klimaxorientierter Dauerwald

Prozesswald

Naturwald Reservat

Nest-Gilde

Tab. 2.12 Aus der Gegenüberstellung ausgewählter Waldgesellschaften und charakteristischer WaldnutzungsTypen lassen sich die Auswirkungen der einzelnen Maßnahmen auf die Diversität der Waldvögel ablesen (Artenauswahl nach Leitarten für jeweils 5 Nestgilden [Bo = Bodenbrüter, Bu = Buschbrüter, Sp = Spechtart, Hö = Höhlenbrüter, KS = Kronenbrüter/Singvogel, KN = Kronenbrüter/Nicht-Singvogel). Von den historischen Nutzungsformen bietet der Weidewald, von den konventionellen der Saumschlag und von den naturgemäßen der Prozesswald die relativ günstigsten Lebensraumbedingungen im Vergleich zum nutzungsfreien Naturwald (aus Scherzinger & Schumacher 2004).

Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN Bo Bu Sp Hö KS KN

Nadelwald d. Ebene

Auen- u. Bruchwald

Laubmischwald

Buchenwald

Bergmischwald

Gebirgs-Nadelwald

Kiefer-Fichte (Birke, Eiche)

Weiden-Pappeln-Erle (Ahorn, Eiche)

Eiche-HainbucheLinde-Esche-Buche

Rotbuche-Bergahorn (Esche, Tanne)

Fichte-Tanne-Buche (Ahorne, Esche)

Fichte-Tanne (Kiefer, Lärche, Zirbe)

Ziegenmelker Fitis Buntspecht Haubenmeise Fichtenkreuzschnabel Waldohreule

Nachtigall Grauspecht Waldkauz Pirol Nachtigall / Sprosser

Fitis Buntspecht Haubenmeise Fichtenkreuzschnabel Waldohreule Ziegenmelker Fitis Haubenmeise Fichtenkreuzschnabel Waldohreule

Schwanzmeise Mittelspecht Hohltaube Trauerschnäpper Rotmilan Waldschnepfe Schwanzmeise

Kranich Nachtigall Grauspecht Waldkauz Pirol

Waldschnepfe Schwanzmeise Mittelspecht Hohltaube Trauerschnäpper Rotmilan Waldschnepfe

Grauspecht Waldkauz Pirol

Mittelspecht Hohltaube Trauerschnäpper Rotmilan Waldschnepfe Schwanzmeise Mittelspecht

Kranich Nachtigall

Mönchsgrasmücke Schwarzspecht Kleiber Wespenbussard Haselhuhn

Haselhuhn Rauhfußkauz Gartenrotschwanz Habicht

Auerhuhn Ringdrossel Dreizehenspecht Sperlingskauz Wintergoldhähnchen Tannenhäher

Mönchsgrasmücke Schwarzspecht Kleiber Wespenbussard Mönchsgrasmücke Schwarzspecht Kleiber Wespenbussard Schwarzspecht Kleiber Zwergschnäpper Wespenbussard

Waldlaubsänger Weißrückenspecht Rauhfußkauz Gartenrotschwanz Habicht Haselhuhn Waldlaubsänger

Auerhuhn Ringdrossel Dreizehenspecht Sperlingskauz Tannenhäher Ringdrossel Dreizehenspecht Sperlingskauz Wintergoldhähnchen Tannenhäher Auerhuhn Ringdrossel Dreizehenspecht Sperlingskauz Wintergoldhähnchen Tannenhäher

Pirol Schwarzstorch Kranich Nachtigall / Sprosser Grauspecht Waldkauz Pirol Schwarzstorch Kranich

Rotmilan Waldschnepfe Schwanzmeise Mittelspecht Hohltaube Trauerschnäpper Rotmilan Waldschnepfe

Grauspecht Waldkauz Pirol Schwarzstorch

Mittelspecht Hohltaube Trauerschnäpper Rotmilan

Mönchsgrasmücke Schwarzspecht Kleiber Zwergschnäpper Wespenbussard

Ziegenmelker Fitis Buntspecht Haubenmeise Fichtenkreuzschnabel Waldohreule

Grauspecht Waldkauz Pirol Schwarzstorch Kranich Nachtigall / Sprosser Grauspecht Waldkauz Pirol Schwarzstorch

Mittelspecht Hohltaube Trauerschnäpper Rotmilan Waldschnepfe Schwanzmeise Mittelspecht Hohltaube Trauerschnäpper Rotmilan

Schwarzspecht Kleiber Zwergschnäpper Wespenbussard (Haselhuhn) Mönchsgrasmücke Schwarzspecht Kleiber Zwergschnäpper Wespenbussard

Habicht Haselhuhn Waldlaubsänger Weißrückenspecht Rauhfußkauz Gartenrotschwanz Habicht

Dreizehenspecht Sperlingskauz Wintergoldhähnchen Tannenhäher Auerhuhn Ringdrossel Dreizehenspecht Sperlingskauz Wintergoldhähnchen Tannenhäher

Ziegenmelker Fitis Buntspecht Haubenmeise Fichtenkreuzschnabel Waldohreule

Kranich Nachtigall / Sprosser Grauspecht Waldkauz Pirol Schwarzstorch

Waldschnepfe Schwanzmeise Mittelspecht Hohltaube Trauerschnäpper Rotmilan

(Haselhuhn) Mönchsgrasmücke Schwarzspecht Kleiber Zwergschnäpper Wespenbussard

Haselhuhn Waldlaubsänger Weißrückenspecht Rauhfußkauz Gartenrotschwanz Habicht

Auerhuhn Ringdrossel Dreizehenspecht Sperlingskauz Wintergoldhähnchen Tannenhäher

Fitis Buntspecht Haubenmeise Fichtenkreuzschnabel Waldohreule Fitis Buntspecht Haubenmeise Fichtenkreuzschnabel

Buntspecht Haubenmeise Fichtenkreuzschnabel

Mönchsgrasmücke Schwarzspecht Kleiber Zwergschnäpper Wespenbussard

Habicht Haselhuhn Waldlaubsänger Weißrückenspecht Rauhfußkauz Gartenrotschwanz Habicht Waldlaubsänger Weißrückenspecht Rauhfußkauz Habicht Waldlaubsänger Weißrückenspecht Rauhfußkauz

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

Dreizehenspecht Sperlingskauz Wintergoldhähnchen Tannenhäher

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5.2.1 Sicherung von Altholz Die Altersmerkmale von Bäumen sind ein Schlüsselkriterium für die Biodiversität im Wald. Da sich der Zeitpunkt der Fällung i.R. nach Holzzuwachs, BH Durchmesser und Marktlage orientiert, kommen die Bäume nicht zur Ausreifung. Aus Sicht des Naturund Vogelschutzes wäre daher eine höchstmögliche Anhebung der Umtriebszeit zu fordern (Foto 2.43, Bildteil). In der Vereinbarung zwischen BirdLife Österreich und den Österr. Bundesforsten ist eine Verschiebung des Erntealters um 10 (20) Jahre vorgesehen (Wichmann & Frühauf 2008). Mit der Zielvorgabe für die Waldwirtschaft in Niedersachsen gibt es bereits Ansätze für eine Mindestausstattung mit 5 „Habitatbäumen“ pro ha (Kelm 2008). Analog wird zurzeit in Brandenburg das Projekt „Methusalem“ entwickelt und getestet. In Modellrevieren des Bayerischen Staatsforstes werden seit Jahren alle Alt- und Höhlenbäume mit Biotopfunktion kartiert und – soweit aus betriebs- und verkehrstechnischen Gründen möglich – dauerhaft aus der Nutzung genommen (z.B. Schmidt 1996). – Falls dieser Weg nicht bereits im Rahmen des Forstbetriebs realisierbar wäre (z.B. Wertminderung des Stammholzes, Sicherheitsrisiko für Waldarbeiter), wird eine finanzielle Abgeltung empfohlen. Diesen Weg versuchte der Naturschutzbund Österreich mit dem Modell der „Baumpensionen“, durch das der Erhalt uralter, hohler, anbrüchiger oder landschaftsprägender Baumindividuen gefördert werden kann (Naturschutzbund Österreich 2001). Mit der Ausscheidung ganzer Gruppen alter Buchen – als „Altholz-Insel“ – versuchte die Hessische Forstverwaltung einen fachlich besser begründeten Weg, für den es nach rund 15 Jahren erste Erfolgskontrollen gibt. Sie bestätigen, dass die Ausweisung nutzungsfreier Baumgruppen einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der auf alte und überalterte Bäume angewiesenen Fauna leisten kann. Voraussetzung ist allerdings, dass die Einzelflächen ausreichende Größen erreichen und auf wüchsigem Standort auch stark dimensionierte Laubbäume aufweisen können, dass letztlich die einzelnen „Inseln“ als Verbundsystem vernetzt werden (Jedicke 1994). Noch nicht geklärt ist die rechtzeitige Sicherung von Folgebeständen, zur Bereitstellung künftiger Althölzer. – Konsens herrscht zwischen Forst- und Naturschutzverwaltung, dass ein Nutzungsverzicht in größerem Umfang durch Flächenerwerb oder Finanzausgleich geregelt werden muss (Kluxen & Detsch 2003). 5.2.2 Sonderstrukturen Die Schonung von Höhlenbäumen (Schwarzspechthöhlen, große Fäulnishöhlen) und von Horstbäumen der Großvogelarten wurde z.B. in Niedersachsen als Zielvorgabe für eine naturnahe Waldwirtschaft verbindlich festgelegt – und zwar unabhängig von der aktuellen Besetzung durch den Brutvogel (Kelm 2008, Langgemach et al. 2008). Tatsächlich wählen z.B. Schrei- und Fischadler oder Schwarzstorch den Horstplatz sehr selektiv, sowohl nach der Eignung des Baumes als auch nach seiner Lage in der Landschaft (z.B. Nähe zu Wasser und Jagdgebiet, Entfernung zu Ausweichhorsten; vgl. Janssen 2008). Viele Strukturen, die sich infolge des natürlichen Waldwachstums autark ausformen und für die Waldfauna diversitätsbestimmend sein können, werden im Forstbetrieb „automatisch“

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entfernt, wie krumme oder drehwüchsige Baumstämme, grobastige Wipfel, voluminösbreite Kronen, ausgebrochene Zwieselstämme etc. Ihr Erhalt als „Habitatbäume“ lässt sich analog zur Altbaumsicherung regeln. Dasselbe gilt für geworfene Wurzelteller – samt den dazu gehörigen Wurzelmulden, für starkes Lager- und Moderholz – alles Strukturen, die im bodenkahlen Hallenwald oft die einzigen Brut- und Versteckmöglichkeiten für Vögel bieten. 5.2.3 Belassen von Bruch- und Totholz Spalten, Risse, Klüfte, Höhlungen an Uraltbäumen sind die wichtigsten Ansatzpunkte für die Ausbildung von Kleinhöhlen, wie sie von höhlenbrütenden Singvögeln präferiert werden. Spechte bevorzugen zum Höhlenbau Bruchstellen in der Baumkrone oder hohe Stammstümpfe nach Wipfelbruch. Das Belassen solcher Baumruinen, ohne ökonomischen – dafür umso höheren ökologischen „Wert“ – ist i.R. unproblematisch (Abb. 2.16; ausgenommen an Wanderwegen wegen der Verkehrssicherung). Große Mengen an Bruch-, Sturm- bzw. Totholz fallen bei katastrophenartigen Störereignissen an. Üblicherweise wird die Holzmasse schnellstmöglich aufgearbeitet und die Schadfläche geräumt. Wie die vergleichenden Untersuchungen im Schweizer Bergwald und im Inneren Baye-

Abb. 2.16: Noch so gut gemeinte Nistkasten-Aktionen können die Angebotsvielfalt natürlicher Höhlenbäume nicht ersetzen („Altbau[m]-Sanierung“; aus Ornithol. Kalender/Aula-Verlag 1994).

2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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Foto 2.44: Das Belassen von Totholz wurde zum Schlüsselkriterium für den Artenschutz im Wald, wobei Mindestmengen von 40 m³ diskutiert werden, um auch hochgradig gefährdete „Urwaldzeiger“ unter den xylobionten Käfern zu sichern (Naturwaldreservat; Neuburger Wald).

rischen Wald gezeigt haben, kann ein solcher „Verhau“ aber einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Biodiversität leisten, speziell bei xylobionten Organismen (vgl. Müller & Bütler 2010). Vom Angebot an Wirbellosen und Sonderstrukturen profitiert letztlich auch die Vogelwelt. Außerdem weisen Schönenberger et al. (2002) auf die günstigeren Wuchsbedingungen für die Waldverjüngung bei Unterdrückung der „Ordnungsliebe“. Das Belassen bzw. Fördern von Totholz wurde in den letzten Jahren zu einem Schlüsselkriterium für den Artenschutz im Wald, doch stößt dieser Weg noch auf z.T. heftige Akzeptanzprobleme, sowohl in der forstlichen Praxis als auch in der Öffentlichkeit (Foto 2.44). Soweit die Ablehnung nur ästhetisch begründet ist, kann eine Demonstration der hohen Bedeutung von Totholz als Requisite oder Ressource für die Tierwelt aufklären. Bedenken von forstlicher Seite betreffen weniger den Nutzungsverzicht von abgestorbenen oder schon angemorschten Bäumen, als die Frage nach möglichen Folgeschäden durch Pilz- oder Insektenbefall des umgebenden Bestandes. Die Ergebnisse aus der Naturwaldforschung haben gezeigt, dass das Belassen toter Laubbäume (einzeln oder in Gruppen) im wesentlichen unbedenklich ist, bei frisch abgestorbenen Fichten das Management im Einzelfall zu entscheiden ist (je nach Borkenkäferbefall und Witterung), hingegen von Fichtendürrlingen kein Risiko mehr ausgeht (Schönenberger et al. 2002). Nach breiter Diskussion, welche Mengen an Totholz zur Stützung der Artendiversität im Wald benötigt werden, gelten heute Mindestmengen von 40 m3 als Konsens, wenn auch die hochgradig gefährdeten „Urwaldzeiger“ unter den Xylobionten begünstigt werden sollen (entspricht etwa 10 „Biotopbäumen“ pro ha im Buchenwald, Bussler & Müller 2006; Müller & Bütler 2010). 5.2.4 Stufigkeit Da die Vielfalt unterschiedlicher „Nischen“ der Waldvögel auch eine Funktion der Vielfalt an Schichten in Wäldern ist, kommt der Stufigkeit durch unterschiedlich alte bzw. hohe Bäume eine erhebliche Bedeutung zu. Innerhalb natürlicher Waldentwicklungsphasen ist eine reiche Stufigkeit für die Alters-, Plenter- und Zerfallsphase charakteristisch. Die Entwicklung einer ausgeprägten Vertikalstruktur – entsprechend der Plenterphase – ist z.B. durch die Vergesellschaftung von Baumarten mit unterschiedlichem Lichtbedarf

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möglich. Waldbauliches Paradebeispiel ist die Tanne, die dem Unter- und Zwischenstand über Jahrzehnte Struktur geben kann. Die Förderung der Tanne setzt langfristige Verjüngungsverfahren und angepasste Wilddichten voraus (Johann & Hagenstein 2007, Hockenjos 2008). Mit langsamwüchsigen Schattenbäumen kann die Erziehung einer Plenterstruktur sogar im reinen Fichtenbestand gelingen (z.B. Stift Schlägl/OÖ; Reininger 1987). Eine Alternative ist die Schaffung kleiner Verjüngungshorste unter dem Schirm eines schütteren Kronendachs, was strukturell in etwa der Zerfallsphase entspricht. Von der Annahme ausgehend, dass die heimischen (streng genommen Standort-heimischen) Baumarten die evolutiv bestmögliche Passung für die Habitatansprüche der heimischen Waldvögel bieten, wird für den Vogelschutz eine jeweils gebietstypische Baumartenzusammensetzung propagiert, unter bestmöglicher Integration der Pionierund Mischbaum­arten. 5.2.5 Wald-Lückensystem Von der Vielfalt heimischer Waldvögel sind die Arten des Wald-Innenklimas besonders gefährdet, speziell Arten mit sehr großem Flächenbedarf (z.B. Auerhuhn). Ihre Habitatpräferenz unterliegt einem Dilemma, da sie einerseits geschlossene Altbestände benötigen, unter deren beschattendem Kronendach oft aber keine ausreichende Nahrung finden. Für sie haben Waldlücken, Lichtungen und kleine Wiesen eine hohe Bedeutung, solange solche Freiflächen nicht zur Fragmentierung führen. Im Zuge natürlicher Entwicklungsdynamik bildet sich – über Baumsturzlücken, „Käferlöcher“, auch Erosion am Bergbach oder Weidedruck durch Großherbivore – ein Waldlückensystem aus, das genau die erforderliche Kombination aus Altwald und Lichtung bietet. Daraus folgert die dringende Empfehlung, eine autogene Lückenbildung zu zulassen, nicht jede Lücke aufzuforsten, diese vielmehr der Sukzession zu überlassen (vgl. 2.3, 5.2.6, 5.4). – Das Zulassen einer „wilden“ Dynamik empfiehlt sich auch für kleine Störungsflächen, damit die Pioniervegetation Fuß fassen kann, wie sie z.B. für Laubsänger und Grasmücken förderlich ist, Auerhuhnküken als Unterstand und Nahrungsfläche dient, für den Lebensraum des Haselhuhns letztlich unabdingbar ist. Auf Wirtschaftsflächen schwieriger zu realisieren ist allerdings eine ungelenkte Sukzession auf großen Flächen, wie sie in der Naturlandschaft z.B. infolge gewaltiger Störereignisse zu Stande kommt. Hier gibt es Bedenken, dass sich nachfolgend Kalamitäten aufschaukeln könnten (z.B. Waldbrand oder Verklausung, Schädigung des Nutzholzes durch Pilzbefall, Mäuse- oder Insektengradationen); nicht zuletzt wird eine erhebliche Erschwernis der Bewirtschaftung und ein erhöhtes Unfallrisiko für die Waldarbeit befürchtet. Zu diesem Fragenkomplex hat die Eidgenössische Landesanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Birmensdorf/Schweiz ein 10-jähriges Monitoring unter den erschwerten Bedingungen des Gebirgswaldes ausgewertet: Die Schlussfolgerungen sind für den Naturschutz im Wald von hoher Relevanz, bestätigen sie doch, dass das Zulassen spontan-autogener Sukzessionen auf Sturmflächen für Wasserhaushalt, Bodenbildung und die Entfaltung einer standortstypischen Diversität in Vegetation und Tierwelt in vielen Fällen günstiger – und billiger – ist, als die traditionelle Aufarbeitung von Schad2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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holz, mit Flächenräumung und nachfolgender Wiederaufforstung (Schönenberger et al. 2002). Im Fichtenwald muss der Entscheidung zum „Nichts-Tun“ allerdings eine Risikoabschätzung vorausgehen, zumal die Gefahr eines flächenübergreifenden Borkenkäferbefalls infolge des „Klimawandels“ eher noch zunimmt. 5.2.6 Kleinstrukturen, eingesprengte Habitat-Elemente In Ergänzung zur strukturellen Vielfalt der Baumbestände erhöhen eingesprengte Kleinstrukturen das Lebensraumpotential eines Waldes für die Vogelwelt ganz erheblich (synergistische Verzahnung von α-, β- und γ-Diversität). Dazu zählen nicht nur Quellbereiche, Tümpel, Altarme in der Au, Gerinne oder Blockböden, Felsköpfe und abgerutschte Böschungen, sondern auch feuchte Senken, trockene Sandhügel oder ausgehagerte Böden sowie kleine Waldmoore. Zur Wahrung eines solchen Flächenmosaiks ist streng darauf zu achten, dass die klein-standörtliche Vielfalt weder durch Forstwegebau noch durch Holzrückung, durch Auffüllung von Bodenmulden, Ablagerung von Astmaterial oder Rindenhaufen nivelliert wird.

5.3 Die „gute fachliche Praxis“

Für einen zeitgemäßen Vogelschutz im Wald sind die extrem verschiedenen Trends künftiger Waldbewirtschaftung von großer Bedeutung. Einer Maximierung der Biomassegewinnung durch den Einsatz von Großmaschinen im 24-Stunden-Betrieb in agrartechnisch organisierten Plantagen auf mehr oder minder homogenisierten Standorten auf der einen Seite steht der Anspruch zur Multifunktionalität auf der anderen Seite gegenüber, der den Wald – trotz Nutzungseingriffen – als naturnahes Ökosystem und Arche für die heimische Biodiversität bewahren will. Schlüssel für die Erfüllung derart weitgesteckter Nachhaltigkeits-Ziele ist eine kooperative Entwicklung naturschutzrelevanter Konzepte in Waldbau und Waldbewirtschaftung. Die noch junge Initiative von BirdLife Österreich und den Österr. Bundesforsten, auf zunächst 3 Probeflächen die Forderungen der Vogelschützer in die Waldbewirtschaftungspläne zu integrieren, verspricht, ein zukunftsträchtiges Modell zu werden (Wichmann & Frühauf 2008). Die Vorschläge greifen – in einem synökologischen Ansatz – an den für den Artenreichtum wesentlichen Alters- und Strukturmerkmalen der Bestände an. Da die artspezifischen Habitatansprüche aller Waldvögel keineswegs kongruent sein können, orientiert sich das Management vor allem an den meist gefährdeten Vogelarten. Das Konzept zielt dabei nicht auf eine Maximierung von Artenzahlen, sondern auf die Langzeit-Sicherung von ökosystemtypischen Artengemeinschaften. Unter dem Begriff einer „ordnungsgemäßen Waldwirtschaft“ wurden bislang alle forstlichen Eingriffe subsumiert, die der Erschließung, Pflege und Nutzung dienten. Da aber verbindliche Kriterien fehlten, welche Maßnahmen z.B. nicht mehr als „ordnungsgemäß“ zu akzeptieren wären, konnte sich diese sehr unkonkrete Formulierung nicht als Basis für eine Forst-Naturschutz-Kooperation eignen. Umso wichtiger erschien die Initi-

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Foto 2.45: Zur „guten fachlichen Praxis“ zählt der Verzicht auf Großkahlschlag, der nicht nur Bodenaushagerung und Erosion begünstigt, sondern für ortstreue Vogelarten auch eine Barrierewirkung ausüben kann (z.B. Haselhuhn; südl. Totes Gebirge).

ative der EU, naturschutzrelevante Mindeststandards in der Waldbewirtschaftung für alle Mitgliedsländer zu definieren. Unter dem Schlagwort der „guten fachlichen Praxis“ wurden von einer Expertenrunde an der Universität Freiburg/Br. in einem ersten Entwurf für die deutschsprachigen Länder sowohl Positiv-Merkmale zusammengefasst, die für die Artensicherung im Wald von Bedeutung sind (wie hohe Altersklassen, ausreichend Totholz, Schonung von Höhlen- und Horstbäumen, Belassen von Pionierstadien auf beschränkter Fläche, günstige Vertikalstruktur [Stufigkeit der Bestände] und Horizontalstruktur [hoch-diverses Flächen-Mosaik]), als auch Negativ-Merkmale, die für die Biodiversität im Wald abträglich sind (z.B. Ganzbaum-Nutzung, Großkahlschlag, Holzeinschlag zur Balz- und Brutzeit, exzessiver Wegebau und Übererschließung, Einsatz von Düngern und Pestiziden, großflächiger Anbau von Monokulturen, speziell von florenfremden Nadelhölzern; Winkel & Volz 2003; Foto 2.45). Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit im Natur- und Artenschutz liegen aber schon seit längerem gute Erfahrungen mit Waldbewirtschaftungs-Konzepten vor, die sich wesentlich klarer an einer umfassenden Nachhaltigkeit (ökonomisch – ökologisch – sozial) orientieren: So ist z.B. von der „naturnahen Forstwirtschaft“ eine hohe NaturschutzRelevanz zu erwarten, soweit sie sich auf kleinflächig-femelartige Nutzungseinheiten beschränkt, weiters innerhalb der Wirtschaftsflächen ein ausreichend dichtes Netz von Sonderstandorten erhält (z.B. Kleingewässer, Feuchtmulden, Felsblöcke, Kiesbänke, Sanddünen), biotopprägende Einzelstrukturen sichert (z.B. aufgekippte Wurzelteller, Stelzwurzeln, Bruchstämme) und eine ausreichende Anzahl an „Biotopbäumen“ akzeptiert (Ammer 1992, Bussler & Müller 2006). Ein deutlich anspruchsvolleres Management verlangt die „naturgemäße Waldwirtschaft“, die auf ein dauerhaftes Angebot an alten, gut gestuften Mischwäldern abzielt, auf der Basis standortstypischer Altbestände. Von der plenterartigen Struktur, die durch ein kleinräumiges Mosaik aus Verjüngungsgruppen und unterschiedlich alten Baumhorsten erreicht wird, verspricht sich der Waldbauer eine maximale Stabilität der Bestände (z.B. Reininger 1987, Mlinsek 1994, Weiger 1994). Durch das Ziel einer maximalen Nachhaltigkeit in der Produktion von Qualitätsholz wird die Dominanz alter Einzelbäume begünstigt, was vor allem

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Vogelarten des „Wald-Innenklimas“ zu Gute kommt (z.B. Baumläufer, Fliegenschnäpper, Spechte). – Allerdings verhindert die fortlaufende Selektion auf den Zukunftsstamm die Ausbildung skurriler Wuchsformen, von Bruchstellen, Rissen, Klüften oder Fäulnishöhlen, auch verbleibt bei einer „Zielstärkennutzung“ kaum stehendes Totholz stärkerer Dimensionierung im Bestand. Durch das stark beschattende Kronendach und die ausgeprägte Schichtung sind außerdem licht- und wärmebedürftige Arten benachteiligt. Mit Spannung werden erste Ergebnisse aus dem Modell des „Prozess-Waldes“ erwartet, das einen bestmöglichen Kompromiss zwischen nachhaltiger Holzproduktion und nachhaltigem Biotopschutz verspricht. Bei dem Experiment im Lübecker Stadtwald wird eine kleinräumige Mosaikverteilung von Wirtschaftsbereichen und nutzungsfreien Referenzflächen (10 % der Waldfläche) entwickelt. Davon erwarten sich die Manager eine wirksame Vernetzung von Altholzblöcken, Verjüngungskernen, Stangen- und Baumhölzern, – vergleichbar jener patchiness, wie sie sich in Urwäldern infolge einer Mosaikverteilung unterschiedlichster Wald-Entwicklungsphasen entfalten würde (Sturm 1995, Fähser 2002). 5.4 Konservierende Pflegekonzepte Die vielfältigen Waldnutzungen in vorindustrieller Zeit waren z.T. durch extrem kurze Umtriebszeiten und Mehrfach-Übernutzung der Bestände charakterisiert (z.B. Holznutzung, Schnaitelung, Beweidung, Streugewinnung, Sammeln diverser Waldprodukte). Mit Brandfeldbau, Nieder- und Mittelwald entstand ein anthropogenes Lebensraumangebot für licht- und wärmebedürftige Tierarten. In Einzelfällen kann es durchaus angebracht erscheinen, historisch-tradierte Waldnutzungsformen im Rahmen von Pflegeprogrammen zu imitieren, beispielsweise um Ersatz-Lebensräume für Haselhuhn, Ziegenmelker, Baumpieper, Heidelerche und Mittelspecht zu erhalten. Allerdings ist hier eine kritische Abwägung erforderlich, zumal die „ausbeuterischen“ Nutzungsweisen meist gegen die Grundsätze von Nachhaltigkeit, Naturnähe und einer naturschonenden Bewirtschaftung verstoßen. Deutlich komplexer zeigt sich die Beurteilung von Waldweide und Hutewald als historische Nutzungsweisen. Soweit der Beweidungsdruck durch Rinder, Pferde, Schafe – seltener auch Schweine und Ziegen – eine Auflichtung des Kronendachs oder gar die Ausbildung von Waldwiesen bzw. parkartig-aufgelockerten Baumbeständen bewirkt, mit oft breit-ausladenden, struktur- und höhlenreichen Solitärbäumen, können von einem solchen Lückensystem zahlreiche Vogelarten profitieren (wie z.B. Gartenrotschwanz, Grauschnäpper, Blauracke, Wiedehopf, Grau- und Grünspecht, Greife, Zwergohreule, Waldkauz, Birkhuhn, Weiß- und Schwarzstorch, Raufußhühner; Foto 2.46, Bildteil). Nach heutiger Interpretation könnte das Lebensraumangebot im Weidewald sogar einem ursprünglichen Vorbild entsprechen, wie es in vor- und frühgeschichtlichen Waldlandschaften durch wilde Großherbivore geformt wurde (z.B. Wisent, Auerochs, Elch, Wildpferd; z.B. Holzner 2007). Falls die Argumentation der sogenannten „Megaherbivoren-Theorie“ zutrifft, dass der zoogene Gestaltungseinfluss der großen Pflanzenfresser für die Vielfalt und Konstanz des Lebensraumangebots der heimischen Waldfauna

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wesentlich war, ist eine allzu enge Auslegung der forstlichen Maxime zur „Trennung von Wald und Weide“ jedenfalls in Frage zu stellen (vgl. Bunzel-Drüke et al. 1993/94, Gerken & Görner 2001, Vera 1999, 2000).

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2 Der Wald als Lebensraum der Vogelwelt

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3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere Friederike Spitzenberger

Einleitung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den völlig verschiedenen Anforderungen, die offene, baumlose oder baumarme Landschaften einerseits und Wälder andererseits an Säugetiere stellen. Während im Offenland Schutz vor Wetter und Fressfeinden die wesentlichsten Herausforderungen sind, ist es im Fall des (gemäßigten) Waldes die Verfügbarkeit von Nahrung und die Nutzung der vertikalen Strukturen. Beleuchtet werden auch die unterschiedlichen Gegebenheiten im Laub- und Nadelwald aus der Sicht der Säugetierökologie. Ein weiteres Kapitel untersucht die Spuren, die der ziemlich abrupte Wandel von einer Eiszeit zu einer Zwischeneiszeit, der vor erst 18 000 Jahren einsetzte, in der heute lebenden Waldsäugetierfauna Österreichs hinterlassen hat. Schließlich werden Einnischung und Nutzungsmuster der Waldsäuger in den österreichischen Wäldern, die nicht nur geografisch, sondern auch orografisch in bemerkenswertem Ausmaß gegliedert sind, behandelt. Das letzte Kapitel beschäftigt mit den Einflüssen der modernen Waldwirtschaft auf die Erhaltung einer kompletten und lebensfähigen Waldbiozönose.

1 Wald und Offenland Die klassische Ökologie unterscheidet im terrestrischen Megabiom der Erde nur zwischen drei großen Gruppen: Einerseits die Biomgruppe Wald und andererseits die beiden baumlosen oder baumarmen Biomgruppen des Offenlands: 1. Grasland und Krautfluren, das sind Tundren, Steppen und Gebirgsgrasländer, und 2. Wüsten und Halbwüsten in extrem ariden Gebieten. Gemeinsames Merkmal der globalen Waldbiome sind mehr oder minder geschlossene Bestände verschiedener Baumarten. Der fundamentale Unterschied gegenüber dem Offenland besteht in der Dreidimensionalität des Waldes (Abb. 3.1), seiner vertikalen Strukturbildung mit Ästen und Zweigen (Abb. 3.2) und gegebenenfalls seiner Gliederung in vertikale Schichten (Humus-, Kraut-, Strauch-, Stammund Kronenschicht) (Abb. 3.3). Diese Strukturen und Schichten bieten diversen Organismengruppen mannigfache Gelegenheiten für ökologische Einnischungen. Für die Ökologie der Säugetiere spielt die Frage Wald oder Offenland eine ganz entscheidende Rolle. Nur einige Beutegreifer wie z.B. Braunbär, Wolf, Fuchs und Mauswiesel finden sich in beiden Großlandschaftstypen zurecht, Gämsen und Schneehasen leben im Übergangsgebiet zwischen Wald und Zwergstrauchheiden im Gebirge und einige Huftiere, wie z.B. der Rothirsch können sich zu manchen Jahreszeiten über der Baumgrenze aufhalten. 3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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Abb. 3.1: Der senkrechte Wuchs der Bäume ermöglicht eine optimale Flächennutzung (Foto: Edmund Weiß)

Die weiten baumlosen oder baumarmen Tundren, Steppen und Grasländer bieten weder Deckung vor Fressfeinden noch Schutz vor Witterung, hochwertige Pflanzennahrung ist jedoch zu allen Jahreszeiten vorhanden. Große Körpermasse, Ernährung von Gräsern und Kräutern sowie Herdenbildung sind charakteristische Anpassungen von Säugetieren an diese Bedingungen. Auf ausgedehnten jahreszeitlichen Wanderungen wird das Nahrungsreservoir großer Gebiete erschlossen. Typische Waldtiere sind hingegen klein, leben einzeln oder in kleinen Gruppen und sind oft standorttreu. Gräser und Kräuter sind auch bei Waldsäugetieren eine begehrte Nahrung, die allerdings in dunklen, dichten Wäldern und auch im Winter kaum zu finden ist. Entsprechend ist die Nahrungszusammensetzung vieler Waldsäuger (selbst mancher Beutegreifer) vielfältig und nach Jahreszeit unterschiedlich, sie umfasst frische Triebe und Knospen im Frühling, Rinde im Winter, Samen, Gras und Kräuter, Wirbellose und im Fall der Beutegreifer Vögel und Säugetiere.

2 Die Wälder der gemäßigten Zone Europas Der kühlgemäßigte sommergrüne Laubwald

Der für die tieferen Lagen der gemäßigten Klimazone Europas kennzeichnende Wald ist ein artenreicher Laubwald, der vor dem Eingriff des Menschen fast die gesamte Fläche bedeckte. Zwischen den einzelnen Baumarten läuft ständig ein harter Konkurrenzkampf um Sonnenlicht, Feuchtigkeit und Nährstoffe ab. Durch Zusammenbruch alter Bäume, Windwurf, Feuer und menschliche Nutzung entstehen Bestandslücken, die zuerst von Kräutern und Gräsern, und später von einer Folge unterschiedlich zusammengesetzter Gehölzbestände besiedelt werden. An bestimmten Standorten und in bestimmten Alters­ phasen können sich auch Nadelbaumarten in den Laubwald mischen (Abb. 3.4). Diese Laubwälder sind durch starke Saisonalität geprägt. Der totale Abwurf (Abb. 3.5) der Blätter im Herbst übt einen fundamentalen Einfluss auf die Zusammensetzung der Nahrungsgilden der Waldsäugetiere aus. Weil die Blätter, die bei Weitem den größten Anteil an pflanzlicher Biomasse ausmachen, im Winter als Nahrung nicht zur Verfügung stehen, gibt es weder bei Säugetieren noch bei Vögeln spezialisierte Laubfresser. Der Schwerpunkt des tierischen Lebens liegt nicht in den Laubkronen, sondern im

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Humus, der durch die Zersetzung der massenhaft zu Boden fallenden Blätter und Holzteile durch Bakterien, Pilze und Kleintiere entsteht (Abb. 3.6). In einem durchschnittlichen europäischen Laubwald beträgt die pflanzliche Biomasse: 275 t/ ha, die Biomasse der Bodenfauna 1 t/ha, die Wirbeltierbiomasse jedoch nur 8.5 kg/ha. Auch bei den Säugetieren lebt die große (Bio-) Masse am Boden. Den weitaus größten Anteil der terrestrischen Säugetierarten stellen die sogenannten Kleinsäuger. Sie ernähren sich entweder von den zahlreichen Regenwürmern, Asseln, Spinnen, Schnecken etc. in der Humusschicht (Spitzmäuse) oder im Boden (Maulwurf ), aber auch als Pflanzenfresser von Gräsern, Kräutern und Baumrinde (Wühlmäuse) sowie von Baum- und anderen Samen (Langschwanzmäuse). Zum Schutz vor Fressfeinden Abb. 3.5: Im Winter sind die Bäume kahl errichten sie einfache Baue im Waldboden und sind (Foto: Edmund Weiß) nur bei Nacht aktiv. Schätzungen sprechen von ca. 5  kg Kleinsäuger-Biomasse pro Hektar. Für viele Nager sind deutliche Wechsel der Dichte typisch. Die Kleinsäuger stellen die wichtigste Nahrung für im Wald lebende Eulen, Greife und Beutegreifer dar. Sie erreichen hohe Populationsdichten, die zyklisch schwanken können. Bei Massenvermehrungen können Populationsdichten z.B. der Rötelmaus von bis zu 200 Individuen pro Hektar auftreten. Mit Ausnahme des Wildschweins, das bis zu 150 kg Körpergewicht erreicht, sind die terrestrischen Säugetierarten des Waldes, die nicht zu den Kleinsäugern zählen, kleine, leichte Einzelgänger (Abb. 3.7–3.9). Sie erreichen Körpergewichte von 20 kg (Reh), 25 kg

Abb. 3.7: Igel. Wehrhafter Bewohner des Waldbodens mit rüsselförmiger Schnauze zum Wühlen. (Foto: Miloš Anděra)

Abb. 3.8: Der Dachs zeigt alle Anpassungen eines typischen Waldsäugetiers. Der Rumpf ist vorne schmäler als hinten, die rüsselförmige Nase und die krallenbewehrten Vorderextremitäten dienen zur Nahrungssuche in der Bodenstreu und im Boden. (Foto: Pšemysl Pavlík) 3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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Abb. 3.10: Vom Biber gefällte Bäume (Nationalpark Donauauen) (Foto: Edmund Weiß)

(Luchs) und 40  kg (Dachs), die Kleinsäuger- und Vogeljäger Fuchs, Baummarder und Wildkatze, der pflanzenfressende Hase und der Allesfresser Igel sind bedeutend leichter. Dadurch können sie sich mühelos zwischen den Bäumen und Sträuchern bewegen. Dachs und Fuchs finden Schutz vor Fressfeinden in selbst errichteten Bauanlagen im Waldboden. Das Wildschwein benutzt den dichten Wald (Dickungen) hauptsächlich als Tageseinstand, Nahrung (z.B. Eicheln und andere Baumsamen) findet es vornehmlich in lockeren Beständen oder auf Lichtungen. Noch größere und schwerere Säugetierarten wie Rothirsch und Elch bewohnen offene Stellen im Wald, für deren dauernde Erhaltung sie selbst sorgen. Eichhörnchen und Schläfer haben sich als Kletterer, Fledermäuse als Flieger die oberen Stockwerke des Walds (Stamm- und Kronenbereiche) erobert. In den Beständen verteilte alte Bäume sind eine Grundvoraussetzung für das Vorkommen derjenigen Arten, die keine Nester bauen können. Sie finden geschützten Wohnraum in Baumhöhlen und Hohlräumen hinter sich ablösender Rinde. Der Biber, ein semiaquatisches Nagetier, das sich großteils von Rinde und Zweigen von Laubhölzern ernährt, kann zwar weder klettern noch fliegen, beschafft sich aber dennoch die Baumkronen mit ingenieurmäßigen Baumfällungen (Abb. 3.10 und 3.11).

Der Bergwald

Im Gebirge wirkt sich die mit zunehmender Seehöhe fallende Temperatur auf die Bodenbildung und somit auf die Zusammensetzung der Waldgesellschaften aus. Die Laubwälder werden allmählich durch Nadelwälder ersetzt. Bei geringen Temperaturen, ausgeprägter Saisonalität, armen Böden und einer langen Winterdecke stellen sich relativ arten- und strukturarme immergrüne Nadelwälder ein, die entweder aus nur einer Vegetationsschicht, oder einer Kronen- und einer bodennahen Schicht aus niederen Sträuchern, Moos-, Kraut- und Flechtenarten bestehen. Allerdings sind Nadelwälder sehr anfällig für Befall mit diversen Schadinsekten, der katastrophale Ausmaße annehmen kann.

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Abb. 3.12: Im Winter beschränkt sich das Säugetierleben auf den Boden und die Humusschicht (Foto: Edmund Weiß)

Diese „Kalamitäten“ bringen Sukzessionen und Abwechslung in den Bestandsaufbau. Die mit zunehmender Seehöhe einhergehenden Änderungen der Waldvegetation sind nicht fließend, sondern lassen sich zu biozönotischen Einheiten zusammenfassen, die als Höhenstufen (kollin, montan, subalpin) bezeichnet werden. Über der Waldgrenze breiten sich die alpinen Strauch- und Zwergstrauchbiome aus. Nur wenige Säugetierarten können das ganze Jahr über in den subalpinen Nadelwäldern leben (Abb. 3.12). Es handelt sich hauptsächlich um im Boden und in der Bodenstreu lebende Verzehrer von Wirbellosen und Samenfressern. Spitzmäuse und kleine Nagetiere können den langen Winter unter der schützenden Schneedecke ausharren, baumbewohnenden Fledermäusen, Bilchen und dem Eichhörnchen setzen die tiefen Wintertemperaturen ein Seehöhenlimit.

3 Geschichte des österreichischen Waldes und seiner Säugetiere Es ist faszinierend, sich zu vergegenwärtigen, dass sich in Österreich ebenso wie in ganz Europa im Lauf der – geologisch gesehen – kurzen Zeit von 20 000 Jahren ein Wechsel zwischen den beiden fundamental verschiedenen Biomgruppen Offenland und Wald vollzogen hat. Viele gegenwärtige Verbreitungsmuster von heimischen Säugetierarten sind noch deutlich von dieser Vergangenheit geprägt und können nur verstanden werden, wenn man die Landschaftsgeschichte kennt.

Höhepunkt der Würmeiszeit

Während des letzten Glazials (Würmeiszeit), das nach geologischen Festlegungen 120 000–10 000 Jahre vor heute währte, waren die Westalpen und die westliche Teile der Ostalpen unter einer fast zwei Kilometer dicken Eisdecke begraben. Am Höhepunkt der letzten Kaltphase vor ca. 20 000 Jahren reichte das geschlossene Eisstromnetz ost3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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wärts bis zu einer (gedachten) Nord-Südlinie Linie etwa zwischen Admont und Judenburg. Im östlich davon liegenden Periglazialraum erstreckte sich auf Permafrostboden ein Mosaik aus Tundren, Steppen und alpinen Wiesen, die sogenannte Steppentundra oder Mammutsteppe. Mit Gletschern bedeckt waren hier nur noch die höchsten Gipfel. Wälder waren aus dem heutigen Bundesgebiet so gut wie verschwunden, die einzelnen Baumarten überlebten auf den mediterranen Halbinseln, in den Karpaten und Gebirgen am Schwarzen Meer in geschützten Lagen in mittlerer Seehöhe. Die Steppentundra erstreckte sich von Westeuropa über die geschlossene Beringstraße bis zu den Kanadischen Gletschern. Diese riesige Fläche mit ihrer ökologischen Vielfalt und hohen Produktivität beherbergte eine große Zahl gras- und kräuterfressender Säugetierarten und ihre Prädatoren. Hier grasten große Mammutherden, Wollhaarnashörner, Rentiere, Pferde, Gämsen und Steinböcke. Murmeltiere, Lemminge, Ziesel und Hamster waren weit verbreitet.

Wiederkehr des Waldes

Zweitausend Jahre nach dem Höhepunkt des Würmglazials führte eine Klimaerwärmung zu einem raschen Zerfall des Eisstromnetzes und zu einer sehr raschen, dramatischen Veränderung der Vegetation. Je nach ihrer Anpassung reagierten die Säugetiere der Steppentundra unterschiedlich darauf. Mammut und Wollhaarnashorn starben aus, das Rentier zog sich in die arktische Tundra zurück und Steinbock, Gämse und Murmeltier wurden vom zurückkehrenden Wald in immer höhere Gebirgslagen getrieben. Schon im Endwürm und im darauf folgenden frühen Holozän hatte die Wiederbewaldung der Alpen eingesetzt und bereits 12 000 Jahre nach dem Höhepunkt der Eiszeit waren die Alpen wieder bis zur damaligen Baumgrenze bewaldet. Die einzelnen Baumarten hatten sich aus ihren Refugien zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Wegen wieder in das heutige Bundesgebiet ausgebreitet. Südlich des Alpenhauptkamms erfolgte die Wiederbewaldung bis zu 2 000 Jahre früher als nördlich davon. Birken und Rotföhren (Abb. 3.13) wanderten zuerst ein, zum Schluss kam die Buche. Mit den Bäumen und Waldassoziationen breiteten sich die Säugetiere aus ihren verschiedenen Refugien wieder in das heutige Bundesgebiet aus. Sie benutzten dabei ebenso wie die Baumarten unterschiedliche Wege (siehe Baumschläfer und Alpenwaldmaus S. 168/169). Während des eineinhalb Jahrtausende andauernden nacheiszeitlichen Klimaoptimums (7500–6 000 Jahre vor heute) lag die Waldgrenze im Gebirge 50–100 m über der gegenwärtigen. Wie Analysen von Aufsammlungen subfossiler Säugetierknochen aus der Zeit des klimatischen Optimums zeigen, waren die österreichischen Wälder, in denen der Einfluss der mesolithischen Jäger und Sammler aufgrund der geringen Bevölkerungsdichte noch kaum merklich war, von einer artenreichen Säugetierfauna bewohnt. Von den Großtieren waren Ur oder Auerochs, Wisent, Rothirsch und Elch sowie Wildschwein häufig. Die Gilde der waldbewohnenden Raubtiere bestand aus Braunbär, Wolf, Luchs, Dachs, Wildkatze und Baummarder. Waldiltis, Fischotter, Biber und zahl-

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Abb. 3.15: Zusammengebrochener Baumriese im Urwald (Rotwald bei Lunz) (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.16: Waldweide im montanen Fichten-Tannen-Buchenwald (Steinberg am Rofan) (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.17: Durch großflächiges Umbrechen schaffen Wildschweine auf vegetationslosen Böden optimale Voraussetzungen für natürliche Waldverjüngung (Foto: Edmund Weiß)

3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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Abb. 3.18: Biberdamm südlich von St. Petersburg (Foto: Edmund Weiß)

reiche Spitzmausarten (Abb. 3.14) lebten in und an den durch Wald und ausgedehnte Auen fließenden Gewässern. Mäuse und Wühlmäuse, allen voran die häufige Rötelmaus, lieferten Nahrung für die Prädatoren unter den Vögeln und Säugern. Besonders eindrucksvoll sind der Artenreichtum und die hohen Individuenzahlen der Waldfledermäuse, vor allem der Bechsteinfledermaus. Über die Frage, wie man sich diese Urwälder vorzustellen hat, wird seit langer Zeit diskutiert. Vieles spricht dafür, dass sie entgegen früherer Annahmen nicht bis auf wenige natürliche Offenlandstandorte wie z.B. Felsfluren und dynamisch umgelagerte Flussgeschiebe dichte, „schier endlose“ einheitliche Klimaxbestände waren, sondern aus einem dynamischen Mosaik verschiedener Wälder und Wiesen bestanden. Außer Felsformationen, Mooren und Sümpfen haben auch Rutschungen, Schnee- und Windbrüche sowie Feuer die Einheitlichkeit der Wälder unterbrochen. Freie Stellen entstanden auch durch das Zusammenbrechen 250 bis 300 Jahre alter Bestände (Abb. 3.15), an deren Stelle zunächst Hochstaudenfluren und später Sukzessionen unterschiedlichster Waldgesellschaften wuchsen. Und schließlich haben die großen Huftiere selbst für die Schaffung ihrer Habitate gesorgt. Dass dies möglich ist, lässt sich aus den Folgen der Waldweide von Haustieren ableiten. Rinder (Abb. 3.16), Pferde, Schafe und Ziegen finden in einem geschlossenen Hochwald keine passende Nahrung. Am Boden fehlt wegen des Lichtmangels sowohl Kraut- als auch Strauchschicht und die Blätter des Kronendachs sind unerreichbar. Daher suchen die Weidegänger offene Stellen im Wald und fressen bzw. verbeißen hier alle Sträucher, Jungbäume und Keimlinge. So sorgen sie dafür, dass sich die selbst geschaffenen Lichtungen nicht mehr bewalden und waldfreie Flächen immer weiter ausdehnen. Es besteht kein Zweifel, dass die großen auf freie Flächen angewiesenen Wildrinder, Hirsche und Wildschweine beim Offenhalten des Waldes genau so erfolgreich wie die Haustiere waren. Der Wisent ist heute ein Bewohner offener oder von Blößen durchsetzter Laub- und Laubmischwälder. Er ernährt sich von Kräutern (Hochstauden), Laub, Rinde und kleinen Zweigen. Der Elch nutzt als Konzentrat-Selektierer die energetisch günstigsten Nahrungsquellen, im Sommer z.B. aquatische Vegetation, im

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Winter bevorzugt Triebspitzen. Durch die Anlage und ständige Benutzung von Suhlen, und das Umbrechen großer Bodenflächen (Abb. 3.17) zur Nahrungsgewinnung (Regenwürmer, Insektenlarven, Wurzeln, Rhizome, Kleinsäugernester) mit ihren für das Wühlen hervorragend geeigneten Rüsseln tragen Wildschweine in bedeutendem Ausmaß zur Schaffung vegetationsfreier Flächen und zur Waldverjüngung bei. Beim Umbrechen werden Streuschicht und Humusauflage entfernt, aber auch durchmischt, und so Voraussetzung für das Aufkommen von Gräsern und Kräutern und das Keimen von Pflanzensamen geschaffen. In guten Mastjahren übt das Wildschwein durch die Entfernung großer Mengen von Baumsamen einen erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Waldes und die Abundanzen Baumsamen fressender Kleinsäuger aus. Nicht zu vergessen sind die eindrucksvollen Bauwerke der Biber (Abb. 3.18), die Waldbäche an mehreren Stellen aufstauen und so für das Entstehen von Überschwemmungswiesen sorgen. Vermutlich hat sich in diesen aufgelockerten und vielgestaltigen Wäldern die Spezialisierung der großen Karnivoren Wolf, Braunbär, Luchs auf ihre bevorzugte Beute herausgebildet.

Beginn der Landwirtschaft

Es war wohl kein Zufall, dass zur Zeit des nacheiszeitlichen Klimaoptimums vor etwa 7 000 Jahren die ersten neolithischen Bauern von Osten kommend in das damals mit Wald bedeckte Pannonische Tief- und Hügelland einwanderten. Sie siedelten sich vorrangig in den fruchtbaren Lössgebieten in niedrigen Lagen an und begannen dort mit der Rodung der Wälder für Getreide- und Hülsenfruchtfeldbau und mit der Waldweide von Ziege, Schaf, Schwein und Rind. Die Aufschließung des Waldes durch die neolithischen Siedler zeichnete sich in den Skelettfunden von Säugetieren dieser Periode rasch ab. Erstmals treten typische Waldrandtiere wie Reh und Feldhase auf. Im Mittelalter wurden die Wälder allmählich auf das heutige Ausmaß weiter zurückgedrängt, große Teile der waldfreien Gebiete wurden nun als Acker- und Weideland genutzt. In diesen sekundären Steppenhabitaten siedelten sich östliche Steppen- und Halbsteppenarten wie Ziesel und Steppeniltis an. Den Hamster, der am Ende des Würmglazials noch im ostalpinen Periglazialraum (z.B. in den Salzburger Alpen in 1 450 m Seehöhe) gelebt hatte, verdrängten die sich ausbreitenden Wälder von hier. Er konnte aber in den ostösterreichischen Sekundärsteppen im heutigen Bundesgebiet überleben. Mit den großflächigen Rodungen des 9.–11. Jahrhunderts verschwanden die Großsäuger Ur, Wisent und Elch aus den österreichischen Wäldern. Der Ur wurde innerhalb weniger Jahrhunderte ausgerottet. Die großen Beutegreifer – Braunbär, Wolf, Luchs – leisteten der lokalen Ausrottung länger Widerstand. Während der Luchs, dessen letzter historischer Nachweis aus dem Jahr 1890 stammt, nach einem nicht nachhaltig erfolgreichen Wiederansiedlungsversuch im Jahr 1977, derzeit Teile Österreichs dünn zu besiedeln scheint, sind Wolfnachweise noch immer sehr rar, obwohl sich die Bestände in den Nachbarländern erholen. Der Braunbär, durch einen kaiserlichen Erlass 1788 zur 3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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Ausrottung verurteilt, zog sich zunächst in wenige optimal geeignete Gebiete zurück, verschwand aber schließlich zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts mit Ausnahme Kärntens sogar als Wechselwild aus Österreich. Ab Mitte der 1970er Jahre wanderten einzelne Braunbären aus ihren Stammpopulationen am Balkan und (selten) aus der Slowakei nach Österreich ein, und blieben in wenigen Fällen auch für einige Jahre hier. 1989 wurde im Bereich der nördlichen Kalkalpen ein Projekt zur Bestandsaufstockung mit in Kroatien und Slowenien gefangenen Braunbären begonnen, das zunächst erfolgreich verlief und zu einer sich selbst reproduzierenden Population von ca. 35 Bären führte. Zu Beginn der 2000er Jahre ergaben genetische Untersuchungen an der österreichischen Braunbärenpopulation jedoch, dass bis 2005 der Bestand in den nördlichen Kalkalpen auf insgesamt fünf Bären zusammengeschmolzen war, die zudem miteinander eng verwandt waren. Während in Kärnten die aus ca. acht sich nicht fortpflanzenden Bären bestehende Population gleich blieb, waren 2009 im Bereich der nördlichen Kalkalpen nur mehr zwei, später ein Bär auszumachen. Da die Gründe für den Schwund – Hinweisen auf illegale Abschüsse wurde nicht in ausreichendem Maß nachgegangen – niemals aufgeklärt wurden, sah man von einem neuerlichen Bestandsaufstockungsprojekt vorläufig ab.

4 Die geografische und ökologische Vielfalt der österreichischen Wälder und ihrer Säugetierfauna Österreich liegt an der Schnittstelle (Abb. 3.19), zweier Großlandschaften, der (Ost) Alpen mit ihren Vorländern im Norden und Südosten und des Pannonischen Tief- und Hügellands im Osten. Im nördlich der Donau gelegenen Granit- und Gneisplateau des Mühl- und Waldviertels hat Österreich auch Anteil an den Zentraleuropäischen Mittelgebirgen. Die Wälder all dieser Großlandschaften sind nicht nur von geografischen und klimatischen Faktoren, sondern in den Gebirgen auch von bedeutenden Höhenunterschieden geprägt. Weitere Beiträge zur Diversität der Wälder lieferten der Verlauf der nach dem Abschmelzen der Gletscher des letzten Glazials einsetzenden Wiederbewaldung der Alpen sowie Einflüsse des Menschen.

Die Wälder des Pannonischen Tief- und Hügellands

Zu diesem westlichen Teil der Pannonischen Tiefebene zählen Weinviertel, Tullner Becken, die Kleine Ungarische Tiefebene und die Täler von Donau, March und Thaya. Gemeinsames Merkmal dieser Landschaften ist neben dem kontinentalen Klima die tiefe Lage mit geringen Massenerhebungen. Die Höhenamplitude reicht vom „tiefsten Punkt Österreichs“ (114 m Seehöhe) in Apetlon bis zum Buschberg (491 m) im Weinviertel. Die Wälder dieser Gebiete liegen in der kollinen Vegetationsstufe (bis 350 m Seehöhe) (Abb. 3.20), wo Wärme liebende Eichen-Hainbuchenwälder vorherrschen, ferner in der

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Abb. 3.22: Der Subillyrischer Eichenwald ist die Heimat der Nymphenfledermaus (Wald bei Lackenbach) (Foto: Edmund Weiß)

submontanen Stufe, wo hauptsächlich Buchenwald stockt (Abb. 3.21). Besonders artenreich sind die extrazonalen Auwälder der Donau, die in Österreich noch ein Gebirgsfluss ist, und der beiden Tieflandflüsse March und Thaya. Die Eichen-Hainbuchenwälder (Abb. 3.22) des Pannonischen Tief- und Hügellands und des im Südburgenland und in der Oststeiermark liegenden Alpenvorlands, dem „Subillyrischen Hügel- und Terrassenland“, das bei ähnlichen Temperaturen merklich feuchter ist, beherbergen eine sehr interessante Fledermausart, die Nymphenfledermaus. Dieses kleine Tier (das Gewicht beträgt 4 g, die Länge des Unterarms kaum mehr als 30 mm) wurde erst 2001 als eigenständige Art beschrieben. Sie kommt in großen Teilen Europas vor, ist jedoch überall selten. Sie lebt in alten Eichen-Hainbuchenwäldern, die zahlreiche große, höhlenreiche Bäume und Bäche bzw. andere Wasserkörper aufweisen. Die Wochenstuben befinden sich in Baumhöhlen und -spalten in großer Höhe. Der mächtige „Auhirsch“ ist eine an die nährstoffreichen Tieflandwälder angepasste Standortform des Rothirsches. Er wird doppelt so schwer wie der im Gebirge lebende „Steinhirsch“. Der sich seit dem Neolithikum in die Eichen-Hainbuchenwälder des Pannonischen Tief- und Hügellands ausbreitende Mensch verdrängte den Rothirsch in die Auen der großen Flüsse und in die Verlandungszone des Neusiedlersees, Landschaften, die bis zur Regulierung der Flüsse und zur Entwässerung durch Kanäle vom Menschen weitgehend gemieden wurden. Ein Charaktertier der Donau-March-Thaya-Auen (Abb. 3.23) ist der Biber. Bis 1700 noch in allen großen Flusstälern Österreichs verbreitet, war er bis zum Jahr 1869 aus ganz Österreich verschwunden. Eines der letzten Vorkommensgebiete waren die Donauauen unterhalb Wiens, wo zwischen 1976 und 1988 auch ein Wiederansiedlungsprojekt mit mehr als 40 Tieren gestartet wurde. Dieser Bestand entwickelte sich im ersten Jahrzehnt zögerlich, später aber recht zügig, sodass heute viele Fluss- und Bachtäler des Pannonischen Tief- und Hügellands wieder von Bibern besiedelt sind.

3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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Die Alpen

Die Ostalpen sind weder geologisch, noch klimatisch einheitlich. Die nördlichen und südlichen aus Flysch und Kalk aufgebauten Randalpen schirmen die vorwiegend aus Kristallin bestehenden Innenalpen gegen Niederschläge ab. Das Klima der Innenalpen ist daher trocken (kontinental), während das der Randalpen kühl und infolge anhaltender Stauregen feucht bis sehr feucht (ozeanisch) ist. Die Höhe der Gipfel nimmt von West nach Ost deutlich ab. Die z.T. vergletscherten Kammlagen der Innenalpen liegen bei und über 3 000 m Seehöhe, während die höchsten Erhebungen der Randalpen nur maximal 3 000 m Seehöhe erreichen. Neben Klima, Boden, Geländeformation und forstlicher Bewirtschaftung prägen drastische Höhenunterschiede die Waldgesellschaften der Ostalpen. Oberhalb der Tieflage (kolline und submontane Höhenstufe) lassen sich die Mittellage (tief-, mittel- und hochmontane) und die Hochlage (tief- und hochsubalpine) und letztlich die alpine Höhenstufe unterscheiden. Je nach geografischer und klimatischer Lage eines Gebirgsraums Abb. 3.24: Subalpiner Lärchenwald (Silbertal, Dürrwald) (Foto: Rita Kilzer)

Abb. 3.25: Birkenmaushabitat (Hundsfeldmoor in Obertauern) (Foto: Edmund Weiß)

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Abb. 3.26: Durch Waldweide offen gehaltener montaner FichtenTannen-Buchenwald ist das Habitat der Bayerischen Kurzohrmaus, eines nordalpinen Endemiten (Steinberg am Rofan) (Foto: Edmund Weiß)

variiert die altitudinale Erstreckung der Höhenstufen. So liegt z.B. die tiefmontane Stufe in der Kernzone der Innenalpen zwischen 900 und 1 100 m Seehöhe, in den Nördlichen Randalpen (Westteil) zwischen 600 und 800 m, und in den Südlichen Randalpen zwischen 700 und 1 000 m Seehöhe. Die tiefmontanen Wälder der einzelnen Gebirgsräume sind unterschiedlich. In den Innenalpen sind es Fichtenwälder, in den Nördlichen Randalpen Buchenwälder mit Tannenbeimischung, und in den Südlichen Randalpen Fichten-Tannen-Buchenwälder. Die hochsubalpine Vegetationsstufe erstreckt sich in der Kernzone der Innenalpen zwischen 2 000 und 2 300 m Seehöhe, im Westteil der Nördlichen Randalpen zwischen 1 650 und 1 950 m und zwischen 1 750 und 2 000 m Seehöhe in den Südlichen Randalpen. Dennoch sind die hochsubalpinen Wälder dieser drei Gebirgsräume einander sehr ähnlich. Es handelt sich um Lärchen-Zirbenwälder (Abb. 3.24) und Latschen- und Grünerlengebüsch. Wie weiter unten ausgeführt wird, ist die Erstreckung der Höhenverbreitung bei fast allen österreichischen Säugetierarten recht groß, der ökologische Schwerpunkt liegt aber zumeist in der Tief- und Mittellage. Während einige Vogelarten, wie z.B. Tannenhäher und Dreizehenspecht ausschließlich in Gebirgswäldern vorkommen, gibt es keine Säugetiere, die auf montane Nadelwälder spezialisiert sind. Allerdings werden schütter mit Wald bestandene Gebiete bzw. die Zone der oberen Baumgrenze von Arten besiedelt, die als ursprüngliche Elemente der Steppentundra geschlossenen Wald meiden. Hierher gehören die Birkenmaus sowie die Bayerische und die Illyrische Kurzohrmaus. Das Habitat der Birkenmaus ist ähnlich dem des Rotsternigen Blaukehlchens. Es ist ein Mosaik aus trockenen, feuchten bis nassen Standorten mit grasiger, krautiger Vegetation bestehend aus Waldelementen, Zwergstrauchheiden, alpinen Matten und Mooren (Abb. 3.25). Die Bayerische Kurzohrmaus ist an montanen Fichten-Tannen-Buchenwald angepasst, den über Jahrhunderte währende Waldweide offen gehalten hat (Abb. 3.26). Die Illyrische Kurzohrmaus lebt in feuchten Hochstaudenfluren von Senken und in Bachtälern, aber nicht im dichten Wald. Die Gämse hält sich am liebsten oberhalb der Baumgrenze oder im offenen Bergwald

3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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in steilem Felsgelände mit gutem Ausblick auf (Abb. 3.27). Durch Verbiss hält sie sich Kuppen und Grate selbst offen. Besonders im Winter suchen Gämsen vorübergehend im Wald Schutz vor schlechter Witterung. Seit 30 bis 40 Jahren ziehen sich Gamswildpopulationen aber auch ganzjährig in den Wald zurück. Gründe dafür sind die Zunahme der Waldfläche durch Auflassung und Verwaldung von Almen, intensivere Forstwirtschaft, Aufschluss der Wälder mit Forst- und Almstraßen, wodurch jene für die Gämse attraktiver werden, Intensivierung der Almbewirtschaftung und schließlich Störungen durch mannigfache Freizeitaktivitäten in den früher ruhigen Gamseinständen. Sogenannte „Waldgämsen“ leben in kleinen Gruppen, sind heimlich und häufig bei Nacht aktiv. Wenn sie ganzjährig im Wald leben, degradieren sie diesen durch starken Verbiss und schmälern dadurch ihre Nahrungsgrundlage. Auch das Vorzugshabitat des Schneehasen liegt zwischen der oberen (Nadel-)Waldgrenze im Bereich der Grünerlen und Zwergsträucher, der aufgelösten Almwälder und den alpinen Weiderasen.

Artliche Einnischungen und unterschiedliche Nutzungen bei verwandten Waldsäugetieren

Ein typisches Beispiel artlicher Lebensraumaufteilung bieten die vier in Österreich heimischen Schläferarten. Der Siebenschläfer, die größte und häufigste Art, lebt bevorzugt in alten Laub- und Mischwäldern der Tieflage mit Ausnahme der Auwälder. Am häufigsten ist er in submontanen Buchen- und Fichten-Tannen-Buchenwäldern der Randalpen. Er findet sich aber auch in relativ kleinen, isolierten Restwäldern in Ebenen und Becken. Seine heutige Verbreitung lässt auf ein geschlossenes Vorkommen im ganzen Land zur Zeit des Klimaoptimums vor ca. 7  000 Jahren schließen. Die kleinste der vier Schläferarten, die Haselmaus, hat eine ähnliche geografische und Höhenverbreitung wie der Siebenschläfer. Allerdings bewohnt die Haselmaus nicht das Innere alter Wälder, sondern den reich strukturierten Waldrand und offene, mit Büschen und einzelnen Bäumen bestandene Gehölze. Anders als der Siebenschläfer, der ursprünglich vor allem Baum- und Felshöhlen bewohnte, baut sich die Haselmaus selbst kunstvolle Nester, die in der Vegetation meist in Höhen zwischen 1–2 m aufgehängt werden. Auf die Alpen beschränkt ist das Verbreitungsgebiet des Baumschläfers. Er ist ein Charaktertier der Fichten- und Fichten-Buchenwälder der Mittellage der Ostalpen. Seine heutige Verbreitung lässt darauf schließen, dass seine postglaziale Einwanderung in die Alpen aus Südosten erfolgte und an den Flüssen Donau und Inn zum Stillstand kam. Auch der Gartenschläfer bevorzugt die montane Höhenstufe, die meisten Nachweise konzentrieren sich in den trockenen Innenalpen. Er bewohnt offene, felsige Bereiche in lichtem Wald. Von den vier Arten ist er am wenigsten auf den Wald angewiesen, er bewegt sich geschickt am Boden fort und benutzt Felsspalten als Deckung. Nicht mit dem Siebenschläfer verwandt ist ein doppelt so schweres Nagetier, das Eichhörnchen. Wie der Siebenschläfer ist es eng an den Wald angepasst und in allen Wäldern

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des Landes mit Ausnahme der flussnahen Auen verbreitet. Auch zeigt das Eichhörnchen die gleichen Präferenzen der Seehöhen und Höhenstufen wie der Siebenschläfer. Die Beziehungen zwischen dem Eichhörnchen und seinem Lebensraum, dem Wald, haben sich über einen langen Zeitraum zum gegenseitigen Vorteil entwickelt. Das Eichhörnchen sammelt im Herbst Samen von Koniferen, Eicheln, Bucheckern, Hasel- und Walnüsse sowie Pilze und vergräbt diese in großer Zahl im Boden ohne sich die genaue Lage der Verstecke zu merken. Die vergrabenen Samen, die es im Winter nicht verzehrt, treiben aus und verjüngen den Wald. So betreibt das Eichhörnchen wie ein guter Förster nachhaltige Waldnutzung. Weil es nicht auf Baumhöhlen angewiesen ist, sondern selbst große Nester (Kobel) errichtet, in denen sogar strenge Kälte und Schlechtwetterphasen überstanden werden können, konnte es sich weit von Altwäldern entfernen und sogar Parks und Gärten selbst großer Städte besiedeln. Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch die natürliche Nahrung mit gespendetem Futter ergänzt und ersetzt. Als eines der wenigen bei Tag aktiven Säugetiere ist das Eichhörnchen, das blitzschnell klettert, auf Astbahnen durch die Baumkronen rast und halsbrecherische Sprünge auf wippende Zweige vollführt, das einzige Säugetier, das den Städtern das Leben im Wald vor Augen führt. Andere ursprüngliche Waldbewohner wie Fuchs und Dachs verbringen den Tag versteckt in Wäldchen und Baumgruppen an der Peripherie der Stadt oder in den Grünzügen, die tief in die Stadt hinein führen. Im Schutz der Dunkelheit nutzen sie den Nahrungsüberfluss menschlicher Agglomerationen. Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Einnischung in Waldtypen bieten die vier Waldmausarten. Die größte Art, die Gelbhalsmaus, ist am besten an das Waldinnere angepasst. Sie kann sehr gut klettern und ernährt sich vorwiegend von Baumsamen. Ähnlich wie Siebenschläfer und Eichhörnchen besiedelt die Gelbhalsmaus alle verfügbaren Wälder des Landes, sogar einschließlich der Auwälder, hat aber einen deutlichen Schwerpunkt in kollinen und submontanen Laubwäldern. Obwohl die kleinste Art der Gattung, die mit der Gelbhalsmaus nah verwandte Zwergwaldmaus am Schwarzen Meer und in den Karpaten in Gebirgswäldern lebt, ist sie in Österreich strikt auf das Pannonische Tief- und Hügelland beschränkt. Hier kommt sie außer in Trocken- und Halbtrockenrasen und auf Äckern auch in der Verlandungszone des Neusiedlersees und an feuchten Stellen der Flussauen vor. Sie ernährt sich von Gras- und Unkrautsamen. Ein ganz anderes Verbreitungsbild bietet die in den Alpen endemische Alpenwaldmaus. Sie hat sich nacheiszeitlich von Westen kommend nördlich des Alpenhauptkamms in die Ostalpen ausgebreitet. Ihr ökologischer Verbreitungsschwerpunkt liegt in den montanen Nadelwäldern. Die Waldmaus ist der wahre Allrounder der Gattung. Ihr Verbreitungsschwerpunkt liegt in den Kultursteppen des Pannonischen Tief- und Hügellands, wo sie allerdings auch in lichten, vergrasten Wäldern, Hecken, Gebüschen und Windschutzstreifen lebt. Darüber hinaus ist die Waldmaus eine typische Siedlungsfolgerin und auch in großen Städten weit verbreitet. Mit dem Menschen hat sie sich bis in das Hochgebirge ausgebreitet, wo sie auch an Waldrändern und auf Waldlichtungen zu finden ist. Fast alle 26 österreichischen Fledermausarten verbringen Abschnitte ihres Lebens im Wald. Bäume bieten Quartiere für verschiedene Zwecke, wie Jungenaufzucht, Winter3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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Abb. 3.28: Abgeplatzte Rinde bietet Verstecke für Fledermauskolonien (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.29: Hohler Buchenstamm (Foto: Edmund Weiß)

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schlaf, Tageseinstand, denn sie garantieren ein einigermaßen stabiles Klima und weitgehenden Schutz vor Wasser, Wind, Tageslicht und Räubern. Specht- und ausgefaulte Asthöhlen, großräumige, aus Rissen im Stamm entstandene Höhlungen, hohle Seitenäste in großer Höhe und enge Spalten zwischen Stamm und abgeplatzter Rinde (Abb. 3.28, 3.29) sind Unterschlupf für einzelne Fledermäuse oder Aufenthaltsraum für kleine und größere Gruppen. Wälder offerieren eine Vielzahl verschiedener Jagdhabitate für Opportunisten und Spezialisten unter den Fledermäusen. Ein äußerst ergiebiger Nahrungsraum ist der Waldboden mit seiner reichlichen Fauna an flugunfähigen Käfern und anderen Bodenbewohnern. Das Abklauben von kleinen Insekten, Spinnen und anderen Gliedertieren von Blattoberflächen erfordert eine hohe Spezialisierung des Flugs und der Echoortung zum Auffinden der Beute. Einige Arten jagen im dichten Unterholz und über schwer zugänglichen feuchten Stellen und kleinen Tümpeln mitten im Wald, andere suchen am Waldrand und entlang von Schneisen nach Beute. Auch der freie Luftraum über den Baumkronen bzw. über Lichtungen und Waldwiesen bietet einer Gruppe von Fledermäusen reichlich Nahrung. Einige Arten bewohnen das ganze Jahr hohle Bäume und jagen ausschließlich im Wald. Diese „echten“ Waldfledermäuse verlassen nur während strenger Kältephasen die Baumhöhlen und ziehen sich in frostsichere unterirdische Quartiere, wie Fels- und Bodenhöhlen, zurück. Andere Arten beziehen nur im Sommer hohle Bäume oder schmale Baumrindenquartiere als sogenannte Wochenstuben, wo die Jungen geboren und aufgezogen werden. Diese „Sommergäste“ verbringen den Winterschlaf regelmäßig in Felshöhlen und anderen unterirdischen Räumen. Ihr Jagdgebiet liegt entweder im Wald oder außerhalb des Waldes im freien Luftraum oder über Gewässern. Schließlich gibt es Arten, die den Tag in Dachböden oder in Spalten an Gebäuden oder Felsen verbringen und

erst abends zur Jagd im Wald erscheinen. Auch sie sind auf frost- und störungssichere Überwinterung in Höhlen angewiesen. Echte Waldfledermäuse wie die Bechstein- und die Fransenfledermaus sowie das Braune Langohr, bevorzugen alte Wäldern mit weitgehend natürlicher Baumartenzusammensetzung. In langsamem und wendigem Jagdflug bewegen sie sich durch dichte Vegetation, rüttelnd in der Luft stehend klauben sie Insekten von der Ober- oder Unterseite eines Blatts ab. Ihre Ohrmuscheln sind sehr groß, die Ultraschallrufe sehr leise und so beschaffen, dass das von vielen Oberflächen zurückgeworfene Echo identifizierbar bleibt. Die Bechsteinfledermaus ist eine Charakterart der Laubwälder der Tieflage. Wichtigster Bestandteil ihres Lebensraums ist ein hoher Anteil an alten, höhlenreichen Bäumen. Hier bewohnen die Männchen alleine ein Baumquartier, die Weibchen bilden jedoch Wochenstubenverbände aus eng miteinander verwandten Familienmitgliedern, die gegenüber anderen solchen Verbänden ein bestimmtes Territorium für sich allein beanspruchen. Als Kennzeichen der Zugehörigkeit zu einem Wochenstubenverband trägt jedes Mitglied einen speziellen Duft eines Drüsensekrets und ist auf diese Weise von Mitgliedern anderer Verbände unterschieden. Von Tag zu Tag unterschiedlich zusammengesetzte Kleingruppen eines Wochenstubenverbands besetzen eine Baumhöhle im Territorium. Gibt es genügend Höhlen im Territorium, ziehen die Gruppen jeden zweiten oder dritten Tag in eine andere Höhle um. Sie nehmen dabei die Neugeborenen und kleine Jungtiere mit. Während sich die weiblichen Jungtiere im Territorium des Wochenstubenverbands ansiedeln, wandern die jungen Männchen von hier ab. Zu Balz und Paarung finden sich fortpflanzungsbereite Bechsteinfledermäuse außerhalb der Territorien in Paarungsquartieren ein, wodurch Inzucht vermieden wird. Den Winter verbringen gemischte Gesellschaften in möglichst dickwandigen hohlen Bäumen. Die Nahrung besteht in erster Linie aus im Wald lebenden Insekten, Spinnen, Zikaden, Köcherfliegen, darunter viele flugunfähige Arten, die vom Laub abgelesen werden. Zu den Arten, die den Wald hauptsächlich im Sommer bewohnen, den Winter jedoch in Höhlen, Bergwerken, Stollen, Bunkern, Tunneln und sogar in Steinhaufen und Felsund Gebäudespalten verbringen, zählt neben der Kleinen Bartfledermaus die Mopsfledermaus. Häufiger als in Baumhöhlen und -spalten bezieht sie unter abstehender Baumrinde ihre Wochenstube. Durch ihre Färbung – rundum schieferschwarz, am Rücken mit silbergrauen Haarspitzen – ist die Mopsfledermaus hervorragend an ihre wenig geschützte Wohnsituation angepasst. Im Gegensatz zur Bechsteinfledermaus, die nicht besonders wählerisch ist, frisst die Mopsfledermaus fast ausschließlich Kleinschmetterlinge. Sie jagt nahe am Rand der Vegetation, entweder unter dem Baumkronendach oder entlang des Waldrands. Die nächtliche Jagd anderer Arten dieser Gilde findet über insektenreichen Lichtungen und Schneisen, an Waldrändern und über Tümpeln und Bächen statt. Die Gruppe der Baumhöhlenbewohner, die zur Jagd den Wald verlassen, wird vom Großen und Kleinen Abendsegler, der Breitflügelfledermaus und der Wasserfledermaus gebildet. Die Abendsegler haben einen wenig manövrierfähigen Flug. Sie jagen in großer Höhe im freien Luftraum. Die Wasserfledermaus fliegt zu größeren Stillgewässern (Abb. 3.30) oder zu ruhigen Flussabschnitten, wo sie knapp über der Wasseroberfläche flie3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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Abb. 3.31 Wälder mit vegetationsarmen Böden sind das bevorzugte Jagdgebiet des Großen Mausohrs (Punitzer Wald) (Foto: Edmund Weiß)

gend aus dem Wasser aufsteigende Insekten oder auf bzw. knapp unter der Wasseroberfläche driftende Insekten und kleine Fische mit ihren großen beborsteten Hinterfüßen fängt. Typische „Jagdgäste“ in österreichischen Wäldern sind die Kleine Hufeisennase und das Große Mausohr. Sie waren ursprünglich Bewohner mediterraner Felshöhlen, die unmittelbar oder in weiterer Entfernung von Wald umgeben waren. Die Errichtung menschlicher Gebäude stellte diesen Fledermäusen auch in der gemäßigten Zone warme Wochenstuben in Dachräumen von Gebäuden zur Verfügung. Ihre Jagdweise und bevorzugte Nahrung könnten allerdings nicht unterschiedlicher sein. Die tatsächlich winzige Kleine Hufeisennase mit einem Gewicht von nur 5  g und einer Unterarmlänge von 4  cm sucht die Nahrung in geringer Entfernung von ihrem Tagesquartier, das sich meist in einem Dachboden befindet. Bevorzugt werden Jagdgründe in Laubwäldern, die weniger als einen Kilometer vom Quartier entfernt sind. Die Echoortungsrufe sind spezialisiert für die Orientierung in stark strukturierten Räumen, wie z.B. dichter Vegetation, und für die Erkennung des Flügelschlags kleiner Insekten. Die Kleine Hufeisennase erbeutet kleine, weiche Fliegen, Schmetterlinge, Käfer und Netzflügler nicht nur im Flug, sondern sie ist auch eine Spezialistin der An„sitz“jagd, wobei sie von einem Zweig hängend auf vorbeifliegende Beute wartet. Das Große Mausohr ist die größte österreichische Fledermausart. Es wiegt durchschnittlich 23  g. Seine Nahrung besteht vorwiegend aus nicht flugfähigen Lauf- und Mistkäfern, die am Waldboden umherlaufen. Bei der Jagd fliegt das Mausohr im langsamen Suchflug knapp über dem Waldboden (Abb. 3.31) und lauscht auf das Geräusch krabbelnder Käfer. Hat es einen entdeckt, stürzt es sich auf ihn, fängt und tötet ihn mit den Zähnen und frisst ihn im Flug. Der Nahrungsbedarf eines säugenden Weibchens beträgt 18 g, das entspricht ca. 100 Käfern pro Nacht.

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Abb. 3.33 Moderne forstliche Maschinen ernten Wurzel, Stamm und Krone (Foto: Edmund Weiß)

5 Gefährdung von Waldsäugetieren Der einst so strukturreiche Wald unterhielt eine große Zahl verschiedener Pflanzenund Tierarten. Das Nahrungsnetz der Waldökosysteme war fein gewebt und versorgte alle Arten zur gegebenen Zeit mit den nötigen Stoffen. Die moderne Forstwirtschaft simplifizierte die Strukturen (Abb. 3.32) und verminderte die standorttypische Diversität und Produktion durch im Vergleich zur natürlichen Lebensdauer der Bäume kurze Umtriebszeiten, Unterbindung natürlicher Zerfallsphasen, Homogenisierung der Bestände durch schlagweise Altersklassenwaldbewirtschaftung, Entnahme von stehendem und liegendem Totholz, Einzelentnahme von Höhlenbäumen, Schaffung abrupt begradigter Waldränder, radikale Räumung von Windwürfen, Einsatz von Insektiziden, wie z.B. das Breitbandinsektizid Decis, und Düngung, vorbeugende Einbringung von standortfremden Baumarten zur Bekämpfung erwarteter Schäden durch Klimawandel sowie Fragmentierung der Bestände durch exzessiven Forst- und Almstraßenbau. Der Trend, zwecks Beschaffung von Energie aus Biomasse naturnahe Wälder mit Vollstammerntemaschinen („Harvester“) (Abb. 3.33) zu zerstückeln bzw. durch Plantagen schnell wachsender standortfremder Hölzer zu ersetzen, droht zu einem weiteren Kapitel in der Geschichte des Verlusts von Waldsäugetieren wie Schlaf-, Spitz- und Fledermäusen und spezialisierten Beutegreifern wie Baummarder, Wildkatze und Luchs zu werden.

Verwendete Literatur: Bunzel-Drüke, M., Drüke, J. & Vierhaus, H. (1994): Quaternary Park. Arbeitsgemeinschaft Biol. Umweltschutz im Kreis Soest Info 17/18: 4–37 Kilian, W., Müller, F. & Starlinger, F: (1994): Die forstlichen Wuchsgebiete Österreichs. Ber. Forstl. Bundesversuchsanst. 82: 60 S. Leibundgut, H. (1985): Der Wald in der Kulturlandschaft. Paul Haupt. Bern und Stuttgart: 123 S. Otto, H.-J. (1994): Waldökologie. Jürgen Ulmer, Stuttgart: 391 S. 3 Der Wald als Lebensraum für Säugetiere

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Ozenda. P. (1988): Die Vegetation der Alpen. Gustav Fischer: 353 S. Rauer, G.; Laass, J. & Streibel, B. (2005): Der Braunbär in Österreich III. Aktueller Status, Lebensraum und Strategien für die Zukunft. Report, REP-0014. Umweltbundesamt, Wien: 65 S. Reimoser, F. (2009): Sündenbock Waldgams. Verdrängt und verteufelt. Wild und Hund 22: 14–19 Spitzenberger, F. (2002): Die Säugetierfauna Österreichs. Grüne Reihe BM Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft 13: 895 S.

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4 Wie schädlich sind „Forstschädlinge“? – Ökologie prominenter Borkenkäferarten (Buchdrucker, Kupferstecher, Lärchen/Kiefern-Borkenkäfer) sowie wichtiger Blatt- und Nadelfresser Hannes Krehan, Christian Tomiczek, Gottfried Steyrer, Bernhard Perny1

Die Bedeutung und Gefahr von „Forstschädlingen“ – um mit dem Strom der Zeit zu gehen, sollte man sie eigentlich als „Waldschädlinge“ bezeichnen – wird vielfach überschätzt, weil darüber meist nur berichtet wird, wenn sie in Massen auftreten. Andere abiotische und biotische Faktoren, wie Windwurf, Windbruch, Schneebruch, Hagel, Wildeinfluss oder Holzernte verursachen in der Regel wesentlich höhere Schäden, gemessen am Schadholzanfall oder an der Flächenausbreitung als die Insektenschädlinge. Die Bedeutung der Insekten unter den Forstschädlingen ist jedoch in den letzen 20 Jahren deutlich angestiegen, was vor allem auf die noch immer andauernde Massenvermehrung der Borkenkäfer zurückzuführen ist. Die letzten Jahre waren geprägt durch gewaltige Sturmschäden und denen folgten meist die Borkenkäfer. Der Schadholzanteil am Gesamteinschlag nahm deutlich zu und erreichte in den letzten Jahren in Österreich auch Werte über 50 %. Das heißt, mehr als die Hälfte aller geschlägerten und genutzten Bäume war nicht geplant und konnte als Schadholz meist auch nicht zum Normalpreis verkauft werden. Für viele Waldbesitzer und Forstbetriebe ergeben sich durch den hohen Schadholzanfall wirtschaftliche Einbußen, die primär durch die erhöhten Kosten für die Schadholzaufarbeitung und den reduzierten Holzpreis begründet sind. Der wirtschaftliche Schaden ist also evident. Gibt es aber durch die abiotischen und biotischen Schäden auch ökologische „Schäden“? Können Forstschädlinge und ihre Folgewirkungen zu einer nachhaltigen Gefährdung des heimischen Waldes führen? Oder kann sich die Natur die kurzfristige Störung selbst regeln und so das ökologische Gleichgewicht nach einigen Jahren oder Jahrzehnten wiederherstellen? Im folgenden Text werden einige Beispiele der wichtigsten Insektenschädlinge des heimischen Waldes beschrieben und es wird auf ihre wirtschaftliche und ökologische Bedeutung eingegangen, sofern diese durch Fakten und Zahlen überhaupt belegt werden kann.

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Alle: Institut für Waldschutz, Bundesforschungs- und Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und Landschaft (BFW), Seckendorff-Gudent-Weg 8, 1131 Wien 4 Wie schädlich sind „Forstschädlinge”?

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Borkenkäfer

Ungewohnt lange und warme, aber gleichzeitig niederschlagsarme Vegetationsperioden haben zusammen mit sehr großen Mengen bruttauglichen Holzes nach Sturm- und Schneebruchkatastrophen die Borkenkäferentwicklung in weiten Teilen Österreichs begünstigt. Die Borkenkäferschäden in Österreich erreichten oder überschritten 2009 das siebente Jahr in Folge die Schwelle von zwei Millionen Festmeter, insgesamt fielen in diesen sieben Jahren mehr als 16 Millionen Festmeter Käferholz an (Abb. 4.1). Das entspricht etwa dem zehnfachen Wert der „Normaljahre“ vor 1990. Zwar war in den Jahren nach dem bisher höchsten Schadholzanfall 2005 infolge besonderer Anstrengungen betroffener Waldbesitzer wieder ein Rückgang der Schadholzmengen zu verzeichnen und die schwach abnehmende Tendenz von 2006 für das gesamte Bundesgebiet wurde fortgesetzt, doch nach den Orkanstürmen im Winter 2007 und 2008 hat sich die Situation wieder deutlich verschlechtert. 2009 sind mehr als 2,8 Millionen Festmeter Borkenkäferschadholz gemeldet worden, ein befürchteter Maximalwert für Österreich. In den Bundesländern zeigten sich unterschiedliche Entwicklungen: Das meiste Borkenkäferholz war in den wald- und fichtenreichen Bundesländern zu verzeichnen und die Tendenzen in diesen Ländern liefen weitgehend parallel zu den Sturmholzschäden. In den weniger von „Kyrill“ betroffenen Bundesländern waren die Tendenzen positiv: Vorarlberg und Kärnten z. B. blieben von den Stürmen und von Witterungsextremen weitgehend verschont. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass dort kaum Schäden durch Borkenkäfer auftraten. Hohes Brutholzangebot Durch die Winterstürme 2007 und 2008 sowie die Schneebruchereignisse vom Herbst 2007 sind österreichweit insgesamt mehr als 20 Millionen Festmeter Schadholz angefallen. Auch bei rascher und optimaler Aufarbeitung – die Erfahrungen aus 2007 haben gezeigt, dass dies besonders in den höher gelegenen und steileren Lagen nicht immer möglich ist – bleibt nach derartigen Ereignissen sehr viel bruttaugliches Holz im Wald. Daher werden die stehen gebliebenen Bestandesreste vom Borkenkäfer zuerst eher verschont. In der Folge kann sich die Borkenkäferpopulation der Hochlagen in den relativ lange bruttauglich bleibenden Stämmen weiter entwickeln und vergrößern, ohne dass dies sofort auffällt. Erst die zweite Generation fliegt aus dem am Boden liegenden Holzresten sowie aus Windwurf- und Windbruchstöcken aus und befällt die stehenden Bestandesreste oder ungeschädigten Waldbestände. Pheromonfallen zur Überwachung des Käferfluges, wie sie auch beim Österreichischen Borkenkäfer-Monitoring eingesetzt werden, bestätigen dies für die schwer betroffenen Windwurfgebiete: Die größten Absolutfangzahlen wurden dort meist erst Mitte Juni/Juli festgestellt, die überwinterte Käfergeneration wurde zunächst nicht von Pheromonfallen, sondern großteils vom Sturmschadholz angezogen.

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Hans Krehan et al.

Abb. 4.2: Borkenkäferschäden in den Alpen als Folge des Fönsturmes vom November 2002

Es ist daher nicht verwunderlich, dass überall dort, wo Sturmschadhölzer mit Käferbefall nicht vor dem Ausfliegen der fertig entwickelten Käfer aus dem Wald abtransportiert wurden, ausgedehnter Stehendbefall erst im Herbst zu beobachten war. In höheren und kühleren Lagen, wo naturgemäß die Borkenkäferentwicklung länger dauert, wird dieser Neubefall erst zwei bis drei Jahre nach den Stürmen zu Tage treten. In vielen Fällen wird es dann aber bereits zu spät für eine rechtzeitige Aufarbeitung sein, da die Käfer bereits wieder ausgeflogen sind und neue Bäume befallen haben. Ursachen der Borkenkäferprobleme: • Frischer Käferbefall wird meist zu spät entdeckt oder geeignete Maßnahmen werden zu spät ergriffen. • Sturmschäden und Schneebruch (Hagel) häufen sich und verursachen immense Schadholzmengen, in den letzten Jahren vor allem in Gebirgslagen. • Schadholzmanipulation in unwegsamem Gelände ist sehr aufwendig und kostspielig • Borkenkäferausgangspopulation ist stark angestiegen • Borkenkäferverbreitung ist auch in den Hochlagen stark angestiegen • Klimatische Bedingungen begünstigten in den meisten Jahren die Borkenkäferentwicklung. • Nicht nur Fichten-Borkenkäfer stellen ein Problem dar, auch Lärche, Kiefer und sogar Buche können betroffen sein. Fichtenborkenkäfer am gefährlichsten Die beiden Fichtenborkenkäferarten Buchdrucker (Ips typographus) und Kupferstecher (Pityogenes chalcographus) gelten nach wie vor als gefährlichste Arten. Als Folge von ansteigenden Schadholzmengen und besonders günstigen Witterungsbedingungen sind z. B. die Populationen vom Lärchenborkenkäfer Ips cembrae, diversen Kiefernborkenkäfern (Ips sexdentatus und Ips acuminatus) aber auch von Laubholzborkenkäferarten deutlich

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angestiegen. Es gilt daher für alle Waldbestände, wo Sturm- und Schneebruchschäden aufgetreten sind oder wo durch intensiven Trockenstress die Vitalität der Bäume reduziert wurde, stark erhöhte Borkenkäfergefahr. Die Borkenkäferentwicklung ist temperaturabhängig Die Entwicklung aller Insekten, auch der Borkenkäfer, ist temperaturgesteuert. In Abhängigkeit von der Temperatur beträgt die Entwicklungsdauer des Buchdruckers zwischen sechs und 22 Wochen. Deshalb bildet der Buchdrucker in tieferen Lagen meist zwei, in Hochlagen dagegen nur eine Generation pro Jahr aus. Seine Entwicklung beginnt bei rund 8 °C als untere Temperaturschwelle und endet bei 39 °C. Die optimale Entwicklungstemperatur beträgt 25 °C. Durch den Temperaturanstieg in allen Höhenstufen verlängert sich nun einerseits der Zeitraum, in dem eine Entwicklung der Borkenkäfer möglich ist. Andererseits läuft die Generationsabfolge auch in den Hochlagen rascher ab, weshalb wesentlich mehr Borkenkäfer während eines Jahres gebildet werden können. Dies erklärt zum Teil den enormen Anstieg der Borkenkäferschäden in den Hochlagen während der letzten Jahre. Entsprechend dem Modell von Wermelinger und Seifert aus dem Jahr 1998 benötigt der Buchdrucker bei einer Tagesdurchschnittstemperatur von 19 °C rund 50 Tage für eine vollständige Entwicklung vom Ei bis zum fertigen Käfer, dagegen bei 24 °C nur 35 Tage (Abb. 4.3). Erhöht sich die Temperatur um 4 °C, benötigt der Fichtenborkenkäfer in 1 275 m Seehöhe nur mehr die halbe Zeit je Generation (Abb. 4.4). Die Grafik zeigt auch, dass die Auswirkungen der Temperaturerhöhung in Hochlagen einen wesentlich größeren Einfluss auf die Borkenkäferentwicklung haben als in Tieflagen oder mittleren Lagen. Wenn zu Beginn der Entwicklung 100 Buchdruckerweibchen vorhanden sind und diese jeweils 40 Nachkommen produzieren, sind nach der ersten Generation 8 000 Käfer bzw. 4 000 Weibchen vorhanden, die in der zweiten Generation 160 000 und in einer dritten Generation 3,2 Mio. Käfer produzieren. Drei statt zwei Generationen bedeuten auch rund drei Millionen Buchdrucker zusätzlich und damit ein Potenzial für zirka 1 000 Käferbäume mehr. Auswirkungen des Klimawandels auf die Fichtenbestände in tieferen und mittleren Lagen Meteorologen bestätigen, dass der Klimawandel, insbesondere eine Temperaturerhöhung um 1,5 °C–3,5 °C, bereits voll im Gange ist. Was bedeutet das für die Forstwirtschaft? Die Fichte wird in tieferen bis mittleren Lagen auch ohne Borkenkäfer zunehmend in Bedrängnis geraten. Die Temperaturerhöhung wird zusätzlich die Entwicklung von Insekten begünstigen und vermehrt zu Insektenkalamitäten auch in Hochlagen führen. Rechtzeitiges Gegensteuern im Klimaschutz, (vorbeugender) Waldschutz und an die veränderten Bedingungen angepasste Waldbaumaßnahmen sind von zentraler Bedeutung für die Gesunderhaltung unserer Wälder.

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Verlauf von Borkenkäfer-Massenvermehrungen Borkenkäfer-Massenvermehrungen verlaufen im Gegensatz zu zahlreichen anderen Insektengradationen äußerst langwierig. Sie werden meist nicht durch natürliche Faktoren wie Parasiten, Virus- oder Pilzkrankheiten, aber auch nur relativ eingeschränkt durch klimatische Einflüsse nach kurzer Zeit (ein bis drei Jahre) gestoppt. Der wichtigste limitierende Faktor ist das Brutangebot. Wenn es keine Fichten mehr gibt, dann können Buchdrucker und Kupferstecher keinen Schaden mehr anrichten. Durch ihre Fähigkeit aktiv (Käferflug) und passiv (Holztransport) über mehrere Kilometer neue Wirtsbäume ausfindig zu machen, ist in einem fichtendominierten, waldreichen Land wie Österreich die Chance einer natürlichen Beendigung der Massenvermehrung sehr gering. Die Beispiele Nationalpark Bayerischer Wald (D), Sumava (CZ) und Hohe Tatra (SK) zeigen, wie weit ein nicht durch gezielte Lenkungs- und Bekämpfungsmaßnahmen beeinflusster Borkenkäferbefall als Folge von Sturmschäden gehen kann. Die kilometerweit sichtbaren, abgestorbenen Waldflächen ergeben, wie Abbildung 4.5 zeigt, dokumentieren, sehr düstere Bilder. Das Ausbreiten der Käferinvasion in benachbarte bewirtschaftete Wälder kann nur durch rigorose Bekämpfungsmaßnahmen innerhalb von Pufferzonen, so welche vorhanden sind, verhindert oder eingeschränkt werden. Die natürliche Wiederbewaldung und das Erreichen von Baumbeständen, in welchen man durch das Kronendach geschützt bequem durchwandern kann, werden in diesen rauen Klimaten noch Jahrzehnte dauern. Borkenkäfer an Fichte Buchdrucker, Achtzähniger Fichtenborkenkäfer (Ips typographus) Der 4,5 bis 5,5 mm große Borkenkäfer hat acht Zähne am Flügeldeckenabsturz (Abb. 4.6). Im Gegensatz zu den anderen achtzähnigen Ips-Arten erscheint der Absturz seidenmatt und nicht glänzend. Die Fühlerkeulennaht verläuft gerade (Unterschied zu Ips cembrae). Die Larven sind wie bei allen Borkenkäferarten weiß, beinlos und etwas gekrümmt. Abb. 4.7: Brutbild des Buchdruckers

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Biologie: Nach der Überwinterung des Käfers in der Rinde von befallenen Bäumen oder im Boden in der Nadelstreu kommt es zum ersten Käferflug im April/Mai. Ein weiterer Schwärmhöhepunkt findet im Juli/August statt, in warmen, trockenen Sommern kann im September ein dritter Flug erfolgen. Schadbild: Erstes Erkennungsmerkmal sind an Fichten ab der dritten Alterklasse runde, ca. drei mm große Einbohrlöcher, aus welchen braunes Bohrmehl ausgestoßen wird (sichtbar an der Rinde). Bei weniger erfolgreichen Einbohrversuchen rinnt aus den Bohrlöchern Harz, wodurch der Käfer abgewehrt wird. Ist die Attacke erfolgreich, werden beim Abheben der Rinde ein- bis max. dreiarmige (= Stimmgabel), längsgerichtete Muttergänge und davon mehr oder weniger rechtwinkelig ausgehende Larvengänge sichtbar. Kupferstecher, Kleiner Sechszähniger Fichtenborkenkäfer (Pityogenes chalcographus) Die Käfer sind nur etwa zwei mm groß; beim Männchen sind beim Betrachten mit einer Lupe sechs deutliche Zähnchen am Rand der Flügeldecken sichtbar (Abb. 4.8). Das Weibchen hat eine eingedrückte Stirn und kaum sichtbare Zähne am Absturz. Biologie: Es können alle Stadien des Käfers im Brutbild unter der Rinde überwintern. Der Kupferstecher fliegt meist etwas später als der Buchdrucker. Es werden pro Jahr maximal zwei vollständige Generationen gebildet. Am meisten gefährdet sind Fichten im Stangenholzalter. Bei hoher Populationsdichte werden auch frisch gesetzte Jungfichten befallen und abgetötet (Abb. 4.10). Schadbild: Sehr kleine Einbohrlöcher im dünnrindigen Stammbereich oder in Ästen von älteren Fichten. Unter der Rinde findet man drei- bis sechsarmige Sterngänge, wobei die Rammelkammer (Ort der BeAbb. 4.9: Kupferstecher Befallsbild gattung) in der Rinde verborgen ist. Borkenkäfer an Lärche Großer Achtzähniger Lärchenborkenkäfer (Ips cembrae) Der 4,5 bis 6 mm große, dunkelbraune Käfer hat eine gelbliche Behaarung. Am lackglänzenden Flügeldeckenabsturz, bei Ips typographus ist er seidenmatt, befinden sich insgesamt 8 Zähne, je 4 auf einer Seite. Die Fühlerkeule weist Nähte auf, die nach vorne ausgebuchtet sind (Unterscheidung zu Ips amitinus). Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal sind die fehlenden Stirnhöckerchen. Die Larven sind wie bei allen Borkenkäferarten weiß, beinlos und etwas gekrümmt (Abb. 4.11).

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Biologie: Bei günstigen Witterungsbedingungen und in Tieflagen können sich zwei Generationen pro Jahr entwickeln. Der erste Flug findet Ende April bis Mai, der zweite Mitte Juli bis Mitte August statt. Die Überwinterung erfolgt entweder in allen Stadien geschützt im Brutbild oder als Käfer in der Bodenstreu. Schadbild: Die Weibchen des Lärchenborkenkäfers fertigen drei- oder mehrarmige, sternförmige, sechs bis 18  cm lange Muttergänge mit wenigen Ventilationslöchern an. Die Larvengänge sind eng beisammen, wenig geschlängelt und verlaufen in der Rinde. Der Regenerationsfraß der Mutterkäfer Abb. 4.12: Ein vom Lärchenborkenkäschließt an die Muttergänge an. Der Reifungsfraß fer befallener Stamm der Jungkäfer erfolgt an Jungbäumen, die dadurch gefährdet sein können, oder im Astbereich von vitalen, älteren Bäumen. Borkenkäfer an Kiefer Großer Zwölfzähniger Kiefernborkenkäfer (Ips sexdentatus) Der 5,5 bis 8 mm große Käfer ist die größte heimische Art der „gezähnten“ Borkenkäfer, mittelbraun bis dunkelbraun und behaart. Die Flügeldecken sind etwa 1,5 mal so lang wie breit und kräftig punktiert, der Absturz schräg und lackglänzend; er hat an den Abb. 4.13: Ips sexdentatus Absturzrändern je sechs Zähne, von denen der vierte der größte und an der Spitze knopfförmig verbreitert ist und mit dem dritten Zahn aus einer gemeinsamen Basis entspringt. Biologie: Brutbäume sind hauptsächlich die Weißkiefer, daneben auch die Schwarzkiefer, seltener andere Kiefernarten. In der Regel werden dickborkige Stammteile, stark geschwächte oder geschlägerte Bäume befallen; selten an dünnem Stangenholz, dann allerdings tritt oft massiver Befall mit erfolgreichen Bruten auf. Meist werden zwei Generationen pro Jahr, mit Flugzeiten etwa April/Mai und Juli/August, seltener drei Generationen gebildet. Die Überwinterung erfolgt meist als Käfer, kann aber auch im Larvenstadium meist am Stamm erfolgen. Schadbild: Runde, etwa drei mm große Einbohrlöcher und massiver Bohrmehlauswurf sind charakteristisch; an liegendem Material finden sich große Bohrmehlhaufen. Das Brutbild (Abb. 4.14 und Abb. 4.15) enthält eine große Rammelkammer und zwei bis fünf Muttergänge, die sternförmig beginnen, dann meist parallel zur Stammachse (bis zu 100 cm lang, mit Belüftungslöchern) verlaufen. Davon gehen rechtwinkelig relativ kurze und weit gestellte Larvengänge aus. 4 Wie schädlich sind „Forstschädlinge”?

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Der Sechszähnige Kiefernborkenkäfer (Ips acuminatus) Der 2 bis 3,5 mm große Käfer (Abb. 4.16) mit dunkelbrauner Flügeldecke hat an den Absturzrändern beiderseits je drei Zähne. Biologie: Es werden ein bis zwei Generationen pro Jahr gebildet. Die Hauptflugzeiten sind Ende April und August. Er kommt in Ästen und dünner Rinde absterbender oder stark geschwächter Bäume vor, kann aber auch auf gesunden Bäumen auftreten. Die Art kann regional von größerer Bedeutung sein (Abb. 4.17). Schadbild: Das sternförmige Brutbild mit drei bis fünf Muttergängen kann bis 40 cm Länge aufweisen. Die Rammelkammern, die oft untereinander durch Gänge verbunden sind und die Muttergänge furchen den Splint tief. Blatt- und Nadelfressende Schädlinge Schmetterlingsraupen in den Laubwäldern der Tieflagen Ab Anfang Mai kann man in vielen Eichen- (Eichen-Hainbuchen-)Wäldern Ost- und Südösterreichs rege Fraßaktivität von Schmetterlingsraupen beobachten (Raupenkotfall). Verschiedene Larven von Frostspanner-Arten sowie Wickler, Eulen, Zahnspinner aber auch Blattwespen können daran beteiligt sein. Meist treten aber keine großflächigen, schweren Fraßschäden (Kahlfraß) an den Blättern von Eichen und Begleitbaumarten auf, aber unter bestimmten Witterungsbedingungen kann es auch Massenvermehrungen geben. Besondere Gefahr besteht, wie die Vergangenheit gezeigt hat, durch den Schwammspinner (Lymantria dispar). Sehr häufig treten auch Frostspannerarten auf. Bis zum Jahr 2008 waren auch Fraßschäden an Eichen durch den Eichen-Prozessionsspinner Thaumetopoea processionea beobachtet worden Die stark behaarten Schmetterlingsraupen lösen ab dem dritten Raupenstadium lästige Allergiereaktionen bei Menschen aus und sind daher in der Bevölkerung sehr gefürchtet. In Deutschland und Ungarn gilt der Eichen-Prozessionsspinner auch als gefährlicher Blattfresser, der bei Massenauftreten die Eichen massiv schädigt. Schwammspinner (Lymantria dispar) Aussehen und Biologie Falter (Abb. 4.18): Die größeren Weibchen sind weiß mit bräunlichen Zickzackstreifen und schwarzem Punkt und haben eine Flügelspannweite von 50–70 mm. Die Männchen sind dunkler (grau-braun) und kleiner bei 35–50 mm Flügelspannweite. Die Raupen sind büschelweise dicht behaart, braun und maximal 40–70 mm lang mit gelben Längslinien oder einem breiten braunen Streifen. Charakteristisch sind auch je 2 blaue Punkte (Knopfwarzen) an den ersten 5 Segmenten; auf den übrigen finden sich rote Knopfwarzen. Der Falterflug findet bei uns im Juli statt, die männlichen Falter fliegen im Zick-Zackkurs auf der Suche nach weiblichen Faltern. Das weibliche Sexualpheromon wirkt bis zu zehn Kilometer. Die Eiablage erfolgt am Stamm in nur einem Tag. Es werden 100–800

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Eier abgelegt. Die Eier werden mit Afterwolle zum Schutz vor Austrocknung und Feinden bedeckt (Eischwämme). Die Eiablage erfolgt bei niedriger Populationsdichte nur auf der Südseite – sonst jedoch den Stamm umfassend (Abb. 4.19). Die Raupen sind von Ende April (Mai) bis Juni sichtbar. Die Entwicklungsdauer beträgt sechs bis zwölf Wochen, dabei werden fünf bis sieben Larvenstadien durchlebt (Abb. 4.20). Die Schwebehaare im ersten Stadium ermöglichen eine Drift von mehr als 20 km. Die Raupen fressen zuerst tagsüber, später nachts. Man spricht von einem verschwenderischen oder Luxusfraß, bei dem ganze Blattteile abgebissen werden und dann zu Boden fallen. Jede Raupe frisst ca. 1 m2 Laubmasse bei einem sehr weiten Wirtsspektrum von mehr als 400 Arten. Auswirkungen auf den Baum: Die Wirtsbäume sind unterschiedlich empfindlich, während zum Beispiel die Zerreiche wenig empfindlich ist, reagiert die Rotbuche sehr empfindlich. Viele Baumarten treiben schon nach zwei Wochen wieder aus. Tritt Lichtungsfraß über mehrere Jahre auf, so zeigen die betroffenen Bäume häufig Wasserreiserbildung, Zuwachsverlust, verstärkte Samen-/Früchteproduktion und Sekundärschädlingsbefall. Ab zweimaligem Kahlfraß sterben die Bäume ab. Durch die Zählung von Eigelegen pro Baum können Prognosen für den zu erwartenden Befall im nächsten Jahr gestellt werden. Besser eignet sich die Zählung nach dem Winter, weil hier auch schon der Parasitierungsgrad der Eier festgestellt werden kann. Die Kahlfraßgefahr ist abhängig vom Baumalter: • bei Jungbäumen – ab einem Eischwamm • bei 70-jährigen Bäumen – ab drei Eischwämmen • bei 100-jährigen Bäumen – ab sechs Eischwämmen Als natürliche Feinde kommen Raubfliegen, Puppenräuber, Raubwanzen, Mikrosporidien (wie beim Eichenprozessionsspinner), Polyederviren, Winterfrost/Spätfrost, Kröten, Eidechsen, Vögel und Mäuse in Frage. Eine Bekämpfung ist nur bei mehrfachem Kahlfraß und Kahlfraß auf Nadelholz (gemeinsam mit Nonne) notwendig. Meist treten in solchen Fällen auch noch weitere Schadensfaktoren auf. Die Bekämpfung mit biologischen Insektiziden und biotechnischen Häutungshemmern (Dimilin, Alsystin etc.) wird in vielen Ländern Europas mit Hubschraubern oder Flugzeugen durchgeführt. In Österreich wurde jedoch schon seit mehr als 30 Jahren keine Erlaubnis für eine Bekämpfung aus der Luft erteilt. Weitere Bekämpfungsmöglichkeiten sind die Anwendung von Mikrosporidien (noch im Versuchsstadium) oder das Absaugen, Abspritzen, Abbürsten oder Abflammen der Eigelege und der Raupen. Beim Fanggürtelverfahren werden 20 bis 30 cm breite Jutestreifen um den Baum gebunden. Die Raupen kriechen unter die Säcke und können dann abgesammelt oder abgesaugt werden. Frostspanner Zu den Frostspannern werden Schmetterlingsarten gezählt, deren männliche Falter im Gegensatz zu den meisten anderen Schmetterlingsarten im Spätherbst oder Winter flugaktiv sind. Die Raupen der Frostspannerarten verursachen alljährlich mehr oder weniger starke Fraßschäden an den frisch austreibenden Blättern von Obst- und anderen Laub4 Wie schädlich sind „Forstschädlinge”?

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bäumen. Häufig sind diese Frostspannerarten mit anderen Schmetterlingsarten aus der Familie der Spanner und Wickler vergesellschaftet, sodass häufig von Raupenkolonien gesprochen wird. In manchen Jahren ist bedingt durch günstige klimatische Bedingungen gehäuft besonders starker Raupenfraß festgestellt worden. Im Wald und in Parkanlagen rieselt ab Mitte April bis Juni dunkler und grüner Raupenkot, Blattdächer werden schütter, die Blätter sind durchlöchert oder ausgefranst. Kahlfraß kommt jedoch nur selten vor. Dennoch kann es zu einer beachtlichen Schädigung des Laubes und, was vor allem im Obstbau noch schwerer wiegt, auch der jungen Früchte kommen. Verursacht werden die Schäden durch verschiedene Schmetterlingsraupen, welche aufgrund ihrer spannerartigen Bewegung („Katzenbuckel“) auch Spanner (Familie Geometridae) genannt werden. Die je nach Art zwischen maximal 25 bis 40  mm langen Spannerraupen sind meist hellgrün oder braun gefärbt. Die Zahl der Bauchfüße ist im Vergleich zu anderen Raupen deutlich reduziert, es finden sich nur am sechsten und zehnten Segment Bauchfüße, was die Erklärung für diese Art der Fortbewegung ist. Die Frostspannerraupen beginnen ihren Fraß an den aufbrechenden Knospen, der jedoch noch wenig auffällt. Später werden die Blüten und vor allem die Blätter befressen, sodass die bereits erwähnten Löcher und Buchten an den Blättern entstehen. Im Extremfall ist auch Skelettierfraß der ganzen Blätter möglich. Auf Obstbäumen kann im Mai der Kleine Frostspanner beachtliche Schäden an jungen Früchten verursachen, die mitunter weitgehend ausgehöhlt werden. Biologie: Die Flugzeit der Falter beginnt ab Oktober, etwa zu Zeiten der ersten Nachtfröste, die entsprechend zur Bezeichnung Frostspanner führten. Manche Arten fliegen erst im Spätwinter. Es gibt sehr viele verschiedene (Frost-)Spannerarten, die in unterschiedlicher Intensität an den verschiedenen Laubbäumen, bei Nahrungsmangel sogar auch an Nadelbäumen auftreten. Die Lebensweise der im Folgenden besprochenen, häufigsten Arten ist jedoch ziemlich ähnlich. Die männlichen Falter fliegen in dieser Zeit häufig zum Licht von Lampen. Die flugunfähigen Weibchen, die nur Flügelstummel besitzen, klettern die Stämme der Bäume empor und legen bis zu 300 Eier meist einzeln an den Zweigen, aber auch in Rindenrissen stärkerer Äste ab. Im Frühjahr, etwa zum Zeitpunkt des Knospenaufbruchs erfolgt der Schlupf der kleinen Raupen, die sofort mit ihrer Fraßtätigkeit beginnen. Auch eine Windverbreitung der Tiere ist möglich – die Raupen hängen hierbei meist an einem seidigen Faden – und pendeln auf diese Weise zum Nachbarbaum. Manchmal wird auch beobachtet, dass sie sich zwischen zwei Blättern oder innerhalb von Blütenbüscheln einspinnen und ihre Fraßtätigkeit geschützt vor äußeren Einflüssen fortsetzen. Ende Mai bis Mitte Juni seilen sich die Raupen ab oder lassen sich fallen und verpuppen sich im Boden in etwa zehn Zentimeter Tiefe. Der Schlupf der Falter findet erst wieder im Herbst statt, der Frostspanner bildet somit nur eine Generation pro Jahr aus.

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Die wichtigsten Frostspannerarten Kleiner Frostspanner (Operophtera brumata) Falter: Weibchen: ca. 8 mm; graubraun; kurze Flügelstummel. Männchen: Flügelspannweite etwa 25 mm; graubraun mit einer Zeichnung aus dunklen, welligen Linien, die Hinterflügel sind einheitlich hellgrau (Abb. 4.21). Raupe: grün mit drei hellen Längslinien bis 20 mm (Abb. 4.22). Wirtspflanzen: sehr polyphag; Ziersträucher, Zierbäume, Waldbäume (Eiche, Buche, Hainbuche und Ahorn), Obstbäume (Apfel und Marille, aber auch Birne und Zwetschke jedoch nicht auf Pfirsich- und Mandelbaum). Großer Frostspanner (Erannis defoliaria) Falter: Weibchen: 10–15 mm schwarz, gelb, braun gefleckt; flügellos (Abb. 4.23). Männchen: Flügelspannweite 35–38 mm; Vorderflügel blass gelb bis rötlich braun (mit unterschiedlichen schwarzen Punkten und einer dunklen Querlinie (Abb. 4.24). Raupe: rötlich braun mit schwachen dunklen Streifen und cremefarbenen, seitlichen Flecken an den vorderen sieben Segmenten; bis 35 mm (Abb. 4.25). Wirtspflanzen: polyphag; Ziersträucher (Geißblatt, Rosen), Zierbäume, Waldbäume (Eiche, Buche, Hainbuche, Kirsche, Birke und Linde) Schneespanner (Apochemia pilosaria) Falter: erscheinen erst im Jänner bis März; Weibchen: 10–12 mm grau mit dunklen und gelben Schuppen; Flügelstummel. Männchen: Flügelspannweite 40–42  mm; grau mit grünlicher oder brauner Färbung und schwacher dunkler Zeichnung Raupe: graubraun bis rötlich braun mit dunklen Höckern; sieht aus wie ein dünner Zweig; bis 40 mm (Abb. 4.26). Wirtspflanzen: polyphag; Ziersträucher (Weißdorn), Zierbäume, Waldbäume (Eiche, Buche, Hainbuche, Kirsche, Birke und Linde) Auswirkungen auf die Bäume und Bekämpfung Vor allem der Kleine und der Große Frostspanner sind Schädlinge im Obstbau im Zierpflanzenbau und im Forst. Wenn nicht die gesamte Blattmasse eines Baumes durch den Fraß zerstört wird, stellt dies für den betroffenen Baum meist kein großes Problem dar. Nach dem Fraß treiben aus den schlafenden Knospen neue Blätter aus, sodass bereits im Juli ein Großteil der abgefressenen Blätter wieder ersetzt wird. Anders ist die Situation, wenn ein Kahlfraß stattfindet, also alle Blätter eines Baumes gänzlich gefressen wurden. Tritt eine derartige Situation nur einmal auf (also nicht an zwei hintereinander folgenden Jahren), bedeutet dies – mit Ausnahme der ringporigen Laubhölzer (z.B. Eichen) –, dass ein derartiger Fraß und bei normalen Witterungsbedingungen in der Regel auch zu keinem Absterben des Baumes führt. Anders aber, wenn die Entlaubung wiederholt und in Zusammenwirken mit großer Trockenheit und Hitze auftritt. In diesem Fall ist mit dem 4 Wie schädlich sind „Forstschädlinge”?

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Absterben der Bäume zu rechnen. Die Ausbrüche sind meist kurz und halten nur ein bis zwei Jahre an. In verschiedenen Regionen wiederholen sie sich alle sieben bis acht Jahre. Fraßschäden durch den Kleinen und Großen Frostspanner lassen sich wegen der Flugunfähigkeit der Weibchen auch ohne den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln leicht vermeiden: Wenn man Mitte Oktober Leimringe um die Stämme der gefährdeten und benachbarten Bäume bindet, werden die Weibchen gefangen, sodass die Eiablage unterbleibt. Dabei ist darauf zu achten, dass die Ringe an den Stämmen dicht anliegen, damit die flugunfähigen Weibchen nicht etwa unter ihnen hindurch kriechen können. Häufig findet man auch Männchen auf den Leimringen, weil sie durch die Weibchen angelockt werden. Bei Bäumen an Wandspalieren ist der Einsatz solcher Leimringe wenig effektiv, da das Weibchen auch die Wand hochklettert und nicht auf den Stann oder einen Pfahl angewiesen ist. Die Farbe der verwendeten Leimringe sollte z.B. grün statt gelb sein, um unerwünschte Nebenfänge von Nützlingen (z.B. Marienkäfern, Schwebfliegen) zu verhindern. Der Leimring sollte im zeitigen Frühjahr entfernt werden, da gerade bei jungen Bäumen durch den Leim der Stamm geschädigt werden kann. Es ist auch zu prüfen, ob unterhalb des Leimringes sogenannte Noteiablagen stattgefunden haben. Diese sind natürlich rechtzeitig zu entfernen. In der Regel müssen keine kurativen Bekämpfungsmaßnahmen ergriffen werden. Bei Gefahr eines wiederholten Kahlfraßes oder in Obstbaumkulturen empfiehlt sich jedoch der Einsatz von biologischen Präparaten wie Bazillus thuringiensis-Präparaten, welche im Jungraupenstadium, sobald die Temperaturen eine Anwendung zulassen, im ULVVerfahren ausgebracht werden sollten. Natürliche Feinde Untersuchungen zeigten einen der Dauer der letzten Massenvermehrung entsprechend hohen Parasitisierungsgrad der Raupen durch Schlupfwespen, Pilze und Viren. Dies deutete darauf hin, dass bereits im folgenden Jahr ein „natürliches Zusammenbrechen“ der Massenvermehrung eintrat. Auch Singvögel spielen eine große Rolle als Vertilger der Frostspannerraupen im Kleingarten. Vor allem Meisen sind in vielen Jahren bei entsprechend hoher Siedlungsdichte durchaus in der Lage, die Fraßschäden auf ein unbedeutendes Maß herabzudrücken. Die Kleine Fichtenblattwespe Zeitlich und räumlich begrenzte Massenvermehrungen von Pristiphora abietina, der Kleinen Fichtenblattwespe, sind in Österreich schon seit 1860 bekannt. Nach 1950 wurde jedoch wiederholtes Auftreten von Massenvermehrungen im gesamten künstlichen Verbreitungsgebiet der Fichte, vor allem in Nieder- und Oberösterreich, im Flachgau aber auch in der Steiermark und in Kärnten festgestellt. Vielfach wird behauptet, die Kleine Fichtenblattwespe sei seit ca. 40 Jahren zum Dauerschädling (auch in Gebieten, wo chemisch bekämpft wurde) geworden. Es zeigt sich jedoch, dass in den letzten Jahren deutliche Gradationswellen aufgetreten sind und dass die Mortalitätsrate der befallenen Fichten nicht so hoch ist, wie ursprünglich befürchtet.

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Befallssituation in Österreich Die letzten Hauptbefallsgebiete in Österreich lagen im oberösterreichischen Alpenvorland in den Bezirken Braunau, Schärding, Wels, Linz, Ried, Vöcklabruck, in den angrenzenden Bezirken Niederösterreichs Amstetten und Melk, im Salzburger Flachgau sowie kurzzeitig auch im Bezirk Klagenfurt. Lokale Vorkommen gab es auch im Tiroler Inntal oder in der Steiermark. In den Jahren 2001 bis 2003 lag das Schadausmaß der Flächen bei insgesamt etwa 50 000 ha. In den letzten Jahren gingen die Schäden, sowohl was die Fraßintensität als auch was das Flächenausmaß betraf, deutlich zurück. Am stärksten betroffen waren meist Jungbestände (Dickungen bis Stangenholz) aber grundsätzlich kann jede Altersklasse befallen werden. Sehr wüchsige Bestände werden vor allem in Seehöhen unter 700 m bevorzugt befressen, es gibt jedoch auch Massenauftreten, z.B. im Hausruck, die in höher gelegenen Fichtenbeständen vorkommen. Hier wird die Kleine Fichtenblattwespe meist von der Gebirgsfichtenblattwespe Pachynematus montanus oder von P. scutellatus verdrängt. Besonders deutlich ist der Fraß im Juni und Juli zu sehen, wenn sich die angefressenen Nadeln rotbraun verfärben (Abb. 4.27). Bei wiederholtem Befall treten Kronenverbuschung, Wipfelsterben, Zuwachsverlust (vor allem Höhen-, weniger Stärkenzuwachsverlust) auf, vollständig sterben die Bäume jedoch nur sehr selten und nur in Jungwüchsen. Wirtschaftlicher Schaden in stark betroffenen Waldbeständen ist primär durch den Minderzuwachs gegeben. Wenn man aber berücksichtigt, dass die Wüchsigkeit der Fichtenbestände dieser Regionen etwa der 16. Bonitätsstufe entspricht, so ist ein Zuwachsrückgang um zwei bis drei Bonitätsstufen nicht wirklich kritisch anzusehen. Blattwespe (Abb. 4.28) Weibchen 5–6 mm (Flügelspannweite: bis 13 mm), Männchen 3,5–5 mm (Flügelspannweite: ca. 9 mm) Larve (Afterraupe) Zunächst gelblich, später, nach Verzehr der Fichtennadeln, grün; Kopf mit hellbraunem Schimmer und schwarzen Augen. Der Körper der Larven ist glatt mit feinen Borsten, 2–13  mm lang. Die Larve hat drei Paar deutliche Brustbeine und 14 Bauchfüße (Schmetterlinge haben max. zehn Bauchfüße). Ein weiteres typisches BlattwespenlarvenKennzeichen ist die Schreckstellung bei drohender Gefahr (Abb. 4.29). Biologie: Ende April bis Mitte Mai schlüpfen die Wespen aus den im Boden überwinternden, glatten Kokons. Die Eiablage (auch unbefruchtete Eier) erfolgt nur auf sich gerade streckende Maitriebnadeln nahe der Basis in geritzte Taschen; pro Weibchen 40–100 fast durchsichtige Eier. Die Larven schlüpfen schon drei bis fünf Tage nach der Eiablage. Junglarven befressen die Maitriebnadeln von der Schmalseite (gekrümmter Faden bleibt über). Ältere Larven verzehren von der Spitze beginnend ganze Nadeln bis auf Stummeln. Daraus resultieren die Symptome an den Fichten: Nadelverfärbung, Kräuseln, braune Kronenspitze, Abfallen der Nadeln (Abb. 4.30 und 4.31). Ende Mai bis Mitte Juni lassen sich die Larven fallen, spinnen einen Kokon und überwintern in diesem relativ glatten, starkwandigen, 4 Wie schädlich sind „Forstschädlinge”?

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dunkelbraunen, leicht glänzenden, fünf bis sieben Millimeter großen Kokon. Der ideale Überwinterungsort ist zwei bis fünf cm in der Nadelstreu bzw. in der obersten Mineralbodenschicht. Rohhumus und Nadelstreu sind dabei wesentlich günstiger als dicht vergraste Böden und Laubstreu. Mitte November reift die Pronymphe (Larve mit Puppenaugen) heran. Die Verpuppung erfolgt im Frühjahr, die Larven können jedoch auch bis zu sechs Jahre überliegen. Bekämpfungsmaßnahmen Chemisch und biotechnisch: In Österreich ist nach dem derzeit gültigen Pflanzenschutzmittelverzeichnis nur noch ein Wirkstoff zugelassen: Diflubenzuron (Häutungshemmer). Diese Präparate sind bei richtiger Anwendung als Akutbekämpfungsmittel in Kulturen kurzfristig erfolgreich, langfristig jedoch wegen der Überlieger und Vernichtung der natürlichen Feinde zwecklos. Biologisch: In Österreich sind zurzeit keine Präparate mit Organismen wie z.B. Bakterien, Viren oder Schlupfwespen zugelassen. Die klassischen biologischen Bekämpfungsmethoden gegen die Fichtenblattwespe sind auf Ameisenansiedlung, -hege und auf Vogelschutz aufgebaut. Sie haben sich jedoch in der Praxis meist nicht durchgesetzt, weil die Lebensbedingungen in den sekundären Fichtenwäldern ungeeignet waren. Da in vielen Bundesländern Waldameisen unter Naturschutz stehen, ist die Bildung von künstlichen Ameisenablegern behördlich verboten. Für die Pflege (Hege und Schutz) von bestehenden Nestern gibt es jedoch Landesförderungsmittel. Vögel können langfristig die Fichtenblattwespen-Population regulieren und auf ein erträgliches Maß reduzieren. Sie können jedoch in den sehr artenarmen Fichtenreinbeständen ohne zusätzliche Nahrung außerhalb der sehr kurzen Larvenzeit meist nicht erhalten werden. Waldbauliche Maßnahmen: Zur langfristigen Reduzierung der Blattwespenschäden sind waldbauliche Maßnahmen unumgänglich. Als wichtigste Maßnahme ist das Herabsetzen des Fichtenanteiles (ideal unter 30 %) zugunsten von Laubholz zu nennen. Ein weiterer Faktor zur Reduzierung des Blattwespenbefallsdruckes ist der Aufbau von mehrschichtigen Beständen, weil ein höherer Anteil von Schattennadeln den Larven der Fichtenblattwespe nicht behagt.

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Foto 1.1: Blasenstrauch. Quelle: Jeantosti/Wikipedia.

Foto 1.3: Eibenzweig mit Frucht. Quelle: M. Kunz/ Wikipedia. Foto 1.2: Deutsche Tamariske. Quelle: Bernd Haynold/Wikipedia

Foto 1.4: Elsbeere, Habitus. Quelle: Andrew Dunn/Wikipedia.

Foto 1.5: Flaum-Eiche, Habitus. Quelle: Etrusko25/ Wikipedia.

Foto 1.6: Wildapfelbaum. Quelle: GRÜNE LIGA Osterzgebirge/Wikipedia.

Foto 1.7: Früchte der Hopfenbuche. Quelle: BotBln/Wikipedia

Foto 1.8: Lorbeerweide. Quelle: MPF/Wikipedia

Foto 1.9: Manna-Esche. Quelle: Willow/Wikipedia

Foto 1.11: Pimpernuss. Quelle: Isfisk/Wikipedia

Foto 1.10: Moorbirke als Pioniergehölz, etwa acht Jahre nach einem Brand in Ledo-Pinion. Quelle: B.gliwa/ Wikipedia

Foto 1.12: Sanddorn. Quelle: Svdmolen/Wikipedia

Foto 1.13: Schneebirne. Quelle: Darkotico/Wikimedia

Foto 1.14: Schwarz-Pappel. Quelle: Rainer Lippert/Wikipedia

Foto 1.15: Speierling. Quelle: archenzo/Wikimedia

Foto 1.16: Steinweichsel im Botanischen Garten in Wien. Quelle: Athenchen/Wikimedia

Foto 1.17: Zwerg-Birke. Quelle: Kim Hansen/Wikimedia

Foto 1.19: Bergulme. Quelle: Melburnian/Wikimedia

Foto 1.18: Weißtanne. Quelle: Crusier/Wikimedia

Foto 1.20: Wildbirne. Quelle: Rainer Lippert/Wikipedia

Foto 1.21: Zirbe im Verband mit Lärchen. Quelle: Tigerente/Wikipedia

Abb. 2.2: Schwarzspechte präferieren für den Höhlenbau glattrindige und hochschaftige Stämme mit hoch angesetzter Krone, die Baumart erscheint zweitrangig, sodass der Anteil z.B. an Buchen, Kiefern oder Eichen kleinräumig wechseln kann (BRÜNNER, K. unveröff.).

Foto 2.5: Von den „sekundären Höhlenbrütern“ sind speziell Hohltaube und Raufußkauz auf die geräumigen und relativ sicheren SchwarzspechtHöhlen angewiesen.

Foto 2.6: Da die Vertreter der „Roten Waldameisen“ in großen Massen und bei nahezu jeder Witterung verfügbar sind, spielen sie im Beutespektrum der Waldhühner und Spechte eine herausragende Rolle.

Verteilung und Erreichbarkeit des pflanzlichen Nahrungsangebots in Wäldern Vegetations-Schichte

Primärproduktion

Biomassen-Vorrat

Erreichbarkeit

Spezialisierung

Wipfel / obere Krone

mittlere Krone

untere Krone

Stamm oben

Stamm Mitte

Strauchschicht Stammfuß / Krautschicht

niedrig

hoch

niedrig

hoch

niedrig

hoch

niedrig

hoch

Wurzelschicht

Abb. 2.5: Wiewohl Wälder zu den produktivsten Vegetationsformen zählen, ist nur ein geringer Teil dieser Phytomasse für Vögel erreichbar und nutzbar. Die Nutzung der Kronenschicht (Angebot an Blattmasse und Insekten) und der Stammschicht (Angebot an Wirbellosen-Beute) setzt spezielle Anpassungen voraus (z.B. geringes Körpergewicht, Klettervermögen; aus SCHERZINGER 2006.a).

Abb. 2.6: Stimuliert durch warme Sommer und ausreichende Nährstoffreserven können Waldbäume außergewöhnliche Samenmengen produzieren. Solche „Mastjahre“ wirken sich auf Kondition und reproduktive Fitness der Vögel aus, und lösen auch Invasionen von Samenfressern aus. (Intervalle der Mastjahre am Beispiel der Buche im Harz; aus Zang, H. 2003).

Abb. 2.7: In außergewöhnlich reichen „Mastjahren“ sind Masseneinflüge Samen verzehrender Waldvögel zu beobachten. Im Beispiel aus dem Bergfichtenwald im Inneren Bayer. Wald hielt die Invasion aber nur wenige Monate an. Wegen hoher Schneelage wurden die Bergfinken vorübergehend abgedrängt (XII–III; aus Scherzinger 2006.a).

Foto 2.12: In gut durchsonnten Bestandslücken entfalten sich raschwüchsige Pioniergesellschaften, die z.B. von Laubsängern, Heckenbraunelle und Klappergrasmücke besiedelt werden, und deren Angebot an Kräutern, Beeren und Weichlaubhölzern für das Haselhuhn essentiell ist (Sturmlücke, Innerer Bayer. Wald).

Foto 2.13: Bäume mit Kronenbruch und Baumstümpfe werden von Spechten zum Höhlenbau bevorzugt genutzt, speziell, wenn sie bereits leicht verpilzt sind (Buntspecht an Fichtenstumpf ).

Foto 2.23: Massiges Lagerholz ist nicht nur eine wichtige Ressource für Larven xylobionter Käfer, es fungiert auch als Keimbett der Waldverjüngung und trägt – als Moderholz – erheblich zur Bodenbildung bei (Urwald Havesova, Slowakei).

Foto 2.24: Exogene Störungen, wie z.B. Feuer, Sturm oder Insektenbefall bringen auch voll vitale Bäume zum Absterben, wobei auf der „Katastrophenfläche“ meist große Mengen an stehendem und liegendem Totholz zurückbleiben (Zusammenbruch abgewitterter Borkenkäfer-Fichten; Innerer Bayer. Wald).

Freif. Verj. Dickung (2%) 2% 10%

Schluß 5%

Optimalphase 20%

Plenterphase

33%

Klimax

Zerfallsphase 22%

Zusam. Br. Freif. 8% 2%

Buntspecht Dreizehenspecht Weißrückenspecht Schwarzspecht Kleinspecht Hohltaube Rauhfußkauz Sperlingskauz Waldkauz Habicht Schreiadler Auerhuhn Haselhuhn Gartenrotschwanz Trauerschnäpper Baumpieper (Grauspecht)

Buntspecht Dreizehenspecht Schwarzspecht Grauspecht Grünspecht Kleinspecht Wendehals Waldkauz Habichtskauz Waldohreule Mäusebussard Wespenbussard Haselhuhn Auerhuhn Gartenrotschwanz Grauschnäpper Baumpieper Heidelerche

Naturwald Wirschaftswald Schwarzsp Haselhuhn (Buntsp.) Buntspecht Birkhuhn Fitis Sperber Dreizehenspecht (Auerhuhn)Schwanzmeise Habicht Ziegenmelker Zwergschnäpper Zilpzalp Waldlaubsänger Heidelerche (Hohltaube) (Baumpieper) (Waldkauz)

Buntspecht Dreizehenspecht Weißrückenspecht Schwarzspecht Hohltaube Rauhfußkauz Habicht Trauerschnäpper Waldlaubsänger (Waldkauz) (Sperlingskauz) (Auerhuhn)

Buntspecht Dreizehenspecht Weißrückenspecht Schwarzspecht Hohltaube Rauhfußkauz Habicht Auerhuhn Waldkauz Sperlingskauz Trauerschnäpper Waldlaubsänger

Abb. 2.8: Im Laufe einer mehr-hundertjährigen Lebensspanne durchläuft ein Urwald unterschiedliche Entwicklungsphasen, deren Lebensraumeigenschaften sich hinsichtlich Schichtung, Struktur- und Nahrungsangebot für die Waldvögel auffällig unterscheiden. Im schematischen Beispiel eines natürlichen Bergmischwaldes weist die Artenliste auf die besondere Attraktivität der späten Reifephasen hin. Aus dem Vergleich zum Wirtschaftswald wird deutlich, dass die Phasen besonderer Diversität bei den üblichen Umtriebszeiten gar nicht zur Ausformung kommen (aus Scherzinger 1991.b).

Foto 2.25: „Baumsturz-Lücken“ ausreichender Größe bereichern das Habitatangebot maßgeblich, da sie neben Kraut- und Strauchschicht auch die Ausbildung Innerer Waldränder zulassen (Bergmischwald).

Foto 2.30: Der montane bis hoch-montane Bergmischwald baut sich klassischerweise aus dem Dreiklang Fichte- Tanne-Buche auf. Aufgrund unterschiedlicher Lichtansprüche, Wuchsformen und Lebensdauer ermöglichen diese 3 Baumarten eine reiche Schichtung des Bestandes.

Foto 2.33: Aufgrund der harten Lebensbedingungen und der hohen Schneelagen im oberen Subalpinbereich bildet der Lärchenwald meist keine geschlossenen Bestände mehr. Das zarte Nadelkleid lässt reichlich Licht bis zum Waldboden, was eine meist bunte Bodenvegetation ermöglicht (Totes Gebirge).

Foto 2.35: Mit den Jahren können einzelne Störungsflächen zu einem „Wald-Lückensystem“ zusammenfließen, sodass sich Altbestände mit Lichtungen, kleinen Waldwiesen oder Sturmlücken kleinräumig abwechseln. Eine derartige Horizontal-Struktur ist z.B. für die Habitatqualität im Auerhuhnrevier essentiell (balzender Jährlingshahn).

Abb. 2.12: a und b: Mit dem schrittweisen Absterben ganzer Fichtenbestände – infolge einer Borkenkäfergradation – ändern sich synchron die Lebensbedingungen für die Waldvögel: Im 10-Jahres-Vergleich (1989–1999) wird a) in der Brutzeit der Ausfall der Vogelarten der Kronen- und Stammschicht zu Gunsten der Gebüsch- und Bodenvögel deutlich. Das rasch absinkende Lebensraumangebot in b) den Wintermonaten führt hingegen zu drastischem Rückgang bei allen Standvögeln (aus Scherzinger 2006.a).

Abb. 2.15: Bei hochsensiblen Arten, wie dem Schwarzstorch, wird ein sehr hoher Prozentsatz an Brutabbrüchen bzw. Brutplatzaufgaben durch Waldarbeiten und andere menschliche Aktivitäten im Horstbereich verursacht. (Beispiel für 48 Brutplätze in Oberösterreich; N. Pühringer 2009, unveröff.)

Angebot an qualitäts-bestimmenden Requisiten und Ressourcen Lebensraum-Kriterium Standorte

Waldflächen

Bestandsaufbau

Baumalter

Baumarten

Sonderstrukturen

"Totholz" als Requisite und Nahrungsquelle

sonstiges Nahrungsangebot

im Naturwald

im Wirtschaftswald Mehrung

Minderung

naturgegebene Vielfalt nährstoffarme Bodenbereiche trocken-warme Standorte staunasse Bodenbereiche nährstoffreiche Bodenbereiche zusammenhängend lückig durchbrochen isolierte Waldfragmente stark fragmentiert ungleichaltrig - gestuft Kronendachrauigkeit lückig - weitständig Baumsturz-Lücken Flächen-Mosaik / patchiness innere u. äußere Waldränder gleichaltrig - einschichtig Zusammenbruchs-Flächen reich an Lichtungen / Wiesen Groß-Kahlflächen riesenwüchsige Uraltbäume breit ausladende Krone Solitärbäume mit tiefreichender Krone massereiches Altholz Borkenrauigkeit Stammholz geeignet für Höhlenbau kernfaule Stämme große, ausgehöhlte Baumstämme hohe Altersspanne im Bestand Pionierbaumarten hoher Laubholz-Anteil hoher Durchmischungsgrad hoher Nadelholz-Anteil skurille Wuchsformen Wipfelbruch, "Zwiesel" Bruchstellen, Risse, Spaltenhöhlen Rindentaschen, Epiphyten / Pilzkonsolen aufgeklappte Wurzelteller Hexenbesen, Wucherungen Bruchholz-"Verhau" Stelzwurzeln, Wurzelhöhlungen Trommel-Resonanzholz Totholz geeignet für Höhlenbau snags -Dürrlinge, Totäste Hochstubben, Bruchstämme Lagerholz / Moderholz Insektengradationen uneingeschränkt Kolonien von Roß- und Waldameisen beerentragende Zwergsträucher Gebüsch, hohe Beerensträucher blütenreiche Hochstauden, Reithgras, Wiesenkräuter

Tab. 2.8: Im Vergleich zum Lebensraumangebot für Waldvogelarten in Naturwäldern und in bewirtschafteten Wäldern lassen sich im Einzelnen sowohl förderliche als auch beeinträchtigende Effekte feststellen, wobei aber insgesamt das standörtliche und strukturelle Angebot auf ein deutlich niedrigeres Niveau abgesenkt wird (aus Scherzinger & Schumacher 2004).

Tab. 2.10 Bei aller Bedeutung der Schutzgebiete im Wald können weder deren Flächengröße noch deren räumliche Verteilung zur Sicherung der gefährdeten Vogelarten ausreichen, weshalb die Integration von Natur- und Artenschutzzielen in die Bewirtschaftungskonzepte der Wälder unabdingbar ist.

Verbreitungsschwerpunkt ausgewählter Waldvogelarten Wald-Nutzungsgebiete                                                

       

           

                           

                             

                                   

                                         

                                         

                                                             

                                               

Vogelart

Wald-Schutzgebiete

  Uhu Baumfalke Seeadler Wendehals Dreizehenspecht Schwarzstorch Habicht Waldschnepfe Kaiseradler Sperlingskauz Ziegenmelker Auerhuhn Steinadler Raufußkauz Birkhuhn Schwarzspecht Hohltaube Blauracke Grauspecht Mittelspecht (Kranich) Habichtskauz Weißrückenspecht (Schreiadler)

                                               

                                                                                                                                                                                                               

Tab. 2.11 Der Großteil der in Österreich als Important Bird Areas ausgewiesenen Gebiete beherbergt Waldvogelarten in Bestandshöhen von „nationaler Bedeutung“, wobei Schwarzstorch, Heidelerche und Ziegenmelker am breitesten repräsentiert werden, Zwergschnäpper, Berglaubsänger und Blauracke hingegen nur in einzelnen Gebieten erfasst sind (Daten aus Dvorak & Karner 1995).

fakultativ in / auf Bäumen

typische Waldvogelarten

Schwarzstorch Heidelerche Ziegenmelker Schwarzmilan Grünspecht Grauspecht Birkhuhn Gartenrotschwanz Wendehals Mittelspecht Dreizehenspecht Halsbandschnäpper Grauschnäpper Haselhuhn Hohltaube Turteltaube Zwergschnäpper Sperlingskauz Blauracke Gartengrasmücke Berglaubsänger Uhu Steinadler Wanderfalke Raubwürger Neuntöter Sakerfalke Zwergohreule Nachtreiher

Kamptal/Süd

Waldviertel/Süd

Kremstal

Wachau

Waldviertel/West

NP Hohe Tauern

Ötscher-Dürrenstein

Allentsteig/Waldv.

March-Thaya-Auen

Kaisergebirge/T

Nördl. Kalkalpen

Donau-Auen/Ost

Lechtal/T

Hügelland/Stmk-SE

Randalpen/NÖ

Lainzer Tiergarten

Wienerwald

Vogelart

Waldviertel/West

Wald-Bindung

Gebietsschutz für national bedeutende Vorkommen von Waldv

Satnitt/ Klagenfurt

Pielachtal

Innstauseen

Silvretta/T, Vbg

Ennstal/Stmk

Parndorfer Platte

Donau-Auen/Mitte

Gailtal/ Villach

Joglland/Stmk

Marchfeld

Mattersburg/B

Dobratsch/K

Freiwald/Mühlviert.

Kamptal/Mitte

Niedere Tauern

Freundsam Moos/ K

Lobau

Murtal/Ost

Steinfeld

Klostertal/Vbg

Hügelland/Stmk-S

Leithagebirge

Thermenlinie

vögeln in IBA-Gebieten Österreichs

Foto 2.43: Bei konventioneller Umtriebszeit werden die Waldbäume noch vor der Ausreifung ihrer faunistisch bedeutenden Altersmerkmale gefällt. Das Zulassen hoher Altersklassen, zumindest bei einzelnen „Habitatbäumen“, ist daher ein wichtiger Schritt für den Natur- und Vogelschutz im Wald (vitale Riesen-Eiche, Urwald Białowieża).

Foto 2.46: Soweit die historische Nutzungsform der Waldweide zu parkartig lockeren Beständen mit alten Solitärbäumen geführt hat, bieten Weide- und Hutewald hochattraktive Lebensräume für anspruchsvolle Bodenvögel und Höhlenbrüter. Mit einer strikten „Trennung von Wald und Weide“ geht ein bedeutendes Biotopangebot verloren, das möglicherweise Vorbilder in der ursprünglichen Landschaft hat, als noch Wisent und Auerochse in den Wäldern grasten (Weide-„Schachten“, Innerer Bayer. Wald).

Abb. 3.2: Äste und Zweige strukturieren den Luftraum (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.3: Horizontale Schichtenbildung (Rotwald bei Lunz) (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.4: Der kühl gemäßigte europäische Laubwald (Schrems im Waldviertel)

Abb. 3.6: Humusbildung am Boden (Rotwald bei Lunz) (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.9: Reh. Leichtes Huftier vom „Schlüpfer“typ. Die Kruppenhöhe ist um 10 % größer als die Schulterhöhe, das Geweih ist klein. Damit können sich Rehe leicht durch Gebüsch und Unterwuchs bewegen. (Foto: Přemysl Pavlík) Abb. 3.11: Ingenieurmäßiges Vorgehen des Bibers beim Fällen starker Bäume (Nationalpark Donauauen) (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.13 Die Rotföhre besiedelte nach der Eiszeit als erste Baumart große Teile Mitteleuropas und wurde später von anderen Bäumen auf nährstoffarme Standorte zurückgedrängt (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.14 Ein durch den Urwald fließender Bach bietet Lebensraum für Wald-, Alpen-, Sumpf- und Wasserspitzmaus (Rotwald bei Lunz) (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.19 Der sanfte Übergang von den Alpen in das Pannonische Tiefland (Spitzerberg bei Hundsheim) (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.20: Kolliner Flaumeichenbuschwald in der Wachau (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.21: Submontaner Buchenwald in der Wachau (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.23: Marchauen bei Baumgarten/M. (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.27: Lebensraum der Gämse (Hölltobel, Dalaas) (Foto: Rita Kilzer)

Abb. 3.30: Jagdgebiet der Wasserfledermaus (Gornja Loza bei Großwarasdorf ) (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 3.32 Fichtenmonokultur (Foto: Edmund Weiß)

Abb. 4.1: Vergleich Schadholzanfall durch Sturm und Schnee mit Borkenkäferschadholz

Abb. 4.3: Buchdrucker – Entwicklungsdauer in Abhängigkeit von der Temperatur (bearbeitet von Pfister A. nach einer Quelle von Wermelinger und Seifert, 1998)

Abb. 4.4: Durchschnittliche Buchdruckerentwicklungsdauer (Tage) in Abhängigkeit von der Temperatur während der Vegetationsperiode (Grafik: Pfister, A. 2008) Abb. 4.5: Borkenkäferschäden im Nationalpark Hohe Tatra als Folge von nicht aufgearbeitetem Windwurfholz.

Abb. 4.6: Buchdrucker (Raster Elektronenmikroskop Foto M. Brandstetter BFW)

Abb. 4.8: Kupferstecher Männchen

Abb. 4.10: Kupferstecher Befall an jungen Fichten, die neben käferbefallenem Holz wuchsen

Abb. 4.11: Lärchenborkenkäfer Ips cembrae

Abb. 4.15: Ips sexdentatus befallener Kiefernbestand

Abb. 4.14: Ips sexdentatus Brutsystem

Abb. 4.18: Schwammspinner Männchen (oben) und Weibchen

Abb. 4.17: Vom 6-zähnigen Kiefernborkenkäfer befallene Weißkiefer

Abb. 4.20: Schwammspinnerraupe auf Eichenblatt

Abb. 4.19: Schwammspinner Eischwämme

Abb. 4.21: Kleiner Frostspanner Männlicher Falter

Abb. 4.22: Kleiner Frostspanner Raupe

Abb. 4.23: Großer Frostspanner Weiblicher Falter

Abb. 4.24: Großer Frostspanner Männlicher Falter

Abb. 4.25: Großer Frostspanner Raupe

Abb. 4.26: Raupe des Schneespanners

Abb. 4.27: Fraß an Maitrieben durch die Kleine Fichtenblattwespe

Abb. 4.28: Männchen und Weibchen (oben) der Kleinen Fichtenblattwespe

Abb. 4.29: Raupe und Kokon der Kleinen Fichtenblattwespe

Abb. 4.30: Fraß an Maitrieben durch die Kleine Fichtenblattwespe

Abb. 4.31: Kleine Fichtenblattwespe Befall an Jungfichte

Foto 5.10: Peter Rathgeb mit Traktor 1976

Abb. 6.1: Temperaturentwicklung seit der letzten Eiszeit (Kromp-Kolb und Formayer, 2005)

Abb. 6.2: Jahresmittel der Lufttemperatur in Österreich (1961–1990)

Abb. 6.4: Risikogebiete für Fichte in Österreich

Abb. 6.6: Die Analysen der im Rahmen der ÖWI gewonnenen Bohrkerne zeigen Jahresschwankungen im Radialzuwachs, die markanten Abweichungen (Weiserjahre) zeigen witterungsbedingte Wachstumsreaktionen.

Abb. 6.10: Variation der Knospenbildung (Einwinterung) einjähriger Weißkiefern (Pinus sylvestris) in einem ungarischen Herkunftsversuch. Durchgezogene Linien geben Anzahl frostfreier Tage wieder. Strichlierte Linien geben den prozenzualen Anteil der eingewinterten Pflanzen an (nach Mátyás, 1981)

Foto 7.1: Der Park des Schlosses Nexing im Weinviertel ist an Wochenenden und Feiertagen für BesucherInnen geöffnet. Foto Schima

Foto 7.2: Verkauf eigener, hochwertiger Spezial-Produkte an Touristen als zusätzliche Einkommensquelle (hier: Wild und Karpfen aus dem Waldviertel in höchster Qualität und kundengerecht präsentiert/Forstbetrieb der Windhag'schen Stipendienstiftung/NÖ. Foto: Arnberger.

Foto 7.3: Ungewohnte Ein- und Ausblicke bietet der Baumkronenweg in Kopfing; Foto: Eder

Foto 7.4: Der Naturpark Sparbach ist ein beliebtes Ausflugsziel für Familien; Foto: Eder

5 So haben wir uns den Wohlstand erarbeitet – Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre Ursula Neumayr

I Faszination Waldgeschichte Dass nun mehr und mehr forschende Beiträge zur Geschichte der Waldarbeit erscheinen, belegt zum einen die wirtschaftliche Bedeutung des Sektors, signalisiert aber auch, dass dieser Produktionsbereich in den letzten Jahrzehnten tiefgreifenden Veränderungen unterzogen wurde und so das Interesse an vergangenen Verhältnissen gestiegen ist. Vor gut dreißig Jahren sammelte Karl Fiala im Verschwinden begriffene mundartliche Ausdrücke der Waldarbeit (FIALA 1984), Allgemeingut geworden sind die Schilderungen von Barbara Waß über die Bergbauern- und Holzarbeit im Lammertal (WASS 1989), wie auch der „Lange Weg des Holzes“ für die Situation in Oberösterreich (NEUBAUER 1999). Ulrike Kammerhofer beschreibt am Beispiel des Salzburgischen Hüttschlag Leben und Arbeit der Holzknechte (KAMMERHOFER 1991), Walter Mooslechner tut dies für Großarl (MOOSLECHNER 1997), Gerald Rettenegger dokumentiert in „Das Leben der Hinterwäldler“ Holzknecht-Erinnerungen des Ennstales (RETTENEGGER 1995), Alexandra Eichinger und Josef Aschenwald zeichnen die Erfahrungen von Holzknechten in Tirol auf (ASCHENWALD 2005), Gerlinde Perger spondiert über die Sozialgeschichte der steirischen Holzknechte (PERGER 1999). In unermüdlicher Kleinarbeit errichtete und erweitert Professor Hiltraud Ast das Waldmuseum in Gutenstein, einer Region, wo Waldarbeit ein zentraler bäuerlicher Wirtschaftszweig ist (AST 1983ff.). Faszinierendes Fotomaterial über Arbeitsvorgänge, über Werkzeuge und Maschinen in verschiedenen Technisierungsstadien, über Missgeschicke und Unfälle während der Arbeit und von gesellschaftlichen Festen rund um die Waldarbeit liefert „Der Gutensteiner Holzknecht“ von Josef Tiefenbacher (TIEFENBACHER 1997). Die Biografie des im Salzburger Pinzgau geborenen Peter Rathgeb, die nach einem geschichtlichen Überblick zur österreichischen Waldwirtschaft im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages steht, erweitert diese Bilder für die Jahre von etwa 1930 bis 1980. Für Peter Rathgeb, wie für viele andere aus der alpinen Landwirtschaft Kommenden, bot die Forstwirtschaft Mitte des 20. Jahrhunderts Möglichkeiten für beruflichen Aufstieg und war, auf lange Sicht und in der Verzahnung mit anderen Wirtschaftszweigen, Grundlage für allgemeinen wirtschaftlichen Aufbau und zunehmende Prosperität der inneralpinen Region. Der Wald roch nach Freiheit, wie das ein Holzknecht im Rückblick so markant beschreibt: „Der Geruch des Vaters, (wenn) er am Samstagnachmittag von der Holzknechthütte herausgekommen ist, (war) ganz schweißig, (er war) ganz schwarz und wild im Gesicht vor lauter Bartstoppeln. (…). Es war nicht dieser modrige, nach Fäulnis riechende Gestank der Bauernknechte

5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

I 189

(…), den man zur Genüge aus der Sonntagsfrühmesse (kannte), die haben nach Erde und Stall, und, wenn es hoch herkommt, nach Heu gerochen, (…), das war ein Gefängnisgeruch. (…) Wie anders (war da) der Holzknechtgeruch vom Vater (…), einer nach Luft und Freiheit, ein strenger und vertrauter und rechtschaffener Geruch nach Freiheit, (…) das beste Parfum aus Graß, Laub, Hüttenrauch, Tabakrauch, Hirschblut, süßem Ahornsaft, Schweiz, Gamsdecke und Lärchenharz.“ (RETTENEGGER 1995: 58). Für Peter Rathgeb war klar, am Beginn der Zweiten Republik als Holzknecht am richtigen Ort und im richtigen Beruf zu sein, „wo nach so einem grausamen Krieg das halbe Europa in Trümmern liegt und Holz der beste Baustoff ist. Aus dem Holz kann man alles machen, sogar bis zum Holzteller und Löffel.“ Zudem begeisterte diese Generation, nach Jahren des Mangels an Werkstoffen, an Materialien und Werkzeug, die Erfahrung der Fülle: „Dieser Baustoff steht überall vor der Haustür im Überfluß. Es gibt sogar Gegenden, wo in gewisse Fläche noch nie eine Zugsäge oder eine Putzhacke mit einem Holzknecht hingekommen ist.“ (RATHGEB 2005: 114). Dieses überzeugte Selbstbewusstsein der Holzknechte belegen, so spätere Beobachter, auch die zeitgenössischen Fotografien: „kein Blick zu Boden oder zur Seite, es wird dir gerade in die Augen geschaut, nahezu herausfordernd, locker, selbstbewusst, der Hut bleibt oben, hochgekrempelte Ärmel, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere umfasst (das Werkzeug), oder (der Holzknecht hat) selbstbewusst die Arme verschränkt.“ (RETTENEGGER 1995: 153). Peter Rathgeb blieb sich der Besonderheit – wiederum aber auch der Alltäglichkeit – seines Lebens klar, „gestern war mein 85. Geburtstag“ schreibt er an einer Stelle seiner Lebenserinnerungen, ich „bin geistig gut beieinander (um) meinen Lebenslauf niederzuschreiben. (…) Ein Leben, wie ich es hatte, war ja auch für viele Menschen bestimmt, aber die leben nicht mehr. Die wenigen, welche noch leben, können nicht mehr schreiben, es fehlt das Gedächtnis oder der Wille, meist die Fähigkeit zu schreiben. So gesehen, bin ich der reichste Mann, (denn) bei mir ist es noch möglich.“ (RATHGEB 2006: 66). Unehelich geboren, erlebte Peter Rathgeb Kindheits- und Jugendjahre bei einem Pinzgauer Kleinbauern. Der Alltag war gekennzeichnet von fordernder Arbeit, widrigen Lebensumständen, Schlägen, alles muss selber erzeugt und aus eigener Körperkraft getan werden. „So ein Leben kann keiner gehabt haben“, schreibt Rathgeb im Rückblick, wohl selbst erstaunt über die Geschehnisse und Veränderungen im Laufe seines Lebens. Rathgebs äußerst intensive Schilderung seiner ersten Lebensjahrzehnte lässt den Spätergeborenen einfühlen, was es geheißen haben mag, in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts im Gebirge Kind gewesen zu sein (RATHGEB 2007). Erwachsen arbeitete Peter Rathgeb als Holzknecht, zunächst in einzelnen Auftragsarbeiten, später ganzjährig im Dienstverhältnis der Österreichischen Bundesforste. Grundlegende Veränderungen der Arbeitstechnik – von der fordernden Handarbeit über die Weiterentwicklung der Sägen bis hin zu Motorsäge, Güterwegebau und LKW-Transport – erlebt und trägt Peter Rathgeb mit, ja treibt sie durch seine Aufgeschlossenheit und Neugier, durch das Bestreben, die Arbeit zu beschleunigen und vereinfachen, selber voran: „in den vergangenen siebzig Jahren habe ich von dem schlechtesten Werkzeug bis heute zu den modernsten Maschinen die ganze Entwicklungszeit miterlebt. In meinen aktiven Forst-

190 I

Ursula Neumayr

arbeiterjahren war ich nämlich ein vorwärts, eigentlich aufwärts trachtender Bursch, wie geht’s leichter, wie geht’s schneller.“ Denn, „damals bei unserer Schlägerung waren wir mit einem guten Werkzeug schlecht bestellt, wir hatten lauter altes Glump, (das), was von der Kriegszeit übrig geblieben ist.“ (RATHGEB 2005: 75). „Wenn ich denke, was hat sich verändert? Dann stelle ich fest, überhaupt alles. Es ist kein einziger Handgriff derselbe geblieben.“ (RATHGEB 2006a: 48). Die Arbeit hat hohen Einsatz gefordert, rechnet Rathgeb durch, „Dreißig Schilling Tageslohn. Dreißig Schilling durch sechzehn Stunden, nicht ganz zwei Schilling für eine solche Arbeitsstunde. Das war im Sommer 1952. Das soll die gute alte Zeit gewesen sein, von der heute noch manches Mal geredet wird.“ (RATHGEB 2006: 2). Das Im-eigenen-Leben-Anpacken zeigt sich bei Peter Rathgeb auch in Bezug auf die Schilderung seiner Lebensgeschichte: Auf die ursprüngliche Bitte an den Achtzigjährigen, aus seinem Holzknechtleben zu erzählen, meinte er: „Die Meinung zum Holzknechtbuch habe ich doch wieder geändert. Meine Hände, welche mir die Kraft für die schwere Arbeit geben haben, mögen vielleicht noch imstande sein, von meinem Holzknechtberuf etwas aufzuschreiben, was sich in meiner Holzknechtzeit alles zugetragen hat. Es passt nicht zu meinem Ehrgeiz, wenn fremde Hände von meinem Holzknechtleben erzählen.“ Eine Aufgabe, die für den Pinzgauer eine eigene Dynamik entwickelte und ein Stück weit zur Leidenschaft wurde, „Wenn ich mich so mit meine Gedanken in die Vergangenheit stürzte, dann sehe ich und höre ich alles wie damals, habe den Kopf voller Erinnerungen und muß (doch) alles wieder zurücklassen. Ob es etwa Menschen gibt, die mich verstehen können?“(RATHGEB 2006: 36, 223). Der vom Projekt „Landwirtschaftsstile in Österreich“ angeregte Perspektivenwechsel, in der Forschung den Blick von der Agrarstruktur auch auf die Praxis der ländlichen Akteure zu lenken, ist hier vollzogen: Holzknechte vom Naturell des Peter Rathgeb prägten in ihrem jeweiligen Wirkungsfeld das vorgefundene Agrarsystem entscheidend selbst mit. (www.univie.ac.at/ruralhistory).

I.1 Als viele Bäume noch ein Wald waren – Österreichische Forstgeschichte im Überblick

Die Forstgeschichte Salzburgs ab dem Mittelalter hat Engelbert Koller dargestellt (KOLLER 1975), Elisabeth Johann bespricht die vielfältigen Beziehungen von Wald und Mensch in der jahrhundertelangen Geschichte der heutigen Nationalparkregion Hohe Tauern (JOHANN 2004), von Baldur W. Hopfgartner gibt es für die Nachkriegsjahrzehnte eine Strukturanalyse der Salzburger Sägeindustrie (HOPFGARTNER 1969). Für die gesamtösterreichischen Forstentwicklungen des 20. Jahrhunderts kann auf die hochkarätigen Arbeiten von Norbert Weigl zurückgegriffen werden (WEIGL 2002, 2005). Holz- und Holzproduktion war für das Österreich der Ersten Republik einer der tragenden Pfeiler der Wirtschaft, da Holz, abgesehen von der Deckung der Reparationsleistungen an die Siegerstaaten, als Zahlungsmittel gegen Lebensmittel und Bedarfsgüter eingetauscht werden konnte und so für das unmittelbare Überleben der Bevölkerung von 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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entschiedener Bedeutung war. Aus diesem Grund stand die heimische Forstwirtschaft in den Zwanzigerjahren im Zeichen der Produktionssteigerung. Die Gebirgsregionen hatten eine besondere Situation: Hier befanden sich reiche, allerdings weitgehend unerschlossene Holzvorräte – auf einen Kilometer Landstraße (nicht Forststraße!) kamen in Oberösterreich 46 ha, in Salzburg 180 ha, in Kärnten gar 229 ha Wald. Die weitere Erschließung dieser Gebiete war eine der zentralen Möglichkeiten, das Nationalkapital Holz besser und effizienter nutzbar zu machen. (WEIGL 2002: 601–605; 1997: 48f.). Zu Beginn der Dreißigerjahre führte eine Mehrzahl von Gründen die Holzwirtschaft in die Krise: Kahlschläge in den bringungsgünstigen Regionen, sinkende Rentabilität der Produktion, das Ansteigen von Löhnen, Soziallasten und Steuern, wachsende ausländische Konkurrenz, steigende Transportkosten, witterungsbedingt erhöhtes Schadholzaufkommen, sinkende Brennholznachfrage aufgrund der zunehmenden Verwendung von Kohlefeuerungen und das Umfeld einer weltweit schwierigen Wirtschaftslage. Hohe Arbeitslosigkeit in der Fortwirtschaft war die Folge: 1928 bot der heimische Waldbesitz etwa einer halben Million Menschen Arbeit, bis 1933 sank diese Zahl auf 320 000. (WEIGL 2002: 605ff.). Der Verkaufspreis für einzelne Holzkategorien war in einigen Gegenden Österreichs zu Beginn der Dreißigerjahre auf die Hälfte jenes der Vorkriegsjahre gesunken. Viele Betriebe standen zum Verkauf, Käufer gab es wenige. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lag die durchschnittliche Verschuldung der österreichischen Forstwirtschaft bei 160 Schilling je Hektar. (WEIGL 1997: 61). Für das Deutsche Reich und seine enormen Expansionsbestrebungen war die Vereinnahmung des österreichischen Waldes und seiner Ressourcen wirtschaftlich dennoch lukrativ. In den ersten Kriegsmonaten profitierte auch der österreichische Holzabsatz von der Eingliederung in das Deutsche Reich – die reichsdeutsche Bauwirtschaft und Industrie, später auch die Möbelerzeugung sorgten für hohe Nachfrage. Es stieg der Bedarf an Waldarbeitern, neue Methoden, neue Geräte, neue Sozialabsicherungen und Förderungsmaßnahmen wurden im Gebirge eingeführt und stärkten die Hoffnung auf lang erwartete wirtschaftliche Verbesserungen. Mit zunehmendem Kriegseinsatz und den Kriegsverlusten sank allerdings die Zahl der im Gebirge verfügbaren Waldarbeiter, die Forstarbeit musste zunehmend von älteren Personen, von Frauen, Schuljugend und Zwangsarbeitern erledigt werden, der dabei erzielbare Ertrag war dementsprechend rückläufig (WEIGL 2002: 634ff.). Für die junge Zweite Republik war Holz wiederum ein wichtiges Gut, insbesondere im Export. Die Produktionsbedingungen waren jedoch weiterhin schwierig: nach wie vor fehlende Erschließung der Gebirgsregionen, fehlende Betriebsmittel und mangelhaftes Fachwissen, hohe kriegsbedingte Ausfälle bei Holzknechten wie auch bei geschultem Forstpersonal. Aufgrund der unzureichenden Nahrungsversorgung und der mangelhaften Ausstattung mit Werkzeug erzielten die Waldarbeiter der ersten Nachkriegsjahre nur etwas mehr als die Hälfte der Arbeitsleistung der Friedenszeiten (WEIGL 2002: 638). Um etwa 1950 zog die Holzkonjunktur an. Aufgrund eigener Arbeitsleistung sowie durch Unterstützung aus Förderprogrammen wie etwa des Marshallplans konnten in den Folgejahren wichtige Modernisierungsschritte in der Forstarbeit gesetzt werden: zunächst

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Foto 5.1: Gerüst zum Holztransport 1920

etwa die Anlage von Pflanzgärten zur Ausweitung der Pflanzenproduktion, die Förderung von Aufforstungen und die Bekämpfung von Pflanzenschädlingen, dann die Wildbach- und Lawinenverbauung, der Forstraßenbau, die Schaffung von forstwirtschaftlichen Bildungseinrichtungen, die Umsetzung organisatorischer Vereinfachungen etwa durch die Verwendung von Rechenmaschinen, Ertragstabellen und Arbeitszeitstudien. (WEIGL 2002: 640–652). Die Technisierung ab Jahrhundertmitte veränderte die Holzarbeit grundlegend: Plastikkeil, Motorsäge, Traktor, Seilwinde bis hin zu Bagger, Harvester und Hubschrauber übernahmen, was zuvor mit Zugsäge, Holzschlitten, Menschenund Pferdekraft erledigt worden war. Weit schneller und wirkungsvoller natürlich. Die Verlagerung der Entrindung vom Wald in die holzverarbeitenden Betriebe war einer der größten Rationalisierungsschritte in der Nutzholzproduktion – die händische Entrindung hatte vorher bis zur Hälfte der Gesamtarbeitszeit in Anspruch genommen (WEIGL 2002: 668f.). Entsprechend beeindruckend sind Zeitaufwands-Vergleiche: 1930 bearbeitete ein Mann mit Axt oder Zugsäge in einem Arbeitstag von 14 Stunden einen Festmeter Holz. 1950 konnten mit entsprechend verbessertem Werkzeug zwei Festmeter Holz in einem Achtstundentag produziert werden. 1960 mit Motorsäge drei Festmeter und 1975, da die Entrindungsarbeit nun verlagert war, 15 Festmeter je Arbeitstag. Anfang des 21. Jahrhunderts bearbeitet ein Harvester, ideale Geländebedingungen vorausgesetzt, fünfzehn Festmeter in einer Stunde. (DEMEL 2006: 183). Holzarbeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht mehr Saisonarbeit oder Nebenbeschäftigung für Kleinbauern oder Häusler, der Trend ging zum ganzjährig beschäftigten und fachlich gut ausgebildeten Waldarbeiter. (MANTL 1990: 305ff.). Diese Veränderung ist abzulesen in der neuen Bezeichnung der Berufsgruppe: „Land- und Forstarbeiter, das ist heutzutage der moderne Name für uns“, vermerkt Peter Rathgeb (RATHGEB 2006a: 10). Zeitgleich mit der Professionalisierung bewirkt der starke Maschineneinsatz ein rasches Sinken der Zahl der Arbeitsplätze: Waren 1965 in Österreich 28 000 Menschen in der Waldarbeit beschäftigt, so sank die Zahl auf 5 900 im Jahr 1992. Im Bundesland Salzburg verringerte sich die Zahl von 1 556 Forstarbeitern im Jahr 1955 auf 326 im Jahr 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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2003. (JIRIKOWSKI 2005: 124). Die Landwirtschaft erlebte insgesamt den nämlichen Trend: 1960 bestanden in Peter Rathgebs Heimatgemeinde Taxenbach 175 bewirtschaftete Bauernhöfe, 1990 waren es 59 im Haupterwerb, 82 im Nebenerwerb, „Das ist durch Auflassung und Zusammenschließungen entstanden, auch durch Felder verpachten, aus einer schattigen Fläche wird eine Weidefläche gemacht oder es wird ein Wald angesetzt.“ Die Einkünfte aus der Landwirtschaft allein reichten für den Lebensunterhalt vielfach nicht mehr aus, Nebenerwerbsmöglichkeiten im Baugewerbe oder Fremdenverkehr werden wichtig: „(Einige) gehen der Holzarbeit nach, das läuft dann auf Bauernakkord. Andere sind irgendwo beim Schilift beschäftigt usw.“(RATHGEB 2006a: 28). Holzarbeit war und ist Männerarbeit, Frauen fanden im Wald fallweise Möglichkeit zu Nebenverdienst, etwa beim Pflanzen Setzen, beim Setzlinge Pflegen und Ausjäten. (HOFSTÄTTER 1985, AST 2006: 213ff.). Die Kritik an der Technikgläubigkeit und die Sensibilisierung der nichtforstwirtschaftlichen Öffentlichkeit für Fragen des Natur- und Umweltschutzes ließen das Primat der Holzproduktion in der Waldwirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr unwidersprochen. Wald war, wirtschaftlich gesehen, nicht einzig eine Ansammlung von Bäumen mit dem Ziel der Rohstoffproduktion, zunehmend ins wirtschaftliche Interesse rückten auch dessen vielfältige Dienstleistungsfunktionen: Erholungsraum, Sportgebiet, Trinkwasserversorgung, Luftverbesserer, Schutz vor Lärm, vor Immission oder Lawinen (WEIGL 2002: 684–687). Festzuhalten bleibt, dass die Erholungsfunktion des Waldes den auf Nutzholzproduktion konzentrierten Holzknechten durchaus gegenwärtig war. In Peter Rathgebs Schilderungen findet die Freude an schönen Bäumen, das Nebeneinander der Forstarbeiter mit tierischen Waldbewohnern Erwähnung: „Wir Holzknechte waren es gewohnt, bei jeder Hütte oder neben unserer Arbeit waren immer Rehe oder Hirschen, ja sogar ein Auerhahn hat sich an uns gewöhnt.“ (RATHGEB 2005: 120). Rathgeb thematisiert allerdings auch den vorgenannten Paradigmenwechsel in der Waldwirtschaft von Rohstoffgewinnung zu Freizeitraum: „in unserer Gegend ist fast in jeder zweiten Almhütte ein öffentlicher Ausschank. Das ist durch den Fremdenverkehr entstanden, fast zu jeder Alm kann man mit dem Auto hinfahren. Zudem noch in den Schigegenden die ganzen Seilbahnen und Lifte, an einem schönen Tag sind so fürchterlich viel Menschen unterwegs, alle rennen in die Berge umher. Der so genannte Almfriede ist bei uns verloren gegangen. In unseren Wäldern ist es dasselbe, da sind die Schwammerlsucher unterwegs und meistens lauter Fremde, weiß Gott woher. Einheimische sehr wenige. Ich (…) habe es zur Genüge erlebt, wie es zugeht im Wald, es gab keinen Winkel im ganzen Wald, wo nicht plötzlich Schwammerlsucher aufgetaucht sind. (D)ie Hirsche (wissen oft) nimmer, wo sie sich hinflüchten sollen.“ (RATHGEB 2005: 120f.)

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II Als Waldeskind bin ich geboren – Leben als Forstarbeiter ca. 1930–1980 II.1 Der Wald roch nach Freiheit

Als Waldeskind bin ich geboren / und so bin ich a’ Holzknecht worn / Das bin ich gwen mein ganzes Leb’m / es hat für mich nichts schönas gebm / Als armer Holzknecht hab ich mein Lebm im Wald verbracht / vom frühen Morgen, bis in die späte Nacht / Da habe ich g’hackt und g’saglt und war niemals krank / dem Herrgott ich für dieses Leben dank. (RATHGEB 2006a: 1). Dies ist die erste Strophe jenes Liedes, das sich Peter Rathgeb für seine Beerdigung wünscht. In der Tat, Holzarbeiter zu werden, war für ihn ein über Jahre verfolgtes Ziel, zu unerfreulich waren die Erfahrungen als Kind und Jugendlicher am Bergbauernhof, zu erfolgsversprechend die Beobachtungen der zeitgenössischen Entwicklungen in der Waldwirtschaft. Ein Erlebnis, das ihn als Elfjährigen die heilende Wirkung von Baumprodukten spüren ließ, blieb Rathgeb in Erinnerung: Einmal legte ihm ein Freund ein Pechpflaster auf eine sehr schmerzhafte Verletzung und „das brannte zwar fürchterlich, aber heilte schnell.“ (RATHGEB 2007: 21). Als Dreizehnjähriger eine ebenso nachhaltige Erfahrung: nach einem starken Sturm sollte jeder Bauer in der Gegend mithelfen, das angefallene Schadholz aufzuarbeiten, denn „der schöne Wald war fast kaputt. Die größten Bäume in der Mitte abgerissen, mit samt der Wurzel aufgedreht usw., die ganze Seite ein gefährlicher Sauhaufen.“ Gezielte Holzschlägerungen hatten zu dieser Zeit im Bauernwald noch wenig Bedeutung, das verfügbare Werkzeug war schlecht, der Bauer, bei dem Peter lebte, hatte wenig Erfahrung mit dieser Arbeit, die Kleidung war unzureichend, Rathgebs Finger ständig klammkalt: „da war ich so verzweifelt, dass ich mir denkt hab’, es wär’ besser sterben, als so ein aussichtsloses Leben.“ Doch während dieser Wochen dauernden Arbeit gab es auch Schönwetterperioden und Rathgeb fand Gefallen an der Arbeit: „(da) hab’ ich mich seelisch wieder erholt, damals bald gespürt, der Wald ist eigentlich doch wunderbar, der kann mir schaden!!“ (RATHGEB 2006a:6, 2007: 23). „Schaden können“ im regionalen Dialekt bedeutet: gut tun, begeistern, beflügeln. „Diese herrliche Ruhe in der schönen Natur ist wohl nur im Wald zu finden. Das hat mich bald angezogen und nicht mehr losgelassen.“ „Das ist hängengeblieben“, schreibt Rathgeb nicht ohne Genugtuung und Stolz, „und so bin ich später ein staatlich geprüfter Forstfacharbeiter geworden.“ (RATHGEB 2006a: 8f, 2007: 24). Der genannte Bauer stellte für die Windwurfarbeit dann doch einen erfahrenen Holzknecht ein, einen mit entsprechendem Werkzeug und den nötigen Kenntnissen. Von diesem konnte Rathgeb dann einiges lernen – Geschick, Gefahrerkennung, Umgang mit Werkzeug und, ganz entscheidend für den jungen Mann, es gab Lob und Anerkennung für die geleistete Arbeit. Doch selbst hier schwankte Rathgeb, ob die Waldarbeit die richtige für ihn sei, das händische Entrinden der Bäume war körperlich fordernd und brachte ihn immer wieder an die körperlichen Grenzen. Das Holzpirschen – der Abtransport des geschlagenen Holzes von der Lagerstätte – war für den jungen Mann wiederum sehr interessant 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Foto 5.2: Peter Rathgeb und Kollegen 1939

und befriedigend war dann, als das Holz „beieinander war“ und verkauft werden konnte. (RATHGEB 2007: 24). Die Freude ist gut vorstellbar, war ja Holzverkauf eine der wenigen Gelegenheiten, bei der in diesen Jahren Bargeld in die Bergbauernstube kam. Die Waldarbeit in den Gebirgsregionen der Dreißigerjahre zielte nicht in erster Linie auf Holz als Handelsware hin; Holz war für den eigenen, landwirtschaftlichen Gebrauch wie etwa als Brenn- oder Bauholz gedacht, war Voraussetzung für die Herstellung der unzähligen Geräte, Hilfsmittel, Zäune, Arbeitsutensilien. Waldarbeit umfasste in der getreidearmen Region durchaus noch die Nutzung der Waldstreu und der Waldweide. Rathgeb dazu: Man hatte „den Wert des Waldes noch nicht erkannt, im Herbst 1935, damals da hat ja der Wald, also das Holz keinen Wert gehabt. Ganz große Flächen von (den) Wäldern (in unserer Gegend) waren unberührt. Es waren keine Forstwege, ganz schlechte, oft ganz verkommene Jagasteige. Es wurde nirgends eine Säuberung gemacht.“ Und so ist auch „hie und da ist irgendwo ein Bäumerl verschwunden, (denn) es war ja weit und breit kein Förster.“ Aufgrund der mangelnden Pflege der Wälder ist viel „Schadholz entstanden, liegende und abgestandene Stämme. Wenn ein Bauer um so ein Schadholz angesucht hat, hat das dieser Förster ohne weiteres erlaubt, meistens hat der selber nicht nachgeschaut.“(RATHGEB 2007: 36). Für eine Handwerkslehre fehlte Peter Rathgeb das nötige Lehrgeld. So hilft er als junger Mann immer wieder bei Waldarbeiten mit, lernt das Werkzeug besser kennen, lernt sicher damit umzugehen, erfährt von den Verdienstchancen: Der Freund „verdient am Tag mit geregelter Arbeitszeit von 6 Uhr bis 18 Uhr, (dabei) Mittag eine Stunde frei, das war uns allen fremd, also 11 Stunden arbeiten, 6 Mark“, zudem, „im Akkord scheinbar noch mehr.“ Der Landwirtschaft ganz den Rücken zu kehren und selber Waldarbeiter zu werden, war vorerst weiter nicht machbar: „Ich habe nicht gewusst, soll ich abhauen. Ich wusste, diese Arbeit wär’ mein Leben, frei sein, und endlich einmal ein Geld verdienen.“ Doch „wenn ich jetzt im Sommer abhaue, muss ich auf Schuhe und Bekleidung verzichten. Bei ernsthafter Überlegung bin dich dann doch beim Bauern geblieben.“ (RATHGEB 2007: 45). Nach Lichtmess – dem Jahrtag, wo man im Gebirge aus bäuerlichem Dienstverhältnis entlassen wurde und sich eine neue Stelle suchen konnte – versuchte sich Rathgeb

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Foto 5.3: Holzknechte um 1930 vor Rindenhütte

ab 1939 als selbständiger Holzknecht, zwischendurch als Tagelöhner bei Bauern, war bei einem Sägewerk beim Holzliefern beschäftigt, ab Sommer bei einer Holzarbeit im Gebirge. Der Preis der Freiheit, der Preis der besseren Entlohnung waren fordernde, bislang äußerst gefährliche Arbeitsbedingungen. In einem Schaflbirgl eines Pinzgauer Dorfes, dort, wo sonst selbst im Sommer eher nur die Schafe hinkommen, waren tausend Meter Holz zu schlagen, „es werden junge, gute Leute gesucht. Es ist fürchterlich steil, ohne Gliedereisen den ganzen Tag geht nicht. Also für Ältere ist das nichts. Es wurde erzählt, (der Eigentümer) zahle für einen guten Mann, der das Ludergelände aushält, neun Mark am Tag. Das war ein ungeheueres Angebot. (Da) packen wir an, (und) wenn es gar nicht zum Aushalten ist, aufhören können wir jederzeit.“ Schon der Weg dorthin war schwierig, „also sind wir (…) ausgerückt mit Sack und Pack, das erste Mal ist es halt schwer zum Tragen, mit dem Fahrradl zum Bauern, nachher nach seinem alten Ziehweg bis zu seiner Voralpe, dann haben sie gesagt, hinauf über die steile Bergkuppe, da geht ein weniges Steigerl. Aber da haben wir etwas erlebt, das Steigerl so schlecht und wir haben das Gewicht, lauter so hohe Treppen, (…) zwei Stunden haben wir gebraucht.“ Bei Schönwetter war die Arbeit zu ertragen, aber „beim schlechten Wetter, da oben, grob Wind und Regen, alles naß (…) und ein Trocknen nicht möglich. Beim schönen Wetter so viele Gebirgsvipern, so dunkelgraue Würmer. Dieses Leben war wohl ungeheuer hart.“ Das Gelände: „es waren fünf so steile Riedlen, dazwischen immer wieder ein Graben, fast ein jeder Graben hat Wasser geführt. Aber steil und felsig, in der ganzen Gegend nirgends ein ebenes Fleckerl.“ „Wir haben bald bemerkt, es wird uns nichts geschenkt.“ (RATHGEB 2006a: 35). „Das Schwierigste war das Umschneiden, (es) war das Gelände so steil. Die Stämme (hatten) bei der Wurzel lauter eingewachsene Äste. Bald einmal musste man wieder ein kleines Gerüst haben, weil man zu tief unten stand.“ „Dazu haben wir ein paar Rüsthacken in den Stock hineingeschlagen, ein paar Stangl drauf und fertig war das Gerüst.“ So steil wars, dass die Gliedereisen und ein Gebet unverzichtbar waren. So wie alle Tage, (haben wir) schon bei der Hütten die Gliedereisen angezogen und auf geht’s, in Gott’s Nam’, das waren bei manchen die heimlichen Gedanken.“ (RATHGEB 2005:

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Foto 5.4: Holztransport mit händischem Ziehschlitten 1939

7ff., RATHGEB 2006a: 36). „Während der Wochentage haben wir am Anfang noch kein warmes Wasser, also keine Waschmöglichkeit gehabt. Erst am Samstag, nach zwölf Uhr, war es zum Waschen.“ „Wie ich ausgeschaut habe, voller Pech und voller Schwitz und Dreck, wie wenn der Teufel auf Erholung da wäre.“ (RATHGEB 2005: 7ff., RATHGEB 2006a: 36). Was da half, war „als erstes ganz fest einschmieren, mit einem alten Fett. Mit Fett oder Öl löst sich das Pech sofort, und dann mit Seife und Sand, in einem Graben drinnen, mit kaltem Wasser waschen. Es kann sich wohl jeder Mensch vorstellen, wie unangenehm eine solche Wascherei vor sich geht. Wie sich Fett mit dem kalten Wasser verträgt, ganz wichtig war Sand oder Erde.“ Körperpflege mit kaltem Wasser war nicht lange auszuhalten, die Holzknechte fordern vom Bauern Utensilien, um diesen Zustand zu verbessern, um sich zumindest mit warmem Wasser reinigen zu können: einen alten Milchkübel zum Wassertragen, einen alten Wasserkessel zum Wasser aufheizen und einen Weidling, ein Holzschaffel, zum Waschen.“ Der Transport dieser Gegenstände zum hochgelegenen Arbeitsplatz war schwierig, war ja auch die Verpflegung für die Woche und weitere Arbeitsgeräte zu tragen, aber „jetzt schaut das Leben schon anders aus, da heroben.“ (RATHGEB 2006a: 36ff.). Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges mussten einige der Kollegen aus der Partie einrücken. Peter Rathgeb wurde in die Landwirtschaft zurückbeordert, und dies mit folgender Begründung „es hat sich (politisch) viel verändert, es geht eben nicht an, dass die besten Leute von der Landwirtschaft abwandern, gerade deswegen wurde ein Gesetz

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beschlossen, diesen Umstand aufzuhalten. Die Zeiten sind vorbei, wo ein jeder machen und lassen kann, was er will, da muß Ordnung sein.“ „Diese Form von Ordnung“ hat Rathgeb „schon überhaupt nicht“ gefallen: „mich ärgerte nur, dass ich jetzt plötzlich Zwangsarbeiter sein muß.“ (RATHGEB 2005: 24)“. Nach einem weiteren Jahr in der Landwirtschaft folgten für Peter Rathgeb Kriegsjahre in verschiedenen Gebieten Europas. Eine Zeit, die schwierig war, „damals hatte kein Mensch in unsere(n) Berg(en) herinnen eine Ahnung, welche Strapazen (wir) ertragen mussten.“ „Das Einrücken müssen war ein bitterer Jugendabschluß. Das klingt heute seltsam. Aber ich habe diese Zeit so gesehen und erlebt.“ (RATHGEB 2005: 42ff.). In den ersten Nachkriegsjahren reichte der Verdienst aus der Waldarbeit wiederum nicht zum Überleben, sodass Peter Rathgeb in der Landwirtschaft arbeitete, um das nötigste zum Leben zu verdienen, mit wenig Begeisterung allerdings: „zum Fuhrwerken haben sie mir ein Pferd gegeben, so ein halbspinnendes Luder, stehen bleiben wollte (es) nicht, zum Arbeiten war (es) nicht verlässlich. Ich habe keine Freud’ gehabt, der Winter ist wohl gar (zu Ende) geworden. Ich habe eine Zeit auf dem Sägewerk gearbeitet, mit dieser Arbeit konnte ich mich überhaupt nicht anfreunden. Bei einem solchen Verdienst konnte man kein Ziel anstreben, etwa eine Familie gründen oder einen Baugrund kaufen oder Häuslbauen.“ (RATHGEB 2006: 1). Erst 1953, „da haben mich die Bundesforste erlöst“ (RATHGEB 2006: 4). Während für Peter Rathgeb die Holzarbeit der berufliche Lebenstraum war, blieb sie für einige Kollegen nur Übergangsstadium: Ob der harten Arbeit ging ein Kollege zur Wildbachverbauung, Anfang der Sechzigerjahre hörten zwei andere auf, um ein Handwerk zu lernen. (RATHGEB 2005: 78, 2006: 77). Einer der Kollegen, einer der besten Holzknechte in Peter Rathgebs Partie, kauft sich 1960 eine „zerlumpte Bauernsach“ auf 1 250 Meter Seehöhe. Für Rathgeb schwer nachzuvollziehen, „mich hat das etwas geschockt, warum er sich so ein Gescher antut.“ Doch auch dieser hat recht behalten: „Heute steht ein großes schönes Gasthaus oben. Daneben für die Landwirtschaft ein schönes neues Haus und Hof, mit Urlaub am Bauernhof. Dazu ein riesiger Parkplatz.“ (RATHGEB 2006: 74).

II.2 Trümmerjahre und Sommer 1948

In seinen Lebenserinnerungen dokumentiert Peter Rathgeb eindrucksvoll seine Erfahrungen der Rückkehr aus dem zweiten Weltkrieg und die der ersten Nachkriegsjahre: „Ich bin mit noch zehn Taxenbachern am 27. Juli 1945 in Taxenbach angekommen und jetzt geht das Zivilleben an. Heimkehrer wurden wir genannt, das war das passende Wort für uns. Ein jeder wusste, wo er hingehen konnte, nur ich hatte keine bleibende Stelle. Daheim überall eine Not, nichts zum Essen und keine Kleider. Die ersten paar Nächte habe ich bei einer Familie in der Wohnküche auf dem Diwan geschlafen, diese Familie hat mir auch etwas zum Essen gegeben. Inzwischen habe ich mich umgeschaut, wie schaut es bei meinem Kasten aus? Den hatte ich bei einem Bauern eingestellt, mit Inhalt, etwas Bekleidung usw., damals, als ich zum Militär einrücken musste. Ich sah 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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dann meinen Kasten, oje, aufgebrochen und ausgeplündert, was noch vorhanden war, konnte ich nicht brauchen, viel zu klein, ich bin in den Kriegsjahren sechs Zentimeter gewachsen. Zum Glück waren noch ein paar brauchbare Schuhe vorhanden, aber auch um zwei Nummern zu klein. Diese Schuhe konnte ich im Herbst zufällig bei einem anderen Heimkehrer umtauschen. Der hatte ein paar Militärschuhe, aber die waren ihm zu groß. Schon ist das Geschäft gelaufen. Und wir hatten beide ein paar Schuhe für den Winter. Etliche alte Gewandfetzen habe ich noch mitgenommen, mehr habe ich nicht (her)aus gebracht. Ich will gar nicht aufzählen, was mir alles gestohlen wurde.“ Die noch größere Sorge galt einem neuen Arbeitsplatz, „Inzwischen habe ich erfahren, der Lohninger in Rauris braucht einen Hüter für seine Hochalm. Das passt für mich, da fahr ich hinein. Ich hatte mir damals 1939 bei der Sulzbachholzarbeit ein gutes Fahrradl gekauft. Das war ein deutsches Dreigangradl, ein starkes, schweres mit Halbballongummireifen. Das war damals die neueste Erfindung, das war mein Stolz, viele waren mir neidig. Ich hatte dieses Fahrradl bei einem ganz alten aber noch bewohnten Häusl in einem finsteren Dachboden versteckt. So habe ich mein Radl vom Einrücken bewahrt.“ Den Sommer über arbeitet Peter Rathgeb auf dieser Alm im Rauriser Tal und ist im Herbst wieder in Taxenbach. „Bin wieder in Taxenbach und der Winter vor der Tür. Was fang ich an? Keine Heimat, kein Gwandl und nix zum Essen. Ein Geld hatte ich, das wurde während des Krieges gespart, aber man konnte nichts kaufen, weil ja nichts da war. Außerdem stand eine Geldentwertung kurz bevor, Geldwechsel. (…) Ich war dann (kurz) als Holzknecht beschäftigt, es war nicht länger möglich, wir hatten viel zu wenig zum Essen.“ (RATHGEB 2005: 51ff.). Wenn möglich, verrichtete Rathgeb Brennholzarbeit bei Bauern oder kurze Aufträge beim Heuziehen, „dass es oft eine kraftraubende Schinderei ist, das war mir wohl bekannt, aber ich hab es trotzdem gern gemacht.“ Dann wieder einmal ein Holzziehauftrag, „Es werden ein paar gesunde starke Burschen gebraucht. Ich war gleich der erste, der aufgenommen wurde. Ich sage, ich habe keinen Schlitten, kein Werkzeug, ich habe nichts als zwei starke Händ’ und an gesunden Verstand. Sagt dieser Mann, mehr brauchst auch nicht, Schlitten usw., das kriegst von mir, er will mir auch eine Unterkunft, (und) zum Essen und Schlafen besorgen. Als Tageslohn für diese Schicht zwanzig Mark.“ Dies war ein in der Zeit vergleichsweise guter Verdienst, doch „das unangenehme Erlebnis kam nach einem Monat, als ich bei dem Bauern dann für meine Verpflegung die Kosten zahlen sollte. Sagte die Bäuerin ganz einfach, am Tag zehn Mark. Ich sagte natürlich keinen Muckser und zahlte diesen Betrag.“ (RATHGEB 2005: 57f.). Die Erleichterung über das Ende des Krieges ließ offenbar vieles der Strapazen ertragen: „Die Arbeit hat mir Spaß gemacht (…) wir mussten bei jede Wetter fahren, damit wir den Weg hoffen halten konnten. Das Schlittenhinaufziehen war eine unheimliche Schinderei, der nasse Schnee, überall ist alles angepickt, den Schnee hat es sogar bei den Schlittenkufen vorne dahingeschoben, beim Gehen kein fester Schritt, alles ein weiches Gewasch, teilweise war der Weg oft auch sehr steil bis man oben ist (…). Einige Kollegen, so in meinem Alter, (die) verwundet heimgekommen sind, haben mich beneidet, sagten, Peter, du bist reich, du bist stark und gesund, ich war auch einmal so ein Bursch, das gleiche habe ich, also

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er, auch gemacht, vor dem Einrücken. Mit dir würde ich gerne mitmachen, wenn ich keine Verwundung hätte und gesund wäre.“ (RATHGEB 2005: 58). „Hart war damals die Arbeit“, so Rathgeb in der Rückschau, „den halben Tageslohn brauchte man zum Überleben.“ Die ersten Nachkriegsmonate waren schwierig und es kam schlimmer, „die drei folgenden Jahre wurden schlechter.“ (RATHGEB 2005: 59). Anfang 1948 ließen sich die Lebensumstände aus damaliger Sicht noch einigermaßen aushalten: „Damals war ja noch die Lebensmittelkartenzeit, die Lebensmittel waren sehr knapp, für einen hungrigen jungen Holzknecht viel zu wenig, wenig Butter oder Fett, wenig Fleisch usw. Es gab halt viel Polenta und schwarzen Kaffee und Bohnen. Auch so ein Magarin in Dosen von den Amerikanern, das hat gestunken, fast nicht zum essen. Solche Dosen waren kartenfrei, solches Zeug war genug vorhanden. Die Verpflegung war nicht weiß Gott wie mächtig, aber es war halt nicht anders möglich und wir waren doch alle zufrieden. Die Hauptsache war der Verdienst. Endlich einmal ein Geld erhalten für unsere Leistung.“ (RATHGEB 2005: 66). Nach einem lebensbedrohenden Blinddarmdurchbruch, den er mit medizinischer Hilfe und einer Portion Glück überleben konnte, ging Rathgeb für den Sommer zur Holzarbeit in die Steiermark und da wurden die Lebensbedingungen kritisch: „hinein in den Graben, der Weg war recht nett, nicht steil, aber lang. (…) Von der Hütte zur nächsten Ortschaft zwei Stund’, eine verlassene Gegend. Ganz hinten bei der Rehfütterung, das soll unsere Unterkunft werden. Eine große gute Quelle war daneben. Dieses Fütterungshütterl war etwa drei Meter breit und vier Meter lang, putzfinster und hat gestunken. Kein Fenstern, natürlich keine Feuerstelle (und) geschlafen haben wir (am ersten Abend) unter einem Baum, wie beim Militär, wir waren ja ohnedies nichts Gutes gewöhnt.“ Da der Forstmeister den Holzknechten zusätzlich zum Lohn ein Stück Wild versprach – ein lukratives Angebot, denn bei der harten Arbeit kam man mit den Lebensmittelkarten ja nicht aus – wurde der Akkordvertrag für die anstehende Arbeit mit Zuversicht und guter Dinge unterschrieben. Aus dem Zusatzversprechen wurde nichts, der besagte Forstmeister kam weg, die Jäger wussten nichts von der Vereinbarung und im Akkordvertrag war nichts festgehalten worden. „Was machen wir jetzt, ein jeder einen Hunger, wie ein kranker Teufel. Aufhören und davon laufen können wir nicht, weil uns während der Arbeit von unserer Leistung nur zwei Drittel ausbezahlt wurden.“ Die Männer wandten sich an einen früheren Arbeitgeber, von dem auch eine erleichternde Zusicherung kam: „er hofft, dass er etwas erreicht, damit wir doch leichter überleben. Ich bring euch ganz sicher etwas mit.“ In der Tat, „am nächsten Tag ist er gekommen mit einem Rucksack voll amerikanischer Bohnen und einem Sack voll Polenta, das hat (ihm seine) Firma gegeben, das kostet nichts. Wir bedankten uns bei ihm für diese Bemühung. Es ist doch leichter, wenigstens etwas zu haben. Wenn es schon viel zu wenig Fett, fast keinen Butter, zu wenig Wurst, Speck überhaupt keinen, auch keine Milch zum Polenta kochen nicht gibt. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, wie wir durchhalten wollen. Es war dann einfach nicht anders möglich, morgens um zwanzig nach fünf Polenta mit Wasser gekocht, ohne Fett und schwarzen Kaffee, ohne Zucker.“ „Oft war die Rede unter uns, ein richtiges Hühnerfutter haben wir jeden Tag zum Frühstück.“ (RATHGEB 2006a: 104f.). „Von sechs bis zwölf Uhr (arbeiten), dazwischen sowieso keine Brotzeit, 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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um zwölf Uhr dann Mittag. Anstatt einer kräftigen Jause hatten wir nur Bohnen, ein Brot mit ganz wenig Fett und wieder den schwarzen Kaffee. (…) Wenn ich euch jetzt erzähle, was wir oft um sechzehn, siebzehn Uhr für einen Hunger gehabt haben, das kann sich heutzutage kein Mensch vorstellen. Der Körper einfach total ausgepumpt, der Magen leer, alles, die ganze Kraft verbraucht. Natürlich keine Leistung mehr und wir mussten noch bis achtzehn Uhr durchhalten, beim schönen Wetter war es noch schlimmer, überhaupt, wenn man mehr Wasser getrunken hat, das war dann ganz schrecklich. Ein bisserl Durst leiden war da besser.“ (RATHGEB 2005: 63–74). Einzig bei Kaffee brauchte nicht gespart zu werden: „Die Frau vom Partieführer hat uns mit schwarzem Kaffeepulver versorgt. Diese Frau war mit ihrem Haus neben einem größeren Bauern, der Bauer hat immer Gerste angebaut. Die hat ja oft mitgeholfen bei der Landwirtschaft. Dadurch bekam sie Gerste, soviel sie brauchen konnten. Diese Gerste hat sie ganz dunkelbraun, also fast schwarz geröstet, (und) mit einer alten Kaffeemaschine gemahlen. Dieses Pulver war unser Kaffee. Eigentlich war es dann ein schwarz gebrannter Gerstensaft. Dieses Getränk war auch gegen den Durst hervorragend. Bei unserer Hütte haben wir ein altes Kupferkesserl gehabt, (das hatte) rundherum viele (Beulen), zirka mit zehn Liter Inhalt. Mit diesem Kesserl haben wir Kaffee gekocht. Sparen war nicht notwendig, jeder hat genommen für den ganzen Tag, was er braucht.“ (RATHGEB 2006a: 104f.). Das Kaffeegetränk stand sogar gekühlt zur Verfügung: In Flaschen gefüllt, kam es während der Nacht in die nahe Wasserquelle, während des Arbeitstages waren die Flaschen im schattigen Wald eingegraben, „und so haben wir tagsüber ein kühles Getränk.“ (RATHGEB 2006a: 149). „Wenn die Schicht aus war, sind wir zur Hütte, (haben) Feuer gemacht, mit einem Eimer hat einer Wasser geholt, dann haben wir mit ganz wenig Wurst versucht, Knödel zu kochen. Wenn gar keine Wurst mehr da war, da haben wir Erdäpfel gesotten oder haben uns ein Haferflockenkoch gemacht, das war auch ab und zu der Fall. Nach dem Essen haben wir eine Zeit lang jeden Abend Bohnen gesotten, eine halbe Stunde war da zu wenig, ja manchmal eine ganze Stunde, diese Bohnen waren so hart, ganz ausgetrocknet, weiß Gott, wie alt.“ Um nach einem langen Arbeitstag nicht noch zusätzlich beim Bohnenkochen sitzen bleiben zu müssen, „haben wir tüchtig nachgeheizt, ein bisserl Wasser aufgegossen, einen Deckel darauf gegeben und (sind) schlafen gegangen.“ Jedoch, „am nächsten Tag, und das war in den folgenden Tagen immer dasselbe, (war) der Deckel verrutscht, die Bohnen im Pfandl ganz grau voller Asche. Wie kommt das?“ Das Rätsel blieb zunächst ungelöst, „Wir haben die Bohnen ein bisserl abgeschwemmt und (sind) hinauf in den Wald. Das war ja ein Teil für unsere Mittagsjausen.“ Mit einigen Tagen Beobachtung wurde klar, dass sich da Mäuse die Bohnen holten. Um diesen untragbaren Zustand abzustellen, kam ein Stein zur Abdeckung auf den Kochtopf. Eine andere Katastrophe bahnt sich an, durch das endlose Bohnenkochen brannte eines Nachts schier die ganze Kochhütte ab, und dies in unmittelbarer Nähe zur rindengedeckten Schlafhütte der Holzknechte. Kurz, „es hat sich nichts zum Besseren geändert, es ist noch schlimmer geworden.“ Mitte Sommer ging die einzige Uhr in der Partie kaputt, „so und jetzt wussten wir überhaupt nichts mehr, keine Zeit. Wir haben uns auf die Sonne verlassen, beim schönen Wetter ging es. Aber beim schlechten Wetter! Bald haben wir auch die Wochentage

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verloren, keiner wusste, was heute für ein Tag ist.“ „Ein einziges Mal kam ein Mann aus dem Wald und ging auf uns zu. Warum der unterwegs war, das wussten wir nicht. Diesen Mann fragt(en wir), was haben wir für eine Uhrzeit und was haben wir für einen Wochentag und Datum. Er lacht ein wenig und sagt dann, heute ist der 12. Juli, Sonntag und es ist acht Uhr Abend. Wir erzählten ihm, dass wir die Zeit verloren haben, wir wissen nichts mehr. Wir leben da wie die Hirschen.“ Unter die Haut geht auch diese Erfahrung: „Ich war doch immer der Hungrigste in der Partie, vielleicht gerade deshalb war mein Wunsch, doch einmal genug Butterbrot essen zu können. Aber wer würde mir als fremder Mensch in dieser gottverlassenen Gegend so viel Vertrauen schenken und mir vielleicht ein Kilogramm Butter verkaufen. Es ist verboten, daher natürlich strafbar, das wusste ich genau. Wir waren ja ganz hinten im Graben drin und draußen neben der Landstraße war eine kleine Landwirtschaft. Dort hatten wir unsere Fahrräder eingestellt. Natürlich jedes Mal zugekehrt und ein bisserl sitzen bleiben. Das waren grundehrliche nette Leute (und) ich erzählte von meinem Wunsch. Ob ich etwa doch irgendwo ein Kilo Butter auftreiben könnte. Nach einer Zeit sagte diese ältere Frau, die Bäuerin, Peter, wenn du mich nicht verratest, wollen wir dir helfen.“ Ich „habe dieser Frau hoch und heilig versprochen, absolut nichts zu verraten. Ich habe eine Riesenfreude gehabt. Dass ich für dieses Kilo achtzig Schilling bezahlt habe, das war mir momentan ganz egal. Damals haben wir für einen elf Stundentag vierzig Schilling verdient, um dieses Kilo Butter musste ich also zwei Tage arbeiten.“ „Einen Monat später hab’ ich mir noch einmal so einen Butter gekauft, es war der Hunger so groß. Manchmal, wenn wir dieses elende Leben so betrachten, sagten wir uns, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn wir noch ein Jahr bei der Landwirtschaft gewesen wären.“ Und, mit der heutigen Erfahrung: „Ich würde es keinen Mann wünschen, so eine Zeit wie diesen Sommer 1948 durchzustehen.“ (RATHGEB 2005: 63 –74). Eine mögliche Nahrungsquelle, so Rathgeb, wurde damals glattweg übersehen, „Es wird wohl in der jetzigen Zeit kein Mensch mehr glauben. Aber es ist tatsächlich die Wahrheit. In diesem Gelände waren so ungeheuer viel Schwammerl, es war der junge Waldboden war teilweise ganz gelb“ Aber, „Kein Mensch in unserer Gegend hat mit Sicherheit gewusst, welche Schwammerl nicht giftig sind. Wie alle heißen und wie das Zeug zum Essen hergerichtet wird. Erst Anfang der sechziger Jahre haben wir durch die deutschen Urlaubsgäste zu unserem Schwammerlreichtum Vertrauen entwickelt. Zu dieser Zeit haben wir die Eierschwammerl erst hundertprozentig kennen gelernt. Bei den großen Herrenpilzen, da wackeln meine Kenntnisse schon. Alles andere (…), Finger weg, ist für mich zu wenig sicher. Die meisten Leute bei uns im Gebirge herinnen waren damals, was die Schwammerl betrifft, von derart rückständig, misstrauisch und schwerfällig. Die meisten Naturmenschen sind auf die kostbar, heute gesuchten Schwammerl ohne etwas dabei zu denken, drauf und drüber gerannt. So wie wir Holzknecht im Spätsommer 1948 zum Hungerleiden gezwungen worden sind. Dabei sind wir täglich auf dem kostbarsten Gut, das im Wald wächst, herumgetrampelt. Ab und zu hat man wohl etwas von Schwammerl gehört, aber dazu keine Achtung geschenkt. Weil ja das meiste alles giftig ist. Gegen die Dummheit ist kein Kraut gewachsen.“ Und so, erst „1961 habe ich das erste Schwammerlgulasch gegessen.“ (RATHGEB 2006a: 115f.). 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Ende des Jahres 1948 begann sich für die Holzknechte im Gebirge die Situation zu entschärfen, Lebensmittel waren leichter erhältlich: „am Ende des Jahres ist es mit den Lebensmittelkarten auch lockerer geworden, man hat ohne diese Karten auch schon allerhand bekommen. Der Fleischhauer war unser Nachbar. Er konnte die Salzburger gut leiden. Er wusste von unserer Not während der Sommerzeit. Er hat uns ein paar Mal eine Stange Wurst gegeben, auch etliche Suppenknochen, auch Mehl war schon leichter zu haben zum Knödelkochen. Es ging dann in Riesenschritten aufwärts.“ (RATHGEB 2005: 80f.).“ Das vierte Nachkriegsjahr begann für die Holzknechtpartie vielversprechend, es gab ausreichend Lohnarbeit: „Jetzt beginnt das Jahr 1949, das war ein gutes Jahr. Anfang April wurden wir schon verständigt, wir könnten nach Ostern wieder anfangen zum Schlägern. Vierhundert Festmeter Holz, (dazu) eine flotte Unterkunft“ und der Preis für die Arbeit, so die Überzeugung aller der an diesem Handel Beteiligten, „würde wohl zu regeln sein“. (RATHGEB 2005: 86).

II.3 Rindenhütten und Zugsäge – Holzschlägern in Handarbeit

Während sich die Mechanisierung der Landwirtschaft schon um den Ersten Weltkrieg abzeichnete, erfolgte sie in der Forstwirtschaft mit durchschlagendem Erfolg erst in der zweiten Jahrhunderthälfte. Alpine Holzarbeit um die Jahrhundertmitte erfolgte mit mechanisch einfachen Mitteln und bot insgesamt wenig Komfort. Rindengedeckte Unterstände oder einfache Hütten dienten während der Woche als Schlafplatz. Erst die Motorisierung und der Wegebau ermöglichten die tägliche Heimkehr und damit trockene Schlafstätten, abwechslungsreichere Ernährung und stärkere Einbindung in das Dorfleben. (AST 2006: 207ff.). „Im Groben und Ganzen ist, was ein Holzknecht so erlebt“, erklärt Rathgeb, „folgendes: „Holzvorzeigen, Preisaushandeln, eine Hütte einrichten, dieses Leben in so einer Rindenhütte, die große (und) schwere Schlägerungsarbeit, im Herbst das Pirschen, im Winter das Liefern – das Holzziehen, oft kilometerweit bis ins Tal.“ Körperlich unbeschadet davon zu kommen war ein erstes und oberstes Ziel bei der risikoreichen Arbeit: „Das sind schöne, oft auch lustige, aber peinharte Erlebnisse. Wenn ohne Unfall oder Krankheit durch Verkühlung wieder ein Jahr vorübergeht, dann ist es gut gegangen.“ (RATHGEB 2005: 69). Den Arbeitsplatz erreichte man vielfach zu Fuß, das Werkzeug – Zugsäge, eine schmale Stockhacke, die breitere Putzhacke, Zapil, Schepser, Schinder, Keile, Pflege- und Instandsetzungswerkzeug – die Kochutensilien und persönliche Bedarfsgegenstände waren, insbesondere im schwierigen Gebiet, selbst zu tragen. Entsprechend sorgsam ging man in der Auswahl der mitzuführenden Gegenstände vor. Die Frage der Unterkunft beim Holzschlägerungsort war für die Holzknechte von grundlegendem Interesse, bei Peter Rathgeb erscheint die Beschreibung der jeweiligen Nächtigungsmöglichkeit bei jedem neuen Holzschlag. Etwa so, „Zwei Stunden haben wir gebraucht, dass wir hinaufgekommen sind. Das (zur Nächtigung vorgesehene) Hütterl war an der obersten Waldgrenze, aber klein, wie sollten denn da vier Mann Platz haben? (…) Für einen Schafhüter ist es freilich groß genug, aber für uns vier?! Was ma-

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chen wir mit der Hütte? Da müssen wir zum Kochen etwas aufbauen. Jetzt machen wir schnell einmal einen Feuerwagen, so heißt bei den Holzknechten die Feuerstatt, damit wir etwas kochen können. Dann suchen wir eine Stange Holz, da machen wir so eine Art Bundwerk. Nachher müssen wir eine Zeit lang alle Tage Rinde heimtragen, fürs Dach und die Seitenwände.“ Eine aufwändige Arbeit an sich, aber, so Rathgeb, „mit der Zeit sind wir dann schon fertig geworden“ (RATHGEB 2005:6). Rinden für den Hüttenboden und das Dach waren keinesfalls jederzeit vorhandenes Abfallprodukt, sondern waren sorgfältig zu gewinnen: „Ich sagte zu ihm, du musst halt die Stämme so schneiden, dass sie, wo möglich, hohl aufliegen, damit man die Rinden ohne Verletzung erreichen kann, die günstigste Länge wäre drei Meter lang. Jede Rinde (muß man) sofort ausbreiten, damit sie sich nicht einrollen können.“ (RATHGEB 2005: 117). In den weiteren Nachkriegsjahren war mit wieder aufgenommener bzw. intensivierter land- und forstwirtschaftlicher Tätigkeit für die Holzknechte in Nähe des Holzschlages mitunter eine brauchbare Hütte vorhanden, die dann keinen Neubau erforderte, sondern lediglich bewohnbar zu machen war: „die Hütte sauber machen, drei Pritschen zum Schlafen herrichten, einen Tisch, etwas zum Sitzen, etliche Stellagen, ein Fenster war ganz notwendig. Gleich nebenan, war ein Beobachtungshütterl für den Jäger, mit einem großen Fenster. Dieses Fenster haben wir unserer Hütte eingebaut und so wurde es immer freundlicher. Für die Eingangstür haben wir Vorhangschlösser gehabt und fertig war es. Jetzt brauchen wir noch eine Hütte zum Kochen.“ Die wurde dann, den Schilderungen Peter Rathgebs zufolge, so gebaut: „1,20 Meter lang, 40 Zentimeter breit, 70 Zentimeter hoch, (sie) wird mit Rundholz aufgebaut, ohne einen Nagel oder sonst irgendetwas. Innen wird dieser Kasten mit Steinen oder anderem Material ausgefüllt. Ganz oben, wo die Feuerstelle werden soll, da wäre wohl der Lehm das beste Dichtungsmittel. Meistens ist Lehm nicht vorhanden. Dann mischt man Erde und Wasser zu einem Brei und so mauert man die Feuerstelle ordentlich aus. Es darf ja keine Glut vom Feuer bis zum Holz durchsickern, das wäre gefährlich. (…) Wir brauchen Rinden für unsere Kochhütten, sonst regnet es (herein). Wenn wir drei gute Rinden hätten, könnten wir das Dach ordentlich zudecken.“ (RATHGEB 2005: 66f.). Der Bau der Feuerungsstelle, des Feuerwagen: „Steine waren zur Auswahl genug vorhanden. Wir haben ungefähr nach Augenmaß einen Mauerkörper mit Steinen und Erde bis zu einer Höhe von fünfzig Zentimeter aufgemauert. Dann haben wir einen Holzkranz draufgesetzt und innen natürlich sorgfältig mit Steinplatten und nasser Erde verlegt. Einen Holzkranz deshalb, damit ein jeder sein Feuerrössel einschlagen mag und sein Pfandl übers Feuer hängen kann.“ (RATHGEB 2006a: 33). Gekocht haben die Holzknechte, wie Peter Rathgeb hier dokumentiert, zumeist getrennt. Der Lagerplatz, der Schlafplatz der Holzknecht, das war „vorerst (der) Boden, (dann) mehrere Stangen, eine Rinde drauf, man hatte ja keine Brettln und kein Stroh. Man musste mit Taxach, also Fichtenreisig, eine Schlafstätte zusammenrichten.“ Das Problem dabei, „nach vierzehn Tagen war das Lager so hart wie der Fußboden.“ Rathgeb dazu in der Rückschau, „heutzutage schläft kein Hund im ganzen Land auf so einem Lager.“ (RATHGEB 2005: 67). Auch hier gab es mit der Zeit Verbesserungen: „Dabei dachte 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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ich, wir haben so ein schlechtes Lager, wir brauchen unbedingt ein Stroh für unser Bett. Der Meister sagt, das verstehe ich, aber wo soll ich Stroh hernehmen, in dieser Gegend wird nirgends Getreide angebaut, weil ja die Hirsche alles vernichten. Da fällt mir ein, wie wäre es mit Kuckeruzfedern irgendwo her liefern?“ Kukuruzfedern waren Bestandteile der Hülle des Maiskolben und in der betreffenden Gegend aufgrund Getreidebaus ausreichend vorhanden. Die Verwendung von Kuckeruzfedern in einem Strohsack, das hatte Rathgeb schon einmal gesehen, das gab, wie er verschmitzt dem Forstmeister erklärte, ein „ein gutes und lebendiges Lager“. (RATHGEB 2005: 93). Mit den Monaten und Jahren besserten sich die Holzknechtunterkünfte, „inzwischen haben wir so eine kleines, eisernes, vom Militär her stammendes Laufgrabenöferl erhalten, somit war es dann bald einmal warm und unser Hüttenleben hat sich verbessert. Man konnte sich umziehen, etwas trocknen, zumindest war es warm.“ (RATHGEB 2005: 66–69,79). Irgendwann war diese einfache Art, die Nacht zu verbringen, auch für Holzknechte eher unüblich geworden, wenn auch von „wohnen“ noch lange keine Rede sein konnte. In Erinnerung an eine Schlägerung 1968 notiert Peter Rathgeb, „da war eine alte Holzknechthütte, aus der Kriegszeit noch. Ziemlich verkommen, (aber) für die Sommerzeit geht (es) schon.“ (RATHGEB 2006: 113). Waren Frauen dabei, etwa als Köchinnen für die Holzknechtpartie, mussten die Unterkunftsmöglichkeiten entsprechend größer und auch ein wenig komfortabler eingerichtet sein (RATHGEB 2005: 116). Die Wasserversorgung der Unterkünfte war das nächste wichtige Kriterium: „zum Kochen, für die Pferde zum Trinken, aber auch zum Waschen.“ (RATHGEB 2005: 7–10). Bei den wegemässig häufig unerschlossenen Holzschlägen war Wasser nicht unbedingt in Hüttennähe, Rathgeb über einen Holzschlag in den frühen Fünfzigerjahre, „ziemlich weit hinten drinnen, so in halber Höhe, haben wir dann eine kleine Quelle gefunden, das Wasser würde voll genügen für unsere Hütten. Das haben wir sofort dem Revierförster gemeldet. Er ist gekommen und sagt, das trifft sich günstig, dieses Wasser ist unser Hüttenwasser.“ Und so wurde es nutzbar gemacht, „wir messen aus, wie viel Wasserschlauch wir brauchen. Wie tief soll der Plastikschlauch eingegraben werden, fünfzehn bis zwanzig Zentimeter, das würde genügen.“ Und, „in zwei Tagen haben wir das Wasser vor der Hütte gehabt.“(RATHGEB 2006: 8f.). Ein paar Jahre später, 1956, war die Quelle idealerweise gleich neben der neu erbauten Hütte – dafür dann auch schon mit Brunnenkresse rundherum, „grad wie es im Wald Brauch ist.“(RATHGEB 2006: 39). Der Speisezettel blieb im Holzschlag aufgrund der zumeist nur wöchentlichen Rückkehr ins Tal wenig abwechslungsreich. Josef Rohrmoser, Holzknecht im Salzburger Hüttschlag, listet Folgendes auf seinem wöchentlichen Einkaufszettel auf: Polenta, Mehl, Salz, Zucker, Kaffee, Eier, Schnaps, Bier, Essig zum Anrichten von Salat, Butter, Schotten.“ Entsprechend der Speisezettel: „in der Früh Roggenschmarrn, mittags Eierschmarrn mit Weizenmehl und schwarzem Kaffee fast täglich, abends Polenta.“(KAMMERHOFER 1991: 30). „Gwandl“, sprich Kleidung, „gab es kein gscheites“, so Peter Rathgeb. „In unserer Zeit damals war es peinhart, 60 Stunden arbeiten, dazu das Hüttenleben, absolut kein Wettergwandl“, deshalb musste man „Schlechtwetter aushalten, (man war) oft patsch-

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nass.“ (RATHGEB 2005: 68). Auch hier war über die Jahre Verbesserung nötig, gute, wetterfeste Kleidung wurde insbesondere für die Winterarbeit Voraussetzung, sollte die Arbeit erträglich und des Ergebnis gut sein: „Rindslederschuhe mit Gummisohle, (g)anz wichtig ist eine sorgfältige Pflege, dadurch bleibt der Schuh wasserdicht und warm. Am Körper eine warme Unterwäsche. Eine gute Lodenhose mit ordentlichem Steg, damit der Schuh die Hose schön verschließt, da drüber gute Wickelgamaschen, ebenfalls aus Loden oder aus Schafwolle, handgestrickte Gamaschen, zehn Zentimeter breit, vorne zum Einhängen. Beim Schuhbandl ein starkes Hackerl, achtzig Zentimeter oder gar einen Meter lang, dann gute, lange Bandl, damit man das ganze gut einschnüren kann. Als ganz gute Idee hat sich bewiesen, wenn man den Loden für so eine Winterwetterstrapazhose vorne oberhalb von der Gamasche bis in Richtung Hosentürl den Loden doppelt nimmt. Da kann man den ganzen Tag im Schnee drinnen stehen und arbeiten, da geht einfach nichts durch, man wird nicht nass auf die Knie, der äußere Loden wird gefroren, aber drinnen bleibt es trocken und angenehm. (…) In der strengsten Winterzeit ein warmes Unterhemd, ein gewöhnliches Hemd, ein aus Schafwolle gestrickte (Jacke), mit einem Steckkragen und Reißverschluß, den man bis zum Kinn zuschließen kann.“ Besondere Erleichterung war für Rathgeb und seine Kollegen der von einem Schneidermeister im angrenzenden Pongau entwickelte Holzknechtmantel: der „war eigenartig zugeschnitten, an der Vorderseite nur eine Länge bis zum Hosenbund, hinten ziemlich länger. Auf den Schultern und über den Nieren und über den Achseln und Brust doppelt. Der Vorderteil mit fünf Knöpfen und schön weit geschnitten, damit man sich beim Arbeiten gut bewegen kann. Aber (aus dem) besten Loden, den es damals gab. (Bei) so einem Mantel kannst einen Liter Wasser draufgießen, es geht kein Tropfen hinein, das Wasser kollert ab, der Mantel ist trotzdem luftig und natürlich angenehm zum Tragen mit dieser wolligen Wärme.“ Im Sommer bei Schönwetter arbeitete man ohne Kopfbedeckung, für Schlechtwetter gab es einen Hut, im Winter eine Zipfelhaube. Rathgeb erzählt, „im Sommer, beim schönen Wetter, war ich die meiste Zeit ohne Hemd bei der Arbeit, (…) ein bisserl ein warmer Gewitterregen hat mir damals nichts ausgemacht.“ (RATHGEB 2006: 148ff.). „Beim schönen Wetter ohne Hut, meistens haben wir ein Schnürl aufgehabt, damit die Haare nicht ins Gesicht herunter hängen. Auf den Kopf voller Fichtennadeln und solches Glump (…) Das schrecklichste war die Hosen, vom Pech getränkt, schon ganz schwarz, zerrissen, steif wie eine alte Sauhaut und gestunken. In der Früh, wenn du deine Hosen anziehst, bocksteif und eiskalt!!! Unappetitlich bis dorthinaus.“ (RATHGEB 2006a: 148). Die wöchentlichen Arbeitszeiten gleichen sich, „Am Montag hätten wir sollen um neun beginnen. Das geht nicht, wir (waren) froh, wenn wir auf zehn hinkamen. Also, am Montag von zehn bis neunzehn Uhr, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag von sechs bis achtzehn Uhr, Samstag von sechs bis zwölf, jeden Tag.“ (RATHGEB 2005: 6). Dieser Arbeitsrhythmus prägt sich tief in den persönlichen Lebensrhythmus ein, Rathgeb über die Zeit seiner Pensionierung: „Es ist alles vorbei. Von nun an muß ich mich mit dem Ruhestand erst anfreunden und kennenlernen. Es ist jetzt aus mit dem Fort in aller Früh und heim auf d’Nacht.“ (RATHGEB 2006: 204). „Am Samstag, nach dem 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Waschen, haben wir uns umgezogen und (sind) mit einem Hunger ab ins Tal. Sofort für die nächste Woche eingekauft und dann zum Wirt. Vorerst einmal Mittagessen. Das haben wir wohl meistens auf vier Uhr bestellt, das hat die Wirtin schon gewusst.“ Für den jungen Holzknecht war dies dann Gelegenheit, andere junge Leute – junge Frauen – zu treffen: „Wie halt jeden Samstag, so sind wir auch dieses Mal nach dem Mittagessen um sechzehn Uhr Nachmittag noch eine Zeit sitzen geblieben. Natürlich (hatten wir) einen Hunger und einen Durst, nach ein paar Halbe Bier wächst die Stimmung, (…) andere Leute sind ja auch zugekehrt. Da ist eine gekommen, eine Nette, hin zum Lois, den hat sie gekannt, das haben wir bald begriffen, ich habe bemerkt, sie ist eine, eine wenige eine Lustige. Sie tut ein wenig singen, das hat mir sowieso gefallen.“ (RATHGEB 2005: 13). Und „das Wochenende war halt immer viel zu kurz. Natürlich zu wenig geschlafen, ein bisserl übernächtig am Montag, in unsere Rucksäcke die Verpflegung für die ganze Woche (hinein), ganz schnell ein bisserl etwas gejausnet und sofort (zur) Arbeit. In der ersten Pause vielleicht noch die Wochenenderlebnisse ausgetauscht.“ (RATHGEB 2005: 14). Die Holzknechtpartien fanden sich für die Aufträge meist selbst zusammen, über frühere Arbeitserfahrungen, über Bekanntschaften, über Empfehlungen. Zu Beginn eines neuen Schlägerungsauftrages: „wir brauchen noch einen Mann. Wir sind dann mit Begeisterung heimgefahren und haben beraten, wo ist so ein Kerl und wie soll er sein?? Meine Meinung war ganz einfach. Ein kräftiger Bursch mit einem gesunden Ergeiz. Verhatschelt darf er nicht sein, im Gegenteil, er muss imstande sein, etwas auszuhalten. Wenn ein Wille vorhanden ist, die Arbeit lernen wir ihm dann schon. Wir haben herumgefragt, gesucht, aber auch bald gefunden. Der Bursch heißt Albert, ist ein einundzwanzigjähriger Kerl, den haben wir mitgenommen.“ (RATHGEB 2005: 86f.). Bei gröberen Unstimmigkeiten während der Arbeit gab es keinen gemeinsamen Auftrag mehr, „Wir schauen uns um ein Pferd mit einem guten Fahrer, aber nicht mit einem von denen im Vorjahr, die unzufriedenen Raunzer können daheim bleiben.“ (RATHGEB 2006: 72). Die Holzarbeit umfasste im Grunde das Schlägern, Entasten und Entrinden des Baumes und schließlich die Herausforderung, das Holz zu seinem Bestimmungsort zu transportieren. Die unentwegt händische Arbeit im Wald lehrte den Holzknecht, Holzqualitäten sofort zu erkennen, Peter nennt etwa den Schindelholzbaum, zeitgenössisch „das teuerste Holz im Wald“. „Ein Schindelholzbaum“, führt Peter Rathgeb aus, „soll nur wenige Äste haben mit einer geraden Faser, ein schlichter, gerade gewachsener Stamm mit einem Kugelwipfel und ja nicht buchsig. Wenn man so einen Stamm mit einer Putzhacke anklopft, erkennt man schon am Klang, ob dieser Stamm faul oder gesund ist.“ (RATHGEB 2006: 45). Baum war für Holzknechte nicht gleich Baum, zu unterschiedlich war der erforderliche Kraftaufwand bei der Schlägerung, zu verschieden der jeweilige Verwendungszweck und damit die wirtschaftliche Bedeutung: „Etwas über die Nadelholzarten in unserer Gegend. Die Fichte: es gibt zwei Fichtenarten. Die Gebirgsfichte und die Flachlandfichte. Beide Arten haben alle vier Jahr ein starkes Blütenjahr. Die Gebirgsfichte bringt hängende rote Zapfen, die Flachlandfichte bringt grüne Zapfen. Wenn der Wald schön blüht, der Kuckuck schreit daneben, ja, kann es was schöneres noch für den Holzknecht geben!!! Dann kommt der Wind und treibt ganze Wolken

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Blütenstaub über Berg und Tal, dazu das passende Sprichwort: Viel Waldblüh, viel Landmüh. Die Fichte ist wahrscheinlich wohl das bekannteste und wichtigste Baumaterial auf dieser Welt. Wächst fast überall. Vom tiefen Tal bis fast auf 1 800 Meter Seehöhe. In tiefen Lagen wächst das Holz schnell und bleibt natürlich weich. Dagegen in hohen Lagen, von 1 600 Meter aufwärts, ist dieses Holz hart, wächst langsam, ist schneeweiß und widerstandsfähig. Aus solchen großen Hochwaldstämmen wurden noch in meinem Heranwachsen die Legdachschindeln gemacht. Diese Schindeln mussten achtzig Zentimeter lang sein. Ausgesprochen eine gerade Faser zum Spalten. Was ist ein Legdach? Diese Dachschindeln werden nur aufgelegt und nicht genagelt. Diese Schindeln sollen ziemlich breit sein, je breiter die Schindel, desto besser, wasserdichter wird dieses Dach. Auf dieser aufgelegten Fläche werden mit je einem Meter Abstand von einander starke Stangen aufgelegt und oben drauf wir das ganze mit schweren Steinen abgeschwert. Ein solches Dach soll alle vier Jahre umgedreht werden, das morsche gegen neue Schindeln ausgetauscht werden.“ (RATHGEB 2006a: 144). „Etwas zur Lärche: Bei der Lärche gibt es eine Graslärche, diese ist in der Sonnseite und meistens ganz nieder herunten. Wächst sehr schnell, hat keine Härte, hinter der Rinde einen breiten weißen Mantel aus weichem Holz. Eine solche Lärche hat keinen Wert. Nur das Lärchgraß hat eine Verwendung. In der starken Saftzeit wurde von den feinen, langen Lärchgraß die Rinde abgezogen. Aus dem Inhalt wurden die bekannten Reißbürsten gemacht. Auch der Reispel in der Küche von der Großmutter wurde aus dem Lärchgraß hergestellt. Die gute, harte, rote Lärche ist nur in einer Schattseite im geschlossenen Hochwald droben zu finden und ist vielseitig verwendbar. Zum Schindelmachen, für ein Nageldach, das beste und schönste Holz. Auch zum Zaunsteckenspalten für einen schönen Pinzgauer Zaun wurde die Lärche gesucht. Als Tramlage für einen Kuhstall oder zum Brückenbau über einen Graben. Für solche Zwecke wurden die großen zweihundert Jahre alten Lärchstämme verwendet. Aus den kleinen, aber schnurgerade, etwa fünfzehn Zentimeter starken Lärchen wurden Brunnrohre gebohrt, auch für eine mächtige Brunnsäule wurde eine Lärche gesucht, also als Wasserleitung verwendet. Aus dem gesuchten, geraden, faserigen Hochwaldlärchenholz wurden die besten Körbe gemacht.“ Von der Lärche kam auch das zeitgenössisch stark nachgefragte „Lärchpech: Wer hat eine Ahnung von Lärchpech? Das ist ein Naturheilmittel für die Heilpraktiker. Es ist eine goldbraune, zähklebrige, dicke Flüssigkeit mit starkem innerlichen Holzgeruch. Wie und wo entsteht Lärchpech? Wenn die jungen Lärchen in einem Steilhang aufwachsen, wo im Winter der Schnee die noch schwachen Lärcherl zu Tal drückt und alle Winter wieder. Es kann dann leicht passieren, dass so eine junge Lärche durch eine Spannung im Kern einen Sprung bekommt. Dieser Sprung füllt sich mit dem Leben vom Kern, in der Form von flüssigem Pech. Der Kern ist das Leben vom Baum. Es gibt keinen Wipfel ohne Kern. In den vielen Jahren wird so ein Sprung immer größer und die Pechmenge immer mehr. Wenn man dafür eine Kenntnis hat, kann man so eine Lärche anbohren, in einem Behälter auffangen.“ Dieses Lärchpech gewann der umsichtige Holzknecht selbst, nicht ohne allerdings dann einen Zapfen in das Bohrloch zu schlagen, „damit der Stamm nicht ausläuft und abstirbt.“ (RATHGEB 2006: 145f.). Weiters, „Zur Tanne: Die Tanne 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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gibt es in der Sonnseite wohl selten. Sie ist nur in der Schattseite, teilweise sehr stark, anzutreffen. Ein Tannenstammbloch ist der beste Brunntrog. Eine Tanne hat die härtesten Äste, wenn man sie mit der Hacke putzen muß, das habe ich deutlich kennen gelernt. Ansonsten ist das Tannenholz nicht besonders beliebt, nur das Reisig im Herbst für den Gärtner zum Kränze binden. Für Weihnachten ist ein schöner Tannenchristbaum wohl weit aus das Schönste. Noch etwas: bei der Tanne stehen die Zapfen für den Samen senkrecht aufwärts.“ (RATHGEB 2006a: 146). Händisches Umschneiden der Bäume, das kraft- und zeitaufwändig mit der Zugsäge durch zwei gut aufeinander eingespielte Holzknechte erfolgte, schildert Peter Rathgeb so: „Die Arbeit mit der Säge traut sich nicht jeder zu, (sie) erfordert neben Kraft vor allem Fachkenntnisse und Konzentration. Ich sagte, was nehmen wir für eine Säge? (Mein Kollege) sagt, die größere zum Umschneiden. Zum Durchschneiden ist die kürzere netter. Wir gehen zum ersten Baum, wo schneiden wir den hin?“ „Ich sagte, da schräg hinauf. (…) Wo tust du lieber schneiden, links oder rechts? Das weiß ich nicht, (das) ist mir egal, wie es sich ergibt, mir passt es überall.“ „Ich nahm die größere Säge, (und stellte mich hin) zum Baum. Wir setzten an und ich fing gleich an mit langen Zügen.“ „Der Fallkerb ist ja meist die erste Tätigkeit beim Umschneiden. Stimmt die Richtung? sagt (er) und bleibt mit der Zugsäge genau in der Mitte stehen. Ich habe sofort die Stockhacke genommen, habe angesetzt, ob mit diesem Winkel die Fallrichtung stimmt. Genau wie halt der alte Holzknechtbrauch ist, auf seiner Seite haben wir noch ein paar Zentimeter nachschneiden müssen. Er sagt, jetzt ist es gut, wir tun die Säge heraus, beide greifen nach der Stockhacke und das muss schön im Zweitakt herausgehackt werden, man soll bei jedem Hieb schön treffen, damit es nicht zu viel Ripperl abgibt. Damit man erkennt, das ist Holzknechtarbeit. (J)etzt schneiden wir ihn: (…) Hinzugestanden, geschaut, wo müssen wir ansetzen und schon bald volle Züge, ein Drittel geschnitten, ein paar Keile angesetzt und weiter geht es, wieder vielleicht ein Drittel und wieder die Keile nachgetrieben und noch ein paar dazu. Wenn der Baum gerade steht, geht es mit wenig Keiltreiben. Wenn ein Baum ein wenig in die Gegenrichtung hängt, dann musst du öfter Keile treiben. Unser Baum stand pfeilgerade, wir haben geschnitten bis auf sechs Zentimeter, ein bisserl weiter getrieben, und schon der Spruch ‚aufgeschaut’, (und) wenn sich der Baum zu neigen beginnt, schön mit lauter Stimme, ‚Baum foit’“. (RATHGEB 2005: 10ff.). Diese bei den Holzknechten abgesprochene Verständigung war lebensnotwendig, „wenn diese Warnung beim Umschneiden nicht gewissenhaft durchgeführt wird, kann es einen schrecklichen Unfall geben.“ (RATHGEB 2005: 7). Die Voraussicht, wohin der Baum fallen soll, das „sind die ersten Gedanken beim Holzknecht, mit dem Fallkerb bestimmt man die Fallrichtung, diesen Vorgang weiß man schon, ohne etwas zu denken.“ Mit Übung und Konzentration gelingen auch die schwierigen Situationen, wie bei einer der frühen Holzarbeiten von Peter Rathgeb, wo aufgrund der Jahreszeit die Bäume schon gefroren waren. Der üblicherweise verwendete Hartholzkeil war da zu schwach für den Stamm, die Lösung waren zwei, drei einfache Eisenkeile vom Schmied, „ja, mit einemzu-helfen-wissen fällt der Baum dann schon um.“ (RATHGEB 2005: 26ff.). Nicht jedem Holzknecht ging die Zugsägearbeit leicht von der Hand: „Der Wille war bei jedem

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vorhanden, aber das Können, die Technik, der Vorteil, wie geht es am leichtesten, am schnellsten, da waren wohl die meisten schwach. Ich habe viel erklärt, gezeigt und am Anfang gut zugeredet, genauso wie ich es von meinen Vorfahren gelernt habe. (Ich) habe sofort gemerkt, welcher Mann sich (bei) welcher Arbeit am besten eignet, so habe ich alle nacheinander eingeteilt.“ „Ein alter Brauch war, dass der jeweilige Partieführer beim Schneiden beschäftigt ist. Das war meine Aufgabe. (Ich) habe in meiner Partie zwei Mann entdeckt, welche mir zum Zugsägeschneiden gut gepasst haben, die hatten meine Größe, lange, starke Hände und ein feines, leichtes Gefühl.“ (RATHGEB 2005: 123). Tiefe Temperaturen im Winter und unangenehme Besucher im Sommer prägten die Arbeit: „Wespen und Ameisen, beim Zugsägeschneiden musste man sich ja hin und herbewegen und da werden die Wespen ganz wild. Mit den Ameisen war es nicht viel besser, über den ganzen Körper, bis zum Kopf, auf und auf voll Ameisen und wir kommen mit dem Umschneiden nicht weiter.“ (RATHGEB 2006a: 154). Obwohl, oder gerade weil, Peter Rathgeb die Fällarbeit gut von der Hand geht, obwohl die Zusammenarbeit mit Kollegen gut läuft, plagt ihn die Ungeduld, „bei jedem größeren Baum dachte ich mir, wie könnte sich bei dem Zugsägesystem etwas ändern. Bis zum nächsten Frühjahr muss ich etwas ändern, auf alle Fälle muß ich das Schneid’ machen gründlich erlernen.“ (RATHGEB 2005: 100). Wichtig festzuhalten ist Peter Rathgeb die fachliche Trennung von Lang- und Kurzholzschlägerung, die er penibel genau festhält – wohl auch ein Beleg für sich ändernde Arbeitstechniken in der Holzwirtschaft. Bei erster bleibt der Wipfel am entasteten und entrindeten Stamm, „weil der Wipfel noch auszieht, der Stamm dadurch besser austrocknet und mehr an Gewicht verliert, das war wegen der händisch durchzuführenden Lieferung wichtig. Bei zweiterer wurde der Baum gleich nach dem Entrinden in vier Meter lange Stücke geschnitten, für die Holzknechte also bereits beim Schlägern ein weiterer Arbeitsschritt“. (RATHGEB 2005: 92, 98, 2006: 112f ). Bislang unbearbeitete, ungesäuberte Waldstücke, wie sie in den Gebirgsregionen in den Nachkriegsjahrzehnten durchaus häufig vorhanden waren, erforderten von den Waldarbeitern das Freimachen des jeweiligen Arbeitsbereiches: „Das ist sehr viel Arbeit, da eine Ordnung herzustellen. Das war für meine neuen Männer etwas ganz Neues. Aber sie haben bald kapiert, dass es beim Aufarbeiten schon einen Nutzen bringt.“ (RATHGEB 2005: 127). Tatsächlich hatte das Säubern, wie Rathgebs Partie dies in der Steiermark kennenlernte, „eigentlich einen dreifachen Nutzen, zuerst beim Holzaufarbeiten, dann beim Abpirschen und zuletzt beim Boschen setzen.“ (RATHGEB 2005: 75f ). Über diesbezüglich regionale Unterschiede: „Damals waren doch noch die größten Wälder ungepflegt. Vor dem Krieg hat man das Wort Säubern überhaupt nie gehört. Die Wälder säubern haben die Österreicher erst von den Deutschen lernen müssen. In der Steiermark wurde auf Ordnung im Wald mehr Wert gelegt wie bei uns in den Salzburger Wäldern, das habe ich selber erlebt.“ Und, „wie diese Säuberungsarbeit geschieht, das muß ich etwas genauer erklären. Es wird im Wald in Abstand auf zirka zehn Meter neben einander ein Frattenriedel angelegt. Man fängt unten oder oben an. Diesen Fratten anlegen beginnt man mit dem unbrauchbaren Unterwuchs. Hernach schneidet man das brauchbare Unterholz nieder, das Astwerk und die Wipfel werden 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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auch auf den Fratten geworfen. Von den Stämmen, welche stehen bleiben, hat man in einer ordentlichen Mannshöhe auch die Äste entfernt, damit ein jeder Mensch gemütlich durch den Wald laufen kann. Auf diese Ordnung haben die Förster damals großen Wert gelegt. Auch wenn mehrere Stämme nahe nebeneinander gestanden sind, wurde etwas herausgenommen. Stark abgewipfelte (Bäume) mussten auch entfernt werden, hingegen schwach abgewipfelte mussten stehen bleiben. Oder vielleicht auch ein kranker Baum, wenn ein Spechtloch mit Jungen zu sehen ist, der muß auch stehen bleiben. Diese Frattenriedel sind oft bis zu einem Meter und mehr angewachsen. Zwischen diese Fratten das brauchbare Holz aufarbeiten, (diese Arbeit) war (so dann) bald vorbei. Wenn dann alles fertig ist, war es schön zum Anschauen. Eine Ordnung wie in einem Obstgarten. Damals hat es viele Jahre nichts anderes gegeben, vielleicht ein Schadholz aufarbeiten oder Säubern. Ein Kahlschlag wurde ganz selten gemacht.“ (RATHGEB 2006a: 241). Gezielte Ordnung im Wald war Voraussetzung für rationelle Waldarbeit und damit auch für die Arbeitgeber von höchstem Interesse: „Ende August war es, da sagte der Förster, er würde mich ganz notwendig brauchen, für eine Spezialarbeit. (…) in seinem Revier, ganz hinten oben an einem Talschluß, da geht ein Fuhrweg durch einen schönen Jungwald. Neben diesem Weg ist ein richtiger Saustall, Schneedruckholz, das schaut schrecklich aus. Es soll eine Kontrolle kommen, von der Staatsforstverwaltung in Wien. Wir müssen unbedingt Ordnung machen, oder gerade bei der Arbeit sein.“ Versteht sich von selbst, dass dieser Auftrag vorbildhaft erledigt wurde. (RATHGEB 2006a: 242). Fordernd war auch das händische Entfernen von Ästen und Rinde, das „Putzen“ der gefällten Bäume. Im ersten Arbeitsschritt das sogenannte „Spranzen“: „Was heißt Spranzen? Das heißt beim Bloch die Schnittkante abrunden. (…) ein Spranz muß zu jedem Stück die passende Größe haben. So ein Spranz soll keine Rippen aufweisen. Rippen, das ist schwache Treffsicherheit. Bei ganz großen Bloch, wenn es recht weit zum Pirschen ist, dann muß man sogar einen doppelten Spranz machen. Bei einem Stammbloch mit starkem Wurzelanlauf kann der Spranz auch drei- oder vierreihig werden. Damit das Bloch zum Pirschen schön rund wird. Es muß ein jeder Hieb mit der schneidigen Putzhacke sitzen. Es darf nicht ausschauen, wie wenn die Mäuse dabeigewesen wären.“ Was Mitte des Jahrhunderts ein wichtiger Arbeitsschritt war, das, so Rathgeb im Rückblick, „braucht heute kein Mensch mehr.“ Vormals ließ, gängiger Auffassung zufolge, die Art, wie ein Holzknecht diese Arbeit erledigte, sogar auf Charaktereigenschaften schließen: „Jetzt hänge ich noch einen Aberglauben dazu: Wenn man zum Beispiel so einen großen Baum umschneidet und man lässt dann bei der Bruchleiste die ganzen Bruchspitzen stehen, dann heißt es ‚mach da Ordnung, sonst wird dir dein Dirndl untreu, weil du ein nachlässiger, schlampiger, Liegergespann bist’, und so etwas will sich doch keiner nachsagen lassen.“ (RATHGEB 2006a: 136). Das Entrinden der Bäume war, wie immer wieder erzählt und geschildert, auch eine der Lieblingsarbeiten von Peter Rathgeb, vielleicht weil er hier am allerbesten die erzielte Leistung sehen konnte: „da musst hin zum Stamm, die größten Rindenfetzen runterreißen, das muss mit voller Kraft grad so krachen.“ Entrinden war nicht jedermanns Sache: „da hat man ausgeschaut, auf und auf voll Pech.“ Da „war meine Ausrüstung folgende:

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das Hemd weg, sonst ist es ja kaputt, an Lederschurz über die Brust. Natürlich, Gliedereisen, (die sind) ganz wichtig, ein paar Lederhandschuh’, einen brauchbaren Schinter (Entrindungseisen) und eine gute Schmier (…) Wenn einer bei der Arbeit nicht fleißig seine Händ’ und die Lederhandschuh schmiert, bei dem klebt alles zusammen. (…) Oft habe ich zu dieser Arbeit einen (Holzknecht ausbilden) wollen, aber es ist selten etwas Bleibendes daraus geworden.“ Die Pechschmiere war während der Arbeit am besten möglichst gut greifbar zu halten, Rathgeb trug sie am Körper, „Ich habe eine lange Zeit ein Schmerhorn gehabt, das ist ein fünfzehn Zentimeter langes Kuhhorn, der Inhalt war ein Rindsfett, bei meinem Gürtel habe ich es angehängt gehabt.“ Aber irgendwann ist dieses Horn mit der Schmiere während einer Nacht abhanden gekommen, ein anderer Waldbewohner konnte das Fett ebenso gebrauchen, „wahrscheinlich“, so Rathgeb, „hat es der Fuchs verzacht.“ (RATHGEB 2006a: 136). „Die Regel war, was zwei Männer beim Entasten bringen, soll einer entrinden“ (RATHGEB 2005: 95). Ein Vorteil beim Entrinden war, um die rechte Jahreszeit zu wissen: „in der Saftzeit, in der Zeit von Mitte April bis Ende August, da löst sich die Rinde vom Stamm. Aber von September bis Spätherbst hinein, da wird das Entrinden von Woche zu Woche immer schlechter, es wird dann ein Kraftaufwand zum Verzweifeln, (und) wenn die Rinde gefroren ist, dann ist es ganz aus. So war diese Holzschlägerungstätigkeit jahrzehntelang in meinem Holzknechtleben.“ (RATHGEB 2005: 98). „In meinen besten Jahren“, schreibt Rathgeb, „habe ich jede Arbeit gut beherrscht und mit Freude gemacht, aber das Putzen war mir das aller liebste, da war ich ganz allein mit meinen Gedanken, kein Mensch schaut mir zu, niemand redet mir drein, eine saubere Arbeit mit einem Tempo war mein Ziel. Da fühlte ich mich wohl, das war mein eigener Stolz.“ (RATHGEB 2005: 76). „Ich hatte eine Gewohnheit. Ich habe immer 20 Stück gezählt, diese 20 Stück geputzt, eine Zigarette geraucht, meine Hacke gewetzt, die Schneid verbessert, auch den Hackstiel etwas geschmiert, meistens mit einer Speckschwarte, die nächsten 20 Stück wieder gezählt.“ Und „Wenn ich von sechs bis neun (Uhr früh) nicht 40 Stück fertig hatte, war ich nicht zufrieden.“ „Der Vormittag ist für eine gute Leistung die beste Zeit, (…) wochenlang, ja sogar Monate (ist es so) dahin gegangen.“ (RATHGEB 2006: 60f:). Ungeachtet des vollen körperlichen Einsatzes und der unerlässlichen Perfektionierung des „Vorteils“, der Handfertigkeit, waren den Männern in der Steigerung ihrer händischen Arbeitsleistung doch irgendwo Grenzen gesetzt, „Ich wollte eine Wette machen mit meinem Arbeitskollegen, welche Zeit man für hundert Stück zum Putzen braucht, sauber putzen und hinten und vorne spranzen. (Ich) habe mich selber ausprobiert. Ich habe in drei Stunden und fünfundvierzig Minuten diese hundert Stück fertig gebracht, dann habe ich eine Brotzeit gemacht.“ Jedoch, „nachher war ich total fertig, sogar am nächsten Tag war ich noch ganz steif. Das würde ich nie mehr machen.“ (RATHGEB 2006: 61). Zu begeistern war Peter Rathgeb ferner für das Aufdrillen der Holzlager, wo es in der Zeit vor dem Einsatz von Seilwinden, Motoren oder Kränen auf Kraft, Mut und Geschicklichkeit ankam: „Diese Arbeit mit dem Zapin lag mir besonders gut in der Hand. Wenn das Holz so naß ist, und man hat gute Geschicklichkeit, dazu genug Courage und 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Kraft, ist man im Stand, die größten Bloch herzureißen und fährt damit hin, schwenkt, wo das Bloch hinpasst. Zu dieser Arbeit hatte ich ein gutes Gefühl und auch die Kraft dazu. Diese Arbeit, das Aufdrillen, ist mir mein ganzes Holzknechtleben geblieben.“ Auch hier schätzte Rathgeb die überlegte Arbeit allein: „Dieses Blocheinschwenken auf der Holzdrill war mir allein am sichersten.“ (RATHGEB 2005: 79). Was in der Beschreibung so einfach klingt, war es in der Tat nicht wirklich: „Wer das nicht kann, bei dem liegt das Bloch weiß Gott wo. Vielleicht neben der Holzdrille.“ „Es war nicht jeder starke Mann für diese Aufgabe geeignet. Meistens, weil er das Schwenkgefühl, das Gleichgewichtsgefühl vom Bloch, nicht einschätzen konnte.“ Rathgeb „Wie viel tausend Festmeter ich aufgedrillt habe, kann ich nicht einschätzen.“ (RATHGEB 2006a: 118). Auch beim Holzdrillen erwies sich in Peter Rathgebs Partie klare Arbeitstrennung als sinnvoll – einer pirschte das Holz näher, der andere drillt auf. (RATHGEB 2006a: 119). Traditionelle Holzarbeit umfasste zahlreiche Vor- und Nachbereitungsarbeiten, etwa die Herstellung und Instandhaltung von Werkzeug. Die Holzkeile mussten selbst gemacht werden – aus dem richtigen Holz, um auch Fehlhiebe auszuhalten, „eine mühsame Arbeit“ so Peter Rathgeb. Die Putzhacke brauchte eine gute Schneide, sodaß „man sich vom Arm die Haare weg rasieren konnte, wie es bei uns üblich war beim Schneidausprobieren.“ Der Ehrgeiz hinter einer perfekt hergerichteten Hacke ist verständlich, „eine gute Schneide und eine gute Geschicklichkeit, das war in meiner Zeit schon die halbe Arbeit.“ (RATHGEB 2005: 94–98). Entscheidend, und damit zur Chefsache erklärt, war das Feilen der Sägen: „meine Lanzenzahnfällsäge ging gewaltig gut. Mit einem (Mal) Schneidemachen haben wir siebzig bis achtzig Festmeter geschnitten, das war eine gewaltige Leistung, aber ich brauchte fast zwei Stunden für eine Schneid’ machen. Ich habe oft in der Mittagspause schon Säge gefeilt.“ (RATHGEB 2006: 59). Die nächste große Herausforderung war der Transport des Holzes vom Ort der Schlägerung bzw. dem Holzlagerplatz zum Bauernhof, zum Sägewerk oder zumindest in die Nähe eines Weges. An Gefährlichkeit kaum vorzustellen verlief eine von Peter Rathgeb geschilderte Holzbringung vor dem Krieg, „(wir haben) sofort abpirschen begonnen. Diese Arbeit ging sehr schnell, weil es ja sehr steil und felsig war. Auf der halben Strecke haben wir einen Streen gemacht, also das ganze Holz aufgehalten. Dann ging es weiter, bis zum Lagerplatz waren (…) noch drei haushohe Wasserfälle. Da hat der Meister angeschafft, es darf nirgends ein Holz unter einem Wasserfall liegen bleiben, weil (in so einem Fall) ja alles zusammengehaut wird.“ Ein jeder sollte einen Wasserfall übernehmen, für Peter Rathgeb und seine Kollegen war das „das reinste Todeskommando“, mit der brennenden Frage, „ob wir das wohl überleben? Probieren wir halt einmal.“ „Man musste unter den Wasserfall hin, das liegengebliebene Holz herausreißen, man konnte nichts sehen, was ober dem Wasserfall passiert, ob ein Holz unterwegs ist, oder nicht, man konnte auch nichts hören, weil das Wasser so rauschte. Also ein Himmelfahrskommando. Diesen Zustand wollten wir abstellen und wir erklärten, das halten wir nicht durch, es soll nicht einer draufgehen müssen, weil man nicht mehr ausweichen kann, wenn wieder Holz nachkommt. Die Antwort war brutal: Ihr werdet doch nicht feig sein, hat es gleich geheißen.“ Mit den nötigen, selbst eingeführten Sicherheitspausen wurde

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Foto 5.5: Holztransport mit Pferdeschlitten 1955

diese Arbeit dann sehr wohl fortgesetzt und unfallfrei zu Ende gebracht. (RATHGEB 2005: 5–21). Das Holztriften, also der Transport des Holzes über Bäche und Flüsse, wie es Josef Aschenwald für Tirol dokumentiert, war nicht minder arbeitsaufwendig, nicht minder gefährlich. Aschenwald kommentiert ähnlich realistisch, wie Rathgeb es häufig beschreibt, es war eine „gefährliche Arbeit, aber für die, die dazu geschaffen sind, (war es) eine hervorragende Arbeit“ (ASCHENWALD 2005: 34–39). Vieles des nach dem Krieg geschlägerten Holzes transportierte Peter Rathgeb mit dem aus eigener Kraft gelenkten Holzschlitten. Verständlich deshalb die akribische Auseinandersetzung des aufgeschlossenen Holzknechtes mit verschiedenen Schlittentechniken: „Ganz, ganz früher, so im achtzehnten Jahrhundert, da hat es noch keinen Reibsattel, da war ein etwas leichterer Bogenschlitten ohne Reibsattel, diese Schlitten wurden meisten hinaufgetragen. Beim Beladen wurden die ersten Blöchel auf den Schnitten geknechtet, eine doppelte Kerbe wurde eingehackt. Das wurde mir noch einmal gezeigt, wie es ausschauen soll, das weiß ich. Aber wie ich mit so einem Schlitten am Ablegeplatz landen soll, dass weiß ich nicht. (…) Wenn da nach links oder rechts so wenig Bewegungsmöglichkeit ist. Dann wurde noch erzählt, dass manches Mal sogar bis nahe zu drei Festmeter aufgeladen wurde. Das ist für mich unglaublich.“ Denn, so etwas „ist nur mit einem nach links und rechts beweglichen Reibsattel wunderbar möglich. In der Zeit Anfang des 19. Jahrhundert ist auch beim Bogenschlitten ein Reibsattel gebaut worden. Natürlich ist durch den Reibsattel und andere Verstärkungen das Gewicht gewachsen, daher wurde auch dieser Schlitten zum Tragen fast zu schwer. Aber der Name Pongauer Schlitten ist geblieben. Die Holzknechte im Großarltal sind dieser Holzlieferung am längsten treu geblieben. Dort sind vielleicht solche Schlitten (heute) noch zu finden.“ Im Unterschied dazu, „Wir Pinzgauer haben den bekannten Hornschlitten. Er ist schon etwas stärker gebaut und mit seinem starken Reibsattel wunderbar zum Fahren, weil man sich in jeder engen Kehre anstandslos bewegen kann. Auf dem Satten sind kleine stumpfe Eisenstifte eingesetzt, damit die Ladung weniger verrutschen kann. Dieser Schlitten wird auch Tiroler Hornschlitten genannt. Wahrscheinlich ist dieser Schlitten mit Hörner (zum Zie-

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hen) und Reibsattel (oder einem kleinen Drehkranz) bei den Tirolern entstanden und so zu uns Pinzgauer überliefert worden (ist).“ (RATHGEB 2005: 60, RATHGEB 2006a: 89f.). Der Schlitten war dem Holzknecht ein zentrales Arbeitsgerät, wie die weitere Geschichte deutlich macht: „(Mein) Schlitten hat jetzt einen Platz, so dass ich ihn jederzeit vom Küchenfenster aus sehen kann.“ (RATHGEB 2006a: 90). „Das Aufladen war die langsamste Arbeit“, berichtet Peter Rathgeb, „oft mit lauter großen Bloch eine Vier-Festmeter-Fuhre zusammenstellen. Bloch von fünfhundert bis tausend Kilogramm und sogar ab und zu noch mehr, das sollten zwei Mann aufladen. Mit Kraft allein geht da nichts, da brauchst schon einen guten Anschick. Der Franz war wohl ein bärenstarker Bursch, aber beim Anschick, beim sich-zu-helfen-Wissen war ich ihm weit überlegen.“ (RATHGEB 2006a: 66). „Wir haben sogar zwei Verladerampen angelegt (…) Ein Bloch mit zirka vierzig Zentimeter Durchmesser legt man nach längs in Schlittenrichtung, dann haben wir drei oder vier Zwanziger-Blöchl quer darauf gelegt, am hinteren Ende ein bisserl eingegraben. Auf dieser Fläche können wir die Bloch anschieben und wir brauchen die schweren Bloch nicht mehr auf die Fuhr drauf heben.“ Beladen war eine Frage des Gleichgewichthaltens, „wenn so eine hohe Fuhre nicht ganz gleichmässig aufgeladen wird, oder es verrutscht während der Fahrt, dann ist Umkippen ganz gefährlich. Das müssen wir unbedingt vermeiden.“ (RATHGEB 2006a: 68). „Wir müssen nur beim Aufladen auf den Boden bei jeder Fuhre aufpassen. Am besten ist ein Dreierboden, die großen Enden vorne auf den Schlitten, die kleinen Enden hinten. Die erste Lage auf der Fuhr nennt man den Boden, der Boden darf bei (Schnee) nicht zu eng verschlossen sein, damit der Schnee während der Fahrt ausweichen kann. Diese Bloch müssen bei der Auflage auf den Boden ganz sauber und schlüpfrig sein.“ (RATHGEB 2006a: 72). „Wenn vorne auf dem Schlitten ein Bloch während der Fahrt zu weit auf die Seite rutscht, dann hast (du) eine Bärenhaut beieinander und bist vom Umstürzen nicht sicher. Ich habe immer eine Reservekette bei mir, (ich) habe mir gefährliche Bloch sofort zusammengehängt.“ Eine andere Vorkehrung: „wir haben jetzt genug Klampfen in verschiedenen Längen, jede Fuhr wird gerade aufgeladen und sicher mit Klampfen ineinander gehängt. Lieber länger aufladen, dafür dann sicher fahren. Auch schnell Fahren mit so großen Fuhren, das wäre gefährlich.“ (RATHGEB 2006a: 74). Das Holzziehen war Aufgabe für die kräftigen und erfahrenen Holzknechte, die oft kilometerlangen Ziehwege waren schon im Spätherbst vorzubereiten – Zäune waren umzulegen, Unebenheiten in der Fahrbahn zu beseitigen, gefährliche Stellen mit Holz zu verlegen. Das richtige Anlegen des Weges war für die Holzzieharbeit im Winter eine Überlebensfrage. War ausreichend Schnee gefallen, konnte die Partie losziehen. Bergwärts wurden die Schlitten selbst getragen, später, als sie durch Verstärkungen immer schwerer wurden, wurden sie unter Zuhilfenahme von Schultergurten gezogen. Der jeweils erste der Partie musste bei Schneefall den Weg öffnen. Stelzeisen erleichterten durch die Waagrechtstellung der Fußsohle das Aufwärtsgehen etwas. Mit einem kräftigen Ruck in die Ziehgurte brachte der Holzknecht den Schlitten in Fahrt, stets darauf bedacht, sich sofort aus den Gurten zu lösen, um im Notfall abspringen zu können. In flachen Wegstücken waren die Schlitten in gemeinsamer Anstrengung der Holzknechte

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wieder in Fahrt zu bringen. Dabei mussten die Schlitten zueinander stets ausreichend Sicherheitsabstände halten, um sich nicht gegenseitig zu gefährden. Gefürchtet war es, während dieser Arbeit mit der Ferse oder dem ganzen Körper unter den anfahrenden Schlitten zu geraten. Am Lagerplatz mußte das Holz wiederum fachmännisch aufgedrillt werden. (MOOSLECHNER 1997: 37–47). Peter Rathgeb erinnert sich: „Zwei (unserer) Männer haben beim Hinunterfahren immer ein wenig Angst gehabt. Das konnte ich nicht begreifen. Ich habe mich jedes Mal gefreut auf das Hinunterfahren. Wenn ich mit einer prächtigen Fuhre am Abladeplatz angekommen bin, fühlte ich immer in mir einen heimlichen Stolz.“ (RATHGEB 2006a: 125). Die Ziehwege sicherten die Holzknechte mit „Fürlegerholz“, wie Peter Rathgeb beschreibt: „Zu dem Zweck wurden Bloch zwischen zwanzig und dreißig (Zentimeter) im Durchmesser ausgesucht. So einen Fürleger braucht hinten und vorn einen Stempel (einen kleinen Pfahl), damit es den Ziachweg mit wenig Schnee einhalten kann. Ansonsten bist sofort neben dem Weg, das wäre unfallgefährlich. Wir hatten ja keinen eigentlichen Weg, wir sind einfach durch das Gelände, wo die Strecke am kürzesten war, durchgefahren. Im Sommer kann sich niemand vorstellen, dass man da im Winter Blochholzfüderl von zwei bis drei Festmeter hinunterfährt.“ Auch hier, „so einen Ziachweg richten bei wenig Schnee, das ist sehr viel Arbeit. (…). Das war dann ein Lotteriespiel, geht alles gut, kannst dir ganz gut verdienen, wenn’s schlecht geht, ach du armer Holzunternehmer.“ „Viel Holz haben wir gebraucht, zum Fürlegen, also zum Weganlegen. Dann kam (womöglich viel) Schnee, das fürchterliche Sauwetter, teilweise über einen Meter (Schnee), unser Fürlegerholz (lag dann) tief unterm Weg, alles ist zusammengefroren. Es gab nichts anderes, das Fürlegerholz mußte ausgegraben werden. Das war für den Unternehmer der nächste Rückschlag, das kostete etliche Schichten und war noch einmal eine ordentliche Schinderei.“ (RATHGEB 2005: 60). Holzlieferungen über weite, ebene Entfernungen, die nicht Gleitfähigkeit des Schnees und die Schwerkraft am Hang ausnutzen konnten, erforderten Pferdekraft. Für die Holzknechte damit die Notwendigkeit, als Teil ihrer Arbeit auch die Pferde zu versorgen bzw. für nicht-bäuerliche Holzknechte überhaupt erst einmal die finanzielle und organisatorische Herausforderung, Pferde, Stall und Futter in ausreichendem Ausmaß zur Verfügung zu haben. Rathgeb berichtet über ein Holzfuhrwerken mit Pferden im Winter 1939 in einem Tal in einiger Entfernung vom Hof: „Die Arbeit, wie sie der Bauer angeschafft hat: Ihr müsst halt um fünf einspannen, sonst wird euch der Tag zu kurz, es ist lauter großes Holz und geht zum Auflegen sehr viel Zeit drauf. Wir dürfen nur mit schmalspurigen Schlitten fahren, weil zwei Holzknechtpartien (unterwegs sind). Wir müssen zweimal fahren, die Strecke wird vielleicht sechs Kilometer sein. Am Samstag nur einmal fahren. Dafür am Nachmittag eine Fuhr zum Heimfahren mitnehmen.“ Und so der Tagesablauf, „der Franz steht schon um halb drei Uhr auf und ich bin um vier Uhr aufgestanden, meinen Schimmel putzen, (…) um fünf dann hinein in den Graben, so um halb zehn waren wir wieder heraus, dann haben wir meistens schon wieder vor elf für das zweite Mal eingespannt, so ging das bis in den März hinein.“ Dieser Winter, der erste Kriegswinter, blieb Rathgeb ob der harten Wetterbedingungen eindrücklich in Erinnerung, „Es hat 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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fürchterlich viel Schnee gemacht in dem Winter. Es war damals noch nirgends eine Wildfütterung, ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Füchse die Rehe oft weit oben vom Wald bis tief in den Graben heruntertreiben und dann bei lebendigem Leib zerreißen und das oft bei helllichtem Tag (…) wie die armen Viecher jammern und schreien (…) am Anfang ganz laut, dann wird der Klageruf immer schwächer, bis es dann verendet. (RATHGEB 2005: 35). Holzziehen mit Pferden erforderte sorgsames Umgehen mit den Pferden, die bei der auch für sie langen und harten Arbeit an ihre Grenzen kamen: „Dort, wo es zum stehen bleiben war, und das war immer an der gleichen Stelle, haben wir ein Heusackl hingestellt. So hat das Roß auch das stehen bleiben gelernt.“ (RATHGEB 2006a: 67). In selteneren Fällen wurde Rindvieh zum Holzziehen eingesetzt, Rathgeb über einen Holztransport in der Steiermark: „Da kommt ein Bauer, ein guter Mann, mit dem Stier. In Gottes Namen, haben wir gesagt, die schweren Bloch und so ein Rindsviech, was soll das werden. Aber da haben wir geschaut! (…) Das war ein Stier zwischen achtund neunhundert Kilogramm, an den hinteren Füssen beschlagen, einen Kummet anstatt einem Joch und was für uns gefährlich war: der Stier war böse, uns hat das Viech absolut nicht mögen, wir haben das Luada gefürchtet, weil er gar so schiach getan hat, brüllt und geschaumt mit den vorderen Füssen, am Boden krällt.“ Doch, „dem Bauern hat der Stier aufs Wort gefolgt. (…). Der Bauer sagt, so viel kann ich gar nicht anhängen, dass es nicht mehr gehen könnte.“ (RATHGEB 2005: 82). Nicht immer bestand Einigkeit zwischen den Holzknechten mit handgelenkten Schlitten und jenen mit den Pferdeschlitten: „Das Aufladen ging so vor sich: Wir sind am Aufladeplatz angekommen, unsere Ziehfuhren haben wir als erstes aufgeladen, die meiste Zeit mit vier Festmeter, ein jeder hatte vier Stück halblange Klampfen gehabt, damit konnte man ohne weiteres auf einem Ziehschlitten eine Vier-Festmeter-Fuhre aufbauen. Mit unseren Fuhren sind wir etwas vorgefahren und (haben sie) abgestellt. Dann haben wir die Fuhren für die Pferde aufgeladen.“ Bei Meinungsverschiedenheiten über die Größe der Fuhren: „unsere Antwort war sofort, was seid ihr denn für feige Hasen! Wofür ist ein Pferd eingespannt, wenn wir ohne Pferd imstande sind, (mit der gleichen Menge) hinunterzufahren!“ (RATHGEB 2006: 69). In manchen Jahren oder einzelnen Winterwochen waren die Schneebedingungen gar nicht ideal, aber das Holz musste geliefert werden, war die Arbeit im Sommer ja ganz unmöglich und zudem der Verdienst aus geleisteter Arbeit der einzige Lebensunterhalt der Holzknechte. So mussten die Männer bei ihrer Arbeit findig sein, wie Peter Rathgeb erzählt: „bei dem ganz schlechten Blitzholz, da brauchen wir nasses Wetter. Ein einziges Mal im November hat es ein Sauwetter gehabt, da haben wir das oberste Drittel heruntergebracht. Dann war es aus, alle Tage Schönwetter. Was machen wir? Wie bringen wir das Holz zum Abfuhrweg? Wir brauchen zwei Milchkübel mit dreißig bis vierzig Liter Inhalt. Von dem (Bach) da drinnen bis hinauf zum Holz geht ein Steigerl. Während ich mit dem einen Kübel hinaufgehe, kann sich der andere anfüllen, oben ein paar Eimer zum Entleeren (…), damit ich sofort wieder gehen kann. Ich habe eine ganze Woche Wasser getragen, es war immer Föhn und warm und sehr trocken. Aber unser Holz haben wir wohl zum Abfuhrweg gebracht.“ (RATHGEB 2006: 15). Ein anderes Mal: „wir hatten eine zweihundert Meter lange Strecke, da war kein Schnee. Am oberen Teil,

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da war Schnee genug und am unteren Teil, im Graben, da war auch genug Schnee.“ Zunächst musste der schlechte Teil dieser Strecke verbaut werden, „diese Strecke ist sehr steil, unterhalb einer Felsengegend, wenn man sich nicht auf den Weg halten kann und man kommt neben aus, (…) dann geht es hinab in den Graben und alles ist kaputt.“ Äußerste Achtsamkeit war trotzdem angeraten, „wenn in so einem Fall der Mensch noch mit dem Leben davonkommt, dann ist das mehr Glück als Verstand. Deswegen mit vollem Verstand auf Sicherheit arbeiten, das ist das wichtigste.“ Und zum Auffüllen des schneefreien Teils: „Wir haben einen Tag lang Schnee geliefert. Zwei Mann haben mit einer größeren Plane, einer alten Autoplane, von oben herunter Schnee geliefert und drei Mann haben mit zwei Pferden von unten hinauf Schnee gefahren.“ Jedoch, der Schnee schmolz am Tag und fror in der Nacht, der Weg wurde immer gefährlicher, „aus diesem Schnee ist alles ein Eis geworden, man hat es fast nimmer aushalten können, so grob ist der Weg geworden, mit den zwei Tatzen, die man zum Bremsen hat, das geht auf diesen eisigen Steinen so grob, als (ob) man in einer Rüttelmaschine drinnen wäre. Wer so etwas nicht erleb(t), kann sich so etwas nicht vorstellen. Bei so einem Eisweg kommst oft in so eine Situation, dir kommt vor, du kannst nicht mehr halten und lenken. Einer, der bei so etwas Angst kriegt und die Kraft nicht hat, der liegt im Graben.“ „Nur mit oft letzter Kraft war es möglich, dieses oder jenes fertig zu bringen, aber die Hauptsache war, dass diese Holzpartie an Ort und Stelle gekommen ist.“ (RATHGEB 2006: 115f.). Das Holz musste geliefert werden, „für die letzte Woche, das war dann schon März, haben wir dann noch Verstärkung bekommen, damit wir fertig werden, bevor der Weg zusammenbricht.“ (RATHGEB 2006a: 75). Von Anstrengung und Gefährlichkeit einmal abgesehen, war beim Holzpirschen schonender Umgang mit dem verbleibendem Wald angesagt, Rathgeb: „wir hatten vom Forstmeister einen strengen Auftrag: Wir dürfen keine stehen gebliebenen Bäume verletzten, Bäume mit durch das Pirschen verletzter Rinde am Stamm bleiben nicht gesund und werden faul. Wir haben uns wohl zum Aufpassen bemüht, aber ganz ohne Pirschschäden war es nicht möglich. Die verletzten Stämme haben wir mit Fichtenriesig verdeckt, damit niemand etwas bemerkt.“ (RATHGEB 2006a: 227f.). Wie wichtig die Schneeverhältnisse für das Holzliefern in den Wintermonaten waren, wie sehr sich die Beachtung der Wetterverhältnisse in den Arbeitsrythmus eingegraben hat, zeigt sich, wenn Peter Rathgeb über die Arbeit Anfang der Siebzigerjahre notiert, „(wir) haben sofort mit der Lieferung begonnen. Es war noch sehr wenig Schnee“, und ihm dann bewusst wird, „in Wirklichkeit brauchen wir keinen Schnee mehr, wir brauchen keinen Schlittenweg. Wir sind jetzt motorisiert.“ (RATHGEB 2006: 158). Die Holzknechtarbeit bei den Bundesforsten beinhaltete dann auch Verwaltungsarbeiten: „Vor 1938 war die Staatsforstgrenze, wohl wie üblich mit laufenden Nummern, aber mit kk gekennzeichnet. Das war noch aus der Zeit Kaiser-Königlich. (…) Nach dem Anschluß an Deutschland sind diese Grenzsteine sofort mit RF markiert worden. Das heißt, Reichsforst. Nach dem Krieg wurden die Grenzsteine auf die Buchstaben BF gekennzeichnet, das sind jetzt die Bundesforste. Ich war in den letzten zehn Jahren meiner Dienstzeit öfters beim Grenzaufrichten dabei.“ (RATHGEB 2006a: 143). Mit zunehmender Beachtung der Waldpflege wurden jährliche Kulturarbeiten Bestand5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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teil der Holzknechtarbeit. Peter Rathgeb, „dann hatten wir mitten im finsteren Hochwald einen Aufhieb zu machen. Ein Aufhieb ist, wenn man durch einen geschlossenen Wald eine dreißig Meter breite Schneise schlägt. Damit Licht in den Wald kommt und wieder junge Fichten wachsen können, Natur verjüngen nennt man das.“ (RATHGEB 2006: 75). Ein Teil der Kulturarbeit, etwa das Setzen von Jungpflanzen, wurde von Frauen bzw. gemeinsam von Frauen und Männern erledigt. In einem Fall berichtet Rathgeb von einer Frau, die durch ihre Arbeit im Wald die Versorgung ihrer Familie bewerkstelligen musste, „sie war eine liebe, fesche Frau, sie war 27 Jahre alt. (…) Ihr Mann hatte einen Autounfall, und ist seitdem querschnittgelähmt, kann den Rollstuhl nicht mehr verlassen und zwei kleine Kinder sind da.“ (RATHGEB 2005: 45). Peter Rathgeb über den Arbeitsablauf: „wir Männer mußten Löcher graben, die Pflanzgruben, da hat dann eine Frau eine Fichtenpflanze oder eine Lärchenpflanze eingesetzt. Mit 450 Löchern war der Tag zu Ende.“ Und wieder das bekannte Problem, „wir haben gesehen, das geht einfach zu langsam, die Frauen haben eigentlich zu wenig Arbeit. Ich habe vorgeschlagen, es müssen zwei Frauen zum Pickel greifen, wir sind dann sechs Leute zum Graben und vier zum Setzen. Die Frauen sollen sich beim Graben ablösen. Es waren alle einverstanden.“ „Als wir dann mit dem Boschen Setzen fertig waren, dann haben wir für jede Pflanze gegen den Schneedruck drei kleine, etwa fünfzig Zentimeter lange Pflöcke schlagen müssen. Das war fast soviel Arbeit wie das Boschen Setzen, (…) wir waren zehn Leute einen Monat zum Boschen setzen und einen Monat Pflocken. (…) Zum Schluß mussten wir dann noch bei der Fläche mit tausend Quadratmeter gegen Wildverbiß einen zwei Meter hohen Wildschutzgitterzaun aufstellen.“ (RATHGEB 2006: 39–46). Beim Setzen der Jungpflanzen entwickelte sich eine zweite Methode, „Die neue Methode ist Klemmpflanzensetzen. Das geht schnell: den Boschensetzpickel schlägt man in den Boden, den Stiel dreht man auf eine Seite, somit gibt es einen Spalt. In diesen Spalt wird eine Pflanze gesteckt, den Pickel zieht man heraus, und klopft die Pflanze fest. Das macht jede Person allein. Mit dieser Methode tausend Pflanzen setzen pro Person, (das) war dann in meinen ganzen Dienstjahren als Tagesleistung möglich gewesen. Die ganz alte Methode ist ja so fürchterlich zeitaufwendig und langsam.“ (RATHGEB 2006a: 258). Für die Holzknechte gestaltete sich die gemeinsame Arbeit im Pflanzgarten als abwechslungsreiche Zeit, denn eher wehmütig schildert Peter Rathgeb dessen Ende, „Aus war der Traum mit den fünf Pflanzgartenweibern.“ (RATHGEB 2006: 46). Der Arbeitsbereich der Frauen der Holzknechte war ansonsten innerhäuslich, während der Woche getrennt von ihren Männern, die die Wochentage im Wald verbrachten. Ein Holzknecht schildert „Weil der Mann war in der Hütten drinnen, (sie) hat unter der Woche alles machen müssen, was sonst ein Mann macht. Dann noch die Arbeit im Haus, die Kinder. Stand eine Kuh im Stall eines Bauern, war ein zusätzliches Stück Grund oder ein Garten gepachtet, so musste für den Bauern Tagwerk geleistet werden, und wieder das meiste von den Frauen. Das Geld war auch immer knapp, so ließ die Holzknechtfrau keine Gelegenheit aus, noch etwas dazuzuverdienen: als Putz- und Waschfrau, beim Kultivieren im Schlag.“ Frauenarbeit fand durchaus Annerkennung, „In der Hütten drinnen, da haben wir uns oft gesagt, ‚Na Bua, ein Weiberleut möchte ich nicht sein.’“ (RETTENEGGER 1995: 104). Anerkennung von Frauenarbeit findet

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sich auch bei Rathgeb, „Der Sepp hat seine Frau gebracht (…), wir waren gerettet, immer ein warme Küche und etwas warmes zum Essen.“ (RATHGEB 2005: 106). Davon abgesehen, kommen Frauen in den Schilderungen von Peter Rathgeb als Sennerinnen auf den Almen vor, als die Nachbarinnen der Holzknechte im Wald. Mit dem Abwandern der Männer aus der Landwirtschaft waren ja Almwirtschaft und Milchverarbeitung stärker in Frauenhand gekommen. Weniger erfreut hingegen war Rathgeb über die Frau eines Partieführers, die stärker als andere Frauen in die männlich geprägte Waldarbeit eingebunden war – sie schrieb die Arbeitsstunden der Partie auf. Das, so Rathgeb, „gefällt mir nicht, das werden wir ändern. Wir machen die Arbeit selber, die dafür anfallenden Stunden schreiben wir auch selber auf.“(RATHGEB 2006: 28). Holzknechtarbeit, insbesondere für die älteren Holzknechte in der Partie oder sonntags, wenn die Pferde Auszeit hatten, war ferner die Instandhaltung der Ziehwege. Anfang der Fünfzigerjahre begann der Ausbau der Wegenetze, somit ein neues Betätigungsfeld für die Forstarbeiter. Rathgeb, „Als ich 1953 im Frühjahr die Forstverwaltung kennen lernte, war es (bereits) eine große Mannschaft. In der Verwaltung waren der Forstmeister, ein Kanzleiförster und ein Fräulein als Schreibkraft. Fünf Revierförster, dreißig Holzknechte und vierzig Mann für den Ziehwegbau und Hüttenbau. (Wir hatten) keine einzige Maschine, mit Pickel und Schaufel wurde damals der Ziehwegbau begonnen.“ (RATHGEB 2006: 7). Wegebau wird eine lukrative Verdienstmöglichkeit, Rathgeb über 1962, „die Arbeit war, wir mussten eine 600 Meter langen Weg graben, damit wir diese 500 Festmeter Holz erreichen. Akkord hat es sein müssen, ich hatte keine Ahnung, wie viel der Laufmeter Holz kosten soll. Es wurden uns 17 Schilling angeboten für den Laufmeter. Wir haben in einer Stunde drei Laufmeter gemacht, das war eine prächtige Leistung.“ (RATHGEB 2006: 76). Vom Wegebau profitierte die gesamte Gemeinde: „Taxenbach hat, und das ist der wichtigste Wert für die ganze Bergbauernbevölkerung, (heute) 65 Kilometer Güterweg.“ „Wenn man bedenkt, durch die Güterwege ist überall eine Stromleitung gebaut worden. Oder andere Versorgungen: Doktor, Rettung, Tierarzt, Feuerwehr mit Tankwagen. Früher konnte nichts gerettet werden. Oder bei einer Geburt, die Hebamme.“ (RATHGEB 2006a: 29f.). Der Wegebau brachte freilich auch eine schwierige Seite mit sich: „Diese Wege bringen wohl ungeheuer viel Nutzen, aber nebenbei sofort auch viel Ärger. Viele Almtäler, auch einzelne Almen, oder die ganzen Forststraßen sind durch Schranken abgesperrt. Es ist nicht mehr anders gegangen. Alles Mögliche fährt auf die Alm oder (in den) Wald, alles wird offen gelassen, die Autos bleiben irgendwo stehen.“ (RATHGEB 2006a: 30). Abwechslung in das Leben der Holzknechte, der jungen Holzknechte vor allem, brachten gesellschaftliche Ereignisse. Aufgrund der Arbeit im Wald war ja Kontakt zum Dorfleben ansonsten mitunter sehr begrenzt. „Beim Hütertanz, das ist einmal im September gewesen, da haben sie uns Holzknecht eingeladen. Der Hütertanz war auf einen Samstag angesagt. Wie machen wir das? Einkaufen für die nächste Woche und doch zum Hütertanz?“ Die jungen Burschen waren um eine Lösung nicht verlegen, wir haben „beschlossen, einer holt die Sennerin ab und zwei gehen einkaufen und wir treffen uns dann beim Hütertanz.“ Diese Tanzabende, so Rathgeb, haben „bestens funktioniert“, da 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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waren „meistens solche (Leute dabei), die keinem Erlebnis oder neuen Bekanntschaft ausweichen.“ Auf Einladung zu einem Hütertanz, so Rathgeb, „da gehen die Almleute, hauptsächlich die Sennerinnen, oft über Berg und Tal, nur um vielleicht doch eine neue Bekanntschaft aufzureißen oder mit einem etwas (zu) erleben, was sonst gar nicht möglich war. Meistens sind da auch ledige Holzknechte vorhanden, das sind meistens gestandene flotte Burschen.“ (RATHGEB 2005: 17f.). Die Kommunikation über die in den Tälern weiten Strecken erfolgte über Schreien, so holten die Holzknechte zu dem Tanz eben jene Sennerin ab, „die öfter mit einem wunderschönen Juchezer zu uns herüber von ihr etwas hören lässt. Natürlich, wenn wir sie hören, (antworten wir) mit einem kräftigen Juhschrei. So ist eben der alte Brauch zwischen den Almleuten und Holzknechten.“ (RATHGEB 2006a: 49). Und: „Irgendwann war da einmal ein Holzknechtball. Da bin ich natürlich auch dabei, da brauch ich eine flotte Kranzltänzerin, eine solche finden oder kriegen war kein Problem. Ich habe eine gewusst, (die) mir zum Tanzen extra gut passt. An einem Sonntag beim Kirchengehen habe ich sie getroffen, (ich habe sie) ums Kranzltanzen angesprochen. (…) Wir waren dann beim Mittagessen, wie es schon Brauch war, (haben) allerhand getrunken, die Stimmung (war) kreuzfidel.“ (RATHGEB 2005: 85). An anderer Stelle in Peter Rathgebs Lebensaufzeichnungen ein ausführlicherer Bericht zum Ablauf dieses 22. Jänner 1949, des Vizenzitags: „Der Heilige Vinzenz ist der Schutzpatron für die Holzknechte. Es wurde erzählt, um zehn Uhr ist ein geschlossener Kirchgang. Der Dechant führt mit einer sachlichen Predigt den Gottesdienst durch. Dann ist mit der Tanzlmusik der Einzug in das Gasthaus zum Mittagessen. Es hat einen Schweinsbraten gegeben. Dieser Schweinsbraten war ziemlich am Anfang ohne Lebensmittelkarten. (Am) Nachmittag ist es zum Kranzltanzen. (RATHGEB 2006a: 125). „Die Aufgabe der Kranzltänzerin war, dass sie ihrem Tänzer den Hut mit ein paar Blumen schmückt. Damals hat für so einen Anlaß ein jeder einen Hut getragen. Dieser Schmuck war ein Rosmarienstengel und ein paar Nagei (rote Nelken). Als Gegenleistung war (die Tänzerin) von ihrem Tänzer zum Mittagessen und für sämtliche Getränke, später Kaffee, eingeladen. Aus Anstand hatte man als Kranzltänzer eigentlich die Pflicht, während dieses Tages sich um seine Kranzltänzerin zu kümmern.“ (RATHGEB 2006a: 126). „Als Tanzlmusik waren damals drei Mann, ganz selten ein vierter. Diese Musik war echt, und alles Natur, von Kunst keine Spur. Da war kein Lautsprecher oder Verstärker, da konnte man das eigene Wort noch verstehen. Die Musikstücke waren kurz und schneidig, kurz abgesetzt und schon wieder ein flottes Tanzerl drauf. Damals war noch das Abtauschen während des Tanzens fest im Brauch. Erst nach einer Zeit war wieder eine Pause. In so einer Pause hat sich oft die größte Gaudi ergeben. Wenn sich die richtigen getroffen haben und die Stimmung hat auch gepasst, dann ist es meistens zum Singen geworden. Hauptsächlich Gstanzln. Diese Gstanzln wurden im Stegreif gedichtet und mit einer Melodie gesungen. Über alles Mögliche, auch über Sachen, die geheim bleiben hätten sollen. Da wurde niemand verschont, wie mehr durch diese Gstanzln verraten wurde, desto lauter war das schadenfrohe Lachen. Musikanten haben sich auch gleich dazugesellt und haben die kurzen Pausen begleitet. Wenn einer einmal einen ganz einen schweren Trumpf ans

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Tageslicht bracht hat, dann hat gewiss ein andere vor lauter Schadenfreude einen Juchizer gemacht und die Musik hat einen Tusch draufgespielt. Von einer solchen fürchterlichen Gaudi kann sich heute kein Mensch eine Vorstellung machen. Es kam alles aus dem Herzen der Ballbesucher. Damals haben die Musikanten ihre Tänzer nicht zum Juchizer auffordern müssen. (…) Damals waren die Musikanten noch bescheidener, so eine Tanzlmusik hat sich bald einer leisten können. Vom Veranstalter wurde ein vereinbarter Lohn bezahlt und was das Publikum (zu den Musikern) hinauf gegeben hat, das war Trinkgeld. (RATHGEB 2006a: 125f.). „Wir haben den Brauch so durchgeführt, wie wir es von unseren Vorfahren übernommen haben. A bissl lustig sein, a bissl beten, dann weiß der Herrgott schon, was wir gerne hätten. Damals war hauptsächlich das Linkstanzen stark im Brauch.“ Rathgeb begeisterte seine Tänzerinnen mit dem Rechtstanzen, das er beim Schuhplattln gelernt hatte (RATHGEB 2006a: 128). Ähnlich – oder was das Religiöse betrifft, anders – die Holzknechtfeier in der Steiermark: „Am 23. November ist der Klemenstag, das ist in der Steiermark für die Holzknechte der Schutzpatron. An diesem Tag waren wir von unserem Meister zu einer Holzknechtfeier eingeladen. Er hatte ja mehrer Holzknechtpartien. Von einem geschlossenen Kirchgang, wie das bei uns Salzburger Brauch ist, hat kein Mensch etwas gesagt. In dieser Gegend sind ja die meisten evangelisch, da gings nur um die Gaudi. Der Meister hat uns hochleben lassen, es hat keiner einen Schilling braucht.“ (RATHGEB 2006a: 157). Ein Veranstaltung etwas anderer Prägung als Hütertanz oder Holzknechtball, war, ohne junge Frauen zwar, für die Männer ebenso erhebend: „Am 23. November war eine Holzknechtfeier angesagt, von unserem Meister. Er hatte ja mehrere Partien. Es war eine Gaudi, er hat uns alle hochleben lassen.“ (RATHGEB 2005: 102). Gut gelungene Arbeit gab Anlass zum Feiern: „als wir dann mit dem Fürleger herausreissen fertig waren, war der Holzhändler sehr, sehr froh und hat uns auf ein Essen – Schweinsbraten und ein Bier eingeladen. Er sagt, das ist immer so Brauch gewesen (und) wir sind gemütlich beieinander (gesessen).“ (RATHGEB 2005: 61). Mit zunehmender Motorisierung war Holzknechtvergnügen nicht mehr auf die engere Region beschränkt, Peter Rathgeb erzählt: „Einen Betriebsausflug im Herbst hat es auch gegeben, zum Chiemsee in Bayern, mit Frauen und Freundinnen, viele waren ja noch ledig, ich natürlich auch, es waren über hundert Leute mit zwei Bussen unterwegs. Unser Forstmeister und etliche Förster waren mitten unter uns. Bei der Wegbaupartie waren drei Musikanten dabei.“ „In Hallein draußen in Kaltenhausen da war es dann zum Zukehren, da haben wir erst einmal richtig gegessen, von unserer Betriebskasse hat es ein Freibier gegeben. Auch die drei Musikantenhaben etwas für das Spielen erhalten. Da sind wir drei Stunden hängen geblieben und die Gaudi ist immer größer geworden. Tanzt haben wir so viel, die ganze Welt hat sich gedreht, diese Landlerische Musik hat mir unheimlich schaden mögen. So ein Haufen fesche Weiberleut, und ich noch ledig mit meinen dreiundreißig Jahren.“ (RATHGEB 2006: 17). „Wir haben uns das mächtige bayrische Schloß am Chiemsee angeschaut. Dabei hat sich bald so mancher von uns Arbeitern Gedanken gemacht. Welchen Luxus haben sich doch damals Könige, Grafen, Förster, die meisten mit dem blauen Blut, geleistet und geführt. Was für ein Unterschied! Gegenüber 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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dem armen Volk damals.“ (RATHGEB 2006a: 229). Und es gab für die Holzknechte Gelegenheiten, das berufliche Können in sportlich-spielerischem Wettbewerb zu messen. Die örtliche Landjugend etwa plante da einen Wettbewerb: „über Baum-Umschneiden und Durchschneiden. (…) Das soll ungefähr so durchgeführt werden: je zwei Mann schneiden einen Baum um, alles bergaufwärts, und schneiden diesen Baum auch durch. Das heißt, er wird nach jedem vierten Meter abgeschnitten. Die Schnittflächen werden gemessen und zusammengezählt. Genauso wird auch die Zeit festgehalten, wer in der kürzesten Zeit die meiste Fläche durchschneidet, ist Sieger. Natürlich, auf die Sauberkeit bei dieser Arbeit wird auch Wert gelegt. Schlechte, unfachmännische Stöcke oder schiefe Schnitte werden mit Minuspunkte in der Zeit gewertet.“ Bei diesem Bewerb war Rathgeb einer der drei Schiedsrichter und über die Leistungen der Jungen sichtlich erfreut, „Es waren fünf Partien, diese Burschen waren alle im schönsten Alter, so zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre. Die haben gearbeitet wie verrückt, lauter so kräftige Kerle, das ist eine Freud.“ (RATHGEB 2006: 17). Jahrzehnte später, in der Pension, gibt es andere Zeitvertreibe für den Holzknecht: „Ich habe uns schön warm eingeheizt und so haben wir den Herrgott einen guten Mann sein lassen. Mit den Nachbarsfrauen ein bisserl Karten gespielt.“ (RATHGEB 2006: 206). Auch entdeckt Peter Rathgeb das Singen, die Stimme der Nachbarin harmoniert ausgezeichnet mit der seinen: „Es ist uns gelungen, wir haben in zehn Jahren hundertdreißig Lieder gelernt.“ (RATHGEB 2006: 211).

II.4 Fest fahren und alles aufschreiben – Arbeitsethos und Verdienstchancen

Sauber zu arbeiten war eine der wichtigen Eigenschaften einer zielstrebigen Holzknechtpartie, wie es der Bericht über einen Zwischenfall während der Holzarbeit in der Steiermark belegt, „Wie es der Teufel haben will, fällt uns beim Umschneiden ein Fichtenbaum in diese Buche hinein und verhängt sich. (…) Was fangen wir jetzt an?? (…) Den (Baum) lassen wir hängen, sagte einer. Das geht überhaupt nicht, das dürfen wir auf keinen Fall machen: da würden die steirischen Holzknecht sagen, schaut euch dieses Salzburger Denkmal an! Ein anderer meinte, wir werden halt doch die Buche umschneiden müssen. Das will ich auf keinen Fall. (W)enn wir die Buche umschneiden, dann liegt der ganze Sauhaufen auf unserem fertigen Holz, (am) besten ist es, ich steig auf die Buche, (Fehler) darf ich keinen machen, die Äste sind (aufgrund ihrer Spannung) gefährlich.“ Die waghalsige Aktion gelingt, „den Wipfel habe ich oben hängen lassen, damit die Forstleute sehen, dass die Salzburger Holzknecht auch zu so einer frechen Tätigkeit imstande sind. (Ich) bin herunter gestiegen, habe von derart geschwitzt, mein ganzer Körper war patschnaß, aber ich war erleichtert. (So) war unser Holzknechtleben, man braucht viel Glück, einen gesunden Hausverstand und absolut keine Feigheit.“ (RATHGEB 2005: 127). „Auf saubere Arbeit haben die alten Holzknechte schon viel Wert gelegt“, begründet Rathgeb diese Arbeitshaltung, „genauso auch (auf ) Härte. Ja, ein bisserl Jammern, das dieses oder jenes nicht zum Aushalten war, das haben die eingefleischten Männer gar nicht mögen. (Das) haben damals wir jungen Burschen gehört, (haben das)

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gelernt und mit einem Ehrgeiz aufgenommen.“ (RATHGEB 2005: 11). Diese Zähheit und den Leistungswillen hat Rathgeb weitergegeben, „wer mit mir mithalten wollte, der musste eine Leistung zu bringen imstande sein. Meine Grundregel war, es braucht keiner mehr Leistung bringen, als ich im Stande bin, aber was ich bringen kann, verlange ich auch von den anderen Mitarbeitern.“ (RATHGEB 2005: 112). Wobei langes, zähes miteinander Arbeiten auch Vertrauen und die Bereitschaft zum Austausch persönlicher Erfahrungen schuf: der Lois, „er hat mich allerhand gefragt, wo ich all (das) gelernt habe“ und „ich habe ihm von Zeit zu Zeit alles erzählt, auch über meine Schulzeit und hernach über mein Heranwachsen.“ (RATHGEB 2006: 11). Holzknechtarbeit verlangt ständige Konzentration: „Im Nachwinter, wenn es dann so richtig eisig wird, da hat es schon öfter ein Malheur gegeben. Meistens, wenn ein bisserl Angst und Ungeschicklichkeit vorhanden ist und dabei die Kraft nachlässt, dann wird es gefährlich.“ (RATHGEB 2005: 82f.). Im schwierigen Gelände war durchdachtes Arbeiten hilfreich, etwa beim Entrinden der Bäume: „von unten nach oben, da hast keinen Schwung (…), deswegen nur von oben nach unten, das geht um ein Drittel schneller.“ (RATHGEB 2006a: 150). Gut aufeinander abgestimmte Zusammenarbeit im Team war unerlässlich, insbesondere da größere Holzlieferungen mitunter Ausmaß und Organisation eines Kleinunternehmens annahmen: „Der Partieführer war meistens der Maschinist, ein starker Bursche war der Seilläufer. (…) Dann waren vier Partien zu je drei Mann. Dann waren am Abladeplatz drei Mann zum Holz sortieren und sauber lagern, dazu noch zwei Wegmacher, oft sogar drei Mann. Auf jeden Fall, die meiste Zeit so zwanzig Leute beschäftigt.“ Derartige Aktivität und Bewegung im Wald bereiteten Rathgeb sichtbares Vergnügen, „Für mich war es damals in meinen schönsten Jahren ein wunderbares Leben. Der reinste Erholungsurlaub.“(RATHGEB 2006: 54f.). Geschicktes und schnelles Arbeiten zählten: „Antreiben, das hat der Lois auch recht können, das habe ich bald gemerkt. Leistung und unbedingt mit Geschick arbeiten, das war bei ihm die Hauptsach’. Er hatte es verstanden, von der Mannschaft herauszuholen, was nur möglich war, jeder hat mitgemacht. Beim Umschneiden, da war es oft so, der Baum, der umgefallen ist, (der) war noch nicht ganz ruhig, (und) waren wir schon beim Nächsten dabei. Ab und zu hat er auch gesagt, Holzknecht sein ist eben kein Erholungsurlaub.“ (RATHGEB 2005: 12). Der entscheidende Punkt war die erzielte Leistung, „Ein guter Holzknecht hätte damals zweieinhalb bis drei Festmeter in einem Elf-Stunden-Tag fertig machen sollen. Das war eine ganz alte Leistungsnorm.“ (RATHGEB 2006a: 13). Wenig Verständnis hatten die jungen, kräftigen Männer für jene Kollegen, die aufgrund Alter oder körperlicher Verfassung mit dem Tempo nicht mehr mithalten können, „das alte Manderl mit sechzig Jahren, (der) ist manches Mal zum Schuhe (aufbinden) nicht mehr fähig. (…) Seine Frau jammerte, wir würden ihren Mann umbringen.“ In der Partie wurde grundsätzlich zusammengearbeitet. Zu unterschiedliche Leistungen waren dennoch schwer zu akzeptieren, so ereiferte sich ein Holzknecht, der genannte alte Mann „hat keinen einzigen Prügel ins Tal bringen müssen, (was) für eine Ungerechtigkeit, was ist (da) für ein Leistungsunterschied zwischen uns und dem Mann.“ Und deshalb, „ich 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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bleib nicht Holzknecht. Für andere Nutznießer plagen bis zum geht nicht mehr und ein anderer kassiert, (und ich muß mir) dabei noch schlechte Nachrede anhören.“ (RATHGEB 2006: 71). Dass bei dem vorgelegten Tempo „das alte Manderl ganz verzagt worden“ ist, und ab und zu auch geweint hat, das war auch für Rathgeb damals nicht zu verstehen. (RATHGEB 2006: 59f.). Sich in der Arbeitsleistung mit den Arbeitern von der Eisenbahn zu vergleichen oder sich mit denen im Steinplattenbruch zusammenzutun, fiel den Holzknechten schwer – sie waren ein eingearbeitetes Team, waren es gewohnt, schwierige Situationen zu meistern, sie wollten Leistung sehen: „unser Polier sagte, da (beim häufigen Pausieren) machen wir nicht mit, morgen geht ein anderer Wind, wir wollen arbeiten, wie wir es gewohnt sind.“ (RATHGEB 2006: 95). Gelungene Arbeit war die größte Motivation: „da haben wir den längsten Baum umgeschnitten, (der) mir in meinem Berufsleben untergekommen ist. Dieser Stamm hatte auf dem Stock einen Meter Durchmesser und er war fünfundvierzig Meter lang.“ (RATHGEB 2006a: 262). Der Abtransport dieses Baumes war ein Erlebnis für sich: „Mein Zieh-Schlitten-Sattel, das ist die Ladefläche, hat nur eine Länge von einem Meter fünf. Mit dem Bloch allein, das geht überhaupt nicht. Sondern man muß für das große Bloch ein Lager herrichten. Das schaut dann so aus: links und rechts außen nimmt man ungefähr ein Blöchl mit fünfundzwanzig Durchmesser, gleich daneben links und rechts sein Blöchl mit zwanzig Durchmesser. In der Mitte einen 18er Schleifer. Den muß man etwas vorziehen, damit man auch zum Sitzen beim Fahren eine Möglichkeit hat. (…) Dieser Boden wird vorn auf dem Schlittensattel mit einer Kette und kleinen Klampfen festgebunden. Hinten wird dieser Boden auch zusammengehängt, mit einem Zamspitzer, das ist eine dafür geeignete Kette. Dieser Boden bildet in der Mitte eine Mulde, in diese Mulde wird dann dieses große Bloch gelegt. Dann legt man links und rechts noch einen ordentlichen Schleifer, vielleicht einen 18er dazu. Hinten und vorn wird fachmännisch gebunden. Um so einen Bloch aufzuladen, müssen schon drei bis vier erfahrenen, starke Männer sein. Eine solche Fuhr hat dann ein Festmaß mit etwas über vier Festmeter. Vielleicht ein Gewicht zwischen 2  500 und 3  000 Kilogramm.“ Aber, „zum Fahren mit einer solchen Fuhr ist man allein, da kann kein Mensch mehr helfen.“ (RATHGEB 2006a: 263f.). Dass Holzknechtstolz auch eine schwierige Seite hat, ist Peter Rathgeb nicht verlegen zuzugeben: als er einmal beim Holzziehen mit seinem Fuhrwerk im Schnee stecken blieb, „Ich und hängen bleiben, vielleicht gar eine Hilfe brauchen. Das hätte ich damals fast für eine Schande betrachtet.“ Als ihm sein Kollege Hilfe anbot – aufgrund unvorhersehbarer Geschehnisse während der Abfahrt fuhr man meist in Zweiergruppen, in Rücksichtnahme aufeinander – lehnte er ab und schaffte es glücklicherweise auch selbst, doch in der Rückschau: „von so einem dummen Stolz soll ich eigentlich nichts erzählen, aber es war genau so und gehört eben auch zum Holzknechtleben.“ (RATHGEB 2006a: 124f.). Die Arbeit im Wald kam mit wenig Worten aus: „es hat ja sogar sehr oft Zeiten gegeben, wo ganz wenig während der Arbeit gesprochen wurde, oft nur, was halt für die Arbeit sein musste.“ „Einmal kam ein Jäger (…) und fragte, ob wir zerstritten sind, weil ihr so wenig miteinander redet. Nein, auf keinen Fall: wir verstehen uns glänzend, (…)

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Foto 5.6: Holzknechte mit Arbeitsmittel 1955

Foto 5.7: Motorsäge 1956

bei uns ist ein jeder mit voller Energie voll auf Leistung (…) Ein jeder von uns will doch endlich einmal Geld verdienen und ein anderes Leben aufbauen, Familie gründen usw. Dafür müssen wir etwas leisten.“ (RATHGEB 2006: 99f.). In der Freizeit, im Austausch mit Kollegen und in der Absprache mit seiner späteren Frau war das Miteinanderreden, wie Peter Rathgeb immer wieder betont, jedoch ganz wichtig. Und nach getaner Arbeit und in Gesellschaft von Frauen war für den jungen Holzknecht das Reden ohnedies zentral: „Wenn man sich dann bei irgendeiner Gelegenheit über dieses oder jene unterhält, löst die eine Meinung eine andere aus. Wenn man dann noch öfters auf gleiche Meinungen stößt, dann trifft man sich automatisch öfter. Es baut sich ganz schleichend eine Sympathie auf. Das wird immer stärker, das gegenseitige Vertrauen wird immer größer, so schreitet ein Kennenlernen vor.“ (RATHGEB 2006a: 255). Entscheidend in der Kommunikation während der Holzknechtarbeit waren eher Lautstärke und Schärfe der Stimme, Rathgeb: „und ich musste automatisch mit meiner vielleicht geschickten, energischen Stimme bei unserer sieben Mannpartie das Kommando führen. (…) Bei einer solchen Arbeit, mit so großen und schweren Bloch muß das 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Hoh-Kommando stimmen. Der Führer der Gruppe schreit und alle ziehen mit dem gleichen Ruck kräftig an.“ (RATHGEB 2006a: 96). „Schicht aus! War das Kommando für einen einzelnen Wochentag. Wenn dann die ganze Woche zu Ende war, hat der Partieführer geklopft, sein Ruf war dann, „Schicht im Wald!“. Beim Mittag war es auch so ähnlich. Er hat geklopft und hat geschrieen: ‚Mittag’, mit lauter Stimme. Die Antwort war immer dieselbe. Irgendeiner hat vielleicht auch geklopft, die Antwort war: ‚He di woi’ (Ich hör dich wohl). Wir haben diesen Brauch von unseren Vorgängern übernommen und wo es möglich war, wieder weitergegeben.“ (RATHGEB 2006a: 105). Im Zuge der Technisierung „ist die ganze Rufverständigung verloren gegangen durch die moderne Maschinenholzerntezeit.“ (RATHGEB 2006a: 102). Entscheidend für erfolgreiche Zusammenarbeit war oft weniger die Menge der Worte, als das gegenseitige Verstehen, die Sympathie. „Bei uns hat damals ein jeder eine Freude gehabt, als wir gespürt haben, wie das geht. Es ist ein schönes Erlebnis, wenn man mit einer Gruppe sieben so bärenstarker Burschen eine Leistung zustande bringt, was für manche andere keine Zumutung wäre. Wenn man den Zusammenhalt merkt, jeder mit jedem, ab und zu auch bis fast zum geht nicht mehr. Das schweißt die Kameradschaft zusammen.“ (RATHGEB 2006a: 97). Schwierig damit, wenn diese Voraussetzung nicht gegeben war: In einer Partie arbeitete auch der ältere Bruder des Partieführers, „ein flotter Kerl, der hat seinen eigenen Bruder nicht leiden mögen, sofort haben wir drei (anderen) zusammengehalten und der Partieführer ist dagestanden mit seinem Talent, wie der Ochs vom Berg.“ (RATHGEB 2006: 8). Als aufwendig erwiesen sich auch die Akkordlohnverhandlungen mit einem Forstmeister, von dem Rathgeb vermerkt, „die Ausstrahlung von dem Kerl hat mir nicht extra gefallen“, man brachte aber dennoch Toleranz auf, „Aber wir werden sehen, was sich ergibt.“ (RATHGEB 2006: 86). Kontrolle von außen war dem Holzknecht, der das selbständige Arbeiten gewohnt war, wenig genehm: Während einer Kulturarbeit, schreibt Rathgeb, kam plötzlich ein Mann daher, der „hat eine Büchse umgehängt und stellt sich vor. Er wäre der Partieführer bei der Kulturarbeit. Er müsse die Arbeitsstunden aufschreiben. (Ich) fragte ihn, wo er denn herkomme, bei uns hat kein Arbeiter eine Büchse umgehängt. Die Arbeit beginnt auch für einen Partieführer um sechs Uhr dreißig und nicht um neun Uhr Vormittag. Dann wollte er noch allerhand kommandieren, wie dieses und jenes gemacht werden muß.“ Doch, „Da war dann sofort ein Ende, das haben meine Nerven nicht vertragen. (Ich) erklärte ihm, damit du es genau weißt, unsere Arbeitsstunden schreibe ich schon selber.“ (RATHGEB 2006: 44f.). Empfindliche Reaktionen gab es auch dann, wenn der angebotenen Lohn zu weit von den Erwartungen der Holzknechte abwich, da wurde die Ablehnung sehr direkt ausgesprochen: „Sie junger Forstingenieur – er war der werdende junge Forstmeister – Sie haben während ihres Studierens außer die Arbeiter drücken und schikanieren, von und mit der Welt wahrscheinlich noch keine Erfahrung gemacht. Sie können sich ein paar Holzknecht aufzeichnen, wenn sie welche brauchen.“ (RATHGEB 2006: 114). Autorität einzufordern war eine heikle Frage – Ehrlichkeit und Geradlinigkeit zählte, selber die befohlene Arbeit zu beherrschen, war Grundvoraussetzung: „Meine Einstellung zur Holzarbeit ist folgende: wenn einer besser ist, den besseren Anschick und mehr Leistung

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bringen kann, wie ich, so einen Mann respektiere ich, der gibt mir ein Beispiel, von dem nehme ich gerne an.“ Aber „Mit diesem Partieführer habe ich mich von der ersten Stunde an nicht vertragen. (Ich) habe bald gemerkt, dass den Kerl überhaupt keiner mag, also ist es für mich auch keine Schande. Dieser Mann hatte nämlich eine ganz unangenehme Art. Als Partieführer hat er versucht, seine Leute zu verleumden, ihnen die gebührende Ehre zu schwächen. Selbst wollte er sich damit herausheben. Zum Hüttenleben hat mit ihm ja keiner eine Freude gehabt, weil sich der mit seinem schlechten Gewissen vor lauter Falschheit mit seinen Arbeitskollegen nicht unterhalten konnte. (…) Am nächsten Morgen sagte ich zu (einem Kollegen), tu du mit dem gescheiten Gimpel schneiden, ich vertrage mich nicht, ich übernehme die Putzarbeit. So ist es den ganzen Sommer geblieben.“ (RATHGEB 2006: 6). Ungeachtet des klaren Selbstbewusstseins der Holzarbeiter blieb die Kluft dieser Berufsgruppe zur Landwirtschaft, Rathgeb über eine Beziehung zu einer Bauerntochter, der vorgesehenen Hofübernehmerin: „gleichzeitig war sie traurig, weil ihr Vater so gehaust und geschimpft (hat), warum sie sich mit einem Holzknecht abgibt, einem solchen, der von der Landwirtschaft überhaupt nichts versteht und noch dazu mit einem Salzburger.“ (RATHGEB 2006a: 151). Peter Rathgeb erlernte die Feinheiten der Holzarbeit weitgehend durch praktische Arbeit. An formaler Ausbildung, die in seiner aktiven Zeit in der Waldwirtschaft zunehmend an Bedeutung gewann, gab es neben drei Tagen Sägeschulung in Tirol 1957 eine Forstarbeiterausbildung: „das war ein Schulungskurs mit einem Facharbeiterzeugnis als Abschluß, diese Schulung hat drei Wochen gedauert. Das war eine streng geordnete Anstalt, es waren vierzig Mann. Wir wurden gleich am ersten Tag beim Unterricht über die Ordnung und Disziplin unterrichtet, es wurde uns erklärt, jeder, (der) sich nicht an diese Ordnung hält, wird sofort entlassen.“ Die Androhungen schwächten sich ab, denn „in Wirklichkeit waren diese Herren feine Burschen. Aber sie mussten sich von Anfang an den gewissen Respekt verschaffen (…). Mir hat diese Schulung getaugt, ich habe allerhand gelernt und gehört, Sachen, (die) ich sonst nicht erfahren hätte, hauptsächlich beim Sägerichten. Wir hatten ja mehrere Prüfungen. Mit meiner Säge hatte ich die Note eins bekommen. Wir hatten ja als Ausrüstung eine Zugsäge und eine Putzhacke zu dieser Schulung mitnehmen müssen. Meine Zugsäge war am Anfang schon die beste, meine Putzhacke war auch in Ordnung, eine Schneid’ habe ich drauf gehabt, fast zum Rasieren.“ „Nur mein Stiel (der) Hacke, der hat den Herrn nicht gefallen, da wurde diskutiert, dieser Stiel hätte die falsche Krümmung. Mich hat das gleich ein bissl angezupft. Ich war (…) von derart zum Putzen eingearbeitet, (das ich mich fragte), wo ist der Mann, (der) es besser kann?“ Als Peter Rathgeb da noch halblaut vernehmen ließ, dass er das Prüfungsstück in der Praxis nie hernehmen würde, kostete ihm dies, wiederum nicht wirklich zu seiner Freude, umgehend das „Sehr gut“. (RATHGEB 2006: 57f.). Akkordlohnvereinbarungen zu Beginn einer selbständig übernommenen Arbeit waren eine wichtige Sache, hing davon ja der Verdienst eines ganzen Auftrages oder gar des gesamten Winters ab. Entsprechende Aufmerksamkeit schenkte Peter Rathgeb über die Jahre der Entwicklung der Holzknechtlöhne. In den Dreißigerjahren: „Ein Festmeter Bloch hat damals nur zehn bis dreizehn Schilling gekostet. Natürlich je nach Qualität 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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(…). Eine Holzknechtschicht hat damals nur zwei bis drei Schilling gekostet, bei einer elfstündigen Arbeitszeit. Ein Monatslohn für gewöhnliche Bauernknechte war von zehn bis fünfundzwanzig Schilling. (…) Der Preis für eine Kuh war damals zwischen zweiund dreihundert Schilling. (…) Damals wurde erzählt, ein guter Knecht kostet im Jahr die beste Kuh.“ Auf den Finanzhaushalt des Einzelnen umgelegt, „Ja, stellt’s euch vor, es hat einer ein lediges Kind, soll vielleicht dreißig oder vierzig Schilling Alimente zahlen und der hat nur einen Arbeitsplatz mit fünfundzwanzig Schilling Monatslohn. (…) Was für ein Elend war doch diese Zeit.“ (RATHGEB 2006a: 11). Über die Verdienstchancen im Jahr 1938, Peter Rathgeb arbeitete in der Landwirtschaft, „da kam eine Geldumwertung, drei zu zwei, von meinen fünfzehn Schilling Monatslohn hatte ich dann zehn Mark im Monat.“ Zeitgleich in der Forstwirtschaft, ohne Kost, Logis oder Naturalien: „Im Frühjahr wurden Holzknechte gesucht, für einen Elf-Stunden-Tag fünf Mark. Ein Jahr vorher wurden an derselben Stelle sechs Schilling für eine Schicht bezahlt, es ist sprunghaft aufwärts gegangen bei den Holzknechten. Damals war ich fast nicht zum halten, ich musste hinauf in den Wald.“ (RATHGEB 2006a: 20). Für Rathgeb war klar, dass Akkordlohnverhandlungen Angelegenheit für die ganze Partie war. Als ein neuer Forstmeister vorschlug, den Akkordlohn mit dem Partieführer allein auszuhandeln und die anderen inzwischen weiterarbeiten zu lassen, meinte er entschieden, „Das mache ich auf keinen Fall. Solange ich eine Partie führe, soll ein jeder von meine(n) Leuten hören und kennen lernen, wie das gemacht und errechnet wird. (Damit) es in der Partie kein Misstrauen gibt, will ich das genau so durchführen.“ Zudem, die Vorteile der Teamarbeit erkennend, „ein jeder hat Augen und ein jeder oft eine gute Idee und jeder soll seine Meinung sagen dürfen. Nur so kann ein gutes Zusammenarbeiten aufrecht erhalten bleiben.“ (RATHGEB 2006: 86). Akkordlohnverhandlungen waren mitunter langwierig, „volle zwei Stunden habe ich damals mit dem Forstmeister hin und her verhandelt. Um zwölf Uhr bin ich dann aus seiner Kanzlei herausgekommen, aber wir haben für zwei Winter eine Arbeit gehabt.“ (RATHGEB 2006: 108). Genauigkeit in der Buchführung war für Rathgeb die Grundvoraussetzung für klare Abrechnung innerhalb der Partie, „wie es bei mir schon immer Brauch war, alles aufschreiben. Jede Arbeitsschicht oder sogar Stunden von jedem einzelnen. Das war für die Abrechnung am Schluß ganz wichtig. Für die Küche (habe ich) eine eigene Liste geführt. Alles was wir zum Einkaufen brauchen (…) und was ein jeder dafür zu zahlen hat, habe ich ausgerechnet. Die Kasse habe auch ich geführt. Anfangs merkte ich ein wenig Misstrauen, aber als ich dann alles durch mein genaues Aufschreiben beweisen konnte, wurde mir anvertraut (…). Es war für mich allerhand zusätzliche Arbeit, aber mir ist nie etwas Unangenehmes passiert. Auf das bin ich stolz.“ (RATHGEB 2005: 122). Als sehr vorteilhaft erwies sich das Schreiben auf Durchschlag, damit hielt jeder die gleichen Unterlagen in der Hand und einmal ausgehandelte Akkordlohnvereinbarungen konnten nicht so leicht verschwinden und waren Basis für Neuverhandlungen. (RATHGEB 2006: 28f.). Auch das Holzmessen verlief lange Zeit gemeinsam, mit gegenseitiger Unterstützung, aber eben auch gegenseitiger Kontrolle der jeweiligen Interessensparteien: „es mussten immer zwei Holzknecht mithelfen. Der Revierförster hat geschrieben, ein Forstschüler

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musste mit der Zange messen und klassifizieren, die Qualität bekannt geben. Ein Arbeiter musste Schleifholz und Brennholz getrennt kennzeichnen. Meine Arbeit war die Bloch nummerieren, bei jedem fünften Stück die laufende Nummer ausrufen, damit keine Verwechslung entsteht.“ (RATHGEB 2006: 106). Ungeachtet unternehmerischer Weit- und Vorsicht verliefen manche der übernommenen Holzakkorde überhaupt nicht positiv für Rathgebs Partien: „Wir haben beinahe 800 Festmeter Holz gebracht. Wenn es so bleiben würde, hätte ich einen gewaltigen Verdienst. Aber es kam das Gegenteil. Am 18. Jänner 1951, es war ein Samstag, ist der Schnee gekommen. Es hat eine ganze Woche gestürmt und geschneit. Auf einem normalen Weg zwei Meter Schnee, wo es gestürmt und geweht hat, da sind gleich drei bis vier Meter Schnee angefallen. Am schlimmsten war es bei unseren Holzhäufen in den Gräben drinnen, überall sind die Lawinen heruntergefahren und haben die Holzhaufen und natürlich auch die Abfuhrstrecken verschüttet. Das größte Malheur war – ich habe keinen Katastrophenschutz in meinem Lieferakkordvertrag eingebaut!“ Die Arbeiter konnten drei Wochen kein Holz liefern, waren nur beim Schneeschaufeln, die Pferde waren umsonst zu füttern, Rathgeb: „Meine Holzlieferung ist daneben gegangen. Ich gebe nur mehr das schreckliche Ende bekannt. Habe zum Schluß alles, die Pferde und das ganze gebrochene Glump bahnverladen und (bin) wieder nach Taxenbach gesiedelt. Die Pferde hab’ ich gut beieinander gehabt, alle verkauft. Mit diesem Geld alles bezahlt, es sind keine fünfzig Schilling übrig geblieben. Das war schmerzlich, den ganzen Winter täglich sechzehn Stunden umsonst gearbeitet, vier Pferde (haben) umsonst gearbeitet, meine ganzen früheren Ersparnisse, fast zwanzigtausend Schillinge verloren. Ich war gut dreißig Jahre alt und wieder bettelarm. Mein alter Arbeitskollege, der Sepp, hat mir hundert Schilling geborgt. (…) Habe noch einmal alles verloren, nur die Gesundheit und der Wille zur Arbeit ist mir geblieben.“ (RATHGEB 2005:143ff.). Ein weiteres Mal wurde schlechte Holzqualität zum Verhängnis: „Im letzten Winter ist sehr viel Schnee gefallen, da ist es passiert, (dass) Wind und Schnee den ganzen Jungwald zerstört haben. Es war ein fürchterlicher Kreuz- und Quersaustall, aber das Gelände war gut, angenehm zum Arbeiten. Das ganze unbrauchbare Stangenholz und Wipfelwerch musste alles auf den Fratten. Zum Schluß sind (…) halt etliche Schleifholzstücke übriggeblieben. (Da) hat sich herausgestellt, der Verdienst war zum Verhungern zu viel und zum Leben zu wenig. Es war beim Schneiden viel zu viel unproduktive Arbeit mit wenig Festmetern. (Der) ganze Fleiß war umsonst.“ (RATHGEB 2005: 77f.). Zum Streitpunkt zwischen Forstmeister und Holzknechten entwickelte sich die Schlittenpauschale beim Holzliefern, ersterer war nicht bereit, für die von Bauern geliehenen Pferde zu zahlen. Wieder hat beim Arbeiten, so Rathgeb, „alles bestens funktioniert, mit der Lieferung waren wir fertig, nur die Schlittenpauschale fehlt noch. Das war ein fürchterliches Hin und Her! Der Forstmeister sagte, er zahlt doch für fremde Pferde keine Schlittenpauschale.“ Da geht Rathgeb einen neuen Weg, „Ich habe diesen Fall meiner gesetzlichen Interessenvertretung, also der Landarbeiterkammer, gemeldet. Es wurde mir versichert, dass sich die Kammer mit de(m) Herrn Forstmeister in Verbindung setzt. Es ist dann in der Forstverwaltung zu einer Verhandlung gekommen. Das war ein Auflauf, 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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an einem Freitag um zwei Uhr war die Verhandlung angesetzt. Von der Kammer sind der Präsident, also das Oberhaupt, und Rechtsanwalt gekommen. Von der Forstverwaltung waren der Forstmeister und der zu diesem Revier zuständige Oberförster und wir vier Forstarbeiter. Auf mich war der Forstmeister ohnedies schon sauer, weil ich zur Kammer gelaufen bin, mir wurde von dem Rechtsanwalt sofort der Rücken gedeckt.“ Der Kammerpräsident konnte den Forstmeister dann überzeugen, dass den Holzarbeitern die Schlittenpauschale in jedem Fall zustehe, also auch für geliehene Pferde. (RATHGEB 2006: 92). Unerfreulich Rathgebs Bekanntschaft mit den Regelungen der Steuer- und Sozialgesetzgebung: „(Ich) habe in diesem Sommer 665 Festmeter Holz geschlägert. Jetzt kommt die Akkordverrechnung. Das macht ein Steuerberater. Zum größten Malheur: Ich habe meine Helfer immer aus eigener Tasche bezahlt. Somit waren keine Auslagen vorhanden. Für den Steuerberater war ich der Alleinverdiener. Der hat scheinbar gesagt, das geht nicht, dieser Mann, also ich, würde ja mehr verdienen als ein Minister. So wurde mir wieder alles genommen. Meine Arbeit hat fünf Monate gedauert, mir wurden fünftausend Schilling als Sozialkosten, Krankenkasse und hauptsächlich als Steuer abgezogen, das sind im Monat tausend Schilling. Es war in der ganzen Gemeinde kein Bauernknecht mit tausend Schilling Monatslohn. Für mich blieb nur ein ganz geschmeidiger Stundenlohn von einem Sägearbeiter. Von meinen Überstunden ist nichts übrig geblieben. (…) Wenn ich an diese Zeit denke, steigen mir heute noch die Grausbirnen auf.“ Und völlig konsequent, „Am 23. Jänner, das war der Holzknechtpatron, da wurde ein Holzknechtball gefeiert. Ich bin nicht hingegangen, ich war von derart sauer, weil mir ja der Steuerberater meinen Akkordlohn weggenommen hat.“ (RATHGEB 2005: 147f., 2006:1). Mit zunehmendem Maschineneinsatz änderte sich die Kalkulation der Akkordarbeit erneut und grundlegend, in den Siebzigerjahren war neben dem Akkordpreis eine weitere Frage wichtig: „Was kostet eine Maschinenstunde?“ Hier war am besten, „einen Akkordstundenlohn ansetzen, (und) für die Traktoren, da gibt es beim Maschinenring eine Tabelle.“ Das Grundprinzip der harten Arbeit blieb: „Das wichtigste ist, fest fahren und alles aufschreiben.“ (RATHGEB 2006: 135). Auch die Folgejahre brachten genug Aufträge in der Waldarbeit, der Maschineneinsatz lief reibungslos. „Aber was mich jetzt erwartet“, so Peter Rathgeb in seinen Erinnerungen, „von dem hatte ich (zuvor) keine Ahnung“: die Forstverwaltung durfte über den Akkordvertrag die Schlepperstunden nicht ausbezahlen, ein Gewerbeschein wurde nötig. „Schon war bei mir der ganze Plan ruiniert, es gab nichts wie Ärger und Verdruß. Angefangen hat es sofort mit der Gewerbesteuer. Ich hatte ja keine Ahnung, in welches Faß ohne Boden ich da hineingetrieben bin. Diese Steuer, jene Steuer, eine jede Steuer hat einen anderen Namen. Sogar Sozialversicherung wurde verlangt. Im ersten Moment dachte ich mir, (wofür) braucht denn so ein kleiner Traktor eine Pension?“ Da überlegte Rathgeb schon, den Schlepper wieder zu verkaufen, doch die Landarbeiterkammer riet ab – zuviel erfolgversprechende Arbeit im Wald und beim Wegebau stand in der Region an. Und die Experten behielten recht, Rathgeb: „Es ist leichter geworden, aber von dem Finanzamt habe ich keine Ruh mehr gekriegt, bis ich in Pension gegangen bin.“ (RATHGEB 2006: 156f.).

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Aktives politisches oder gewerkschaftliches Engagement waren zunächst nicht Peter Rathgebs Thema, eher zufällig kommt er mit diesen Institutionen in Kontakt: „Ganz am Anfang (…) war ich, ohne mich zu fragen, ganz automatisch bei der Gewerkschaft aufgenommen worden. Ich hatte ja keine Ahnung, wie der Hase läuft bei so einem Betrieb. (…) Durch das Häuslbauen habe ich dann die Land- und Forstarbeiterkammer als gesetzliche Interessensvertretung kennen gelernt. Da wurde mir erklärt, die Kammermitglieder bestehen aus einem Viertel SPÖ-Gewerkschaftler und drei Viertel ÖVP. In dieser Landarbeiterkammer ist ein Rechtsanwalt, der dafür sorgt, wenn ein Dienstnehmer, ein Landarbeiter oder Forstarbeiter ungerecht oder schlecht behandelt und dadurch betrogen wird, dass ihm geholfen wird. Die Gewerkschaft besteht hauptsächlich aus SPÖ, freiwilligen Mitarbeitern. Ganz viel später, nach zwanzig Jahren, bin ich draufgekommen, dass beide Organisationen ganz wichtig sind.“ Wichtig war, dass „überhaupt einmal etwas entstanden ist, damit wir nicht die gleichen Bettler werden, wie unsere Vorfahren.“ (RATHGEB 2006: 80). Anfang der Sechzigerjahre wurde Rathgeb in die Landarbeiterkammer gewählt. Jedoch „da habe ich mich überhaupt nicht wohl gefühlt, das war für mich nicht die richtige Aufgabe. Da habe ich mir sofort mein Mundwerk verbrennt. Bei der ersten Vollversammlung habe ich mich über diese Ungerechtigkeit bei unserem Motorsägenproblem gemeldet. Ich habe vorgebracht, es gibt für den Sommer eine Werkzeugpauschal und für den Winter beim Liefern eine Schlittenpauschale. Es müsste sich ohne weiteres eine Motorsägenpauschale einrichten lassen können. Für (die) Leistungstabellen werden, wie man öfters hört, Millionen vergaukelt. Was ich für meine Anregung erlebt habe, da war ich gewaltig enttäuscht. Die Holzknechte von der anderen Fraktion haben meine Idee schon überhaupt nicht gelten lassen.“ „Diese Burschen waren immer gegen meine Ideen. Einer aus meiner Fraktion, es war ein Förster, dieser Mann hatte die Vorstellung, durch die Motorsäge wurden wir ja mehr verdienen. Dass wir uns dieses Mehrverdienen mit den Auslagen für die Motorsäge aus eigener Tasche kaufen müssen, (davon war keine Rede).“ Rathgeb, „Ich bin mit meinem ehrlichen Recht untergegangen. Ich war damals so sauer, dass ich am liebsten auf und davon wäre. Diese Motorsägenpauschale ist gekommen, aber erst viel später.“ Und so, „Ich habe zwei Perioden bei dieser Kammer ausgehalten, habe mich nie geborgen gefühlt.“ Vor der letzten Kammerwahl wollten dann noch weitere Förster in die Vertretung kommen, und damit war für Peter Rathgeb eine Beteiligung undenkbar: „für mich ist ein Förster ein dem Arbeitnehmer vorgesetzter Arbeitgeber (und) soll in diesem Fall nicht als Arbeitnehmer gewertet werden. Hauptsächlich deswegen habe ich nimmer mitgemacht.“ (RATHGEB 2006: 83). Die Frage des gesellschaftlichen Status des Holzknechtes – neuzeitlich, des Forstarbeiters – taucht wieder auf bei der Beerdigung eines Oberförsters: „bei seiner Begräbnis hat sich folgendes ergeben. Er hatte scheinbar bei seiner Familie den Wunsch geäußert, welche Männer ihn zu Grabe tragen sollen. Das waren drei seinige Försterkameraden und ein Forstarbeiter (Holzknecht), der Rathgeb Peter. Einer von den drei Förstern suchte mich unter den Trauergästen und erklärte mir, ich wäre zum Tragen auf seinem letzten Weg zum Friedhof von seiner Familie gewünscht worden. Momentan war ich überrascht, eigentlich ein wenig nervös. Aber bald kam mir der Gedanke, welche Ehre, dass ge5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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rade ich als einziger Forstarbeiter bin, der ihn auf seinem letzen Weg, auf den Friedhof zu seiner Ruhestätte tragen darf.“ Die vorhandenen Hierarchien wurden zumindest hier durchbrochen, doch letztlich blieb die persönliche Betroffenheit, es „war für mich schmerzlich, diesen guten, verständnisvollen Oberförster als meinen besten Arbeitgeber zu verlieren“ (RATHGEB 2006:161f.). Dass Holzarbeit gefährlich war und ist, braucht nicht diskutiert zu werden. In Rathgebs Jugendzeit war schlechtes Material eine der häufigen Unfallquellen. Ein Nachbar sprach den damals Siebzehnjährigen an: „Um dich Peter, mache ich mir Sorgen, diese Tatzen, die du da hast, das ist ein Glump, das ist nichts wert. Diese Tatzstiele sind vom Brechen nicht sicher, die Tatzen (haben) keine scharfen Griffe, (sind) ganz stumpf. Wenn da etwas brichst, wenn du stehen bleiben sollst, bei dem eisigen Weg, weil vielleicht ein Fuhrwerk entgegenkommt. Dann bist du mit einem Fuß im Grab und mit dem anderen im Gefängnis. Wenn das Gefährt nicht sicher ist, trägst du als Fahrer die Schuld.“ Rathgeb verwendete hinkünftig die Ausrüstung des Nachbarbauern. (RATHGEB 2006a: 16f.). Holzarbeit geschah und geschieht häufig in unwegsamem Gelände, Rathgeb sinniert über mögliche Verletzungen während der Arbeit im genannten Schaflbirg: „Wie hätte man einem solchen Menschen helfen können. Tragen allein oder zu zweit, fast unmöglich. Weit und breit kein Mensch erreichbar, es hat ja nichts gegeben, keinen Funk und keine Telefon, was war das für ein hilfloser Zustand.“ (RATHGEB 2006a: 47). Und: „Dieser Beruf hat fast alle Jahre einzelne Holzknechtleben gekostet, im Sommer beim Schlägern, im Herbst beim Holzpirschen und im Winter beim Holzziehen.“ (RATHGEB 2006a: 47). Peter Rathgeb selbst kommt vergleichsweise gut durch. Erwähnung finden zwei „unangenehme Pannen“ beim Holzziehen: „das erste Mal ist mir der Umschlagladen gebrochen, somit hatte ich hinten keine Bremse mehr. Plötzlich ist es dahingegangen mit mir, es wurde immer schneller, immer schneller. Da darfst du nur die Nerven nicht verlieren, wenn man doch die Kraft hat, durchzuhalten, dann kann man auf einer flachen Stelle die Fuhr noch zum stehen bleiben bringen.“ Das zweite Mal verklemmte sich auf eisigem Weg ein kantiges Kettenglied, Rathgeb blieb unverletzt. (RATHGEB 2005: 83f.). Unkonzentriert sticht er sich einmal mit dem Zugsägenblatt sechs Löcher in die Hand, doch selbst das heilte mit Lisolwasser, „es brennt wohl ungeheuer“, man mußte nur „solange behandeln, bis alle Wunden weiß werden und kein Tropfen Blut mehr kommt. Dann irgendein Heilmittel, ein Puder, eine Wundsalbe draufgeben. Ich habe in meinem Fall den Saft zwischen Baumrinde und einem Fichtenstamm hergenommen, (das) ist das allerbeste Heilmittel auf offener Wunde.“ (RATHGEB 2005: 129f.). Wegen eines Leistenbruches war Peter Rathgeb einige Wochen nicht bei der Arbeit, dann aufgrund einer Fußverletzung – dafür wurde, als er wieder bei der Partie war, das Tempo angezogen, er war ja ausgerastet! (RATHGEB 2005: 88,96). Glimpflich abgegangen ist folgende Ereignis „Während der Zeit, als wir bei dieser Blitzbaumaufarbeitung beschäftigt waren, hat sich einmal ein unheimlich grausames, gefährliches Unwetter zusammengebraut. Um zwei Uhr Nachmittag ist es so finster geworden, dass wir bei drei Meter Entfernung einer den anderen nicht mehr erkennen konnte. Ich sagte zum Hans, wohin? Was machen wir? Der Hans meinte, es sind genug wasserdichte Bäume vorhanden. Wir

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dürfen nicht beide unter einem Baum bleiben, wenn dieser Baum vom Blitz getroffen wird, sind wir womöglich beide verloren. (…) während wir uns da beraten wollten, ist der Wolkenbruch gebrochen. Die schweren, finsteren Gewitterwolken haben sich im alten Hochwald verhängt und wir mitten drinnen. Hagel und Regenwasser ist gleich fast schuhtief auf dem Waldboden daher geschwommen. Das Schrecklichste war der Blitz, hinten und vorn, und unten und oben hat der Blitz eingeschlagen. Die Feuer vom Blitz haben alle Farben gespielt, alles hat von Schwefelfeuer gestunken, da hat man wieder deutlich gemerkt, welche Kraftexplosion die Natur erzeugen kann.“ Schon kommt in der Erzählung wieder Sachlichkeit durch, „Kein Mensch ist imstande, so eine Blitzkraft nützlich zu verwenden“, jedoch auch, „es kann sich kein Mensch vorstellen, was ich für Angst gehabt habe.“ (RATHGEB 2006a: 222). Leicht gespenstisch auch diese Momente: „im Monat Juli hat es achtzig Zentimeter Schnee hergehaut (…) Bei uns im Wald hat es natürlich den Jungwald ziemlich zuagerichtet. Der war naß, alles hat sich angehängt, solang bis kracht hat. Das ist für einen Holzknecht ganz, ganz unheimlich, wenn es hint und vorn kracht und das Jungholz durch den schweren Schnee zusammenbrechen muß. So etwas muß man im Wald erleben, sonst kann man es nicht erzählen.“ (RATHGEB 2006a: 242). Kritisch war, als sich Anfang der Siebzigerjahre einer der Männer im Wald die Kniescheibe brach: „Wir haben diesen Mann vorerst aus seiner schmerzhaften Lage befreit und auf den Schnee gelegt. Wir müssen sofort den gebrochenen Fuß ruhig stellen. Dazu brauchen wir acht oder zehn ziemlich gerade Knüppel als Schiene rund um den Fuß. Aus einer Laubholzstauden haben wir notdürftig Bandagierschienen gebastelt. Dann habe ich meinen Pullover ausgezogen, über seine Hose um den gebrochenen Fuß gewickelt, diese Holzstäbe mit vielleicht siebzig Zentimeter Länge rund um den Fuß gelegt. (…) Dann haben wir beide unsere Wickelgamaschen, die Gelenksbinden, abgenommen und mit (diesen) die gebrochene Stelle von unten bis oben fest verschnürt.“ Einer der Kollegen blieb beim Patienten, der andere fuhr los, um Hilfe zu holen. Als der Rettungswagen mangels Schneeketten nicht zum Unfallort zufahren konnte, wurde der Verletzte kurzerhand auf einem Pferdegespann mit Heu verladen und so ins Krankenhaus gebracht. (RATHGEB 2006: 117ff.). Neue Gefahren brachte der Straßenverkehr mit sich, einmal schleuderte ein entgegenkommender Fernfahrer mit leerem Anhänger den Traktor der Holzknechtpartie gegen eine Straßenmauer. (RATHGEB 2006: 119). Was Peter Rathgeb gegen Ende seiner aktiven Holzarbeit sehr beschwerte, „Ich hatte damals plötzlich einen unbekannten schrecklichen Schmerz in meiner Herzgegend (…) ich sagte zu meinen Kameraden, vielleicht ist es die Motorsäge, das Gas und der Gestank, (die sind vielleicht) nicht gut für mein Herz. Ich probier das (Entrinden), da bin ich von der Motorsäge weit genug entfernt, der Saft zwischen Rinde und Stamm erzeugt eine wunderbare sauerstoffreiche Luft zum Einatmen, vielleicht wird mein Zustand besser.“ Das traf jedoch nicht zu, „ich (bin) hergehängt wie ein Packerl Kunsthonig.“ Die Erkrankung war ein Herzinfarkt, und die unerwartete Arbeitsunterbrechung für den Holzknecht schwer zu akzeptieren, „was wird aus mir werden, wenn ich mit fünfzig Jahren schon nicht mehr arbeiten kann?“ Der Arzt empfahl eine Ernährungsumstellung, rät die Beendigung der 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Holzknechtarbeit und als Therapie, „viel Bewegung, womöglich in einer Waldgegend.“ (RATHGEB 2006: 122–132). Nach der langwierigen Gesundung suchte sich Peter Rathgeb vorerst leichtere Arbeiten wie Jägersteige ausgraben oder Grenzsteine streichen. (RATHGEB 2006: 133). Dank der Maschinen, die vieles der starken körperlichen Arbeit übernahmen, konnte sich Rathgeb die Jahre bis zur Pensionierung – und darüber hinaus – doch wieder in der Holzarbeit engagieren. Ein bei Windwurfarbeiten zugezogener Oberschenkelhalsbruch plagte ebenso für Jahre. (RATHGEB 2006: 207, 212).

II.5 Die Ziehwege sind Vergangenheit – Rationalisierung der Waldarbeit

Die Mechanisierung der Arbeitsprozesse war die entscheidende Erfahrung der Aufbaujahre. Die neuen Methoden waren anfangs in Konkurrenz mit gewohnten Traditionen, Rathgeb vermerkt dazu immer wieder: „Es hat halt bald einmal geheißen, so ist es Brauch, und so wird es gemacht, ist immer so gewesen. Wenn es auch oft ein Blödsinn war, aber so stur waren die Einstellungen von unseren Vorgängern.“ (RATHGEB 2005: 68). „In meiner Jugendzeit (…) hat es für diesen Beruf kein anderes Werkzeug gegeben. Eine Zugsäge, ohne Abschraubheft, meistens keine gute Schneide, eine Putzhacke, einen Schepser, ein Schinder, ein Zapin, zum Holzpirschen und Gliedereisen. Zum Holzliefern einen Ziehschlitten, dazu Stelzeisen zum Aufwärtsgehen.“ (RATHGEB 2006a: 110). Erste Arbeitserleichterungen wurden von den Holzknechten selbst durch findiges Verbessern erzielt, in Peter Rathgebs Partien etwa die Erfindung des Weghobels zur Glättung der Wege während des Holzziehens. Die Bremsvorrichtungen an den Ziehschlitten hinterließen Erhöhungen bei den Wegen, die die nachfolgenden Transporte erschwerten oder nach mehreren Fahrten ganz verunmöglichten. Ein dem Schlitten nachgehängter Weghobel, der Schnee und Eis wegschleuderte und für die nächste Fahrt eine ebene Fläche hinterließ, schuf da, nach vielem und aufwändigem Ausprobieren, Abhilfe , „wie lange das gedauert hat, immer wieder etwas anderes ausprobiert, jedes Mal musste ich zum Schmied abends, wieder umbauen, und wieder anders. Der (Schmied) ist auch ungeduldig geworden, weil ich dauernd mit einer neuen Idee gekommen bin.“ Aber das Ergebnis ließ sich sehen: „auf alle Fälle ist der Weg dann so schön eben wie eine Tischplatte, über Nacht gefriert alles zusammen, am nächsten Tag ist auf so einem Weg ein wunderbares Fahren. Kein Mensch könnte es (händisch) so machen.“ Beim Akkordpreisaushandeln verschwieg die Partie freilich, dass anstelle der früher zusätzlich nötigen Arbeitskraft, dem Wegmacher, nun der neue Weghobel zum Einsatz kam und so für die Partie eine noch bessere Arbeitsleistung zu erzielen war. (RATHGEB 2006: 69, 79). Eine nächste Sorge, wie bringt man die schweren Ziehschlitten bergaufwärts zum Holzschlag: „Über verschiedene Möglichkeiten wurde diskutiert. Also, mit dem Selberziehen werden wir nicht fertig. Außerdem, mein Schlitten mit der ganzen Ausrüstung wiegt hundert Kilo, dazu noch der neue Weghobel, der wiegt alleine fünf Kilo. (…). Mit einer Fuhre herunter, das geht gut, aber wie bringen wir den Schlitten hinauf??“ Üblich war, dass Holzknechte die Schlitten selber hinaufzogen, so auch in der ersten

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Foto 5.8: Holzdrille 1960

Wochen der hier von Rathgeb geschilderten Holzzieharbeit, „dann war Schluß mit dem Schlittenhinaufziehen, mein Kollege sagte, ich bin doch kein Ochs, das mache ich nicht mit.“ (RATHGEB 2006: 72). Die erste Lösung war der Einsatz von Pferden. Ein Pferd, so die Überlegung, geht leichter mit zweihundert Kilo, als ein Mann mit einer hundert Kilo schweren Last. (RATHGEB 2006: 67f.). Eine weitere Möglichkeit, der Talwärtstransport zweier Fuhren gleichzeitig, um so Lademenge zu steigern und Fahrthäufigkeit zu verringern. Auch hier war eine neue Konstruktion zu entwickeln: „ich will, wenn der Weg gut ist, eine zweite Fuhre anhängen, das geht nur mit einer steifen Verbindung zur ersten. Der Mann der zweiten Fuhre kann während der Fahrt, wo es flach dahin geht, auf der steifen Verbindung stehen und so seinen Schlitten lenken. Wenn es bergab geht, kann er (selber bremsen).“ Wichtig war bei dieser Technik, dass die Verbindung während der Fahrt jederzeit losgelassen werden konnte, denn bei der hier geschilderten Holzbringung mussten die Fuhren aufgrund Steilheit des Geländes streckenweise getrennt geführt werden. Auch dieses „Anhängepatent“ ist durch immer-wieder-ausprobieren ausgefeilt worden, um schließlich erfolgreich genutzt werden zu können: „Am Anfang musste man sich erst einfahren, eingewöhnen, schön langsam immer mehr. So weit haben wir es getrieben, dass ich dann mit diesen Pferden mit zwölf Festmeter Holz (…) auf einmal fahren konnte. Dreimal sind wir gefahren, (also) dreißig Festmeter im Durchschnitt täglich.“ (RATHGEB 2006: 79). Erleichterung für die Holzknechte brachte Anfang der Fünfzigerjahre der mit Seilwinde und Dieselmotor betriebene Schlittenaufzug. „Für diese große Lieferung, für soviel Holz wurde ein Seilzug zum Schlittenhinaufziehen aufgebaut. Hoch oben im Hochwald wurde eine Motorhütte errichtet. Zu diesem Schlittenzug wurde eine moderne ZweiGang-Seilwinde gekauft, dazu ein 20-PS-Dieselmotor. Auf dieser Seilwinde waren hundert Meter Zehner-Seil drauf. Die Seilzugstrecke war in der geraden Richtung, von der Anhängestation bis zur letzten Ziachwegüberfahrt zirka 1200 Meter lang.“ Händisch ziehen war aufgrund häufig unwegsamer Geländebedingungen noch nicht völlig ausgeschlossen: „bei (einer) Überfahrt mussten wir abhängen und eine halbe Stunde unsere Schlitten bis zum höchsten Aufladeplatz ziehen.“ Dennoch ermöglichte der Einsatz des Seilzuges mehr Talfahrten als bisher, von der Kraftersparnis für die Holzknechte ganz

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abgesehen. (RATHGEB 2006: 53f.). Anfang der Siebzigerjahre waren ausschließlich motorbetriebene Zugmaschinen in Verwendung: „Selber Schlittenziehen oder mit einem Pferd herumwursteln, das wollten wir nicht mehr.“ (RATHGEB 2006: 153). Die Veränderungen der Holzbringung steigerten auch die Qualität des gelieferten Holzes, „Früher in meiner Jugend musste Holz oft weit durch den bestehenden Wald gepirscht (transportiert) werden, da wurden viele Bäume verletzt, (und) jeder Baum, (der) durch das Pirschen eine Rindenverletzung bekommen hat, und (das womöglich) immer wieder, ist natürlich faul geworden.“ (RATHGEB 2006: 113). Die zentrale Herausforderung – und angesichts der fordernden Handarbeit nahe liegend: „an dem Zugsägeproblem muß sich etwas ändern. Das muß leichter und schneller gehen.“ Peter Rathgeb nahm die Sache selbst in die Hand, ich „bin nach Saalfelden gefahren, da war ein Mann, der hat von Sägefeilen schon mehr Ahnung. Dieser Mann hat sich aus einem alten Postautobus eine Werkstatt gemacht. Ich habe ihm von meinem Anliegen erzählt. Dieser Mann hat mir einen guten Eindruck gemacht, aber er riet mir, ich soll nach Erpfendorf in Tirol fahren, dort hat sich schon eine größere Werkstatt entwickelt. Vielleicht kann (ich) ein paar Tage dort bleiben (und) gleich eine Grundausbildung machen. Er sagte, das ist das Beste und da kannst du gleich ein paar neue Sägen kaufen und durch seine Anleitung mit ihm tipp topp herrichten. (Der) hat auch die richtigen Feilen und andere Geräte (die) man zum Säge richten unbedingt haben muß.“ „Ich bin am vierten Tag erst heimgefahren (ich) habe viel gelernt und Erfahrung gesammelt, es wurde mir genau erklärt, wie ein Schneidezahn (…) ausschauen muß. Das war auch (für mich) der erste Mann, mit einem tadellosen Räumerzahn. Das war so eingeteilt: fünf Schneidezähne und ein etwas krumm geklopfter Hobelzahn.“ Der Lehrmeister forderte äußerste Genauigkeit: „dieser Zahn müsste nur einen halben Millimeter kürzer sein, dazu gab es (als Hilfsgerät) eine genaue Lehre. Der Spitzwinkel vom Zahn musste genau (stimmen) und auch der Schrägwinkel, wie die Feile geführt werden muß. Die Zugsäge muß genau eingespannt wein, (das) darf absolut nicht wackeln. Jeder Zahn muß genau gleich lang sein, dass alles hat mir dieser Mann eingepredigt. Mir (war) fast alles neu und ich war ihm dankbar.“ Rathgeb kaufte bei diesem Mann zwei Zugsägen, Fischerblattzugsägen, die er heute noch besitzt: „ich habe diese Sägen unter seiner Obhut selber richten müssen. Er hatte die Zähne ausgestanzt. Er sagte, es muß auf beiden Seiten ein Abschraubheft angebracht werden, ganz wichtig (und), zum ganz genau machen am Anfang Zeit lassen, mit der Übung wird es dann schneller.“ Die Investition war für den Holzknecht nicht unerheblich „Habe 1500 Schilling bezahlt, da war alles enthalten, Unterkunft, Verpflegung, die Grundausbildung, die Sägen und einige Hilfsgeräte. Es war nicht billig, aber ich war zufrieden. (Ich) bin dann von Tirol heimgefahren mit der Überzeugung, ich habe etwas mitgebracht für meinen Beruf.“ (RATHGEB 2005: 110f.). Sägerichten, Sägefeilen, eine gute Schneide machen, das war fortan Peters Aufgabe, seine Zugsägen waren immer in gutem Zustand: „die Abschraubgriffe, die neuen Zähne, meine Ausrüstung zum Sägefeilen, das alles war den Männern ganz neu, wo hast denn du das her, wurde ich gefragt.“ (RATHGEB 2005: 123). Schnell wurde klar, dass das präzise Sägefeilen eine brauchbare, arbeitserleichternde Maßnahme war, und so „haben wir neben unserer Hütte einen

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überdachten Sägefeilstand errichtet, so habe ich dann die wenige Freizeit genützt, meine erlernten Kenntnisse weiterzugeben.“ (RATHGEB 2005: 130). Musste während der Arbeit im Wald gefeilt werden, wusste man sich auch zu helfen, „(da) habe (ich) bei einem günstigen Stock einen schrägen Schnitt hineingeschnitten, die Säge mit dem Rücken hineingesteckt, mit zwei kleinen Keilen verklemmt und so eine neue Schneide gemacht.“ (RATHGEB 2005: 127). Auch die Holzkeile brauchten eine Verbesserung, Rathgeb nach der Rückkehr von seiner Sägeausbildung: „ich muß beim Wagner um ein gutes Keilholz umschauen, ich brauche zwei Paar Wurfkeile. Ein Paar mit vierzig Zentimeter Länge und ein Paar vielleicht mit schwachen dreißig Zentimeter Länge. Ich kam zum Wagner, der erzählte mir, er hat ein Akazienholz, das ist das härteste, das es gibt. (…) Dieses Holz war ein einmaliges Erlebnis. Der Wagner lag schon lang im Friedhof (aber) seine Keile waren immer noch bei mir im Einsatz.“ (RATHGEB 2006a: 171). Mit gut gefeilten Sägen ging die Arbeit um vieles leichter, „ein Drittel mehr Leistung“, erinnert sich Peter Rathgeb zufrieden. Zudem konnte er damals seine Kollegen wissen lassen, „es kommt noch etwas nach, die Industrie ist fest dabei, ganz ein neues Sägeblatt mit einer ganz anderen Bezahnung auf den Markt zu bringen. Das hat dieser Meister bei meiner Grundausbildung erzählt. In Kanada drüben sind sie schon dabei, eine EinmannMotorsäge herzustellen.“ Solche Neuigkeiten konnten die Holzknechte nur begrüßen (RATHGEB 2005: 129). Als bei einer Holzarbeit in äußerst schwierigen Gelände – die Bäume waren zum Teil abgestorben, der Wald ganz schlecht zu bearbeiten und Nutzholz blieb kaum übrig – eine Einmannsäge am effizientesten schien, kommt Rathgeb wieder auf seinen Lehrmeister in Tirol zurück, denn „dieser Mann kennt mich gut, der könnte etwas zustande bringen.“ Und tatsächlich, der Mann „konnte unseren Kummer voll und ganz verstehen, er meinte, in Schweden ist eine Firma, mit der er in Geschäftsverbindung ist. Der Schwedenstahl ist der beste für Sägeblätter, da habe (er) einmal ein Prospekt gesehen.“ Die dort angebotene Säge war sechzig Zentimeter lang, ganz schmal und krumm wie ein Messer, sie war damit ideal für dicht verwachsene Waldstücke, wie eben das hier zu bearbeitende. Die Bestellung funktionierte reibungslos, eine Woche später war die Säge da. Auch sie blieb eines der zentralen Arbeitsgeräte, „Dieses Fuchsschwanzl habe ich heute noch. Das war beim Hausbau die allerwichtigste Säge.“ (RATHGEB 2006: 9f.). Die Lanzenzahn-Fällsäge als weitere Neuerung am damaligen Zugsägenmarkt wurde von der Vertriebsfirma bei den Holzknechten gleich vor Ort im Wald vorgestellt – von einem Holzknecht versteht sich, denn einer, „der zur Arbeit keinen Anschick hat, den würden die Holzknechte nur auslachen.“ Auch sie überzeugte die Holzknechte, sie ließen den Verkäufer am Ende der Präsentation wissen: „gib uns diese Säge, dann brauchst du sie nicht hinunter zu tragen (und) wir brauchen die Säge da heroben.“ (RATHGEB 2006: 14f.). Abgesehen von der Weiterentwicklung der Holzbearbeitungsmaschinen brachte die Einführung der Speisethermos ein großes Stück Verbesserung für die Holzknechte, „somit hatten wir auch einen warmen Mittag, das war für uns ganz wichtig. Das ewige nur kalt Jausnen war auf lange Dauer das schlimmste im Beruf. Im Sommer ging’s ja noch, aber im Winter (…), saukalt, das Brot gefroren usw., da kann ein warmer Tee kein Wun5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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der wirken. Deshalb sind so viele Holzknechte magenleidend geworden.“ (RATHGEB 2006: 56). Erleichternd auch einfache Möglichkeiten des Schlechtwetterschutzes: „Einmal (…) hatte sich ein Gewitter zusammengebraut, es wurde immer finsterer, um zwei Uhr Nachmittag, bald haut es schon die ersten Hageln her, das grad so kleckt, Hageln wie Vogeleier (…)“. Da brachte der Förster ein Stück alte Autoplane für einen Unterstand und damit eine spürbare Verbesserung für die Arbeiter. „Erst viel später ist dann die Plastikfolie entstanden. Dann (…) hatte jeder so eine Folie, diese war leicht zum Tragen, man konnte alles zudecken, wenn es regnet – hinein unter die Folie und alles bleibt trocken.“ (RATHGEB 2006: 12f.). Der nächste entscheidende Schritt, „die ersten Motorsägen sind 1958 vom Ausland eingeführt worden.“ Da Rathgebs Nachbarpartien schon fallweise Motorsägen verwendeten, entstand auch für ihn Anfang der Sechzigerjahre die Idee, eine Gemeinschaftsmotorsäge zu kaufen. Es fanden sich vorerst jedoch keine Mitstreiter, „Es bleibt nichts anderes übrig, ich muß alleine eine Motorsäge kaufen. Habe mich für die große Mekuloch (…) eine kanadische Marke, entschlossen. Diese Säge hatte ein 60 cm Schwert, das Gemisch war 14 kg, der Kaufpreis zwölftausend Schilling.“ Bei diesem Kauf gab es einige Rückschläge, „Bald hat es mir durch Ungeschicklichkeit das Schwert gebrochen, der Preis (dafür): eintausend Schilling. Die Ketten ein schlechtes Material, eine Kette (kostet) 800 Schilling. Drei habe ich gehabt, alles (ist) zusammengebrochen. Der Motor so stark, das Material zu schwach, (ich) bin ganz verzweifelt, nichts als Unkosten.“ (RATHGEB 2006: 73f.). Dann kam innerhalb der Partie doch ein Gemeinschaftskauf zustande, diesmal fiel die Wahl auf ein deutsches Fabrikat, eine Stiehl Kontra mit einem Schwert von fünfzig Zentimeter Länge, automatischer Kettenschmierung, einer Zusatzpumpe, einem Kettenumlaufzahnrad beim Schwertende. Die Säge war um vier Kilo leichter, dazu um zweitausend Schilling billiger. Von da an hatte Rathgeb mit seiner kanadischen Motorsäge „überhaupt keine Freude mehr“, und war froh, sie an einen Bauern verkaufen zu können. Zwar forderte dieser einen Benzinkanister als Dreingabe, aber Rathgeb konnte sich so gleich auch eine Stiehl Kontra für den Privatgebrauch zulegen. (RATHGEB 2006: 81). Mit zunehmender Verwendung von Motorsägen verfiel der Preis, so Rathgeb verärgert, „in dem Moment war es aus mit diesen sechs Schilling pro Festmeter für die Motorsäge. Es wurde beim Akkordaushandeln ein Festmeterpreis aufgestellt, in diesem Preis ist alles enthalten. Alle Unkosten durch die Motorsäge mussten wir aus unserer Tasche bezahlen. (Somit) „hat eigentlich der Holzknecht die bessere Leistung zum Teil aus seiner eigenen Tasche bezahlt.“ „Als die Waldbesitzer merkten, dass die Leistung gestiegen ist, (damit) auch die Verdienstmöglichkeit, da war doch das erste, herunter mit dem Festmeterpreis. Der Gewinn, (der) durch die Motorsäge entstanden ist, der ist beim Waldbesitzer hängen geblieben und nicht bei dem Arbeiter, der diese Säge gekauft hat. Dieser Arbeiter musste ja dazuschauen, jede Arbeit anzunehmen, nur damit er bald wieder schuldenfrei wird.“ (RATHGEB 2006: 61, 82). Eine andere Schwierigkeit: In der Zugsägearbeit hatten die Holzknechte jahrelange Erfahrung, hatten geordnete Arbeitsabläufe. Nicht so mit der Motorsäge: „es war dann alles neu und umständlich. Es gab noch kein Maßband, keinen Plastikkeil. Der Motorsägebesitzer hatte nur die Motorsäge

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in der Hand. Der andere Mann als Gehilfe, in unserem Fall der alte Hansei, war mit ein paar Keilen und mit dem alten, zwei Meter langen Maßstangl und mit einer Hacke unterwegs. Er musste anmerken, dort wo durchgeschnitten werden musste. Also zur Ergänzung für die Schneidarbeit beschäftigt. (...) So unbeholfen und mit leerer Zeitverschwendung haben wir Holzknechte damals alle mit dem Motorsägebetrieb an(ge)fangen und kennenlernen müssen“ (RATHGEB 2006a: 282f.). Erfahrene Holzknechte hatten mit der händischen Sägearbeit vorerst weiter die Nase vorne: „wir haben um ein Viertel Festmeter mehr Tagesleistung pro Mann, obwohl wir einen alten Mann bei uns haben, (als) die Embacher Partie mit einer Motorsäge – (und das) bei gleichem Gelände und gleicher Holzqualität.“ (RATHGEB 2006: 59). „Das größte Übel war wohl, wenn die Motorsäge nicht gegangen ist. (Sie) springt nicht an, die Zeit geht verloren. (…) Keiner eine Ahnung, keiner kennt sich aus bei einem Motor, keiner hat etwas gelernt, (wir waren für) einen Motor zu dumm wie die Nacht finster. Die ersten Motorsägen waren ja so empfindlich beim Vergaser und wohl überhaupt noch nicht reif. Keine automatisierte Kettenschmierung. Die Schmierung musste man mit dem Daumen drücken, oft schmerzte der Daumen oder es war kein Öl mehr im Tank. Entweder ist die Kette heißgelaufen oder blieb im Schwert hängen. Meistens bei diesen starken Motoren sind die Ketten gerissen wie ein Schuhbandel. Dann war das Maleur groß. Wie sollten wir so eine Kette flicken? Keine Reserveglieder, kein Werkzeug. (…) Die ersten Motorsägen waren ja so laut und so schwer, unter zwölf Kilogramm hat es keine gegeben. Diese Maschinen waren so ungeheuerlich laut, bis zu acht PS starke Motoren, die Vibration so stark, dass gewisse Teile bei der Maschine ganz einfach einen Sprung bekamen. Ein jeder Ersatzteil kostete ein Vermögen bei diesen kanadischen oder schwedischen Maschinen. Unsere Händler haben sich saniert.“ (RATHGEB 2006: 63f.). Die Motivation zur Holzarbeit sank, zumindest bei Rathgeb: „Ich war oft so sauer und ich hatte zu meiner Lieblingsarbeit keine Freude mehr. Oft kam mir der Gedanke – (wer) so einen Sauhaufen anrichtet, der soll das auch selber aufarbeiten (…). Was wir während der Umstellungszeit mitgemacht haben, von dieser Zeit spricht heute kein Mensch mehr.“ (RATHGEB 2006: 62ff.). „Derjenige, der den ganzen Tag mit der Motorsäge schneiden muß, der weiß am Abend, warum das Kreuz schon so weh tut. (…) Ich weiß auch ganz genau, der ewige Motorenlärm und der Dieselauspuffrauch den ganzen Tag ist für die ganze Gesundheit sehr, sehr schlecht.“ (RATHGEB 2006a: 48). Der Moment, wo in der Erinnerung die neue Säge vor ihnen lag, scheint Peter Rathgeb dennoch der geeignete Moment, die zweite Strophe des Holzknechtliedes vorzubringen – ein Beleg für die einschneidende Veränderung in der Holzarbeit durch diese Maschine. Die darin besungenen Verhältnisse waren nun Vergangenheit „Sein bester Freund die Zugsag war / so hat er gsagelt, ja viele Jahr / und hiaz ist er alt und kann nicht mehr / die Zugsag ist ihm viel zu schwer / Da alte Holzknecht hat sei Leb’m im Wald verbracht / vom frühen Morgen bis oft spät in d’Nacht / da hat er g’hack und gsaglt und war niemals krank / dem Herrgott ich für dieses Leben Dank.“ (RATHGEB 2006a: 281). 1966 schafft Rathgebs Partie eine dritte Motorsäge an, damit, „wenn eine nicht geht, wir immer noch zwei Sägen haben.“ (RATHGEB 2006: 96). Der Umgang mit der Motorsäge war zu erlernen; heute, schreibt Peter Rathgeb, gibt 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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es „keinen zweiten Mann bei der Säge, da macht jeder allein, wenn er ein flotter Bursch ist. (…) Er schneidet den Baum um, setzt das Maßband an, putzt den Stamm mit der Säge, die in jeder Richtung schnittbereit ist. Er lässt die Säge viel auf dem Stamm rasten (spart so Kraft) und schneidet die Äste links und rechts herunter, kann sogar noch unterhalb am Stamm die Äste auch abtrennen, meistens bei vier Meter Länge wird der erste Durchschnitt gemacht. So geht das hinauf bis zum Wipfel und in kurzer Zeit ist ein Stamm fix und fertig. (RATHGEB 2006a: 287). Aus der Sicht des Handwerks gesehen, stimmen die Arbeitserleichterungen den Holzknecht wehmütig – das Geschick zum Sägefeilen zeichnete nicht mehr aus, sondern war von jedermann erledigbar: „Zum Schneid machen hat es ein Feilgerät gegeben, das habe ich bald begriffen, das war keine Wissenschaft, das macht fast ein jeder Blindgänger.“ (RATHGEB 2006: 64). Bei der Betriebsversammlung im Jahr 1964 war offenkundig, dass mit Einführung von Maschinen förmlich eine neuer Wind durch den Wald wehte: „was da der neue Forstmeister vorgeschrieben hat, das hat wohl bei keinem Holzknecht Platz gehabt. Er hat uns angeschafft, wir müssen das Holz nicht so sauber putzen, er will viel Quantität und nicht saubere Qualität. Er erklärt uns, ob das Bloch sauber geputzt ist oder nicht, deswegen wird das Sägewerk nicht mehr bezahlen, wenn da einmal ein paar Ast oder ein paar Rindenfetzen drauf bleiben, das spielt keine Rolle. Hinten und vorn spranzen, also die großen Äste entfernen, oder gar Fratten anlegen, das brauchen wir alles nicht mehr. Es wird die Zeit kommen, dass wir im Wald überhaupt nicht mehr schepsen. Dieses oft so weitmächtige Pirschen, (…) das wird alles Vergangenheit.“ Die Reaktion der anwesenden Holzknechte, „einer hat den anderen angeschaut, ganz verdutzt, ja ist das nächste dann vielleicht der Weltuntergang?!“ (RATHGEB 2006: 86). Geänderte Nachfrage am Holzmarkt gaben dem Rohstoff andere Wertigkeiten, für langjährige Holzknechte nicht leicht nachzuvollziehen. Rathgeb über einen Holzschlag 1968, „auf der halben Strecke sind wir in einen wunderschönen Lärchenwald gekommen, ein geschlossener, fast astreiner Lärchenbestand. (…) Das war das teuerste Holz in unserer Gegend. Uns hat der Bauch weh getan, wir müssen die schönsten Dachschindelbäume nur ohne Bedeutung liegen lassen.“ Die Forstleute hatten aus Sicht der Holzknechte kein Auge für den Wert derartigen Baumbestandes, denn „diese Kenntnisse kann man nirgends lernen, man muss das Holz verarbeiten, also selber die Schindeln machen, sonst erlernt man die Erfahrung nicht.“ Dem Holzknecht brach fast das Herz bei diesem Anblick, „Wir haben durch diesen Lärchenwald durchgeschlagen, die Schindelbloch sind da gelegen, wie die Wassernudeln so schön, es waren wahrscheinlich zweihundert Festmeter“, jedoch Sinn für geänderte Realitäten siegte auch hier, die Holzknechte konzentrieren sich auf Massenschnitt, wie ihnen aufgetragen ist, obwohl: „so wird durchs nichts Verstehen allerhand Wert verschenkt.“ (RATHGEB 2006: 111). Ähnlich beim Umschneiden einer Lärche. Die Holzknechte stoßen beim Anschnitt auf reichlich fließendes Pech, doch die Gewinnung desselben war zu dieser Zeit kein Thema mehr, „wenn man so eine Lärche angebohrt hätte, hätte es vielleicht fünfzig Liter Lärchenpech ergeben.“ Wichtiger war jetzt, „wir haben (zwar) eine halbe Stunde braucht, dass die Lärche umgefallen ist, (aber) der Säge ist nichts passiert.“ (RATHGEB 2005: 125). Auch das Holzmessen im Wald ge-

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hörte der Vergangenheit an, dies erfolgte weit schneller im Zuge der Weiterverarbeitung in den Sägewerken. (RATHGEB 2006: 171–174). Eine klare Verbesserung der Lebensqualität brachte steigende Mobilität für die Holzknechte. Das „fürchterlich viele Gehen“ prägte Kindheit und Jugendzeit von Peter Rathgeb. Auch in den ersten Jahren seiner aktiven Waldarbeit, die folgende Aussage gilt für 1953, waren die jeweiligen Arbeitsgebiete nur zu Fuß zu erreichen. „Dabei morgens und abends kilometerweit zu Fuß gehen, es waren ja noch keine Straße zum Fahren oder Hütten zum Übernachten.“ (RATHGEB 2006: 7). Der Besitz eines Fahrrades war da schon hilfreich, um zumindest auf den vorhandenen Verkehrswegen die Arbeitsausrüstung, immerhin an die sechzig Kilo, transportieren zu können. (RATHGEB 2006: 4). Manchmal boten die Holzknechte mit ihren Fuhrwerken ihrerseits Mitfahrgelegenheit, Rathgeb über die Vorkriegszeit: „in der Mittagszeit waren wir beim Hineinfahren in den Graben, das war schon bekannt (bei den Leuten), wegen des Aufsitzens bei uns Fuhrleuten. Zu dieser Zeit waren meistens Frauen vom Einkaufen unterwegs. Natürlich haben wir sie zum Aufsitzen eingeladen, für diese Gefälligkeit waren sie alle recht dankbar.“ Für den jungen Holzknecht der Nebeneffekt: „Dadurch habe ich ein Mädchen kennen gelernt. So ein Mitfahren-Können hat sich dann bald als eine heimliche Absicht entwickelt.“ (RATHGEB 2006a: 75). In manchen Orten und Tälern, etwa in das Rauriser Tal, gab es einen Postbus, und manchmal auch erste Fahrzeuge, etwa einen Traktor, wo bei entsprechender Absprache mit dem Fahrer ein streckenweises Mitfahren möglich wurde. (RATHGEB 2006: 39). Der Zug war das Transportmittel für weitere Entfernungen, bei Rathgeb etwa die Reise von der Steiermark in den Pinzgau, wobei hier Zeit keine Rolle spielen durfte, Rathgeb: „da ist uns immer ein Tag drauf gegangen“. (RATHGEB 2005: 90). Dann erwarb Rathgeb ein Fahrrad mit Hilfsmotor, „da bin ich immer Donnerstag abends heimgefahren.“ (RATHGEB 2006: 46). Mitte der Sechzigerjahre begann im Pinzgau der Forstwegebau zu greifen, „Jeder Wald wird aufgeschlossen, Hüttenleben für die Holzknecht wird Vergangenheit, weil ein jeder auf der Waldstraße heimfahren kann. (…) jede Forststraße wird so gebaut, dass jeder schwere Lastwagen mit Anhänger bis zu fünfundzwanzig oder dreißig Festmeter auflanden können. Deswegen (war der Auftrag) von Anfang an, die Trassen nicht zu schmal (zu) schlägern.“ (RATHGEB 2006: 84f.). Einer der jungen Holzknechte aus Rathgebs Partie legte die Führerscheinprüfung ab, und hatte aufgrund guter Beziehungen auch schon einen übertragenen VW in Aussicht. (RATHGEB 2006: 93). Nach der ersten Verkehrsstrafe wegen unerlaubten Schwarzfahrens folgt Peter Rathgeb dem Vorbild des jungen Kollegen und meldet sich zur Führerscheinprüfung an. Das ungewohnte Theoriepauken erwies sich neben der Holzarbeit zwar als sehr aufwendig, die Entscheidung war jedoch nicht zu bereuen: „Dieser Führerschein kostete mich 170 Schilling und zehn Meter Erlenholz. Ich fahre heute noch, aber nur in das Altersheim zum Mittagessen.“ (RATHGEB 2006: 102–105). Im Gebirge hatte der Luxus des täglichen Heimkommens für die Holzknechte insbesondere im Winter seinen Preis: „Beim gefährlichen Wetter bin ich schon um 5.45 zu Hause abgefahren. (…) am gefährlichsten war es, wenn’s eisig geworden ist (…). Daheim hat es schon angefangen, kann ich ohne Ketten den Berg hinunter oder nicht. Abwärts ist gefährlicher 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Foto 5.9: Holztransport mit LKW 1955

als aufwärts. Natürlich probiert man ohne Ketten, schön beim Berg dabei fahren, (dann) müsste es schon gehen. Aber bald merkt man, dass es gefährlich ist, das Auto hat keinen Stand, das ist so ein elendes Gefühl. Diese Angst geht durch Mark und Bein. Es bleibt fast das Blut stehen in den Adern, wenn man es dann doch geschafft hat, ist es dann wohl eine wohltuende Erleichterung. Aber nach ein paar Kilometer Bundesstraße muß ich (den Berg) hinauf, meine Arbeitskameraden abholen. Wieder so eine steile schmale Bergstraße, zwei Kilometer lang. (…) Wenn ich’s erkannt habe, heute ist es schlecht, habe ich sofort Ketten aufgelegt. Meistens war es putzfinster und eiskalt, eine unangenehme Arbeit. (…) Wenn man dann schon irgendwo dabei hängt, dann ist das Kettenauflegen erst recht ein Murxwerch. Das Rückwärtsfahren, wenn man mit dem Auto keinen Stand hat, ist das gefährlichste. Umkehren kann man sowieso nirgends bei so einer schmalen Straße. Es gibt nichts anderes als Kettenauflegen und nach vorne denken (…).“ Nachher, auf der stärker befahrenen, vielleicht auch schon vom Schnee gesäuberten Bundesstraße, kamen die Ketten wieder herunter, am Weg zum Arbeitsplatz, einer steilen, engen und eisigen Strecke, die Ketten natürlich wieder hinauf, „So ist das monatelang dahingegangen und immer putzfinster.“ (RATHGEB 2006: 146f.). Die Mobilität hatte eine weitere Schattenseite für die Holzarbeiter, Anfang der Sechzigerjahre „kam schon die Zeit, wo man an mehreren Orten zu gleich sein sollte.“ (RATHGEB 2006: 78). Dann eroberten Traktoren, Schlepper und Seilwinden den Wald. Peter Rathgeb war da munter dabei, 1966, „wegen der verfluchten Motorsäge, Benzin, Öl und sonst allerhand Zeug, was es immer zum Tragen gibt, habe ich mir einen kleinen Traktor mit Seilwinde gekauft.“ (RATHGEB 2006: 109f.). 1972: „Für so eine große Arbeit brauche ich einen etwas stärkeren Schlepper mit einem guten Dach, dann das ewige patschnass werden muss sich ändern, sonst könnte ich wieder einmal krank werden.“ Und so, „Ich erkundigte mich wegen Schlepperumtausch“ und schon steht der Kauf, „(ich) habe mir die neue Maschine angeschaut, mit dem neuen umsturzsicheren Dach, dazu um 10  PS mehr Kraft, acht Vorwärtsgänge und vier Rückwärtsgänge, zwei Zapfwellenge-

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schwindigkeiten, beim Dach eine Scheibenwischanlage. Starke Beleuchtung, auch einen Rückwärtsscheinwerfer, der war sogar beweglich. Alle haben wir eine Freude gehabt.“ (RATHGEB 2006: 155). Der Schlepper punktete aufgrund seiner Beweglichkeit, auf den noch in Verwendung stehenden schmalen Ziehwegen konnte kein Traktor eingesetzt werden. Zudem erkannte Rathgeb den Kauf einer Seilwinde als Chance am lokalen Markt für sich: „Auch das Selberfahren mit dem Schlepper war angenehm, überall hinkommen, fast auf der Stelle umkehren, mit dem Seil ein paar Bloch herziehen, anhängen, noch etwas dazu – und Abfahrt! Das war wunderbar und alles ohne einen Helfer, ohne Anstrengung. So hat das angefangen mit meiner Seilwinde. Das war damals in meiner Gegend die erste Spulseilwinde auf einem kleinen Allradknickschlepper mit 35 PS, das war wieder eine große Errungenschaft, ein mächtiger Fortschritt, ich konnte fast überall hinkommen, bei jedem Ziehweg hinauffahren, im Gelände ganz brauchbar, wo ich dann in den nächsten Jahren überall gefahren bin, da kommt kein großer Traktor hin.“ (RATHGEB 2006: 134ff.). Mit den Jahren wurde der Schlepper zu klein: „da bleibe ich immer im Schnee hängen. Einer meiner Arbeitskameraden war ja ein Bauer, (der) hatte im Sommer einen neuen Lindner Allradtraktor gekauft. Das war das richtige Fahrzeug für diese Arbeit.“ (RATHGEB 2006: 116). Die ideale Ergänzung zum leistungsstarken Traktor, die Schlepppfanne: „Das ist eine Stahl- oder Eisenplatte, zirka einen Meter lang, vorn aufgebogen, 1,50 Meter breit, in der Mitte ist ein Sattel draufgeschweißt, mit viel Eisenstiften, damit die Ladung einen besseren Halt bekommt. Auf dem gebogenen Teilstück ist eine eiserne, bewegliche Deichsel angebracht worden. Damit konnte man sich bei jeder Maschine oder Traktor anhängen. Das war eine brauchbare Erfindung. Auf so einen Schlepppfanne konnte man fünf bis sechs Festmeter aufladen, es war alles auf dem Boden, umstürzen war nicht möglich mit so einer Fuhr. Mit einer solchen Schlepppfanne konnte man in jeder Jahreszeit Holz liefern. Ohne Schnee ging es am besten.“ Mit dem Kauf von Schlepper und Traktor war wieder ein Meilenstein gelegt, „durch diese Erfindung wurde der Holzschlitten arbeitslos. Somit war auch das Pferd für die Lieferarbeit ausgeschaltet.“(RATHGEB 2006: 116f.). Mit steigender Produktionsgeschwindigkeit mussten Lagerraum und Abtransportgeschwindigkeit entsprechend erweitert und beschleunigt werden, „Am Holzladeplatz haben zwanzig Festmeter ohne weiteres genug Platz gehabt. Der Lastwagen ist alle Tage gekommen.“ (RATHGEB 2006: 158f.). Hand in Hand mit Schlägerungen ging der Trassenbau, auch dieser mit entsprechendem Maschineneinsatz: „Vom Bundesforstebauhof kam ein schwerer neuer Bagger, eine 24-Tonnen schwere Laderaupe und ein schwerer Knickschlepper mit 200 PS.“ „Ein jeder hat seine Maschine beherrscht, es war eine Freude zum Beobachten, wie das alles leicht ging. Plötzlich ist in diesem ruhigen Hochwald oben so ein Motorenlärm entstanden, als wenn der Teufel selber auf Erholung da wäre. Es waren acht Motorsägen und drei schwere Dieselfahrzeuge im Einsatz.“ Zur Verständigung zwischen Maschinenführern und Bauhofzentrale wurden Funkverbindungen eingerichtet (RATHGEB 2006: 171–174). Die Begleitumstände waren für die Forstarbeiter nach wie vor fordernd. Rathgeb über den Bau einer Waldstraße auf der Schattseite in 1 500 Meter Seehöhe, in tiefem Schnee, ohne 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Sonne und bei wochenlang zwanzig Grad Kälte: Trotz des gezielten Maschineneinsatzes war das „doch die schrecklichste Arbeit bei dem Schneehaufen. Jeder Stamm, wenn er umfällt, verschwindet im Schnee, dann sollst den Stamm entasten. Sobald man anfängt, steht man über den Bauch im Schnee, dann sollst die Äste abschneiden und man sieht überhaupt nichts. Wer in so einem Tal nicht imstande ist, fest zu arbeiten, der muß erfrieren, bei so einer Kälte musst ständig mit Tempo arbeiten. Das aber den ganzen Tag, die ganze Woche und die ganzen Wintermonate. Beim Mittagessen kannst dich oft nicht hinsetzen, weil man bis zum Bauch schon gefroren ist. Oft ist es halt just ein wenig essen und sofort wieder arbeiten, bevor es zu kalt wird.“ (RATHGEB 2006: 169). Rathgebs Maschinen wurden wieder zu klein, „ein schwerer Traktor zwischen 60 und 70 PS und dazu eine Seilwinde mit sechs Tonnen Zugkraftgarantie, das wäre jetzt die Wunschausrüstung. Arbeit wäre genug da.“ Der Forstmeister konnte ihm nicht so ganz eindeutig raten, ob der Umstieg tatsächlich auch sinnvoll wäre, so kalkulierte Peter Rathgeb selber: „ich habe in den letzten 15 Jahren drei solche kleine Schleppermaschinen gebraucht. (…) Ich habe um 40  % mehr eingenommen als ausgegeben. Das hat mich natürlich zum Umtausch angeregt.“ (RATHGEB 2006: 184f.). Das Angebot des Maschinenhändlers begeisterte den Technikinteressierten: „Er zeigt mir den Fiatallradtraktor mit 70 PS, der Allrad ist abschaltbar, zwei Zapfwellengeschwindigkeiten. Eine Komfortkabine mit moderner Heizung. Hinten und vorne eine Beleuchtung wie ein Lastwagen, da kannst bei zwanzig Grad Kälte noch mit Hemdärmel drinnen sitzen wie bei einem Auto. (Der) Motor läuft wie eine Nähmaschine.“ (RATHGEB 2006: 185f.). Die Probefahrt überzeugte, immerhin hatte der Traktor auch einen Schnellgang für die Straße, im Eintausch gegen den Schlepper und bei Kauf einer gebrauchten Seilwinde wurde die Maschine für Rathgeb auch leistbar. (RATHGEB 2006: 186ff.). Mit Freude „erzählte (ich) meiner Familie, dass wir es weit gebracht haben. Ein Haus und ein Auto, das haben schon mehrer Arbeiter, aber eine solche Arbeitsmaschine ohne Schulden, das hat wahrscheinlich noch keiner.“ (RATHGEB 2006: 190). Zum Traktor wurde später ein Schneeschild gekauft und eine weitere Nutzung ermöglicht (RATHGEB 2006: 206). Der regionale Maschinenhandel profitierte von der Technisierung: Rathgeb über den Traktorkauf 1980: „Aber was ich da erlebt habe, da habe ich geschaut. Dieser Mann hat jetzt, zwei Jahre später, eine große Werkstatt und eine riesige doppelte Maschinenhalle gebaut. Mir ist der Verstand fast stehen geblieben. Alles voll mit neue(n) Landmaschinen und jede Stärke Fiattraktor.“ (RATHGEB 2006: 185f.). Die Kehrseite des Maschineneinsatzes im Wald waren Bauten und Projekte, die, mit Abstand betrachtet, nicht erforderlich wären. Peter Rathgeb über eine Arbeit Ende der Siebzigerjahre: „da war der Auftrag, im ganzen Waldstraßengebiet müssen fünfzig Wasserschächte gebaut werden. Sie mussten ein Innenmaß von 1,50 Meter mal 1,50 Meter haben und einen Meter tief in den Straßengraben gesetzt werden. Für jeden Schacht werden fünf bis sechs Meter lange Kanalrohre eingebaut. Der Grund warum der Schacht so groß sein muß, war, dass ein vollgeschwemmter Schacht mit einem kleinen Baggerlöfffel wieder freigemacht werden konnte. Ich habe erzählt, seit meiner Jugend kenne ich diese Gegend, da ist noch nie ein Tropfen Wasser heruntergekommen. Da ist nämlich zweihundert Meter hinauf

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alles Geröll, da versickert jeder Tropfen.“ Und so: „es ist bis heute noch keine Tropfen in dieses teure Rohr hineingekommen.“ (RATHGEB 2006: 174–177). Einige Jahre später wichen die Traktor mit Seilwinde den rationelleren Bringungsmethoden mit Kippmast oder Langstreckenseilbahn: „die Stämme werden umgeschnitten, werden entastet, es wird ein Seil gespannt, die Stämme werden angehängt und am Lagerplatz durchgeschnitten.“ Oder noch schneller, „es wird eine Seilbahn aufgebaut, die Stämme werden umgeschnitten, (der) Stamm wird angehängt und ab die Post, an der Endstation steht ein Prozessor, der schnappt diesen Stamm, entastet und schneidet ihn durch, womöglich wird das Holz (auch gleich) sortiert.“ (RATHGEB 2006: 66). Gearbeitet wurde seit Ende der Zugsägenarbeit nicht mehr in Partien, „nur auseinander mit der Arbeit, sonst ist die Unfallgefahr viel zu hoch“ war der neue Sicherheitsgrundsatz (RATHGEB 2006: 170). Kontrolle über die Maschinen zu behalten wurde zur zentralen Aufgabe, Rathgeb über den Traktoreinsatz, da „merkte ich schon, wo der Weg so steil herunter geht, ich verliere den Halt, es geht mit mir dahin, da kam in mir das erste Mal eine Angst (auf ) und ich konnte mir nicht helfen. Beim Holzziehen, wenn es oft so eisig war, da konnte ich mich auf meine Kraft verlassen, aber auf dem Traktor oben, da bin ich machtlos.“ (RATHGEB 2006: 203). Maschinen steuerten das Arbeitstempo: „wir waren tatsächlich schnell bei dieser Trassenarbeit, aber bei den letzten zwanzig Metern hätte uns die große Raupe das Holz bald neben unserer Arbeite verschüttet. Zum Schluß war es eine Hetzerei, als wir die letzten Bloch aus der Trasse reißen mussten, (da) sind uns (durch die Arbeit der Raupe) schon die Steine und Wurzeln entgegengekommen.“ (RATHGEB 2006: 111f.).

II.6 Familiengründung und Eigenheimbau

Parallel zur Holzarbeit baute sich Peter Rathgeb mit seiner Familie ein Eigenheim. „Genauso wie ich es getan habe, so sind ganze Siedlungen entstanden. Noch dazu, die Häuser sind immer schöner geworden, weil wir ja alle gelernt haben, wie es geht.“ Einige Familien haben die Eigenheime so angelegt, dass sie auch vermieten und so ihre Einkommen mit Einnahmen aus dem Fremdenverkehr verbessern konnten. (RATHGEB 2006: 49). 1934 hatte Rathgebs Heimatgemeinde Taxenbach 390 Gebäude, 2006 waren es 820 Gebäude, was mehr als einer Verdoppelung gleichkommt (RATHGEB 2006a: 27). Die Bautätigkeit brachten tiefgreifende Veränderungen in der Region, berücksichtigt man die Einfachheit der Bausubstanz, wie sie Rathgeb für die Zwanziger und Dreißigerjahre beschreibt. „Es kann sich heute kein Mensch in das damalige bescheidene, arme Leben hineindenken. Wenn man nur denkt, so weit das Auge reicht, kein elektrisches Licht, (…) In dieser Zeit, (in der) ich aufgewachsen bin, da haben die Bergbauern in meiner Gegend noch keinen Sessel gekannt, es war nur eine Bank (vorhanden)“ „Fließendes Wasser in der Küche, das haben nur die Wohlhabenden gehabt und das waren ganz wenige. Bei den Bergbauern in meiner Gegend da war ein Brunnen vor oder hinter dem Haus. Die Zuleitung von der Quelle bis zum Brunntrog sind aus Lärchenholzrohren 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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gebaut worden. Eisenrohre für eine Druckleitung hat es nur selten gegeben. Von diesem Brunnen vor dem Haus wurde das Wasser in die Küche getragen. Im Winter musste man abends noch Wasser in die Küche tragen, (…) beim Brunntrog ist ja über Nacht alles vereist.“ „Ab und zu war bei diesen kleinen Bergbauern noch eine Rauchküche vorhanden, (in) den alten Bauernhäusern da war es im Winter so kalt, da wäre jede Wasserleitung abgefroren. (…). Der kälteste Schlafraum war in jedem Haus die Männerkammer, (bei uns) war da nie ein Fenster drin.“ Und „die Dächer waren meist mit Legschindeln zugedeckt, (das) braucht fürchterlich viel Arbeit, (und ist) gegen Sturm und für die innerliche Trockenheit bei weitem nicht sicher.“ (RATHGEB 2006a: 23ff.). Der von Norbert Ortmayr aufgezeigte, noch im ersten Jahrhundertdrittel typische Lebenslauf von landwirtschaftlichem Personal – uneheliche Geburt, Trennung von der Mutter, Aufwachsen als Ziehkind bei fremden Müttern, Jugend als Knecht oder Magd in fremden Haushalten und wiederum unehelich geborene Kinder (ORTMAYR 1992) – wurde in Peter Rathgebs Generation von vielen durchbrochen. Eheschließung wurde auch für Nicht-Hoferben möglich, der Traum vom eigenen Haus konnte mit jahrzehntelanger Eigenleistung und unter vielfachen Entbehrungen realisiert werden. Peter Rathgeb begann schon früh an seinem Haus zu bauen – kurz vor der Hochzeit konnte er seiner zukünftigen Frau verraten, „was (ich bisher) immer verschwiegen hatte, dass ich schon seit Herbst eine Wohnung habe und seit drei Jahren eine Schlafzimmereinrichtung. Ein guter Küchenherd ist im Auftrag. Eine Kücheneinrichtung brauchen wir noch, das sollst du aussuchen, da versteh ich nichts.“ Die bereits geschaffene finanzielle Basis erlaubte auch laut über Kinderwunsch nachzudenken, „Ja, und wie schaut es denn mit einem Kinderwagen aus oder ist das nicht möglich? (…) Wenn ich gesund bleiben kann, bin ich leicht fähig, eine Familie zu ernähren.“ (RATHGEB 2006: 26f.). „Die ganze Bautätigkeit, berichtet Rathgeb, „hat erst 1949 begonnen. Im Winter 1948 auf 1949 wurden die Lebensmittelkarten aufgelöst. Das war die Wende für eine bessere Zeit. Vorher haben wir Holzknechte bei unserer schweren Arbeit Hunger leiden müssen.“ „Die ersten Häuslbauer waren die Männer, die den Krieg überlebt haben. Viele (der) Männer haben die Heimat nicht mehr erlebt. Diese Männer waren damals im gesetzten Alter. Einige davon haben schon während des Krieges eine Familie gegründet, viele andere waren (gerade) dabei. (…) Der Drang war in jedem dieser Männer, etwas Eigenes zu schaffen. Sogar Kriegsinvalide mit Verletzungen haben mit dem Häuslbauen begonnen und es ist aufwärts gegangen. Ich kann mich noch gut erinnern, eine Scheidung in dieser schlechten Zeit hat es nirgends gegeben. Alle waren zufrieden, haben zusammengehalten, gearbeitet und gespart. Dieses Leben hat überall Früchte getragen.“ (RATHGEB 2006a: 27f.). Und so, „in Taxenbach die Sonnseite ist als ganz warmer Platz bekannt. Es heißt (in) einer Sage, Meran vom Pinzgau. (…) Es sind neue Häuser entstanden, die alten, ganz armen Kaluppen, die kennst nicht mehr, so viele neue Gebäude, Ställe und Häuser wurden umgebaut. Es gibt fast kein Haus ohne Blumen.“ (RATHGEB 2006a: 30). Die erste gemeinsame Wohnung von Peter Rathgeb und seiner Frau war das unbewohnte Haus eines Arbeitskollegen, „am 1. März wurde ich als Fuhrknecht wieder frei,

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habe sofort dieses Haus hergerichtet, die notwendigsten Möbel besorgt. Ende April 1954 war dann unsere bescheidene Hochzeit. Am nächsten Tag musste meine Braut um fünf Uhr aufstehen, (und) um sechs Uhr hat für mich die Arbeit begonnen.“ (RATHGEB 2006: 27f.). Die erste Tochter wurde geboren, „Es war ein gewaltig kalter Winter, dieses Häusl war eine kalte Budi. Kein einziger doppelter Fußboden, keine Winterfenster, ganz billige Türen. Im Schlafzimmer hatten wir ein Gitterbett für unser kleines Mädchen. Dieses kleine Tuchantl war oft ganz voll Raureif, das Mädchen (blieb glücklicherweise) kerngesund.“ Zwei Jahre später kam der Sohn zur Welt. (RATHGEB 2006: 33, 47). Rathgeb ist mit Hausbauplänen beschäftigt: „Bald einmal kam der Förster und redet mir zu, schau um einen Baugrund, dazu einen Bauplan, wenn du dann einen Holzauszug hast, bekommst du von uns ein Bauholz.“ 1955 wurde der Baugrund gekauft, der Bauplan kam von der Landarbeiterkammer, von der Forstverwaltung das Angebot, zum eigenen Verdienst Windrißholz aufzuarbeiten, „Beim Zusammenpirschen haben mir dann fünf Kameraden geholfen und nach zwei Samstagen war das Holz beim Zugweg zur Lieferung mit Pferden bereit. Zu dieser Lieferung hatte ich auch wieder Kameraden, die haben mir ganz billig ein paar Roß eingespannt und so haben wir das Holz in zwei Tagen zur Endstation gebracht.“ Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, „genau in diesen Tagen hatte es zweiunddreißig Grad Minus. Für die Fuhrleute war es ziemlich kalt.“ „Das Schleifholz bekam der Schleifholzhändler, die Bloch bekam das Sägewerk. Mein Bauholz habe ich selber zum Sägewerk gezogen.“ Aus eigener Kraft, wohlgemerkt, „in der Nacht (…) um vier Uhr war ich wohl fertig, aber so verbraucht, einen Hunger und einen Durst, einfach total am Ende, musste mich zusammenreißen, dass ich heimkomme.“ Der Grund für die übermenschliche Anstrengung: „Ich wollte mir den Fuhrlohn für ein Pferd ersparen.“ Der besorgten Ehefrau erklärte er, „wie habe ich mich doch so oft auf das äußerste geplagt, immer hat ein anderer den Nutzen gehabt und ich habe durch die Finger geschaut. Dieses Mal kommt es uns zu gute.“ Doch, „Heute denke ich mir, wie habe ich das ausgehalten? Um fünf Uhr früh bin ich von meiner Familie abgegangen, am nächsten Tag morgens bin ich erst wieder heimgekommen.“ (RATHGEB 2006: 36, RATHGEB 2006a: 248f.). Insgesamt, „dieses Jahr 1955 war ein gutes Jahr. Baugrund gekauft, einen Haufen Holz gearbeitet, in meiner kurzen Freizeit, trotz der so weiten Lieferung alles zum Verkauf gebracht. Es wurde die Forstverwaltung bezahlt, das Bauholzschneiden bezahlt, auch die Baugrundschulden mit fünfzehntausend Schilling konnte ich bezahlen. Zum Kellerbetonieren ist noch Geld übrig geblieben“ (RATHGEB 2006: 36). Als durchgedacht war, wie das Haus am besten auf dem felsigen und steilen Grundstück stehen konnte, begann im Frühjahr 1956 der Bau des Hauses: „Das erste war, eine Bauhütte aufstellen. Zum Häuslbauen braucht man allerhand Werkzeug und ein Wasser bei der Baustelle. Habe hundert Meter daneben eine Quelle gekauft um tausend Schilling, erst viel später habe ich erfahren, dass ein Wasser und ein Strom bei einem Baugrund dabei sein (müsste). Das Wasser musste ich teuer kaufen und (…) Strom war überhaupt keiner vorhanden.“ Auf dem Baugrund war Bauschutt vom nahegelegenen Güterwegebau abgelagert worden, der war irgendwie wegzubringen: „Der Partieführer vom Güterwegebau hat mir eine hölzerne, alte, halb kaputte Scheibtruhe geliehen. (…) 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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In dem kleinen Holztrücherl hat ja nichts Platz gehabt und ohne feste Unterlage mit Brettern konnte man überhaupt nicht fahren. Jede kleine Freizeit, auch Sonntagnachmittag, immer, später dann halbe Nächte habe ich bei meinem Baugrund verbracht, bin (mit der Arbeit) einfach nicht weitergekommen.“ Zufällig sieht Rathgeb da im Ort eine Schiebetruhe mit Gummirädern, „Da war ein Mann mit einer schweren Ladung Betonmörtel unterwegs, den habe ich aufgehalten. (Ich) bin vielleicht 10 Meter (damit) gefahren, so eine (…) muß ich sofort haben.“ Über einen Baumeister war sie auch zu haben, für 860 Schilling. Eine Zeit verkauft man dieselbe Truhe um ein Viertel billiger. Sehr zum Verdruß des Bauherrn, aber: „die Hauptsache ist, ich kann jetzt gut radeln.“ Denn, „eigentlich habe ich mit Pickel und Schaufel nie gar so gern gearbeitet, aber mit der Gummiradtruhe hat sich das gebessert, weil ich einen Haufen aufladen konnte, und (es) leicht zum Fahren ging.“ (RATHGEB 2006: 37f.). „Meinen Keller machte ich fertig, der halbe Keller war Felsen, es gab keinen Bagger, keinen Kompressor, nur mit Pickel und Schaufel und mit meiner Kraft (…) ging es vorwärts, aber halt langsam.“ „Die größte Schinderei war dann das Betonmischen mit der Hand. Es gab noch in der ganzen Gemeinde keine Mischmaschine. Dieses Betonmischen, natürlich zu zweit, das machte mich oft so fertig, am Montag war ich oft schlecht beieinander, einfach hundsmüde. Erst bei meiner Arbeit konnte ich mich wieder erholen.“ Der Keller wurde noch vor Allerheiligen fertig – nach diesem Zeitpunkt war im Gebirge ja jederzeit mit Wintereinbruch zu rechnen. „Noch schnell eine Betondecke drauf. Auch ein provisorisches Dach konnte ich draufmachen, bevor der Schnee und die Kälte kommt.“ (RATHGEB 2006a: 261). Aus dem Deputatholz dieses Jahres bestand Aussicht auf Holz für Türen und Fenster, die gute Kenntnis über die jeweils geeignete Verwendung von Holz waren dem Holzknecht da von Vorteil: „etliche schöne Stämme waren da oben. Vom Borkenkäfer die Rinde zerfressen, von der Außenansicht ein richtiges Brennholz, aber innen wunderbar gesund und schneeweiß. Für Türen und Fenster ganz günstig, weil ja diese Stämme schon ausgetrocknet waren. Deshalb sofort zum Sägewerk und dann zum Tischler. Im Frühjahr hatte ich schon die Türen und Fenster fertig und noch keine Schulden.“ Von der Landarbeiterkammer gab es eine finanzielle Bauhilfe, gegen die Verpflichtung, zehn Jahre bei der Berufsgruppe zu bleiben. Die Bedingung war für Peter Rathgeb problemlos einzugehen: „Das war wunderbar. Habe sofort rote Hohlblockziegel gekauft, Kalkzement, Mauerbinder, Sand usw. Den Zimmermeister, Spengler, Schlosser, das konnte ich alles über die Beihilfe bezahlen.“ Die Maurer haben Akkord gehabt, „wir haben den gebrannten Kalk, tausend Kilo, gelöst und so den heißen Mörtel zum Mauern hergenommen.“ „Hilfsarbeiter habe ich die meiste Zeit zwei gebraucht, ab und zu waren wir sogar vier Männer. Der Hilfsarbeiterlohn war hundert Schilling am Tag, das konnte ich aus meiner Tasche bezahlen.“ Nach einigen Wochenenden gebündelten Einsatzes stand der Rohbau. (RATHGEB 2006: 46f.). Es begann der Innenausbau, doch aufgrund einer Ischiasentzündung des Bauherrn rückt der Einzugstermin in enttäuschende Ferne. Irgendjemand rät, warmen Mursand auf die Entzündung zu legen – die Heilung gelingt und die Familie kann zeitgerecht ins neue Haus „Wir sind damals fürchterlich notdürftig eingezogen. Der Keller war nur

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halbfertig, im Erdgeschoss waren nur die Küche und ein Schlafzimmer halbwegs fertig. Kein elektrisches Licht. (…) Im ersten Winter stand unser Haus völlig im Rohbau da. Im Obergeschoss habe ich Fenster und Türen (vernagelt), beim Stiegenhaus das große Loch habe ich mit Bretter zugemacht und mit unserer Unterstandshüttenplane zugedeckt, damit es nicht so kalt wird. Das Haus war nur mit Papp abgedeckt.“ Zur größten Bescherung, am Weihnachtstag 1954 war kein Wasser mehr in der Leitung, die Quelle war ausgetrocknet, „zwei kleine Kinder, kein Wasser mehr und auch noch kein Licht. Aber meine Frau ist nicht verzweifelt. (Denn sie) hat sich überall zu helfen gewusst.“ In der früheren Wohnung musste das Wasser vom fünfzig Meter entfernten Nachbarbrunnen geholt werden. Die Lösung jetzt war, mit geliehenen Gartenschläuchen Oberflächenwasser ins Haus zu leiten, um so über den Winter zu kommen. Glücklicherweise, so Rathgeb, „ist niemand krank geworden.“ (RATHGEB 2006: 52, RATHGEB 2006a: 269). Im Frühling suchte Rathgeb sofort um einen Wasseranschluß an, „diese Anschlußmöglichkeit war fast in dreihundert Meter Entfernung. Ich musste über einen steilen Hang eine achtzig Zentimeter tiefe Zuleitung zu meinem Haus verlegen. Natürlich die Leitung selber bezahlen, das war der (nächste) saftige Kostenaufwand, der mich eigentlich unschuldig getroffen hat. Zum Glück hat es damals die ersten schwarzen Wasserleitungsrohre schon gegeben. Im Gewicht sehr leicht, in Fünfzig-Meter-Rollen verpackt und in jede Richtung beweglich. Zum Weiterverbinden (gab es) diese Holländerverbindungsstücke, sehr einfach zum verlegen. Hernach hatten wir wohl ein wunderbares Wasser!“ (RATHGEB 2006a: 271). Ab August 1958 gab es Strom im Haus, „das war ein wichtiger Schritt.“ „Vorher war ich einfach nicht im Stande, dass ich mir von der SAFE, das ist bei uns die Elektrische-Strom-Firma, eine dreihundert Meter lange Zuleitung bauen lassen konnte. Dazu brauchte ich ein paar Lichtmasten. Mit ein paar Lichtmasten-Lärchen waren mir die Bundesforste behilflich. Das war in meinem Beruf keine Schwierigkeit. Diese Lichtleitung wurde auf dem Grundverkäufer seiner sehr steilen Weidefläche gebaut. Für das Lichtmasten einsetzen dürfen musste ich dem Verkäufer eine Schicht machen.“ Dies schien dem Bauherrn ungerechtfertigt, hätte der Bauplatz ja von vornherein aufgeschlossen sein sollen. (RATHGEB 2006a: 272). Der Winterverdienst 1960 war ausgezeichnet, mit dem Geld konnte am Haus viel gemacht werden. (RATHGEB 2006: 71). Wie in den Holzakkorden läuft auch die Errichtung der Eigenheime über Zusammenarbeit, der Förster beispielsweise bittet die Forstarbeiter um Unterstützung bei seinem Hausbau „er will die Baublocksteine selber machen für sein Haus (…) das Wetter war gut, pirschen ging nicht, (damit war klar), das machen wir.“ „Am Anfang hat es uns gefeigelt, bis wir (zum Ziegelmachen) das richtige Mischverhältnis gefunden haben. Er hatte eine Rüttelmaschine dastehen und mich dazu eingeteilt. Das Mischverhältnis war folgendes: zwei Teile Sand, ein Teil Kalklösch, der gewisse Teil Zement, das Wasser musste ganz genau stimmen, damit der Baustein nicht beim Übertragen wieder auseinanderfällt. Zwei Leute waren bei der Mischmaschine, er selber hat den Mörtel in den Rüttler geschaufelt, ich habe den Rüttler bedient, mein Kollege hat die schweren Klötze zur Seite getragen zum Trocknen. Am Anfang war es zum Verzweifeln, immer wieder sind die Klötze beim 5 Inneralpine Waldwirtschaft der Aufbaujahre

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Hinstellen auf die Wiese zerfallen. Es ist dann besser geworden, am dritten Tag war dann schon unser Vorsatz, in einer Minute so einen Baustein fertig zu bringen. (…) Das Tempo, die Leistung wurde noch erhöht, es war dann soweit, dass wir in zwei Minuten drei solcher Steine fertig machten.“ Gut vorzustellen, „Der Mann, unser Förster, hat ja so eine Freud gehabt.“ (RATHGEB 2006: 67). Die Arbeit am Bau unterschied sich nicht wirklich von Waldarbeit, „es waren schon anstrengende Stunden auch dabei. Wenn eine Lastwagenfuhre Zement gekommen ist, alles offen, ohne Paletten, ohne Ladekran. Jeden Sack vom Lastwagen in die Bauhütte tragen und zwei Meter hoch aufstapeln. (Nach) einer Stunde weißt du, was Zementsackl tragen bedeutet.“ (RATHGEB 2006: 97).

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6 Klimawandel – Mögliche Auswirkungen auf die Forstwirtschaft und erforderlicher Forschungsbedarf Ernst Leitgeb, Michael Englisch1, Markus Neumann2, Thomas Geburek3

Globale Klimaänderungen und deren Konsequenzen für das Waldwachstum werden derzeit intensiv diskutiert. Ein Klimawandel wird allgemein angenommen, bezüglich des Ausmaßes gibt es aber noch viele offene Fragen. Großräumige Veränderungen des Klimas wirken sich auch auf regionaler, lokaler und stand­örtlicher Ebene aus. Zweifellos wird die prognostizierte Änderung der Temperatur- und Niederschlagsverhältnisse gravierende Aus­wirkungen auf die Vegetation haben. Sie ist daher eine große Herausforderung für die Waldbewirtschaftung, da waldbauliche Entscheidungen (zum Beispiel die Baum­arten- und Herkunfts­wahl) sehr langfristig wirken und künftige Ent­ wicklungen der Umwelt vorwegnehmen müssen.

1 Globale Klimaänderung – vom Menschen verursacht? Im Bericht des “Intergovernmental Panel of Climatic Change” (IPCC) wurde versucht, den menschlichen Einfluss auf die globale Lufttemperatur zu modellieren und den beobachteten Messwerten gegenüberzustellen. Nach diesen Modellansätzen wird ein Anstieg der mittleren globalen Lufttemperatur von 1,4 bis 5,8 °C prognos­tiziert, bei einer Verdoppelung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre sogar von 11 °C. Die beobachteten Werte (zurückreichend bis ins Jahr 1890), die sich aus natür­lichen und anthropogen bedingten Faktoren zusammensetzen, steigen seit den 70er Jahren deutlich an. Interessant ist dabei, dass der modellierte Verlauf der „natürlichen“ Temperatur nicht ansteigt, sondern sogar leicht fällt und – dem Modell nach – der beobachtete Anstieg der globalen Temperatur auf anthropogene Aktivitäten zurückzuführen ist (längerfristige Ent­ wicklung siehe Abb. 6.1).

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Dipl.-Ing. Dr. Ernst Leitgeb und Dipl.-Ing. Dr. Michael Englisch, Institut für Waldökologie und Boden, Bundesforschungs- und Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und Landschaft, Seckendorff-Gudent-Weg 8, 1131 Wien, E-Mail: [email protected] Dipl.-Ing. Dr. Markus Neumann, Institut für Waldwachstum und Waldbau, Bundesforschungs- und Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und Landschaft, Seckendorff-Gudent-Weg 8, 1131 Wien Univ.-Doz. Dr. Thomas Geburek, Institut für Genetik, Bundesforschungs- und Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und Landschaft, Hauptstraße 7, 1140 Wien 6 Klimawandel

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Auch hier findet sich der Anstieg der Temperatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Auffallend ist, dass es bereits im Atlantikum und Mittelalter länger andauernde Wärmeperioden gab. Diese „natürlichen“ Wärmeperioden sind durch einen allmählichen Temperaturanstieg gekennzeichnet und unterscheiden sich deutlich vom derzeitigen, raschen Anstieg. Die vom Menschen verursachten Klimaänderungen werden vor allem mit dem verstärkten Treibhauseffekt (oder „Glashauseffekt“) in Verbindung gebracht. Der Treibhaus­effekt ist an sich ein natürlicher Vorgang und sorgt für eine mittlere Temperatur von 15 °C auf der Erde. Ohne Treibhauseffekt würde die globale mittlere Temperatur bei ca. –17 °C liegen. Der Treibhauseffekt entsteht durch die Absorption der langwelligen Abstrahlung von der Erdoberfläche durch Spurengase (vor allem Kohlendioxid, aber auch Lachgas und Methan) in der untersten Schicht der Atmosphäre. Dabei wird ein Teil der Strahlung an die Erdoberfläche reflektiert. Die Spurengase wirken gleichsam wie das Glas in einem Gewächshaus. Lag der CO2-Gehalt im Jahr 1750 noch bei 280  ppm (Otto, 1994), ist der CO2Gehalt heute auf 360 ppm angestiegen. Anhand von Bohrkernproben aus der Antarktis („Vostok“-Eiskern) konnte man den CO2-Gehalt bis ans Ende der Riss-Eiszeit rekonstruieren. So hohe CO2-Konzentrationen wie heute gab es im gesamten Untersuchungszeitraum, auch im nacheiszeitlichen Wärmeoptimum des Atlantikums, nicht. Neben dem An­­­stieg der Treibhausgase gibt es auch noch andere Indizien, wie zum Beispiel den Gletscherrückgang und den Anstieg des Meeres­spiegels, die für eine massive Klima­änderung sprechen. Inwieweit sich Rückkoppelungseffekte auswirken, kann derzeit noch kaum abgeschätzt werden: „Positiv“ (und somit zusätzlich temperatursteigernd) zu sehen sind Methanausgasungen aus Permafrostböden, der Ozeanboden und die Wasserdampfwolken; „negativ“ wirken zum Beispiel Wärmespeicherung durch Ozeane oder Fein(staub) partikel in der Atmosphäre.

1.1 Mögliche Auswirkung auf das Waldwachstum

Viele Klimamodelle gehen von einer Zunahme der Temperatur und von einer Veränderung des Niederschlagsregimes aus. Gängige Niederschlagsprognosen sind sehr ungenau und lassen sich nur schwer auf regionaler Ebene auflösen. Der Niederschlag ist aber entscheidend für das Waldwachstum. Neben der Jahressumme ist auch die jahreszeitliche Verteilung der Niederschläge von großer Bedeutung. Gerade dieser Detaillierungsgrad sowie kleinräumliche, regionale Prognosen sind derzeit noch nicht möglich. Auch die Temperaturerhöhung beeinflusst den Wasserhaushalt unserer Wälder, da durch erhöhte Temperaturen zusätzlicher Wasserbedarf der Pflanzen verursacht wird (Abb. 6.2). Geht man von einem Anstieg der Temperatur und einem Gleichbleiben oder leichten Absinken der Niederschläge, wie in den meisten Klimamodellen für Österreich prognostiziert wird, aus, ist mit einer Veränderung der Waldgesellschaften zu rechnen. Generell gilt, dass es in Gebieten, die derzeit schon relativ geringe Niederschläge (< 700–800mm)

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aufweisen, zu vermehrten Problemen mit Trockenstress kommen wird. In den niederschlagsreicheren Regionen wird es möglicherweise zu veränderten Konkurrenzverhältnissen unter den Baumarten mit entsprechenden Auswirkungen auf die waldbauliche Steuerung kommen. Im Gebirge kann dies zu einer Veränderung der Waldgesellschaften an der oberen Waldgrenze führen. Besonders gravierend können die Folgen an der unteren Waldgrenze zu spüren sein. Im niederschlagsarmen, sommerwarmen Osten Österreichs herrschen jetzt bereits für das Wachstum einiger Wirtschaftsbaumarten kritische Umweltbedingungen. Bei einer weiteren Verschärfung des Klimas wird das Wachstum der heimischen Baumarten – und damit die forstliche Nutzung generell in Frage gestellt. In den betroffenen Regionen hat der Wald oft eine große Bedeutung als Erosionsschutz zur Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion – die Nutzfunktion tritt zurück. Diese groben regionalen Vorgaben werden durch den Standort zum Teil stark modifiziert. Je nach Standortsbedingungen können die großklimatischen Einflüsse verstärkt oder abgeschwächt werden. So bieten zum Beispiel frische Standorte mit tiefgründigen Böden den Bäumen bessere Wuchsbedingungen bei Trocken(stress)perioden als trockene, flachgründige Kuppenstandorte. Aus diesem Grund wird es in Zukunft noch viel wichtiger werden, detaillierte Kenntnisse über die jeweiligen Standortsbedingungen bzw. den Wasserhaushalt von Waldbeständen zu haben, damit die wahrscheinlich immer knapper werdenden Wasservorräte mancher Standorte optimal genutzt werden können und besonders problematische Standorte identifiziert werden können. Solide Standortskenntnisse (Standortskartierung, Standortserkundung) werden an Bedeutung gewinnen. Auf ökologisch sensiblen Standorten wird die Einhaltung der standörtlichen Vorgaben enger zu sehen sein. Auf regionaler Ebene gibt die ökologische Charakterisierung der Wuchsgebiete (siehe http://bfw.ac.at/rz/bfwcms.web?dok=1144) eine grobe Orientierung über die Waldgesellschaften und Stand­ortsverhältnisse. Waldgesellschaften in folgenden Wuchsgebieten sind bei den unterstellten Annahmen besonders anfällig: • In den tieferen Lagen (< 1000 m) der kontinentalen Innenalpen, also in Gebieten mit derzeit bereits geringen Niederschlägen kann es vor allem in fichtenreichen Beständen zu zunehmender Mortalität und zu einem Ersatz durch Eiche und Kiefer kommen. Im nördlichen Alpenvorland, in Teilen des Mühl- und Waldviertels und im subillyrischen Hügel- und Terrassenland kann die Fichte vermehrt durch die Buche abgelöst werden, je nach den lokalen Standortsverhältnissen. In den tieferen Lagen kann die Buche auch durch die Eichenarten konkurrenziert werden. • Im Pannonischen Tief- und Hügelland mit Traubeneichen, Steileichen und Hainbuchen sind gravierende Auswirkungen zu befürchten. Die heimische Baumartengarnitur, eventuell abgesehen von Zerr- und Flaumeiche, könnte keine Basis mehr für eine geordnete Waldwirtschaft darstellen. Die großflächige Verwendung ausländischer Baumarten, die mit Klimabedingungen zurechtkommen, wie sie derzeit in der südosteuropäischen Balkaneichenzone herrschen (12,5 °C Jahresmitteltemperatur, 500 mm NS) ist riskant, da ökologische Wechselwirkungen mit der heimischen Fauna und Flora beziehungsweise genetische Aspekte noch weitgehend unbekannt sind. 6 Klimawandel

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1.2 Baumartenwahl und Waldwirtschaft im Lichte des Klimawandels

In Anbetracht der unsicheren Entwicklung der Umweltbedingungen ist die ökologische Eignung der einzelnen Baum­arten am Standort verstärkt zu berücksichtigen. Besonders auf den heute schon „problematischen“ Standorten können die Baumartenwahl und andere Waldbaumaßnahmen weiter eingeschränkt bzw. verändert werden. Leider ist zu den physiologischen Ansprüchen der Baumarten zu wenig bekannt, meist sind in der Literatur nur qualitative Aussagen zu finden, die sich meistens auf die Hauptbaumarten, wie Fichte und Buche, beziehen. Ein weiteres Manko ist, dass bis dato keinerlei genetische Differenzierung der Baumarten in Hinblick auf deren Um­ weltansprüche möglich ist. Für die nachfolgende grobe klimatische Charakterisierung einzelner Baumarten wurden die Temperatursumme – sie errechnet sich aus der Summe der 14 Uhr-Temperaturen der Tage mit täglichen Temperaturminimum > 5 °C und Tagesmaxima > 15 °C – und der mittlere Jahresniederschlag verwendet. Diese Werte stellen nur einen groben Rahmen dar, der durch den Standort (vor allem durch die Bodenverhältnisse) modifiziert werden kann. Für die Fichte ist ein jährlicher Niederschlag von mehr als 600 mm, davon mindestens 300–350 mm in der Vegetationszeit, erforderlich. Ab einer Temperatursumme von 3050 °C steigt die Anfälligkeit gegenüber Sekundär­ schädlingen und die Konkurrenzkraft nimmt ab (Abb. 6.3). Sind zusätzlich die Niederschlagsverhältnisse ungünstig (600  mm bis maximal 700 mm), ist das Risiko für die Fichte sehr hoch. Abbildung 3 zeigt das Zusammenspiel von Temperatursumme und Niederschlagsmenge in Bezug auf das Risiko. Ausgehend von diesen Überlegungen werden die Risikogebiete für Fichte dargestellt (Abb. 6.4). Lokale, standörtliche Einflüsse bleiben bei dieser Generalisierung ausge­klammert. Abb. 6.3: Risikobewertung für Fichte auf Basis von Klimaparametern

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Bei Buche reicht die in der Literatur angeführte Bandbreite für die kritische Mindestniederschlags­summe von 500 mm bis 750 mm. Bezüglich der Temperaturansprüche wird für die Buche, wenn sie bestandesbildend auftritt, eine Mindesttemperatursumme von 2150 °C angegeben (Kazda & Englisch, 2005); dies entspricht einer langjährigen Jahresmitteltemperatur von ca. 5,5 °C. Felbermeier (1994) gibt für bayerische Buchenbestände einen Temperaturbereich von 4 bis 9,5 °C (Jahresmittel) an. Spätfrost schränkt das Buchenwachstum oft zusätzlich ein. Stieleiche bevorzugt im Vergleich zu Buche eher kontinentaleres Klima und stellt höhere Temperaturansprüche. Eichen kommen aber mit unterschiedlichen Bodenwasserhaushaltsverhältnissen zurecht. Um auf die Folgen von möglichen Klimaänderungen (Temperaturanstieg, veränderte Niederschlagsver­hältnisse) vorbereitet zu sein, müssen die Standortsbedingungen und die Baumartenansprüche vermehrt beachtet werden. Besondere Vorsicht ist auf ökologisch sensiblen Standorten geboten. Die Mischung von stand­ortstauglichen Baumarten kann ebenfalls zur Risikominderung beitragen. Auf jeden Fall wird ein verstärktes waldbauliches Engagement erforderlich werden.

1.3 Ausblick – Forschungsfragen

Neben den bereits erwähnten genetischen Fragestellungen ist eine genauere Charakteristik der wichtigsten Baumartenansprüche, insbesondere in Hinblick auf Trockenstress erforderlich. Hier bestehen zum Teil noch große Unsicherheiten, vor allem in Hinblick auf den Wasserbedarf unserer Baumarten. Es gibt in Österreich nur ganz wenige Untersuchungen, die sich mit der Messung der Verdunstung von Waldbeständen beschäftigen. Da es einerseits an quantitativen Aussagen zu den Ansprüchen der Baumarten an den Standort(-swasserhaushalt) mangelt und andererseits gerade im Wald längerfristige Messungen zu Schlüsselgrößen des Standortswasserhaushalts, wie baumspezifischen Transpirationsraten und Bodenwassergehalten, fehlen (siehe oben), wären die folgenden fachlichen Aktivitäten wünschenswert: • Verbesserung der Aussagen über den Wasserverbrauch österreichischer Hauptbaumarten wie Fichte, Buche oder Eiche als Daten- und Modellierungsgrundlage für die zukünftige Klimafolgenforschung • Verknüpfung dieser Erkenntnisse mit den europaweiten Monitoringprojekten und damit Verbesserung der Aussagekraft der gewonnenen Ergebnisse • Erhöhung der Übertragbarkeit der gewonnenen Ergebnisse durch Kalibrierung eines hydrologischen Modells zum Standortswasserhaushalt an für die Baumarten typischen Standorten • Vergleich des Wasserverbrauchs mit dem Verlauf des vor Ort gemessenen Zuwachses der Bäume • Sammeln von zusätzlichen Informationen (Literaturrecherche) über den Wasserverbrauch anderer wesentlicher Baumarten Damit könnten wesentliche Beiträge zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die ös6 Klimawandel

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terreichischen Waldökosysteme geliefert werden und präzisere Anpassungs-Maßnahmen durchgeführt werden.

2 Wie reagieren die Bäume auf Temperatur und Niederschlag Das Wachstum der Bäume ist einerseits ihre wesentliche Lebensäußerung, andererseits die wirtschaftliche Grundlage der Forstwirtschaft und der Holzindustrie. Die Untersuchung der Zuwachsleistung stand daher seit Beginn der forstlichen Forschung im Mittelpunkt des Interesses. Im Laufe der letzten 150 Jahre wurden dazu verschiedene Methoden und Instrumente entwickelt. Moderne Technik ermöglicht heute dauerregistrierende Messungen, die laufend per Funk an das BFW gesendet werden.

2.1 Welche Methoden stehen zur Verfügung?

In der Waldwachstumsforschung werden Einzelbäume und Bestände in Versuchsreihen periodisch gemessen und daraus mittlere Zuwächse abgeleitet Darüber hinaus werden auch die Wuchsleistung für längere Abschnitte oder die gesamte Umtriebszeit bestimmt. Zur Untersuchung der jährlichen Zuwachsleistung sind diese periodischen Messungen mangels feinerer zeitlicher Auflösung jedoch kaum geeignet. Die Aufnahmegenauigkeit dieser periodischen Aufnahmen mit herkömmlichen Messinstrumenten ist aber oft geringer als der zu erwartende Zuwachs. Diese Lücke kann durch die Analyse der jährlichen Zuwächse an Bohrkernen und Stammscheiben relativ leicht geschlossen werden. Eine noch feinere zeitliche Auflösung ermöglichen fix angebrachte Umfangmaßbänder, insbesondere wenn sie mit automatischen Aufzeichnungsvorrichtungen kombiniert sind (Abb. 6.5). Abb. 6.5: Mit elektronischen Dendrometern sind hochempfindliche Messungen der Umfangsänderungen in so kurzen Zeitintervallen möglich, dass nicht nur der Jahreszuwachs sondern auch das Quellen und Schwinden der Bäume im Tagesverlauf erkenntlich wird.

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Erste solche Apparate installierte Friedrich im Garten von Mariabrunn bereits 1891 und publizierte Ergebnisse davon 1897. Heutige elektronische Instrumente der Umfangmessung, sowie der Erfassung von bodenphysikalischen Parametern und der Einsatz von Datenloggern und Funkübertragung eröffnen nun faszinierende weitere Möglichkeiten.

2.2 Analyse der Jahrringe

Der längerfristig mittlere Zuwachs der einzelnen Bäume wird im Wesentlichen durch Genetik, Konkurrenz und Bestandesbehandlung, den Standort und das Klima gesteuert. Die kurzfristige Variation des Zuwachses von Jahr zu Jahr ist hingegen überwiegend durch die Witterung beeinflusst und kann durch biotische Schadeinflüsse reduziert werden. Auch durch Samenjahre ist eine merkbare Reduktion der Zuwachsleistung möglich. Im Zuge der periodischen Erhebungsarbeiten der Österreichischen Waldinventur wurden in den letzten Jahrzehnten Bohrkerne gewonnen, deren Auswertung repräsentative Information über die jährliche Variation des Zuwachsverhaltens gibt und auch eine Beurteilung der längerfristigen Veränderung zulässt. Werden Jahrringserien von vielen Bäumen verglichen, so zeigen einzelne Jahre eine gleichläufige Zu- oder Abnahme der Jahrringbreiten. Solche Jahrringmuster von positiven oder negativen „Weiserjahren“ entstehen, wenn der Holzzuwachs weniger von den individuellen Lebensumständen eines Baumes als viel mehr von der (über-)regional wirkenden Witterung geprägt wird. Einzelne Weiserjahre finden sich bei verschiedenen Baumarten und können einen überregionalen Witterungseinfluss auf das Baumwachstum belegen. In der Abbildung 6.6 sind die Jahre 1913, 1948 und 1976 Beispiele für negative Weiserjahre, die bei mehreren Baumarten festgestellt werden konnten. Das Jahr 1976 war durch eine europaweite Trockenperiode im generell besonders sensiblen Übergangszeitraum vom Frühjahr zum Sommer gekennzeichnet, was zu einer deutlichen und in weiten Teilen Mitteleuropas auftretenden Zuwachsreduktion führte. Abb. 6.7: Auch in Weiserjahren ist die Reaktion nicht einheitlich, im Trockenjahr 1976 hatten Fichten in tieferen Lagen deutliche Zuwachseinbußen, hingegen Zugewinne in Lagen über 1500 m.

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Auch in einem so markanten Jahr wie 1976 waren aber keineswegs alle Bäume in gleichem Ausmaß betroffen, wie die Abbildung 6.7 zeigt: Deutlichen Reduktionen im Zuwachs in tieferen Lagen stehen leichte Zuwachszunahmen der höheren Lagen gegenüber. Offenbar profitierten die Bäume in der hochmontanen bis subalpinen Höhenstufe von den überdurchschnittlich hohen Temperaturen im Juni und Juli dieses Jahres, während sich die Trockenperiode von Ende Mai bis Anfang Juli in diesen Regionen nicht auswirkte. Die Ursache dafür war vermutlich die vom Winter noch verfügbare Bodenfeuchte, die Trockenstress und damit Zuwachseinbußen verhinderte. In tieferen und somit wärmeren Lagen hatte die höhere Temperatur hingegen keinen positiven Effekt und die Trockenperiode fiel genau in den Zeitraum des höchsten Wachstums und damit des größten Wasserbedarfs. Dieses Beispiel zeigt, dass Jahresdurchschnittswerte für derartige Analysen nicht aussagekräftig sind, vielmehr sind für eine gute Interpretation Informationen für kürzere Zeiträume notwendig.

2.3 Permanente Messungen

Der Wunsch nach zeitlich noch feiner aufgelösten Ergebnissen führte zur Entwicklung von permanent registrierenden Messinstrumenten zur Erfassung der Klimasituation und der Zuwachsreaktion. Im Rahmen des von der Europäischen Gemeinschaft kofinanzierten Programms „Forest Focus“ wurden 1998 auf zwei Dauerbeobachtungsflächen waldnahe Klimastationen eingerichtet und mit automatischen Registriereinrichtungen versehen, dieses europaweite Waldmonitoring wird nun durch das Finanzierungsinstrument Life+ gefördert (http://bfw.ac.at/rz/bfwcms.web?dok=7866). Im Jahr 2002 wurden dort in dem nahe gelegenen Beobachtungsbestand an mehreren Bäumen permanente Umfangsmaßbänder (sogenannte Dendrometer) zur automatischen Erfassung der Umfangveränderung installiert. Ergänzt wurden diese Messungen durch die Erfassung der Bodenfeuchte und -temperatur in mehreren Bodentiefen in unmittelbarer Nähe zu den mit Dendrometern ausgestatteten Bäumen. Eine Fläche liegt in dem hochmontanen Fichtenwald auf 1 600 m Seehöhe in der Nähe von Murau in der Steiermark, die andere im submontanen Buchenwald auf 450–500 m Seehöhe im Wienerwald. Dort wurden sowohl Buche wie Fichte in zwei benachbarten Beständen erfasst. Ergebnisse von vier besonders aussagekräftigen Jahren dieser zwei Probeflächen werden folgend näher dargestellt. Die ausgewählten vier Beobachtungsjahre unterschieden sich hinsichtlich der Witterung insbes. der Niederschlagsmenge und -verteilung wesentlich voneinander (http:// www.zamg.ac.at/): 2002 war bei in großen Teilen Österreichs überdurchschnittlichen Niederschlagsmengen allgemein sehr warm. 2003 war allgemein überdurchschnittlich warm mit unterdurchschnittlichen Niederschlagsmengen in großen Teilen Österreichs. Das Jahr 2004 war bei unterschiedlichen Niederschlagsverhältnissen normal bis leicht übernormal temperiert. Auch 2005 wies unterschiedliche Niederschlagsverhältnisse auf und zeigte leicht unterdurchschnittliche Temperaturen. Diese Charakteristiken für das

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Jahr gelten auch für die Wachstumsperiode, extrem trocken und warm war nur das Jahr 2003, während 2002 zwar etwas wärmer als 2003 war, jedoch ausreichende Niederschläge aufwies. Nach Monaten waren 2003 der Juni und der August extrem trocken, verschärft wurde die Situation durch ein ebenfalls sehr trockenes Frühjahr.

2.4 Reaktionen der Buche

Auswertungen der Dendrometermessungen (Abb. 6.8) zeigen bei der Buche in diesen vier Jahren einen alljährlichen Beginn der Umfangzunahme gegen Ende April bzw. Anfang Mai, darauf folgt eine ungefähr drei Monate dauernde Wachstumsperiode und gegen Mitte August wird der Radialzuwachs abgeschlossen. Je nach Niederschlägen und Bodenwasserverfügbarkeit zeigen sich Schwindungs- und Quellvorgänge im Hochsommer. Vor allem nach sommerlichen Regenfällen quellen die Stämme deutlich auf. Im Herbst bleiben die Durchmesser ziemlich stabil, während im Winter starke Schwankungen registriert werden, mit Minimalwerten bei Frost. Das trockene Jahr 2003 weicht von diesem Verlauf dadurch ab, dass das Dickenwachstum schon früher abgeschlossen wird und das sommerliche Schwinden und Quellen sehr ausgeprägt ist. Der durchschnittliche jährliche Umfangzuwachs beträgt in allen vier Jahren etwa 9 mm, das entspricht einer Durchmesserzunahme von etwa 3 mm pro Jahr bzw. 12 mm im gesamten Zeitraum.

Abb. 6.8: Die Umfangentwicklung von Fichte und Buche zeigt unterschiedlichen Verlauf, die Wachstumsreduktion im Trockenjahr 2003 ist bei Fichte viel deutlicher ausgeprägt als bei Buche.

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2.5 Fichte reagiert etwas anders

Bei den Fichten zeigt sich ein prinzipiell zwar ein ähnliches Bild. Die alljährliche Durchmesserzunahme setzt etwas früher ein als bei der Buche und die Periode starken Quellens und Schwindens im Sommer ist etwas ausgeprägter. Im Jahr 2003 fällt aber im Vergleich zu allen anderen Jahren eine deutlich geringere Zuwachsleistung auf, die nur ein Drittel bis ein Viertel beträgt. Trotz des äußerst geringen Zuwachses im Jahr 2003 mit nur etwa 1 mm nimmt der Durchmesser in den vier Jahren insgesamt um 16 mm zu. Im Detail zeigt die Abbildung 6.9 die wachstumsrelevanten Monate Mai und Juni des trockenen Jahres 2003: Trotz einiger Niederschläge nimmt die Bodenfeuchte fast kontinuierlich ab und erreicht Anfang Juni offenbar kritische Werte, sodass das Wachstum weitgehend eingestellt wird. Die wenigen feuchteren Tage Mitte Juni reichen nicht für einen wesentlichen Zuwachs aus, während in den anderen Jahren der Juni der Monat des stärksten Zuwachses war.

Abb. 6.9: Die für das Wachstum in tieferen Lagen entscheidenden Monate im Jahr 2003 zeigen, dass im Mai noch normales Wachstum möglich war, Niederschläge verhindern die Tagesgänge; die Niederschläge im Juni konnten die Abnahme der Bodenfeuchte nicht nachhaltig stoppen und daher wurde die durch Quellen entstandene Durchmesserzunahme in der Monatsmitte durch das folgende Schwinden wieder wettgemacht.

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2.6 Zusammenschau

Mögliche Untersuchungen zu kurzfristig zuwachswirksamen Ereignissen können retrospektiv an Stammanalysen und Bohrkernen durchgeführt werden. Die kontinuierliche Erfassung des Baumumfangs mit elektronischen Umfangmaßbändern bietet durch tägliche, ja stündliche zeitliche Auflösung darüber hinaus noch detaillierte Ergebnisse. Mit dendrochronologischen Methoden wurde gezeigt, wie sich Wachstumsvorgänge über verschieden lange Zeiträume (Jahresgang, Bestandesalter) verfolgen lassen und in wie weit sich typische Witterungsereignisse in Zuwachsreaktionen abbilden. Die zeitlich hoch auflösende, permanente Umfangmessung mit Dendrometern gehört zu einer der Spezialisierungen des Instituts für Waldwachstum und Waldbau und wird am BFW in Zusammenarbeit mit dem Institut für Waldökologie und Boden durchgeführt. Das Messverfahren ist so fein, dass Tagesgänge des Quellens und Schwindens beobachtet und mit Hilfe der Messdaten der Klimastation und der Bodenfeuchteerfassung interpretiert werden können. Die Untersuchungen sind noch lange nicht abgeschlossenen, es lässt sich jedoch schon jetzt ableiten, dass das Wasserangebot (Niederschläge bzw. Bodenwasservorräte) im Zuwachs entscheidenden Zeitraum von April bis Juli maßgeblich ist. Die Wasserversorgung während der Vegetationsperiode ist der wichtigste Einflussfaktor für den Zuwachs auf einem bestimmten Standort, doch gerade der Niederschlag wird von den einzelnen Klimamodellen sehr unterschiedlich vorhergesagt. Auf Grundlage dieser Modellvorstellungen sind Prognosen des Zuwachses daher wesentlich schwieriger zu erstellen als rückblickende Jahrringanalysen mit davon abgeleiteten Klimarekonstruktionen.

2.7 Klimaänderung – das Aus für Fichte?

Der dargestellte Vergleich zwischen Buche und Fichte lässt eine höhere Empfindlichkeit der Fichte auf Trockenheit erkennen. Daraus muss man eine Erhöhung des Bewirtschaftungsrisikos für Fichte in klimatisch kritischen Randgebieten und tieferen Lagen ableiten. Nachdem dieses Risiko durch hier nicht untersuchte biotische Schäden noch wesentlich verstärkt wird, muss diesem Effekt durch waldbauliche Maßnahmen (Verringerung der Umtriebszeit, Verringerung der allgemeinen Schadensdisposition, Stärkung der Einzelbaumvitalität und Maßnahmen der Waldhygiene) möglichst entgegen gewirkt werden. Auf standortgemäße Mischbaumarten ist jedenfalls zur Risikostreuung verstärktes Augenmerk zu richten. Eine generelle Abkehr von der Fichte als wirtschaftliche Hauptbaumart in ihrem eigentlichen Verbreitungsgebiet in höheren Lagen erscheint jedoch nicht angebracht.

2.8 Ausblick – Forschungsfragen

Die hier dargestellten Ergebnisse stellen nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus den laufenden Untersuchungen dar. Dennoch zeigen sie bereits die Unterschiedlichkeit der Re7 Wald und Tourismus

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aktionen auf, sowohl hinsichtlich der Baumarten als auch hinsichtlich des jährlichen Witterungsverlaufs. Für abgesicherte Aussagen über mögliche Entwicklungen und zur Ableitung von Anpassungsstrategien sind diese vorläufigen Ergebnisse noch nicht ausreichend. Es muss daher einerseits das intensive Beobachten mit hochsensiblen Messgeräten fortgesetzt werden, andrerseits großräumig repräsentative Ergebnisse verknüpft und diese schließlich in Modellen zusammengefasst werden. Die verfügbaren Informationen aus der Österreichischen Waldinventur werden in einem derzeit laufenden Forschungsvorhaben dazu genutzt, um klimasensitive Einzelbaumwachstumsmodelle zu entwickeln. Zusätzlich dazu werden weiterhin Daten aus dem intensiven Monitoringprogramm benötigt, um feinaufgelöste Informationen für Detailaussagen zur Frage des Zusammenwirken zwischen Bodenfeuchte, Witterung und Zuwachs zu haben. Seit vergangenem Jahr wurden auf vier zusätzlichen anderen Standorten umfassende Beobachtungsflächen die Dendrometerbeobachtungen aufgenommen. Die aufwendigen Installationen dafür wurden im Rahmen des EU-Finanzierungsinstruments Life+ kofinanziert, es besteht zu hoffen, dass auch die weitere Beobachtung über das Jahr 2010 hinaus entsprechende Unterstützung finden wird.

3 Kimawandel – Forstliche Maßnahmen aus genetischer Sicht Viele der österreichischen Wälder werden natürlich verjüngt. Angesichts eines Klimawandels stellt sich die Frage, ob die nachfolgenden Baumgenerationen auch unter den sich ändernden Umweltbedingungen die von ihnen erwartete Leistung (Holzproduktion, Schutzwaldfunktion etc.) erbringen können. Änderungen des Klimas können dazu führen, dass lokal einzelne Waldbestände unter den veränderten Umweltbedingungen nicht mehr existieren können. Absterben einzelner Bäume oder zumindest ein eingeschränktes Wachstum und eine geringere Reproduktion (Samenund Pollenbildung) können die Folgen sein. Dies ist nur dann vermeidbar, wenn sich die Waldbestände an die sich rasch verändernden Umweltbedingungen anpassen können.

3.1 Reaktion der Bäume auf Klimaänderungen

Bäume haben ein genetisch bedingtes Anpassungspotenzial. Im Vergleich zu kurzlebigen Pflanzen ist dieses sehr ausgeprägt. Bäumen müssen im Laufe ihrer natürlichen langen Lebensdauer vielfältige Umweltreize physiologisch beantworten, wenn sie überleben wollen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn der einzelne Baum eine große genetische Vielfalt aufweist. Bäume mit einer hohen genetischen Vielfalt können demnach mehr physiologische Antworten auf Umweltreise geben und sind gegenüber verschiedenen Umwelten besser „abgepuffert“. Solche biologischen Prozesse basieren auf einer Akklimation, das heißt einzelne Bäume passen sich physiologisch an ihre Umwelt an, ohne dass sich ihre genetische Zusammensetzung ändert (Abb. 6.10). Durch das natürliche

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Abb. 6.11: Höhenwachstum (20-jährig) von fünf verschiedenen Herkünften der Küstenkiefer (Pinus cortata). Herkunft Nr. 1 kann bei einer mittleren Jahresmitteltemperatur von 9o C nicht mehr existieren, während Herkunft Nr. 5 unter diesen Umweltbedingungen ihr optimales Wachstum hat (nach Rehfeldt et al., 2001)

Ausscheiden wenig angepasster Individuen kann aber auch eine Änderung der genetischen Zusammensetzung der Population über die Zeit erfolgen. Diese Vorgänge sind als Evolution bekannt. Auch auf der Ebene der Population muss man davon ausgehen, dass sich genetisch vielfältige Populationen an unterschiedliche Umweltbedingungen besser anpassen können als genetisch verarmte Populationen. Grundsätzlich weisen Waldbaumarten eine sehr große genetische Vielfalt auf und ihre Fähigkeit zur Akklimation ist erstaunlich groß. Selbst ein Transfer über sehr große horizontale Distanzen zeigt, dass viele nicht autochthone Populationen überlebensfähig sind und in Einzelfällen sogar autochthone Populationen in bestimmten Merkmalen übertreffen können. Eingeschränkt gilt dies auch für den vertikalen Transfer, zumindest für einen Höhenrahmen von mehreren hundert Metern. Neben einer hohen genetischen Vielfalt auf der Ebene des einzelne Baumes und der Population, spielen aber auch andere genetische Faktoren eine wichtige Rolle. Umweltreize können bestimmte genetische Informationen (Gene) wie einen Regler ein- und ausschalten und damit zu unterschiedlichen Reaktionen gegenüber Umweltreizen führen. Diese Mechanismen sind zum größten Teil noch unerforscht. Diese sind aber für die Abschätzung des Anpassungspotenzial der Bäume sehr bedeutsam, da diese sogenenanten epigenetischen Effekte im Vergleich zu den sonst sehr trägen evolutionären Änderungen bei Waldbäumen sehr rasch verlaufen und damit eine schnelle Anpassung ermöglichen. Klimaeffekte bestimmen die Pflanzenentwicklung in hohem Maße. Das Prinzip, verschiedene Rassen oder Herkünfte an einem Ort oder mehreren Standorten anzupflanzen und so ein geografisches Variationsmuster für die gesamte Baumart abzuleiten, ist schon sehr lange in der Forstwirtschaft bekannt und wird heute verstärkt in der genetischen Forschung angewandt. Aus forstlicher Sicht sind verständlicherweise Wachstum (Höhe, BHD, Austrieb, etc.) und Überlebensfähigkeit sehr bedeutsam (Abb. 6.11). Die genetische Variation ist für diese Merkmale innerhalb einer einzelnen Baumart meistens sehr 7 Wald und Tourismus

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groß. So existieren z.B. bei der Waldkiefer einzelne Rassen, welche unter bestimmten Umweltbedingungen ihr optimales Wachstum aufweisen, während andere Rassen derselben Baumart unter solchen Umweltbedingungen nicht existieren können.

3.2 Genetische Anpassungsfähigkeit erhöhen

Wenn eine hohe genetische Vielfalt die „Lebensversicherung“ unserer Wälder ist, dann ist diese zu erhöhen, insbesondere wenn die künftigen Standortsbedingungen nicht genau vorhersagbar sind. Eine hohe genetische Vielfalt ebenso wie eine entsprechende Baumartenmischung mindert daher das Produktionsrisiko. Es ist aber nicht ein Vielfaltsmaximum auf der Ebene der Art oder auf genetischer Ebene anzustreben, sondern eine für die jeweiligen Umweltbedingungen optimierte Vielfalt. Die genetische Anpassungsfähigkeit von autochthonen Populationen wird an Verbreitungsgrenzen (Hochlagen, extreme Standorte) geringer sein wird, als in autochthonen Populationen, die unter optimalen Wuchsbedingungen aufwachsen. Eine wichtige Schlussfolgerung daraus: Das Risiko ist angesichts eines Klimawandels an den Arealgrenzen aus genetischer Sicht erhöht, selbst wenn bekannt ist, dass diese Bestände autochthon sind. Zumindest für Fichte sind aufgrund molekularer Untersuchungen österreichweit Aussagen über die Autochthonie einzelner Bestände möglich und Forschungsergebnisse über anpassungsrelevante Merkmale werden auf Basis molekularer bundesweiter Erhebungen in naher Zukunft verfügbar sein.

3.3 Genetische Angepasstheit erhöhen

Soll aus genetischer Sicht dem Klimawandel begegnet werden, so kann ferner die genetische Angepasstheit der Waldbestände während des Produktionszeitraumes (Umtriebszeit) erhöht werden. Dies setzt jedoch Antworten auf folgende Fragen voraus: • Was sind die wahrscheinlichsten Klimabedingungen am jeweiligen Standort, integriert über die Umtriebszeit? • Welche Herkünfte lassen unter den angenommenen Klimabedingungen die höchste Überlebensfähigkeit, Wertschöpfung oder andere wünschenswerte Leistung erwarten? Hierzu sind Ergebnisse aus Anbauversuchen mit verschiedenen Herkünften oder Rassen unter verschiedenen Klimabedingungen unabdingbar.

3.4 Anbauversuche notwendig

In Ländern wie beispielsweise Schweden, wo Ergebnisse von umfangreichen Feldversuchen verfügbar sind, können angesichts eines Klimawandels sehr genaue Anbauempfehlungen an die forstliche Praxis weitergegeben werden. So kann dort recht präzise das

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Abb. 6.12. Optimaler Transfer von Herkünften der Weißkiefer in Schweden zu Standorten mit unterschiedlichen Temperatursummen (nach Person, 1998) Bei einem Standort mit einer Temperatursumme von 700 "GradTagen" über 5,5˚C ist ein südlicher Transfer von 2,2˚C nördlicher Breite optimal.

Wachstum bei einem Transfer in nördlicher oder südlicher Richtung und bestimmten Temperatursummen prognostiziert werden (Abb. 6.12). Leider sind derartige allgemeine Aussagen, basierend auf den in Österreich vorhandenen Herkunftsversuchen, nicht möglich. Empfehlungen sind nur lokal oder bestenfalls regional verfügbar. Daher wird dem Forstpraktiker empfohlen, sich bei Fragen der Herkunftswahl direkt an das Institut für Genetik zu wenden.

3.5 Naturverjüngung

Wenn sich Bestände natürlich verjüngen können, ist dies ein Anzeichen dafür, dass es der Population aus evolutionärer Sicht gut geht. Entscheidend ist, dass nicht nur das Auflaufen der Verjüngung beurteilt wird. Im Extremfall kann auch eine großflächig aufkommende Naturverjüngung nur von einem Baum abstammen und ist daher genetisch stark eingeengt. Aus genetischer Sicht ist es daher vorteilhaft, wenn die genetische Information des Altbestandes umfassend an die nächste Generation weitergeben wird. Der meist unvermeidbare Polleneinflug aus Nachbarbeständen sollte nicht negativ sein, das heißt die Nachbarbestände sollten vital und qualitativ hochwertig sein. Eine Naturverjüngung in schlecht veranlagten Ausgangsbeständen verursacht zwar geringe Kosten, aber auch hohe Pflege­maßnahmen. Nur im Ausnahmefall wird das wünschenswerte Produkt (hochquali-

7 Wald und Tourismus

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tative Holzproduktion bei hoher Bestandessicherheit) erreicht werden können. Folgende Punkte sind zu prüfen: 1. Abklärung der Autochthonie mittels molekularer Untersuchungen (bisher nur bei Fichte möglich) 2. Naturverjüngung ausschließlich von Überhältern vermeiden oder zumindest mit Kunstverjüngung ergänzen 3. Falls es das waldbauliche Verfahren ermöglicht, sollten Bäume unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher sozialer Stellung zur Verjüngung beitragen können. 4. Nach Möglichkeit sollten Verjüngungszeiträume eher lang als kurz sein. 5. Pollen- und Samenflug sind wünschenswert, wenn die Nachbarbestände naturverjüngungswürdig sind.

3.6 Kunstverjüngung

Die richtige Herkunftswahl hat einen entscheidenden Einfluss auf künstlich verjüngte Bestände. 1. Die für den Anbauort geeignete Herkunft bzw. Herkünfte klären, gegebenenfalls unter Beratung durch geeignete Institutionen. Forstliches Vermehrungsgut aus dem Ausland kann passen; es sollte aber nicht der meist günstigere Preis ausschlaggebend sein. 2. Aus genetischer Sicht ist Saat grundsätzlich besser als Pflanzung, da für spätere natürliche und künstliche Ausleseprozesse hohe Pflanzenanzahlen zur Verfügung stehen. 3. Saatgut von möglichst vielen Saatgutbäumen gewinnen; nach Möglichkeit die Zusatzbezeichnung „erhöhte genetische Vielfalt“ bei Saat- und Pflanzgut beachten 4. Saat- bzw. Pflanzgut aus mehreren Beerntungen mischen 5. Mosaikartige Kunstverjüngung („Patchwork“-Pflanzung) durchführen, das heißt beispielsweise abteilungsweise Aufforstungen mit Vermehrungsgut aus unterschiedlichen Höhenstufen verwenden. Wichtig ist aber, dass unbedingt die genauen Angaben über das Vermehrungsgut (Seehöhe, Ort des Saatgutbestandes) in den Operaten festgehalten werden. Neben anderen Maßnahmen (wie erhöhter Waldhygiene, Beachtung baumartspezifischer Standortsbedindungen) kann die Genetik zur Steigerung der Stabilität bzw. der Produktion der Waldbestände wesentlich beitragen. Die Art und Weise der Verjüngung und die Wahl des forstlichen Vermehrungsgutes (Herkunft, Beerntungsmodus, Anzuchtbedingungen) stellen wichtige Schritte dar, welche die genetische Vielfalt der Bestände steuern und damit die genetische Angepasstheit und die Anpassungsfähigkeit beeinflussen. Ein erhöhtes Bewusstsein des Forstpraktikers über die zu verwendenden Baumrassen bzw. Herkünfte sind dazu unbedingt notwendig. Vereinfachend kann festgehalten werden, dass für eine Baumart eine hohe genetische Vielfalt gepaart mit einem hohen Vermögen der Pollen- und Samenverbereitung das Anbaurisiko aus genetischer Sicht mindert. Trifft die Klimaerwärmung im vorhergesagten Ausmaß zu, so wird dies weitreichende Folgen für Österreichs Wälder und deren vielfältige ökologische und gesellschaftliche

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Ernst Leitgeb et al.

Funktionen haben. Adaptions- und Mitigationsstrategien zur Bewältigung der Klimafolgen sind daher unverzichtbar. In einem aktuellen Report des European Forest Institut (http://ec.europa.eu/agriculture/analysis/external/euro_forests/index_en.htm) an die Europäische Kommission werden unter den acht wichtigsten Adaptionsmaßnahmen unter anderem Strategien mit einer genetischen Komponente genannt: • die gezielte natürliche oder künstliche Verjüngung mit an zukünftige Klimaszenarien angepasstem oder anpassungsfähigem Vermehrungsgut, • die Verbesserung von Forstbaumschulpraktiken und • eine verstärkte Forstpflanzenzüchtung mit dem Ziel, die Diversität des forstlichen Vermehrungsguts und damit das genetische Anpassungsvermögen der Waldbaumpopulationen zu erhöhen.

3.7 Forschungsbedarf

Die Umsetzung von Adaptionsstrategien im waldbaulichen Handeln erfordert ein besseres Verständnis über die genetische Anpassung von Waldbaumpopulationen. Um möglichst rasch konkrete Handlungsempfehlungen abgeben zu können, sind folgende Forschungsbereiche vorrangig zu bearbeiten: • Datenanalyse bereits existierender Herkunftsversuche im Hinblick auf den Klimawandel. Neben reinen Wachstumsmessungen sollten dabei dendroklimatische, physiologische und molekulargenetische Methoden eingesetzt werden. • Molekulargenetische Analysen der für die Anpassung wichtigen genetischen Variation nach Möglichkeit flächendeckend für das Bundesgebiet, um aus genetischer Sicht Regionen mit hohem bzw. niedrigem genetischen Anpassungspotenzial identifizieren zu können • Wechselwirkung von Umweltfaktoren auf die epigenetische Vererbung • Untersuchung natürlicher Prozesse, welche die genetische Anpassung von Waldbaumpopulation fördern. Dazu gehören insbesondere Untersuchungen über das natürliche Reproduktionspotential bei Waldbaumarten, d.h. die effektive Pollen- und Samenverbreitung sowie die Abschätzung von Klimabedingungen auf die Pollenproduktion • Kenntnisse über den innerhalb Österreich erfolgten Transfer von forstlichem Saatund Pflanzgut und deren Anbau Weiterführende Literatur bei den Autoren erhältlich.

7 Wald und Tourismus

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7 Wald und Tourismus – eine bislang wenig genutzte Beziehung Alfred Grieshofer, Arne Arnberger, Andreas Muhar, Renate Eder

1 Einleitung Österreich ist eine der wichtigsten und bekanntesten Tourismusdestinationen der Welt und verzeichnet über 120 Mio. Gästenächtigungen pro Jahr. Annähernd jeder fünfte Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt vom Tourismus ab, der Beitrag der gesamten Tourismus- und Freizeitwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt beträgt rund 16  %. Mit Deviseneinnahmen pro Kopf der Bevölkerung in Höhe von rd. 2 550 USD steht Österreich weltweit an zweiter Stelle aller Tourismusländer (verändert nach WKO, 2009). Gleichzeitig ist Österreich waldreich, rund 47 % des Staatsgebietes sind mit Wald bedeckt, mit wachsender Tendenz. Der Wald bietet hervorragende Voraussetzungen für den Tourismus, schließlich ist er großflächig vorhanden, saisonunabhängig nutzbar, und hat den großen Wettbewerbsvorteil, dass er als „intakte Natur“ angesehen wird. Knapp 80  % der Urlauber in Österreich geben an, dass die Landschaft ein Kriterium für ihre Urlaubsentscheidung war (Zimmermann, 2007), hier spielt sicherlich der Wald eine wichtige Rolle. Fragt man jedoch Touristiker und Touristikerinnen nach der konkreten Bedeutung des Waldes für den Tourismus in Österreich, so können diese keine genauen Aussagen treffen, schließlich sei der Wald im Tourismus keine eigenständige Kategorie und folglich gäbe es auch keine spezifischen Erhebungen zum Waldtourismus. Vielmehr ist aus Sicht des Tourismus der Wald Teil des Gesamtaspekts Urlaub in der Natur. Zielsetzung des vorliegenden Beitrags ist es, die Bedeutung des Waldes für den Tourismus auf nationaler und internationaler Ebene zu beschreiben, die Beziehung zwischen Tourismus und Forstwirtschaft in Österreich zu analysieren, spezifische Kooperationspotentiale aufzuzeigen und entsprechende Best-Practice Beispiele darzustellen: Der Wald alleine ist noch kein touristisches Produkt. Es bedarf eines zusätzlichen Angebots, einer Dienstleistung, damit er in Wert gesetzt werden kann.

2 Die Bedeutung des Waldes für den Tourismus im internationalen Vergleich Voraussetzung für einen Vergleich der Situation in unterschiedlichen Ländern oder Regionen ist das Vorhandensein von einheitlich erhobenen Daten. Dies ist im Falle der touristischen Nutzung von Wäldern aber nicht gegeben: In vielen Ländern wird dieser

7 Wald und Tourismus

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Aspekt überhaupt nicht erhoben und wenn Daten vorliegen, so sind sie oft auf Wälder im öffentlichen Eigentum beschränkt. So hat beispielsweise der US Forest Service ein Besuchererfassungsprogramm für sein gesamtes Forstgebiet von 7,8 Millionen Hektar eingerichtet, das entspricht etwa der zehnfachen Staatsfläche Österreichs; dort werden jährlich rund 175 Mio. Besucher und Besucherinnen gezählt (Forest Service, 2010). Auch im Bereich des US National Park Service, der knapp 400 überwiegend bewaldete Erholungsgebiete und historische Stätten, darunter 52 Nationalparks, betreut, werden jährlich rund 270 Mio. Menschen gezählt (Manning, 2007). Diese Daten belegen eindrücklich, wie wichtig Wälder für die Menschen sind und welch großes Potential und Kapital sie für den Tourismus darstellen. Auf europäischer Ebene wurde die Datensituation im Rahmen der COST-Aktion „Forests for Recreation and Nature Tourism“ eingehend untersucht (siehe Box 1). Dabei ergab sich, dass nur in 14 von 27 untersuchten Ländern repräsentative Haushaltsbefragungen zur Erholungsnutzung von Wäldern durchgeführt werden. Aufgrund verschiedener Untersuchungsdesigns sind die Ergebnisse nicht immer direkt vergleichbar, aber generell kann gesagt werden, dass je nach Land zwischen 40 und 96 % der Bevölkerung Wälder besuchen. Die Besuchshäufigkeiten schwanken zwischen 5 und 120 Waldbesuchen pro Jahr (Sievänen et al., 2009). Österreich liegt mit über 30 Besuchen im europäischen Durchschnitt. BOX 1: COST Aktion „Forests for Recreation and Nature Tourism“ COST Aktionen sind europäische Netzwerk-Kooperationen zum Austausch vorhandenen Wissens. An der Cost-Aktion E33 „Forests for Recreation and Nature Tourism“ (FORREC; http://www.openspace.eca.ac.uk/costE33/welcome.htm) nahmen 27 europäische Länder und 80 Forschende und Praktiker teil. Ziel dieser Aktion war es, Informationen über Erholung und Tourismus im Wald auf europäischer Ebene zusammenzutragen, die Bedeutung des Waldes für die Erholungsnutzung und für den Tourismus aufzuzeigen und die Ergebnisse internationalen, nationalen und lokalen Entscheidungsträgern aus Forst, Politik, Planung, Tourismus, Naturschutz etc. zugänglich zu machen (Bell et al., 2009). Basierend auf der Erfassung und Analyse nationaler Bestrebungen im Bereich der Erholungsnutzung im Wald konnte ein Überblick in folgenden Bereichen gegeben werden: • Rechtliche Verankerung von Erholung und Tourismus im Wald • Nutzungsintensitäten und Erholungsinfrastruktur in den Wäldern Europas sowie angewendete Methoden zur Erfassung der Erholungsnutzung (Sievänen et al., 2008) • Planung und Management von erholungsbezogenen und touristischen Angeboten im Wald der einzelnen Länder (Pröbstl et al., 2010) Länder, die einen geringen Waldanteil haben, wie Dänemark oder England, verfügen meist über viel bessere Daten hinsichtlich der Intensität der Erholungsnutzung und des Tourismus in ihren Wäldern, als Länder mit einem hohen Waldanteil. Ausgenommen ist hier Finnland, das sich sehr intensiv mit Tourismus und Erholung in seinen Wäldern auseinandersetzt.

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Alfred Grieshofer et al.

Die Datenlage in Österreich ist insgesamt sehr schlecht. Der Österreichische Alpenverein (ÖAV) schätzt, dass 3 Millionen Österreicher Rad fahren, 2,4 Millionen wandern und klettern, 0,6 Millionen Skitouren gehen und 2,3 Millionen Ski fahren. Weitere 2,5 Millionen Gäste wandern und klettern in Österreich, und 150  000 gehen Skitouren (ÖAV, 2004). Dass viele dieser Freizeitaktivitäten auch im Wald stattfinden, ist offensichtlich, aber nicht systematisch belegt. Nicht verwunderlich ist es daher, dass eine große Mehrheit der Bezirksinspektoren ebenso wie viele der Landesdienststellen die Erfassung der WaldbesucherInnen in ihrem Forstbezirk befürworten würden (Arnberger, Muhar, Wagner, 2005), um entsprechende Datengrundlagen für Management-Entscheidungen zu bekommen. Nur in zwei von 75 Forstbezirken (BL Salzburg, Wien) wurden bisher Erhebungen über die Erholungsnutzung durchgeführt. Die in Wien bzw. im Wiener Umland durchgeführten Studien (Arnberger, 2006; Arnberger & Brandenburg, 2007; Arnberger & Eder, 2007; Cessford & Muhar, 2003) zeigten, dass die Besuchsintensitäten von Wäldern sehr hoch sein können. In Österreich fand bisher erst eine repräsentative Bevölkerungsbefragung statt, die der Frage nachging, inwieweit die Österreicher und Österreicherinnen aus Erholungszwecken den Wald besuchen. Ergebnis war, dass im Durchschnitt 220 Millionen Waldbesuche pro Jahr durch die österreichische Bevölkerung zu verzeichnen sind. Umfragen unter Haushalten in Österreich zeigten, dass zwischen 80 und 90  % der Befragten Wälder besuchen (Fessel-GfK, 2004; Lenz, 1982). Der Hauptgrund, warum die Menschen in den Wald gehen, ist die Suche nach Erholung. Aktivitäten, die sie dort ausüben sind vor allem wandern, Pilze sammeln und Beeren pflücken, Tiere beobachten, kombiniert mit Landschaftsgenuss. Aufgrund der mangelhaften Datenlage kann derzeit auch kaum der Nachweis erbracht werden, wie wichtig der Wald für die österreichische Gesellschaft z.B. in Hinblick auf seine Erholungsleistungen ist und inwieweit Wälder Beiträge zur regionalen Wertschöpfung durch den Tages- und Übernachtungstourismus liefern. Die direkte Wertschöpfung aus dem Tourismus im Wald ist schwer abzuschätzen, da diese oft im Regionsbesuch eingebettet ist. Noch weniger ist bekannt über die Waldbesucher selbst, über ihre Motivationen und Bedürfnisse, diese Informationen wären aber die Basis für die Entwicklung kundentauglicher touristischer Forstprodukte.

3 Forstwirtschaft und Tourismus in Österreich – eine wechselvolle Beziehung Österreichs Forstwirtschaft und sein dynamischer, weltweit sehr erfolgreich beworbener Tourismus führen seit Jahrzehnten eine im wahrsten Sinne des Wortes spannende, also nicht ganz konfliktfreie Beziehung. Beide Branchen sind von ihrer Bedeutung für die Gesamtwirtschaft und ihrem Einfluss auf die Nutzung, Entwicklung und nicht zuletzt das Image des ländlichen Raumes 7 Wald und Tourismus

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überzeugt und verteidigen entsprechend vehement ihre Standpunkte. So ist es nicht allzu verwunderlich, dass von beiden Seiten bereits beachtlich viel Zeit und Energie in die Auseinandersetzung über tatsächliche oder vermeintliche Problemfelder betreffend touristische Aktivitäten im Umfeld des Waldes investiert worden ist. Forstbetriebe, die wenig an der touristischen Wertschöpfung einer Region partizipieren, sind dem Tourismus gegenüber eher skeptisch eingestellt, weil sie sich eher mit der Beeinträchtigung der Waldbewirtschaftung durch den Tourismus konfrontiert sehen. Obwohl es mittlerweile eine Reihe von Vorzeigebeispielen für erfolgreiche Besucherlenkung oder vorbildhafte Aufklärungsarbeit zur Vermeidung von Waldschäden in Folge touristischer Nutzung bzw. durch fehlende Abstimmung zwischen Tourismus-Verbänden und den Waldbewirtschaftern gibt, macht es jedenfalls Sinn, in Hinkunft viel stärker das Übereinstimmende zu suchen und den optimalen gemeinsamen Nutzen daraus zu ziehen. Es gilt, vorhandene Energien, Personal und nicht zuletzt die mühsam in Brüssel ausgehandelten Fördermittel für neue Impulse und Produkte zu nutzen, ohne dabei die altbekannten Konfliktfelder4 gleich unter den Teppich kehren zu müssen. Sowohl die forstlichen Bewirtschafter als auch die touristischen Anbieter sind seit einigen Jahren ohnehin dabei, neue Nischen zu schaffen und damit den Einzelbetrieb oder auch ganze Regionen auf eine breitere strategische und wirtschaftliche Basis zu stellen, nur wissen sie noch zu wenig voneinander. Hier gilt es für die „Player“ auf allen Entscheidungsebenen, sich enger abzustimmen, gegenseitig Ideen auszutauschen und potentielle Kundenangebote vermarktbar zu machen, ohne das mühsam aufgebaute Image im In- und Ausland zu stören. Aus Sicht der Forstwirtschaft bedeutet dies: die Besucher nicht nur (mehr oder weniger erfolgreich) zu lenken, sondern ihnen im Umfeld des eigenen Waldes bzw. Betriebes das Besondere zu bieten, etwas, das es sonst vielleicht nirgends in dieser Form und Qualität gibt. Das ist neben den angestrebten Einkommenseffekten auch positive Imagepflege zum Wald und seinem Umfeld. Gelingt dies, ließe sich ein mehrfacher Paradigmenwechsel herbeiführen: Forstbetriebe würden ihre Flächen nicht mehr zur „Gratiskulisse“ für die Aktivitäten anderer Betriebe degradiert sehen, umgekehrt würde auch das Image der Forstbetriebe als Verhinderer von Projekten wegfallen („Management über Verbotsschilder“).

4 Nutzbare Potentiale: Forstbetriebe bestehen nicht nur aus Wald Nur wenige Forstbetriebe nutzen bisher das vielfältige Potential, das auf ihren Flächen vorhanden ist, für den Tourismus – diese allerdings sehr erfolgreich. Zu diesem Potential gehören nicht nur die Waldflächen, sondern auch historische Gebäude, historische Landnutzungen oder traditionelle Arbeitsweisen. 4

Siehe die genannten Waldforen zu „Wald, Sport und Freizeit – Konfliktfelder und Lösungsmodelle“ (etwa das altbekannte Wald-Wild-Problem im Schutzwald, der Vorwurf von Forstseite einer „Ausbeutung“).

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Alfred Grieshofer et al.

Die folgende Aufzählung bietet einen groben Überblick zu möglichen, touristisch wertvollen Betriebs-Elementen im Umfeld der Waldbewirtschaftung: • Historische Gebäude (Kirche, Kloster, Schloss, Burg, Ruine, Getreidespeicher, Jagdund Almhütten, Nebengebäude in traditioneller Bauweise, Denkmäler u.ä.) • Historische Gärten, Arboreten • Historisches Wegenetz, Bringungsanlagen, ehemalige Trift- und Wehrbauten, • Ästhetisch besonders wertvolle Waldteile und Landschaftselemente • Historische und aktuelle Nutzungen (Holzkohle, Glaserzeugung, Energieerzeugung, traditionelle und high-tech Holzernte u.ä.) • Weitere Nutzungen: Jagd und Wildvermarktung, Fischzucht, Obstbau, Tierzucht, Tierhaltung, Wildgehege, (Bio)Landwirtschaft, • Sommertourismus: Seen, Teiche zur Badenutzung, Segeln, Camping, Tauchen, Fischen; Reiten; Vermietung von Ferienwohnungen, Verpachtung von Flächen für Feste • Wintertourismus: Verpachtung und/oder Eigenbetrieb von Skigebieten, Loipen, Hütten, Häusern etc. • Traditionen, Brauchtum, Feste • Traditionelles Wissen über vielfältige Nutzung des Waldes • Wald als Erlebnis- und Bildungsort • Historisch bedeutende Namen, „Flair“, „Identität“ • Ruhe- und Rückzugsgebiete für spezielle Gesundheitsangebote („WaldWellness“). Dazu kommt, dass jeder Forstbetrieb einzigartig ist hinsichtlich seiner Geschichte, Produktionsweisen, Lage. Damit ist ein Alleinstellungsmerkmal gegeben, ein zentrales Element im Tourismusmarketing. Ein Forstbetrieb kann folglich über viele touristische Potentiale verfügen. Die Frage ist, inwieweit die Eigentümer bzw. die im Forst Tätigen den Tourismus als Chance für eine weitere Einkommensquelle wahrnehmen.

5 Der Wald als Standort touristischer Aktivitäten – Best practice Beispiele5 Wenn auch die touristische Nutzung des Waldes in Österreich noch ausbaufähig ist, so sind doch verschiedenste Bemühungen in diese Richtung erkennbar. Im Jahr 2007 wurde mit der Plattform „Destination WALD“ (siehe BOX 2) der Versuch gestartet, die seit Jahrzehnten geradezu liebevoll gepflegte „Konfliktmentalität“ zwischen den beiden Branchen in eine Richtung zu lenken, die eine gezielte Auslotung und Nutzung potentieller, bisher noch unterentwickelter wirtschaftlicher Synergien zum Ziel hat.

5

Vgl. ANHANG in diesem Band 7 Wald und Tourismus

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BOX 2 „Destination WALD“: Eine produktorientierte Arbeitsreihe zum Forst-Tourismus Im Jahr 2007 wurde durch das Lebensministerium und die Universität für Bodenkultur (BOKU) ein Prozess initiiert, welcher die langfristige Zusammenarbeit zwischen den Waldbewirtschaftern und Touristikern stärken und die Schaffung von innovativen touristischen Angeboten forcieren soll: Die Reihe „Destination WALD“ soll die am Thema Interessierten und den zu erreichenden Kunden an einen Tisch bringen, Impulse für die Entwicklung neuer Kundenangebote setzen und Orientierung zur Umsetzung im eigenen Betrieb bieten. Neben dem für die Entwicklung des Tourismus in Österreich zuständigen Wirtschaftsministerium bringen in diesen Arbeitsprozess unter anderem die Österreich Werbung, die Wirtschaftskammer Österreich, aber auch forstnahe Tourismus-Marken wie Urlaub am Bauernhof und touristisch besonders aktive Vorreiterbetriebe der Forstbranche wie Esterhazy, Stiftung Fürst Liechtenstein und der Waldbetrieb Hebalm/Malteser Ritter Orden ihr strategisches und betriebliches Know-how, sowie finanzielle Mittel ein. Nach einer breiten Vorstellung des Themenfeldes in einer gut besuchten Starttagung im Jahr 2007 an der BOKU wurden die TeilnehmerInnen in drei praxisnahen Workshops, die auf Einladung oder in unmittelbarer Nähe touristisch aktiver Waldbewirtschafter durchgeführt werden, mit jeweils zwei Kernthemen in Theorie und Praxis konfrontiert: • POTENTIALE + PARTNERSCHAFTEN: Wo liegen für den Forst die touristischen Potentiale? Mit wem soll kooperiert werden, wenn Know how oder Personal fehlen? • NACHHALTIGKEIT und QUALITÄT: Was macht ein nachhaltiges TourismusAngebot im Umfeld des Waldes aus? Was muss es erfüllen? • PRODUKTENTWICKLUNG + MARKETING: Wie können touristische Produkte um den Wald herum entwickelt und erfolgreich vermarktet werden? Diese Themenfelder wurden direkt am Beispiel ausgewählter Vorbildbetriebe diskutiert. Geplanter Output der Reihe sind eigene Leitprojekte und -produkte, sowie ein „Handbuch Forst + Tourismus“1 mit konkreten und praxisnahen Handlungsempfehlungen für touristisch interessierte Waldbewirtschafter und Touristiker. Detailinfos siehe: http://forsttourismus.boku.ac.at/ 1

Die Präsentation der Ergebnisse erfolgt im Rahmen der Schlusstagung von „Destination WALD“ im Jahr 2012.

Neuer Lehrgang Forst + Kultur mit (kultur-)touristischem Schwerpunkt: Neben der Workshopreihe Destination Wald bietet der europaweit einzigartige Zertifikatslehrgang Forst + Kultur Waldeigentümern und Touristikern eine praxis- und projektorientierte Weiterbildung. 6 6

Nähere Infos zum Lehrgang siehe Kap. „Forst + Kultur“

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Im Österreichischen Waldprogramm ist Forst – Tourismus mittlerweile fest verankert: Im Österreichischen Walddialog (der wichtigsten Diskussionsplattform zum Österreichischen Wald – siehe www.walddialog.at) werden die im ggstl. Kapitel vorgestellten Inhalte laufend diskutiert und die Weichen zur Umsetzung im Rahmen des gesamtösterreichischen Waldprogrammes und dem zentralen Förderinstrument im Ländlichen Raum, der Verordnung ländliche Entwicklung (VOLE 07/13) gestellt. Großer Erfolg durch neue Perspektiven Dass professionell und kreativ gestaltete Themenwege touristisches Potential haben können, belegt eindrucksvoll der Baumkronenweg in Kopfing in Oberösterreich. Dort wurde – entgegen den Empfehlungen der zuständigen „Tourismus-Profis“, die dem Projekt wenige Chancen am Markt zugebilligt haben – das „alte“ Thema Wald spektakulär in Szene gesetzt. Dabei hat der Baumkronenweg in den letzten Jahren mehrere hunderttausend (!) Besucher angelockt und ist inzwischen mit seinem vielfältigen Angebot zum touristischen „Motor“ der Region Sauwald geworden. Information über Themenwege zum Wald erhalten Interessierte über das Internetportal lehrpfade.lebensministerium.at. Hier können sie sich über Anreise, Lage und Inhalte der rund 250 Waldpfade in Österreich informieren.

6 Thema Museen: Weg vom „Staub-Image“ – hin zur gelebten Übermittlung Einige namhafte Museumsstandorte sind derzeit dabei, ihre Besonderheiten „um Wald und Holz“ zu aktualisieren und – den jeweiligen Zielgruppen entsprechend – zum Leben zu erwecken: genannt sei hier an erster Stelle das Österreichische Forstmuseum Silvanum7 und das Freilichtmuseum in Stübing in der Steiermark8. An allen diesen Standorten wird mittlerweile mit interessierten Forstbetrieben der Region zusammengearbeitet. Einige Forstbetriebe in Österreich nutzen ihre Flächen, um direkt bzw. indirekt Einkünfte aus dem Tagestourismus zu erhalten. Die Stiftung Fürst Liechtenstein hat den rund 350 ha großen Naturpark Sparbach im Biosphärenpark Wienerwald gegen Eintritt für die Bevölkerung geöffnet und verzeichnet bis zu 45 000 Besucher im Jahr. Der Forstbetrieb Waldreichs in Niederösterreich betreibt erfolgreich einen Waldcampingplatz am Ottensteiner Stausee. Dieser erfordert zwar einige Vorsichtsmaßnahmen beispielsweise bei Sturm und beim Feuermachen, bietet aber den Menschen ein besonderes Erlebnis. Wild North – Naturtourismus in Finnland Vor allem die nordischen Länder in Europa setzen verstärkt auf den Naturtourismus. Der Finnische Forest Service Metsähallitus hat mit der Gründung der Firma „Wild North“ in Lappland einen Geschäftszweig eröffnet, der sich auf Angebote im Naturtourismus spezialisiert. Die Angebote, die auf bestimmte Zielgruppen zugeschnitten 7 www.forstmuseum.at -hier wird u.a. mit den Steiermärkischen Landesforsten kooperiert. 8 www.freilichtmuseum.at 7 Wald und Tourismus

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sind, umfassen z.B. geführte Wander- oder Raftingtouren, Wildtierbeobachtungsangebote, Hundeschlitten- und Rentiersafaris oder Schneemobilausflüge und binden dabei die Kultur der lokalen Bevölkerung ein. Inzwischen ist diese Firma einer der führenden Anbieter im Naturtourismus in Skandinavien.

7 Ausblick: Wald und Tourismus – eine künftig erfolgreiche Beziehung? Es gilt einen Ruf zu verteidigen: Qualität und Nachhaltigkeit müssen gewahrt sein. Wollen Forstbetriebe sich im Tourismus engagieren, so sollen dabei qualitätsvolle Nischenprodukte in Abstimmung auf betriebliche und auf übergeordnete regionale Entwicklungsziele im Vordergrund stehen. Die benötigten regionalen Partner (Hotellerie, Gastronomie, Verkehrsbetriebe, sonstige touristische Dienstleister) sind langfristig und auf Basis gegenseitiger verlässlicher Zusammenarbeit einzubinden. Die ökologischen Rahmenbedingungen dürfen hier selbstredend nicht außer Acht gelassen werden. Hier hat die Forstwirtschaft ihr „Gründerimage“ der so oft gerühmten (und von anderen Branchen gern mehr oder weniger erfolgreich imitierten) Nachhaltigkeit zu verteidigen. So geht es hier vor allem um Produkte, die mit dem, was die Waldbewirtschafter unter „vorbildhafter Nachhaltigkeit“ verstehen, so gut wie möglich übereinstimmen sollten. Im Idealfall nutzt also ein Wald bewirtschaftender Betrieb die ohnedies vorhandenen Potentiale für das, was eine Kundengruppe daran interessieren könnte, und bereichert damit das in der Region bestehende touristische Angebot. Dazu sind in erster Linie folgende Aspekte ganz besonders gefragt: • kundenorientierte Kreativität • Wille zur Zusammenarbeit mit außer-forstlichen Partnern • Ausdauer in der gemeinsamen Umsetzung und Vermarktung Bei all der produktiven Aufbruchsstimmung soll hier jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, es gäbe keine Probleme zwischen Waldbewirtschaftern und Touristikern (BOX 3). Sie sind, besonders in forstlich sehr sensiblen Bereichen wie alpinen Hochlagen, Schutzwald und Schutzgebieten nach wie vor aktuell. In den letzten Jahren lässt sich jedoch mehr Offenheit im gegenseitigen Umgang und ein Bemühen um sachlich-objektive Diskussion erkennen. Die im vorliegenden Artikel skizzierten Arbeitsansätze zu Wald und Tourismus lassen in den nächsten Jahren einige Innovationen und Impulse für eine Weiterentwicklung der Betriebe und der Regionen zum Thema erwarten. Zu hoffen bleibt, dass bestehende Förderinstrumente erhalten und verbessert werden und damit innovative Kooperationsprojekte zwischen Forstwirtschaft und Tourismus zumindest in der entscheidenden Startphase entsprechende Startmittel lukrieren können. Wenn dies gelingt, könnten vermarktbare und auf den Hauptmärkten bewerbbare „Wald-Tourismus-Produkte“ schritt-

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BOX 3: Konfliktfelder zwischen Forst und Tourismus Im Prozess „Destination Wald“ wurden von Beginn an viele Konfliktfelder ganz bewusst ausgeklammert, um sich hier voll auf die wirtschaftlichen Potentiale konzentrieren zu können. Dennoch sollen die Konfliktfelder nicht zu kurz kommen: Um bestehende „Problemzonen“ in den Griff zu bekommen, wurden aufgrund der positiven Erfahrungen im Rahmen von Destination Wald auf besondere Initiative der Land & Forstbetriebe Österreich1 und dem Verband der Alpinen Vereine Österreichs2 eine eigene Arbeitsreihe zu „Sport und Freizeit in Wald und Natur“ ins Leben gerufen. In dieser Reihe, die im Rahmen von sogenannten Waldforen durchgeführt wird, stehen die Konflikte und die Erarbeitung konkreter Lösungsmöglichkeiten im Vordergrund. Probleme vom Wald-Wildkonflikt und dessen komplexen Ursachen und Auswirkungen, über Mountainbiking und Reiten, Variantenfahren, Tourengehen, regional ausuferndes Schwammerlsuchen bis hin zu Trendsportarten wie Geocaching werden offen in Theorie und Praxis vorgestellt und konkrete Lösungsmodelle in Kleingruppen entwickelt. Betont werden muss, dass ein konfliktfreies Neben- und Miteinander neben der Einhaltung der recht klaren gesetzlichen Vorgaben vor allem gegenseitiges Interesse und Verständnis für die anderen Nutzergruppen voraussetzt. Die Reihe wird derzeit anhand ausgewählter Teilbereiche vertieft und die Vorschläge in das österreichische Waldprogramm übernommen. 1 www.landforstbetriebe.at 2 www.vavoe.at

weise sogar zu einem „klassischen“ Einkommenssegment für die Forstwirtschaft in bestimmten Regionen werden. Von den altbewährten Zielen und Methoden nachhaltiger Waldbewirtschaftung braucht dabei nicht abgewichen zu werden. Im Optimalfall sind diese Produkte eine qualitätsvolle Bereicherung: für den Einzelbetrieb, in der jeweiligen Region und nicht zuletzt am touristischen Gesamtmarkt.

Literatur Arnberger, A. (2006): Recreation use of urban forests: An inter-area comparison. Urban Forestry & Urban Greening, 4, 3–4, 135–144. Arnberger, A. & C. Brandenburg (2007): Past on-site experience, crowding perceptions and use displacement of visitor groups to a peri-urban national park. Environmental Management, 40, 34–45 Arnberger, A. & R. Eder (2007): Monitoring recreational activities in urban forests using longterm video observation. FORESTRY, 80(1), 1–15 Arnberger, A., A. Muhar & S. Wagner (2005): Umfrage im Rahmen der Cost Action e33 Forrec über die Erholungsnutzung in Österreichs Wäldern. Report. Institute of Landscape Develop7 Wald und Tourismus I

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ment, Recreation and Conservation Planning. BOKU – University of Natural Resources and Applied Life Sciences, Vienna, Austria Bell, S., M. Simpson, L. Tyrväinen, T. Sievänen & U. Pröbstl (Hrsg.): European Forest Recreation and Tourism. A Handbook, 105–133; Taylor and Francis, London Cessford, G. & A. Muhar (2003): An overview of monitoring options for visitor numbers in national parks and other protected natural and recreation areas. Journal for Nature Conservation, 11: 240–250 Fessel-GfK (2004): Umfragergebnisse zum Wald in Österreich. Ländlicher Raum, 5: 41 Forest Service (2010): National Visitor Use Monitoring Results. USDA Forest Service National Summary Report. http://www.fs.fed.us/recreation/programs/nvum/nvum_national_summary_fy2009.pdf [gesehen im Juni 2010] Lenz, R. (1982): Forstwirtschaft und Öffentlichkeit – Analyse eines Verhältnisses. Dissertation an der Universität für Bodenkultur Wien Manning, R. (2007): Parks and Carrying Capacity. Washington, Island Press Österreichischer Alpenverein (2004): Bergsport/-tourismus in Österreich. Präsentationsunterlagen vom Juli 2004 Pröbstl, U., V. Wirth, B. Elands, & S. Bell (Hrsg.) (2010): Management of Recreation and Nature Based Tourism in European Forests. Pp. 336; Springer, Heidelberg Sievänen, T., A. Arnberger, J. Dehez & F. S. Jensen (2009): Monitoring of forest recreation demand. In: Bell, S., Simpson, M., Tyrväinen, L., Sievänen, T., Pröbstl, U. (Hrsg.), European Forest Recreation and Tourism. A Handbook, 105–133; Taylor and Francis, London Sievänen, T., A. Arnberger, L. Dehez, N. Grant, F. S. Jensen & H. Skov-Petersen (Hrsg.) (2008): Forest Recreation Monitoring – A European Perspective. (pp. 245) Working Papers of the Finnish Forest Research Institute, Helsinki, 79 WKO (2009): Gesamtwirtschaftliche Bedeutung des Tourismus. Wirtschaftskammer Österreichs – Bundessparte Tourismus und Freizeitwirtschaft. portal.wko.at [gesehen im März 2010] Zimmermann, A. (2007): Ziele/Strategien aus Sicht des BM für Wirtschaft und Arbeit. Vortrag im Rahmen der Tagung „Destination Wald“ Touristische Aktivitäten im forstlichen Umfeld, 12. April 2007, Universität für Bodenkultur Wien. http://forsttourismus.boku.ac.at/downloads/tagung2007/vortraege/zimmermann.pdf

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8 Das österreichische Forstgesetz Ein gesetzliches Instrument der Gesellschaft für die Forstwirtschaft Leopold Ziehaus

Agrarrecht Das Agrarrecht ist eng mit der Agrargeschichte und der Rechtsgeschichte verknüpft. Die Wurzeln des Rechts der Landwirtschaft reichen bis zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte zurück. Regeln über die Benützung und Erhaltung der natürlichen Ressourcen, insbesondere Wasser, Weide und Wald sind bereits aus der Frühgeschichte überliefert. Waren sie damals noch in Mystik und Religion verankert, entwickeln sie sich später zu rechtlichen Normen. Schon die frühesten Rechtsregeln der ersten Hochkulturen behandeln Landwirtschaft und Bewässerung und sind somit vorwiegend agrarrechtlichen Inhalts. Die ersten Kulturen der Menschheit, die Jäger, Fischer und Sammler waren, beeinflussten den Wald und seine Vegetation auf sehr geringe Weise. Die Gewinnung von Brennholz und die Jagd waren die einzigen Einflüsse der damaligen Menschen und der Wald selbst wurde als unheimlich und feindlich empfunden. Erst mit der Sesshaftigkeit der Bewohner kam es zu stärkeren Eingriffen bis zu Waldverwüstungen in Form von Brandrodung zur Gewinnung von Weide- und Ackerland in der Nähe von Siedlungen. In früheren Zeiten wurden diese Flächen nach intensiver Nutzung zum Teil wieder sich selbst überlassen und eine Wiederbewaldung fand sehr rasch statt. In der jüngeren

Abb. 8.1: Bewaldungsprozess in Österreich ab 1961 8 Das österreichische Forstgesetz

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Zeit der Waldgeschichte wurde eine Wiederbewaldung durch permanente Nutzung der Ackerflächen verhindert und die erste massive Nutzung des Waldes in Form von Flächenressourcen war gegeben. Im Mittelalter wurde der damals unermessliche und leicht verfügbare Holzreichtum ohne besondere Rücksichtnahme genutzt. Der extreme Holz- und Holzkohleverbrauch der Bergwerke und Eisenhämmer, sowie die Sudpfannen der Salinen verursachten einen Raubbau und die an den Bergbaubetrieben interessierten Grundbesitzer bekämpften die bäuerliche Brandrodung bereits im 12. Jahrhundert. Somit entstanden für gemeinschaftlich genutzte Wälder und Forste der Bergbaugebiete die ersten Ordnungen und Instruktionen im 14. Jahrhundert. Später wurden die Grundherrschaften selbst ermächtigt, solche Vorschriften für ihren Herrschaftsbereich zu verfassen, konnten diese jedoch nur schwer in die Praxis umsetzen.

Weistümer Das seit Urzeiten praktizierte örtliche bäuerliche Gewohnheitsrecht war vor den schriftlichen Aufzeichnungen und wurde meist einmal jährlich bei den „Banntaidingen“ durch Fragen und Antworten praktiziert. Sie wurden im Laufe der Zeit immer mehr der Herrschaft und Obrigkeit unterworfen und als Nutzungsregelung oder Ordnung für den Wald im Mittelalter aufgeschrieben. Es wurde dabei zwischen dem Herrschaftswald oder „Bannwald“ und dem Allgemeinbesitz „Gemainholz“ unterschieden. Der Förster wurde vom Richter oder Amtmann einvernehmlich mit der Gemeindeversammlung eingesetzt und erhielt den „Taidingspfenning“ für seine Tätigkeit. Zu dieser ersten „behördlichen“ Waldaufsicht, die die Einhaltung der Ordnung überwachte, aber auch Anweisungen und „Tipps“ zur besseren Bewirtschaftung gab, mussten die Grenzen zwischen den Interessen festgelegt werden. Diese mündlichen „Versammlungen“ fanden später in den schriftlichen Aufzeichnungen der „Weistümer“ ihren Niederschlag.

Waldordnungen Nachdem man die Grenzen festgelegt hatte und eine gewisse Aufsicht vorhanden war, wurde auch die Nutzung des Bau- und Brennholzes für die bäuerliche Bevölkerung festgelegt. Dies konnte entweder umsonst, gegen Bargeld oder im Gegenzug zu Hafer (für die forstlichen Zugtiere) oder auch für Arbeit im herrschaftlichen Wald durch eigene Arbeit geschlägert werden. (Siehe Einforstungsrechte). Die ersten Versuche, die heutige Form des modernen Waldbaues einzuführen, war die Regelung für die Holzernte. Hier wurde zwischen Laub- und Nadelholz unterschieden und beim Laubholz wurde die Mondphase beachtet und die Gewinnung von Laubfutter für das Vieh bei voller Blattdichte. Ein sehr strenges Thema waren Rodungen: Entweder wurde die Neurodung in den

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Herrschaftswäldern ganz verboten oder in entlegenen Gebieten auf kurze Zeit beschränkt. Bei der Brandrodung wurde schon seit der Jungsteinzeit der Wald abgeholzt, die Reste und die Fläche verbrannt und danach Feldfrüchte, meist Getreide angebaut. Ebenso war die Gewinnung (Schneiteln) von Laub- und Nadelstreu an stehenden Waldbäumen streng reglementiert.

Waldweide Bei der Viehweide im Wald, die auch aus Futtermangel begehrt war, wurde unterschiedlich vorgegangen. Die größte Beschränkung betraf die Ziegenweide, die mit einem Aufkommen von Jungwald nicht vereinbar ist. Die Weide von Schweinen in Eichen- und Buchenbeständen war aufgrund der energiereichen Samen der Bäume sehr begehrt, jedoch mussten die Schweine mit einem Ring im Maul versehen sein, um Schäden an Boden und Jungwuchs zu verhindern. Heute ist das Hausschwein nur sehr vereinzelt zu diesem Zweck im Wald zu finden; es trägt dazu bei, den Boden aufzuwühlen und bessere Samenkeimung zu ermöglichen und andererseits Forstschädlinge, wie z.B. die Puppen der Fichtengespinstblattwespe, durch Fraß zu vernichten. Pferde, Rinder und Foto 8.1: Weidevieh im Schwarzkieferwald. Die lichten Kieferbestände bieten auch heute oft optimale Weideverhältnisse (L. Ziehaus).

Foto 8.2: Bäuerliche Nutzungspotentiale: Ein Teil des Einkommens der Bauern wird zum Teil mit Brennholzverkauf oder Gewinnung von Schafkäse erarbeitet (L. Ziehaus).

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Schafe sind in Waldgebieten heute noch üblich und werden im modernen Forstgesetz behandelt. Weiters waren bestimmte Baumarten, wie Frucht tragende, Jungbestände und ganze Kulturen unter Schutz gestellt. Man hatte sehr bald die Notwendigkeit einer flächendeckenden Naturverjüngung für die spätere Endnutzung erkannt und sorgte sich um den pflanzlichen Nachwuchs. Eine wichtige Angelegenheit war der Transport des Holzes, hier vor allem auf dem Wasserweg, der Holztrift, und die Flößerei auf großen Flüssen. Von freier Marktwirtschaft war keine Rede, denn der Verkauf von Holz war durch die Gemeindegrenzen eingeschränkt.

Bergordnungen Die ungeordnete Holznutzung die die Bergbautätigkeit und das Salinenwesen bevorzugte, musste von den Landesherren in Griff bekommen werden. Deshalb wurden die Holzansprüche der Bauern, Handwerker und Bürger mit den Bergordnungen ausgeglichen und durch räumliche Ordnung geregelt. Somit war eine „geregelte“ Forstwirtschaft installiert, wenn auch nicht mit dem späteren Ziel der „Nachhaltigkeit“ (siehe § 1 FG). Eine kritische waldbauliche Maßnahme war die Entfernung der Buche, da deren Holz unerwünscht war; aufgrund des hohen Gewichtes konnte man Buchenholz nämlich nicht flößen. Es wurden somit nur einheitliche Nadelbestände ohne Mischbaumarten erzeugt, die katastrophenanfällig waren und keinen Futtermittelersatz boten. Die gewöhnliche Nutzung von edlem Holz wie Eiben, Ahorn und Eschen war verboten, da diese ausschließlich als Rohstoffe für die damalige Rüstungsindustrie zur Herstellung von Bögen, Speeren und Lanzen verwendet wurden. Der Ersatz von Holzkohle durch Steinkohle beim Hüttenwesen und der zunehmende Eisenbahnbau änderten die jahrhundertelangen Verhältnisse. Anstatt Holzkohle und Brennholz wurde immer mehr das heute übliche Nutzholz für die Sägeindustrie erzeugt und ab dem 19. Jahrhundert auch die gesetzlichen Voraussetzungen für die Forstwirtschaft geändert. Man spricht von nun an von Forstgesetzen.

Zeidlerei (Bewirtschaftung von Waldbienen) Die heutige Honiggewinnung und Bienenzucht wird Imkerei genannt und findet in den Städten, Dörfern, Siedlungen und Bauernhöfen statt. Sie ist ein typischer landwirtschaftlicher Erwerbszweig geworden, auch wenn der Waldhonig direkt von saugenden Blattläusen, vorwiegend auf der Fichte produziert wird und die Bienen nur das „Abfallprodukt“ dieser Insekten ernten. Der Bezug zum Wald hat seinen Ursprung in der Vergangenheit und drei bemerkenswerte Aspekte zeigen dies auf. Im Mittelalter war die Zeidlerei die wohl größte Waldnutzung neben der Fleischgewinnung durch die Jagd für die Versorgung der Bevölkerung mit dem einzigen Süßstoff, dem Honig, und der Be-

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Foto 8.3: Köhlerei. Ein Kohlenmeiler muss während der ganzen Brenndauer ständig beaufsichtigt werden (L. Ziehaus).

Foto 8.4: Bienen auf Wohnungssuche. Bienen sind in unserer Zeit nur auf Bäumen zu finden, wenn ein Teil des Bienenvolkes mit der alten Königin aus dem Bienenstock auszieht und eine neue Bleibe sucht (L. Ziehaus).

leuchtungsenergie, dem Bienenwachs. Aus Kostengründen werden die einfachen Menschen kaum in den Genuss dieser Produkte gekommen sein, mehr die Oberschicht sowie die Kirchen und Klöster. Seine Kostbarkeit hat dazu geführt, dass dieser Berufszweig besonderen gesetzlichen Schutz genoss und eigene Gesetze, ja sogar eine eigene Gerichtsbarkeit hatte. Deshalb durften die Zeidler auch Waffen tragen und waren direkt dem Herrscher unterstellt. Ihre Tätigkeit war auch die Grundlage für das erste „Naturschutzgesetz“ im Mittelalter, wenn es auch wieder in Vergessenheit geraten ist. Nürnberg war das Zentrum der Lebkuchenerzeugung, einer noch heute begehrten Süßspeise, die mit Honig hergestellt wird. Das einzige alkoholische Getränk, bevor Bier in den Bergregionen bekannt wurde, ist der Met, vergorener Honig, ebenfalls begehrt in der vornehmen Gesellschaft. Im bekannten Nürnberger Reichswald wurden durch seinen Regenten Kaiser Karl IV. im Jahre 1350 die blühenden Bäume, vor allem die Weide, unter strengen Schutz gestellt, da bekannt war, dass Bienen die Pollen zur Brutaufzucht dringend benötigen. Unter Waldbienenzucht verstand man damals nur das Suchen der Brut- und Honigwaben wilder Bienenvölker in hohlen Bäumen. Mit Rauch wurden die Bienen ruhig gestellt und das Meiste entnommen, eine Vermehrung der Völker und eine Winterfütterung gab es nicht. Man adaptierte nur die Wohnungen der Bienen, indem man die behausten Bäume entwipfelte damit sie nicht vom Sturm umgeworfen werden konnten. Man hackte auch Löcher für die Bienenvölker drei bis fünf Meter über den Boden und verschloss sie mit einem Brett zum Schutz vor Raubtieren. Die Nahrungskonkurrenz mit Bären war wohl auch der Grund, wes8 Das österreichische Forstgesetz

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halb die Zeidler Waffen tragen durften, denn das Wissen um die Bienenstöcke war kostbar. Deshalb wurden die Bäume auch markiert, damit sie nicht unabsichtlich gefällt wurden. Wer dennoch diesen Waldfrevel beging, hatte mit drakonischen Strafen zu rechnen. Mit der Einfuhr von Rohrzucker aus den Überseekolonien ging ein „Waldzeitalter“ zu Ende. Die Imkerei wurde fortan zur Landwirtschaft gerechnet. Im Jahre 1742 tagte in Bayern zum letzten Mal ein Zeidelgericht und behandelte den Schaden des Zeidelwesens am Wald. Da nun keine neuen Zeidelbäume mehr erlaubt wurden, musste die Bienenwirtschaft mit Strohbeuten Vorlieb nehmen.

Etappen in der Entwicklung der heutigen Forstgesetzgebung Im 18. Jahrhundert hatten die meisten Kronländer Österreichs noch die Theresianischen oder Josefinischen Waldordnungen. In Tirol waren die gesammelten Forstdirektiven von 1822 und die provisorische Waldordnung von 1839 in Kraft und in Niederösterreich gab es die Waldordnung von 1813. Aufgrund der schrecklichen Elementarereignisse und des schlechten Waldzustandes forderte die betroffene Öffentlichkeit ein rasches Handeln. Bereits 1843 wurde mit den Vorbereitungen für ein umfassendes Forstgesetz begonnen, welches mit modernen Reformen in das neue staatswirtschaftliche System eingebunden werden sollte. Das Forstgesetz vom 3. Dezember 1853 beinhaltete sieben Abschnitte und 77 Paragrafen und regelte die Bewirtschaftung der Wälder, die Holzbringung, Waldbrände und Insektenschäden. Der Beginn des bis heute praktizierten Forstschutzes war gegeben und seiner Wirkung kommt heute angesichts der Folgen der Klimaerwärmung besondere Bedeutung zu. Probleme mit der praktischen Umsetzung des Gesetzes führten 1873 zu den Durchführungsvorschriften, die die Anwendung regelten, die Errichtung des Waldkatasters vorsahen und vor allem die Kronländer stärker einbezogen. Dieses Gesetz wurde durch eine Anzahl von kaiserlichen Verordnungen ergänzt. Alle heutigen Bundesländer, bis auf das Burgenland – hier galt das ungarische Forstgesetz von 1879 –, haben diese Regelungen für staatliche und private Wälder übernommen. Einige Beispiele sind das Wildbachverbauungsgesetz von 1884 und das Grundverkehrsgesetz von 1919, eine große Zahl dieser Verordnungen betraf seit 1900 das Forstpersonal. Durch eine Bundesverfassungsnovelle wurden 1925 die Landesgesetze BunFoto 8.5: Forstgeschichte: Schriftliche dessache, dabei entstand auch das Gesetz über die Aufzeichnungen gibt es noch nicht sehr Bildung eines Wirtschaftskörpers „Österreichische lange, vieles wurde mündlich überliefert. Bundesforste“, die den ehemaligen kaiserlichen BeSteiermärkischer Forst- und Jagdkalender sitz übernommen hatten. 1937

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Während der Jahre 1938 bis 1945 war dieses österreichische Bundesgesetz noch zum Großteil in Kraft und nur die Forstverwaltung wurde unter anderem durch das deutsche Reichsforstgesetz geregelt. Der erste Abschnitt des kaiserlichen Gesetzes von 1853 hatte bis zur Herausgabe des umfassenden und heute gültigen Forstgesetzes seine volle Wirkung; der zweite Teil wurde durch das Forstrechtsbereinigungsgesetz 1962 ersetzt und regelt heute Bereiche wie Ausbildung, Forstorgane, Forstschulen, Forstliche Versuchsanstalten und Strafbestimmungen. Forstgesetz 1975 Nach intensiven Beratungen und zehn Jahren Vorbereitung trat das neue Forstgesetz, das in seinem Ursprung vom 3. Juli 1875 stammt, am 1. Jänner 1975 in Kraft und die meisten bisherigen Vorschriften verloren ihre Gültigkeit. Unter den vielen Aspekten der modernen Forstwirtschaft, die berücksichtigt werden mussten, war die Bewirtschaftung der Hälfte des Staatsgebietes hervorragend. Dem gegenüber standen die neuen Wünsche und Ansprüche der Gesellschaft an den Wald, die kostenlos erfüllt werden sollten. Trotz der Schwierigkeiten, die gegensätzlichen Interessen in einem Gesetz unterzubringen, wurden seit nunmehr 35 Jahren Änderungen und Novellierungen nur in geringem Umfang vorgenommen. Forstgesetznovelle 1987 Die erste Abänderung korrigiert in erster Linie redaktionelle Fehler aus 1975 und nahm folgende Themen ins Gesetz auf: Es wird mehr auf Naturverjüngung Wert gelegt, Klärschlamm im Wald wird verboten, die Landesforstdirektoren bekommen Antragsrecht und Parteienstellung bei Verfahren zum Schutz des Waldes gegen Wildschäden, die Bannlegung wird erweitert auf den Schutz vor Gefahren aus Waldzustand und Waldarbeit und die Novelle bietet die Ermächtigung für ein dauerndes forstliches Bringungsrecht. Forstgesetznovelle 2002 Maßgeblich dafür ist eine Regulierung und Orientierung an den Erfordernissen der neuen Verwaltung, eine Vereinfachung der gesetzlichen Verfahren. Die Novelle 2002 ändert teilweise das Rodungsverfahren, die Pflicht zur Bestellung von Forstorganen und die forstliche Staatsprüfung. Sie ist die Grundlage der Nachhaltigkeit im Wald bezüglich Ökonomie, Ökologie sowie sozialer und kultureller Aspekte. Es gibt nun Sonderregelungen für Schutzgebiete wie Nationalparke oder Naturwaldreservate und eine geänderte Bestimmung der Wiederbewaldung, neue Strukturen in der Forstlichen Forschung, der Aus- und Weiterbildung, sowie in der Förderung und im Schutzwald. Erweiterungen betreffend Ausbildungen und Berufsausübung im EU-Raum gab es noch 2005 und 2007. Nachstehend die Übersicht über Themen und Gliederung des Forstgesetzes.

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Aus dem Forstgesetz 1975 in der Novelle 2002: I. Abschnitt; Wald; Allgemeines § 1 Nachhaltigkeit § 1a Begriffsbestimmungen § 2 Kampfzone des Waldes, Windschutzanlagen § 3 Wald im Verhältnis zum Grenz- und Grundsteuerkataster § 4 Neubewaldung § 5 Feststellungsverfahren II. Abschnitt; Forstliche Raumplanung §6 Aufgaben der forstlichen Raumplanung §7 Umfang der forstlichen Raumplanung §8 Forstliche Raumpläne §9 Waldentwicklungsplan §10 Waldfachplan §11 Gefahrenzonenpläne III. Abschnitt; Erhaltung des Waldes und die Nachhaltigkeit seiner Wirkungen A. Erhaltung des Waldes; Allgemeines §12 aufgehoben durch BGBL. I Nr. 59/2002 §13 Wiederbewaldung §14 Waldbehandlung entlang der Eigentumsgrenzen §15 Waldteilung §15a Grundbuchsrechtliche Bestimmungen §16 Waldverwüstung §17 Rodung §17a Anmeldepflichtige Rodung §18 Rodungsbewilligung; Vorschreibungen §19 Rodungsverfahren §20 Verhältnis zu den Agrarbehörden B. Wälder mit Sonderbehandlung §21 Schutzwald; Begriff §22 Behandlung und Nutzung des Schutzwaldes §23 Feststellungsverfahren bei Schutzwald §24 Maßnahmen zur Sanierung von Schutzwald §25 Sonderbestimmungen für die Kampfzone des Waldes und Windschutzanlagen §26 Ermächtigung der Landesgesetzgebung §27 Bannwald §28 Inhalt der Bannlegung §29 Bannlegung im Interesse von Verkehrsanlagen §30 Bannlegungsverfahren

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§31 Entschädigung §32 Einforstungswälder §32a Wälder mit besonderem Lebensraum C. Benützung des Waldes zu Erholungszwecken §33 Benützung des Waldes zu Erholungszwecken §34 Benützungsbeschränkungen §35 Behördliche Überprüfung der Benützungsbeschränkungen §36 Erklärung zum Erholungswald D. Wälder mit Nebennutzungen §37 Waldweide; Schneeflucht §38 Streugewinnung §39 Harznutzung (aufgehoben) IV. Abschnitt; Forstschutz A. Schutz vor Waldbrand §40 Feuerentzünden im Wald §41 Vorbeugungsmaßnahmen §42 Ermächtigung der Landesgesetzgebung B. Schutz vor Forstschädlingen §43 Forstschädlinge; Anzeigepflicht §44 Maßnahmen bei Schädlingsbefall oder gefahrdrohender Vermehrung §45 Sonstige Maßnahmen C. Forstschädliche Luftverunreinigungen §47 Begriffsbestimmungen §48 Verordnungsermächtigung §49 Bewilligung von Anlagen §50 Bewilligungsverfahren §51 Besondere Maßnahmen §52 Erhebungen über forstschädliche Luftverunreinigungen §53 Haftung für forstschädliche Luftverunreinigungen §54 Vermutung der Verursachung §55 Verjährung §56 Vorschriften des bürgerlichen Rechtes §57 Schadenersatzansprüche; Gerichtsstand V. Abschnitt; Bringung A. Bringung zu Lande §58 Bringung §59 Forstliche Bringungsanlagen §60 Allgemeine Vorschriften für Bringungsanlagen §61 Planung und Bauaufsicht §62 Bewilligungspflichtige Bringungsanlagen §63 Bewilligungsverfahren 8 Das österreichische Forstgesetz

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§64 Anmeldepflichtige Forststraßen §65 Waldflächen, die für eine Bringungsanlage beansprucht werden B. Bringung über fremden Boden §66 Befristete Bringung über fremden Boden §66a Bringungsanlagen §67 Entschädigung C. Bringungsgenossenschaften §68 Bringungsgenossenschaften §69 Bringungsgenossenschaften; Beitrittszwang §70 Satzung §71 Genossenschaftsverhältnis §72 Kosten §73 Aufsicht VI. Abschnitt; Nutzung der Wälder A. Generelle Nutzungsbeschränkungen §80 Schutz hiebsunreifer Bestände §81 Ausnahmebewilligung §82 Verbot von Kahlhieben B. Behördliche Überwachung der Fällungen §85 Bewilligungspflichtige Fällungen §86 Freie Fällungen §87 Fällungsantrag §88 Fällungsbewilligung §89 Sicherheitsleistung §90 Verpflichtungen sonstiger Personen aus einer Bewilligung §91 Entscheidung über den Fällungsantrag §92 Geltungsdauer der Fällungsbewilligung C. Ermächtigung der Landesgesetzgebung §95 Allgemeine Ermächtigung der Landesgesetzgebung §96 Sonderbestimmungen für Tirol, Vorarlberg und Oberösterreich §97 Sonderbestimmungen für Salzburg VII. Abschnitt; Schutz vor Wildbächen und Lawinen §98 Anwendungsbereich und Weitergeltung bisheriger Vorschriften §99 Begriffsbestimmungen; Festlegung der Einzugsgebiete §100 Waldbehandlung in Einzugsgebieten §101 Vorbeugungsmaßnahmen in Einzugsgebieten §102 Organisation und Aufgaben der Dienststellen §103 Verfahren und Zuständigkeit

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VIII. Abschnitt; Forstpersonal A. Forstorgane und Forstschutzorgane §104 Forstorgane und ihr Aufgabenbereich §105 Ausbildungsgang für Forstorgane §106 Staatsprüfung für den leitenden Forstdienst §109 Anerkennung ausländischer Prüfungszeugnisse §110 Forstschutzorgane §111 Das Forstschutzorgan als öffentliche Wache §112 Recht auf Ausweisung von Personen aus dem Wald; Festnahme §113 Pflicht zur Bestellung von Forstschutzorganen §114 Gemeinsames leitendes Forstorgan §115 Bestellungsvorgang §116 Gemeinsame Bestimmungen für Forst- und Forstschutzorgane B. Forstfachschule §117 Errichtung einer Forstfachschule §118 Aufgabe der Fachschule §119 Unterricht und Lehrplan §120 Aufnahme in die Fachschule §121 Schulgeldfreiheit §122 Schulbehörde, Lehrer IX. Abschnitt; Forstliche Forschung, Aus- und Weiterbildung §129 Bundesamt für Wald und Forschungs- und Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und Landschaft §130 Aufgaben und Wirkungsbereich des Bundesamts und Forschungszentrums für Wald X. Abschnitt; Forstliche Förderung §141 Aufgabe der forstlichen Förderung §142 Ziele und Maßnahmen der forstlichen Förderung §143 Allgemeine Bestimmungen §145 Richtlinien §147 Bundeszuschuss zur Waldbrandversicherung XII. Abschnitt; Allgemeine, Straf-, Aufhebungs-, Übergangs- und Schlussbestimmungen §170 Behörden, Zuständigkeit und Instanzenzug §171 Aufgaben der Behörden §172 Forstaufsicht §173 Sachverständigentätigkeit der Behörden §174 Strafbestimmungen §175 Verjährung 8 Das österreichische Forstgesetz

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§176 Allgemeine Haftungsbestimmungen §177 Holzankauf in Bausch und Bogen §178 Befreiung von Bundesverwaltungsabgaben §179 Inkrafttreten §180 Außerkrafttreten von Vorschriften §181 Weitergeltung von Rechtsvorschriften §182 Anhängige Verfahren §183 Anwendbarkeit der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes §183a Anwendbarkeit der Bestimmungen anderer Bundesgesetze §184 Übergangsbestimmungen §185 Vollziehung Anhang Nachhaltigkeit Das Leitthema unserer Zeit „Nachhaltigkeit“ beschreibt in der Forstwirtschaft einen dauernden und gleichen Holzertrag bei Wiederverjüngung der genützten Bestände. Nachdem sich die politischen Anforderungen an den Wald stark geändert haben und die Entwicklung in neue Richtungen geht, wurde die Definition per Gesetz fixiert. So soll nicht nur der Wald selbst erhalten werden, sondern auch sein positiver Einfluss in Form von Wirkungen auf die Gesellschaft: Nutz, Schutz, Wohlfahrt und Erholung. Das Forstgesetz in der Novelle 2002 sagt dazu: I. ABSCHNITT WALD, ALLGEMEINES Nachhaltigkeit § 1. (1) Der Wald mit seinen Wirkungen auf den Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen ist eine wesentliche Grundlage für die ökologische, ökonomische und soziale Entwicklung Österreichs. Seine nachhaltige Bewirtschaftung, Pflege und sein Schutz sind Grundlage zur Sicherung seiner multifunktionellen Wirkungen hinsichtlich Nutzung, Schutz, Wohlfahrt und Erholung. (2) Ziel dieses Bundesgesetzes ist 1. die Erhaltung des Waldes und des Waldbodens, 2. die Sicherstellung einer Waldbehandlung, dass die Produktionskraft des Bodens erhalten und seine Wirkungen im Sinne des § 6 Abs. 2 nachhaltig gesichert bleiben und 3. die Sicherstellung einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung. (3) Nachhaltige Waldbewirtschaftung im Sinne dieses Bundesgesetzes bedeutet die Pflege und Nutzung der Wälder auf eine Art und in einem Umfang, dass deren biologische Vielfalt, Produktivität, Regenerationsvermögen, Vitalität sowie Potenzial dauerhaft erhalten wird, um derzeit und in Zukunft ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Funktionen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene, ohne andere Ökosysteme zu schädigen, zu erfüllen. Insbesondere ist bei Nutzung des Waldes unter Berücksichtigung des langfristigen forstlichen Erzeugungs-

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zeitraumes und allenfalls vorhandener Planungen vorzusorgen, dass Nutzungen entsprechend der forstlichen Zielsetzung den nachfolgenden Generationen vorbehalten bleiben. Begriffsbestimmungen § 1a. (1) Wald im Sinne dieses Bundesgesetzes sind mit Holzgewächsen der im Anhang angeführten Arten (forstlicher Bewuchs) bestockte Grundflächen, soweit die Bestockung mindestens eine Fläche von 1 000  m2 und eine durchschnittliche Breite von 10 m erreicht. (2) Wald im Sinne des Abs. 1 sind auch Grundflächen, deren forstlicher Bewuchs infolge Nutzung oder aus sonstigem Anlass vorübergehend vermindert oder beseitigt ist. (3) Unbeschadet ihrer besonderen Nutzung gelten als Wald im Sinne des Abs. 1 auch dauernd unbestockte Grundflächen, insoweit sie in einem unmittelbaren räumlichen und forstbetrieblichen Zusammenhang mit Wald stehen und unmittelbar dessen Bewirtschaftung dienen (wie forstliche Bringungsanlagen, Holzlagerplätze, Waldschneisen). (4) Nicht als Wald im Sinne des Abs. 1 gelten a) unbeschadet anderer Bestimmungen dieses Bundesgesetzes Grundflächen, die anders als forstlich genutzt werden und deren Bewuchs mit einem Alter von wenigstens 60 Jahren eine Überschirmung von drei Zehntel nicht erreicht hat, b) bestockte Flächen, die infolge des parkmäßigen Aufbaues ihres Bewuchses überwiegend anderen als Zwecken der Waldwirtschaft dienen, c) forstlich nicht genutzte Strauchflächen mit Ausnahme solcher, die als Niederwald bewirtschaftet wurden oder für welche die Schutzwaldeigenschaft festgestellt (§ 23) oder die Bannlegung ausgesprochen (§ 30) wurde, d) Baumreihen, soweit es sich nicht um Windschutzanlagen (§ 2 Abs. 3) handelt, e) bestockte Flächen, die dem unmittelbaren Betrieb einer im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bestehenden Eisenbahn dienen, f ) Grenzflächen im Sinne des § 1 Z 2 des Staatsgrenzgesetzes, BGBl. Nr. 9/1974, soweit sie auf Grund von Staatsverträgen, die die Vermessung und Vermarkung der Staatsgrenze regeln, von Bewuchs freizuhalten sind. Die Bestimmungen der §§ 43 bis 46 finden Anwendung. (5) Nicht als Wald im Sinne des Abs. 1 gelten auch Flächen, die im Kurzumtrieb mit einer Umtriebszeit bis zu 30 Jahren genutzt werden, sowie Forstgärten, Forstsamenplantagen, Christbaumkulturen und Plantagen von Holzgewächsen zum Zwecke der Gewinnung von Früchten wie Walnuss oder Edelkastanie, soweit sie nicht auf Waldboden angelegt wurden und ihre Inhaber die beabsichtigte Betriebsform der Behörde binnen 10 Jahren nach Durchführung der Aufforstung oder Errichtung dieser Anlagen gemeldet hat. Erfolgt eine solche Meldung nicht, findet § 4 Anwendung. (6) Auf die im Abs. 5 erster Satz angeführten Anlagen finden die Bestimmungen der §§ 43 bis 45, auf Forstgärten und Forstsamenplantagen überdies jene des Forstlichen Vermehrungsgutgesetzes Anwendung. (7) Wald, dessen Bewuchs eine Überschirmung von weniger als drei Zehnteln aufweist, wird als Räumde, Waldboden ohne jeglichen Bewuchs, als Kahlfläche bezeichnet. 8 Das österreichische Forstgesetz

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Schutzwaldsicherung, Wildbach- und Lawinenverbauung Wie aus der Forstgeschichte zu entnehmen ist, entstanden aufgrund des Raubbaues am Wald verheerende Katastrophen, die zum Umdenken führten und dem Wald größere Bedeutung zugestanden. Bereits seit dem 14. Jahrhundert, wie urkundlich belegt, haben die Menschen versucht, durch Verbauungen der Bäche die gefürchteten Überschwemmungen zu verhindern. Obwohl die Bauwerke einfach ausgeführt waren, sind einige noch zum Teil erhalten. Im 17. bis 18. Jahrhundert versuchte man, diese Sperren zu staffeln. Heutige Studien machen nachvollziehbar, wie die Verbauungen am Beginn der Wildbäche angelegt wurden, um den darunter liegenden Wald zu schonen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der Staat einige vorbildliche Gesetzte ein, um Wildbachschäden hintan zu halten. Im Reichsforstgesetz von 1852 wurden die Paragrafen für Bann- und Schutzwald verankert und waren bis zur Errichtung des Dienstzweiges der WLV (Wildbach- und Lawinenverbauung) die alleinigen behördlichen Maßnahmen. Die große Anzahl von Hochwasserkatastrophen im Jahr 1882 war der traurige Anlass zur Schaffung des „Wildbachverbauungsgesetzes“ und des „Meliorationsgesetzes“, die Grundlage für den Wildbachverbauungsdienst. Eine Änderung dieses modernen Gesetzeswerkes wurde erst 1959 notwendig, als die Interessen des zunehmenden Skisportes mit den Erfordernissen der Lawinenverbauung in Einklang zu bringen waren. Die Hauptaufgaben der Wildbach- und Lawinenverbauung sind wohl während dieser Jahre gleich geblieben, nur die Anpassung an die neuen Ansprüche an Wald haben neue Initiativen entstehen lassen. In der Forstgesetznovelle 2002 wurde der Begriff „Objektschutzwald“ aufgenommen, dessen Definition im Absatz 2 des § 21 FG nachzulesen ist. Es wurden eigene Gefahrenzonenpläne installiert und Landesschutzwaldplattformen geschaffen, die sich zu einer Bundesschutzwaldplattform zusammenschlossen und eine österreichische Schutzwaldstrategie schrieben. Da alle Berggebiete weltweit mit denselben Problemen zu kämpfen haben, gibt es internationale Zusammenarbeit und Umsetzungsprojekte. Neue Probleme ergeben sich dadurch, dass die Bestände des Schutzwaldes überaltert Tab. 8.1: Flächige Verteilung des österreichischen Schutzwaldes.

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sind und die Verjüngung fehlt. Eine kostengünstige Erhaltung und Verbesserung seiner Schutzwirkung ist ein wesentliches Anliegen der österreichischen Forstpolitik, die das Programm „Initiative Schutz durch Wald“, abgekürzt ISDW genannt, als wichtigen Schritt in Richtung Erhaltung und Verbesserung von Wäldern mit Objektschutzwirkung ins Leben gerufen hat. Entwickelt wurde diese Initiative vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft in Zusammenarbeit mit Experten der Landesforstdienste, des Forsttechnischen Dienstes für Wildbach- und Lawinenverbauung und des Bundesforschungs- und Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und Landschaft (BFW). Es ist Bestandteil des Förderprogramms LE 07–13 und stellt jährlich österreichweit ca. vier Mio € zur Verfügung. Moderne und praxisnahe Erhebung- und Evaluierungsmethoden wurden speziell für diese Initiative entwickelt und liefern wertvolle Information vor Ort. Aus der Forstgesetznovelle 2002: III. Abschnitt; Erhaltung des Waldes und die Nachhaltigkeit seiner Wirkungen B. Wälder mit Sonderbehandlung Schutzwald, Begriff § 21. (1) Standortschutzwälder (Wälder auf besonderen Standorten) im Sinne dieses Bundesgesetzes sind Wälder, deren Standort durch die abtragenden Kräfte von Wind, Wasser oder Schwerkraft gefährdet ist und die eine besondere Behandlung zum Schutz des Bodens und des Bewuchses sowie zur Sicherung der Wiederbewaldung erfordern. Diese sind 1. Wälder auf Flugsand- oder Flugerdeböden, 2. Wälder auf zur Verkarstung neigenden oder stark erosionsgefährdeten Standorten, 3. Wälder in felsigen, seichtgründigen oder schroffen Lagen, wenn ihre Wiederbewaldung nur unter schwierigen Bedingungen möglich ist, 4. Wälder auf Hängen, wo gefährliche Abrutschungen zu befürchten sind, 5. der Bewuchs in der Kampfzone des Waldes, 6. der an die Kampfzone unmittelbar angrenzende Waldgürtel. (2) Objektschutzwälder im Sinne dieses Bundesgesetzes sind Wälder, die Menschen, menschliche Siedlungen oder Anlagen oder kultivierten Boden insbesondere vor Elementargefahren oder schädigenden Umwelteinflüssen schützen und die eine besondere Behandlung zur Erreichung und Sicherung ihrer Schutzwirkung oder Wohlfahrtswirkung erfordern. (3) Die Bestimmungen über Objektschutzwälder gelten auch für den forstlichen Bewuchs in der Kampfzone des Waldes, sofern dem Bewuchs eine hohe Schutzwirkung im Sinne des § 6 Abs. 2 lit. b zukommt. Waldweide und andere Nebennutzungen Die in Abhängigkeit von ihren Grundherren lebenden Bauern hatten kein Interesse am Wald in der Umgebung ihres Betriebes und sie nutzten aus Nahrungs- und Futtermangel die Flächen für landwirtschaftliche Zwecke. Man war jedoch bemüht eine gewisse Ord8 Das österreichische Forstgesetz

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nung in diese Form der Waldnutzung zu bringen und verband die Wälder mit dem Hof, was zum Teil bis heute erhalten blieb. Die landwirtschaftlichen Flächen waren jedoch nicht ausreichend, um die Familien und ihr Vieh zu ernähren und so nutzte man den Wald, ohne ihn zu roden, allerdings bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Bei mangelnder Qualität der Böden war das Nahrungsangebot sehr dürftig. Eine besondere Form der Nutzung war die Waldweide, die erlaubte, das Futter auf den Wiesen für die Winterzeit zu konservieren. Die Beeinflussung durch das Weidevieh veränderte auch die natürliche Artenzusammensetzung der Waldvegetation und führte stellenweise sogar zu dessen Zusammenbruch. Diese Form der Waldbeeinträchtigung stellt auch heute noch ein großes Problem für die Waldbauern dar, denn vor jungen Bäumen macht Weidevieh keineswegs Halt. Diese Problematik findet sogar im neuen Forstgesetz ihren Niederschlag und regelt im Abschnitt D Wälder mit Nebennutzungen unter § 37 Waldweide und Schneeflucht, sowie unter § 38 Streugewinnung und mit § 39 Harznutzung die häufigsten bäuerlichen Nebennutzungen des österreichischen Waldes. Die ersten menschlichen Belastungen des Waldes waren die Ersatzstoffe für Futter und Äsung der Haustiere, die heute noch in den Regulierungsurkunden für Waldweide oder sonstigen Holzbezügen, den Einforstungsrechten verbrieft ist. Wie sehr sich dieser Anspruch auf den Wald verändert hat kann man in § 32a nachlesen, wo der modernen Nutzung Rechnung getragen wird und Wald als besonderer Lebensraum im Sinne eines Schutzgebietes aufgefasst wird. III. Abschnitt; Erhaltung des Waldes und die Nachhaltigkeit seiner Wirkungen B. Wälder mit Sonderbehandlung Einforstungswälder § 32. (1) Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen dieses Bundesgesetzes sind Wälder, auf denen Nutzungsrechte (Einforstungsrechte) im Sinne des § 1 Abs. 1 des Grundsatzgesetzes 1951 über die Behandlung der Wald- und Weidenutzungsrechte sowie besonderer Felddienstbarkeiten, BGBl. Nr. 103, lasten (Einforstungswälder), unter Bedachtnahme auf die Grundsätze des § 1 von ihren Eigentümern so zu bewirtschaften, dass die Ausübung der Einforstungsrechte gewährleistet ist. (2) Die Bestimmungen des Abs. 1 gelten auch für Wälder, die Gemeindegut sind (Gemeindegutswälder) und für Nutzungsrechte an diesen Wäldern (Gemeindegutnutzungsrechte). Wälder mit besonderem Lebensraum § 32a. (1) Als Wälder mit besonderem Lebensraum (Biotopschutzwälder) gelten Naturwaldreservate auf Grund privatrechtlicher Vereinbarungen, Waldflächen in Nationalparken oder Waldflächen, die in Naturschutzgebieten oder durch Gesetz, Verordnung oder Bescheid festgelegten Schutzgebieten nach der Richtlinie 92/43/EWG des Rates zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. Nr. L 206 vom 22. Juli 1992, S 7) oder der Richtlinie 79/409/EWG des Rates über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten (ABl. Nr. L 103 vom 25. April 1979, S 1) liegen. (2) Die Behörde kann auf Antrag des Waldeigentümers oder einer zur Wahrnehmung der mit den Wäldern nach Abs. 1 verbundenen öffentlichen Interessen zuständigen Behörde mit

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Zustimmung des Waldeigentümers mit Bescheid Ausnahmen von der Geltung einzelner Bestimmungen dieses Bundesgesetzes, nämlich betreffend 1. die Wiederbewaldung nach § 13, 2. die Waldverwüstung nach § 16, 3. die Behandlung und Nutzung des Schutzwaldes nach § 22, 4. Maßnahmen bei Schädlingsbefall oder gefahrdrohender Schädlingsvermehrung nach §§ 44 und 45 und 5. den Schutz hiebsunreifer Bestände nach § 80 Abs. 1, anordnen, wenn öffentliche Interessen der Walderhaltung nicht entgegenstehen. (3) Bei Gefahr in Verzug oder bei Wegfall der Voraussetzungen hat die Behörde von Amts wegen oder auf Antrag des Waldeigentümers einen nach Abs. 2 ergangenen Bescheid abzuändern oder aufzuheben und die nach Abs. 2 erteilte Ausnahme zur Gänze oder teilweise zu widerrufen. Bei Gefahr in Verzug für einen nicht unter Abs. 1 fallenden Wald, der an einen Wald im Sinne des Abs. 1 angrenzt, hat die Behörde auch auf Antrag des Eigentümers des gefährdeten nachbarlichen Waldes zu entscheiden. Die Streugewinnung, das Sammeln von Nadel- und Laubstreu, sowie die Aststreugewinnung an stehenden Bäumen, das sogenannte Schneiteln werden heute kaum noch angewandt. Da gemäß dem Forstgesetz die Laubgewinnung von Waldbäumen verboten war, wurden diese „Futterbäume“ neben den Höfen und auf Wiesen gepflanzt und beerntet. Eine moderne Form dieser Nutzung ist die in den §83 (Tannenchristbäume) und § 84 (Reisig) angesprochene Gewinnung von Christbäumen und Schmuckreisig für Gärtner und Floristen. Zu diesem Zwecke werden heute Sonderkulturen für Christbäume auf Waldboden oder Nicht-Waldboden errichtet und wirtschaftlich betrieben. Die Harznutzung der Schwarzkiefer, die einst im südlichen Niederösterreich ein sehr großer Wirtschafts- bzw. Einkommensfaktor für die Bauern war, ist heute noch eine interessante Nebennutzung in der Region und hat eine Produktnische gefunden. Ebenso die Gewinnung von Lärchenharz in den Alpenregionen durch Anbohren der Lärche. III. Abschnitt; Erhaltung des Waldes und die Nachhaltigkeit seiner Wirkungen D. Wälder mit Nebennutzungen Waldweide; Schneeflucht § 37. (1) Durch die Waldweide darf die Erhaltung des Waldes und seiner Wirkungen (§ 6 Abs. 2) nicht gefährdet werden. (2) Der Viehtrieb ist unter Rücksichtnahme auf die nötige Waldschonung, erforderlichenfalls auch auf zumutbaren Umwegen, durchzuführen. (3) In zur Verjüngung bestimmten Waldteilen, in denen das Weidevieh die bereits bestehende oder erst heranzuziehende Verjüngung schädigen könnte (Schonungsflächen), darf die Waldweide nicht ausgeübt werden. Die Weidetiere sind von den Schonungsflächen fernzuhalten. Auf Antrag des Waldeigentümers oder des Weideberechtigten hat die Behörde unter Bedachtnahme auf die im § 1 festgelegten Grundsätze den Umfang, die Dauer und die Kennzeichnung der Schonungsflächen durch Bescheid festzulegen. 8 Das österreichische Forstgesetz

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(4) Die für Weiderechte in Einforstungswäldern geltenden Bestimmungen der Regulierungsurkunden werden durch die Regelungen der Abs. 1 und 3 nicht berührt. (5) Im Falle drohender Elementargefahren und für die Dauer des Anhaltens dieser Gefahren ist jeder Waldeigentümer a) berechtigt, Weidevieh in seinen Wald einzutreiben, darin zu bergen und weiden zu lassen und b) verpflichtet, fremdes Weidevieh zur Bergung in seinen Wald eintreiben zu lassen (Schneeflucht). (6) Der gemäß Abs. 5 lit. b verpflichtete Waldeigentümer hat Anspruch auf Entschädigung für vermögensrechtliche Nachteile. Hinsichtlich der Entschädigung des verpflichteten Waldeigentümers sind die Bestimmungen des § 14 Abs. 1 dritter bis sechster Satz sinngemäß anzuwenden. Streugewinnung § 38. (1) Bodenstreu, wie Laub- oder Nadelstreu und dgl., darf nur unter Schonung des Waldbodens gewonnen werden. Die Gewinnung von Rechstreu ist nur mit Holzrechen und auf derselben Stelle höchstens jedes vierte Jahr zulässig. In Wäldern, deren Böden zur Verarmung neigen, in Schutzwäldern sowie auf Waldflächen, auf denen die Streunutzung die Wiederbewaldung gefährden würde, ist die Gewinnung von Bodenstreu gänzlich untersagt. (2) Die Aststreugewinnung an stehenden Bäumen (Schneiteln) ist verboten. § 39 Harznutzung (aufgehoben durch Art. 1 Z 50 des Bundesgesetzes, BGBl. I Nr. 59/2002). Erholung im Wald Waren es in der Vergangenheit vor allem materielle Ansprüche an Wald in Zusammenhang mit dem Überleben, so änderte sich das mit zunehmendem Wohlstand. Nahrung gibt es nun im Überfluss und die Erwerbstätigkeit lässt auch immer mehr Freizeit. Rasch erkannte man die Schönheiten und Vorteile dieses nun nicht mehr feindlichen Lebensraumes Wald. Dieser Wandel ist am besten in der Kultur zu beobachten, in der Malerei zum Beispiel bei Friedrich Gauermann oder in der Literatur etwa bei Adalbert Stifter. Die Freizeitgesellschaft eroberte den Wald, benützt ihn als Erholungsraum und Sportarena, aber auch als Wasserspeicher und Sauerstoffreservoir. Und das Forstgesetz wird jeweils darauf abgestimmt. Wald kann nicht mehr nur finanziell bewertet werden. Um die finanzielle Belastung auf die Waldbewirtschafter zu Foto 8.9: Schitourismus, ein Wirtschaftsreduzieren und die begrenzten öffentlichen Mittel zweig mit besonderen Ansprüchen an den zu entlasten, werden neue Nutzungspotentiale des Wald (L. Ziehaus) Waldes, wie zum Beispiel Kultur, Tourismus oder Gesundheit in Initiativen und Projekten als alternative Einkommensquelle forciert.

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Jagd und Jägereiordnungen Bevor der Energiebedarf den Menschen zu starken Eingriffen in das Ökosystem Wald veranlasste, war der Hunger im wahrsten Sinn des Wortes eine starke Triebfeder in den Wald. Für die großen Raubtiere war der Mensch zugleich eine begehrte Nahrungsquelle, sodass der Aufenthalt im Wald große Gefahr bedeutete. Um die wertvollen Eiweißressourcen zu nutzen, musste er ihn dennoch regelmäßig aufsuchen. Anfangs galten Wild, Fische und Vögel als „herrenlose“ Tiere und jeder freie Mann konnte ihnen nachstellen; und dies nicht nur, um den Bedarf an Nahrung und Kleidern zu decken, sondern später auch zum Schutz von Vieh und Mensch. Im Mittelalter wurde jedoch das Jagdrecht auf das Eigentum an Grund und Boden bezogen. Beispielgebend waren die deutschen Könige, die neben ihrem Besitz auch alles herrenlose Land, damals noch vorwiegend Wälder, beanspruchten. Bekannt sind die drakonischen Strafen, die die Verletzung dieses Rechtes nach sich zogen, wie z.B. der Königsbann, später Wildbann genannt. Bald wurde die Jagd zu einer Freizeitbeschäftigung für Könige und Landesherren und eine beliebte Ertüchtigung für den Kampf im Krieg. Dieser „edle Wettkampf“ mit wehrhaftem Wild wie Bär und Wildschwein war aufgrund des zahlenmäßig geringeren Vorkommens auch nur Herrschern und Regenten vorbehalten. Aus dieser Zeit blieb bis heute der Jagdspeer als „Saufeder“ erhalten: Mit ihm werden angeschossene Wildschweine erlegt. Daneben gab es Treibjagden mit großem Jagdpersonal und wenigen privilegierten adeligen Schützen. Die Missstände, die damit verbunden waren, brachten die rechtlosen Bauern in arge Bedrängnis und schürten Unruhe und Aufstände. Wenn die Könige ihr Land an Kirchen und Klöster vergaben, trennten sie das Jagdrecht davon und nahmen es als Hoheitsrecht weiterhin für sich in Anspruch. Um die Jagd für die herrschende Klasse attraktiv zu machen, wurde der Wildstand erhöht, was eine Übernutzung der Äsung nach sich zog und in der Folge große Schäden in den landwirtschaftlichen Kulturen verursachte. Diese Wildschäden waren höchst bedrückend für die Bevölkerung. Dazu kamen die Schäden von Raubwild, allen voran Wölfen, an den Viehbeständen, sodass dessen Ausrottung 1788 per Dekret beschlossen wurde. Eine weitere Last war der Jagdfron, zu dem die Untertanen von ihrer Herrschaft verpflichtet waren. Dieser nahm viel Arbeitszeit in Anspruch und verstärkte die Belastung durch die Jagd- und Wildschäden. Etwaige Zäune zum Schutz der Kulturen durften nicht zu hoch und zugespitzt sein, um das Wechseln des Wildes nicht zu behindern. Als es deshalb zu Unruhen und Aufständen der Bauern kam, wurde ihnen der Waffenbesitz verboten und die wenigen Jagdrechte der bäuerlichen Bevölkerung wurden ihnen mittels Jagdregal ab Mitte des 17. Jahrhunderts auch noch genommen. Erst Kaiserin Maria Theresia verkaufte die Wildbanne und schaffte so 1744 die Hofjagden ab. Schon 1740 erließ sie eine Verordnung zur Reduktion des Schwarzwildes und erlaubte die Errichtung hoher Zäune. Mit dem Hofreskript 1766 wurde eine Ersatzpflicht für Wildschäden eingeführt. Heute ist die Abgeltung von Jagd- und Wildschäden per Landesgesetz geregelt; das Jagdrecht ist wieder mit Grund und Boden verbunden und eine Einkommensquelle für den Eigentümer. Neben dieser ökonomischen Komponente ist das Waidwerk unserer Zeit als ökologischer und wichtiger kultureller Faktor 8 Das österreichische Forstgesetz

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für den Wald von enormer Bedeutung. Ein angepasster Wildstand bedarf viel Fingerspitzengefühls und erfordert die Mitwirkung aller Betroffenen: Jäger, Grundbesitzer und Forstmann, manchmal alles in einer Person. Nachdem das Jagdrecht in Österreich Landessache ist, ist die Ausübung mit Landesgesetzen geregelt. Wenn das Verhältnis von Wildstand und Wald jedoch Probleme bringt, kommt das Forstgesetz zum tragen und der zuständige Bundesminister berichtet gemäß § 16 Forstgesetz (Waldverwüstung) jährlich im Internet über die Art und das Ausmaß der Wildschäden. III. Abschnitt; Erhaltung des Waldes und die Nachhaltigkeit seiner Wirkungen A. Erhaltung des Waldes; Allgemeines Waldverwüstung § 16 (5) (Verfassungsbestimmung) Wurde eine durch jagdbare Tiere verursachte flächenhafte Gefährdung des Bewuchses festgestellt, so sind durch das zuständige Organ des Forstaufsichtsdienstes ein Gutachten über Ursachen, Art und Ausmaß der Gefährdung und Vorschläge zur Abstellung der Gefährdung an die Jagdbehörde und an den Leiter des Forstaufsichtsdienstes beim Amt der Landesregierung zu erstatten. Diesem kommt in den landesgesetzlich vorgesehenen Verfahren zum Schutz des Waldes gegen waldgefährdende Wildschäden Antragsrecht und Parteistellung zu. (6) Der Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft hat jährlich einen Bericht über Art und Ausmaß der Waldverwüstungen und insbesondere der flächenhaften Gefährdungen des Bewuchses durch Wild, die Gutachtertätigkeit der Forstbehörden und die Maßnahmen der Jagdbehörden sowie deren Erfolg, gegliedert nach Bundesländern, im Internet zu veröffentlichen. XII. Abschnitt; Allgemeine, Straf-, Aufhebungs-, Übergangs- und Schlussbestimmungen §172 (4) Die Forstaufsicht hat sich auch auf die Feststellung von Forstschäden (wie durch Wild, Insekten und Immissionen) zu erstrecken. Bundesweite Darstellung des Wildeinflusses Nach dem Forstgesetz 1975 i.d.g.F. sind gemäß § 171 Abs. 2z Aufzeichnungen zu führen. Die Feststellung von Forstschäden durch Wild wurde bisher in den Bundesländern unterschiedlich gehandhabt, wodurch auf Bundesebene nur schwer vergleichbare Ergebnisse vorlagen. Die Landesforstdirektoren stimmten daher einer „bundesweiten Darstellung des Wildeinflusses“ zu. Es wurde somit von einer ARGE, bestehend aus Vertretern der Ämter der Landesregierungen, des Bundesamtes und Forschungszentrums für Wald (BFW), des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft sowie in Absprache mit der Jägerschaft und ihrer Experten ein Konzept erarbeitet. Die Vertreter der Zentralstelle Österreichischer Landesjagverbände wurden einbezogen, um die Akzeptanz der Erhebungsergebnisse sicher zu stellen und die Diskussion der daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen und Maßnahmen zu versachlichen. Mit diesem System soll der „Einfluss“ des Schalenwildes auf die Verjüngung und somit deren Entwicklung (und nicht der Ist- Zustand des Waldes) bundesweit vergleichbar

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längere Zeit beobachtet werden. Um die effiziente und gemeinsam getragene Umsetzung zu praktizieren, die europaweit einzigartig ist, wurde ein Bundeszuschuss bereitgestellt. Die kleinste Beurteilungseinheit der Darstellung ist der politische Bezirk. Die derzeit vorliegenden Daten zeigen minimale Veränderungen, aber noch keine Verbesserung der Gesamtsituation. Die Äsungsverhältnisse haben sich aufgrund aufgelichteter Bestände als Folge von Windwurf und Borkenkäfer verbessert. Die schneereichen Jahre 2005 und 2006 waren für das Pflanzenwachstum günstig. Trotzdem ist die eigentlich zu erwartende Verbesserung der Wildschadensituation nicht eingetreten. Es kommt weiter zu einer Entmischung der Artenzusammensetzung, die Anzahl wichtiger Ziel- und Mischbaumarten wird reduziert. Publiziert wurden diese Ergebnisse unter anderem in einer Beilage zur Forstzeitung und auf der eigens eingerichteten Homepage www.wildeinflussmonitoring.at. Fischereigesetz So wie auch das Wild wurden auch die Fische ursprünglich als herrenlos betrachtet und jeder konnte sie fangen. Erst seit das Fischrecht wie auch das Jagdrecht ein königliches Regal wurde, ist die Bewirtschaftung streng geregelt. Der unter Maria Theresia eingesetzte Grundkataster gestattete einen Überblick über die Fischreviere. Aus dem königlichen Regal, einem „Privileg“ aus dem 11. Jahrhundert, entwickelte sich ein landesfürstliches Hoheitsrecht, das heute der Landesgesetzgebung unterliegt. In der Wasserrahmenrichtlinie, die am 23. Oktober 2000 vom Europäischen Parlament als Ordnungsrahmen für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik geschaffen wurde, bildet die Sonderrichtlinie „Wald und Wasser“ ein legistisches Bindeglied zwischen beiden Bereichen.

Forstschutz Grundlagen des Forstschutzes Nicht nur die Hauptnutzung des Waldes, die Holzgewinnung, sondern auch die vielfältige Form der in diesem Buch behandelten Nebennutzungen betreffen ein Thema, das aus der Geschichte heraus zu verstehen ist: die Angst vor dem Verlust des Waldes oder bereits seiner Schädigung. Der Begriff des „Waldsterbens“ wurde in den 80er Jahren durch offensichtliche Schäden an den Baumkronen und das unnatürliche Sterben von Bäumen und Waldteilen geprägt und von der Öffentlichkeit in ganz Europa zum Thema gemacht. Doch in geschichtlicher Zeit wurde der Wald oftmals von Elementarereignissen betroffen, die mehr oder weniger große Schäden am Wald und seiner Umgebung hinterließen. Das Thema Forstschutz wird im Forstgesetz mit dem Abschnitt IV Forstschutz behandelt und beinhaltet die Kapitel A „Schutz vor Waldbrand“ mit den §§ 40–42. Im Kapitel B „Schutz vor Forstschädlingen“ mit den §§ 43–45 und „Forstpflanzenschutz“ mit dem § 46. Im Kapitel C „Forstschädliche Luftverunreinigungen“ mit den §§ 47–57 werden die Ursachen von messbaren Schäden an Waldboden oder Bewuchs behandelt.

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Foto 8.11: Windwurf im Fichtenbestand. Die Fichte leidet unter der Trockenheit und den Sturmereignissen (L. Ziehaus).

Foto 8.12: Schwarzkieferschadfläche. Auch die robuste Schwarzkiefer leidet unter der Trockenheit und den Sturmereignissen (L. Ziehaus).

Foto 8.13: Eschentriebsterben (L. Ziehaus)

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Faktoren der Waldgefährdung Bei der abiotischen Waldgefährdung sind Feuerschäden und Brände sowie Luftverunreinigungen häufig anzutreffen, mehr jedoch noch die Faktoren des Wettereinflusses mit den Einzelereignissen Licht, Hitze, Frost, Wind und Sturm, Blitz, Schnee- und Eisschäden, Hagel, und auch Regen. Einen Einfluss auf die Anfälligkeit der Bäume gegen Krankheiten haben die Bodeneigenschaften wie Wasserüberschuss oder -mangel, desgleichen Nährstoffmangel oder -überschuss und Giftstoffe. Der Entzug der Nährstoffe durch Streunutzung wurde bereits behandelt, Erdstrahlen können den Drehwuchs des Baumes verursachen und der Flugsand ist ein Thema des Schutzwaldes im Flachland. Die biotische Waldgefährdung lässt sich gliedern nach Viren, Rickettsien, Pilzen, Flechten, zweikeimblättrigen Schmarotzern, Forstunkräutern, Mikrosporidien, Würmern, Spinnen, Tausendfüßlern, Insekten, Kamelhalsfliegen, Haften, Schmetterlingen, Zweiflüglern und Hautflüglern. Die große Gruppe der Insekten enthält die meisten Arten, die unseren Wald beeinflussen. Es sind dies: Libellen, Geradflügler, Ohrwürmer, Blasenfüßer, Wanzen, Pflanzensauger und Käfer. Durch den wohl berühmtesten Vertreter, den Borkenkäfer, ist die große Gruppe der Käfer vertreten, von denen andere Waldschädlinge aus den Familien der Laufkäfer, Kurzflügler, Blatthornkäfer, Weichhäuter, Schnellkäfer, Prachtkäfer, Holzbohrer, Keulenkäfer, Ungleichgliedrigen, Pflanzenfresser und Bockkäfer stammen; weiters auch noch die verschiedenen Rüssel- und Kernkäfer. Schaden können auch Schnecken, Nagetiere (Mäuse, Biber) ab einem gewissen Ausmaß, sowie das Schalen- und Schwarzwild. Dass die Waldweide von Haustieren zum Problem werden kann, wurde bereits erwähnt. Einige Schadensursachen im Detail Wetterkatastrophen und Massenvermehrungen von Forstschädlingen haben in den letzten Jahren vermehrt zu durchaus großen wirtschaftlichen Schäden und Störungen der Waldfunktionen geführt. Dies wird durch den Klimawandel noch weiter verschärft werden; besonders dramatisch ist die Situation im Schutzwald. Sturmschaden Windwurfschäden durch Orkane und Stürme der letzten Jahre verursachten enormen wirtschaftlichen Schaden in der Forstwirtschaft. Darüber hinaus war das Schadholz mit den überdurchschnittlichen Sommertemperaturen eine ideale Brutstätte für die Borkenkäfer und der starke Befall setzt sich nun auch ohne weitere Sturmschäden fort. Mit der Förderaktion „Nasslager“ wird versucht das Schadholz durch Beregnung für den Borkenkäferbefall unattraktiv zu machen. Borkenkäfer Der größte Schädling unter den Borkenkäferarten ist der Buchdrucker. Sein kleinerer Verwandter, der Kupferstecher, war bisher weniger aggressiv. Weiters verursachen noch der Lärchenborkenkäfer und die Kiefernborkenkäfer bedeutenden Schaden. Als Novum wurde nun auch im Wienerwald an den Buchen Borkenkäferbefall in Verbindung mit anderen Schadfaktoren festgestellt. – Vgl. Kapitel 4 in diesem Buch. 8 Das österreichische Forstgesetz

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Foto 8.14: Waldbrandbekämpfung. Im steilen Gelände ist die Brandbekämpfung eine gefährliche Tätigkeit (L. Ziehaus).

Pilzkrankheiten Das Eschentriebsterben durch die Pilzart Chalara fraxinea hat in Österreich bereits Kalamitätsausmaß angenommen und das Absterben der Erlen ebenfalls durch den Pilz Phytophtera ist bereits bestandsbedrohend. Die Diplodia-Pilzkrankheit befiel nach der Schwarzkiefer mit großen Schäden in den tieferen Lagen nun bereits die Weißkiefer. Wildschäden Die Schadenssituation durch Wild ist nach wie vor unbefriedigend und vor allem im Schutzwald ist dringender Handlungsbedarf gegeben. Ein Schritt in diese Richtung ist der Dialog aller Beteiligten und die Bereitschaft, Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Waldbrandsituation in Österreich Die Bekämpfung von Waldbränden ist in der Republik Österreich ausreichend und funktionell organisiert. Die Größe der Brandflächen und der daraus resultierende Schaden hält sich im Verhältnis zur Europäischen Union relativ gering, da die Brände durch die ausgezeichnete und perfekte Arbeit der Feuerwehren rasch entdeckt und effizient bekämpft werden. Den Hauptanteil der Waldbrandbekämpfung leistet die Freiwillige Feuerwehr der jeweils betroffenen Gemeinde als autonome Institution. Berufsfeuerwehren haben eine große Bedeutung in größeren Städten bzw. Betrieben (Betriebsfeuerwehr) und fungieren bei Waldbränden unterstützend. In Katastrophenfällen werden auch Luftfahrzeuge (private Flugunternehmen, Bundesheer und Bundesministerium für Inneres) beigezogen. Am wichtigsten neben den Bekämpfungsmaßnahmen sind jedoch die Präventivmaßnahmen, für die die Bestimmungen der §§ 40 und 41 des Forstgesetzes gelten. Diese regeln das Feueranzünden im Wald, das Entzünden oder Unterhalten von Feuer durch hiezu befugte Personen und den vorsichtigen Umgang mit feuergefährlichen Gegenständen sowie das Wegwerfen von brennenden oder glimmenden Zündhölzern und Rauchwaren im Waldgebiet:

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IV. ABSCHNITT FORSTSCHUTZ A. Schutz vor Waldbrand Feuerentzünden im Wald § 40. (1) Im Wald, in der Kampfzone des Waldes und, soweit Verhältnisse vorherrschen, die die Ausbreitung eines Waldbrandes begünstigen, auch in Waldnähe (Gefährdungsbereich), ist das Entzünden oder Unterhalten von Feuer durch hiezu nicht befugte Personen und der unvorsichtige Umgang mit feuergefährlichen Gegenständen verboten. Hiezu zählt auch das Wegwerfen von brennenden oder glimmenden Gegenständen, wie insbesondere von Zündhölzern und Rauchwaren. (2) Zum Entzünden oder Unterhalten von Feuer im Walde sind befugt: a) der Waldeigentümer, seine Forst-, Forstschutz- und Jagdschutzorgane und Forstarbeiter, b) sonstige Personen, sofern sie im Besitze einer schriftlichen Erlaubnis des Waldeigentümers sind, und c) im Gefährdungsbereich der Grundeigentümer und seine Beauftragten. (3) Ständige Zelt- oder Lagerplätze können vom Verbot des Abs. 1 erster Satz ausgenommen werden, sofern die Behörde dies bewilligt. Ist der Waldeigentümer nicht selbst der Antragsteller, so ist dem Antrag dessen Zustimmungserklärung anzuschließen. Die Bewilligung ist zu erteilen, wenn keine Gefährdung durch Feuer besteht. Erforderlichenfalls ist die Bewilligung von Bedingungen und Auflagen zur Hintanhaltung einer Waldbrandgefahr abhängig zu machen. (4) Das Schlagbrennen oder sonstiges flächenweises Abbrennen von Pflanzenresten (Schlagund Schwendabraum, Fratten) ist nur zulässig, wenn damit nicht der Wald gefährdet, die Bodengüte beeinträchtigt oder die Gefahr eines Waldbrandes herbeigeführt wird. Das beabsichtigte Anlegen solcher Feuer ist spätestens vor Beginn unter Angabe des Ortes und des Zeitpunktes der Gemeinde zu melden. (5) Die zum Feuerentzünden befugten Personen haben mit größter Vorsicht vorzugehen. Das Feuer ist zu beaufsichtigen und vor seinem Verlassen sorgfältig zu löschen. Vorbeugungsmaßnahmen § 41. (1) In Zeiten besonderer Brandgefahr hat die Behörde für besonders waldbrandgefährdete Gebiete jegliches Feuerentzünden sowie das Rauchen im Wald und in dessen Gefährdungsbereich zu verbieten. (2) Liegen besondere Gründe vor, die in waldbrandgefährdeten Gebieten Verbote gemäß Abs. 1 zum Schutze vor Waldbränden voraussichtlich als nicht ausreichend erscheinen lassen, so hat die Behörde das Betreten dieser Gebiete durch an der Waldbewirtschaftung nicht beteiligte Menschen zu verbieten. Hiebei ist insbesondere auf Gefährdungen durch starken Erholungsverkehr und hiefür ungünstige Waldstrukturen entsprechend Bedacht zu nehmen. (3) Verbote gemäß den Abs. 1 und 2 hat die Behörde in geeigneter Weise kundzumachen. Der Waldeigentümer darf solche Verbote ersichtlich machen. 8 Das österreichische Forstgesetz

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(4) Zur Hintanhaltung von Waldbränden an Stellen, die infolge des Betriebes einer Eisenbahn durch Funkenflug oder sonstige brandverursachende Einwirkungen besonderer Brandgefahr ausgesetzt sind, hat die Behörde im Einvernehmen mit der für die Eisenbahnangelegenheiten zuständigen Behörde dem Eisenbahnunternehmen die Durchführung geeigneter Schutzmaßnahmen in dem betroffenen Wald und in dessen Gefährdungsbereich (wie die Errichtung und Erhaltung von feuerhemmenden Vorkehrungen etwa in Form von Wundstreifen oder die Entfernung von leicht entzündbaren Gegenständen aus dem gefährdeten Bereich) mit Bescheid aufzutragen. Der Waldeigentümer hat solche Maßnahmen sowie das Betreten seines Grundes zu dulden. Für die ihm daraus entstehenden vermögensrechtlichen Nachteile hat er Anspruch auf eine angemessene Entschädigung; hiefür finden die Bestimmungen des § 31 Abs. 4 bis 10 sinngemäß Anwendung. (5) Bei Neubewaldung entlang von Eisenbahnanlagen hat die Behörde die Durchführung der Schutzmaßnahmen gemäß Abs. 4 dem Waldeigentümer mit Bescheid aufzutragen. Ermächtigung der Landesgesetzgebung Ermächtigung der Landesgesetzgebung § 42. Die Landesgesetzgebung wird gemäß Art. 10 Abs. 2 B-VG ermächtigt, nähere Vorschriften über die a) Meldung von Waldbränden, b) Organisation der Bekämpfung von Waldbränden, c) Hilfeleistung bei der Abwehr, d) Bekämpfungsmaßnahmen am Brandorte, e) nach einem Waldbrand zu treffenden Vorkehrungen und f ) Tragung der Kosten der Waldbrandbekämpfung zu erlassen. B. Schutz vor Forstschädlingen Forstschädlinge, Anzeigepflicht § 43. (1) Der Waldeigentümer, seine Forst- und Forstschutzorgane sowie die Inhaber von Flächen gemäß § 1a Abs. 4 und 5 und § 2 haben ihr Augenmerk auf die Gefahr des Auftretens von Forstschädlingen zu richten und Wahrnehmungen über eine gefahrdrohende Vermehrung von Forstschädlingen umgehend der Behörde zu melden. (2) Forstschädlinge im Sinne des Abs. 1 sind tierische und pflanzliche Schädlinge, wie Insekten, Mäuse, Pilze oder Viren, die bei stärkerem Auftreten den Wald gefährden oder den Holzwert erheblich herabsetzen können. (3) (Anm.: aufgehoben durch BGBl. I Nr. 59/2002) Maßnahmen bei Schädlingsbefall oder gefahrdrohender Schädlingsvermehrung § 44. (1) Der Waldeigentümer hat in geeigneter, ihm zumutbarer Weise a) einer gefährlichen Schädigung des Waldes durch Forstschädlinge vorzubeugen und

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b) Forstschädlinge, die sich bereits in gefahrdrohender Weise vermehren, wirksam zu bekämpfen. (2) Sind durch die Schädlingsgefahr auch andere Wälder bedroht, so hat die Behörde, wenn es die erfolgreiche Vorbeugung oder Bekämpfung erfordert, den Waldeigentümern des gefährdeten Gebietes gemeinsam oder gleichzeitig durchzuführende Maßnahmen durch Bescheid oder Verordnung vorzuschreiben. (3) Lassen es die Größe der Gefahr, der Umfang des Befalls oder die Art der anzuwendenden Maßnahmen geboten erscheinen, so kann der Landeshauptmann unmittelbar eingreifen und die erforderlichen Vorkehrungen, allenfalls nach einem einheitlichen Plan, im Sinne der Abs. 1 und 2 treffen. Für die Vorbereitung und Durchführung der Bekämpfungsmaßnahmen können im Nahbereich der gefährdeten Waldflächen landwirtschaftliche Grundstücke in zumutbarem Ausmaß und gegen Entschädigung in Anspruch genommen werden. Hinsichtlich der Entschädigung findet § 14 Abs. 1 dritter bis sechster Satz sinngemäß Anwendung. (4) Die Kosten der gemeinsam oder gleichzeitig durchgeführten Maßnahmen (Abs. 2 und 3) sind, soweit sie nicht aus öffentlichen Mitteln getragen werden, im Verhältnis des Flächenausmaßes der dadurch geschützten Waldflächen oder nach einem anderen, billigen Wertmaßstab auf die einzelnen Waldeigentümer aufzuteilen. Über den Wertmaßstab, der anzuwenden ist, ist ein Gutachten der Landwirtschaftskammer einzuholen. (5) Müssen die gemäß den Abs. 2 und 3 mit der Bekämpfung befassten Stellen zur Durchführung der Hand- und Zugarbeiten, zur Beaufsichtigung oder zur Hilfeleistung fremde Personen oder fremde Fahrzeuge in Anspruch nehmen, so haben die danach entstehenden Kosten die Grundeigentümer in dem im Abs. 4 umschriebenen Flächenverhältnis zu tragen; die Kostentragung entfällt, wenn die erforderlichen Leistungen von den Waldeigentümern selbst erbracht werden. (6) Landwirtschaftlich und gärtnerisch genutzte Grundstücke sind in die Maßnahmen einzubeziehen, wenn sie im Bereiche der gefährdeten Waldflächen liegen und die Anfälligkeit der auf ihnen befindlichen Kulturen für Forstschädlinge die Einbeziehung notwendig macht. Vor Entscheidung über die Einbeziehung ist ein Gutachten der Landwirtschaftskammer einzuholen. (7) Zur Vermeidung von Gefahren für Menschen und Tiere hat bei Maßnahmen gemäß Abs. 1 lit. b auf Antrag des Waldeigentümers die Behörde, bei Maßnahmen gemäß den Abs. 2 und 3 die danach zuständige Behörde, die erforderlichen Verkehrsbeschränkungen in dem in das Bekämpfungsverfahren einbezogenen Gebiet (Bekämpfungsgebiet) anzuordnen (Sperre). Bei Großbekämpfungen sind die Eigentümer gefährdeter Bienenvölker, die Jagd- und Fischereiausübungsberechtigten sowie die zuständigen Organe von Wasserversorgungseinrichtungen rechtzeitig von der Einleitung der Bekämpfung zu verständigen. Sonstige Maßnahmen § 45. (1) Es ist verboten, durch Handlungen oder Unterlassungen die gefahrdrohende Vermehrung von Forstschädlingen zu begünstigen; dies gilt auch für den Fall, dass eine Massenvermehrung nicht unmittelbar droht. Bereits gefälltes Holz, das von Forstschädlingen in gefahrdrohendem Ausmaß befallen ist oder als deren Brutstätte dienen kann, ist, wo immer es sich befindet, so 8 Das österreichische Forstgesetz

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rechtzeitig zu behandeln, dass eine Verbreitung von Forstschädlingen unterbunden wird. Diese Verpflichtung trifft den Waldeigentümer oder den jeweiligen Inhaber des Holzes. (2) Die näheren Anordnungen über alle für eine Vorbeugung oder Verhinderung einer gefahrdrohenden Forstschädlingsvermehrung geeigneten und erforderlichen Maßnahmen hat der Bundesminister für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft durch Verordnung zu erlassen. In dieser kann insbesondere vorgesehen werden, dass 1. innerhalb einer dem Erfordernis der bestmöglichen Verhinderung einer gefahrdrohenden Forstschädlingsvermehrung entsprechenden Frist befallene oder vom Befall bedrohte Stämme gefällt, solche Hölzer raschest aufgearbeitet, aus dem Wald entfernt, entrindet oder sonst für eine gefahrdrohende Forstschädlingsvermehrung ungeeignet gemacht werden, 2. die Lagerung solcher Hölzer, auch außerhalb des Waldes, nur gestattet ist, wenn sie bestimmten chemischen oder mechanischen Behandlungsweisen, wie Besprühen oder Entrindung, unterworfen sind. In den meisten Fällen von Waldbränden war Fahrlässigkeit die Ursache, gefolgt von unbekannten Brandquellen, weiters Naturereignisse wie z.B. Blitzschlägen während Sommergewittern; Brandstiftung ist die geringste Gefahrenquelle. Um in den gebirgigen und waldreichen Gebieten Österreichs eine rasche Bekämpfung zu gewährleisten, haben die einzelnen Bundesländer in ihren einschlägigen Gesetzen besondere Einrichtungen vorgesehen. Im waldreichsten Bundesland, der Steiermark, wurde zum Beispiel jede Bezirksfeuerwehr mit besonderen Gerätschaften, wie leichte Tragkraftspritzen, Feuerpatschen, Schanzwerkzeug, zur Waldbrandbekämpfung ausgestattet. Weiters steht Spezialausrüstung auf drei Stützpunkten in Form etwa von Hubschrauberlöschwassercontainern, Außenlasttransportnetzen und Löschwasserauffangbehältern bereit. Jeder Waldbesitzer in Österreich hat die Möglichkeit, eine Waldbrandversicherung abzuschließen, die ihm den Schaden durch Feuer ersetzt. Privatwaldbesitzern werden im Schadensfall 25 Prozent der Prämie durch das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft vergütet.

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9 Forstliche Förderung: Ein bedeutendes Instrument der Forstpolitik Leopold Ziehaus

Aufgrund des Raubbaus am Wald zur Versorgung der Salinen und Eisenwerke im Mittelalter kam es zu Hochwasser und Lawinen im Gebirge. Man erkannte um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Gefahr der Entwaldung und sah es als Aufgabe des Staates, den Wald zu schützen sowie eine geregelte Holzversorgung zu gewährleisten. Es musste für seinen Nachwuchs gesorgt werden, weshalb Obsorge und Pflege nötig waren. Die Bedeutung des Waldes als Regulator für Wasserhaushalt und -abfluss erkannte man mit aller Deutlichkeit bei dem verheerenden Hochwasser 1882. Um weitere Schäden zu verhindern, wurden gefährliche Wildbäche mit gewaltigen Aufwendungen verbaut, die ersten nennenswerten Geldmittel des Staates für den Wald und seine Wirkungen. Die Investitionen in die Erhaltung des Waldes wurden vor diesem Zeitpunkt nur vom Grundeigentümer selbst vorgenommen und waren in erster Linie Aufforstung nach Kahlschlag. Dabei bevorzugten sie Nadelhölzer für die Kohlegewinnung. Erst der Nutzen durch die gesamte Bevölkerung bewirkte einen Wandel in der Bewertung und der Bewirtschaftung von Wäldern. Es wurde auch ein Gesetzesentwurf „betreffend Vorkehrungen zur unschädlichen Ableitung der Gebirgswässer“ erstellt und eigene Kommissionen gebildet. Sie waren die Vorstufe zur heutigen WLV, der Wildbach und Lawinenverbauung, die auch in unserer hoch technisierten Welt große öffentliche Mittel bewegt. Die meisten Kronländer hatten damals noch die Theresianischen oder Josefinischen Waldordnungen. In Tirol waren die gesammelten Forstdirektiven von 1822 und die provisorische Waldordnung von 1839 in Kraft und in Niederösterreich gab es die Waldordnung von 1813. Aufgrund der schrecklichen Elementarereignisse und des schlechten Waldzustandes forderte die betroffene Öffentlichkeit ein rasches Handeln. Bereits 1843 wurde mit den Vorbereitungen für ein umfassendes Forstgesetz begonnen, welches mit modernen Reformen in das neue staatswirtschaftliche System eingebunden werden sollte. Das Forstgesetz vom 3. Dezember 1853 bestand aus sieben Abschnitten und 77 Paragrafen und regelte die Bewirtschaftung der Wälder, die Bringung des Holzes, Waldbrände und Insektenschäden. Der Beginn des bis heute praktizierten Forstschutzes war gegeben und seiner Wirkung kommt derzeit bei den Folgen der Klimaerwärmung besondere Bedeutung zu. Diese Katastrophen bewirkten ein Umdenken bei der Waldbewirtschaftung und nach der Bereitstellung von Holz für die Industrie erkannte man die Notwendigkeit der Erhaltung des Waldes zum Wohle der Bevölkerung. Dieser Gedanke ist heute unter dem Begriff der Nachhaltigkeit verankert. Die Investitionen in den jungen Wald vor der Nutzung gewann immer mehr an Bedeutung und die Bereitstellung von Wissen und

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materiellen Zuwendungen wurde wichtiger. Die Holznutzung wurde somit im Sinne des Allgemeinwohls beschränkt und die finanzielle Lage der Bewirtschafter schwieriger. Zunächst beschränkte sich die Obrigkeit lediglich auf Gebote und Verbote und niemand fragte danach, wie der Waldeigentümer damit wirtschaftlich überleben konnte. Die Zuwendung der Obrigkeit an den Wald wurde entweder in unentgeltlicher Beratung oder bereits finanzieller Hilfestellung seitens des Bundes, Landes, der Kammer-, Standes- oder Berufsvertretung dargeboten; entweder als kostengünstig rückzahlbares Darlehen oder als Beihilfe, in weiterer Folge „Förderung“ genannt. Der größte Umfang an Waldförderung wurde seit dem Beitritt Österreichs zur EU erreicht, und gipfelt nun in dem Programm zur Förderung des ländlichen Raumes LE 07–13.

Waldförderung durch Beratung und Geldzuwendungen Bereits im Jahre 1873 wurde den Forstbehörden aufgetragen, die Waldbesitzer zu beraten, um den Waldzustand zu verbessern. Erst 1927 und dann fortlaufend wurden geringe Mittel von der Bundesregierung für die Erstellung von Waldwirtschaftsplänen und Bringungsanlagen an „Waldgemeinschaften“ ausbezahlt. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden als Förderaktion zusätzliche Lebensmittel- und Fettrationen sowie Arbeitskleidung für Forstarbeiter zur Ankurbelung der Holzproduktion gegeben. Aus dem Devisenerlös von Schnittholzexporten wurden Geldmittel direkt für die Maßnahmen im Wald zur Verfügung gestellt.

ERP – European Recovery Program

Im Jahre 1948 gab es nun eine finanzielle Förderung des Bundes für forstliche Maßnahmen, Wirtschaftsplanerstellung, Forststraßenbau und dergleichen. Die zusätzliche finanzielle Unterstützung durch Amerika zielte darauf ab, der notleidenden Bevölkerung nach dem Krieg zu helfen und den Einfluss der Sowjetunion in Europa zurück zu drängen. Im Juni 1947 rief die USA das European Recovery Program (ERP) als Hilfsprogramm für den wirtschaftlichen Wiederaufbau des zerstörten Europa sowie als Voraussetzung für dauernden Frieden und Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA ins Leben. Gleichzeitig schuf man damit einen Zukunftsmarkt für amerikanische Produkte. In den Jahren 1948 bis 1953 erhielten 16 europäische Staaten und der Freistaat Triest aus diesem Programm insgesamt ca. 16 Mrd. US-$. Durch das ERP-Fonds-Gesetz von 1962 im Übereinkommen mit der Österreichischen Nationalbank standen Österreich rund 17,6 Milliarden Schilling zur Verfügung. Für Grundnahrungsmittel, Saatgut, Infrastruktureinrichtungen und die Währungsreform wurden 7,2 Milliarden Schilling verwendet und für langfristige Projekte ca. 10,4 Milliarden. Auch für die Forstwirtschaft wurde 1949 ein Förderprogramm begründet, welches dem Wald dringend notwendige Investitionen und Maßnahmen erlaubte. Besonders hervorgehoben sei die Förderung der Aufforstung – da in den Kriegs- und Nach-

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kriegsjahren kaum in den Wald investiert wurde – ferner der Forststraßenbau und die Waldbestandsaufnahme. Die daneben zur Verfügung stehenden Mittel des Bundesbudgets wurden als sinnvolle Ergänzung eingesetzt, um den Erfolg zu vergrößern und ein Maximum an Tiefen- und Breitenwirkung zu zielen. Das ERP-Forstwirtschaftprogramm dient als Förderung zur langfristigen Erhaltung des Waldbestandes vor allem der Verbesserung des Ertrages aus dem Wald, ferner zur Verbesserung der Schutzwirkung und zur verstärkten Nutzung von Energieholz. Es werden Aufforstungsprojekte genehmigt, die die Neuaufforstung von Ödland oder Grenzertragsböden zum Inhalt haben, Bestandesumbaumaßnahmen, Wiederaufforstung nach Katastrophen und die Anlage von Energieholzflächen betreffen. Die mit diesen Maßnahmen in Zusammenhang stehenden Kulturschutz- und Pflegearbeiten können bis maximal fünf Jahre gefördert werden. Um eine rationelle Bewirtschaftung und Holznutzung zu ermöglichen, wird auch der Forststraßenbau zur Aufschließung von unzugänglichen Waldgebieten gefördert. Ebenso wurden Investitionen von Maschinen, Geräten und Fahrzeugen zur Mechanisierung der Holzwerbung und der Holzerzeugung unter Berücksichtigung ökologischer Erfordernisse unterstützt.

Walderhaltungsprogramm 1957

Die Ergebnisse der Waldstandsaufnahme und die guten Ergebnisse der ERP-Investitionen führten zum „Walderhaltungsprogramm des Jahres 1957, einer Fortsetzung der bisherigen Maßnahmen, jedoch mit noch mehr Gewicht auf der Aufforstung. Erstmals wurde ein „Finanzierungsschlüssel“ eingesetzt, der sich bis heute bewährt hat und dem in der neuesten Form der Förderung durch die EU besondere gesetzliche Bedeutung zukommt. Der jeweilige Eigentümer wird verpflichtet, 30 % in Form von Eigenleistung durch Arbeit oder Bargeld beizusteuern; 50 % als Darlehen aus dem ERP-Fonds und 20 % gab der Staat aus Steuergeldern dazu.

Agrar-Investitionskredit – AIK

Die Form der verbilligten Kreditvergabe wurde durch die Aktion der Agrar-Investitionskredite (AIK) im Jahre 1959 erweitert, wo auch die Forstwirtschaft in kleinem Umfang für die Forsterschließung und natürlich wieder für die Aufforstung beteiligt wurde. Mit dem ERP-Fondsgesetz 1962 wurde auch eine neue Form der Darlehensvergabe aus dem Counterpartfonds für Eigentümer von großen Waldflächen möglich.

Landwirtschaftsgesetz

Im Jahre 1960 wurde das Landwirtschaftsgesetz beschlossen, das bis heute gültig ist, auch wenn es mehrfach novelliert wurde. Die Absicht war eine preisgünstige Ernährungssicherheit und die Teilnahme der bäuerlichen Bevölkerung an der Wohlstandsentwicklung, nach dem Motto: „Hat der Bauer Geld, hat’s die ganze Welt“. Damals gab es rund 9 Forstliche Förderung

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400 000 Betriebe und 30 % der Erwerbstätigen waren im Agrarbereich tätig. Im Jahre 2007 waren es nur noch 187 000 Betriebe und der Prozentsatz der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft liegt unter 5 %. Das Gesetz verlangt, jährlich einen Bericht über das abgelaufene Jahr zu erstellen und der Bundesregierung sowie dem Nationalrat vorzulegen. 1995 wurde erstmals die Vergabe der landwirtschaftlichen Fördermittel inklusive Forstwirtschaft im sogenannten grünen Bericht gemäß § 9 des LWG dargestellt. Die Forstwirtschaft wird auch heute noch im Grünen Bericht erwähnt, jedoch seit 1975 und dem neuen Forstgesetz muss gemäß § 16 des FG 1975 ein eigener Bericht vorgelegt werden, der Waldbericht. Der Grüne Plan, das ist die Verwendung der Mittel gemäß § 10 des Landwirtschaftsgesetzes, hat auch für die Forstwirtschaft einige Fördermittel für Neuaufforstung und Forststrassen vorgesehen, jedoch in geringem Ausmaß. Wenn man bedenkt, dass 47,5 % der österreichischen Staatsfläche von Wald bedeckt ist und dieser als Lebensgrundlage von ihren Besitzern bewirtschaftet wird, war eine entsprechende Unterstützung dringend notwendig. Die vermehrten Leistungen des Waldes, die für die Öffentlichkeit erbracht werden sollten, wären ohne öffentliche Unterstützung nicht mehr möglich, da die schlechte Wirtschaftslage in der Holzbranche das Einkommen drastisch reduzierte.

Forstgesetz 1975

Nach intensiven Beratungen und zehn Jahren Vorbereitung trat das neue Forstgesetz im Jahre 1975 in Kraft und die meisten bisherigen Vorschriften verloren ihre Gültigkeit. Unter den vielen Aspekten der modernen Forstwirtschaft wurde auch die forstliche Fördertätigkeit, die mittels Richtlinien privatrechtlich gehandhabt wird, verankert: X. ABSCHNITT FORSTLICHE FÖRDERUNG Aufgabe der forstlichen Förderung § 141. Aufgabe des Bundes nach diesem Bundesgesetz ist es, die Forstwirtschaft hinsichtlich ihrer im öffentlichen Interesse liegenden Wirkungen zu fördern. Ziele und Maßnahmen der forstlichen Förderung § 142. (1) Ziele des Bundes nach diesem Bundesgesetz sind: 1. Erhaltung und nachhaltige Entwicklung der Multifunktionalität der Wälder, insbesondere im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen, ökologischen oder gesellschaftlichen Funktionen, 2. Integration der Forstwirtschaft in die Erhaltung und nachhaltige Entwicklung des ländlichen Raumes, 3. Erhaltung, Entwicklung und nachhaltige Bewirtschaftung der Wälder, insbesondere auch im Hinblick auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Forstwirtschaft und die Sicherstellung der Holzversorgung.

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(2) Als Maßnahmen des Bundes nach diesem Bundesgesetz (Förderungsmaßnahmen) kommen insbesondere in Betracht: Maßnahmen 1. zum Schutz vor Naturgefahren, jedoch ausgenommen solche gemäß § 44 Abs. 2 und 3, 2. zur Erhaltung, Verbesserung oder Wiederherstellung von Schutzwäldern oder Wäldern mit erhöhter Wohlfahrtswirkung, 3. zur Erhaltung oder Verbesserung des gesellschaftlichen Wertes der Wälder, 4. zur Erhaltung oder Verbesserung der ökologischen Stabilität der Wälder, 5. der Information oder der Innovation für eine multifunktionale Forstwirtschaft, 6. zur Weiterbildung und Beratung der in der Forstwirtschaft Tätigen, 7. zur Erhaltung oder Verbesserung des wirtschaftlichen oder ökologischen Wertes der Wälder, 8. für die Erweiterung oder Verbesserung der forstlichen Infrastruktur oder zur Rationalisierung der Forstarbeit, 9. für die Erweiterung oder Verbesserung der gemeinschaftlichen Waldbewirtschaftung, 10. der Verarbeitung, des Marketing von Holz oder zur Bereitstellung von Biomasse, 11. zur Strukturverbesserung.

Beitritt zur Europäischen Union 1995

Ein großer Schritt zu einer weiteren Veränderung in der Land- und Forstwirtschaft war der EU-Beitritt 1995 und dies insbesondere in der Finanzierung und Abgeltung der Leistungen für die Gesellschaft. Nationale Pläne, Gesetze und vor allem Finanzierungsmodelle mussten nun auf die Vorgaben der Europäischen Union abgestimmt werden. Der finanzielle Beitrag war dementsprechend hoch, musste aber durch nationale Mittel „ausgelöst“, das heißt in prozentueller Äquivalenz mitfinanziert werden.

EU-kofinanzierte Forstförderung 2000–2006

Grundlage ist die VO (EG) 1257/99 und die Sonderrichtlinien C III und C IV sowie die für die Förderungsgegenstände „Waldbesitzervereinigungen“, „Holzernte, Holztransport, und -lagerung, Sortierung oder Verarbeitung des Holzes vor der industriellen Verarbeitung sowie die Bereitstellung von Biomasse“ formulierten Prämissen.

Nationale Förderung

Die nationale Förderung beruht auf dem Abschnitt X des Forstgesetzes 1975. Vornehmlich werden die Budgetmittel zur Ausfinanzierung von Hochlagenaufforstungs- und Schutzwaldsicherungsprojekten, zur Fertigstellung von laufenden Wegebauprojekten, für die forstlichen Berater und in einem geringen Maße für den Forstschutz verwendet. Sind die Maßnahmenmittel am Anfang noch sehr produktionsorientiert gewesen, so gewinnen Umwelt und Naturschutz etwas mehr an Bedeutung.

9 Forstliche Förderung

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Programm zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes 2000 bis 2006

Die Waldbewirtschaftung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Ökosystem Wald und des ländlichen Raumes. Jedoch die Absiedlung der ländlichen Bevölkerung aus verschiedenen Regionen, die wachsenden Ansprüche der Allgemeinheit an die Waldbewirtschafter und die internationalen Preisgestaltungen behindern die positive Entwicklung der ruralen Gebiete. Das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft hat daher in Einklang mit der europäischen Union folgende Maßnahmen im Programm zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes von 2000 bis 2006 mit insgesamt € 129,77 Millionen gefördert. Tab. 9.1: Ertragswaldtypen in Österreich

Förderhöhe bzw. Förderintensität und ausbezahlte Geldmittel: • Erhaltung und Verbesserung des wirtschaftlichen und ökologischen Wertes der Wälder (19,97 Mio €) Erstellung von betrieblichen Plänen –- max. 500 ha/J und € 18,17 Gesamtförderung pro ha, max. 60 % % der förderfähigen Kosten Zuschüsse in Form von Bauschsätzen (in zwei Tranchen, erste bei Anlage, zweite nach Sicherung ohne Kultur- und Pflegezuschüsse) • Erhaltung und Verbesserung des gesellschaftlichen Wertes der Wälder (0,82 Mio €) max. 80 % % der förderfähigen Kosten, max. 20 ha/J und Maßnahme • Erhaltung, Verbesserung und Wiederherstellung von Wäldern mit erhöhter Schutzoder Wohlfahrtswirkung ((20,02 Mio €) max. 90 % % der förderfähigen Kosten • Erschließung (53,52 Mio €) Investition für die Walderschließung max. 60 % % der förderfähigen Kosten; Anlage von Wasserstellen max. 60 % % der förderfähigen Kosten • Verarbeitung, Marketing von Holz und Biomasse (10,15 Mio €) Holzernte, Holztransport oder Verarbeitung des Holzes sowie Bereitstellung von Biomasse max. 35 % % der förderfähigen Kosten –- Waldbesitzervereinigungen, ab € 72. 672,83 Gutachten des ERP-Fonds einzuholen. Marketing und Holzbörse max. 60 % % der förderfähigen Kosten Holzwerbung, max. 60 % % der förderfähigen Kosten

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• Innovation und Information (8,00 Mio €) Öffentlichkeitsarbeit, Waldpädagogik und Waldschule max. 80 % % der förderfähigen Kosten Innovation und Pilotprojekte max. 80 % % der förderfähigen Kosten • Waldbesitzervereinigungen (3,77 Mio €) max. 60 % % der förderfähigen Kosten • Außergewöhnliche Belastungen und Vorbeugung (9,55 Mio €) Wiederaufbau eines durch Elementarereignisse zerstörten forstwirtschaftlichen Produktionspotentials max. 90 % % der förderfähigen Kosten für Maßnahmen gemäß „Wiederherstellung von Wäldern mit erhöhter Schutz- und Wohlfahrtsfunktion“ max. 60 % % der förderfähigen Kosten für Erhaltung und Verbesserung des wirtschaftlichen und ökologischen Wertes des Waldes Vorbeugung max. 90 % % der förderfähigen Kosten und max. 60 % % der förderfähigen Kosten wie vorher. • Erhaltung und Verbesserung der ökologischen Stabilität der Wälder (0,17 Mio €) € 39,97 bis max. € 119,98 pro ha und Jahr der gesamten förderfähigen Kosten • Neuaufforstung landwirtschaftlicher Flächen und deren Pflege (3,80 Mio €) 60 % % der förderfähigen Kosten, Ausgleichsprämie € 724,98 pro ha und Jahr für einen Zeitraum von bis zu 20 Jahren für aufforstungsbedingte Einkommensverluste. Die Förderung der Aufforstung und Pflege über 5 Jahre nach 3 Kategorien (LW, MW u. NW) in Form von Bauschsätzen pro ha und Jahr, wobei die Bauschsätze je nach Bundesländern in der Höhe leicht variieren. • Anpflanzung von landwirtschaftlichen Flächen mit schnell wachsenden Baumarten max. 60 % % der förderfähigen Kosten in Form von Bauschsätzen. Die Ziele der forstlichen Förderung LE 07–13

Ein wichtiges Ziel der forstlichen Förderung in den Sonderrichtlinien „Wald & Wasser“, „Sonstige Maßnahmen“, „Leader“ und „Nasslager“ ist die Erhaltung und nachhaltige Entwicklung der Multifunktionalität der österreichischen Wälder besonders in Hinblick auf ihre wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Funktionen. Damit soll ein Beitrag zur Sicherung und Verbesserung der Struktur des ländlichen Raumes, vor allem der Arbeitsplatzsituation, des Einkommens, sowie der Lebensfähigkeit der land- und forstwirtschaftlichen Betriebe aber auch der gesamten Umwelt geleistet werden. Schwerpunkte der gesamten Förderung nehmen die Unterstützung von Waldbesitzern und Waldbesitzervereinigungen, der Schutz vor Naturgefahren, die Umwelt und die Diversifizierung ein. Da es sich bei der Förderung der Wälder um eine Objektförderung handelt, können neben den Waldflächen, die sich in Besitz von privaten Eigentümern befinden, bei einzelnen Maßnahmen auch Waldflächen im Besitz von Gemeinden miteinbezogen werden. Das österreichische Programm für die Entwicklung des ländlichen Raumes 2007– 2013 sieht auch eine starke Unterstützung der forstlichen Themen vor und erstreckt sich über alle vier Schwerpunkte, die von der Ratsverordnung vorgegeben sind: o Schwerpunkt 1: Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Land- und Forstwirtschaft 9 Forstliche Förderung

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o Schwerpunkt 2: Verbesserung der Umwelt und der Landschaft o Schwerpunkt 3: Lebensqualität im ländlichen Raum und Diversifizierung der ländlichen Wirtschaft o Schwerpunkt 4: LEADER Bei den Themen „Wald – Wirtschaft“, „Wald – Mensch“, „Waldschutz – Schutzwald“ und „Wald – Umwelt“ werden jährlich 25 Mio € bereitgestellt, und zusätzlich 16 Mio € für den Bereich „Schutz vor Naturgefahren“. Das sind für den Programmzeitraum insgesamt 287 Mio € oder ca. 4 Prozent des Gesamtbudgets der LE 07–13 zur: 1. Verbesserung des wirtschaftlichen Wertes der Wälder 2. Erhöhung der Wertschöpfung bei forstwirtschaftlichen Erzeugnissen 3. Zusammenarbeit bei der Entwicklung neuer Produkte, Verfahren und Technologien im Forstsektor 4. Infrastruktur im Zusammenhang mit der Entwicklung und Anpassung der Forstwirtschaft 5. Wiederaufbau des forstwirtschaftlichen Potenzials und Einführung vorbeugender Aktionen 6. Förderung des Fremdenverkehrs in Zusammenhang mit Forstwirtschaft 7. Erhaltung und Verbesserung des ländlichen Erbes 8. Erstaufforstung landwirtschaftlicher Flächen 9. Zahlungen im Rahmen von Natura 2000 10. Zahlungen für Waldumweltmaßnahmen 11. Berufs-, Weiterbildungs- und Informationsmaßnahmen 12. Waldpädagogik 13. Schutzwald 14. Schutz vor Naturgefahren 15. Information und Leader

Forstliche Förderung ab 2013

Nach drei Perioden der Agrarpolitik und somit auch seiner Instrumente hat es eine rasche Entwicklung innerhalb der EU gegeben, die Ost-Erweiterung und die Finanzkrise haben einen entscheidenden Einfluss darauf. Ein besonderer Schwerpunkt in der Forstwirtschaft ist die große Bedeutung des Waldes als CO2-Speicher und als Energielieferant der Zukunft durch nachwachsende Rohstoffe, die durch viele Aktivitäten von staatlicher Seite unterstützt wird. Die Beobachtung der bevorzugten Maßnahmen des Förderprogramms, die Sicherheit der Betriebe und die finanzielle Abgeltung für die Bereitstellung von Faktoren für unsere Lebensqualität wird ein Kriterium für die Weichenstellung der Rahmenbedingungen sein.

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Walddialog und Waldprogramm Abstimmung der Interessenskonflikte

Der Wandel der Zeit brachte dem Wald auch neue Interessen und Ansprüche aus der Bevölkerung. Nachdem dies immer öfters zu Konflikten und Problemen wurde, entstand ein breiter, offener und transparenter Beteiligungsprozess. Dieser andauernde Dialog über den Wald und seine immanenten Themen sollte die nachhaltige Bewirtschaftung, Erhaltung und vor allem Entwicklung des österreichischen Waldes gewährleisten. Am Walddialog und der Erstellung des Waldprogrammes beteiligten sich ca. 80 private und staatliche Organisationen aus den Bereichen Umwelt- und Naturschutz, Sport, Land- und Forstwirtschaft, Holz- und Papierindustrie, ArbeitnehmerInnen- und KonsumenInnenschutz, Jagd, Kirche, Entwicklungszusammenarbeit, Jugend, Wissenschaft und Bildung, Energiewirtschaft, Bundesländer und öffentliche Verwaltung. Die allgemeine Öffentlichkeit kann sich über die Internetplattform www.walddialog.at oder durch schriftliche Stellungnahmen am Prozess beteiligen. Das politische Entscheidungsgremium des Walddialogs ist der Runde Tisch, der vom Bundesminister geleitet wird. Hier entscheiden derzeit 44 Organisationen mit dem Lebensministerium über die weitere Vorgangsweise und die Zielrichtung. Die Zusammenfassung zu einer effizienten forstpolitischen Themenstellung erfolgte in fachspezifischen Arbeitsgruppen und in sogenannten Waldforen. Eine Prozessmanagementgruppe plant, steuert und koordiniert den Walddialog, die Koordinationsgruppe ist die Schnittstelle zwischen den Modulen und dem Runden Tisch und ein Sekretariat führt die operative Tätigkeit aus. Dieser moderne Prozess begann mit der Beschreibung der Ist-Zustände, Trends und Problemstellungen. Durch eine umfangreiche Datenerhebung wurden die Herausforderungen und der Handlungsbedarf im Wald identifiziert. Danach erfolgte die Formulierung gemeinsamer Prinzipien, konkreter Ziele und Leitbilder (Maßnahmenbereiche). Soll- und Istwerte wurden als Indikatoren zur Messung der Zielvorgaben installiert. Umgesetzt wird das Waldprogramm durch ein ständig adaptiertes und weiterentwickeltes Arbeitsprogramm und es liegt an den beteiligten Organisationen bzw. in ihrem Verantwortungsbereich, die Maßnahmen entsprechend umzusetzen. Internationale Forstpolitik

Obwohl unser Land im internationalen Vergleich klein an Staatsfläche ist, trägt es viel an Fachkompetenz zur Entwicklung der Wälder bei. Der EU-Vorsitz Österreichs setzte deutliche Zeichen dafür und die EU-Forststrategie sowie der daraus resultierende EUForstaktionsplan tragen die Handschrift Österreichs. Die Thematik spielt auch in die verschiedenen internationalen Übereinkommen, wie Biodiversitätskonvention, KlimaRahmenkonvention oder das Bergwaldprotokoll der Alpenkonvention zum Schutz unserer Berge.

9 Forstliche Förderung

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Tab. 9.2: Forstpolitische Maßnahmenschwerpunkte der EU-Ratsverordnung

Fachliteratur zu Forstwirtschaft und -politik: Ast, H. (2005): Sägemühlen in der Niederösterreichischen Waldmark, Eigenverlag Autorengemeinschaft (1994): Österreichs Wald. Vom Urwald zur Waldwirtschaft. „Österreichs Wald“, Österr. Forstverein (Hg.), Wien Bobek, H. P. (1994): Das Forstgesetz von 1975. In: Österreichs Wald. Vom Urwald zur Waldwirtschaft. Autorengemeinschaft „Österreichs Wald“, Österr. Forstverein (Hg.), Wien Bundesministerium für land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Nachhaltige Waldwirtschaft in Österreich, Waldbericht (2008) Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft, Österreichisches Waldprogramm (2006) Festschrift (1967): 100 Jahre Landwirtschaftsministerium, Österreichischer Agrarverlag Wien Glück, P. (1993): Forstliche Förderung in der EG, Schriftenreihe des Instituts für forstliche Betriebswirtschaft und Forstwirtschaftspolitik, Band 18, Eigenverlag Wien Gossow, H., R. Hafellner, F. Kraxner & L. Ziehaus (2005): Waldbrand – Thema oder Tick? Forstzeitung, 116 (8/05), 14–15, Wien Jäger, F. (2003): Forstrecht mit Kommentar, Verlag Österreich, Wien Jäger, F. & R. Blauensteiner (1997): Forstrecht 2. Auflage, Verlag Österreich, Wien Johann, E. (1994): Das Forstgesetz von 1975. In: Österreichs Wald. Vom Urwald zur Waldwirtschaft. Autorengemeinschaft „Österreichs Wald“, Österr. Forstverein (Hg.), Wien Johann, E. (2004): Wald und Mensch, Verlag des Kärntner Landesarchivs Kohlross, H. (2006): Die Schwarzföhre in Österreich, Eigenverlag Norer, R. (2005): Lebendiges Agrarrecht, Entwicklungslinien und Perspektiven des Rechts im ländlichen Raum, Springer Wien/New York Schwerdtfeger, F. (1981): Die Waldkrankheiten. Lehrbuch der Forstpathologie und des Forstschutzes, Paul Parey, Hamburg und Berlin

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Foto 8.6: Naturverjüngung. Nur ein Bruchteil der vielen Samen wird eine Pflanze (L. Ziehaus).

Foto 8.7: Bergwald: Große Teile dieser Wälder bieten den Menschen nicht nur Holz, sondern auch Schutz vor Naturgefahren (L. Ziehaus). Schutzwald ist auch ein besonderes Thema des Walddialoges.

Foto 8.8: Harzbaum: Durch regelmäßige Ver­ wundung der Rinde der Schwarzkiefer wird im südlichen Niederösterreich auch heute noch das Pech gewonnen (L. Ziehaus).

Abb. 8.2: Phasen des österreichischen Walddialogs

Abb. 8.3: Sujet „Willkommen im Wald“ aus der gleichnamigen Informations­ kampagne des Lebensministeriums, um richtiges Verhalten im Wald zu fördern

Abb. 8.4: Wirtschaftlicher Stellenwert der Jagd

Foto 8.10: Fischereigewässer im Wald (L. Ziehaus)

Abb. 9.1: Außen­ handel mit Holz 2008

Außenhandel mit Holz 2008 gesamtes Außenhandelskapitel 44, in Prozent Import (1,86 Mrd. EUR) Export (3,85 Mrd. EUR)

30

33,8

32,6

27,1

25 24,0 20

20,6

19,5

15 12,1

10

9,4

9,8

5

5,4

4,5 Rohholz Schnittholz (inkl. Brennholz)

Furniere, Span- und Sperrholz Faserplatten sowie Leisten, Stäbe und Friesen

Holz in verarbeiteter Form

1,2

Sonstiges

Quelle: Statistik Austria 2010

Abb. 9.2: Holz­ preisentwicklung in Österreich

Abb. 9.3: Wald­ flächenverteilung in Österreich

Abb. 9.4: Wald­ flächen und Besitz­ verhältnisse

Abb. 9.5: Holz in Österreich

Abb. 9.6: Holzeinschlag

Abb. 9.7: Holzbe­ darf in Österreich

Abb. 9.8: Förde­ rungen für die Forstwirtschaft von 1995 bis 1999

Abb. 9.9: Die natürlichen Waldgesellschaften und die Natürlichkeit ihrer Baumartenzusammensetzung je 1 000 ha in Österreich

Abb. 9.10: Baum­ artenverteilung

Abb. 9.11: Phasen des Walsdialogs

10 WaldBilder – Vorstellungen von Bäumen und Wäldern Ursula Neumayr

I Vorwort Vorstellungen nachzuspüren, wie das hier anhand verschiedener Textarten geschehen soll, mag im Rahmen dieses Sammelbandes erstaunen. Geht man jedoch davon aus, dass Wald mehr als die Summe einzelner Bäume ist, so kann der Blick auf symbolische Dimensionen nicht ausgespart bleiben. Wald-Bilder bereichern die Alltagssprache – man sagt etwa, etwas sei stark wie ein Baum, man könne den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, man müsse den eigenen Schreibtisch durchforsten, etwas sei noch viel Holz oder aber jemand sei auf dem Holzweg. Ähnliche Bilder finden in der Philosophie Verwendung: „Man wird mehr Weisheit in den Wäldern finden, als in den Büchern. Bäume und Steine werden dich Dinge lehren, die dir kein Mensch sagen wird“, zeigte sich Bernhard von Clairvaux überzeugt und verwies dabei auf die organische als auch auf anorganische Dimension. Und: „Wälder sind zauberhaft. Sie berühren uns Menschen auf vielfältige Weise und regen unsere Phantasie an. (Sie) bringen uns zum Träumen, zum Philosophieren und Nachdenken. In unserer hoch technisierten Zivilisation geben sie uns eine Idee von Natur, von unberührter Wildnis und Ursprünglichkeit“ schreibt Minister Josef Pröll im Vorwort eines Geschichtenbuches der Österreichischen Bundesforste AG (BRAWENZ 2003: 8). Für Holzarbeiter ist Wald in erster Linie Arbeitsplatz und damit weniger spirituell behaftet. Liest man allerdings die Lebenserinnerungen des Pinzgauer Holzknechts Peter Rathgeb mit Bedacht, so kommen nicht-wirtschaftliche Beziehungen durchaus zum Ausdruck. Dieser Naturraum faszinierte Peter Rathgeb von jung an, ein Umstand, der mit ein Grund für seine jahrzehntelange Tätigkeit im Forst war. Als Jugendlicher lernte er dessen wohltuende Wirkung kennen, körperlich durch das wundenheilende Pechpflaster, seelisch in der Erfahrung erfüllender Arbeit. Er genoss die Ruhe, die Freiheit, ist beeindruckt von Schönheit und Mächtigkeit der Bäume, liebt die Vertrautheit der hier lebenden Tiere. Als Holzknecht erlebte er den Wald als Versorger und in den Aufschwungjahren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als verlässlichen Arbeitgeber, die Arbeit war zudem Möglichkeit zum sportlichen Kräftemessen, zum Wettlauf mit sich selbst. Die Erfahrungen der natürlichen Umgebung, der steilen Hänge, der gefährlichen Gewitter, der großen Kälte bringen die Holzknechte an persönliche Grenzen, flößen mitunter Angst ein und verschaffen in jedem Fall Ehrfurcht vor dem grünen Universum (RATHGEB 2005ff., HÖRMANN 1992, HUTTER 1992). Aus einer Imagekampagne 2009 sind aktuelle Einschätzungen der ÖsterreicherInnen vorhanden. Die Befragten sollten sich im Rahmen einer Umfrage Wald als Mensch vor-

10 WaldBilder

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stellen und diesem die vorgegebenen Eigenschaften zuordnen. Stärkste Zustimmung fanden die Attribute wichtig, schön, natürlich und sympathisch, abgelehnt wurden die gegenteiligen Zuschreibungen unsympathisch, unehrlich, hässlich. Den größten emotionalen Bezug haben die zu diesem Zeitpunkt Dreißig- bis Fünfzigjährigen, Frauen nennen stärker positivere Eigenschaften als die befragten Männer dies tun. Wald wird in Österreich stärker männlich als weiblich gesehen, wobei Frauen im Verhältnis häufiger für weiblich stimmen. Wald ist bekannt, leise, uneitel. Er trägt, und dies wiederum stärker bei Frauen, die Eigenschaften interessant, ehrlich, abwechslungsreich, natürlich, intelligent, kreativ. Er wird heute nicht mehr als gefährlich gesehen, von Männern noch seltener als von Frauen. Er ist eher lustig als ernst, ist alt, und, wenn sich das vorstellen lässt, „sympathisch und zukunftsorientiert alt.“ (www.waldzeit.at). Differenziert man gesellschaftlich gängige Bilder weiter, wie dies der Wissenschaftler Klaus Schriewer am Beispiel Deutschlands tut, so gibt es zwar allgemein gültige Wald-Vorstellungen, aber auch deutlich voneinander abweichende Zugänge. Unterschiedliche Generationen etwa haben verschiedene Einstellungen: Menschen, deren Kindheit in der unmittelbaren Nachkriegszeit lag, erlebten Wald als Ort der Arbeit und es fällt ihnen schwer, hier Muße und Erholung zu finden. Für sie ist er dann schön, wenn er aufgeräumt und ordentlich ist und wenn er intensiv genutzt wird. Für jüngere Menschen spielen die Aspekte Ordnung und Nutzbarkeit keine Rolle, sie sehen eher den Sport- und Erholungsraum. In ökologischen Debatten schwingt häufig eine besorgte Grundstimmung mit. (SCHRIEWER 2000: 74f.). Unterschiede im Empfinden ergeben sich ferner aus unterschiedlichen Nutzungen: Menschen die der Jagd nachgehen, beachten gänzlich andere Aspekte als Imker, Holzleser, Wanderer oder Jogger. Jäger sind am Abend oder sehr früh am Morgen unterwegs, ihre Aufmerksamkeit gilt dem Wild, während sie Bäume und andere Pflanzen zwar namentlich gut kennen, aber nur am Rande erfassen. Den Jogger wiederum interessiert die Tierwelt weniger, er beachtet das Relief des Geländes, das Wegenetz, die Beschaffenheit des Bodens. Pflanzen sind für ihn Kulisse, eingehendes naturkundliches Wissen hat er eher nicht, frische Luft und Kühle nimmt er intensiv wahr. Die Imker richten ihr Augenmerk auf die blühenden Pflanzen, auf Ameisen und Bienen, die Wanderer reagieren auf eindrucksvolle Panoramen und reizvolle Einzelansichten, die zentrale Aufmerksamkeit von Naturschutzaktivisten liegt auf Zustand und Veränderungen von Ökosystemen sowie auf aktuellem Zustand bedrohter Tier- und Pflanzenarten. Innerhalb der Gruppen gibt es erneut Polarisierungen – ökologisch-orientierte Jäger etwa haben andere Vorstellungen als traditionelle Waidmänner (SCHRIEWER 2000: 75ff.). Wobei Wald heute insgesamt gesehen, wenn möglich, in den für ihn vorgesehenen Bereichen bleiben soll: am Land. In der Stadt machen Bäume unerwünschten Mist und Schatten, nehmen Parkplätze weg und sind bei Bauvorhaben im Weg. Es sei denn, Stadtbäume sollten gefällt werden, da gehen die Wogen der Empörung freilich hoch. (SCHWARZ 2009: 114). Mit „überraschend“ tituliert kürzlich ein Journalist den Bericht über freilebende Tiere in der Stadt. Zürich, heißt es da, leide seit Jahren unter einer unüberschaubaren Anzahl von Füchsen, Berlin kämpfe verzweifelt gegen die Wildschweinplage. In Salzburg halte sich das Problem noch in Grenzen, die etwa hundert Füchse im Stadtgebiet ernähren sich nicht, wie in den Metropolen,

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aus Abfallcontainern, sondern leben „nahezu artgerecht“ am Stadtrand. Reibungspunkte gibt es allerdings auch hierorts, berichten die für das Stadtgebiet zuständigen Jäger „Rehe sorgen für Überraschungen, weil sie gern in die Gärten gehen und Blumen anknabbern. Zwei Wochen finden die Leute das lustig, danach stört sie das.“ (SN 7. 1. 2010, S. 10). Wald-Bilder haben letztlich eine nationale Dimension, denn das Sehen wird in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich gelehrt. Ein markantes Beispiel ist hier der österreichisch-italienische Vergleich. Die stärker städtische Konzeption der italienischen Gesellschaft lässt ein natürlich-ländliches Bild, wie es im deutschen Sprachraum fast sprichwörtlich ist, nicht zum zentralen Leitbild werden. Der hedonistischen Nutzung im Süden steht asketischer Umgang weiter nördlich gegenüber. Für den Deutschen undenkbar, verspeisen Italiener die nördlich der Alpen unermüdlich bedichteten und besungenen Singvögel und durchstreifen lärmend-fröhlich die alpinen Wälder, um sich in den hierorts als friedlichen Ruheoasen vorgestellten Räumen ausreichend mit Speisepilzen einzudecken. (JOHLER 2000, SCHULTZ 1996). Nicht weit ist es von nationalen Prägungen zur politischen Vereinnahmung, wie das etwa der deutsche Nationalsozialismus praktizierte. (RUSINEK 2000: 267f., STUTTERHEIM 2008).

II WaldTRADITIONEN Der Wald begleitet Alltagsleben und religiös-spirituelle Erfahrungen vieler Generationen. Es sind zunächst ganz praktische Verwendungsmöglichkeiten, die dieses Ökosystem ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Heilwirkungen etwa werden in Form von Tees und Bädern genutzt, kranke Kinder werden durch den hohlen Stamm von Bäumen gereicht, um so positive Energien zu übertragen. Einzelne Bäume oder Baumreihen dienten Dorfgemeinschaften als Kennzeichnung von Grenzen, Bäume wurden gesetzt, um an Geburten von Kindern, an vertragliche Vereinbarungen oder an besondere historische Ereignisse zu erinnern, über Generationen wurde unter Bäumen Gericht gehalten. Langlebige Baumarten wie Ulmen, Linden und Ahorne kennzeichneten Wegkreuzungen, besonders hoch wachsende Bäume wurden als Aussichtsplatz verwendet und an den Küsten dienten Bäume als Landmarken. In Mythen erscheint der Baum vielfach als der Beginn des Lebens an sich. Der Weltenbaum etwa existierte der Vorstellung nach bereits vor der Erschaffung der Welt und er wird auch das Ende derselben überdauern. In zeichnerischen Darstellungen wird er auf einem Hügel stehend gezeigt, in seiner Krone sind Sonne, Mond und Sterne befestigt. Ziegen, Hirsche, Rentiere, Bisons oder andere Pflanzenfresser knabbern an seinen Blättern, Eichhörnchen oder Bienen steigen am Stamm auf und ab und vermitteln Nachrichten zwischen den Ebenen. Die Wurzeln des Weltenbaumes beherbergen Schlangen und Drachen und lassen das Urwasser entstehen, aus dem sich alle Flüsse und Bäche der Welt nähren; die Wurzeln sind des weiteren Verbindung zum Reich der Toten. In den Ästen versammeln sich die Götter, die über den Kosmos herrschen, sie treffen hier wichtige Entscheidungen und bestimmen über den Verlauf der Zeit. Die mütterliche Urgöttin, die sowohl Vergan10 WaldBilder

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genheit und Gegenwart als auch die Zukunft der Welt kennt, wohnt im mythischen Bild im Stamm des Weltenbaumes; sie ist entweder einzelne Gottheit oder aber tritt in Form dreier weiblicher Gottheiten auf. Manchmal wird der Weltenbaum auch verkehrt, also mit den Wurzeln gegen den Himmel, dargestellt. Aus dem Holz des Weltenbaumes stammt der Vorstellung nach das erste Musikinstrument, das den Menschen so Harmonie und Wohlbefinden bringt. Ein weiterer archetypischer Baum ist der Baum des Wissens und der Erkenntnis. Er verbindet die Menschen mit den guten Göttern des Himmels und mit den bösen Wesen der Unterwelt. Dieser Baum hütet ein göttliches Geheimnis, das von einer Schlange oder einem Drachen bewacht wird. Seine Früchte gleichen oftmals dem menschlichen Kopf; das Muster des Stammes, des Blattes oder der Frucht erinnern in den Darstellungen an das menschliche Gehirn. Als Bäume des Wissens gelten je nach Region etwa der Ölbaum, der Nussbaum, die Buche, die Birke, die Linde und die Eiche. Die Menschen gewinnen aus dem Baum des Wissens Öl, Parfum oder Holz, das in religiösen Handlungen als Nahrung für die Götter eingesetzt wird. Die Früchte vom Baum des Wissens sind also nicht unmittelbar nutzbar, es bedarf gewisser Kulturfertigkeiten und Techniken, um sie zu nutzen: Oliven etwa müssen gepresst werden, Eicheln erst an Tiere verfüttert werden, um so zu kräftigender Menschennahrung zu werden. Die Äste des Baumes des Wissens bilden der Vorstellung nach eine Leiter für den Priester, der sie erklimmen und so mit den Göttern in Kontakt treten kann. Die Blätter dieses Baumes werden mitunter an Hilfsbedürftige verschenkt und wandeln sich dabei in Gold. Da vom göttlichen Blitz getroffen, gilt der Baum des Wissens als Orakelbaum und am Rascheln der Blätter, am Knarren der Äste oder am Klang seines Holzes kann die Prophetin die Zukunft vorhersagen. Manchmal wird der Baum der Erkenntnis mit zwei verschiedenen Stämmen dargestellt, manchmal umfasst er zwei verschiedene Baumarten. Der Baum des Lebens als ein drittes archetypisches Baumbild erinnert an den menschlichen Körper, etwa durch seine handförmigen Blätter. Ihm zur Seite erscheint häufig ein Hirsch, der ob seines hölzernen Geweihs im Übergang zwischen Tier- und Pflanzenwelt steht. Der Baum des Lebens zieht Bienen an und gilt so als Symbol der Artenvielfalt, seine Früchte stehen für Fruchtbarkeit und Überfluss. Auch er kann sich verdoppeln und so Baum des Lebens und Baum des Todes sein. Unter dem Baum des Todes werden Dahingeschiedene beerdigt und dort von den Wurzeln festgehalten, um die Lebenden nicht weiter zu stören. Manche Zivilisationen glauben, von einem Helden abzustammen, wobei dieser seinerseits aus der Verbindung eines Baumes mit einem Tier oder zweier Bäume kommen soll. So ist der germanische Siegfried Sohn der Linde und des Herrschers der Wölfe. In der skandinavischen Tradition wurde der erste Mann aus einer Esche, die erste Frau aus einer Ulme geschaffen, die Bewohner Westfalens sehen sich als Nachkommen der Eiche. (DOMONT 2008: 316ff.). Abgesehen von den genannten Baumbildern kennt die europäische Mythologie noch eine Vielfalt weiterer übernatürlicher Phänomene – etwa die magischen Säfte von Bäumen oder die heiligen Wälder. (BROSSE 1990). In vielen Volkstraditionen erhielten Baumarten, die für eine Region typischen Baumarten oder aber die in einem Bereich auffälligen Einzelexemplare, besondere kulturelle

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Zuschreibungen. Mit dem Wissen um diese Bedeutungen begegnen Menschen dem Wald insgesamt anders, als sie dies einer als seelenlos empfundenen Monokultur gegenüber tun. Um Einblick in die emotionale Bindung zwischen Bäumen und Bevölkerungen zu erhalten, sind nachfolgend einige Baumarten charakterisiert; auffallend dabei ist, dass die Bilder regional durchaus variieren. Birken gelten vielerorts als Symbol der Reinigung und der Erneuerung. In nordischen Ländern sind sie Baum des Wissens, ihre leuchtend weiße Rinde, welche lange als Schriftträger verwendet wurde, beschäftigt die Fantasie der Bevölkerung. Als Beschützerin der jungen Mädchen und der Ehe sind sie ein Symbol der Hoffnung. Ihre biegsamen Zweige brachten in vergangenen Generationen widerspenstige Schüler gezwungenermaßen zur Vernunft und in Bündel gefasst standen Birkenzweige im alten Rom für Macht, Strenge und Unbestechlichkeit. Zu Besen gebunden helfen Birkenzweige böse Geister und das alte Jahr zu vertreiben (DOMONT 2008: 108). Die Waldföhren sind mit ihren zum Licht strebenden Kronen Wächterinnen des Himmels. Sie sind leicht entflammbar, es heißt aber auch, dass sie in ihrem Stamm und ihren Zapfen eifersüchtig das Feuer hüten und diese mit den Tieren nicht teilen wollen. Ihre Zapfen sind Symbol männlicher Fruchtbarkeit und versinnbildlichen Unsterblichkeit. In Japan ist die Föhre ein Bild für unerschütterliche Stärke, die man, gleich der langlebigen Pflanze, durch lebenslange Kraftanstrengung erlangt. Gleichzeitig steht die Föhre für Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und das Einhalten gegebener Versprechen. Bei vielen Volksgruppen ist sie Teil der Hochzeitszeremonien und schmückt Naturgottheiten. In der klassischen Antike war sie Begleiterin ausgelassener Rituale (DOMONT 2008: 126). Das lichte, im Herbst goldene Nadelkleid und das rötliche, harzhaltige Holz verleihen Lärchenwäldern besonderen Status. In den Alpen gibt es viele Geschichten über Abenteuer von Hirten mit in Lärchen wohnenden Bergfrauen, letztere sind die Behüterinnen des ökologischen Gleichgewichts. Auch gelten Lärchen mancherorts als jene Pflanzen, durch die man mit Verschollenen in Kontakt treten und diesen zur Ruhe verhelfen kann. In Ostsibirien ist die Lärche Sinnbild der Weltachse, welche die Erde einerseits mit dem Himmel, andererseits mit dem Reich der Toten verbindet. Sie gilt als einer der heiligsten Bäume, dient den Schamanen als Leiter zur himmlischen Welt, ist Baum der Initiation und Anlass zur Meditation, sie symbolisiert den Weg, den der Mensch gehen muss, um weise zu werden. (DOMONT 2008: 142ff.). Fichten, heute dem Vorwurf ausgesetzt, in Monokulturen den Boden zu übersäuern und die Artenvielfalt zu dezimieren, hatten vormals einen besseren Ruf: Ihre Schleier aus dunkelgrünen Ästen boten Zwergen und Tieren Schutz, sie bewachten den Eingang zum Reich der Toten und galten aufgrund der Form ihrer Zapfen als Lebensspenderinnen. In einer Zeit, in der man annahm, Kinder seien wiedergeborene Verstorbene, war die Fichte der Baum der Geburt und der Baum der Vorfahren. Wie die meisten Nadelbäume ist sie Symbol der Unsterblichkeit und des ewigen Fortdauerns, sie ist Hüterin der Erinnerung und Beschützerin von Heim und Herd – Fichtenzweige schützten Vieh im Stall und auf dem Weg von und zur Weide. Die Fichte verleiht der Geige ihre Stimme; von der katholischen Kirche wiederum wurde sie als Baum des Teufels gesehen und damit abgelehnt. 10 WaldBilder

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Sie dient traditionellerweise als Weihnachtsbaum, ist Symbol der Geburt und war bei den Kelten wichtiger Bestandteil des Festes zur Wintersonnenwende. (DOMONT 2008: 158ff.). Die Tanne, die sowohl im Sommer als auch im Winter grünt, deren gut riechendes Harz Krankheiten vertreibt, gilt als Glücksbringerin, als Baum der Hochzeit und der Fruchtbarkeit. Mancherorts ist sie allerdings Signal des Todes, so etwa in Frankreich, wo Särge aus Tannenholz gemacht werden. Die Tanne begleitet die Rumänen durchs Leben, ist Teil aller ihrer wichtigen Lebensübergänge – bei der Geburt eines Kindes suchen die Eltern eine Weißtanne aus, sie waschen das Neugeborene in Wasser mit Tannennadeln. Liebesgeständnisse werden unter der Tanne gemacht, der Hochzeitstanz findet um sie statt, Gericht wurde unter ihr gehalten. (DOMONT 2008: 176ff.). Der Bergahorn steht für Bescheidenheit und eheliche Treue, symbolisiert aufgrund des nur kurzen Aufleuchtens seiner Blätter im Herbst die Vergänglichkeit des Lebens und ist so Anlass zu Melancholie. Im Märchen erzieht der Ahorn Jugendliche, macht Erde zu Kulturland und bringt Zivilisation. (DOMONT 2008: 192). Die Linde gilt als weibliche Pflanze, als Baum der Gastfreundschaft, als Schutzgeberin. Sie ist Symbol mütterlicher Liebe, heilt mit ihren Blüten, kleidet mit ihrem Bast und schützt vor Blitzschlag, ihr Blatt ist Symbol der Liebe und Treue. (DOMONT 2008: 210). In Frankreich ist die Eiche aufgrund ihres Holzes die Königin unter den Bäumen; in Krisenzeit ist sie ob ihrer essbaren Früchte Baum der Armen. Aufgrund ihrer Größe ist sie Symbol der Männlichkeit und gilt als Insignum der Gottheiten der Gerechtigkeit, aus ihren Ästen und Blättern wird die Zukunft gedeutet. Im antiken Europa galt sie als heilig und als natürlicher Tempel, in Deutschland symbolisierte sie das Heldentum (DOMONT 2008: 242). Die Esche steht als Symbol für Stärke und Geschmeidigkeit, für jugendliche Kraft und erwachende Männlichkeit. Sie ist ein wenig faul und liebt die Unabhängigkeit – man soll sie der Überlieferung zufolge nicht im Garten pflanzen, sonst kommt Unheil übers Haus. Für die Skandinavier ist sie der Weltenbaum und hält angeblich Schlangen fern. Frauen im Norden Algeriens behängen sie mit Amuletten, um sich so die Liebe eines Mannes zu sichern. (DOMONT 2008: 262). Edelkastanien gelten als Symbol der Vorsorge und Fruchtbarkeit, vergeben sie ja großzügig ihre Früchte. Manche Kulturen geben den Verstorbenen Kastanien mit auf die Reise ins Jenseits. Als Symbol des Todes und der Auferstehung schmücken Eiben so manchen Friedhof. Das dunkle Nadelkleid und die lange Lebensdauer hat sie zum Aufenthaltsort der Geister werden lassen, zum Baum, der die Lebenden vor dem Bösen und der Hexerei schützt. Die Beere der Eibe gilt als Symbol der Wiedergeburt. Bei den Römern stand sie für jene Göttinnen, die mit ihren Spindeln aus Eibenholz den Schicksalsfaden der Menschen woben, und Seher nutzten sie, um die Zukunft zu erkunden (DUMONT 2008: 278ff.).

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III MÄRCHENwald Märchen berichten nicht von historischen Ereignissen, es sind geistig-seelische Prozesse und Zusammenhänge, die hier versinnbildlicht werden. Es werden Weisheiten weitergegeben, Erkenntnisse sichtbar gemacht, allgemein menschliche Probleme einer Lösung zugeführt (KNOCH 1993). Nehmen wir beispielsweise das Märchen von Schneewittchen. Eine Königin wünschte sich sehnlichst ein Kind. An einem kalten Wintertag sticht sie sich beim Nähen und denkt, als sie das Blut auf den Schnee tropfen sieht, „Hätte ich doch ein Kind mit einer Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie Ebenholz“. Der Wunsch geht in Erfüllung, doch stirbt die Mutter kurz nach der Geburt von Schneewittchen. Der König nimmt sich eine andere Frau, diese ist sehr schön, aber stolz und hochmütig, und kann nichts schlechter ertragen, als an Schönheit übertroffen zu werden. Als ihr allwissender Spiegel Schneewittchen als die Schönste im Land nennt, beauftragt sie den Jäger, die Stieftochter umzubringen und ihr zum Beweis Lunge und Leber der Getöteten zu bringen. Der Mann jedoch lässt das Mädchen laufen und bringt der Königin Innereien eines Frischlings. Schneewittchen flüchtet durch einen Wald, bleibt auf wundersame Weise von wilden Tieren unbeschadet und findet Aufnahme bei den sieben Zwergen, für die sie hinkünftig die Hausarbeit erledigt. Die Königin erfährt, dass Schneewittchen noch am Leben ist, und trachtet nach neuen Wegen, sie zu töten. Ihr dritter Versuch gelingt, Schneewittchen stirbt an einem vergifteten Apfel. Die Zwerge betten die Dahingeschiedene in einen gläsernen Sarg, in dem sie dann ein Königssohn entdeckt und sich in sie verliebt. Auf dem Weg ins Schloss stolpert ein Zwerg mit dem Sarg und das Apfelstück rutscht Schneewittchen aus dem Hals. Schneewittchen erwacht und wird die Braut des Königssohns. Auf ihrer Hochzeit muss die böse Königin rotglühende Eisenpantoffeln tragen, die sie zum Tanzen zwingen, bis sie schließlich tot umfällt. Hänsel und Gretel, die Kinder eines armen Holzfällers, werden auf Anraten der Mutter im Wald zurückgelassen. Noch hatte Hänsel eine Spur aus weißen Steinen gelegt und so konnten die Kinder nach Hause zurückkehren. An einem anderen Tag legte Hänsel die Spur mit Brotkrumen, die die Vögel wegpickten, und so war der Weg nach Hause verloren. Nach drei Tagen des hoffnungslosen Herumirrens gelangen die beiden Kinder zu einem Häuschen, ganz aus Brot, Kuchen und Zucker, an dem sie gleich ihren Hunger stillen. Es ist das Haus einer Hexe, einer Menschenfresserin, die Gretel zur Dienstmagd macht und Hänsel in einem Käfig mästet. Mit einer List – er hält einen Knochen statt der eigenen Hand hin – kann Hänsel die blinde Alte lange im Glauben halten, dass er zum Essen noch zu wenig fett sein. Eines Tages nutzt Gretel die Gelegenheit und schiebt die Hexe in den Ofen, in dem diese verbrennt. Die Kinder nehmen die Schätze aus dem Hexenhaus und finden den Weg zum Vater zurück. Die Mutter ist inzwischen tot und so können Vater und Kinder sorglos leben. Ein anderes armes Mädchen, dem die Eltern gestorben waren, geht im Vertrauen auf Gott hinaus aufs Feld. Wem immer es begegnet, der in Not ist, gibt es, was es hat – einem hungernden Mann sein letztes Brot, einem frierenden Kind seine Mütze, anderen Kindern 10 WaldBilder

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sein Leibchen, sein Röcklein. Als es in den Wald gelangt, ist es bereits dunkel geworden und im Schutz der Dunkelheit gibt es einem Kind noch sein letztes Hemd. Wie es da so steht, ohne alles, fallen Sterne vom Himmel, lauter blanke Taler und das Mädchen ist reich für sein Lebtag. Ein alter Müller will seine Mühle jenem Knecht geben, der ihm das beste Pferd beschafft. Hans, dem jüngsten, traut keiner etwas zu und da er die Mühle auch gar nicht haben will, wird er des Nachts in einer Höhle zurückgelassen. Wenig später verspricht ihm ein Kätzchen als Gegenleistung für sieben Jahre Dienst ein Pferd. Hans zerkleinert fortan Holz, macht Heu und baut schließlich gar ein kleines Häuschen. Dann schickt ihn die Katze heim, wo er nicht gut empfangen wird. Am folgenden Tag kommt die Katze, in Wahrheit eine verzauberte Prinzessin, mit seinem Pferd, das besser ist, als die der anderen. Doch Hans braucht die Mühle nicht, er zieht in das Haus, das ein Schloss geworden ist. Die Aussage eines Märchens, hier der Wald-Märchen, ergibt sich nicht aus Einzelbildern, etwa dadurch, dass ein besonderes Tier vorkommt oder eine bestimmte Handlung abläuft, die Gesamtbedeutung entsteht im Zusammenwirken vieler Einzelbilder. Mitzudenken ist ferner, wie Gehrts herausstreicht, dass sich die heutigen Vorstellungen stark unterscheiden von jenen in der Entstehungszeit der Märchen: „zur Seltenheit wurde der naturwüchsige, der wilde Wald, in dem der Wuchs alleine durch das Absterben, Keimen und Emporwachsen der einzelnen Bäume, durch Wind und Wetter bestimmt ist. Der neue Wald ist zur Anpflanzung geworden, deren Anblick sich lediglich gemäß dem menschlichen Holzbedürfnis wandelt zwischen Kahlschlag, Neubesamung und Wachstumsperiode. Auch die Baumarten waren einem starken Wandel unterworfen. Der leuchtendgrüne wandelbare Wald der Laubbäume wurde sehr zurückgedrängt, an seine Stelle trat das dicht gepflanzte Nadelholz. (…) Der naturnahe Weg, der in Windungen durch den Forst verläuft, ist die (heute die) Ausnahme.“ Jedoch, „die schlimmste Verheerung ging im unsichtbaren Bereich vor sich: wir haben uns angewöhnt, Wald zu messen nach Hektar und Festmeter, die Dimension Tiefe, Wesentlichkeit haben wir vergessen.“ (GEHRTS 1984: 37f.). Im Märchen liegt der Wald außerhalb der dörflichen Gemeinschaft, er ist das Grenzgebiet zwischen realer und geistiger Welt. Häufig muss ein Aufwachsender dort seinen Entwicklungsweg suchen, er muss in dem undurchschaubaren Gewirr von Stämmen, Tieren, Pflanzen, inmitten unbekannter Lichter oder in beängstigender Dunkelheit und bedroht von gefährlichen Kräften die ihm gestellte Aufgabe lösen. Wald ist im Märchen der Bereich, in dem animalische Triebe ungehindert hervorbrechen. Jedoch zu den Pflanzen hat der Mensch ein besonderes Verhältnis, er steht über den Nährstoffaustausch hinaus mit ihnen in Verbindung, wird durch ihre Früchte genährt, erfährt von ihnen Schutz. Über den Wald, das Besteigen eines Baumes etwa oder durch das In-einen-Baum-Hineingehen, kommt man im Märchen in eine andere Welt. In den Baumwurzeln leben wundersame Wesen, im Boden vorborgen sind ungeahnte Schätze und in den Baumwurzeln beginnt der Weg in die Unterwelt. Dem Wald ist eine Grenzen- und Wegelosigkeit eigen. Tagelang wandern Menschen durch ihn, ohne an ein Ende zu gelangen, selbst von einer Höhe aus schauen sie nur in ein Meer grüner Wipfel. (BONIN 2001: 61, GEHRTS 1984: 40ff.).

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Im Unterschied dazu steht das Land im Märchen für die materielle Welt, den sicheren Boden der Tatsachen. Das Wasser, häufig vergegenständlicht als Meer, wiederum ist Element des Seelischen und steht als Bindeglied zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt. Das Dorf, im Gegensatz zu vom Menschen nicht bewohnten Gebieten, ist das Bild sozialen Zusammenlebens, der Garten ist im Gegenbild zum natürlich wuchernden Wald bewusst gestalteter und intensiv genutzter Landschaftsbereich. Das Haus, es kann auch als Hütte, Turm, Schloss erscheinen, steht für den geschützten Raum, und ist so wiederum das Gegenbild zum Wald mit seinen zahllosen Gefahren. Der Sumpf ist jener Zustand, in dem sich ein Mensch weder in seinem Sinnesbewusstsein, also im Wald oder am Land, noch im Seelenbewusstsein, also auf dem Wasser befindet, sondern in einer unheilvollen Zwischensituation. Wiese ist ein Raum sprießender, frei erblühender Lebenskräfte – sie ist fröhlicher, heller, unschuldiger, überschaubarer als dies der Wald ist. Den Berg umweht, ganz im Gegensatz zum organischen Baumbestand, die Vorstellung des mineralisch Ewigen und Unverrückbaren; hier leben die Ahnen, die Götter, hier wohnt auch das Ungeheuer, der Zwerg. Mitunter ist der Berg Teil des Waldes, ist also vom Märchenhelden ebenfalls zu bewältigen. (LENZ 1971: 275f., BONIN 2001: 20f ). Nach dem Blick auf die Handlungsräume im Märchen nun der Schwenk auf die handelnden Personen; sie sind durch Ämter oder Berufe versinnbildlicht. Sie erscheinen zumeist in der männlichen Form und beziehen sich auf den Geist. Erscheint die weibliche Form, ist häufig der seelische Bereich gemeint, weiblich steht für Stärke im Fühlen und im Inneren wirkend. Die Figur des Knaben, Jünglings, Mannes und Greises versinnbildlichen Entwicklungsstufen des Geistes, das Mädchen, die Jungfrau, Frau und alte Frau sind Entwicklungsstufen der Seele. Der Bauer ist im Märchen das Bild für den Menschen schlechthin, er bearbeitet den Boden und gewinnt die Früchte, er steht für Weisheit im physischen Bereich – selten also kommt der Bauer mit Wald in Verbindung. Fischer ist, wer in die Tiefen der Seelenwelt hinabreicht und Gedanken und Bilder vom Urgrund holt. Gärtner ist jene Wesenskraft, die das Gute, das Wertvolle durch liebevolle Pflege zur Entwicklung bringt. Der Holzhacker, damit eine erste Figur des Waldes, ist das Gegenbild zum Gärtner, er ist ein abstrakt denkender Theoretiker, analysierend, Begriffe spaltend, dabei das Lebendige aus dem Auge verlierend. Die Figur des Jägers versinnbildlicht im Märchen Wachsamkeit und Zielsicherheit, der Jäger kann schädliche Triebe und Instinkte aufspüren und unschädlich machen; er hegt und zähmt Tiere, kann also tierisch-gewalttätige Kräfte unterwerfen. Im Märchen bewahren Jäger häufig Leben, etwa wenn sie den Helden nicht wie beauftragt, töten, sondern diesen aussetzen und der Hilfe des Waldes überlassen. Der Räuber ist im Märchen eine negative Kraft, die nichts anderes im Sinn hat, als Dinge an sich zu reißen, die Welt auszuplündern, ihr egoistisches Verhalten macht sie einfältig und dumm. Räuber halten sich häufig im grünen Niemandsland auf und treiben von dort aus ihr Unwesen. (LENZ 1971: 277ff., BONIN 2001: 93). Tiere als Helfer oder aber als Herausforderer des Menschen sind märchenhafte Sinnbilder menschlicher Triebe und Instinkte. Wird ein Mensch in ein Tier verwandelt, so bedeutet dies ein Absinken in das Triebhaft-Animalische; der gegenläufige Prozess ist die 10 WaldBilder

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Verwandlung aus einem rein triebhaften in ein bewusstes Erleben. Sprechende Tiere bedeuten, dass den so personifizierten Trieben eine große Wirkung gegeben ist. Der Blick auf einige der hier relevanten Tiere: Der Bär ist in seiner Schwerfälligkeit und dumpfen Leidenschaft fortwährend dem Irdischen verhaftet, positiv gesehen steht er für Tüchtigkeit. Der Hase als Pflanzenfresser tut keinem Wesen Leid an und ist Bild des instinktiven, selbstlosen Ich. Er ist allerdings auch das Tier der Hexe, kann Nebel und Wind erzeugen – bildhaft also Benebelung bewirken. Das Geweih macht den Hirsch zu einem nach oben Strebenden. Das Nagen und Wühlen der Maus in der Erde, ihr gespenstisches Hin-und-Her-Huschen, ihr blitzartiges Erscheinen und ebenso rasches Verschwinden bringt etwas Unheimliches mit sich, macht sie zum Bild des mit dem Irdischen Verhaftetseins, bringt sie in die Nähe teuflischer Mächte. Mit dem Reh verbunden ist das Scheue, das Flüchtige und Umherschweifende; so ist dieses Tier Verkörperung eines ziellosen Umherwanderns, eines noch planlosen Suchens. Die Schlange erscheint als Versuchermacht; die weiße Schlange ist das Bild unschuldig gebliebener Lebenskraft, die sich häutende Schlange ist Sinnbild sich erneuernder Kräfte. Schnell, gewandt und pfiffig bewegt sich der Fuchs häufig am Rande der Moral, er ist allerdings auch hilfsbereit. Sein rotes Fell bringt ihn in Verbindung mit dem Teufel; in keltischer Tradition ist er Seelenbegleiter, hütet Türen und Tore, ist Beschützer der Wanderer und Grenzgänger. Sein Kollege, der Wolf, ist Symbol für alles Wölfische im Menschen, für Gier und Triebhaftigkeit. An sich ist er scheu, es sei denn, es treibt ihn der Hunger, dann wird er reißend gefährlich. Er verkörpert das Unheimliche, das das Leben und die Kultur Bedrohende, er steht für finstere Seiten des Unbewussten, steht für menschliche Urängste. Der weiße Wolf wiederum bringt Glück. (BONIN 2001: 46, 57, 131f., LENZ 1971: 288f.). Vögel zeichnen sich im Märchen dadurch aus, dass sie die Erdenschwere überwinden können, sie sind Symbole für Inspiration, Intuition und Phantasie. Die Eule und der schwarzer Rabe gehören zur Nacht- und Dunkelseite des Lebens, sind aber auch Vögel der Weisheit. Erstere, im Volksmund Leichenhuhn genannt, ist dämonisches Gespenstertier, uneinschätzbarer Hexenvogel. Die Nachtigall singt während der Nacht, ihr Bild deutet auf träumendes Erleben hin, das wunderbar aber auch gefahrvoll sein kann. Die Krähe deutet auf hinterhältige Gedanken hin und ebenso auf Verarmung im Geistigen. (BONIN 2001: 40, 127; LENZ 1971: 291). Neben Tier und Mensch beleben märchenhafte Wesen außerhalb der menschlichen Siedlungen. Eine der tief verborgen wirkenden Figuren ist die Hexe: sie ist Mutterfigur, die Große Göttin, die Gute Mutter, sie besitzt geheimes Wissen über die Natur, besonders die Kräuter, kennt zauberwirksame Rezepturen und beherrscht damit sämtliche Lebewesen. Sie kennt Zaubersprüche und Flüche, sie ist auch Wetterhexe. Neben Katze und Kröte ist der Kessel ihr wichtigstes Attribut; aus letzterem gehen ihre Schöpfungen hervor und dort rührt sie alles wieder ein. Aufgabe der Hexe im Märchen ist es, den Helden zu prüfen; nach bestandener Prüfung kann dieser den Zauberwald verlassen. Die Kräuterfrau ist eine

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zurückgenommene Form der Hexe, sie ist ein armes, eher schwächliches Weiblein, das sich ebenfalls mit verschiedenen Gebräuen auskennt, eine Frau, die in starker Beziehung zur Natur steht (BONIN 2001: 59f., 71). Die Zwerge wohnen in Höhlen und holen die Schätze aus der Erde, die sie dann zu Schmuck und Waffen weiterverarbeiten. Ihr materieller Reichtum ist legendär, man spricht ihnen allerdings auch großes praktisches Wissen und große Macht zu, sie wissen um verborgene Dinge und sind als magische Helfer bekannt. Sie sind eine Verbindung aus Kind und Greis, entwickeln sich aber nie zu einem reifen Mann. (BONIN 2001: 135f ). Kobolde sind mit Zwergen verwandt, jedoch nicht wie diese irdisch-materiell eingestellt, sondern luftig-geistig. Gewöhnlich sind sie dem Menschen hilfreich und verlangen dafür keinen Lohn, erlauben sich gelegentlich Schabernacke. Die Riesen wiederum stehen für chaotische Gewalt. Sie haben übermenschliche Kräfte, sind unbeherrscht, essen und trinken unmäßig, sind aufbrausend und oft reichlich dumm. (BONIN 2001: 69, 94). Der Eisenhans, ein wilder Mann, typisch für die deutschen Waldgebiete, ist Symbol der natürlichen Urkraft und steht für Gesundheit, Stärke, Fruchtbarkeit. Wild ist er nur seiner Lebensweise nach, nicht vom Charakter her. Er ist ein Frühlingssymbol, gütig und hilfreich: Er trägt beispielsweise den hilflosen Prinzen auf seinen Schultern oder verhilft diesem zu seinem Besitz. (BONIN 2001: 37). Ähnlich den Räumen, Berufen oder Attributen stehen Zahlen und Farben im Märchen nicht zufällig. In vielen der märchenhaften Erzählungen ist der Wald groß und dunkel. Schwarz ist die völlige Abwesenheit von Licht und von Leben, steht damit für Tod und Vergänglichkeit; Grau ist die Farbe des Unklaren. Im Märchen vom Aschenputtel allerdings reitet der Vater durch einen grünen Wald – Grün ist die Farbe des Wachsens und Werdens. Grün ist beruhigend und hoffnungsvoll; und so erscheinen helfende Kräfte im Märchen oft im grünen Gewand. Rot – das Rotkäppchen im gleichnamigen Märchen etwa ist durch diese Farbe definiert – ist die Farbe des Lebendigen, der Vitalität, sie ist Farbe der Aggressivität, der Energie, des Blutes, die Farbe der Leidenschaft. Die Zahl drei steht für das zentrale Thema im Märchenwald, für Selbstsuche und Selbstfindung. (BONIN 2001). Pia Mayer-Gampe sichtete den Datenschatz der Grimm’schen Märchen hinsichtlich der darin verwendeten Wald-Bilder. Häufig, so Mayer-Gampe, schickt die Gesellschaft die ihr missliebigen Mitglieder in den Wald um sich so ihrer zu entledigen: Von Hänsel und Gretel war schon die Rede, Allerleihrauh flieht vor Inzest in den Wald und Rapunzel wird dort in einem Turm abgesondert. Die zwei Brüder im gleichnamigen Märchen werden ebenfalls dort ausgesetzt, weil ihr Vater fürchtet, sie seien mit dem Teufel im Bund; die Geliebte des Trommlers zieht sich, von diesem vergessen, enttäuscht in eine Waldhütte zurück, die Prinzessin, die den falschen Hauptmann nicht heiraten will, wird ebenso in eine Unterkunft im Wald verbannt. (MAYER-GAMPE 1991: 4). Der Wald ist ein Ort, in dem man vom geraden Weg abkommt, wo man den Weg, den man sich vorgenommen hat, verliert. Der Weg dorthin, so eine mögliche Interpretation, ist das Sich-im-Leben-Verirren, gleichzeitig aber auch der Versuch, den als falsch erahnten Weg zu überwinden. Die Gesetze der Gesellschaft reichen nicht in das Niemandsland, im Wald, da sind die Räuber, die Gesetz10 WaldBilder

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losen. Im Wald ist man vor den Augen der Gesellschaft verborgen und finstere Untaten geschehen dort: Schneewittchen sollte dort erschossen werden. Groß ist deshalb die Angst vor diesem Raum, der Schutz der Gesellschaft, der Schutz der Gesetze greift hier nicht. Beklemmend wird diese Bedrohungssituation im Märchen von den beiden Wanderern geschildert: Still war es, wie in einer Kirche, kein Wind wehte, kein Bach rauschte, kein Vogel sang, und durch die dichtbelaubten Äste drang kein Sonnenstrahl. Hier, in völliger Einsamkeit verlangt der neidische Reisekamerad als Gegenleistung für seinen Proviant das Augenlicht seines Gefährten – dem bleibt die Wahl zwischen Verhungern und Ausstechen der Augen. Erst am Waldrand erfährt der Blinde, wie er sein Augenlicht wiedergewinnen kann, und sein grausamer Gefährte wird bestraft – dies ist somit der Ort, an dem Helfer und Vermittler auftreten. Allerdings, wie Mayer-Gampe hervorhebt, begegnet man mitunter im Wald auch der Gerechtigkeit: im Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren verwandeln die Räuber aus Mitleid das Todesurteil über den Boten in den Befehl zur Hochzeit mit der Königstochter. Gerechtigkeit erfährt das Sterntaler-Mädchen, es wird für seine Großherzigkeit reich belohnt. Der Wald in seiner Vielfalt ermöglicht den Verstoßenen das Überleben, wenn auch unter schwierigen Bedingungen – Hänsel und Gretel etwa sind förmlich am Verschmachten, bevor sie gerettet werden. Hier liegen die ursprünglichen Reichtümer der Erde: Nahrung, Erze, Heilmittel. Wald ist Reichtum, das erkennt die Braut des Königs Drosselbart, als sie dessen großen Besitz sieht und es bereut, ihn nicht zum Mann genommen zu haben. Geld als gesellschaftliche Werteinheit ist außerhalb des Dorfes wenig hilfreich, es verliert dort seinen Wert oder wird von den Räubern kassiert. Einzig im Märchen von den Sterntalern kommt geprägtes Geld vom Himmel. (MAYER-GAMPE 1991: 5–12). Leben im Wald kennt keine bewusste Zeit und keine lineare Geschichte. Der arme Müllersbursch dient sieben Jahre und es scheint ihm wie ein halbes, im Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren geht ein Knabe in den Wald hinein und kommt am nächsten Morgen als heiratsfähiger Jüngling heraus, Versteinerungen als Außerkraftsetzung von Zeit finden im Wald statt: Joringel kann sich nicht mehr bewegen, als ihn die Hexe bannt, die beiden ältesten Brüder im Märchen von der Bienenkönigin versteinern, als sie nicht alle Perlen im Moos finden können. In einem der bekanntesten Märchen der Zeitverschiebung, in „Dornröschen“, wächst eine undurchdringliche Pflanzendecke um das Schloss und bringt so Zeit völlig zum Stillstehen. Die Leblosigkeit kann bis zum Tod führen, falls nicht Erlösung folgt: In „Der goldene Vogel“ erbittet sich der Fuchs vom Helden, dass er ihn tot schieße und Kopf und Pfoten abschlage – ihm, dem verwünschten Königssohn, bringt dies das Leben. Auch Schneewittchen erwachte wieder zum Leben (MAYER-GAMPE 1919: 13). Märchen führen nicht nur aus dem Dorf hinaus, über Höhlen und deren Zugänge geht es auch nach unten, in verborgene Unterwelten. Der starke Hans etwa wächst gar in einer Räuberhöhle auf. Das tapfere Schneiderlein nächtigt bei den Riesen in der Waldhöhle, der gläserne Sarg von Schneewittchen steht unter einem Felsen, der arme Müllersbursch muss aus der Höhle herauskrabbeln, um seinem Kätzchen zu begegnen. (MAYER-GAMPE 1991: 15f ). Nach oben, weg vom Unbewussten, hin zur Erkenntnis, führen die nach oben wachsenden Bäume. Im Märchen vom gläsernen Sarg

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klettert der wandernde Schneider aus Furcht vor den wilden Tieren auf den Baum, obwohl er im weichen Moos ein ebenso gutes Bett gefunden hatte. Jedoch, auf dem Baum bleibt er Herr der Lage und auch über sich selbst. In der Erzählung von den Bremer Stadtmusikanten fliegt der Hahn auf den Baum und sieht von dort das wegweisende Licht, ähnlich die Schwester im Märchen von den zwölf Brüdern, sie verlässt das Haus, um auf einem Baum sitzend und sieben Jahre schweigend die Bedingungen ihrer Erlösung zu erfüllen. Zur Innen-Schau gehen Märchenhelden sogar in Bäume hinein: Allerleirauh verlässt das elterliche Schloss und verkriecht sich in einem Waldbaum, um dort von einem jagenden König gefunden zu werden. Auch das Marienkind wohnt im Baum und wird dort vom König entdeckt. Mitunter beherbergen Bäume menschliche Seelen, so der Baum von Zweiäuglein und der Baum am Grab von Aschenputtels Mutter. (MAYER-GAMPE 1991: 15ff.).

IV SAGENhafter Wald Die Sage will mit einfachen Bildern Lebenserfahrungen weitergeben. Im Unterschied zum Märchen geht es dabei um geografisch bekannte Gebiete, der Wald in einer Sage ist ein bestimmter, ziemlich eindeutig lokalisierbarer Ort. (HAUSER 1980: 5ff). Die Entstehungsgeschichte wird in Sagen, zumindest in den von Albert Hauser untersuchten Schweizer Beispielen, selten thematisiert – Wälder sind seit Menschengedenken gegeben und damit nicht Inhalt der Überlieferungen. Einzig in einer Sage vom Vierwaldstättersee bekommt ein Gastgeber zwei Kastanien geschenkt, die er einsetzt und aus denen sich ein Wald entwickelt. Häufiger und in den Schilderungen äußerst dramatisch sind die Erzählungen von ihrem Untergang. In ehemals fruchtbaren Gebieten wurden den Überlieferungen nach die Menschen so übermütig, dass Gottes Geduld erschöpft war und verwüstendes Unwetter losbrach. Dem Zeitgenossen unerkennbar und deshalb als göttlicher Fluch interpretiert, waren die natürlich feststellbaren Veränderungen aus heutiger Sicht wohl klimatisch bedingt oder von Menschenhand herbeigeführter Raubbau. In einer der Schweizer Sagen war es Neid, der die Bewohner eines Tales um ihren Wald brachte. (HAUSER 1980: 29– 33). In Sagen häufiger thematisiert wird die Rechtmäßigkeit des Besitzanspruches, etwa dass einer Gemeinde von einer Adeligen Wald geschenkt wird oder der Herrgott Wald unter den Menschen verteilte. Freilich konnte es auch vorkommen, dass sich Menschen aus Torheit ihren Besitz verscherzten, etwa jene Gemeinde, die aus Angst vor den Folgekosten den geschenkten Wald nicht annahm. Häufig Gegenstand von Sagen sind Streitigkeiten oder zu billig weitergegebene Waldstücke. (HAUSER 1980: 34ff). Unerschöpflichen Sagenstoff bietet das Thema der Grenzverschiebungen. Da geht es nicht allein um den gesellschaftlichen Stellenwert von Eigentum sondern auch darum, dass Grenzen zu verschieben als Niedertracht und Gemeinheit ohnegleichen galt und deshalb mit harten Strafen belegt war. Bekannte Strafen etwa waren auf immer im Wald bleiben und Holz sägen zu müssen. Die Heiligkeit der Grenze hatte über das Weltliche hinausgehende Gründe, schwang ja hier die Vorstellung der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits mit. (HAUSER 1980:39– 42). Viele der untersuchten Schweizer Sagen befassen sich mit wirtschaftlicher Nutzung, 10 WaldBilder

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mit Holzfällerei und Holzarbeit. Verhängnisvoll für die Betroffenen war, wenn die Arbeit an einem Ruhetag nicht eingestellt wurde: Als Strafe für den an einem Festtag umgeschnittenen Baum starb die Kuh im Stall und zog den Fluch ewigen Holzhackens nach sich. Ferner fordern Sagen die Respektierung der Stille ein: Menschen haben zur mitternächtlichen Stunde nichts im Wald zu suchen, widrigenfalls drohten harte Strafen. (HAUSER 1980: 114). Sagen erzählen davon, wie wilde Männlein die Holzknechte beobachten und ihnen zeitweilig neue Methoden beibringen. (HAUSER 1980: 47f ). Auch im Sagenwald lauert Todesgefahr – etwa die verstorbene Frau, die kommt, um ihren Mann nachzuholen, der Holzfäller, der mehrere Morgen hintereinander unnatürliches Licht sieht und dann plötzlich stirbt. Furchteinjagend ist sicherlich auch der bei der Holzarbeit tödlich Verletzte, der den Lebenden wieder erscheint. (HAUSER 1980: 51f ). Wald- und Holzfrevel finden in zahlreichen Sagen ihre entsprechenden Strafen; diese konnten zu Lebzeiten eintreffen, aber auch nach dem Tod. Nicht jeder Frevel unterlag in den untersuchten Schweizer Sagen Sanktionen, armen Leuten wurde in der Sage mitunter auf wundersame Art geholfen, manchmal wurden nur auswärtige Frevler bestraft während einheimischer Frevel unbestraft blieb. Ein beliebtes Schweizer Sagenthema sind die starken Männer im Wald, wo es wohl auch darum ging, die Stärke der Leute des eigenen Dorfes wortgewaltig unter Beweis zu stellen. (HAUSER 1980: 61ff.). Das Auftreten ungewöhnlicher Lichter, in besonders gespenstigen Gegenden von Musik begleitet, lassen verschiedene Interpretationen zu – sie waren das Ergebnis von natürlich faulendem Holz oder wiederkehrende, ungetaufte Kinderseelen. (HAUSER 1980: 85–89). Der Jäger tritt weniger als Held denn als Überlisteter auf und kann da gar den Teufel als Gegenüber haben. Wiederum, sonntags statt in die Kirche zum Jagen zu gehen, bringt Unglück, zuviel Gämsen zu schießen, hat ernstzunehmende Folgen. (HAUSER 1980: 101–105). Der Sagenschatz thematisiert auch Pflanzen: Manche von ihnen stehen im Licht der Heiligkeit, andere im Geruch des Teuflischen. Goldrosen zum Beispiel sind der Sage nach vom Teufel gepflanzt und Holunderholz zu verbrennen bringt Unfrieden ins Haus. (HAUSER 1980: 109–112). Nancy Arrowsmith untersuchte systematisch europäische Überlieferungen hinsichtlich der darin vorkommenden Sagenwesen und entdeckte dabei über siebzig verschiedene Arten von Elben. Diese gliedert sie in drei Gruppen: die gutmütigen, aber für die Menschen selten sichtbaren Licht-Elben, die Dunkel-Elben und die große Gruppe der DämmerElben. Zu letzterer zählen die Moosweibchen und Waldväter. Sie sind Bewahrerinnen alter Lebensformen, sie bringen viel Glück ins Haus, vorausgesetzt man füttert sie ordentlich, zählt die Knödel im Topf nicht und lässt auch den Wasserhahn zu ihrer Versorgung tropfen. Moosweibchen sind gute und fleißige Hausfrauen, sie sind überdies in geheimen Wissenschaften bewandert. Sie kennen die Heilkräfte aller Pflanzen, und manchmal weihen sie Menschen in ihre Geheimnisse an. Sie wissen beispielsweise wo die blaue Blume Nimmerweh wächst, auch können sie unheilbare Krankheiten kurieren. Sie tanzen auf den Feldern, damit das Getreide besser wächst, und können Blätter in Gold verwandeln. Ihre Gesichter sind alt und zerfurcht, die Körper behaart und die Hautfarbe grau. Zu den Moosweibchen gehören die flämischen Moswyfjes, die deutschen Lohjungfern und die bayerischen Finzweiberl, letztere tragen breitkrempige Hüte und haben eine gefleckte

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Haut. Während Moosweibchen durchaus von Holzfällern beobachtet worden sind, sind Moosmännchen und Waldväter – hierzu zählen die Tiroler Norggen – für den Menschen seltener zu sehen. Manche von ihnen sind ohnedies sehr griesgrämig und man geht ihnen deshalb besser aus dem Weg. (ARROWSMITH 1984: 9–13, 185ff.). Elben leben in einer Vielzahl von Bäumen, wobei der Holunder eines der beliebtesten Gehölze ist. Die Geister tragen die charakteristischen Eigenschaften des jeweiligen Gewächses, sind also stämmig und knorrig wie die Eiche oder zierlich wie eine Birke. Weibliche Elben leben vornehmlich in fruchttragenden Sträuchern, die männlichen in unfruchtbaren. Indem das Leben der Elben an das Wohlergehen des Baumes geknüpft ist, beschützen diese die Pflanzen mit all ihrer Macht. Nicht verwunderlich, dass mancherorts auch Menschen vor dem Beerenpflücken oder dem Abschneiden eines Astes die innewohnenden Elben um Erlaubnis bitten oder beim Vorübergehen den Hut zum Gruß ziehen. Wer die Grundregeln nicht beachtet, so die mythische Erfahrung, erfährt Rache: Er verliert seine Gesundheit, sieht seine Kinder oder seine Haustiere büßen. Die Versöhnung mit verärgerten Geistern geschieht über das Sprechen tradierter Zauberformeln oder das Geben von Brot und Wolle als Opfer (ARROWSMITH 1984:188ff).

V WaldLITERATUR In der Überzeugung, dass hier Ursprung und Spiegel der Kultur zu finden seien, untersucht der Literaturwissenschafter Robert P. Harrison das Bild des Waldes in unterschiedlichen Literaturepochen. Harrisons engagierte Studie fußt auch auf der Ansicht, dass das Ende der Wälder das Ende der Kultur sei. (HARRISON 1992). In zahlreichen literarischen und plastischen Darstellungen aufgegriffen wird ein zentrales Urbild der abendländischen Kultur, die Göttin Artemis als die griechische Göttin des Waldes und der Jagd. Als jungfräuliche Jägerin, die mit ihrem Zug von Nymphen düstere Gebiete durchstreift, wird sie häufig geschildert, aber auch als furchtgebietende, strenge Göttin. Die Göttin Diana ist Artemis Gegenstück in der römischen Mythologie. Die Ursprünge der antiken Stadt Rom, so die Gründungssage, seien ebenfalls im Wald gelegen. Die Könige ihrer Vorgängerstadt trugen alle den Beinamen Silvius, wörtlich „aus den Wäldern“. Romulus, der Gründer Roms, ist der Erzählung nach von einer Wölfin aufgezogen worden. Die sich ausbreitenden antiken Städte mit ihren expansiven Zivilisationen – der enorme Holzbedarf von Marine und Heer, der Landbedarf der Agrarwirtschaft – freilich drängten die Wälder des Altertums immer weiter zurück und so beklagten aufmerksame Zeitgenossen schon in vorchristlichen Jahrhunderten das Verschwinden der Bäume um die damaligen Weltstädte. (HARRISON 1992: 66ff.). In den großen Waldflächen Europas des frühen Mittelalters mit den nur eingestreuten menschlichen Siedlungen lebten die aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, die Irren, die Liebenden, die Räuber und Eremiten, die Leprakranken, die Zauberer und Alchemisten, alle, die irgendwie außerhalb der sozialen Ordnung standen. Die frühe christliche Kirche stand diesen Gebieten im Wesentlichen feindlich gegenüber: Bestialität, Fehlbarkeit, 10 WaldBilder

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ewige Verdammnis, das sind die Assoziationen, die sich in der christlichen Mythologie an Wälder knüpft. Wälder stellten für sie die letzten Bastionen heidnischer Gottesdienste dar, hier vollzogen die Unbekehrten ihre Rituale. Freilich gab es auch die gegenteilige Haltung – zahlreiche mittelalterliche Heiligenlegenden erzählen davon, dass sich fromme Seelen fernab von der Verderbtheit der menschlichen Gesellschaft fernab der Siedlungen niederließen, um ganz in der Gegenwart ihres Gottes als Einsiedler zu leben, das Profane, das bislang Verachtete wurde damit in gewisser Weise geheiligt. Das mittelalterliche Epos Valentin et Orson zum Beispiel berichtet davon, wie Orson, ein halbtierischer Wilder, von Jägern in die menschliche Gesellschaft zurückgebracht wird. Er erlernt dort die Regeln der Zivilisation, die Eloquenz der Rede, die fundamentalen Lehren des Christentums und wird ein außerordentlich ruhmreicher Ritter. Dennoch kehrt er der menschlichen Gesellschaft wieder den Rücken und geht, nun als Eremit zwar, in die menschenleere Einsamkeit zurück. (HARRISON 1992: 81–83). Die Literatur und die Ikonografie des Mittelalters – und, wie die Gestalt des Tarzans zeigt, weit darüber hinaus – berichtet mit Leidenschaft vom homme sauvage, dem Wilden Mann, einem tierhaften Geschöpf mit Menschennatur, das nackt, meist ohne Sprache und mit einfachster Nahrung allein draußen lebt. Was die mittelalterliche Phantasie beflügelte, waren mitunter geisteskranke Menschen aus den Dörfern, denen nur der Weg in diese Gebiete geblieben war. In Chrétien de Troyes’ Versroman Yvain begegnet der Ritter Calogrenant auf einer Lichtung einem solchen Wilden Mann, eine Herde wilder Stiere hütend. Als er diesem erzählt, dass er auf der Suche nach Abenteuer sei, versteht der Wilde den Sinn des Wortes nicht – sein tägliches Sein ist Abenteuer an sich. Der Ritter als ein in das gesellschaftliche Leben Eingebundener hingegen muss von Zeit zu Zeit weggehen, um in sich die Wildheit wiederzuentdecken. Derselbe Ritter, in einem Anfall von Liebeskummer völlig wahnsinnig, entschwindet später seinerseits, einem Wilden Mann gleich geworden, in den Wald. Den Verstand wiedererlangt, sich quasi selbst überwunden, kehrt er heroischer und tapferer denn in die Gesellschaft zurück. Derartige Metamorphosen erleben viele der berühmten Ritter des mittelalterlichen europäischen Romans – Tristan etwa oder auch Lancelot. (HARRISON 1992: 85–90). Mittelalterliche Ritterromane stellen Wälder häufig als etwas dar, das jenseits der Grenzen der städtischen Welt und ihrer Rechtsinstitutionen liegt. In Realität standen diese zu dem Zeitpunkt schon unter königlichem Recht. Der Forst war juristisch das Land, das durch königlichen Erlass für den Zugang und die allgemeine Nutzung gesperrt war, es war dem Vergnügen und der Erholung des Königs vorbehalten. Der englische Jurist John Manwood gab 1592 eine Sammlung und Abhandlung von Forstgesetzen heraus, in der er auf die Notwendigkeit hoheitlicher Regelung hinweist, den zeitgenössischen Rückgang der Wälder aufzeigt und den zentralen Zweck eines Forstes als Schutzgebiet und Zufluchtstätte für wilde Tiere als sehr wichtig herausstreicht. In England war das Forstrecht in rigoroser Weise von Wilhelm dem Eroberer, selbst einem begeisterten Jäger, der über das Land hereingefallen und es für Jahrzehnte verwüstet hatte, eingeführt worden. Ironischerweise waren die Wälder in der Folgezeit nicht nur Zufluchtstätten für Tiere, sondern auch für englische Adelige, die, ihrer Ländereien und ihrer alten Rechte beraubt, aus diesen

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Verstecken den Widerstand gegen die Invasoren führten. Einige der kühnsten Männer unter ihnen erwarben Ruhm, ihre Überfälle und Vergeltungsmaßnahmen wurden zum Stoff von Sagen und volkstümlichen Balladen. Herewald, Fulk Fitzwarin, der Mönch Eustachius zählen zu ihnen, ebenso wie später Robin Hood Vorkämpfer für eine gerechte Ordnung wurde. Die siedlungsfernen Gebiete waren für sie in erster Linie strategisches Versteck. Wälder sind in der Literatur dieser und folgender Perioden aber auch typische Orte komischer Umkehrung, sie sind Schauplatz für Verkleidung, Geschlechtsumwandlung, Identitätsverwirrung. Mittelalterliche Sagen haben meist ein happy end – vom König rehabilitiert, verlassen die Geächteten ihre Zufluchtsstätten wieder und gliedern sich in die Gesellschaft ein. (HARRISON 1992: 98–104). In Dantes Göttlicher Komödie entsteht eine neue Bedeutungsdimension. Als sich Dante zu Beginn des Infernos in einem dunklen Wald verloren sieht, steht er im Schatten von Gottes moralischem Gesetz, nicht mehr nur im Schatten weltlichen Gesetzes. Die Finsternis ist hier keine Zuflucht vor der Ungerechtigkeit des Gesetzes, sondern ist Allegorie für christliche Schuld – für Sündhaftigkeit, Irrtum, Entfremdung von Gott. Dantes Meisterwerk ist eines der frühen Beispiele, an denen ein späteres typisches literarisches Motiv vorkommt, die Furcht vor dem Wald. In der frühen mittelalterlichen Literatur fürchtete sich der Held vor wilden Tieren oder bösartigen Räubern, die Angst bei Dante richtet sich hingegen nicht auf einen bestimmten Gegenstand oder Person, sie ist eine vage und unbestimmte Furcht, sie ist eine existentielle Angst. Angst wandelt sich dann jedoch in Erlösung – nach der Begegnung einiger Todesgefahren flößt der Wald keine Furcht mehr ein, vielmehr erweckt er im Siegreichen Entzücken und das Gefühl der Freiheit. (HARRISON 1992: 104ff.). In der abendländischen Literatur erscheinen Wälder als Schauplatz für das, was später als das Unbewusste der menschlichen Psyche bezeichnet wird. Eine Passage aus Boccaccios Dekameron erzählt von zwei jungen Liebenden, die, da ihre Verbindung nicht akzeptiert ist, von zu Hause fortlaufen und sich schließlich, noch dazu voneinander getrennt, im Wald verirren und den dortigen Gefahren ausgeliefert sind. Auch diese Geschichte endet mit einem happy end: Zu Beginn ihrer Flucht kannten die beiden weder sich selbst noch einander, sie hatten keine Ahnung von der Natur des Begehrens, das sie da zueinander zog. Bei ihrem Wiedersehen hatten beide ihre Jungfräulichkeit, ihren Selbstbesitz verloren und waren damit zum Vollzug ihrer Liebe bereit. (HARRISON 1992: 112ff.). Die Moderne veränderte das Bild Europas erneut – Wildtiere, die sich weder zähmen noch nutzen ließen, waren weitestgehend ausgerottet, die Entwaldung des Kontinentes hatte unübersehbar große Ausmaße angenommen. Den italienischen Dichter Petrarca veranlasst dies, Wälder literarisch in Orte lyrischer Nostalgie zu verwandeln. Inmitten von Bäumen, Blumen und fließenden Gewässern findet er Ruhe, es gibt es keine Wildheit mehr, keine wilden Männer oder Ungeheuer, auch keine Irren und Geisteskranken. Petrarca zieht nicht aus, um Abenteuer zu finden oder seine ursprüngliche Natur wiederzuentdecken, er zieht sich zurück, um sich in Selbstbetrachtung zu üben. Wald ist hier wiederum Zuflucht, nicht jedoch für einen Geächteten, sondern für einen an der Zivilisation leidenden Weltmann. Eine ähnliche thematische Umkehrung findet sich im Werk Wilhelm Shakespeares: Die 10 WaldBilder

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Wildheit, die einst in die Wälder gehörte, lauert jetzt in den Herzen der Stadtmenschen. Während die Stadt unheimlich wird, werden erstere unschuldig, komisch, unterhaltend. (HARRISON 1992: 116ff., 126.). Für Ariost sind derartige Schilderungen pastoraler Landschaft das Versagen der Literatur im Hinblick auf ihre wesentlichste Berufung. Er thematisiert in seinen Werken den schwärzesten Aspekt seines Zeitalters, den bedingungslosen Willen des Menschen zur Macht. Sein Orlando furioso spielt sich in den Wäldern ab, die den Schauplatz für die launischen Leidenschaften der Menschen liefern. Ständig werden hier die Helden von ihrer erhabenen Mission, der Verteidigung des Christentums gegen die eindringenden Türken, abgelenkt. Fast alle erleiden die Entfremdung erotischen Begehrens und die Wälder, durch sie ziellos streifen, sind die Orte ihres Selbstverlustes. Auf ihrer Wanderung sind sie Kräften ausgeliefert, die sie nicht kontrollieren oder lenken können, von denen sie häufig nichts wissen, da sie sie nicht erkennen. Orlando, der tapferste und furchterregendste Ritter in der Armee, wird durch eine nicht erwiderte Liebe seines Verstandes beraubt, und seine übermenschlich werdenden Kräfte entladen sich in nie gesehener Gewalt. Mit bloßen Händen entwurzelt er Bäume und wirft sie in den Fluss, dessen klares Wasser er mit Baumstümpfen und Schutt verschmutzt. Er stürmt rasend durchs Land, verwüstet Felder, tötet Bauern und überfällt ihr Vieh. Die Welt des Furioso ist eine Darlegung der Leidenschaften, die die zeitgenössische Gesellschaft zerrüttete und in irrationale Kriege stürzte. In den Wäldern des Furioso überschneiden sich sexueller Impuls und der Wille zur Macht. Begehren, Gewalttätigkeit, Rivalität und Kampf – Ariost enthüllt die Bedrohlichkeit dieser Impulse ebenso wie ihre verdeckte wechselseitige Verbundenheit. (HARRISON 1992: 116ff.). Die Gedanken der Aufklärung erweitern das Bild um eine neue Dimension – dessen Nutzbarkeit. In seinem Diskurs über die Methode verwendet Descartes – dem Höhlengleichnis des Plato gleich – ein Waldbild, um seine Weltsicht, die Notwendigkeit zur rationalen Entschlossenheit, zu untermauern. Reisende, so Descartes, die sich in einem Wald verirrt hatten, würden vernünftigerweise nicht im Kreis herumlaufen sondern so gerade wie möglich immer in dieselbe Richtung marschieren und so irgendwann an einem brauchbaren Ort ankommen. Wald ist für Descartes Bild für alles, was unter Tradition läuft, was zu überwinden ist, was angehäufte Falschheiten, unbegründete Glaubensvorstellungen und irregeleitete Annahmen der Vergangenheit sind. Eher als dort fühlt sich Descartes in den leeren Wüsten zuhause. (HARRISON 1992: 133–140). In der französischen Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, eines der großen Werke, das die Weltsicht der Zeit dokumentiert, ist Wald reduziert auf Grünpflanzen, als ein Konglomerat von Bäumen verschiedener Altersklassen. Dem Verfasser ist der Wandel der Perspektive völlig bewusst, wenn er schreibt „Unsere Eichen geben keine Orakel mehr und wir bitten sie nicht mehr um die heilige Mistel.“ Das Gebot der Stunde seiner Ansicht nach ist, „man muss diesen Kult durch die Sorgfalt ersetzen; und welchen Vorteil man auch einst in der Achtung gefunden haben mag, die man für die Wälder hatte, man muss noch mehr von der Wachsamkeit und der Ökonomie erwarten.“ (HARRISON 1992: 142). Wald wird nun in Begriffen der Ökonomie gefasst, fortwährende maximale Verfügbarkeit wird zum

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Anliegen der Forstwissenschaft. An Stelle des alten, flächenbezogenen Forstwesens traten neue Methoden der Forstverwaltung, die auf Masse oder Volumen basierten, Forstmathematiker kalkulierten Wachstumsraten, Forstgeometer vermaßen das Land, natürlich wachsende Wälder wurden schrittweise durch Baumbestände einheitlichen Typs mit vorgeschriebener Pflanzzeit ersetzt. (HARRISON 1992:140–151). Die Bilder blieben bisweilen widersprüchlich. Für Jean-Jacques Rousseau, der Natur als Ursprung und als Hüterin der menschlichen Seele sah, war Wald einerseits der Schauplatz menschlichen Ursprungs. Er schildert eine Reise nach Saint Germain, die zur glücklichsten seines Lebens wurde, während derer er dort das Bild der Urzeit entdeckte: „den ganzen übrigen Tag verbrachte ich tief innen im Walde und suchte und fand dort das Bild der Urzeit, deren Geschichte ich kühn entwarf. Ich deckte schonungslos all die kleinen Lügen der Menschheit auf, wagte ihre Natur bis zu entblößen, ihre fortschreitende Entstellung durch Zeiten und Dinge zu erweisen und, indem ich den Menschen, so wie er durch den Menschen geworden, mit dem Menschen der Natur verglich, ihm gerade in seiner vermeintlichen Vollkommenheit die wahre Quelle seines Elends aufzudecken.“ (HARRISON 1992: 158). In die Großstadt zurückgekehrt, erfasste ihn die Abscheu über die eitlen Dünkel der menschlichen Gesellschaft, und er wanderte weiter stundenlang im bewaldeten Park am Stadtrand. Das andere Bild findet sich in seinem Entwurf der Verfassung für Korsika: aufklärerisch-ökonomisch setzt er sich dort für die pragmatische Verwaltung und Nutzung der Ressource des Baumbestandes ein. (HARRISON 1992: 153ff.). Bei William Wordsworth und dem Versuch, durch das einfache Wort an die Quelle des Lebens zukommen, spielten Vorstellungen von Wäldern eine wichtige Rolle. Ebenso bei den Brüdern Grimm – Wälder waren für sie glaubwürdige Quellen volkstümlicher Überlieferung, der sie mehr Bedeutung zuerkannten als offiziöser Geschichtsschreibung. (HARRISON 1992: 188ff). An der Wende zum 20. Jahrhundert verwendete Joseph Conrad das Bild der Wildnis der Wälder, um das Phänomen Kolonialismus in Bilder zu kleiden. Düsternis liegt bei ihm über dem zu erobernden Afrika, aber auch über der Stadt London. Ein Umstand, der nahe legt, dass für Conrad Barbarei auch in den Herzen der Europäer liegt. In Satres Ekel, einem zentralen Werk des Existenzialismus, sieht sich der einsame Held Roquentin bei einem Spaziergang im Park einem Kastanienbaum gegenüber. Die Stummheit des Baumes, seine unbewegliche Haltung, seine aufsteigenden Äste erfüllen ihn mit Abscheu. Die Sinnlosigkeit der Existenz wird Roquentin beim Anblick der Wurzel bewusst: Man weiß zwar, was die Funktion der Wurzel ist, für die Existenz dieser einzelnen Wurzel aber gibt es keine Erklärung. Ekel erfüllt Roquentin auch vor jenem Moment, in dem Wälder die Städte vollends überwuchern werden. (HARRISON 1992: 174ff.). Passend zur Grünphobie hat die Literatur der Moderne ein anderes Landschaftsbild parat: Wüste. T. S. Eliots Gedicht Wasteland, zu deutsch, Verwüstetes Land, ist Zeugnis der Verzweiflung über eine Zivilisation in Verfall. In Samuel Becketts Endspiel bringt der Blick aus dem Fenster das immergleiche Bild: Die Umwelt liegt verwüstet, ohne Bäume, ohne Anzeichen von Leben. (HARRISON 1992: 180ff). Die Schatzkiste der Literaturgeschichte ist ein Bereich, in dem sich nach Waldbildern stöbern lässt. Daneben, bzw. in ständiger Interaktion miteinander stehend, gibt es zahl10 WaldBilder

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reiche andere Künste, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, die Musik in all ihren Registern, die bildende Kunst von Malerei, über Kupferstich, Fotografie bis hin zu Illustration und Computerbildern. (KAISER 2008).

VI WaldORTE Ortsbezeichnungen verwenden Waldbilder, manchmal als solche klar verständlich, manchmal im Zuge jahrzehntelangen Gebrauchs zur Unkenntlichkeit verändert. Am Beispiel Salzburger Orts- und Flurnamen soll nachfolgend Einblick in die vorhandene Vielfalt gegeben werden. Rasch erkennbar ist die Benennung im Namen der Oberpinzgauer Gemeinde Wald oder auch in der Ortschaft Stegenwald. Lautlich verändert ist die Bezeichnung Wald in Walling, das so etwas wie „bei den Wald-Leuten“ bedeutet und ebenso im Wallingwinkel namengebend wurde. Ein stark bezeichnendes Motiv ist die historisch im Rahmen der Siedlungstätigkeit nötige Waldrodung, so gibt es in Salzburger Ortsnamen etwa vierhundert Rodungsnamen. Die Hälfte davon sind Reit- bzw. Roid-Namen, ein weiterer großer Teil sind Brand- bzw., abgeleitet vom Rodungswort schwenden, die Schwand-Namen. (HÖRBURGER 1982: 110ff.). Holz ist ein alter Name für Wald schlechthin und ist ebenso in Ortsnamen erhalten, etwa in Langenholz oder Langholz, in Holzing oder Durchholz – wobei letzteres Durchgangswald bedeutet. Die Weiterentwicklung des mittelhochdeutschen zimber als Bauholz ist im Salzburgischen Zimmerau, Zimmereben, Zimmerberg, Zimmerschlag erhalten. Forst bezeichnet den geschlossenen Waldbesitz eines Grundherrn und ist im Land Salzburg eher selten: Forstau etwa das Vorstanddorf, das von „bei den Forst-Leuten“ kommt. Für den Schutz des Forstes waren die Forsthuben oder Forsthöfe verantwortlich und sind als solche in Ortsbezeichnungen erhalten geblieben. Nur gering vertreten sind frühere Waldnamen wie Loh- für den lichten Laubwald in Loher oder Labeck; Schachen steht für ein einzeln stehendes Waldstück, Hard stand für einen waldigen Höhenzug oder Bergwald und ist erhalten geblieben im Hofnamen Henhart. Wit oder Witd für Brennholz findet sich etwa im Salzburger Langwied. Oft wurden Baumarten namengebend, wobei in Salzburg Ortsnamen auf Basis von Laubhölzern häufiger sind als jene von Nadelhölzern. Die Tanne erscheint im Ortsnamen Thann etwa in Altenthann oder Lichtenthann, die Fichte in Feichten, Fürth, Feuchten. Zusammengesetzt findet man die Fichte in den Ortsbezeichnungen Dürrfeichten, Ehrenfeichten, Ristfeichten. Die Baumarten Föhre, Lärche, Eibe sind im Land Salzburg als Namengeber selten, Einzelbeispiele sind Farchen, Vorau, Lerpichl oder Eibenstein. Aus der Gruppe der Laubbäume sind die Buchennamen im Bundesland die stärkste Gruppe. Esche-Namen finden sich eher in den gebirgigen Teilen des Bundeslandes, etwa in Eschenau, Oberasch, Aschau. Die Linde ist in Siedlungsnamen vorwiegend im nördlichen Teil des Bundeslandes verbreitet. Vom Ahorn kommen nur wenige Namen: Ahornegg, einige Ahornlehen, Ahorneben, sie tritt in mittelalterlichen Kurzform als Arl auf und ist so etwa in Arlberg erhalten geblieben. Die Ulme, mittelhochdeutsch elm, kommt namengebend in Ellmauthal oder Ellmau vor. Die Eiche erscheint in Flachgauer Namen wie Eichpoint,

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Eichet, auch Aich und Aichhorn. Die Birke tritt in allen Landesteilen auf: Pirach, Birkau, Birkleiten, Pirka, Bürmoos. Die Erle hat im Bundesland Salzburg etwa zwanzig Ortsnamen gebildet, dazu zählen Erlfeld, Erlbach, Irlach, Erlberg. Von der Zirbe gibt es hierorts keinen Ortsnamen, lediglich mit Zirmeck einen Bergnamen. Die Weide ist in zahlreichen Sieldungsnamen vertreten, in ihrem alten Namen Felbe im Felbertal, und, in einer ihrer etwas jüngeren Bezeichnung Salche, in Salchegg. Mit Wald in Verbindung steht auch Taxen als Bezeichnung für abgehackte Nadelholzreste, so in Taxenbach, Taxach, Taxing usw. Ron steht für umgestürzte Bäume und für Aufräumeholz etwa in Ronberg und Ronach. Namengebend wurden neben Bäumen auch andere Waldpflanzen: der Holunderstrauch im Namen Hollersbach, der Haselstrauch in einer seiner vielen Bezeichnungen etwa in Haslach und in Haslau. Kranabet als der alte Name für Wacholder kommt in Einzelbezeichnungen vor, der Farn in den Bezeichnungen Farmach oder Farmleiten. Hag wurde alltagssprachlich gebraucht für Dornstrauch, Gebüsch, umfriedeter Wald und ist erhalten in der Bezeichnung des Hagengebirges. Rams als der Name des Bärlauchs ist erhalten geblieben im Ortsnamen Ramsau, die Nessel in Nesselgraben oder Nösslau, die Brombeere als eine der Waldfrüchte in Promegg. (HÖRBURGER 1982: 136–147). Alltagssprachlich nicht mehr verwendet aber in Ortsnamen nach wie vor gebraucht sind folgende Bezeichnungen aus der Waldwirtschaft: Astach bezeichnete Wipfel, Äste und Zweige von gefällten Bäumen, eine Asten ist ein Weideplatz am Hochwald, der sich durch samentragende Waldbäume immer wieder bestockt. Briel ist ein Gebiet, wo Unterholz den Durchgang erschwert. Dürrach sind abgestandene Bäume, der Hurn ist eine Stelle, auf welcher geschlagenes Holz zum Abtransport gesammelt wurde, Löckach sind Föhrenzwergwälder, Parzach ein Ort mit verkrüppeltem Buchwerk und ist etwa im Ortsnamen Parsch bei Salzburg erhalten geblieben; das Ranach sind verdorrte und umgestürzte Bäume, die Schnait ist ein Durchschlag durch den Mittel- oder Niederwald. (ZILLNER 1880: 130ff.).

VII REKLAMEwald Werbung ist eine moderne Märchenform, denn auch hier werden Geschichten in Bildern erzählt – mit dem einzigen Unterschied vielleicht, dass der psychologische Bezug dabei in erster Linie auf Produktverkauf zielt. Begriffe werden in der Werbung mitunter inflationär verwendet, mancher zeitgenössische Märchenwald etwa kommt ganz gut ohne Bäume aus und ist eher ein funpark. Wobei auch funparks eher wenig mit Parks und Bäumen zu tun haben, sondern eher gefärbelte Betonflächen sind. In manchen Werbesujets wirbt Wald für sich selbst: Von der Internetplattform www.waldstimmen.at können Tierstimmen als Klingeltöne für Mobiltelefone heruntergeladen werden und erinnern so bei jedem eingehenden Anruf an die Lebensqualität dieses Ökosystems. Die Stimmen von Wildschwein, Bär und Wölfe sorgen für die eher erdigen Töne, Hochgebirgsstimmung hingegen entsteht durch die Stimmen von Murmeltieren, Gämsen oder Steinadler. Für die Displays der Telefone gibt es die entsprechenden Tierbilder, Infoboxen bieten mediumsgerecht aufbereitete Fachinformation. Die Hitliste dieses Klangangebotes führten im Sommer 2009 Kuckuck, 10 WaldBilder

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röhrender Hirsch, Vogelkonzert und Wildschwein-Grunzen an, doch auch akustische Exoten wie die Motorsäge hatten ihre Fans (www.waldstimmen.at). Häufiger wirbt Wald allerdings für andere. In dem von den Wildkogelbahnen AG als Werbetext verwendeten Urlaubsbericht eines deutschen Mountainbikers bieten Berg und Wald die von der Spaßgesellschaft gesuchten Möglichkeiten abenteuerreicher Selbsterfahrung. Dem Zeitgeist entsprechend sind sie gleichzeitig auch Orte wohltuender Einsamkeit und erholsamer Entspannung: „Keine Ahnung, wie oft ich diese Sätze schon gehört habe: ,Rob, den Trail musst du unbedingt fahren’, und ,hier musst du hin und da und dort …’“, schreibt da der begeisterte Mountainbiker, „um ehrlich zu sein, ich kann es nicht mehr hören. (…) Besonders motiviert war ich daher nicht, als (Markus) mich locken wollte, ‚Waaahnsinn’ sei der Trail in Neukirchen am Großvenediger. Zeit hatte ich eigentlich keine, aber (dann) fuhr ich doch mit. In Neukirchen warteten schon ein paar Locals auf uns. (Am) nächsten Morgen bekomme ich aus der Gondel eine erste Ahnung, was dieses Revier zu bieten hat. Der Wildkogel ist der Hausberg der Neukirchner, mit der Seilbahn ist man in wenigen Minuten oben. Die Bikes werden außen an die Sechser-Gondel heftet, dann geht’s los. Oben, auf 2 100 Metern Höhe, wird mir schließlich bewusst, wie schön es hier eigentlich ist. Vor uns thront der schneebedeckte 3 674 Meter hohe Großvenediger, hinter uns erstrecken sich die schroffen Gipfel des Großen Rettensteins. Der Wildkogel bietet schon in direkter Linie unter dem Lift wirklich tolle Singletrails (…) Doch der Star unter den Trails versteckt sich vor neugierigen Blicken. (…) die Neukirchen-Locals zeigen mir den Weg. Zunächst geht es von der Bergstation linker Hand eine Schotterstraße bergab und dann wieder ein Stück bergauf (…) Dann geht es los (…). Der Weg ist schroff, steinig und eng. Ich muss aufpassen, dass ich bei den spitzen Steinen und dem zügigen Tempo keine Durchschläge kassiere. Plötzlich rasen enge Spitzkehren auf uns zu, die sich nur noch durch beherztes Abbremsen und weites Versetzen des Hinterrades meistern lassen. (…) Der Weg fordert volle Konzentration, jeder Fehler wird bestraft. Ich merke, wie mir langsam die Kraft ausgeht, denn es ist wirklich Arbeit auf dem Bike. Bremsen, umsetzen, treten, Linie wählen, pushen, ziehen … ,I like (it)’. Bis uns der Weg auf einer Schotterstraße ausspuckt (…) das ist Mountainbiken pur! Wir gönnen uns eine kurze Pause an der Hütte. Leckeres Essen und ausgesprochen nette Einheimische. (…). Auf das, was jetzt kommt, bin ich richtig stolz: Scharf links geht’s in den Trail Nr. 1 (…). Der Wald saugt mich steil in Falllinie auf. Das satte Grün der Blaubeersträucher, die sich wie ein Teppich über den Waldboden verteilen, verschwimmt. Kurzer Schotterweg, der bei dem Speed aber ganz schön eng wird, dann ein Wurzelfeld, ich muss mich für eine Linie entscheiden. Eine enge, technische Spur zieht mich durch dichten Wald. Vollgas spuckt mich der Trail aus, ich lasse das Gas einfach stehen. Einige Wellen tun sich in der S-Kurve auf – Tunnelblick. Ich surfe, alles ist perfekt, pures Glück. Der Trail ist an Flow kaum zu übertreffen! Nach den Wellen geht’s scharf links auf einen schmalen, griffigen Waldbodenweg … unglaublich! Zack – da bremst mich ein Holzgatter abrupt aus dem Flow. Ich komme gerade noch zum Stehen. Dahinter geht’s gemütlich am Waldrand über eine Wiese. Ein paar Kühe drehen uns ihre Köpfe zu. Nach ein paar Metern zweigt links wieder der Weg in den Wald. Erst wieder schnell auf Schotter, dann auf steilem Singletrail,

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der mit einer verflixt engen Spitzkehre an einem Hochseilgarten endet. Auf der Straße zurück nach Neukirchen. 1 150 Höhenmeter vernichtet.“ (SPAKULEX 2008). Wald-Bilder eignen sich für Produktwerbungen, die das Gefühl von Naturnähe und von Nachhaltigkeit transportieren sollen. Werbung zeigt oder beschreibt den Gegenstand an sich, oder aber verweist durch Abbildung oder Nennung eines Bestandteils, etwa eines Baumblattes, eines Astes, auf die mit dem Ganzen verbundenen Eigenschaften. In einer Werbung für Bier, die die Getränkeflasche vor einem angenehm hellen Laubwald mit belebendem Gebirgsbach und dem neugeschöpften Wort „harzhaft“ zeigt, bringt das Gefühl von Kühle, Frische, von Reinheit und Natürlichkeit. In einer Anzeige für Zahnpaste werden durch fast wissenschaftlich anmutendes Nebeneinanderstellen von schematischen Bildern die Verletzlichkeit von Baumrinde und Zahnfleisch gleichgesetzt (www.uni-koblenz.de). In einer Werbung für eine Fluglinie signalisiert der Baum Lebenskraft, sein Schatten spendet kühlenden Schutz und verheißt, freilich in Verbindung mit Sonnenschein und dem tiefblauen Meer, uneingeschränktes Urlaubsglück (www.uni-koblenz.de). Die Fähigkeit des Waldes ausreichend und dauerhaft verlässlich Wasser zu liefern – Wald dabei symbolisiert durch gemasertes Holz – wird in einer Werbung für ein Installationssystem verwendet (www. uni-koblenz.de). Drei gegen einen dicken Baumstamm gelehnte Frauen unterschiedlichen Alters, die sich entspannt aber unverrückbar fest die Hände reichen, überzeugen in einem anderen Werbesujet für ein Sojaprodukt – von dem im Zentrum stehenden Baum kommen die Eigenschaften stark, geerdet, natürlich, dauerhaft verlässlich, dem Menschen wohltuend. Der exotische Wald im Hintergrund des Baumes steuert Attribute wie südliche Leichtigkeit, Lebensfülle, im Trend liegend bei, Attribute, die ein alpiner Nadelwald eher nicht ausdrücken könnte. (activebeauty 6/2009). Die sommerliche Joggerin, die für einen mit Mineralstoffen und Vitaminen angereicherten Powerdrink wirbt, verlässt selbstbewusst und leichten Fußes einen Wald – gut vorzustellen, welches Gefühl sie nach einem Waldlauf durchströmt. (activebeauty 6/2009). Im Werbebild einer Pflege- und Schminkserie für Frauen steht eine junge Frau mit leicht pinkfarbener Blume im Haar und barfuß am sandigen Weg eines Waldrandes, im Begriff dem Weg in den Wald zu folgen. Das märchenhafte Bild von der Verwandlung auf dem Weg durch den Wald liegt nahe – die Verwendung der beworbenen Produkte verspricht im Werbetext die ebengleiche Verwandlung: Zunächst, der Lipbalsam und die Pflegecreme gewähren Schutz vor Unannehmlichkeiten wie starkem Sonnenlicht und Austrocknung, das Peeling reinigt von abgestorbenen Hautschüppchen, der Lipstick schafft eine optische Vergrößerung der Lippen, die Mascara macht selbst aus feinsten Härchen sexy Wimpern, ein Hauch Rouge aus der Pflegeserie vollendet die verzauberte Veränderung. (activebeauty 6/2009). Der Blick aus dem Fenster der Werbung für eine Baby-Pflegeserie gibt die Sicht auf einen hellgrün-gelben, weichen Blätterwald frei – und überträgt so neben dem bekannten Eindruck der Natürlichkeit die Eigenschaften sanft, ehrlich, wertvoll, duftend, behütend, zukunftsweisend auf das zu bewerbende Produkt (activebeauty 5/2009). Ebenso weiche, leichte Äste bilden den Hintergrund der Anzeige einer Babynahrung, die Attribute wertvoll, zart, bio, qualitätvoll werden da sicherheitshalber auch schriftlich angeführt. (activebeauty 6/2009). Eine Werbeeinschaltung für Grauhaar-Kaschierung zeigt Fotos von Menschen vor dem Hin10 WaldBilder

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tergrund eines tief dunkelbraun maserierten Holzbrettes, auf dem auch angeschnittene fruchtige Orangen liegen; Wald steht hier für natürlich-echte und vor allem für beständige Farbe. (dm Journal 7/2009). Die Werbeinschaltung für einen Geschirrspüler braucht nehmen den klaren See und dem markanten Berg einen Streifen Wald, um so Umweltverträglichkeit und Sauberkeit dokumentieren zu können (activebeauty 6/2009). Lässt man den Blick, oder besser die Nase, durch einen Supermarkt streifen, begegnet einem Waldduft in den Reinigungsmittelabteilungen und in den Regalen mit Produkten für den Sanitärbereich. Ein Sommerurlaubs-Angebot für ein Hotel im Pinzgau braucht in seiner Bildwerbung in jedem Fall ein Stück Laubwald, um so gemeinsam mit dem abgebildeten See den Aspekt von Erholung in exklusiver UmgeAbb. 10.1: Waldduft-Deodorant. Rondo, bung, von Ruhe und Ausgleich wachzurufen. 18. 9. 2009 (platzhirsch 6/2009). Für einen magisch-mythisch Event, den „MoonWalk & SpiritTalk auf der Schmittenhöhe“ in Zell am See, der Wandern, Meditieren, Mantrasingen, beim Lagerfeuer sitzen und Geschichten lauschen bei Mondschein einschließt, aktualisiert die Reklame das Bild vom mystischen Wald, hier hervorgerufen durch einen rechts stehenden, schematisch-schattenhaft umrissenen Baum. Der mythisch-kalte, dunkelblau-grau Hintergrund der Anzeige unterstreicht die spirituelle Stimmung. (platzhirsch 6/2009) Die Freiheit des Sommers, welche in einer Werbung einladen soll zu grenzenlosem Telefonieren, wird wachgerufen durch einen gelblichgrünen Laubwald zwischen leicht-türkisem Wasser und hellblauem Himmel. (activebeauty 6/2009). Wald im Werbefolder für den Hochseilpark in Saalbach-Hinterglemm hat eine andere Aussage: Hier balancieren Freizeitsportler, gut ausgerüstet und sicher angeseilt, über einen Steg durch die Kronen eines Nadelbaumes. Die Äste geben Eindruck von der erreichten Höhe, damit der sportlichen Herausforderung dieses Freizeitvergnügens, die Äste geben gleichzeitig auch Schutz und Sicherheit, nehmen dem Abenteuer damit Gefährlichkeit – schließlich ist das breite Publikum und nicht nur der Abenteurer als möglicher Besucher angesprochen. (Flyer Hochseilpark 2009).

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11 Film-Wald: ein katathymes Bilderlebnis Helge Reindl

Die Rolle des Waldes, seine philosophische, politische und auch soziologische Übersetzung in der Filmgeschichte ist es wert, hinterfragt zu werden. Denn nicht nur der echte, also im Verständnis der Zuschauer ,der dunkle Wald‘, birgt Geheimnisse. In vielen europäischen Filmen der Zwanziger- bis anfangs der Sechzigerjahre – diese Zeitspanne soll im Folgenden speziell betrachtet werden – gönnt man ihm mitunter eine eigenständige Rolle, die dramaturgisch in das Geschehen einzugreifen vermag, die sich bestimmend durch die Handlung erstreckt. Manchmal erfährt man den Wald als Naturapotheose. Nun kann der Wald eine Metaphorik des Raumes sein. Oder gar ein Wandbehang des Himmels? Sehr oft wird der Wald als eine Paraphrase visualisierter Ästhetisierung belichtet – der Wald als Tor zu einer anderen Welt. Es ist müßig, sich in langwierigen Walddefinitionen zu verlieren, seien sie jetzt wissenschaftlich oder literarisch bemüht. Trotzdem mag ein lockerer Exkurs in beide Welten angebracht sein, da er dem besseren Verständnis dient, was die Rolle des Waldes im Film betrifft. Grundsätzlich, um an Béla Balázs zu erinnern, der als unerreichter Filmtheoretiker und als solider und hervorragender Filmhandwerker gilt, steht eigentlich im Hintergrund eines jeden Spielfilmes eine Märchenerzählung. Hanno Loewy (Foto 11.1), Filmhistoriker und Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems: „Er hat von Anfang an den Zusammenhang von Film und Märchen erkannt. Viele von Bela Balázs’ Ideen haben mit Initiationsritualen zu tun, die im Wald spielen. Man darf nicht vergessen, dass Märchen immer den gleichen Grundgedanken haben, egal, ob man sie sich in Neuguinea oder im Taunus erzählt. Das ist vormonotheistische Tradition, wo hinter jedem Baum ein Geist sitzen kann.“ Den Film-Wald vorwiegend mit dem Märchenhaften und Religiösen in Zusammenhang zu bringen, ihn lediglich als billige Kulisse zu sehen, ist ungerecht. Dient er im Spielfilm gar als Maske für Sehnsüchte, die den kritischen Blick verkleben? Der Wald besitzt viele Gesichter und Bestimmungen und bietet ein großes Spektrum an konnotativen Bedeutungen für alle Kulturen. Die Etymologie der deutschen Sprache erklärt die Deutung der vorgermanischen Bezeichnung für Wald mit „Wildnis“, „unwirtlich“, und legt die Begriffsbestimmung mit „wild“ nahe. In der Frühzeit Europas galten Wälder als heilig, mit besonderer Kraft erfüllt und als Sinnbild der ewigen Urmächte. Das Bewusstsein, dass Bäume heilig sind, gibt es in vielen Kulturen; ebenso kennen Naturvölker zahlreiche Vergebungsrituale, bevor sie einen Baum fällen. Und wie der Sumpf waren auch Wälder Sitz von Geistern und Dämonen. Der Wald bedeutete eine Grenze gegenüber einer „Außenwelt“. Der Wald hat eine numinose1 1

Unter ‚numinos‘ versteht man heute das ambivalente Gefühl des Menschen aus Angst und Faszination bei einer Konfrontation mit etwas Übernatürlichem. 11 Film-Wald

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Bedeutung. Ein solch bedeutungsschwerer Hintergrund mag für ein Drehbuch wie geschaffen sein. Auch unsere Seelenlandschaft ist über weite Strecken dicht bewaldet. Ein Beispiel aus der Tiefenpsychologie: Der Waldrand zählt, wie auch der Wald selbst, zum Unterbewusstsein. Er ist der Aufenthaltsort von Konflikten; das können Personen sein, Tiere, oder Symbolgestalten (z.B. Räuber, Riesen, Hexen, oder auch der böse Nachbar). Dieser Waldrand bietet nun die Möglichkeit, in der Vorstellung Symbolgestalten zu begegnen. Jene, die aus ihm hervortreten, bringen den Beobachter mit sich in Kontakt. Der Wald selbst wird aber wegen der in ihm herrschenden und kaum kontrollierbaren Dynamik gar nicht betreten, um keine Widerstände bei der Begegnung mit dem Unbewussten zu evozieren. (Die Bäume selbst repräsentieren Lebensenergie.) Gerade in Mittel- und Nordeuropa wecken bestimmte Einstellungen solche Emotionen, wo sich Angst/Vertrautheit einschleichen. Mit diesem Wissen ausgestattet ist es leicht, in Filmen entsprechend zu operieren: Der dunkle Tannenwald kann Ängste hervorrufen, lässt an das Unheimliche denken, zum Unterschied vom Laubwald, der eher das Vertraute, das Freundliche anspricht. Es war bei den Kelten schon im Bewusstsein, dass die guten Geister im Laubwald wohnen und die bösen im dunklen Tann. Adalbert Stifter, im Böhmerwald geboren, bemerkte einmal die Verwunderung eines Städters, der schon mehrere Sommer auf dem Land verbrachte, dass die Bauern nur dann in den Wald gingen, wenn Nutzholz zu holen war. Aber es ist nun mal der Mann aus der Stadt mit seiner Intellektuellenkultur gewesen, der den Wald auf seine Phänomene und seine Romantik hinterfragte. Diese Waldromantik wurde von Leuten geprägt, die den Wald eigentlich nicht kannten. Thomas Ballhausen ist Filmhistoriker und Literaturwissenschafter. Er schrieb vielbeachtete Fachpublikationen und ist auch Gastdozent an ausländischen Universitäten. „Der Wald in den unterschiedlichsten Genres ist ein Austragungsort, er ist ein mystisch aufgeladenes Feld. Man kann den Bogen von der ritualisierten Aussage, über die romantische Form bis zur ökologischen Wende spannen. Das macht Sinn und ist durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen gefasst.“ Der Wald ist mit seinen eigenen Gesetzen der letzte Rückzugsort für das Phantastische, was sowohl eine säkularisierte als auch eine religiöse Gesellschaft in ihm toleriert: „Wenn er ein heidnischer Ort bleibt, dann gibt es in ihm Geister, Feen, die sich austoben dürfen, da gibt es alles, was mit einem klassischen Erklärungsmuster nicht funktioniert, was aber in einem Film tradiert werden darf. Der Wald kann als Schutz interpretiert werden, ebenso als Ort der Bedrohung, wie es beispielsweise im Märchenfilm dargestellt wird. Der Wald ist in jedem Fall ein Ort, an dem es zur Sache geht. Er wird auch als Projektionsfläche aufgrund seines mystischen Potentials genutzt, denn er besitzt eine Erwartungshaltung. Er kann auch zum heimlichen Platz der Begegnung werden, wo sogar die Rollen getauscht werden.“ Der Wald, ein Ausnahmeort. Dadurch wird das Weiterleben von verschiedenen mystischen Objekten und Traditionen möglich und es wird immer eine Ecke in ihm geben, die uns dunkel und verschlossen bleibt, die wir nicht wagen zu betreten – die man vielleicht

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auch verpasst hat, irgendwann einmal zu betreten. Und gerade um diesen leeren Raum herum kann sich viel bewegen. Darüber hinaus stellt der Wald oft eine Anderswelt dar, in der die Gesetze von Zeit und Raum nicht mehr gelten. Eine schaurig-schöne Geschichte zu diesem Thema ist der Film „Das Blaue Licht“ (1931/ 32) (Foto 11.2), eine Berglegende aus den Dolomiten, der als Erstlingswerk von Leni Riefenstahl gilt. Die Erzählung spielt zu einem guten Teil im Wald, der eindrucksvoll mit Lichteinbrüchen zwischen den Bäumen verklärt wurde. Er ist der Eingang zu einem Zauberreich: Die archaisch lebende Bauerngemeinschaft eines Bergdorfes hält das Mädchen Junta für eine Hexe, denn sie lebt verwildert in einer Hütte im Wald. In Vollmondnächten klettert sie über einen geheimen Steig, den nur sie kennt, zu einer Höhle am Monte Cristallo Foto 11.2 : Das Jahrhunderttalent und erfreut sich an Bergkristallen, die ein blaues Licht abLeni Riefenstahl auf dem Programm zu einem ihrer berühmtesten Filme, strahlen. Dies sieht man bis ins Dorf hinunter und junge in dem der Wald am Beginn ihrer Männer wollen das magische Licht besitzen, stürzen aber cineastischen Karriere stand beim Versuch, zur Höhle zu gelangen, ab. Als ein vorbeikommender Kunstmaler das Geheimnis klärt, das nur auf einer Reflexion des Mondlichtes beruht, ist die Angst der Bewohner gewichen. Sie stürmen die Höhle, plündern die Kristalle und haben den Zauber für immer zerstört.

Tempora mutantur (et nos mutamur in illis) Die Kulturgeschichte der jüngeren Zeit ist für den Wald eine problematische, da es starke nationale Zuschreibungen gibt, die christlich aufgeladen sind, denn nun wird der Wald auch zum Hort nationaler Sinnstiftungen. Martin Luther verbot bekanntlich den Juden das Betreten des deutschen Waldes. Hier gehört nachgedacht, welche Form von Fiktion welche legistische Realität stiftet. Oft steht ein volkstümliches Erbe zur Verfügung, auf das man aufsetzen kann – z.B. ein undemokratisches System, politischer Terror. In diesem Zusammenhang kann der Wald ein Hort in der Anbiederung an Traditionen sein, die politisch überformt werden. Thomas Ballhausen: „Er wird als Platz der Sehnsucht nach den alten Werten, nach der Rückbesinnung, dargestellt. Dieses Genre unterstreicht auch das Stadt-Land-Gefälle. Denn jene, die auf die schiefe Bahn gerieten, gingen in die Stadt oder leben überhaupt in der Stadt. Wer im oder mit dem Wald zu tun hat, zählt zu den Harmlosen, zu den Naturverbundenen, zu den sauberen Naturburschen. Das ist die neue Identitätsstiftung. Diese Ansicht zieht sich thematisch durch alle Heimatfilme. Da wird ein großes Ensemble von Elementen vitalisiert.“ Scholle gegen Asphalt. 11 Film-Wald

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Im der mediterranen Hemisphäre ist der kulturelle Zugang zum Wald ein ganz anderer. Dort wird er eher als Feind betrachtet, den es zu roden gilt, der der Landwirtschaft im Wege steht. Außerdem konnte man in lichten Wäldern besser herrschen. Eine Waldwirtschaft mit all ihren Erlebnismöglichkeiten hat im mediterranen Bereich nie stattgefunden. So bot er auch wenig Möglichkeiten für eine filmische Inanspruchnahme. Auch in der Stummfilmzeit gab es bereits Heimatfilme; doch die stärkste Ausprägung, weil ideologisch imprägniert, gab es in den Dreißiger- und Vierzigerjahren. In den Fünfzigern schloss die Heimatfilmgeneration nur noch mit einer leichten Wertefärbung von früher an. Heute, nach etlichen Jahren Pause, wird der Wald für etwas anderes gebraucht, denn das Thema Ökologie findet auch in den Drehbüchern ein Echo: Politiker ersetzen die Förster, die unbedarften Landmaiden werden mannhafte Recken zur Rettung der Umwelt, bzw. der Lebensqualität. Das gehört zu einer neuen Bewusstseinsfindung, die uns der Film mit dem Wald heute erzählt. Und diese Filme werden gern wieder in Österreich gedreht, wie damals, denn die Rahmenbedingungen blieben gleich. Vorbei also die Zeit der märchenbetonten (im weitesten Verständnis) Welt im Film für die Freunde des übersinnlichen „Touches“, des ungebrochenen Glaubens an Geister, an Erzählungen von Gnomen, Hexen, Waldmännle, Feen, Faune, Riesen, Wichtel, Salige Fräuleins und sonstige Erscheinungen? Mitnichten. Diese Parallelwelt vermag nach wie vor zu fesseln. Es kommt nur auf die Verpackung an.

Heimat, deine Wälder Film schafft Illusionen, Sehnsüchte, befriedigt Erwartungen. Das Kino, das Lichtspieltheater, der Filmpalast als mögliche Heimat? Warum nicht. Aber das ist – vielleicht – eine andere Geschichte. Heimat kann man als begrenztes, wahrscheinlich sogar als ausgrenzendes Territorium sehen, wo Menschen ihre Identität gefunden haben. Heimat bietet auch Verhaltenssicherheit und eine gewisse Orientierung, wo alles seinen Ort und seinen Sinn hat. Schließlich wird Heimat zu einem realen Lebensraum, zu einem IdentifikationsFoto 11.3: ,Erzherzog Johanns große Liebe‘ … inmitten des grünen Herzen Österreichs: Gerade die Steiermark und Tirol brachten ihre Wälder glaubwürdig auf Zelluloid und trugen dadurch nicht unwesentlich zu einem Tourismuswachstum bei

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Foto 11.4: Wer in den Bergen hinauf will, muss zuerst durch die Wälder

Foto 11.6: Die Baumgrenze, der letzte bewohnbare Lebensraum des Menschen. Oft Schauplatz dramatischer Szenen im Handlungsablauf. (Paula Wessely im Hochgebirge vor der Kamera)

und Sakrifikationsraum. Für Heimatlose und selbsternannte Weltbürger waren Heimatfilme ideologische Tröstung und Häfen der Erinnerung. So manch alter Film dieses Genres verschenkt solche Seelenhygiene heute noch vielen. In den meisten Streifen ging es nur um den Wald, manchmal stand er sogar auch noch im Titel. Farbenopulente, stimmungsvolle, mitunter technisch raffiniert aufgenommene Waldbilder, bloßfüßige Wildheit unterstützt von Heimaterde, gepaart mit wohltemperierter bis hin zu aufwühlender Filmmusik, das hat so manchen Regisseur bei thematischen Übergängen – vor allem am Schnittplatz, wenn alle Masken fallen – unterstützt. Stimmungsbilder, windgebeutelte Baumkronen, aus dem Unterholz emporsteigende Morgennebel, oder der sich mit der Abendsonne zwischen den Ästen verabschiedende Tag, auch das half in vielen Heimatfilmen der Nachkriegszeit vor geistigen Grenzfällen abrutschgefährdeter Handlungsabläufe. Es ist wirklich nicht einfach, den Begriff „Heimat“ verbindlich zu erklären. Hinter dem Wort stehen zu unterschiedliche Konzepte und Definitionen. In der deutschen Sprache ist es das Vaterland, in England motherland, im Hebräischen ist es lediglich der Geburtsort. Doch die schlaksige Bezeichnung „Blut und Boden“-Filme besitzt einen ernsten Hin-

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Foto 11.8: Einer der seltenen norddeutschen Heimatfilme, der den alpenländischen in seiner Dramatik nicht nachsteht

Foto 11.9: 1959 brachte dieser Film allein in Deutschland sieben Millionen Zuseher ins Kino

tergrund. Sie gilt für die im älteren germanischen Recht bestehende Bindung des Grundeigentums an die Familie und entsprach in den Dreißiger- und Vierzigerjahren dem Leitgedanken der Bauern- und Bodenpolitik. Das Reichserbhofgesetz (1933) sollte die alten Bauernhöfe vor Überschuldung und Zersplitterung im Erbgang schützen. Die Fünfziger waren ein Jahrzehnt voller Dynamik und des sogenannten Wirtschaftwunders. Reisen im eigenen Land, aber auch ins Ausland konnte man sich leisten. Man wurde wieder wer. Deutsche und österreichische Filmproduktionen hatten Höhenflüge. Und die Sache mit der Heimat? Man kann die Leute aus der Heimat vertreiben, aber nie die Heimat aus den Leuten. Zuerst war sie Mangelware, nun wurde sie zum Kassenschlager. Der Heimatfilm wurde auch ein Konstrukteur nationaler Identität. Es war aber auch der Heimatfilm mit seinen großartigen Landschaftsaufnahmen, der nach 1945 der eigenen Identitätsfindung diente und das Verdrängen der Nazi-Zeit unterstützte, denn im Dorf schien die Welt ja immer in Ordnung gewesen zu sein. Der Literaturkritiker Hellmuth Karasek bemerkte vor einigen Jahren in einem „Spiegel“-Artikel: „Heimat war der Wunsch- und Traumbegriff der Fünfziger Jahre. Heimat im Heimatfilm, Idylle, die man sich auf die Pinwand des Gemüts heften konnte – wie einen Kalender mit Bergen und Seen in eine graue Neubausiedlung in einem Industriegebiet bei Essen, Rüsselsheim oder Wanne-Eickel. Im Heimatfilm, dem nostalgischsten Produkt der deutschen Sehnsucht nach dem Gestern, war Österreich die Inspirationsquelle der Deutschen.“

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Der deutschsprachige Film der Fünfzigerjahre fand sein bevorzugtes Habitat auf der Alm, in den Wäldern, auf der grünen Heide und im Silberwald. Im Beton kann man ja auch schlecht Wurzeln schlagen. Es war die Zeit der großen filmischen Melodramen. Und in so manchem Heimatfilm war auch eine bewegende, manchmal sogar erschütternde Heimatlosigkeit der Charaktere dabei. Der Wald, so schreibt Elias Canetti in „Masse und Macht“, sei das Massensymbol des Deutschen. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie dort. „Das Rigide und Parallele der aufrecht stehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude. Er sucht den Wald, in dem seine Vorfahren gelebt haben, noch heute gern auf und fühlt sich eins mit den Bäumen.“ Peter Bußjäger unternahm einen literarischen Ausflug in die Waldgeschichte: „Auch das Waldsterben ging – mit einem ironischen Unterton – als ‚deutscher‘ Begriff um die Welt. Es ist nicht zu leugnen, dass auch wir die Wälder, in denen unsere Vorfahren gelebt haben, gern aufsuchen. Wir genießen dort ein besonderes Gefühl, nämlich, dass der Wald uns gehört. Dieses Gefühl des Kollektiveigentums wird in uns verletzt, wenn wir aus einem bestimmten Grund aus unserem Wald ausgegrenzt werden. Beispielsweise durch einen versperrten Weg. Beachten wir aber auch, dass das, was Canetti als Massensymbol der Deutschen gemeint hat, kein Urwald mit seinen chaotischen Schlinggewächsen und seiner unheimlichen Unüberschaubarkeit ist, sondern ein strammer Wald, in dem gerade so viel Unterholz wächst, dass es nicht stört. Und in einem solchen strammen, aufgeräumten Wald fühlen wir uns auch besonders wohl.“ Im Laufe der Jahre begann man diese berühmt-berüchtigten Heimatfilme abwertend zu belächeln. Diese Liebes- und Abenteuerreservate aus Zelluloid wurden in jeder Hinsicht als flachsinnig empfunden. Das sollte man nicht tun. Denn, abgesehen davon, dass jede Zeit ihr eigenes und zu respektierendes Kulturverständnis besitzt und auch ihre eigenen Vorbilder schafft, hatten gerade diese Filme ihre Berechtigung für die damals ins Kino strömende Kriegsgeneration. Die Leinwand bot schöne Bilder, noch unerreichte Ferne, Unterhaltung durch oftmals leichte Kost. Ob diese bewusst serviert wurde, oder nicht, ist eine andere Geschichte. Wirkliche Probleme, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann, gab es im Alltag genug. Im Film lösen berührende Themen, wie z.B. Eros, Tod, Krieg, Macht, Freiheit, Arbeit, oder Glück, unmittelbare und auch tiefe Gefühle aus. Die Reflexion darüber beginnt erst später. Man übersieht zumeist, dass diese Filme historische Quellen ersten Ranges sind. Margit Szöllösi-Janze, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Köln, erwähnt als Beispiel „Waldwinter“ (1956) (Foto 11.10), einen Film, in dem der Wald als Wirtschaftsfaktor das Hauptthema ist und zum Schluss Kulisse für eine dramatische Verfolgungsjagd: „Dieser Film zeigt, wie die soziale Marktwirtschaft der frühen Bundesrepublik in ein Dorf von Vertriebenen einzieht. Zu Beginn werden verschiedene Modelle kapitalistischen Wirtschaftens gezeigt. Etwa den verbrecherischen Ausbeuterkapitalismus, eine vormoderne patriarchalische Wirtschaftsweise, sogar die Unternehmensgründung durch eine 11 Film-Wald

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Frau. Sie alle gefährden die ökonomische Fortexistenz des Dorfes. Die Lösung bringt ein heimkehrender junger Baron, der zuvor eine entscheidende Lektion lernen muß, – daß Kapitalismus nur dann akzeptabel ist, wenn er Verantwortung für die Gemeinschaft übernimmt.“ Neben den Standardbeschäftigungen des Försters, Bauern, der Magd, den Jägern und Wilderern zeigt der Heimat- und Bergfilm auch die Waldarbeiten. Filme, in denen solche Szenen vorkommen, haben bereits Dokumentarcharakter, oder, wie man in der Filmwissenschaft sagt, sie sind „Bedeutungsträger“. Denn heute ist weder die originale Darstellungsmöglichkeit von Holzknechten mehr gegeben, noch der authentische Gebrauch ihrer Werkzeuge: niemand sägt mehr einen Baum mit der Zugsäge um. Es waren die Waldarbeiter, die meist als das lustige, betont naturverbundene, gesangsstarke (sogar während des Baumfällens) und auch alkoholgeeichte Völkchen herhalten mussten. Nirgendwo sonst wurde eine Berufsgruppe regelmäßig mit einem derart falschen Klischee ummantelt. Beispiele dafür sind die Filme „Hoch droben am Berg“ (1957) und der Luis Trenker-Film „Der verlorene Sohn“ (1934), – ein Werk, das schon lange Einzug in den Olymp der Filmgeschichte genommen hat. In diesem Film gibt es eine andere, sehr schöne Stelle, die sich mit dem Wald befasst: Zum Ende des Filmes, als Tonio Feuersinger (Trenker) aus der Fremde ins heimatliche Dorf zurückkehrt, wird gerade im Licht der brennenden Fackeln ein Rauhnachtsbrauch zelebriert. Ein Zeremonienmeister ordnet die als Acker, Wiese, Wald, Feuer und Wind verkleideten Gestalten und fordert sie auf, vor den König zu treten und sich vorzustellen. Als der ,‘Wald an der Reihe war, trat dieser mit schwerem Schritt aus der Reihe heraus und überreichte dem König einen jungen Baum mit Wurzeln und Erde. Dann verneigte er sich und sprach: „Ich bin der Wald, bin ur-uralt! Ich hege den Hirsch, ich hege das Reh, ich fange den Sturm, ich fessle den Schnee, ich bau’ euch die Hütte, ich heiz’ euch den Herd. Bäuerlein, Bäuerlein, halte mich wert!“ Auch aus künstlerisch zweitrangigen Filmen erschließt sich Historikern ein Fundus geschichtlichen Materials, denn sie transportieren eindrücklich zeitgenössische Wertvorstellungen und auch topografische Dokumente, die es heute entweder nicht mehr gibt, oder in sehr veränderter Form. Es ist der Wald und sein Umfeld, seine gesellschaftspolitische Wertigkeit, was Spuren auf Zelluloid hinterließ. Filme, die nahe am Alltag sind, dokumentieren nicht nur bestimmte Epochen, sie vergegenwärtigen Dinge und Menschen, sie bringen sie nahe. Und erinnern gerade dadurch an den Wandel der Zeiten. Man kann auch Liebesschwüre in die Rinde einer Fichte ritzen, wobei die Narben meist das beginnende Glück dieses Augenblicks lange überdauern. In „Die Magd von Heiligenblut“ (1956) geht es stark zur Sache, denn der Wald ist ständig präsent. Lange Arbeitswege führen Holzfäller zur Arbeit über Almen, prächtige Hochwaldpanoramen wechseln sich ab, Kräuterweiblein sind im dichten Tann aktiv, man lernt die Lebensweise der Holzknechte kennen und in der unvermeidlichen Techtelmechtelszene fragt die Auserwählte: „Was soll der Hochkogler dir für mich geben, wenn ich ihn heirate? Ein Stück Acker, fünf Kühe, – oder gar ein Stück Wald?“ Man beachte die Wertsteigerung.

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Foto 11.11: Regisseur Hans Steinhoff schuf 1940 zur Musik von Nico Dostal und mit seiner Hauptdarstellerin Heidemarie Hatheyer (Bild) die erste ernstzunehmende Verfilmung von „Die Geierwally“ nach dem Roman der Wilhelmine von Hillern

Es wäre ungerecht, dieses Filmgenre ob seiner mäßigen Drehbuchqualitäten zu verurteilen, denn unter den vielen Hundert Produktionen gab es immer wieder auch ausgezeichnete Werke, wie z.B. „Der Meineidbauer“ (1956), oder „Die Geierwally“ (1940) (Foto 11.11). Legendär ist die mediale Erfolgsgeschichte von „Heidi“ (Foto 11.12). Dieser Film begründete einen Schweizer Mythos. Nicht von ungefähr fand eine Ausstellung (2003) zu diesem Phänomen im „Alpinen Museum“ in München statt, bei der man zum Nachdenken über das aktuelle (!) Alpenbild anregen wollte. Denn die im Roman geschilderte heile, unverdorbene Waldlandschaft und Bergwelt ist für viele heute noch maßgebend für die Imagination der Alpen. Auch touristisch wurde der Filmerfolg in der Schweiz hervorragend umgesetzt: Mittlerweile gibt es eine ganFoto 11.12: „Heidi“ potenzierte alle Klischees ze Ferienregion als Heidiland, die nicht zwischen Käse, Schokolade und sauberen Menschen schlecht von diesem Image lebt. – und brachte einer ganzen Schweizer Region ein wirtschaftliches Zubrot So sehr in vielen Spielfilmen der Wald eine unverzichtbare Aufnahmequelle mit Aussage darstellt, verbleibt er im schlechtesten Fall der Filmkunst noch immer als Erinnerung an „schöne Naturaufnahmen“. Sei er es jetzt als nahezu unendliche Landschaft, prägend für das Auge bis über den Horizont hinaus, als Hochwald, Mischwald, als Wäldchen, als eine Lichtung, oder gar nur als Waldrand. Im Film erfüllt er die ihm zugedachte Rolle allemal und man ist mit dem Wald dramaturgisch durch die voraussetzbare Identifikationsschiene beim Zuschauer auf der sicheren Seite. Vor allem dann, wenn er sich wie ein Glutamat für Szenenübergänge anbie11 Film-Wald

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tet. Wenn auch die Handlung missfiel, beurteilt man den Film zu guter Letzt dann doch noch mit einem „aber“, oder einem „immerhin“, wenn es um die Naturaufnahmen geht. Wenn man den wissenschaftlichen, den Dokumentarfilm und den alpinen Bergfilm verständlicherweise beiseite lässt, gibt es mit Abstand nur den Heimatfilm, in dem der Wald seinen großen Stellenwert besitzt. Versuche, den US-Western als amerikanischen Heimatfilm zu begreifen, ergaben weniger inhaltliche als formale Gemeinsamkeiten, in dem beide die Grundstrukturen der Trivialkunst aufweisen. Dieses Filmgenre, das nur in den deutschsprachigen Ländern seine ausgeformteste Vollendung besaß, zog eine ganze Generation ins Kino und verhalf blutjungen Darstellern zu Popularität und Ruhm – für manche bis hin zur Burgtheaterkarriere. Fast alle renommierten Schauspieler Österreichs traten in Heimatfilmen auf, manche sogar ausschließlich. Diese traditionsgebundenen Filme gehören bis heute (nicht nur) zum Wochenendprogramm der Fernsehanstalten – zur Freude der Älteren, die sich durch die Landschaftsbilder an ihre ersten Urlaube „damals“ erinnern, zur Freude der Nostalgiker und zur Freude all jener, die den Heimatfilmen Wertmaßstäbe zuordnen. Auch heute noch, zu Beginn des dritten Jahrtausends, ist Bedarf an ihnen. Korrekterweise sei erwähnt, dass oft filmrechtliche und wirtschaftliche Gründe mitspielen, dass Fernsehanstalten diese Filme in das Programm setzen. Natürlich ist die Nostalgie kein zuverlässiger Ratgeber; sie mag das Herz wärmen, aber sie bedeckt das Gedächtnis mit dem gnädigen Mantel der Nachsicht und gibt sich mancherlei Irrtümern hin. Filme vermitteln nun mal Illusionen und es sollte nicht darüber diskutiert werden, ob neunzig Minuten dem Gemüt bleibenden Schaden zufügen können, wenn man eine Spielfilmlänge sich jene Bilder in homöopathischen Dosen zuführt, die man gerade sehen möchte. Ein wenig ideologische Vorsicht sollte geboten sein: Der Schutz des Waldes, die Hege und Pflege des Gesunden, aber das Aussuchen und Abschießen des vermeintlich NichtGesunden … so harmlos, wie sie aussahen, waren die sympathischen Filmförster nicht. Aber es gab ja in den Kinos auch andere Filme und es stand frei, dem Neorealismo italiano den Vorzug zu geben, den Musik-, Kriminal- und Westernfilmen, oder sich für die sozialkritischen der DEFA zu entscheiden, die recht engagiert in der kritischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit waren. Waldrauschen versus Problemaufarbeitung? So ist die Frage nicht zu stellen. Natürlich hatte Hannah Arendt recht, als sie schon 1950 beanstandete, dass es nirgendwo eine Reaktion auf das Geschehene gibt, „aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um irgendeine absichtliche Weigerung zu trauern, oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Diese offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist nur das auffälligste äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen Weigerung, sich dem Geschehenen zu stellen.“

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Filme, in denen Wälder berühmt wurden Nun, abgesehen von wirklich wenigen Filmen, wie etwa „Rosen für den Staatsanwalt“, „Die Mörder sind unter uns“, „Draußen vor der Tür“, oder beispielsweise „Kirmes“, wo man sich bewusst dem Thema der Nazi-Zeit kritisch näherte und so etwas wie Schuld eingestanden wird, zeigte der Berliner Produzent Abraham (Arthur) Brauner schon 1948 sehr viel mehr Mut. Gerade er, dem es ein Anliegen war, die nationalsozialistische Zeit filmisch „aufzuarbeiten“, finanzierte damals „Morituri“. Der Film lief in Österreich unter dem Titel „Freiwild“. Der Wald bot Juden und Widerstandskämpfern einen Überlebensort und bekam so seinen Anteil an der Hauptrolle: geflüchtete KZ-Insassen schlagen sich zu einem Wald durch, wo sie sich Widerstandskämpfern anschlossen. Man hauste vor den anrückenden Nazis in Verstecken halb unter der Erde. Der Literatur- und Filmwissenschafter Hanno Loewy: „Da wird der Wald filmisch so richtig voll inszeniert. Er ist in diesen Szenen auch ein Ort der Rückzugsmöglichkeit, wo er sogar merkwürdige Assoziationen an die Romantik weckt.“ Als man einen jungen deutschen Soldaten gefangen nimmt, wird ihm im Waldlager der Prozess gemacht. Der Ankläger ist ein Jude aus dem Ghetto, der Verteidiger ein jüdischer Rechtsanwalt aus Deutschland. Loewy: „Während der Verteidiger sein Plädoyer hält, das letztlich zum Freispruch für den Soldaten führt, verwandelt sich der Wald in einen gotischen Raum. Die Bäume werden zu gotischen Maßwerkfenstern, der Wald zu einem gotischen Kunstwerk. Eine Spielfilmhandlung, die in einer Waldszene archetypisch durchgeführt wurde.“ Ein solcher Film mit einem solchen Thema würde heute wahrscheinlich „Oscar“-verdächtig sein. 1948, als der Krieg noch gar nicht so richtig vorbei war, wurde er in Deutschland angefeindet, boykottiert, vielerorts Kinobesuchern der Eintritt verweigert und mancherorts der Kinosaal sogar zertrümmert. Man befleißigte sich förmlich, das Geschehene allzu schnell zu vergessen und zu verdrängen. Ein Film mit fast identem Inhalt und ebenso nach einer wahren Begebenheit gedreht, war „Unbeugsam“ (2008): geflohene Juden aus einem Lager errichteten in einem verborgenen Unterschlupf ein „Jerusalem in den Wäldern“ Weißrusslands, der zäh und geschickt über drei Jahre hindurch verteidigt wurde. „Wir werden gejagt wie die Tiere, aber sie werden keine Tiere aus uns machen!“ rief der Anführer Tuvia Bielski seinen Leuten in den Wäldern zu. Das wurde zu einer Schlüsselszene des Filmes. Dass sich der Wald vor allem für Kriminal- und Räuberfilme („Das Wirtshaus im Spessart“, 1958) anbietet, liegt auf der Hand. Der erst kürzlich gedrehte Film „Tannöd“ (2009) bezieht sich auf einen bis heute ungeklärten Mordfall in einem oberbayrischen Einsiedlerhof mitten im Wald, wo sechs Menschen von einem Täter mit der Hacke erschlagen wurden. Recht authentisch ging es auch bei den Dreharbeiten zu: Finstere Tannenwälder und düstere Schneewolken waren das tägliche Ambiente. In dem skandinavischen Film „Ein Schrei in den Wäldern“ (2004), eine grausame Kriminalgeschichte nahe am Horrorfilm, wurde der Wald in seiner dramatischen Hauptrolle fast schon personifiziert. Kaum eine Einstellung ohne Wald, der als stummer Zeuge Verbrechen und psychologische Unappetitlichkeiten ertragen musste. 11 Film-Wald

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In „Die Frau, die im Wald verschwand“ (2007) diente eine einsame Waldlichtung als gefährlicher Ort für verbotene Liebesmomente und eines vermuteten Verbrechens. Das Besondere an den Waldbildern war die begleitende Spannung, da sich jeden Augenblick eine Detonation der dort noch immer ungehobenen Bombenblindgänger des Weltkrieges ereignen konnte. Dieser Wald wurde von den Bewohnern der Umgebung auch Knochenwald genannt – manchmal, ob durch Tier oder Mensch ausgelöst, wer weiß es, ging wirklich eine Bombe hoch. Leider war dieser Film, obwohl von Altmeister Oliver Storz inszeniert, wenig ansprechend gelungen. Fast fünfzig Jahre zuvor kam ein Kunstwerk ins Kino, das auch von der Dramatik her seinesgleichen suchte: „Die Jungfrauenquelle“ (1960) von Ingmar Bergmann. Der Film erzählt nach einer schwedischen Legende aus dem 14. Jahrhundert von einer wohlhabenden Bauernfamilie und ihrer Tochter Karin. Eines Tages geht sie in Begleitung der Magd einen stundenlangen Weg ins Dorf. Unterwegs trennen sie sich, weil die Magd Angst vor der Durchquerung des Waldes bekommt und Karin allein weiterziehen lässt. Nach einer Weile trifft das Mädchen auf einer Lichtung drei Hirten. Sie gewinnen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen das Vertrauen von Karin. Die Situation wird für sie immer bedrohlicher, bis es schließlich zur Vergewaltigung und zu ihrer Ermordung kommt. Danach zeigt Bergmann die spannende Aufklärung des Verbrechens und die Rache des Vaters. Am nächsten Tag führt die Magd die Eltern zu jener Stelle im Wald, an der sie Karin zurückgelassen hatte. Als die Mutter den Kopf ihrer Tochter anhebt, entspringt an dieser Stelle eine Quelle. Es gibt wenige Filme, an die man sich nur wegen des Drehortes erinnert. Zu ihnen gehört die japanische Erzählung „Wald der Trauer“ (2007). In dem mit dem „Großen Preis der Jury“ in Cannes ausgezeichneten Streifen gelingt es der japanischen Regisseurin Naomi Kawase mit außergewöhnlichem Gespür den seelischen Zusammenhang zwischen der Natur und dem Menschen herauszuarbeiten. Es ist ein bewegender Film über eine junge Altenpflegerin und einem alten Heiminsassen. Beide haben den Tod eines nahestehenden Menschen zu überwinden. Während eines Ausfluges läuft der alte Mann immer tiefer in einen üppigen, exotischen Wald hinein und die junge Pflegerin hat Mühe, ihm zu folgen. Nun wird der Wald aufgrund seiner mächtigen Präsenz zu einem geistigen Raum für das individuelle Abschiednehmen beider von ihren Toten. Durch hereinbrechende Naturgewalten und die betonte Wahrnehmung des ewigen Kreislaufes zwischen Werden und Vergehen, lassen beide die Aufarbeitung des Schmerzes zu. Die Wandlung der Trauernden wird als magisches Erlebnis inszeniert, für das der mächtige Wald in überväterlicher Weise seinen spezifischen Schutz bietet. Naomi Kawase ließ wunderschöne Bilder von Baumlandschaften von der Kamera malen, die in ihren Totalen den Menschen als Bestandteil eines größeren Ganzen zeigen. Der Eindruck täuscht nicht, dass die Aufnahmen im Wald oft wesentlich mehr sagen, als die Figuren. Der Film ist abhold gebrauchsgüterhafter und anderer stereotyper Darstellungen des Waldes nach europäischem Muster. Dieses sogar im Film verspürte stille Umarmen von der Sprache des Waldes, dieses feine, nachdenkliche Beobachten, das zeigt von einem anderen Zugang zur Natur, als es wahrscheinlich je einer europäische Seele gelingen würde. Man weiß über dieses sensible Anderssein fernöstlicher Kulturen Bescheid, doch meist

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war es das auch schon und deshalb tut es gut, dieser Achtsamkeit „Im Wald der Trauer“ für eine gewisse Zeit zu begegnen. Ein anderer Heinz Rühmann, nicht der verschmitzte Spaßmacher vom Dienst, agierte in dem Film „Es geschah am helllichten Tag“ (1958). Das Drehbuch verfassten Regisseur Ladislao Vajda und Friedrich Dürrenmatt gemeinsam. Man forderte damals aufgrund aktueller Ereignisse in der Schweiz einen Film zum Thema Sexualverbrechen an Kindern. Die Geschichte ist schnell erzählt: ein gutbürgerlicher, erfolgreicher Handelsvertreter für Schokoladeprodukte aus einer Kleinstadt, der unter dem Pantoffel seiner herrischen Frau steht, hat die fatale Neigung zum pädophilen Sexualverbrecher. Auf seinen Fahrten in die Provinz entdeckt er in einem Wald ein spielendes Mädchen, das seinen Trieb weckt. Nun ist es klar, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis sich das Verbrechen ereignet. Der Film spielt in einem lichten Laubwald im Frühjahr. Die Kameraleute Ernst Bollinger und Heinrich Gärtner ziehen mit aquarellgleichen, aber auch unheilvollen Stimmungsbildern, inklusive dem zu den Kronen dräuenden, unvermeidlichen Frühnebel so ziemlich alle Register, die man zu solchen Themen aus einem Wald herausholen kann. Die strukturarme, langweilige Gegend drängte sich nicht in den optischen Vordergrund, war jedoch immer dann unheilschwanger als Neutrum präsent, als die Avancen des Vertreters immer näher zum Erfolg führten. Interessant das Schlussbild: Als der Fall mitten im Wald auf dramatische Weise geklärt werden konnte, schwenkte die Kamera hinauf zu den Baumkronen, durch die gerade die ersten Strahlen der Sonne brachen. Unter all den großen Märchenfilmen die Weltruhm erlangten – „Bambi“ (1942) sei in diesem Fall ausgenommen – repräsentierte „Der Zauberer von Oz“ (1939) wohl am eindrucksvollsten einen Zauberwald, der vor allem Erwachsene begeisterte. Dieser MusicalFilm zählt bis heute zu den bekanntesten Werken dieses Genres in der Filmgeschichte. Ein Film, in dem sogar die Bäume sprechen, mitspielen und sich auch wehren durften. Und als Judy Garland „Over The Rainbow“ anstimmte, dann war sogar im Zauberwald Hollywood gerührt. Die homosexuelle Community Amerikas empfand dieses Lied als perfekten Ausdruck ihrer eigenen Sehnsüchte nach einer toleranteren Welt und adoptierte es wie eine Hymne. Ein anderer Song aus diesem Film, „We’re off to see the Wizard“, wurde für die australischen Truppenverbände des Zweiten Weltkrieges zur inoffiziellen Marschhymne. Die Produktionsfirma MGM ließ sich diesen Wald etwas kosten: „Der Zauberer von Oz“ wurde zu einem der teuersten Filme, spielte aber auch einen schönen Gewinn ein. Ein nicht weniger weltberühmtes Filmthema, in dem der Wald auf seine reine „Schutz“-Funktion ausgelegt wurde, ist „Robin Hood“, zentraler Held mehrerer mittelalterlicher bis neuzeitlicher englischer Balladenzyklen. So wird er, dessen historische Existenz nie belegt worden ist, Mitte des 15. Jahrhunderts noch als gefährlicher Wegelagerer geschildert, der habgierige Geistliche ausraubte, später zum englischen Patriot mutierte und im 20. Jahrhundert gar zum Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit wird, der den Reichen nimmt und den Armen gibt. 1995, in einer Umfrage unter britischen Kindern, zu welcher Berühmtheit sie mit einer Zeitmaschine reisen wollten, wurde Robin Hood an erster Stelle genannt, weit vor Elvis Presley und Jesus Christus. Was da wohl wie eine Kraft in diesem Thema steckt, das über 11 Film-Wald

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Foto 11.13: Vielleicht der letzte Heimatfilm der ersten Generation, in dem schon manches nicht mehr stimmte

Jahrhunderte lebendig blieb. Aber wäre Robin Hood jemals zum Filmhelden ohne den Sherwood Forest geworden? (Post scriptum: In Anlehnung an die Romanfigur wurde einer Umweltschutzorganisation der Name „Robin Wood“ gegeben). So gewichtige Themen hatte der Heimatfilm unserer Breiten kaum. Sein Bogen spannte sich vom Ski- und Jägerfilm über dramatische Erbschaftsthemen bis zu rustikalen Literaturverfilmungen und zum bäuerlichen Schwank. Man befasste sich bevorzugt mit Familien- und Dorfkonflikten, bei denen auch immer der Wald eine entscheidende Rolle spielte. Ob in all diesen Filmen der Wald eine Visitenkarte der Forstwirtschaft oder das ökologische Reifezeugnis eines Landes gewesen ist, blieb weitgehend unbeachtet. Diese Art des Interesses kam erst in den Neunzigerjahren, als der Wald sein Film­ image zugunsten des mittlerweile etablierten Öko-Bewusstseins gewechselt bekam. Unter den jungen Regisseuren durfte erstmals auch

die Heimat kritisiert werden. Die Qualität der frühen Filme hinsichtlich ihrer naturwissenschaftlichen Ansprüche war unterschiedlich. Einen Fauxpas leistete man sich ausgerechnet in dem Streifen „Waldrausch“ (1962) (Foto 11.13), der das Naturgeschehen des Pollenfluges bei Nadelbäumen ins Unmögliche dramatisierte: durch diese Windbestäubung – zu 99 % ist das die Fortpflanzungsart für alle österreichschen Bäume – kam es zu extremer Müdigkeit der Arbeiter an einem Donaukraftwerksbau, viele schliefen sogar bei der Arbeit ein, deshalb musste man die Arbeiten in die Nacht verlegen; auch löste die Waldblüte ein betont aggressives, ja sogar handgreifliches Verhalten in der Belegschaft aus. Franz Starlinger vom Institut für Waldökologie, Wien: „So wie das in diesem Film dargestellt wurde, entbehrt es jeder naturwissenschaftlichen Grundlage.“ (Da muss man sich dann schon fragen, ob ausgerechnet dieser Titel nicht aufgrund eines anderen vergleichbaren Umstandes gewählt wurde ...)

Das Original: „Der Förster vom Silberwald“ Der erfolgreichste Heimatfilm war „Der Förster vom Silberwald“’ (1954), der in Österreich unter dem Titel „Echo der Berge“ (Foto 11.14) lief. Ihn haben innerhalb von vier Jahren 22 Millionen Menschen in den Kinos gesehen. Dieser Film wurde auf Initiative des steirischen Barons Mayr-Melnhof (Foto 11.15) hergestellt, da er für die internationale

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Jagdausstellung in Düsseldorf einen geeigneten Imagefilm über seine Vorstellung vom Wald (Bewirtschaftung, Brauchtum) haben wollte. Für das Drehbuch wurden der bekannte Schriftsteller Günter Schwab, der Chefdramaturg des Burgtheaters, Friedrich Schreyvogel, und der junge Dokumentarfilmer („Die große Holzschnittpassion“) Alfons Stummer ausgesucht. Obwohl man sich gut verstand, schrieb Stummer, wohl der einzige Filmkundige der illustren Runde, das Drehbuch selbst und führte auch Regie. Der Film musste in einem knappen Jahr fertig gestellt sein, was technisch zur damaligen Zeit bei Dreharbeiten im Gebirge gar nicht Foto 11.15: Der steirische Großindustrielle und Großgrundbesitzer Franz Mayr-Melnhof so einfach war (Foto 11.16). Dafür gab es keine hatte die Idee für den Förster vom Silberwald. nennenswerten Verzögerungen bei den oftmaligen Zonengrenzenüberschreitungen. Damals war die Voraussetzung für den Erfolg eines Filmes eine gute Verleihfirma. (Heute sollen es am besten gleich mehrere Fernsehanstalten sein, die für den Geldgeber den Sendeplatz garantieren.) Interessanterweise war der Name „Silberwald“ für die Deutsche London-Film ausschlaggebend, dass man mit ihr den erhofften Verleihvertrag bekam. 1954 gab es noch keine Sessellifte, nur halbwegs ausgebaute Forststraßen. Die Dreharbeiten in den steirischen und Kärntner Wäldern wurden zu täglichen Expeditionen mit Trägerkolonnen, Jeeps und Pferden. Oft musste man mit der Crew und den Helfern des Barons zwei-, dreimal zum Motiv aufsteigen, in der Hoffnung, dass an diesem Tag die Sonne scheint (Foto 11.17). Alfons Stummer, der später Professor an der Filmakademie wurde, sagte mir in einem Gespräch: „Das wurde deshalb der erfolgreichste Heimatfilm, weil ich dem Zuschauer einen anderen Zugang zum Wald zugemutet habe, als es bisher nur mit einer Liebesgeschichte zwischen Försterliesl und Wilderer üblich war. Es wurde erstmals auf die Probleme des Schlägerns eines für die Dorfgemeinschaft wichtigen Waldstückes hingewiesen, es wurde auch gezeigt, dass der Wald für die Bevölkerung dort etwas Heiliges war. Daraus ergaben sich dann ganz andere, ernsthaftere Szenen innerhalb eines Spielfilmes. Es gab auch die Gegenüberstellung und damit die Auseinandersetzung zwischen der Großstadtmentalität und der Landbevölkerung. Für eine reine Wilderergeschichte hatte ich nie etwas über. Der Wald sollte anders erlebt werden!“ (Foto. 11.18). Zwei Jahre später drehte er „Wo die alten Wälder rauschen“ (1956) (Foto 11.19), konnte aber erfolgsmäßig an „Der Förster vom Silberwald“ nicht mehr anschließen. Alfons Stummer lernte während den Dreharbeiten auch persönlich den Wald kennen. „Damals waren wir alle zum ersten Mal gezwungen, in der Natur zu leben“. In den Jagdhäusern inmitten der steirischen Wälder, die Baron Mayr-Melnhof dem Team zur Verfügung stellte. Alfons Stummer wurde klar, dass der Wald über seine feine Ökologie hinaus 11 Film-Wald

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Foto 11.16 und 11.17: Außenaufnahmen sind meist schwierig, vor allem dann, wenn sie in derart exponierten Lagen stattfinden, wie im Gebirge. Die damalige Technik war immer mit Muskelkraft und einem großen Anteil an Improvisationstalent verbunden

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Foto 11.18: Rudolf Lenz, der zuerst Schiffsingenieur lernte und dann Schauspieler wurde, fand in der Försterrolle vom Silberwald die Prägung seines künstlerischen Schaffens

noch etwas anderes ist, „nämlich ein Repräsentant für das Große in der Natur und ein Resonanzraum für das seelische Empfinden im Menschen.“ 1957 erhielt er für den „Förster vom Silberwald“ als bester ausländischer Film in Deutschland das „Bambi“ verliehen. Seit damals ist Alfons Stummer ein begeisterter Waldläufer geworden. Es war das persönliche Anliegen von Franz Baron Mayr-Melnhof, dass im Vorspann zum Film hinzugefügt werden musste, dass auch der Dank „der österreichischen Landschaft“ gebührt, – womit er die Wälder meinte. Für die späteren Filmstars Rudolf Lenz, Anita Gutwell und Lotte Ledl war „Der Förster vom Silberwald“ die erste Filmrolle und der Beginn einer respektablen Karriere. Während vor allem für den Ton- und den Kameramann der Drehort entscheidend ist, hat er für den Schauspieler kaum, oder nur selten Bedeutung. Lotte Ledl kommentierte ihr Engagement im „Förster vom Silberwald“ trocken: „Dass es ein Heimatfilm war und wo er gedreht wurde, war mir sch…egal. Man hat einen Film gemacht, das war das Großartige. Über anderes hat man nicht nachgedacht. Damals gab es hierzulande ja keine Alternative. Ich habe mich von der Umgebung nie beeinflussen lassen.“ Manchmal warf der Wald auch einen gnädigen Schatten über holprige Anschluss-Szenen. Ledl: „Jeder Drehtag kostet ein kleines Vermögen und es darf keine Ausfälle geben. Wir hatten da zu Beginn der Dreharbeiten, eine Szene am Waldrand in den Heidelbeeren, als es plötzlich zu schneien begann. Man unterbrach und eine andere Szene wurde vorgezogen. Später versuchten wir diese Einstellung zu wiederholen, die Heidelbeeren waren bereits saftig blau, doch es begann auf einmal zu regnen und wir mussten wieder abbrechen. Beim dritten Versuch kamen wir der ersten Szene am nächsten, denn von den Heidelbeeren war nicht mehr viel zu sehen, wir hatten sie alle schon gegessen.“ Anders empfand das heimatfilmerprobte Ehepaar Waltraud Haas und Erwin Strahl Dreharbeiten im und um den Wald. Strahl: „Ich erinnere mich besonders gern an ,Der Jäger vom Fall‘. Die ganze Szenerie war wunderbar. Allein der Blick aus dem Hotelfenster, direkt vor dem Wald, der einen förmlich umarmt hat, war zauberhaft. Ich benutzte jede Gelegenheit, um den Wald für mich zu entdecken. Allein die vielen unbekannten Geräusche machten neugierig. Während den Drehpausen ging ich oft den Text memorierend 11 Film-Wald

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durch den Wald – und wurde dabei immer stiller. Ein richtiger Hochwald ist schon beeindruckend.“ Zum Unterschied von vielen anderen Kollegen steht Waltraud Haas dazu, in zig Heimatfilmen mitgewirkt zu haben. „Ich bin stolz darauf, denn sie haben Millionen Menschen Freude bereitet. Und für alles, was den Menschen Freude bereitet, brauche ich mich nicht zu schämen.“

Der Wald im Film hat auch seinen ökonomischen Stellenwert Der Wald hat keine Lobby, keine Künstleragentur und er gibt auch keine Autogramme. Doch nun hat seine attraktive Destination auch hierzulande einen guten Preis: Um im Wald drehen zu dürfen, verlangen die Österreichischen Bundesforste für die Flächenbenutzung ihres dafür geeigneten 850 000 ha großen Areals ein Entgelt. Das waren, zum Ärger der heimischen Kreativwirtschaft, 2008 rund 2000 Euro pro Drehtag, inklusive ein paar Einfahrtsgenehmigungen. (Möglicherweise wohlfeil aus finanzpolitischer Sicht der Bundesforste, doch woanders gibt es ebenfalls schöne Wälder – und meist sogar zum Nulltarif.) Früher, da ließ man sich von der Natur persönlich beeindrucken, da suchten die Regisseure mit ihren Kameraleuten und vielleicht auch mit ihren Drehbuchautoren gemeinsam die Gegend aus, die am geeignetsten für Aufnahmen schien – und bestanden am gewählten Drehort. Heute sind vor allem pekuniäre „Hochwälder“ für den Drehort ausschlaggebend. Edith Urban von der Agentur für Filmförderung in Salzburg: „Nur wegen dem Wald allein kommt keine Filmproduktion mehr hierher. Es geht immer um die Höhe der Förderung, damit auch das Land Salzburg als Drehort interessant wird. Natürlich bemühen wir uns, dass dann unsere Landschaft prominent ins Bild gesetzt wird.“ Im Leistungsbericht (2002–2007) der „Filmlocation Salzburg“ für die empfohlenen (mitzufinanzierenden) Projekte liest sich die Bewertung anhand einiger Beispiele folgendermaßen: .) „Dornröschen“, Märchenverfilmung, bedeutet eine touristische und wirtschaftliche Stärkung des Lungaus; .) „Die Alpenklinik“, hoher touristischer Wert und wirtschaftlicher Nutzen für die Region Lofer; .) „Rauhnacht“, großer wirtschaftlicher Nutzen und touristischer Effekt für das Rauristal; .) „Rumpelstilzchen“, hoher touristischer Wert und wirtschaftlicher Nutzen für die Region Lungau; .) „Bauernprinzessin“, Heimatfilm, für die Regionen Pinzgau und Pongau von großem wirtschaftlichem Nutzen; .) „Paradies in den Bergen“, dieses Projekt ist für die Region Lofer und Umgebung aus wirtschaftlichen und touristischen Gründen wichtig. Es darf angenommen werden, dass bei allen diesen Filmen der Wald als ein fixer Bestand-

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teil der österreichischen (Film-)Topografie, immer Saison hatte. Filme können ja hervorragende Sonderbotschafter für die Tourismusbranche sein. Eine bedeutende Hilfestellung nach dem Krieg beim Bemühen, die heimischen Gästebetten wieder zu füllen, erhielt die Wirtschaft durch die Kulturindustrie. Heimatfilme mit ihrer Bildpropagandasprache (Foto 11.21) und auch Schlager weckten Sehnsüchte und übernahmen die mediale Vermarktung. Diese Filme holten potentielle Fremdenverkehrsgegenden aus ihrem bisherigen Dornröschenschlaf und machten aus ihnen touristische Attraktionen. Es gibt keine Aufschlüsselungen darüber, aber wenn es im Sommer 1948 in Österreich acht Millionen Nächtigungen gab und 1960, also knapp zehn Jahre später, fast 42 Millionen, dann haben die österreichischen Heimatfilme – die es eigentlich nur in diesem Jahrzehnt gab – sicherlich einen nicht unwesentlichen Anteil daran gehabt. Denn hinsichtlich Quantität und Ausdrucksstärke, wie österreichische Wälder präsentiert wurden, da konnte kein anderes Land mithalten. Die deutschen Verleihfirmen besaßen eine wirtschaftliche Vormachtsstellung und übernahmen gern den Weltvertrieb repräsentativer österreichischer Filme – die dann im Ausland als deutsche Produkte deklariert waren.

Die Musik der Wälder „Weil ich ein Mensch der Musik bin, kann ich Bäume auf den First eines Berghanges, sich abhebend von der Helle des Himmels, als die Noten einer Landschaft empfinden, ihre vom Wind zerzausten Kronen als Fähnchen von Achtel- und Sechzehntelnoten. Wenn die Bäume in mehreren Reihen stehen, kann es aussehen, als stünde da oben eine von kräftiger Hand geschriebene Partitur. Es gibt Wälder, die ich wie Symphonien hören kann.“ Diese schöne Impression schrieb der Musiker und Philosoph Joachim-Ernst Berendt in seinem Buch „Es gibt keinen Weg. Nur Gehen“. Denken Filmkomponisten ähnlich? Der Komponist Hans Werner Henze lässt im 4. Satz seiner 9. Symphonie eine Platane sprechen. Den singenden Baum repräsentieren die Frauenstimmen. Die Schergen, die zum Abholzen kommen, werden von den Männerstimmen dargestellt. Leicht und spielerisch besingt die Platane ihre Herrlichkeit. Dann tönt es dunkel „Wir haben die Äxte, die Sägen geholt …“ Schließlich hält der Widerstand der Platane nur noch zwei Takte an: „Verbannt haben wir die Wüste, vertrieben das Meer und erschlagen den Wind …“ Die Platane ächzt, wankt und fällt. „Sie ist geopfert!“ singt der Chor. „Wir haben ihren Schatten gekreuzigt. Wir haben den Himmel zersägt“. Waldaufnahmen, mit der Kamera gemalte Idyllen, sind ohne musikalischen Hintergrund nicht möglich. Natürlich, in Augenblicken größter Spannung wird man es bei Geräuschen belassen. Aber gerade dann, wenn das Orchester einsetzt, beginnt meist das Wunschkonzert der Gefühle. Wenn der Dialog in den Hintergrund tritt, ergreift die Macht der Musik den Zuschauer. Nicht von ungefähr kann man Filmkomponisten 11 Film-Wald

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auch als Seelenjongleure bezeichnen. Die Filmmusik sollte nie eine billige Tontapete sein. Cornelia Szabó-Knotik ist Musikwissenschafterin, Professorin an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien, und zeichnete sich u.a. mit Analysen zur Filmmusik aus. „Den Laubwald würde ich mit fröhlichen Klängen instrumentalisieren, zum Beispiel mit der Flöte, oder mit einem holzbläser-streicherlastigen Orchester, das in den Obertönen reichere Klänge besitzt, während ich die Aufnahmen des Hochwaldes musikalisch strenger, herber, düster setze. Also mit Blechinstrumenten untermalt, vielleicht auch mit Oboen dabei. Es darf pompöser klingen, es kann auch spröder sein, sollte aber kaum etwas Harmonisches oder Wohlklingendes besitzen.“ Maurice Jarre – für seine Musik in „Lawrence von Arabien“, „Doktor Schiwago“ und „Reise nach Indien“ gewann er je einen Oscar – ist der Meinung, dass die beste Filmmusik immer jene ist, die etwas über das aussagt, was man nicht sieht. Die Metapher für den Wald aus den Filmen der End-Vierziger- und Fünfzigerjahre stammt fast durchwegs aus den Opernkompositionen der letzten 150 Jahre. Einer der bekanntesten Film- und Opernkomponisten unserer Zeit ist Enjott Schneider (u.a. „Schlafes Bruder“, „Herbstmilch“, „Schwabenkinder“, „Stauffenberg“) aus München (Foto 11.22). Er sieht das Schaffen seiner Kollegen von damals nüchtern: „Die Musik aus den Heimatfilmen war noch sehr verbunden mit der Idiomatik des 19. Jahrhundert. Man hat fast alles eins zu eins aus den vorhandenen symphonischen Dichtungen und Opern übernommen. Vor allem das leise, geheimnisvolle Raunen der Hörner aus dem ‚Freischütz‘.“ Er versucht einen Produzenten immer davon zu überzeugen, dass auch heute noch ein großes Orchester das Beste ist, was ein Film bekommen kann. „Es zahlt sich aus, auch wenn es um einiges mehr kostet.“ In der Stummfilmzeit und auch weit in die Ära eines Luis Trenker hinein dominierte Giuseppe Becce das Musikhandwerk der Zelluloidbranche. Er war ursprünglich Geodät, dann Schauspieler, aber im überwiegenden Teil seines fast hundertjährigen Lebens Musiker und Dirigent. Vor allem war er ein begnadeter Filmkomponist für Abenteuer-, Heimat- und Bergfilme. Doch Becce schuf auch etwas anderes, was ihn viel berühmter machte: Er gab ein Handbuch für die Kinemathek heraus, ein musikalisches Stichwortverzeichnis, das vor allem jenen Pianisten zugute kam, die live am Klavier zum Stummfilm die passende Musik zu spielen hatten. Wenn man gerade etwas zu Szenen mit „Wind“, „Feuer“, „Liebe“’ oder „Kampf“ brauchte, blätterte man laut entsprechendem Stichwort rasch die jeweilige Seite auf und brauchte nur noch die empfohlene Passage spielen. Becce schrieb das klassische Repertoire von Schubert bis Wagner, von Bach bis Mahler heraus, also die totale Koinzidenz des klassischen Repertoires, bearbeitete es für den Film und versah die Kompositionen mit dem Stichwortverzeichnis. Deshalb wurde er von allen Filmemachern geschätzt, denn er hatte für jede Naturszene den richtigen Ton. Zur Ehrenrettung für den Mann aus Lonigo (Vincenza) muss man sagen, dass die Amerikaner ebenfalls solche Faulenzer herausgebracht haben. Enjott Schneider: „Es gibt den inneren und den äußeren Menschen. Den einen sieht die Kamera, den anderen zeigt die Musik. Sie muss in ihn hineinschauen können. Der

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Wald mag neutral sein, aber der Schauspieler in ihm sagt etwas aus. Der Kameramann braucht nur aufzunehmen, während der Komponist verrät, was der Darsteller tut, oder zu tun gedenkt.“ Während früher der Komponist allein die Musik zum Film schrieb, kommt heute noch der Sounddesigner hinzu, der zusätzlich auf so vielen Geräuschen besteht, dass die Musik dabei oft keinen Platz im Gesamten hat. „Früher gab es Orchestermusik und weniger an Geräusch. Heute haben wir bei Waldaufnahmen ein Gezwitscher ohne Ende, den Ton von rauschenden Bächen gleich über eine ganze Szene, auch das Gewitter wird voll ausgelebt, Blätter können sogar vom Baume bersten … aber wenn es zu pathetisch wird, dann springen die jungen Regisseure schon hoch!“ Der Geschmack hat sich geändert, wahrscheinlich auch die Fähigkeit, Musik entsprechend zu empfinden. Der weise Satz, dass weniger meist mehr ist, muss wahrscheinlich von Generation zu Generation neu erfunden werden. Dass Enjott Schneider von verantwortungsvollen Regisseuren auch zur Motivsuche und zu den Dreharbeiten eingeladen wird, ist in der Branche nicht mehr selbstverständlich. Aber es gibt heutzutage ja auch eine recht differenzierte Interpretation des Begriffes „Qualität“. Zum Unterschied von Deutschland kann in Österreich kein Komponist von der Filmmusik allein leben. Alexander Kubelka, Vizepräsident des Österreichischen Komponistenbundes: „Der Filmkomponist muss ähnlich einem Seelenarzt agieren, weil er den Film besser als jeder andere verstehen muss, den er zu vertonen hat. Man sollte Tonmaterial hereinnehmen, das erkannt wird, das einen vertrauten Raum für das Publikum schafft. Experimentelle, sperrige Musik, das hat immer ein großes Fragezeichen. Es gibt sogar Regisseure, die sich die Musik selbst komponieren.“ Den Wald sieht er als etwas Märchenhaftes. „Er ist immer ein Ort des Geschehens. Ich würde die Musik für ihn mit analogen Instrumenten aus Holz besetzen.“ Wie sieht es mit der ideologischen Bewandtnis der Filmmusik aus? Cornelia SzabóKnotik: „Was Musik mit einer solchen Bedeutung versieht, ist weniger die Technik, in der sie geschrieben wurde, als der Zusammenhang, in dem sie produziert, aufgenommen und gehört wird. Jede Musik besitzt einen ganzen Berg an ideologischer Geschichte und Bedeutung. Natürlich auch die in den Heimatfilmen mit ihren zahlreichen Berg- und Waldszenen. Allerdings dürfte diese Musik standardisiert gewesen sein, deshalb blieb sie nicht im Gedächtnis.“ Der Klang, die zentrale Kategorie, die Klangebene, muss mit der Bildebene harmonisieren. Filmmusik als obskures Fugengewicht der Akkorde? Filmmusik fließt direkt auf der emotionalen Schiene. Die Bilder, die mit den Augen aufgenommen werden, bleiben vor dem Körper, aber was man mit den Ohren empfängt, geht in den Körper hinein. Dabei wird Musik verinnerlicht. Sie wirkt auch direkt auf unser emotionales Gedächtnis und aktiviert die Erinnerung. Musik verbindet, schafft Identität. So mancher Soundtrack vermittelt das Gefühl, an etwas Großem teilzuhaben. Ein guter Komponist kann mit wenigen Strichen Atmosphäre erzeugen, jenen poetisch hoch glitzernden Klangstaub voll Musik, der sich im Gezweig verliert.

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Schluss-Szene Horst Stern, wohl einer der bedeutendsten Wissenschaftsjournalisten des 20. Jahrhunderts, gelang die großartige Erkenntnis, dass der Wald mehr als die Summe der Bäume ist. Nicht der rauhe Stein, nicht die einförmige Bodenerhebung gibt der Landschaft jenen Charakter, der Leben in sie bringt. Das Leben bringt ihr die Farbe, die Schattierung, die durch das Werdende, das aus ihr wahrgenommen wird, sich uns darstellt. Es ist der Baum, der Leben in die Landschaft bringt. Er allein bedingt das Wesentliche einer Gegend. Der Wald lebt und zieht uns zu sich. Er hat seit Beginn des kommerziellen Filmes vor etwa hundert Jahren die Geschichte dieses Mediums mitgeschrieben. Im Wald spielen sich entscheidende Schicksale ab, können sich Charaktere schärfen u.v.m. Wenn leblose Felsen in alten Kulturen mit geistiger Kraft erfüllt sein konnten, so galt dies erst recht für Bäume. Die keltischen Druiden führten ihre religiösen Zeremonien in Hainen durch; die Germanen verehrten ihre Götter auf Waldlichtungen. Der Impuls, in jedem Aspekt der Landschaft das Wirken übernatürlicher Mächte zu vermuten, ist ein uraltes menschliches Erlebnis. Tief in diesem Geflecht von Emotionen liegt die Wurzel des Mythen schaffenden Bewusstseins, das zu Filmthemen verführt. Nicht alles stammt von einem Baum der Erkenntnis, was in einem Drehbuch steht. Doch weder die alte Sascha, noch die Ufa, weder Holly- noch Bollywood konnten und können ohne die Einbeziehung des Waldes in ihren Filmen für ihr Millionenpublikum leben. Eines Castings bedarf es nicht, denn er ist ein altbekannter Mitwirkender. Der Wald liefert immer gute und spannende Momente – egal, ob in Farbe der in Schwarzweiß.

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Abb. 10.2: „Wald“-Produkte für Outfit und Interieur. Die Presse, 28.8.2009

Foto 11.1: Hanno Loewy neben Bergfilm-Exponaten in der Ausstellung „Hast du meine Alpen gesehen“ (2010) im Jüdischen Museum in Wien

Foto 11.5: J. Chr. Heer schrieb dieses Drama, für das Ende der Fünfzigerjahre noch einmal alle Darsteller von Rang und Namen der Heimatfilmszene vor der Kamera zusammenkamen.

Foto 11.7: Ludwig Ganghofer stand zwar Pate für den literarischen Background dieses Filmes aus dem Jahr 1955, aber erinnerungswürdig sind nur die eindrucksvollen Waldaufnahmen

Foto 11.10: „Waldwinter“ setzte den Vertriebenen ein Denkmal, die in der neuen Heimat reüssierten, deren Herz aber jenseits der nach 1945 gefestigten Grenzen verblieb

Foto 11.14: Bis heute unerreicht: „Der Förster vom Silberwald“/“Echo der Berge“. Hier wurde zum richtigen Zeitpunkt alles richtig gemacht. Man schrieb sich im Drehbuch erstmals mit einer gewissen Ernsthaftigkeit an das Thema Wald heran

Foto 11.19: Für manchen Filmtitel war der Wald ein Publikumsmagnet, wenn auch die Handlung anderes bot

Foto 11.20: Verwaiste Rehkinder, von Menschenhand aufgezogen, fanden oft Verwendung als billige Wildtierkulisse in den anspruchsloseren Filmen

Foto 11.21: Die Heimatfilme erzählten bewegende Geschichten, brachten den Städtern großartige Naturaufnahmen und Aspekte des Landlebens näher, oftmals auch eine Urlaubsdestinationsentscheidung, – und gar nicht einmal so selten waren sie auch richtige große Filme, die unvergesslich bleiben

Foto 11.22: Einer der gefragtesten Filmmusikkomponisten unserer Zeit ist der Hochschulprofessor Enjott Schneider aus München.

Abb. A.1: Forst-Kultur. Quelle: ABMLFUW/Abt. IV/4

Foto A.1: „Veranstaltungsort und praxisnahes Lehrbeispiel für den Zertifikatslehrgang Forst + Kultur: Die Schlösser Ort bei Gmunden/OÖ. Salzkammergut – hier trifft spannende Forst- Wirtschafts- Sozialgeschichte auf eine vielfältige und lebendige Tourismustradition mit über 200 Jahre alten Wurzeln. Quelle: BFW

Abb. A.2: Zertifikats-Lehrgang Forst + Kultur. Quelle: E. Johann/BMLFUW – bearbeitet

Foto A.2: Die Teilnehmer vor einer rezenten Grabung des Bundesdenkmalamtes im Bereich der sogenannten Koppentraun (Grenzgebiet OÖ/STMK.) – der zuständige Grabungsleiter erörtert direkt anhand der römerzeitlichen Originalartefakte, gemeinsam mit dem ortskundigen Förster der Bundesforste, die Erfordernisse für eine fruchtbringende Zusammenarbeit zwischen Forstbetrieb und Archäologie am walddominierten Grabungsort. Quelle: J. Garcia Latorre

Foto A.3: Märchenerzähler H. Wittmann, Dudelsackpfeifer F. Bernecker, Ennstaler Regionalforscher S. Hasitschka am „Taferlklaussee“ bei Gmunden/Modul 2 des 1. Forst-Kulturlehrganges 2007. Quelle: H. Kiessling

Anhang „Forst + Kultur“. Kulturelle Potentiale im Umfeld der Forstwirtschaft: ERKENNEN – DARSTELLEN – NUTZEN Alfred Grieshofer2

Einleitung

In Österreich wird unter Federführung des Lebensministeriums seit einigen Jahren den Zusammenhängen zwischen der Waldbewirtschaftung und kulturellen Aspekten, die damit verbunden sind, erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet. Gemeinsam mit namhaften Partnerinstitutionen (u.a. UNESCO, Österreichischer Forstverein, Forstliche Ausbildungsstätte Ort bei Gmunden, einschlägige Bildungs- und Museumsnetzwerke) wurden dazu eine ganze Reihe von Aktivitäten gesetzt, um die damit verbundenen Aufgabenstellungen, Potentiale und Chancen näher auszuloten und so praxisnah wie möglich zu entwickeln. Bei diesem Streben nach Praxisnähe werden jedoch auch die internationale Entwicklung und die dazu laufenden einschlägigen Arbeitsprozesse zu diesem relativ neuen Thema nicht aus den Augen gelassen; auch die einschlägige Forschung wird berücksichtigt; und auf entsprechendes fachliches Niveau in der konkreten Umsetzung vor Ort wird besonderer Wert gelegt. Österreich darf in diesem Zusammenhang mit Fug und Recht als Vorreiter zum Themenfeld Forst + Kultur3 bezeichnet werden. Ein wichtiges Ziel ist es, einerseits die forstlichen Akteure zum „Heben der kulturellen Schätze“ des eigenen Waldes bzw. des Gesamtbetriebes zu motivieren, dies andererseits auf bestehende Regionalziele, auf Tourismus- oder Bildungsstrategien und nicht zuletzt auf besonders geeignete Förderschienen abzustimmen. Interessierte außerforstliche Partner und Akteure in den Regionen (Stichwort LEADER bzw. „Kultur-Tourismus“!) sollen, wo dies für eine Projektumsetzung zielführend ist, aktiv eingebunden und für eine gemeinsame nachhaltige Umsetzung gewonnen werden. Die Entwicklung des Themenfeldes „Forst + Kultur“ bietet damit vielfältige Ansätze für eine gezielte Verankerung des Forstwesens im Tourismus und in der Regionalentwicklung. Dieses Kapitel soll einen knappen Einblick in das noch relativ neue und sich dynamisch entwickelnde Themenfeld „Forst + Kultur“ bieten. Er skizziert dazu auch die Hintergründe, sowie ausgewählte Instrumente und Arbeitsprozesse, denen hier eine entscheidende 2 3

Mag. Alfred Grieshofer: Lebensministerium, Abteilung IV/4, Stubenring 1, 1010 Wien In internationalen Arbeitsprozessen und Dokumenten wird meist von „cultural and social aspects of sustainable forest management“ gesprochen. Anhang

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Rolle zukommt. Als best practice Beispiel wird auf den laufenden Zertifikatslehrgang Forst + Kultur als zentrales Bildungsangebot zum Thema näher eingegangen und – besonders für jene Leser, die sich damit näher auseinander setzen wollen – auf Informationsmöglichkeiten und Aktivitäten verwiesen. Was ist mit „Forst + Kultur“ 4 genau gemeint?

„Forst + Kultur“ umfasst in diesem Zusammenhang die historisch-kulturellen Grundlagen, Leistungen, Entwicklungsmöglichkeiten und Partnerschaften im Rahmen der (österreichischen) Forstwirtschaft. Ausgehend von der spannenden und vielfältigen Geschichte des Forstwesens und dessen breit gefächertem kulturellen Umfeld, werden dabei (möglichst unter Mitarbeit ausgebildeter Forstexperten5 und unter zeitgerechter Einbindung der jeweiligen Grundeigentümer!) fachliche Zusammenhänge/Objekte/Themen/Potentiale materieller und immaterieller Natur • zunächst erforscht, erkannt und bewusst gemacht und/oder • in fachlich fundierter Form und abgestimmt auf die jeweiligen Zielgruppen bei Veranstaltungen oder in Form von Projekten, durch Führungen, Präsentationen etc. vermittelt/dargestellt und/oder • mit fachlich relevanten Experten/Partnern weiterentwickelt und genutzt. Die Entwicklung des Themenfeldes „Forst + Kultur“ erfolgt dabei in der Regel projektund themenorientiert. Ein „forst-kulturelles Projekt“ in diesem Sinne kann beispielsweise sein: • die Erhebung von Daten/Objekten/Standorten in einer Region oder einem (Forst-) Betrieb oder zu einem bestimmten Thema, • die Gestaltung einer Ausstellung oder einer Fachveranstaltung (Tagung, Workshop etc.) • die Revitalisierung und Nutzung von Objekten/Standorten/Landschaftsteilen, • der Aufbau von Führungen, Exkursionen, kulturpädagogischen Aktionen für Schulen und/oder Touristen etc.

4

5

Die gegenständliche Definition des Themenfeldes ist angelehnt an die Angaben des Autors in: „Handbuch Forst + Kultur“ (u.a. Arbeitsgrundlage für den Zertifikatslehrgang Forst + Kultur; Kap. V/II/1). Sie erhebt noch keinen Anspruch auf Vollständigkeit; das Thema ist „in progress“ und sinnvolle, neue Impulse werden aufgegriffen und in die bestehenden Strategien laufend integriert. Im Sinne des Österr. Forstgesetzes i.d.g.F. bzw. der einschlägigen Förderrichtlinien (inbes. gem VOLE 07/13).

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Forst + Kultur: Kreatives „Networking“ mit hohem fachlichem Anspruch!

Kulturakteure mit jenen der Waldnutzung in engeren Kontakt zu bringen, bedeutet vor allem aktives Aufeinander zugehen und strategisches Netzwerken zwischen Partnerinstitutionen, die im Normalfall wenig und wenn, dann höchstens im aktuellen Anlassfall – z.B. im Rahmen eines Bauvorhabens in einem denkmalschutzwürdigen Betriebs-Objekt, bei der Planung und beim Bau eines Weges in archäologisch relevanten Waldteilen oder ähnlichem – zusammen arbeiten und sich daher auch wenig der Arbeitsweise und Besonderheiten der jeweils anderen Branche bewusst sind. Was weiß der engagierte Archäologe, der „am grünen Tisch“ eine digitale Kartierung auf fünf Hektar bestem Wirtschaftswald vornimmt und dabei vor allem „seine“ prähistorische Schanze vor Augen hat, von den Zielen, bestehenden Planungen und wirtschaftlichen Bedingungen im betroffenen Betrieb? Was weiß der Förster von den – vielleicht bereits weit fortgeschrittenen – Vorhaben des regionalen Tourismusverbandes, dessen Managerin im neuen, besonders verlockenden Folder in beredten Worten die „Wunder der Natur- und Kulturlandschaft“ und des „unberührten“ (?) herrlichen Gebirgswaldes für deutsche oder holländische Gäste anpreist, von der anonymen Gästewelle, die hier auf ihn zukommt? Die Abbildung A.1 skizziert das Themenfeld „Forst + Kultur“ und die besonders zu berücksichtigenden Zusammenhänge und Akteure in grafischer Form. Es gilt also auch voneinander zu lernen, fachübergreifend zu denken und zu handeln. Die Forcierung von „Forst + Kultur“ setzt dabei ganz gezielte Impulse für eine aktive und systematische (nicht nur punktuelle) Zusammenarbeit des Forstes mit außerforstlichen (Kultur-)Akteuren, verbindet dabei je nach Aufgabenstellung und Projektidee u.a. Waldeigentümer und Förster mit Künstlern, Garten- oder Baudenkmalpflegern, MarketingExperten, Touristikern, Archäologen, Museumsbetreibern, Regional-Managern etc. und ist damit – bei näherem Hinsehen – weniger harmlos, als vermutet: Werden doch Branchen miteinander verknüpft, die enger zusammengehören, als sie sich selbst in der Regel bewusst sind und die davon durchaus profitieren können. In dem Zusammenhang bietet das Vorantreiben des Themas im Sinne der geforderten Weiterentwicklung des ländlichen (auch stadtnahen!) Raumes einiges für die Waldbewirtschafter und interessierte Partner, das hier ganz besonders betont werden soll: • Chancen für die betriebliche, regionale und berufliche Entwicklung, • Impulse zur gewinnbringenden, nachhaltigen Zusammenarbeit • und nicht zuletzt Stärkung wirtschaftlicher Potentiale im Sinne einer betrieblichen und regionalen Diversifizierung (Schaffung von Marktnischen).

Hintergründe – Einschlägige Arbeitsprozesse – Aktivitäten

Die Besinnung auf die (eigenen) kulturellen Wurzeln, das Betonen des (Kultur-)Erbes, des „Authentischen“ und „Überlieferten“ ist ein europaweit bzw. global festzustellender Trend, der auch als Gegenreaktion zu einer tatsächlichen oder vermeintlichen kulturellen EntwurAnhang

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zelung oder „Nivellierung“ verstanden werden kann. Die „Sehnsucht nach den eigenen Wurzeln“ stellt einen Antrieb zur näheren Auseinandersetzung und Identifikation in diese Richtung dar. In der kultur-wissenschaftlichen Forschung wird in dem Zusammenhang geradezu ein „Erbeboom“ konstatiert und dieser auch als Krisen-Symptom der Modernisierung begriffen. Die damit verbundene „Wertediskussion“, deren Hintergründe und mögliche Auswirkungen in der Zukunft, wird von der Forschung sehr engagiert geführt.6 Pragmatisch ausgedrückt ist es – neben persönlichem oder beruflichem Interesse Einzelner – wohl die (verständliche) Sehnsucht nach dem Überschau- und Begreifbaren, nach Einfluss durch eigenes aktiv Werden, welche eine steigende Zahl von Menschen zur näheren Auseinandersetzung mit der historisch-kulturellen Entwicklung und den Besonderheiten „ihrer“ Region antreibt. Auch für den forstlichen bzw. waldnahen Bereich7 gibt es eine beachtliche Vielzahl von Akteuren und Einrichtungen, welche die (in erster Linie lokale) Erforschung, (v.a. museale) Vermittlung von Themen um Wald und Holz auf ihre Fahnen geschrieben haben.8 Begreift man diesen Trend als Entwicklungspotential im hier beschriebenen Sinn, erscheint es logisch, dieses steigende Interesse zu nutzen, die an derartigen Themen im Umfeld des Waldes ernsthaft Interessierten „an einen Tisch“ zu bringen und für einen fachlichen Austausch, der die übergeordneten forst- und agrar- oder auch umweltpolitischen Ziele berücksichtigt, zu sorgen; ein paar konkrete Aktivitäten der letzten Jahre zu Forst + Kultur sollen hier skizziert werden: Im Oktober 2003 wurde an der Forstlichen Ausbildungsstätte Ort/Gmunden das „Netzwerk Forst – Kultur Österreich“ (eine lockere Arbeitsplattform zur fachlichen Unterstützung, Informations- und Datenaustausch) gegründet. Jährlich werden durch dieses Experten-Netzwerk ein bis zwei Veranstaltungen (Tagungen, Workshops etc.) zu ausgewählten9 forst-kulturellen Themenschwerpunkten initiiert und/oder mitgestaltet. Hier ein paar Beispiele: • Herbst/Winter 2004/05: Ausstellungsgestaltung mit ARGE Mariazellerland („Wald-Wunderwelt-Holzkunst“) • 2005: Symposium für Forstbetriebe und Waldeigentümer: Finanz- und Rechtsfragen bei der praktischen Umsetzung von Forstkulturprojekten in Betrieben (Lebensministerium, Wien) • 2005: Rohrer Köhlereitage – Internat. Symposium (Rohr am Geb./NÖ.) • 2006: Landwirtschaftskammer Baden: Tagung „Vom Nutzen der Waldbäume – Nachwachsende Rohstoffe abseits des Gewohnten“ (Schwerpunkte u.a. Pecherei/historische Nutzungsformen/Berufe etc.) 6 7 8

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Siehe etwa den Beitrag v. D. Kramer/Dörscheid zur Österr. Volkskundetagg. 2007, Innsbruck: Immaterielles Kulturerbe/Kulturelle Vielfalt und die UNESCO; Abstracts, S. 17 Im Sinne der obigen (fachlich recht weitgefassten) Definition von Forst + Kultur Der Österr. Forstverein/Fachausschuss Forstgeschichte geht derzeit von rund 500 Einrichtungen und Akteuren zu Wald + Holz in Österreich aus. Eine systematische Erhebung dazu ist jedoch nicht bekannt. Zu den Aktivitäten des Immateriellen Kulturerbe im Forst siehe unten „UNESCO Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes“.

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• Herbst 2006: Informations- und Festveranstaltung: Forst & Kultur – Neue Wege im Waldmanagement (Strategisches, best practice; BMLFUW/Wien)

„Forst + Kultur“ ist Teil einer Gesamtstrategie und Planungsgegenstand.

Verankerung im Österreichischen Waldprogramm Österreich spielt auch auf europäischer bzw. internationaler Ebene eine vielbeachtete Vorreiterrolle bei der Entwicklung und betriebsorientierten Nutzung kultureller Werte und Potentiale im Wald bzw. im Umfeld der forstlichen Bewirtschafter. Einer vorausschauenden und aktiven Mitgestaltung der einschlägigen, internationalen Arbeitsprozesse kommt dabei eine wichtige Aufgabe zu. Bei der Erstellung themenrelevanter Dokumente, Handlungsempfehlungen oder Förderinstrumente wird mit Nachdruck auf die ganz spezifische Situation Österreichs (bzw. des mitteleuropäischen Raumes) zum Themenfeld hingewiesen. Österreichische Forstexperten haben sich daher bei den relevanten internationalen bzw. paneuropäischen Arbeitsprozessen aktiv eingebracht und dabei den Standpunkt Österreichs sehr klar verdeutlicht. Was sind die Besonderheiten Österreichs zu Forst + Kultur im internationalen Vergleich? Neben einer ungeheuren Vielfalt und Dichte an kulturellen Potentialen materieller und immaterieller Natur, an Objekten und historisch-kulturell relevanten Orten auf relativ engem Raum, ist es die Dominanz der (sehr kostenintensiven) aber auf fachlich hohem Niveau angesiedelten Bergwaldbewirtschaftung und das klare Vorherrschen von Familienbetrieben aller Größenordnungen, in denen in der Regel ein sehr ausgeprägtes kulturelles und historisches Bewusstsein vorhanden ist. Gerade der Stellenwert dieses Bewusstseins der Waldeigentümerinnen und -eigentümer und der örtlichen Bevölkerung kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden: Ist es doch eine der wichtigsten Voraussetzungen um kulturelles Wissen, Potentiale, Nutzungsformen und Objekte sachgerecht zu erhalten und in lebendiger Form – im Idealfall in den laufenden Betrieb und die Ziele der Gemeinde oder Region voll integriert – nutzbar zu machen. Nicht wenige forstliche (und agrarische) Betriebsstandorte sind das historisch-kulturelle Zentrum der Gemeinde oder der Region – meist seit vielen Jahrhunderten!10 Drei zum Themenfeld relevante internationale Arbeitsprozesse (mit entsprechenden Dokumenten) sollen hier hervorgehoben werden:

10 Erinnert sei hier an Österreichs Stifte und ihre landschaftsprägende Funktion für große Gebiete seit den Rodungszeiten des 11.–13. Jahrhunderts, aber auch an Hammerwerke, Burgen, Höfe etc. deren wirtschaftliche (!) Aktivitäten über die Jahrhunderte die so oft gerühmten Kultur-Landschaften von heute prägen und das jeweils besondere der Gegend überzeugend (und lebendig) darstellen. Anhang

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1. Die „Wiener Resolution 3“ der Ministerkonferenz zum Schutz der Wälder in Europa (MCPFE)11 2. Die Alpenkonvention (inbes. die Deklaration Bevölkerung + Kultur)12 3. Die UNESCO – Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes13 ad 1: Mit Unterzeichnung der sogen. „Wiener Resolution“ (VR 3) der „Ministerkonferenz zum Schutz der Wälder in Europa“ haben sich die zuständigen europäischen Forstminister, zur Durchführung von Aktivitäten, welche für eine systematische Weiterentwicklung kultureller und sozialer Aspekte nachhaltiger Waldbewirtschaftung besonders geeignet erscheinen, in ihrem Zuständigkeitsbereich bekannt: Die Resolution nennt als zentrale Aufgaben u.a. das Einbinden forst-kultureller Aktivitäten in Bildungs- und Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum, eine engere Zusammenarbeit der forstlichen Akteure mit den für den Kulturbereich relevanten Fachbereichen und Organisationen, sowie eine multidisziplinäre Erforschung der Rolle der gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte – unter Berücksichtigung materieller und immaterieller Aspekte einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung. ad 2: Die Deklaration „Bevölkerung und Kultur“ der Alpenkonvention wurde 2006 unter dem Vorsitz Österreichs erstellt und befindet sich derzeit in einer ersten Umsetzungsphase im Rahmen von Workshops und der Initiierung vorbildhafter Projekte innerhalb des Alpenbogens (1. Umsetzungs-Workshop März 2008/Villach unter Federführung Italiens und Österreichs). ad 3: Gemeinsam mit der „Nationalagentur für das Immaterielle Kulturerbe“ wurden im Sinn der UNESCO – Konvention zum Erhalt des immateriellen Kulturerbes bereits mehrere praxisnahe Veranstaltungen durchgeführt, die den Wert (besonders) gefährdeten Wissens im Umfeld der Land- und Forstwirtschaft und Möglichkeiten einer innovativen und zukunftorientierten Überlieferung an ausgewählten Orten verdeutlichen konnten: • Workshop „Wildwuchs“ (Juni 2007 in Altaussee: näheres unter www.ikes.at ) •• WS „Immaterielles Kulturerbe im Umfeld der Österreichischen Forstwirtschaft“ am 30./31. 1. 2008 im Prämonstratenser Chorherren Stift Schlägl (OÖ) •• Jänner 2009: 2. Workshop (St. Georgen am Längsee/Kärnten) Immaterielles Kulturerbe und Forst – v.a. Beispiele aus dem südösterreichischen Raum. •• Aktuell in Planung: Workshop Immaterielles Kulturerbe und Forst: „Gelebtes Wissen zum Bergwald – kulturelles, gesellschaftliches Bewusstsein zur Abwehr von Naturgefahren“ (Tirol, Raum Innsbruck). Ein zentrales Ziel der Konventionsumsetzung in Österreich ist es, das Bewusstsein für den Wert, die allfällige Gefährdung, aber auch die (touristische oder pädagogische) Nutzbarkeit von kulturell wertvollem Waldwissen, von alten Arbeitsweisen um Wald und Holz zu schaffen. In den nächsten Jahren sollen konkrete Beispiele aus dem Umfeld der 11 www.mcpfe.org 12 www.alpenkonvention.org 13 www.unesco.org siehe do. Newsletter, Aktuelles etc.

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Land- und Forstwirtschaft auf die durch Österreich aktuell zu erstellenden „Nationalen Verzeichnisse“14 als vorbildhaft hervorgehoben werden. Das Themenfeld „Forst und Kultur“ wurde auch im Österreichischen Walddialog (der bedeutendsten aktuellen Experten-Plattform zu Fragen des österreichischen Waldes) thematisiert und in Folge im Österreichischen Waldprogramm, worin konkrete Umsetzungsschwerpunkte zum jeweiligen Thema beschrieben sind, fix verankert. Sämtliche Aktivitäten werden auf die bestehenden Fördermöglichkeiten im ländlichen Raum (insbesondere die Verordnung ländliche Entwicklung“ VOLE 07/13 – Stichwort: LEADER) genau abgestimmt, um die Rolle der forstlichen Bewirtschafter in der Regionalentwicklung schrittweise auf ein breiteres strategisches und finanzielles Fundament zu stellen und ganz gezielt finanzielle Impulse vor allem während der Startphase einschlägiger Projekte in den Regionen zu setzen.15 Um vorausschauende Strategien zu kulturellen Potentialen für Forstbetriebe und Regionen sichtbar zu machen, sind Instrumente der forstlichen Raumplanung besonders gut geeignet. Dazu wurden in mehreren vom Lebensministerium initiierten WaldfachplanPilotprojekten16 direkt durch das zuständige forstliche Management forst-kulturelle Potentiale erhoben und mit daraus abgeleiteten konkreten Umsetzungsvorschlägen zu an ausgewählten forstlichen Betriebsstandorten planerisch dargestellt. Die erhobenen Standorte und Potentiale im Betrieb werden dabei textlich und kartografisch erfasst und die aufgrund der jeweiligen Betriebssituation (Stichwort: in Frage kommende bauliche Objekte, Ruhezonen, notwendige Investitionen etc.) vorgeschlagenen Maßnahmen in bereits bestehende Regional- bzw. Tourismusplanungen integriert.

„Zertifikatslehrgang Forst + Kultur“

Das zentrale Bildungsinstrument zum Thema in Österreich! Ein innovatives Umsetzungsbeispiel, das ganz gezielt auf die Aus- und Weiterbildung von Interessierten Akteuren zu „Forst + Kultur“ eingeht, ist der neue „Zertifikatslehrgang Forst + Kultur“17. Diese spezielle Ausbildung verbindet eine beachtliche fachliche Breite – von Fragen der Archäologie im Wald bis zum außerforstlichen, professionellen Kulturmanagement und den Instrumenten der Regionalentwicklung – mit möglichst praktischer Anwendbarkeit im eigenen Betrieb oder dem eigenen beruflichen Umfeld der Teilnehmer oder deren Regi14 Näheres zu diesen nationalen Verzeichnissen und deren aktuellem Stand siehe www.unesco.at 15 Siehe den Text-Abschnitt Zertifikatslehrgang Forst + Kultur. 16 Details zu den Projekten siehe www.lebensministerium.at/forst (do. unter WALDFACHPLAN, Broschüre S. 58 ff. sowie S. 78 ff.) 17 Nähere Detail-Informationen siehe: www.fastor.t.at oder auf der homepage des lebensministeriums: www.lebensministerium.at /unter Forst + Kultur. Anhang

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on. Entwickelt auf Initiative des Lebensministeriums wird der Lehrgang aktuell das zweite Mal an der forstlichen Ausbildungsstätte Ort/Gmunden18 (im Umfang von 120 Stunden in vier ganzwöchigen Modulen mit Abschlussprüfung) bei steigender Nachfrage durchgeführt. Der Zertifikatslehrgang hat sich damit innerhalb weniger Jahre als wichtigstes (Weiter-)Bildungsangebot zum Thema etabliert. Die Abbildung A.2 im Anhang bietet einen grafischen Überblick zum Aufbau und Ablauf des Lehrganges. Nach zwei Grundlagenmodulen (1. „Forst“ + 2. „Kultur“) erfolgen erste Recherchen durch die Teilnehmer, in den beiden darauf aufbauenden „Netzwerk- bzw. Projektmodulen“ erfolgt die Erörterung von zentralen Bereichen fachübergreifender oder regional orientierter Netzwerkarbeit mit besonderer Beachtung einer touristischen Umsetzung sowie des EU-weit vorbildhaften Regionalentwicklungsprogrammes „LEADER“. Zentrale Ziele des Lehrganges: Die Teilnehmer sollen einen breit gefächerten und fundierten Überblick über die fachlichen Grundlagen und Potentiale, die mit der Initiierung, Erstellung und Leitung von forst-kulturellen Projekten verbunden sind, erhalten und zur fundierten fachlichen Auseinandersetzung im eigenen Arbeitsumfeld motiviert werden. Sie sollen lernen, relevante Objekte, Inhalte und Zusammenhänge zu erkennen, abzuschätzen und damit verbundene Potentiale und konkrete Umsetzungsmöglichkeiten im eigenen betrieblichen und beruflichen Umfeld abzuleiten. Sie sollen Arbeitsweisen und Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen Forst- und Kultur- (bzw. auch Tourismus-Akteuren) im Umfeld der forstlichen Bewirtschaftung in Theorie und Praxis kennen lernen und darauf aufbauend lernen, eigene Ideen und Produkte (Führungsmodelle, Objektrevitalisierungen, Präsentationen etc.) zu entwickeln und – unter Nutzung besonders geeigneter (v.a. regional/thematisch orientierter) Fördermodelle (LEADER) – umzusetzen/bzw. schrittweise zu erweitern. Bei der Präsentation und Erarbeitung von fachlichen Grundlagen wird auf die fachübergreifende Zusammenarbeit mit Partnern aus relevanten kulturellen und/oder touristischen Fachbereichen (Archäologie/Historische Fächer, Denkmalpflege, Volkskunde, Landschafts-/Architektur, Historische Gärten, Bildende/Darstellende Kunst, Touristik/Marketing, LEADER-Management, Museumspädagogik etc.) ganz besonderer Wert gelegt. Das sachkundige Erkennen und/oder die Aufnahme von relevanten Potentialen und Objekten auf der Fläche, im Betrieb oder in der Region wird anhand theoretischer Grundlagen und praktischer Beispiele vorgeführt. Auch die entsprechenden rechtlichen Bestimmungen, (museums-)pädagogische und technische Fragen (moderne Vermittlung von Museumsinhalten, Rhetorik etc.) beim Aufbau von Präsentations- und/oder Führungsmodellen werden behandelt. Die Teilnehmer erstellen ein konkretes Forst-Kultur-Projekt zu einem Thema eigener 18 www.fastort.at die do. homepage bietet aktuelle Detailinfos zu den LG-Inhalten, Kosten/Terminen, etc.

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Wahl, das in schriftlicher Form (inklusive Kostenschätzung) erarbeitet und im Rahmen der Abschlussprüfung persönlich präsentiert wird. Im Idealfall ist das Projekt in der Region (bzw. im eigenen beruflichen Umfeld) sofort umsetzbar (insbesondere bei den in Frage kommenden Förderstellen einreichbar und erfüllt die Voraussetzungen für eine rasche Genehmigung). Die Teilnehmer sind somit mit Absolvierung des Lehrganges besonders für die Initiierung, Planung und Umsetzung von (LEADER-)Projekten zu forstlich-kulturellen Inhalten für eine: • betriebliche und/oder • touristische und/oder • pädagogische Nutzung im Rahmen von Forstbetrieben/Einrichtungen und Regionen geeignet. Der Lehrgang kann damit auch einen wertvollen Beitrag für eine berufliche Diversifizierung der Absolventen, aber auch dem Aufbau bzw. der Vertiefung von Projektpartnerschaften (im Sinne der Einleitung) leisten. Zielgruppe/n – Wer wird angesprochen? Der Lehrgang steht grundsätzlich19 jedem/r offen; er zielt jedoch auf zwei Zielgruppen besonders ab: 1. Waldeigentümer (aller Größenordnungen!) sowie Absolventen forstlicher Ausbildungsgänge BOKU/HLFL/Forstfachschule/ForstwirtschaftsmeisterIn. 2. Interessierte und Partner aus Fachgebieten im kultur-touristischen Umfeld der Forstwirtschaft (Archäologen, Akteure der Denkmalpflege und Volkskunde, Touristiker, Pädagogen, Mitarbeiter/Leiter einschlägig aktiver Museen, von kultur-touristischen Regionalinitiativen Kulturschaffende/-planer, Akteure einschlägiger PR-/Medienarbeit, Raumplanung und Regionalentwicklung etc.) Die folgenden Fotobeispiele (aus Modul 2 des 1. Lehrgangsdurchlaufes) sollen den (trotz wissenschaftlich fundierter Begleitung) angestrebten praxisnahen Zugang zu den jeweiligen Themenbereichen bildhaft verdeutlichen: Die untenstehende Abbildung zeigt den (als Überraschung für die Lehrgangsteilnehmer angelegten) nächtlichen (!) Waldrundgang unterhalb des „Höllengebirges“ (Nähe Gmunden/OÖ.) bei dem das Thema „Überlieferung wertvollen (lokalen) Wissens in Sagen und Märchen im und um den Wald“ direkt im Gelände erlebbar gemacht wurde:

19 Aus organisatorischen und bildungsdidaktischen Gründen haben die Veranstalter eine TeilnehmerObergrenze (25 ) pro Lehrgangsdurchlauf festgelegt. Bei Interesse ist daher eine zeitgerechte Anmeldung erforderlich. Anhang

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„Handbuch Forst & Kultur“ als umfassendes Standardwerk zum Thema! Lehrgangs begleitend wurde das „Handbuch Forst + Kultur“ erstellt, welches als umfangreiche Arbeitsmappe im Laufe des Lehrganges kontinuierlich „mit wächst“ und, basierend auf den eigenen Praxiserfahrungen, laufend ergänzt und aktualisiert werden kann. Im Handbuch sind sämtliche „Unterrichtsthemen“ mit Verweis auf wichtige Literatur und aktuelle Praxisbeispiele in fachlich fundierter Form behandelt. Die mehr als 60 (teilweise in ihrem Fachgebiet führenden) Autorinnen und Autoren haben ihre Beiträge extra für dieses neue Handbuch verfasst und sprechen engagiert zentrale Fragestellungen für eine fachübergreifende Zusammenarbeit an. Das Handbuch soll allen am Thema Interessierten einen fundierten Überblick bieten und richtet sich daher auch an Interessierte am Themenfeld „Forst + Kultur“, die nicht am Lehrgang teilnehmen.20 Arbeitsschwerpunkte der Zukunft – kurzer Ausblick In wenigen Jahren ist es gelungen, vielfältige Chancen für die Entwicklung und Nutzung kultureller Potentiale im Umfeld des Forstwesens aufzuzeigen und in Richtung projektorientierter Umsetzung voranzutreiben. Mit konsequenter Fortsetzung dieses Weges sollte ein interessierter, aktiver Kreis an Interessierten zu gewinnen sein und damit vor Ort auch ganz neue fachliche und strategische Impulse im eingangs beschriebenen Sinn gesetzt werden. Gerade in der jetzigen „Startphase“ kommt der Nutzung einschlägiger Fördermodelle eine wichtige Rolle zu, um für fundierte Projektvorschläge in den Betrieben und Regionen entsprechende Startmittel bereit zu stellen. Im Idealfall sollten sich Projekte nach einigen Jahren (siehe die begrenzten Zeiträume für LEADER Förderungen) selbst tragen. Herzustellen ist jedenfalls ein noch engerer Konnex zu klassischen Tourismusakteuren und -Institutionen21 und den relevanten kulturwissenschaftlichen Fächern, besonders der Volkskunde, aber auch einschlägigen denkmalpflegerischen Teilbereichen, wie den Historischen Gärten, der Jagdkultur oder den kulturell relevanten Aspekten zu Holzforschungund Verwendung. Im Jahr des Waldes (2011) werden in diesem Zusammenhang eine Reihe forst-kultureller Aktivitäten an verschiedensten Standorten „um das Produkt Holz herum“ durchgeführt22, um das Verständnis für die hier skizzierten Zusammenhänge zwischen Waldbewirtschaftung und deren historisch-kultureller Entwicklung an ausgewählten „Holz-Orten“ lebendig zu verdeutlichen. Interessierte Leserinnen und Leser, die sich mit kulturellen Potentialen in ihrem eigenen Umfeld in vertiefter Form auseinandersetzen wollen, seien nochmals an das oben 20 Detailinfos zum Handbuch und Bestellung digital im Bundesamt und Forschungszentrum Wald (BFW/Wien) unter: www.bfw.ac.at unter Veröffentlichungen. 21 An dieser Stelle sei auf die – bis 2012 laufende – Forst-Tourismus-Reihe „Destination Wald“ verwiesen, wo die Zusammenarbeit zwischen Forst + Tourismus in Richtung neuer Kundenangebote gezielt vorangetrieben wird; Detailinfos unter: http://forsttourismus.boku.ac.at 22 Details siehe u.a. unter www.holzverwendung.at

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erwähnte „Handbuch Forst + Kultur“ erinnert, worin zu jedem Fachthema („Archäologie + Wald“, „Wald + Musik“, „Wald aus Sicht des bildenden Künstlers“, „Volkskundliche Aspekte“ und weiteres mehr) auf aktuelle Projekte und wichtige Literatur verwiesen wird. Auch kann die Absolvierung des angesprochenen Zertifikatslehrganges sehr empfohlen werden. Aktuelle Informationen zum Thema Forst + Kultur (mit Veranstaltungsterminen etc.) sind auch über die Homepage des Lebensministeriums23 abrufbar.

23 www.lebensministerium.at/Forst (☛ Wald und Gesellschaft ☛ Forst + Kultur) Anhang

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