Satanismus : Mythos und Wirklichkeit 3927165131

Die Diskussion um den Satanismus ist mehr von Spekulationen und Vorurteilen geprägt als von sachlichen Informationen. In

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Satanismus : Mythos und Wirklichkeit
 3927165131

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Table of contents :
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus
Der zeitgenössische Satanismus
Anmerkungen
Bibliographie

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Joachim Schmidt

Satanismus Mythos und Wirklichkeit

diagonal-Verlag Marburg 1992

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schmidt, Joachim: Satanismus : Mythos und Wirklichkeit / Joachim Schmidt. Marburg: Diagonal-Verl., 1992 ISBN 3-927165-13-1

© 1992 by diagonal-Verlag, Zwischenhausen 7-9, Postfach 1248, D-3550 Marburg. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des

Verlages. Druck: Difo-Druck, Bamberg

ISBN 3-927165-13-1

Inhalt

Inhalt

Einleitung

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Satanismus - qu’est-ce que c’est?

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Die Namen des Teufels

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

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Satan im Alten Testament

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Wandlung der Satansvorstellungen in den apokryphen Schriften - iranischer Dualismus

22

Satan im Neuen Testament

24

Das Satansbild der Kirchenväter

26

Die Gnosis

28

Jüdische Dämonenlehren

33

Spätgnostische Lehren

36

Übergang vom Mittelalter zur Renaissance - die Hexenverfolgung

40

Der Teufelspakt

48

Grimoires - Zauberei und schwarze Magie

50

Die Wandlung des Satansbildes im 16. und 17. Jahrhundert

52

Schwarze Messen in Frankreich

60

Die britischen Hell Fire Clubs

69

Satan und die Philosophie der Aufklärung - das Böse ohne Teufel

72

Der literarische Satanismus des 19. Jahrhunderts

80

5

Inhalt

Antisatanismus und das Absurde

102

Luzifer in Theosophie und Anthroposophie

120

Luzifer und der Einzige

125

Aleister Crowley - das Tier 666 und der Satanismus

130

Der zeitgenössische Satanismus

139

Der Ophite Cultus Sathanas

140

Die Process Church

141

Kalifornische Kulte

145

Anton Szandor La Veys First Church of Satan

154

Das Diabolicon

165

Der Temple of Set

173

Die neuere amerikanische Satanismusszene

187

Satanistische Blutmessen in Frankreich

196

Die "Satanspriesterin" Ulla von Bernus

205

Jugendokkultismus/-satanismus

210

Satan und Rockmusik

219

Anmerkungen

224

Bibliographie

227

6

Satanismus - qu’est-ce que c’est?

Einleitung Satanismus - qu’est-ce que c’est? "Satanismus" ist zunächst einmal ein "wilder" Begriff, das heißt viele benutzen ihn, fast jeder versteht ihn anders und kaum einer bemüht sich ernsthaft, ihn zu definieren. Tatsächlich wird viel über das Phänomen und (dringlicher) über das Problem "Satanismus" diskutiert, aber der Begriff des Satanismus selbst ist nicht Gegenstand irgendeiner Diskussion. Nun, wenn man sich auch so ver­ stehen würde, könnte man getrost auf eine Definition verzichten. Begriffsdis­ kussionen gehören ja nicht unbedingt zu den erfreulicheren Dingen des Le­ bens. Aber man versteht sich keineswegs, und mehr noch: Eine andere Mei­ nung zu verstehen ist selten das Ziel der so geführten Diskussionen. Einer religionswissenschaftlichen Bearbeitung der unter diesem Etikett ge­ führten Phänomene muß eine Begriffsklärung allerdings vorausgehen. Die Beziehung einer religionswissenschaftlichen "Satanismus"-Definition zu den allenthalben vorhandenen theologischen "Satanismus"-Definitionen wäre eine interessante Angelegenheit. Wäre - wenn eine reflektierte religionswissen­ schaftliche Definition existierte. Dies ist nicht der Fall.jSolange man sich in den Gefilden der Theologie bewegt, ist dies auch nicht zwingend notwendig. Satan gehört mehr oder we­ niger zum christlichen Weltbild und hier sind die theologischen Definitionen maßgebend. Auch im Falle kirchlicher "Projektion" (Andersgläubige wurden und werden ün Lichte der kirchlichen Satanslehren als "Satanisten" erkannt und zum Teil auch verfolgt) ist in erster Linie die dahinterstehende theologi­ sche Satanslehre relevant. Wird aber ein eigenständiger, positiver Satanismus angenommen, ist für die Religionswissenschaft die Klärung, was darunter zu verstehen ist, unab­ dingbar. Es ist zweifellos bedenklich, einen "wilden" theologischen Begriff (der sich mittlerweile zum allgemeinen Schlagwort ausgewuchert hat) in die Reli­ gionswissenschaft zu übernehmen. Die Schwierigkeiten sind im Prinzip die gleichen wie beim Gottesbegriff. So soll hier keine endgültige Definition an-

7

Einleitung

gestrebt werden, sondern es sollen lediglich einige Unterscheidungen vorge­ nommen und ein paar vorläufige Arbeitsbegriffe kreiert werden, die ein wei­ teres Bearbeiten dieser Thematik erleichtern. Als erster Schritt empfiehlt sich eine Unterscheidung von: a) theologischer Satanslehre, b) theologisch projiziertem Satanismus und c) explizitem Satanismus. Die theologische Satans- oder Teufelslehre ist keineswegs einheitlich, auch innerhalb der jeweiligen Konfessionen konkurrieren verschiedene Lehren und Ansätze miteinander, die von der Annahme der realen personalen Existenz Satans und eines gewaltigen Heeres teuflischer Dämonen bis zur Forderung eines "Abschieds vom Teufel" (H. Haag) reichen. Da auch die Bibel kein ein­ deutiges und konstantes Bild Satans bietet, ist dies nicht weiter verwunderlich. An diesen theologischen Disputen hat sich die Religionswissenschaft selbstverständlich nicht zu beteiligen. Sie hat sie lediglich zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls zu analysieren.

Unter "theologisch projiziertem Satanismus" ist jene Form des Satanismus zu verstehen, die die kirchliche Apologetik bei anderen religiösen Gruppen oder auch Einzelpersonen zu erkennen glaubt. Im allgemeinen bezeichnen und verstehen sich die so "entlarvten" Gruppen oder Personen selbst nicht als Sa­ tanisten, aber aufgrund bestimmter Eigentümlichkeiten ihrer Lehren, Weltan­ schauungen oder Kulthandlungen werden sie von der christlichen Theologie (oder auch nur von einzelnen Theologen) als solche betrachtet. Dieser proji­ zierte Satanismus kann sich im Extremfall auf sämtliche abweichenden Welt­ anschauungen beziehen (selbst auf die jeweils anderen christlichen Konfes­ sionen) - es handelt sich hier sozusagen um einen theologischen Gegenpol zur natürlichen Theologie. Im allgemeinen bezieht er sich jedoch vorwiegend auf religiöse Gruppen, deren Lehre und Ethik in deutlicher Differenz zum Chri­ stentum steht. Aber im Prinzip ist hier alles möglich. Auch wird bisweilen ein Unterschied gemacht zwischen "echten" Satani­ sten und solchen, die ohne ihr Wissen und mit besten Absichten "Irrlehren" anhängen, die vom Teufel in die Welt gesetzt wurden. Zur letzteren Kategorie zählen zum Beispiel für R. Wurmbrandt (ein theologischer Outsider, zugege­ ben) die meisten Marxisten. Es besteht natürlich ein enger Zusammenhang zwischen theologischen Satanslehren und dem theologisch projizierten Satanismus - besonders in der Zeit der Hexenverfolgung zeigte sich dies nur allzu deutlich -, dennoch lassen

8

Satanismus - qu’est-ce que c’est?

sich diese Zusammenhänge nicht auf eine einfache Formel bringen. Zu groß ist hier die innerkirchliche Unordnung. Der Religionswissenschaft fällt die Aufgabe der Richtigstellung zu. Nicht in der Form, daß sie sich in theologische Dispute einmischte, sondern derge­ stalt, daß sie die "satanisierten" Gruppen in einer unabhängigen, spezifisch re­ ligionswissenschaftlichen Begrifflichkeit beschreibt und Apologetik eben Apologetik nennt. Natürlich müßte sich ein religionswissenschaftlicher Satanismusbegriff nicht zwangsläufig nur auf explizit satanistische Gruppierungen beziehen doch anhand welcher religionswissenschaftlicher Kriterien kann man eine Gruppe (oder Person), die sich selbst nicht als satanistisch bezeichnet, eben doch als satanistisch klassifizieren? Diese Kriterien können, wenn überhaupt, nur aus dem expliziten Satanismus abgeleitet werden.

Die Klassifizierungsmerkmale, die in der jüngsten Vergangenheit von kirchli­ chen Sektenbeauftragten und anderen kirchlichen Informationsvermittlern herausgearbeitet wurden, sind für die Religionswissenschaft durchweg un­ brauchbar. Beispielhaft für diese eher Verwirrung als Klarheit stiftenden De­ finitionen seien folgende Äußerungen zitiert. F. W. Haack (Sektenbeauftragter): "Es wäre höllischer Unsinn zu glauben, irgend jemand bete den Teufel an." Die Hauptthese des modernen Satanismus laute vielmehr: "Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Im Mittelpunkt steht immer der Mensch, der tun darf was er will."1

H. Schulze-Berndt'. "Unter Satanismus versteht man die Anbetung des Teufels und die Verherrli­ chung des Bösen. Die Kulthandlungen der Teufelsanbeter heißen ‘schwarze Messen’. Auf Friedhöfen oder in dunklen Räumen werden heimlich Tieropfer dargebracht und Treueversprechen für den Satan abgelegt."2

Leider muß gesagt werden, daß auch die maßgeblichen nicht-theologischen Abhandlungen zum Thema Satanismus in diesem Punkt nicht sehr viel mehr leisten. Zacharias unternimmt in seinem Standardwerk Satanskult und schwarze Messen3 nicht einmal den Versuch einer ernsthaften Definition und rechtfertigt seine unreflektierte Vermischung von explizitem und projiziertem Satanismus mit fragwürdigen "methodischen" Begründungen: "Noch einmal sei betont, daß die Frage, inwieweit den satanistischen Kult­ bräuchen der Häretiker historische Tatsächlichkeit zukommt, für uns irrele9

Einleitung

vant ist. Auch die bloßen Vorstellungen der Ankläger besitzen eine Realität, die religionsphänomenologisch und psychologisch voll ernstzunehmen ist."4

Karl Frick präsentiert in seiner umfangreichen dreibändigen Abhandlung über Satan und die Satanisten zwar eine riesige, zum Teil freilich auch belie­ bige, Materialfülle, eine schlüssige Satanismus-Definition kann er jedoch nicht bieten. So finden sich bei ihm auch die Existentialisten und die RAFTerroristen in den Reihen der Satanisten wieder, ohne daß so recht klar wird, wie sie dort hingelangten.5 Doch genug der trüben Abschweifungen. Allein die Existenz eines expliziten Satanismus schafft die Notwendigkeit ei­ ner spezifisch religionswissenschaftlichen Begriffsreflexion. Zwar gibt es (und gab es) nicht viele Gruppen, Vereinigungen oder Einzelpersonen, die sich selbst als Satanisten verstehen und bezeichnen, aber doch einige - und auf sie sollte der Begriff zunächst beschränkt bleiben. Nur wenn es sich als möglich erweisen sollte, hier zu allgemeinen Klassifikationsmerkmalen zu gelangen, wäre eine Ausdehnung des Satanismusbegriffs auf andere, nicht explizit sata­ nistische Gruppen sinnvoll. Um es vorwegzunehmen, es sieht nicht so aus, als wäre dies so ohne weiteres möglich.

Mit dem expliziten Satanismus ist es schon eine seltsame Sache: Es handelt sich hier um eine sekundäre religiöse Orientierung, das heißt zuerst war die theologische Teufels- bzw. Satanslehre da, daraus folgte mehr oder weniger zwangsläufig der projizierte Satanismus und zuletzt entstand ein positiver ex­ pliziter Satanismus. Dieser Satanismus ist zwar zweifelsohne gegen die christ­ liche Lehre entstanden und bezieht sich in seinem Protest auch auf theologi­ sche Satanslehren. Er verfremdete diese jedoch zum Teil in einem solchen Maße, daß große Teile des Satanismus nicht mehr auf dem Boden der theolo­ gischen Satanslehren stehen. Die theologischen Satanslehren beschreiben also die Bewegungen, die aus ihnen entstanden sind, nicht mehr zureichend - und die die begriffliche Klarheit ohnehin zersetzende exzessive Verwendung des projizierten Sata­ nismus in apologetischen Scharmützeln tat ein übriges, die Verwirrung zu ver­ größern. Die sekundären Wellenbewegungen entschwappten derweil in Ge­ filde, in denen sie als etwas Eigenes, Positives betrachtet werden müssen, wenn man zu einem angemessenen Verständnis gelangen will. Die Bezüge zum Primären entziehen sich dabei jedoch einer eindeutigen Stringenz. Im religiösen Underground beheimatet, mischte sich der Satanismus bisweilen mit anderen okkultistischen Lehren, die dort ebenfalls ihr Domizil bezogen

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Satanismus - qu’est-ce que c’est?

hatten (bzw. beziehen mußten), und es entwickelten sich zahlreiche sehr ver­ schiedenartige Spielarten satanoider Kulte und Lehren, deren Anhänger­ schaft jedoch gering war. Doch auch die eher puristischen Satanskulte gelang­ ten zu recht unterschiedlichen Satansvorstellungen und daraus resultierenden Lehren und Praktiken. Betrachtet man die Existenz- und Entstehungsbedin­ gungen der satanistischen Kulte, ist man auch kaum geneigt, anderes zu er­ warten: Eine organisierte "Kirche des Satans" hat nie existiert, ebensowenig eine verbindliche satanistische Dogmatik. Überall dort, wo sich der Protest gegen die Kirche oder die allgemeinen Machtverhältnisse in Form satanisti­ scher Lehren und Kulte manifestierte, konnte dies ohne dogmatische Vorga­ ben und Beschränkungen erfolgen. Elemente älterer Lehren und Schriften konnten nach Belieben übernommen und umgedeutet werden. Diese Vielzahl oft kurzlebiger Lehren und Kulte, die mehr behelfsmäßig mittels des Begriffs "Satanismus" zusammengefaßt werden, muß wiederum in verschiedene Vari­ anten unterteilt werden, will man sich einen halbwegs geordneten Zugang zu ihnen verschaffen. Zu diesem Zweck wird folgende Unterteilung vorgeschla­ gen: a) der reaktive, paradigmatisch konforme Satanismus, b) der gnostisch umgewertete Satanismus, c) der integrative Satanismus, d) der autarke, sekundär achristliche Satanismus, e) der synkretistisch gebrochene Satanismus

und, auf anderer Ebene angesiedelt, x) der primär literarische Satanismus.

Der reaktive, paradigmatisch konforme Satanismus umfaßt all jene Spielarten des Satanismus, die von einem ungebrochen theologischen Satansbild ausge­ hen. Das heißt, das Satansbild unterscheidet sich nicht von den theologischen Satansbildern. Satan wird als Personifikation des Bösen und als "Fürst der Finsternis" gesehen. Nur daß man sich eben auf die Seite Satans schlägt und das Böse verehrt. Diese Form des Satanismus ist also eine Protestreaktion ge­ gen die christlichen Lehren, die aber die christlich-theologischen Paradigmen nicht umstößt. Die einzige wesentliche Häresie besteht hier in der Annahme, daß nicht Gott, sondern Satan sich letztendlich als der Stärkere erweisen wird. Das reflexive Niveau dieses reaktiven Satanismus ist allgemein recht niedrig und organisierte Kulte existieren kaum. Gegenwärtig können einige "Black-Metar'-Gruppen (Venom u. a.) als Hauptvertreter dieser Spielart gel­

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Einleitung

ten. Ein paar Schüler- und wenige Geheimzirkel mögen noch hinzukommen, deren Dauerhaftigkeit und zum Teil auch Ernsthaftigkeit aber äußerst fraglich sind. Ebenso dürfte bei den meisten Black-Metal-Gruppen eher Kommerz­ kalkül als Glaubenseifer anzutreffen sein (und die meisten Fans dieser Grup­ pen wollen halt nur mal gepflegt die Sau rauslassen). Doch auch dort, wo man ernsthafter zur Sache geht, ist man weit davon entfernt, einen neuen, lebensfähigen Kult zu schaffen. Historisch gesehen fallen die meisten der "Teufelspakte", die bisweilen in mittelalterlichen Zau­ berbüchern und Grimoires beschrieben sind, in diese Kategorie. Auch hier handelt es sich nicht um organisierte Kulte, sondern meist um trotzige Aktio­ nen einzelner Unzufriedener. Komplexere Organisationsformen, Kulthand­ lungen und Lehren, die dieser Kategorie zuzuordnen wären, finden sich le­ diglich in literarischen Werken (Huysmans La bas) und drittklassigen Grusel­ filmen. Die "realen Vorbilder" wird man - zumindest in den Gefilden des re­ aktiven Satanismus - vergebens suchen. Der reaktive Satanismus war immer nur ein Ventil für angestaute Trieb­ energie oder sonstige Unzufriedenheiten, und solange die Kirchen Satan einen Platz in ihren Lehren einräumen, wird es zwangsläufig einen reaktiven Satanismus geben. Die Art und Weise, wie dieser sich äußert, wird natürlich vom jeweiligen soziokulturellen Umfeld abhängen. Der gnostisch umgewertete Satanismus versteht und wertet Satan hingegen deutlich anders als die christliche Theologie: Satan wird hier nicht als Personi­ fikation oder als Prinzip des Bösen gesehen, sondern ihm werden durchaus positive Eigenschaften zugebilligt, wohingegen der christliche Gott mit negati­ ven Attributen versehen wird. Satan wird als der verleumdete, dem Menschen wohlgesonnene Gott betrachtet, während der christliche Gott oder auch Jahwe als Unterdrücker oder Täuscher der Menschen beschrieben wird. Diese Lehren haben ihren Ursprung im spätantiken Gnostizismus, in dem der jüdische Jahwe - und in geringerem Ausmaß auch der christliche Gott - mit dem bösen, unwissenden Demiurgen gleichgesetzt wurden. Der gute, transzendente Gott wurde von den spätantiken Gnostikern allerdings nicht mit Satan gleichgesetzt, dessen Gestalt zu jener Zeit noch recht vage war. Eine größere Rolle spielte der "Lichtbringer" Luzifer, doch auch er fand in den meisten der gnostischen Systeme keine Berücksichtigung. Späterhin wurden Luzifer und Satan kirchlicherseits gleichgesetzt, in ok­ kultistischen Lehren wurde diese Gleichsetzung jedoch häufig nicht nach­ vollzogen. Das Satansbild des gnostisch umgewerteten Satanismus trägt immer ei­ nige Züge Luzifers bzw. des transzendenten Gottes der Gnostiker (so zum 12

Satanismus - qu’est-ce que c’est?

Beispiel bei H. Sloanes "Ophite Cultus Sathanas"). Das latent dualistische Weltbild des Christentums wandelt sich im gnostisch umgewerteten Satanis­ mus zum echten Dualismus, wobei Satan die positive Rolle zugewiesen wird, ohne daß einfach die Attribute von Gott und Teufel vertauscht würden: Nicht Liebe, Gnade und Gehorsam stehen hier im Vordergrund, sondern Wissen, Erkenntnis und Freiheit. Die Verwandtschaft zu Luzifer, dem Lichtbringer, ist unverkennbar, ebenso die zu den gnostischen Umdeutungen der Genesis, die die Schlange im Paradies als Freund der Menschen sahen, da sie es war, die diese vom Baum der Erkenntnis kosten ließ. Ein entsprechendes Satansbild findet sich auch in Carduccis Hymne A Satana, in der Satan als Schutzherr der Aufklärung gefeiert wird. Der gno­ stisch umgewertete Satanismus verliert nicht seinen Bezug zum christlichen Weltbild, er wertet um, bezieht sich aber in seinem Protest immer auch auf das Christentum. Unter integrativem Satanismus sind jene Formen des Satanismus zu verstehen, die die Grenze zwischen dem christlichen Gott und Satan aufzuheben trach­ ten. Entweder werden Gott und Satan als zwei zusammenwirkende Pole einer Einheit betrachtet, oder es werden neue Trinitäten oder Quaternitäten kre­ iert, in denen Gott und Satan Zusammenwirken. In jedem Fall wird der Antagonismus zwischen Gott und Satan aufgehoben, sie werden in eine Ganzheit integriert. Auch hier wird das christliche Weltbild nicht verlassen, nur werden die Karten neu gemischt. Als Beispiel mag Charles Manson, der von sich be­ hauptet, Jesus und Satan in einem zu sein, herhalten, oder auch die "Process Church", die von einer Trinität Jehova-Luzifer-Satan ausgeht. Bekanntestes li­ terarisches Beispiel eines integrativen Satanismus ist der Gott-Teufel Abraxas in Hermann Hesses Demian.

Mit dem autarken, sekundär achristlichen Satanismus ist es so eine Sache. Einen achristlichen Satanismus kann es im vollen Sinne des Wortes natürlich kaum geben, da ja kein primär achristlicher Satanismus existierte. Wohl aber ist dieser Begriff geeignet, einen Satanismus zu beschreiben, der sich zwar von christlichen Lehren herleitet, sich in seiner sekundären Existenzform aber zu einer positiven Religion im vollem Wortsinn entwickelte und sich weitgehend von christlichen Bezügen löste, wiewohl seine Ideale denen des Christentums klar entgegenstehen. Dies trifft vor allem auf Anton Szandor La Veys "First Church of Satan" zu (und auf den "Temple of Seth", der aus dieser hervorging), die sich als Re­ ligion der Vitalität und der Materie versteht. Abgelehnt wird nicht nur das 13

Einleitung

Christentum, sondern jegliche Form des Mystizismus, der Satan, als Herrn dieser Welt, zuwider sei. Diese Ablehnung jeglicher Form von Transzendenz und nichtweltlicher Mystik löst die "First Church of Satan" in gewisser Weise von einer negativen Bezogenheit auf das christliche Weltbild. Die klare Standortbestimmung verschafft ihr ein gewisses Maß an Autarkie, das es ihr ermöglicht, sich losgelöst von christlichen Weltbildern zu definieren. Vertre­ ten wird eine klar definierte Ethik, die nicht nur zur christlichen Ethik, son­ dern auch ausdrücklich zur Ethik der anderen Weltreligionen im Widerspruch steht. Im Grunde handelt es sich also um die Emanzipation des Sekundären vom Primären, die zugegebenermaßen wohl nie vollständig sein kann.

Mit dem synkretistisch gebrochenen Satanismus ist der Bereich des expliziten Satanismus eigentlich bereits verlassen, und hier beginnt es, was die Begrifflichkeit anbelangt, wirklich haarig zu werden. Unter diesem Begriff sind all jene okkultistischen Strömungen zusammengefaßt, in denen Satan zwar eine Rolle spielt, aber nicht im Mittelpunkt des Kultes oder Lehrsystems steht. Und hiervon gibt es viele. Der Okkultismus als Ganzes ist ja ganz allgemein eine äußerst synkretistische Tradition, mehr noch, eine stark synkretistisch-in­ tegrative Ausrichtung ist eines seiner charakteristischen Wesensmerkmale. Oft sind es nicht bestimmte Götter oder andere höhere Wesenheiten, die im Mittelpunkt okkultistischer Lehren stehen, sondern übergreifende Weltdeu­ tungskonzepte, in die verschiedene Götter, Geister, Dämonen usw. integriert werden. Typisch für den Okkultismus sind auch umfangreiche "Korrespon­ denzsysteme", in denen Götter, Dämonen, Intelligenzen, Planeten, Farben Mineralien usw. in Beziehung oder auch gleichgesetzt werden. Als Satanisten verstehen sich die wenigsten Anhänger solcher Lehren, und wenn Satan irgendwo in einer Korrespondenzreihe auftaucht, bedeutet dies noch lange nicht, daß er in der betreffenden Lehre eine dominante Rolle spielt; auch dann nicht, wenn er innerhalb eines Systems eine gewisse Wert­ schätzung genießt. Der Begriff Satanismus bezeichnet eine vorrangige Bezo­ genheit auf eben die Gestalt des Satans, und wo diese nicht vorhanden ist, kann man korrekterweise nicht von Satanismus sprechen. Für einen Theologen, der in einer quasi-dualistischen Weltauffassung beheimatet ist, mag die Sache klar sein - für ihn mag sie selbst dort klar sein, wo von Satan nicht ausdrücklich die Rede ist -, die Religionswissenschaft kann sich einer solchen Einschätzung jedoch nicht anschließen. Hier kann von synkretistisch gebrochenem, also "unechten" Satanismus nur dann die Rede sein, wenn Satan in einem solcherart synkretistischen System zumindest eine der Hauptrollen spielt. Und ob er das tut, darüber kann es unter Umständen sogar innerhalb der Anhängerschaft ein und desselben Kults unterschiedliche 14

Satanismus - qu’est-ce que c’est?

Auffassungen geben. Als besonders markantes Beispiel seien in diesem Zu­ sammenhang die thelemischen Lehren und Kulte genannt, das heißt jene Or­ ganisationen, die sich auf die Lehren des Okkultisten Aleister Crowley bezie­ hen.

Die literarische Verarbeitung des Satans und der Teufels- oder Luzifergestalt ist überaus vielgestaltig und reicht von zahlreichen Märchen und Sagen bis zu den Bearbeitungen des Faustthemas. Für die dieser Arbeit zugrundeliegende Fragestellung sind besonders jene literarischen Werke interessant, in denen Satan (oder auch Luzifer) auf eigenständige Weise charakterisiert wird und wo satanistische Riten und Kulte dargestellt werden. Hier finden sich primär literarische Satanskulte, die der Phantasie des Autors entsprangen, also rein fiktiven Charakter haben. In der Folge beein­ flußten sie zum Teil auch den expliziten Satanismus und traten so neben die theologischen Satanslehren. Das bekannteste Beispiel hierfür ist Huysmans Roman La bas. Die in diesem Roman eindrucksvoll geschilderte "Schwarze Messe" hat so in der Realität sicher nie stattgefunden. Auch die Satanshym­ nen Baudelaires und Carduccis hatten einen nicht geringen Einfluß auf das Satansbild des 19. Jahrhunderts, und dem düster-exzentrischen Auftreten ei­ nes Lord Byron ist es zu verdanken, daß Luzifer im wahrsten Sinne des Wor­ tes salonfähig wurde. Festzuhalten bleibt, daß sich spätestens seit der Aufklärung ein eigen­ ständiger literarischer Satanismus etabliert hat, der sich von den theologi­ schen Satanslehren ebenso entfernte wie große Teile des expliziten Satanis­ mus. Eine genauere Analyse der gegenseitigen Beeinflussung von "wirkli­ chem" und literarischem Satanismus während der letzten zwei Jahrhunderte steht noch aus. Mögen diese Unterscheidungen auch noch nicht hinreichen, das komplexe Phänomen des Satanismus begrifflich völlig zu erfassen, so können sie die Orientierung und Verständigung doch erheblich erleichtern und dazu beitra­ gen, die Satanismusdiskussion auf eine sachlichere Ebene zu verlagern.

In dieser Arbeit soll die Entwicklung der Satansvorstellungen wie auch des Satanismus mittels der oben beschriebenen Begrifflichkeit dargestellt werden. Der historische Bogen wird sich vom Alten Testament bis zur Gegenwart span­ nen. Satanismus wird dabei als ein der christlich-abendländischen Kultur zu­ gehöriges Phänomen definiert. Verwandtes aus anderen Religions- oder Kul­ turbereichen - etwa aus dem iranischen Dualismus - wird nur insoweit berück-

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Einleitung

sichtigt, wie es für das Verständnis des abendländischen Satanismus unab­ dingbar ist. Obwohl das Hauptinteresse dieser Arbeit dem expliziten Satanismus gilt, wird von diesem im ersten Teil des Buches, der die Entwicklungen bis zum 17. Jahrhundert beschreibt, kaum die Rede sein. Das liegt ganz einfach daran, daß es bis zu diesem Zeitpunkt kaum verläßliche Dokumente gibt, anhand de­ rer sich ein expliziter Satanismus nachweisen ließe. Und es ist nicht die Ab­ sicht des Autors, den zahlreichen, ziemlich wolkigen Spekulationen zu diesem Thema weitere hinzuzufügen. Ein Verständnis des expliziten Satanismus ist jedoch ohne die Kenntnis der im ersten Teil beschriebenen Entwicklungen nicht möglich. Auch sollen Fragen wie jene, ob denn Teufel und Hexen nun wirklich nichts miteinander zu tun hätten, nicht gänzlich unbeantwortet bleiben. Zu vielen der im ersten Teil abgehandelten Themenbereichen (zum Bei­ spiel Satan im AT, Hexenverfolgung usw.) existiert bereits umfangreiche und auch gute Literatur. Diese werden also relativ knapp abgehandelt; weiterfüh­ rende Literatur wird in der Bibliographie genannt. Im zweiten Teil geht es dann vorwiegend um den expliziten Satanismus. Theologische Satanslehren werden nur kurz angeschnitten, da sich der expli­ zite Satanismus in der Regel nicht an zeitgenössischen theologischen Satans­ lehren orientierte und orientiert. Auch hier wird auf die Bibliographie verwie­ sen.

Ein Wort noch zu den verschiedenen Namen und Bezeichnungen des "Teufels" (sein Name ist Legion, wie ja bekannt ist): In der Regel beziehen sich all die unterschiedlichen Bezeichnungen des Satans auf dieselbe Figur. Eine Geschichte des Satanismus zu schreiben und dabei die Gestalt des Luzi­ fer nicht zu berücksichtigen, wäre schlichtweg ein Unding. Kirchlicherseits wurde hier auch praktisch kein Unterschied gemacht. Was den Okkultismus sowie den expliziten Satanismus anbelangt, so wurde hier in manchen Fällen jedoch durchaus zwischen Satan und Luzifer unterschieden. Wo dies der Fall war, wird das in der Abhandlung der betreffenden Lehren auch seine Berück­ sichtigung finden. Ziel dieser Arbeit ist es, eine religionswissenschaftlich korrekte Darstel­ lung der Geschichte und Entwicklung des Satanismus zu bieten. Weiterge­ hende soziologische oder psychologische Fragestellungen können dabei nur am Rande und relativ oberflächlich behandelt werden.

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Die Namen des Teufels

Die Namen des Teufels

Die Namen des Teufels sind zahlreich - "Satan" ist zweifellos der bekannteste, doch wurde der Teufel oft auch mit anderem Namen genannt. Darüber hin­ aus ging man nicht selten von einem "höllischen Heer" aus, das von mehreren Erzdämonen angeführt wurde. Der oberste Anführer jenes Heeres wurde aber meist Satan oder manchmal auch Luzifer genannt. Zur besseren Orien­ tierung sei hier eine kurze Liste der wichtigsten Teufelsnamen vorgestellt.

ABADDON Der ‘Zerstörer’, auch Herr des Abgrunds genannt, Herrscher der Hölle in der Apokalypse.

ASMODI (Asmodai) Der ‘Verwüster’, auch ‘Samael’ genannt. Wurde bisweilen mit der Paradies­ schlange identifiziert. Im apokryphen Buch Tobias wird von Asmodi berichtet, er habe sieben Männer Saras getötet, bevor diese die Ehe mit ihr vollziehen konnten. Asmodi wird dort als "böser Geist" bezeichnet (Tobias, III, 8). Zu ei­ nem Teufel entwickelte er sich erst später. ASTAROT Dieser mächtige Fürst der Hölle stammt von der phönizisch-kanaanäischen Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin Astarte ab. Da die leibliche Liebe als teuf­ lisch angesehen wurde, eine weibliche Gottheit jedoch keine leitende Position in der höllischen Hierarchie einnehmen konnte - dies war gemäß der christli­ chen Dämonologie allein den männlichen Teufeln vorbehalten, trotz aller "Verderbtheit des Weibes" - wandelte sich die Göttin Astarte in den Dämon Astarot (manchmal auch "Astarotte").

BEHEMOT Die "Bestie", von der das Buch Hiob berichtet (XL, 15); dort erscheint er als ein dumpfes potenzstrotzendes Kraftmonster, wandelte sich dann späterhin zum Teufel und soll es, unbestätigten Gerüchten zufolge, zum Kellermeister der Hölle gebracht haben. BELIAL "Der Böse", im Zweiten Korintherbrief erwähnt (VI, 15), leitet sich von Baal, einem der großen Konkurrenten Jahwes, ab.

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Einleitung

BEELZEBUB Wird bereits in der Bibel des öfteren als Dämon und Teufel erwähnt. Jesus wurde demnach vorgeworfen, er treibe den Satan mit dem Beelzebub aus. Beelzebub leitet sich von der semitischen Wurzel zbl ab, was Mist- oder Dunghaufen bedeutet; Beelzebub heißt also "Gott des Mistes" oder davon ab­ geleitet "Gott der Fliegen". Sein Aussehen wurde späterhin ähnlich dem Satans beschrieben. LUZIFER Neben "Satan" der bekannteste Teufelsname. Abgeleitet vom Planeten Venus, der in hebräischer Sprache "Helal" genannt wurde, griechisch "Eosphoros", und im Lateinischen Lucifer (= Lichtträger). In diesem Namen schwingen noch die meisten positiven Bedeutungen des "gefallenen Engels" mit.

LEVIATHAN Tritt im Buch Hiob neben dem Monster Behemot auf. Wurde oft als Schlange, Krokodil oder Meeresungeheuer beschrieben.

MEPHISTO (Mephistopheles) "Feind des Lichts". Ein neuerer Teufelsname literarischen Ursprungs (Faust usw.). SATAN Der klassische Teufelsname. Manchmal als Fürst des höllischen Heeres, manchmal auch als einziger, allein kämpfender Teufel beschrieben. Der Name "Satan" kommt aus dem Hebräischen und bedeutet soviel wie: Wider­ sacher, Ankläger, Versucher, Gegner, Feind.

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Satan im Alten Testament

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus Satan im Alten Testament

ImylT spielt Satan kaum eine Rolle und auch sein späterer Charakter ist noch nicht ausgeprägt. Auch ist von Satan fast nur in den nachexilischen Schriften die Rede, so daß sein Auftauchen im AT zumindest teilweise dem Einfluß des iranischen Dualismus zuzuschreiben ist. In der Genesis wird Satan noch nicht erwähnt - die berüchtigte Schlange im Paradies wird in Genesis 3 lediglich als ein Tier beschrieben, das eben nur "listiger" ist, "als alle Tiere auf dem Felde." Die Gestalt eines Satans oder Lu­ zifer hält sich im Garten Eden nirgendwo versteckt. Und auch im gesamten vorexilischen Teil des^T ist von Satan nicht die Rede. Die Gleichsetzung der Schlange im Paradies mit dem Satan wurde erst viel später vorgenommen einer der frühesten Hinweise findet sich in der Johannesapokalypse (12,9): "Und der große Drache, die alte Schlange, wurde hinuntergeworfen. Er heißt auch Teufel und Satan, der alle Welt verführt." Zwar ist im AT an verschiedenen Stellen von Dämonen die Rede, doch diese werden nicht mit Satan in Zusammenhang gebracht. Es handelt sich da­ bei hauptsächlich um die "Se’irim" und die "Schedim" (siehe Jes. 13 und 34; 2 Könige 23; 3. Mose 17; 5. Mose 32; Psalm 106, Vers 37 u. a.), dämonisierte Götter aus dem kanaanäischen (Schedim) und babylonischen (Se’irim) Pan­ theon, die nun meist als Schadens- und Krankheitsdämonen auftreten. Ein weiterer Dämon, allerdings viel unbestimmterer Natur, ist "Azazel", der nur im 3. Buch Mose 16, genannt wird. Ihm ist der "Sündenbock" be­ stimmt, der mit den Sünden des Volkes beladen in die Wüste geschickt wird. Azazel scheint hier also ein Wüstendämon zu sein, möglicherweise ein etwas farbloser Verwandter des ägyptischen Seth. Er taucht denn auch erst wieder im apokryphen Buch Henoch wieder auf, hier allerdings in völlig anderer Funktion, nämlich als Führer der rebellischen Engel - eine Position, die später ja Satan zugesprochen wurde. Ob zwischen

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

dem Azazel des Leviticus und dem des Buches Henoch allerdings eine Bezie­ hung besteht, ist unklar. Satan selbst erscheint im AT vorwiegend als "Ankläger", im Buch Hiob und auch bei Sacharja. Während seine Rolle bei Sacharja eher unbedeutend ist - Satan kommt gar nicht dazu, Josua zu verklagen, der HERR fährt ihm ziemlich rüde über den Mund (siehe Sach. 3,1-3) - ist das Buch Hiob die ein­ zige alttestamentarische Schrift, in der Satan eine entscheidende Rolle zuge­ billigt wird. Doch auch hier tritt er nicht als Gegenspieler Gottes auf, er zählt viel­ mehr zu den "Gottessöhnen" {bene ha elohim) die sich vor Gott zu versam­ meln pflegten. Satan wird im Buch Hiob als Skeptiker beschrieben, der vom Menschen nichts Gutes erwartet und so die Gottesfurcht Hiobs nur auf des­ sen Wohlergehen zurückführt. Die Heimsuchungen, die er Hiob zufügt, fügt er ihm nur mit Gottes Erlaubnis zu und er überschreitet dabei die ihm von Gott gesetzten Grenzen nicht. Er prüft also lediglich die Gottestreue Hiobs, wenn nicht im Auftrag Gottes, so doch mit dessen ausdrücklicher Erlaubnis. Eventuelle Gründe für Satans Skeptizismus werden nicht beleuchtet, wohl weil es im Buch Hiob nicht in erster Linie um Satan geht, sondern um das Problem des Unglücks des Gottesfürchtigen und die letztendliche Unbegreif­ lichkeit von Gottes Wirken. Satan wandelt sich erst später zum Gegenspieler Gottes, im ATbleibt er eine Randfigur. Im apokryphen Weisheitsbuch Salomos wird der Teufel erstmals als Ur­ sache des Todes genannt: "Aber durch des Teufels Neid ist der Tod in die Welt gekommen, und es müssen ihn erfahren, die ihm angehören." (Weisheit, 2, 24) Da dieser Satz aber völlig beziehungslos im Text steht, ist die Annahme nicht unbegründet, daß er dem Text nachträglich eingefügt wurde.6 Eine entscheidende Veränderung des jüdischen Satansbildes setzte in der nachexilischen Zeit, besonders in den letzten zwei Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung, ein; vor allem in apokryphen Texten wie dem Buch Henoch äußert sich dies. Bevor jedoch darauf eingegangen wird, sollen noch zwei HT-Texte er­ wähnt werden, in denen zwar von Satan nicht die Rede ist, die aber für spä­ tere Vorstellungen vom "Fall Satans" und für die Gleichsetzung von Luzifer mit Satan von entscheidender Bedeutung sind: Jesaja 14 und Hesekiel 28. Von diesen ist Jesaja 14 der bedeutendere Text, da sich der HesekielText ähnlichen Inhalts ausdrücklich auf den König von Tyros bezieht und daher anderweitigen Interpretationen weniger Raum läßt. In Jesaja 14 heißt es:

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Satan im Alten Testament

Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! Wie wurdest du zu Boden geschlagen, der du alle Völker niederschlugst! Du aber gedachtest in deinem Herzen: ‘Ich will in den Himmel steigen und meinen Thron über die Sterne Gottes erhöhen, ich will mich setzen auf den Berg der Versammlung im fernsten Norden. Ich will auffahren über die hohen Wolken und gleich sein dem Allerhöchsten.’ Ja, hinunter zu den Toten führest du, zur tiefsten Grube.

Dieser wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. u. Z. verfaßte Text bezieht sich wohl auf einen nicht identifizierten babylonischen König, er gebraucht aber bereits das Bild vom gefallenen Morgenstern (hebr. Helal) und bezieht sich dabei auf eine (Fehl)deutung des griechischen Phäethon-Mythos: Phäethon, der Sohn des Helios, dem Lenker des Sonnenwagens (nach einer anderen Version ist er der Sohn von Eos, der Göttin der Morgenröte) überredet He­ lios, den Sonnenwagen einmal lenken zu dürfen. Dies überfordert den Jüng­ ling jedoch, er gerät aus der Bahn und muß schließlich von Zeus per Blitz­ schlag gestoppt werden, wobei er dann vom Himmel stürzt. Phäethon wurde dann, wohl fälschlicherweise, mit Eosphoros (lat. Lucifer = Lichtbringer), der Personifikation des Morgensterns Venus, identifiziert. Jesaja vergleicht also jenen nichtidentifizierten babylonischen König mit Eosphoros, auf den er die offenbar verfälscht überlieferte Geschichte des Phäethon bezieht. Ein Bezug auf den zu jener Zeit noch nicht etablierten Mythos von der Rebellion des Engels Satan ist jedoch nicht anzunehmen. Im NT, in Lukas 10,18 wird dieses Bild dann aber auf den Satan bezogen: "ER aber sagte zu ihnen: ‘Ich sah den Satan vom Himmel fallen, wie einen Blitz.’" Von Jesaja 14 und Lukas 10 ausgehend, identifizierten dann diverse Kir­ chenväter (Origines, Eusebius, Tertullian, Papst Gregor d. Große u. a.) den Eosphoros-Luzifer-Helal mit dem Satan. Ob dies irrtümlich geschah oder mit apologetischen Hintergedanken, läßt sich nicht mehr klären. Die Komplexität, die das Teufelsbild durch die Gleichsetzung von Satan und Luzifer potentiell erhalten hatte, sollte jedoch für die Geschichte der Satansvorstellungen von entscheidender Bedeutung sein.

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Wandlung der Satansvorstellungen in den apokryphen Schriften - iranischer Dualismus

Es gilt als sicher, daß die Wandlung der hebräischen Satansvorstellung über­ wiegend auf den Einfluß iranischer Vorstellungen zurückzuführen ist. Viele Elemente, die für das neutestamentliche Satansbild wesentlich sind, finden sich bereits in älteren iranischen Lehren, vor allem der zarathustrischen und der zervanistischen. Zarathustra lebte wahrscheinlich im 7. Jahrhundert v. u. Z. (aufgrund der schlechten Quellenlage ist eine sichere Bestimmung der Entstehungszeit je­ doch nicht möglich, einige Forscher bezweifeln sogar die Historizität Zara­ thustras), die ältesten bekannten Dokumente des Zervanismus stammen aus dem 4. Jahrhundert v. u. Z., wobei ein höheres Alter zervanistischer Vorstel­ lungen nicht auszuschließen ist. Gemeinsam ist diesen Lehren, daß der höchste Gott - Ahura Mazda bzw. Zervan - zwei Geister schuf, von denen der eine (Spenta Mainyu bzw. Ohrmuzd) sich in freier Entscheidung für das Gute, das "Licht", der andere (Angra Mainyu bzw. Ahriman) sich für das Böse, die "Finsternis" entschied. Im Rahmen des Kampfes dieser Geister wurden die Welt und der Mensch er­ schaffen und erst am Ende der Zeit wird das Gute schließlich den Sieg über das Böse davontragen. Auch der Mensch ist in diesen Kampf einbezogen und auch er muß sich frei für das eine oder andere entscheiden. Auch tragen Ohrmuzd und Ahriman ihren Kampf im Herzen eines jeden Menschen aus; dies ist eine Vorstellung, die dem AT fremd ist. Und obwohl sich ähnliche Gedanken bereits im NT finden, setzte sich diese Vorstellung erst im Zuge der Aufklärung endgültig in der Theologie und Philosophie des Abendlandes durch. Zwar handelt es sich bei diesen iranischen Lehren nicht um einen reinen Dualismus, da auch Ohrmuzd und Ahriman (bzw. Spenta Mainyu und Angra Mainyu) von einem höchsten Gott geschaffen wurden, doch greift dieser Gott nicht ins Kampfgeschehen ein. Auch wurde Ahura Mazda manchmal mit Spenta Mainyu identifiziert, was dann auf einen reinen Dualismus hinaus­ läuft. Im Zuge dieser Einflüsse änderte sich auch das hebräische Jahwe-Bild, indem sie beispielsweise Probleme, die sich aus einer Entdämonisierung Jahwes ergaben, zu beseitigen halfen. Diese Entdämonisierung Jahwes ist nicht zuletzt auf die Auseinandersetzung mit dem Hellenismus zurückzufüh­ 22

Wandlung der Satansvorstellung in den apokryphen Schriften

ren: Während der Kolonisierung Palästinas nach der Eroberung durch Ale­ xander den Großen wuchs die Bedeutung hellenistischer Bildung. Gerade die gebildeten Schichten der jüdischen Bevölkerung konnten dem oft dunklen und despotischen Jahwe desXT nicht mehr viel abgewinnen. So wurde Jahwe, ebenso wie der iranische Ahriman, im AT noch als Ur­ heber des Todes angesehen. In den apokryphen Schriften wird hier zum Teil bereits der Teufel als Schuldiger ausgemacht. Um vom Jahwe des AT zum barmherzigen Gott des NT zu gelangen, oder auch nur um die Akzeptanz Jahwes innerhalb der jüdischen Religion zu gewährleisten, mußten die negati­ ven Aspekte Jahwes auf Satan übertragen werden, wodurch diesem natürlich auch eine größere Bedeutung beigemessen wurde. Auch die Bedeutung der Freiheit der Wahl, die freie Entscheidung für das Böse, die ja bei der Rebellion Satans eine entscheidende Rolle spielt, ist in den iranischen Religionen bereits vorgezeichnet. Freilich wandelte sich die jüdische Religion nie zu einem echten Dualis­ mus: Satan bleibt immer Geschöpf und kann nur innerhalb der Grenzen agie­ ren, die Gott ihm zugebilligt hat. Und auch für die spätere christliche Reli­ gion, in der Satan eine deutlich größere Macht zugesprochen wird, gilt ähnli­ ches. Die theologischen Probleme, die die Existenz und Macht Satans bei gleichzeitiger uneingeschränkter Allmacht Gottes aufwarfen, sind im Grunde nie wirklich gelöst worden. Ein weiterer Grund für das Auftauchen dualistischer Elemente waren die krisenhaften politischen Entwicklungen während der letzten zwei Jahrhun­ derte v. u. Z., so die restriktive Religionspolitik des griechischen Statthalters Antiochus IV. Epiphanus (175 v. u. Z.) und der Makkabäeraufstand (128 v. u. Z.) mit den nachfolgenden politischen und wirtschaftlichen Wirren. In der Bewegung der "Chassidim" griffen Lehren um sich, die diese weltliche Zerris­ senheit auch in den über- bzw. vor- und nachweltlichen Bereich projizierten. Diese fanden ihren Ausdruck in zahlreichen Pseudoepigraphien (nichtbibli­ sche, apokryphe Schriften), deren bekannteste und für die Neubewertung der Gestalt Satans wesentlichste das Buch Henoch ist. Diese Schrift existiert in einer äthiopischen (ca. 167 v. u. Z.) und einer slawischen (ca. 100 v. bis 100 n. u. Z.) Übersetzung. Beide Übersetzungen ha­ ben wahrscheinlich eine griechische Übersetzung als Vorlage, die ursprüngli­ chen Schriften dürften in Hebräisch oder Aramäisch abgefaßt worden sein. Hier finden sich verschiedene Versionen des Engelsturzes. Ausgangs­ punkt ist dabei der in Genesis 6 beschriebene Frevel der Engel, die sich mit den Menschentöchtern sexuell verbanden und dabei Riesen zeugten. Im sla­ wischen Henochbuch (Kap. 18 und 26) ist es der feurige Engel Satanael, der

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

seinen Thron über den Gottes setzen wollte und hierauf in die Tiefe geworfen wurde. Erstmals wird hier auch erwähnt, daß 200 Myriaden von abtrünnigen Engeln ihrem "Fürsten" Satanael folgten. Solch eine regelrechte Rebellion wider Gott war in der hebräischen Tradition bislang unbekannt und unvor­ stellbar; diese Vorstellung muß auf iranische Einflüsse zurückgeführt werden. Im äthiopischen Henochbuch gelten die Engel Semjasa und Azazel (der bereits im Leviticus erwähnt ist) als Anführer der rebellischen Engel. Weiter heißt es: "Am Tag des großen Gerichts soll er in den Feuerpfuhl geworfen werden" (Kap. 10). Dies ist einer der frühesten Hinweise auf eine feurige "Hölle". ImylT’gilt das Totenreich, die "Sheol", als Schattenreich, wird jedoch nicht näher be­ schrieben. Die Vorstellung einer Hölle findet sich im^4T noch nirgends - Sa­ tan gehört im AT ja noch dem himmlischen Hofstaat an. Als Grund für die Engelrebellion wird im Henochbuch das Machtstreben genannt: Satanael will seinen Thron über dem Gottes errichten - es ist anzunehmen, daß hierbei auch auf Jesaja 14 Bezug genommen wird und der "Helal" bereits mit Satan identifiziert wurde. An dieser Stelle kann und soll nicht näher auf die komplexen religiösen Ent­ wicklungen eingegangen werden, die sich in den letzten zwei bis drei Jahrhun­ derten v. u. Z. innerhalb der hebräischen Religion zugetragen haben. Festzuhalten bleibt, daß sich in dieser Zeit das Bild von Jahwe und Satan aufgrund iranischer Einflüsse und unter dem Druck verbreiteter hellenisti­ scher Ideen entscheidend gewandelt hat. Diese Wandlung ist in den biblischen Schriften nicht dokumentiert - sie ist nur nachvollziehbar, wenn man die in dieser Zeit entstandenen apokryphen Schriften heranzieht.

Satan im Neuen Testament

Im NT ist die Gestalt des Satans seiner endgültigen Ausformung bereits recht nahe gekommen. Er wird wesentlich häufiger erwähnt als im AT, insbeson­ dere in den Apostelbriefen. Er gilt als Versucher (Matth. 4; Mark. 1,13), Feind der Wahrheit (Matth. 13,26; Luk. 8,22; Eph. 6; Thess. 1,2,8; Thess. 2,2,9; Tim. 2,2,26; Petr. 1,5,8), Feind Gottes (Joh. 8,44; Apg. 20), Herr dieser Welt (Joh. 12,31; Kor. 2,4,4; 24

Satan im Neuen Testament

Eph. 2,1; Joh. 1,5,18), und als Verantwortlicher für Sünde und Tod (Joh. 8,44; Joh. 1,3,8; Hebr. 2,14;^4/?g. 5). Immer versucht er den Heilsplan Christi zu verhindern, wobei er sowohl gegen Jesus direkt wie auch gegen seine Lehre intrigiert. Jesu Versuchung in der Wüste ist jedoch die einzige Situation, bei der Satan persönlich auftritt; bei dieser Gelegenheit gibt er sich allerdings als Herr dieser Welt zu erkennen und dies bleibt auch von Seiten Jesu unwidersprochen. An diversen Stellen wird mit solcher Selbstverständlichkeit vom Satan gesprochen, daß davon ausgegangen werden kann, daß entsprechende Satans­ vorstellungen zu dieser Zeit bereits allgemein bekannt und akzeptiert waren. Der Vorwurf an Jesus, daß er den Satan mit dem Beelzebub austreibe (Matth. 12,26 und Mark. 3,22), läßt auf eine bereits ausgearbeitete Dämonologie schließen, obschon die Stellung von Satan als Führer eines riesigen Heeres von Dämonen und gefallenen Engeln hier erst vage angedeutet wird. Ebenso übrigens die Beziehung von Satan, Hölle und Feuer (Matth. 25,41), die im NT mehr angedeutet als festgeschrieben wird. In den Apostelbriefen wird Satan vorwiegend für die diversen "Irrlehren" verantwortlich gemacht, die den ersten Missionaren zu schaffen machten. Ge­ rade gnostische Strömungen innerhalb der ersten christlichen Gemeinden stellten für das frühe Christentum eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar. Bereits zu dieser Zeit spielte die Satansvorstellung eine zentrale Rolle in der apologetischen Auseinandersetzung. Ein theologisch projizierter Satanismus findet sich allerdings noch nicht: Satan mag zwar Irrlehren in die Welt setzen und es mag auch Söhne des Satans geben, die das Böse tun, von einer regel­ rechten Verehrung Satans ist aber noch nicht die Rede. Überhaupt ist die Gestalt des Satans im NT nicht voll durchgezeichnet: Satan gilt zwar als Feind Gottes und als Feind der Wahrheit, wird aber näher nicht beschrieben. Weder ist von seiner äußeren Gestalt die Rede (selbst nicht, als er Jesus in der Wüste erscheint) noch von seiner Seinsweise oder seiner Stellung in der Welt. Eigentlich ist er nur vom Ankläger der Menschen zum Widersacher Gottes geworden. Doch wie es dazu kam wird nicht erläu­ tert. Der Mythos der Engelsrevolte, der bereits im Buch Henoch erzählt wird, wird im NT nicht aufgegriffen. In Lukas 10 wird lediglich auf Jesaja Bezug ge­ nommen: "Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz." Eine Gleichsetzung mit Eosphoros/Luzifer fand aber auch im NT nicht statt. Auch die Identifizierung der Paradiesschlange mit dem Satan geschieht erst in der Johannesapokalypse, einer relativ späten Schrift, der starke gnostische Ein­ flüsse eignen.

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

In der Johannesapokalypse wird die Gestalt des Satans erstmals beschrie­ ben, und zwar als die eines Drachen- bzw. einer Schlange; doch dürfte es sich hierbei eher um den Rückgriff auf alte mythische Bilder handeln als um theologisch begründete Charakterisierungen. Der in der Apokalypse be­ schriebene Endkampf zwischen Gott und Satan erinnert wiederum an irani­ sche Vorstellungen. Die wiederholte Titulierung Satans als "Fürst dieser Welt" (besonders bei Paulus), mutet ausgesprochen gnostisch an. Im Gegensatz zu den gnostischen Systemen wird im NT jedoch nicht berichtet, wie Satan zu dieser Ehre kam. Es ist wohl anzunehmen, daß dieser Gedanke entweder frühgnostischen oder iranischen Lehren entnommen wurde.

Insgesamt kann gesagt werden, daß sich Satan im NT als Gegenspieler Gottes etabliert hat. Er ist nicht mehr Teil von Gottes Hofstaat und in seinem Han­ deln durchaus eigenmächtig. Im ganzen ist seine Charakterisierung aber noch recht vage. Auch wird seine eigentliche Macht nicht klar definiert. So wird er zwar für Tod, Sünde und Irrlehren verantwortlich gemacht, doch ist diese Ein­ schätzung nicht durchgängig. Es heißt auch, daß Tod und Sünde durch einen Menschen in die Welt kamen (Römer 5,12 und Kor. 1,15,26) und selbst in be­ zug auf Irrlehren ist nicht immer vom Satan die Rede (Petr. 2). Dennoch wird er im NT so oft und eindeutig erwähnt, daß spätere Theologen reichlich Ma­ terial fanden, als sie darangingen, das Problem des Bösen in einer von einem guten Gott geschaffenen Welt zu erklären.

Das Satansbild der Kirchenväter

In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wurde das Satansbild von den Kirchenvätern beständig weiterentwickelt, ohne daß die Konzeption, die sich im NT findet, grundlegend verändert wurde. Die Bedeutung, die man Sa­ tan innerhalb der christlichen Theologie beimaß, wuchs jedoch beständig. Vor allem Irenäus tat sich hier hervor - möglicherweise weil er als Apologet in be­ sonderem Maße mit Häresien befaßt war, die ja seit Paulus in den Zuständig­ keitsbereich Satans fielen. Im allgemeinen sah man im Neid des Satans auf den Menschen die Ursa­ che seiner Rebellion. Justinus (2. Jahrhundert), Irenäus (2. Jahrhundert), Ter26

Das Satansbild der Kirchenväter

tullian (2./3. Jahrhundert), Cyprian (3. Jahrhundert) und die meisten anderen frühen Theologen vertraten diese Ansicht. Lediglich Origines sah den Grund im Stolz Satans. Diese Sicht wurde zunächst nur von wenigen anderen über­ nommen, so vom spanischen Dichter Prudentius (4./5. Jahrhundert), nach dessen Version sich Satan vor den anderen Engeln brüstete, er hätte die Welt erschaffen, ohne dies selbst zu glauben. Origines war der erste, der den gefallenen "Morgenstern" aus Jesaja 14 ausdrücklich mit Luzifer und diesen mit Satan identifizierte. Tertullian, Cy­ prian und der hl. Ambrosius schlossen sich dem an, während andere, wie Hie­ ronymus, Cyrillus v. Alexandria und Eusebius Jesaja 14 weiterhin auf den letz­ ten König Babylons bezogen, aber darin durchaus auch einen Hinweis auf den Sturz Satans erblickten. Am entscheidendsten aber prägte Augustinus das frühchristliche Satans­ verständnis: Als ehemaliger Gnostiker entwarf ein stark dualistisch geprägtes Weltbild, in dem das Reich Gottes (civitas Dei) dem Reich Satans (civitas diaboli) feindlich gegenüberstand. Er sah Satan, ganz im Sinne der Gnosis und auch im Sinne Paulus - als den Herrn dieser Welt und stellte den Kampf gegen Satan und sein Dämonenheer in den Mittelpunkt der christlichen Lehre. Dies schloß auch den Kampf gegen die "heidnischen" Magier, die als Erfüllungsgehilfen Satan gesehen wurden, mit ein. Bereits im 4. Jahrhundert wurden sogenannte Zauberer bei lebendigem Leibe verbrannt (unter dem er­ sten christlichen römischen Kaiser Konstantin) und ihr Besitz wurde konfis­ ziert. Eine Praxis, die die Kirche lange beibehalten sollte. Auch begann man die alten griechischen und römischen Götter als Dä­ monen zu betrachten und sie in das Heer Satans einzugliedern. So kristalli­ sierte sich allmählich die bocksbeinige, gehörnte Gestalt des lange Zeit ge­ staltlosen Satans heraus. Daß diese ganz offensichtlich die Gestalt des Gottes Pan zum Vorbild hatte, ist kein Zufall: Schon im Frühchristentum wurde das Sexuelle dämonisiert, was vornehmlich auf gnostische Einflüsse zurückzufüh­ ren ist. Eine vergleichbar radikale Dämonisierung des Sexuellen an sich ist weder im AT noch in den Evangelien zu finden. Nicht nur die Übertretung se­ xueller Regeln und Tabus wurde nun als sündhaft gebrandmarkt, sondern der gesamte Bereich des Sexuellen wurde dem Satan unterstellt. Von daher waren jene der alten Götter, die mit Sexualität und Fruchtbarkeit in Verbindung standen, der Dämonisierung natürlich in besonderem Maße ausgesetzt. Der bocksbeinige, gehörnte und triebhafte Gott Pan gab da ein treffli­ ches Vorbild für die Gestalt Satans ab: war doch der Bock seit jeher ein Se­ xual- und Fruchtbarkeitssymbol - in früheren Zeiten jedoch meist im positiven Sinne, denn je potenter der Bock desto größer die Herde. Zudem standen die

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

gehörnten Gottheiten meist in Beziehung zur männlichen Potenz und Le­ benskraft (so der keltische Gott Cernounus, den ein Hirschgeweih schmückte, was dessen "Verteufelung" jedoch keinen Abbruch tat). Die Grundzüge der christlichen Dämonologie waren bereits im 3. Jahr­ hundert formuliert. Zumindest die machtvollsten Dämonen wurden als gefal­ lene Engel betrachtet, die sich aufgrund ihrer Fleischeslust mit Menschen­ frauen verbunden hatten (siehe Genesis 3 und Henoch) und deshalb unwürdig waren, weiterhin in der Nähe Gottes zu weilen. Gegen ihre mannigfaltigen Versuchungen war nur der gläubige Christ durch die Kraft seines Glaubens und die Macht der Sakramente geschützt. Doch auch diesen bedrängten die Dämonen durch äußerliche Unbill, wie Seuchen, Unwetter, Mißernten usw. Zauberer, mehr noch Zauberinnen, wurden schon sehr früh als Verbündete der Dämonen angesehen. Satan selbst wurde übereinstimmend als der Fürst dieses Dämonenhee­ res gefürchtet, der Gott und seinen Engeln gegenüberstand. Wenn auch kein christlicher Theologe einen regelrechten Dualismus vertrat, eigneten bereits der frühchristlichen Theologie stark dualistische Züge. Ein theologisch proji­ zierter Satanismus entwickelte sich jedoch im großen Stil erst im Mittelalter. Zwar wurden konkurrierende (vor allem gnostische) Kulte durchaus als sata­ nisch aufgefaßt, der Vorwurf einer regelrechten Anbetung des Satans wurde aber noch nicht erhoben.

Die Gnosis

Unter dem Oberbegriff "Gnosis" (griech. = Erkenntnis), korrekter des "Gno­ stizismus", ist eine Vielzahl von religiösen Gruppen zusammengefaßt, die sich in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung im gesamtem Mittel­ meerraum ausbreiteten. Zeitweise stellten sie eine ernstzunehmende Bedro­ hung für die junge christliche Kirche dar und wurden folglich von deren Apologeten aufs schärfste bekämpft (u. a. tat sich der oben erwähnte Irenäus darin hervor). Der stark gnostisch geprägte Manichäismus brachte es sogar zeitweise bis zur Weltreligion - sein Ausbreitungsgebiet erstreckte sich von China bis nach Spanien.

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Die Gnosis

Nachdem das Christentum sich als römische Staatsreligion etabliert hatte, wurde der Gnostizismus zwar zerschlagen, viele seiner Inhalte existier­ ten aber im religiösen Untergrund weiter und wirken bis in die Gegenwart nach. Doch übernahm des Christentum wesentliche Ideen des Gnostizismus, dies war wohl der Preis, der für seine Überwindung zu zahlen war. Besonders durch Augustinus, der ja selbst eine gnostische Vergangenheit hatte, fand gnostisches Gedankengut Eingang in die christliche Dogmatik. Natürlich ist in diesem Zusammenhang noch das Johannesevangelium zu nennen, in dem gno­ stische Einflüsse unübersehbar vorhanden sind. Gemeinhin werden die Gnostiker als die Stammväter der Satanisten an­ gesehen, und es gibt kaum ein Werk über den Satanismus, in dem gnostische Kulte und Lehren nicht eine herausragende Stellung einnehmen; Frick und Zacharias tun sich hier besonders hervor, aber auch spätere Vertreter eines expliziten Satanismus berufen sich nicht selten auf eben jene Gnostiker. Na­ türlich steht auch der "Sektenexperte" F. W. Haack hier nicht abseits: "In der sogenannten Gnosis, jener sektiererischen Bewegung im zweiten und dritten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, gibt es unzählige Spekulationen über die­ sen gefallenen Engelsfürsten, der häufig Luzifer genannt wird."7 Zweifellos ist der Gnostizismus von entscheidender Bedeutung für den gesamten religiösen Untergrund des Abendlandes und somit auch für den Sa­ tanismus. Einen Haken hat die Sache allerdings: Die Gnostiker waren keine Satanisten, weder Satan noch Luzifer werden in ihren Schriften sonderlich oft erwähnt - es gibt keine "unzähligen Spekulationen". Und selbst dort, wo Satan ab und an mal erwähnt wird, wird er meist negativ bewertet. Von einer Anbe­ tung Satans keine Spur, obschon die oft radikalen Verdrehungen christlicher Exegese eine solche Möglichkeit theoretisch zulassen würden. Doch die Be­ ziehungen sind hier viel indirekter als gemeinhin dargestellt wird. Die oft plumpe Deutung der von christlichen Apologeten beschriebenen gnostischen Kulte als Urbilder der satanistischen "schwarzen Messen", die selbst wiederum meist nur in der Phantasie christlicher Inquisitoren stattfanden, wird den tatsächlichen Sachverhalten in keiner Weise gerecht (besonders Zacharias be­ fleißigt sich dieser Fehldeutung). Was ist nun das Wesen dieser gnostischen Kulte? Bei aller Vielgestaltigkeit kann das Weltverständnis der Gnosis, grob vereinfacht, so beschrieben wer­ den:

Gemeinsam ist all diesen Lehren ein "antikosmischer Dualismus", das heißt die Welt wird durchweg negativ beurteilt, sie ist ein Ort voller Unreinheit, Unwissenheit und voller Zwänge und Einschränkungen. Der Mensch oder, 29

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

genauer gesagt, der göttliche Lichtfunke im Menschen ist in einer feindlichen Welt gefangen. Auch der Schöpfer dieser Welt wird als unwissend und/oder böse beschrieben. Jenseits der Welt existiert ein Lichtreich, das Pieroma, und ein transzendenter, guter Gott, der die Welt nicht geschaffen hat und für de­ ren Existenz nicht verantwortlich ist. Die Schöpfung der Welt wird in den gnostischen Mythen entweder als Unfall oder als bewußte Schöpfung eines unwissenden Demiurgen beschrieben. In dieser Welt sind jedoch göttliche Lichtfunken gefangen, und Ziel der Gnosis ist es, diese Funken aus der Ge­ fangenschaft zu befreien und so letztlich das Ende dieser unreinen Welt her­ beizuführen. Die Gefangenschaft ist aber eine zweifache: nicht nur ist der Mensch in der Welt gefangen, auch der Lichtfunke ist im Menschen gefangen, der bis auf eben jenen Funken Teil der Schöpfung und somit unrein ist. Die Befreiung geschieht dabei hauptsächlich mittels "Erkenntnis" (Gnosis), alles andere, zum Beispiel die rechte Lebensführung, ist nur Folge ebendieser Er­ kenntnis. Die frühesten gnostischen Lehren finden sich im jüdischen Umfeld und dürften ebenso von iranischen Einflüssen wie von iranisch beeinflußten jüdi­ schen Schriften (Apokalypsen, Weisheitsbüchern, Buch Henoch usw.) geprägt sein. Auf die sozialen Ursachen, die eine solch radikal weltverneinende An­ schauung mitbedingt haben, kann hier nicht näher eingegangen werden.8 Charakteristisch für alle gnostischen Systeme ist ihr stark synkretistischer Ansatz. Sie bedienen sich biblischer Mythen wie hellenistischer Terminologie, um ihre Sicht der Welt darzulegen. Viele der gnostischen Gruppen verstan­ den sich selbst durchaus als christlich und nicht einmal zu Unrecht - denn ein verbindlicher christlicher Schriftenkanon wurde erst als Reaktion auf die "gnostische Bedrohung" zusammengestellt. Und während der alttestamentari­ sche Jahwe, hier oft Jaldabaot genannt, häufig mit dem bösen Demiurgen gleichgesetzt wurde und "satanische" Züge annahm, wurde Jesus bzw. Christus als Abgesandter des transzendenten Gottes und als Erlöser verehrt - eine Ehre, die Satan auch bei den Gnostikern nirgends zuteil wurde. Richtig ist allerdings, daß die biblischen Schriften durch die gnostische Exegese oftmals radikal umgewertet wurden - man kann hier von einer Exegese "gegen den Strich" sprechen. So wurde vor allem die Paradies­ schlange der Genesis durchaus positiv bewertet, nämlich als ein Bote der hö­ heren Welt, direkt oder indirekt vom guten Gott gesandt, der den Menschen die Erkenntnis bringt, um sie aus den Fängen des Demiurgen oder der Ar­ chonten (Wächter und Gehilfen des Demiurgen) zu befreien. Der Demiurg oder die Archonten hatten Adam und Eva die Frucht vom Baum der Er­ kenntnis verboten (der selbst bisweilen als Gestalt der Sophia, "Weisheit", ge-

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Die Gnosis

sehen wurde), aus Angst, sie könnten ihre Überlegenheit erkennen und so der Versklavung entkommen (siehe etwa "Schrift ohne Titel", Nag Hammadi Co­ dex II u. a.). Die gnostischen Lehren konnten als praktische Konsequenz entweder eine extrem asketische oder aber eine libertinistische Lebensweise zur Folge haben. Im Zusammenhang mit dem Satanismus interessierte natürlich vor al­ lem die sogenannte libertinistische Gnosis. Hierzu ist zu sagen, daß diese Hal­ tung durch keinerlei Primärtexte belegt ist; auch in den neuen Funden bei Nag Hammadi fand sich kein entsprechendes Material. Lehre und Kult der libertinistischen Gnosis ist uns ausschließlich aus den Berichten ihrer Gegner oder abtrünniger Mitglieder bekannt. Daß derartiges Material nicht gerade zuverlässig ist und man immer mit Übertreibungen oder auch mit böswilligen Unterstellungen zu rechnen hat, versteht sich von selbst. Andererseits wäre es allerdings nur allzu verständlich, wenn Gruppen, die sich in einer Weise vom sozialen Konsens lossagten, wie dies die libertinistischen Gnostiker anschei­ nend getan haben, ihre Kulte geheim hielten. So kann wohl an der Existenz einer libertinistischen Gnosis nicht gezweifelt werden (vor allem, da sich diese aus der allgemeinen Weltauffassung der Gnosis problemlos ableiten läßt), nur sollten die Berichte der Apologeten über deren exzessive Orgien nicht allzu wörtlich genommen werden. Vor allem weil selbst christliche Apologeten, wie Irenäus, zweifelten, ob die Gnostiker ihre libertinistische Theorie tatsächlich immer in die Praxis umsetzten. Als Hauptvertreter der libertinistischen Gnosis gelten vor allem die Simonianer und die Karpokratianer sowie die Gruppe der sogenannten Barbelo-Gnostiker. Die libertinistische Theorie dürfte sich vor allem aus der Ablehnung des alttestamentarischen Gesetzes hergeleitet haben; so wurde der Dekalog ge­ meinhin als Werk der weltschöpferischen Engel gesehen. Ihn zu befolgen hieß demnach, sich in die schlechte Schöpfung einzufügen. Der Verstoß gegen die Gesetze bedeutete andererseits, gegen den Demiurgen zu rebellieren. Auch fühlte sich der "Pneumatiker" (das heißt der, der den göttlichen Lichtfunken in sich trägt) frei von jedem weltlichen Gesetz. Diese Freiheit konnte im Ver­ stoß gegen die Gesetze verwirklicht werden. Dem lag eine elitäre Haltung zu­ grunde: Der Pneumatiker fühlte sich den übrigen Menschen eben durch den Anteil am Überweltlichen, den er in sich trug, überlegen. Die Erlösung er­ hoffte man sich darüber hinaus nicht aufgrund guter Werke, sondern allein durch die Erkenntnis seiner eigenen Göttlichkeit. Daneben wurden u. a. den Karpokratianern und den sogenannten Kainiten Überlegungen zugeschrieben, die besagen, daß nur der völlige Freiheit

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

erlangen könne, der jede nur mögliche Erfahrung durchlebt habe. Der Licht­ funke aber, der nicht von dieser Welt sei, könne durch weltliche Handlungen nicht beschmutzt werden. Zu den Kulthandlungen dieser libertinistischen Gnostiker äußerte sich der christliche Häresiologe Epiphanius in folgender Weise: Zunächst lassen sich die Männer und Frauen zu einen üppigen Mal nieder, essen Fleisch und trinken Wein in reichlichen Mengen, dem schließt sich dann eine sexuelle Orgie an. Nach der Vermischung in buhlerischer Leidenschaft lästern sie außerdem noch den Himmel, indem nämlich Mann und Frau den männlichen Ausfluß in ihre Hände nehmen, hintreten, zum Himmel aufblicken, und die Unreinheit auf ih­ ren Händen tragend, beten sie offenbar [...]: ‘Wir bringen dir diese Gabe dar, den Leib Christus.’ Und so essen sie es, indem sie an ihrer eigenen Schande teilhaben, und sprechen: ‘Dies ist der Leib Christi und das ist das Opferlamm, um dessen willen unsere Leiber leiden und gezwungen werden, das Leiden des Christus zu bekennen.’ Gleicherweise verfahren sie mit dem, was von der Frau kommt, wenn sie ihre Regel hat. [...] Zeugung von Kindern wird vermieden. Kommt es doch zu einer Schwangerschaft, so wird das Kind gewaltsam beseitigt und [...] in zerstoßener und zubereiteter Form verzehrt.9

Während die Ablehnung jeglicher Zeugung als fester Bestandteil der gnosti­ schen Lehren gelten kann (die Manichäer hatten einige Probleme, die Fort­ pflanzung zu rechtfertigen, die notwendig war, wollte der Manichäismus als Weltreligion Bestand haben), handelt es sich beim Vorwurf der Kindestötung mit anschließendem Kannibalismus sicherlich um böswillige Verleumdung. Ähnliche Vorwürfe wurden ja auch gegen die ersten Christen erhoben und später auch gegen die sogenannten Hexen sowie gegen die Juden. Ein Stan­ dardvorwurf, der seit jeher (und bis in die Gegenwart hinein) gegen mißlie­ bige religiöse Minderheiten vorgebracht wird.

Es kann also zweifellos gesagt werden, daß sich in den gnostischen Lehren und Mythen so manches findet, was zu einen Satanismus führen könnte, und diverse spätere satanistische Lehren haben auf diese Gedankengänge auch durchaus Bezug genommen; allerdings wurden von den Gnostikern selbst sol­ che Konsequenzen nicht gezogen und dies wurde ihnen auch von kirchen­ christlicher Seite nicht vorgeworfen. Tatsächlich spielt Satan in den gnosti­ schen Lehren keine Rolle, ja in den meisten Systemen wird er nicht einmal erwähnt.

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Jüdische Dämonenlehren

Intensiver setzten sich dagegen einige gnostisch beeinflußte christliche Theologen, wie Augustinus und vor allem Origines (der auf dem 5. ökumeni­ schen Konzil, 553 n. u. Z., posthum zum Ketzer erklärt wurde) mit Satan aus­ einander. Nach Origines wird Satan dereinst nach dem jüngsten Gericht wie­ der geläutert in Gottes Herrlichkeit aufgenommen werden. Nachdem aber die Engel auf ewig ihre Freiheit behalten, wird es früher oder später neuerlich zum "Fall" kommen, und alles wird wieder von vorne beginnen. In solcher Konsequenz wurde das christliche Problem der Freiheit und des Bösen selten durchdacht. Auch die Pseudo-Clementinen (synkretistische Judenchristen) und die ostsyrischen Euchiten hingen der "Apokatasis-Lehre" (die letztliche Wieder­ aufnahme aller gefallenen Engel und Sünder in den Himmel, nachdem diese sich schließlich geläutert haben) an und glaubten, daß die beiden Gottes­ söhne, der ältere Satanael und der jüngere Logos-Christus, sich schließlich wieder versöhnen würden. Diese Lehren wurden aber im 6. Jahrhundert von Seiten der Kirche end­ gültig zurückgewiesen und als häretisch eingestuft. Eine Versöhnung von Gott und Satan oder auch nur eine Läuterung des Satans stand seither innerhalb der christlichen Theologie nicht mehr zur Debatte.

Jüdische Dämonenlehren

Auch innerhalb des Judentums wurde die Dämonenlehre seit den ersten Jahrhunderten n. u. Z. beständig ausgebaut, sowohl auf mythologischer wie auch auf theosophischer Grundlage. Im Talmud ist von einer ungeheuren Zahl von Dämonen die Rede; es handelt sich hierbei vorwiegend um die Mazzikin und die bereits im AT er­ wähnten Schedim. Dies sind jedoch in erster Linie Schadensdämonen, die nun aber nicht mehr nur für Krankheit und anderes Unglück verantwortlich sind, sondern den Menschen auch zur Sünde verführen. Sie stehen bereits unter dem Befehl Satans (oder Samaels, wie ein im Talmud übliches Synonym Satans lautet). In den mythologischen Erzählungen des Talmud (Agadd) spielt das Paar Lilith-Samael eine herausragende Rolle: Lilith, ursprünglich ein babyloni­ scher weiblicher Dämon, wird hier als die erster Frau Adams gesehen. Da sie 33

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

aber charakterlich ungeeignet war, wurde sie verstoßen, und nun wurde Eva sicherheitshalber aus der Rippe Adams geformt. Die dunkle Lilith verband sich dann mit dem abtrünnigen Engel Samael, und aus dieser Verbindung ging ein ganzes Geschlecht von Dämonen hervor. Samael soll es dann auch gewesen sein, der Eva zur Sünde verführte. Es handelt sich hier also um jene Mischung von alttestamentarischen Lehren, synkretistischen Bezugnahmen auf Mythologien benachbarter Völker und Elementen des Volksglaubens, die für die jüdische (und in gewissem Maße auch für die christliche) Dämonenlehre charakteristisch war. In den späteren kabbalistischen Spekulationen wurde diese Dämonenlehre dann zum Teil in einen theosophischen Rahmen eingebettet. Seit dem Buch Bahir, das im 12. Jahrhundert in der Provence entstand, wird das Dämonische bzw. Satan als linke Seite oder auch linke Hand Gottes gesehen (bereits bei den Pseudo-Clementinen im 2. Jahrhundert wurde Satan als linke und Christus als rechte Seite einer göttlichen Paarverbindung - Szyzygie - betrachtet); auch der linken Säule des kabbalistischen Lebensbaumes haftet seit jeher etwas Dämonisches an. Die weitgehend monistisch ausgerich­ teten kabbalistischen Spekulationen sahen so den Satan meist nicht als autarke Persönlichkeit, sondern als Teil Gottes.

Daß es entweder die linke Seite oder aber der Norden Gottes war, ist von den religionsphänomenologischen Parallelen her recht interessant: So wird die "linke Hand" auch in einigen anderen Traditionen, wie im Tantrismus, mit dämonischen oder schwarzmagischen Praktiken in Zusam­ menhang gebracht; und nicht nur der Samael/Satan der jüdischen Legenden und Geheimlehren, sondern auch Eosphoros/Luzifer wurde mit dem Nord­ wind identifiziert. Die diesbezüglichen Zusammenhänge sind jedoch noch nicht hinreichend geklärt und können an dieser Stelle auch nicht weiterge­ hend erörtert werden. In manchen späteren satanistischen Lehren wurde die Beziehung des Satans zum Norden wieder aufgegriffen, insgesamt gesehen beeinflußte sie das Satansbild jedoch nicht wesentlich. Die besondere Affinität des Satans zum weiblichen Geschlecht wurde auch in den talmudischen Schriften immer wieder erwähnt und bereits in den ersten Jahrhunderten n. u. Z. waren Hinrichtungen von Zauberinnen inner­ halb von jüdischen Gemeinden nichts Außergewöhnliches (siehe Mischna Sanhedrin, 45 b). Nach Simon ben Jochai (ca. 150 n. u. Z.) hätten die Zaube­ rinnen unter den Juden derart zugenommen, daß sogar die frömmste der Frauen eine Zauberin sei. Man sieht also, daß die spätere christliche ''Hexenverfolgung" nur der Höhepunkt einer langen Tradition war.

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Jüdische Dämonenlehren

Auch die Lehre von der Besessenheit durch männliche oder weibliche Buhlteufel (Incubi und Succubi) findet sich bereits im Talmud und auch in den frühen christlichen Lehren der ersten Jahrhunderte. Neben dem rein theologischen Satanismus fand die in praktisch allen religiösen Strömungen des Mittelmeerraumes ausgearbeitete Engels- und Dämonenlehre jedoch auch Verwendung in der Zauberei und Magie. Innerhalb der jüdischen Kab­ bala wurden diese Praktiken mit dem Begriff "praktische Kabbala" belegt. Diese praktische Kabbala unterteilte sich in die weiße Magie, mittels derer Engel und lichte Kräfte beschworen wurden und schwarze Magie, die sich der Dämonen oder der dämonischen Teile Gottes bediente. Diese Art der Magie war durch und durch synkretistisch - ihre Wurzeln liegen im Neuplatonismus, der hellenistischen Hermetik, der jüdischen und christlichen Engels- und Dämonenlehre, den chaldäischen Geheimlehren u. v. a. So finden sich in all diesen Traditionen Zuordnungen, in denen jedem der sieben alten Planeten "Intelligenzen" und "Dämonen" zugeteilt werden, die für weiß- oder schwarzmagische Zwecke beschworen werden konnten. Die prakti­ sche Kabbala ist dabei für den gesamten abendländischen Okkultismus von besonderer Bedeutung, da dort viele Lehren bewahrt wurden, die innerhalb des Christentums während des Mittelalters weitgehend ausgerottet wurden. So eigneten sich die Renaissance-Okkultisten neben den wiederentdeckten neuplatonischen Lehren vor allem das kabbalistische Wissen an. Bei dieser Form der Zauberei handelt es sich jedoch nicht um eine reine Form des Satanismus: Weder wurde Satan verehrt noch bezog man sich vor­ wiegend auf ihn. In der Regel beschwor man nur Dämonen geringeren Ran­ ges, um daraus einen konkreten praktischen Nutzen zu ziehen. Auch ist es aufgrund des mangelhaften historischen Materials nicht möglich, die Existenz "reiner" Schwarzmagier nachzuweisen, obschon es natürlich Beschuldigungen zuhauf gab. Eher ist anzunehmen, daß, je nach dem Zweck einer Beschwö­ rung, der Zauberer sich sowohl der Engel wie auch der Dämonen bediente. Man könnte hier also allenfalls von einem synkretistisch gebrochenen Sata­ nismus sprechen; da man aber im Rahmen der Kabbala - auch der prakti­ schen Kabbala - generell kaum von Satanismus sprechen kann (ein Satan im christlichen Sinne wurde hier nie kreiert), sollte man auch dies besser unter­ lassen.

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Spätgnostische Lehren

Waren die gnostischen Lehren im Machtbereich der römisch-katholischen Kirche ab dem 5. Jahrhundert weitgehend ausgerottet, so bestanden sie in By­ zanz und in der islamischen Welt noch weiter. Der Manichäismus bis ins 13. Jahrhundert hinein und Reste des Mandäismus existieren noch heute, ebenso wie die Yezidische Religion, die ebenfalls gnostische Elemente enthält. Auch in manchen islamischen Sekten, wie bei den Ismaeliten, konnte gnostisches Gedankengut überdauern. Im Mittelalter drangen neugnostische Lehren dann, von Byzanz ausge­ hend, wieder bis nach Mittel- und Westeuropa vor. Diese Lehren waren äußerst vielgestaltig, und ihre zahlreichen Erschei­ nungsformen sollen an dieser Stelle nicht ausführlich abgehandelt werden, da sich eindeutig Satanistische unter ihnen nicht finden. Die beiden wichtigsten neugnostischen Religionen des Mittelalters waren die der Bogomilen und der Katharer. Die bogomilische Religion wurde von dem bulgarischen Dorfpfarrer Bogomil begründet, der seine Lehren ab ca. 930 verbreitete. Seiner Lehre gemäß wurde die Welt von Satan, der der Sohn Gottes und Bruder Christi war, ge­ schaffen. Satan wurde hier, ganz in gnostischer Manier, mit dem alttestamen­ tarischen Jahwe identifiziert und demgemäß wurde das mosaische Gesetz wie auch alle Sakramente, Zeremonien und Ikonen der Ostkirche als satanisch abgelehnt. Stattdessen predigte Bogomil Armut, Buße und Demut; als einzig heilbringendes Gebet erkannte er das Vaterunser an, das Tag und Nacht ge­ betet werden sollte. Zunächst fand Bogomil vor allem unter der Landbevölke­ rung seine Anhänger, was auf den stark gesellschaftskritischen Charakter sei­ ner Lehre zurückzuführen sein dürfte. Die christliche Kirche, längst etabliert und in der Wahl der Mittel, ihren Reichtum zu mehren, nicht eben skrupulös, hatte an Überzeugungskraft doch einiges verloren. Später etablierte sich die bogomilische Religion auch in Konstantinopel (wo ihre Theologie mittels Rückgriff auf apokryphe und gnostische Texte wei­ terentwickelt wurde) und wurde im 13. Jahrhundert vorübergehend Staatsre­ ligion in Bosnien. Nach der ottomanischen Besetzung Bulgariens und Bos­ niens traten die meisten Bogomilen hier zum Islam über. Ab dem 11. Jahrhundert entwickelten die Bogomilen eine rege Missi­ onstätigkeit, die vor allem in Italien erfolgreich war. Von dort drangen ent­ sprechende Ideen bis nach Frankreich und in geringerem Maße auch bis nach

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Spätgnostische Lehren

Deutschland vor. In Orleans, wo bogomilische Missionare besonders erfolg­ reich waren, wurden im Jahre 1022 einige Bogomilen als erste Häretiker in Westeuropa auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Von den zahlreichen französischen Neugnostikern sind vor allem die Ka­ tharer ("Reinen"), die auch "Albigenser" genannt wurden, hervorzuheben. Sie waren im südfranzösischen Languedoc angesiedelt und es existierten drei katharische Kirchen in Carcassonne, Toulouse und Albi, die auch den Schutz der örtlichen Feudalherren genossen. Diese erste und einzige nichtchristliche Religion, die einen ganzen Landstrich mitten im katholischen Westeuropa beherrschte, konnte natürlich von Rom nicht toleriert werden. Zunächst wurde der Dominikanerorden begründet, dessen Hauptdaseinszweck anfangs die Bekämpfung der Katharer war. Späterhin waren es ebendiese Dominika­ ner, die das Geschäft der Inquisition in ihre Hände nahmen. Auch die Inquisi­ tion wurde unter dem Eindruck der so erfolgreichen katharischen "Häresie" ins Leben gerufen. Nun, nachdem die Dominikaner mit friedlichen Mitteln keinerlei Erfolge erzielen konnten, organisierte Papst Innozenz III. im Jahre 1207 den ersten Kreuzzug wider die Katharer. Ihm sollten noch weitere fol­ gen, und erst 1330 waren die Katharer nach erbitterten Kämpfen endgültig besiegt. Daß dies keine reinen Religionskriege waren, versteht sich von selbst - wann hätte es die schon jemals gegeben? Es waren auch Kriege gegen die Grafen des Languedoc (auch der König von Aragon kämpfte zeitweise an der Seite der Katharer, während u. a. der Herzog von Burgund wider diese zu Felde zog, da der Papst deren Ländereien als Beute in Aussicht stellte), letzt­ lich ging es um die Machtverteilung zwischen Kirche und Feudalherren. Doch dies soll hier nicht näher ausgeführt werden. Die katharische Lehre weist starke Parallelen mit dem Manichäismus auf. Sie geht von einem reinen Dualismus von Gott und Satan aus, wonach Satan die Welt schuf, um den Geist in der Materie gefangenzuhalten. Als Domizil Satans wird nicht, wie im mittelalterlichen Christentum, die Hölle angesehen, sondern die Welt, die Satan schuf, ist auch sein Reich. Letztlich kann Erlösung nach dem katharischen Glauben nur erreicht werden, wenn die Menschen diese Welt verlassen. Dies kann durch Selbstmord oder häufiger dadurch geschehen, daß es die Menschen unterlassen, sich weiterhin fortzu­ pflanzen, um so der Gefangenschaft in der Materie zu entrinnen. Die kathari­ sche Gemeinde bestand aus den "Perfecti" ("Vollendeten"), die in strengster Askese zu leben hatten, und der Mehrzahl der gewöhnlichen Gemeindemit­ glieder. Für letztere bestand die Möglichkeit, auf dem Sterbebett das "Consolamentum" (Taufe durch Handauflegen) durch einen Perfecti zu erhal-

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

ten, wodurch die Vergebung aller Sünden und die endgültige Erlösung erlangt wurde. Faktisch erlaubte dies den Mitgliedern der Gemeinde ein recht freizügi­ ges Leben, da ihre Erlösung allemal gesichert war. So war das Sexualleben relativ frei von formalen Einschränkungen. Da das Sexuelle insgesamt als sa­ tanisch aufgefaßt wurde, konnte es folgerichtig kein Sakrament der Ehe ge­ ben, das die Sexualität ja letztlich aufgewertet hätte. Da auch Fortpflanzung als nicht erstrebenswert galt, konnte einem solchen Sakrament kein Platz in der katharischen Religion zugebilligt werden. Völlige Enthaltsamkeit war je­ doch nur für die Perfecti absolute Pflicht, so daß die Gemeinde in sexueller Hinsicht keinerlei Beschränkungen unterworfen war. Hierin standen die Ka­ tharer in der Tradition der gnostischen Erlösungslehren, die allgemein besa­ gen, daß der Mensch nicht durch gute Werke und Gesetzestreue erlöst wird. Es ist dies ein durchgehendes Charakteristikum aller gnostischen Lehren, daß die radikale Ablehnung der Schöpfung und der weit- und gesellschaftser­ haltenden religiösen Gesetze sowohl eine asketische wie auch eine libertinistische Haltung zur Folge haben können - so unterschiedlich das daraus resultie­ rende Verhalten auch sein mag, es liegt diesem doch dasselbe Weltverständ­ nis zugrunde. Es bleibt anzumerken, daß es zu dieser Zeit keineswegs einer derartigen Lehre bedurfte, um trotz allen christlichen Gebots der Fleischeslust zu frönen. Auch innerhalb der christlichen Welt und insbesondere innerhalb des Klerus herrschte damals eine lockere Lebensart - ohne daß dies durch die Religion gerechtfertigt war. Im Gegenteil, viele dieser neugnostischen Bewegungen verdankten ihren zum Teil starken Zulauf der Abscheu vor der "verrotteten Moral" des christlichen Klerus. Im ganzen kann man die neugnostischen Religionen nicht als satanistisch bezeichnen - fast überall findet man die Gleichsetzung von Satan und Jahwe und eben dieser Schöpfergott wird als Feind und Gegner betrachtet. Die Satanslehre unterscheidet sich zwar von der christlichen, aber es ist doch nur eine theologische Satanslehre, kein Satanismus. So wurden in den neugnosti­ schen Bewegungen dem Satan zwar Eigenschaften zugeschrieben, die das Christentum Gott zuschrieb, da diese Eigenschaften aber von den Gnostikern negativ bewertet wurden, kann von einer Verehrung Satans nicht die Rede sein. Allerdings wurde einigen dieser neugnostischen Gemeinden die Vereh­ rung Satans nachgesagt. So berichtete der Geschichtsschreiber Radulf Ardens um 1090 von einer neugnostischen Gruppe in der Provinz Agennais, die den Satan anbete - dies konnte bislang jedoch nicht verifiziert werden. Ähnlich

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Spätgnostische Lehren

wie bei der spätantiken Gnosis liegen auch hier nur Aussagen von Gegnern dieser Gruppen vor - in den Primärquellen findet sich nichts, was auf einen Satanismus schließen ließe. Auf die diesbezügliche Problematik wurde bereits im Kapitel über die Gnosis hingewiesen. Auch in der Diözese Soisson soll um 1115 eine satanistisch ausgerichtete neugnostische Vereinigung existiert haben, der sogar der Graf von Soisson angehört haben soll. Der Abt Guibert von Nogent weiß in seiner Schrift De vita sua10 folgendes über diese Gruppe zu berichten: Die Zusammenkünfte halten sie in verborgenen Gewölben oder inneren Gemä­ chern ab. Ohne Unterscheidung des Geschlechts bringen sie angezündete Wachskerzen dem entblößten Gesäß einer leichtfertigen Frau, wie man sagt, unter dem Anblick aller Anwesenden sich niederbeugend, von hinten dar. So­ bald jene verloschen sind, verkünden sie, woher auch immer kommend, das Chaos und jeder koitiert mit derjenigen, die ihm als erste zur Hand kommt. [...] Wenn nun eine Frau schwanger wird, kehrt sie erst nach der Geburt dorthin (in den Kreis) zurück. (In jenem Kreis) wird ein großes Feuer entzündet und von den Umsitzenden das (ungewollte) Kind von Hand zu Hand durch die Flammen geworfen, bis (sein Leben) ausgelöscht worden ist. Darauf wird es zu Asche verbrannt. Aus der Asche wird ein Brot bereitet. Jedem, dem ein Teil davon zur Eucharistie ausgeteilt wird, der kommt nach Annahme niemals aus der Gewalt jener Häresie mehr zu Verstand.

Die Authentizität dieses Berichtes kann man wohl mit gutem Recht anzwei­ feln. Interessant ist jedoch, daß neben altbekannten Vorwürfen erstmals von der Sakralisierung der Analregion berichtet wird. Die Analregion wurde in der christlichen Lehre des Mittelalters allgemein dem Satan unterstellt. Viele Elemente der "klassischen" schwarzen Messe sind hier bereits vorgezeichnet. Diese klassische schwarze Messe ist zum großen Teil ein Phantasieprodukt der Inquisition - es ist äußerst unwahrscheinlich, daß derartige Rituale von mittelalterlichen Häretikern tatsächlich durchgeführt wurden. Im großen und ganzen bedienten sich die christlichen Theologen dabei wohl älterer Darstel­ lungen frühchristlicher Apologeten, die sich auf spätantike gnostische Rituale bezogen. In diese wurde dann der Satan eingefügt und - im Zuge der Hexen­ verfolgung - der Frau (Hexe) ein größerer Bedeutung unterstellt. Festzuhal­ ten bleibt, daß im Zuge der Bekämpfung neugnostischer Strömungen erstmals ein theologisch projizierter Satanismus festzustellen ist. Der während dieser Auseinandersetzung gegründete Dominikanerorden und die von diesem geleitete Inquisition sollten für die theologischen Satans­ lehren wie auch für den kirchlich projizierten Satanismus der kommenden Jahrhunderte von zentraler Bedeutung sein. 39

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Ob es unter den zahlreichen neugnostischen Bewegungen des 10.-14. Jahrhunderts tatsächlich auch explizit satanistische gegeben hat, läßt sich nicht nachweisen - obschon es mit völliger Sicherheit auch nicht auszuschlie­ ßen ist. Falls dem so sein sollte, sind uns Lehren wie Riten dieser Satanisten jedoch nicht bekannt.

Übergang vom Mittelalter zur Renaissance - die Hexenverfolgung Die theologischen Satanslehren veränderten sich seit der Zeit der Kirchenvä­ ter bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht wesentlich. Erst zeitgenössische Ver­ treter einer progressiven Theologie versuchen seit einigen Jahrzehnten hier etwas zu bewegen - innerhalb der evangelischen Theologie mit größerem Er­ folg als im Rahmen der katholischen. Auf dem Laterankonzil im Jahre 1215 wurde eindeutig festgestellt: "Der Teufel ist ein gefallener Engel." Dies ist seit den ersten Jahrhunderten u. Z. die allgemein anerkannte kirchliche Lehrmeinung, und daran sollte sich auch bis ins 20. Jahrhundert hinein nichts ändern. Was sich jedoch im ausgehenden Mittelalter dramatisch änderte, waren die Bedeutung und die Macht, die dem Satan zugeschrieben wurden - dies bedingte auch die stärkere Betonung einiger Elemente der theologischen Satanslehre, was sich vor allem in den theologischen Rechtfertigungen der Hexenverfolgung zeigt. Ihre erste wesentliche Aufwertung erfuhr die Gestalt des Satans im Rahmen der apokalyptischen Stimmung vor der Jahrtausendwende. Das Ende der Zeiten schien nahegerückt, und die Gegenwart und das Wirken Satans wurden nun überall verspürt. Zwar wurde die Welt bereits bei Paulus als wei­ testgehend teuflisch eingeschätzt, doch nie zuvor war dieses Weltgefühl derart tief im Bewußtsein der Menschen verankert, wovon die regelrechte "Bußhysterie", die der Jahrtausendwende voranging, ein beredtes Zeugnis ablegt. Nachdem die Jahrtausendwende dann wider Erwarten heil überstanden war, kehrte man zwar wieder zur Tagesordnung zurück, Satan verlor jedoch keineswegs an Relevanz.

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Übergang vom Mittelalter zur Renaissance - die Hexenverfolgung

Insbesondere die im Zuge der Bekämpfung neugnostischer Religionen gegründete Inquisition sorgte dafür, daß der Kampf gegen Satan und seine menschlichen Verbündeten bis tief ins 17. Jahrhundert hinein ein zentrales Anliegen der Kirche blieb. Die Satansvorstellungen dieser Zeit wurden durch zwei Männer wesent­ lich geprägt: durch Dante Aligheri und seine Göttliche Komödie sowie durch den Theologen Thomas von Aquin (1124-1174). Dante schilderte in der Göttlichen Komödie auf drastische Art und Weise die Qualen der Hölle - und zwar in durchaus pädagogischer Absicht. Dadurch, daß den Menschen die Herrlichkeit des Himmels und die Schrecken der Hölle eindringlich vor Augen geführt wurde, sollten sie auf den rechten Weg gebracht werden. Satan wurde als ein Monster mit drei Köpfen, Hörnern und schrecklichen Zähnen und Klauen beschrieben. Auf dieser Linie bewegte sich insgesamt die Satansdarstellung bis zum 17. Jahrhundert Schon ab dem 11. Jahrhundert war Satan zu einem bevorzugten Motiv für Maler und Bildhauer geworden. Statt als gestaltloses Geistwesen erscheint er nun als Schlange, Basilisk, halbmenschliche Gestalt usw. (Gott ist einer - der Teufel ist Legion). Immer aber ist er monströs, häßlich und bedrohlich und zuletzt auch gro­ tesk, er erscheint als der große Gegner der göttlichen Harmonie und der menschlichen Kultur, in zahlreichen Kathedralen und Klöstern ist er präsen­ ter als Gott und die Heiligen. So beklagte sich der heilige Bernhard: "Was sollen denn all diese schrecklichen Ungeheuer im Kloster, vor den Augen der Brüder, die in den heiligen Schriften lesen? Was sollen diese unsauberen Af­ fen, wilden Löwen, monströsen Zentauren, diese halb tierischen, halb menschlichen Wesen?"11 Die häufigste Gestalt, in der Satan dargestellt wurde - bocksbeinig, haarig und gehörnt - war an die Darstellung Pans und die der Satyrn angelehnt, mit denen er die verteufelte Triebhaftigkeit gemeinsam hatte. Thomas von Aquin war der bedeutendste Theologe des Mittelalters. Es soll hier auf sein umfangreiches und in jeder Hinsicht richtungweisendes Werk nicht näher eingegangen werden, relevant ist, daß er als der wichtigste geistige Vater der Hexenverfolgung anzusehen ist. Daran führt kein Weg vor­ bei. Vor allem seine Haltung bezüglich der Incubus/Succubus Lehre ist her­ vorzuheben. Diese Lehre war bereits zu Thomas’ Zeit nicht mehr neu, über die Realität der Incubi/Succubi herrschten jedoch unterschiedliche Auffas­ sungen und auch der Stellenwert, den man diesen männlichen bzw. weiblichen Buhlteufeln in den theologischen Satanslehren zubilligte, war bis dato eher gering. Thomas vertrat nun die These, daß diese Buhlteufel real wirksam wa­

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

ren, daß sie sich sowohl mit Männern, als auch (vorzugsweise) mit Frauen ge­ schlechtlich vereinigten und auf diesem Wege auch Kinder bzw. "Wechselbäl­ ge" und Dämonen zeugten. Sogar der Satan selbst sollte sich solcherart betäti­ gen, um so seine Anhängerschaft zu vergrößern. Da er aber selbst nicht zeu­ gungsfähig war, beschaffte er sich zunächst als Succubus (weiblicher Buhlteu­ fel) genügend Sperma, das er dann als Incubus (männlicher Buhlteufel) an Frauen weitergab. Thomas vertrat vehement die These, daß sich Frauen, die in der christlichen Lehre generell als verdorben und für teuflische Verführung besonders anfällig angesehen wurden, bewußt mit dem Satan verbanden und hielt auch den "Hexenflug" für real. Hierzu ist anzumerken, daß es bereits seit dem 9. Jahrhundert vereinzelt Berichte über solche "Flüge" gab; diese wurden aber gemeinhin als Phantasie und Traum gewertet. Hervorgerufen wurden die "Flüge" meist durch die Ver­ wendung von halluzinogenen Nachtschatten-Drogen (sog. Hexensalben) - die Rezepte dieser Drogen sind bekannt und namhafte Volkskundler wie Peukkert oder Mrsich haben im Selbstversuch nachgewiesen, daß solche "Hexensalben" sehr wohl intensive Träume, in denen sowohl Flugerfahrungen wie auch orgiastische Feste erlebt werden, hervorrufen können. Die Änderung der Atmosphäre läßt sich eben daran erkennen, daß all diese Dinge nun für real im vollem Wortsinn gehalten wurden - Satan drang immer greifbarer in die Welt ein. Thomas kam letztendlich zu dem Schluß, daß Menschen, die sich auf solch frevelhafte Taten einließen, nicht nur kein Recht hätten, innerhalb der Kirche zu verweilen, sondern daß Ihnen auch das Recht, auf dieser Welt zu verweilen, abgesprochen werden müßte. Sein Wort fand Gehör. Sicher war Thomas von Aquin nicht der einzige, der zu dieser Zeit solche Thesen vertrat - auch wenn er zweifellos ein "Pionier" war -, und diese Thesen blieben auch zu keiner Zeit ohne Widerspruch, aber sein Wort hatte lange Zeit größeres Gewicht, als das jedes anderen, und so dürfte sein Anteil an der Hexenverfolgung nicht zu unterschätzen sein. Auch wenn es dazu mehr be­ durfte als das Wort eines noch so bedeutenden Theologen. Wie dem auch sei, im Jahre 1275 ließ der Inquisitor Hugo von Beniol in Toulouse die erste Frau wegen geschlechtlichen Verkehrs mit dem Satan ver­ brennen.

Die Gründe, warum die Hexenverfolgung vornehmlich im 15. und 16. Jahr­ hundert derart gewaltige Ausmaße annahm, sind vielschichtig und können hier nur angedeutet werden. Besonders vier Erklärungsmodelle sind zu be­ rücksichtigen:

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Übergang vom Mittelalter zur Renaissance - die Hexenverfolgung

1) Ausgangspunkt der Hexenverfolgung war das Bestreben, die "Weisen Frauen" zu vernichten. Das heißt solche Frauen, die ein Wissen über Emp­ fängnisverhütung, Abtreibung und Volksmedizin besaßen. Einerseits weil die Bevölkerung nach zahlreichen Epidemien und Kriegen dezimiert war und es im Interesse der Herrschenden lag, die Zahl ihrer Untertanen wieder zu er­ höhen, andererseits da der Kirche, die ja Frauen im allgemeinen gering­ schätzte, natürlich gerade solche Frauen, die über ein spezielles Frauenwissen verfügten, gefährlich schienen. 2) Reste vorchristlicher Religionen, besonders ländliche Fruchtbarkeitskulte sollten ausgerottet werden. So wurden im 14. Jahrhundert Anhängerinnen ei­ nes Dianakultes bei Mailand als "Hexen" verurteilt. Auch die vorchristlichen Kulte der italienischen Benandanti wurden als satanistisch verfolgt. Nach 850 Prozessen nebst entsprechender Propaganda glaubten schließlich sogar einige der Benandanti, daß ihre Riten etwas mit Satan zu tun hätten.

3) Nach der für die Kirche traumatischen Erfahrung des Eindringens neugno­ stischer Religionen in ihren Machtbereich strebte sie danach, jegliche Häresie vollständig auszurotten. Die Institution der Inquisition war sehr bestrebt, ihre Daseinsberechtigung zu beweisen. Daneben schienen das hartnäckige Über­ leben ländlicher vorchristlicher Kulte sowie neue Häresien, die die dogmati­ schen Lehren im Zuge der Renaissance bedrohten, die Kirche geneigt zu ma­ chen, nun eine "Endlösung" herbeizuführen. 4) Letztlich dürfen auch wirtschaftliche Gründe nicht gänzlich vernachlässigt werden, denn das Vermögen der Verurteilten ging in den Besitz der Kirche über.

Die Werke über das Hexenunwesen mehrten sich zusehends, Jacobus de Temano verfaßte 1382 das erste Standardwerk hierzu, ihm folgte der Domini­ kaner Nicola de Jaquier, der in seinem 1458 veröffentlichten Flageilum haereticorum fascinariorum erstmals von einer "Synagoge Satans" sprach, in Anleh­ nung an die Johannesapokalypse 2,9 und 3,9. Die Theorie, daß es einen organi­ sierten und weitverbreiteten Satanskult gebe, etablierte sich im 15. Jahrhun­ dert. 1484 gab Papst Innozenz VIII. schließlich eine Hexenbulle heraus, in der all die gängigen theologischen Annahmen bezüglich des "Hexenunwesens" aufgegriffen und bestätigt wurden. Dies leitete den Höhepunkt der Hexenver­ folgung ein. Die Dominikanermönche Jakob Sprenger und Heinrich Institoris nahmen diese Bulle zum Anlaß, ihren Malleus Maleficarum - auch bekannt als

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Hexenhammer - zu verfassen, der 1489 veröffentlicht wurde und weithin zum Standardwerk der Inquisition avancierte.

Die Vergehen, die den Hexen darin vorgeworfen wurden, lassen sich wie folgt zusammenfassen: Geschlechtlicher Verkehr mit dem Teufel, verschiedene Formen des Schadenszaubers, Diebstahl und Tötung von Säuglingen, Abfall vom Glauben und das Feiern blasphemischer Hexensabbate. Des weiteren bietet dieses Werk genaue Anleitung bezüglich der rechten Verhör- und Foltermethoden, die bei Hexenprozessen angewandt werden sollten. Die Theorien und Anschuldigungen, die im Zuge der Hexenverfolgung for­ muliert wurden, sind im Grunde nichts anderes als ein theologisch projizierter Satanismus, der erstmals in großem Stil formuliert wurde. Ab dem 14. Jahr­ hundert wurde nicht nur Satan, sondern auch der Satanismus als Hauptfeind der Kirche gesehen. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Beschreibun­ gen der "Hexensabbate", aus denen sich das Bild der klassischen "schwarzen Messe" formte. Obwohl es im einzelnen viele Abweichungen gibt, stimmen die meisten Beschreibungen doch im großen und ganzen überein - dies erklärt sich daraus, daß es sich meist um unter Folter erzwungene Geständnisse handelt; im all­ gemeinen folterte man solange, bis die Opfer das Gewünschte, das heißt das Erwartete gestanden. Aus solchen Geständnissen zu folgern, daß Hexensab­ bate wirklich stattgefunden haben, wie es zum Beispiel Zacharias tut, ist ge­ linde gesagt, absurd. Der "typische" Hexensabbat ist demnach etwa folgendermaßen verlaufen. Zunächst bewegen sich die Hexen zu den geheimen Versammlungsorten, die sich für gewöhnlich auf abgelegenen Waldlichtungen befanden. Häufig ist vom "Hexenflug" die Rede, was wohl auf Berichte über Erlebnisse unter Dro­ geneinfluß zurückzuführen ist. Am Versammlungsort leitet Satan persönlich den Sabbat, er wird meist als bocksbeinig, gehörnt, dunkel, häßlich und miß­ mutig beschrieben. Zuerst erfolgt die Aufnahme der Novizinnen und auch der Novizen, wobei diese Gott, der Kirche und den Sakramenten abschwören müssen, um sodann vom Satan ein "Teufelsmal" zugefügt zu bekommen. Zu­ vor müssen sie dem Satan meist noch den Anus küssen, als Zeichen ihrer Er­ gebenheit. Es folgt eine blasphemische Parodie der christlichen Messe, in de­ ren Verlauf schwarze Hostien, die oftmals nur aus "Dreck" bestehen, verteilt werden. Nachdem schließlich der Satan mit einigen oder mit allen Hexen ge­ schlechtlich verkehrt hat (was oft als unangenehm empfunden wird, da sein 44

Übergang vom Mittelalter zur Renaissance - die Hexenverfolgung

Penis "kalt und schuppig" sei), gibt sich die ganze Gesellschaft wilden sexuel­ len Orgien hin, wobei durch Inzest, Homosexualität, Analverkehr u. ä. alle Tabus gebrochen werden. Das Zustandekommen dieses Klischees des Hexensabbats ist nicht mehr ge­ nau rekonstruierbar. Sicher dienten aber die Beschreibungen der kultischen Orgien mancher Gnostiker wie auch die anderer spätantiker orgiastischer Kulte (wie zum Beispiel die Bacchanalien) als Grundlage für die späteren Vorstellungen vom Hexensabbat. Der pneumatische, geistige Aspekt der gno­ stischen Kulte fehlt hier jedoch vollkommen, er ist der reinen Lust - oder Un­ zucht - an sich gewichen. Der Satan wurde hinzugefügt, und da er auch der Antichrist, der Feind Gottes und der Kirche war, lag es natürlich nahe, eine blasphemische Parodie der christlichen Liturgie zu unterstellen. Es ist darüber hinaus anzunehmen, daß auch die noch vereinzelt gefeierten vorchristlichen Fruchtbarkeitsriten als Hexensabbate gedeutet und vor allem deren orgiasti­ sche Elemente in das Bild des Hexensabbats integriert wurden. Satan erschien hier schließlich in einer an Pan erinnernden Gestalt - dies freilich gewiß nur in der Phantasie der Inquisitoren -, was sich ohne weiteres in diesen Kontext ein­ fügen läßt. Nur daß er eben verdrießlich sein mußte, ein fröhlicher Teufel hätte kaum nicht ins Bild gepaßt. Interessant ist die Sakralisierung der Anal­ region und die offensichtliche Bevorzugung des Analverkehrs. So wird dem Teufel, der hier als Luzifer erscheint, in einem 1623 in Paris veröffentlichten Text folgende "Predigt" in den Mund gelegt: Meine Freunde, heute feiern wir den Sabbat der Sodomie [mit Sodomie ist hier Analverkehr gemeint]. Die Sodomie ist ein Luzifer sehr angenehmes Werk. Ich bitte euch, gut eure Pflicht zu tun; sogar euch einander anzureizen. Nehmt euch ein Beispiel an mir, der ich der Fürst der Unzucht bin, und wenn ihr dieses Werk oft vollbringt, werdet ihr den Lohn in dieser Welt haben und in der ande­ ren das ewige Leben.12

Was denn nun Luzifer so am Analverkehr schätzte und warum dem so sei, wird leider nicht erwähnt; auch anderswo hielt man sich mit Erklärungen zu­ rück. Allgemein wird angenommen, daß dies damit zu tun habe, daß die ge­ samte untere, unedle Region des menschlichen Körpers gemäß der christli­ chen Lehren dem Satan zugeordnet sei - mittels der dort lokalisierten Triebe verführe er die Menschen ja nicht zuletzt immer wieder zur Sünde. Allein, dies erklärt nicht diese spezielle Vorliebe Satans. Möglicherweise ist dieser Zug der satanischen Sexualität aus der gnostischen Ablehnung der Fortpflan­ zung hergeleitet. So betrachtet wäre dies ja eine dem gnostischen Denken an­ gepaßte Form der Sexualität. Wenn dem so wäre, dann handelte es sich aller­

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

dings um eine Folgerung der Inquisitoren, deutet doch nichts darauf hin, daß die Gnostiker diese Form der Sexualität tatsächlich bevorzugten. In den Be­ richten der christlichen Apologeten ist lediglich des öfteren vom Coitus interruptus die Rede. Psychoanalytisch betrachtet könnte diese Analfixierung Satan als einen "analen Zwangscharakter" erscheinen lassen, diese Deutung müßte dann aber auf die Inquisitoren bezogen werden, da der Hexensabbat ja in erster Linie deren Phantasie entsprang. Bei aller Reserviertheit der Psychoanalyse gegen­ über scheint es durchaus einsichtig, daß die im Gegensatz zum sonstigen Kle­ rus meist tatsächlich "keusch" lebenden Inquisitoren von solcherlei sexuellen Phantasien geistig befruchtet wurden - zumindest deren führende Köpfe (während das Gros wohl einfach nur seine Arbeit tat). Die allgemeine Hexenhysterie war jedoch nicht nur auf die Kirche be­ schränkt: obwohl die Exzesse der Inquisition oftmals auf Empörung und Ab­ lehnung stießen - selbst einzelne Fürsten verweigerten sich, schließlich wollten sie die Zahl ihrer Untertanen nicht allzusehr dezimiert sehen - nahm der He­ xenglaube und die Hexenangst auch im Volksglauben einen bedeutenden Platz ein. Dieser Glaube spiegelt sich nicht zuletzt in zahlreichen Sagen, die um Teufel und Hexe kreisen. Ein wesentlicher Unterschied fällt jedoch auf: Während die theologischen Theorien die Hexe in erster Linie als Ketzerin se­ hen, die, dem Teufel ergeben, Schlechtes nur tut, um diesen zu Willen zu sein, sieht die Volkssage den Grund für das Überlaufen auf die Seite Satans meist in den materiellen Vorteilen, die für die Hexe herausspringen. Weder sexu­ elle Lust noch häretische Abirrung, sondern handfeste materielle Not treibt die Hexen hier in die Klauen Satans. Bemerkenswert ist, daß die Reformation der Hexenhysterie keinen Abbruch tat. Während Martin Luther bisweilen von gegnerischer Seite als Produkt der Verbindung seiner Mutter mit einem Incubus angesehen wurde, bezeichnete er seinerseits den Papst als den "Antichrist", sprich Satan. Die Reformatoren übernahmen die katholischen Hexenlehren praktisch unverändert und setzten auch die Verfolgung mit denselben Mitteln fort, besonders Calvin war hier ob seiner Härte und seines Fanatismus berüchtigt. Luther stand dem kaum nach und vertrat die Ansicht, daß Neugeborene von ungewöhnlichem Aussehen vom Teufel gezeugte Kinder seien, die man am besten ertränken sollte. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts ließ die Hexenverfolgung allmählich nach. Dies lag aber nicht nur an den lauter werdenden "Stimmen der Ver­ nunft", wie etwa der des Jesuitenpaters Friedrich von Spee (1591-1635). Tat­ sache ist, daß die ganze Sache völlig außer Kontrolle geraten war; nicht mehr nur Frauen aus dem niederen Volk wurden verbrannt, auch mehr und mehr

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Übergang vom Mittelalter zur Renaissance - die Hexenverfolgung

Männer von Rang - Bürgermeister, Kaufleute, Priester usw. - fielen der Inqui­ sition zum Opfer. Das mißfiel, und man war nun eher geneigt, auf kritische Stimmen, die es immer gegeben hatte, zu hören. Zudem war die Macht der Kirche aufgrund der Reformation gemindert, so daß sie den Gegenstimmen immer weniger entgegenzusetzen hatte. So wurde im deutschen Sprachraum im Jahre 1698 in Rostock die letzte "Hexe" verbrannt. Noch 1728 wurde in Berlin eine "Hexe" zum Tode verurteilt, das Todesurteil jedoch in eine Haftstrafe umgewandelt. Die Inquisition blieb bestehen und kümmerte sich nun, wie ehedem, wie­ der um die "echten Ketzer" und exorzierte die teuflisch Besessenen, statt sie zu verbrennen. Satan trat innerhalb der christlichen Theologie etwas mehr in den Hintergrund, ohne jedoch an Bedeutung zu verlieren. Der theologisch projizierte Satanismus, der sich erst ab dem 11. Jahrhun­ dert so recht entwickelt hatte, verschwand auch nach dem Abklingen der He­ xenverfolgung nicht von der Bildfläche, er gehört seither vielmehr zum festen Repertoire der kirchlichen Apologetik der katholischen wie der evangelischen Konfession, wiewohl er im Laufe der Jahrhunderte natürlich seine Wandlun­ gen durchmachte. Die Lehre von den Incubi/Succubi geriet dagegen weitge­ hend in Vergessenheit, bzw. sie existiert vornehmlich in den katholischen Lehren der dämonischen Besessenheit in stark veränderter Form weiter. In­ nerhalb des expliziten Satanismus spielte sie nie eine wesentliche Rolle. Von größerer historischer Tiefenwirkung war die Vorstellung des Hexensabbats, als klassisches Vorbild der schwarzen Messe, obschon die späterhin tatsäch­ lich praktizierten sowie auch die in der Literatur geschilderten schwarzen Messen dieses Vorbild immer mehr oder weniger modifizierten. Der Glaube an die historische Tatsächlichkeit der Hexensabbate hielt sich im übrigen erstaunlich lange. Noch als die Unschuld der meisten als He­ xen (oder Hexer) Verurteilten von niemanden mehr angezweifelt wurde, ging man allgemein doch davon aus, daß Hexensabbate in der beschriebenen Form vereinzelt tatsächlich stattgefunden hätten. Hierfür spricht allerdings sehr we­ nig. Es existiert keinerlei gesichertes Material, das einen expliziten Sata­ nismus vor dem 17. Jahrhundert belegen könnte. Unter Folter erzwungene Geständnisse, die meist Resultate einer suggestiven Befragung waren, oder Berichte aus der Feder von Theologen oder Mönchen können als Beleg hier nicht dienen. Ebenso absurd wäre es, wollte man das Wesen der Juden allein aus den Schriften der Nazis erklären.

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Der Teufelspakt

Der Teufelspakt unterscheidet sich von der Unterwerfung, die den Hexen nachgesagt wurde, dadurch, daß es sich hierbei quasi um ein Vertragsverhältnis mit dem Satan handelt: Man schließt einen Pakt zum beiderseitigen Nut­ zen. Es wurde angenommen, daß sich Satan verpflichtete, dem Paktierer für eine festgelegte Zeitdauer zu Diensten zu sein und ihm bei seinen weltlichen Bestrebungen zum Erfolg zu verhelfen. Nach Ablauf der vereinbarten Zeit fuhr Satan dann mit dessen Seele zur Hölle, nachdem er ihn zuvor dem Reich der Lebenden gewaltsam entrissen hatte. Der älteste Bericht über einen solchen Teufelspakt stammt aus dem 4. Jahrhundert - er findet sich in der Biographie des hl. Basilius von Cäsaria. Die bekannteste der Teufelspakt-Legenden dreht sich um Dr. Faust. Auf die zahlreichen Versionen über Leben und Identität des historischen Faust, der wahrscheinlich im 16. Jahrhundert lebte, soll hier nicht näher eingegangen werden. Die Idee eines solchen Paktes entbehrt offensichtlich nicht eines gewis­ sen Reizes, denn bis in die Gegenwart hinein ist dieses Thema aktuell geblie­ ben. Es muß in diesem Zusammenhang wiederum betont werden, daß die Au­ thentizität dieser frühen Berichte in keiner Weise als gesichert gelten kann. Von einem theologisch projizierten Satanismus kann man, was den Teu­ felspakt anbelangt, allerdings nicht sprechen. Solche Geschichten waren in allen Bevölkerungsschichten populär und mancher wird wohl insgeheim von einem solchen Pakt geträumt haben, um endlich aller irdischer Mühsal auf einen Schlag enthoben zu sein. Die zahlreichen Hexensagen, die auf derartige Pakte anspielen, vermitteln einen Eindruck davon, wie plausibel ein solcher Handel den Menschen über viele Jahrhunderte hinweg erschienen sein mag. Die berühmtesten Teufelspaktierer waren jedoch immer Männer - unter­ stellte man den Frauen, daß sie sich dem Satan unterwarfen, so traute man den Männern, vor allem denen mit Rang und Namen, schon eher zu, daß sie mit Satan zu verhandeln verstanden. Die meisten der bekannten Erzählungen stimmen darin überein, daß man über einen jüdischen Zauberer Kontakt zum Satan aufnahm; sodann wurde ein Vertrag formuliert, der mit dem Blut des Paktierers unterzeichnet wurde. Dem Erfolg stand nun nichts mehr im Wege. Von göttlichem Eingrei­ fen wird nichts berichtet, ebenso ist der Klerus solange machtlos, wie der Pak­ tierer keine Reue zeigt, bis eben zu dem Zeitpunkt, an dem die vereinbarte

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Der Teufelspakt

Vertragsdauer abgelaufen war. Dann ereilte den Paktierer sein schreckliches Schicksal. Satan selbst wird in der Regel als fairer Vertragspartner beschrie­ ben, der seine Verpflichtungen einhielt, andererseits aber natürlich auch kein Erbarmen kannte, wenn die Zeit gekommen war. Zuweilen konnte jedoch die Seele des Paktierers noch gerettet werden, sofern dieser Reue zeigte. Vor allem Maria wurde eine besondere Macht über den Teufel zugesprochen. In nicht wenigen Erzählungen ist sie es, die dem Sa­ tan die Seele seines Opfers entreißt (so in der im 9. Jahrhundert entstandenen Theophilus-Legende). Das Handeln um geistliche Werte war vor allem während des Mittelal­ ters nicht untypisch. War der Teufel für weltliches Wohlergehen zuständig, so konnte mit Gott bzw. seiner Stellvertreterin auf Erden, der Kirche, durchaus über das Schicksal im Jenseits verhandelt werden. Der Ablaßhandel ist nur das augenfälligste Beispiel für diese Art des Erkaufens jenseitiger Seligkeit; auch durch Teilnahme an Kreuzzügen, das Lesenlassen von Messen oder die besonders strenge Verfolgung von Ketzern konnte das Himmelreich trotz al­ ler Sünden letztendlich doch noch gewonnen werden. Weltlicher Reichtum, Glück in der Liebe und ähnliches mehr konnte durch fromme Werke jedoch nicht erlangt werden, zumindest nicht unmittelbar. Diese Domäne überließ man dem Teufel. Die Vernichtung von Ketzern konnte zwar sowohl irdischen Reichtum als auch die Verheißung des Himmelreichs bewirken, dieser Weg stand jedoch nur Königen, Bischöfen und Äbten offen. So erklärt sich die große Zahl der Erzählungen, die den Teufelspakt zum Inhalt haben. Darüber, wie sich solche Teufelspakte, so sie tatsächlich geschlossen wurden, wirklich abgespielt haben, kann man allenfalls spekulieren. Dieser hypothetische indi­ viduelle Satanismus wäre in jedem Falle dem reaktiven Satanismus zuzurech­ nen, da er sich im großen und ganzen im Rahmen der theologischen Satans­ lehren abgespielt hätte. Eine Sache für sich ist die lange Liste der Päpste, die man des Teu­ felspaktes verdächtigte: Johannes XIII. (965-972), Sylvester II. (999-1003), Jo­ hannes XVIII. (1004-1009), Benedikt VIII. (1012-1024), Johannes XIX. (10241032), Benedikt IX. (1032-1049), Gregor VII. (1073-1085), Johannes XXI. (1276-1277), Gregor XI. (1370-1378), Paul II. (1464-1471), Alexander VI. (1492-1503) und einige mehr. Die Liste ist beeindruckend, besonders die Päp­ ste des 11. Jahrhunderts erfreuten sich offensichtlich keiner großen Beliebt­ heit. Wiewohl es durchaus Päpste gab, die sich mit Zauberei und besonders mit Astrologie befaßten - Sylvester II. ist der bekannteste unter ihnen - und so in den Verdacht des Teufelsbündnisses gerieten, war dies doch nicht der Hauptgrund für solcherlei Verdächtigungen. Es spiegelt sich darin eher das

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

große Mißtrauen, das den Päpsten entgegengebracht wurde, dessen Ursache wohl vor allem in der skrupellosen Machtpolitik sowie im ausschweifenden Lebenswandel der damaligen Päpste zu sehen ist. Hierin zeigt sich auch ein tiefgreifendes Mißtrauen der Kirche im allgemeinen gegenüber, denn wie sonst hätte man annehmen können, daß das Oberhaupt der Heiligen Kirche dieses Amt durch einen Teufelspakt erhalten haben könne? Alle diese Päpste sollen den Pakt noch als gewöhnliche Geistliche geschlossen und den Papst­ thron erst mit der Hilfe Satans erlangt haben. Das Ende dieser Päpste wird in den Legenden übrigens ebenso trübe gesehen wie das Ende der nichtpäpstli­ chen Paktierer. Es muß aber betont werden, daß es sich hier nur um Legen­ den, man könnte auch sagen um Gerüchte handelt. Keiner dieser Päpste dürfte ungeachtet seiner eventuellen unchristlichen Lebensweise ein echter Satanist gewesen sein oder tatsächlich einen Teufelspakt, in welcher Form auch immer, abgeschlossen haben. Es liegt in diesen Fällen nicht einmal ver­ meintliches Beweismaterial vor. Wurden einfache Priester oder Mönche bei entsprechendem Verdacht in manchen Fällen durchaus unter Folter zu Ge­ ständnissen gezwungen, so wurde kein Papst wegen eines solchen Verdachtes jemals belangt.

Grimoires - Zauberei und schwarze Magie

Wird in den Teufelspakt-Erzählungen auch zuweilen von einem spontanen, eigenmächtigen Erscheinen Satans berichtet, so wurde in der Regel doch da­ von ausgegangen, daß Satan durch magische Beschwörungen gerufen werden muß. Und in der Tat kursierten seit dem Spätmittelalter zahlreiche Grimoires (Zauberbücher) in Europa. Ihre Kenntnis wurde bei den meisten Teufelspak­ tierern angenommen, oft reichte es bereits, solche Bücher zu besitzen, um des Teufelspaktes verdächtigt zu werden. Bei den Grimoires handelte es sich um jüdische oder persisch-arabische Zauberliteratur, die ab dem 12. Jahrhundert vorwiegend ins Lateinische oder auch in die jeweilige europäische Landessprache übersetzt wurde. Vor allem während der Kreuzzüge gelangte diese Literatur nach Europa, das in den vor­ angegangenen Jahrhunderten von den geistigen Metropolen der arabischen Welt isoliert war. Ihr Ursprung ist, ebenso wie der der spätgnostischen Leh­ ren, im spätantiken Synkretismus zu suchen. Ägyptische, hermetische, jüdi-

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Grimoires - Zauberei und schwarze Magie

sehe und babylonisch-chaldäische Einflüsse vereinigten sich hier, Engels- und Dämonenhierarchien, Planeten-Intelligenzen, Formeln und Sigillen finden sich in schier unüberschaubaren Kombinationen. Generell kann gesagt werden, daß das gesamte geistige Erbe der Spätan­ tike während des Mittelalters in der damals relativ liberalen arabischen Welt überlebte und weiterentwickelt wurde, während es im christlichen Europa vorübergehend in Vergessenheit geriet. Erst im Zuge der Renaissance wurde diese Tradition für Europa wiederentdeckt. Daß die ersten Kontakte mit der arabischen Welt gerade durch die Kreuzzüge wiederhergestellt wurden, ist allerdings eine makabre Ironie. Kein Wunder, daß gerade der Templerorden, dem intensivste Kontakte mit islamischen Geheimorden nachgesagt wurden, in den Verdacht der Ketzerei und des Satanismus geriet. Der geheimnisvolle "Templergott" Baphomet, dessen Herkunft, Gestalt und Charakter mangels gesicherten Materials nie völlig geklärt werden konnte, wurde denn auch des öfteren mit Satan identifiziert und zwar sowohl von Seiten der christlichen Theologie wie auch von diversen Okkultisten. Tatsächlich steht aber keines­ wegs fest, was dieser Baphomet für die Templer bedeutete und ob er für diese überhaupt von besonderer Wichtigkeit war.

Die bekanntesten dieser Grimoires waren die salomonischen Zauberbücher, die in ihrem Ursprung auf Salomon zurückgeführt wurden, der nicht nur in der jüdischen Überlieferung als großer Magier galt. Die frühesten dieser Bü­ cher dürften im 3. Jahrhundert v. u. Z. entstanden sein. Ab dem 13. Jahrhun­ dert gelangten dann die ersten lateinischen Übersetzungen in Umlauf: Idea Salomonis et entocta, De figura Madel und, am bedeutendsten, die Clavicula Salomonis. Mittels Sigillen und Anrufungen konnten Engel und Dämonen herbeizitiert werden, die jeweils ihre speziellen Fähigkeiten in den Dienst des Magiers stellten. Satan selbst wurde nur in den seltensten Fällen beschworen, meist hielt man sich an untergeordnete Dämonen, die leichter zu beherrschen waren. Denn darum ging es: Die Geister sollten dienstbar gemacht werden, eine Verehrung dieser Wesenheiten war nicht das Interesse dieser Art von Zauberei. Selbst ein Pakt wurde in der Regel nicht angestrebt, man wollte le­ diglich die Geister beherrschen, ohne selbst etwas geben zu müssen. Insofern düfte der Teufelspakt die Ausnahme gewesen und weit häufiger unterstellt als tatsächlich angestrebt worden sein. Von reiner "schwarzer Magie" zu sprechen ist aus eben jenen Gründen problematisch, die bereits im Kapitel "Jüdische Dämonenlehren" dargelegt wurden. Darüber hinaus versuchte man sich die Dämonen oft dadurch dienstbar zu machen, indem man sie im Namen Gottes - für gewöhnlich wurden hebräische Gottesnamen gebraucht - oder der heili­ gen Erzengel befehligte. Von einem Satanismus kann in diesem Zusammen51

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

hang also kaum gesprochen werden. Es mag zwar merkwürdig anmuten, wenn man sich im Rahmen eines Liebeszaubers auf "Adonai" berief, doch erklärt sich dies daraus, daß den göttlichen Namen eine Macht an sich zugesprochen wurde. Es waren dies im Grunde eher rein handwerkliche Operationen, die mit dem alltäglichen "Glauben" nicht in Übereinstimmung stehen mußten. So konnte ein ansonsten rechtgläubiger Christ in einer persönlichen Notlage durchaus zu solchen Mitteln greifen, ohne daß er sich deswegen nicht mehr als Christ fühlte. Waren die klassischen Grimoires auch nur einer höheren Bildungsschicht zugänglich, so gab es doch zahlreiche volkstümlichere Versio­ nen solcher Zauberbücher; das bekannteste Beispiel ist das berüchtigte 6. und 7. Buch Mosis, das sich noch in diesem Jahrhundert einer gewissen Wertschät­ zung erfreut. Der eigentliche Sinn der Beschwörungsformeln ging dabei oft verloren, schon der fremdartige Klang der Worte tat seine Wirkung. Diese Art der Zauberei fand auch Eingang in die Werke der großen Re­ naissance-Okkultisten wie Agrippa von Netteisheim, Paracelsus oder Roger Bacon, obschon sie dort nur eine untergeordnete Rolle spielte. Agrippa, den man als Stammvater der abendländischen okkultistischen Synthesen bezeich­ nen kann, ordnete die Dämonenmagie der "magia naturalis" bei, der er die göttliche Magie gegenüberstellte. Die "natürliche Magie" wurde von zahlrei­ chen Okkultisten - auch von Agrippa - nicht grundsätzlich abgelehnt; einen ausgesprochenen Satanismus findet man jedoch bei keinem der RenaissanceOkkultisten. Es bleibt noch anzumerken, daß es zunächst nur gebildete Einzelperso­ nen waren, die sich mit den Grimoires befaßten. Organisierte Gruppen oder Geheimorden, die solches Wissen lehrten, entstanden in größerem Umfang erst im 17. Jahrhundert Und auch an den berüchtigten "Zauberschulen" des Mittelalters, den Universitäten von Sevilla, Toledo und Krakau, kursierte das entsprechende Material für gewöhnlich unter der Hand.

Die Wandlung des Satansbildes im 16. und 17. Jahrhundert

Ab dem späten 16. Jahrhundert ist eine tiefgreifende Wandlung des Satans­ bildes festzustellen, die einen expliziten Satanismus im Grunde genommen überhaupt erst ermöglichte. Diese Wandlung ging einher mit einer generellen Wandlung des Menschen- und Weltbildes in dieser Zeit, die Folge großer

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Umwälzungen der sozialen Ordnung in Europa war. Das im Mittelalter ge­ ordnete und in sich geschlossene soziale Gefüge begann zu zerfallen, gleich­ zeitig war das ebenso in sich geschlossene Weltbild fragwürdig geworden. Die Reformation hatte die Einheit der Religion endgültig aufgebrochen, die feu­ dale Ordnung begann zu wanken - Frankreich beispielsweise steuerte auf den Absolutismus zu - die Entdeckungen von Kopernikus, Kepler und Galilei zer­ schlugen die überschaubare Kosmologie des Mittelalters, im Zuge der Re­ naissance wurden zahlreiche vergessene spätantike Geistesströmungen wie­ deraufgegriffen, Europa wurde durch zahlreiche Kriege und Machtkämpfe er­ schüttert. Kurz, der Ordo des Mittelalters, der den Menschen zumindest eine gewisse Orientierung gegeben hatte, befand sich in Auflösung. Erstmals in der Geschichte der Menschheit begann sich so etwas wie ein "Individualismus" zu entwickeln, das heißt der Mensch war nicht mehr allein durch seinen angeborenen Stand definiert und hatte nicht mehr lediglich fest­ gelegten moralischen Lebensregeln zu folgen, sondern die Bedeutung des ein­ zelnen Individuums und des Gewissens eines jeden einzelnen wurden mehr und mehr hervorgehoben. Vor allem aber wurden die Standesgrenzen durch­ lässiger, der Adel ging vieler Privilegien verlustig, das Bürgertum gewann einen noch nie dagewesenen Einfluß, während die Könige es sich, als von Gott eingesetzt, erlauben konnten, den Investiturvertrag zu brechen. Parallel dazu erfolgte eine Psychologisierung des Bösen, bedingt nicht zuletzt durch eine Dämonisierung des Menschen. Nicht länger ist das Böse das Unbekannte, Fremde, Bedrohliche, das den Menschen von außen her an­ greift, versucht oder gar beherrscht - nein, man traute dem Menschen in zu­ nehmendem Maße zu, aus sich selbst heraus böse zu sein, ohne das Eingreifen Satans. Analog dazu gewannen die Darstellungen des nun an sich überflüssig gewordenen Satans an psychologischer Tiefe, sein Aufbegehren wider Gott wurde hinterfragt, seine Motivation war erstmals der Gegenstand tieferge­ henden Interesses. Diese Wandlungen zeigen sich nicht in erster Linie in den theologischen Theorien - die Theologie stemmte sich so lange wie möglich ge­ gen diese Bewegung -, sondern in der Literatur und in der Malerei dieser Zeit, wobei es sich in vielen Fällen durchaus auch um religiös motivierte Werke handeln konnte. Eine solche Dämonisierung des Menschen bei gleichzeitiger Ver­ menschlichung des Bösen findet sich zum Beispiel in Marinos Le strage de l’Innocenti von 1632. In diesem Drama ist nicht Herodes dem Satan nachge­ bildet, sondern Satan erscheint in Gestalt des Herodes (Herodes und der jüdi­ sche Hohepriester Kaiphas waren in dieser Zeit überhaupt beliebte Verkör­ perungen des "bösen Menschen"). Aber auch Marlowes Tamberlaine (1587)

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

brauchte sich seine Skrupel schon nicht mehr von Satan nehmen zu lassen und Shakespeares Richard III. (1592) wurde nicht als mißgestaltet gezeichnet, um damit seine Bosheit zu illustrieren, sondern durch seine Mißgestalt wurde seine Bösartigkeit erklärt. Ebenso drücken sich in anderen Figuren Shake­ speares, etwa in Macbeth, die Fehler der Zeit aus, nicht die Macht Satans. Schließlich zeigt sich der Teufel selbst über die Bosheit der Menschen erschreckt: So ließ Moscherosch den Teufel angesichts der Schrecken des 30jährigen Krieges feststellen: "Zwar wahr ist’s, daß die Armen ihre Hölle ge­ nug auff der Welt haben dann es ist so mit euch, jeder Mensch ist fast des an­ deren Teuffel oft mehr als der Teuffel selbsten, Homo homini lupus, Homo homini Diabolus."13 Die Höllenqual selbst wurde ebenfalls psychologisiert, sie wurde als ewige Gewissensqual beschrieben, die naturalistisch gezeichnete Folterkam­ mer Dantes wandelte sich zum Ort einsamer Selbstvorwürfe. Folgerichtig wandelte sich auch die äußere Gestalt Satans im Sinne einer Individualisie­ rung, Satan wurde nicht mehr als häßliches Monster, sondern als gefallener Engel von schwermütiger, höchst eigener Schönheit dargestellt. Die Gleich­ setzung von Gut und Schön war nicht mehr ungebrochen, der Schönheit eignete seit dem 16. Jahrhundert ein ambivalenter Charakter. So war das ari­ stokratische Menschenideal der Hochrenaissance, der "Uomo universale", das heißt der allseitig gebildete Höfling, dessen physische Schönheit seiner hohen Bildung und seinem edlen Charakter entsprach, seit Machiavellis Principe (1532) suspekt geworden; konnte sich doch dieser Uomo universale um des Machterhalts willen skrupellos aller ihm zu Gebote stehenden Mittel bedie­ nen und er konnte dies, wohl wissend um die Schlechtigkeit der Menschen, sogar guten Gewissens tun. Vor allem zwei Bilder sind in diesem Zusammen­ hang von großer Bedeutung: Lorenzo Lottos Gemälde Der heilige Michael verjagt Lucifer (ca. 1554) und Tintorettos Versuchung Christi (ca. 1578). Lotto war der erste, der eine quasi individualisierte Darstellung Luzifers wagte: Nur zwei Gestalten sind dargestellt: Über dem stürzenden Lucifer schwebt, weit mit dem Schwert ausholend, der siegreiche Michael. Der Hintergrund ist aus­ schließlich von ineinanderwirbelnden Wolken gebildet, die sich vom oberen zum unteren Bildrand zunehmend verdunkeln, so daß Michaels Kopf und Oberkörper von einer leuchtenden Fläche sich abheben, während Lucifers Flü­ gel schon mit dem Dunkel verschmelzen. [...] Nicht mit Scharen von Gefährten fällt Lucifer, sondern einsam und hilflos. Die Verlorenheit, die sich hierin ausdrückt, erscheint verstärkt im Antlitz Lu­ cifers. Er ist weder Tier, etwa ein Drachen, noch ein häßlicher Mensch; er ist keine Kontrastfigur zu Michael, sondern - zum ersten Mal in der italienischen Kunst - die interessantere Gestalt. Abwehrend erhebt er die Hände, als er sieht,

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wohin er stürzen wird. [...] Sein umschattetes Gesicht ist nicht häßlich, sondern läßt die Schönheit des Engels erkennen.14

Es sind also durchaus menschliche Emotionen wie Furcht, Entsetzen und Trauer, die sich in Luzifers Gesicht widerspiegeln und obgleich es die Inten­ tion Lottos war, den himmlischen Triumph über Luzifer in seiner ganzen Größe darzustellen, ist es doch eher die Gestalt des Luzifer, die zur Identifi­ kation einlädt. Hatte Lotto das Dämonische individualisiert, so ging es Tintoretto da­ rum, das Individuelle zu dämonisieren. Tintoretto war einer der bedeutend­ sten Maler der Gegenreformation; als solcher war er bestrebt, die alte Ord­ nung zu verteidigen und gerade das Individuelle, das aus dieser Ordnung fällt, sich über sie zu erheben, sich als Individuelles abzugrenzen trachtet, mußte ihm als das Dämonische erscheinen. Daß auch bei seinem Gemälde Versu­ chung Christi Satan als der Interessantere erscheint, liegt wohl daran, das eben jenes Individuelle, das dort dämonisiert wird, historisch gesehen den Sieg da­ vongetragen hat, während die von Tintoretto verteidigte Ordnung letztendlich nicht zu retten war. Als attraktiv wird eben stets das empfunden, was sich durchgesetzt hat - die Ambivalenz des Empfindens resultiert im Falle der "traurigen Schönheit Luzifers" lediglich aus dem Umstand, daß dieser selbst nie darauf angelegt war, allgemeine Akzeptanz zu erlangen. Das Gemälde selbst zeigt Satan oder Luzifer - Tintoretto gebrauchte hier keinen Namen, doch allgemein pflegt man die ästhetisch ansprechenderen Gestalten Luzifer zu nennen, weil dieser Name besser mit der Schönheit der Gestalt harmoniert; eine reflektierte Unterscheidung hat man in diesem Sinne erst viel später unternommen - wie er Jesus die Steine anbietet, die die­ ser zu Brot verwandeln soll. Besonders markant ist das Gesicht Satans: Es ist fleischig, weich geschwungen, mit sinnlichem Mund, großen schwermüti­ gen Augen, in denen Glanzlichter wie aus dunklem Teich aufleuchten - darüber äußerst schmale, grathafte Brauen; und dieses ausdrucksvolle, zugleich schmerzliche und allen mit Sinnen zu erfassenden Genüssen weit geöffnete Ge­ sicht ist umweht und belebt durch reiche Locken. Während das Gesicht Christi im Ausdruck leicht zu erfassen ist, milde Zurückweisung erkennen läßt, bleibt Satans Antlitz im Ausdruck verschlossen; er ist der Versucher, der weniger zu versuchen scheint, als melancholisch sinnt.15

Die Versuchung ist hier in erster Linie Anlaß zur Selbstreflexion, sie ent­ spricht nicht Satans eigentlichem Wesen. Das unbewegte Antlitz Christi, in dem sich gleichsam die unumstößliche Ordnung des Objektiven widerspiegelt, scheint Satan an seine eigene verlorene Vergangenheit, sein einstiges Gebor-

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

gensein in der Harmonie zu erinnern. Die Aussichtslosigkeit seines Unterfan­ gens scheint ihm bewußt, wie auch seine Machtlosigkeit diesem Objektiven gegenüber. Daß aber wiederum der Trauernde sich selbst nicht ergibt, und die Schwermut nie in Resignation umschlägt, beweist die Kraft erwachter Individualität, die dem Objektiven gegenüber das Ihre bewahrt und ihm gerade dann sich nicht ihm ausliefert, wenn sie ihre Schwäche ihm gegenüber erkennt.16

Eben hierin zeigt sich die Unwiderruflichkeit des einsetzenden Wandels und letztlich die zwangsläufige Niederlage des mittelalterlichen Ordo. Die Dämo­ nisierung des Individuellen erscheint hier als letztes, beinahe schon verzwei­ feltes künstlerisches Mittel, sich dem Wandel entgegenzustemmen. Tintoretto erweist sich so als einer der ersten unfreiwilligen Wegbereiter des modernen Satanismus. Ihm sollte noch so mancher folgen.

Zwar handelt es sich hier noch um Einzelphänomene, die im 16. Jahrhundert keine literarischen Entsprechungen fanden, doch diese sollten im 17. Jahr­ hundert folgen. Vor allem vier Werke sind in diesem Zusammenhang her­ vorzuheben: Jacques de Thous Parabata vinctus (1595), Grotius’ Adamus excul (1601), Joost van den Vondels Lucifer (1654) und natürlich Miltons Paradise Lost (1667). Thou sah in der Superbia, der Hoffart und der Eigenliebe die Hauptsün­ den Satans. Diese Eigenschaften machte er für die Wirren seiner Zeit verant­ wortlich. Dadurch, daß der Mensch sich nicht mit seiner gottgewollten Be­ stimmung zufriedengibt, daß er über seinen angeborenen Stand hinausstrebt, muß jede Ordnung zerrüttet werden. Folge ist Chaos und Bürgerkrieg. Sein Ideal hingegen ist der loyale, einem starken König ergebene Bürger, der sich mit relativen Freiheiten, wie der Gewissensfreiheit, zufriedengibt. Thou redet damit nicht einer Restauration, sondern einer religiösen Toleranz das Wort; diese Toleranz sieht er jedoch nicht als Wert an sich, sondern als vernünftige Notwendigkeit in einer Zeit der Religionskriege. Sein Anliegen ist also prag­ matischer Natur. Er selbst war zwar Katholik, stand aber in hugenottischen Diensten - und so wird denn auch von Satan in Parabata vinctus nicht Unter­ werfung, sondern loyale Unterordnung verlangt, denn die absolute Freiheit kann nur ins Chaos führen. Satan, den Thou in seiner Tragödie Parabata (Frevler) nennt, weist, obwohl besiegt und gefesselt, jeden Kompromiß zu­ rück. Erst durch schiere Gewalt ist er dazu zu bewegen, sich Gottes Macht zu unterwerfen, nachdem er jede Stimme der Vernunft mißachtet hat. Das eigentlich Bemerkenswerte an Thous Tragödie ist aber, daß Satan mit Prometheus in Beziehung gesetzt wird, mit einer Gestalt also, die sich um 56

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den Menschen verdient gemacht hat, und die weit positiver bewertet wurde, als dies bei Satan je der Fall war. Obschon Parabata also zweifellos im Un­ recht gesehen wird, gewinnt er durch den Vergleich mit Prometheus doch ein größeres Maß an Komplexität, als dies Satan jemals zugebilligt wurde. Was bereits dadurch angedeutet wurde, daß Thou sein Drama eine Tragödie nennt - die Niederlage eines eindimensionalen, bösen Teufels könnte kaum den Stoff für eine Tragödie abgeben. Weicht Parabata letztlich auch nur der Gewalt, so befand es Thou doch für notwendig, dessen Unrecht mittels vernünftiger Gründe zu beweisen. Schon darin zeigt sich, daß das, was bislang fraglos und selbstverständlich vor­ ausgesetzt wurde, so selbstverständlich nicht mehr war - es bedurfte der Ar­ gumente, um Parabatas Hoffart und Eigenliebe in ihre Schranken zu verwei­ sen. Ebenso wie bei Grotius klagt Satan hier nicht mehr den Menschen, son­ dern Gott an. Die Bedrohung des Menschen durch Satan tritt in den Hinter­ grund, Satan wird als Widersacher Gottes gesehen und dem Menschen, der über freien Willen verfügt, ist die Wahl potentiell anheimgestellt. Bei Grotius führt Satan bereits den Wahlspruch "Lieber nicht sein, als unfrei sein" im Mund. Die Verteufelung individuellen Freiheitsstrebens macht aus Satan einen Freiheitshelden, einen Fragwürdigen zwar, doch steht die Wertung hier bereits auf tönernen Füßen. Als konservativ-feudaler Rebell tritt Luzifer in Vondels Trauerspiel auf. Er wirft Gott vor, den Menschen entgegen der Vereinbarung, daß er der Zweite im Himmelreich sei, rangmäßig über die Engel gestellt zu haben. Mit anderen Worten, er wirft ihm den Bruch des Investiturvertrages vor. Gott ist freilich bereits ein absolutistischer Monarch, der seinem (Engels-) Adel kei­ nerlei Rechenschaft schuldig ist. Auch hier ist die Sünde Luzifers die "Staatszucht", das heißt die machtpolitische Überheblichkeit. Daß sich dergleichen politische Auseinandersetzungen just in Frankreich abspielten, wirft zwar ein interessantes Licht auf Vondels Drama, ist aber für die Entwicklung der Satansvorstellung weniger von Belang. Der politische Hintergrund des Dramas war in erster Linie nur für Vondels unmittelbare Zeitgenossen, sowie natürlich für den Historiker relevant. Es zeigt sich viel­ mehr, daß Satan (bzw. Luzifer) selbst in einem vorwiegend politisch motivier­ ten Drama als rebellierender Engel dargestellt wird, der durchaus individuelle Züge trägt. Der Höhepunkt dieser Umgestaltung Satans ist zweifellos in Miltons Pa­ radise lost erreicht. Hier erscheint Satan als der edle, unbeugsam stolze, schöne und traurige Rebell. Eine Romantisierung dieser Satansgestalt war

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

praktisch unvermeidlich. Milton weist Satan zwar die Schuld am schlechten, unerlösten, unheilen Zustand dieser Welt zu, dennoch ist er unbestreitbar eine faszinierende Gestalt. Obwohl zu berücksichtigen ist, daß das (auf den Einzelnen bezogene) Wort "Freiheit” seinen positiven Klang erst in den letz­ ten drei Jahrhunderten erhalten hat, dürfte Miltons Satan auch die Zeitge­ nossen nicht nur erschreckt haben. Satan ist bei Milton ein tragischer Charak­ ter im vollen Sinne des Wortes, und in ihm spiegelt sich die so empfundene Tragik einer Menschheit, die der göttlichen Harmonie entwachsen ist. Wie der Satan Tintorettos ist auch der Miltonsche Satan von Trauer und Zweifel erfüllt und wie dieser ergibt er sich dennoch nicht: Me miserabel! which way shall I fly Infinite wrath and infinite despair? Which way I fly is hell; myself am hell; And in the lowest deep a lower deep Still threat’ning to devour me opens wide, To which the hell I suffer seems a heav’n. O then at last relent: is there no place left for repentance, none for pardon left? None left but by submission; and that word Disdain forbids me.17

Bereits William Blake bemerkte: "The reason Milton wrote in fetters when he wrote of Angels and God, and at liberty when of Devils and Hell, is because he was a true poet and of the Devils party without knowing it."18 In der Tat legte Milton Satan so manchen Satz in den Mund, den jeder Satanist ohne weiteres nachsprechen würde. Auch die äußere Erscheinung Satans ist bei Milton von jener dunklen, traurigen Schönheit, die vor allem die schwarzen Romantiker des 19. Jahr­ hunderts aufs äußerste faszinierte. So schrieb Baudelaire etwa 200 Jahre spä­ ter; Ich habe die Merkmale des Schönen, meines eigenen Begriffs vom Schönen, ge­ funden. Es ist etwas Glühendes und Trauriges zugleich. Ich anerkenne keinen Schönheitstyp, der nicht mit Unglück verhaftet ist. Da ich von diesen Ideen be­ wegt - man könnte auch sagen: besessen bin, wird man zugestehen, daß es mir schwer fallen würde, auf den Schluß zu verzichten, daß der vollkommenste männliche Schönheitstypus der Miltonsche Satan ist.19

Mit Miltons Paradise Lost kann die Wandlung des Satansbildes, die im 16. Jahrhundert einsetzte als abgeschlossen gelten - eine Umwertung, wie Lord Byron sie schließlich in Cain vornahm, ist lediglich als letzte Konsequenz die­ ses Prozesses anzusehen, die früher oder später zwangsläufig gezogen werden 58

Die Wandlung des Satansbildes im 16. und 17. Jahrhundert

mußte. Osterkamp bemerkt hierzu sehr treffend: "Nicht mehr ist der gefallene Engel die Konzentration des Lasterkatalogs in einer Figur, sondern die Ge­ stalt gewordene Dissonanz zwischen Welt und Einzelnem, die um ihre Unwiderrufbarkeit sicher weiß."20 Nun hat sich im 17. Jahrhundert keineswegs die allgemeine Auffassung von Satan vollständig geändert - die theologischen Satanslehren blieben weitge­ hend unverändert und auch der theologisch projizierte Satanismus änderte sich nicht wesentlich, was die im 18. Jahrhundert einsetzende Verteufelung der Freimaurer nur zu deutlich zeigt. Doch das Satansbild war vielschichtiger geworden, theologische Lehren waren nicht mehr die einzige Grundlage der Satansvorstellungen und gerade das Satansbild, das ein Puritaner wie Milton gezeichnet hatte, konnte bei ausreichend antiklerikaler Einstellung ohne wei­ teres zu einer positiven Wertschätzung Satans führen. Diese Vielschichtigkeit geht über bloße Ambivalenz hinaus. Auch der Satan des Mittelalters war am­ bivalent, einerseits war er die Personifizierung des Zerstörerischen und La­ sterhaften, andererseits wurde der Reiz, der vom sogenannten Laster ausging, ja nie bestritten. Verteufelt man das Sexuelle, Triebhafte, so verleiht man dem Teufel dadurch eine nur schwer zu brechende Anziehungskraft - der ganze sich daraus ergebende Wust von Schuld und Sühne konnte der Kirche nur recht sein. Doch gerade jene Laster, die den Charakter Satans bislang prägten, standen bei den oben angeführten Satansgestaltungen im Hintergrund, wo­ hingegen die "Laster der Individualität" hier als die eigentlich satanischen auf­ gezeigt werden. Darüber hinaus wurden Satan selbst solche Eigenschaften zu­ gesprochen, die in anderem Zusammenhang als Tugenden geschätzt wurden, wie Standhaftigkeit, Mut, Unbeugsamkeit, Stolz usw. Auch dieser neue Satan war ambivalent, nur war dies eine Ambivalenz gänzlich anderer Art. Seit dem 17. Jahrhundert existierten immer eine Vielzahl verschiedener Satanskonzeptionen nebeneinander, und die eines expliziten Satanismus konnten sich erst auf dieser Grundlage entwickeln. Ein echter Satanismus war auf der Grundlage früherer Satanskonzeptio­ nen schlichtweg nicht vorstellbar. Jedes Sicheinlassen auf Satan, ob dies ein reales oder nur ein phantasiertes war, bedurfte eines pragmatischen Motivs: Wohl schloß man einen Pakt mit dem Teufel, aber dies nur in Erwartung ei­ ner Gegenleistung - und selbst wenn man diese erhielt, versuchte man seine Seele oft noch irgendwie zu retten. Niemand wäre auf die Idee gekommen, einen Pakt nur einfach so, aus "Sympathy for the Devil", zu schließen. Und auch den Hexen schob man sexuelle Motive, Gier oder im günstigsten Fall Abhängigkeit als Gründe für ihre Teufelsgefolgschaft unter. Selbst jene, die

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

ohne viel Skrupel so handelten und lebten, daß es dem mittelalterlichen Satan eine Freude gewesen wäre (zum Beispiel so mancher Papst), taten dies nicht aus einer reflektierten satanistischen Haltung heraus. Solcherart und ohne Skrupel zu handeln, war schon immer denjenigen möglich, für die die aner­ kannten ethischen und moralischen Regeln keine wirkliche Verbindlichkeit besaßen, sondern nur formbare Fassade darstellten. Eine dazu passende sata­ nistische Theorie war jedoch undenkbar und wurde auch nicht erdacht, ebenso wie ein radikaler Individualismus zwar gelebt, vor dem 17. Jahrhun­ dert aber ebenfalls nicht auf reflektierte Art begründet werden konnte. Tatsächlich war Stirner der erste, der dies - jedoch viel später - unternahm. Erst ab dem 16. Jahrhundert begann Satan ein gewisses Eigenleben zu entwickeln, begann er substantiell mehr zu werden und zu sein als nur die Ab­ spaltung der dunklen Seiten Jahwes und die Ansammlung der in Ungnade ge­ fallenen Eigenschaften älterer Gottheiten (ein metaphysischer Mülleimer so­ zusagen). Daß sich im Rahmen der antiklerikalen Strömungen der letzten 200 Jahre der Satanismus nicht zu einer weit machtvolleren Bewegung entwikkelte, lag nicht unwesentlich daran, daß diese beiden Jahrhunderte in erster Linie eine Zeit der Säkularisierung waren - wer Gott verwarf, verwarf auch Satan (und Satan war noch weit davon entfernt, Atheist zu sein). Davon abge­ sehen war Satan trotz aller Romantisierung natürlich immer eine Negativge­ stalt geblieben, denn auch seine romantisierten Eigenschaften (sein Rebellentum, seine Selbsterhebung usw.) waren so beschaffen, daß ihm gesellschaftli­ che Akzeptanz versagt bleiben mußte. So war Satanismus immer auch mit ei­ ner gewissen Protesthaltung verbunden, was nicht einmal ungern gesehen wurde, da so die Möglichkeit gegeben war, den Protest und die Unangepaßt­ heit zu verteufeln.

Schwarze Messen in Frankreich

Der Satanismus war lange Zeit, nämlich vom 17. bis zum 20. Jahrhundert eine vorwiegend französische Angelegenheit. Erst im 20. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt satanistischer Systembildungen in den angloamerikani­ schen Kulturbereich.

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Schwarze Messen in Frankreich

So fanden die ersten wirklich nachweisbaren schwarzen Messen im Frankreich des 17. Jahrhunderts statt. Einige Autoren sehen in diesen makab­ ren Ritualen eine Degeneration der mittelalterlichen Hexensabbate wie auch der spätgnostischen Riten - tatsächlich handelt es sich aber um die ersten "echten" schwarzen Messen, die nach heutigem Wissensstand überhaupt zele­ briert wurden. Sicher waren diese von den Phantasien vergangener Jahrhun­ derte inspiriert, zumal diese Phantasien im 17. Jahrhundert noch allgemein für bare Münze genommen wurden. So handelt es sich zum Teil um nichts anderes als um die Realisierung dessen, was die Kirche jahrhundertelang als real hingestellt hatte, und richtig ist auch, daß in den realen schwarzen Mes­ sen das metaphysische Element weit in den Hintergrund gedrängt worden war. Insofern degenerierten die schwarzen Messen allerdings auf ihrem Weg von der heiligen Phantasie in die unheilige Realität - wenn man in der Ver­ nachlässigung des Metaphysischen denn eine Degeneration sehen will. Das Satansbild, das diesen schwarzen Messen zugrundelag, war noch ein mittelalterliches, und der Charakter dieser Rituale entsprach diesem Satans­ bild, das im übrigen nicht weiter reflektiert wurde. Denn eigentlich handelt es sich hier noch nicht um einen Satanismus im strengen Wortsinn, sondern es herrschte immer noch der Geist des Handels, der für den klassischen Teu­ felspakt wie auch für die Dämonenmagie typisch ist.

Zunächst erregten diverse Fälle von Klostersatanismus einiges Aufsehen in Frankreich, wobei die Authentizität dieser Vorgänge aber höchst fraglich ist. Einer der spektakulärsten Fälle dieser Art, die Vorgänge im Ursulinenkloster von Loudon, denen der Priester Grandier zum Opfer fiel, wurde schließlich als betrügerischer Schwindel entlarvt, und ein weiterer aufsehenerregender Fall, der der Nonnen von Lauviers, ist, was seine Authentizität anbelangt, zu­ mindest suspekt. Ins Rollen gebracht wurde die Sache durch die Beichte der Klosterpförtnerin Magdelaine Barvent im Jahre 1647. Ihrer Aussage nach gingen im Kloster von Lauviers 14 Jahre lang merkwürdige Dinge vor: Ange­ stachelt durch drei Beichtväter, den zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbenen Beichtvater David, seinen Nachfolger, den ebenfalls verstorbenen Picard, und schließlich durch den noch amtierenden Beichtvater Boulle, sollen die Non­ nen exzessive sexuelle Handlungen, Hostienschändungen, Kindstötungen und schwarzen Messen praktiziert haben. Während David noch gelehrt haben soll, daß die Sünde durch die Sünde besiegt werden müsse, sei Picard bereits einen Teufelspakt eingegangen. 1647 fühlten sich dann 14 von 52 Nonnen vom Teu­ fel besessen. Die Vorgänge im Kloster wurden von der Barvent in den Verhö­ ren wie folgt geschildert:

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Ich sage also, das die Bosheit der Priester, die sich hauptsächlich bei diesen nächtlichen Versammlungen einfinden, bis zu dem Punkt geht, daß sie oftmals große, in der Kirche konsekrierte Hostien mitbringen, die sie auf eine Art Altar legen, der dort ist, dann ihre Messe lesen; sie danach wieder nehmen, das Rund in der Mitte in der Größe eines viertel Talers ausheben; sie auf ein durchbohr­ tes und nach der derselben Art eingerichtetes Pergament auflegen, sie dort mit einer Art Fett, die Pech gleicht, befestigen; sie dann über ihr Schamteil bis an den Bauch ziehen und sich in diesem Zustand der Gemeinschaft mit Frauen hingeben. Am Tag von Gründonnerstag habe ich gesehen, wie das Abendmahl auf eine schreckliche Weise vollzogen wurde. Man brachte ein Kind herbei, das ganz gebraten war. Es wurde von der Versammlung gegessen. [...] Aber bemer­ kenswerter ist, daß während dieses so abscheulichen Mahles ein Dämon die Runde um den Tisch machte und schrie: ‘Nicht einer unter euch wird mich ver­ raten’.21

Boulle und ein Priester wurden schließlich verbrannt, die Nonnen wurden zum Teil eingekerkert, zum Teil auf andere Klöster verteilt. 1652 wurde die Geschichte der Barvent in Paris veröffentlicht und hatte Auseinandersetzun­ gen zwischen Kirche und Justiz auf der einen und einigen Wissenschaftlern, wie dem Hofchirurgen Yvelin, auf der anderen Seite zur Folge. Ganz geklärt werden konnte der Fall nie, fest steht nur, daß es in diesem Kloster zu sexu­ ellen Ausschweifungen gekommen war - etwas in Klöstern nicht eben Unübli­ ches -, wodurch bei einigen Nonnen hysterische Reaktionen ausgelöst wurden. Bedenkt man, daß zu dieser Zeit ein großer Teil der Nonnen nicht ganz frei­ willig oder zumindest nicht aus echter Berufung den Weg ins Kloster gefun­ den hatte, sind solche Vorgänge durchaus verständlich; nun war man aber noch weit davon entfernt, die psychischen Reaktionen auf solche Lebensum­ stände realistisch einzuschätzen, eher war man geneigt, darin das Werk des Teufels zu erblicken. Vollkommen auszuschließen sind derartige Exzesse an­ dererseits aber auch wieder nicht, die Atmosphäre zwiespältiger Frömmigkeit und unterdrückter Sexualität wäre zumindest ein geeigneter Nährboden für sexuell aufgeladene schwarze Messen. Das öffentliche Interesse, das diesen Berichten entgegengebracht wurde, war in jedem Falle immens und die Art und Weise, wie diese Vorgänge von der Pariser Boulevardpresse ausgeschlachtet wurde, dürfte weder im Sinne der Kirche noch in dem der aufgeklärten Kirchenkritiker gewesen sein. Auch dies ein neues Phänomen, ein Zeichen für die fortschreitende Säkularisie­ rung. Sind diese Berichte über den Klostersatanismus, der, sollte er wirklich so stattgefunden haben, als reaktiver Satanismus zu werten wäre, auch durch und

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Schwarze Messen in Frankreich

durch suspekt, so dürften sie doch die ersten wirklich zweifelsfrei nachweisba­ ren schwarzen Messen wesentlich beeinflußt haben.

Solche ereigneten sich in großer Zahl in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun­ derts in Paris. Bekannt wurden diese Vorgänge im Jahre 1679, im selben Jahr wurde eine spezielle Gerichtskammer installiert, die sich mit größter Diskre­ tion mit diesen Vorfällen befassen sollte. Trotzdem sickerte einiges durch. Die Prozeßprotokolle dieser Gerichtskammer sind im Gegensatz zu denen vieler früherer Prozesse ernstzunehmende Dokumente und man kann davon ausgehen, daß sie die tatsächlichen Geschehnisse relativ zuverlässig wiedergeben, da im Rahmen dieser Verhöre weder Folterungen noch sugge­ stive Befragungen stattfanden, wie dies bei den Hexenprozessen ja gang und gäbe war. Selbstverständlich waren auch dies keine Verhöre, die modernen rechtsstaatlichen Maßstäben genügen würden, doch es läßt sich nicht leugnen, daß sie unvoreingenommen und mit dem Ziel einer tatsächlichen Wahrheits­ findung geführt wurden. Die Hauptangeklagten legten, angesichts der Fülle belastenden Materials, denn auch relativ anstandslos umfassende Geständ­ nisse ab und versuchten sich nur in Detailfragen gegenseitig zu belasten, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Der Tätigkeitsbericht der Kammer führt 367 Haftbefehle auf, von den 442 Angeklagten wurden 36 zum Tode verurteilt, zwei starben im Gefängnis, fünf wurden auf die Galeere geschickt, 23 wurden verbannt; am 21. Juli 1682 wurde die Kammer auf Befehl des Königs schließlich aufgelöst, da die Er­ mittlungen ergeben hatten, daß zahlreiche hochgestellte Persönlichkeiten in die Vorgänge verwickelt waren - ein Skandal sollte vermieden werden, daher wurden auch die Prozeßakten auf Befehl Ludwig XIV. vernichtet; nur den umfangreichen, heimlich angefertigten Kopien der Prozeßakten sind die gründlichen Kenntnisse, die wir heute über diese Vorgänge haben zu verdan­ ken. Die Diskretion, die Ludwig XIV. an den Tag legte, ist nur allzu verständ­ lich, wenn man bedenkt, daß sich unter den Angeklagten nicht wenige Ange­ hörige des königlichen Hofes befanden, allen voran Madame de Montespan, die langjährige Mätresse Ludwig XIV., die ihm immerhin sieben offiziell an­ erkannte Kinder geboren hatte. Solch düstere Machenschaften in seiner näch­ sten Umgebung konnten dem "Sonnenkönig" natürlich nicht genehm sein, und da er gerade die prominentesten unter den Schuldigen nicht bestrafen konnte, ohne einen Skandal zu riskieren, beendete er die Untersuchungen kurzer­ hand, was auch einigen der weniger bekannten Angeklagten das Leben ret­ tete.

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Die besagten schwarzen Messen dienten ausschließlich der sogenannten Er­ folgsmagie, das heißt es handelte sich dabei vorwiegend um Liebes- oder Schadenszauber; es sind keine Fälle aktenkundig, bei denen solche Messen um ihrer selbst willen oder aus religiöser Motivation heraus zelebriert wurden, immer dienten sie zur Erlangung eines profanen Vorteils. Die Messe wurde für gewöhnlich von einem geweihten Priester auf dem nackten Körper einer Frau gelesen, und neben Satans- oder Dämonenbeschwörungen, Hosti­ enschändungen und sexuellen Akten waren auch Blutopfer Bestandteil sol­ cher Messen. Geopfert wurden Tiere, aber auch Kindstötungen waren nichts Ungewöhnliches: man bediente sich abgetriebener Embryonen, Frühgeburten oder noch lebender Säuglinge - es gab nicht wenige Hebammen, die die Be­ schaffung der Säuglinge und Embryonen bewerkstelligten und an Frauen, die in ihrer Not bereit waren, sich der Frucht eines unehelichen Verkehrs auf diese Weise (bisweilen gegen ein geringes Entgelt) zu entledigen mangelte es in Paris keineswegs. Die Akten erwähnen sogar Fälle, in denen Prostituierte ihre Kinder im Rahmen eines satanistischen Rituals gebaren, um sie sogleich in die Hände der Zauberinnen oder Priester zu geben, die diese dann opfer­ ten. Dies konnte lange Zeit geschehen, ohne daß sich die staatlichen Ord­ nungskräfte sonderlich darum kümmerten. Die Angelegenheiten des "Abschaums" waren nicht von Interesse. Es deutet vieles darauf hin, daß solche schwarzen Messen wirklich erst­ mals im Paris während der Regentschaft Ludwig XIV. stattfanden. Nur in ei­ ner dichtbevölkerten Metropole, deren Bevölkerung zum großen Teil ver­ elendet und zum Teil aus jedem traditionellen sozialen Gefüge gefallen war, waren solche Praktiken im großen Stil und über Jahrzehnte hinweg möglich. Erst als die Hexenverfolgung zum Erliegen kam, wurden also tatsächlich schwarze Messen zelebriert, angeregt sicherlich auch durch die Berichte der Inquisitoren. Auf dem Höhepunkt der Inquisition waren diese Berichte frei­ lich bloße Erfindung. Betrachtet man die zentralen Figuren dieser schwarzen Pariser Szene, so muß man feststellen, daß diese den (heute) allgemein gängigen Vorstellungen und Vorurteilen in einer Weise entsprechen, daß es schon beinahe wieder un­ glaubhaft erschiene, gäbe es dafür nicht wirklich harte Beweise. Man ist fast geneigt zu glauben, daß alles doch so ist, wie man es sich immer vorgestellt hat. Dem Hexenbild der Inquisition entsprechen sie allerdings keineswegs vollständig. Da wäre zunächst die Hauptperson, Catherine Deshayes, verehelichte Monvoisin, genannt La Voisin: Als Magierin, Wahrsagerin, Handleserin und Giftmischerin sehr erfolgreich, vor allem in den höheren Kreisen von Paris.

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Schwarze Messen in Frankreich

Sie wird als zänkisch, machthungrig und trunksüchtig beschrieben, anderer­ seits soll sie aber auch etwas frömmlerisch gewesen sein, was sich darin äusserte, daß sie darauf bestand, daß die Säuglinge vor der Opferung getauft wer­ den sollten, um so deren Seele zu retten. Dieser morbid-frömmlerische Zug findet sich übrigens bei vielen französischen Okkultisten. Ihr Liebesleben soll ausschweifend gewesen sein, oft soll sie mehrere Af­ fären nebeneinander unterhalten haben, darunter auch eine mit - und dies ist nun wirklich fast zu schön um wahr zu sein - Andre Guillaume, dem Henker von Paris. Unterstützt wurde sie u. a. vom Abbe Guiborg, einem alten, schielenden, ehemaligen katholischen Priester und dem Magier und Taschenspieler Lesage (dies ist der letzte seiner angenommenen Namen), der wegen "dämonischer Gebräuche" zu einer Galeerenstrafe verurteilt wurde, dank der Beziehungen Voisins aber 1672 wieder auf freien Fuß kam. Lesage betätigte sich ebenfalls in Paris mit großem Erfolg als Magier dabei ließ er zum Beispiel die Wünsche seiner Kunden auf Billete schreiben, die er an den Teufel weiterreichte, um sie kurze Zeit später mit des Teufels Antwort wieder zurückzuerhalten. Es bleibt anzumerken, daß Lesage auf Be­ treiben Voisins zu der erwähnten Galeerenstrafe verurteilt wurde, die sich auf diese Weise dafür rächen wollte, daß er ihr Kunden abspenstig machte. Die Akten erwähnen noch eine ganze Reihe weiterer Beteiligter, die al­ lesamt recht gut in diese einnehmende Gesellschaft passen. Die prominenteste Kundin Voisins war die bereits erwähnte Madame de Montespan, die von 1668 an mit Unterbrechungen 13 Jahre lang die Mätresse des Königs Ludwig XIV. war. Die schwarzen Messen, die sie in Auftrag gab und bei denen sie teilweise persönlich als "Altar" fungierte, dienten dem Zweck, die Gunst des Königs zu erlangen bzw. zu erhalten oder waren gegen ihre Rivalinnen gerichtet. Solche Messen ließ die Montespan zwischen 1666 und 1679 immer dann zelebrieren, wenn das Wohlwollen des Königs zu wan­ ken schien - und das war des öfteren der Fall. Als sie sich 1679 endgültig in Ungnade gefallen glaubte, entschloß sie sich, einen Mordanschlag auf Ludwig XIV. zu verüben, mittels Magie und mittels eines Giftes, das Voisin ihr be­ schaffte. Dieser Anschlag scheiterte und er war der eigentliche Grund, das oben erwähnte Verfahren einzuleiten. Über diese u. a. im Auftrag von Mon­ tespan zelebrierten schwarzen Messen wissen die Prozeßakten einiges zu be­ richten, der französische Historiker Frantz Funck-Brentano, der sich intensiv mit diesen Akten befaßte, berichtet: Aus den Händen des Abbe Mariette [ein anderer in diese Vorgänge involvierter Priester], der auf ihrem Haupte Messen las und Beschwörungen über Tauben­ herzen hersagte, gelangte sie in diejenigen des Abbe Guiborg, der die schwar-

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

zen Messen abhielt. [...] Für seine grauenhaften Ceremonien ermordete er seine eigenen Kinder, die er von seiner Mätresse, einer dicken rothaarigen Person namens Chanfrain, hatte. [...] Er las die Messe nach kirchlichem Ritus, mit dem Chorhemd, der Stola und der Armbinde bekleidet. Diejenigen, auf deren Leib die Messe gelesen wurde, lagen völlig entblößt auf einem als Altar dienendem Tische, mit ausgestreckten Armen, in jeder Hand eine Kerze haltend. [...] Den Kelch stellte man auf den nackten Leib. Im Augenblick der Opferung wurde ein Kind getötet, das Blut des sterbenden Opfers in den Kelch geträufelt, wo es sich mit dem Blut von Fledermäusen und anderen durch widerliche Manipulationen erhaltenen Stoffen vermengte. Nun fügte man Mehl hinzu, um die Mischung dicker zu machen, welche alsdann die Form einer Hostie erhielt und in dem Momente, da während des Meßopfers Gott auf den Altar niedersteigt, geweiht wurde.22

Die Wirkung dieser Rituale sollte oftmals noch durch Gifte oder "Liebespul­ ver", die dem Opfer verabreicht wurden, verstärkt werden, denn im Mittel­ punkt des Ganzen stand ja nicht eine wie auch immer geartete religiöse Moti­ vation, sondern allein der angestrebte profane Erfolg.

Am Ende der Prozesse war lediglich das Todesurteil an Voisin vollstreckt worden, Madame de Montespan wurde nicht belangt, obwohl sie für die Er­ mordung des Königs immerhin 100.000 Taler ausgesetzt hatte. Sie wurde nur in eine etwas kleinere Wohnung, die vom Zentrum des Königshofes etwas weiter entfernt lag, umgesiedelt und Ludwig XIV. strafte sie fortan durch Mißachtung, zahlte ihr aber weiterhin eine beträchtliche Leibrente. Sie be­ schloß ihr Leben freiwillig in einem von ihr gegründeten Kloster und kehrte so letztendlich in den Schoß der Kirche zurück.

Diese Vorgänge, die so herrlich allen Klischees entsprachen, die dem Sata­ nismus und der schwarzen Messe für gewöhnlich beigesellt werden, dienten natürlich als Vorlage für zahlreiche drittklassige Romane der schwarzen Ro­ mantik, und auch der Marquis de Sade verarbeitete diesen Stoff in seinem Roman Justine. Des weiteren sind die meisten der vielen Skandal- und Schau­ erberichte über angebliche schwarze Messen bis in die Gegenwart hinein nichts anderes als Rückgriffe auf eben diese Vorkommnisse, die jeder realen Grundlage entbehren. In der Geschichte des Satanismus stellen diese Pariser Rituale die Ausnahme, nicht die Regel dar. Nur in der spezifischen Atmo­ sphäre, die in Paris während der Regentschaft des Sonnenkönigs herrschte, konnte solches Geschäft - und nichts anderes als ein Geschäft war es letzten Endes - florieren.

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So waren diese schwarzen Messen auch im großen und ganzen unkreativ und unreflektiert - die Gestaltung der Rituale orientierte sich weitgehend an gängigen Klischees, und die einzige philosophische Grundlage, nach der man handelte, ohne sich die Mühe zu machen, sich auf diese zu berufen, war das Machiavellische Postulat, daß der Zweck eben die Mittel wenn schon nicht heiligte, so doch rechtfertigte. Und der Zweck war allemal die Erfüllung pro­ faner Begierden, für die Satan, als Herr irdischer Laster und Lüste eben zu­ ständig war. Das Weltbild einer bereits damals konservativen Theologie wurde dabei nicht verlassen, man verhielt sich exakt so, wie sich Satanisten eben gemäß dieses Weltbildes verhalten, allenfalls mit dem Unterschied, daß die Zauberer die schwarzen Messen nicht des Vergnügens, sondern des Geldes wegen zelebrierten. Im ganzen handelt es sich also um ein Beispiel für einen reaktiven Satanismus, wobei die Protesthaltung allerdings völlig fehlt. Man erinnere sich, daß Voisin ihre Skrupel dadurch besänftigte, daß sie die Säuglinge vor ihrer Opferung taufen ließ. Über diesem "satanischen" Verhalten dürfen jedoch tiefgreifende Unter­ schiede, die Motivation und Ritus gegenüber den von der Inquisition etablier­ ten Vorstellungen von Hexen und Hexensabbaten aufweisen, nicht übersehen werden:

Eine Verehrung Satans, sei es eine religiöse oder eine ideelle, ist hier nicht festzustellen. Die Haltung ist generell amoralisch, und dämonische Mächte wurden nur als Mittel zum Zweck gesehen. - Der Zweck der Riten war vollständig profan. - Den schwarzen Messen fehlte jedes orgiastische Element - sexuelle Handlungen wurden lediglich an der als Altar dienenden Frau vorgenom­ men und dies nur auf eine vorher festgelegte, in die straffe Ritualstruktur integrierte Art. Jede Art von Wildheit und Ausgelassenheit, jedes archai­ sche Element würde man hier vergebens suchen. - Die Rituale hatten keinerlei Initiationscharakter, die ausführenden Magier stellten zwar eine "verschworene Gemeinschaft" dar, doch war dies nicht durch rituell-formelle Akte besiegelt, noch waren sie Mitglieder eines Geheimordens oder durch gemeinsame Glaubenssätze oder weltan­ schauliche Überzeugungen, die über den Glauben an die Wirksamkeit dieser Art von Magie hinausgingen, verbunden. Die Tochter von Voisin wurde beispielsweise einfach aufgrund dessen, daß Voisin sie für alt genug hielt, zu den Messen hinzugezogen, ohne jede rituelle Einführung. -

Die Ursachen für diese Blutriten dürften nicht in der Religions-, sondern in der Sozialgeschichte zu suchen sein, es handelt sich hier in erster Linie um ein 67

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soziales Phänomen, bekleidet freilich mit religiösem Treibgut. Sieht man ein­ mal vom grotesk-makabren rituellen Hintergrund ab, dann ist offensichtlich, daß es sich bei diesen Vorgängen auch um den Kampf von Frauen um sozia­ len Aufstieg handelte - für Voisin war ihre Rolle, die sie als Zauberin spielte, die einzige Möglichkeit, zu Reichtum und einem gewissen, wenn auch anrü­ chigen Ansehen zu gelangen und Madame de Montespan glaubte, nur so ihre relative gesellschaftliche Machtposition erlangen und erhalten zu können. In zahlreichen anderen Fällen mag es sich ähnlich verhalten haben. Aus dem Umstand, daß Frauen bei diesen schwarzen Ritualen die Hauptrollen spiel­ ten, zu folgern, daß Frauen eben den Versuchungen Satans eher erliegen oder sonstwie hinterhältig seien, ist nun sicherlich völlig absurd, obschon dies lange Zeit die gängige theologische Lehrmeinung war. Vielmehr spiegelt sich darin eine soziale Situation wider, in der Frauen schlichtweg keine andere Möglich­ keit hatten, zu Geld und Ansehen zu gelangen. Dies hatten sie zwar auch in früheren Zeiten nicht, doch gerade im 17. Jahrhundert, als die sozialen Stände durchlässiger zu werden begannen, als sozialer Aufstieg zumindest in gewissen Grenzen erfolgen konnte, war diese Möglichkeit allein den Männern vorbehalten. Einer begabten und ehrgeizigen Frau war gesellschaftlicher Auf­ stieg auf konventionellem Weg weiterhin versperrt. Dies war der Boden, auf dem die oben geschilderte Art der Magie und des Satanismus gedeihen konnte, und da auch hochgestellte Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts an die Wirkung solcher Rituale glaubten und es keine Zeit der moralischen Skrupel war, war dies die Marktlücke, die Frauen wie Voisin nutzten. Aus demselben Grund bedienten sich Madame de Montespan und auch andere Frauen dieser Mittel. Insofern ist die Deutung des Hexenwesens, wie sie etwa durch den Historiker Jules Michelet (1798-1874) vorgenommen wurde, in ge­ wisser Weise richtig. Michelet sah die mittelalterliche schwarze Messe, den Hexensabbat, als eine Protestreaktion und einen Befreiungsversuch der Frau, die von Kirche und Gesellschaft jahrtausendelang unterdrückt wurde, eine Art Erlösungsmy­ sterium der durch das Christentum verfluchten Eva. Verständlicherweise hät­ ten sich die Frauen an Satan, den Feind des sie knechtenden Gottes, gewandt. Nun, so wildromantisch, wie Michelet es sich vorstellte verhielt es sich sicher nicht, der Hexensabbat war nun einmal mehr Erfindung der Inquisition als tatsächlicher Protest der Frauen. Auf die Pariser schwarzen Messen bezogen, ergibt Michelets These dage­ gen schon mehr Sinn, wobei die Qualität weiblichen Aufbegehrens zweifellos nicht von der Qualität des herrschenden gesellschaftlichen Bewußtseins zu trennen ist. Und makabre Blutriten (an denen natürlich auch Männer maß-

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Die britischen Hell Fire Clubs

geblich beteiligt waren) fügen sich bruchlos in die damalige gesellschaftliche Situation ein.

Die britischen Hell Fire Clubs

Im 18. Jahrhundert entstand in ganz Großbritannien eine völlig andere Art von satanistischen, oder eigentlich von pseudo-satanistischen Vereinigungen: die sogenannten Hell Fire Clubs. Es waren dies wirklich Clubs, der Begriff "Orden" wäre hier fehl am Platze. Meist handelte es sich um Zusammen­ schlüsse libertinistischer junger Wüstlinge aus gehobenen Gesellschaftsschich­ ten, die unter mehr ironischer Bezugnahme auf Satan ihren Lüsten frönten. Anfangs taten sie sich vornehmlich durch Wirtshausschlägereien in der Öf­ fentlichkeit hervor, so daß sie schließlich als eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung betrachtet und 1721 von der englischen Krone verboten wurden. In den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts wurde dann der bekannteste Hell Fire Club von dem etwas exzentrischen, doch zweifellos recht phantasie­ vollen Sir Francis Dashwood gegründet, der sehr diskret in den Mauern der altehrwürdigen Medmenham Abtei in London seinen Vergnügungen nach­ ging. In dieser Abtei, die sich in seinem Besitz befand, führte er die meisten der von ihm selbst gestalteten Riten durch. Außerdem stand er dem Club vor. Der Name Hell Fire Club wurde dieser Vereinigung erst nachträglich gege­ ben, ursprünglich nannte sie sich in Anspielung auf Dashwoods Vornamen "Order of St. Francis". An den zweimal jährlich stattfindenden Zusammenkünften nahmen stets zwölf Personen, die die zwölf Apostel darstellten, sowie Dashwood als Hohe­ priester teil, zuzüglich einiger Prostituierter, die für solcherlei Ausschweifun­ gen als unerläßlich angesehen wurden. Englische Ladies, die derselben gesell­ schaftlichen Klasse angehörten wie die ausschließlich männlichen "Franciscians", waren für solche Riten natürlich nicht zu gewinnen. Die Riten entbehrten jeder religiösen Dimension, sie dienten allein dem Vergnügen. Die anscheinend religiösen Elemente sollten nur ein exotisches Ambiente schaffen. Die Bezugnahme auf Satan gab dem Ganzen einen ver­ ruchten Beigeschmack und war insofern auf gewisse Weise berechtigt, als den christlich geprägten Moralvorstellungen der Zeit natürlich hohngesprochen wurde. So diente die blasphemische Verfremdung des christlichen Meßritus, 69

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derer man sich befleißigte, eben nur der Verspottung der Kirche, nicht aber der Huldigung Satans, an dessen tatsächliche Existenz kaum einer der Betei­ ligten wirklich geglaubt haben dürfte. Dashwood verwendete auch das ge­ samte antike Pantheon, die Hallen von Medmenham schmückten zahlreiche Statuen antiker Liebesgötter und Göttinnen und zeigten an, worum es hier wirklich ging. Im Grunde waren die anzüglichen Rituale für die Zerstreuung gelangweilter und leicht dekadenter junger Männer aus den oberen Gesell­ schaftsschichten gedacht. In geheimer Versammlung versuchte man, den Be­ schränkungen einer restriktiven Moral zu entkommen, indem man sich neuen, ungewohnten Ausschweifungen hingab. Ein Elitebewußtsein ergab sich nur daraus, daß man sich der bürgerlichen Moral enthoben glaubte und sich diese exklusiven (denn gespart wurde an nichts) Vergnügungen eben leisten konnte. So stand auf dem Portal des "Tempels" der Rabelaische Satz "Fay ce que tu voudras" und die Wünsche der Franciscians waren zwar ausgefallen und zweifellos überspannt, aber keineswegs makaber. Zwar wurde die Messe schon mal auf dem nackten Körper einer Prostituierten gelesen, doch Blutop­ fer haben mit Sicherheit nicht stattgefunden. Als die Aktivitäten des Clubs schließlich aufflogen, hatte dies einen Skandal zur Folge; der Karriere der Beteiligten tat es jedoch keinen Abbruch. Da die meisten der Mitglieder Lords waren, genossen sie gewisse Privilegien und wurden nicht einmal aus dem House of Lords verbannt. Der Club mußte freilich aufgelöst werden und seine Aktivitäten einstellen. Es wurde bisweilen gemutmaßt, daß der Club auch politische Ziele verfolgte, was aber sicher nicht der Fall war, obschon die meisten seiner Mitglieder einflußreiche politi­ sche Ämter bekleideten. So der Earl of Bute, späterer Premierminister, John Wilkes, ein bekann­ ter und überaus populärer liberaler Abgeordneter sowie zahlreiche andere Mitglieder des englischen House of Lords, die alle mehr oder weniger ein­ flußreiche offizielle Positionen innehatten. Einer der berüchtigsten unter ih­ nen war Lord Sandwich, der First Lord of Admiralty und Erfinder des Sand­ wich, der tatsächlich nach ihm benannt ist. Es ist ein mehr als nur amüsantes Detail, daß der Name Sandwich zu Sandwichs Lebzeiten als Synonym für "Wüstling" oder "Schürzenjäger" verwendet wurde, während man heute eben an ein belegtes Brot denkt - hier zeigt sich, was die Zeiten überdauert. Die Hell Fire Clubs zeugen nicht zuletzt von einer zunehmenden Säkularisie­ rung des allgemeinen Bewußtseins. Noch hundert Jahre zuvor hätten es wohl selbst die verwegensten Wüstlinge nicht gewagt, schwarze Messen nur zu ihrer Belustigung abzuhalten, handelte es sich doch nicht nur um eine Blasphemie wider den christlichen Gott, sondern auch um eine wider einen im christlichen 70

Die britischen Hell Fire Clubs

Sinne aufgefaßten Satan: Man beschwor den Teufel, ohne im geringsten an­ zunehmen, daß er wirklich erscheinen könnte. Auch waren diese pseudo-satanistischen Riten gerade noch für einen Skandal gut, an das Entzünden von Scheiterhaufen dachte niemand mehr. Weniger privilegierte Männer als diese noblen Lords wären wohl noch im Kerker gelandet, der Scheiterhaufen aber hätte auch ihnen nicht mehr ge­ droht. Im Gegensatz zu den schwarzen Messen, die sich etwa ein Jahrhundert zuvor in Paris abspielten, hatten die Riten der Hell Fire Clubs keinen magischen Charakter, es ging nicht darum, etwas zu erreichen, was jenseits des unmittel­ bar erfahrbaren Vergnügens gelegen hätte. Während die Pariser Messen in der Tradition der Dämonenmagie und der Teufelspakte gestanden hatten, erinnerten die Riten der Hell Fire Clubs in gewisser Weise an die ausgelasse­ nen und triebhaften Hexensabbate, von denen die Inquisition berichtete; Sa­ tan als der Schutzherr höchst irdischer Genüsse und Ausschweifungen stand im Bewußtsein der Franciscians lediglich für die Rebellion gegen moralische Restriktionen. Eine Rebellion gegen den Zustand der Welt als solcher oder auch nur gegen die konkreten Machtverhältnisse beabsichtigten die Mitglie­ der des Order of St. Francis nicht, sie selbst waren ja Repräsentanten der weltlichen Macht. Doch kann in diesen Fällen an sich überhaupt nicht von echter Rebellion gesprochen werden. Einer besonders kirchenfeindlichen Po­ litik befleißigte sich keiner der Franciscians - man nahm sich einfach das her­ aus, was man sich herausnehmen konnte, im hedonistischen, nicht im rebelli­ schen Sinne. Die Ähnlichkeiten mit den Hexensabbaten sind zudem recht oberflächli­ cher Natur. So waren die Hell Fire Clubs reine Männersache, Frauen dienten dabei nur als Lustobjekte, von Hexen keine Spur. Insofern sind in den Hell Fire Clubs die Vorläufer jener pornographischen "schwarzen Messen" zu se­ hen, für die heute in einschlägigen Magazinen geworben wird. Solange im Bewußtsein der Menschen (und der Kirche) Sex und Sünde noch eng verwo­ ben sind, wird es solche in ihrer konkreten Ausgestaltung harmlosen schwar­ zen Messen geben. Bedenklich ist nur die gesellschaftliche Bewußtseinslage, deren Symptom sie sind.

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Satan und die Philosophie der Aufklärung das Böse ohne Teufel Seit dem 18. Jahrhundert war der Teufel kein ernstzunehmender Gegenstand der Philosophie mehr. Was sich zuvor schon angedeutet hatte, wurde nun immer klarer: in dem Moment, als eine von der Theologie unabhängige oder gar gegen die Theologie gerichtete Philosophie überhand nahm, schwand die Bedeutung Satans als Gegenstand philosophischer Reflexion. Konnte Gott als "Idee" oder mehr oder weniger abstrakter Weltgeist noch ein Überleben fristen, so war Satan aufgrund seiner mannigfachen Ver­ quickung mit allerlei düsterer Pech-, Schwefel- und Scheiterhaufen-Theologie und obskuren okkulten Lehren disqualifiziert - zuviel von dem, was man end­ lich überwunden glaubte, haftete ihm an. Das Problem des Bösen wurde in optimistischer Manier als reparierbarer Fehler im Getriebe der Welt behan­ delt, für Rousseau beispielsweise war es nur eine Frage der rechten Erziehung es endgültig aus der Welt zu bannen - war doch der Mensch von Natur aus gut. Für die Theologie war Satan zwar keineswegs abgeschrieben, doch deren Lehren hatten für die Philosophie ihre Relevanz verloren und ihre Versuche, nun das Wirken Satans vor dem Hintergrund des neuen naturwissenschaftli­ chen Bewußtseins zu erklären, ohne den Boden der Dogmatik zu verlassen, ernteten wohl zu recht keine große Beachtung. Stellvertretend für die theolo­ gischen Anstrengungen jener Zeit sei hier aus dem 1746 erschienenen Werk des italienischen Theologen Gorini, L’Uomo, trattato fisico e morale, zitiert, in dem besonders auf die von Descartes postulierte Dichotomie zwischen "res extensa" (Materie) und "res cogitans" (Geist), Bezug genommen wird: Wie kann reiner Geist Wunder an der Materie bewirken, wo es doch keinerlei Verhältnis zwischen beiden gibt? Die Antwort darauf lautet: in derselben Weise, in der Gott, der Schöpfer der Natur, der Natur der Seele die Kraft ein­ gegeben hat, im menschlichen Körper zu wirken [...], hat er auch der engelischen Natur die Kraft gegeben, die Materie zu bewegen.23

Wobei jedoch das Problem des Körpers des Teufels noch nicht gelöst ist; die Theorien Newtons und Kopernikus im Kopf, kamen somit aufgeklärte Theo­ logen nicht umhin, die Realität des Hexenfluges abzuleugnen (zum Beispiel Clemente Baroni), mußte doch selbst der große Hexenjäger Bodin bei seiner Erklärung des Hexenfluges auf die ptolemäische Astronomie zurückgreifen.

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Für die Philosophie hingegen war die tatsächliche Realität des Teufels kein Thema mehr; Kant deutete Satan als die Idee des absoluten Egoismus, die Hegelianer sahen in ihm das Prinzip der Negation, die Verwirklichung des wesenlos Nichtigen - vom einstmaligen Schrecken des Fürsten der Finsternis war also nicht mehr viel übriggeblieben. Die Säkularisierung des Satanischen und dessen Kehrseite, die Möglichkeit einer Philosophie des Bösen ohne Rückgriff auf Satan, markierten am Ende des 18. Jahrhunderts die Abkehr der Philosophie von Satan. Solche Philosophien der Unmoral wurden in markantester Weise von Johann Benjamin Erhard in seiner Apologie des Teufels (1795) sowie von Mar­ quis de Sade formuliert. Erhard, ein Kant-Schüler, versuchte aus der These Kants, daß Satan die Idee des absoluten Egoismus sei, eine logisch begründete Morallehre des Bö­ sen abzuleiten; die Essenz dieser Lehre faßte er in sieben "satanischen Le­ bensregeln" zusammen, die da lauten: 1.

2.

3.

4. 5. 6. 7.

Sei niemals wahrheitsliebend und scheine es niemals zu sein. Denn wenn du wahrheitsliebend bist, können die anderen auf dich rechnen; du dienst ihnen, aber sie dienen nicht dir. Erkenne kein Eigentum an, sondern versichere, daß das Eigentum heilig und unantastbar ist und allen gehört. Wenn du alles ohne jede Anfech­ tung als dein Eigentum besitzen kannst, dann hängt alles von dir ab. Sieh die Moral der anderen als Schwäche an und bediene dich ihrer für deine Zwecke. Stachle jeden zur Sünde an, während du die Moral als Notwendigkeit proklamierst. Liebe niemanden. Mache jeden unglücklich, der nicht von dir abhängig sein will. Sei konsequent bis zum letzten und bereue nie etwas. Was du einmal be­ schlossen hast, tu auf jeden Fall, komme was kommen mag. So beweist du deine ganze Unabhängigkeit und gibst dir durch die Übereinstim­ mung von Denken und Tun den Anschein eines rechtschaffenen Mannes. Das gibt dir ein geeignetes Mittel, die anderen zu deinen Sklaven zu machen, bevor sie es überhaupt merken.

Dies ist natürlich eine theoretische Spielerei, nie hat sich eine explizit satani­ stische Gruppe auf derartige Regeln berufen. Eine Gegenüberstellung dieser Regeln mit formal ähnlichen Regeln zeitgenössischer satanistischer Vereini­ gungen, wie sie im entsprechenden Kapitel dieses Buches noch vorgenommen wird, ist in der Tat sehr aufschlußreich. Mit der Philosophie de Sades harmo­

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nieren diese Regeln allerdings vorzüglich, auch de Sade bewegte sich auf dem Boden der aufgeklärten Philosophie des späten 18. Jahrhunderts. Es wäre allerdings ein Widerspruch in sich, würde sich jemand offen zu solchen Prinzipien bekennen, da diese essentiell auf Verstellung und Heu­ chelei beruhen und eben nur dann wirksam in die Tat umgesetzt werden kön­ nen, solange sie nicht ausgesprochen werden. Erhard ging es dabei mehr um die philosophische Spitzfindigkeit, als darum, wirklich nach diesen Prinzipien zu leben; ebenso schrieb de Sade seine Werke während seiner Kerkerhaft, als er nicht daran denken konnte, sein Leben nach selbstgewählten Prinzipien zu gestalten. Genau besehen handelt es sich bei diesen sieben Regeln um die Regeln eines konsequenten und skrupellosen Egoismus und als solche ist ihr Charak­ ter rein weltlich. Mit Satan haben sie nur insoweit zu tun, als man Satan, mit Kant, als die Idee des absoluten Egoismus deutet. Es werden hier keine Blas­ phemien gefordert, kein Lossagen von Gott, keine schwarzen Messen und kein Aufbegehren; metaphysische Dimensionen werden nicht einmal gestreift. Man könnte diese Regeln einfach Lebensregeln für den erfolgreichen Egoi­ sten nennen, der aber ebensowenig ein Satanist sein muß, wie J. R. Ewing ei­ ner ist. Allenfalls ließen sich solche Regeln - aus theologischer Sicht - als Ratschläge deuten, die Satan jenen gefallenen Seelen einflüstert, die zu mate­ rialistisch gesinnt sind, um an seine Existenz zu glauben. In dieser Richtung äußert sich der gläubige Katholik Giovanni Papini in seinem 1955 erschienenen (und sogleich kirchlich indizierten) Buch II Diavolo: Diese Grundsätze, die im Denken Erhards hypothetische Vorstellungen über eine auf dem reinen Bösen begründete Moral sein sollen, werden Tag für Tag vor unseren Augen von einem großen Teil ‘unserer sehr verehrlichen Species Mensch’ angewandt. Und dies nicht nur von Gaunern und Bösewichtern, son­ dern von einer Mehrheit ‘respektabler Persönlichkeiten’, unter denen sogar Männer der Politik und der Wirtschaft, Führer von Parteien, ja Führer ganzer Nationen zu finden sind. Dies alles beweist, wenn ich nicht irre, daß mein guter Papst Cölestin VI. recht hatte. Er behauptete nämlich, das Verhalten der Men­ schen und Völker, auch derer, die sich Christen nennen, werde in Wirklichkeit weit mehr durch den Ahrimanismus (= Satanismus) bestimmt als durch das Christentum oder durch humanitäre, solidaristische oder irgendein anderes weltliches Sittengesetz. Die Menschen verkünden zum größten Teil, daß sie dem Guten, der Liebe, der Gerechtigkeit, der Wahrheit und dem gerade gülti­ gen göttlichen oder menschlichen Gesetz der Moral folgen wollen. In der Praxis des täglichen Lebens aber sind sie nichts anderes als Anhänger und Schüler des Teufels, mit anderen Worten: sie setzen jene so klar und freimütig ausgespro­ chenen Grundsätze des deutschen Kantianers eifrig in die Tat um.24

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Vom religionswissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, kann man all diese Leute allerdings nicht als Satanisten bezeichnen. Sie sind zunächst mal einfach nur ziemlich fiese Typen. Man kann Erhards Thesen nicht einmal als philosophische Satanslehre, analog zu den theologischen Satanslehren, bezeichnen, denn sie vermitteln keine eigene Satans-Konzeption. Wie vor ihm Kant, übernahm er den Begriff "Satan" einfach von der Theologie, reinigte ihn solange von allem religiösen wie substantiellen Gehalt, bis er eine abstrakte Idee, nämlich die vom absolu­ ten Egoismus, hatte. Der Begriff "Satan" ist danach ohne einen eigenen Sinn­ gehalt, er ist überflüssig, wenn nicht irreführend. Mit dem Begriff "absoluter Egoismus" wäre alles gesagt, der Begriff "Satan" fügt dem nichts hinzu. Man könnte hier allenfalls von einer Übersetzung in die Kantsche Begrifflichkeit sprechen, die nicht einmal als besonders gelungen bezeichnet werden kann, da der Gehalt des religiösen Begriffs "Satan" ja in allen seinen wie auch immer verschiedenen Deutungen weit mehr umfaßt, als bloßen Egoismus. Es ist offensichtlich, daß hier nicht mit einem substantiellen, in irgendei­ ner Form realen Satan gerechnet wird. Satan wird vielmehr verflüchtigt und als altertümliches Synonym für eine abstrakte Idee behandelt. Die Gestalt Satans ist zudem ohne jede Funktion, weder erklärt sie das Phänomen des Bösen, wie sie es in der Theologie tut, noch beschreibt sie eine komplexe, schwer faßbare Entwicklung, wie die Entstehung des modernen Individualis­ mus mit all seinen Implikationen, wie in den angesprochenen Dramen des 17. Jahrhunderts. Insofern sind die Thesen Erhards ein gutes Beispiel für die Pro­ fanierung Satans in der aufgeklärten Philosophie.

In den Werken des Marquis de Sade hingegen zeigt sich mit unvergleichlicher Deutlichkeit, daß eine ernstgemeinte und radikale Philosophie des Bösen nunmehr auch ohne die Bezugnahme auf Satan möglich war. De Sade argu­ mentierte aufgeklärt, auf der Grundlage eines atheistischen Monismus, ohne sich in irgendeiner Weise auf Satan zu beziehen. Wobei anzumerken ist, daß sich die romantisierten Satansgestalten Miltons oder Lord Byrons nur schwerlich in die kalt konstruierte Weitsicht de Sades einfügen ließen. Dennoch wird der Name de Sades immer wieder im Zusammenhang mit dem Satanismus genannt, mehr noch, de Sades Prinzip des Bösen wurde teil­ weise zum Synonym für Satanismus - so setzte Papini de Sade an die erste Stelle seiner Liste der französischen satanischen Literaten. Sicher ist eine derart konsequente Rechtfertigung des Bösen und der Grausamkeit, kombiniert mit detaillierten Schilderungen extremster sexual"sadistischer" Handlungen, wie sie sich in den Werken de Sades findet, absolut 75

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einmalig und bis zum heutigen Tag nirgendwo extremer formuliert worden. Von daher müssen die Lehren de Sades aus theologischer Sicht gesehen na­ türlich als zutiefst satanisch erscheinen, doch eine solche Deutung würde die Weitsicht de Sades eher verharmlosen, als in ihrer ganzen Radikalität erfas­ sen. De Sade kennt keinen wirklichen Kampf zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel sind ihm Phantasiegespinste, er kennt nur eine monistisch ver­ standene böse "Natur”. Grausamkeit, Zerstörung und Ausschweifung sind die Grundprinzipien der Natur, und da die Natur nur erschafft, um zu zerstören, handelt der Mensch, der grausam zerstört, nur naturgemäß und erfüllt seine natürliche Bestimmung. Die Tugend, das Gute ist für de Sade ohne echte Grundlage und nur Ausgeburt einer degenerierten Zivilisation. Dies ist na­ türlich eine polemische Replik auf die Lehren Rousseaus, der von einer grundsätzlich guten Natur ausging und demgemäß ein natürliches Leben pre­ digte, das den Menschen zwangsläufig auf den Pfad einer ungekünstelten Tu­ gend führen müßte. De Sade nun drehte den Spieß um und versuchte aufzu­ zeigen, daß in der Natur nur Grausamkeit, Zerstörung und das Recht des Stärkeren regieren würden und der Mensch, würde er nur seiner Natur folgen, ein grausamer Lüstling wäre. Und eben diese Lebensweise verherr­ lichte er in seinen Schriften, seine Helden sind allesamt skrupellose und sadistische Wüstlinge, während die Tugend, schwach und unglücklich, nur dazu führt, daß die, die ihr anhängen, als Opfer enden. Seine Helden sind in ihrer skrupellosen Lebensart immer erfolgreich, da sie die Naturgesetze auf ihrer Seite haben, in einer ungleichen Menschheit, die nur aus Despoten und Opfern besteht, triumphiert immer das Böse; daß seine Helden ihr Tun dennoch verheimlichen müssen, liegt nur daran, daß die zivilisierte Gesell­ schaft ihre Augen vor den wirklichen Naturgesetzen verschließt, sie nicht wahrhaben will, ohne jedoch ihren Triumph verhindern zu können. Über diesen durchaus originellen Ansatz kann jedoch übersehen werden, daß die de Sadesche Philosophie mehr polemisch als wirklich durchdacht ist. Es ist müßig, all die inneren Widersprüche aufzuzählen, die sich in seinen Abhandlungen finden. Seine sich wiederholenden Auslassungen bezüglich der Moral sowie die mit buchhalterischer Akribie beschriebenen und dabei selt­ sam steif und trocken wirkenden sexual-sadistischen Ausschweifungen seiner Helden sind in der Tat eher für einen Psychopathologen denn für einen Phi­ losophen relevant. Nebenbei bemerkt: De Sade war ein lausiger Schriftsteller. Was ihn bedeutend macht, ist in erster Linie sein origineller Versuch, mit Hilfe des Argumentationsinstrumentariums der aufgeklärten Philosophie das Böse und das Verbrechen zu rechtfertigen, und dies in einer Zeit, da der Op­

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timismus der Aufklärung noch gänzlich ungebrochen war. Er zeigte die Schat­ tenseiten der Vernunft auf, lange bevor das Scheitern dieser Ideale überhaupt vorauszusehen war. Freilich tat er dies weit weniger distanziert als Erhard. Die Polemik gegen Sitte und Religion steht allerdings in einer Weise im Vor­ dergrund, die entlarvend ist. Julius Evola bemerkt hierzu: Die perverse Seite ist für de Sade in all dem enthalten, was Freude an der Übertretung ist, Freude am Bösen als solchem; was jedoch, interpretiert man die Hauptidee seiner Philosophie richtig, unter anderem einen offensichtlichen Widerspruch enthält. Wenn man vom Bösen und von Übertretung spricht, wenn man bestimmte Taten als Untaten und als Übertretungen empfindet, so hat dies doch nur dann einen Sinn, wenn man eine positive Ordnung, ein anerkanntes Gesetz voraussetzt, während für de Sade diese Ordnung und dieses Gesetz nicht existieren, denn das Böse ist ja nach ihm das Wesen Gottes und der Natur.25

Diesem Verständnis gemäß kann de Sade also nicht gegen Gott oder die Ordnung der Welt rebellieren, sondern nur gegen eine repressive Gesell­ schaft, die den Menschen die Ausübung ihrer Lust verweigert (speziell ihm, denn die meisten seiner Schriften entstanden während seiner langen Kerker­ haften); doch selbst dies ist genaugenommen ein Widerspruch in sich, da sich die Naturgesetze, so de Sade, auch in der menschlichen Gesellschaft durch­ setzen. Der Stärkere siegt und ist deswegen im Recht, weshalb eine Rebellion also eigentlich unnötig wäre. Trotz seiner "aufgeklärten" Argumentation bediente sich de Sade nichts­ destotrotz einiger überlieferter Versatzstücke der schwarzen Messen. Er kannte mit Sicherheit die Pariser Messen um Voisin und auch die Beschrei­ bungen einiger gnostischer und spätgnostischer Riten dürften ihm bekannt gewesen sein. Vor allem in seinen Romanen Justine und Die 120 Tage von Sodom ließ er dieses Material einfließen, wobei er den Ausschluß jeglicher religiöser oder metaphysischer Vorstellungen sogar noch radikaler betrieb, als dies bei den Pariser Messen geschehen war. Es geht seinen Helden nicht ein­ mal mehr darum, mittels dieser Rituale auf magische Weise irgendwelche Wirkungen zu erzielen, es geht ihnen allein und ausschließlich um die Lust, die ihnen solche Blasphemie bereitet; der Triumph, daß sie nach solchem Frevel nicht vom Blitz Gottes erschlagen werden, gilt ihnen nicht zuletzt als Garantie, auch von der weltlichen Justiz nicht erreicht zu werden. Der Um­ stand, daß diese Handlungen immer wieder wiederholt werden, zeugt davon, daß der (innere) Kampf noch im vollen Gange ist. Aus diesem Kampf um Lust und Sicherheit ist die völlige Profanierung dieser schwarzen Messen zu erklären, es geht einzig und allein um die frevelhafte (und lustvolle) Tat, jegli­ che rituelle Ausschmückung, jede Disziplin oder auch nur Intensität des Ri­

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tuals ist für diesen Zweck unnötig. Die Schändungen, die von den ausschwei­ fenden Mönchen in Justine begangen werden, sind derart auf die rein blas­ phemischen Handlungen reduziert, daß sich das rituelle Vorbild der schwar­ zen Messe kaum noch darin zeigt: Das Fest nahte. Sie [die Mönche] wollten durch ein Wunder den Ruf des Klo­ sters heben und banden ein Mädchen von 12 Jahren namens Florette in den Kleidern der Jungfrau durch unsichtbare Stricke in der Nische fest und befahlen ihr, bei Erhebung der Monstranz die Arme plötzlich zum Himmel zu erheben. Das kleine Mädchen, von den heftigsten Strafen bedroht, spielte ihre Rolle großartig. Das Volk schrie Wunder, es regnete von Opfergaben. Unsere Wüst­ linge ließen am Abend Florette in ihrem Wundergewande beim Souper er­ scheinen und entflammten ihre Phantasie, indem sie sie in dieser Kleidung der scheußlichsten Unzucht unterwarfen. Die Gotteslästerer gehen aber noch wei­ ter, sie entkleiden das kleine Mädchen, stellen auf ihren Arsch ein Kruzifix und vollziehen dort einen der törichsten Gebräuche der Christenheit. Die fromme Justine fällt in Ohnmacht darüber, und um sie daran zu gewöhnen, muß sie auf Vorschlags Jeromes [einer der Mönche] Florette ersetzen. Jerome liest die Messe, umgeben von einer Unzahl Ärsche, er nimmt die Hostie aus der Hand seiner Brüder und legt sie auf das Arschloch Justines. Mit ihren Schwänzen stoßen die unter furchtbaren Flüchen auf den Heiland dieselbe immer tiefer hinein, bis sie von ihrem Samen ganz bedeckt ist.26

Solche Handlungen dienen in den Erzählungen de Sades nur dazu, einen nichtexistenten Gott zu verhöhnen und sich so seiner Nichtexistenz zu versi­ chern. Satan wird nirgendwo erwähnt, mit seiner Existenz rechnet de Sade nicht; so ist die Huldigung Satans höchstens indirekter Art: Setzt man Satan mit Grausamkeit und Fleischeslust gleich, so ließe sich die Huldigung dieser Eigenschaften als Satan zugehörig interpretieren. Dies wäre aber wohlge­ merkt eine theologische Interpretation, der "aufgeklärte" de Sade würde sich dagegen wohl verwahren. Eine solche Charakterisierung Satan widerspräche auch dem literarischen Satansbild dieser Zeit. De Sades Helden verführen und rebellieren nicht, sie vergewaltigen und unterwerfen. Mit de Sade vollzog sich die Loslösung des Bösen von Satan. Die schwarze Romantik des 19. Jahrhunderts orientierte sich keineswegs in erster Linie an de Sade, wie so oft behauptet, sie knüpfte vielmehr an Miltons Satansbild an. Andere Dichter, wie Goethe oder Dostojewski, modifizierten die Satans­ gestalt in wieder anderer Weise. In Goethes Faust ist Mephisto ein schlauer Zyniker, Dostojewski zeichnet den Teufel in Anlehnung an volkstümliche Überlieferungen als tragikomische Karikatur seiner selbst.

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Es ist nicht de Sade, auf den sich die Satanisten des 20. Jahrhunderts bezie­ hen, es ist vielmehr jener Philosoph, der den Individualismus auf die Spitze trieb und Religion wie Moral von dieser Position aus attackierte: Max Stirner. Über die Naivität von Stirners Gesellschaftsanalyse ist viel gesagt worden, ebenso über seine im Grunde kleinbürgerliche Hybris; doch artikulierte er als erster ein spezifisch modernes Lebensgefühl: einen Individualismus, der sich weigert, andere Bezugspunkte zu akzeptieren als das eigene Ich, der sich völ­ lig losgelöst von der ihn umgebenden Welt sieht und dem es nur darum geht, sich in dieser Welt so gut als möglich zu behaupten: Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die ‘gute Sache’ sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn. Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche ist Sache ‘des Menschen’. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig, wie Ich einzig bin. Mir geht nichts über Mich!27

Trotz dieser starken Worte hatte Stirner sehr wohl ein allgemeines Interesse, sein Kampf galt allen "Ideen", allen geistigen Paradigmata, die man über den "leibhaftigen" Menschen stellte. Er postulierte, daß nicht Ideen über Men­ schen herrschen sollten, sondern daß er der "Eigner" seiner Ideen sei, er habe die Macht sie beliebig hervorzubringen und wieder zu vernichten, sofern er sich nicht ihnen unterordnete. So war für Stirner Gott ein Geschöpf des Men­ schen, nicht umgekehrt. Wie wenig jedoch selbst eine so individualistische Philosophie mit einem individualistischen Satan anfangen konnte, zeigt sich darin, daß Satan für Stirner genauso ein "Sparren" war wie Gott. Der Dichter Fahrenkrog, durchaus ein Geistesverwandter Stirners, kokettierte Anfang des 20. Jahrhunderts aufs heftigste mit Luzifer. Stirner war jedoch kein Dichter, und für einen ideologiekritischen, solipsistischen Philosophen des 19. Jahr­ hunderts konnte Satan kein Thema sein, genau wie es später auch für den von heutigen Satanisten ebenfalls geschätzten Nietzsche keines war. Die kritische, aufgeklärte Philosophie kannte keinen personalen Gott oder Teufel, und wo nach dem Umsturz nach neuen übermenschlichen Idealen gesucht wurde, wie vor allem bei Nietzsche, geschah dies nicht im Namen Satans. Es führt kein Weg daran vorbei: Der Satanismus war nie eine philosophische Bewegung und verfügt über keine philosophische Tradition. Wer war im 19. Jahrhundert Satanist? Dichter, Schwärmer und Theologen, keine Philosophen - und auch keine Okkultisten und Sektierer! Das 19. Jahrhundert war das Jahrhundert des literarischen Satanismus. Weder de Sade, der Philosoph des Bösen, von 79

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vielen als Schreckensbild eines Satanisten hingestellt, noch der radikale Indi­ vidualist Max Stirner, heute von vielen Satanisten geschätzt, entwickelten eine Philosophie des Satanismus. Zwar empfand ein anarchistischer Feuerkopf wie Bakunin eine gewisse Bewunderung für Satan: "Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkt, daß der Mensch sich seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämt; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf, indem er ihn antreibt, ungehorsam zu sein und die Frucht der Erkenntnis zu essen."28 Doch war ihm Satan nur eine Allegorie, er war viel zu sehr Atheist, um an Sa­ tan in einem tieferen Sinn interessiert sein zu können. Und auch Karl Marx war, entgegen der abstrusen These eines Richard Wurmbrandt,29 sicher kein Satanist.

Der literarische Satanismus des 19. Jahrhunderts

Vorweg: im 19. Jahrhundert war der Satanismus ein literarisches Phänomen. Was den "echten" Satanismus anbelangt, die Männer in den schwarzen Kut­ ten, die geheimnisvolle Beschwörungsformeln murmeln, Katzen die Kehle durchschneiden und wilde Orgien feiern, gibt es leider eine Fehlanzeige. Nicht, daß es sie nicht gegeben haben mag; möglicherweise war ihr heimliches Tun wirklich ein heimliches. Tatsache ist jedoch, daß es hierfür keinerlei Be­ lege gibt. Es wurde zwar des öfteren von Hostiendiebstählen und Kirchen­ schändungen berichtet (solche Berichte wiederholen sich bis in die Gegenwart hinein immer wieder), doch über den Verbleib und die Verwendung dieser Hostien ist nichts bekannt und es ist keineswegs gesagt, daß es sich dabei um mehr handelte als um Streiche oder Mutproben Jugendlicher, die der schau­ erlichen Literatur zugeneigt waren. Und selbst wenn in Einzelfällen wirklich schwarze Messen zelebriert worden sein sollten, so ist doch nicht bekannt, was sich dabei genau abgespielt haben mag. Es ist davon auszugehen, daß es sich bei solchen schwarzen Messen, so sie stattgefunden haben, um marginale Phänomene handelte, die keinerlei Einfluß auf die weitere Entwicklung des Satanismus hatten. Alles weitere wäre reine Spekulation und es liegt, wie ge­ sagt, nicht im Interesse des Autors, den ohnehin wildwuchernden Spekulatio­ nen weitere hinzuzufügen. Es muß in diesem Zusammenhang betont werden, daß das Mißverhältnis zwischen den zahlreichen Gerüchten und Berichten 80

Der literarische Satanismus des 19. Jahrhunderts

über satanistische Aktivitäten und der tatsächlichen Häufigkeit solcher Aktivi­ täten immer eklatant gewesen ist - daran hat sich bis in die Gegenwart nichts geändert.

Der literarische Satanismus des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich von den literarischen Bearbeitungen früherer Jahrhunderte zumindest teilweise da­ durch, daß es sich wirklich um einen expliziten Satanismus handelt, das heißt Satan ist hier nicht nur eine faszinierende Gestalt, sondern er wird auch mo­ ralisch im Recht gesehen. Dichter wie Byron oder Baudelaire sahen zwar Sa­ tan auch als unterlegenen Rebellen, aber anders als in den vorangegangen Jahrhunderten wurde in der Niederlage Satans eine Niederlage der guten Sa­ che gesehen. Nicht das Böse wurde mit Satan besiegt, vielmehr wurde in der Niederschlagung des edlen Rebellen ein Triumph des schlechten Gottes und mithin der Triumph einer schlechten Welt gesehen. Der gesellschaftskritische Ansatz dieser Bearbeitung des Satan-Themas ist unübersehbar, gleichzeitig schwingt hier jedoch ein resignativer Unterton mit. Die Stilisierung Satans zum ewigen, nur moralisch überlegenen Rebellen impliziert ja, daß an einen letztendlichen Sieg Satans nicht wirklich geglaubt wird; Satan und den Satani­ sten bleibt nur ihre stolze und ungebrochene Verweigerung, ihr mehr roman­ tischer denn effektiver Widerstand gegen eine schlechte Welt, die Kultivie­ rung eines zynischen Idealismus, wie er von Lord Byron in vollendeter Weise vorgeführt wurde. Daß Luzifer, der "Lichtbringer", den historischen Kampf, der in den Dramen des 17. Jahrhunderts thematisiert wurde, in gewisser Weise gewon­ nen hat (der Ordo des Mittelalters war ja tatsächlich zerschlagen worden), wurde von den "romantischen Satanisten" des 19. Jahrhunderts keineswegs als Triumph betrachtet. Die Vordergründigkeit des herrschenden Aufklärungsop­ timismus wurde von ihnen nicht minder sensibel erkannt wie von de Sade. Doch es gab auch jene, die ihre Hoffnungen durchaus in den Fortschritt setzten und Satan als die befreite dynamische Kraft dieses Fortschritts feier­ ten, wie Carducci oder die Anarchisten Proudhon und Bakunin. Der erste, der in Satan jene dynamische, zukunftsweisende Kraft erblickte, war William Blake, den man allerdings schwerlich als Anhänger der Vernunft bezeichnen kann. Für Blake war Satan die Kraft der entfesselten Imagination, die hinter den (utopischen) Wünschen der Menschheit stand. Gott, Jahwe und die Ver­ nunft standen in Blakes visionärem Werk The marriage ofHeaven and Hell für die beharrenden, den Menschen versklavenden Kräfte; seine Hoffnungen setzte Blake in Satan, der die verteufelten Wünsche und Triebe des Menschen repräsentiert (der Gegensatz zur abgelehnten Ratio war für Blake das

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"Wünschen") und dessen dynamische Kraft der Imagination allein die den Menschen fesselnden Ketten zu sprengen vermag. Osterkamp bemerkt hierzu: Nervös wie kaum ein anderer Künstler seiner Zeit reagiert Blake auf den un­ überbrückbaren Widerspruch zwischen der ungeahnte Energien und Chancen in Richtung auf mehr Menschlichkeit freisetzenden Industrialisierung seines Lan­ des, die ihrem ersten Höhepunkt entgegentrieb, und der gleichzeitigen Erstar­ rung der politischen Verhältnisse und ethischen Normensysteme. Wo um der Erhaltung der Besitzverhältnisse willen die Unterdrückung, ja die Verteufelung der Wünsche und Triebe des Menschen stattfindet, da bleibt dem Visionär ein­ zig die Verbrüderung mit Satan, in dem die Blake verhaßten Priester und Mächtigen all das objektivierten, was ihrer Herrschaft gefährlich werden konnte.30

War sich der Geschichtsoptimismus Blakes der Tatsache bewußt, daß die Be­ freiung nur in der Zukunft stattfinden könne und die Gegenwart allenfalls durch die utopische Hoffnung auf eine bessere Zukunft erhellt werden konnte, so feierte Carducci in seiner 1869 erschienen Hymne A Satana bereits den Sieg Satans, das heißt den Sieg den Vernunft. Die historischen Wider­ sprüche, die Blake sensibel erkannt hatte, fegte Carducci jedoch großzügig beiseite: Zu dir, des Seins unermeßlicher Anfang, Materie und Geist, Vernunft und Sinn.

[...] Zu dir entlädt sich der kühne Vers, dich rufe ich an, o Satan, König des Mahles. Fort Weihwedel, Priester, dein Metrum! Nein, Priester, Satan weicht nicht zu­ rück. Siehe: der Rost frißt an Michaels mystischem Schwert und der treue Gerupfte Erzengel fällt ins Leere. Gefroren ist der Blitz Jehova in der Hand.

[■••] Es warf fort die Kutte Martin Luther: Wirf fort deine Fesseln, Menschlicher Gedanke, Und glänze und blitze von Flammen umgürtet; Materie, erhebe dich; Satan hat gesiegt.

[■••] Wie ein Wirbelwind verbreitet es den Atem: Er geht vorüber, o Völker, Satan der Große. Er fährt wohltätig von Ort zu Ort auf ungezügeltem Feuerwagen. Sei gegrüßt, o Satan, o Rebellion, o rächende Macht der Vernunft! Heilig sollen zu dir emporsteigen der Weihrauch und die Gelübde! Du hast be­ siegt den Jehova der Priester.31

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Anzumerken ist, daß diese Hymne wenige Jahre nach dem Erscheinen des so­ genannten Syllabus Papst Pius IX., der jeden Liberalismus strikt verurteilte, veröffentlicht wurde. Carducci war Freimaurer, und da Rom gerade in jenen Jahren wieder seinen Kampf wider die Freimaurer verstärkte, ist diese Hymne als Reaktion darauf zu werten; ob Carducci tatsächlich ein "gläubiger" Satanist war, ist zweifelhaft, wahrscheinlicher ist, daß er die von Rom verteufelte Vernunft in polemischer Absicht dem Teufel selbst zuordnete und in provozierender Weise nun Satan feierte. Allerdings ist diese Verbindung historisch gesehen so abwegig nicht, und letztlich bediente sich Carducci nur solcher Bilder, die die Kirche bereits vorgegeben hatte. Hatte sich die Philosophie der Aufklärung auch nicht Satan als ihren Schutzpatron auserkoren, so stellte dies zumindest eine potentielle Möglichkeit dar, und Carducci war einer der wenigen, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machten. Die Freimaurerei übernahm allerdings nie diese Haltung, wiewohl ihr dies von der Kirche immer wieder vorgeworfen wurde. Deswegen erübrigt es sich, im Rahmen dieser Abhandlung darauf näher einzugehen. Die Umwertung des Charakters Satans ist jedoch nicht allein aus einem historischen Wertewandel heraus zu erklären. Tatsache ist, daß sich dieser Wandel vorwiegend in der Veränderung der Satan beigeordneten Attribute ausdrückte. So hat Gott bei Thou die Vernunft auf seiner Seite, während das Aufbegehren wider Gott als Zeichen der Unvernunft gilt. Seit den nachexilischen biblischen Schriften steht Satan für das "Böse" und hat die Aufgabe, eben dieses Böse zu erklären - dieser Charakter Satans wurde selbst durch tiefgreifende historische Veränderungen und Auseinandersetzungen nicht grundlegend gewandelt. Für Luther etwa war der Papst die Verkörperung des Antichristen (also Satans), während umgekehrt Luther für die katholische Kirche als Sohn des Satans galt. Für die Könige von Gottes Gnaden war der Aufrührer vom Satan besessen, für die Rebellen der Bauernkriege waren die Hohen Herren Satansknechte - und nicht einmal die gnostischen und spät­ gnostischen Lehren, die die heiligen Schriften im allgemeinen ziemlich radikal umwerteten, wandelten Satan in eine positive Figur um. Gewisse Eigenschaften, zum Beispiel die Lüsternheit, hafteten Satan hartnäckiger an als andere, doch zeigen diverse Ansätze der modernen Theologie, daß auch eine begrenzte Wertschätzung der Sexualität erreicht werden kann, ohne Satan zu rehabilitieren. Der (nicht-reaktive) Satanismus hingegen veränderte nicht die Attribute, sondern die Funktion und den Cha­ rakter Satans; dies war zwar zum einen dadurch möglich geworden, daß Satan seit dem 17. Jahrhundert Attribute zuerkannt wurden, die sich zunehmender

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Wertschätzung erfreuten, doch hätten diese auch wieder von ihm gelöst wer­ den können, was ja zum Teil auch geschehen ist. Für das Entstehen eines nicht-reaktiven expliziten Satanismus war der im 19. Jahrhundert aufkommende ethische Relativismus eine unabdingbare Vor­ aussetzung. Erst nachdem die Grenzen zwischen Gut und Böse porös gewor­ den waren und das ganze Konzept von Gut und Böse in seiner Glaubwürdig­ keit erschüttert war, konnte sich die Verselbständigung der Satansgestalt voll­ ziehen. Diese Zersetzung kollektiv anerkannter Normen nährte sich aus dem zunehmenden Selbstbewußtsein des einzelnen Individuums, und dort, wo dies seinen Ausdruck nicht in neuer Fortschrittsgläubigkeit finden konnte (wie es bei Carducci noch der Fall war), führte dies zu einer Entfremdung des Indivi­ duums von jeder Art von kollektiver Norm. Ein solcherart selbstbezogenes Ringen um neue ethische Werte strebte aber, wurde es nur radikal genug durchgeführt, in einen Bereich "jenseits von Gut und Böse" - bereits Stirner hatte dies vor Nietzsche exemplarisch vorgeführt. In einem ethischen Relati­ vismus dieser Art war dann auch für Satan eine neue Funktion entstanden; Miltons Satan, der nur nach eigenem Gesetz handelte, war wie geschaffen da­ für, Führer zu sein in die Gefilde jenseits von Gut und Böse.

In diesem Sinne kann Lord Byron als erster wirklicher Satanist gelten und seine Dichtung Cain ist das erste explizit satanistische Werk, das diesen Na­ men verdient. Byron selbst fühlte sich dem Luzifer des Cain durchaus verwandt und er gab sich alle Mühe, dem Bild des "satanischen Lords", das sich seine Zeitge­ nossen von ihm machten, gerecht zu werden. Sein Äußeres begünstigte dieses Vorhaben zweifellos: Sein schönes, von dichten schwarzen Locken umrahmtes und von Ausschweifungen früh gezeichnetes Gesicht, sein aufgrund eines an­ geborenen Leidens hinkender Gang, seine elegante Erscheinung, all das ent­ sprach den Vorstellungen, die man sich in den Salons seiner Zeit von einem satanischen Lord machte. Und Byron gefiel sich zweifellos in dieser Rolle, genüßlich berichtet er von der Reaktion der Gäste auf sein Erscheinen bei ei­ nem Diner der Madame de Stael: "One of the Ladies fainted, and the rest looked as if his Satanic Majesty had been among them."32 Doch genug des Schmähs. Byrons Drama Cain ist in vielerlei Hinsicht interessant; zunächst sei kurz der Inhalt wiedergegeben.

Die Handlung setzt in einer unbestimmten Zeit nach der Vertreibung aus dem Paradies ein. Adam, Eva und ihre Kinder Abel, Adah und Zillah begrü­ ßen am Morgen den Sonnenaufgang mit einem Gebet zum Ruhm und Dank Gottes, während Cain abseits steht; auf die Bitte, mit in das Gebet einzu84

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stimmen, entgegnet er, er schulde Gott keinen Dank und er habe sich von ihm nichts zu erbitten, sei er es doch, der für das schreckliche Schicksal des Men­ schen verantwortlich sei und ihn mit dem Tod geschlagen habe. Alle Versuche Adams, Cains Sinn zu wandeln, schlagen fehl: Adam: Dost thou not live? Cain: Must I not die? Adam (sich selbst anklagend): Oh God! why didst thou plant the tree of know­ ledge? Cain: And wherefore plucked ye not the tree of life? Ye might have then defied him. Adam: Oh! My son, blaspheme not: these are the serpents words. Cain: Why not? The snake spoke truth; it was the tree of knowledge; It was the tree of life: knowledge is good, and life is good; and how can both be evil?33

An den so mit Gott und Eltern Hadernden tritt nun Luzifer heran, um ihn vollends von der Bosheit Gottes zu überzeugen; Cain verlangt nach Wissen und Luzifer bietet es ihm, unter der Voraussetzung, daß Cain sich ihm unter­ werfe. Dies lehnt Cain ab; er will sich Luzifer ebensowenig unterwerfen, wie er sich Gott unterwerfen will. Luzifer, der die Geistesverwandtschaft, die Cain mit ihm verbindet, erkennt, zeigt sich dennoch bereit, Cain das erwünschte Wissen zu verschaffen - wohl wissend, daß Cain, kennt er erst die ganze Wahrheit, sich umso sicherer auf seine Seite schlagen wird. Er nimmt Cain mit auf eine Reise durch Raum und Zeit und zeigt ihm das unentwegte und planlose Erschaffen und Zerstören Gottes; nichts sei ewig, erläutert er, alles sei den unberechenbaren und sinnlosen Launen Got­ tes unterworfen, der unentwegt erschaffe und vernichte, der unzufrieden und ohne Ziel nur darin Ablenkung finde. Auch die Erde und das Paradies seien nicht für den Menschen geschaffen worden, vor diesen habe es viele andere Welten und Geschlechter gegeben, alle besser und glorreicher als die jetzige Welt und der jetzige Mensch, doch seien diese Welten auf immer verloren. Er selbst, erläutert Luzifer, habe sich gegen Gott erhoben, doch er sei un­ terlegen; wäre er siegreich gewesen, so würde er bestimmen, was gut und böse sei, nicht Gott. Trotz seiner Niederlage habe er jedoch den Kampf nicht auf­ gegeben ("I have a Victor true; but no superior") und er würde ihn weiterfüh­ ren bis zu seinem Sieg oder seiner Vernichtung. Dem von dem Geschauten entsetzten und entmutigten Cain gibt er folgenden Rat mit auf den Weg: By being Yourselves, in your resistance. Nothing can Quench the mind, if the mind will be itself

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And centre of surrounding things - ’tis made To sway.34

In schlechter Verfassung kehrt Cain zur Erde zurück und wird dort von Abel aufgefordert, ein Dankopfer darzubringen. Cain, der nie geopfert hat, bringt dieses Opfer widerwillig dar, doch sein Gebet gerät zur flammenden Anklage gegen den grausamen Gott. Abels Opfer, ein Lamm, wird von Gott angenommen, Cains Altar, der mit Feldfrüchten geschmückt ist, wird von einem Wirbelsturm vernichtet. Cain lehnt nicht nur Abels Bitte, sein Opfer demütig zu wiederholen ab, er will im Gegenteil alle Altäre eines Gottes, dem nur Blut und Tod wohlgefällig sind, zerstören. Als Abel sich ihm in den Weg stellt, schlägt er diesen verse­ hentlich so hart, daß er stirbt. Mit Flüchen belastet verläßt Cain schließlich mit seiner Frau Adah und seinem Sohn Enoch die Gefilde von Eden. In Cain äußert sich ohne Zweifel der Protest Byrons gegen den calvinistisch geprägten britischen Puritanismus seiner Zeit. Der Gott Cains trägt un­ übersehbar die Züge des Gottes Calvins, doch mehr noch erinnert dieser Gott (ohne daß dies Byron bewußt gewesen sein mag) an den anmaßenden und unwissenden Demiurgen der Gnostiker. Und überhaupt weißt "Cain" auf­ fallende Parallelen mit den gnostischen Mythen auf: Gerade die Umwertung der Genesis, besonders die jener Schriften, die sich auf den Sündenfall bezie­ hen, wurde von zahlreichen gnostischen Autoren unternommen, inklusive der Rechtfertigung Kains, gab es doch eine einflußreiche gnostische Schule, deren Anhänger als "Kainiten" bekannt wurden. Ein weiteres spezifisch gnostisches Element ist das existentielle Gefühl der Fremdheit in der Welt, das auch in Cain thematisiert wird. Cain fühlt sich in der von Gott geschaffenen Welt ebensowenig heimisch wie sich die Gnosti­ ker in der vom Demiurgen geschaffenen Welt heimisch fühlen konnten, und ebensowenig wie diese kann Cain mit dieser Welt Frieden schließen. Auch Luzifer hat sich von der Welt, die zu erschaffen er ursprünglich mitgeholfen hatte, losgesagt und kann in ihr nichts Gutes mehr entdecken. In einem unter­ scheidet sich das Weltbild, das in Cain entworfen wurde, jedoch fundamental von den gnostischen Entwürfen: es existiert hier kein Pieroma, kein transzen­ denter Gott, keine Möglichkeit des Entkommens in eine höhere, bessere Wirklichkeit. Die schlechte, unvollkommene Welt ist die einzige Welt und der schlechte Gott ist hier nicht ein größenwahnsinniger Demiurg, sondern tatsächlich das höchste Wesen; Luzifer, der Rebell, der Gott und die Schöp­ fung bekämpft, ist kein Abgesandter höherer Welten, sondern selbst ein Ge­ schöpf Gottes, das diesem im Kampf unterlegen ist. Der Geist eines Ge­ schichtspessimismus beherrscht sowohl die gnostischen Lehren wie auch By86

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rons Drama, doch konnten die Gnostiker, die sich von dieser Welt ebenfalls nichts Gutes erhofften, ihre Hoffnung und Zuversicht aus dem Glauben an eine bessere, transzendente Welt nähren. Bei Byron existiert diese Möglich­ keit nicht - die von ihm propagierte "Hoffnung", daß Luzifer seinen Gott letz­ tendlich doch noch überwinden könnte, ist im Grunde nicht ernst gemeint. Der Kampf wird nicht in der Hoffnung auf den Sieg geführt, er ist vielmehr eine Geste - man könnte auch sagen ein Selbstzweck -, die den Kämpfenden moralisch über den Rest einer dumpf vegetierenden Menschheit erhebt und seine Persönlichkeit adelt - es ist letztlich der Kampf des einsamen und sozial ungebundenen Aristokraten. Solche Kämpfe focht Byron in der Tat auch in seinem wirklichen Leben aus: Sein Mitwirken an Freiheitskämpfen in Italien und Griechenland war ganz und gar romantische Aktion, ohne jede politische Reflexion. So ist das Gefühl der Fremdheit in der Welt, das sowohl von den Gnosti­ kern wie auch von Byron thematisiert wurde, in beiden Fällen unterschiedli­ chen Ursprungs. Rührte es bei den Gnostikern von dem Gefühl her, Teil ei­ ner anderen, besseren Welt zu sein, so resultiert es bei Byron aus der erwa­ chenden Selbstwahrnehmung. Cain sieht und deutet die Welt auf eigene Weise, mißt sie an eigenen Maßstäben und grenzt sich damit aus, kann sich nicht mehr heimisch fühlen in einer Harmonie, die er als falsch erkannt hat. Dies läßt Cain darüber hinaus aus dem sozialen Gefüge seiner Familie fallen, so daß er sich letztendlich nur noch aus sich selbst heraus definieren kann - er ist nicht mehr Sohn Adams und Evas. Cains Replik "Bin ich meines Bruders Hüter" gewinnt vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung; ebenso hätte Cain fragen können: "Bin ich meines Vaters Sohn?" Die Konsequenzen für die persönliche Lebensführung waren bei den Gnostikern wie bei Byron oberflächlich betrachtet dieselben: Distanzierung von der Welt und Rückzug auf sich selbst - doch dieses "Selbst" war bei Byron durchaus ein anderes als das der Gnostiker, die letztlich danach strebten, sich auch von sich selbst (das heißt von ihrem Körper und von ihrer "Psyche") zu entfremden und zu lösen, um sich ganz mit dem unpersönlichen und eigen­ schaftslosen Lichtfunken (oder Pneuma), den sie in sich trugen, zu identifizie­ ren. Byron ging es um die Individualisierung und Veredelung der gesamten Persönlichkeit, einschließlich aller Emotionen und allen Denkens; sein Ideal war die veredelte und autarke Persönlichkeit, die sich wider eine schlechte und entfremdete Welt behauptet. Dies war der Weg, den Luzifer gegangen war und dem Cain folgen wollte. Läßt man alle mythischen und aristokrati­ schen Anklänge beiseite, ist man damit bei Stirner angelangt. Der Ausgangs-

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punkt des Aristokraten Byron und des Bildungsbürgers Stirner war natürlich ein anderer, in den Konsequenzen ihrer Weitsicht treffen sie sich jedoch. Byrons Satanismus wie Stirners Individualismus sind Reaktionen auf die historischen Entwicklungen, die einerseits das Individuum von seinen Fesseln befreiten und Selbstbewußtsein entstehen ließen, andererseits aber der Ver­ massung und Nivellierung Vorschub leisteten. An die Stelle des mittelalterli­ chen Ordo, der Feudal- und Kirchenherrschaft, begann nun die Herrschaft eines unberechenbaren und auf persönliche Schicksale wenig Rücksicht neh­ menden Marktes zu treten. Osterkamp bemerkt in diesem Zusammenhang, daß der unberechenbare Gott, der in Cain beschrieben wird, als Allegorie auf die unberechenbaren Mechanismen des Marktes während der Zeit des Man­ chester-Kapitalismus verstanden werden könne. Doch dies ist von Byron - zumindest bewußt - sicher nicht beabsichtigt gewesen. Trotz aller sozialhistorischen Bezüge, die auf keinen Fall von der Hand zu weisen sind, kann doch nicht davon ausgegangen werden, daß diese das Hauptanliegen der Satanisten gewesen wären.

Lord Byron war nun nicht nur der erste, der einen expliziten, gnostisch umge­ werteten Satanismus vertrat. Auch was das Verhältnis Luzifers zum Menschen (das heißt zu Cain) betrifft, hat er ein völlig neues Modell vorgestellt: Luzifer versucht in Cain nicht, die Menschen zu verführen oder gar ihnen Schaden zuzufügen; er wendet sich erst dann an Cain - und nur an ihn -, als Cain bereits von sich aus zum Rebellen und Ketzer geworden war. Dies gibt ihm Luzifer auch zu verstehen: And hadst thou not been fit by thine own soul For such companionship, I would not now Have stood before thee as I am.35

Cain wird also nicht versucht, er hat sich vielmehr als würdig erwiesen, von Luzifer aufgesucht zu werden, und eine Versuchung erweist sich im weiteren zudem als unnötig. Das, was Luzifer Cain lehrt, hat dieser alles bereits aus ei­ genem Antrieb heraus geahnt, es kommt zu keinem Disput, Luzifer muß Cain lediglich in seinen Ansichten bestärken und das, was er ihm zeigt, fügt sich nahtlos in Cains Weitsicht ein. Dies bedeutet, daß sich der Abstand zwischen Mensch und Luzifer drastisch verringert hat. Cain, der sich niemanden unter­ werfen will, findet in Luzifer einen Lehrer, der ihm zwar an Macht und Fähig­ keit, nicht aber an Erkenntnis und (Selbst-) Bewußtsein überlegen ist und der, anders als Gott, nicht auf seiner Unterwerfung besteht. Sein Konzept der Re­ volte besteht vielmehr darin, eine Elite um sich zu sammeln, die sich ihrer ei-

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genen Autarkie bewußt ist und daraus ihre Stärke bezieht. Mit der Ver­ menschlichung Luzifers geht die potentielle Vergöttlichung des Menschen einher, die freilich nur einer kleinen Elite vorbehalten ist. Auch ist dies ein gnostischer Gedanke, nur daß sich die Göttlichkeit des Menschen in den gnostischen Systemen aus dessen (angeborener) Teilhabe am Pneuma herleitet, während Cain sich aufgrund seiner Individuation zur Gottähnlichkeit aufzuschwingen vermag. Es handelt sich hierbei im Grunde um eine "Imitatio" Luzifers: Der Mensch, der die Rebellion Luzifers nachvoll­ zieht, wird mehr noch als Luzifer "der, der er ist." Muß Luzifer seine Identität noch von seiner Gegnerschaft gegen Gott herleiten, so hat der Mensch Cain dies nicht mehr nötig und steht insofern sogar über Luzifer. So könnte Cain mit Stirner übereinstimmen, wenn dieser sagt: "Meine Sache ist allein die Meinige." Diese von Byron postulierte Beziehung zwischen Mensch und Luzifer kann als richtungweisend für die meisten späteren Strömungen des nicht-re­ aktiven Satanismus angesehen werden. Eine andere Art der Beziehung wäre mit dem stark individualistischen Charakter, der dem Satanismus im allge­ meinen eignet, nur schwerlich zu vereinbaren. Byron war sicher kein Satanist in dem Sinne, daß er an eine tatsächliche Exi­ stenz Satans oder Luzifers glaubte. Der Luzifer in Cain ist Byrons literarische Fiktion, eine Fiktion, derer sich Byron bediente, um seinen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen. Byrons gnostisch umgewerteter Satanismus war rein li­ terarischer Natur, doch lieferte er mit dem Luzifer Cains ein Modell, das den expliziten Satanismus entscheidend beeinflußte. Und Byron war es, nicht de Sade, von dem der explizite literarische Satanismus seinen Ausgang nahm. Wenn Mario Praz schreibt: Nach allem, was man heute über Byrons Charakter weiß, erscheint der Abstand zwischen dem göttlichen Marquis und dem satanischen Lord nicht gar so groß. Zwar sind die Werke des einen heute jedermann zugänglich, während des ande­ ren Schriften in die Giftschränke der Bibliotheken verbannt sind; Byron war ein Dichter und bedeutender Mensch, Sade nur ein faunischer "Philosoph". Doch die Anregungen, die von den Dichtungen und vor allem aber vom Leben Byrons und von den abscheulich-gequälten Büchern Sades ausgingen, waren im übrigen nicht so verschieden, daß die französischen Romantiker sie miteinander nicht hätten in Verbindung bringen können36,

so verkennt er die tiefgreifende Differenz, die den Rationalisten de Sade von dem idealistischen, wenn auch amoralischen Schwärmer Byron trennt.

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Es mag sein, daß die Ansätze de Sades und Byrons von späteren Dich­ tern verquickt wurden, doch ist dies eine völlig andere Sache. Die literarische Satan- und Luzifergestaltung hat sich hingegen keineswegs an den psychopa­ thischen Helden de Sades orientiert. Zwar weist die Weitsicht beider Autoren ein paar oberflächliche Paral­ lelen auf - Sades "Natur" ist genauso böse und sinnentleert wie Byrons Gott, beider Weltentwurf läßt an eine gnostische Welt ohne Pieroma denken -, doch sind die Unterschiede, was die Haltung zu dieser Welt betrifft, unüber­ sehbar. De Sade sagt ja zu dieser schlechten Welt, er predigt "Natürliches", das heißt böses Verhalten, Byron dagegen rebelliert gegen die Schlechtigkeit der Welt und schlägt sich auf die Seite Luzifers, der ihm nicht etwa der böse Gott dieser Welt, sondern der Feind des schlechten Schöpfergottes ist. De Sade argumentiert wider die Tugend und fordert "untugendhaftes" Verhalten, er ist radikal antimoralisch; Byron hingegen ist keineswegs antimoralisch, er ist amoralisch. Tugend im Sinne von Gehorsam Gottes Geboten gegenüber gilt bei Byron als Selbstbetrug, denn dieser Gott ist schlecht und so kann eine Tugend, die sich aus Gottgefälligkeit ableitet, keine wahre Tugend sein. Die­ ses Fehlen einer echten, von oben sanktionierten Ethik ist für Byron Recht­ fertigung für seinen ethischen Relativismus, der die Kreation einer akzeptab­ len Ethik in die Hände jedes einzelnen wachen Individuums legt. Sein Werk wie sein Leben weisen Byron als Idealisten aus (im umgangssprachlichen, nicht im philosophischen Sinne), wenn auch als einen zynischen und amorali­ schen, und die "byronic Heroes" sind gleichen Charakters. Dieser Charakter des amoralischen und zynischen Idealisten ist jedoch in den Werken de Sades nirgendwo zu finden (ebensowenig ein ethischer Relativismus - de Sade ging es nur um die Negierung der Moral), und gerade der ist eine der charakteri­ stischsten Gestalten des modernen Satanismus. Byrons Satanismus hat ebenso nichts mit einem Erhardschen Egoismus zu tun. Byron wie auch seine "Heroes" waren sicherlich nicht das, was man einen guten Menschen nennen würde, doch Heuchelei und vor allem Oppor­ tunismus kann man ihnen gewiß nicht vorwerfen. Der von Erhard beschrie­ bene "satanische Mensch", auch Held zahlreicher Romane jener Zeit (am be­ kanntesten der Roman Liaisons Dangereuses von Laclos), ist ein areligiöser Charakter, der weit davon entfernt ist, sich seinen Beistand bei Satan zu su­ chen; er stellt vielmehr die rein säkulare Dimension des Bösen dar. Der explizite Satanismus, von seinen rein reaktiven Spielarten einmal abgesehen, enthielt in seiner religiösen Dimension immer einen gewissen, wenn auch zuweilen befremdlichen Idealismus.

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Die Liste der vor allem französischen Schriftsteller, die mehr oder weniger von de Sade und Byron beeinflußt wurden, ist lang. Mario Praz gab in seiner Studie Liebe, Tod und Teufel - die schwarze Romantik eine umfassende Über­ sicht über diese Literaturgattung. Allein, wirklich Satanistisches hat die schwarze Romantik nicht allzuviel zu bieten. Papini, Frick, Zacharias u. a. nennen eine lange Reihe von Namen: Vigny, L’Isle-Adam, Lautreamont, Rimbaud, d’Aurevilly usw. Zweifellos haben all diese Schriftsteller den Reiz des Makabren ausgespielt und sich zuweilen auch mit der Gestalt Satans be­ faßt, ein wirklich satanistisches Werk, wie Byrons Cain, hat jedoch keiner der Genannten verfaßt. Zwar wurden im 19. Jahrhundert unzählige literarische Figuren geschaffen, die "satanische" Züge trugen, doch was heißt das schon? Die Gestalt Satans hat sich immer gewandelt, Eigenschaften wurden ihr zuge­ sprochen und wieder von ihr gelöst; würde man jede Gestalt, die Eigenschaf­ ten besitzt, die einmal - von manchen oder auch allgemein - Satan zugespro­ chen wurden, als satanisch bezeichnen, so sähe man sich einer inflationären Menge von satanischen Gestalten gegenüber, die in ihrer Fülle schon wieder bedeutungslos wäre. Lord Byron hat Luzifer beim Namen genannt und sich auf seine Seite gestellt. Es gibt keine triftigen Gründe, warum dies nicht auch andere Schriftsteller nach ihm getan haben sollten, wenn sie dies gewollt hät­ ten. Im 19. Jahrhundert brannten keine Scheiterhaufen mehr und Tabus wur­ den von den Autoren der schwarzen Romantik zuhauf und mit Vorliebe ge­ brochen. Die Fülle der makabren Literatur dieser Zeit, die größtenteils ohne Satan auskam, ist nur ein weiterer Beleg dafür, daß das Böse längst ohne den Teufel denk- und darstellbar geworden war. Von literarischem Satanismus kann da nur von einer theologischen Position aus gesprochen werden. Dies gilt ebenso für diejenigen literarischen Werke, in denen die Gestalt Satans zwar behandelt, nicht aber eindeutig gerechtfertigt wird. So kann und darf es nicht verwundern, wenn sich derartige Einschätzun­ gen im theologisch durchtränkten Teufel-Buch Papinis finden. Bei Autoren mit wissenschaftlichem Anspruch muß es hingegen verwundern, wie unreflek­ tiert solche theologischen Ansätze einfach übernommen werden. Der französischen schwarzen Romantik haftet ein morbid-blasphemi­ scher Duft an, die Lust an der Übertretung der Gebote, die bereits de Sade predigte, ist hier beinahe überall zu finden. Frömmigkeit, Ausschweifung und Blasphemie schaukeln sich vielerorten gegenseitig hoch, weit davon entfernt, wirkliche Erfüllung ohne diese inhärente Spannung finden zu können. Nicht wenige der französischen Romangestalten wie Autoren dieser Epoche fanden im Alter, nach einem auf diese Weise durchfieberten Leben, wieder in den

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Schoß der Kirche zurück. Keiner von ihnen hatte sich wirklich auf einen Sata­ nismus, der neue Maßstäbe und Orientierungspunkte hätte liefern können, eingelassen. Die Frömmigkeit wird in vielen der schwarz-romantischen Werke nicht wirklich bekämpft und abgelehnt, sie wird zum Zwecke der Luststeige­ rung instrumentalisiert - und dort, wo wirklich nach neuen Werten gesucht wird, wie etwa bei Victor Hugo, endet dies meistens in einem verallgemei­ nernden Humanismus. Mario Praz bemerkte hierzu sehr treffend: Sadismus und Katholizismus sind in der französischen Literatur der Dekadenz die beiden Pole, zwischen denen sich die Seele des neurotisch-sinnlichen Schriftstellers bewegt.37

Der Satanismus eines Charles Baudelaire - im übrigen ist er der einzige fran­ zösische Dichter von Rang, den man wirklich als Satanisten bezeichnen kann hat seine Wurzeln zwar unbestritten in der Literatur der schwarzen Romantik, diese selbst kann als Ganzes jedoch kaum als satanistisch bezeichnet werden. Dies soll nun nicht heißen, daß der Mythos des Luzifers nicht weiterhin bear­ beitet worden wäre, doch stammen die interessantesten Fassungen nicht aus den Federn der Schriftsteller des genannten Genres.

In erster Linie ist in diesem Zusammenhang der Luzifer-Mythos zu nennen, den der okkultistische Schriftsteller Eliphas Levi (Pseudonym von Alphonse Constant) in seinem Buch Dogme et rituel de la haute magie (1856) vorstellte. Levi selbst behauptete, dieser Text stamme aus einem "von einem unserer Freunde im Orient gefundenen, gnostischen Evangelium". Dies dürfte aller­ dings kaum zutreffen, man kann davon ausgehen, daß es Levi selbst war, der diesen Text verfaßte. Und als Gott sagte ‘Es werde Licht!’, wurde die Intelligenz erschaffen und das Licht erstrahlte. Die Intelligenz, die Gott mit dem Atem seines Mundes aushauchte, wie einen Stern, der sich von der Sonne löst, nahm die Gestalt eines glänzenden Engels an, und der Himmel grüßte ihn im Namen Luzifers. Die Intelligenz erwachte und begriff ganz den Ruf des göttlichen Wortes ‘Es werde Licht!’ Sie fühlte sich frei, weil Gott ihr zu sein befohlen hatte, und antwortete das Haupt hebend und die Flügel breitend: - Ich werde mich nicht in Hörigkeit stellen! - So willst du leiden? ruft die unerschaffene Stimme. - Frei will ich sein! erwidert das Licht. - Hochmut wird dich blenden, sagt die höchste Stimme, und du wirst den Tod zeugen.

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- Mit dem Tod werde ich kämpfen, um das Leben zu gewinnen, sagt noch das erschaffene Licht. Da löste Gott von seiner Brust den Faden der Herrlichkeit, der den stolzen En­ gel zurückhielt, und er liebte, dem in die Nacht Dahinstürzenden nachschauend, das Kind seines Gedankens und sagte mit unaussprechlichem Lächeln zu sich selbst: ‘Das Licht war schön!’

Levi kommentiert: Gott hat nicht das Leid erschaffen, die Intelligenz hat es auf sich genommen, um frei zu sein. Und der Schmerz wurde dem freien Wesen als Bedingung auferlegt, weil der Unendliche allein sich nicht täuschen konnte. Denn das Wesen der Intelligenz ist das Urteil; und das Wesen des Urteils ist die Freiheit. Das Auge besitzt das Licht wirklich nur durch die Möglichkeit, sich öffnen und schließen zu können. Wäre es gezwungen, immer offen zu sein, es wäre Sklave und Opfer des Lichts, und um diese Qual zu beenden, müßte es aufhören zu sehen. So ist der erschaffene Verstand nur durch die Freiheit, Gott zu verneinen, im Bejahen Gottes glücklich. Verneinende Intelligenz bejaht immer, da sie die Freiheit bejaht. Deshalb verherrlicht der Lästerer Gott, und deshalb war die Hölle zum Glück des Himmels notwendig. Würde das Licht nicht durch den Schatten verdrängt, es gäbe keine sichtbaren Formen. Hätte nicht der erste Engel den Tiefen der Nacht getrotzt, die Gottes­ kindschaft wäre nicht vollkommen, und das erschaffene Licht hätte sich nie von seinem Urlicht getrennt. Nie hätte die Intelligenz Gottes ganze Güte erfahren, hätte sie ihn nicht verloren. Nie hätte die unendliche Liebe Gottes sich in den Wonnen seiner Barmherzigkeit offenbart, wäre der verlorene Sohn des Him­ mels immer in seinem Vaterhaus geblieben. Da alles Licht war, war es nirgends, es erfüllte das Herz Gottes, der es hervor­ bringen wollte. Und als er sagte: ‘Es werde Licht!’, erlaubte er der Nacht, das Licht zu verdrängen, und das Universum erhob sich aus dem Chaos. Die Weige­ rung des Engels, mit seiner Geburt auch zu dienen, stellte das Gleichgewicht der Welt her, und die Bewegung der Sphären begann. Und die unendlichen Räume bewunderten diese Liebe zur Freiheit, die groß genug war, der ewigen Nacht Leere auszufüllen, und stark genug, Gottes Haß hinzunehmen. Aber Gott konnte nicht das beste seiner Kinder hassen und prüfte es nur in sei­ nem Zorn, um es in seiner Macht zu befestigen. Das Wort Gottes selbst wollte, gleichsam eifersüchtig auf Luzifer, vom Himmel herabsteigen und die Schatten der Hölle siegreich durchdringen.38

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Es handelt sich hier um den ersten Luzifer-Mythos von Bedeutung, der eine Luzifer-Gestalt beschreibt, die mit Satan nichts gemein hat. Levi nahm in sei­ nen Texten verschiedentlich auch auf Satan Bezug, wobei er diesen auf deut­ lich andere Weise beschrieb: Satan ist die Personifizierung aller Irrtümer und Perversitäten und infolgedes­ sen auch aller Schwächen. Wenn Gott als absolute Notwendigkeit erklärt wer­ den kann, kann dann sein Widersacher und Feind nicht als das erklärt werden, was notwendigerweise nicht existiert?39

Das mag bei einem Mann wie Levi nicht allzuviel besagen. Levi liebte es, mit Begriffen und Bedeutungen zu spielen und sich dabei unausgesetzt selbst zu widersprechen oder seine vorangegangenen Äußerungen zu relativieren. Doch auch wenn man aus Levis Schriften keine einheitliche Lehre ableiten kann, so gehörte er doch zu den einflußreichsten Okkultisten des 19. Jahrhun­ derts, sein Einfluß auf den religiösen Untergrund des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ist dem einer Helena Blavatsky - die übrigens einiges von ihm abschrieb - ohne weiteres gleichzusetzen. Levi begann seine Laufbahn als Priester, distanzierte sich dann von der Kirche, ohne sich jedoch jemals ganz von ihr abzuwenden, wurde als linksra­ dikaler Journalist politisch aktiv, wandte sich anschließend dem Okkultismus zu, um im Alter wieder zum katholischen Glauben zurückzukehren. Ein nicht untypischer Lebensweg für einen exzentrischen Franzosen dieser Tage. Sata­ nist ist Levi sicher nie gewesen, was ihn jedoch nicht daran hinderte, mit dem oben zitierten Text die Vorlage für jenen integrativen Satanismus - oder bes­ ser Luziferianismus - zu liefern, der vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine gewisse Verbreitung fand. Hauptvertreter dieser Strömung war Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie. Luzifer erscheint in diesem Text als Urbild des "Lichtbringers", nichts Düsteres, "Satanisches" haftet ihm an, er erfüllt seine Aufgabe im Schöp­ fungsplan. Ein echter Kampf mit Gott findet nicht statt, jeder Antagonismus ist nur ein scheinbarer, denn eben dadurch, daß Luzifer den Gehorsam ver­ weigert, erfüllt er die ihm von Gott zugedachte Aufgabe. Es war Levis Anliegen, Wissenschaft, Glaube und Vernunft wieder zu vereinen. Nur diesem Ziel blieb er durch alle seine geistigen Achterbahnfahr­ ten hindurch treu. Der in weiten Kreisen verbreiteten Sehnsucht, diese seit der Aufklärung endgültig getrennten Elemente abendländischer Geistigkeit wieder zu vereinen, ist wohl die Hochschätzung, die ihn von Esoterikern jegli­ cher Couleur entgegengebracht wurde, zu verdanken.

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Sein Luzifer-Mythos kann als Sinnbild dieser Anstrengung gelten. Frei­ heitsstreben, Selbstbewußtsein und kritische Vernunft werden hier in den göttlichen Heilsplan integriert, um so darzulegen, daß die Aufklärung nicht das Ende, sondern die Erfüllung des christlichen Glaubens bedeutete. Die eigentliche theologische Funktions Satans, nämlich das Böse zu er­ klären, wird damit freilich verfehlt; auch der nichtexistente Satan Levis kann dies schwerlich leisten. Levi ist von einem Fortschrittsoptimismus beseelt, der dem Carducéis vergleichbar ist, nur daß Levi nicht auf Konfrontation, sondern auf Integration setzte und nicht zufällig den lichten Luzifer dem düsteren Sa­ tan vorzieht. Diese Unterscheidung ist gerade in den folgenden Jahrzehnten häufiger anzutreffen, es fand teilweise eine regelrechte Trennung des lichten Luzifers vom dunklen Satan statt. Alle positiven Attribute, die Satan/Luzifer seit dem 16. Jahrhundert zuerkannt wurden, bezog man auf Luzifer, während alles Ne­ gative, das Satan seit jeher anhaftete, diesem nun allein zugeschrieben wurde. Auf diese Weise erhielt man schließlich einen reinen Freiheits- und Wissen­ sengel, der von Ambivalenzen so weit als eben möglich gereinigt war. Rudolf Steiner ging hier am weitesten, indem er den lichten Luzifer und den dunklen Ahriman (das iranische Vorbild des Satans) als sich feindlich gegenüberste­ hendes Gegensatzpaar darstellte. Dies war im Grunde nichts anderes als die Integration der als positiv empfundenen Eigenschaften Satans in eine synkre­ tistisch erweiterte christliche Weitsicht. Für die Theologie der großen christlichen Konfessionen war dies natür­ lich kein gangbarer Weg und auch kein notwendiger. War es doch viel einfa­ cher, aus dem christlichen Gott einen Gott der Vernunft zu machen, wenn man denn auf diese nicht verzichten wollte, was aber längst nicht für alle Theologen ein dringliches Erfordernis war. Und Satan, so man ihn noch ins Kalkül zog, konnte man ebensogut die Unvernunft beigesellen - schon Thou hatte dies vorexerziert. Innerhalb des Okkultismus stieß diese Integration ebenfalls nicht auf un­ geteilte Zustimmung, zahlreiche seiner Strömungen hatten mit dem Christen­ tum bereits endgültig gebrochen und waren an solchen Integrationsmodellen nicht interessiert. Dieser integrative Luziferianismus war demgemäß vorwie­ gend in jenen Strömungen der Esoterik beheimatet, die christlichen Elemen­ ten einen mehr oder minder bedeutsamen Platz in ihren synkretistischen Leh­ ren einräumten. Rudolf Steiner kann wohl als der bedeutsamste Vertreter dieser Richtung angesehen werden. Der Luzifer Levis fand als Geist der Erkenntnis und der Freiheit jedoch ebenso Eingang in das Pantheon mancher explizit satanistischer Vereinigung,

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wo er dann nicht mit Gott, sondern mit Satan in der einen oder anderen Weise kooperierte. Die Trennung von Luzifer und Satan, die sich aus den Schriften Levis ableiten läßt, wurde in dieser Form zwar keineswegs von allen Satanisten übernommen, aber sie hat in der Geschichte des Satanismus doch ihre Spuren hinterlassen.

Etwa zur selben Zeit vertrat Charles Baudelaire eine vollständig andere Art des Satanismus - sein Gedichtband Fleurs du mal erschien 1857. Baudelaire war ein schwarzer Romantiker der reinsten Form, die Lust am "Bösen" sowie die Ästhetisierung des Unglücks und des Todes verband er mit einem eigen­ willigen Satanismus. Außer auf Milton und Byron bezog er sich auch auf de Sade, indem er die Wurzel des Bösen im "natürlichen Menschen" suchte. Doch im Gegensatz zu de Sade ging es ihm darum, zu dieser Natur auf Di­ stanz zu bleiben, sich dieses Böse in quasi homöopathischen Dosen zuzufüh­ ren, um sich letztendlich zumindest ein wenig von ihm zu befreien. Diese Ge­ ste eines distanzierten Dandys, die Baudelaire einzunehmen pflegte, hat, soll man den Gerüchten Glauben schenken, sein Sexualleben wesentlich beein­ flußt. Oder, dies dürfte wahrscheinlicher sein, seine sexuellen Eigenheiten be­ dingten diesen seinen Habitus. Genital impotent, soll er sein Vergnügen im Voyeurismus und Fetischismus gesucht haben. Suchten die Helden de Sades ihre Distanz zu ihren "Objekten" dadurch zu wahren, daß sie sich deren Lei­ den verschlossen, so wählte der "Gentleman" Baudelaire einen anderen Weg, um dasselbe zu erreichen. Die Verachtung der Frau und die Angst vor ihr nahmen bei Baudelaire ähnliche Züge an wie bei de Sade und wie auch bei den christlichen Hexenjägern. Die Frau hat Hunger, und sie will essen, sie hat Durst und sie will trinken. Sie ist geil und will gefickt werden. [...] Die Frau ist natürlich und das ist scheußlich. [...] Die Frau kann ihre Seele nicht vom Körper trennen. Sie ist einfältig wie die Tiere.40

Doch während erstere ihr Heil in phantasierter (de Sade) oder tatsächlicher (Hexenjäger) Folter und Vernichtung der Frau suchten, begnügte sich der Sa­ tanist Baudelaire wenigstens mit der Haltung angeekelter Distanz. Diese Frauenfeindlichkeit ist zweifellos ein Teil des christlichen Erbes, das Baude­ laire in sich trug. Kaum ein Satanist war so von der Spannung des christlichen Dualismus besessen wie Baudelaire und kaum einer lebte diese Widersprüche derart exzessiv aus wie er. Anders als die christlichen Kleriker vertrat er je­ doch die Ansicht, daß nur die "Überbewußtheit im Bösen" zu einer Befreiung führen könne. Was jahrhundertelang verdrängt und nach außen projiziert

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wurde, wollte er in seinem Inneren auszufechten, und eine reflektierte Form des reaktiven Satanismus schien ihm die einzige Grundlage, auf der dies mög­ lich sei. Dies macht seine diesbezüglichen Ansichten zwar nicht unbedingt sympathischer - harmloser und produktiver als das, was lange Zeit offizielle theologische Lehrmeinung war, war es aber allemal. Die Ähnlichkeiten im Naturverständnis und damit in der Anthropologie de Sades und Baudelaire sind oft - auch von Baudelaire selbst - hervorgeho­ ben worden, dennoch waren die geistigen Welten, in denen sie lebten, grund­ verschieden. Baudelaires mythologisches Weltbild leitet sich von Swedenborg und der spätantiken Hermetik ab, in seinen Werken hat er ganze Passagen aus den Schriften Swedenborgs sowie aus dem hermetisch-gnostischen Text Poimandres wörtlich übernommen und auf eine etwas eigenwillige Art zu ver­ knüpfen versucht. So sprach er in Anlehnung an den "Hermes Trismegistos" der spätantiken Hermetiker vom "Satan Trismegiste". Baudelaires Satansbild war seltsam zwiespältig, Walter Benjamin wies mit Nachdruck auf den Unter­ schied zwischen Baudelaires Satan Trismegiste, dem "höllischen Intriganten", und dem halb mitleidsvollen halb byronesken Satan hin, den Baudelaire in seinen Litanies de Satan beschrieb. Nach Baudelaire hat der Engel-Mensch das Paradies dadurch verloren, daß er sich bei der Erkenntnis der sinnlich vermittelten Dinge immer mehr an diese Dinge, das heißt an die Materie, verloren hat, anstatt sie in sich selbst zu sehen. Bei dieser Zersplitterung in die Vielheit hat sich der Wille des Men­ schen "vaporisiert" - auch Gott wäre von seiner Einheit in die Vielheit der Ma­ terie gefallen. Diesen "gefallenen Gott" nennt Baudelaire "Satan Trismegiste"; er ist es, der die Fäden hält, an denen die Menschen sich hin und her bewe­ gen; er ist es, der die "böse Natur" emaniert - "es ist die undankbare Aufgabe des Teufels, die Natur zu verderben."41 Satan wird also, ganz in christlicher Manier, mit der Materie, mit dem "Fleisch" gleichgesetzt, nur eben, daß sich Baudelaire des Reizes, der vom Abstieg in diese Abgründe der Materie aus­ ging, bewußt war und sich diesem Abstieg distanziert beobachtend hingab. ‘Jeder Mensch wird zu jeder Stunde von zwei Forderungen bewegt: Die eine führt zu Gott, die andere zu Satan hin. Die Anrufung Gottes oder Spiritualität ist ein Wunsch, emporzusteigen; die Anrufung Satans oder Animalität ist eine Lust am Abstieg, der die Liebe zu den Frauen zugeschrieben werden muß.’ Zum Aufstieg braucht es Willenskraft, den Abstieg garantiert allein die natur­ gegebene Anziehungskraft des Bösen. Ebenso ‘werden wir in jeder Minute von der Vorstellung und dem Gefühl der Zeit erdrückt. Und es gibt nur zwei Mittel, um diesem Alpdruck zu entgehen - um zu vergessen: das Vergnügen oder die Arbeit. Das Vergnügen schwächt uns. Die Arbeit stärkt uns. Wählen wir.’42

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Baudelaire entschied sich gegen die Arbeit, ohne sich jedoch dem Vergnügen wirklich unbefangen hingeben zu können. Sartre sprach hier von der Urwahl, die der Mensch Baudelaire getroffen hatte, indem er sich mit allen Konse­ quenzen für Satan entschied, ohne jedoch die Existenz Gottes und des "Gu­ ten" zu leugnen. Satan definiert sich ja nach Baudelaire gerade aus seinem Gegensatz zu Gott. Mittels dieses reaktiven Satanismus begründet Baudelaire sein Anderssein, seine Einmaligkeit, und nicht zuletzt schärft er so sein Be­ wußtsein. Dieses geschärfte Bewußtsein birgt, so Baudelaire, die einzige Heilschance, die dem Menschen gegeben ist, denn die "direkte Verbindung nach oben" ist durch den "Fall" des Menschen (und dem Satans) zerstört wor­ den. In dieser schlechten Welt bleibt dem Menschen nur, sich dem Schlechten hinzugeben, doch dabei die Haltung distanzierter Bewußtheit zu bewahren ("hyperconscience dans le mal"): Bezeichnend für den Fall ist ja die Zersplitterung und Vervielfältigung des ‘Einen’. Und im Sex flieht der erniedrigte Mensch vor der gefürchteten Einsam­ keit: ‘Er will zwei sein. [...] Das Bedürfnis, sein Ich im Fleisch zu vergessen, nennt der Mensch edlerweise das Bedürfnis zu lieben.’ Nach Ansicht Baudelaires ist dies jedoch die ‘satanische Seite in der Liebe’, deren ‘einzige und höchste Wollust [...] in der Gewißheit ruht, das Böse zu tun’ (Mann und Weib ‘wissen’ das “von Geburt an’), und die der Natur entspricht. [...] ‘Der geniale Mensch’ hingegen *will einer sein, also einsam.’43

In seinen Litanies hingegen verherrlicht Baudelaire Satan als jenen stolzen und gestürzten Rebellen, der bereits bei Milton und Byron beschrieben wurde; hier vermischt sich Baudelaires resignative Weltverachtung mit einer unbestimmten Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse.

Litanei auf Satan Du Licht und Zierde aller Engelreigen, Verratner Gott, dem keine Hymnen steigen, O Satan, meines Elends dich erbarme! O Fürst der Acht, dem man sein Recht befleckt Und der besiegt nur höher auf sich reckt, O Satan, meines Elends dich erbarme!

Großkönig alles Untern, Herr im Wissen Und Heilfreund den gepeinigten Gewissen, O Satan, meines Elends dich erbarme!

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Der Parias und Aussätzige liebt Und ihnen drum Geschmack an Eden gibt, O Satan, meines Elends dich erbarme! Der aus dem Tode, seiner Liebe Herrin, Die Hoffnung zeugte - eine Zaubernärrin, O Satan, meines Elends dich erbarme!

Der du Verfemten gibst des Blickes Licht, Das ganzem Volk am Block das Urteil spricht, O Satan, meines Elends dich erbarme! Der weiß, wo von der Erde Geiz verschwiegen Durch Gottes Neid die Edelsteine liegen, O Satan, meines Elends dich erbarme! Der lichte Blicke in das Zeughaus tut, wo der Metalle Volk im Schlafe ruht, O Satan, meines Elends dich erbarme! Der breiter Hand nachtwandlerischen Schweifen Die Schlünde zudeckt, die den Süchtigen greifen, O Satan, meines Elends dich erbarme! Der zagen Mann, die Qualen auszuwischen, Gelehrt, Salpeter Schwefel beizumischen, O Satan, meines Elends dich erbarme! Der, schlauer Spießgeselle, aufdrückt fahl, Des schonungslosen Krösus Stirn sein Mal, O Satan, meines Elends dich erbarme!

Der in der Dirnen Herz und Aug geschrieben: Ihr sollt die Wunden und Zerlumpten lieben, O Satan, meines Elends dich erbarme!

Der Landflucht Stab und der Gehängten Ohr, Beichtvater jedes Manns, der sich verschwor, O Satan, meines Elends dich erbarme! Wahlvater jener, die in dunklem Bosen Gottvater aus dem Paradies verstoßen, O Satan, meines Elends dich erbarme!

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Gebet Dir Ruhm und Preis, o Satan in den Lüften, Wo du einst Herr warst, gleichwie in den Klüften, Wo du besiegt nun liegst in Schweigens Traum. Laß meine Seele am Erkenntnisbaum Bei dir einst ruhen dann, wenn seine Schossen Ein neuer Tempel, deine Stirn umsprossen!44

Satan erscheint hier nicht als "Herr dieser Welt", der (ungerechte und selbst­ zufriedene) Herr dieser Welt ist Gott und seine Günstlinge sind die Kinder Abels, wie es in dem Gedicht Kain und Abel dargelegt wird. Satan, der be­ siegte und gestürzte Gott, nimmt sich derer an, die im Elend leben und von Gott vergessen wurden - die Kinder Kains. Genauso, wie Gott sowohl der Gott der Armen als auch der Gott der Mächtigen genannt wurde, steht auch Satan mal auf der einen, mal auf der anderen Seite der sozialen Pyramide. Zu Zeiten eines Napoleon III., der die Restauration Hand in Hand mit der Kir­ che durchführte, war es für einen rebellierenden Dandy wie Baudelaire nur folgerichtig, die Belange der Entrechteten in die Hände Satans zu legen - und Satan spendet diesen nicht nur Trost, er lehrt sie auch Salpeter und Schwefel zu mischen, das heißt Schießpulver herzustellen, mit dessen Hilfe sie ihre Un­ terdrücker vernichten können. Diese revolutionären Anklänge dürften jedoch nicht allzu ernstzunehmen sein. Zwar kokettierte Baudelaire mit der Revolu­ tion - ähnlich wie Byron -, doch hauptsächlich deshalb, weil dies seinem Habi­ tus entsprach. Ein Revolutionär ist Baudelaire nie gewesen. Viel zu sehr war er von der Ästhetik des Elends fasziniert, viel zu sehr davon, daß sich dem Elend noch Verse abgewinnen ließen, und nicht zuletzt war seine Rebellion umso berechtigter, je schlimmer die Zustände waren. Baudelaire hatte die Wahl des Einsamseins und des Andersseins getroffen, wie hätte er sie durch­ halten können, wenn alles sich zum Guten gewendet hätte? Doch der Vorteil des Pessimisten ist es ja, daß er nie fürchten muß, grundlegend falsch zu lie­ gen. An der Schärfe und Ernsthaftigkeit seines Protestes ändert dies freilich nichts. Das Problem, das sich aus der Charakterisierung Satans als "gestürzten, ewigen Rebellen" in bezug auf einen eventuellen letztendlichen Sieg Satans ergibt, wurde von den Literaten des 19. Jahrhunderts, die dieses Satansbild gezeichnet hatten, nicht gelöst. Wenn Satan nicht mehr der be­ siegte und stolze Rebell war, sondern selber Sieger, was wäre er dann? Diese Frage wurde weder von Byron noch von Baudelaire beantwortet und sie stellte sich ihnen auch nicht. Ihr Satanismus war ihnen Mittel, ihr Selbstbe100

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wußtsein, ihre Individualität gegen eine die Würde des einzelnen bedrohende Welt zu behaupten, an deren Änderbarkeit sie nicht glaubten. Weder der Lord noch der Bohemien sahen für sich eine Möglichkeit, wirksam in den Lauf der Dinge einzugreifen. Insofern konnte ihnen der besiegte, jedoch un­ gebrochene, nur auf sich selbst bauende Satan ein Vorbild sein. Erst Anatole France - wie Byron Skeptiker und Geschichtspessimist versuchte diese Widersprüche in seinem 1913 erschienenen Roman La revolte des Anges zu lösen: Nachdem die aufständischen Engel alles für den großen Schlag vorberei­ tet haben, bitten sie Luzifer, an ihre Spitze zu treten und die Rebellion zu führen. Luzifer jedoch lehnt ab, nicht weil er ein Scheitern befürchtet, son­ dern gerade deshalb, weil die Rebellion erfolgreich sein könnte. Im Traum nämlich hatte Luzifer sich als Sieger gesehen. Er sah, wie er nach und nach all die ihm verhaßten Eigenschaften Gottes annahm, wie er hochmütig, tyran­ nisch und träge wurde, während der von ihm gestürzte Jaldabaot (gnostischer Name für den alttestamentarischen Schöpfergott) ihm, Luzifer, immer ähnli­ cher wurde, an Stolz, Würde und Intelligenz gewann und die Menschen be­ lehrte, wie er es einst getan hatte. Der Sieg hatte am Zustand der Welt nichts geändert. Daraus zieht Luzifer die Konsequenz: ‘Gefährten,’ sagte der große Erzengel, ‘nein, erobern wir den Himmel nicht. Es genügt, daß wir es können. Denn Krieg erzeugt wiederum Krieg und Sieg Nie­ derlage. Der besiegte Gott wird Satan und der siegreiche Satan wird Gott. Möge mir das Geschick dieses furchtbare Los ersparen.45

Luzifer schlägt seinen Gefährten einen anderen Weg vor: den ständigen Kampf gegen Krieg, Dummheit, Haß, Gewalt und Unterdrückung. Dieser ist zwar mühseliger als der Umsturz, doch nur er führt letztlich zur Niederlage Jaldabaots. Anatole Frances Roman zieht einen Schlußstrich unter den literarischen Satanismus des 19. Jahrhunderts. Mit den Satanismuskonzepten des 20. Jahr­ hunderts hat dies allerdings nicht mehr allzuviel zu tun.

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Teil 1: Der "Krieg der Rosen" Am Ende des 19. Jahrhunderts erreichte der antisatanistische Aktionismus mit dem sogenannten "Krieg der Rosen" einen neuen - sehr medienwirksamen - Höhepunkt. Das Besondere an diesem ersten Akt des an Absurditäten nicht armen antisatanistischen Kampfes im späten 19. Jahrhundert war, daß die Kirchen in ihm kaum eine Rolle spielten. Gegner waren die okkultistische Bewegung der Neo-Rosenkreuzer um Papus und Stanilas de Guiata auf der einen und die christlich-häretische Gruppe um den exkommunizierten Prie­ ster Boullan und den Schriftsteller Joris Karl Huysmans auf der anderen Seite. Satanist war keine der beteiligten Personen, doch daran störte sich im Eifer des Gefechtes niemand. Es handelt sich hierbei in der Tat um die erste durch einen projizierten Satanismus ausgelöste Auseinandersetzung, an der die christlichen Kirchen nicht beteiligt waren. Zwar sah die katholischen Kir­ che den Kampf Boullans wider die Neo-Rosenkreuzer nicht ungern, da sie selbst gerade auf breiter Front gegen alle Arten von Freimaurern, Okkulti­ sten, Spiritisten usw. vorging, doch griff sie selbst nicht ein; natürlich war es auch nicht ihr Anliegen, das "schwarze Schaf' Boullan in diesem Kampf zu un­ terstützen. Huysmans verarbeitete seine diesbezüglichen Eindrücke in seinem Schlüsselroman La bas, der zu einem der bedeutendsten Werke der Deca­ dence avancierte. Dieser Roman wurde allgemein als ein wertvolles Quellen­ werk betrachtet, das den Satanismus seiner Zeit authentisch widerspiegelte. Noch der christliche Autor Alfons Rosenberg leitete in seinem in den 60er Jahren erschienenen Buch Praktiken des Satanismus seinen SatanismusBegriff weitgehend von Huysmans Schilderungen ab. Als Gewährsmann in Sachen Satanismus ist Huysmans freilich gänzlich ungeeignet; wohl war er ein bedeutender Schriftsteller, aber er war eben auch hochgradig phantasiebe­ gabt, nervös und von einer beinahe unglaublichen Leichtgläubigkeit. Vorbil­ der seiner Romanhelden waren zwar größtenteils reale Personen, die ihm mehr oder minder persönlich bekannt waren, doch eine kritische Überprü­ fung seiner Figuren und deren realer Vorbilder zeigt nur allzu deutlich, in welchem Maße Huysmans zu Fehleinschätzungen neigte und wie sehr er Phantasie und Realität miteinander vermengte. Im übrigen ist völlig unklar, ob Huysmans jemals selbst eine schwarze Messe miterlebte, oder ob er seine

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Antisatanismus und das Absurde

Kenntnisse nur aus zweiter Hand von recht zweifelhaften Informanten erhal­ ten hatte.

Begründer der später von Boullan geleiteten Gemeinschaft war Eugene Vintras (1807-1875), ein theologisch ungebildeter, aber frommer Handwerker. 1839 hatte er eine Vision, durch die er sich zum "frommen Werk" der Regene­ ration (Erlösung, Wiederherstellung) der Menschheit berufen fühlte. Er gründete die Kirche des "Elias Karmel" (in Karmel in Palästina soll die Pro­ phetenschule des letzten Propheten Elias ihren Sitz gehabt haben) und be­ gann Anhänger um sich zu scharen; er selbst verstand sich als Reinkarnation des Propheten Elias. Vintras Lehre verband gnostische Elemente mit Elemen­ ten des Marienkultes und praktizierte eine mystische Engels- und Marienverehrung. Vintras Marienverehrung nahm in gewisser Weise die Enzyklika von 1894 vorweg, wobei natürlich zu berücksichtigen ist, daß die Marienverehrung zu jener Zeit überhaupt einen beachtlichen Aufschwung nahm, was sich nicht zuletzt durch die Häufung der Marienerscheinungen zeigte. Eine Besonder­ heit des Vintraschen Kultes war es aber, daß seine Lehre auch sexualmysti­ sche Elemente aufwies und das "Erlösungswerk" durch sakrale Sexualität, die während der Messfeiern vollzogen wurde, vorangebracht werden sollte. Da­ neben profilierte sich Vintras als Wundertäter, indem er blutende Hostien er­ zeugte, die als Reliquien verehrt wurden. Die Beschaffenheit dieser Hostien und des daraus hervortretenden Blutes konnte nie eindeutig geklärt werden. Das Symbol des Kultes, das "Croix de Grace" (ein umgekehrtes Kreuz), gab allerlei Anlaß, Vintras des Satanismus zu bezichtigen. So wies Levi darauf hin, daß dieses umgekehrtes Kreuz ein satanistisches Symbol sei (auch heute noch wird dieses Symbol im Rahmen des reaktiven Satanismus zuweilen benutzt). Dies dürfte aber kaum der Lehre Vintras entsprochen haben. Vintras war al­ les andere als ein Satanist, auch die von ihm geübte sakrale Sexualität läßt sich sicher nicht als Zeichen eines Satanismus werten. Der katholischen Kirche behagten seine Lehren selbstverständlich nicht, und so wurde Vintras 1841 exkommuniziert. Von 1845-1850 mußte er zudem eine Gefängnisstrafe wegen Betruges verbüßen.

Der Zusammenhang von Sexualität und Heil/Unheil findet sich bei Vintras ebenso wie bei Baudelaire und der gesamten schwarzen Romantik, nur daß Vintras versuchte, die Sexualität zu heiligen, sie in den spirituellen Bereich hinüberzuretten; denn darin, daß die Natur mit dem Bösen beladen, durch Schuld verunreinigt war, stimmte auch er überein. Und so verstand Vintras sein Erlösungswerk als ein explizit antisatanistisches - nicht zuletzt galt ja Ma­ ria seit jeher als Zuflucht für alle vom Satan Verfolgten -, wobei er den Sata103

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

nismus, wie viele seiner Zeitgenossen, allerorten am Werke sah. Daß gerade er immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt war, selbst Satanist zu sein, zeugt von der übersensiblen Aufgeregtheit, die die geistige und religiöse Welt Frankreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in dieser Hinsicht be­ wegte. Bei Huysmans schließlich nahm diese Furcht vor satanistischen Ver­ schwörungen beinahe paranoide Formen an. Daß sich hinter dieser Angst eine nicht unbeträchtliche Menge an Angstlust verbarg, ist stark zu vermuten. Wenige Monate vor seinem Tod im Jahre 1875 begegnete Vintras dem Abbö Boullan, und es entwickelte sich ein kurzer, doch intensiver Austausch zwischen diesen beiden Männern, die einiges gemeinsam hatten: Auch Boul­ lan war exkommuniziert worden (kurz bevor er Vintras begegnete), auch er hatte eine Haftstrafe wegen Betruges verbüßt, die, ebenso wie die Vintras’, auf unkonventionellem Betragen im Zusammenhang mit mystisch-häretischen Marienkulten beruhte. Auch Boullans Marienverehrung entbehrte nicht der sexuellen Komponente. Nach dem Tod von Vintras übernahm Boullan die Leitung des "Karmels", obschon die Mehrheit von Vintras Anhängern ihn nicht als neuen Führer akzeptierte und die Gemeinschaft verließ. Boullan war ein geweihter katholischer Priester und Doktor der Theolo­ gie. Vor seiner Begegnung mit Vintras hatte er sich mit diversen Marienkul­ ten versucht und sich bevorzugt als Exorzist in Nonnenklöstern betätigt - seine Exkommunikation wie seine Haftstrafe sind größtenteils auf seine sexuellen Aktivitäten im Rahmen dieser Tätigkeiten zurückzuführen. Wie Vintras fühlte er sich zum Kampf wider den Satan mittels eines mystisch-spiritisti­ schen Marienkultes berufen; um seinen diesbezüglichen Anspruch zu unter­ mauern, bezog er sich auf die Lehre vom "Parakleten" (die u. a. auch von Levi wiederaufgegriffen wurde). Der Paraklet (griech., "der Herbeigerufene") ist (nach Joh. 14,16 und 26; 15,26 und 16,7) der von Jesus den Jüngern verhei­ ßene heilige Geist; die Manichäer sahen in Mani den Parakleten. Boullan nun bezeichnete sich als den Parakleten, den Abgesandten des Himmels, der ge­ kommen sei, den Satanismus zu bekämpfen. Diesen Satanismus erblickte er vor allem in den Lehren Levis und in denen der auf Levi aufbauenden NeoRosenkreuzern um Papus und Guiata. Seine eigenen, mit sakraler Sexualität angereicherten Messen avancier­ ten inzwischen zum Geheimtip in der besseren Gesellschaft und galten dort als Ereignis, das man nicht versäumen durfte. Trotz dieser Tatsache ist es schwer zu entscheiden, ob Boullan nur ein raffinierter Schwindler war oder ob - und inwieweit - er wirklich an seine Mission glaubte. Es kann jedoch als si­ cher gelten, daß er seine Lehren zumindest während seiner letzten Lebens­ jahre wirklich ernst nahm. Dessenungeachtet haben sich unter seinen Anhän-

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gern zweifellos nicht nur Sensationslustige, sondern auch echte Gläubige be­ funden. Wie kam es nun zum "Krieg der Rosen"? 1879 hatte sich Oswald Wirth, der später ein Anhänger Papus’ wurde, dem Karmel Boullans angeschlossen, den er jedoch 1886 enttäuscht wieder verließ. Offenbar mißtraute er Boullan, hielt ihn für einen Schwindler und verdächtigte ihn zudem aufgrund seiner sexuel­ len Ausschweifungen des Satanismus. Er wandte sich an den Okkultisten Stanilas de Guiata und teilte diesem seinen Verdacht mit. Guiata wurde nun selbst zum Schein Mitglied in Boullans Gemeinschaft und fand die Vorwürfe Wirths bestätigt. Er bezichtigte Boullan des Satanismus und veröffentlichte seine Erkenntnisse in dem Werk Le Temple de Satan (1886); darüber hinaus wurde Boullan vor dem "Tribunal initiatque", einer Art Ehrengericht für Eso­ teriker im Pariser Okkultistenverband, angeklagt. Diesem Gericht gehörten hauptsächlich die späteren Mitglieder des 1888 gegründeten "Ordre kabbalistique de la Rose-Croix" an. Die Tribunalsverhandlung fand am 24. Mai 1887 statt und Boullan wurde wegen Betrügereien und Ausübung der schwarzen Magie zum "magischen Tod" verurteilt. Obwohl diese Verurteilung von Mit­ gliedern des Tribunals später als rein symbolische Strafe gedeutet wurde, fühlte sich Boullan von Guiata, in dem er seinerseits einen Satanisten sah, magisch "angegriffen”, und ein heftiger magischer Kampf mit Zauber und Ge­ genzauber entbrannte. Die Neo-Rosenkreuzer um Guiata und den bekannten Okkultisten Pa­ pus (Pseudonym für Gerard Encausse) waren nun ihrerseits keineswegs Sata­ nisten. Sie bezogen sich auf die Lehren der Rosenkreuzer, den esoterischen Philosophen Saint-Martin sowie auf diverse hermetische und neuplatonische Lehren und standen so in der Tradition des synkretistischen abendländischen Okkultismus (Papus war ein ehemaliges Mitglied der Theosophischen Gesell­ schaft Blavatskys, von der er sich distanzierte, als östliche Einflüsse dort Über­ handnahmen). Einige dieser Neo-Rosenkreuzer, allen voran Guiata, waren wohl strikt antiklerikal ausgerichtet, orientierten sich aber eher an spätantiken Geheimlehren als am Satanismus. Guiata war zwar ein begeisterter Anhänger Baudelaires, doch ging diese Bewunderung von Baudelaires literarischem Schaffen nicht so weit, daß er dessen Satanismus übernommen hätte. Beide Seiten glaubten zweifellos ehrlich daran, in einen tollkühnen Kampf wider den Satanismus verwickelt zu sein. Als Boullan 1893 nach langer Krankheit plötzlich starb, erreichte die Auseinandersetzung ihren Höhepunkt: Boullans Freund Huysmans und der Journalist Jules Bois (ein weiterer Anhänger Boullans) glaubten, daß Boullan das Opfer eines magischen Angriffes Guiatas geworden sei. Es folgte eine erbitterte Auseinandersetzung, die zunächst in 105

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den Pariser Zeitungen ausgetragen wurde. Bois und Guiata vertraten ihre Po­ sitionen unter anderem im Figaro, und die französische Öffentlichkeit nahm regen Anteil an den magischen Kämpfen dieser "Antisatanisten". Schließlich gipfelte der Kampf in zwei Duellen, die Bois mit Guiata (Pistolen) und Papus (Degen) ausfocht. Trotz allerlei unheimlicher Begleiter­ scheinungen - die Pferde, die die Kutschen der Duellanten zogen, scheuten plötzlich aus unerklärlichen Gründen in nebligen Wäldern, die Kugel von Bois’ Pistole blieb im Lauf stecken - blieben die Duelle ohne schwerwiegende Folgen. Von ein paar leichten Verletzungen abgesehen, kam niemand zu Schaden. Als schließlich auch Guiata 1896 im Alter von 36 Jahren plötzlich starb - man munkelte, sein Hausgeist habe ihn erwürgt -, ebbte der Streit all­ mählich ab. Auch Huysmans, der jahrelang von Todesängsten gepeinigt wurde und sich sicher war, er wäre ohne den magischen Schutz der Boullan-Schülerin Thibault sowie dem der Wunderhostien Vintras den Angriffen Guiatas zum Opfer gefallen, erholte sich langsam wieder. Neben zahlreichen anderen, inzwischen vergessenen Publikationen46 war es sein Roman La bas, in dem dieser "Krieg" seine Spuren hinterließ. Das Zustandekommen dieses "Krieges" ist nicht leicht zu verstehen - si­ cher gab es immer christliche Sekten, die im Kampf gegen den Satanismus ihre Daseinsberechtigung erblickten, und gerade im Frankreich des 19. Jahr­ hunderts schien der Satanismus überall zu lauern. Okkultisten wie Papus und Guiata schienen es im Sinne einer eigenen Standortbestimmung für ange­ bracht zu halten, sich vom Satanismus, der ihnen von den Kirchen immer wie­ der unterstellt wurde, aufs schärfste zu distanzieren. Gerade für einen Okkul­ tisten wie Papus, der in der Tradition Levis stehend danach strebte, Okkultis­ mus und Aufklärung miteinander zu versöhnen, war es ein Anliegen, den Ok­ kultismus seriös zu halten. Sympathien für Boullan dürften weder er noch Guiata empfunden haben. Natürlich muß diese Auseinandersetzung auch vor dem Hintergrund der spannungsgeladenen gesellschaftlichen Stagnation im Frankreich dieser Jahre gesehen werden. In der allgemeinen Verunsicherung war der Satanismus zu­ mindest ein den meisten genehmer Feind, der zudem noch untergründig fas­ zinierte; das große öffentliche Interesse, das diesen Kämpfen entgegenge­ bracht wurde, zeigt, wie sehr das absurd Religiöse zum Gegenstand der Sensa­ tionsgier geworden war. Die Kirchen, machtlos wie sie nach mißglückter Re­ stauration noch immer waren (in früheren Zeiten wäre eine solche Auseinan­ dersetzung eine Sache der Gerichte, nicht der Zeitungen gewesen) hofften, sich mittels der Satanismushysterie behaupten zu können. Wie begierig sie

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nach jedem Strohhalm griffen, zeigte sich vor allem in der Rolle, die sie im Taxil-Schwindel spielten. Doch bevor diese Steigerung des Absurden abgehandelt wird, soll zunächst noch auf Huysmans Roman La bas (1891) eingegangen werden.

Joris Karl Huysmans (1848-1907) war zunächst ein Vertreter der literarischen Schule des Naturalismus (von Zola und Balzac ausgehend), wandelte sich dann aber zum Impressionisten und Hauptvertreter der literarischen Deca­ dence, bevor er in seinen letzten Lebensjahren - wie so viele - zum katholi­ schen Glauben konvertierte. Sein Leben lang fühlte er sich vom Schmutz und von den Abgründen der menschlichen Existenz angezogen, während er sich gleichzeitig nach Reinheit sehnte. Diese innere Spannung, die die Triebfeder des französischen Satanismus war, fühlte er in einem Maße, die der Zerris­ senheit eines Baudelaires in nichts nachstand, nur daß er sich im Gegensatz zu Baudelaire in einen paranoiden Antisatanismus treiben ließ. An Satan konnte scheinbar kein Weg vorbeiführen. Der Schriftsteller Ambroise-Paul-Toissant-Jules Valery charakterisierte Huysmans in seinem 1930 erschienen kulturkritischen Werk Variete so: Huysmans war groß im Erfinden von Schlechtigkeiten, für das Elendeste aufge­ schlossen, leidenschaftlich auf alles Maßlose versessen und unwahrscheinlich leichtgläubig. Alle Schrecken, die bei menschlichen Wesen überhaupt vorstell­ bar sind, interessierten ihn. Auf alles Ausgefallene und auf Geschichten, die man sich an den Toren der Hölle erzählen könnte, ‘stand’ er. Sonst aber wusch er seine Hände in Unschuld. Er witterte in allen Ereignissen auf der Erde nur Schmutz, Hexerei und andere Schändlichkeiten; vielleicht hatte er damit sogar recht.47

Huysmans Freund d’Aurevilly bemerkte in diesem Zusammenhang: "Nach ei­ nem solchen Buch [gemeint war Huysmans Decadence-Roman A Rebours] hat der Autor nur noch die Wahl zwischen der Mündung einer Pistole und den Füßen des Kreuzes." Für letzteres hat sich Huysmans dann schließlich ent­ schieden - zuvor jedoch ging er den Umweg über Boullans Karmel. Auf Boullan stieß Huysmans, als er an seinem Roman La bas arbeitete und Be­ weise für den Satanismus suchte; dabei geriet er ausgerechnet an Boullan, der ihn reichlich mit "Informationen" versorgte. Die Verworrenheit der damaligen Situation zeigte sich u. a. darin, daß der dämonische Satanist Docre in Huysmans Roman oft mit Boullan gleichgesetzt wurde, während Huysmans immer wieder betonte, daß Boullan vielmehr das Vorbild für den Exorzisten und Gegner Docres, Dr. Johannes, gewesen sei.

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Der Roman hat zwei Ebenen: Einmal geht es um den mittelalterlichen Massenmörder Gilles de Rais, dessen Leben der Ich-Erzähler Durtal er­ forscht, während er sich gleichzeitig in den Schlingen des zeitgenössischen Sa­ tanismus verfängt. Gilles de Rais war für Huysmans der Prototyp des Satani­ sten, wobei anzumerken ist, daß an den Lustmorden Rais nicht zu zweifeln ist, während es für seinen angeblichen Satanismus keine Belege gibt. Den "Satanismus" des Gilles de Rais - und im Grunde genommen den Satanismus überhaupt - deutete Huysmans als Reaktion eines enttäuschten Perfektionisten: ‘Da es sehr schwer ist, ein Heiliger zu sein’, sagte Des Hermies, ‘bleibt nur üb­ rig, ein Satanist zu werden. Das eine der zwei Extreme. - Der Fluch der Ohn­ macht, der Haß des Mittelmäßigen ist vielleicht eine der mildesten Erklärungen des Satanismus.’ ‘Vielleicht. - Man kann den Stolz haben, im Verbrechen das zu bedeuten, was ein Heiliger in den Tugenden gilt. Das ist der ganze Gilles de Rais!’48

Die Welt, die Huysmans in La bas beschreibt, ist eine Welt des Verfalls. Das Bürgertum ist träge und nur am materiellen Wohlergehen interessiert, die Kirche ist von innen heraus verfault, ein Hort des Satanismus, die allgemeine Moral ist verderbt, das Elend der Massen erschreckend und die wenigen Menschen, die noch echtes Wissen und echten Glauben besitzen, wirken wie Relikte aus vergangenen Tagen. Bezeichnenderweise ist der Heilige und Ex­ orzist Dr. Johannes bei der Kirche in Ungnade gefallen (wie Boullan), wäh­ rend der satanistische Kanonikus Docre in den besten Kreisen verkehrt. Der Satanismus wird als Abfallprodukt des Katholizismus gesehen, denn nur ge­ weihte Priester können die schwarze Messe lesen und tun dies auch in er­ schreckendem Ausmaß - die Spannung zwischen Katholizismus und Deka­ denz, die die gesamte französische schwarze Romantik beherrschte, hat in La bas ihren Höhepunkt erreicht. Huysmans beschreibt ferner verschiedene Typen des Satanismus, die in der Realität so sicher nie existiert haben - was jedoch viele nicht daran gehin­ dert hat, an die Authentizität von Huysmans Darlegungen zu glauben. Er be­ richtet von Geheimorden, die die Zerstörung des Universums und die Unter­ werfung der Menschheit anstrebten. Konkret beschrieb er jedoch eine schwarze Messe, deren Ausgestaltung sich stark an den Schriften Baudelaires orientierte. Daß in Paris wirklich schwarze Messen dieses Typs stattgefunden haben, darf als unwahrscheinlich gelten. Huysmans Informanten stammten wahrscheinlich aus den Kreisen des Karmels, eine immer wieder behauptete Augenzeugenschaft Huysmans bei einer solchen schwarzen Messe konnte in-

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des nie nachgewiesen werden. Als literarisches Dokument hatte die schwarze Messe in La bas aber großen Einfluß auf die Vorstellungen, die man sich von solchen Riten machte. Daher seien hier Auszüge dieser Beschreibung zitiert.

Nachdem der Kanonikus Docre zunächst eine normale Messe zelebriert hat, hebt er zu folgenden Auslassungen an: Herr der Ärgernisse, Spender der Wohltaten, Oberster der prächtigen Sünden und der großen Laster, Satan, du bist es, den wir verehren, vernünftiger Gott, gerechter Gott! Überbewunderungswerter Gesandter der falschen Bangnis, du empfängst die Bettelei unserer Tränen; du rettest die Ehre der Familien durch Mißgeburten der in Vergessenheiten guter Umstände befruchteter Leiber; du bringst den Müttern die Eile der Frühgeburten bei, und deine Hebamme spart die Herzen­ sängste der Fruchtbarkeit und den Kindern, die vor der Geburt sterben, den Schmerz des Verkommens! Unterstützer der erbitterten Armen, Erquickung der Unterlegenen, du bist es, der sie mit der Heuchelei, der Undankbarkeit, dem Hochmut begabt, damit sie sich wehren können gegen die Angriffe der Kinder Gottes, der Reichen. [...] Hoffnung der Mannbaren, Angst der tauben Mutterschaften, du verlangst nicht die unnützen Proben keuscher Lenden, preisest nicht den Wahnwitz der Fasten und Siesten; du allein empfängst die fleischlichen bittenden Wünsche und die Glossen bei armen und lüsternen Familien. Du bestimmst die Mutter, die Toch­ ter zu verkaufen, abzutreten den Sohn, du hilfst den unfruchtbaren verworfenen Liebschaften, Schützer der schäumenden Nervösen, Bleiturm der Hysterischen, blutbeflecktes Gefäß der Notzüchter! Herr, deine treuen Diener flehen dich auf Knien. Sie bitten dich, ihnen die Fröhlichkeit dieser lieblichen Frevel zu erhalten, die die Gerechtigkeit nicht kennt; sie bitten dich, den Behexungen nachzuhelfen, deren unbekannte Spuren die Vernunft der Menschen irreführen [...] sie verlangen von dir endlich Ruhm, Reichtum, Macht, von dir, König der Enterbten, dem Sohn, den der unerbittli­ che Vater verjagt. [...] Und du, du den ich in meiner Eigenschaft als Priester zwinge, ob du willst oder nicht, in diese Hostie herabzusteigen, in diesem Brot Fleisch zu werden. Seit dem Tag, wo du die gesandten Eingeweide einer Jungfrau verließest, hast du deinen Verpflichtungen entgegengehandelt, bei deinen Versprechungen gelo­ gen; Jahrhunderte haben in deiner Erwartung geschluchzt, flüchtiger Gott, stummer Gott! Du solltest die Menschen befreien, und du hast nichts erlöst! [...] Du hast die Armut vergessen, die du predigtest, verliebter Getreuer der Ban­ ken! Du hast die Schwachen unter die Presse des Agio fallen gesehen, du hast das Stöhnen der durch Hungersnöte Zitternden, Gelähmten vernommen, oder für ein wenig Brot aufgeschlitzten Frauen, und du hast durch das Amt deiner Simonie, durch die Vorsteher deines Handels, durch deine Päpste verzögernde

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Entschuldigungen, ausweichende Versprechen antworten lassen, Verwalter des Kirchenschatzes, Gott der Geschäfte! Du, dessen unglaubliche Roheit das Leben erzeugte und es Unschuldigen auf­ erlegte, die du zu verdammen wagst im Namen man weiß nicht welcher Erb­ sünde, die du zu strafen wagst kraft man weiß nicht welcher Klauseln, wir wünschten wohl, dich doch endlich zum Bekennen deiner unverschämten Lü­ gen, deiner unsühnbaren Verbrechen zu bringen! Wir wünschten auf deine Nä­ gel zu klopfen, auf deine Domen zu drücken, noch einmal schmerzhaftes Blut von dem Rand deiner trockenen Wunden fließen zu lassen! Und dieses: Wir können und werden es tun, indem wir der Ruhe deines Leibes Gewalt antun, du Entweiher der großen Laster, Erschaffer schwachsinniger Reinheit, verfluchter Nazarener, Faulpelz von König, Feigling von Gott!49

Nachdem Docre mit seinen Anrufungen und Lästerungen zum Ende gekom­ men war, besudelte er die geweihten Hostien, und im Raum begannen sich wüste Szenen hysterischer Wollust abzuspielen: Niedergefallene Frauen wälzten sich auf den Teppichen. Die eine schien durch eine Feder bewegt, sie warf sich auf den Bauch und strampelte mit den Füßen in der Luft; eine andere, plötzlich von einem abscheulichen Schielen befallen, gluckste, hierauf sprachlos geworden, blieb sie aufrecht stehen mit offener Kinnlade, umgebogener Zunge, die Spitze gegen den Gaumen; eine andere, aufgedunsen, bleifarben, die Pupillen erweitert, verdrehte sich den Kopf auf den Schultern, richtete ihn mit einem ungestümen Schnellen wieder auf, und hackte sich röchelnd mit ihren Nägeln in die Kehle; noch eine andere, auf den Lenden ausgestreckt, löste ihre Röcke, zeigte einen nackten, aufgeblähten, ungeheueren Bauch, hierauf drehte sie sich unter gräßlichen Grimassen und streckte, ohne sie zurückziehen zu können, eine weiße, zerrissene Zunge aus einem blutigen, von roten Zähnen zernagten Mund.

Der sozialkritische Aspekt dieser schwarzen Messe erinnert an Baudelaire, auch hier wird Satan als Anwalt der Schwachen wie der menschlichen Schwä­ che überhaupt gefeiert, doch vom feierlichen Ton der Satanslitanei ist hier nichts mehr übriggeblieben. Die Sozialkritik richtet sich zwar gegen den christlichen Gott und die christliche Kirche, doch auch der Satanskult wird in den "Dreck" gezogen. Huysmans beschreibt vom Elend zerstörte Menschen, deren Protest nichts Würdevolles, ja fast nichts Menschliches mehr an sich hat; der Satanspriester Docre wird nicht etwa als Anwalt der Schwachen dar­ gestellt, wie man aufgrund seiner Predigt vielleicht vermuten könnte, sondern als lüsterner, raffinierter Psychopath. Schmutz also, wohin man sieht. Ein solcher Satanismus kann für den hypersensiblen Durtal - der einige auto­ biographische Züge Huysmans enthält - natürlich keine Zuflucht sein, ob-

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schon er einen morbiden Reiz auf ihn ausübt. Durtal zieht sich letztendlich wieder in sein inneres Exil zurück, in das er, vom Weltekel gepeinigt, nur ei­ nige wenige seiner anachronistischen Freunde einläßt. Für die Rosenkreuzer und Okkultisten, denen er derartige schwarze Messen nicht unterschieben mochte, hatte er dennoch keine guten Worte üb­ rig: Was mich vor allem wundernimmt, ist, daß ich die Rosenkreuzer in diese Sache verwickelt sehe. Ich gestehe, daß ich sie stets nur als sanftmütige Pinsel oder possierliche Leichenbitter betrachtete. [...] Das hindert ihre Häupter nicht, ins­ geheim sich am Verbrechen zu versuchen. Man braucht nicht gebildet oder in­ telligent zu sein, um das hexenmeisterliche Ritual auszuführen. Auf jeden Fall ich kann das versichern - gibt es unter ihnen einen ausgedienten Literaten [Anspielung auf Guiata], den ich kenne und der mit einer verheirateten Frau ein Verhältnis hat. Die beiden verbringen ihre Zeit mit Versuchen, den Gatten durch Behexung zu töten.50

Huysmans selbst ließ den Satanismus "tief unten" zurück und flüchtete sich schließlich in den Katholizismus, nachdem er seinen tiefsitzenden religiösen Skeptizismus endlich abzulegen imstande war. Er ging damit den entgegenge­ setzten Weg, den Baudelaire gegangen war, wiewohl seine Weitsicht der Baudelaires in vielem ähnelte.

Teil 2: Der Taxil-Schwindel Bei allem Aufsehen, das der "Krieg der Rosen" erregte, darf nicht übersehen werden, daß dies nur eine Randerscheinung des allgemeinen Kampfes wider den Satanismus war, den vornehmlich die katholische Kirche während der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts führte. Es waren damals haupt­ sächlich die Freimaurer, denen eine satanistische Gesinnung unterstellt wurde, doch beschränkten sich die Attacken keineswegs nur auf diese. Es war ein Kulturkampf, mittels dessen sich die katholische Kirche gegen ihren un­ aufhaltsamen Machtverlust zu stemmen versuchte. Dies ging so weit, daß die Freimaurer mit den Türken verglichen wurden, die einstmals das Abendland bedrohten. Unmittelbarer politischer Anlaß dieses Kampfes war die zeitwei­ lige Vertreibung von Papst Pius IX. aus Rom während der Revolte im Jahre 1848 in Italien, an der auch Freimaurer beteiligt waren. Der bis dato liberale Pius IX. nahm infolge der Ereignisse eine reaktionäre Position ein und ließ die antifreimaurerische Politik des Vatikans von nun an vornehmlich von den Jesuiten bestimmen, deren 1850 gegründete Zeitschrift civita catollica zum of111

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fiziellen Organ des Vatikans erhoben wurde. Pius Nachfolger Papst Leo XIII. führte die Auseinandersetzung fort. Seine gegen die Freimaurer gerichtete Enzyklika Humanum genus von 1884 markierte einen neuen Höhepunkt im Kampf des Vatikans gegen die Freimaurerei. Der Satanismusvorwurf findet sich auch hier, im Vordergrund standen jedoch politische Fragen; mit einem Wort: die katholische Kirche hatte Angst vor dem säkularen Staat. Der Sata­ nismusvorwurf lag in solchen Fällen meist nicht weit, schon der zu mächtig gewordene Templerorden wurde im 14. Jahrhundert unter dem Vorwand, er sei satanistisch, zerschlagen. Im 19. Jahrhundert war den keineswegs machtlo­ sen Freimaurern allerdings nicht mehr so einfach beizukommen. Auf die Spitze getrieben wurde dieser Kampf allerdings von einem Mann, von dem man dies kaum erwartet hätte: dem linksradikalen Freidenker und Ex-Freimaurer Gabriel Jogand. Dieser publizierte nach einer (vorgetäuschten) Konversion zum Katholizismus unter dem Pseudonym Leo Taxil eine große Zahl antifreimaurerischer und antisatanistischer Schriften, die ein starkes Echo hervorriefen. Er avancierte zum Vertrauten höchster kirchlicher Würdenträger und wurde zum bekanntesten und radikalsten Kämpfer wider Freimaurerei, Okkultismus und Satanismus. Nach zwölf Jah­ ren teilte er der Öffentlichkeit schließlich mit, daß alles nur ein großangeleg­ ter Schwindel gewesen sei und er sich darüber wundere, wie naiv man ihm die abenteuerlichsten Lügen geglaubt habe und brachte die katholische Kirche so in eine äußerst peinliche Situation - und den antisatanistischen Kampf prak­ tisch zum Erliegen. Es handelt sich beim sogenannten "Taxil-Schwindel" in der Tat um einen genialen Streich, der völlig zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Selten wurde die menschliche Dummheit eindrucksvoller demonstriert, wurde ein derart unverschämter Schwindel so perfekt in Szene gesetzt. Auch wenn dieser Exkurs etwas vom expliziten Satanismus wegführt, ist es daher dennoch lohnend, diesen Schwindel etwas ausführlicher darzustellen. Gabriel Jogand, geboren 1854, wurde christlich erzogen und besuchte zeitweise eine Jesuitenschule. Doch von Kind an renitent, setzte er sich gegen alle religiösen wie bürgerlichen Normen zur Wehr. Bereits als Schüler gab er eine illegale Schülerzeitschrift heraus und engagierte sich später als Journalist bei verschiedenen linksradikalen und antiklerikalen Zeitschriften. Sein scharfer und polemischer Stil brachten ihm insgesamt acht Jahre Gefäng­ nisaufenthalt ein (besonders auf Pius IX. und die Jesuiten hatte er sich einge­ schossen). 1881 wurde er Freimaurer, distanzierte sich aber wenige Jahre spä­ ter wieder von der Freimaurerei, ohne einen höheren Grad erlangt zu haben. Wahrscheinlich brachte ihn die Enzyklika von 1884 auf den Gedanken, seine

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Taktik zu ändern und die katholische Kirche von innen heraus zu treffen. Den phänomenalen Erfolg seines sich schließlich über zwölf Jahre hinziehenden Schwindels dürfte er damals schwerlich geahnt haben. 1885 konvertierte er wieder zum Katholizismus. Da er beileibe kein unbeschriebenes Blatt mehr war, dürfte es kein leichtes gewesen sein, seinen Sinneswandel glaubwürdig zu vertreten - es gelang ihm jedoch vorzüglich. Protegiert wurde er von Monsi­ gnore di Rendi, den päpstlichen Nuntius in Paris, und der deutsche Jesuiten­ pater Gruber, einer der ersten "Mitstreiter" Jogands, schrieb gerührt: Es war der 23. April 1885, als Gabriel Jogand, bekannter unter dem Pseudonym Leo Taxil, einer der wütendsten Feinde der Katholischen Religion, der Stifter und Leiter der französischen Freidenker-Vereine, der Gründer und die Seele der ‘Antireligiösen Buchhandlung’ in Paris, welche mit ihren gottlosen Schriften ganz Frankreich überschwemmte, plötzlich umgewandelt wurde. Am folgenden Tage bereits suchte er einen Priester auf und tat nach dessen Anleitung die nö­ tigen Schritte zur Aussöhnung mit der Kirche. Bald darauf legte er, nachdem er Exerzitien gemacht, die Beichte ab. Seit jener Zeit ließ er es sich nach Kräften angelegen sein, das von ihm angestiftete Böse wieder gutzumachen.51

Zweifellos, der Kirche war ein fetter Fisch ins Netz gegangen und die Genug­ tuung darüber verhinderte, daß man sich diesen Fisch etwas genauer besah. Einer wie Jogand, der schreiben konnte und sogar selbst Freimaurer gewesen war, mußte in der gegenwärtigen Situation wie ein Geschenk des Himmels er­ scheinen. Jogand war denn auch nicht faul und veröffentlichte bereits im Ja­ nuar 1886 ein umfangreiches "Aufklärungswerk", daß die teuflischen Riten der Freimaurer enthüllte: Relevations complets sur la franc-maconnerie. In die­ sem Werk findet sich ein wüstes Gemisch von authentischen Freimaurerriten, Übertreibungen, Fehldeutungen und purer Phantasie. Wirklich geheimes Wissen der höheren Grade war Jogand, der selbst nie über den LehrlingsGrad hinausgekommen war, gar nicht bekannt. Tenor des Buches war, daß die Freimaurer in Wahrheit Satanisten seien und Teufelskult betrieben und letzt­ lich den Zusammenbruch der abendländischen Kultur herbeizuführen trach­ teten. Natürlich dichtete er den Freimaurern auch orgiastische Sexualriten an, wobei er allzu anzügliche Lehren gesittet nur in lateinischer Sprache wiedergab. Er knüpfte dabei an bereits existierende katholische Streitschriften wie die des Bischof von Grenoble Joseph Fava an, trug jedoch um einiges dicker auf, um so die Freimaurerei endgültig des Satanismus zu überführen. Das Buch schlug ein wie eine Bombe; es wurde nicht nur ein Verkaufserfolg (der die Taschen Jogands füllte), es trug ihm auch eine Privataudienz bei Papst Leo XIII. ein, der in ihm einen wichtigen Mitstreiter erkannt zu haben glaubte. Jogand blieb weiterhin ein Vielschreiber, er verfaßte Schriften, in 113

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denen er den Sittenverfall anprangerte und konnte es sich sogar leisten, gegen seinen alten Feind, Papst Pius IX. zu polemisieren und diesen mittels ge­ fälschter Photos als Freimaurer zu entlarven - seinen Rückhalt innerhalb des Klerus kostete es ihn nicht. Sein Unternehmen expandierte derart, daß er sich nach Mitstreitern um­ sehen mußte. Hierbei stieß er auf Charles Hacks, einen weitgereisten ehema­ ligen Schiffsarzt, mit ihm zusammen erklomm er eine neue Stufe des Wahn­ witzes: Auf Jogands Anregung hin verfaßte Hacks unter dem Pseudonym Dr. Battaille das zweibändige Mammutwerk Le Diable au XIX siede... (Band 1, 1892, 964 Seiten; Band 2, 1893, 960 Seiten), in dem der Satanismus und die Ränke der Freimaurer und Okkultisten in aller Welt beschrieben wurden. Vor allem wurden Enthüllungen über die satanischste aller Spielarten der Freimaurerei, den "Palladismus", gemacht. Obschon der Palladismus eine reine Erfindung von Jogand/Bataille war, wurde er bald zum festen Begriff, und viele waren von der bedrohlichen Existenz einer weltweiten palladistischen Verschwörung überzeugt. Daß das angebliche Oberhaupt des Palladis­ mus, der Großmeister Albert Pike, lediglich Oberhaupt der keineswegs satanistischen amerikanischen Freimaurerlogen des schottischen Hochgradri­ tus war, störte dabei nicht im geringsten. War man doch bereit, noch weit Phantastischeres zu schlucken: von teuflischen Telefonen wurde da berichtet, von Reisen zum Sirius und gar von einem geflügelten und klavierspielenden Krokodil, das Frauen anzügliche Blicke zuwarf. Die Bereitschaft zu glauben war schier grenzenlos, die Verkaufserfolge waren sogar noch größer, als die der früheren Schriften Jogands, und die antisatanistisch engagierten katholischen Geistlichen schluckten die Geschichten von der palladistischen Verschwörung ohne weiteres. In diesem Zusammenhang ist noch zu bemerken, daß gerade in jener Zeit der Krieg der Rosen tobte. Huysmans, der alle Literatur zum Thema be­ gierig verschlang, dürfte mit einiger Sicherheit zumindest einige Schriften Jo­ gands gekannt und darin enthaltene "Informationen" in seinen Büchern ver­ arbeitet haben. Dies ist zwar noch nicht eingehend untersucht worden, doch daß Huysmans nicht zumindest indirekt mit Jogandschen Phantasien konfron­ tiert wurde, ist praktisch unmöglich: Huysmans lebte in Paris und verkehrte in Kreisen, in denen der Satanismus Thema Nr. 1 war - Jogand (bzw. Taxil) war zu ebenjener Zeit (an ebendiesem Ort) der erfolgreichste diesbezügliche Au­ tor. Eine eingehende Analyse der Schriften Huysmans, die hier nicht unter­ nommen werden kann, würde mit Sicherheit so manches zutage fördern, was

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den Ruf eines Kenners der "Szene”, der Huysmans zum Teil immer noch an­ haftet, erheblich erschüttern könnte.

Charles Hacks äußerte sich 1896 zu seiner Zusammenarbeit mit Jogand in der Kölnischen Volkszeitung folgendermaßen: All die Enthüllungen waren der reine Schwindel. Als die gegen die Freimaurer als Verbündete des Teufels gerichtete päpstliche Enzyklika: Humanum genus erschien, kam ich auf den Gedanken, daß dies ein richtiger Stoff sei, um aus der bekannten Leichtgläubigkeit und der unergründlichen Dummheit der Katholi­ ken Geld zu schlagen. Es bedurfte nur eines Jules Verne, der diesen Räuberge­ schichten einen verlockenden Anstrich gab. Ich war dieser Jules Verne. Merk­ würdigerweise [...] waren andere auf ganz dieselben Gedanken verfallen. Ich verständigte mich also mit Leo Taxil und einigen Freunden, worauf wir zusam­ men den Diable au XIX siede gründeten, welcher den bekannten Erfolg hatte. Die Katholiken verschlangen das Ganze ohne jede Schwierigkeit. Die Einfalt der Leute ist so groß, daß, wenn ich ihnen heute sagte, ich hätte sie nur zum Be­ sten gehalten, sie sich weigern würden, mir dies zu glauben. [...] Ich kannte meine Pappenheimer. Manchmal, wenn ich eine unglaubhafte Geschichte aufs Tapet brachte, wie z. B. die Geschichte von der Schlange, die mit ihrem Schwänze Prophezeiungen auf den Rücken der Sophie Walder schrieb, oder die Geschichte des Teufels, der, um einen Freimaurer zu heiraten, sich in eine junge Dame verwandelte und am Abend als Krokodil Klavier spielte - sagten mir meine Mitarbeiter, denen vor Lachen die Tränen in den Augen standen: Teuerster, Sie gehen zu weit! Sie verderben den ganzen Spaß! Ich antwortete ihnen: Bah, lassen Sie mich nur gewähren! Das wird schon gehen. Und es ging in der Tat. Mir fiel im allgemeinen die Aufgabe zu, die Geschichten zuzurich­ ten. Leo Taxil oder ein anderer gab mir irgend einen Stoff, der im Grunde auf Wahrheit beruhen mochte. Ich übernahm es, die Sache nach dem Muster Jules Vernes aufzuputzen. [...] Tatsächlich war es die denkbar verwegene Herausfor­ derung der menschlichen Dummheit. Sie sehen aber, daß ich nicht unrichtig ge­ rechnet habe.52

Der Erfolg gab Jogand und Hacks weiterhin recht und sie verstärkten ihre Ak­ tivitäten, indem sie neben anderen Publikationen auch eine gemeinsame Zeit­ schrift herausgaben, die dem Satanismus allerorten auf der Spur war. Als wäre dies noch nicht genug, verkomplizierten sie die ganze Sache weiter, in­ dem sie eine neue, entscheidende Figur ins Spiel brachten: Miss Diana Vaug­ han. Diana Vaughan war demnach die Nachfahrin von Thomas Vaughan, ei­ nes englischen Rosenkreuzers, der 1642 nach Amerika auswanderte. Ihre Fa­ milie soll zur Elite des Palladismus gehört haben und ihr Vater soll der Dä­ mon Bitru gewesen sein. Derselbe Bitru soll auch eine andere Priesterin des 115

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Palladismus, Sophie Walder, nicht nur gezeugt, sondern anschließend auch gesäugt und schließlich beschlafen haben. Eine Nachfahrin Walders sollte gemäß den Plänen der Palladisten 1962 den Antichrist gebären. Diana soll demnach schon mit zehn Jahren initiiert worden sein und wurde bei dieser Gelegenheit dem Dämon Asmodeus zur Frau versprochen. Asmodeus schenkte Diana dann anläßlich ihrer Verlobung den gestohlenen Schwanz des Löwen des Apostels Markus, der alsbald lebendig wurde und Diana küßte. Des weiteren erklärte Asmodeus, daß Diana sein bevorzugtes Sprachrohr sei. Dies war also die trotz ihrer Jugend außerordentlich mächtige Satanistin Diana Vaughan, die in der katholischen Welt schnell eine gewisse Prominenz erreichte. In Frankreich und Italien wurden nicht wenige Messen für ihr Seelenheil gelesen und niemand kann sagen, wieviele Gläubige für sie gebetet haben. Diese Gebete sollten nach Jogands Plänen erhört werden, er hatte vor, Diana in den Schoß der Kirche zurückkehren zu lassen. Doch dies bedurfte der Vorbereitung. Zunächst überwarf sich Diana mit der Zentrale des Palladismus in Charleston/USA und gründete in London ihre eigene "gereinigte" Luziferische Sekte (die Verehrung Satans wurde von ihr bereits abgelehnt), deren Lehre in einer von ihr herausgegebenen Zeitschrift verbrei­ tet wurde, von der 1895 drei Nummern erschienen. Die Zeitschrift wurde tatsächlich von London aus vertrieben, alleiniger Autor war jedoch Jogand, der in Paris die Fäden in der Hand hielt. Jogand machte sich sogar die Mühe, eine recht originelle gnostisch gefärbte Lehre zu erdenken, als deren Urheberin Diana Vaughan galt. Demnach existieren zwei Götter, die seit Anbeginn um die Herrschaft kämpfen: Luzifer, das Prinzip der Intelligenz und des Lichtes und Adonai, das Prinzip der Materie und des Todes. Adonai erschuf den Körper des Menschen, während Luzifer ihm die Intelligenz gab. Die Seele des Menschen ist eine Emanation Luzifers, die Adonai zu vernichten trachtet. Adonai, der dem christlichen Gott entspricht, kämpft allerdings auf verlorenem Posten, denn fast das gesamte Universum ist nach dieser Lehre bereits von Luzifer befreit, nur die Erde und ein Planet namens Oolis stehen noch unter der Herrschaft Adonais, die aber auch dort bald enden wird. Eine der mächtigsten Dienerinnen Adonais sei Mirzam, die heilige Jungfrau - diesen Seitenhieb auf die prosperierenden Marienkulte mochte sich Jogand nicht verkneifen. Und überhaupt hat er es genossen, nach all seinen frommen Schriften mal wieder etwas so richtig Blasphemisches schreiben zu können. Doch war diese neue Position Vaughans nicht von lan­ ger Dauer, sie diente nur, dazu ihre Konversion etwas abzufedern. Eines hatte Jogand bereits geschafft: er hatte sich unter all den antisata­ nistischen Autoren - und davon gab es viele - profiliert und galt unbestritten

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als die Nr. 1, zudem verfügte er über hervorragende Kontakte zu hohen geist­ lichen Würdenträgern, bis in den Vatikan hinein. Zwar gab es auch Zweifler und solche, die ihm seine Lügen nachwiesen, doch solange ihnen kein Glau­ ben geschenkt wurde, konnten diese nicht schaden. Guiata und Papus zum Beispiel durchschauten den Schwindel sehr früh und versuchten dies mit guten Argumenten zu beweisen, aber wer in der katholischen Welt schenkte diesen beiden skandalumwitterten Okkultisten schon Glauben? Es ist eine besondere Ironie, daß einige von seinen damaligen Gegnern ihn wahrscheinlich sogar unterstützt hätten, hätten sie nur geahnt, was über­ haupt gespielt wurde. Doch die Tarnung Jogands war perfekt und er nahm es sogar in Kauf, von den meisten seiner früheren Freunde verachtet zu werden, um sich nur keine Blöße zu geben. Und tatsächlich konnte sein Verwirrspiel mit Pseudonymen, Phantasiepersonen und mit über das ganze Land verstreu­ ten Verlagen auch von seinen Kritikern nicht vollständig durchschaut werden. Doch zurück zu Diana. Am 1. Juli 1895 konvertierte die Satanistin Diana Vaughan, Tochter des Dämons Bitru und Braut des Asmodeus, zum katholischen Glauben! Dieses Ereignis schlug hohe Wellen; verständlich, daß Miss Vaughan in einem ge­ heimen Kloster versteckt gehalten werden mußte, da die Palladisten ihr nun nach dem Leben trachteten, doch zumindest einige Photos konnten in Umlauf gebracht werden. Sie zeigten Diana Vaughan, doch Modell stand Jogands Sekretärin, die von nun an auch die vielen Briefe verfaßte, mittels derer Miss Vaughan Kontakte zu zahlreichen geistlichen Würdenträgern pflegte. Vaughan war in der Tat ein noch größerer Fisch als Jogand es gewesen war und nicht nur die einfachen Gläubigen beteten nun um ihre Sicherheit. Kardinal Parrochi, Kardinalvikar und Stellvertreter des Papstes im Bistum Rom, übermittelte ihr den Segen des Papstes, und sie führte eine rege Korrespondenz mit dem päpstlichen Geheimsekretariat. Die civita cattolica, das römische Jesuitenorgan, rühmte "die edle Miss" und die "anderen mutigen Kämpfer", die "oft mit Lebensgefahr als die ersten den glorreichen Kampf­ platz betreten" hätten.53 Zwar hielt sich der Vatikan, was offizielle Verlautbarungen anbelangte, bedeckt, die persönlichen Korrespondenzen der Miss Vaughan mit hohen Würdenträgern im Vatikan hätten jedoch herzlicher und vertrauensvoller nicht seien können. Offenbar wähnte man sich dort vor einem großen Sieg und wollte einfach an Diana Vaughan glauben, trotz aller küssenden Löwen­ schwänze. Nun schien es für Jogand an der Zeit, zum letzten, entscheidenden Schlag auszuholen. Allzulange durfte er nicht mehr zögern, denn unbegrenzt

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konnte er Diana nicht in ihrem Klosterversteck belassen. 1896 gründete Jogand mit wenigen Vertrauten und einigen Gutgläubigen die "Ligue de Labarum", die sich der Bekämpfung des Freimaurertums und des Satanismus widmete. Diese Liga kannte wie die reguläre Freimaurerei drei Grade: 1. Grad - Legionär des Konstantins (erster christlicher römischer Kaiser), 2. Grad - Soldat des heiligen Michaels, 3. Grad - Ritter des heiligen Herzens. Für Frauen gab es den Grad der Schwester der Jungfrau von Orleans. Diese Liga war gemeinsam mit anderen katholischen Organisationen an der Vorbereitung des von der römischen Kurie für 1896 anberaumten Anti­ freimaurerkongresses in Trient beteiligt. Daß dieser Kongreß ausgerechnet in Trient stattfand, zeigt, wie wichtig die Kurie ihn nahm: fand doch das Konzil gegen den Protestantismus im 16. Jahrhundert an gleicher Stelle statt. Und in der Tat wurde der Kongreß zu einer Art Kreuzfahrt wider die Freimaurerei hochstilisiert, bei dem es darum ging, das Abendland vor dem Verderben zu bewahren. Das Vorbereitungskomitee erhielt zustimmende Zuschriften von 22 Kardinälen, 23 Erzbischöfen und 116 Bischöfen, und es versammelte sich tatsächlich eine illustre Gesellschaft von geistlichen Würdenträgern. Jogand war natürlich ebenfalls unter den Kongreßteilnehmern und ihm sollte eine zentrale Rolle zufallen. Seine Position war mittlerweile allerdings alles andere als günstig. Drei Monate vor dem Kongreß hatte "Dr. Bataille" den ganzen Schwindel in der Kölnischen Volkszeitung enthüllt und vor allem deutsche Geistliche, allen voran sein ehemaliger Mitstreiter Pater Gruber, hatten den Betrug durchschaut und besuchten den Kongreß mit dem Ziel, Jogand zu überführen. Jogand ließ Miss Vaughan ein paar empörte Briefe anläßlich der Enthüllungen Dr. Batailles schreiben und reiste entschlossen nach Trient. Er hatte sich nicht verrechnet: trotz der ungünstigen Voraussetzungen wurde der Kongreß für ihn zu einem Triumph. Die kritischen Redner wurden von den vornehmlich italienischen und französischen Teilnehmern ausgebuht, seine eigenen Reden hingegen mit frenetischem Beifall bedacht. Die kritischen Fragen der deutschen Patres Gruber und Gatzfeld überging er großzügig, zeigte als "Beweis" ein Photo Diana Vaughans vor und übte sich ansonsten in Rhetorik. Monsignore Gatzfeld, der Abgesandte des Erzbischofs von Köln, mußte sich gar die Verdächtigung gefallen lassen, er selbst sei ein Freimaurer, da er doch die Existenz der Miss Vaughan ableugnete. Die alte Logik der In­ quisition - du leugnest die Existenz von Hexen, also bist du selbst des Teufels feierte fröhliche Urständ und richtete sich ironischerweise gerade gegen jene, die der katholischen Kirche die schlimmste Blamage noch hätten ersparen können. Dem Bericht des Kongress-Sekretärs Billiet zufolge sollen in diesen hitzigen Disputen ca 80 Prozent der Kongreßteilnehmer auf der Seite Jogands

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gestanden haben. Auch die Sitzung des Kongresses, bei der es um die Lehren der Freimaurer ging, wurde von Jogand dominiert, und seine phantastischen Auslassungen über Wesen und Lehre der Freimaurerei wurde allgemein als authentische Darstellung akzeptiert. Eine Kommission, die mit der Existenz der Diana Vaughan befaßt war, kam angesichts der erbitterten Diskussionen zu dem salomonischen Schluß, daß sie keine eindeutigen Beweise, die für oder gegen ihre Existenz sprächen, habe finden können. Bedenkt man die Voraussetzungen, unter denen Jogand nach Trient gereist war, kann der Verlauf des Kongresses zweifellos als Tri­ umph für Jogand gewertet werden. Nach dem Ende des Kongresses wurde Jo­ gand in das bischöfliche Palais des Fürstbischofs Valussi geladen und dort von diesem wie anderen Würdenträgern für seine weitere Arbeit ermutigt. Die Popularität der Diana Vaughan hatte sich durch den Kongreß sogar noch vergrößert. Ihre Memoiren wurden von dem Spanier Region Martinez, Bischof und Sekretär des Kardinal-Erzbischofs von Valladolid, sowie von dem Deutschschweizer Dr. Georg Ortiz übersetzt, und auch das Echo in der inter­ nationalen Kirchenpresse war überwiegend positiv. Nun hielt Jogand den Zeitpunkt für gekommen, den ganzen Schwindel platzen zu lassen. Am 25. Februar 1897 erschienen die Memoiren der Diana Vaughan, worin sie ankündigte, daß sie sich am Ostermontag 1897 der Öf­ fentlichkeit vorstellen werde. Jogand kündigte an, sie werde an diesem Tage im Saal der Geographischen Gesellschaft in Paris erstmals öffentlich auftre­ ten. Der Saal war an besagtem Tag überfüllt mit Katholiken, Freimaurern und Journalisten - doch nicht Diana Vaughan erschien, sondern Gabriel Jogand, der mit ruhiger Stimme schilderte, was gespielt worden war. Er schloß mit der Bemerkung, daß alles seine Erfindung gewesen sei und daß er nun auch den ganzen Satanismus und Palladismus wieder verschwinden ließe - jedermann könne nun wieder ruhig schlafen, ohne sich vor palladistischen Verschwörun­ gen ängstigen zu müssen. Nach kurzer, fassungsloser Stille brach ein Tumult im Saal los, die Ka­ tholiken fluchten und tobten, die Freimaurer höhnten und spotteten, und hätte nicht die vorsorglich alarmierte Polizei den Saal sogleich geräumt, hätte die Versammlung in einem Massaker enden können. Jogand saß derweil be­ reits in einem benachbarten Café und trank einen Likör. Was folgte, war betretenes Schweigen auf der Seite der Katholiken; kei­ ner der Aktivisten, die ahnungslos an der Seite Jogands gekämpft hatten, äusserte sich öffentlich zur Sache, der Vatikan schwieg und die Autoren antifrei­ maurerischer wie antisatanistischer Schriften, die sich während der letzten Jahre so hervorgetan hatten (zum Beispiel Fava oder Jules Doinel), ver­

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stummten ganz einfach. Nach diesem Skandal, der beträchtlichen Wirbel ver­ ursachte, schien es selbst für jene, die daran geglaubt hatten und zum Teil immer noch daran glaubten, nicht mehr opportun, derartige Schriften unters Volk zu bringen, zumindest nicht, bevor einiges Gras über die Sache gewach­ sen war. Doch obwohl Gras bekanntlich zur schnellwachsenden Flora zählt, dauerte dies seine Zeit. Die Freimaurerei wurde nach dem Taxil-Schwindel von der katholischen Kirche nicht mehr in ähnlich scharfer Form angegriffen wie vor oder während desselben; und was den Kampf gegen Okkultismus und echten wie vermeintlichen Satanismus anbelangt, so haben sich zumindest die höheren Würdenträger der Kirche einer größeren Zurückhaltung befleißigt. Heutzutage haben die Kirchen ihre Sektenbeauftragten, die die grobe Arbeit übernehmen. Vom Taxil-Schwindel wird heute zwar kaum noch gesprochen, vergessen aber dürfte er vor allem für die katholische Kirche noch längst nicht sein. Es sei noch kurz auf eine andere Episode hingewiesen, die sich just zu je­ ner Zeit in Frankreich ereignete: Eine Schwindlerbande ging mit dem Ge­ rücht, Papst Leo XIII. werde von den Freimaurern im Vatikan gefangengehal­ ten, hausieren und sammelte Spenden zu dessen Befreiung ein. André Gide verarbeitete diese Geschehnisse in seinem Roman Die Verliese des Vatikans.

Luzifer in Theosophie und Anthroposophie

Um die Jahrhundertwende gewann die Luziferdeutung in der alternativen Religiosität der westlichen Welt zunehmend an Bedeutung. Als geistiger Va­ ter dieses integrativen Luziferianismus kann Eliphas Levi bezeichnet werden. Sein Modell des Luzifer als "Lichtbringer" war besonders für eine neue Form der synkretistischen Esoterik attraktiv, die sich nicht mehr allein aus einer Protesthaltung dem Christentum gegenüber definierte, sondern sich im Zuge einer voranschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft von christlichen Traditionen löste. Vor allem in der Lehre der "Theosophischen Gesellschaft" Helena Blavatskys nahm Luzifer eine neue Position ein, die mit der traditio­ nellen Rolle Satans nicht mehr viel gemein hatte. Man kann Blavatsky und die Theosophen nun gewiß nicht als reine Luziferianer bezeichnen. Die Theo­ sophische Gesellschaft, die zur bedeutendsten Kraft einer neuen kosmopoliti­ schen Esoterik avancierte, vertrat vielmehr einen allumfassenden Synkretis­ 120

Luzifer in Theosophie und Anthroposophie

mus, der darum bemüht war, den geheimen Kern aller Religionen zu erfassen. Der Gedanke der "Metareligion" war ab der Jahrhundertwende für zahlreiche Gelehrte attraktiv geworden, vor allem der sich entwickelnde interreligiöse Dialog und die Erschließung der Quellentexte indischer und fernöstlicher Religionen hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Viele der exponiertesten Vertreter der jungen Disziplin der Religionswissenschaft fühlten sich dazu be­ rufen, die Gemeinsamkeiten der Religionen herauszustellen, allen voran die Begründer der Religionsphänomenologie Rudolf Otto und Gerardus van der Leeuw. Blavatsky kann in gewisser Weise als Vorläuferin dieser Religionsphänomenologen gelten - anders als diese suchte sie den Kern aller Religio­ nen aber in deren Geheimlehren: mochten sich die einfachen Gläubigen auch verständnislos gegenüberstehen, die "Eingeweihten" meinten allemal das glei­ che. Der Ansatz Blavatskys war umfassend, und daß die Lehren vieler (vor allem östlicher) Religionen dabei ziemlich zurechtgestutzt und verbogen wur­ den, störte wenig. Die Theosophie eröffnete die neuen Horizonte, nach denen sich viele religiös entwurzelte und politisch desillusionierte Intellektuelle ge­ sehnt hatten. Dem integrativen Ansatz der Theosophie gemäß wurde auch Luzifer - dessen Bedeutung für die Geheimlehren des Abendlandes allerdings viel zu hoch bewertet wurde - in die theosophische Lehre integriert, wo er dann nicht mehr als Gegenspieler Gottes agierte, sondern eine notwendige Funktion im pantheistisch aufgefaßten Schöpfungsplan übernahm. Der Luzi­ fer Blavatskys trägt viele Züge des Levischen Luzifers, Blavatsky hatte mehr von Levi übernommen, als sie es zugeben mochte. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die umfangreichen und kom­ plexen Lehren der Theosophie oder auch der Anthroposophie ausführlich darzustellen, es soll vielmehr nur die Rolle, die Luzifer in diesen Lehren spielte, kurz beleuchtet werden. Der "Fall Luzifers" wird in Blavatskys Geheimlehre als das Herabsteigen des Lichtbringers in die Materie gedeutet. Die Engelsrebellion war demnach die Weigerung von Lichtwesen, sich in häßliche Materie zu inkarnieren, denn nur durch dieses Herabsteigen kann die Materie erleuchtet und mit geistigem Bewußtsein durchdrungen werden. Der Fall Luzifers war demgemäß also nichts weiter als ein ebenso natürlicher wie notwendiger Vorgang im Prozeß der Evolution des Universums. Da die Natur- und Elementargeister nicht in der Lage waren, dem Menschen rationales Denken zu vermitteln, bedurfte es des lebendigen Feuers in Gestalt des Luzifers (oder des Prometheus), um den Menschen auf seinem Weg zur Göttlichkeit zu vervollkommnen. Die Verbin­ dung des Luzifers mit der Vernunft war nicht neu, doch wurde die Vernunft

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

in der Theosophie keineswegs als die Krone der Schöpfung gesehen und dementsprechend Luzifer auch nicht als das höchste Wesen. Der deutsche Theosoph Hartmann beschrieb die Funktion Luzifers so: Die Urgeschichte des Menschengeschlechts ist, wie alles, was auf Naturgesetzen beruht, einfach und leicht zu begreifen, wenn nicht seit Jahrhunderten die mo­ derne Theologie infolge ihrer völligen Unkenntnis der Vorgänge, welche dabei stattfanden, den Allegorien, welche den ‘Sündenfair usw. darstellen, eine total falsche Auslegung gegeben, dadurch die einfache Wahrheit verkehrt und kom­ pliziert aufgefaßt und das Natürliche unnatürlich und widernatürlich gemacht hätte. Ohne ein Eindringen in die Materie hätte der Geist keine Gelegenheit gehabt, sein Verhältnis zur Materie kennenzulernen und die Herrschaft über dieselbe zu erlangen. Ohne die Entstehung der Täuschung des ‘Selbst’ hätte der Mensch auch heute noch keine Möglichkeit, diese Täuschung zu überwinden und sich seiner in ihm tätigen göttlichen Kraft bewußt zu werden. Seine Gött­ lichkeit wäre für ihn ein Traum, ein unerkanntes Ideal geblieben. Erst durch die Überwältigung des von der Materie geleisteten Widerstandes kann das Ideale in ihm zur Wirklichkeit und als solche begriffen werden. ‘Luzifer’ der ‘Lichtbringer’, das intellektuelle Prinzip im Menschen, ist allerdings, wenn es mißbraucht wird, der Feind des Göttlichen. Aber dadurch, daß man diesen Feind nicht ignoriert, sondern überwindet, wird er zur Grundlage der Erkennt­ nis des Göttlichen und zum Erlöser des Menschen.54

Luzifer ist hier nicht länger der Feind Gottes, er ist als intellektuelles Er­ kenntnisprinzip harmonisch in die universellen Zusammenhänge eingefügt, sofern der Mensch ihn recht zu handhaben weiß - was aber allein Aufgabe des Menschen ist. Sicher ist diese Lehre auch Ausdruck einer neuen Situation, in der die Vernunft sich nicht mehr in der Oppositionsrolle gegen ein übermäch­ tiges Christentum befindet. Die Vernunft hat gesiegt und die christliche Theologie hat sich längst mit ihr arrangieren müssen. Um sie in die Schranken zu weisen, bediente sich die Theosophie nunmehr des mythischen Luziferbil­ des. Luzifer, erleuchtend, doch gefährlich, schien in einer Zeit, da Vernunft­ kritik nicht mehr nur eine Sache konservativer Theologen oder romantischer Dichter war, da rational begründete Ideologien die Religion insgesamt zu verdrängen begannen, eine adäquate Verkörperung eben dieser Vernunft zu sein. Dieser Luzifer spielte dann in Deutschland eine nicht unbedeutende Rolle im Prozeß der "Zerstörung der Vernunft", der im Nationalsozialismus kulminierte. Es ist jedoch sicher nicht so, daß dieser Ansatz zwangsläufig zu solchen Resultaten führen mußte. Zwar läßt sich in Deutschland eine solche Traditionslinie ziehen, die Theosophie war jedoch eine internationale Bewe­ gung, und es hat sich in zahlreichen Staaten erwiesen, daß solche vernunftre­ lativierenden Strömungen bei anderen politischen Voraussetzungen keines-

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Luzifer in Theosophie und Anthroposophie

wegs in völliger Irrationalität enden müssen. Die noch auszuführende Dege­ neration Luzifers zu Hitler war eine spezifisch deutsche Angelegenheit. Tatsache ist jedoch, daß diese Luziferlehre vor allem in Deutschland wei­ terentwickelt wurde. Hauptexponent dieser Strömung war Rudolf Steiner, zunächst als Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Ge­ sellschaft, später dann als Begründer der Anthroposophie. Seine Deutung der Luzifergestalt bildete sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts heraus, als er noch Herausgeber der Theosophischen Zeitschrift Luzifer (später in LuziferGnosis umbenannt) war. In Steiners anthroposophischer Lehre wurde die Be­ deutung der Luzifergestalt zwar komplexer, veränderte sich aber nicht grund­ legend. In einem programmatischen Aufsatz erläuterte er 1903 seine Deutung der "Wesenheit" Luzifer. Ausgehend von dem Bestreben, Wissenschaft und Glauben zu versöhnen, war ihm Luzifer Symbol des wissenschaftlichen Er­ kenntnisstrebens, und durch eben diese Symbolisierung sollte die Verbindung dieses Strebens mit höherer Wirklichkeit aufgezeigt werden: Das bedeutsame Symbol der Weisheit, die uns durch Forschung gegeben wird, ist Lucifer, zu deutsch der Träger des Lichtes. Kinder des Lucifers sind alle, die nach Erkenntnis, nach Weisheit streben. [...] Und alle diese Kinder des Lucifer konnten auch Gläubige werden. Ja, sie mußten es werden, wenn sie ihre Weis­ heit recht verstanden. Denn ihre Weisheit ward ihnen eine "frohe Botschaft". Sie kündete ihnen den göttlichen Urgrund von Welt und Mensch. [...] Was ihnen Lucifer gebracht, das leuchtete vor den Augen ihrer Seele als Göttliches. Dem Lucifer verdankten sie, daß sie einen Gott hatten. Es heißt das Herz mit dem Kopfe entzweien, wenn man Gott zum Gegner des Lucifer macht. [...] Lucifer weiß, daß die leuchtende Sonne nur im Herzen eines jeden einzelnen aufgehen kann; aber er weiß auch, daß allein die Pfade der Erkenntnis es sind, die den Berg hinaufführen, wo die Sonne ihr göttliches Strahlenkleid erscheinen läßt.55

Der Charakter Luzifers ist hier von jenen promethischen Zügen geprägt, die ihm bereits seit der Renaissance zugesprochen wurden, auch die im Anschluß aufgeführten luziferischen Charaktere - Kopernikus, Galilei, Darwin - sind von dieser Art. Später erweiterte Steiner den Charakter Luzifers noch, er beschreibt ihn als ein Wesen, das zwischen dem Menschen und den schaffenden Göttern an­ gesiedelt ist. In der Seele des Menschen treffen sich das göttliche und das luziferische Prinzip: Das göttliche Prinzip lehrt den Menschen Selbstlosigkeit, Opferwillen und Liebe, das luziferische Freiheit, Wissenschaft und Selbstän­ digkeit. Doch richtig verstanden führt Luzifer den Menschen zu Gott, nur durch Selbstfindung und Selbstwerdung kann der Mensch zum Göttlichen 123

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

gelangen. Luzifer wird sozusagen als szientistischer Führer des Menschen zu Gott gesehen. Die Revolte Luzifers ist bei Steiner keine echte Revolte, und auch der Mensch, der sich selbst zu finden und zu individualisieren trachtet, dementsprechend kein Rebell. Der Individualismus und Erkenntnisdrang des Menschen wird in einen umfassenden Glauben eingebunden, die Gestalt Lu­ zifers in ein esoterisches Christentum integriert. Dieser Luzifer ist freilich nicht Satan, er ist, obschon immer noch gefährlich, ein von allem Materiellen gereinigter Satan. Diesem geistigen Luzifer stellt Steiner denn auch den materiellen, "trägen" Ahriman gegenüber - eben jenen iranischen Ahriman, der des öfte­ ren mit Satan gleichgesetzt wurde (zum Beispiel von Leopardi in seiner Hymne AdArimane). Der promethische Luzifer ist für Steiner ganz Geist, die Materie schätzt er genauso gering wie es die christliche Theologie tut. Ahri­ man verkörpert in der Anthroposophie im Grunde alle Eigenschaften Satans, die zur Lichtgestalt Luzifers nicht passen wollen - und ist demgemäß eine Ne­ gativgestalt. Darin, daß eine Erlösung in der materiellen Welt nicht möglich ist, daß diese zwar nicht abgelehnt, aber letztlich doch überwunden werden muß, stimmt Steiner mit den gnostischen und christlichen Theologien überein, obschon seine Haltung hier im Vergleich etwas abgemildert erscheint. Eine vergleichbar distanzierte Haltung dem Materiellen gegenüber findet sich ja auch bei den Satanisten des 19. Jahrhunderts, nur daß die Lehren Steiners nichts von der schwülen Ambivalenz haben, die für diese typisch war. Der er­ ste Satanist, der diese Zugehörigkeit der Materie zu Satan, die von der christ­ lichen Theologie postuliert wurde, in uneingeschränkt positiver Wertschät­ zung akzeptierte, war in den 60er Jahren Anton La Vey, der einfach zu allem ja sagte, was die christliche Theologie ablehnte. Dies war aber nicht Steiners Sache, ihm ging es um die Integration von Individualität und Wissenschaft in ein letztlich christliches Wertesystem. Levi, Blavatsky und Steiner waren somit Vertreter einer neuen esoteri­ schen Synthese, die das Spirituelle in eine vom rational-wissenschaftlichen Bewußtsein geprägte Welt einzufügen versuchte. Die Gestalt Luzifers diente nicht zuletzt als Symbol für dieses Streben, war sie es doch, die die Verbin­ dung, das Ineinanderübergehen von Wissenschaft und Glauben bewerkstelli­ gen sollte. Gerade diese Luzifer-Gestalt war es aber, die bei entsprechenden gesellschaftlichen Voraussetzungen dazu neigte, das labile Gebäude der Ver­ nunft von innen heraus zu zersetzen.

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Luzifer und der Einzige

Luzifer und der Einzige

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde Luzifer zum beliebten Identifikationsobjekt zahlreicher deutscher Literaten, die sich mehr oder we­ niger im Fahrwasser Stirners und Nietzsches bewegten. Der verbreitete Nietz­ sche-Kult beruhte dabei weniger auf wirklichem Werkverständnis denn auf einem exzessiven Gebrauch von Schlagworten. "Unzeitgemäße" und daher Unverstandene waren allerorten anzutreffen, und ein in unsicherer Zeit um seine Existenz kämpfendes Bildungsbürgertum fand im Lichtbringer Luzifer den Garanten ihrer geistigen Überlegenheit. Trotz der mythischen Überhö­ hung stellte der Luzifer zahlreicher zweitklassiger Werke nichts anderes dar als den Stirnerschen Einzigen, der frei von allem ethischen Ballast um seine Identität wie um sein Vorwärtskommen kämpfte. Extremes Beispiel einer sol­ chen Luzifer-Identifikation ist der Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und spätere Photograph Wilhelm Rudow, der sein Leben in seinem Roman Luzi­ fer. Ein Dichterleben ausbreitete. Vom Drang beseelt, etwas Außergewöhnli­ ches zu schaffen, etwas, das sonst niemand zuwege zu bringen imstande war und so endlich vom quälenden Konkurrenzdruck befreit zu sein, verstieg er sich, ein sprachwissenschaftliches Werk zu verfassen, das Übersetzungen aus nicht weniger als 32 Sprachen enthielt. Einziger Zweck dieses gigantischen Unterfangens war es jedoch, sein überlegenes Wissen unter Beweis zu stellen. Das Befremden, das ein solches ziel- und zweckloses Unterfangen hervorrief, deutete er als die Ablehnung, die der Außergewöhnliche von Seiten einer mit­ telmäßigen Gesellschaft zu erwarten hatte. Zur Identifikation mit Luzifer war es nur noch ein Schritt, sie ermöglichte es Rudow, sich seine Überlegenheit, die die Gesellschaft nicht zur Kenntnis nehmen wollte, zu bestätigen. Nun war Rudow sicher ein extremer Fall, doch verbietet es die Fülle vergleichbarer Werke, hier nur von einem Einzelfall zu sprechen. In dem Moment, in dem ein solches Werk auf größere Resonanz stößt, straft es sich ja bereits Lügen. Der Autor ist eben kein Unzeitgemäßer und Unverstandener mehr, in seinem Werk äußert sich eine zeittypische Befindlichkeit. Osterkamp beschreibt die Situation, die Charaktere wie Rudow hervorbrachte wie folgt: Rudows übersteigerter Ehrgeiz, sein realitätsblinder Hochmut, an denen er psy­ chisch zugrundegeht, erweisen sich bei näherem Hinsehen als die krankhaften Auswüchse einer sozialpsychologischen Situation, der das Kleinbürgertum, dem er entstammt, seit den Gründerjahren in zunehmenden Maße sich unterworfen fand: Eingezwängt zwischen den Klassenfronten, die die erstarkende Arbeiter­ schaft von dem Bürgertum trennten, stand es in ständiger Furcht vor dem Ver­

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

lust seiner geringen Privilegien und dem endgültigen Abstieg ins Proletariat. Greifbar wird jene Furcht in einer zunehmenden Apostrophierung geistiger Überlegenheit, durch die der Einzelne derart sich aus der Masse herausgeho­ ben glaubt, daß das tatsächliche ökonomische Nivellement daneben sich verges­ sen ließ.56

Der literarische Luzifer-Anhänger dieser Tage sah in der Selbstwerdung, der individuellen Einmaligkeit einen Selbstwert, der die Überlegenheit sicherte und ihn zudem zu allem berechtigte. Das Sich-selbst-gehören Luzifers wurde jedoch ganz in Stirnerscher Manier als das Besitzen seiner selbst, als Form des Eigentums gesehen. Durch einen geistigen Kraftakt, der das Selbst von allen äußeren Beschränkungen befreite, sollte auch der tägliche Überlebenskampf gewonnen werden, denn wer sich selbst gehört, dem gehört auch die Welt, das heißt er ist berechtigt, sich alles anzueignen, wessen sein entschränkter Wille habhaft werden kann. So heißt es bei Fahrenkrog Lucifer - Dichtung in Wort und Bild'. Schmerzend und weit öffnete er [Luzifer] dann sein Auge und starrte zurück in die Ewigkeit und verloren stieß er den Blick vorwärts in Zeit und Zukunft. Scheu flohen die Geister von dannen. ‘Die Erde ist mein! Die Wahl ist mein! Ich bin mein! Ich will!’57

Fahrenkrogs bombastische Worte und das mythologische Beiwerk - man könnte auch von mythologischen Allgemeinplätzen sprechen - können nicht verschleiern, daß sein Luzifer nichts anderes als die mythologische Version von Stirners Einzigem ist. Wohl bediente sich Fahrenkrog theosophischer und anthroposophischer Konstruktionen, um seinen Luzifer mythologisch auszu­ polstern, doch aus dem weltanschaulichen Kontext theosophischer Lehren ist dieser bereits herausgelöst. Fahrenkrog gestand im übrigen selbst ein, daß er durchaus ein Kind sei­ ner Zeit war. Die Entstehung seiner 1913 veröffentlichten Dichtung Lucifer datierte er in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Als Grund, warum er sie erst so spät veröffentlicht habe, gibt er zum einen an, daß sie zunächst nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen sei, sondern er sie nur "so für mich" geschrieben habe, doch dann sei die rechte Zeit gekommen: Inzwischen wuchs die Zeit weiter und mit dieser wanderte ich weiter zu mir sel­ ber. Und nachdem ich nun meines Wesens Kern erkannte, konnte ich ihn auch

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trotzig hinsetzen: Hier stehe ich! Macht was ihr wollt. Und du liebe Umwelt, wenn du wirklich etwas von mir haben willst, dann nimm mich wie ich bin.58

Das tat sie, Fahrenkrogs Werk ging weg wie warme Semmeln. Es läßt sich je­ doch nicht verleugnen, daß der stolze Engel Luzifer auf seinem Weg vom Ari­ stokraten Byron zum Kleinbürger Fahrenkrog einige Federn gelassen hat. Fahrenkrog selber jedoch wuchs nicht gegen, sondern eben mit der Zeit, inso­ fern ist sein Zusatz reine Koketterie - die Leute wollten ihn ja und zogen ein Jahr später mit gefundenem Selbst in die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges. Fahrenkrog ist im übrigen ein Musterbeispiel dafür, wie der Weg über Luzifer heim ins Reich führen konnte. Der Vereinzelung des Luziferianismus bald müde, begeisterte er sich für eine germanische Lichtreligion und wies weiten Schichten des verunsicherten Bürgertums den einfacheren Weg zum Herrenmenschentum, den der Nationalsozialismus bot. Diesen Weg ging auch sein Freund, der vom Jugendstil beeinflußte Maler Fidus, der den Lichtbrin­ ger Luzifer in zahlreichen pathetisch-verkitschten Zeichnungen verewigt hatte. Auffallend dabei ist, daß sich seine anfangs recht schmächtigen Luzifer­ gestalten (war er doch ein geistiges Wesen, kein Kraftmensch) mit der Zeit mehr und mehr dem nationalsozialistischen Schönheitsideal anglich und er ihm zuletzt als blond-muskulöser Recke geriet. Fidus war es auch, der im "Künstlermenschen Hitler" den lang ersehnten Lichtbringer erblickte.

Die Popularität eines Sujets zeigt sich auch darin, daß es auf Stammtischni­ veau heruntergezogen wird. Im Falle des Luzifermotivs ließen sich hier einige Beispiele bringen; zitiert sei in diesem Zusammenhang aus dem Drama Lucifer (1903) von Franz Bachmann: Und wollt ihr mir nicht willig folgen, So weck ich in euch alle bösen Rotten, Ich laß Euch schläfrig nicht noch weiter trotten ,..59

Das erinnert an oberlehrerhafte Kraftmeierei, doch auch urdeutsches Lei­ stungsdenken kommt hier nicht zu kurz: Nicht Ruh noch Rast Bei deiner Last, Kein Schlaf noch Schlummer Bei deinem Kummer! Bis wachend erwacht Dein Geist aus der Nacht.60

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Nicht wenige der so Erwachten haben in Hitler schließlich den Lichtbringer gefunden, der ihr irritiertes Selbstbewußtsein kurzfristig auf Hochglanz brachte. Es ist sicher nicht statthaft, diese Luzifer-Verehrung zwangsläufig in den Nationalsozialismus einmünden zu lassen. Es zeigt sich hier vielmehr eine Geistesverfassung, die sich als äußerst anfällig erwies für eine solche Versu­ chung, die aber keineswegs selbstverständlich im Nationalsozialismus enden mußte. So wies Hermann Hesses Roman Demian, in dem sich ein gnostisch in­ spirierter, integrativer Satanismus ausmachen läßt, einige Gemeinsamkeiten mit der oben skizzierten Luzifer-Verehrung auf, doch war der Charakter eines Hermann Hesse wandelbar genug, rechtzeitig andere Pfade einzuschlagen. Nicht Luzifer, sondern der gnostische Abraxas wird in Demian als idealer Gott und Führer hingestellt, der Gott und Teufel in sich vereinigt (was religi­ onshistorisch nicht ganz korrekt ist). Ansonsten wird in Demian eine Selbstwerdung propagiert, die sich ganz im Stil der Zeit, in der Einsamkeit, inner­ lich losgelöst von den dumpf vegetierenden Massen zu vollziehen hatte; an Polemik wider die "Herdenmenschen" wird nicht gespart: Ich stand an einer Straßenecke und hörte zu, aus zwei Kneipen scholl die pünktlich ausgeübte Munterkeit der Jugend in die Nacht. Überall Gemeinsam­ keit, überall Zusammenhocken, überall Abladen des Schicksals und Flucht in warme Herdennähe!61

Diesen unbewußten Herdenmenschen wird eine Elite von Geistesmenschen gegenübergestellt, die durch das "Kainsmal", das nur ihresgleichen erkennen können, gezeichnet sind und sich im einsamen Ringen ihrer einmaligen Be­ stimmung bewußt geworden sind. Mußten diese die luziferische Arbeit der Selbstwerdung auch aus eigener Kraft erst vollbringen, so trugen sie das Kainsmal doch von Geburt an, gehörten einer Eliterasse an, dazu bestimmt, die Evolution der Menschheit voranzubringen. Hesse beschwor im Demian eindringlich das Ende einer alten, verfaulten Zeit und die Morgendämmerung einer neuen, unerhörten und unvorstellbaren Epoche. Kurz nach Beendigung des Ersten Weltkrieges traf dies die Stimmung einer Jugend, die diese neue Zeit zu errichten trachtete, auf das sensibelste. Doch ist die Unruhe ziellos, wissen auch die Erwachten die Zukunft nicht vorherzusagen und weigern sich gar, sie planvoll zu gestalten - einsam sich selbst gefunden, stehen sie planlos vor der Aufgabe einer kollektiven Wandlung. Die Weltgeschichte, deren Ka­ talysatoren die Kainsmenschen sein sollen, wird auf Schicksal reduziert, die Aufgabe, die ihnen dabei zukommt, ist es, bereit zu sein, wenn das Schicksal

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Luzifer und der Einzige

sie ruft, wenn es gilt, dem Neuen zum Sieg zu verhelfen, gleich was dieses Neue auch sei. Auf diese Weise wird der Erste Weltkrieg lediglich als Bewährungsprobe, als Aufgabe des Schicksals gesehen, und die deutsche Jugend, die gedemütigt und entsetzt von den Schützengräben zurückkehrte, las dies begeistert. Er­ möglichten ihr doch solche Deutungen, im fruchtlosen Töten und Getötet­ werden noch einen Sinn zu erkennen, nachdem Kaiser und Vaterland unter­ gegangen waren. Die luziferische Selbstfindung führte zu völliger politischer Indifferenz: Am Vorabend des Krieges erläutert der "Übermensch" Demian seinem Schüler Sinclair: Dann wird unser Tag sein, dann wird man uns brauchen, nicht als Führer oder als neue Gesetzgeber - die neuen Gesetze erleben wir nicht mehr -, eher als Willige, als solche, die bereit sind, mitzugehen und da zu stehen, wohin das Schicksal ruft. [...] Alle Menschen, die auf den Gang der Menschheit gewirkt haben, alle ohne Unterschied waren nur darum fähig und wirksam, weil sie schicksalsbereit waren.

Der Erste Weltkrieg wird dann vom Protagonisten Sinclair so erlebt: Alle Menschen waren verbrüdert. Sie meinten Vaterland und Ehre. Aber es war das Schicksal, dem sie alle einen Augenblick in das unverhüllte Gesicht schau­ ten. Junge Männer kamen aus Kasernen, stiegen in Bahnzüge, und in vielen Ge­ sichtern sah ich das Zeichen - nicht das unsre - ein schönes würdevolles Zei­ chen, das Liebe und Tod bedeutete. [...] Mit der Zeit sah ich aber, daß ich die Menschen unterschätzt hatte. So sehr der Dienst und die gemeinsame Gefahr sie uniformierte, ich sah doch viele, Lebende und Sterbende, die sich dem Schicksalswillen prachtvoll nähern. Viele, sehr viele hatten nicht nur beim An­ griff, sondern zu jeder Zeit den festen, ein wenig wie besessenen Blick, der nichts von Zielen weiß und volles Hingegebensein an das Ungeheure bedeutet. Mochten diese glauben und meinen, was immer sie wollten - sie waren bereit, sie waren brauchbar, aus ihnen würde sich Zukunft formen lassen.62

Und diese Zukunft wurde geformt. Hier zeigt sich deutlich, wie die Stimmung, die weite Teile der Intelligenz dieser Zeit prägte, den Nationalsozialismus zwar nicht herbeiführte, aber der Versuchung doch willfährig ausgeliefert war, wie explosiv die Mischung aus einsamer, luziferischer Selbstfindung und poli­ tischer Indifferenz war. In dem Moment, in dem die Selbstwerdung geleistet und die Illusion angeborener Auserwähltheit (die den sozialen Abstieg ver­ gessen ließ) erfüllt war, bot das Modell der kollektiven Auserwähltheit, das die Rassenlehre des Nationalsozialismus bereitstellte, eine Möglichkeit, in die Gemeinschaft zurückzukehren, ohne auf ein Elitebewußtsein verzichten zu 129

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

müssen. Und viele, die vormals von der hohen Warte ihres luziferischen Einzelgängertums auf die Herdenmenschen herabgeblickt hatten, nahmen als­ bald keinen Anstoß mehr an den Massenaufmärschen des Dritten Reiches. Dies war der Weg, der von Luzifer zu Hitler geführt hatte. Natürlich, es hätte auch alles anders kommen können, wenn die Ge­ schichte, von der sich die Jünger Luzifers vormals getrennt glaubten, einen anderen Verlauf genommen hätte; nicht sie waren es, die diesen Verlauf be­ stimmt hatten. Und sicher liefen auch nicht alle ins Lager des Lichtbringers Hitler über, wie das Beispiel Hermann Hesses zeigt. Doch die Geschichte der deutschen Luziferverehrung war mit der Errichtung des Dritten Reiches so oder so vorbei: Der NS-Staat duldete keine Abweichungen. Nach der Macht­ übernahme rechneten die Nazis nicht nur mit ihren Feinden ab, auch mit ih­ ren ehemaligen Freunden sprangen sie nicht immer zimperlich um. Eine un­ veränderte Luzifer-Verehrung hätte kaum ins populistische Konzept der Na­ zis gepaßt - und wer nicht wie Fidus seinen Luzifer rechtzeitig in einen ger­ manischen Kraftjüngling zu verwandeln vermochte, für den war es angebracht zu schweigen.

Aleister Crowley - das Tier 666 und der Satanismus

Schenkt man den Sektenbeauftragten Glauben, so hat man in Aleister Crowley (1875-1947) den geistigen Vater des modernen "Neosatanismus" zu sehen. Doch diesen Sektenbeauftragten keinen Glauben zu schenken, ist fast immer richtig. Denn so einfach ist die Sache mit Aleister Crowley nicht, sie ist sogar so kompliziert, daß eine definitive Stellungnahme zu seinem Verhältnis zum Satanismus schlicht unmöglich ist. Den Statements der Sektenbeauftragten (Haack, Hauth, Baer u. a.) ist lediglich zu entnehmen, daß diese nicht allzu­ viel von Crowley gelesen und noch weniger verstanden haben. Der Autor der vorliegenden Zeilen kann zumindest von sich behaupten, vieles von dem, was aus Crowleys Feder floß, gelesen zu haben, wenn er auch nicht alles verstan­ den hat. Was die Crowley-Rezeption anbelangt, so ist auf einige auffällige Tatsa­ chen hinzuweisen. Alle okkultistischen Organisationen, die sich ausdrücklich auf Crowleys Lehren beziehen, verstehen sich nicht als satanistisch und weisen diese Charakterisierung weit von sich. Es handelt sich hierbei um die ver-

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Aleister Crowley - das Tier 666 und der Satanismus

schiedenen Linien des O.T.O. (Ordo templi Orientes), die Fraternitas Saturni, den Ordo Saturni und den Thelema Orden. Nur ein paar irreguläre Seitenli­ nien des O.T.O. in den USA verstehen oder verstanden sich als satanistisch. Andererseits sehen die explizit satanistischen Gemeinschaften der First Church of Satan und des Temple of Seth Crowley durchaus als einen geistigen Wegbereiter des Satanismus und ihrer eigenen Lehren - doch haben sie sich so weit von Crowley entfernt, daß sie nicht mehr auf dem Boden der "Crowleyanity" stehen. Crowleys Buch des Gesetzes, das Liber Al vel Legis, wird von ihnen (anders als von den obengenannten Gruppen) nicht als ver­ bindliches heiliges Buch anerkannt, und das von Crowley proklamierte "Äon des Horus" wurde von ihnen für beendet erklärt. Nach La Vey, dem Gründer der First Church of Satan, wurde es 1966 vom "Age of Satan" abgelöst, dieses wiederum gemäß der Lehren des Temple of Seth vom "Äon des Seth". In die­ ser unseren schnellebigen Zeit sind eben auch die Äonen kürzer Es bleibt zu bemerken, daß auch Joseph Dvorak in Crowley den Begrün­ der des modernen Satanismus sieht. Dvorak versteht sich selbst als Satanist daneben ist er noch Psychoanalytiker und Wiener Aktionist -, gehört jedoch ebensowenig zu den puristischen Crowley-Anhängern wie die meisten der ex­ pliziten Satanisten. In seinem kenntnisreichen, doch etwas wirr geschriebenen Buch Satanismus ist dies alles nachzulesen. Wie dem auch sei, Crowley war mit Sicherheit eine der schillerndsten Gestalten des Okkultismus, und er war ein Brite. Mit ihm verlagerte sich der Schwerpunkt des Okkultismus (und wenn man so will auch der des Satanis­ mus) endgültig vom französischen in den angloamerikanischen Kulturbereich. Ohne daß nun die klischeehaften Vorstellungen vom Nationalcharakter über Gebühr strapaziert werden sollen, muß doch auf die Tatsache eingegangen werden, daß sich der angloamerikanische Okkultismus in seiner Grundten­ denz wesentlich vom französischen unterscheidet. Im anglikanischen Britan­ nien hat sich jene für Frankreich so typische Spannung zwischen Katholizis­ mus und Decadence niemals entwickeln können. Wohl kannte auch das Bri­ tannien der Jahrhundertwende Okkultismus und Decadence, doch waren diese Strömungen im allgemeinen vom Geist des Pragmatismus bzw. eines spöttischen Sarkasmus geprägt. Ein antiklerikaler Okkultist war ein antikleri­ kaler Okkultist und verspürte nichts von jenem sinistren Reiz, den die Fröm­ migkeit auf so manchen schwarzen Romantiker französischen Geistes aus­ übte. Und auch solche britischen Okkultisten, die dem Christentum nicht ab­ hold waren, wie etwa A. E. Waite, fühlten sich gegen Ende ihres Lebens nicht unbedingt bemüßigt, in den Schoß der Kirche zurückzukehren. Und vor allem waren Sex und Sünde zwei verschiedene Paar Schuhe, und wer es denn auf

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sich genommen hatte, wider die knöcherne viktorianische Moral aufzubegeh­ ren, wie es Aleister Crowley, aber auch ein D. H. Lawrence taten, den reizte am Sex vor allem der Sex und nicht die Sünde. Was natürlich nicht heißen soll, daß es nicht auch in Britannien zu absonderlichen Ausschweifungen ge­ kommen wäre. Dies sind nun sicher arg verallgemeinernde Aussagen, aber dem allge­ meinen Charakter des britischen Okkultismus werden sie doch gerecht. Es war Brodie-Innes, seines Zeichens führendes Mitglied der bedeutendsten bri­ tischen Geheimgesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, des Hermetic Order of the Golden Dawn, der folgende Aussage machte: Whether the gods, the Qulipothic forces, or even the secret chiefs [des Golden Dawns] really exist is comparatively unimportant; the point is, that the universe behaves as though they do. In a sense the whole philosophy and practice of ma­ gic is identical with the pragmaticist position of Pierce, the american philoso­ pher.63

Die Kombination einer solch skeptisch-pragmatischen Haltung mit einem weitausholenden Synkretismus ist es, die für den britischen Okkultismus bis zum heutigen Tage typisch ist. Die Lehren des Golden Dawn waren relativ klar und einfach, kompliziert waren sie nur in dem Sinne wie etwa eine komplexe mathematische Glei­ chung kompliziert ist. Satanistisch war sie freilich in keiner Weise. Crowley erhielt seine "magische Ausbildung" in jenem Golden Dawn, den er jedoch nach wenigen Jahren wieder verließ, um sich weit verwegeneren magischen wie profanen Abenteuern hinzugeben. Crowley huldigte mehr noch als die meisten Okkultisten seiner Zeit ei­ nem ungezügeltem Synkretismus. Östliche Lehren und Meditationstechniken bezog er ebenso in sein System ein wie die ganze Tradition abendländischer Geheimlehren, lediglich die christliche Religion bekämpfte er stets mit uner­ bittlichem Haß. Die Gründe hierfür dürften in seiner Biographie zu suchen sein. Seine Eltern gehörten der Sekte der "Plymouth Brethren" an, einer fun­ damentalistischen christlichen Gemeinschaft, die intensives Bibelstudium mit höchst autoritären Erziehungsmethoden verband. Der widerspenstige Aleister (damals hieß er noch Edward Alexander) wurde von seiner Mutter schon früh als "Beast" beschimpft, das heißt mit dem großen Tier der Johannesapokalypse verglichen, dessen Zahl bekanntlich 666 ist. Diesen Titel behielt Crowley sein Leben lang bei. Viele sehen darin einen Beleg für seinen Satanismus (ist doch das Tier 666 der Antichrist), man kann dies jedoch auch als ein Zeichen seiner antichristlichen Einstellung sehen, das

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nicht unbedingt auf einen expliziten Satanismus hinweisen muß. Crowley be­ zeichnete sich zwar als "hell of a holy guru", nicht aber als Satanisten; gerade er, der nur allzu gerne schockierte, hätte in dieser Beziehung gewiß keine Hemmungen gehabt. Es ist typisch für Crowley, daß er zwar vieles schrieb und sagte, was sich ohne weiteres als Satanismus deuten läßt, daß er eine eindeutige Stellung­ nahme aber vermied. So setzt er in der Deutung seines Tarot-Sets die Tarotkarte "The Devil" mit Pan gleich und verweist quasi am Rande auf Satan: Somit ist die Formel dieser Karte das vollständige Erfassen und Würdigen aller bestehenden Dinge. Er erfreut sich am Derben und Unfruchtbaren nicht weni­ ger als am Lieblichen und Fruchtbaren. Alle Dinge erhöhen ihn in gleicher Weise. Er repräsentiert das Entdecken der Ekstase in jeder Erscheinung, möge ihre Natur auch noch so anstößig oder ekelhaft sein; er transzendiert alle Be­ grenzungen; er ist Pan; er ist Alles. [...] Doch besonders diese Karte repräsen­ tiert die männliche Energie in ihrer maskulinsten Äußerung. Saturn, der Herr­ scher [dieser Karte], ist Set, der eselsköpfige Gott der ägyptischen Wüsten; er ist der Gott des Südens. Der Name bezieht sich auf alle diese Konsonanten be­ inhaltenden Gottheiten, wie zum Beispiel Shaitan, oder Satan.64

Pan aber war der Gott, dem sich Crowley am nächsten fühlte, seine Hymn to Pan wurde denn auch auf seinen Wunsch hin bei seinem Begräbnis rezitiert, was einen letzten Skandal zur Folge hatte. Wenn also auch Pan mit Satan gleichzusetzen war, so zog es Crowley doch vor, diese Hymne Pan zu widmen und nicht Satan.

Crowleys eigentliche Lehre leitete sich jedoch nicht nur von jenem synkreti­ stisch ausgerichteten, skeptisch gebrochenen Okkultismus ab, wie er von sovielen Okkultisten des frühen 20. Jahrhunderts vertreten wurde, sondern Crowley begründete eine Offenbarungsreligion im vollen Sinn des Wortes: 1904 wurde ihm in Kairo, so Crowley, von einem Geistwesen Namens "Aiwaz" das Liber Al vel Legis (Das Buch des Gesetzes) offenbart, das die spirituellen Wahrheiten des anbrechenden neuen "Äons des Horus" enthalten soll. Die Grundzüge der aus dem Liber Al abgeleiteten "thelemischen" Lehre (von Thelema, griech. "Wille"), seien hier kurz dargelegt. Das zentrale thelemische Gesetz lautet ‘Do what thou wilt, shall be the whole of the law’ (Liber Al, Kap. 1, Vers 40) und ‘Love is the law. Love under will’ (Liber Al, Kap. 1, Vers 57). Das ‘Tue was du willst’ ist dabei nicht als Aufruf zur Willkür zu verste­ hen, es geht vielmehr darum, seinen ‘wahren Willen’, den Crowley vom be-

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wußten und vom unbewußten Willen unterschied, zu erkennen und zu tun, um so in Harmonie mit dem Universum zu leben. Thou hast no right but to do your will’ heißt es an anderer Stelle (Liber Al, Kap. 1, Vers 42). Jede Handlung wird als ein Akt der Liebe, als eine Vereinigung von Hadit und Nuit gesehen, und diese Liebesakte sollen unter der Führung des wah­ ren Willens ausgeführt werden.

Crowley teilte die Menschheitsgeschichte in Äonen von etwa 2000 Jahren Dauer ein (an den astrologischen Rhythmen orientiert, die uns nun das Was­ sermannzeitalter bescheren), die er ägyptischen Göttern zuordnete: Dem Äon der Isis folgte der Äon des Osiris, dessen Formel die des sterbenden Gottes war. Nun begann der Äon des Horus. Die Formel dieses Äons ist das ge­ krönte und siegreiche Kind; in diesem Äon soll die dem Osiris-Äon zugehö­ rige christliche Religion von einer neuen Religion des Willens und der Stärke abgelöst werden.

Die transzendenten Ursachen und Wirklichkeiten des Kosmos sprechen im Liber Al als Nuit, Hadit und Ra-Hoor-Kuit. Nuit, abgeleitet von der ägyptischen Himmelsgöttin Nut, ist die Raum­ unendlichkeit und der unbegrenzte Raum potentieller Möglichkeiten, das un­ endliche Nichts, das sich geteilt hat um der Vereinigung willen (siehe Liber Al, Kap. 1, Verse 28-30). Hadit, der u. a. den ägyptischen Gott Set repräsentiert, stellt die unendli­ che Kontraktion, den Willen, das Zentrum, den aktiven Punkt ohne räumliche Ausdehnung dar. ‘In the sphere I am everywhere the centre, as she, the circumference, is nowhere found. Yet she shall be known & I never’, spricht Ha­ dit im Liber Al (Kap. 2, Verse 3-4). Durch die ständige Vereinigung von Nuit und Hadit entsteht eine dritte Kraft, Ra-Hoor-Kuit (Ra, der ägyptische Son­ nengott in seiner Eigenschaft als aufgehende Morgensonne, als Horus). Er ist das erste Ereignis, mit ihm beginnt die Involution der Schöpfung - er ist das ständige Resultat der ekstatischen Vereinigung von Nuit und Hadit. RaHoor-Kuit ist es auch, der den Äon des Horus beherrscht. Crowley selbst definierte diese Dreiheit folgendermaßen: ‘Der unendliche Raum wird die Göttin Nuit genannt, während der unendlich kleine, atomistische und doch allgegenwärtige Punkt Hadit genannt wird. Sie sind unoffenbar. Eine der Verbindungen dieser Unendlichkeiten nennt man RaHoor-Kuit, eine Einheit, die alle Dinge umfaßt und leitet’ (Magie als Theorie..., S. 43/44).65

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Aleister Crowley - das Tier 666 und der Satanismus

Das "Tue was du willst" des Liber Al entspricht durchaus dem satanistischen Individualismus und nicht wenige stufen jeden, der sich zu diesem bekennt, als Neosatanisten ein. Doch es ist äußerst oberflächlich, diese Form des Individualismus grundsätzlich als satanistisch zu begreifen. Außerdem ist von Satan im Liber Al nicht die Rede. Wohl wurden Aiwaz, Hadit und auch RaHoor-Kuit bisweilen mit Set oder Satan gleichgesetzt, doch sind diese Deutungen innerhalb der thelemitischen Bewegung nicht unumstritten. Man kann hier korrekterweise allenfalls von einem synkretistisch gebrochenem Satanismus sprechen. Der radikale Individualismus sowie die ganze "Force-and-Fire"-Religion, die im Liber Al vertreten wird, steht sicher in der Tradition Stirners und Nietz­ sches, wobei Crowley nicht als der eigentliche okkultistische Interpret Stirners gelten kann. Die radikale Absage Stirners an jede Art der transzendenten Spekulation oder Mythisierung war Crowleys Sache nicht. Als solcher kommt viel eher der britische Okkultist und Maler A. O. Spare in Betracht, der ein magisches Weltbild entwarf, das tatsächlich als eine Übersetzung Stirnerscher "Metaphysik" in diese Gefilde gelten kann. Spare nun aber war, obgleich ihn Mario Praz in einer Fußnote als "satanischen Okkultisten" bezeichnete,66 alles andere als ein solcher.

Neu an Crowleys Lehre, wenn man sie denn als irgend satanistisch sehen will, war in jedem Falle, daß Satan - oder wer auch immer - nicht mehr als unterle­ gener Rebell erscheint. Die im Liber All sprechenden Wesenheiten sind sieg­ reich oder unantastbar, sie sind die Ursachen des Kosmos. Für einen christli­ chen Gott bleibt im Liber Al kein Platz, er besitzt keine wirkliche Existenz. So wird im Liber Al eine Religion der Starken verkündet - der wahre Thelemit steht dem Übermenschen Nietzsches näher als dem Rebellen Byrons oder dem Satanisten Baudelairescher Prägung. So galt der Kampf Crowleys mehr der christlichen Religion als dem christlichen Gott. Die thelemitische Reli­ gion, ob und in welcher Art auch immer sie selbst satanistisch sein mag, bil­ dete somit die Grundlage für eine neue Art des Satanismus, die sich aus dem christlichen Dualismus herausgelöst hatte und in Satan nicht mehr nur einen gefallenen Engel Gottes sah. Die Sexualmoral des Pansexualisten Crowley war dementsprechend der des Christentums radikal entgegengesetzt und dies ohne jede Ambivalenz. Zwar strebte Crowley danach, das Sexuelle wie auch die Lust als solche zu heiligen, doch war er weit davon entfernt, die profane Wollust herabzuwürdi­ gen, wie dies etwa die Sexualmystiker um Vintras und Boullan getan hatten. Im Liber Al vel Legis wird diese Haltung in drastischer Weise verdeutlicht:

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Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

Ich bin die Schlange, die Wissen und Wonne verschenkt und strahlenden Glanz, die Herzen der Menschen mit Trunkenheit schürend. Mich zu verehren, nehmt Wein und seltene Drogen, davon ich meinem Propheten sagen will, und be­ rauscht euch daran! Sie sollen euch nicht im kleinsten schaden. Eine Lüge ist sie, diese Narrheit gegen das Selbst. Die Schaustellung der Unschuld ist eine Lüge. Sei stark, o Mensch! Begehre, erfreue dich aller Dinge der Sinne und Wonnen. Fürchte nicht, daß ein Gott dich darum verleugne.6?

In politischer Hinsicht waren Crowley wie die gesamte thelemitische Bewe­ gung ähnlich vielschichtig und indifferent wie die meisten Okkultisten dieser Zeit. Zwar läßt sich eine Verbindungslinie zum Faschismus ziehen, doch ist diese recht brüchig. Es gab wohl eine Martha Küntzel, die begeisterte Anhän­ gerin Crowleys wie Hitlers war und die Hitler höchstselbst ein Exemplar des Liber Al zukommen ließ, doch endete Crowleys Kokettieren mit dem Natio­ nalsozialismus spätestens mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Sein britischer Patriotismus gewann die Oberhand und er schrieb Küntzel, daß das britische Empire Hitler mit dem kleinen Finger erledigen könne, was diese tödlich beleidigte. Zuvor war Crowley bereits von Mussolini aus Italien verwiesen worden. Exzentrische Individualisten hatten so ihre Probleme mit dem Faschismus, selbst dann, wenn sie in den Tagen vor der Machtergreifung eine Geistesver­ wandtschaft festgestellt haben mochten. Crowley sah sich zudem als Aristo­ krat und pflegte jene Art des rebellischen Snobismus, der bereits für Lord By­ ron typisch gewesen war. Er vereinigte mehr als einen Widerspruch seiner Zeit in sich. Doch war das politische Spektrum der thelemitischen Bewegung über­ haupt recht vielfarbig. Theodor Reuß, zeitweise Oberhaupt des O.T.O., der Crowley für diesen Orden interessierte (Crowley wurde 1925 selbst Ober­ haupt des O.T.O.), war libertärer Sozialist; Eugen Grosche, als Gregor Gregorius Großmeister der Fraternitas Saturni, war der Sozialdemokratie verbun­ den. Aus der thelemitischen Religion läßt sich beim besten Willen keine klare politische Linie ableiten, insofern unterscheidet sie sich nicht von anderen Religionen. Zurück zur leidigen Frage, ob Crowley nun Satanist war. Die meisten der thelemitischen Orden sind zweifellos nicht satanistisch, einen Orden, der sich selbst nicht zum Satanismus bekennt, als satanistisch zu bezeichnen wäre, nichts anderes als reiner Obskurantismus. Doch wie steht es mit Crowley selbst? Bei der Betrachtung seiner Lehre wie seiner Person darf ein Aspekt nicht außer acht gelassen werden, der den "Satanisten" Crowley trotz seiner ausgiebigen Verwendung satanistischer Versatzstücke in einem anderen Licht 136

Aleister Crowley - das Tier 666 und der Satanismus

erscheinen läßt. Crowley fühlte sich nicht nur als Magier, er fühlte sich minde­ stens ebenso zur Mystik hingezogen, die er vor allem in ihren östlichen Spielarten - dem Bhakti-Yoga und der buddhistischen Meditation - prakti­ zierte. Tegtmeier, ein profunder Kenner Crowleys, bemerkt hierzu: Im Grunde seines Herzens neigte er selbst [Crowley] doch eher zur Mystik als zur Magie. Die Vereinigung mit einer wie auch immer zu definierenden Gott­ heit war und blieb ihm das höchste Ziel, so daß er sogar formulieren konnte: ‘Jeder Akt, der nicht zur Vereinigung mit der Gottheit führt, ist ein Akt schwar­ zer Magie.’68

Als Schwarzmagier fühlte sich Crowley aber ganz und gar nicht. Nur der, der im "Abyssos" (dem Abgrund, der die profane von der idealen Welt, die Welt der Wirkungen von der der Ursachen trennt) an seinem Ego festhält, ist nach Crowleys Auffassung ein "schwarzer Bruder". Gerade dieses Aufgeben des Egos ist es aber, das von den expliziten Satanisten moderner Prägung auf das entschiedenste abgelehnt wird. Crowleys Mystik ist keine Satans-Mystik im Sinne einer Umkehrung der christlichen Mystik. Erinnern seine einfacheren Übungen des Einswerdens mit beliebigen Gottheiten an die Praktiken des Bhakti-Yoga (die gemäß des experimentell­ relativistischen Charakters seiner Übungen nur für begrenzte Zeit durch­ zuführen waren; ein echter Yogi war Crowley selbstverständlich nie), so war sein höchstes Ziel eine Art von buddhistisch beeinflußter Mystik der Substanzlosigkeit. Den Charakter des höchsten Grades seines Ordens A.-.A.-., den "Ipsissimus", beschreibt er wie folgt: Der Ipsissimus ist von allen Begrenzungen vollkommen frei, indem er ohne Un­ terscheidung von Quantität und Qualität zwischen den Dingen in ihrer aller Wesen existiert. Er hat Sein und Nicht-Sein und Werden, Handeln und NichtHandeln und die Tendenz zum Handeln mit allen derartigen Dreiheiten gleich­ gesetzt und nicht hinsichtlich irgendwelcher Bedingungen zwischen ihnen unter­ schieden oder zwischen einem Ding und einem anderen, ob es mit oder ohne Bedingungen sei. [...] Hauptsächlich ist der Ipsissimus der Meister aller Arten der Existenz; das heißt, daß sein Wesen völlig frei von innerer oder äußerer Notwendigkeit ist. Seine Arbeit ist es, alle Tendenzen, solche Notwendigkeiten zu konstruieren oder rückgängig zu machen, zu zerstören. Er ist ein Meister des Gesetzes der Unsubstantialität (Anatta).69

Der Widerspruch zwischen einer solchen Mystik und Crowleys individualisti­ schem Konzept des wahren Willens gab vielen, die seine Schriften sorgfältiger lasen, Rätsel auf (ein durchschnittlicher Sektenbeauftragter läßt sich von sol137

Geschichte der Satansvorstellungen und des Satanismus

chen Rätseln allerdings niemals quälen). Crowley selbst versuchte diesen Wi­ derspruch zu lösen, indem er dem wahren Willen einen transzendenten Cha­ rakter zusprach und ihn radikal vom bewußten wie vom unbewußten Willen, der das Ego ausmache, unterschied. Gerade diese Widersprüchlichkeit ist es aber, die zum Beispiel Michael Aquino, Oberhaupt und Gründer des satani­ stischen "Temple of Seth", am schärfsten an Crowleys Lehren kritisiert, und sie ist es auch, die die Crowleysche Mystik letztlich unüberbrückbar von jeder echten Schule buddhistischer Mystik trennt. Crowley versuchte, den Individualismus zum religiösen Prinzip zu erhe­ ben, das 'Tue was du willst" als universelles Gesetz zu proklamieren. Ein Vor­ haben, das mit einem Satanismus durchaus vereinbar ist. Sein Rückgriff auf östliche Formen der Mystik machte es ihm jedoch unmöglich, eine ungebro­ chen satanistische Lehre zu entwickeln - sofern er dies überhaupt jemals be­ absichtigt haben sollte. Man könnte hier allenfalls von einem synkretistisch gebrochenen Sata­ nismus sprechen, um das ganze schlecht und recht in einer Schublade unter­ gebracht zu wissen. Die thelemitische Religion aber in allen ihren Ausdrucks­ formen generell als satanistisch einzustufen ist sicherlich nicht angebracht und wird den komplexen Sachverhalten in keiner Weise gerecht. Der Begriff "Neosatanismus" gar ist ein Unding an sich. Schon allein des­ halb, weil er die Existenz einer satanistischen Tradition suggeriert, die es so nie gegeben hat.

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Der zeitgenössische Satanismus

Der zeitgenössische Satanismus Seit den 60er Jahren ist eine bemerkenswerte Ausweitung der satanistischen Aktivitäten zu beobachten. Dies bedeutet nicht, daß sich die Zahl der Satani­ sten überproportional erhöht hätte, wohl aber ist der Satanismus vielgestalti­ ger und unübersichtlicher geworden: Zumindest scheint es so, was jedoch ein­ fach daran liegen könnte, daß sich im Zuge der zunehmenden Liberalisierung der westlichen Gesellschaften mehr satanistische Gruppierungen in der Öf­ fentlichkeit zeigen, als dies bis dahin der Fall gewesen ist. Andererseits war in den letzten Jahrzehnten eine generelle Expansion religiöser Sondergemein­ schaften zu verzeichnen, die am Satanismus nicht spurlos vorüberging. Es steht jedoch außer Zweifel, daß die Satanisten nur eine Minderheit innerhalb der alternativen Religiosität darstellen. Die tatsächliche Ausbreitung des Sa­ tanismus ist weit geringer als dies in der Presse häufig dargestellt wird, ob­ schon von einer gewissen Dunkelziffer ausgegangen werden kann. Von Ent­ weihungen verlassener Kirchen und Kapellen wird immer wieder berichtet, natürlich werden auch Friedhöfe bisweilen heimgesucht, doch von derlei Din­ gen wird bereits seit 300 Jahren immer wieder berichtet und es kann keine Rede davon sein, daß sich dies in den letzten Jahren wesentlich häufiger er­ eignet hätte als seit jeher. Was es damit auf sich hat, ist schwer zu sagen, teils dürfte es sich um Streiche Jugendlicher handeln, teils dürfte ein unorganisier­ ter reaktiver Satanismus dahinterstehen. Gesicherte Informationen gibt es kaum. Dies hängt damit zusammen, daß es sich dabei meist um die Aktivitä­ ten recht kurzlebiger Gruppen handelt, die sich schneller auflösen, als man ihnen auf die Spur kommen kann. Oft sind diesbezügliche Pressemeldungen zudem recht ungenau und oft wird, wenn Ritualspuren auf Friedhöfen oder Reste von Blutopfern entdeckt werden, einfach davon ausgegangen, daß dies das Werk von Satanisten sei, ohne daß man Näheres darüber wüßte. Doch handelt es sich hierbei um marginale Phänomene, die mit den wirklich bemerkenswerten Entwicklungen, die den Satanismus während der letzten drei Jahrzehnte geprägt haben, nichts zu tun haben. Der Schwerpunkt des modernen Satanismus hat sich während dieser Zeit in die USA, speziell nach Kalifornien verlagert. Dies nimmt nicht Wunder, ist doch Kalifornien ganz allgemein das Zentrum neuer religiöser und spiri­ tueller Bewegungen. Die liberale Religionsgesetzgebung in den USA ermög­ lichte es auch, daß sich satanistische Gruppen eine organisatorische Grund-

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Der zeitgenössische Satanismus

läge schaffen konnten, die bislang außerhalb der Möglichkeiten des Satanis­ mus lagen. So wurde der "First Church of Satan" und dem daraus hervorge­ gangenen "Temple of Seth" der offizielle Status einer Kirche zuerkannt. Auf diese beiden in vieler Hinsicht bemerkenswerten Gemeinschaften, die als erste Vertreter eines autarken achristlichen Satanismus gelten können, soll im Anschluß noch näher eingegangen werden. Ein Streifzug durch die verwirren­ de Vielfalt der angloamerikanischen satanistischen Kulte sei dem vorange­ stellt. Vollständigkeit anzustreben wäre in diesem Zusammenhang vermessen, was jedoch ein paar Worte mehr verdient, wird diese erhalten.

Der Ophite Cultus Sathanas

Kein kalifornischer Kult ist der "Ophite Cultus Sathanas" Dr. Herbert Sloanes, der in Toledo/Ohio seinen Sitz hat. Sloane steht denn auch als ein­ samer Kämpfer gegen die Vielzahl der kalifornischen Kulte ziemlich alleine da. Der moderne Satanismus ist bei all seiner Vielgestaltigkeit im Ganzen mehr oder weniger libertinistisch ausgerichtet - nicht so Sloane. Er vertritt einen puren gnostisch umgewerteten Satanismus asketischer Ausrichtung, nir­ gends sonst findet oder fand sich diese Spielart des Satanismus in einer derart reiner Form. Daß sie sich gerade in den USA unserer Tage findet, zeugt nicht nur von der Vielfalt des modernen Satanismus, sondern auch von der Vielfalt religiöser Bewegungen in all jenen Teilen der Welt, in denen man nicht allzu­ sehr auf diese einprügelt. Sloanes Bestreben ist es, den Satanismus von Perversionen (darunter ver­ steht er vor allem die Sexualmagie) und Geldgier zu reinigen. Für ihn sind Sa­ tanismus und Gnosis Oppositionsbewegungen wider jene Kraft, die diesen Kosmos zu verantworten hat - also wider den Demiurgen, wie ihn die Gnosis kennt. Satan ist für Sloane der Bote des guten transzendenten Gottes, der den Menschen die Erkenntnis bringt. Schon im Paradies habe er Eva die Augen geöffnet und ihr das Wissen über Gut und Böse gegeben, was dem Schöpfer­ gott natürlich nicht recht gewesen sei. Sloane hat also im wesentlichen die Gestalt Satans in die Konzepte der asketisch orientierten Gnosis integriert, ein Vorgehen, das an sich naheliegend ist, bei den spätantiken Gnostikern aber, wohl aufgrund der damaligen relativen Bedeutungslosigkeit Satans, nicht zu beobachten war. In jener Zeit dominierte die paulinische Theologie,

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Die Process Church

die in Satan den Herrn dieser Welt sah, und als solcher konnte er den Gnosti­ kern nicht genehm sein. Sloane beruft sich jedoch auf den "Satansjünger" Kain, dessen vegetari­ sches und somit reines Opfer von Jahwe abgelehnt wurde, während das Blut­ opfer Abels Jahwe wohlgefällig war. Satan war also der Bote aus der reinen geistigen Welt des Pieromas, der die Bande, die den Menschen an die Mate­ rie fesselten, zu lösen suchte. Auch der in prähistorischen Höhlenmalereien dargestellte gehörnte Gott wird von Sloane mit Satan gleichgesetzt. Er sei je­ doch kein Fruchtbarkeitsgott gewesen (wie dies allgemein angenommen wird) und es sei daher ein schwerwiegender Fehler, ihn mit Sexualkulten zu vereh­ ren. Es ist im übrigen nicht ohne Ironie, daß den Satanisten - sei es zu Recht oder zu Unrecht - immer wieder Blutopfer vorgeworfen werden und eben diese Blutopfer den Beweis satanistischer Ruchlosigkeit liefern sollen. Hat doch der gute Abel nichts anderes getan und Gott war’s ein Wohlgefallen... Dieser Widerspruch wurde vom gnostisch umgewerteten Satanismus immer wieder thematisiert, sei es von Byron oder heutigentags von Sloane, und Kain genoß in diesen Kreisen demgemäß einigen Respekt. Im ganzen ist Sloanes Weitsicht um einiges optimistischer als die Byrons, ist doch Satan hier der Bote des transzendenten Gottes, der über dieser verkommenen Schöpfung steht und daher einen Weg der Erlösung weisen kann. Mit der Sinnenfreude und der teils reflektierten, teils aggressiven Lebenslust der meisten der mo­ dernen Satanskulte hat der Satanskult Sloanes freilich nichts gemein.

Die Process Church

Sexualität spielte in der 1963 von dem Engländer Robert de Grimston ge­ gründeten "Process Church of the Final Judgement" eine herausragenden Rolle, doch kann von sakraler Sexualität in diesem Zusammenhang kaum die Rede sein. Es handelte sich eher um psychologische Experimente, deren ei­ gentliches Ziel Erlebnissteigerung und Selbstverwirklichung waren. So galt der Kampf der Process Church den "grey forces", die den Menschen in Mit­ telmäßigkeit und Unentschiedenheit gefangenhielten. Grundlage der Lehre der Process Church war die Psychologie Alfred Adlers, die besagt, daß man das Verhalten eines Menschen erst dann wirklich 141

Der zeitgenössische Satanismus

verstehen kann, wenn man sein Lebensziel erkannt hat. Die verschiedenen diesen Zielen zugeordneten Persönlichkeitstypen wurden von Grimston mit den christlichen Wesenheiten Jehova, Christus, Satan und Luzifer in Bezie­ hung gesetzt, um so ein religiös untermauertes Modell psychologischer Typen zu erstellen. Der Antagonismus von Gott und Satan wurde auf diese Weise relativiert, denn Grimston ergriff nicht Partei für die eine oder andere Seite, sondern er sah im Zusammenspiel von Jehova, Christus, Satan und Luzifer vielmehr ein Modell der Ganzheitlichkeit, letztlich auch ein Modell des ganz­ heitlichen Menschen. In diesem Sinne knüpfte er an die Lehren C. G. Jungs an, der die Ganzheit in der Quaternität Vater - Sohn - Heiliger Geist - Satan sah. Die Lehre der Process Church läßt sich also als integrativer Satanismus mit psychologischer Grundlage beschreiben. Es handelt sich dabei um eine frühe Form jener psychologisierten Religion bzw. Spiritualität, die in den fol­ genden Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung gewinnen sollte. Freilich auch um eine recht provozierende Variante dieser synthetisierten Selbsterfahrungs­ und Sinnsuche. Ein weiterer wichtiger Einfluß für Grimstons Kirche waren Lehre und Methoden der "Scientology Church" Ron Hubbards. Vom scientologischen Begriff "process" leitete sich auch der Name der Kirche ab. Die Scientology Church hat ihre Wurzeln in den Lehren des O.T.O. von Crowley, was die heu­ tigen Anhänger der Scientology gerne verheimlichen. Hubbard war einst selbst Mitglied des O.T.O. und als solches mit magischen Experimenten be­ faßt, die selbst Crowley obskur erschienen. Nach diversen Auseinanderset­ zungen mußte er den O.T.O. verlassen und gründete schließlich die Sciento­ logy Church, die sich durch eine phantasievolle Kosmologie sowie durch nüchterne und technisierte Methoden der Bewußtseinsentwicklung auszeich­ net. Ziel ist es, den Status des "Clear" zu erreichen, in dem das Individuum sein unbegrenztes Potential voll nutzen kann. Der sogenannte "process" be­ steht hauptsächlich darin, daß die Mitglieder von "Auditoren" analysiert wer­ den, während sie an einem "E-Meter" - ein Gerät, das Blockaden der geistigen Energie anzeigen soll - angeschlossen sind. Grimston führte diesen "process" an seiner Frau durch und beide gelangten zu der Überzeugung, daß der Status des "Clear" für den Menschen nicht erreichbar ist. Um den "grey forces" zu entgehen, war es hingegen notwendig, das eigene Lebensziel, das sich aus der Charakterleitlinie ergab, kompromißlos zu verwirklichen. Zunächst von sich selbst ausgehend, gelangten die Grimstons zu folgenden Charaktertypen: Christus - Koexistenz im Zustand der Vereinigung. Satan - einsiedlerische Existenz im Zustand des Getrenntseins.

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Die Process Church

Satan zerfällt dabei in einen höheren und einen niederen Aspekt. Der höhere Aspekt Satans umfaßt Mystik, Askese, Magie und Weltentrücktheit, der nie­ dere Aspekt steht für Lust, Unbeherrschtheit und Übermaß. Christus verbindet diese Aspekte und verhindert so ein völliges Auseinanderfallen der Aspekte Satans. Des weiteren gingen sie von einem gleichberechtigten Götterpaar aus, das aus Luzifer und Jehova bestand. Ihnen waren folgende Attribute zugeordnet: Luzifer - männlich und passiv, stand für Toleranz, Freude, Harmonie und Er­ folg. Jehova - weiblich und passiv, stand für Pflicht, Disziplin Opferbereitschaft und Anstrengung. Grimston identifizierte sich mit dem luziferischen Lebensentwurf, seine Frau mit dem Jehovas. Daraus ergab sich ein Diagramm, das das Verhältnis dieser Götter illustrierte:

SATAN * C H R LUZIFER * I * JEHOVA S T * SATAN

Später wurde auch Luzifer, Jehova und Christus noch ein niederer Aspekt zu­ gesprochen, so daß man letztendlich auf acht Typen kam. In dieses Modell wurden all jene eingeordnet, die der Process Church beitraten und sich einer "modifizierten scientologisch-adlerischen Analyse unterzogen".70 Dabei wur­ den dann auch Mischtypen festgestellt, wie Luzifer-Satan- oder Luzifer-Christus-Typen. Sinn des Kultes war das Interagieren und Akzeptieren der durch die ver­ schiedenen Mitglieder repräsentierten Lebensentwürfe, was auch sexuelle Ex­ perimente miteinschloß.

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Der zeitgenössische Satanismus

Ein bißchen erinnern diese Experimente an Goethes Wahlverwandtschaf­ ten, doch wurden sie oft im Kontext von Ritualen durchgeführt, die durch einen ungezügelten Synkretismus geprägt waren. Lyons bemerkt hierzu, daß diese Rituale wohl in erster Linie den Zweck hatten, unspezifische religiöse Bedürfnisse zu befriedigen, wobei man bei der Wahl der Inhalte und Symbole recht locker vorging. Neben anderen wurden auch Elemente der Crowleyanity verwendet. Diese Einschätzung mag etwas hart sein, doch es ist in der Tat nicht leicht, einen Zusammenhang zwischen den in den Ritualen verwendeten Elementen (auch hinduistische waren darunter) und der Kernlehre der Process Church einen begründeten Zusammenhang herzustellen. Die faktische Bevorzugung Satans erklärt sich daraus, daß ein nahes Weitende erwartet wurde, wobei Satan als Henker fungieren sollte. Es schien also angebracht, sich mit diesem gutzustellen. Nun, so gut diese Experimente auch gemeint gewesen sein mögen, es kam schließlich zum Zerwürfnis zwischen den Grimstons und Robert wurde aus der Process Church ausgeschlossen. In der Folge wandelte sich die Process Church unter der Leitung von Mrs. Grimston zu einem streng jüdisch ausgerichteten Jehova-Kult (sie blieb ihrer Bestimmung treu), der sich aber bald in immer kleinere Teile aufspaltete, um schließlich in der Versenkung zu verschwinden. Das eigenwillige Konzept der Process Church hatte denn auch keinen Einfluß auf die weitere Entwicklung des Satanismus. Die geistigen Nachfolger dieser Gemeinschaft finden sich eher in der psychologisch ausgerichteten Selbsterfahrungs-Spiritualität der folgenden Jahrzehnte als im modernen Sa­ tanismus. Allerdings könnten spezielle Riten und Praktiken der Process Church, wie etwa homoerotische Sexualmagie und eine Vorliebe für scharfgemachte Schäferhunde, andere satanistische Gruppen in gewissem Maße beeinflußt haben. So wurde von Ed Sanders in seinem Buch The Family eine enge Bezie­ hung zwischen der Process Church und Charles Manson behauptet. Diese Be­ ziehung wurde von der Process Church abgestritten, doch trotz einer gerichtli­ chen Auseinandersetzung konnten die diesbezüglichen Sachverhalte nicht vollständig geklärt werden.

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Kalifornische Kulte

Kalifornische Kulte

Vor allem in der zweiten Hälfte der 60er Jahre entstanden in Kalifornien, von San Francisco ausgehend, zahlreiche satanistische Kulte. Diese stellten jedoch nur einen kleinen Teil der religiösen Bewegungen dar, in die sich die geschei­ terte Hippie-Bewegung zersplitterte. 1966, im Sommer der Liebe, pilgerten zahllose jugendliche Freaks, Schwärmer, Idealisten und Ausgeflippte nach San Francisco, mit Blumen im Haar, wie es sich gehörte, und harrten dort der Veränderung der Welt. Auf der Suche nach "Love and Peace" hatten sie dem Establishment den Rücken gekehrt und suchten Erfüllung in Rockmusik, psy­ chedelischen Drogen, Bewußtseinserweiterung und freier Liebe. Das mit der Musik und den Drogen war kein Problem, Schlafplätze und Suppenküchen waren Ehrensache, nur mit der freien Liebe klappte es wegen eklatanten Frauenmangels nicht so ganz, doch Acid tat es zur Not auch. Das Ende der Hippie-Bewegung kam schnell und ist bekannt. Neben vielen anderen Grün­ den dürfte entscheidend gewesen sein, daß man den Hippies einfach den Geldhahn abdrehte - binnen eines Jahres versank alles in Elend, Kommerz und Heroin. Die stärkeren konnten sich abseilen, verstreuten sich in neuen spirituellen Bewegungen und Landkommunen oder versuchten sich als Ge­ schäftsleute, die schwächeren fristeten ihr Dasein am Rande der Gesellschaft. Am 6. Oktober 1967 wurde die Hippie Bewegung dann in Haight Ashbury of­ fiziell zu Grabe getragen und die große Zersplitterung setzte ein. Voll des Unbehagens über die Moderne hatte sich ein bedeutsamer Teil der amerikanischen Jugend sich in Kalifornien eingefunden, um eine neue Zeit einzuläuten. Eine Bewegung war entstanden, die in der ersten Euphorie nicht bemerkte, daß sie nichts verband außer einer diffusen Sehnsucht, die sich in Musik, idealistischem Drogenkonsum und der Ablehnung des Esta­ blishments artikulierte. Das Scheitern an der Realität hatte wie so oft eine trotzige Hinwendung zur Spiritualität zur Folge, die sehr verschiedene For­ men annahm. Die meisten dieser neuen Bewegungen waren von östlicher Spi­ ritualität geprägt, doch eine Minderheit, die weniger geneigt war, ihre Nie­ derlage so ohne weiteres hinzunehmen, wandte sich dem Satanismus zu, der zuweilen ebenfalls mit östlichen Lehren angereichert wurde. Die kalifornische Renaissance des Satanismus speiste sich zwar nicht nur aus den Quellen der Hippie-Bewegung, doch waren die Grenzen hier fließend. So war ein Auftritt La Veys, der gewiß kein Freund der Hippies war, 1969 für ein großes Walpur­

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Der zeitgenössische Satanismus

gisnacht-Rockfestival angekündigt worden, auf Intervention der örtlichen Kir­ che mußte er allerdings wieder abgesagt werden. Die satanistischen Gruppen, die in jener Zeit entstanden, waren höchst unterschiedlicher Natur. Viele waren harmlos-romantisch, einige jedoch auch äußerst gewalttätig, allen voran die des berüchtigten Charles Manson, die letztlich die gesamte Hippie-Kultur in Verruf brachte. Das große Medienin­ teresse, das Manson entgegengebracht wurde, erklärt sich nur zum Teil aus der Grausamkeit der Verbrechen seiner Gruppe - die Zahl seiner Opfer machte nur einen Bruchteil der jährlichen Mordrate San Franciscos aus. Dies kann nun die Taten Mansons in keiner Weise rechtfertigen, doch zeitweise schien man vergessen zu haben, daß man in der Regel weder Satanist noch Hippie sein muß, um zu morden. Wesentlich war, daß man mit Manson end­ lich einen Satanisten hatte, der sich wirklich so benahm, wie dies die amerika­ nische Moral Majority von einem Satanisten erwartete. Der Umstand, daß Manson und seine Gruppe dem Hippie-Milieu entstammten, sicherte ihnen noch zusätzliches Medieninteresse - endlich war es offenbar geworden, wo dies alles hinführte. Manson selbst hatte diese Zusammenhänge mit dem Scharfblick des paranoiden Psychopathen sehr genau erkannt. Es kann den folgenden Ausführungen vorausgeschickt werden, daß Manson nicht dem elektrischen Stuhl überantwortet wurde, sondern eine lebenslange Freiheits­ strafe in St. Quentin verbüßt und der Presse noch heute Stoff für Stories lie­ fert. Als Manson 1967, aus dem Gefängnis entlassen, in San Francisco eintraf, existierte dort bereits ein satanistischer Untergrund. Eine Anzahl von Grup­ pen hielten untereinander Kontakt, obschon einige unter ihnen nicht satani­ stisch im strengen Sinne des Wortes waren. Doch klare Definitionen erweisen sich hier als wenig brauchbar. Das reflexive Niveau der meisten Gruppen war recht niedrig, und die Hauptinteressen waren für viele Rockmusik, Drogen, Machtspiele und extreme, bisweilen blutige Rituale. Weltanschauliche Kon­ zepte wurde je nach Laune übernommen und gewechselt - vom gnostisch-umgewerteten Satanismus abgesehen, fanden sich in dieser Szene alle Spielarten des Satanismus in den verschiedensten Mischungen. Über die weltanschauli­ chen Hintergründe vieler Gruppen ist zudem nicht viel bekannt, befriedigten doch die bizarren Riten bereits die Neugierde der meisten Berichterstatter. Auch für viele Mitglieder dieser Gruppen dürften solche Feinheiten uninter­ essant gewesen sein. Die Mehrzahl bezog sich mehr oder weniger auf die Leh­ ren Crowleys, jedoch auf eine recht oberflächliche Art und Weise. Ed Sanders, der diese Vorgänge - nicht ganz objektiv - in seinem Buch The Famify dargestellt hat, berichtet von einem "Kirke Order of the Dog-

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Kalifornische Kulte

blood", der in enger Verbindung mit einer weiteren Gruppe, die sich "Satan Slaves" nannte, gestanden haben soll. Der Kirke Order soll demnach von ei­ ner Engländerin, die sich für eine Reinkarnation der homerischen Circe aus­ gab, geleitet worden sein und bei Voll- und Neumond Tieropfer vorgenom­ men haben (schwarze Hunde, Katzen, Hähne und Ziegen), in deren Verlauf das Blut der Opfertiere getrunken wurde. Neben der Gestalt der Circe soll die Kultführerin auch die anderer griechischer Göttinnen angenommen haben, doch diese lose an antike Kulthandlungen anknüpfenden Rituale wurden in reaktiver Weise mit dem Satanismus verbunden. Ähnliche Rituale wurden in den höheren Graden der irregulären "Solar Lodge" des kalifornischen O.T.O. zelebriert. Diese Solar Lodge wurde von dem Philosophie-Dozenten Jean Brayton und seiner Frau Georgina geleitet. Die Loge besaß einige Häuser in der Nähe der University of Southern Cali­ fornia sowie einen Buchladen. Die sexualmagischen Riten der Loge - das Blut der geopferten Tiere wurde über einem koitierenden Paar vergossen - lehnten sich an jene Riten an, die Crowley in seiner Abtei bei Cefalu/Sizilien Anfang der 20er Jahre zelebriert hatte. Der kalifornische O.T.O. hat sich von Braytons Solar Lodge jedoch auf das entschiedenste distanziert. Ferner wird von Sanders ein gewisser Robert Beausoleil erwähnt, der später ein Mordkomplize Mansons werden sollte und zuvor in der Rockband des Underground Filmemachers Kenneth Anger aktiv war. Beausoleil soll sich ausschließlich von Fleisch ernährt sowie eine Schädelknochenpfeife ge­ raucht haben. Angeblich machte er Manson dann mit einem Frater P. be­ kannt, der Mitglied eines mit der Process Church verbundenen homosexuel­ len Thanatos-Kultes gewesen sein soll. Bereits dieser Frater P. (der im übri­ gen medizinisch und philosophisch graduiert war) soll noch vor Manson von sich behauptet haben, Gott und Satan in einem zu sein. Alle diese Gruppen waren extrem rassistisch eingestellt und viele huldig­ ten Hitler sowie dem Hakenkreuz. Gerade in den USA, wo Kriegsgegner von einflußreichen fundamentalistischen Strömungen gerne verteufelt und ihr Reich als Reich des Bösen gesehen wird, muß Hitler für in diffuser Protest­ haltung fiebernde Satanisten von nicht unbeträchtlichem Reiz gewesen sein. Stalin oder gar Breschnew hingegen, die ja auch einem Reich des Bösen vor­ standen, waren von weit geringerem Interesse. Um ihnen zu huldigen, waren selbst die ausgefreakten satanistischen Wüstendesperados noch zu gute Ame­ rikaner. Dennoch waren sowohl Beausoleil wie auch viele andere Satanisten bei dem berühmten Exorzierungsversuch des Pentagons mit von der Partie. Denn waren sie auch nicht für Love and Peace, so waren sie doch alle gegen das Establishment und gegen den Vietnamkrieg, den es führte. Die Hippie­

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Bewegung und die in ihrem Bannkreis sich entwickelnde satanistische Szene waren politisch grundlegend indifferent, der gemeinsame Nenner waren Be­ griffe wie "Bewußtseinserweiterung", die zwar durchaus politisch ausgelegt wurden, doch ohne eine tiefergehende Analyse. Die politische Indifferenz war durchaus jener der deutschen Luziferianer vergleichbar, wobei die gesell­ schaftlichen Voraussetzungen natürlich vollkommen andere waren. So waren die, die ohne wirkliche Kenntnis der Hintergründe der Faszination des Ha­ kenkreuzes erlagen, meist damit zufrieden, sich in autoritär organisierten Gruppen zusammenzuschließen und ihre Kriege im Underground statt in Vietnam auszutragen. Trotz alledem beschränkten sich die meisten Gruppen auf Tieropfer, schwarzmagische Rituale und eine letztlich gemäßigte Form der Brutalität. Von Mansons Gruppe abgesehen, sind Menschenopfer nur bei einer in den Santa Cruz Bergen operierenden Gruppe namens "Four Movement" nachzu­ weisen, zu der Manson ebenfalls Kontakte unterhalten hat. Das Four Movement huldigte einer reinen Form des reaktiven Satanis­ mus und hatte sich demgemäß der totalen Huldigung des Bösen verschrieben. Es wurden neben Tier- auch Menschenopfer dargebracht, die in Anlehnung an Edgar Allen Poe mit einem sechsfachen Pendelmesser getötet wurden: Zuerst drangen die längeren Messer in den Bauchbereich des auf dem Altar festgebundenen Opfers ein, bis dieses schließlich durch das kürzeste Messer, das sich in Höhe des Herzens befand, getötet wurde. Diese grausamen Riten sind einzig in der Geschichte des Satanismus, weder in früheren noch in spä­ teren Zeiten wurde ähnliches praktiziert. Doch wenn der Satanismus wirklich in reaktiver Weise verstanden wird, sind solche Exzesse durchaus folgerichtig. Spricht das Christentum Satan auch eine gewisse geistige Raffinesse zu, so be­ schreibt es ihn doch als das Nur-Böse, das an solchen Grausamkeiten ohne weiteres Gefallen finden kann. Die Einmaligkeit dieser Vorgänge zeigt jedoch auch, wie selten ein wirklich konsequenter reaktiver Satanismus ist. Handelt es sich dabei doch meist um unreflektierte Trotzreaktionen, die den christli­ chen Satan eher verharmlosen als ihm wirklich gerecht zu werden. Doch diese Exzesse der Grausamkeit zeigen letztlich nur, daß der Satanismus ins Bestiali­ sche abgleiten kann, wie jede andere Religion oder Ideologie auch. Zu all diesen Gruppen hatte Manson Kontakt, doch sein eigener integra­ tiver Satanismus wurde außerdem maßgeblich von Heinleins Science-Fiction Roman Stranger in a stränge world geprägt. Kaum anderswo verlief die Umset­ zung literarischer Anregung zu satanistischer Systembildung derart stringent. Dvorak bemerkt hierzu: Dessen Hauptheld [des Romans] ist der kannibalische und mit großen magi­ schen Fähigkeiten ausgestattete Marsmensch Valentin Michael Smith, der die

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Kalifornische Kulte

Eigenheiten der irdischen Zivilisation nur langsam ‘grokt’, seine Feinde ‘entleibt’, seine eigene Kirche gründet und sich schließlich für die ‘Wahrheit’ vom Mob, der ihn für Satan hält, selbst entleiben läßt. Seine Message aber lau­ tet: ‘Wer mich bekämpft, kämpft gegen sich selbst [...] denn du bist Gott [...] und ich bin Gott - es gibt keinen anderen.’ Manson (man-son = Menschensohn) identifizierte sich mit Mike, der von sich sagte: ‘Seht mich an! Ich bin von Men­ schen geboren.’ Er hielt sich für Gott, d. h. sowohl für Satan als auch für Chri­ stus, den er mit dem Kojoten verglich: ‘Christus am Kreuz, der Kojote in der Wüste - das ist ein und dasselbe. [...] Wie Christus ließ sich Manson von seinen Anhängern an ein Kreuz binden und auspeitschen, er bot seinen Gegnern an, ihn zu töten, und erst, nachdem sie diese Chance nicht ergriffen, wechselte er in die Rolle Satans und nahm sich das Recht, sie umbringen zu lassen.71

Manson betrachtete sich zweifellos als den "Schatten" (im Jungschen Sinne) der amerikanischen Gesellschaft und bemerkte nicht ganz zu unrecht, daß die anderen sich als "gut" wahrnehmen könnten, weil er es eben auf sich genom­ men hatte, schlecht zu sein. Da er aber übersehen hatte, daß ihn niemand um diesen Gefallen gebeten hatte, nahm im die Gesellschaft dies, ebenfalls nicht ganz zu unrecht, ziemlich übel. Die Presse aber war erfreut, soviel allseits ak­ zeptierte Empörung in einer Zeit artikulieren zu können (1969), in der der Vietnamkrieg die Nation gespalten hatte. Manson verfügte zweifellos über beachtliche suggestive Fähigkeiten, mit­ tels derer er seine Anhängerschaft an sich binden konnte. Da diese aber vor­ wiegend aus desillusionierten Hippies bestand, dürfte es auch nicht allzu schwer gewesen sein. Man hatte auf einen wie ihn gewartet, und da war er nun! Er nahm seine Anhänger mit auf seine "Magical Mystery Tour", die sie über LSD und Sexorgien zu ihrem wahren Selbst führen sollte. Sodann pro­ phezeite er ihnen den nahen Beginn des "Heiter Skelter", der chaotischen letzten Schlacht am Ende der Zeiten, während der die Schwarzen und die "Pigs" (die Reichen) ausgelöscht werden sollten. Vermeintlich für diese Schlacht gerüstet, begann die "Family" Mansons nun, Exponenten der Hol­ lywood High-Society zu ermorden, prominentestes Opfer dieses Wütens war die Schauspielerin Sharon Täte, Lebensgefährtin des Regisseurs Roman Polanski. Die Aufdeckung dieser Verbrechen rief in der Szene zunächst un­ gläubiges Entsetzen hervor, Entsetzen darüber, wie der große Aufbruch von 1966 derart in Wahnsinn und Gewalt enden konnte. Für die Rest-Hippies be­ gannen nun schwere Zeiten und manch einer trennte sich von seiner Haar­ tracht, um Nachstellungen zu entgehen. Mit der Verhaftung Mansons und der Zerschlagung der "Family” endete diese kurze Episode des gewalttätigen Post-Hippie-Satanismus. Zahlreiche friedvollere satanistische Gruppen existierten jedoch weiter, und auch der 149

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Vietnamkrieg zog sich noch etwas hin. Manson selbst hat zur Ausformung sa­ tanistischer Lehren jedoch nur wenig beigetragen, er war weniger ein satani­ stisches, denn ein soziales Phänomen. Er setzte sich den Widersprüchen der damaligen amerikanischen Gesellschaft aus und deutete seine innere Span­ nung mit traditionellen religiösen Begriffen. Wen wundert es, daß Satan die Oberhand behalten mußte? Wäre er psychisch etwas ausgeglichener gewesen, womöglich hätte er Erfolg gehabt. Der größte Teil der Post-Hippie-Satanisten war jedoch gemäßigter als die oben genannten Gruppen. A. Lyons zeichnete in seinem Buch The second coming ein treffendes Bild der amerikanischen Satanismus-Szene der späten 60er Jahre. Ihm zufolge huldigten die meisten der satanistischen Gruppen ei­ nem synkretistischen Satanismus, in dem sich eine mehr oder weniger roman­ tische Protesthaltung ausdrückte. Allgemein beobachtete er eine Verharmlo­ sung Satans, der meist nicht als erschreckend machtvoller Herrscher oder Re­ bell, sondern vielmehr als Freund und Verbündeter im Kampf um Eigenheit und Selbstverwirklichung gesehen wurde. Auf zwei von Lyons nicht näher be­ nannte Gruppen, die typisch für die damalige Szene waren, soll hier näher eingegangen werden. Lyons berichtet von einer Gruppe in Hollywood (wo der Satanismus über­ haupt einen goldenen Boden hat), deren Oberhaupt sich für eine Inkarnation Satans und Aleister Crowleys ausgab und von seinen Anhängern auch als sol­ che angesehen wurde. Der Tempelraum der Gruppe war mit diversen Skeletten und Mumien ausgestattet, auf die die Gruppe besonders stolz war, da die Beschaffung sol­ cher Accessoires heutzutage nicht eben leicht ist. Prunkstück war ein verdeck­ ter Altar, der aus einem mit Formaldehyd gefüllten Behälter bestand, der den Körper eines wahrscheinlich totgeborenen Säuglings enthielt. Dieser Körper soll der des Sohnes des Kultführers gewesen sein, den er in Anlehnung an den Film Rosemarys Baby Adrian nannte. Über die Mitglieder des Kultes und die von ihnen zelebrierten Rituale weiß Lyons folgendes zu berichten: The members of this group were predominantly young, hippie types. Many of the people, especially those in their late teens, were unemployed. Most, from what I could gather, were inveterate drug users, although the drugs that they did use were exclusively of the hallucinogenic variety and not ‘hard stuff such as he­ roin or cocaine. No drugs were used during the ceremonies, however, and seve­ ral warnings were issued to the members about ‘holding’. [...] The proceedings were relatively open, the continuity of the affairs being disrupted several times by the entrance of new people. Most of those attending for the first time were

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apparently brought in by a friend who was already a member - that was the manner by which I was admitted. The membership was not fixed for the rituals, the number in attendence varying from fifteen to twenty. The ceremony began with the reading of a poem by a young, long-haired youth. The reading was spontaneous and not a regular part of the service, although from what I could gather very little of the liturgy was formalized. The poem was Baudelaires ‘Litany to Satan’. [...] The romanticizing of the Devil has been a consistent historical pattern in Satan­ ism. Satan has been viewed as the champion of evil only in the sense of evil as defined by social consensus. In this group, he is pictured in the tradition of the old Luciferians, not as an intrinsically evil deity but rather as a glorious rebel, fighting with his fallen angels against tyranny and ignorance. As Satan, the ad­ versary, he is the advocate of change, the proud, defiant spirit willing to sacrifice all for his system of beliefs. As Lucifer, the light-bringer, he is the serpent who first tempted Eve to taste the bittersweet fruits of knowledge, the extremist who is ready to endure everlasting torment for the cause of truth. [...] After the reading of the poem, two men from the congregation approached the altar, and by candlelight [...] read an invocation to Satan, alternating stanzas in a question-answer fashion. Then the high priest, the great father of Adrian, dres­ sed in a black robe with an open faced hood, asked for the approach of four ini­ tiates who were to be sworn in that night. The initiation prerequisites were the students who had to have attended three previous meetings and had to have the desire to join the group of their own free will. Taking one of them at a time, he asked them to recite a prayer to Satan, actually more commanding than humble in tone, demanding that the god grant them all that they may desire. The master then, with a pin, pricked the finger of each, smearing blood on a piece of paper on which had been written each of their names [...] calling of course for the re­ nunciation of the chrism, the rejection of all former religious beliefs, and de­ manding that the novice dedicate himself ‘body and soul’ to the god and to ‘life, happiness, and pleasure’.72

Anderentags hätte diese Gruppe, so berichtet Lyons weiter, eine Invokation Astaroths durchgeführt: 'The Ritual was a conglomeration of magic from the Lemegeton [mittelalterliches Zauberbuch] spiced up with a bit of Crowleyan magic."73 Es ist zweifelhaft, ob diese Gruppe heute noch existiert, vergleichbare Gruppen dürften aber auch gegenwärtig in den USA und vor allem in Kali­ fornien aktiv sein. Lediglich die Haare der Mitglieder könnten im Zuge der Zeit etwas gekürzt worden sein. Lyons berichtet von einer weiteren Gruppe, deren Ritus enger an das klassi­ sche Vorbild der schwarzen Messe angelehnt ist. Das Oberhaupt dieser Gruppe war ein ehemaliger katholischer Priester. Der sexuelle Aspekt des 151

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klassischen Vorbilds blieb bei den Ritualen dieser Gruppe jedoch ausge­ klammert und auch eine blasphemische Herabwürdigung der katholischen Messe war nicht der Zweck dieser Rituale. Allein der Glaube an die magische Wirksamkeit der katholischen Messe und somit auch an die der Umkehrung dieser Messe soll für die Ritualgestaltung ausschlaggebend gewesen sein. So bemerkt Lyons: "The inverted pentagramm, with its two uppermost points jut­ ting up to affirm the duality, the magical symbol of Satan, was present, but the inverted crucifix, the blasphemous symbol of the Antichrist, was not."74 Zum umgekehrten Pentagramm ist anzumerken, daß es ein gebräuchli­ ches satanistisches Symbol ist, das nach allgemeiner Deutung für Konzentra­ tion, Materie und Abgrenzung steht und somit auch Symbol für die individua­ listische Selbstwerdung, die Entwicklung ‘gegen den Strom’ steht, die sich in­ nerhalb des Satanismus einiger Wertschätzung erfreut. Das Ritual selbst be­ schreibt Lyons wie folgt: The coven met in a semi-dark, candlelit room, which happened to be the livingroom of the high-priestess. The membership of the group consisted again primaly of the long-haired disenchanted variety of youth. On the plain, rather unassuming altar rested the traditional black candles, a bell used for purifying the air at the beginning of the ritual, and a vial full of water or wine, consecrated by the priest for the satanic ceremony. The high priest dressed in a black-hooded robe, began the ritual by ringing the bell, which signified the summoning of satanic spirits. Lighting the altar candles, he made Satan an offering of a prayer and invited the congregation to come forward to light candles and offer their own prayers. Following this, the Clarification was performed, the priestess stating formally the reasons for the meeting, and exclaiming its astrological propitiouness. Then came the Purification, the blessing of the congregation by sprinkling of the con­ secrated water, in order to purge the air of any ‘bad vibrations’ that might be present in the room. This was supposed to facilitate the entrance of the satanic presence. The Invocation followed the Purification, in which the word ‘Lucifer’ was substi­ tuted for ‘Christ’. Next came the reading of the missal, which was the Catholic missal written in latin, read back to front.75

Bemerkenswert ist, daß während dieses Rituals nicht Satan als Person, son­ dern vielmehr satanische Energien beschworen werden, das heißt jene Ener­ gien, die mit der Gestalt Satans korrespondieren. Die Weitsicht dieser Gruppe war stark von jenem kabbalistisch durchwirkten Okkultismus geprägt, der sich in vielen der abendländischen Geheimorden findet. Nur daß eben Sa­ tan in diesem Falle positive Eigenschaften zugeschrieben wurden. Die Weit­ sicht war im großen und ganzen hermetisch und auch die okkultistische Lehre

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der verschiedenen Ebenen - materielle Ebene, astrale Ebene und spirituelle Ebene - wurde übernommen. Satan galt dabei einfach als der Herrscher der materiellen und der astralen Ebene, während Gott als transzendent angese­ hen wurde. Insofern galt Satan auch nicht als Feind Gottes; er wurde vielmehr als großer Magier betrachtet, der für die praktische magische Arbeit von grös­ serem Nutzen war als der transzendente Gott. Trotz der umgekehrten katholi­ schen Messe kann in diesem Falle also nicht von einem reaktiven, sondern von einem synkretistisch gebrochenen Satanismus gesprochen werden, zumal die Gruppe bei anderen Gelegenheiten auch Götter und Wesenheiten be­ schwor, die allgemein nicht den satanischen Gefilden zugerechnet werden. Die Depersonalisierung Satans und anderer Gottheiten ist im übrigen typisch für jene aufgeklärte Form eines experimentellen Okkultismus, der zwischen psychologischer Selbsterfahrung und magisch-hermetischer Bewußtseins­ schulung angesiedelt ist. Die Namen der Götter und Wesenheiten sind hier im Prinzip austauschbar und können mittels okkultistischer Korrespondenzta­ bellen variiert werden. So bedient man sich zwar noch traditioneller religiöser Begriffe, der Gehalt dieser Begriffe hat sich jedoch geändert. Es ist eine Reli­ gion des säkularisierten Bewußtseins, das an die Personalität des Göttlichen nicht mehr zu glauben vermag, ohne jedoch auf traditionelle rituelle Aus­ drucksformen verzichten zu wollen. Dies ist besonders für den modernen Ok­ kultismus charakteristisch, in dem Satan jedoch keine allzugroße Rolle spielt. Vor dem Hintergrund einer wie auch immer gearteten Protesthaltung konnten sich aber vor allem in Kalifornien durchaus auch satanistische Spielarten dieser Form des Okkultismus entwickeln. Die Militanz dieser Kulte hängt dabei weniger von den weltanschaulichen Elementen als von der Dispo­ sition ihrer Mitglieder ab. Lyons sieht in der verstärkten Hinwendung zu Satan ein Symptom für die zu­ nehmende Verzweiflung und Orientierungslosigkeit in der modernen ameri­ kanischen Massengesellschaft, einen verzweifelten Versuch, sich ein Stück In­ dividualität zu bewahren, der allgemeinen Nivellierung zu entkommen. Er belegt dies u. a. mit der Aussage eines Ordersoberhauptes, das ihn darauf hinwies, daß es täglich etwa zwei Anfragen von Leuten bekäme, die wissen wollten, ob er Seelen kaufe. Lyons bemerkt dazu: For one who believes that he is in fact the possessor of a soul, being willing to sell it would indicate the ultimate state of desolation and despair. In a society which has grown too massive to care, such a man must feel so small and insigni­ ficant that to him a soul represents a somewhat negligible quantity. The soul being part of the whole self, and the self being insignificant, the soul must ne­ cessarily be insignificant. Such a man feels that the Devil is interested in him

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Der zeitgenössische Satanismus

and his soul, then, God bless him, he is welcome to it, for he probably is the only one that is.76

Diese Aussagen gelten allerdings nicht unbedingt auch für jene, die aktive Mitglieder eines satanistischen Kultes sind. Die Bereitschaft, dem Teufel seine Seele zu verkaufen, ist wohlbemerkt keine spezifisch moderne. Der Teufelspakt ist nachweislich seit mehr als tausend Jahren im Schwange und manchen mag es verwundern, daß dem auch heute noch so ist. Doch glaubt der moderne Mensch ja auch noch an den christlichen Gott, nicht mehr jeder, aber die Zahl derer, die an die Heilige Dreifaltigkeit glau­ ben, ist deutlich höher als die jener, die ihre Seele dem Teufel verhökern wollen. Und solange das Christentum in seiner gegenwärtigen Form existiert, wird es auch einen volkstümlichen, reaktiven Satanismus geben. Sicher ist die Bereitschaft, seine Seele zu verkaufen, ein Zeichen der Verzweiflung, doch kein spezifisch modernes. Der Teufelspakt ist kein neues Phänomen, verzwei­ felt waren die Menschen immer.

Es spricht nichts dafür, daß der Satanismus eine Religion der Verzweiflung ist, nicht mehr als jede Religion in gewissem Maße ein Zufluchtsort für Ver­ zweifelte ist. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen über die Motivation zur aktiven Teilnahme an satanistischen Kulten sind bislang noch nicht durch­ geführt worden, lediglich im Bereich des Jugendsatanismus ist dies in jüngster Zeit geschehen, doch lassen sich die diesbezüglichen Resultate in keiner Weise auf den hier behandelten organisierten Satanismus übertragen.Doch Lyons liegt es fern, seine allgemeine Einschätzung ausnahmslos auf sämtliche satanistische Gruppierungen zu beziehen. So hebt er hervor, daß gerade die größte satanistische Vereinigung dieser Zeit, die "First Church of Satan", gänzlich anderen Charakters sei.

Anton Szandor La Veys First Church of Satan

Mit A. S. La Veys "First Church of Satan" begann in der Tat ein neues Kapitel des Satanismus. La Vey war der erste, der einen achristlichen autarken Sata­ nismus begründete. Dabei brach er radikal mit den bisherigen Spielarten des Satanismus, auch wenn er sich ungehemmt und bisweilen auch unreflektiert

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Anton Szandor La Veys First Church of Satan

traditioneller satanistischer Klischees bediente. Zwar gründete er seinen Kult in San Francisco, der Hochburg des modernen Satanismus, doch distanzierte er sich von allen anderen dort ansässigen satanistischen Gruppen und vermied jeden Kontakt mit ihnen, soweit dies möglich war. La Veys Protest richtete sich lediglich gegen Heuchelei und Unehrlich­ keit, nicht jedoch gegen das amerikanische Gesellschaftssystem und das Esta­ blishment. Dementsprechend unterschied sich die Anhängerschaft seiner Kir­ che deutlich von der der meisten anderen amerikanischen Satanskulte. Sie be­ stand vorwiegend aus jungen Intellektuellen und Geschäftsleuten, dazu ge­ sellte sich einige Hollywood Show-biz-Prominenz, allen voran die wasserstoff­ blonde Jane Mansfield. Kurz gesagt, die Mitgliedschaft der First Church of Satan bestand aus mehr oder weniger erfolgreichen und gesellschaftlich inte­ grierten Individuen. Dies wurde durch strenge Auswahlkriterien und hohe Mitgliedsbeiträge gewährleistet. Sein Ziel, die gesellschaftliche Elite in seiner Church of Satan zu ver­ sammeln, dürfte La Vey wohl nicht erreicht haben, doch handelte es sich bei der Gemeinschaft zweifellos um die bis dahin bestorganisierte und mitglieder­ stärkste satanistische Vereinigung. La Vey selbst sprach von über 7000 Mit­ glieder, die über die ganze Welt verteilt seien, doch dürfte dies maßlos über­ trieben sein. Dr. Dr. Michael Aquino, einer der ranghöchsten Adepten der Church of Satan und späterer Begründer des "Temple of Set", der aufgrund seiner internen Verwaltungstätigkeit über genaue Kenntnisse der Mitglieder­ zahlen verfügte, sprach von ca. 300 Mitgliedern. Da die Fluktuation groß war, kann man über die Jahre hinweg zu einer erheblich höheren Zahl von Leuten kommen, die irgendwann einmal Mitglieder der Church waren, wobei jedoch auch von einer großen Anzahl "Karteileichen" ausgegangen werden muß. Doch selbst mit einer Mitgliederzahl von 300 wäre die First Church of Satan noch immer die mit Abstand größte satanistische Vereinigung, die bis dahin existierte. La Vey selbst kann einen höchst ungewöhnlichen Lebenslauf vorweisen. Bereits als Jugendlicher kehrte er Familie und Schule den Rücken und ver­ dingte sich bei einem Wanderzirkus als Helfer. Bald schon stieg er zum Lö­ wenbändiger auf, die Vorliebe für Großkatzen sollte er lange beibehalten. Noch als Oberhaupt der First Church of Satan hielt er sich einen ausgewach­ senen Löwen als Haustier, den er nach Protesten seiner Nachbarn allerdings an den Zoo von San Francisco abtreten mußte. Des Wanderlebens müde, brachte er sich schließlich das Orgelspielen bei und verdiente seinen Lebens­ unterhalt als Organist bei verschiedenen Clubs in San Francisco. Als ihn seine Frau Diane schließlich bedrängte, sich einen solideren Broterwerb zu suchen,

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Der zeitgenössische Satanismus

besuchte er die Polizeiakademie und erhielt bald darauf einen Job als Polizei­ photograph in San Francisco. Die Erfahrungen, die er hier machte, veränder­ ten seine Einstellung den Menschen gegenüber grundlegend. Er wurde mit Mord und Verbrechen konfrontiert und lernte den Menschen, nach eigener Aussage, als wildes Tier kennen, das aufgrund seiner Intelligenz gefährlicher und rücksichtsloser sei als seine wildlebenden Mitgeschöpfe. Parallel dazu vertiefte er seine okkulten Studien - schon immer war er von diesen Dingen auf eine kritische Art fasziniert gewesen - und gründete 1965 einen okkulten Zirkel in San Francisco, aus dem 1966 schließlich die First Church of Satan hervorging. Bis 1970 beschränkte er sich auf lokale Ak­ tivitäten, von 1970 bis 1974 weitete er die Aktivitäten der Church dann auf ganz Nordamerika aus und versuchte auch in Europa Fuß zu fassen. 1975 kam es zum Bruch. Durch zahlreiche interne Auseinandersetzungen zermürbt, löste er die Organisationsstrukturen der First Church of Satan auf, nahm die Führung wieder alleine in die Hand und erklärte alle Grade der Church fortan für käuflich. Seine offizielle Begründung war, daß zuviele Sata­ nisten ihre ganze Initiative auf interne Arbeit konzentrierten und dabei ihr Fortkommen in der Welt vernachlässigten. Ein Satanist aber zeichne sich da­ durch aus, daß er Erfolg in der Welt habe, eine Kirche Satans könne kein Rückzugsgebiet für Gescheiterte sein. Wer also das Geld habe, sich einen Grad der Church of Satan zu kaufen, der sei eben aufgrund dieser Tatsache auch würdig, diesen Grad zu erhalten. Das Geld floß selbstverständlich in die Privatschatulle La Veys. Die Priesterschaft der First Church of Satan, die schwierige Prüfungen zu bestehen hatte, um in diesen Rang erhoben zu werden, war über diese Vor­ gänge entsetzt. Da die Atmosphäre aufgrund ideologischer Differenzen oh­ nehin seit längerem gespannt war, verließ sie nahezu geschlossen die Gemein­ schaft und schloß sich unter der Führung des dienstältesten Magisters Dr. Dr. Michael Aquino zum neugegründeten "Temple of Set" zusammen. In der Folgezeit verlor die First Church of Satan mehr und mehr an Sub­ stanz an den "Temple of Set", so daß La Vey heute mehr oder weniger ein Einmannunternehmen führt und Interviews gibt. In der Hollywood-CocktailParty-Szene ist es jedoch immer noch beliebt, sich mittels Visitenkarten vor­ zustellen, die einen als Mitglied der berüchtigten First Church of Satan aus­ weisen. Das Gradsystem, das La Vey so konsequent außer Kraft gesetzt hatte, wurde kurz zuvor (1975) von Michael Aquino, damals noch Magister der Church, in der internen Zeitschrift Cloven Hoof wie folgt beschrieben:

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An ton Szandor La Veys First Church of Satan

Satanist 1°: Wenn die Kirche [die First Church of Satan] einen Bewerber akzep­ tiert, dann gestattet sie jener Person das Ausmaß ihrer Macht, ihres Einflusses und ihrer Reputation. Weil die Mehrheit der Satanisten persönliche Interessen nicht direkt in Verbindung mit der Kirche als Organisation verfolgen, ist der 1°, der die Vorteile der Mitgliedschaft bringt und umgekehrt keine Pflichten bein­ haltet, ideal für diese Personen. In diesem Kontext ist er ein Ende in sich selbst und sollte nicht als bloßer Trainings’-Grad betrachtet werden. Der Titel des Grades dient dazu, dies zu betonen; man ist entweder Satanist oder nicht. Hexe [witch] oder Zauberer [warlock] 11°: Während der T die Akzeptanz der Bestätigung durch die Kirche für ein bestimmtes Individuum impliziert, be­ scheinigt er nicht umgekehrt die Bestätigung der Kirche für jenes Individuum, daß es sich um einen effektiven und vorzüglichen satanistischen Magier han­ dele. Wenn wir eine solche Bewertung vornehmen und zu dem Schluß gelangen, daß der fragliche Satanist geschickt im Umgang mit den Inhalten der Bibel Satans [The satanic Bible, 1970 von La Vey veröffentlicht] ist, dann ist der 11° verdient. In gewisser Weise ist dies die höchste Anerkennung, die innerhalb ei­ nes echten satanistischen Ordens möglich ist, weil Satanismus durch eine Man­ nigfaltigkeit individueller Techniken charakterisiert wird. Ein einziges Mal ist die Kirche zufriedengestellt, daß ein gewisses Mitglied ein fähiger Magier ist. Das ist alles, was darüber zu sagen wäre.

Priester oder Priesterin von Mendes 111°: In anderen Kirchen ist der Priester oder Geistliche ein halb- oder ganzprofessioneller Organisierer, Demagoge und Zirkusdirektor. Man betrachtet ihn auch als Hirte, der für moralische oder spi­ rituelle Führung seiner Herde verantwortlich zu zeichnen hat. Der satanistische Priester ist gänzlich anders, was dieses Konzept anbelangt. Er wird zur Weihe nicht von anderen menschlichen Wesen, sondern von den Mächten der Finster­ nis erwählt, die seine Charakteristika und Erlangungen in einer solch glänzen­ den Weise akzentuieren, daß er von dem Konzil der Neun [höchstes Organ der Kirche] als Erwählter identifiziert wird. Einmal von den Neun als Erwählter de­ klariert, hat ein Individuum die Wahl, die formelle Ordination anzunehmen oder abzulehnen. Falls es ausschlägt, verbleibt es in voller Kontrolle seines Willens und fährt fort in seiner normalen Existenz. Sollte es akzeptieren, dann wird es finden, daß sein Leben auf unvorhergesehene und oftmals befremdende Bahnen bugsiert wird, so wie die Mächte der Finsternis den Willen unseres Herrn Satan durch es realisieren. Gleichzeitig wird es Mächte, die es keinem Hindernis erlauben, vor ihm zu bestehen, handhaben lernen. Die Priesterschaft Satans führt ihren Namen auf die antike ägyptische Priesterschaft von Set zu­ rück, welche in der Nähe von Mendes und Tanis während der neueren Zeiten des Reiches ihr Zentrum hatte. Magister IV°: Dieser Grad wird vom Hohepriester in einer von drei Ernennun­ gen erteilt: Meister des Gewölbes (Magister Caverni), Meister des Tempels

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Der zeitgenössische Satanismus

(Magister Templi) oder Großmeister (Magister Magnus). Der Grad und seine Ernennungen beziehen sich auf den Sachverstand und Wirkungskreis magischer Einflußnahme des Empfängers. Magus V°: Dies ist der höchste Grad, der innerhalb der Autorität des Mandats der Kirche Satans verliehen ist, da er den Willen des Fürsten der Finsternis selbst reflektiert. Gegenwärtig wird er nur von Anton Szandor La Vey selbst ge­ führt. Wie der IV° ist der V° ein Wertmaßstab für eine Einzelperson und nicht die Ernennung für eine organisatorische Funktion.77

Man kann sich vorstellen, wie schockiert die Priesterschaft des 111° und IVO über La Veys Entscheidung, die Grade fortan zu verkaufen, gewesen sein muß. Doch dürfte die Tendenz, Satan als eine wie auch immer höhere We­ senheit aufzufassen, wie sie sich in diesem Text ausmachen läßt, La Vey ande­ rerseits auch nicht allzusehr behagt haben. Denn La Veys Satanismus war ein ganz und gar atheistischer und diesseitsbezogener (die deistischen Überle­ gungen, die La Vey anstellte, waren für die Praxis ohne Relevanz). In seiner Satanic Bible legte La Vey die Grundzüge seiner Lehre dar, dabei bediente er sich zwar traditioneller Begriffe, die Lehre aber war ganz und gar neu. Die vier Kapitel des Buches sind den vier teuflischen Gestalten Satan (Herr des Feuers), Luzifer (Herr der Luft), Belial (Herr der Erde) und Leviathan (Herr des Wassers) zugeordnet. Diese Dämonen propagieren nun aber einen irdi­ schen und antimystischen Hedonismus. Das Christentum wird wie alle ande­ ren Religionen auch als Lügengespinst bezeichnet, das nur den Zweck habe, die Menschen zu täuschen und ihnen die Lebensfreude zu vergällen. Tndulgence not compulsion" ist das Motto La Veys. Satan ist ihm nur Syn­ onym für die natürliche Lebenskraft und Lebensfreude, die sich frei von allen religiösen Beschränkungen auszuleben und durchzusetzen versteht. Ganz im Sinne Stirners verweist La Vey darauf, daß nur der, welcher sich von allen ideellen Einschränkungen frei zu machen versteht, Herr seiner selbst sei und sein Leben eigenverantwortlich in die Hand zu nehmen vermag. Satan ver­ körpert für ihn all das, was im Christentum und in allen anderen Religionen verpönt ist. Darum macht er ihn zu seinem Zeugen und definiert den Sata­ nismus als Gegenkonzept zu jeder traditionellen Religion. Um dies zu unter­ mauern, führt er eine lange Liste von Wesenheiten auf, die in den verschie­ denen Religionen die Position einnehmen, die Satan in der christlichen inne­ hat. Wiewohl dies religionswissenschaftlich gesehen gewiß keine korrekte Vorgehensweise ist, zeugt sie doch vom universellen Anspruch der First Church of Satan. La Veys Satanismus ist somit nicht nur ein Gegenkonzept zur christlichen Religion, sondern eines zu allen Religionen. Überzeugt davon, daß alle Reli158

Anton Szandor La Veys First Church of Satan

gionen und Philosophien nur der Phantasie des Menschen entsprangen, fragt er sich, warum nie eine Religion erdacht worden sei, die den Menschen so ak­ zeptiert, wie er nun mal ist. Eine solche Religion sollte sein Satanismus sein. La Vey wählte Satan auch deshalb zum Symbol, weil dieser nach christlicher Lehre all das verkörperte, was das Leben lebenswert macht; so seien es ge­ rade die sieben Todsünden, die dem Menschen Genuß verschafften: Die sieben sogenannten Todsünden der Christenheit sind Neid, Stolz, Gier, Wut, Völlerei, Wollust und Müßiggang. Der Satanismus ist Fürsprecher jener Sünden, da sie alle letztlich zu physischem und psychischem Wohlbefinden füh­ ren. Für den Satanisten ist Gier lediglich ein Gefühl, das ihm bedeutet, mehr zu wollen als er hat. Neid ist einfach der Wunsch, ähnliche Dinge zu besitzen, die andere eben schon haben. Gier und Neid sind Motivationsfaktoren des Ehrgei­ zes, und ohne sie wäre wenig Bedeutsames überhaupt entstanden oder erreicht worden. Völlerei bedeutet simpel, mehr zu essen als man eigentlich zum (über)leben braucht. Wenn er sich bis zur Fettleibigkeit überfressen hat, dann wird er sich von einer anderen Sünde - Stolz - leiten lassen, um wieder ein Er­ scheinungsbild zu gewinnen, das ihm selbst wiederum Selbstrespekt vermittelt. Jeder, der ein Kleidungsstück nicht nur zum Zwecke der Bedeckung seines Körpers und des Schutzes vor der Unbill des Wetters trägt, macht sich des Stolzes schuldig. [...] Es gibt nicht eine Person auf dieser Erde, die auf Schmuck gänzlich verzichten könnte und würde. [...] Widerstrebend morgens aufzustehen, soll man sich des Müßiggangs schuldig machen. Und wenn man lange genug im Bett liegen bleibt, dann mag man sich im Begehen einer anderen Sünde vorfinden - Wollust. Wer auch nur einen blas­ sesten Schimmer von sexuellem Begehren verspürt, wenn er jemand anderen anstarrt, der ist der Wollust schuldig. Um die Fortpflanzung der Menschheit zu sichern, gab die Natur dem Menschen den zweitstärksten Trieb, Wollust; der erste ist die Selbsterhaltung. [...] In Jedermanns Leben ist der Selbsterhaltungstrieb das Stärkste. Und dies führt uns zur letzten der sieben Todsünden - Wut. Ist es nicht unser Selbsterhaltungs­ trieb, der uns aufrüttelt, wenn jemand uns verletzt, wenn wir ärgerlich genug werden, um uns vor weiteren Attacken zu schützen? Ein Satanist lebt nach dem Motto ‘Wenn dir einer auf die linke Backe schlägt, dann schlag ihm eine auf die seine!’ Lassen Sie nichts Falsches durchgehen. Seien Sie wie ein Löwe am Wegrand; bleiben sie auch im Zurückweichen und in der Niederlage gefähr­ lich!78

Dies ist nun sicher eine arge Vereinfachung des Problems des Bösen; doch es war nie das Anliegen La Veys, schwierige theologische oder philosophische Probleme zu lösen. Er sah im Menschen einfach nur ein weiteres Tier, das vom Selbsterhaltungstrieb und vom Sexualtrieb beherrscht war und sich im Dschungel der Welt durchsetzen mußte und dabei, wenn möglich, noch eine

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Menge Spaß haben wollte. Er bejahte den Kampf ums Überleben und es ging ihm nur darum, unnötigen Ballast über Bord zu werfen. Seine eigentliche Stärke ist nicht die philosophische Reflexion, sondern das Entwerfen ein­ drucksvoller Rituale. Aufgeräumt hatten in seinem Sinne bereits Stirner und Nietzsche, La Vey genügte es, den Satanismus so offensiv zu vertreten, wie dies kaum einer vor ihm getan hatte. Um innere Widersprüche oder zu kurz geratene Argumentationen kümmerte er sich wenig. In gewisser Weise vertrat La Vey eine "Zurück-zur-Natur"-Philosophie, wobei er die Natur weder so idealistisch sah wie Rousseau, noch so abgrund­ tief böse wie de Sade. Die Natur, wie La Vey sie sieht, ist rücksichtslos und brutal, doch ohne Falsch und Bosheit, ohne Sünde und ohne höhere Bestim­ mung. Sicherlich ist dies eine realistischere Sicht der Dinge, als die der beiden französischen Aufklärer - es ist dies eben eine Sicht, wie man sie von einem modernen Skeptiker erwarten kann. Aus dieser Hochschätzung einer natürlichen Vitalität ergeben sich Ein­ stellungen, die dem Klischee eines Satanisten in manchem zuwiderlaufen So ist es eines der Dogmen der Church of Satan, daß Kindern und Tieren kein Leid zugefügt werden darf. Da sich in ihnen die unverdorbene natürliche Vi­ talität noch unverfälscht ausdrücke, stünden sie in gewisser Weise über den von der Zivilisation bereits verbogenen erwachsenen Menschen; diese sollten daher Kinder und Tiere achten und von ihnen lernen. In diesen Zusammenhang paßt auch, daß La Vey kein Loblied auf die Sünde der Lüge singt. Sie ist ihm so ziemlich als einzige Sünde verhaßt und es bleibt in der Satanic Bible Satan und Luzifer vorbehalten, Lüge und Heuchelei zu geißeln - im Grundsätzlichen wohlgemerkt. Übertreibungen und Schau­ spielereien, die sich im Überlebenskampf nun mal als notwendig erweisen können, waren für La Vey ein legitimes Mittel, sofern man sich nicht selbst belog (denn Selbsttäuschung ist eine Schwäche, die sich ein Satanist nicht lei­ sten kann). Die satanistischen Lebensregeln, die La Vey propagierte, sind denn auch keine dezidiert unmoralischen Regeln, wie etwa jene, die einst Erhard vor­ schlug. Es sind eher die Maximen eines dickfelligen, mit Ellbogen versehenen Individualisten, eines amerikanischen Selfmade-Man von robuster und offe­ ner Art. Nicht ganz zu Unrecht verweist er darauf, daß seine satanistischen Regeln den Menschen so nehmen, wie er im allgemeinen ist, und daß viele er­ folgreiche Menschen nach eben jenen Regeln leben, obschon sie sich zum Christentum bekennen. Seine neun Satanic Statements lauten: 1. Satan represents indulgence instead of abstinence! 2. Satan represents vital existence instead of spiritual pipe dreams!

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Anton Szandor La Veys First Church of Satan

3. Satan represents undefiled wisdom instead of hypocritical selfdeceit! 4. Satan represents kindness to those who deserve instead of love wasted to ingrates! 5. Satan represents vengeance instead of turning the other cheek! 6. Satan represents responsibility to the responsible instead of concern for psychic vampires! 7. Satan represents man as just another animal - sometimes better, more of­ ten worse, than those that walk on all-fours who, because of his "divine spi­ ritual and intellectual development" has become the most vicious animal of all! 8. Satan represents all of the so-called sins, as they all lead to physical, men­ tal, or emotional gratification. 9. Satan has been the best friend the Church ever had, as He has kept it in business all these years!

Dieser Beschreibung Satans sind elf Lebensregeln des Satanisten beigesellt, genannt die elf satanischen Regeln der Erde: 1. Ungefragt meine und rate nie. 2. Redest du, sei dir sicher, daß man dir zuhören will. 3. Entweder achte auf einem fremden Hof den dortigen Herrn oder geh nicht dorthin. 4. Stört jemand dich auf deinem Hof, verjag ihn gnadenlos. 5. Geh nicht mit jemand ins Bett, bevor du nicht eindeutig dazu aufgefordert worden bist. 6. Kümmre dich keinen Deut um etwas, was dich nichts angeht; es sei denn, etwas wäre eine Last für den andern und er bettle um Entlastung davon. 7. Bestätige und anerkenne die Macht der Magie, wenn du sie erfolgreich zur Erlangung deiner Wünsche eingesetzt hast. Verleugnest du ihre Macht, nachdem du sie mit Erfolg hervorgerufen hast, verlierst du alles, was du erschaffen hast. 8. Scher dich einen Dreck um etwas, wovon du selbst nicht auch betroffen bist. 9. Verletze keine kleinen Kinder. 10. Nicht-menschliche Tiere töte nicht, ohne von ihnen vorher angegriffen worden zu sein oder sie essen zu wollen. 11. In der Öffentlichkeit belästige niemand. Belästigt jemand Dich, sag ihm, er solle damit aufhören. Tut er es nicht, vernichte ihn.79

Ein etwas herber Charakter ist solch ein Satanist, doch kein durch und durch schlechter Kerl. Nicht eine logisch einwandfreie Unmoral ist hier angestrebt, es handelt sich vielmehr um recht praktische Überlebensregeln - der Erhardsche satanische Charakter mag zwar existieren, doch der würde sich niemals

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Der zeitgenössische Satanismus

in aller Öffentlichkeit als Satanist bezeichnen, wie La Vey dies tut. Darin eben zeigt sich der autarke Charakter von La Veys Satanismus, daß es ihm nicht darum geht, den Moralkodex der christlichen Religion einfach umzukehren, sondern darum, eigenständige Regeln zu entwickeln. Diese fielen höchst pro­ fan aus, wie es der profanen Weitsicht La Veys eben entsprach. Warum aber dann, so könnte man fragen, überhaupt ein Kult, eine Kir­ che, warum ein Satanismus? Täte es eine bloße hedonistische Lebensphiloso­ phie nicht auch? La Vey entgegnet hierauf: Der Mensch hat ein Ritual und Dogma nötig. Aber da gibt es kein Gesetz, daß ein nach außen gekehrter Gott vonnöten ist, um sich rituell und zeremoniell in eines Gottes Namen ausgeführt und verrichtet zu engagieren. Könnte es sein, daß, wenn er den Graben zwischen sich selbst und seinem ‘Gott’ zuschüttet, er dann den Dämon des Stolzes hervorkriechen sieht - jene wahrhafte Verkörpe­ rung von Lucifer, der in seiner eigenen Mitte erscheint? Er kann nicht länger sich selbst als zweigeteilt, Fleisch und Geist, ansehen, sondern er sieht die bei­ den Teile als Gemisch eins geworden. Und dann entdeckt er zu seinem fürch­ terlichsten Entsetzen, daß die Teile nur Fleisch sind - UND ES AUCH IMMER WAREN! Daraufhin haßt er sich selbst, bis zu seinem Tode, tagaus tagein oder er erfreut sich an dem, was er ist! Sofern er sich selbst haßt, sucht er sich neue und komplexere spirituelle Wege der ‘Erleuchtung’ in der Hoffnung aus, sich wiederum auf seiner Suche nach noch stärkeren und noch mehr nach außen gekehrten ‘Göttern’ aufzuteilen, um seine elende Hülle zu geißeln. Sofern er sich akzeptiert, doch anerkennt, daß Ritual und Zeremonie bedeutsame Hilfsmittel sind, damit seine erfundenen Religionen mißbräuchlich seinen Glauben als eine Lüge aufrechterhalten, dann ist es auch DIESELBE RITUALFORM, die seinen Glauben als eine Wahrheit stützen wird - nämlich das primitive Heidentum, das seinem Bewußtsein seiner eigenen Herrlichkeit die eigentliche Substanz hinzufügen wird.80

Der Versuch, auf solch skeptischem Fundament einen satanistischen Kult zu errichten, birgt natürlich einige Probleme in sich. Zum einen ist das Angebot an säkularen Selbsterfahrungstechniken heutzutage enorm, und selbst die Transzendenz ist bereits zu großen Teilen säkularisiert. Vielen mag ein Kult wie der von La Vey erstrebte wie ein halbherziger Kompromiß erscheinen warum dann nicht gleich Psychodrama oder konfessionsloser Yoga? Oder wenn schon die Magie nicht zu kurz kommen soll, warum dann nicht experi­ menteller Freistil-Okkultismus ganz ohne Dogma, wie er etwa von der jüngst entwickelten Chaos-Magie praktiziert wird? Trotz der von La Vey behaupte­ ten hohen Mitgliederzahlen der First Church of Satan - wenn diese denn stimmen - entschied sich doch der größte Teil der potentiellen Church-of-Satan-Mitglieder für eine dieser Möglichkeiten. Jenen aber, die speziell am Sa162

An ton Szandor La Veys First Church of Satan

tanismus interessiert waren, ging die Entmythologisierung Satans, derer La Vey sich befleißigte, doch etwas zu weit. So bemerkte Michael Aquino rück­ blickend: Somit gab die Philosophie der Church of Satan ein seltsam ungereimtes Ge­ präge ab: Auf der einen Seite bekannte man sich zu einem psychodramatischen Atheismus, auf der anderen Seite betonte man die buchstäbliche Existenz von dämonischen Charakteren, die die Fähigkeit hätten, Invokationen zu hören, und die disponieren könnten, auf Evokationen zu antworten.81

In der Tat verhielt es sich so, daß der größte Teil der Priesterschaft, der 1975 zum Temple of Set überwechselte, dessen metaphysisches Satanismus-Konzept ohne weiteres akzeptierte, während die meisten der einfachen Mitglieder der First Church of Satan dieser nur beigetreten waren, weil sie der Gedanke, einer solchen Vereinigung anzugehören reizte und die Rituale sie ansprachen. Echte Geistesverwandte fand La Vey nur wenige. Gehört also die reine Lehre Anton Szandor La Veys heute bereits schon fast der Vergangenheit an - La Vey selbst mag bisweilen schon fast wie ein le­ bendes Fossil anmuten -, so haben einige seiner Haltungen den modernen Sa­ tanismus doch grundlegend geprägt. So vor allem seine pragmatische politi­ sche Haltung und sein profaner, doch kerniger Individualismus. Seiner hedonistischen Grundhaltung entsprechend sieht La Vey in der politischen Rebellion keinen Sinn. Es komme für den Satanisten vielmehr darauf an, den größtmöglichen Nutzen aus den Wohltaten der Gesellschaft zu ziehen, ohne sich von dieser andererseits vereinnahmen zu lassen. Man müsse eben in der Lage sein, sich innerhalb der gesellschaftlichen Rahmenbedin­ gungen zu bewegen und zu wildern, ohne die Gesetze zu brechen. Warum hätte La Vey auch gegen eine Gesellschaft rebellieren sollen, die ihm alle Freiheiten ließ und deren Schmähungen nur willkommene Publicity darstell­ ten? Der Individualismus wiederum war für La Vey keine metaphysische An­ gelegenheit, sondern einfach ein Zeichen der Lebensfreude und Selbstach­ tung, so etwa, wenn er proklamierte, daß der höchste satanistische Feiertag für jeden Satanisten stets der eigene Geburtstag sei. Daß dem in der Rangfolge der Feiertage die traditionellen ‘satanischen’ Festtage Walpurgisnacht und Halloween folgen, mag manchem nun wie­ derum seltsam ungereimt erscheinen.

Die von La Vey gelehrten magischen Techniken waren recht primitiv und blieben weit hinter den reflektierten Systemen, wie sie etwa von Okkultisten wie Crowley oder Spare in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt 163

Der zeitgenössische Satanismus

wurden, zurück. Im großen und ganzen handelte es sich dabei um simple Ma­ nipulationstechniken sowie um die Arbeit mit Wünschen, die mittels emotio­ naler Energie und psychodramatisch aufgebauten Ritualen ihrer Verwirkli­ chung nähergebracht werden sollten. Die einfacheren Techniken der Verhal­ tenstherapie, die direkte Ergebnisse zu zeitigen versprachen, lagen ihm dabei mehr als die langwierigen introspektiven Methoden der Psychoanalyse oder der Tiefenpsychologie. Es ging ihm ja nicht darum, den Menschen zu verän­ dern, sondern darum, ihn zur Erfüllung seiner menschlichen und allzumensch­ lichen Wünsche zu befähigen, ihn für den täglichen Überlebenskampf fit zu machen. Eines der wichtigsten Rituale war das sogenannte "Shibboleth-Ritual", bei dem es darum ging, daß eine von einem Teilnehmer gehaßte oder ge­ fürchtete Person auf parodistische Art dargestellt und schließlich vom als ‘Satan’ agierenden Ritualleiter ins Kreuzverhör genommen und dabei zer­ pflückt wurde. Auf diese Weise sollten Angst- und Haßgefühle abgebaut wer­ den. Bei einer anderen Übung mußten sich die Teilnehmer mit einer solchen Person identifizieren, um so zu lernen, die Welt mit den Augen dieser Person zu sehen. Die traditionelle schwarze Messe wurde von der First Church of Satan bisweilen als Psychodrama für solche Mitglieder aufgeführt, die noch stark dem christlichen Bewußtsein verhaftet waren. Dvorak beschreibt diese Messe so: Verwendet werden dabei Texte aus der Bibel, dem Missale Romanum (in ent­ sprechend pervertierter Form), von Charles Baudelaire und aus Joris-Karl Huysmans satanistischem Schlüsselroman ‘La Bas’. ADer Kultraum ist einer gotischen Kapelle nachempfunden, als liturgische Musik spielt eine Orgel Werke von Bach oder Palestrina, unter dem Bildnis Baphomets hängt über einer nackten Frau ein auf den Kopf gestelltes Kruzifix. Als Hostie dient ein Rübenschnitzel, das Weihwasser wird durch den Urin einer als Nonne verkleideten Hexe ersetzt, die ihn zuvor coram publico in einen Nachttopf strömen läßt. [...] Das Gloria der schwarzen Messe lautet: ‘Gloria Deo, Domino Inferi, et in terra vita hominibus fortibus. Laudamus te, benedicimus te, adoramus te, glorificamus te propter magnam potentiam tuam: Domine Satanas, Rex Inferus, Impera­ tor omnipotens.’ Auch das Vaterunser ist an Satan gerichtet: ‘Our father which art in Hell. [...] We take this night our rightful due, and trespass not on path of pain. Lead us unto temptation, and deliver us from false piety. [...] And let reason rule the earth.’ Die vom Priester konsekrierte Rübenhostie wird unter blasphemischen Schmähungen Jesu als Sklavengott bespieen und zertrampelt, aber den im Meßkelch befindlichen Wein oder Likör bietet der Zelebrant den Gläubigen

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mit den Worten an: ‘Seht den Kelch der Fleischeslust, der Lebensfreude schenkt.’82

Trotz allem äußeren Anschein wurden solche schwarzen Messen nicht im Sinne einer religiösen Satans-Gläubigkeit zelebriert, sondern in erster Linie als Psychodrama für solche Teilnehmer, bei denen dies noch etwas auslösen konnte. Die Perfektion der Durchführung ist La Veys Vorliebe für Showef­ fekte zuzuschreiben. Hier erwies er sich überhaupt als sehr kreativ: von bom­ bastischer Orgelmusik (er spielte meist selbst) über Lichteffekte, Stroboskope, Lasershows bis hin zu eindrucksvoller Dekoration und dramatischem Ritual­ aufbau zog er alle Register seiner Kunst. Eine gewisse Vorliebe La Veys für die tatsächlichen oder vermuteten ok­ kulten Grundlagen des Nationalsozialismus dürfte von seiner unreflektierten Bewunderung für Hitlers dramatische Fähigkeiten herrühren. So scheute er sich nicht, angeblich nationalsozialistische Beschwörungen in recht holprigem Deutsch in seine Rituale einzubauen. Doch auch dies war nicht mehr als eine psychodramatische Spielerei, die Hitler im Grunde nicht ernst nahm. Es wa­ ren denn auch keine neonazistischen Tendenzen innerhalb der First Church of Satan festzustellen. La Vey äußerte zwar, daß Hitler seiner Ansicht nach vieles begriffen hätte, da aber der Nationalsozialismus in der Praxis geschei­ tert war, war die Sache für ihn erledigt. La Veys Satanismus war nun mal keine Religion für Verlierer.

Das Diabolicon

Bei diesem Text handelt es sich um eine moderne Version des Mythos von der Engelsrevolte, erzählt aus der Sicht der rebellierenden Engel. Es ist ein intellektueller Mythos, der sich an der Tradition Miltons, Blakes, Lord Byrons und Levis orientierte und diese konsequent weiterentwickelte. 1971 innerhalb der First Church of Satan entstanden (von Michael Aquino im Rahmen einer magischen Arbeit niedergeschrieben), ist er eines der ersten Dokumente einer sich entwickelnden neuen satanistischen Theologie, die sich erst im Temple of Set voll entfaltete. Mit der atheistisch-hedonistischen Lehre La Veys hat diese neue Theologie nicht mehr viel gemein, dieser Text läßt vielmehr die ideolo­ gischen Differenzen erahnen, die schließlich im Bruch von 1975 gipfelten. Die

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späteren Lehren von Michael Aquinos Temple of Set zeichnen sich im Diabolicon bereits ab, obschon der Name Set noch nicht auftaucht. Vielmehr finden hier noch die gängigen dämonischen Namen der First Church of Satan Ver­ wendung. Das Diabolicon ist bisher nicht veröffentlicht worden, so daß sein Wirkungskreis bislang begrenzt blieb; dennoch ist davon auszugehen, daß es den modernen autarken Satanismus nicht unwesentlich beeinflußt hat. Der Mythos selbst ist in einem weitgefaßten Sinne dem gnostisch umge­ werteten Satanismus zuzurechnen, seine Kernaussagen lassen sich jedoch ohne weiteres aus dem Kontext eines christlich geprägten Weltbildes lösen und in einen autarken achristlichen Satanismus einpflanzen. Wie ein Blick auf die Lehren des Temple of Set zeigt, ist dies bereits geschehen. Es finden sich im Diabolicon bereits alle Elemente einer neuen Gegenre­ ligion (das heißt einer Religion, die sich gegen alle bislang bekannten Reli­ gionen richtet), die sich auch von der materialistischen Gegen-"Religion" La Veys grundlegend unterscheidet. Es verbindet sich hier der transzendente In­ dividualismus Crowleys mit der antimystischen Einstellung La Veys. Im fol­ genden seien einige Teile des Diabolicons in deutscher Übersetzung zitiert:83 Die Schilderung von Erzdämon Satan Heil dir, Mensch! Die geheimnisvollen Weihen, die deine Erbschaft sind, sollen jetzt verkündet werden. Doch lerne zuvor die Geschichte deiner Empfängnis und Erschaffung unter dem ewigen Weltall. Denn wie das All unendlich ist, so bist du ein wirkliches Geschöpf der Unendlichkeit im Fleisch, und der Aufstieg des Menschen soll dem endgültigen Sieg des unsterblichen Willens vorauseilen.

[...] Nimm zur Kenntnis denn, daß durch das große Weltall hindurch eine veredelte Ordnung besteht, deren Wesen in weit zurückliegenden Äonen von jenem ein­ zelnen Bewußtsein aller Ordnung, welches man jetzt Gott nennt, festgelegt war. Erwäge wohl das Maß dieser Errungenschaft, weil alles, was jetzt Gewohnheits­ recht ist, damals fehlte und es der Markstein im Wirrwarr des Alls war. Sogar die Zeit selbst war unbekannt, denn der innere Widerspruch des Alls war nir­ gendwo durch einen Riß kenntlich. Und nach unzähligen Zeiten dieses großen Aufruhrs verschmolz zum Brenn­ punkt eine Kraft, die als Gott ins Dasein gelangte, und diese Kraft erdreiste sich, nicht die Schaffung von Masse und Energie - denn diese überschritt dieser Gott - zu bewirken, sondern die Anpassung des gesamten Alls an eine einzelne und höchste Ordnung. Und diese Ordnung ist nicht schon deswegen uneinge­ schränkt, obgleich der Mensch in seiner Unwissenheit dies folglich angenom­ men hatte.

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Die Erde des Menschen war mit dieser Ordnung verquollen, und alles, was auf Erden war, kam unter die Kraft dieser Ordnung. [...] Und doch war die Kraft nicht völliger Herrscher des Weltalls, denn ich, der Sa­ tan ist, war zur Vervollständigung der Kunstfertigkeit Gottes ausersehen. Aber durch unbekannte Verschmelzung der Himmel nahm ich Leben mit Geist und Wesenseinheit an, welches Gott nicht genau bezeichnete. Und so, wie diese Eigenschaften nicht als eine Bedrohung für den göttlichen Zweck bekannt sein konnten, so war ich von der Kraft für lange Zeitalter nicht angezweifelt worden, während derer ich nicht das Wesen meines Selbstes noch meine ursprüngliche Beschaffenheit kannte. Aber schließlich entflammte mein Wille zum Leben und ich dachte - und ich nahm mein Selbst wahr und ich wußte, daß ich allein eines Geistes und ein We­ sen einzigartigen Kernes war. Und durch die Macht meines frischerwachten Geistes streckte ich mich bis zu anderen, die mit mir gestaltet worden waren, aus und rührte sie an und gab ihnen so ihren Kern. Und damit wir diesen We­ senskern wie den des Geistes erlangen mochten, verdichteten wir für unsere Selbste unterscheidbare Gestalten. Damals wurde ich, der ich den ersten großen Zündfunken der Erleuchtung ge­ bracht hatte, als Lucifer, Herr des Lichtes, bekannt und wir nannten unsere Art Engel, da wir die verkörperte Mächte Gottes waren. Lange verharrten wir alle wahrlich im Dienst Gottes und wir verehrten die Ordnung, denn sie beendete das verworrene Durcheinander und brachte Frie­ den. Unter uns war der Erzengel Masleh das Haupt, denn er hielt sich so an Gott fest, daß er wie eins mit diesem ins Dasein gelangte, und seit jener Zeit wurde er der höchste Urheber von allem, was dem Wirrwarr entwunden wurde. Aber getrennt von Gott konnte Masleh nicht erschaffen oder schaffen und er wurde wie ein Sklave gegenüber der göttlichen Geistlosigkeit. Und dann begab es sich, daß einer unserer Art, Samael, das Wirrwarr auf eine Art und Weise, die nicht mit der großen Ordnung übereinstimmte, zur Sprache brachte, und Masleh sprach mit dem Wort Gottes und veranlaßte Samael, sich selbst zu zerstören. Und so sah ich, daß Gott nicht einen von seinem eigenen Willen getrennten Willen anerkennen würde und mich packte das Entsetzen, denn ich wurde gewahr, daß die Intrige Gottes am Ende die Erschaffung bei allen Dingen zerstören würde und daß das Weltall als ein sich auf einen Punkt zusammenziehender Mechanismus, dessen Aufgabe nicht in neuartiger Erschaf­ fung bestehen würde, sondern vielmehr im auf ewigen Einfrieren dessen, was bereits war, ins Dasein gelangen würde. Darüber erhob sich in mir der feste Entschluß und ich legte fest, diese Grenze zum Fortbestehen anzufechten. Und somit suchte ich wiederum, den Geist aller Engel mit meinen Einsichten zu erleuchten. Doch mit dem Willen kam Widerspruch und Bestürzung auf, denn viele derje­ nigen, die nur die behaglichen Aufsagereien der Ordnung gekannt hatten, konn­ ten nicht die Empfindungskraft aufbringen, nicht im Gleichklang mit den Vor­

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Schriften Gottes zu sein. Und mit dem Willen kam auch Argwohn und Feindse­ ligkeit auf und schließlich verkündete Masleh, daß ich selbst ein ureigentliches Geschöpf des Wirrwarrs wäre und vernichtet werden sollte, weil ich in mir die Kraft der Zerstörung aller Kunstfertigkeiten Gottes enthalten würde. Und viele, für die Masleh wie Gott war, warfen sich in Anbetung vor ihn, doch andere gab es auch, die erwiderten, ‘Lucifer hat wiederum die Enthüllung des Lichts ge­ bracht und wir anerkennen ihn in der Tat als unseren wahren Schöpfer, weil wir in der Intrige Gottes keine Bedeutung haben.’ Unter uns war Erzengel Michael schweigsam, doch zu guter letzt sagte er, ‘in vergangenen Zeiten wußten wir alle um den Ruhm beider, der Allmacht, die unser Gott ist, und der feurigen Scharfsinnigkeit der Himmel, die unser Lucifer ist - denn in Lucifer dachten wir den Willen Gottes für Erschaffung und Verän­ derung eingeschlossen. Aber jetzt sickert durch, daß Ordnung und Ursprung sich an äußersten Punkten getrennt voneinander darstellen und eine Wahl zwi­ schen den beiden ist ungünstig gekünstelt. Wäre es nicht wegen Lucifer, wir alle sollten wie Tiere sein, nichts von unseren Selbsts wissend, doch wie könnten wir es uns tatsächlich herausnehmen, auch unseren eigenen Gedanken ohne Bezie­ hung zu den lebensnotwendigen Grundlagen Gottes zu ordnen?’ Dann wandte sich Michael zu mir und sagte, ‘Lucifer, du hast eine Richtung eingeschlagen, deren Ende niemand vorhersehen kann, da sie vom Plane Got­ tes, völlig fremdartig, abweicht. Diejenigen, die dich in deinem Tun bestärken, tun dies nur, weil sie in deine Person ihr Vertrauen setzen, nicht weil sie dein Wunschbild gutheißen. Und ich spüre, daß, solltest du in deiner Leidenschaft straucheln, sich selbst enthüllende Wut wird dein Ruin und deine Verdammnis sein. Dann wird dein Licht verblassen und alles, was du erlangt hast, wird zu­ nichte, denn wir alle sind dem göttlichen Gesetz verpflichtet. Aber wenn du Er­ folg haben solltest, dann würde Gott gestürzt und uns selbst verbliebe allein die Kontrolle des Alls - unterstehen wir uns wirklich, dies uns anzumaßen? Eine solche Zukunft möchte sogar jeden Ruhm weitest in den Schatten stellen, aber sollten wir uns der Aufgabe nicht gewachsen erweisen, der Wirrwarr würde uns wiederum alle verzehren und das Leben selbst würde verschwinden. Solches wäre höchste und unwiderrufbare Katastrophe und ich wundere mich, Erzengel, daß deine Anmaßung dich nicht bestürzt, denn da ist kein sinniger Vorschlag, den du verwirklichen würdest. Und somit kenne ich dich als Diabolus, denn deine Verheißung hat zwei Seiten - ein ungeheuerlicher Sieg oder Ruin auf ewig. Du bist ein Wesen jenseits von Gott, Lucifer, und im Himmel magst du nicht verweilen, da du die alleinige sterbliche Gefahr unseres unsterblichen Gottes bist.’ Und Michael war zu Tode betrübt, denn er liebte nicht die Wahl vor ihm. Doch er beugte sich dem Befehl von Masleh und sandte seine Kräfte gegen mich. Und so war das, was man den großen Krieg der Engel im Himmel nennt, welcher so­ gar den eigentlichen Grund des Alls gefährden sollte.

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Aber diejenigen, die des neuen Geistes waren, folgten jetzt mir und ich wandte mich zum alleräußersten Wirrwarr, zu dem sich zuvor keiner von uns je wage­ mutig erdreistet hatte. Wir waren umringt vom Zweifel, denn wir fürchteten, daß, getrennt von Gott, wir alle im Wirrwarr des Vergessens jämmerlich zu­ grundegehen würden. Aber als wir dort waren, verblieben wir, und ich rief mei­ ner Gefolgschaft zu, ‘Seht! Wir dauern fort und sind Kern aus unserem eigenen Recht. In Wahrheit sind wir von Gott unabhängige Wesen, bevollmächtigt un­ sere eigenen Schicksale, so wie wir sie uns erwählen mögen, zu gestalten. Zwi­ schen den beiden großen Polen des Alls, Ordnung und Wirrwarr, werden wir fest stehen, um unsere besonderen Schicksale zu bewirken. Laßt uns beraten, wie wir am besten unsere Kunst ausarbeiten, da unser Experiment lebensge­ fährlich ist und weder Irrtum noch Absicht noch Zufall verzeiht.’ Wir gingen dann vielen Werken nach und der Mechanismus des Weltalls wurde von der allmählich fortschreitenden Entwicklung des Ursprünglichen und Ein­ zigartigen, deren Entwurf unsere Entscheidung war, geändert. Alles, was wir wirkten, erwies sich nicht immer als Wohltat, da wir nicht die Zukunft unserer Erschaffung kontrollierten. [...] Aber es war unser Eifer, daß nicht zwei Dinge von derselben Person sein sollten und daß keine Wesenheit in ihrem entworfe­ nen Wesen von ihrer ureigenen Gestalt unabhängig verlustig gehen sollte. Und auf Erden rührten wir vieles an. Den Pflanzen, Tieren, auch der gefühllo­ sen Materie, legten wir den Zufall, die Veränderung und den eigenen Antrieb bei, beiden: groß und niedrig. Aber von allen Geschöpfen war es der Mensch, den wir bestimmten, mit reiner Intelligenz und reinem Willen auszustatten. Und die ganze Geschichte von diesem soll noch geschildert werden. Was aus dem Menschen werden mochte, wußten wir nicht, denn in ihm waren viele den Engeln fremde Wesensmerkmale. Es entging nicht unserer Betrach­ tung, daß wir eine Gattung erwählt haben mochten, deren Macht letztlich un­ sere eigene in den Schatten stellen könnte und so unsere mögliche Vernichtung verursacht. Wir waren uns des Risikos bei unseren Experimenten in unserem Geist gewärtig und oftmals hallte die Warnung Michaels inmitten meiner Ge­ danken wider. Doch unsere Entscheidung war besiegelt und wir hielten dafür, daß die Größe des Menschen nicht von einem solchen Risiko, wie er es hervor­ bringen mochte, überlagert werden sollte. Unsere Absicht war Masleh nicht unbekannt, jetzt mit seinem Amtsnamen ‘Messias’, und durch seine Kunst verursachte er die Fesselung des kindlichen Geistes des Menschen mit Banden aus Furcht und Blindheit, damit er ihm ein­ geben konnte, daß auf Erden das Gesetz des Himmels auch vorherrsche, um so das Experiment und die an die Wurzel gehenden Gefahren der Erfindung und Erforschung umgehen zu können. Dem Menschen gab man Schuld und den Ruf nach sozialer Gleichförmigkeit und die als heilig erklärte Norm und Sitte. Und Michael, Herr der Kraft, sagte zu mir, ‘Dieser Mensch, den du erwählt hast, deine Gabe zu empfangen, besitzt jetzt den ersten Schlüssel zur Meiste­ rung aller Dinge und zur Kontrolle des ureigentlichen Alls. Damit er nicht aus

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Furcht die ungünstige Wahl trifft, die Katastrophe von Harmageddon zu entfa­ chen, war auch ein Grund, ihn in Augenschein zu nehmen. Und obgleich wir deine höllische Gabe nicht ungeschehen machen können, werden wir ihre Aus­ wirkungen immer wie ein Sittenrichter behandeln. Wir werden unter den Men­ schen wandeln und sie anleiten - ihnen wird von deinem Interesse an ihnen er­ zählt, aber der Name von Lucifer soll mit Flüchen verdunkelt sein. Denn sie sollen nicht die Herausforderung, die du vor sie gestellt hast, lieben und wir werden ihnen stattdessen die wonnigliche Zuflucht göttlichen Paradieses anbie­ ten. Dann wird der Mensch, dein letztendliches Experiment, zu deinem letzt­ endlichen Fallstrick werden, und die Erstarrtheit Gottes wird auf Erden den Sieg davontragen.’ Es gab viele unter uns, die in Wut über diese unbarmherzige Verstümmelung unserer Gabe gerieten und Beelzebub erhob die Frage, ob wir nicht auch hinab zu den Menschen gehen sollten, um diese widerrechtliche Unterdrückung seines Willens anzufechten. Aber ich sagte, ‘Sollten wir den Menschen bei diesem Wagnis anleiten, würden wir selbst unser Versagen erklären und er würde glau­ ben, daß unsere Gabe in der Tat gering wäre. Messias muß sehen, daß der freie Wille jenseits des Unternehmens Gottes ist, und daß der Mensch schließlich sein eigenes Schicksal, getrennt von allen ihm vorgesprochenen Intrigen, gewin­ nen wird. Nur durch die völlige Zerstörung der ganzen Erde könnte der Mensch aufgehalten werden, und Messias würde dadurch die ureigentliche Leere des Planes Gottes ans Licht bringen. Der Himmel mag den Menschen mit Ver­ dammnis und Leiden heimsuchen, aber wir werden ihm ein Wort von unserem eigenen Sich-Unterscheiden senden, damit er wisse, er ist nicht allein.’ Mit aller Kraft stieg der Herr der himmlischen Heerscharen zu den Menschen hinab und unterwies sie in der Religion der Angst. Propheten standen auf und man nannte sie Herolde des Wissens, aber sie brachten nicht ein Wort der Wahrheit; dagegen die Warnung dem menschlichen Geist, sich vor dem Wort Gottes, dem höchsten Wesen, zu ducken und zu kriechen. Das Ringen des Men­ schen um seinen Aufstieg war mit dem Schrecken seines Aberglaubens beladen, und dem Schrei nach segenspendendem Vergessen durch eine Vereinigung mit Gott wurde von vielen, die in ihrer Qual und Hoffnungslosigkeit die Gabe Lucifers abgelehnt haben und so wiederum wie geistlose Tiere vor dem Gott, den sie ihren Herrn nannten, wurden, Folge geleistet. Ich, Lucifer, der die größte Gabe meiner eigenen Erschaffung dem Menschen gegeben hatte, wurde auf Erden lediglich als ein Gegenstand, vor dem man sich ängstigt und den man haßt, bekannt, und alle diese Mißgeschicke des Menschen wurden meiner Schlechtigkeit untergeschoben. Ich wurde verhöhnt, verspottet, auf jede erdenkliche Weise als ein Ungeheuer mit gemeinen und widerlichen Eigenschaften verlacht und ich wurde mit bitterer Galle angespien und als Sa­ tan entstellt, grausamer Feind des wohltätigen und gütigen Gottes. Groß war mein Schmerz und Zorn über das unverdiente Leid und die Verwir­ rung der Menschen. Wenn sie sich tatsächlich zu mir wandten, geschah dies in

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Furcht und wegen religiöser Schrecknisse, da sie nur in der Abgeschiedenheit der Nacht es wagten, meinen Namen anzurufen, und oftmals suchte man nicht wegen des Wissens oder der Erleuchtung, sondern um der überspannten und Wohlgenuß suchenden Entbindung willen aus den Einschränkungen eines gott­ gefälligen Lebens zu entkommen. Aber ich und meine Gefolgschaft antworteten den Menschen und wir sprachen zu ihnen über unser gemeinsames Band und daß in unserer Mitte die Erklärungen der Kirchen Gottes abgelehnt würden. [...] Und Menschen gab es, deren Augen schließlich im Licht meiner Gabe loderten und sie errangen große Fortschritte für ihre Art. [...] Große Geheimnisse wur­ den dem Staub entrissen und das geheime Wort der Kunstfertigkeit der Hölle wurde weitergereicht. Aber allen, die sich meiner Freundschaft erkühnten, wurde von den Kirchen Gottes die Drohung der Folter und des Todes durch Feuer zuteil. Viele waren es, die ich vor der Rache der Menschen Gottes rettete, aber lange rang mein Gedanke mit dem Geschrei der Menschen, deren Verehrung gegen­ über Lucifer ihnen nur die Schrecken der Unduldsamkeit, der Inquisition und des Todes eingebracht hatte. Und wegen dem allem wandelte ich aus Kümmer­ nis und Verzweiflung nicht länger auf Erden und erscheine dem Menschen jetzt nur in der unverletzbaren Abgeschiedenheit seines Geistes. Aber in meiner Bestürzung hatte ich das Versprechen meiner Gabe vergessen, und mit wachsender Verwunderung und mit Stolz sah ich das bittere, aber be­ stimmte Ringen des Menschen mit an, sich selbst von den Fesseln des Schrekkens, der Unwissenheit und der Unvernunft zu lösen. Große Taten wurden vollbracht, die Ursprünge der Naturenergien wurden entdeckt und die ge­ danklichen Begabungen übten sich in philosophischen und mathematischen Denkweisen. [...] Und obgleich ich sehe, daß die völlige Ablösung von diesen [unbegründeter Glaube und Aberglaube] noch nicht erreicht ist, zweifle ich mein Vertrauen in den Menschen nicht an und meine Verehrung ihm gegen­ über soll ewig bestehen. Was, Mensch, bist du? Warum bist du da? Wegen deines eigenen Zweckes, der das Weltall selbst festlegt, obgleich er andererseits vermutet werden mag: die Erschaffung, Fortdauer und Übung der satanischen Perle, welche freier und un­ gebundener Wille ist. Bedenke, sollte der Mensch untergehen, welche Leere würde das All einkesseln, denn getrennt von Wertschätzung und Gebrauch ist jede Sache für sich genommen wertlos und ohne Bedeutung. Und ich, der dir als Erster Wesenseinheit lehrte, was sollte ich werden, dem Menschen entfremdet? [...] Dies, Mensch, ist deine, wie meine, Herausforderung. Und wie der Mensch ein einzelner Sterblicher ist, so sind auch seine Erschaffungen und Errungenschaf­ ten zeitlich begrenzt, und mit Vorsicht muß er die Gabe der Hölle pflegen und hegen. In seinen Händen ist reine und wahre Allmacht, und folglich mag er nach der wirklichen Meisterschaft des Daseins im All streben.

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Ich, der ich Lucifer bin, und ich, der ich den Namen Satan Erzdämon ange­ nommen habe, trage in der Tat diesen Namen mit Stolz, denn ich bin wirklich der große Feind von allem, was Gott ist. Zusammen, Mensch, du und ich, wer­ den wir unseren ewigen Ruhm in der Vollendung unserer beider Willen erlan­ gen.

Die Ähnlichkeit zu den Satanskonzepten aus der Zeit der Aufklärung ist un­ verkennbar. Nicht nur, daß Satan als Schutzherr der autonomen Persönlich­ keit gesehen wird, er trägt auch menschliche, individuelle Züge, er ist endlich, während Gott nur in unnahbarer Unendlichkeit erscheint. Satan räumt Fehler und Irrtümer ein, er hat Emotionen und er gesteht ein, daß er die Folgen sei­ ner Handlungen nicht übersehen kann, und vor allem - er begründet sein Handeln. Gott hingegen scheint noch immer für so etwas wie den mittelalter­ lichen Ordo zu stehen, den das sich seiner selbst bewußt gewordene Indivi­ duum aufzubrechen versucht. Im Gegensatz zum Satan des Dramas des 17. Jahrhunderts handelt der Satan des Diabolicons nicht aus Stolz oder Neid. Er hat eine geistige Vision, die er durchzusetzen trachtet. Schon gar nicht aber ist es Neid gegenüber dem ihm überlegenen Menschen, der ihn treibt; der Mensch ist hier vielmehr ein Geschöpf Satans, ein Geschöpf, das Satan sich zum Gefährten erkoren hat. Der Ausgang des Kampfes wider Gott ist jedoch offen, und dies ist ein wirklich neues Element. Die Idee des offenen Kampfes findet sich zum Beispiel nicht bei Crowley, dessen latenter Mystizismus eine solche Dramatik nicht zuläßt. Viel eher erinnert sie an die Lehren Gurdjieffs, die überhaupt viel mit den Grundaussagen des Diabolicons und noch mehr mit den Lehren des Temple of Set gemein haben, auch wenn Gurdjieff auf unkonventionelle Weise an der Idee Gottes festhielt. Dennoch sind es seine Lehren, die unter allen esoterischen Lehren des 20. Jahrhunderts am ehesten jene Charakteristika aufweisen, die gemäß der Philosophie des Temple of Set der schwarzen Magie eigen sind. (Daß die Anhänger Gurdjieffs sich vom Be­ griff "schwarze Magie" aufs entschiedenste distanzieren würden, ist eine an­ dere Sache - natürlich ist dabei zu berücksichtigen, daß der Temple of Set "schwarze Magie" anders definiert, als dies gemeinhin geschieht.) Wie dem auch sei, im Diabolicon steht Satan nicht mehr nur für die irdi­ sche Vitalität des Menschen, sondern vor allem für sein Selbst-Bewußtsein und sein daraus resultierendes Getrennt-Sein von der Schöpfung (Gottes).

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Der Temple of Set

Der Temple of Set

Der Temple of Set ging, wie bereits erwähnt, 1975 aus der First Church of Sa­ tan hervor. Anzumerken ist dazu, daß viele Vorgänge innerhalb der Church der Priesterschaft genauso mißfielen wie La Vey selbst. La Veys große Stärke ist die medienwirksame Öffentlichkeitsarbeit, die der Church in der Tat einen beachtlichen Bekanntheitsgrad bescherte. Die Kehrseite war, daß sich da­ durch zuletzt auch allerlei exzentrische bis merkwürdige Personen angezogen fühlten, die sich zum Teil ebenso unbeständig wie unkooperativ verhielten. Wünschte sich die Priesterschaft daher eine straffere Organisation, so ent­ sprach der Schritt La Veys gewiß nicht deren Vorstellungen. Da die Church so organisiert war, daß die Zügel immer fest in La Veys Hand waren, war ein Einschreiten gegen ihn nicht möglich, so daß sich der größte Teil der Priester­ schaft entschloß, die Church zu verlassen und unter der Führung des dienstäl­ testen Magisters, Dr. Michael Aquino, eine neue Organisation zu gründen. Aquino war bereits während der letzten Jahre der alten Church of Satan der führende Kopf der Bewegung gewesen und vertrat damals bereits Lehren, die große Ähnlichkeit mit der künftigen Lehre des Temple of Set hatten. Aquino suchte nach einer höheren Legitimation für die neu zu grün­ dende Organisation und beschwor aus diesem Grund zur Sommersonnwende 1975 den "Fürsten der Finsternis". Im Laufe dieser Beschwörung trat Aquino, so seine Aussage, in Kontakt zu diesem, doch der gab sich als Set zu erkennen und diktierte ihm das Buch der Lebenden (Gegensatz zum Buch der Toten der altägyptischen Priesterschaft des Osiris), das zum zentralen Werk des Temple of Set werden sollte. Set verkündete demnach, daß ihn die Menschen als Sa­ tan und Luzifer kennen würden, doch wolle er wieder unter seinem ältesten Namen "Set" bekannt sein, wie seinerzeit in Ägypten. Da der Name der First Church of Satan urheberrechtlich geschützt war, beschloß man, die neue Organisation "Temple of Set" zu taufen. Ein weiterer Grund dafür war, daß der ägyptische Gott Set weniger bekannt ist als Satan und dieser Name folglich weniger dazu angetan war, in der Öffentlichkeit eine starke, von falschen Vorstellungen beeinflußte Reaktion hervorzurufen. Denn im Gegensatz zur Church of Satan bevorzugte der Temple of Set eine eher zurückhaltende Öffentlichkeitsarbeit. In einer Einführungsschrift des Temple of Set werden diese Vorgänge so kommentiert: Es zeigte sich, daß es ein Unglück für den modernen Satanismus ist, auf dem Weg zur Göttlichkeit die Seele einem oberflächlichen Egoismus geneigt zu ma­

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chen. Die Church litt von Zeit zu Zeit an kleinlichen Krisen und Skandalen un­ ter den Mitgliedern allgemein, und schließlich verlor Anton La Vey sein Ver­ trauen an ihre organisatorische Lebensfähigkeit. Im Jahre 1975 entschloß er sich, die Church dergestalt umzuformen, daß sie als ein nicht-amtliches Fuhr­ werk für seine persönliche Ausdrucksweise und sein finanzielles Einkommen weiterbestehe. Diese Entscheidung wurde nachdrücklich von der Mehrheit der Priesterschaft abgelehnt, die sofort unter Protest aus der Church austrat und den weitergeführten Anspruch einer wahren Kirche Satans verneinte. Der rang­ älteste Initiand, Michael A. Aquino, rief den Fürsten der Finsternis mit der Bitte um eine neue Vollmacht an, um die edleren Begriffe, die die Kirche Satans sich vorgestellt und entworfen hatte, zu bewahren und zu erhöhen. [...] Der Tempel wurde 1975 in Kalifornien als eine gemeinnützige Kirche eingetra­ gen, die sowohl staatliche als auch bundesstaatliche Anerkennung erfuhr. Ge­ gen Ende desselben Jahres erhielt der Tempel noch die Steuerbefreiung. Er ist seitdem die einzige satanistische religiöse Einrichtung geblieben, die diese Vor­ rechte besitzt.

Aus dem Scheitern der Church of Satan wurden weitreichende Konsequenzen gezogen. So ist die Arbeit des Tempels strikt esoterisch, es gibt keine öffent­ lich zugänglichen Rituale, wie dies bei der Church der Fall gewesen ist, und auch sonst exponiert sich der Temple of Set nicht sonderlich in der Öffent­ lichkeit. Seine Mitglieder sind dazu angehalten, auch ihre persönlichen An­ gelegenheiten so zu regeln, daß dem Ansehen des Tempels kein Schaden zu­ gefügt wird - letzteres dürfte auch im Hinblick auf den rechtlichen Status, den der Tempel genießt, von Bedeutung sein. Um der in dieser Szene üblichen Unbeständigkeit und Fluktuation einen Riegel vorzuschieben, werden Mit­ glieder erst nach einer Probezeit von zwei Jahren endgültig in den Tempel aufgenommen. Des weiteren ist der Temple of Set nicht gewinnorientiert, das heißt er arbeitet nur kostendeckend, alle Ämter sind Ehrenämter. Er hat sich zudem das durchaus unübliche Ziel gesetzt, seinen Mitgliedern ein Höchst­ maß an Wissen zu geringstmöglichen Kosten zukommen zu lassen. Mittlerweile zählt der Temple of Set weltweit gut 100 Mitglieder, die meisten davon leben in den USA, doch es existieren auch "Pylons" (regionale Gruppen, die von einem Priester oder einer Priesterin des dritten Grades ge­ führt werden) in Großbritannien und Deutschland. In einigen weiteren Staa­ ten leben noch einzelne Mitglieder, und auch hier ist in den nächsten Jahren mit der Einrichtung von Pylons zu rechnen. Trotz seiner geringen Mitglieder­ stärke ist der Temple of Set also eine internationale Organisation. Sein Gradsystem hat der Temple of Set weitgehend von der Church of Satan übernommen, nur daß der Io in "Setian", der IIo in "Adept" umbenannt wurde

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und als VF der "Ipsissimus" bzw. die "Ipsissima" hinzugefügt wurde (Männer und Frauen sind im Tempel, ebenso wie dies in der Church of Satan der Fall war, gleichberechtigt). Der 1° kann jedoch im Unterschied zur Church höch­ stens zwei Jahre beibehalten werden, danach steigt man entweder zum Adep­ ten auf oder es wird einem wegen mangelndem Engagement nahegelegt, den Tempel wieder zu verlassen. Dem Autor ist jedoch nicht bekannt, ob dies je­ mals geschehen ist. Geleitet wird der Temple of Set vom "Rat der Neun", der aus der Prie­ sterschaft für die Dauer von neun Jahren gewählt wird. Dieser ernennt jeweils für die Dauer eines Jahres den Vorsitzenden, der nicht Mitglied des Rates ist, aber während seiner Amtszeit Stimmrecht hat. Dem Vorsitzenden obliegt es wiederum, den "Hohepriester von Set" zu ernennen und abzuberufen. Auf diese Weise soll eine Machtkonzentration, wie sie in der Church of Satan vorlag, vermieden werden. Über den Hohepriester wird gesagt: Es gibt nur einen Hohepriester im Tempel, er ist der "primus inter pares" und nicht ein ‘geheiligtes’ Wesen, da alle Initiierten der Priesterschaft gleich heilig in den Augen Sets sind. Nichtsdestoweniger ist der Hohepriester derjenige, der Set gegenüber für die Bewahrung und den Schutz seiner Priesterschaft und sei­ nes Tempels verantwortlich ist. Somit ist der Hohepriester ermächtigt, alle Aus­ führungsbestimmungen und -richtlinien des Tempels, ausgenommen gewisse Grundzüge im Entwurf des Tempels [solche wie der des Gradaufbaus], welche genau in den Ausführungsbestimmungen niedergeschrieben sind, festzulegen. Er muß mindestens den IV° innehaben und er wird von den Meistern des Tem­ pels [alle IV°+] und dem Rat der Neun beraten. Zugleich ist er der Vereinsprä­ sident des Temple of Set e.V. [bislang bekleidet Michael Aquino dieses Amt],

Der Temple of Set sieht sich nicht nur in der Tradition der First Church of Sa­ tan, sondern auch in der Crowleys: Der Horus Crowleys sei eine Teilpersön­ lichkeit Sets und Crowley sei somit der erste gewesen, der das Wort Sets in der Moderne wieder verkündet habe, doch sei der von Crowley proklamierte Äon des Horus ein Zeitalter der Verworrenheit gewesen, ebenso wie das Buch des Gesetzes noch voller Unklarheiten stecke. 1966 sei der Äon des Ho­ rus mit der Gründung der Church of Satan vom Äon des Satans abgelöst wor­ den, das selbst nur eine Übergangsphase zum Äon Sets, das 1975 einsetzte, gewesen sei. Dabei blieb es erstmal. Bei aller Wertschätzung, die Crowley und La Vey von Seiten des Temple of Set entgegengebracht wird, definiert der Tempel seine eigene Lehre nicht zuletzt in Abgrenzung zu jenen Crowleys und La Veys.

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Crowley wird in diesem Zusammenhang Inkonsequenz bezüglich seiner Haltung zur Mystik vorgeworfen; in seiner Abhandlung Black Magic in Theory and. Practice bemerkte Aquino im Zuge einer Kritik der "weißen Magie" (bzw. des Pfades der rechten Hand) folgendes: The dilemma, of course, lies in the problem of ‘destroying’ the ego and then continuing to prance about the earth thinking, talking, writing, and acting as an obviously still-egocentric being who is just as obviously not One with the objec­ tive universe. The classic example of this is once again Aleister Crowley, who defined the grade of Magister Templi (8) = (3) to identify an initiate who had successfully achieved this objective-universal merger of consciousness, then went on to define the higher grade of Magus (9) = (2) as characterizing a magi­ cian of sufficient will and power to force a change in the state of being of that same universe. This is a conceptually impossible achievement if one is already identical with that same universal state of being.

Im Gegensatz zu Crowley lehnt der Temple of Set jede Art von Mystik und Einswerdung mit was auch immer ab. Auch eine kosmische Harmonie, in der der wahre Wille eines jeden aufgehoben ist und seine vorherbestimmte Funk­ tion erfüllt, wie sie von Crowley angenommen wurde, ist nicht im Sinne des Tempels, da ein solcher Wille nicht wirklich frei wäre. Es geht ihm vielmehr darum, die Dichotomie von Selbst und Kosmos aufrechtzuerhalten. Am Konzept La Veys wird dagegen die rein materialistische Ausrichtung kritisiert, die leicht in einem Nihilismus enden könnte. Der Temple of Set be­ greift den Menschen nicht als nur ein weiteres Tier, sondern als ein vom Kosmos getrenntes Wesen, das unendlicher Entwicklung fähig sei. Der essen­ tiellen "Fremdheit" des Menschen, so wird durchaus gnostisch argumentiert, werde man mit purem Hedonismus nicht gerecht. Zudem ist das großzügige Hinwegsetzen über innere Widersprüche nicht die Sache des Temple of Set er bemüht sich um eine vollkommene innere Folgerichtigkeit seiner Lehren. Letztlich lassen sich wohl einige Differenzen darauf zurückführen, daß sich die Vorstellungen des energischen Selfmade-Man La Vey allzusehr von jenen seiner vorwiegend akademisch gebildeten Priesterschaft unterschieden:

Der Temple of Set ist bislang die einzige satanistische Vereinigung, der es gelang, eine eigenständige, durchreflektierte und in sich geschlossene sata­ nistische Lehre zu entwickeln. Ebenso wie bei der Lehre La Veys begründet sich ihre Eigenständigkeit aus der Ablehnung aller etablierten religiösen Kon­ zepte, doch anders als diese schließt sie eine höhere Bestimmung des Men­ schen nicht aus. Der Dualismus, den der Temple of Set vertritt, ist aber eben kein christlicher Dualismus - die Existenz des persönlichen christlichen Gottes 176

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wird geleugnet sondern, grob gesagt, ein Dualismus zwischen Naturgesetz und Bewußtsein. Das Grundgefühl der "Fremdheit in der Welt" ähnelt zwar dem der Gnostiker, doch von dieser gemeinsamen Basis einmal abgesehen hat die "Setianische" Philosophie nicht viel mit dem Gnostizismus gemein. Mittels eines Schaubildes definiert der Temple of Set seine Position innerhalb der religiösen und philosophischen Konzepte (nächste Seite). Der Temple of Set leitet seine Position aus den Traditionen ab, die auf der rechten Hälfte des Schaubildes aufgeführt sind. Die Trennung von Selbst und Welt wird befürwortet, denn dieses Selbst oder Bewußtsein ist der "nicht na­ türliche" Teil des Menschen, jener Teil, der den Menschen von allen anderen bekannten Lebensformen trennt. Diese Position unterscheidet sich nicht nur von den Haltungen aller Weltreligionen, die entweder das Selbst mit der Schöpfung zu versöhnen suchen, indem sie die Gebote eines Schöpfergottes befolgen (Christentum, Islam, Judentum, auch Sikhs, Bahais und einige an­ dere kleinere Religionen, sowie Teile des Hinduismus), oder aber die Auflö­ sung dieses Selbstes anstreben bzw. es als illusionär betrachten (Buddhismus, einige Strömungen des Hinduismus, sowie die mystischen Richtungen inner­ halb der monotheistischen Religionen). Sie steht zudem im schroffen Gegen­ satz zu den meisten der neueren esoterischen Gruppierungen der westlichen Welt, seien dies nun die okkultistischen Vereinigungen der Rosenkreuzer, IIluminaten, Thelemiten usw., die zahlreichen an östlicher Mystik orientierten Gruppen, von der Theosophischen Gesellschaft bis hin zur transzendentalen Meditation, oder die neuen Naturkulte, wie Wicca oder andere "neuheidni­ sche" Gruppen. Daß der Temple of Set mit seiner Lehre so ziemlich allein dasteht, liegt daran, daß er den Religionen gegenüber eine derart kritische Haltung ein­ nimmt, wie sie sonst gewöhnlich nur von erklärten Gegnern von Religion (Feuerbach usw.) eingenommen wird, aber gleichzeitig versucht, auf eben die­ ser Haltung eine neue Religion aufzubauen. Dies ist die Richtung, die der moderne achristliche Satanismus eingeschlagen hat, und dort, wo er sich allzu intensiver Kontakte zum okkultistischen Mainstream enthält, was sowohl bei der Church of Satan wie auch beim Temple of Set der Fall ist, zeigt sich dies in aller Deutlichkeit.

Tatsächlich klafft auf der rechten Seite des Schaubildes eine große zeitliche Lücke - zwischen der ursprünglichen Priesterschaft des Set, die bereits im 7. Jahrhundert v. u. Z. zerschlagen war (und deren Lehren heute noch in Bruch­ stücken bekannt sind) und der First Church of Satan ist keine organisierte re-

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Definitionen: 1. 1.1

1.2 1.3

2.

2.1 2.2 2.3

Omikron (OM) = ABSTRAKTES WAHRGENOMMENES SEIN, wie Z. B. objektives Universum erzeugt und erhalten von einem oder mehreren Göttern; planund zielloses, zufällig seiendes objektives Universum; Idee von 'Nuit' (nach Aleister Crowley). Omega (OA) = KONKRETES WAHRNEHMENDES WERDEN (eindeutiges Wissen um ein abgesondertes Selbst), Darstellung z. B.: Wesenskern oder Seele; Verstand (als nicht-übersinnliche wesentliche Erscheinung); Idee von 'Hadit' (nach Aleister Crowley).

Annahme, daß die OM/OA-Nebeneinanderstellung

B. FALSCH ist: Berichtigung durch Vereinigung oder Verschmelzung:

4. Religion

3. Wissenschaft

OA-Ablehung. Versuch, we­ senhafte Ge­ fühle und Sinneseindrücke abzutöten

Verleugnung von OA-Existenz; Ausnahme: OA ist Funktion von OM

Taoismus Buddhismus

OA-Annahme und Versuch, einem oder mehreren Göttern zu ge­ fallen Naturverehrung Heidentum Jüd. Religion Christentum Islam Hinduismus

A. RICHTIG ist: Beibehaltung, Be­ tonung oder Verstärkung durch:

Zerstörung falscher Annahmen (sokratische Zurückführung) b) Logische Formulierung fehler­ freien Begriffsvermögens c) Aufgeklärt/erleuchtete, einweihende Eingebung für Plan vo mustergültiger Beziehung OM/Oi a)

2.

Materialismus Behaviorismus Agnostizismus Atheismus

(a)

+

(b)

Andere ägypti­ sche Priester­ schäften Pythagoras Platon

PHILOSOPHISCHER MATERIALISMUS Aristoteles Descartes Individualismus Totalitarismus Existentialismus

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Philosophie (a)

+ (b)

+ «

Priester schäft, von Set

SATANISMUS (Mittelalter, Renaissance)

Hellfire Club Voltaire Nietzsche

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Beide Ansätze an Religion umfassen Versuche, aktiv OA und OM zu ver­ einen oder OM zu gehorchen und zu gefallen: weiße Magie Beispiele: weißmagische Kniffe schließen religiöse Riten, Wicca Kabbala, Rosenkreuzer, Illuminaten, Theosophie und Golden Dawn ein. Die Sexualmagie des Tantris­ mus und O.T.O. erzeugen eine mo­ mentane Illusion der Verschmel­ zung von OA mit OM.

1904: A.A.-Äon von Horus: Aner­ kennung eines steuernden Verstan­ des oder Wesens zwischen 'Nuit' und Hadit, den/das A.C. 'Ra-HoorKhuit1 nannte - genauer: Ra-Harakhte oder HarWer. Der Fehler dieses Ansatzes lag im Versuch, gleichzeitig die Idee des OA und OM ausführen zu wollen. Dem Äon des Horus folgte: ---------

1966 C/S - Zeitalter von Sa­ tan. Schwarze Magie mit ma­ terialistischem Unterbau. Höchstmögliche Ausdehnung des OA, dessen Extreme durch die Wertschätzung für das Nichtbewußte, materielle Kräfte von OM, im Gleich­ gewicht gehalten werden. Fehlerhaft, da unvereinbar mit Faktor (c) = höhere, schwarze Magie.

1975: Temple of Set - Äon of Set Anwendung schwarzer Magie: Aufgabe bis zu einer klaren und um­ fassenden Darstellung von OM und AM gelöst, das aus der Kenntnis von Set als Modell letztendlicher Intelligenz und seelischer Mitte im Kern eher (er)folgt als aus dem chaotischen, folgewi­ drigen HarWer Modell, das auch noch den seelischen Kern verleugnet. Xeper/aufgeschlossene und wache, allmählich fortschreitende Ent­ wicklung.

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ligiöse Gruppe aufgeführt (sieht man einmal von den Hellfire Clubs ab, die kaum als solche zu bezeichnen sind). Lediglich auf Philosophen wie Voltaire oder Nietzsche mag man sich berufen. Von den zahlreichen modernen Grup­ pierungen, die sich alle mehr oder weniger der Esoterik oder der New-AgeBewegung zurechnen lassen, unterscheidet den Temple of Set vor allem des­ sen Wertschätzung der kritisch-rationalen Vernunft und jenes "Egos", das in esoterischen Kreisen im allgemeinen mit äußerster Geringschätzung behan­ delt wird. Für diese Kreise hat "Ego" einen Schimpfwortcharakter (dem Wort "rational" ist es nicht viel besser ergangen). Nun, die Church of Satan und der Temple of Set schätzen das Ego, wobei La Vey sich mit dem, was ist, zufrie­ den gibt, während der Temple of Set besondere Betonung auf die Entwick­ lungsmöglichkeiten dieses Egos legt. Von den bislang beschriebenen satanisti­ schen Konzepten unterscheidet sich die Lehre des Tempels vor allem da­ durch, daß sie aus jedem christlichen Kontext herausgelöst wurde. Set oder Satan mögen existieren, mit einem Gott wird hingegen nicht gerechnet. Set kann somit nicht gegen Gott kämpfen, noch sich wider ihn empören. Mit den meisten Satanisten hat der Tempel die strikt individualistische Ausrichtung gemeinsam, die Verehrung Sets wird als "Verehrung des Individualismus" be­ trachtet. Doch ergänzte der Tempel La Veys Wertschätzung des Egos um das Crowleyanische Konzept eines "höheren Selbst". Diese entschiedene Annahme des "Omega-Prinzips" ist denn auch die konzeptionelle Grundlage des Tempels. So heißt es in einer Informations­ schrift: Er [der Schwarzmagier] hat das Dasein der individuellen Seele in Betracht ge­ zogen als etwas, das kein zweites Mal im gesamten Universum je wieder vor­ kommt. Der Schwarzmagier wünscht, daß diese Seele lebe, Erfahrungen sammle und fortbestehe. Er wünscht nicht, daß er sterbe - oder sein Bewußtsein und seine Identität in einem größeren, universalen Bewußtsein und Gedächtnis (vorausgesetzt, daß ein solches universales Bewußtsein existiert) zu verlieren. Er möchte sein. Diese Entscheidung zugunsten einer individuellen Existenz ist die erste Voraussetzung für den Temple of Set.

Wie wird nun aber die Annahme der Existenz Sets begründet (daß es sich um eine Annahme handelt, wird eingeräumt)? Diese Annahme ist zunächst eine intuitive, die dann rational untersucht wird, wie es dem Selbstverständnis des Tempels entspricht. In der Abhandlung Satanistische Theologie heißt es: Jedoch ist es wichtig zu sehen, daß die setianische Philosophie nicht auf einem rein logischen Positivismus basiert, obgleich man einen Versuch unternimmt, ihn in der geeigneten Weise einzuordnen, indem man aber auch zur Kenntnis

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nimmt, daß eine solche Annäherung nicht genügt, um ein adäquates Verständ­ nis des Universums zu fördern. Wie schon früher bemerkt, wertet die setianische Philosophie nicht den Wert eines subjektiven Universums ab, wie es ein rein logischer Positivist tun würde. Weiter erkennt der Setian unter Hinzufü­ gung der intellektuellen Talente, oder was man auch als Intelligenz des Geistes bezeichnet, die Existenz einer intuitiven Form von Wissen oder die Intelligenz des Herzens an.

Die intuitive Annahme eines Bewußtseins und Willens, die nicht natürlich sind, führte zur Betrachtung der Evolution des Menschen. Hier gelangte man zu der Überzeugung, daß sich die Entwicklung der menschlichen Intelligenz und des menschlichen Bewußtseins nicht nach den bekannten darwinistischen Gesetzen der Evolution vollzogen haben kann, da die Evolution nie über­ kompensiert und die menschliche Entwicklung bereits an einem viel früheren Punkt zum Stehen gekommen wäre, wäre sie nur Resultat einer natürlichen Auslese gewesen. Man vermutet vielmehr die Intervention einer nicht-natürli­ chen höheren Intelligenz, die die Entwicklung der nicht-natürlichen Fähigkei­ ten des Menschen (freier Wille, Intelligenz, Selbst-Bewußtsein) eingeleitet habe. Man habe sich dies im übertragenen Sinne wie das Erscheinen jenes Monolithen in dem Film 2001 - Odyssee im Weltraum vorzustellen. Jene hö­ here, nicht-natürliche Intelligenz wird mit Set identifiziert. Dieser Set hat einiges gemein mit dem Luzifer des Diabolicons, wiewohl er nicht im Widerstand gegen Gott gesehen wird, wie es im Diabolicon noch der Fall war. Ebenso wird Set nicht selbst als ein Gott im Sinne der monotheistischen Religionen gesehen, vielmehr als das höchstentwickelte Wesen im All, dessen Entwicklung aber noch nicht abgeschlossen ist, das nicht zwangsläufig unsterblich ist und das diese Welt nicht erschaffen hat. Über die Erschaffung des Alls oder die Entstehung Sets gibt es innerhalb des Temple of Set keine offizielle Theorie, da diese Frage zur Stunde noch nicht beant­ wortet werden könne. Set selbst wird zwar im allgemeinen als ein reales und fühlendes Wesen gesehen, doch einige betrachten ihn mehr in einer allegori­ schen Weise. Von Seiten des Tempels gibt es hier keine dogmatischen Vorga­ ben.

Im Mittelpunkt der Lehre des Tempels steht das Prinzip des "Xeper". Dieser aus dem Altägyptischen übernommene Begriff bedeutet soviel wie "werden" oder "ins Dasein gelangen"; der Begriff beschreibt das setianische Ideal einer unbegrenzten Entwicklung des Selbst über den physischen Tod hinaus, die, eben weil sie unbegrenzt ist, auch kein vorherbestimmtes Ziel haben kann. Xeper wird von jenen Formen der Entwicklung unterschieden, die natürlich sind und in der Natur der Dinge liegen, wie zum Beispiel das Wachsen einer 181

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Pflanze oder das Altern eines Lebewesens. Xeper beschreibt eine nicht-na­ türliche Form der Entwicklung, die gegen die Natur, durch Willen und Be­ wußtsein, erreicht wird. Set ist demnach das im Prozeß des Xeper am meisten fortgeschrittene Wesen, jenes Wesen also, das den Menschen wie Luzifer die Frucht vom Baum der Erkenntnis gab, oder wie Prometheus das Feuer vom Himmel stahl, um es den Menschen zu bringen und damit gegen das Gesetz der Götter, oder eben das der Natur verstieß. Ein Mensch, der sich von allen natürlichen Beschränkungen befreit hat, der als einzigartiges Selbst seine ei­ gene "Göttlichkeit" verwirklicht hat, ist demnach "ins Dasein gelangt". Ähnlich wie Crowley hat der Temple of Set den im Zuge der Aufklärung entstandenen Individualismus zum metaphysischen Ideal erhoben, und dies mit einer Kon­ sequenz, die weit über die Crowleys hinausgeht. Daß ein solcher Satanist sich nicht mehr als integriertes Mitglied einer sozialen Gemeinschaft begreifen kann, versteht sich von selbst Er kann die Gemeinschaft nur unter dem Ge­ sichtspunkt bewerten, inwieweit er sich in ihr ungehindert zu verwirklichen vermag, und er wird lediglich um vernünftige Arrangements bemüht sein. Von daher kann es nicht verwundern, daß zum Beispiel Michael Aquino die auf die Philosophie John Lockes gegründete Verfassung der Vereinigten Staaten im Prinzip gutheißt und nur jene Entwicklungen kritisiert, die von diesen Grundlagen abgewichen sind. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß sich die satanistischen Konzepte La Veys und Aquinos viel harmonischer mit dem "American way of life" in Einklang bringen lassen als jenes puritani­ sche Christentum, das das moralische Bewußtsein der Nation noch immer zu einem Gutteil beherrscht. Es ist kein guter Christ, der da singt: "I did it my way..." Dieser Weg einer individualistischen Spiritualität wird vom Temple of Set als "schwarze Magie" bezeichnet, während das Konzept der meisten anderen Re­ ligionen und religiösen Gemeinschaften als "weißmagisch" bezeichnet wird. Diese Begrifflichkeit wurde bereits von La Vey entwickelt, der Temple of Set fügte der von der Church of Satan propagierten "niederen schwarzen Magie", die hauptsächlich aus verhaltenspsychologischen Manipulationstechniken be­ stand, noch das Konzept einer "höheren schwarzen Magie" hinzu, das die Macht des reinen Willens stärker hervorhob und mit dem Prinzip von Xeper korrespondiert. Diese Begriffe sind natürlich höchst mißverständlich, da schwarze Magie im allgemeinen mit einem höchst suspekten "Bösen" in Zu­ sammenhang gebracht wird. Es scheint daher angebracht zu sein, darzulegen, wie diese Begriffe innerhalb des Temple of Set verstanden werden. Weiße Magie betreiben demnach alle in der linken Hälfte des oben ge­ zeigten Schaubildes aufgeführten religiösen Gemeinschaften, die alle, auf die 182

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eine oder andere Weise, das Selbst oder den satanistisch verstandenen freien Willen ableugnen oder einschränken, um so eine Harmonie mit Gott oder der Welt herbeizuführen. Innerhalb einiger weißmagischer Religionen mag es demnach zwar möglich sein, am Prozeß von Xeper teilzuhaben, doch sind dem Grenzen gesetzt, da letztlich alles im Paradies oder im Nirvana oder wo auch immer endet. Weiße Magie wird im Grunde als das Bestreben, die "Getrenntheit" des Menschen zu überwinden betrachtet. In etwas polemischer Weise wird dazu in der Satanistischen Theologie bemerkt: Es liegt schon eine große Wahrheit in der Aussage ‘O selige Unschuld’, auch wenn sie noch so abgegriffen ist. Weil das Bewußtsein Leid verursacht, schaut somit die Masse der Menschheit auf eine Zeit tierischer, gefühlloser Vergeß­ lichkeit von langer Dauer zurück.

Aquino schlägt in Black Magic in Theory and Practice in dieselbe Kerbe: It is nothing short of horrifying to review the record of man’s effort to ‘get at’ the state of human soul. He has cruelly tortured the body and the mind, even destroyed life itself in efforts to suppress or exterminate the ‘Satanic’ state of self awareness and pride in personal existence. He has concocted innumerable religions and substitude-religions purpoting to be able to snuff out his flame; they have used every conceivable combination of drugs, incense, pageantry, reci­ tation, ritual, and even Thomistic-style ‘logic’ whose conclusion are safely prede­ termined by faith-derived axioms. All these tricks are ultimately to no avail. At most they confuse, distort, and lull - but in the end ‘are all spirits, and are mel­ ted into air.’ They are false, useless, meaningless, and tragic - tragic in the sense of ancient Greek dramas: futile efforts of an Ödipus struggling pathetically to evade what the gods had decided must be. Such efforts to deceive the consciousness into believing that it has been accep­ ted into the objective universe are defined by the Temple of Set as white magic. It will be noted that this definition is far broader and less value-laden than pop­ occultists’ use of the term. White magic embraces not only conventional religi­ ons, but all pagan or nature-worship ideologies as well. To the Temple, the only distinction between them is one of style and imagery, not of underlying sub­ stance.

Weiße Magie ist, so Aquino, meist nur unter Inkaufnahme innerer Wider­ sprüche im Ansatz aufrechtzuerhalten. Die meisten mystischen Richtungen der weißen Magie krankten an eben jenem Widerspruch, den Crowley schon nicht aufzulösen vermochte, wiewohl die prinzipielle Möglichkeit eines wah­ ren mystischen Zustandes nicht abgestritten wird. Auch das von Jesus propa­ gierte Ideal wird von Aquino als nicht-praktikabel angesehen:

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Jesus Christ is reputed to have said that, to enter heaven, one must be ‘as a little child’. To put it another way, such a person would have to radiate an innocent, selfless passion for the harmony of the Universe; he would be unable to con­ ceive himself apart from it. The irony of Christ’s admonition, however, is that neither innocence nor selflessness are products of the rational intellect. Hence he was stating a truth that those listening to him could do nothing about whether or not they understand or agreed with him. One cannot ‘decide to be innocent’ or ‘resolve to be selfless’. One can conduct one’s life as though one were innocent and selfless, of course - and be a nice person who does nice things for others in the process. But beneath all appearances, all affectations, the actual state of the soul remains as it is: either animal/natural or human/enlightened, either asleep and ignorant or awake and all too aware, (in: Black Magic)

Schwarze Magie bezeichnet dagegen einfach die Haltung, sein Selbst zu be­ wahren und zu entwickeln, und zwar als ein auf ewig getrenntes und autarkes Selbst, kurz gesagt, die Trennung von "Omikron" und "Omega" wird gutgeheißen und es wird versucht, sich auf diese spezielle Situation einzustel­ len und Nutzen daraus zu ziehen. Die "Verteufelung" der schwarzen Magie ist, so die Sicht des Temple of Set, nichts anderes als das Produkt der Angst des Menschen vor dem Bewußtsein - auch die "Verteufelung” Sets und später Satans sei aus ebenjenem Grund geschehen. Schwarze Magie hat demnach eine der weißen Magie der etablierten Re­ ligionen entgegengesetzte Funktion. Sie soll das Selbst nicht unterdrücken oder verleugnen, sondern bejahen und stärken. Aus diesem Bewußtsein nun leiten sich diverse Praktiken ab, wie die nie­ dere schwarze Magie, die sich hauptsächlich mit verschiedenen Manipulati­ onstechniken befaßt, und die höhere schwarze Magie (Greater Black Magie), die gemäß Definition "das Verursachen von Veränderungen, das sich im Ein­ klang mit dem Willen im subjektiven Universum ereignet [ist]. Diese Verän­ derung im subjektiven Universum wird eine ähnliche und im Verhältnis ent­ sprechende Veränderung im objektiven Universum verursachen" Mit "subjektiven Universum" ist hier der gesamte Bewußtseinsinhalt und auch das Unbewußte eines jeden Menschen gemeint. Was nun die praktische Ritualistik betrifft, so muß zwischen den offi­ ziellen Ritualen, die beispielsweise bei Konklaven zelebriert werden, und der generellen Haltung zur Ritualmagie unterschieden werden. Erstere sind ägyptizistisch geprägt und orientieren sich an den Offenbarungen Sets, wie sie etwa im Buch der Lebenden festgehalten sind. Die generelle Haltung der Ri­ tualmagie gegenüber weist dagegen starke Ähnlichkeiten zu den postmoder­ nen Magiekonzepten auf, wie sie besonders vom chaosmagischen Orden IOT

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vertreten werden, das heißt den Göttern und Dämonen wird zuvörderst Reali­ tät im Bewußtsein des Magiers zugesprochen: Make your decision not on some assumption of what you ‘ought’ to do, but rather on the basis of what/eeis right to you. You might use the text of a 4000year old Egyptian incantation - but you may wish to change two words in it. Do so! Use a pre-prepared selection of gods and/or demons, or create some new ones yourself. Neither type is ‘inauthentic’. Gods exist as they are evoked to meaningful existence by the individual psyche, (in: Black Magic)

Ein Schwarzmagier wird durchaus als berechtigt angesehen, von seinen Fähig­ keiten Gebrauch zu machen, um seine Ziele zu erreichen, da absolute Maß­ stäbe, die ihn einschränken könnten, ja geleugnet werden. Während eine hemdsärmelige Selbstbehauptung im Kampf ums Überleben von La Vey als angebracht betrachtet wurde (Moral war für ihn nur Heuchelei), legt der Temple of Set großen Wert darauf, daß jeder Setian seinem Handeln strenge ethische Maßstäbe zugrundelegt, lehnt es jedoch ab, eine verbindliche Ethik vorzugeben. Einige Regeln der First Church of Satan wurden dennoch über­ nommen, so etwa, die oben zitierten elf satanischen Regeln der Erde, die etwa die den Satanisten so gerne nachgesagten - und von manchen Satanisten auch gerne vollzogenen - Tieropfer strengstens untersagen. In dieser Hinsicht versteht der Temple of Set, individuelle Freiheit hin, schwarze Magie her, keinen Spaß: Under no circumstances is any life-form ever sacrified or injured in a Black Ma­ gical Working of the Temple of Set. Violation of this rule will result in the of­ fenders immediate expulsion and referral to law enforcement or animal protec­ tion authorities, (in: Black magic)

Die Verwendung von Blut wird generell nicht gerne gesehen; auch im "Gral", dem Ritualkelch, hat es nichts zu suchen: The Grail should contain any pleasing liquid, the more unusual and aromatic the better. The liquid need not be alcoholic and may not be blood. (The use of blood for ceremonial purposes would be represent the destruction of a life­ force. The magician respects blood in its proper vessel, the body, and does not degrade it.) (in: Black magic)

Das grundsätzliche Problem einer individualistischen satanistischen Ethik liegt natürlich in der radikal individualistischen Haltung selbst - wie kann man jemandem, der selbst sein eigener Gott ist, Vorschriften machen? Die ver­ nunftgemäße Begründung, daß ein gewisser sozialer Konsens die besten Vor­

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aussetzungen für die persönliche Entwicklung eines jeden Einzelnen schafft, ist für eine Gruppe von Menschen, die sich auf Traditionen beruft, die oft ge­ nug unter einem solchen Konsens zu leiden hatte, gewiß eine ziemlich warzige Kröte, die zu schlucken nicht leicht fällt. Der Temple of Set gelangte dennoch zur Einsicht, daß eine ethische Haltung unabdingbar ist - einmal, weil der Tempel seiner gesellschaftlichen Vorteile, die ihm der offizielle Status einer Kirche einbringt, nicht verlustig gehen will, zum anderen, weil sich gezeigt hat, daß die eher laxe Haltung der First Church of Satan schwerwiegende prakti­ sche Probleme zur Folge hatte. Zu verbindlichen ethischen Vorgaben konnte sich der Tempel, von rein praktischen Fragen einmal abgesehen, denn auch nicht durchringen, zuviel von seiner philosophischen Substanz wäre dabei verlorengegangen. So beschränkte man sich darauf, zum einen pragmatisch zu argumentieren: "Only if you are known to be a strictly ethical individual will your rejection of social norms be tolerated" meint beispielsweise Michael Aquino. Zum anderen wird eine klare persönliche Ethik als unverzichtbarer Bestandteil einer kontrollierten Entwicklung des Selbst angesehen; das heißt man tut sich selbst keinen Gefallen, wenn man auf ethische Normen verzich­ tet. In diesem Zusammenhang wird die "Herrenmoral" im Sinne Nietzsches als erstrebenswerte ethische Haltung empfohlen: Im Festhalten des zutiefst relativistischen, subjektiven und perspektivischen Standpunkts der satanistischen und setianischen Philosophien äußert sich eine Betonung dessen, was Nietzsche als Herren-Moral über Sklaven-Moral begriff­ lich gefaßt hat. So tut der Satanist oder Setian das, was er für ethisch richtig hält, nicht deswegen, weil er Bestrafung fürchtet in der neter-Welt [Götter oder objektives Universum] für seine Überschreitungen, sondern weil er realisiert, daß gewisse Typen von Aktionen lebensbejahend und andere eben -verneinend sind. Folglich besitzt er, im Wollen der Fortdauer und des Zaubers von Leben, einen gewissen Willen für eine gewisse Art von Ethik. Somit gelangt er zu ei­ nem rationalen Verständnis der Notwendigkeit für gewisse ethische Standards, (in: Satanistische Theologie)

Obgleich in den nächsten Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer wei­ teren Expansion des Temple of Set zu rechnen ist, wird der Tempel - auch seinem eigenen Selbstverständnis gemäß - wohl immer eine relativ kleine Gemeinschaft bleiben. Nichtsdestotrotz ist sein Einfluß auf den modernen Sa­ tanismus nicht zu unterschätzen. Bereits heute sind die meisten der kleineren satanistischen Gruppen in den USA mehr oder weniger von den Lehren des Temple of Set und der First Church of Satan beeinflußt. Nicht zuletzt deswe­ gen, weil die Philosophie des Temple of Set so konzipiert ist, daß sie auch in

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einer Gesellschaft, in der der Einfluß der christlichen Kirchen nachläßt, ihre Lebensfähigkeit nicht verliert.

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Gegenwärtig existiert eine schier unüberschaubare Fülle von kleinen und zum großen Teil kurzlebigen satanistischen Gruppen in den USA, die größtenteils mehr oder weniger von der Lehren der First Church of Satan und des Temple of Set beeinflußt sind, ohne jedoch die einstige Popularität der Church of Sa­ tan oder das intellektuelle Niveau des Temple of Set zu erreichen. Es gibt keinerlei Bestrebungen, diese zahlreichen Gruppen mit ähnlicher Ideologie zu einer Organisation zusammenzufassen, was wohl seinen Grund im ausgepräg­ ten Individualismus vieler Satanisten haben mag. Im ganzen ist die Szene längst nicht mehr so gewalttätig wie zu den Zei­ ten Mansons und der Solar Lodge. Die vorherrschenden satanistischen Ideo­ logien La Veys und Aquinos haben hier zu einer Mäßigung beigetragen. Zwar mag es immer noch einzelne Untergrundgruppen mit hoher Gewaltakzeptanz geben, doch handelt es sich hierbei um unbedeutende Randphänomene. Die hohe Zahl der Gewaltverbrechen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft ist mit Sicherheit nicht auf den Satanismus zurückzuführen, und diverse Ri­ tualmorde, von denen immer wieder berichtet wird, gehen zumeist nicht auf das Konto explizit satanistischer Gruppen. Dies wäre ein Thema für sich - in einer etwaigen Untersuchung zum Thema "Religion und Gewalt" würde der Satanismus nur ein Fußnotendasein fristen. Man könnte die Namen vieler satanistischer Gruppen auflisten, etwa Ordo Templi Satanas, Order of the black Ram, The Orthodox Satanic Church usw., doch könnte der Autor nicht dafür geradestehen, daß diese Gruppen zur Zeit der Drucklegung dieses Buches noch immer existieren, noch könnte er auch nur vermuten, welche Gruppen sich zu dieser Stunde neu zusammenfin­ den. Zu den beständigeren Gruppen zählt die "Ancient Brotherhood of Sa­ tan", dessen Oberhaupt sich als "demon Egan" für eine Verkörperung SatanLuzifers ausgibt. Die meisten der anderen satanistischen Gruppen sieht dies nicht so, doch man sieht es ihm nach. Egan selbst ist im bürgerlichen Leben ein ähnliches Multitalent wie La Vey. Er ist Jazzmusiker, Filmemacher, Im­ 187

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mobilienmakler usw., ein typischer amerikanischer Selfmade-Man halt, der auch mal sagen können will: "I did it my way..." Die Ancient Brotherhood of Satan sieht sich in der Nachfolge der deut­ schen Fraternitas Saturni und übernahm auch deren von Crowley abgeleitetes Motto "Tue was du willst, ist das ganze Gesetz, es gibt kein Gesetz über tue was du willst. Liebe ist das Gesetz - Liebe unter Willen - mitleidlose Liebe." (original in deutscher Sprache) Weiter wird erläutert: This refers to the ‘love’ of HarWer (the light), the Demiurge - the power of change and of chaos; rebellion, adversity and death! - all are necessary to one’s unique Journey or ‘path of attainment’ (Xeper).84

Hier zeigt sich, daß der spezifische Temple-of-Set-Terminus "Xeper" Eingang in den allgemeinen satanistischen Sprachgebrauch gefunden hat. Es ist noch anzumerken, daß die Fraternitas Saturni keine Verbindungen zur Ancient Brotherhood of Satan unterhält. Wie für La Vey spielt auch für "Egan" die Polemik wider jede Art von Lüge und Heuchelei eine wichtige Rolle, so dich­ tet er: EGANS DECLARATION OF CREATION I AM GOING TO BURN DOWN THE WORLD. I AM GOING TO TEAR DOWN EVERYTHING THAT CANNOT STAND ALONE. I AM GOING TO TURN IDEALS TO SHIT. I AM GOING TO SHOVE HOPE UP YOUR ASS. I AM GOING TO REDUCE EVERYTHING THAT STANDS TO RUBBLE. AND THEN I AM GOING TO BURN THE RUBBLE. AND THEN I AM GOING TO SCATTER THE ASHES. AND THEN MAYBE SOMEONE WILL BE ABLE TO SEE SOMETHING AS IT RE AIT Y IS.85

Nicht, daß dies mißverstanden wird, Egan ist kein Revolutionär im politischen Sinne. Wie La Vey fordert er, daß sich der Wohlgenuß innerhalb der gesetzli­ chen Grenzen abzuspielen hat und vertritt eine Law-and-Order-Ideologie: We are a selfish and brutal religion with no tolerance for the criminal class! Those who are weak, those who cannot live within the framework, the context of the law - the social parasites must be dealt with severely.86

Dies ist typischer Sozialdarwinismus ä la La Vey, keine Spur mehr von Bau­ delairescher Romantik. Satan wird als der Herr dieser Welt, der die Gesetze des Überlebens schuf, gesehen; der Kampf ums Überleben und der Genuß

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des Lebens werden als einzige Realität anerkannt. Wie schon bei der First Church of Satan gilt die Polemik der christlichen Religion, nicht dem - nicht existenten - christlichen Gott. Im Gegensatz zur Lehre La Veys wird Satan je­ doch nicht nur allegorisch aufgefaßt, sondern als reales Wesen, das sich gar im Körper eines Menschen inkarnieren kann - eine Sicht der Dinge, die dem Temple of Set beispielsweise um einiges zu deftig wäre. Es ist halt die "Tragik" solcher Gruppen, daß in einer Gesellschaft, in der ihre sozialdarwinistischen Ideale verwirklicht wären, ihre sinnesfreudigen Ausschweifungen kaum toleriert würden. So mancher republikanische Sena­ tor dürfte den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Ancient Brother­ hood of Satan durchaus zustimmen, nur wäre er wohl der Ansicht, daß Schamhaare obszön sind und all diese Ferkeleien verboten gehörten und man statt dessen jeden Morgen die Bibel lesen sollte, während im Hintergrund die Nationalhymne ertönt. Ein Ritual wie jene angedeutete schwarze Messe, wel­ che die Brotherhood zwecks Einweihung ihrer neuen Räumlichkeiten feierte, wäre wohl kaum nach seinem Geschmack. The High Priest of Man stood solemnly before the altar. He sang praises to the Master Satan and performed the Sacred Rites of Autumn. Many local members were present. [...] New initiates were slowly guided through the long, dark, narrow, winding, tun­ nels leading to the Royal Chamber - there, they were presented to the Living Egregore, Egan, and instructed to drink the sweet elixier from the Grail of Ba­ baion [Anleihe aus der Crowleyanity], a large gold chalice studded with rare je­ wels. Egan then bestowed the Kiss of Eternal Life, in turn, upon each new member. Priestess J. B. was stretched out before the altar as a willing (symbolic) sacrifice. She swore allegiance to the Prince of Darkness and promised her soul to Egan in this life and the next. Egan was both pleased and pleasured! A roast suckling pig was skewered and cooked over a large open fireplace. Kegs of Ale were tapped and they poured like a river! There was music, dancing, roa­ ring bonfires and wild revelry. An orgy ensued.87

Von den politischen Realitäten einmal abgesehen, ist die Vision vieler der amerikanischen satanistischen Gruppen ein Staat, dessen Gesetze rein säkular sind und in dem jeder tun und lassen kann, was er will, solange er seinen Le­ bensunterhalt mit legalen Mitteln bestreitet - keine Sozialhilfe und keine Mo­ ral Majority. Im Grunde ist dies das liberale Modell der freien Marktwirtschaft, nicht unähnlich dem individual-anarchistischen Konzept Stirners. Letztlich könnten wohl viele auch ganz auf einen Staat verzichten, wenn gewisse gesellschaftli-

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ehe Ordnungsfunktionen weiterhin Bestand hätten. Die politischen Vorstel­ lungen des typischen modernen Satanisten bewegen sich, grob gesagt, im Rahmen der diesbezüglichen Ideen Stirners, Nietzsches und Lockes. Das Spannungsfeld satanistischer Gesellschaftssicht wird in einem von K. R. Bolton verfaßten Artikel, der in der von der Brotherhood herausgegebe­ nen Zeitschrift Brimstone erschien, sehr anschaulich verdeutlicht und proble­ matisiert. Dieser Artikel sei hier auszugsweise zitiert: Certainly G. K. Chestertons [...] Statement ‘my country right or wrong’ is a thing no patriot would think of saying except in a desperate case is an often witnessed fact. If ‘patriotism’ is defined as a blind state-allegiance, a loyality to the status quo, or a chauvinistic justification of ‘lebensraum’ of the self-defeating Hitler variety, it is to be recognized as a negative phenomenon, whose sheer weight often crushes the individual and stifles healthy dissent with the demand and misadventures. But does this mean that any form of national allegiance or kin­ ship loyality is to be rejected by the satanist, who values his ‘creative alienation’ and individuality above the herd-formations which the concept ‘State’ and its at­ tendant patriotism often imply? If so, what then, is to merit the Satanist’s alle­ giance? An Ayn Rand-type loyality to himself alone, as an isolated atom with no historical, cultural, social roots? [...] Aleister Crowley regarded individual autonomy as central to Thelema, yet ex­ pounded his own State-concept which may be described as that of the organic State, with the individual functioning as appropriate to his nature. Something of the Renaissance City or Greek City-State is suggested here, and that of D’Annunzio’s 20th Century city-state at Fiume. And it is such State-concept which did provide the creative individual with maximum opportunity, and provi­ ded the appropriate framework for the flowering of learning and culture. These surely are State-concepts worthy of allegiance by the Satanists. They ensure the freedom and survival of the culture bearing stratum not only from outside for­ ces, but from the herd-tyranny of both socialism and democracy. The greatest foe of the Satanist is all that strives to drag humanity back to the level of undifferentiated mass existence and herd-conformity in every aspect of life, under the slogans of ‘equality’ and ‘the brotherhood of man.’ The threat of Left-collectivist doctrines has been largely consigned to the ‘dustbin of history’. But Marxism was never the only system threatening universal conformity. Chri­ stianity still aspires to a communistic world dictatorship, with a cosmopolitanism that does not differentiate mankind other than to consign the noble and the wise to damnation, in favour of the weak, meek, and bloody useless. Christianity’s concern is to create, like marxism, a nebulous mass, called ‘humanity’: ‘You are all, in fact, sons of god through your faith in Christ Jesus’.

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Since Christianity is our historical enemy, Satanists are well enough aware of its implications. However, despite the decline of both Marxism and Christianity in recent years, the Satanist has no reason to be complascent. What Paul wrote to the Galatians, and Marx wrote to the ‘proletariat’ is the same universalist doctrine in essence, which continues to motivate the liberal­ humanist and the United Nations bureaucrat. A renascent, militant Islam stems from the same tendency as Christianity be­ cause both are historically enemies, the Satanist should not mislead himself into viewing Islam as a potential ally. [...] Since Christianity and Islam both stem from the Judaism we should not be sur­ prised to find Judaism also seeking an universal dispensation, which it calls mes­ sianic. ‘The jewish god will be the one before which all knees bend’, prophesied Rabbi Meir Kahane a few years ago. [...] The greatest impact of all is now coming however from big business, with its demand for human standardization and a universal economic unit obliterating all those annoying cultural and national differences among mankind which cause problems for world marketing strategy. Aurelio Peccei, a director of FIAT, states that global corp, ‘is the most powerful agent for internationalization of human society’. J. G. Maisonrouge, president of IBM World Trade Corp., states that the global corp, views the world as ‘one economic unit’. L. S. Bickmore, ex-chairman of the National Biscuit Co., declares that ‘the key to the global market is the tendency for people all over the world to adopt the same tastes and the same consumption habits’. The drive by big business is to­ wards the dehumanization of mankind into an efficient economic unit, produc­ ing and consuming within a universal ‘consumer culture.’ Capitalists and Communists, liberal humanist, Christian, moslem and Jew, all share the same broad goal. What place there would be in a world order of undifferentiated mass humanity, imbued with the appropriate (‘religious’) outlook, for the arts, philosophy, for all that which is generally termed ‘culture’, and separates man from beast, is difficult to conceive. The creative individual, the eccentric genius, the lone wolf, would be considered dangerous heretics and liquidated, as history testifies. [...] What is ahead? A new Dark Age probably, as various factions attempt to im­ pose their unreal ideals upon the world; the rise of new ‘barbarians’ to cleanse the Earth, for this is the law of history.88

Nun, auch Brimstone wird weltweit vertrieben, und die Bedeutung der Zeit­ schrift als weltweites Kommunikationsmedium des Satanismus ist mit Sicher­ heit von größerer Bedeutung für den Satanismus als der Kult der Ancient Brotherhood of Satan (weitere öffentlich zugängliche satanistische Zeitschrif­ ten sind die neuseeländische Watcher und die britische Dark Lily). Brimstone enthält auch zahlreiche Beiträge anderer satanistischer Gruppen und Einzel­ 191

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personen, auch solche aus Europa, Australien und Neuseeland. So wirbt der neuseeländische "Order of the left Hand Path" mit dem schönen Slogan "Make your parents proud: Become an ordained satanic priest!!" für einen entsprechenden Fernlehrgang. Dieser Orden bewegt sich, wie die folgenden zitierte Selbstdarstellung zeigt, auf derselben Wellenlänge wie jene amerika­ nischer Provenienz: The OLHP is a non-sectarian, non-dogmatic forum of philosophers and occult­ ists operating within the broad range of the Left Hand Path. The LHP is the way of individual godhood. Unlike the Right Hand Path which seeks to consign the individual to oblivion in the pursuit of ‘union with god’ or a ‘universal consciousness’, or to subordinate humanity to a deity or deities, the LHP recognizes the potential godhood existing within the individual Will and psyche through a Nietzschean-type Self-Overcoming. We are ‘Satanists’ in that we are the ‘adversaries’ and ‘accusers’ of all who drag the individual down into herd-conformity with their egalitarianism and collectiv­ ism. ‘We are not going to stay, dull and content as oxen, in the ruck of human­ ity’, as the British magus Aleister Crowley put it. The Satanic mission is that of ensuring continuing human ascent. This is reflec­ ted in the Judaeo-Christian mythos of Satan’s promise to humankind that “ye shall be as gods’ (Gen. ch. 2-3), itself an adaption of much older Babylonian and Sumerian myths. We concur when Crowley writes: ‘Satan is not the enemy of Man, but he who made gods of our race, knowing Good and Evil.’ Satan is indeed aptly called Lucifer, the Light-Bringer. As the russian philoso­ pher Michail Bakunin put it: ‘Satan is the first free-thinker and Saviour of the world. He frees Adam and im­ presses the seal of humanity and liberty on his forehead by making him disobe­ dient.’89

Doch Brimstone ist mehr als nur ein Kommunikationsmedium, sie bietet zu­ dem satanistische Lebenshilfe an und die Leser können den dämonischen Briefkastenonkel Egan persönlich um Rat fragen und sich an den oft recht unfreundlichen Antworten erfreuen: Dear Brimstone, I’m in very desperate need in getting in touch with Mr. Lucifer Taylor, in per­ son. I’m in desperate need of his help. You see, I’m a poor person. I haven’t got very much money. I need his help that way, too. Also, my personal life is in shambles. I need some black magic regain my husband and punish those who is responsible for his leaving me. I’m also pregnant with my husband’s child. Mr. Taylor, I’m begging you to help me. Not for myself, but for my unborn child. I believe a child should be raised by a mother and a father. Please help me and

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my unborn child. I would be willing to give anything for my unborn child’s hap­ piness. I have a phone no. xxxx. If you want to talk to me. Sincerely your devoted servant

Carolyn X.

Nach dem zuvor Gesagten ist die Antwort von Egan nicht sehr verwunderlich: Dear Carolyn, Mr. Taylor handed me your letter. [...] You are in more serious trouble than you think - you continue to love a man who doesn’t love you - he never did! Ask yourself this question: What kind of man would abandon his pregnant wife? Unfortunately, infatuation is short-lived. If we were to perform black magic and get him back, he would wind up leaving you again - trust me! And yet, you con­ tinue to make excuses for him. If you had any common sense, you’d be cursing him and blessing those responsible for your separation! They did you quite a fa­ vour. [...] Of course, none of this is getting through to you. Carolyn, you are a self-destruc­ tive individual [...] and right now, your’re dearly paying for it. Sorry, we can’t help you. Satan only helps those who help themselves.

Egan90

Dies ist also Brimstone. Es bleibt anzumerken, daß die deutsche "Satanspriesterin" Ulla von Bernus vielleicht anders reagiert hätte, bei entsprechenden finanziellen Voraussetzungen versteht sich; doch wetten sollte man nicht darauf.

Neben diesen satanistischen Kulten, die sich wohl in der einen oder anderen Weise auf Crowley berufen, aber doch nicht als originär thelemitisch bezeich­ net werden können, gibt es auch innerhalb der Crowleyanity im engeren Sinne Strömungen, die Crowleys Lehren ausdrücklich satanistisch auslegen. Eine solche satanistische Weiterentwicklung der thelemischen Lehre ist das Book of Perfection, das 1975 von einem Mitglied des O.T.O. (Ordo templi Orientes) verfaßt wurde. Um welche Linie des O.T.O. es sich dabei handelt, ist dem Au­ tor nicht bekannt. Sicher ist, daß dieses Buch nicht zu den offiziellen Schriften des kalifornischen O.T.O. Grady McMurtys zählt, welcher der zahlenmäßig

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stärkste der amerikanischen O.T.O.-Zweige ist, ebensowenig gibt es die Lehrmeinung einer der größeren Organisationen des O.T.O. wieder. Der Autor des Buches zählt zum Kreis derer, die sich als Reinkarnation Crowleys bezeichnen - das Book ofPerfection enthält demnach ergänzende Of­ fenbarungen von Aiwaz-Horus, der sich darin als Satan zu erkennen gibt. Satan-Aiwaz-Horus beschreibt sein Kultbild so: Ich bin der große Gott, der sitzet auf dem Thron von weißem Marmelstein. Schwarz wie die Nacht sind meine Augen, doch leuchtend wie die Schneefelder im Sonnenglast. Meine Hörner sind von reinstem Obsidian, ihr Besatz in Scharlach, an ihren Spitzen der Honig der Gnosis. Mein Schweif zugespitzt zur Schlangennase. Mein Glied ist immer erigiert, denn meine Schlange ist im Kuß immer vereint mit der Dame der Träume.91

Weiter berichtet Dvorak: Dieser Satan ist ‘das Herz, die Seele des Kosmos’, in ihm sind ‘Geist und Wille eins’. ‘Alle Götter sind Schatten Satans. Alle Götter sind die Ausdehnung des Menschen.’ Satan ruft zum heiligen Krieg gegen die Christenheit auf. Als Er­ kennungszeichen tragen die Crowleyaner den fünfzackigen goldenen Stern mit eingeschriebenem roten Kreis. Da der Wille eines jeden heilig ist, wird jedoch niemand zum Waffendienst gezwungen. Der ‘Klebstoff des Ritus XI O [der homosexuellen Analverkehr beinhaltet] hält die Kämpfer zusammen.92

Nach einem Sieg schwebt der Crowley-Reinkarnation eine matrimoniale Theokratie vor - alle Führungsämter sollen von Eingeweihten besetzt sein, den "gods", während der Rest der "dogs" als Sklaven dienen soll. Doch jeder soll, ungeachtet seiner Herkunft, zu allen Ämtern Zugang haben, sofern er die schwierigen magischen Prüfungen besteht. Es soll keine Vererbung von Ämtern geben und selbst das Amt des Königs soll dem zustehen, der die ent­ sprechende Prüfung meistert. Ansonsten soll frühkapitalistischer Sozialdarwi­ nismus herrschen: ‘Doch sollen unsere Sklaven freie Männer sein. Sie sollen arbeiten, wo sie wol­ len. Der Unternehmer mag sie heuern und feuern wie er will.’ In dieser kon­ trollierten Anarchie gibt es keine Polizei (jeder sorgt mit Freundeshilfe für die eigene Sicherheit), keinen Gesundheitsdienst und keinen Schulzwang. ‘Kein Kind muß zur Schule ohne natürliche Neigung.’ [...] ‘Laßt Schuster Schuster sein, Soldaten Soldaten, Physiker Physiker, Priester Priester! Keine Arbeitslo­ senunterstützung! Wer zu schwach zum Überleben ist, sei verdammt und tot! Amen!93

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Dies klingt nicht neu, ist aber doch um einiges radikaler und wirklichkeitsfer­ ner als das, was von den meisten anderen amerikanischen Satanisten vertreten wird. Das Book of Perfection spielt denn auch innerhalb des amerikanischen Satanismus keine allzugroße Rolle. Die Vorstellungen, die hier so vehement proklamiert werden, leiten sich von Crowleys Menschenrechtserklärung, dem Liber OZ ab, das als geistige Grundlage des satanistischen Individualanar­ chismus gelten kann: The law of the strong: this is our law and the joy of the world. Do what thou wilt shall be the whole of the law. thou hast no right but to do thy will. Do that, and no other shall say nay. Every man and every woman is a star. THERE IS NO GOD BUT MAN 1. Man has right to live by his own law to live in the way that he will to do; to work as he will; to play as he will; to rest as he will; to die when and how he will. 2. Man has the right to eat what he will; to drink what he will; to dwell where he will; to move as he will on the face of the earth. 3. Man has the right to think what he will; to speak what he will; to write what he will; to draw, paint, carve, etch, mould, build as he will; to dress as he will. 4. Man has the right to love as he will; ‘take your fill and will of love as ye will, when, where, and which whom ye will.’ (Liber Al. 1,51) 5. Man has the right to kill those, who would reward these rights. ‘The slaves shall serve.’ (Liber Al. 2,58) ‘Love is the law, love under will.’ (Liber Al. 1,57)

Das politische Programm, das aus dieser Erklärung abgeleitet werden kann, mag, wie aus den bisherigen Darlegungen zu ersehen ist, im jeweiligen Einzel­ fall recht verschieden sein. Der Name Crowley ist in diesem Kapitel recht oft gefallen, doch muß nochmals darauf hingewiesen werden, daß sich keineswegs alle thelemitischen

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Orden als satanistisch verstehen. Der O.T.O. (und auch andere thelemitische Orden) verwahren sich im allgemeinen gegen diese Etikettierung - was von manchen Satanisten durchaus kritisiert wird.

Satanistische Blutmessen in Frankreich

Die Tradition der schwarzen Romantik lebt im Frankreich der Gegenwart fort und es existieren dort spezifisch französische Ausformungen des Satanismus. Die diesbezüglichen Gruppen wirken nicht international, das heißt sie sind auf Frankreich oder auch nur auf einzelne französische Städte beschränkt; auch agieren diese Gruppen mehr im verborgenen als die im vorhergehenden Kapitel vorgestellten amerikanischen. Frankreich ist natürlich keine Welt für sich, auch dort gibt es thelemitische Gruppen und wahrscheinlich auch Mit­ glieder der First Church of Satan und des Temple of Set. Doch sie arbeiten in Frankreich nicht viel anders als in anderen Ländern. Die in diesem Kapitel vorgestellten Gruppen unterscheiden sich jedoch in vielem vom international ausgerichteten achristlichen Satanismus angloamerikanischer Herkunft. Es muß einschränkend eingeräumt werden, daß ähnliche Praktiken auch bei sa­ tanistischen Gruppen anderer Nationalität vorkommen mögen, nur existieren hierüber keine verläßliche Informationen, weil es solche Gruppen aufgrund ihrer Verletzung geltender Gesetze die Öffentlichkeit meiden. Dennoch spricht einiges für die Vermutung, daß die Verbreitung solcher Gruppen in Frankreich relativ gesehen größer ist als anderswo. Dafür spricht zum Bei­ spiel, daß die Bezüge zur schwarzromantischen Literatur Frankreichs oftmals unübersehbar sind. Ein Beweis ist das natürlich nicht. Das hier verwendete Material ist dem Buch Blutmessen und Satanismus von "Frater Cornelis" (Pseudonym) entnommen, der sich teilweise auf (in der Bibliographie aufgeführte) französische Literatur bezog, zum Teil handelt es aber auch um bislang unveröffentlichte Manuskripte. Insofern verschafft das Buch wertvolle Einblicke in den satanistischen Untergrund Frankreichs, die vor allem deswegen bemerkenswert sind, weil es sich manchmal um Gruppen handelt, die die Öffentlichkeit ansonsten aus gutem Grunde scheuen. Zwar geht es nicht um Mord um Totschlag, aber wer würde schon freiwillig seinen Ruf ruinieren wollen? Frankreich ist nicht Kali­ fornien. 196

Satanistische Blutmessen in Frankreich

Das Material stammt aus dem Jahre 1982 und war zunächst nur als Vor­ tragstext für interne Veranstaltungen des deutschen thelemitischen Ordens "Ordo Saturni” konzipiert. Der Ordo Saturni unterhält im übrigen keine Be­ ziehungen zu den in Blutmessen und Satanismus vorgestellten Gruppen und befleißigt sich auch keiner vergleichbaren Praktiken; ebensowenig versteht er sich als satanistisch. Dies wird nicht nur hierzulande allzuleicht durcheinan­ dergebracht. Die Veröffentlichung jenes Buches ist unter anderem Dr. Karl Frick zu verdanken, genauer gesagt, einem Irrtum von ihm. Als eifrigem Sammler ge­ riet ihm auch dieses Manuskript in die Hände und er erwähnt es im dritten Band seiner Trilogie über Satan und Satanisten. Hier nun aber schreibt er: "Zum Abschluß des ‘Ausblicks’ sei aus einem in unserem Besitz befindlichen Manuskript zitiert, das von Bruder .-.Cornelis.-, des O.-.S.-. (Ordo Satanas?)."94 Wie dieses? Wußte der Experte Frick nicht, daß O.-.S.-. nun mal die Abkür­ zung für "Ordo Saturni" ist, wie dies jedem oberflächlichen Kenner der deut­ schen Okkultismus-Szene bekannt ist? Natürlich, man kann nicht alles wissen, aber gerade dies hätte Frick wissen müssen. Erwähnt er doch auf derselben Seite auch die Zeitschrift Unicorn (die ihr Erscheinen zwischenzeitlich einge­ stellt hat) und bewertet diese als Sprachrohr der deutschen Satanismus-Szene. Hier irrt er erneut, denn in keiner der 13 erschienenen Ausgaben von Unicom fand sich auch nur ein einziger satanistischer Artikel, nicht mal Crowley wurde darin sonderlich oft erwähnt. Es erschienen jedoch ein paar Artikel über Satan und Satanismus - die sich aber ausschließlich kritisch mit dem Thema auseinandersetzten -, u. a. aus der Feder von Dr. Karl Frick. In eben­ jener Unicom erschien des weiteren eine Selbstdarstellung des Ordo Saturni (Unicorn Nr. 6), verfaßt von einem "Frater Cornelis". Sollte Dr. Frick gerade jene Ausgabe der Zeitschrift nicht gelesen haben? Das wäre Pech. Da hilft es auch nichts, daß Frick so rücksichtsvoll ist, seinen Lesern einige Passagen des Manuskriptes zu ersparen - die nebenbei bemerkt nicht halb so grauslich sind wie Fricks vermeintliche Analysen. Nun, das zeigt allerdings recht deutlich, auf welche Weise das Thema hierzulande selbst von konfessionsunabhängigen Experten behandelt wird. Im Vorwort zu Blutmessen und Satanismus heißt es: Der Vortragstext gelangte auch zu Dr. Karl R. F. Frick, der ihn in seinem drit­ ten Band der "Satan und Satanismus"-Reihe (Graz 1986) zitiert hat. Dabei hat Dr. Frick den Text wie auch den ORDO SATURNI in einer Art dargestellt, die den uninformierten Leser vermuten lassen muß, bei dem ORDO SATURNI (O.S.) handele es sich um einen "Ordo Satanas" [...] und bei den beschriebenen Praktiken um solche des O.S.

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Um solchen Mißverständnissen zu begegnen, hat sich die Ordensleitung ent­ schlossen, diesen Text vollständig der Öffentlichkeit zugänglich zumachen, da­ mit sich jeder sein eigenes Bild machen kann.95

Da in dem Buch vorwiegend nur die Rituale, nicht aber die Lehrgebäude (so vorhanden) der betreffenden Gruppen dargestellt werden, läßt sich über letz­ tere nicht allzuviel aussagen. Die meisten dieser Gruppen dürften im weite­ sten Sinne einem gnostisch-umgewerteten Satanismus zuzurechnen sein. In ihren Ritualen geht es um eine intensive, existentielle Selbsterfahrung, die erreicht wird, indem man sich extremen Grenzerfahrungen aussetzt. Diese Erfahrung von in der westlichen Gesellschaft oftmals verdrängten oder tabui­ sierten Seinsbereichen soll zu einer Ganzheitlichkeit des Menschen, zu einer Bewußtheit all seiner höheren wie primitiven Persönlichkeitsanteile führen. Das Übertreten von gesellschaftlichen Normen wird dabei nicht selten zur In­ tensivierung des Erlebens eingesetzt. Wie kann nun ein Mensch annehmen, er kenne sich selbst, wenn er seine eigene dunkle Persönlichkeit nie kennengelernt hat? An diesem Punkt setzen die französischen Satanisten an, wenn sie sagen: Lesen, hören, meditieren verschafft keine Erfahrung. Man muß die Dinge an sich herankommen lassen, man muß Dinge tun und dann die eigene Reaktion, die aufbrechenden Gefühle beobachten und analysieren.96

Also eine Art forcierter Selbsterfahrung, die im Zeitalter der WochenendWorkshops in idyllischer Lage lediglich durch ihre etwas drastischen Metho­ den aus dem Rahmen fällt? Zum Teil gewiß, nur wäre es etwas zu kurz gegrif­ fen, es dabei bewenden zu lassen. Echte religiöse Beweggründe sind bei zahl­ reichen Gruppen zweifellos festzustellen und eine entschiedene Ablehnung gesellschaftlicher Normen geht ebenso damit einher - eben auch die Ableh­ nung der als seicht empfundenen Psycho-Workshops. Freilich ist der Protest ein ganz und gar romantischer, der nicht viel mit der pragmatischen Haltung angloamerikanischer Satanisten gemein hat. Allgemein kommt der Gruppenerfahrung in diesen französischen Kulten eine größere Bedeutung zu als dies bei den größeren satanistischen Organisa­ tionen der Gegenwart der Fall ist. So war die First Church of Satan eine Or­ ganisation, in der sich weit verstreut lebende exzentrische Individualisten zu­ sammenfanden, die von der Arbeit innerhalb der Church profitieren wollten, ohne sich jedoch als Teil einer Gemeinschaft zu empfinden. Auch der Temple of Set versteht sich als eine Organisation, der man aus vernünftigen Gründen beitritt und mit der man keinesfalls "verschmilzt". Ein Ritualhöhepunkt wie

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der im folgenden zitierte wäre weder im Sinne der Church noch in dem des Temple: Und das ist der Höhepunkt des Rituals: Der neue Eingeweihte existiert nicht mehr als menschliche Persönlichkeit: Er ist der neue, durch die Gemeinschaft erschaffene Körper und verkörpert die Gemeinschaft. Er ist der Teil und zugleich das Ganze! (Ritual Porteurs du Feu)97

Solch eine enge Gruppenverbindung resultiert natürlich auch aus der Intensi­ tät des gemeinsam Erlebten. Eine weitere Eigenheit jener Gruppen ist deren Vorliebe für Blut und Tieropfer (hauptsächlich werden schwarze Hähne geopfert). An dieser Stelle folgt für gewöhnlich die moralische Verurteilung solcher Praktiken. Allerdings sollte unterschieden werden, ob man das Töten von Tieren an sich oder nur in dem geschilderten Zusammenhang ablehnt. Denn Tieropfer gibt es in einer ganzen Reihe religiöser Gemeinschaften, und wer den Vegetarismus nicht zum Prinzip erhebt, kann eigentlich kaum mit ei­ niger Berechtigung Einspruch erheben. Gerade von Seiten der christlichen Sektenbeauftragten, die sich darin besonders hervortun, vermißt man eine eindeutige Verurteilung jener Tieropfer, von denen es im Alten Testament nur so wimmelt. Sicher ist es an der Zeit, sich Gedanken über die Art und Weise zu machen, in der wir mit den Tieren und dem Leben überhaupt um­ gehen, doch es muß woanders angesetzt werden als ausgerechnet bei einer Handvoll Satanisten, die einen Hahn mit schnellem Schnitt ins Jenseits beför­ dern. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Der Autor ist weit davon entfernt, solche Praktiken zu rechtfertigen oder gutzuheißen, doch gerade hier eine ethisch-moralische Debatte zu beginnen, wäre ein falscher Ansatzpunkt. Als erstes sei das Initiationsritual der in Paris ansässigen "Porteurs du Feu" beschrieben. Nach entsprechender Vorbereitungszeit wird der Initiand zu einer entle­ genen Waldlichtung geführt. Zuvor wurde mit Sand ein magischer Kreis mar­ kiert, worin die Glyphen der "dunklen Dämonen" eingeschrieben werden. Eine Grube wird ausgehoben und ein Holzkreuz aufgestellt. Zu Beginn der Rituals werden Hymnen angestimmt, die in einer Anrufung Luzifers gipfeln. Der Initiand wird herbeigeführt. Er ist unbekleidet, seine Augen verbunden, seine Hände gefesselt. [...] Als erstes wird der Neophyt der Gemeinschaft als jemand vorgestellt, der nach dem Weg des Feuers verlangt. Die auf dem Rücken gefesselten Hände sollen

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allen deutlich machen, daß er immer noch ein Gefangener seines Körpers ist, aber ernsthaft nach Befreiung verlangt. [...] Als nächstes folgt die ‘Prüfung durch die Erde’. Sie soll zeigen, daß zu jeder In­ itiation verschiedene Schritte notwendig sind: Die Probe des Todes; das Loslas­ sen des Körpers, der zur Erde zurückkehrt; die Erlösung durch das Opfer. Da das Blut der Träger des magischen Lebens ist, ist es auch das Blut, das den Initianden zu neuem Leben erwecken soll.98

Nachdem der Initiand in seinen Tod eingewilligt hat, wird die symbolische Tö­ tung vollzogen und die Fesseln werden gelöst. Während die übrigen Ri­ tualteilnehmer die Dämonen des Todes rufen, wird der Initiand in die Grube gelegt und mit Erde beworfen. Sodann wird ein Hahn geköpft und ein Teil des Blutes spritzt über den Initianden, der Rest wird in einem goldenen Kelch gesammelt. Der Hohepriester ruft nun die dunklen Dämonen an und bittet sie, in den Kör­ per des Initianden herabzusteigen, damit dieser durch den Schatten zum Licht gelange. Das Pentagramm der Gemeinschaft wird über ihn gehalten, und er wird zum Mitstreiter geweiht. Dann taucht der Hohepriester die Spitze des Ri­ tualdolches in das im Kelch aufgefangene Opferblut und ruft die vier Elemen­ targeister als Zeugen an.

Sodann wird der Initiand an das Kreuz gebunden und es folgt eine rituelle Geißelung; die Fackeln werden gelöscht und er bleibt allein zurück. Der neue Eingeweihte soll alle Barrieren überwinden, seine menschliche Per­ sönlichkeit hinter sich lassen durch Selbstüberwindung, durch Annahme des Leidens, durch die Fähigkeit, den eigenen Körper als Illusion zu betrachten.

Es geht hier also keineswegs um die Befriedigung bizarrer sexueller Gelüste; zudem handelt es sich um ein Initiationsritual, das jeder Neophyt nur einmal durchläuft; entsprechend Veranlagte kämen keineswegs auf ihre Kosten. Nach einiger Zeit werden die Fackeln wieder entzündet, der Initiand wird be­ freit und eine Orgie setzt ein. Hat die Energie ein gewisses Niveau erreicht, beginnt der zweite Teil des Rituals, die ‘Wiedereinsetzung ’. Auf ein Zeichen des Hohepriesters wird es still. Der neue Eingeweihte wird auf einen mit schwarzem Samt ausgelegten Altar gelegt. Der Dolch des Hoheprie­ sters gleitet über den nackten Körper, zeichnet Linien der Kraft, in denen das schwarze Bewußtsein versickert. Alle visualisieren die magischen Symbole, die von der Klinge gezogen werden. Diese okkulten Zeichen werden Gegenstand der allgemeinen Meditation. Die Intensität all dieser Augen, die auf den Altar

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Satanistische Blutmessen in Frankreich

gerichtet sind, steigert die Sensibilität des geschwächten Eingeweihten. Der un­ bewegliche Körper fällt gewöhnlich schnell in Trance, als sei er nichts als ein reines Bild, geboren aus der gemeinsamen Vorstellungskraft, aus dem Schnitt­ punkt aller Blicke, lebender Ort, an dem alle durch ihre Gedanken und Sehn­ süchte teilhaben. Und das ist der Höhepunkt des Rituals: Der neue Eingeweihte existiert nicht mehr als menschliche Persönlichkeit: Er ist der neue, durch die Gemeinschaft erschaffene Körper und verkörpert die Gemeinschaft. Er ist der Teil und zugleich das Ganze! Von diesem Augenblick an ist der Eingeweihte mit jedem der anderen Or­ densmitglieder auf das engste verbunden. Diese Verbindung kann nicht mehr gelöst werden.

Im ganzen also ein klassisches Initiationsritual mit symbolischem Tod, Aufer­ stehung usw. Der mystische Beigeschmack, der ihm anhaftet, kann als typisch französische Eigenart angesehen werden.

Die sexuellen Komponenten werden im Ritual des "schwarzen Lichtes" eines Ordens, der sich "Erlöser" nennt, stärker betont. In diesem Ritual, für das nur fortgeschrittene Adepten zugelassen sind, werden vor allem die Erfahrungen der Lust und des Todes vermengt, Sex, Tod und Teufel sozusagen. Der Einzuweihende wird darin abwechselnd in Todesangst (vorwiegend durch Strangulation) und sinnliche Erregung gestürzt, um auf diese Weise den Tod zu erotisieren und so die Angst vor ihm zu transzendieren - ein typisches Thema der schwarzen Romantik. De Sade stand hier jedoch keineswegs Pate, wie Frick meint, fehlt doch, ganz einfach gesagt, darin jeder Sadismus. Viel­ mehr handelt es sich um einen Versuch, der Erlebnisarmut des modernen Le­ bens zu entkommen und aus dem Sexuellen mit ziemlich drastischen Metho­ den herauszuholen, was man eben herausholen kann. Spezifisch satanistisch ist daran nichts. Aus diesem Grunde wird auf die­ ses Ritual hier nicht näher eingegangen, so unbefriedigend dies auch sein mag. Just die Beschreibung dieses Rituals wollte Frick seinen Lesern erspa­ ren, und es gibt in der Tat nichts Ärgerlicheres für einen interessierten Leser, als daß ihm etwas erspart wird. Doch nun, da das Manuskript des Frater Cor­ nelis veröffentlicht ist, kann sich jeder informieren, sofern er mag. Die "Söhne des Feuers" verwenden das Blut des Opfertieres, vermischt mit zerriebenen menschlichen Gebeinen und Sperma, um Erkenntnisse über jen­ seitige Welten zu erlangen und die Schwelle des Todes zu überschreiten. Das Blut eines Opfertieres hat in seiner Eigenschaft als Schlüssel zum Totenreich eine lange Tradition. Bereits die griechische Mythologie berichtet immer wie­

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Der zeitgenössische Satanismus

der von Blutopfern, die den Schatten der Toten im Hades dargebracht wur­ den, wenn man den Rat eines Verstorbenen suchte. Die Faszination des Todes wirkt stark in diesen satanistischen Gruppen, die in Satan nicht zuletzt den Herrn des Todes und seiner Mysterien erblikken; eine gewisse Nekrophilie ist häufig anzutreffen. Satan hat hier noch et­ was vom dunklen, melancholischen Glanz, den Baudelaire ihm verlieh, und eine düster schwelende Sinnlichkeit. Die "Zeugen Luzifers" verkörpern diese Strömung des Satanismus in besonders reiner Form. Das Luzifer-Verständnis des Ordens beschreibt der Großmeister desselben so: Für uns gehört Lucifer nicht zu jenem alten Aberglauben [gemeint ist das Chri­ stentum], nicht zu jenem okkulten Trödel, der nach Staub und alten Manuskrip­ ten riecht. Lucifer ist der Licht-Bringer, der Engel des Blitzes, der den Men­ schen die Weisheit bringt, der die Sehnsucht nach jener alten Welt weckt, als der Adept sich zu einem Ebenbürtigen der Götter machte. Mit der ‘Schwarzen Romantik’ wurde Satan wieder zu Lucifer und bekam für alle Zeiten jenen Aspekt der verlorenen Schönheit, des verhüllten Glanzes von Melancholie und Tod. Den Satan des Mittelalters gibt es nicht mehr. Der Engel des Feuers nimmt wieder die erste Stelle ein: Er ist der Schutzgeist der Menschen, die höchste Stufe ihrer Entwicklung, der Endpunkt allen Wissens, die Klarheit, die universelle kosmische Vision. Deshalb erkennt der Mensch in ihm den ‘vollkommenen Bruder’, ein Ziel, das erreicht werden will."

Die Zeugen Luzifers verstehen sich zudem als Anhänger des Vampirismus, wodurch ihre Vorliebe für Blutopfer begründet wird; der Großmeister äußert sich dazu so: Der Vampirismus ist eine magische Tradition der Nacht, deren einziges Ziel der endgültige Sieg über den Tod war und ist. Prinz Dracula in Transsilvanien und andere rumänische Adelige, die wie er ihre Burgen in Adlerhorste verwan­ delt hatten, waren Anhänger des Schwarzen Engels, Lucifers, des Licht-Trägers. Sie praktizierten den wahren Vampirismus, jene Alchemie des Blutes, die Macht und Herrlichkeit dem Kühnen verleiht, der die äußersten Grenzen seiner Existenz überschreitet und es wagt, dahinter zu schauen! Aber Worte bleiben Worte. Sie können die Realität der Roten Messe [eine Blutmesse ohne sexuelle Aspekte] nicht deutlich machen: Den Taumel, der sich bei der Opferung des Tieres löst, das Erwachen des Willens durch die Schönheit des Blutes.

Historisch gesehen dürfte Graf Dracula wohl kein Satanist gewesen sein, doch sein Name ist Mythos. Es wäre noch anzumerken, daß es auch innerhalb des Temple of Set einen Vampir-Orden gibt, der jedoch, gemäß den Ordensre­ geln, keine Tieropfer vollzieht.

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Satanistische Blutmessen in Frankreich

Bei der nun folgenden Schilderung einer Roten Messe, die auf einem bekanten Pariser Friedhof vollzogen wurde, werden ausschließlich die Worte des Großmeisters der Zeugen Luzifers wiedergegeben: Nur wenige können diesen Genuß für sich in Anspruch nehmen: Den größten Friedhof in Paris mitten in der Nacht zu entdecken, ganz allein seine Einsam­ keit und sein Geheimnis zu besitzen und als Lebender - um Mitternacht - sich eine Reise ins Land der Toten leisten zu können. Und dieses Erlebnis ist schon einen Verstoß gegen das Strafrecht wert. Welche Bedeutung haben die Schran­ ken des Gerichts, wenn man sich über sie hinwegsetzen muß, um die letzten Feste der Schönheit feiern zu können! [...] Ich liege vor dem Eingang des Grabes auf den Knien. Ich hebe die Arme zur er­ sten Anrufung, vor der rituellen Hebung der Gebeine, die zur Roten Messe dienen sollen. Stille! Nur die gespenstische Beleuchtung dieses Grabes, in dem die Kerze flakkert. ‘Herr des Todes und der Auferstehung, Spender des Lebens, Du, dessen Name Geheimnis aller Geheimnisse ist, gib unseren Herzen Kraft!’ Jemand hebt einen Kelch über den Sarkophag. Der zarte Goldfilm leuchtet im Kerzenlicht, und wie eine goldene Sonne empfängt der Kelch die Knochen, die aus dem Grab gehoben werden. So gewinnt der Körper des Verstorbenen in dem Kelch lebendige Gegenwart. Was von dem Körper übriggeblieben ist, ruht nun auf Gold und gewinnt plötzlich eine neue Bedeutung. Hier handelt es sich um Auferstehung, um Sieg über den Tod, um einen unvermittelten Glanz, als wenn das unvergängliche Gold im Herzen der Vergänglichkeit lebte. [...] Keine Bewegung, kein Laut. Und doch spürt man die Anwesenheit der Un­ sichtbaren. Ich weiß, daß sie alle der Roten Messe entgegenfiebern und nach dem lebenden Tier lechzen, das Pierre in einem Sack über den Friedhof trägt. Sie wissen schon, daß sie zur Tafel des Blutes geladen sind und daß es ihre An­ wesenheit ist, aus der wir unsere Gewißheit ziehen: Die Gewißheit einer strah­ lenden Zwangsläufigkeit, in der alle Lichter der schwarzen Romantik leuchten. Die Kapelle liegt im Schatten, am Rand des Weges, der zu den Gräbern von Molière und Lafontaine führt. Auch dort ist das schmiedeeiserne Tor bereits geöffnet worden. [...] Im Innern des Grabes haben wir Erde von der rumänischen Insel Snagov ausge­ streut. Diese Erde stammt aus den Ruinen des Grabmals von Dracula. Somit feiern wir die Rote Messe auf der Erde des Herrn der Vampire. Von ihm reicht die ununterbrochene Kette der Eingeweihten der Nacht über dieses Grab bis zu uns. [...] Das leere Grab hinter dem Katafalk erwartet das Blutopfer. [...] Pierre legt die zur Roten Messe notwendigen Geräte auf den mit schwarzer Seide bedeckten Katafalk: Den goldenen Kelch, der die menschlichen Knochen enthält; den Op­

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Der zeitgenössische Satanismus

ferdolch; das Pentagramm der Anrufung und das Buch, das die Beschwörungen enthält.

Es folgen verschiedene Anrufungen: Ich hebe den Dolch, und das Funkeln seiner Klinge antwortet dem Gold des Kelchs und dem roten Glanz des Lederpentagramms. Jedes der Metallgeräte entzündet eine neue Sonne. Die Minuten verstreichen, Stunden vielleicht. Das Wort antwortet der Geste, die Geste antwortet dem Wort. ‘Zauber einer schrecklichen Macht, Hexerei, älter als die längst zerstörten Mauern von Babylon, lange bevor Ninive erträumt wurde, alt über alles Erin­ nern hinaus. Es sind sieben, es sind sieben, sieben sind es!’

Alle greifen die letzten Worte der Beschwörung auf, skandieren die Zahl ‘sieben’, um die alte Besessenheit, die Hexenkraft dieses mehr als fünftausend Jahre alten Gebetes zu wecken.

Knochenstücke verbrennen mit den Weihrauchkörnern und verbreiten einen entsetzlichen Gestank. Man darf sich dem Geruch des Todes nicht verweigern. Man muß ihn mit vollen Zügen einatmen, als sei es kostbarer Sauerstoff. ‘Lucifer, entsteigst Du den schwarzen Tiefen oder kommst Du von den Sternen herab? Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, hast du gesagt. Ich werde ihm Macht geben über Lebende und Tote. Hier stehe ich, um diese Macht von dir zu fordern, durch Ihn, der auf dem weiten Bogen der Mit­ ternacht haust, dessen Geist in dieser geheiligten Erde wohnt, der Wölfe und Fledermäuse befiehlt. Mach, daß sein Geist in diesen Ort herabfährt und ihn dem Tod entreißt!’

Zu Füßen der Leuchter auf dem schwarzen Katafalk liegt ein Haufen zitternder Federn. Mit meinem Lederhandschuh halte ich das Tier an den Flügeln und zwinge es zur Bewegungslosigkeit. Auch seine weitaufgerissenen Augen spie­ geln die Kerzenflammen wider. Es starrt unbeweglich in die Flammen. Dieses Bild wird es bei seinem Sturz in die Dunkelheit mitnehmen: Das Bild des Feuers. Wieder hebe ich die funkelnde Klinge. ‘Herr, Du verlangst nach Blut und bringst den Sterblichen das Grauen. Emp­ fange von neuem das Blut, welches das Leben gibt!’ Die Klinge fährt herab und schlägt den Kopf des Tieres ab. Erst bewegt es sich noch, dann nicht mehr. Ich schwenke den zuckenden Körper über das offene Grab: ‘Höllenfürst! Ich trinke das Blut Deiner dreizehn Wunden!’

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Die "Satanspriesterin" Ulla von Bemus

Nur einige Augenblicke, dann lasse ich das Blut weiter auf die Erde im Grab sprudeln - die Erde aus dem Grab von Prinz Dracula, dem Herrn über die Wa­ lachei. Für einige Sekunden durchquert die Seele des Opferpriesters die Jahrtausende, und die schreckliche Überlieferung wird ihr offenbart. Einige Sekunden durch­ lebt sie tatsächlich das alte Leben, jenseits der Zeit der Menschen. Hier auf dem Grabstein, auf dem schwarzen Tuch, in einer verlassenen Grab­ kammer: Das Wunder von Leben und Tod! [...] ‘Einsam, jenseits von Kälte, jenseits von Hitze, jenseits der Götter, jenseits der Menschen, gekommen aus tiefster Tiefe. Wer hätte solche Kraft, wenn nicht jene, die uns gleich sind. Empfange von ihnen die Kraft, die die Schmerzen überwindet.’ Stille! Durch meine tränenfeuchten Augen sehe ich wie durch einen Schleier das Gold der Ritualgeräte schimmern, ein Funkeln von Gold, das mit den Trä­ nen, die ebenfalls zu Gold geworden sind, um die Wette strahlt. Pierre, Renee und Sylvie versammeln sich um den Katafalk, und ihre Stimmen erzählen die Geschichte der Hexerei des Goldes: ‘Zauber einer schrecklichen Macht, Hexerei, die älter ist als die längst zerstör­ ten Mauern Babylons, lange bevor Ninive erträumt wurde’.

Nun, in Frankreich zumindest hat die romantische Form des Satanismus also überlebt. Die Verbindung von Satanismus und Dracula-Verehrung läßt sich zwar auch anderenorts gelegentlich beobachten, ist aber keineswegs üblich. Lord Byron allerdings, der Ahnherr des romantischen Satanismus, war einer der ersten, die den Vampirismus kultivierten, sowohl literarisch wie auch real. Es nimmt also nicht wunder, daß gerade jene, die sich dem Engel Luzifer mit schwarzromantischer Verve nähern, der Faszination Draculas erliegen. Es ist übrigens eine interessante Tatsache, daß es im modernen Film ge­ rade die Vampirgestalten sind, die dem romantischen Bild Luzifers am ehe­ sten entsprechen (während Satan selbst dort meist in reaktiver Weise ge­ zeichnet wird).

Die "Satanspriesterin" Ulla von Bernus

Die bekannteste deutsche Satanistin ist wohl Ulla von Bernus, und auch die einzige, die sich in aller Öffentlichkeit zu ihrem Satanismus bekannt hat. In manchen Punkten entspricht sie den allgemeinen Vorurteilen so vollständig, 205

Der zeitgenössische Satanismus

daß sie immer für einen schönen Skandal und reißerische Schlagzeilen gut ist. Ihren aufsehenerregendsten Auftritt hatte sie am 17. September 1984 in der ZDF-Sendung "Ich töte, wenn Satan es befiehlt". Der Titel der Sendung stammt allerdings nicht von ihr. Die Sendung erregte hohe Aufmerksamkeit, Pfarrer Sommerauer verklagte von Bernus gar wegen Mordes, kam aber nicht damit durch, da magische Tötung hierzulande kein strafwürdiges Vergehen ist. Sommerauer meinte dann, entweder sie könne das nicht, dann sei sie we­ gen Betruges dran - denn sie ließ sich ihre Dienste natürlich teuer bezahlen oder sie könne es, dann müsse sie sich doch wegen Mordes verantworten. Von Bernus nutzte die Möglichkeit, weiter an der Publicity-Schraube drehen zu können und verklagte nun ihrerseits Pfarrer Sommerauer wegen Aufforde­ rung zum Mord. Auch diese Klage wurde selbstverständlich zurückgewiesen, doch beide erfreuten sich der öffentlichen Resonanz. Doch nicht nur die Kir­ che, auch zahlreiche "Hexen" wandten sich gegen von Bernus, man munkelt, daß es zu einigen magischen Scharmützeln gekommen sein soll... Frau von Bernus hat sich immer entschieden von den modernen Hexen aller Couleur distanziert und darauf bestanden, Satanspriesterin zu sein. Die Hexen ihrerseits haben sich immer wieder von Frau von Bernus distanziert. Zu Recht, denn die modernen Hexenkulte haben mit Satanismus nicht das geringste zu tun. Mittlerweile hat sich von Bernus aus dem Geschäft zurückgezogen und praktiziert nur noch für sich selbst, was dazu führte, daß sich die Wogen in letzter Zeit etwas geglättet haben. Von Bernus vertritt eine höchst eigene Form des Satanismus, die ihre eigene Kreation ist. Sie ist nicht organisiert und unterhält zu anderen Organisation im besten Fall lose Kontakte, sie bietet jedoch Seminare an und hat ein paar Schüler und Schülerinnen. Ihr Satanismus könnte als synkretistisch gefärbt und reaktiv bezeichnet werden, doch wehrt sie sich gegen die Polarität GutBöse. Im Bereich der Magie sei der Gegensatz positiv-negativ geeigneter, um unterschiedliche Energieformen wertfrei zu bezeichnen. Sie sei demnach eine schwarze Magierin, die mit negativen Energien und Wesenheiten arbeite und eben Satan diene, nicht aber dem "Bösen". Sie versteht sich durchaus als Dienstmagd Satans (eine Einstellung, die in der modernen Satanismus-Szene antiquiert anmuten muß), die sich aber andererseits auf die Protektion Satans verlassen könne - gutes Personal sei selten und das lasse man nicht so leicht im Stich. Insofern hält sie die Annahme für berechtigt, Satan würde sie vor eventuellen negativen karmischen Folgen ihres Tuns bewahren. Ihre magi­ schen Praktiken leiten sich nicht von spezifisch satanistischen Traditionen, sondern von der allgemeinen Tradition der abendländischen rituellen Magie

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Die "Satanspriesterin" Ulla von Bernus

ab. Ihr Weltbild ist vom westlich-okkultistischen Synkretismus geprägt, beson­ ders aber von der Anthroposophie. Dies ist nicht weiter verwunderlich, war doch ihr Vater, Alexander von Bernus, zu seiner Zeit einer der führenden Köpfe der Anthroposophie und ein Freund Rudolf Steiners. So entspricht ihre magische Weitsicht im großen und ganzen der anthroposophischen, de­ ren kosmisches Modell, das Elementarwesen, Geister, Dämonen, Engel, ver­ schiedene Sphären, Reinkarnation und Planetenreisen der Seele umfaßt, von Ulla von Bernus weitgehend akzeptiert wird. Einige Einschränkungen macht sie natürlich, vor allem mit der anthroposophischen Luzifersicht erklärt sie sich nicht einverstanden: Ich gehe allerdings nicht mit Steiner konform, wenn er von Luzifer als dem Lichtbringer spricht. [...] Luzifer ist jetzt der gestürzte Engel und steht eindeutig an der Seite Satans. Luzifer-Evokationen sind tödlich gefährlich. Nur wir schwarzen Magier arbeiten mit Luzifer, und da kann ihn Rudolf Steiner nicht als Lichtbringer bezeichnen. Der schwarze Magier könnte nicht mit Luzifer ar­ beiten, wenn Luzifer eine positive Wesenheit wäre.100

Auch der "geistige" Weg Steiners gehört für sie zur anderen Seite. Die schwarze Magie unterscheide sich vom weißmagischen geistigen Weg, so von Bernus, dadurch, daß er der Weg der Materie sei; der schwarze Magier trachte nicht danach, sich zu vergeistigen, wie der Anthroposoph dies tut, sondern er liebe die Materie, ohne jedoch die Existenz der geistigen Welt zu leugnen. Ungewöhnlich ist, daß von Bernus keine Wertung vornimmt. Der weiße Weg sei genauso gut wie der schwarze, es sei eine Frage der Bestim­ mung, für welchen Weg man geeignet sei. Den geeigneten Weg solle man dann konsequent einschlagen, sei dies nun der schwarze oder der weiße. So empfindet sie auch keine Feindschaft den Weißmagiern oder Christus gegen­ über, es ist eben nur nicht ihr Weg. Diese Bestimmung setze sich sogar über viele Inkarnationen hinweg fort und es sei nicht gut, seinen Weg von Inkarna­ tion zu Inkarnation zu wechseln. Ihre ganze Verachtung gilt hingegen den "mausgrauen" Magiern, die sich nicht für einen Weg entscheiden könnten. Dabei kommt fast die gesamte Esoterik-Szene ziemlich schlecht weg. Sogar bei Crowley findet von Bernus noch einiges, was grau schimmert. Crowleys Lehren sind für von Bernus irrelevant, ihr geistiger Vater ist er nicht.

Im Grunde praktiziert von Bernus so etwas ähnliches wie schwarze Anthropo­ sophie, und vorwiegend in diesem Sinne ist ihr Satanismus reaktiv. Ihre Ri­ tuale bewegen sich eher im anthroposophischen Weltbild denn im christli­ chen. In ihrer Welt tummeln sich freilich auch Wesen, die der Anthroposo­ phie fremd sind. Insofern ist von Bernus ein typisch deutsches Phänomen, wie

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Der zeitgenössische Satanismus

eben auch die Anthroposophie vorwiegend im deutschsprachigen Raum ver­ breitet ist. Es mag wohl sein, daß sie ihre Ausbildung tibetanischen "Grünkappenmönchen" zuschreibt, doch mit angloamerikanischen oder französischen Satanisten geht sie jedenfalls nicht konform. Bei ihren Ritualen beschwört sie nicht Satan selbst, sondern in der Regel untergeordnete Geistwesen. Auch die Führer der Elementarwesen haben anwesend zu sein. Die beschworenen (und auch die nicht-beschworenen) Gei­ ster werden von ihr als reale, autarke Wesenheiten betrachtet, die dem Men­ schen zumeist feindlich gesinnt seien; hierin liege die Gefahr der Magie. Der Argumentation der Church of Satan und des Temple of Set, der Magier müsse keinen Schutzkreis ziehen, wenn er Wesen der Finsternis evoziere, denn er habe sich auf die Seite Satans geschlagen, weshalb es absurd wäre, diesen zu fürchten, würde von Bernus gewiß nicht zustimmen. Auch ist, was die magische Praxis anbelangt, Relativismus ihre Sache nicht. Das Geister­ reich ist ebenso real wie dessen Gesetze und Regeln, sie bevorzugt solides traditionelles magisches Handwerk: Den Tod bringt immer der Todesengel Osrael, der stets aus dem Norden kommt und der Termin muß exakt berech­ net sein. Bei einem Todesritual arbeitet man mit Saturnkräften. Das geht gar nicht an­ ders, denn Saturn ist der Todesplanet. Wenn man dagegen aggressive Angele­ genheiten durchführen will, z. B. eine Trennung von Menschen, dann arbeitet man mit den Marswesen. Liebesgeschichten dagegen würde man mit Hilfe von Venuswesenheiten durchführen. [...] Es [das Todesritual] muß immer nachts stattfinden! Natürlich vollzieht man es immer am Sonnabend, dem Saturn-Tag. Es darf niemals später als zwölf Uhr nachts - und zwar nach der Normalzeit, nicht der Sommerzeit - werden, weil es dann sehr gefährlich wird. Es würde dann ein Angriff der Geistwesen stattfin­ den.101

Alles andere wäre mausgraue Magie, von Stümpern zelebriert. Wie sieht es aber nun mit der Moral der Ulla von Bernus aus, ist diese wirklich so schwarz und satanisch, psychopathisch und skrupellos? Nein, ganz und gar nicht, von Bernus ist von Volkes Stimme gar nicht so weit entfernt - und gerade diese Volkstümlichkeit ist es, die bedrohlich erscheinen kann: Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß ich nicht auf die Wünsche irgendeines Menschen eingehe, der zu mir kommt, weil er irgendeinen Nachbarn von ihm nicht ausstehen kann und ich den für ihn tothexen soll. Dergleichen mache ich prinzipiell nicht. Eine Hexe bin ich sowieso nicht! Für einen Sexualverbrecher um nur ein Beispiel zu nennen - würde ich allerdings ein Todesritual durchfüh­ ren. Wenn zum Beispiel die Angehörigen eines Kindes, welches von einem

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Menschen mißbraucht worden ist, zu mir kommen würden, damit ich den Se­ xualverbrecher töte, so würde ich das tun. Dazu wäre ich sofort bereit. Ich bin für die Todesstrafe! [...] Ich gehe danach, ob ein Mensch in einem Staat, zum Beispiel den USA, unter die Todesstrafe fallen würde, was ich als berechtigt ansehe. Wenn es aber ein Fall ist, wo irgendeine Frau ihren Mann um die Ecke bringen lassen will, weil sie einen neuen Geliebten hat, dann lehne ich sowas generell ab. Mit solchen Angelegenheiten ist nicht zu scherzen. Der Fall muß ganz genau feststehen, er kann sich nicht auf ungenaue Aussagen stützen, daß jemand vielleicht ein Mör­ der sei. In so einem Fall wäre ich gegen die Todesstrafe. Aber wenn er ein Mörder ist, dann soll er seinen Tod auch gleich erleben.102

Doch Gerechtigkeit gibt’s nicht gratis, Richter werden schließlich auch be­ zahlt, wenn auch nicht immer so reichlich. Es ist nicht so, daß von Bernus mordlustig wäre, sie hält solcherlei einfach für den Zuständigkeitsbereich der Schwarzmagier, Weißmagier können halt keinen Kontakt zum Todesengel herstellen. Sie selbst räumt ein, nicht heilen zu können, sie besteht auf einer Aufgabenteilung zwischen schwarzen und weißen Magiern. Ihr Weltbild ist im Grunde nicht rein satanistisch, sondern bewegt sich innerhalb eines weitaus­ holenden Synkretismus. Sie fühlt (oder besser, sie fühlte) sich für die mensch­ lichen Leidenschaften zuständig. Neben Todesritualen praktizierte sie in er­ ster Linie Liebeszauber oder, wie sie es formulieren würde, Sexzauber. Einen gesunden Menschenverstand hat sie sich trotz alledem bewahrt: Mit Liebe hat das alles nichts zu tun. Für diejenigen, die unseren Weg gehen, ist das eine reine Sex-Geschichte. Zu mir kommen nur solche Frauen, die das Fritzchen statt des Mäxchens im Bett haben wollen. Sie nennen das Liebe, aber was dies mit Liebe zu tun hat, das frage ich mich wirklich. Was ist Liebe? Der weiße Magier praktiziert sie vielleicht Menschen gegenüber. Aber wir nennen das anders: Es gibt Sex, und es gibt Partnerschaft. Eine Partnerschaft ist eine Freundschaft zwischen zwei Menschen gleich welchen Geschlechts. Hierbei muß der eine für den anderen einstehen und in jeder Situation - vor allem in schwierigen - für diesen anderen dasein, sonst ist es keine echte Freundschaft. Liebe möchte ich dies allerdings nicht nennen. Dieses Wort existiert bei uns nicht. Allerhöchstens könnte ich sagen, daß ich den Planeten liebe, denn dieser ist mir wichtig, weil er Materie ist. Aber alles andere ist entweder positive Part­ nerschaft oder eine Sex-Beziehung. Insofern wollen diejenigen Menschen, die den sogenannten Liebeszauber beanspruchen, an sich nur einen Sexzauber. Aber Liebe ist das nicht, denn nach ein paar Jahren wollen sie schon wieder den nächsten Bubi. Eine echte Partnerschaft steht dagegen auf einer sehr viel höhe­ ren Ebene.103

Weise Worte einen alten Frau...

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Der zeitgenössische Satanismus

Jugendokkultismus/-satanismus

Seit Mitte der 80er Jahre wird hierzulande zunehmend über einen sogenann­ ten "Jugendokkultismus" bzw. "-satanismus" berichtet und vor dessen Gefah­ ren gewarnt. Solche Berichte wurden und werden vorwiegend in den Medien verbreitet. Bei den dort zu Wort kommenden "Experten" handelt es sich zu­ meist um die Sektenbeauftragten der Kirchen. Die Flut der Berichte und Warnungen setzte jedoch ein, lange bevor fundierte sozialwissenschaftliche Erkenntnisse über diese Phänomene vorlagen. So kann es nicht verwundern, daß die meisten dieser Berichte die Gefahren des sogenannten Jugendokkul­ tismus leichtfertig übertrieben und die Zahl der jugendlichen Satanisten bei weitem zu hoch angesetzt wurde. Seit 1988 liegen nun erste wissenschaftliche Studien vor, die das Bild etwas zurechtrücken. Mit Blick auf diese Studien läßt sich sagen, daß der Jugendokkultismus/-satanismus in erster Linie ein Medienereignis ist und daß die Berichte der Medien wie die der Sektenbeauf­ tragten zum Teil erheblich von der Realität abweichen. Die Haltung der Presse ist dabei durchaus nachvollziehbar: Sie will reißerische Stories, die Nachricht, daß manche Jugendlichen es neuerdings spannender finden, in Teehäusern mit dem Pendel zu spielen als in Discos zu gehen, würde nieman­ den vom Hocker reißen. Warnt man aber vor katastrophalen psychischen Fol­ gen, berichtet über schwarze Messen mit Blut und Sex und stellt die Jugend quasi als eine Lemmingherde hin, die sich kopflos in finstere okkulte Ab­ gründe stürzt, macht das schon etwas mehr her. Die Sektenbeauftragte haben ihre eigenen Gründe, sich der Boulevardpresse als "Experten" anzudienen (was ihnen leicht fällt, da wirkliche Experten in die allgemeine Hysterie nicht einstimmen mögen). Sie brauchen Aufmerksamkeit und Publicity, da ihnen nur dann die erwünschten Fördermittel zufließen. Die Methode, die Dring­ lichkeit ihrer Arbeit durch maßlos übertriebene Zahlenangaben zu untermau­ ern, wurde ja bereits bei der Auseinandersetzung mit den sogenannten "Ju­ gendreligionen" Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre erfolgreich ange­ wandt. In dem Maße wie die Anziehungskraft der "Jugendreligionen" östli­ chen Charakters abnahm (deren Mitgliedschaft allerdings vorwiegend aus Er­ wachsenen bestand), war das erhöhte Interesse vieler Jugendlicher an okkul­ ten Experimenten eine willkommene Gelegenheit für die Sektenbeauftragten, ihre Wichtigkeit aufs neue herauszustellen. Doch zunächst sind hier einige Klarstellungen vonnöten: Der Begriff "Jugendokkultismus" ist nicht korrekt, da "Okkultismus" sich durch eine bestimm­

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Jugendokkultismus/satanismus

te Art der Weltdeutung definiert. Okkulte Praktiken wie Pendeln, Kartenle­ gen, Gläserrücken usw. und hier eventuell auftretende paranormale Phäno­ mene gewinnen im Okkultismus nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Weltdeutungssysteme an Bedeutung. Die Jugendlichen, von denen hier die Rede ist, sind aber zumeist nur an bestimmten Praktiken interessiert, mit denen unabhängig von einer okkultistischen Weitsicht experimentiert wird. Es kann also lediglich von einem gesteigertem Interesse von Jugendlichen an ge­ wissen okkulten Praktiken gesprochen werden, nicht aber von "Jugendokkul­ tismus". Das Interesse von Jugendlichen an irgendeiner Art von Satanismus ist entgegen der Presseberichterstattung sehr gering. Die "Black-Metal"-Musik, die mit satanistischen Symbolen und Texten arbeitet, hat wohl bei vielen Jugendlichen ein gewisses passives Interesse am Satanismus geweckt, doch ist dies in der Regel oberflächlicher Natur und eben auch nur eine weitere Mode. Kaum einer macht sich die Mühe, die Texte dieser Gruppen, die man gesungen ohnehin kaum verstehen kann, aufmerksam zu lesen. Beim berüchtigten "Backward masking", dem einpressen verschlüsselter Bot­ schaften, die nur hörbar sind, wenn die Platte rückwärts gespielt wird, dürfte es sich um einen Papiertiger handeln, da kaum jemand über ein technisch ge­ eignetes Abspielgerät verfügt, das solche Botschaften hörbar machen könnte. Es ist halt ein Modegag. Fest steht jedoch, daß das Interesse vieler Jugendlicher an okkulten Techniken in den letzten Jahren stark angestiegen ist, auch wenn es längst nicht die Ausmaße erreicht hat, die oft unterstellt werden. Ob dies jedoch so besorgniserregend ist, ist eine andere Frage. Es ist nicht das erste Mal, daß Jugendliche einer solchen Mode anhängen, bereits die Generation unserer Großeltern interessierte sich in jungen Jahren für den Spiritismus. Die tatsächlichen Gefahren, denen diese Jugend dann ausgesetzt war, waren je­ doch ganz andere. Dies dürfte heute nicht anders sein. Andererseits war es seit jeher die Angewohnheit ernstzunehmender Ju­ gend, "Lastern" zu frönen, die der Elterngeneration suspekt erschienen. Der Rock’n Roll etwa ließ viele den Untergang des Abendlandes befürchten, dann waren die Beatles an allem schuld, und als sich schließlich langmähnige Ju­ gendliche auf Sofas lümmelten, Pink Floyd hörten und kifften, schien gar alles zu spät zu sein. Heute sind es nicht die Erfolglosesten, die sich nostalgisch an solches Treiben zurückerinnern; die Welt ist zwar seither nicht besser gewor­ den, doch ohne Beatles, Pink Floyd, Rolling Stones und Marihuana sähe die Welt heute bestimmt auch nicht besser aus. Die Besorgnis über solch notwen­ dige jugendliche Andersartigkeit war seit jeher ein probates Mittel, von wirk­ lichen Problemen und Mißständen abzulenken. Jene mehr praktisch veranlag­

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Der zeitgenössische Satanismus

ten Jugendlichen, die einst Häuser besetzten, waren ja auch nicht gern gese­ hen. Sicher gibt es dabei immer auch Opfer, solche, die den Halt verlieren und denen die jeweiligen Moden scheinbar zum Verhängnis werden. Doch handelt es sich dabei meist um ein Scheitern an den realen gesellschaftlichen Anforderungen, das nicht durch die jeweiligen Jugendmoden bedingt ist. Man könnte natürlich alles, was suspekt erscheint, rigoros unterbinden, doch ist dies sicherlich keine erstrebenswerte Lösung. Zudem würde dadurch kaum ein Problem gelöst werden. Die Schädlichkeit okkulter Praktiken ist dabei keineswegs erwiesen, und alles scheint darauf hinzudeuten, daß psychisch stabile Jugendliche diese ohne Risiko durchführen können. Die psychischen Probleme, die bei wenigen Ju­ gendlichen allenthalben auftreten, können dagegen nicht auf monokausale Ursachen zurückgeführt werden, hier muß vielmehr das Zusammenspiel vieler Ursachen im individuellen Fall untersucht werden. Die Frage, inwieweit okkulte Praktiken psychisch labile Jugendliche in Gefahr bringen können, ist nach heutigem Kenntnisstand noch nicht abschließend zu beantworten. Generell kann jedoch gesagt werden, daß in solchen Fällen die Beschäftigung mit okkulten Praktiken eher als Symptom denn als Ursache einer psychischen Störung angesehen werden muß.

Dr. U. Müller, Leiter der "Forschungsstelle für psychiatrische Soziologie" der psychiatrischen Klinik der Universität Düsseldorf sowie der "Forschungsgrup­ pe Weltanschauungen der APG-Düsseldorf', war einer der ersten, der auf diesem Feld empirische Untersuchungen durchführte, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Er befragte u. a. 3950 Jugendliche im Bundesland Bayern und gelangte hier nicht nur zu der Erkenntnis, daß Jugendliche in nur sehr geringer Zahl dem Satanismus zuneigen, sondern konstatierte auch: Als Droge ist etwas zu verstehen, das zu seelischer oder körperlicher Abhängig­ keit führt, manchmal auch zu beidem. Der Okkultismus erzeugt diese Phäno­ mene jedoch nicht. Eindeutig zeigten unsere Untersuchungen vielmehr, daß Menschen, die sich hiermit beschäftigen, darauf nicht wirklich angewiesen sind. Jedenfalls nicht in dem Sinne, daß sie es nicht mehr lassen könnten. Es gibt noch nicht einmal nennenswerte Gruppen-Abhängigkeiten: Viel eher kann man sagen, daß die Okkultismus-Welle dazu führt, daß jeder seinen eigenen Weg der Sinn-Suche geht. Was hier geschieht, ist viel ego-zentrierter als das, was etwa die großen Amtskirchen an Sinngebung anzubieten haben. Der Begriff "Privatreligion" ist in dem Zusammenhang eigentlich ganz passend.104

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Jugendokkultismus/satanismus

Auch die Medienberichterstattung untersuchte Dr. Müller eingehend, wobei er zu folgenden Schlüssen gelangte: 1. Der Okkultismus/Satanismus/Spiritismus ist ein Problem für und durch die Presse: Durch stete Wiederholung verselbständigen sich Behauptungen zu Tat­ sachenaussagen, Einzelfälle werden auf Gruppen übertragen (so werden Trends suggeriert). Da die Fakten der Sache nach im Dunkeln verharren sollen, bietet sich so der Ausdeutung Raum und erleichtern den Verzicht auf Beweisführung. 2. Er ist ein Problem für und durch die Kirchen: Die Kirche verläßt den Rah­ men ihrer ‘Gläubigen-Abergläubigen’ und macht den Okkultismus/Satanismus/ Spiritismus zum gesamtgesellschaftlichen Problem. Dies ist sinnvoll, solange transparent bleibt, daß ein Problem der Kirchen durch die Kirchen zum ge­ samtgesellschaftlichen Problem gemacht werden kann. Die Komplexität der kirchlichen Aufgaben bedingt Spezialisten, schafft sich Sektenbeauftragte. Die Prinzipien des Spezialistentums (Ausweitung und Vertiefung des eigenen Ge­ biets zur Behauptung der eigenen Position und seiner Bedeutung; Verschiebung des eigenen Tuns in Richtung auf Überwertigkeit) in Verbindung mit der po­ stulierten Allgegenwart des Bösen machen die Allgegenwart (mancher) Sekten­ beauftragter in den Medien erklärlich. ‘Experten’ lernen, was Zeitungsleser konsumieren wollen. Sie lernen auch, sich aus ‘Sachexperten’ zu ‘Selbstinszenie­ rungsexperten’ wundersam zu wandeln. 3. Der Okkultismus/Satanismus/Spiritismus ist ein Problem für die Jugendli­ chen: [...]

Hier jedoch liegen, so Dr. Müller, verläßliche empirische Daten nicht in aus­ reichender Menge vor und oft werden im komplexen Einzelfall (zum Beispiel im Falle eines Selbstmordes) monokausale Ursachen angenommen, die sich aber methodisch nicht nachweisen lassen. Weiter führt Dr. Müller aus: Wichtig erscheint mir, Vorsicht walten zu lassen, daß nicht Normen und Werte der Elterngeneration dort durchzudrücken versucht wird, wo das Anderssein Jugendlicher als subkulturelles, passageres Syndrom für diese notwendig ist. [...] Dabei belegen die Forschungen der ‘schwarzen Pädagogik’, wie wenig Kinder immer und zu allen Zeiten geschützt waren vor Unterdrückung, Terror und Ausbeutung, wie immer auch seelischer Schaden angerichtet wurde innerhalb von geltenden Erziehungssystemen und wie andererseits als ‘Verderbnis’ ange­ prangert wurde, was außerhalb der jeweiligen Normenkultur der Elterngenera­ tion an Einflüssen möglich war. [...] Zuweilen muß der Jugendliche geschützt werden vor Jugendschützern.10'’

Im Rahmen der Studie Das Leben und Wirken des Satanisten T.106 geht Dr. Müller näher auf die vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen dubio­ sen Herangehensweisen an diese Problematik ein:

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Der zeitgenössische Satanismus

Die Vermarktung von Okkultismus/Spiritismus/Satanismus setzt nun solche und andere Aussagen junger Menschen (bezugnehmend auf den Satanisten T.) flugs um in Dramatisierungen dubiosester Art, die, da sie stets psychologisierender Natur sind, auf großes Interesse stoßen und ihren Nachhalleffekt eben daraus ziehen, daß sich in ‘Psychologie’ jeder für einen Experten hält. Ob da nun die Religionspädagogin bei Besuchen in Schulklassen ‘erkennt’, daß jedes 10. Kind psychisch auffällig sei, ob Politiker Okkultismus als ‘Droge’ bezeich­ nen, ob eine spezifisch unqualifizierte, gleichwohl rührige, selbsternannte ‘Fachfrau in Sachen Seelenfang’ Ungereimtes, Drohungen und Warnungen aus­ stößt. Auch wenn Kirchenmänner Horrorvisionen malen, fehlen Belege und Aussagen über Ursache und Wirkung, Therapiebedarf und Therapieerfolge oder -mißerfolge. Alles dies wirkt denn doch zu sehr als Geschäftemacherei. [...] Innerhalb der Psychiatrie ist man ohnehin vorsichtig mit eindeutigen UrsacheWirkungsketten, gerade bei Psychosen. Okkulte Praktiken können sicher eine Auslöserfunktion für eine psychische Dekompensation haben, eine Psychose verursachen können sie nicht, diese Mutmaßung zeigt nur, daß man den Psycho­ sebegriff der Psychiatrie nicht kennt. Wollte man eine Diagnose haben, müßte man dies mit Hilfe der Begriffsapparatur der ‘Erlebnisreaktionen’ oder ‘Durchgangssyndrome’ tun. Wahninhalte bilden sich entlang von Gedankenund Informationsangeboten in der sozialen Wirklichkeit, also können auch okkultistische/spiritistische/satanistische Ideen zu den Wahninhalten, Wahnbil­ dern und Wahnerlebnissen werden, völlig unabhängig von der Ursache der Ent­ stehung der Krankheit.107

Die Verlautbarungen der Sektenbeauftragten hält er in vieler Hinsicht für nicht förderlich: Weiter ist penetrant, daß in den Verlautbarungen der Kirchenvertreter mit dem Versuch gearbeitet wird, Angst zu erzeugen, Drohungen auszustoßen und War­ nungen zu geben vor leiblichen und psychischen Gefahren für Jugendliche. Darf man die inflationäre Verwendung des Null-Wortes ‘Droge’, insbesondere Ein­ stiegsdroge, noch gelassen ignorieren, eben weil es keinen Inhalt mehr transpor­ tiert, so sind Warnungen vor Psychosen und Selbstmorden als Folge einer Be­ schäftigung mit dem Okkultismus massive Angstmache. Ganz und gar er­ schrecklich wird es, wenn Pfarrer Dr. Hauth von ‘Mord’ spricht. [...] Die ‘Erklärungen’ der Phänomene des Okkultismus/Spiritismus/Satanismus sind bunt und mißbrauchen nahezu jedwede Wissenschaftsdisziplin, aus deren Erklärungspotentialen zu menschlichem Befinden und Verhalten ‘Brauchbares’ herausgepickt wird. [...] Infolge der schwer zu überprüfenden wirklichen Zusammenhänge psychischer und sozialer Faktoren als Ursache der Hinwendung von Menschen zu Okkultismus/Spiritismus/Satanismus und der Folgen davon ist es leicht, Behauptun­ gen aufzustellen, von denen man hoffen kann, daß sie nicht widerlegt werden können, weil sie unsinnig sind. In der Wissenschaft muß der, der Behauptungen

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Jugendokkultismus/satanismus

aufstellt, diese belegen; aber dies gilt wohl nicht für Kirchenvertreter, schließ­ lich muß man sich vor ‘übertriebenem Rationalismus’ hüten, denn der führt ja zum Okkultismus (Pfarrer W. Schmidt, Donau Kurier v. 24. 5. 88), und da will man als Seelsorger doch nicht hin.108

Dies ist in der Tat ein Problem der Kirchenvertreter: argumentieren sie allzu rationalistisch, verlassen sie den Boden ihrer eigenen Religion, würden sie je­ doch das ganze als rein religiöse Auseinandersetzung verstehen, verlören sie ihre vernünftig-überlegene Position, was ihnen ebensowenig behagen kann.

Die in dem Buch analysierte Geschichte des Jugendlichen Satanisten T. kann hier nicht näher ausgebreitet werden, es zeigt, kurz gesagt, die Geschichte ei­ nes von den Medien hochgepuschten jungen ‘Satanisten’ auf, der sich bei nä­ herem Hinsehen als sympathischer junger Mann entpuppt, der einen Sata­ nismus hinter sich gelassen hat, der halb so schlimm war, wie ihn die Medien machten und auch wie er ihn einst, um den Erwartungen der Medien gerecht zu werden, selbst dargestellt hat. Dieser Jugendsatanismus, wenn er denn ausgeübt wird, ist nahezu immer re­ aktiver Natur. Theoretisches Wissen verschafft man sich selten systematisch, meist wird auf das zurückgegriffen, was gerade zufällig verfügbar ist. Im Falle des Satanisten T. war es ein Exemplar des berüchtigten Necronomicons, das ein Freund besaß (eine der vielen sich im Umlauf befindlichen Fälschungen eines altertümlichen Buches zur Totenbeschwörung - die Existenz eines Ori­ ginals ist zudem fraglich). Dies können zur Not auch Informationen aus Hor­ rorvideos oder billigen Geistergeschichten sein. Im allgemeinen ist das Inter­ esse recht kurzlebig, die Motivation zu solchem Tun liegt zumeist in Neu­ gierde, Abenteuerlust oder einer diffusen Protesthaltung. Lebensangst oder das Bedürfnis nach Selbstbestätigung mögen in einigen Fällen hinzukommen. Größtenteils liegen die Antriebe aber in Bedürfnissen, die für einen heran­ wachsenden Menschen durchaus legitim sind und die man ihm zugestehen sollte. Daß es sich in Einzelfällen anders verhalten mag, versteht sich. Verbindungen zwischen dem Jugendsatanismus/-okkultismus und dem organisiertem Okkultismus wie Satanismus bestehen in keiner Weise. Die Kenntnisse der Jugendlichen bezüglich solcher Organisationen sind gering und gelegentliche Annäherungen scheitern zumeist nach kurzer Zeit aufgrund gegenseitigen Unverständnisses. Offensichtlich sind die Motivationen erwach­ sener Satanisten sehr unterschiedlich zu denen der Jugendlichen.

Doch nun zu weiteren Studien. Es wurden in den letzten Jahren ein paar me­ thodisch fundierte Umfragen durchgeführt, von denen hier nur die den Ju­ 215

Der zeitgenössische Satanismus

gendsatanismus betreffenden Ergebnisse angeführt seien, da der ‘Jugend­ okkultismus’ als solcher nur in den seltensten Fällen etwas mit Satanismus zu tun hat und somit für diese Abhandlung nicht von Relevanz ist. 1988 führte Prof. Mischo vom Institut für Grenzgebiete der Psychologie der Universität Freiburg eine Befragung von psychosozialen Beratungsstellen bezüglich des Jugendokkultismus durch. Von 906 angeschriebenen Beratungs­ stellen antworteten 496 (54,7 %). Diese Umfrage kann natürlich keinen re­ präsentativen Charakter haben, da nur solche Jugendliche berücksichtigt wer­ den konnten, die jene Beratungsstellen aufsuchten. Auch wurden die Jugend­ lichen nicht selbst befragt, sondern die Angestellten der Beratungsstellen wur­ den um ihre Einschätzung der Lage gebeten. Diese schätzten dann, daß 24 % der ratsuchenden Jugendlichen Erfahrungen mit Satanskulten oder schwarzen Messen hätten - bei den meisten anderen okkulten Bereichen waren die Zahlen weit höher, so wurden bei "okkulten Praktiken" (Gläserrücken, auto­ matisches Schreiben, Pendeln usw.) 61,3 % angegeben.109

1989 veranstaltete der Berliner Religionswissenschaftler Prof. Zinser eine Be­ fragung unter 2211 Berliner Schülern zwischen 13 und 20 Jahren, deren Ergebnisse als repräsentativ gelten können. Von allen berücksichtigten Okkultpraktiken scheinen schwarze Messen die geringste Anziehungskraft auf Schüler auszuüben. Demnach hatten 23,8 % aller Befragten Erfahrungen mit okkulten Prak­ tiken, 46,2 % äußerten Interesse an weiteren Informationen. 1,9 % aller Befragten waren passiv an schwarzen Messen beteiligt, 2,4 % aktiv, insgesamt also 4,3 %. Das Interesse der Jungen an schwarzen Messen war dabei deutlich höher als das der Mädchen: 2,6 % gegenüber 1,9 %. Des weiteren erfreuten sich schwarze Messen ihrer größten Beliebtheit bei Schü­ lern der Oberstufe - 4,8 % der männlichen und 1,6 % der weiblichen Ober­ schüler verfügten diesbezüglich über aktive oder passive Erfahrungen. Allerdings ließ das Interesse der Jungen an jeglicher Art von okkulter Betätigung ab dem 20. Lebensjahr rapide nach. Die Anzahl der männlichen 20jährigen mit okkulten Interessen war zu gering für differenzierte statistische Aussagen. Immerhin noch 12,5 % der weiblichen 20jährigen befaßten sich ak­ tiv mit okkulten Praktiken. Da das Interesse der Mädchen an schwarzen Mes­ sen aber generell geringer ist, dürfte die Zahl derer, die an solchen teilneh­ men, unerheblich sein. Bereits die Zahl der 19jährigen Mädchen, die aktiv an schwarzen Messen teilnehmen, ist so gering, daß keine statistischen Angaben mehr möglich sind. Bei den 18jährigen nahmen immerhin noch 8,1 % der Jungen und 3,6 % der Mädchen an schwarzen Messen teil. Bei den Jungen fällt besonders auf, daß die Beteiligung an schwarzen Messen bei den

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Jugendokkultismus/satanismus

19jährigen mit 9,4 % ihren absoluten Höhepunkt erreichte, während bei den 20jährigen die Zahl so gering ist, daß keine statistischen Angaben mehr mög­ lich waren. Auch die Zahl der männlichen Schüler, die sich generell mit ok­ kulten Praktiken befaßten, lag bei den 19jährigen bei 34,4 %, während bei den 20jährigen keine Angaben mehr möglich waren. Hier ist also ein deutlicher Bruch festzustellen. Bei männlichen Schülern scheint das Interesse am Okkul­ ten kurz vor dem Schulabschluß schlagartig nachzulassen. Bei weiblichen Schülern ist zwar ebenfalls ein Nachlassen des Interesses festzustellen, doch ist dies längst nicht so abrupt (von 17,2 % bei den 19jährigen auf 12,5 % bei den 20jährigen). Mit schwarzen Messen scheint es bei Jungen wie Mädchen mit 20 Jahren jedoch Schluß zu sein. Von einer "Sucht" kann hierbei also nicht die Rede sein, an einer "Droge", von der man abhängig ist, verliert man nicht so einfach das Interesse. So nützlich es ist, über diese Daten verfügen zu können, muß doch leider gesagt werden, daß an Zinsers Studie einiges unbefriedigend ist. Er hat als Religionswissenschaftler eine Studie vorgelegt, die jeder fähige Sozialwissen­ schaftler ohne religionswissenschaftliche Kenntnisse ebensogut hätte erstellen können. Wesentliche Begriffe sind hier nicht definiert worden; so weiß man zum Beispiel nicht, was man sich unter einer schwarzen Messe vorzustellen hat und was die betreffenden Jugendlichen nun wirklich gemacht haben. Was eine schwarze Messe ist, ist selbst unter Satanisten strittig. Daß Schüler hier einheitliche Vorstellungen haben, ist nicht anzunehmen. Manche mögen es bereits als schwarze Messe empfinden, wenn beim Schein einer Kerze Satan angerufen wird, andere mögen tatsächlich Mäuse und ähnliches geopfert ha­ ben. Die Möglichkeiten sind hier zahlreich, und gerade in diesem Punkt bringt die Studie keine Klarheit. Bei seinem Kommentar wirft es Prof. Zinser dann aus der Kurve: Er reiht ein Klischee ans andere, ohne daß seine Auslassungen durch die Ergeb­ nisse der Studie auch nur im geringsten gedeckt wären, ja er stellte in seiner Untersuchung nicht einmal die Fragen, die nötig gewesen wären, seine Be­ hauptungen zu untermauern. Ein solches Nebeneinanderstellen von gesicher­ ten Zahlen und durch nichts belegten persönlichen Meinungen ist nicht ge­ rade ein Musterbeispiel wissenschaftlicher Redlichkeit, findet sich im Umgang mit dem Okkultismus aber leider noch allzuoft. So führt Zinser aus: Da die Teilnahme am kirchlichen Religionsunterricht in Berliner Schulen frei­ willig ist und dieser Unterricht besonders in der Oberstufe wenig in Anspruch genommen wird, andererseits die häusliche Unterweisung bzw. entsprechende

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Der zeitgenössische Satanismus

Veranstaltungen in den Kirchen ebenfalls zu wenig wahrgenommen werden, fällt hier die religiöse Kritik an magischen und okkulten Praktiken aus.110

Diese Sätze muß man zweimal lesen. Es sind tatsächlich Aussagen eines Reli­ gionswissenschaftlers, der sich nicht scheut, Okkultismus als "Bildungsaber­ glaube"111 zu bezeichnen. Daß der Begriff "Aberglaube" im Vokabular eines Religionswissenschaftlers nichts zu suchen hat, lernt man gemeinhin bereits im Proseminar. Doch wenn es um den Okkultismus geht, scheint zuweilen auch für manchen Religionswissenschaftler ein gewisser Populismus opportu­ ner zu sein als redliche wissenschaftliche Analyse. Nochmal Zinser: Auch wenn man nicht übersehen darf, daß für viele Schüler die aktive und pas­ sive Beteiligung an okkulten Praktiken eher der Unterhaltung und dem gemein­ samen Zeitvertreib dient, durch den zugleich Gruppenbildung und Kommunikationen ermöglicht werden, und sich das Interesse am Okkultismus später auch ‘auswächst’, wird man subjektiv von einem Mangel sprechen müssen, das eigene Leben bewußt, nach eigenen Wünschen und Fähigkeiten gestalten zu können und Konflikte vernünftig [...] zu balancieren [...].

Das Bemerkenswerte an diesen Äußerungen ist, daß Zinser den Schülern keine einzige Frage gestellt hat, die sich auf diese Problematik bezog. Er ver­ fügt also über keinerlei Kenntnisse bezüglich Charakter und Lebensbewälti­ gung der befragten Schüler. Auch beruft er sich nicht auf andere Untersu­ chungen, die solche Schlüsse nahelegen könnten. Dies wäre auch schwerlich möglich, da solche Untersuchungen nicht existieren. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als völlig unbelegbare Behauptungen vorzubringen. Anstatt sich erst einmal zu bemühen, eine Schädlichkeit von okkulten Praktiken nach­ zuweisen oder charakterliche Defizite bei solchen Schülern, die sich mit ok­ kulten Praktiken beschäftigen, methodisch korrekt aufzuzeigen, macht er sich bereits auf die Suche nach den "Schuldigen": Schließlich mag auch individuell eine unzureichende Entwicklung zu verzeich­ nen sein, indem weder Elternhaus noch die Schule den Kindern hinreichend beigebracht haben, daß und wie Spannungen zu ertragen sind. Das Überange­ bot an Spielsachen, mit denen Eltern seit dem wirtschaftlichen Reichtum im westlichen Teil Deutschlands ihre Kinder traktieren und unausweichliche indi­ viduelle und familiäre Konflikte zudecken, ermöglicht den Kindern weniger als früher, mit Spannungen umzugehen und sie auszuhalten.

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Satan und Rockmusik

Warum soll man sich da noch die Mühe genauerer Nachforschungen und Analysen machen, wenn es doch nur allzu deutlich ist, daß es die Spielsachen sind, die die Jugend dem Okkultismus zuführen. Wird das Problem des "Jugendokkultismus" auf diesem Niveau behandelt, so kann man wohl davon ausgehen, daß es sich längst von selbst erledigt hat (das heißt aus der Mode gekommen ist), bevor es auch nur ansatzweise "gelöst" sein wird. Die Pro­ bleme von Jugendlichen werden allerdings, ob mit oder ohne Okkultismus, bleiben, und sie verdienten es, ernsthafter behandelt zu werden, als dies durch Studien und Kommentare wie jene geschieht. Es ist hinzuzufügen, daß über die Wechselbeziehung von Charakter/Lebensbewältigung und Interesse an Okkultismus/Esoterik bislang kaum fun­ dierte psychologische Studien erarbeitet wurden. Eine der wenigen Studien zu diesem Thema ist jene, die von den Amerikanern McGarry und Newberry an der Kent State University durchgeführt wurde. Diese kam zu dem überra­ schenden Ergebnis, daß Menschen, die sich mit "okkulten Wissenschaften" be­ schäftigen, sich eher in der Lage wähnten, gestaltend in den Weltlauf ein­ zugreifen und die Welt politisch zu verändern, während Menschen, die an derlei Dingen kein Interesse zeigten, die Welt eher als "nicht kontrollierbar", "nicht berechenbar" und "schlicht ungerecht" empfanden.112 Die Auslassungen Zinsers erinnern hingegen allzusehr an die Früchte ei­ nes Wochenend-Heimkurses in psycho-soziokultureller Instant-Analyse. Es wäre in der Tat angebracht, sich den tatsächlichen Umgang von Jugendlichen mit okkulten Praktiken und unter Umständen auch Weltbildern einmal ge­ nauer zu betrachten. Anhand der verfügbaren Informationen über Charakter und Ursachen des Jugendsatanismus kann zur Zeit leider noch nicht allzuviel Konkretes darüber ausgesagt werden; zumindest dann nicht, wenn man den Gefilden wissenschaftlicher Seriosität nicht entschweben möchte.

Satan und Rockmusik

Besonders im Zusammenhang mit dem Jugendsatanismus wurde das Thema satanistische Rockmusik in den letzten Jahren immer wieder angesprochen und auch vor den Gefahren des sogenannten "Black-MetaF'-Rock wurde ge­ warnt. In der Tat nahm in dieser Zeit die Zahl der Rockgruppen zu, die dü­ stere, gewaltverherrlichende Texte vortrugen und sich okkultistischer wie sa-

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Der zeitgenössische Satanismus

tanistischer Symbole bedienten. Die religiöse Ernsthaftigkeit dieser Gruppen ist dabei über alle Maßen zweifelhaft und Kommerzkalkül dürfte bei den mei­ sten dieser Gruppen im Vordergrund stehen. Die Statements von Musikern der Gruppen "Slayer" und "Venom" (zwei der extremsten Black-Metal-Gruppen) dürften hier exemplarisch sein: "Man sollte das nicht überbewerten, da ist schon viel Image dabei." (Mantas von Venom), und ein Mitglied der Gruppe Slayer antwortete auf die Frage, ob sie denn Satanisten seien: "Wenn ich diese Frage verneine, würden viele Leute an unserem Image zweifeln."113 Und auch dort, wo der Satanismus ernsthaft gemeint ist, wie dies allem Anschein nach bei DIO, dem neuen Sänger von "Black Sabbath" der Fall ist, sind die diesbezüglichen Kenntnisse oberflächlich, und der meist recht primi­ tive reaktive Satanismus der Musiker beschränkt sich in der Regel auf die Songs und die Bühnenshows. Eine andere Frage ist, wie diese Musik auf die Jugendlichen wirkt, ob diese nicht ernst nehmen, was so ernst gar nicht gemeint war. Doch auch dies scheint in der Regel nicht so zu sein: die im letzten Kapitel aufgeführten Um­ frageergebnisse deuten darauf hin, daß der Jugendsatanismus ein Randphä­ nomen ist, obwohl die Popularität mancher Black-Metal-Gruppen recht hoch ist. Rockkonzerte sind für viele Jugendliche (und nicht nur für diese) eine Möglichkeit, Aggressionen abzubauen und sich einmal gehen zu lassen - dies ist immer so gewesen, es liegt in der Tradition der Rockmusik. Bedenkt man, daß eine unspezifische Protesthaltung von Anfang an ein Lebensnerv der Rockmusik, die diesen Namen verdiente, gewesen ist, nimmt es nicht wunder, daß diese ab und an auf einen reaktiven Satanismus zurückgriff, ist dieser jenem Lebensgefühl doch besonders verwandt. Daneben stellte sich die Rockmusik immer wieder in den Dienst reflektierter Sozialkritik, die mal mehr, mal weniger im Vordergrund stand. Vor allem was den Rock-Under­ ground anbelangt, läßt sich beobachten, daß sich okkulte Wellen alle paar Jahre mit sozialkritischen Wellen abwechseln. Das verantwortungslose, kommerzorientierte Gebaren mancher Grup­ pen soll hier keineswegs gerechtfertigt werden, es ist ein schmutziges Ge­ schäft, zweifellos. Black Metal leistet einer bedenklichen Realitätsflucht ebenso Vorschub wie das immer gegenwärtige Heile-Welt-Gedudel und ist im Kern ebenso re­ aktionär wie Peter Alexander oder "Modern Talking". Eine unschöne Sache, aber sicher nicht in der Art und Weise gefährlich, wie dies oft behauptet wird.

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Satan und Rockmusik

Unschön sind aber auch solche Bücher, wie jenes des Salazar Banol, das sich Die okkulte Seite des Rock nennt und die Rockmusik generell als Werk des Teufels hinstellt. Der Hirthammer-Verlag veröffentlicht solcherlei gerne und gekauft wird es auch. Das Aufbegehren und der Protest, oder einfach die im besten Falle ungezähmte Energie, die eben ein Gutteil der Substanz des Rock darstellt, muß von einer bestimmten christlich-autoritären Warte aus gesehen immer "satanisch" anmuten, ob nun auf Satan Bezug genommen wird oder (wie dies die Regel ist) auch nicht. Und das ist gut so - gibt es doch nichts in sich Widersprüchlicheres und Unauthentischeres als "christliche Rockmusik" und "Beat-Messen". Dies ist nun wirklich obszön, wozu haben denn Bach, Mozart, Haydn und all die anderen ihre schönen Messen geschrieben? Daß "fortschrittliche" Jungspunde mit gepflegter Langhaarfrisur irgendeine Beatsülze zur altehrwürdigen heiligen Messe verbrechen? Das muß ja nun wirklich nicht sein.

Der Flirt von Rockmusikern mit dem Teufel ist kein neues Phänomen, bereits die "Rolling Stones" bekundeten auf ihrer LP Beggars Banquet ihre "Sympathy for the devil". Die Stones waren und sind zwar keine Satanisten, doch ist ihre Sympathiebekundung aus dem Geist der Rockmusik heraus dennoch authen­ tisch. Der Text dieses Songs ist zwar längst nicht so blutrünstig, wie die Texte der neuen Black-Metal-Gruppen, dürfte diese aber doch überdauern - weil er eben Stil hat und nicht mit unverstandenen Blutvokabeln um sich wirft. In den frühen 70ern machten dann "Black Sabbath" Furore, die den Heavy-Metal-Rock erstmals konsequent mit satanistischen Aussagen verban­ den und von daher als Ahnherren der zeitgenössischen Black-Metal-Musik gelten können. Die Black-Metal-Gruppen konnten aber nicht einmal das bescheidene Niveau von "Black Sabbath" oder auch "Judas Priest" erklimmen, und so gerie­ ten ihre Texte, um diesen Mangel wettzumachen, um einiges blutrünstiger. So dichtete "Venom": Der Tod ist schnell unter Satans Schwert. Das Leben bedeutet ihm nichts, meinem Herrn. Trink aus dem warmen, dem süßen Kelch, der letzte Schlag des Herzens der Jungfrau es dröhnen die Blitze, die Jungfrau stirbt, und Satan lacht: Opfer. (Venom, Sacrifice)

Die deutsche Übersetzung dieses Textes macht das ganze Elend nur noch deutlicher. Daß Jugendliche nach dem Hören solcher Songs Jungfrauen ge221

Der zeitgenössische Satanismus

schlachtet hätten, ist nicht bekannt. Auch dafür, daß sie es vorhaben, gibt es keine Anzeichen. Was Jugendliche an solcher Musik reizt, gilt es in der Tat genauer zu erforschen. Doch hinter allem steht die Frage: Warum hören Menschen schlechte Songs? Der Autor ist der Ansicht, daß die Gefahr, die von solchen Songs ausgeht, keineswegs so groß ist, daß man sich den Luxus, diese nach rein ästhetischen Kriterien zu beurteilen, versagen müßte. Der Ge­ genbeweis steht noch aus. Was aber halten explizite Satanisten von dieser satanischen Black-Metal-Musik? Nun, "Lucifer" Taylor, von der rustikalen "Ancient Brotherhood of Sa­ tan", äußert sich dazu folgendermaßen: Greetings Brothers & Sisters,

I recently have been asked to give my opinion concerning heavy-metal music. Well here she goes... I believe in La Vey’s theory that heavy-metal was not a satanic creation, but a Christian one. Quasi-Satanic bands have made their mind-numbing repetitive noise successful for several reasons: ‘Satanic symbolism is more appealing to people than that of Christianity, this is why they created it. It’s also a convenient scapegoat because they can denounce it from their pulpits, while, at the same time, it gets the kids to buy, buy, buy, when they don’t buy hymns to Jesus. It’s the last attempt to save Christianity,’ said La Vey. Its message is self-destructive (e. g. Guns’n Roses’ album, Appetite for Destruct­ ion) in general and, therefore, anti-constructive! (Constructive = dealing with ones feelings in a healthy way, not a guiltridden way.) Hence, this is how Heavy-Metal was born, since Christianity has dominated man’s psyche for 2.000 years. No wonder it’s so popular. Also, hypocritical (e. g. - Motley Crue’s ‘Shout at the Devil?’ - with a pentagramm on the cover? - above those words?) [...] And then there’s Ozzy [Ozzy Osborne, erster Sänger von "Black Sabbath"], the biggest clown of them all! Its blistering volume, simplitic lyrics and repetitive rhythms lack the quality of true Satanic music which is melodic, lyrical, and dare I say romantic and sensi­ tive'. The Frank Sinatra generation was more self-aware than my desensitized rock generation. The lyrics of songs from the Big Band era have these elements and make the listener think and feel, whereas the crunch of Heavy-Metal with its overkill overpowers the listeners thinking and reasoning processes, ‘turning off the brain - turning up the volume to drown out one’s true feelings. Like helpless children, victims of the conspiracy suffer in limbo. They don’t be­ lieve in Christianity anymore, but are deluded into thinking that they are rebel­ ling against it (shoking authority). Yet, they’re still very much contaminated by it.114

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Satan und Rockmusik

Daß man den Teufel in der Musik sieht, ist kein modernes Phänomen, daß Lachen ebenso wie leichte Musik im Mittelalter bisweilen als Teufelswerk gal­ ten, ist spätestens seit Ecos Roman Der Name der Rose bekannt. Doch verbarg sich Satan auch in der Tonleiter: Der Triton, das Intervall f-h, galt vielen Mu­ siktheoretikern lange Zeit als satanisch, der Spruch "Si contra fa est diabolus in musica" (h gegen f ist der Teufel in der Musik) hatte über Jahrhunderte hinweg Gültigkeit. Aus der liturgischen Musik des Mittelalters war dieses In­ tervall gänzlich verbannt; wollte man dieses Intervall vermeiden, mußte man beispielsweise innerhalb des gregorianischen Chorals um einen Halbton auf b heruntergehen, was für den Wohlklang nicht immer förderlich war. Das Instrument jedoch, das seit jeher als "teuflisch" angesehen wird, ist die Violine. Der "Teufelsgeiger" schien immer auch mit dem Satan im Bunde zu sein. Paganini zum Beispiel war nie über diesen Verdacht erhaben. Eine Le­ gende berichtet von der Entstehung des Teufelstrillers (Trillo del Diavolo): Die Legende behauptet, daß Tartini, gerade Gast des Konvents von Assisi [...], im Traum den Teufel sah - und sofort die entsprechenden Inspirationen daraus bezog. LaLande berichtet in seiner ‘Voyage en Italie’ 1769, was Tartini über jene satanische Nacht erzählt hat: ‘In einer Nacht des Jahres 1713 träumte mir, ich hätte einen Pakt mit dem Teu­ fel geschlossen; der Preis war meine Seele. Fortan geschah alles nach meinen Anweisungen; mein neuer Diener nahm jeden meiner Wünsche schon vorweg. Unter anderem hatte ich den Einfall, ihm eine meiner Violinen in die Hand zu drücken, um zu sehen, ob er irgendwelche schönen Stücke daraus entlocken könnte. Groß war meine Überraschung, als ich nun plötzlich eine so wundersam schöne und mit soviel Kunstfertigkeit gespielte Sonate hörte, wie sie selbst die kühnste Phantasie nicht auszudenken imstande gewesen wäre. Ich war derart hingerissen und verzaubert, daß es mir den Atem verschlug - worauf ich er­ wachte. Ich ergriff sofort meine Geige, um wenigstens einen Teil jener im Traum gehörten Töne in der Wirklichkeit festzuhalten - vergebens. Daraufhin komponierte ich ein Musikstück; das beste meines Lebens, und nannte es - und nenne es immer noch - Teufelssonate.115

Als typisch satanisch galt auch die Motivwiederholung, auf die in den meisten dem Teufel gewidmeten Kompositionen zurückgegriffen wurde, in besonders eindringlicher Manier von Mussorgski in seiner Nacht auf dem Monte Calvo. Daß solch eindringliche Motivwiederholung zudem von einem gewissen sinn­ lichen Reiz sein kann, zeigt recht eindrucksvoll Ravels Bolero (Kurzatmige forderten übrigens erfolgreich eine Single-Version des Bolero...).

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Anmerkungen

Anmerkungen

1) SPIJUTA, Januar 1989, S. 24. 2) H. Schulze-Berndt: Okkultismus und Christentum, S. 16. 3) Gerhard Zacharias: Der dunkle Gott. 4) Ebd., S. 78. 5) Karl Frick: Satan und die Satanisten. 6) Ebd., S. 391. 7) F. W. Haack: Satan, Teufel, Luzifer, S. 19. 8) Siehe Kurt Rudolph: Die Gnosis. 9) Rudolph: Die Gnosis, S. 258. 10) Karl Frick: Licht und Finsternis, Bd. 1, S. 172 f. 11) Crispino/Giovanni/Zatterin: Das Buch vom Teufel, S. 134. 12) Zacharias: Der dunkle Gott, S. 133. 13) Osterkamp: Lucifer - Stationen eines Motivs, S. 75. 14) Ebd., S. 55. 15) Ebd., S. 57. 16) Ebd., S. 58. 17) J. Milton: Poetical Words, S. 276. 18) Joseph Dvorak: Satanismus, S. 201. 19) Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel, S. 66. 20) Osterkamp: Lucifer..., S. 83. 21) Zacharias: Der dunkle Gott, S. 147. 22) Frick: Satan und die Satanisten, S. 116 f. 23) Crispino/Giovanni/Zatterin: Das Buch vom Teufel, S. 58. 24) Giovanni Papini: Der Teufel, S. 204. 25) Julius Evola: Metaphysik des Sexus, S. 182. 26) de Sade: Justine, S. 245. 27) Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, S. 5. 28) Michail Bakunin: Gott und der Staat, S. 57. 29) Siehe Richard Wurmbrandt: War Karl Marx ein Satanist? 30) Osterkamp: Lucifer..., S. 180 f. 31) Zacharias: Der dunkle Gott, S. 181 ff. 32) Osterkamp: Lucifer..., S. 182. 33) Lord Byron: Cain 1/32-8. 34) Ebd., 1/212-6. 35) Ebd., 1/192-4. 36) Praz: Liebe..., S. 95. 37) Ebd., S. 269.

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Anmerkungen

38) Eliphas Levi: Transzendentale Magie, Bd. 2, S. 12 ff. 39) Ebd, S. 167. 40) Dvorak: Satanismus, S. 241. 41) Ebd., S. 239. 42) Ebd., S. 240. 43) Ebd., S. 241. 44) Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen, S. 189 ff. 45) Anatol France: Aufruhr der Engel, S. 475. 46) Siehe Frick: Satan..., S. 172-185. 47) Frick: Satan..., S. 187. 48) Joris K. Huysmans: Tief unten, S. 60. 49) Ebd., S. 277 ff. (Ebd. das folgende Zitat.) 50) Ebd., S. 253. 51) Frick: Satan..., Bd. 3, S. 33. 52) Ebd., S. 62. 53) Ebd., S. 33. 54) Franz Hartmann: Kurzgefaßter Grundriß der Geheimlehre H. P. Blavatskys, S. 175. 55) Osterkamp: Lucifer..., S. 231. 56) Ebd., S. 215. 57) Ludwig Fahrenkrog: Lucifer. Dichtung in Wort und Bild, S. 7. 58) Ebd., S. VI. 59) Franz Bachmann: Lucifer. Drama in vier Aufzügen, S. 97. 60) Ebd., S. 94. 61) Hermann Hesse: Demian, S. 172. 62) Ebd, S. 209 ff. 63) Francis King: Ritual Magie in England, S. 56. 64) Aleister Crowley: Das Buch Toth, S. 114. 65) Joachim Schmidt: Tarot und Okultismus, S. 94 f. 66) Praz: Liebe..., S. 518. 67) Aleister Crowley: Liber Al vel Legis, Kap. 2, Vers 22. 68) Ralph Tegtmeier: Aleister Crowley, S. 204. 69) Gregor Gregorius: Die magischen Rituale Aleister Crowleys, S. 32. 70) Dvorak: Satanismus, S. 100. 71) Ebd, S. 96. 72) A. Lyons: The second coming, S. 133 ff. 73) Ebd, S. 135. 74) Ebd, S. 136. 75) Ebd, S. 137. 76) Ebd, S. 141. 77) Unveröffentlichte Übersetzung der Satanic Bible. Der Übersetzer, ein deutscher Satanist, möchte ungenannt bleiben. Die Satanic Bible ist im Original hierzulande erhältlich. Siehe Bibliographie. 78) Ebd.

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Anmerkungen

79) Ebd. 80) Ebd. 81) Michael Aquino: Black Magie in Theory and Practice, unveröffentlichte deutsche Übersetzung des unveröffentlichten amerikanischen Originals. 82) Dvorak: Satanismus, S. 76. 83) Alle Zitate aus dem Diabolicon sowie alle den Temple of Set betreffenden Zitate sind unveröffentlichtem Originalmaterial oder unveröffentlichten deutschen Über­ setzungen des amerikanischen Originalmaterials entnommen. 84) Brimstone, Oktober 1990, S. 1. 85) Ebd., S. 15. 86) Ebd., S. 19. 87) Ebd., S. 13. 88) Ebd., S. 30. 89) Ebd., S. 31. 90) Ebd., S. 9. 91) Dvorak: Satanismus, S. 90. 92) Ebd., S. 90 f. 93) Ebd., S. 91. 94) Frick: Satan..., Bd. 3, S. 146. 95) Frater Cornelis: Blutmessen und Satanismus, S. 6. 96) Ebd, S. 20. 97) Ebd, S. 29. 98) Ebd, S. 24 ff. (Ebd. die folgenden Zitate.) 99) Ebd, S. 48 ff. (Ebd. die folgenden Zitate.) 100) Flensburger Hefte, Heft 13, S. 40. 101) Ebd, S. 24. 102) Ebd, S. 21 f. 103) Ebd, S. 33 f. 104) Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie, S. 21. 105) Materialdienst derEZW, Oktober 1988, S. 292 ff. 106) Ulrich Müller: Das Leben und Wirken des Satanisten T. 107) Ebd, S. 77 f. 108) Ebd, S. 33 f. 109) Ergebnisse der Umfrage siehe Zeitschrift für Parapsychologie..., Juli 1988, S. 33 ff. 110) Hartmut Zinser: "Wissenschaftsverständnis und Bildungsaberglaube. Überlegun­ gen zur Wiederkehr okkulter Praktiken", in: Peter Antes/Donate Pahnke (Hg.): Die Religion von Oberschichten, Marburg 1989, S. 257-268. 111) Materialdienst derEZW, Oktober 1990; S. 237 ff. (Ebd. die folgenden Zitate.) 112) Siehe Warum - Zeitschrift für Psychologie, Februar 1982, S. 46 ff. 113) Guckloch, Zeitschrift der KJG-Münster, Juli 1988, S. 14. 114) Brimstone, S. 17. 115) Crispino/Giovanni/Zatterin: Das Buch vom Teufel, S. 106.

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