Wahlen und Wähler: Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1987 [1. Aufl.] 978-3-531-12200-7;978-3-322-96181-5

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German Pages 785 [777] Year 1990

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Wahlen und Wähler: Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1987 [1. Aufl.]
 978-3-531-12200-7;978-3-322-96181-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages 1-8
Einführung (Max Kaase, Hans-Dieter Klingemann)....Pages 9-11
Front Matter ....Pages 13-13
Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel (Franz Urban Pappi)....Pages 15-30
Wählen Industriearbeiter zunehmend konservativ? Die Bundesrepublik Deutschland im westeuropäischen Vergleich (Herbert Döring)....Pages 31-88
Was die Dynamik des Arbeitsmarktes für das Wählerverhalten bedeutet (Ursula Feist, Klaus Liepelt)....Pages 89-107
Vive la (très) petite différence! Über das unterschiedliche Wahlverhalten von Männern und Frauen bei der Bundestagswahl 1987 (Jürgen W. Falter, Siegfried Schumann)....Pages 109-142
Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten in der Bundesrepublik (Franz Urban Pappi)....Pages 143-192
Parteipolitische Aktivitäten, Sozialstruktur und politische Netzwerke der Grünen Rheinland-Pfalz im Jahr 1984: Eine Fallstudie (Uwe Pfenning)....Pages 193-214
Front Matter ....Pages 215-215
Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation (Dieter Fuchs, Steffen M. Kühnel)....Pages 217-252
Zur Akzeptanz der politischen Parteien und der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland (Bettina Westle)....Pages 253-295
Wählerwandel und die Abschwächung der Parteineigungen von 1972 bis 1987 (Russell J. Dalton, Robert Rohrschneider)....Pages 297-324
Zerfall und Entwicklung von Parteiensystemen: Ein Vergleich der Vorstellungsbilder von den politischen Parteien in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland (Hans-Dieter Klingemann, Martin P. Wattenberg)....Pages 325-344
Regierungspopularität auf Kredit: Wirtschaftsbilanz, Wende und Wählerwille (Helmut Norpoth, Christian Goergen)....Pages 345-375
Einstellungen zur Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten: Ein Vergleich von Befunden und Strukturen in den späten achtzigerJahren (Hans Rattinger)....Pages 377-418
Ökologie statt Ökonomie: Wählerpräferenzen im Wandel? (Manfred Küchler)....Pages 419-444
Hebt ein „knapper“ Wahlausgang die Wahlbeteiligung? Eine Überprüfung der ökonomischen Theorie der Wahlbeteiligung anhand der Bundestagswahl 1987 (Gebhard Kirchgässner)....Pages 445-477
Front Matter ....Pages 479-479
Meinungsklima und Wahlforschung (Elisabeth Noelle-Neumann)....Pages 481-530
Kommunikationsstrategien der Parteien und ihr Erfolg. Eine Analyse der aktuellen Berichterstattung in den Nachrichtenmagazinen der öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten im Bundestagswahlkampf 1987 (Rainer Mathes, Uwe Freisens)....Pages 531-568
Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere. Die Grünen im Bundestagswahlkampf 1987: Neue Politik, Medienpräsenz und Resonanz in der Wählerschaft (Manfred Knoche, Monika Lindgens)....Pages 569-618
Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986/87. Eine Themen- und Tendenzanalyse (Kurt Koszyk, Jürgen Prause)....Pages 619-646
Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987: Politikerstrategien und Wählerreaktion (Peter Schrott)....Pages 647-674
Der Einfluß der Parteibindung und der Fernsehberichterstattung auf die Wahlabsichten der Bevölkerung (Hans Mathias Kepplinger, Hans-Bernd Brosius)....Pages 675-686
Front Matter ....Pages 687-687
Sieg ohne Glanz: Eine Analyse der Bundestagswahl 1987 (Forschungsgruppe Wahlen e.V.)....Pages 689-734
Die Ausgangslage für die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 — Entwicklungen und Meinungsklima seit 1987 (Max Kaase, Wolfgang G. Gibowski)....Pages 735-771
Back Matter ....Pages 772-785

Citation preview

Max Kaase Hans-Dieter Klingemann

Wahlen und Wähler Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1987

Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.) Wahlen und Wähler

Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin ehemals Schriften des Instituts fur politische Wissenschaft

Band 60

Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.)

Wahlen und Wähler Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl1987

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen 1990

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielf!iltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-531-12200-7 ISBN 978-3-322-96181-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-96181-5

Inhalt

Max Kaase I Hans-Dieter Klingemann Einführun~

I.

9

Sozialstruktur und Wahlverhalten

Franz Urban Pappi Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel

15

Herbert DtJring Wahlen Industriearbeiter zunehmend konservativ? Die Bundesrepublik Deutschland im westeuropaischen Vergleich

31

Ursula Feist I Klaus Liepelt Was die Dynamik des Arbeitsmarktes für das Wahlerverhalten bedeutet

89

Jürgen W Falter I Siegtried Schumann Vive Ia (tres) petite difference! Über das unterschiedliche Wahlverhalten von Mannern und Frauen bei der Bundestagswahl 1987

109

Franz Urban Pappi Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten in der Bundesrepublik

143

Uwe Pfenning Parteipolitische Aktivitäten, Sozialstruktur und politische Netzwerke der Grünen Rheinland-Pfalz im Jahr 1984: Eine Fallstudie

193

6

Inhalt

11. Ideologie, Parteien, Issues, Kandidaten

Dieter Fuchs I Steffen M. Kühne! Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

217

Bettina Westle Zur Akzeptanz der politischen Parteien und der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland

253

Russell I. Dalton I Robert Rohrschneider Wählerwandel und die Abschwächung der Parteineigungen von 1972 bis 1987

297

Hans-Dieter Klingemann I Martin P. Wattenberg Zerfall und Entwicklung von Parteiensystemen: Ein Vergleich der Vorstellungsbitder von den politischen Parteien in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland

325

Helmut Norpoth I Christian Goergen .Regierungspopularität auf Kredit: Wirtschaftsbilanz, Wende und Wählerwille

345

Hans Rattinger Einstellungen zur Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten: Ein Vergleich von Befunden und Strukturen in den späten achtziger Jahren

377

Manfred Küchler Ökologie statt Ökonomie: Wählerpräferenzen im Wandel?

419

Gebhard Kirchgässner Hebt ein "knapper" Wahlausgang die Wahlbeteiligung? Eine Überprüfung der ökonomischen Theorie der Wahlbeteiligung anhand der Bundestagswahl 1987

445

Inhalt

7

111. Massenmediale und interpersonale Kommunikation im Prozeß der Wahlentscheidung Elisabeth Noelle-Neumann

Meinungsklima und Wahlforschung

481

Rainer Mathes I Uwe Freisens

Kommunikationsstrategien der Parteien und ihr Erfolg. Eine Analyse der aktuellen Berichterstattung in den Nachrichtenmagazinen der öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten im Bundestagswahlkampf 1987

531

Manfred Knoche I Monika Lindgens

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere. Die Grünen im Bundestagswahlkampf 1987: Neue Politik, Medienpräsenz und Resonanz in der Wählerschaft

569

Kurt Koszyk I lürgen Prause

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187. Eine Themen- und Tendenzanalyse

619

Peter Schrott

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987: Politikerstrategien und Wählerreaktion

647

Hans Mathias Kepplinger I Hans-Bernd Brosius

Der Einfluß der Parteibindung und der Fernsehberichterstattung auf die Wahlabsichten der Bevölkerung

675

8

Inhalt

IV. Stabilität und Veränderung

Manfred Berger I Wolfgang G. Gibowski I Matthias Jung I Dieter Roth I Wolfgang Schulte Sieg ohne Glanz: Eine Analyse der Bundestagswahl 1987

689

Max Kaase I Wolfgang G. Gibowski Die Ausgangslage für die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 Entwicklungen und Meinungsklima seit 1987

735

Max Kaase I Hans-Dieter Klingemann Einführung

Die Bundestagswahlstudie 1961 unter der Leitung von Gerhard Baumert, Erwin K Scheuch und Rudolf Wildenmann markiert den Beginn der Entwicklung in der Bundesrepublik, hochschuhah politische Wahlen mit dem Instrumentarium der Empirischen Sozialforschung umfassend und systematisch zu untersuchen. Wie auch in anderen entwickelten, demokratisch verfaßten Industriegesellschaften - am ausgeprägtesten sicherlich durch das Engagement von Warren E. Miller in den USA in Form der National Election Study (NES) - hat die akademische Empirische Wahlforschung in der Bundesrepublik eine gewisse Form der Institutionalisierung vor allem in der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen e.V. erfahren. Seit 1965 sind vom Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) finanzierte Erhebungen zu den Bundestagswahlen regelmäßig dem Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung der Universität zu Köln übergeben und dort für das Dauerprojekt "Deutsche Wahlstudie" (German Electoral Data Project) nach den Dokumentationsstandards des Zentralarchivs aufbereitet worden. Mit der Bundestagswahl 1980 hat die ohnehin bestehende enge Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftlern an Universitäten mit der Forschungsgruppe ihren Ausdruck auch in einem jeweils durch Sachbeihilfen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ermöglichten universitären finanziellen Engagement gefunden. Neben diesen eher hochschulorientierten Forschungsaktivitäten hat natürlich auch die Wahlforschung der deutschen privatwirtschaftlich verfaßten Sozialforschungsinstitute Tradition. Hier sind vor allem die Arbeiten von Elisabeth Noelle-Neumann, aber auch die des infas-Instituts (Ursula Feist, Klaus Liepelt) zu nennen; viele Wahlforscher denken mit Bewunderung ebenfalls noch an die nur in hektographierter Form zugängliche Publikation der Wahlstudie 1957 des Frankfurter DIVO-Instituts zurück, deren Orginaldaten leider bis heute noch nicht aufgefunden wurden, so daß in der Reihe der über das Zentralarchiv zugänglichen deutschen Bundestagswahlstudien neben der Bundestagswahl 1949 auch die Bundestagswahl 1957 nicht durch einen Datensatz repräsentiert ist. Dies ist nicht zuletzt auch deswegen zu bedauern, weil die Serie eine unverzichtbare Datenquelle für eine Vielzahl von ausländischen Sozialwissenschaftlern ist, die über das deutsche Wahlverhalten und über politisches Verhalten in Deutschland allgemein arbeiten. Hier gilt es noch eine Lücke zu schließen. In der Bundesrepublik und anderswo wird jeden Tag eine Vielzahl von Daten mit der Methode des persönlichen Interviews erhoben. Es geht wohl nicht an der Wirklichkeit vorbei, wenn man feststellt, daß die überwiegende Zahl dieser Daten der interessierten Öffentlichkeit niemals im Original zugänglich ist und darüber hinaus auch keinen deskriptiven oder analytischen Niederschlag in Publikationen findet. Angesichts der realen und symbolischen Bedeutung von politischen, insbesondere nationalen Wahlen war das in diesem Forschungsfeld immer schon anders. Und dies sollte in einer Demokratie auch

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Max Kaase I Hans- Dieter Klingemann

so sein. Die Herausgeber dieses Bandes haben sich seit 1965 daran beteiligt, Wissenschaftlern und einer interessierten Öffentlichkeit regelmäßig Wahldaten und Wahlanalysen zugänglich zu machen. Das Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung der Universität zu Köln hat für die Weitergabe der Umfragedaten, auch international, eine wichtige Rolle gespielt. Für die in diesem Band vorgelegten Analysen konnten Autoren gewonnen werden, die ein breites Spektrum von Auffassungen vertreten, welche sich nicht selten auch im Grundsätzlichen unterscheiden. Dies entspricht nicht zuletzt unserer Überzeugung, daß Wahlen für den demokratischen Prozeß zu wichtig sind, um sie nur einseitig zu betrachten. Daneben haben wir uns stets bemüht, das immer wieder mögliche und häufig reale Schisma zwischen akademisch und privatwirtschaftlich verfaßter Wahlforschung dadurch überwinden zu helfen, daß wir Beiträge aus beiden Bereichen für unsere Veröffentlichungen gewonnen haben. Wir freuen uns sehr, daß . dieses Bemühen erneut erfolgreich war. In den Vorworten der Veröffentlichungen zur Bundestagswahl 1983 und 1987 haben wir darauf verwiesen, daß mit der zunehmenden zeitlichen Tiefe der verfügbaren Daten Wahlen immer weniger als isolierte, wenn auch extrem akzentuierte Einzelereignisse, sondern als Zäsuren im fortlaufenden politischen Prozeß betrachtet und behandelt werden müssen. Viele Beiträge dieses Bandes verdeutlichen die inzwischen erreichte Selbstverständlichkeit und den wissenschaftlichen Ertrag dieser Perspektive. Nicht zuletzt Prozesse der zunehmenden Abschwächung der etablierten Parteibindungen bei vielen Wählern (dealignment), aber auch eine theoretische wie empirisch angeregte Neubestimmung der Rolle von Massenkommunikation im politischen Prozeß haben uns schon seit einiger Zeit davon überzeugt, daß diesbezügliche Untersuchungen ein integraler Bestandteil wahlsoziologischer Forschung sein sollten. Nachdem uns eine entsprechende Schwerpunktsetzung im Buch zur Bundestagswahl 1983 noch mißglückt war, ist unsere Genugtuung um so größer, daß nach unserer Auffassung dieses Ziel in dem vorliegenden Band in Teil 3 mit sechs Beiträgen in etwa erreicht worden ist. Neben diesen beiden Gesichtspunkten - historische Tiefe und Rolle der Massenmedien in der Politik - scheinen in der Wahlforschung noch andere Gesichtspunkte Bedeutung zu gewinnen. So fehlt es bisher an systematisch ländervergleichenden Wahlstudien; hier deutet der Beitrag von Döring (für die Erlaubnis zur Wiederveröffentlichung danken wir dem Archiv für Sozialgeschichte) eine interessante Entwicklungsrichtung an. Die Diskussion über eine Veränderung der politischen Vermittlungsstrukturen im Sinne einer reduzierten Rolle der politischen Parteien und Interessenverbände und einer gewichtigeren Rolle für Organisationen neuen Typs wie die "Neuen Sozialen Bewegungen" läßt sich auch im Rahmen einer "klassischen" wahlsoziologischen Analyse führen, wie einer der beiden Beiträge von Pappi belegt. Diese Analyse stärkt Vermutungen zunehmender organisatorischer Ausdifferenzierung mit resultierenden Komplementaritäten, nicht Antagonismen. Feist und Liepelt erinnern daran, daß die Wahlforschung stärker als bisher Sozialstrukturelle Differenzierungen ernst nehmen muß, wobei der Fokus der beiden Autoren im Bereich der Arbeitsorganisation liegt. Hier ist Wahlforschung nicht nur vor neue theoretische, sondern auch vor forschungspraktische Probleme insofern gestellt, als solche feinkörnigen Analysen in der Regel viel

Einführung

11

größerer Fallzahlen bedürfen als der, mit denen in den Standardumfragen der Wahlforschung gearbeitet wird. Wgre die ursprüngliche Zeitplanung für das Erscheinen dieses Bandes eingehalten worden, hätte das Buch lgngst an seine Interessenten ausgeliefert werden können. Ohne eine Rationalisierung für die ganz überwiegend den Herausgebern anzulastende Verzögerung finden zu wollen, muß doch gesagt werden, daß sie uns gestattet, zumindest einen Augenblick innezuhalten und uns der Tatsache bewußt zu werden, daß die politischen Entwicklungen in den Osteuropaischen Staaten und vor allem in der DDR auch die Wahlsoziologie zumindest in zwei zentralen Aspekten berühren werden. Zum einen wird die für den 2. Dezember 1990 vorgesehene Bundestagswahl mit einiger Sicherheit von der Frage nach den Voraussetzungen und Folgen der Herstellung der deutschen Einheit beherrscht werden. Hier beschert die Geschichte der Forschung eine einmalige Gelegenheit der Beschreibung und Analyse, wie ein solches Issue in der Gesellschaft und im Parteiensystem politisch verarbeitet, eventuell auch "kleingearbeitet" wird. Was taugen unsere Theorien, um mit einer solchen aktuellen "problematique" fertigzuwerden? Zum zweiten stellt diese Entwicklung für die voraussichtlichen zukünftigen "gesamtdeutschen" Bundestagswahlen einen wichtigen kontinuitgtsbrechenden Schnitt dar, wobei sich diese Aussage nicht nur auf ein physisch vergndertes Wahlgebiet mit ca 12,5 Millionen zusgtzlicher Wahlberechtigten, sondern auch auf eine Reihe von möglichen neuen Trennungslinien und Issues bezieht. Insofern markiert der vorliegende Band, so oder so, einen gewissen Abschluß in der bisherigen Tradition der deutschen Wahlsoziologie. Die Herausforderung und Chance liegt in der zukünftigen Beantwortung der Frage, inwieweit die Theorien und Konzepte der Wahlforschung ausreichen, um selbst derart gravierende und vor allem schnelle Vergnderungen der politischen Landschaft angemessen erfassen zu können. Dieser Band wurde dem Verlag von den Herausgebern reproduktionsreif übergeben. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, daß er, wie seine beiden Vorggnger, auch für die studentischen Interessenten erschwinglich bleiben soll. Daß dies, selbst unter diesen Bedingungen, bei einem Umfang von fast 800 Seiten nicht einfach ist, versteht sich von selbst. Der Dank der Herausgeber richtet sich zunächst an die Autoren. Ohne ihre Bereitschaft, in diesem Band einen Beitrag zu leisten, hätte unser Unternehmen nicht gelingen können. Er richtet sich ferner an das Zentralinstitut für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, das diesen Band, wie seine beiden Vorgänger, in die im Westdeutschen Verlag herausgegebene, etablierte Reihe der Schriften des Instituts aufgenommen hat. Frauke Burian hat den Band als Lektorin betreut. Rolf Hackenbrach hat die Korrekturen verantwortet. Walter Boll, Manfred Hirner und Dirk Martens haben die oft nicht einfachen technischen Probleme bei der Erstellung der Druckvorlagen gelöst. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung hat die Veröffentlichung, wie auch der Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung der Universität Mannheim, in vielfaltiger Weise unterstützt. Die Herausgeber möchten allen an der Produktion des Bandes beteiligten Personen und Institutionen ihren Dank aussprechen.

I Sozialstruktur und Wahlverhalten

Franz Urban Pappi Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel

1. Einleitung

Soziale Klassen sind über Jahrzehnte hinweg in Industriegesellschaften ein entscheidender Faktor für das Wahlverhalten gewesen. Diese Aussage gilt verstärkt für Ulnder mit sozialdemokratischen oder Arbeiterparteien, also für die europäischen Parteiensysteme. Damit ist für ein Verständnis der künftigen Entwicklung dieser Parteisysteme eine Klärung der Frage notwendig, wie sich der Wandel der Klassenstruktur auf das politische Verhalten auswirkt. Zwei konträre Ausgangshypothesen sind denkbar. 1. Veränderungen der Klassenstruktur wirken sich direkt auf das Wahlverhalten aus, weil, bei konstanter Beziehung zwischen Klasse und Wahlentscheidung, Größenveränderungen der Klassen andere Starkeverhaltnisse der Parteien bedeuten. 2. Die Entwicklung führt zu einer AbkappeJung von Klassenstruktur und politischem Verhalten. Die erste These ist die demographische Theorie des sozialen Wandels. Konkret auf die Zunkunft von Arbeiterparteien bezogen, sagt sie voraus, daß die Abnahme des Arbeiteranteils in der Wählerschaft einen Rückgang der Anteile sozialdemokratischer Parteien zur Folge hat. Die zweite These behauptet, daß die Klassenstruktur mit fortschreitender Modernisierung ihre dominante Bedeutung für das politische Verhalten verliert. Der Trend zu Volksparteien oder das "Ende der Ideologien" werden als Folgen derartiger Entwicklungen gesehen. Ich wähle die erste These als Bezugspunkt. Das schließt nicht aus, daß sich im laufe der empirischen Analyse die zweite These schließlich als richtig herausstellt. Statt aber diesen möglichen Zielzustand direkt anzusteuern, soll durch systematische Modifikation der ersten These sichergestellt werden, daß die verschiedenen theoretischen Möglichkeiten, die das Verhältnis von Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel betreffen, auch ausgelotet werden. Die erste Modifikation der demographischen Theorie des sozialen Wandels betriffi die Annahme einer konstanten Beziehung zwischen Klassen und Wahlentscheidung. Es muß mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß bestimmte Klassen ihr Verhaltais zu den politischen Parteien neu definieren. Derartige Neuzuordnungen können in kritischen Wahlen erfolgen. Dies scheint eher eine amerikaaisehe Spezialität zu sein. Für europäische Gesellschaften mit ihren politisierten Sozialstrukturen ist mehr an eine allmähliche Transformation der Zuordnung als Folge des Eintritts neuer Generationen und des Ausscheidens älterer Generationen aus der Wählerschaft zu denken. Diese Fragen werden in Abschnitt 2- "Berufsklassen und Wahlverhalten" -untersucht.

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Franz Urban Pappi

In Abschnitt 3 - "Erwerbsklassen und Wahlverhalten" - gehen wir der Möglichkeit nach, daß sich die Art der Klassenstruktur selbst verändert und zwar auf eine Art und Weise, die sich nicht durch Anteilsveränderungen der herkömmlichen Klassenkategorien erfassen läßt. Diesen Unterschied zwischen der herkömmlichen und einer neuen Klasseneinteilung akzentuiere ich durch die Bezeichnung Berufsklassen versus Erwerbsklassen. 1.1.

Vorbemerkungen zur Klassenstruktur

Wahlsoziologen gehen in der Regel von recht einfachen Begriffen der Klassenstruktur aus oder verbleiben sogar ganz auf der Ebene der Indikatoren für K!assenzugehörigkeit, ohne das theoretische Konstrukt der sozialen Klasse anzusteuern. Dieses Vorgehen hat immerhin einen Vorteil. Die verwendeten Einteilungen der Berufsgruppen sind als deskriptive Kategorien für ganz verschiedene Klassentheorien relevant. Dabei werden die manuell Tätigen, soweit sie Arbeitnehmer sind, zur Arbeiterklasse zusammengefaßt, die übrigen Arbeitnehmer, d.h., Beamte und Angestellte, bilden eine zweite und die Selbständigen eine dritte Klasse. Da diese Einteilung der sozialrechtlichen Stellung folgt, die in Deutschland als Stellung im Beruf bezeichnet wird, soll hier einfach von Berufsklassen gesprochen werden. Die Stärke dieser Berufsklassen verändert sich als Folge des wirtschaftlichen Wandels. Hier ist zuerst an das Wachstum des tertiären Sektors zu errinnern. Der säkulare Rückgang der Landwirtschaft setzte sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt fort, während der produzierende Sektor zunächst noch wuchs. Erst seit Anfang der siebziger Jahre nimmt der tertiäre Sektor auch auf Kosten des sekundären Sektors zu. Dem entspricht die Zunahme der Angestellten und Beamten und die Abnahme der Arbeiterschaft. 1975 gab es noch gleich viele Arbeiter und Angestellte bzw. Beamte, 1985 betrug der Prozentsatz der letzteren bereits knapp 50 Prozent, während der Arbeiteranteil um 10 Prozentpunkte niedriger Ia{ Der wirtschaftliche Wandel wirkt sich unmittelbar nur auf die Erwerbstätigen aus. Deshalb muß im Rahmen unseres Themas neben der Frage, wie die Berufe zu Klassen zusammengefaßt werden sollen, die zweite Frage lauten, welchen Klassen die Nichterwerbstätigen zugeordnet werden sollen. Die traditionelle Antwort der Wahlsoziologen lautet, den Beruf des Haushaltungsvorstands für alle wahlberechtigten Haushaltsmitglieder als die gemeinsame Klassenposition dominierend anzunehmen. Bei nicht mehr erwerbstätigen Haushaltsvorstanden wird auf deren früheren Beruf zurückgegriffen. Diese Verschlüsselungsregeln basieren auf der Vorentscheidung, daß der, zumeist männliche, Haushaltungsvorstand die Klassenlage der, vielleicht berufstätigen, Ehefrau und die seiner Kinder bestimmt. Diese Vorentscheidung mag gerechtfertigt sein und muß sich bei Querschnittsanalysen nicht nachteilig auswirken. Im Längsschnitt ist diese Vorentscheidung aber insofern mißlich, als der Zusammenhang zwischen Klasse und 1

Vgl. Pranz Urban Pappi/Peter Mnich, Social Structure and Party Choice in the Federal Republic of Gerrnany since the 1960's, in: M. Franklin et al., Electoral Change, Cambridge: Cambridge University Press (im Druck), Tab. 1.

Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel

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Wahl dann nicht mehr analytisch getrennt werden kann von dem Zusammenhang zwischen Klasse und Haushaltszusammensetzung. Es ist mit der Möglichkeit zu rechnen, daß zwar der Zusammenhang zwischen Klasse und Wahl unverändert bleibt, daß dies aber in den Daten nicht sichtbar wird, weil sich die Zusammensetzung der Klassen wegen Veränderungen der Haushalts- und Familienstruktur geändert hat. Ich verwende deshalb für den Zeitvergleich den Beruf des Befragten für die Klasseneinteilung. Die Nichterwerbstätigen werden zu einer großen Restgruppe zusammengefaßt, die gut 40 Prozent der Wahlberechtigten ausmacht. Für den Klassenkonflikt im Wahlverhalten bildet die Gewerkschaftszugehörigkeit eine entscheidende intervenierende Variable. Die Gewerkschaften vertreten in erster Linie die Interessen der erwerbstätigen Arbeitnehmer und stützen sich dabei im politischen Bereich auf eine Koalition mit der SPD. Man kann also annehmen, daß Arbeiter, die in einer Gewerkschaft organisiert sind, mit höherer Wahrscheinlichkeit die SPD wählen als nichtorganisierte Arbeiter. Dasselbe Argument gilt für Beamte und Angestellte. Für früher Erwerbstätige oder für Haushaltsmitglieder, bei denen der Haushaltsvorstand Gewerkschaftsmitglied ist, sie selbst aber nicht, trifft diese intervenierende Wirkung der Gewerkschaftsmitgliedschaft nur in abgeschwächtem Ausmaß zu. Auch von daher gesehen ist es also gerechtfertigt, für die Berufsklassen auf den Beruf des Befragten und nicht des Haushaltungsvorstands zurückzugreifen. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter sind, als Hausmacht der SPD, ein Ankerpunkt für den Klassenkonflikt im Wahlverhalten. Ihnen stehen die Selbständigen als Hauptstütze der sogenannten bürgerlichen Parteien gegenüber. Ob sich die große Restgruppe der Beamten und Angestellten allein mit der Gewerkschaftsmitgliedschaft sinnvoll aufgliedern läßt, muß bezweifelt werden. Innerhalb der Mittelschichten ware zunächst eine klarere Klassengliederung notwendig. Diese ist nicht möglich ohne einen theoretischen Klassenbegriff, auf den hin die Berufsgruppen zu sinnvollen Einheiten zusammengefaßt werden sollen. Zur Erfassung wirtschaftlich relevanter Ungleichheit in fortgeschrittenen Industriegesellschaften ist der Webersehe Begriff der Erwerbsklassen geeignet. Danach werden Berufe insoweit zu Klassen zusammengefaßt, "als die Chancen der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen die Klassenlage primär bestimmen" 2• Der Markt für berufliche Leistungsqualifikationen ist für Arbeitnehmer der Arbeitsmarkt, Selbständige sind je nach ihrer beruflichen Tätigkeit direkt auf die Gütermarkte oder die Markte für Dienstleistungen angewiesen. Am Erwerbsklassenkonzept ist neuerdings kritisiert worden, daß die Lebenschancen zunehmend durch staatliche Transferzahlungen beeinflußt würden und weniger durch die Marktlage. Lepsius3 spricht in diesem Zusammenhang von Versorgungsklassen. Ich nehme diese Kritik auf, indem ich drei Gruppen von Nichterwerbstätigen unterscheide, 2

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, Tübingen: Mohr (Siebeck), 5. Auflage 1976, s. 177.

3

M. Rainer Lespius, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1979, S. 166-209.

18

Pranz Urban Pappi

deren Versorgungslage verschieden ist: 1. die Wahlberechtigten, die sich noch in der Ausbildung befinden, 2. die Rentner und 3. die sonstigen Nichterwerbstätigen. In dieser letzten Kategorie befinden sich fast ausschließlich Hausfrauen, deren Lebensunterhalt finanziell von dem Einkommen ihrer Ehemänner bestritten wird. Die beruflichen Qualifikationen werden am besten mit der beruflichen TIHigkeit erfaßt, nicht mit der Stellung im Beruf. Beruf in diesem Sinn ist die Kombination von Leistungen einer Person, "welche für sie die Grundlage einer kontinuierlichen ... Erwerbschance ist". 4 In Anlehnung an Weber sollen diese Leistungen zunächst danach unterteilt werden, ob es sich um disponierende oder an Disposition orientierte Leistungen handelt. Die disponierenden Leistungen, die auch die Erwerbschancen anderer beeinflussen, werden zur Kategorie der Leitungstätigkeiten zusammengefaßt. An Disposition orientiert sind zum einen die manuell Tätigen der Arbeiterklasse, zum anderen die Ausführenden in Verwaltung, Handel und Dienstleistung. Wegen ihrer hohen Qualifikation nehmen die Professionen eine Sonderstellung auf dem Arbeitsmarkt bzw. auf dem Markt für Dienstleistungen ein. Diese Sonderstellung wird zusätzlich dadurch verstärkt, daß einem großen Teil der Fachkräfte über die Festschreibung von bestimmten Abschlüssen für die Ausübung der entsprechenden Berufe eine Appropriation von Erwerbschancen gelungen ist. Ob die entsprechende Tätigkeit als Selbstandiger oder Arbeitnehmer ausgeübt wird, ist sekundär. Die einzige ausschließlich aus Selbständigen zusammengesetzte Erwerbsklasse sind dann die kleinen und mittleren Selbständigen in den verschiedenen Wirtschaftssektoren einschließlich der Landwirtschaft, aber ohne die freien Berufe. Ein Vorteil dieser Erwerbsklassengliederung ist es, daß die Besonderheiten des Arbeitsmarkts für Männer und Frauen besser hervortreten als bei den Berufsklassen. Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, ist die stärkste Einzelgruppe bei den Männern immer noch die Arbeiterklasse, wahrend bei den erwerbstätigen Frauen die Ausführenden in Verwaltung, Handel und Dienstleistung die größte Gruppe ausmachen. Bei den Leitungstätigkeiten sind die Frauen kraß unterrepräsentiert. Daß die Unterrepräsentation bei den professionellen Tätigkeiten nicht so stark ausfällt, liegt sicher auch daran, daß hier die Semiprofessionen wie geprüfte Krankenschwester usw. mit aufgeführt sind. Da die Erwerbsklassengliederung auf einer Verschlüsselung der beruflichen Tätigkeiten basiert und von der Stellung im Beruf zusatzlieh nur berücksichtigt wird, ob jemand Selbständiger ist oder nicht, sind die Voraussetzungen an die Daten größer als bei der traditionellen Berufsklassengliederung. Dies macht den Zeitvergleich schwierig, wenn die offene Frage nach dem Beruf nicht zu jedem Zeitpunkt genau gleich verschlüsselt worden ist. Interpretiert man nur die größeren Prozentsatzdifferenzen im Zeitraum von 1974 bis 1987, so kann man zum einen feststellen, daß der Anteil der sonstigen nichterwerbstätigen Frauen, also der Hausfrauen ohne Berufstätigkeit, von 57 Prozent 1974 auf 39 Prozent 1987 abgenommen hat. Dies ist wahrscheinlich in erster Linie eine Folge des Generationenwechsels. Rentner haben zum anderen bei den Männern nur schwach, bei den Frauen dagegen relativ stark zugenommen. Die Anteile der Wahlberechtigten,

4

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Anm. 2), S. 80.

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Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel

die noch in der Ausbildung sind, haben sich bei den Männern und Frauen in demselben Zeitraum verdoppelt. Tabelle 1:

Erwerbsklassengliederung von wahlberechtigten Männern und Frauen (ohne West-Berlin) 1974, 1980 und 1987

1974 Erwerbsklassen

Männer

Frauen

1980 Männer

Frauen

1987 Männer

Frauen

1. Leitungstätigkeit 2. (Semi-)Professionen 3. Ausführende in Verwaltung Handel, Dienstleistung 4. Kleinbürgertum 5. Arbeiterklasse 6. in Ausbildung 7. Rentner 8. Sonstige Nichterwerbstätige

6.0 11.1

0.8 5.6

4.5 18.1

0.8 10.3

2.3 8.3

0.2 5.6

16.8 9.8 31.6 3.2 21.5 0.1

17.1 3.8 4.3 2.1 9.8 56.5

12.6 3.6 28.9 8.0 20.8 3.5

23.7 2.8 6.3 3.6 13.3 39.2

17.3 8.3 31.4 6.8 24.2 0.9

22.6 2.2 6.4 4.3 19.4 39.3

~%

100% 3.5 1027

100% 1.7 1216

100% 1.6 876

100% 3.7 1034

100% 3.3 671

100% 1.9 640

9.KA.% N

1974 Zentralarchiv-Studie Nr. 757 (Politische Ideologie 1). 1980 Zentralarchiv-Studie Nr. 1225 (ZUMABUS 5). 1987 Zentralarchiv-Studie Nr. 1537 (Wahlstudie 1987).

Damit sind die Klassengliederungen erläutert, die in den folgenden zwei Abschnitten als Determinanten der Wahlentscheidung dienen. Sie sollen die Frage beantworten helfen, wie sich 1. der Wandel der traditionellen Berufsklassengliederung auf das Wahlverhalten auswirkt und ob 2. die Erwerbsklassen Ansätze für eine Neuformierung des Klassenkonflikts im Wahlverhalten erkennen lassen. 2- Berufsklassen und Wahlverhalten

Zur traditionellen Dreiteilung der Stellung im Beruf in Arbeiter, Angestellte bzw. Beamte und Selbständige kommen in unserem Fall als vierte Gruppe die Nichterwerbstätigen hinzu. Zusätzlich werden die beiden ersten Klassen danach aufgeteilt, ob der Befragte Mitglied einer Gewerkschaft ist oder nicht, so daß sich insgesamt sechs Gruppen ergeben. Die verstreuten Gewerkschaftsmitglieder bei den Selbständigen oder den Nichterwerbstätigen werden nicht separat berücksichtigt, sondern mit den anderen Berufsangehörigen zusammengefaßt. Die These der Stabilität des Klassenkonflikts im Wahlverhalten läßt sich nur über einen längeren Zeitraum untersuchen. Wir gehen mit der ersten Umfrage in die Zeit der Großen Koalition im Jahre 1968 zurück und verwenden die Wahlabsicht zum damaligen Zeitpunkt als abhängige Variable. Für einen zweiten Zeitpunkt stehen Umfragen von

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Pranz Urban Pappi

1980 zur Verfügung, also für die letzte Bundestagswahl unter der sozialliberalen Koalition. 1986 ist dann der dritte Zeitpunkt, so daß immerhin ein Zeitraum von insgesamt 18 Jahren untersucht werden kann. Außerdem sind die verschiedenen Regierungskoalitionen optimal abgedeckt. Wahrend dieses Zeitraums nahm die gewerkschaftliche Organisationsdichte bei den Arbeitnehmern leicht zu. Bezogen auf alle Wahlberechtigten, betrug der Arbeiteranteil 1968 25 Prozent, 1986 nur noch 19 Prozent. Dieser für die SPD nachteilige Rückgang der Arbeiter wurde durch Zunahme der gewerkschaftlichen Organisationsdichte im Arbeitnehmerlager ausgeglichen, so daß sich die Wahlchancen der SPD, von der Klassenstruktur her gesehen, nicht verschlechtert haben. Ein Hinweis darauf könnte sein, daß der Anteil der SPD-Wahler 1968 und 1986 mit 44 Prozent gleich groß gewesen ist. Genau Jaßt sich die Stabilitatsthese nur überprüfen, wenn sichergestellt ist, daß sich alle klassenbezogenen Determinanten der Wahlentscheidung zu den verschiedenen Zeitpunkten gleich ausgewirkt haben. Dies muß nicht heißen, daß sich die Parteianteile nicht verandert haben, da sie auch Kurzzeiteinflüssen unterliegen. Von diesen wahlspezifischen Kurzzeiteinflüssen sind Wirkungen zu unterscheiden, die vom allmahlichen Generationswandel der Wah!erschaft ausgehen. Der ideale Untersuchungsplan würde neben den Berufsklassen, den verschiedenen Generationen und der Periode noch Alterseffekte vorsehen. Dies ist in unserem Fall nicht möglich, weil die Abstande zwischen den Umfragen vom ersten zum zweiten Zeitpunkt zwölf Jahre und vom zweiten zum dritten nur sechs Jahre betragen, so daß die Befragten nicht gleichzeitig nach Alter und Generationszugehörigkeit klassifiziert werden können. Wir müssen uns bei einer bestimmten Analyse entweder für die eine oder die andere Einteilung entscheiden. Theoretisch muß also abgewogen werden, ob sich das Wahlverhalten eher mit dem Lebenszyklus andert oder ob die verschiedenen Generationen, abgesehen von Kurzzeiteinflüssen, im wesentlichen bei der Parteipraferenz bleiben, die sie als junge Erwachsene erworben haben. Für das Wahlverhalten als abhangige Variable ist die Generationsthese der Lebenszyklusthese an Erklarungskraft in der Regel überlegen. Dies wird auch durch unsere Daten insofern gestützt, als eine Einteilung der Befragten nach Generationen mehr Unterschiede im Wahlverhalten zutage fördert als eine Alterseinteilung. Das Verhaltnis des L2 für das Basismodell, bei dem nur die Fallzahl angepaßt wird, zur Zahl der Freiheitsgrade betragt für die Generationseinteilung 16,9 und für die Alterseinteilung 13,9. Dies ist ein empirisches Indiz für die größere "Varianz" des Wahlverhaltens nach Generation als nach Lebensalter. Die Generationen werden als Geburtskohorten operationalisiert, wobei für die Einteilung insbesondere berücksichtigt wird, in welchem Zeitraum die Kohorte zum ersten Mal zur Wahl ging. Die a!teste Kohorte der von 1899 bis 1908 Geborenen war zum ersten Mal in der Weimarer Republik wahlberechtigt und wird in unsere Analyse nur zum ersten Zeitpunkt 1968 einbezogen. Die zweite Generation umfaßt die Jahrgange von 1909 bis 1913; die politische Pragung dieser Gruppe fallt in die Endzeit der Weimarer Republik und das beginnende nationalsozialistische Regime. Es folgen zwei im Nationalsozialismus politisch sozialisierte Generationen, namlich die von 1914 bis 1918 und die von 1919 bis 1923 Geborenen. In der nachsten großen Generation der Geburtsjahrgange von

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Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel

1924 bis 1943 sind alle diejenigen zusammengefaßt, die sich zum ersten Mal in der Nachkriegszeit an Wahlen beteiligten, als die CDU/CSU ihre Führungsposition auf- und ausbaute. Die von 1951 bis 1962 Geborenen erfuhren ihre politische Prägung während der sozialliberalen Koalition. Es folgt als letzte Kohorte eine Gruppe, die sich 1987 zum ersten Mal an einer Bundestagswahl beteiligen konnte.

Tabelle 2:

Beruf (B)", Gewerkschaftsmitgliedschaft (U)", Periode (P)b, Kohorte (C)" als Determinanten der SPD-Wahlabsicht

Modell

Effekte (N: Anpassung Fallzahl)

(1) (2)

N N

+P N+C N + BU N + BU N + BU N + BU N + BU N + BU N + BU N + BU N + BU N + BU N + BU

(3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14)

b)

c)

1638.0 1565.0 1566.0 308.6 240.2 258.9 201.0 141.6 151.8 115.4 182.4 122.2 55.1* 41.8**

0.025 0.25 BUl Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder; BU2 Arbeiter und Nicht-Gewerkschaftsmitglieder; BU3 Angestellte/Beamte, Gewerkschaftmitglieder; BU4 Angestellte/Beamte, Nicht-Gewerkschaftsmitglieder; BUS Selbständige; BU6 Nichterwerbstätige. Pl Umfragen 1968, Zentralarchiv-Studien Nr. 281-283,305,310, 311; P2 Umfragen 1980, Zentralarchiv-Studie Nr. 1053; P3 Umfragen 1986, Zentralarchiv-Studien Nr. 1520-1530, 1533. Definition der Kohorten und Spezifikation derverfügbaren Perioden: Cl Geburtenkohorte 1899-1908; Pl. C2 Geburtenkohorte 1909-1913; P1, P2. C3 Geburtenkohorte 1914-1918; P1, P2, P3. C4 Geburtenkohorte 1919-1923; P1, P2, P3. C5 Geburtenkohorte 1924-1943; P1, P2, P3. C6 Geburtenkohorte 1944-1950; P1, P2, P3. C7 Geburtenkohorte 1951-1962; P2, P3. C8 Geburtenkohorte 1963-1968; P3. Cl~

Cl ""

a)

+P +C +C+P + C + P + BU.P + C + BU.P + C + P + BU.C + C + P + P.C + C + P + BU.P + P.C + C + P + BU.P + BU.C + C + P + BU.P + BU.C + Pl.C6 + P2.C7

L2

Freiheitsgrade 97 95 90 92 90 85 83 73 75 48 75 65 38 36

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Franz Urban Pappi

Mit den Determinanten Berufsklasse, Kohorte und Periode wird eine große Tabelle mit insgesamt 98 Feldern aufgespannt5• Für jedes Feld soll das Verhältnis von SPD-Wählern zu den Wählern anderer Parteien einschließlich der Nichtwähler vorausgesagt werden. Aufgabe der Analyse ist es, dieses Verhältnis mit einem Minimum an Prädiktaren möglichst gut vorauszusagen. Als Maßzahl gilt das maximum likelihood2, das in der Tabelle als L2 bezeichnet wird. Ein Modell erzielt dann eine befriedigende Datenanpassung, wenn L2 im Verhältnis zu den Freiheitsgraden möglichst klein ist. Paßt man nur die Fallzahl insgesamt an, so ergibt sich ein Basis-L2 von 1.638. Dieses Abweichungsmaß von den tatsächlichen Besetzungszahlen wird durch die Einführung der Berufsklassen als Determinante bedeutend stärker reduziert als durch die Einführung von Periode oder Kohorte allein. Trotzdem sind auch diese beiden Einflüsse signifikant, so daß wir als Ausgangspunkt zunächst ein Modell ansehen, bei dem Berufsklassen, Kohorten und Perioden additiv als Determinanten wirksam sind (Modell 7). Dieses Modell ist noch mit der These einer konstanten Klassenkonfliktstruktur vereinbar. Allerdings paßt es die Daten nicht zufriedenstellend an. Wie kann eine Veränderung der Konfliktstruktur modelliert werden? Zwei Möglichkeiten sind zu bedenken. Die eine Möglichkeit ist die, daß die Berufsklassen unterschiedlich auf die Kurzzeiteinflüsse reagieren; die andere Möglichkeit ist eine unterschiedliche Determinationskraft der Berufsklassen je nach Kohorte. Allein diese letztere Möglichkeit deutet auf eine langfristige Veränderung der Konfliktstruktur hin. Reagieren jedoch die Klassen nur unterschiedlich auf Kurzzeiteinflüsse, so können sich bei einzelnen Wahlen zwar Angleichungen ergeben, gleichzeitig bewahren die Klassen aber insofern ihren eigenen Charakter, als sie nicht einmal gleichförmig auf die Wahlkampfeinflüsse reagieren. Eine genaue Aussage wird in beiden F!!llen aber erst möglich sein, wenn die einzelnen Effekte interpretiert werden. Technisch wird die erste Möglichkeit durch einen Interaktionseffekt zwischen Berufsklasse und Periode und die zweite durch einen Interaktionseffekt zwischen Berufsklasse und Kohorte ausgedrückt. In unserem Fall zeigt sich, daß beide Effekte signifikant sind. Modell 13, das zu den additiven Effekten diese beiden Interaktionseffekte enthält, ist das erste Modell, das die Daten einigermaßen zufriedenstellend anpaßt. Allerdings erscheint auch dieses Modell noch verbesserungsfähig. Es ist z.B. mit der Möglichkeit zu rechnen, daß trotz der Kohorteneinteilung in der großen Tabelle einzelne Lebenszykluseffekte verborgen sind. Wir überprüfen deshalb als letztes die Hypothese, daß die Parteipräferenzen der jüngeren Wähler noch nicht so fest geprägt sind, wie das die Generationsthese eigentlich annimmt. Wir wollen mit der Möglichkeit rechnen, daß die Jungwähler erst nach einer Suchperiode bei ihren ersten Wahlen zu einer festeren

5

Dies sind zehn Felder weniger als sich aus der Kombination von sechs Berufsklassen und 18 Kombinationen von Kohorte und Periode ergeben. Das liegt daran, daß die ältesten Kohorten zum zweiten und zum dritten Zeitpunkt jeweils fast ausschließlich Personen umfaßten, die nicht mehr erwerbstätig waren. Deswegen haben wir die Tabelle so bereinigt, daß die ältesten Kohorten 1980 und 1986 "zwangspensioniert" wurden. Damit entfallen die fünf Gruppen der Erwerbstätigen für die ältesten Kohorten zu diesen beiden Zeitpunkten, also insgesamt zehn Felder.

Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel

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Parteiidentifikation kommen. Dies könnte im Alter von etwa 25 Jahren der Fall sein. Ein fester Kohorteneffekt könnte dann erst ab diesem Alter angenommen werden. Solche Abweichungen sind in Modell 14 tordie jüngste Kohorte 1968 undtordie jüngste Kohorte 1980 modelliert. Die Erstwähler von 1986/87 konnten bisher überhaupt erst einmal bei einer Bundestagswahl wählen, so daß sich hier Alters- und Kohorteneffekt überhaupt nicht trennen lassen. Wie das L2 für Modell 14 zeigt, bestätigt sich die eben formulierte Hypothese. Die Effekte von Modell 13 und Modell 14 unterscheiden sich sonst kaum voneinander. Um die Kurzfristeffekte in der Kombination Periode und Berufsklasse und Langfristeffekte in der Kombination Beruf und Kohorte getrennt darstellen zu können, werden in Tabelle 3 und 4 die Sondereffekte für die jüngsten Kohorten nicht aufgeführt. Für die Darstellung rechnen wir die logarithmierten Effekte der Logit-Analyse in sogenannte odds ratios um. Dies sei kurz anband der ersten Spalte von Tabelle 3 erläutert. Hier dienen die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter zum ersten Zeitpunkt, also 1968, als Referenzkategorie, ausgewiesen durch den Wert von 1. Nehmen wir an, daß diese Gruppe 1968 mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.8 SPD wählen wollte. Das Verhältnis von SPD-Wählern und Nicht-SPD-Wählern betrug also 0.8/0.2, also 4:1. Dieses Verhältnis, im Englischen als odds bezeichnet, verändert sich in dieser Gruppe bei der Wahl 1980. Wie stark es sich ändert, sagt der Verhältniswert 0.754 von Tabelle 3. Dieser Verhältniswert (odds ratio), mit dem Ausgangswert von 4 multipliziert, gibt an, in welchem Verhältnis SPD-Wähler zu Nicht-SPD-Wählern 1980 in der Gruppe der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter standen. Dabei zeigt sich, daß sich das Verhältnis zu ungunsten der SPD auf 3:1 verschlechtert hat. 1986 verbessert es sich dagegen wieder und zwar über die Situation von 1968 hinaus, nämlich auf 4,2:1. Odds ratios unter 1 bedeuten in unserem Fall eine Verschlechterung der Wahlchancen der SPD, Werte größer als 1 eine Verbesserung. Eine Umrechnung dieser Verhältniszahlen in Prozentsatzdifferenzen hätte den Nachteil, daß Differenzen in der Nähe von 50 Prozent größer ausfallen als Differenzen nahe 0 oder nahe 100, so daß die relative Verbesserung oder Verschlechterung der Chancen nicht richtig ausgedrückt würde. Bei einem Ausgangswert für 1968 von 80 ProzentSPD-Wählern würde der Prozentsatz 1980 75 Prozent betragen, die Prozentpunktdifferenz also 5. Hatte der Ausgangswert 50 Prozent betragen, so ergäbe sich eine Prozentsatzdifferenz von 7, obwohl sich die relativen Chancen der SPD gleich stark verschlechtert haben wie bei dem höheren Ausgangswert Die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter sind eine der Kerngruppen für den Klassenkonflikt im Wahlverhalten. Sie reagierten 1980 im Vergleich zu 1968 völlig anders auf die kurzfristigen Wahleinflüsse als die anderen Berufsklassen, mit Ausnahme der gewerkschaftlich organisierten Beamten und Angestellten, deren Reaktion der ihrer Arbeiterkollegen nahekam. Während die Gewerkschaftsmitglieder von der Regierung Schmidt 1980 enttäuscht waren, wählten alle anderen Berufsklassen 1980 stärker die SPD als zur Zeit der Großen Koalition. 1986 gelang es der SPD, bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern ihre alte Attraktivität wiederzugewinnen, während die Tendenz aller anderen Berufsklassen zur Wahl der SPD geringer war als 1980 (vgl. letzte Zeile von Tabelle 3). Dabei folgten eher die nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ihren Gewerkschaftskollegen als die Gewerkschaftsmitglieder unter den Beamten und Ange-

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Pranz Urban Pappi

stellten. Die Tatsache, daß kurzfristige Einflüsse die Wählerschaft nicht gleichmäßig beeinflussen, sondern in Abhängigkeit von ihrer Klassenlage und Klassenorganisation, werte ich als Indiz für die Präsenz der Klassenpolitik.

Tabelle 3:

Periode

Logit-Analyse des Berufsklassen-Cleavage a) Odds ratios ftlr Periode und Beruf!Gewerkschaftsmitgliedschaft"

BU1

Beruf/Gewerkschaftsmitgliedschaft BU2 BU3 BU4 BUS

BU6

1968: P1 1980: P2 1986: P3

1 .754 1.041

.395 .414 .376

.136 .098 .079

.109 .118 .080

.037 .065 .046

.173 .217 .174

P2/P1 P3/P2

.754 1.381

1.048 .908

.721 .806

1.083 .678

1.757 .708

1.254 .802

a)

Vgl. Tabelle 2 zur Bedeutung der Kategorien. Die Interaktionseffekte Pl.C6 und P2.C7 sind hier nicht berücksichtigt. Die anderen Effekte nach Modell (14) von Tabelle 2.

Langfristig wird das Verhältnis der Generationen zur Klassenpolitik über die Intensität dieses Konflikts entscheiden. Mehrere Ausgänge dieser Entwicklung sind denkbar. Der einfachste Fall ist bereits widerlegt. Die Kohorte ist neben der Berufsklasse eine Determinante der Wahlentscheidung, aber beide Kräfte wirken unabhängig voneinander. Dieses Modell einer konstanten Konfliktstruktur wurde falsifiziert (vgl. Modell 7 in Tabelle 2). Ein abgeschwächtes Stabilitätsmodell wäre denkbar. Die Kerngruppe der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ändert in Kohorte nach Kohorte ihre SPD-Neigung nicht, die anderen Berufsklassen schwanken je nach den politischen Stärkeverhältnissen während der Zeit ihrer politischen Sozialisation. Theoretisch spricht gegen diese These, daß die Zeit der politischen Prägung bis zum Alter von etwa 25 Jahren teilweise vor der Zeit der Übernahme einer dauerhaften Berufsposition liegt. Bei einem Minimum an Durchlässigkeit der Klassenstruktur in der Generationenfolge ist es vielmehr wahrscheinlich, daß die verschiedenen Berufsklassen in jeder Generation wenn schon nicht gleich, so doch in ähnlicher Weise von der Zeitströmung erfaßt werden. Dies ist die zweite These, deren Konsequenz auf eine abgeschwächte Stabilität hinausläuft. Wenn nämlich die Berufsklassen ihre Parteipräferenzen in den verschiedenen Generationen mehr oder weniger gleichförmig ändern, bleiben die politischen Abstände zwischen den Gruppen innerhalb der Generationen im großen und ganzen gleich. Eine weitere Möglichkeit darf natürlich nicht unerwähnt bleiben. Der Klassenkonflikt im Wahlverhalten ist nicht stabil, sondern wird entweder verstärkt durch ein Auseinanderdriften des Wahlverhaltens der Berufsklassen oder abgeschwächt durch entsprechende Annäherung in der Generationenfolge. Von diesen konsistenten Bewegungen von einer Generationen zur nächsten, die säkularen, sich in der Generationsfolge durchsetzenden Trends entsprechen, sind Sonderbewegungen und Trendumkehrungen zu unterscheiden, die Voraussagen über die künftige Entwicklung schwierig machen.

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Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel

Tabelle 4:

Logit-Analyse des Berufsklassen-Cleavage

b) Odds ratios ftlr Kohorte und Beruf/Gewerkschaftsmitgliedschaft" Kohorte

1899-1908: 1909-1913: 1914-1918: 1919-1923: 1924-1943: 1944-19SO: 19S1-1962: 1963-1968: a)

BUl

BU2

BU3

BU4

BUS

BU6

BU2/ BUl

BU3/ BUl

BU4/ BUl

BUS/ BUl

Cl 1 C2 .662 C3 .809 C4 .521 es .653 C6 .612 C7 .580 C8 .292

.39S .393 .198 .224 .278 .304 .247 .278

.136 .322 .232 .240 .487 .S44 .433 .494

.109 .140 .148 .14S .163 .207 .201 .253

.037 .047 .027 .OS1 .04S .OS8 .062 .133

.173 .1S6 .212 .184 .208 .21S .199 .131

.39S .594 .24S .430 .426 .497 .426 .940

.136 .486 .287 .461 .746 .889 .747 1.692

.109 .212 .183 .278 .250 .338 .347 .866

.037 .071 .033 .098 .069 .09S .107 .449

Vgl. Tabelle 2 zur Bedeutung der Kategorien. Die Interaktionseffekte Pl.C6 und P2.C7 sind hier nicht berücksichtigt. Die anderen Effekte nach Modell14 von Tabelle 2.

Betrachtet man die odds ratios für Kohorten und Berufsklassen (vgl. Tabelle 4), so kann die erste Abschwächung der Stabilitätsthese falsifiZiert werden. Die SPD-Neigung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ist in der ältesten Kohorte am höchsten und dieser Höchststand wird von keiner späteren Generation erreicht. Jedenfalls kann von Stabilität der Kerngruppe der SPD-Wählerschaft keine Rede sein. Eher würde diese Charakterisierung schon auf die Selbständigen zutreffen. Bei diesem und den folgenden Vergleichen sollte man die jüngste Kohorte als Sonderfall behandeln. Ihre Werte fallen fast durchweg etwas aus dem Rahmen. Da wir aber bereits wissen, daß die jeweils jüngsten Kohorten 1968 und 1980 auch später ihr Wahlverhalten noch änderten, können auch die Werte der von 1963 bis 1968 Geborenen, die 1987 zum ersten Mal wahlberechtigt waren, nicht als reine Kohortenwerte interpretiert werden. Die zweite Abschwächung der Stabilitätsthese trifft zumindest auf das Verhältnis von gewerkschaftlich zu nichtgewerkschaftlich organisierten Arbeitern zu. Dieses Verhältnis bleibt von Generation zu Generation relativ konstant. Dagegen passen sich die gewerkschaftlich organisierten Beamten und Angestellten der Nachkriegsgeneration stark an die Gewerkschaftsmitglieder aus der Arbeiterklasse an, was für die Vorkriegsgenerationen dieser Berufsgruppe noch nicht gilt. Auch die Distanz der nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer aus der Mittelschicht zu der Kerngruppe der klassenkonform organisierten Arbeiter nimmt im Trend von Kohorte zu Kohorte ab, so daß sich auch hier Anzeichen einer Abschächung des Klassenkonflikts im Wahlverhalten zeigen. Für die SPD bedeuten diese Bewegungen in der Wählerschaft infolge des allmählichen Kohortenaustauschs eine eher günstige Bilanz. Die Partei verliert zwar Anhänger in ihrer Kerngruppe, sie gewinnt aber an Attraktivität in den abhängigen Mittelklassen, und das sind die Berufsklassen, die an Größe zunehmen. Dies gilt für die Angestellten und Beamten, die nach dem Zweiten Weltkrieg politisch sozialisiert worden sind.

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Pranz Urban Pappi

Auf eine interessante Sonderbewegung der Geburtskohorte von 1914 bis 1918, die nicht im Trend liegt, soll abschließend hingewiesen werden. Es ist dies die Generation, die als Jugendliche und Heranwachsende besonders stark vom Nationalsozialismus beeinflußt wurden. Alle Berufsklassen dieser Generation zeichnen sich durch eine größere SPD-Ferne aus als die Generationen unmittelbar vorher und unmittelbar danach, mit Ausnahme der Generationsangehörigen, die später Gewerkschaftsmitglieder wurden. Sie kommen mit ihrer SPD-Neigung der liltesten Kohorte am nächsten. Diese Ergebnisse legen die Interpretation nahe, daß der Nationalsozialismus die Wählerschaft mehr nach Klassengesichtspunkten polarisiert hat als die Weimarer Republik vorher oder die Bundesrepublik nachher. Die Wähler dieser Generation, die nicht zur Kerngruppe der Arbeiterbewegung gehören, haben nach dem Krieg ihre politische Heimat verstärkt bei den bürgerlichen Parteien und nicht bei der SPD gesucht und offensichtlich gefunden. Die Untersuchung der Berufsklassen führt uns also zu dem Ergebnis, daß die traditionelle Konfliktstruktur allmählich durch den Prozeß des Generationswechsels abgeschwächt wird. Dies ist aber kein automatischer Prozeß. Wir können nur das Wahlverhalten der Kohorten in die Zukunft extrapolieren, die bereits wahlberechtigt sind. Daraus ergeben sich nicht unbedingt Anhaltspunkte für das politische Verhalten von neu in die Wählerschaft eintretenden Generationen. Allerdings müssen schon besondere politische Verhältnisse vorliegen, wenn es zu einer Trendumkehr kommen sollte, wie wir das am Beispiel der Kohorten gesehen haben, die vom Nationalsozialismus stark beeinflußt waren. Auf jeden Fall hat die Analyse gezeigt, daß eine verstärkte SPD-Wahl der Arbeiterschaft, wie wir sie bei der letzten Bundestagswahl beobachten konnten, kein Indiz für eine Trendumkehr ist. Hier handelt es sich vielmehr um einen kurzfristigen wahlspezifischen Einfluß, der bei der nächsten Bundestagswahl bereits wieder verschwunden sein kann. 3. Erwerbsklassen und Wahlverhalten

In der Berufsklassengliederung sind vor allem bei den Beamten und Angestellten so heterogene Berufe zusammengefaßt, daß die Abschwächung des Klassenkonflikts im Wahlverhalten möglicherweise gar keine neue Beziehung der Berufsklassen zur Politik bedeutet, sondern nur Ausdruck einer anderen Berufsklassenzusammensetzung ist. So könnte man z.B. vermuten, daß die Angleichung des Wahlverhaltens der Angestellten und Beamten an das der Arbeiter in den jüngeren Generationen darauf zurückzuführen ist, daß zunehmend mehr Frauen in den Mittelklassenberufen, vor allem in den unteren Positionen, beschäftigt sind, die ihr Wahlverhalten schwerpunktmäßig aber an dem ihrer Männer ausrichten, die selbst in der Mehrzahl Arbeiter sein könnten. Ein derartiges Ergebnis als Abschwächung des Klassenkonflikts zu bezeichnen, fiele schwer. Die Erwerbsklassengliederung der Wahlberechtigten mit Geschlecht als zusätzlichem Merkmal bewahrt vor solchen Fehlschlüssen. Da für diese Analyse pro Zeitpunkt nur jeweils eine Umfrage zur Verfügung steht, müssen wir mit kleineren Fallzahlen vorlieb nehmen. Dies wirkt sich vor allem zu Lasten einer feineren Kohortenaufteilung aus. Wir

Klassenstruktur und Wahlverhalten im sozialen Wandel

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können nur noch zwischen einer Vorkriegsgeneration und einer Nachkriegsgeneration unterscheiden, wobei wir zu letzterer alle rechnen, die 1943 und später geboren wurden. Für die Erwerbsklassen nehmen wir nur eine kleine Vereinfachung vor, indem wir die Berufe mit den höchsten CDU-Anteilen, nämlich die Leitungstätigkeiten und das Kleinbürgertum, zu einer Erwerbsklasse zusammenfassen. Die anderen Erwerbsklassen bleiben erhalten. Bei der Kombination mit der Generationseinteilung ist zu beachten, daß in der Vorkriegsgeneration niemand ist, der sich noch in der Ausbildung befindet, und daß es in der Nachkriegsgeneration keine Rentner gibt. Außerdem haben wir die wenigen Männer, die zur Gruppe der sonstigen Nichterwerbstätigen gehören, eliminiert, so daß diese Kategorie ausschließlich aus Hausfrauen besteht. Die unabhängigen Variablen spannen auch in diesem Fall eine relativ große Tabelle mit 66 Feldern auf. Die theoretische Obergrenze von 84 Feldern (sieben Erwerbsklassen und zwei Generationen für Männer und Frauen zu drei Zeitpunkten) wird wegen der erwähnten Besonderheiten der Kombination von Erwerbsklassen mit Generation und Geschlecht um 18 Felder vermindert. Als abhängige Variable wird zunächst ebenso wie in den vorausgehenden Analysen der SPD-Anteil unter den Wahlberechtigen vorausgesagt. Um die durch das Auftreten der Grünen seit 1980 bestehenden Besonderheiten des linken Lagers zu berücksichtigen, werden die Analysen des ersten Schritts jeweils wiederholt, um den Anteil der linken Parteien, also der SPD und der Grünen, vorauszusagen. Überträgt man das Hauptergebnis der Berufsklassenanalyse auf die Erwerbsklassen, so müßte sich auch in diesem Fall die Zugehörigkeit zu einer Erwerbsklasse je nach Generationszugehörigkeit verschieden auf die Wahlentscheidung auswirken. Ob daneben auch die Erwerbsklassen verschieden auf kurzfristige Einflüsse reagieren, ist nicht gesagt, weil wir zum einen nicht identische Zeitpunkte verwenden und weil zum anderen die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft nicht mehr erfaßt ist. Es ist nämlich gut möglich, daß die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter deshalb anders als die übrigen Berufe auf kurzfristige Einflüsse reagierten, weil sie von ihrer Gewerkschaft so beeinflußt waren. Die Klassen selbst geben ohne organisatorische Unterstützung keinen so guten Resonanzboden für politische Ereignisse ab. Wie ein Blick auf Tabelle 5 zeigt, bestätigt eine Analyse des Erwerbsklassen-Cieavage das Hauptergebnis der vorhergehenden Analyse. Modell 3, das neben den Haupteffekten einen Interaktionsterm für Erwerbsklasse und Kohorte enthält, paßt die Daten zufriedenstellend an, und zwar sowohl für die Voraussage der SPD-Anteile als auch für den zusammengefaßten Anteil von SPD und Grünen. Der einzige konkurrierende Interaktionseffekt ist der zwischen Kohorte und Geschlecht; dies gilt vor allem dann, wenn der Anteil linker Parteien vorausgesagt wird. Da dieser Effekt, trotz der guten Datenanpassung von Modell 9, nicht zu einer signifikanten Reduzierung des L2 von Modell 3 führt, sollen die Effekte des letzteren Modells interpretiert werden. Die Angleichung des Wahlverhaltens der Erwerbsklassen in der Nachkriegsgeneration kommt dadurch zustande, daß die Ausführenden in Verwaltung, Handel und Dienstleistungen, vor allem aber die Fachkräfte, starker SPD bzw. linke Parteien wählen, die Arbeiter dagegen weniger für sie stimmen als die entsprechenden Gruppen in der Vorkriegsgeneration. Von dem Trend zu linken Parteien in der jüngeren Generation sind

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Pranz Urban Pappi

auch die Führungskräfte und das Kleinbürgertum erfaßt worden. Dabei sind die Generationsunterschiede durchweg für SPD und Grüne zusammen stärker akzentuiert als für die SPD allein. Tabelle 5:

Erwerbsklassen (E), Generation (C) und Geschlecht (G) Determinanten" der Wahllinker Parteien 1974, 1980 und 1987 (P)

Modell Effekte (N: Anpassung Fallzahl) (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9)

N N,E,C,P,G N,E* C,P,G N,E* G,C,P N,E* P,C,G N,E,C* P,G N,E,C* G,P N,E,C,P* G N, E * C, C * G, P

SPD/Restb L2 219.66 73.35 54.11* 69.96 58.78 70.51 68.42 69.82 52.52**

SPD, Grüne/Restb L2

240.73 71.57 51.22* 69.39 61.38 67.57 61.13* 67.06 49.33**

als

Freiheitsgrade 65

55 51 50 43 53 54

53 50

0.10 0.25 a) Zur Ausprägung der Merkmale vgl. Tabelle 6. b) Andere Parteien, Nichtwähler; ohne Befragte, die keine Angabe machten. 1974: Zentralarchiv-Studie Nr. 757 (Politische Ideologie). 1980: Zentralarchiv-Studie Nr. 1225 (ZUMABUS 1980). 1987: Zentralarchiv-Studie Nr. 1537 (Wahlstudie 1987).

••

0: ~ 0: ~

Daß Schüler und Studenten ein besonders fruchtbares Rekrutierungsfeld für die Grünen sind, ist allgemein bekannt. Dies kommt in unserer Analyse durch die besonders hohe Verhl11tniszahl von 5.64 zum Ausdruck als dem Faktor, der die Verbesserung der Chancen von SPD und Grünen gegenüber der Situation bei den Führungskräften und im Kleinbürgertum der älteren Generation bezeichnet. Daneben erscheint aber auch die Verhliltniszahl von 4.75 für die Fachkräfte der jüngeren Generation als besonders hoch. Die Fachkräfte unterscheiden sich auch am stärksten nach Generationszugehörigkeit Diese Ergebnisse sprechen für die These, daß die Fachkräfte der jüngeren Generation als "neue Wissensklasse" (Bell) Klasseninteressen entwickeln, die von den bürgerlichen Parteien mit ihren Schwerpunkten bei den Führungskräften und im Kleinbürgertum weniger berücksichtigt werden als von der SPD und den Grünen. Eine Gegenthese dazu ist, daß die Grünen vor allem die Interessen von Gruppen außerhalb des Arbeitsmarkts vertreten, die dem ökonomischen Alltag ferner stehen. Sie seien die Partei "frustrierter akademischer Plebejer" mit blockierten Aufstiegschancen 6• Diese These erscheint plausibel, wenn man zu den hohen Verhl11tniszahlen der 6

Jens Alber, Modemisierung, neue Spannungslinien und politische Chancen der Grünen, in: Politische Vierteljahresschrift, 26/1985, S. 211-266; vgl. auch Wilhelm P. Bürklin, Goveming left parties frustrating the radical non-established left, in: European Sociological Review, 3/1987, s. 109-126.

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Studenten diejenigen der sonstigen Nichterwerbstätigen hinzunimmt. Diese letztere Gruppe muß deshalb noch näher untersucht werden.

Tabelle 6:

Logit-Analyse des Erwerbsklassen-Cleavage (Modell 3 von Tabelle 5) Odds ratios für SPD/Rest

Erwerbsklassen Leitungstätigkeit, Kleinbürgertum (Semi-)Professionen Ausführende in Verwaltung, Handel, Dienstleistung Arbeiterklasse in Ausbildung Rentner Sonstige NichtErwerbstätige

Vorkriegsgeneration

Nachkriegsgeneration"

Odds ratios für SPD, Grüne/Rest VorkriegsNachkriegsgeneration" generation

1 2.37

1.60 3.97

1 2.50

1.97 4.75

3.65 6.34

3.70 4.34 3.21

3.70 6.37

4.40 4.83 5.64

5.21

4.06

3.72 4.09

3.60

Geschlecht Frauen Männer

1 1.32

1 1.29

Periode 1987 1980 1974

1 0.70 0.85

1 0.88 1.09

5.47

a) 1943 und später geboren.

Wie bereits betont, handelt es sich hier ausschließlich um Hausfrauen. Generell neigen die Frauen weniger dazu, SPD oder Grüne zu wählen, als die Männer. Dieser Unterschied im Haupteffekt würde verringert werden, betrachtete man die Frauen der Nachkriegsgeneration separat (Modell 9 von Tabelle 5 statt Modell 3). Allerdings sind unter den Frauen der Nachkriegsgeneration die Hausfrauen die eifrigsten SPD-Wähler. Bezieht man die Grünen mit ein, so werden sie im Wählen linker Parteien nur noch von den Studenten übertroffen. Zeichnet sich hier eine im Entstehen begriffene neue Klasse von Unzufriedenen ab, die ihr Los dadurch zu verbessern hofft, daß sie linke Parteien wählt? Diese Vermutung bestätigt sich nicht. Damit verliert auch die These von der neuen Klassenformation der nicht am Erwerbsleben Beteiligten an Plausibilität. Für nichterwerbstätige Ehefrauen ist nach wie vor die Erwerbsklasse des Ehemannes eine entscheidende Determinante der Wahlentscheidung. So läßt sich z.B. für früher erwerbstätige Ehefrauen zeigen, daß der Beruf ihres Ehemannes für ihre eigene Wahlentscheidung weit wichtiger ist als der eigene frühere Beruf. Letzterer spielt praktisch keine Rolle, wie eine Auswertung der entsprechenden Daten der Wahlstudie 1987 zeigt. Nur bei berufstätigen Frauen prägt der eigene Beruf neben dem des Ehemannes das Wahlverhalten.

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Franz Urban Pappi

Die Tatsache, daß Hausfrauen nach Tabelle 6 so hohe Werte zugunsten der SPD aufweisen, hat eine relativ einfache Erklärung, nämlich die, daß unter den Ehemännern dieser Frauen die Angehörigen der Arbeiterklasse überwiegen. 53 Prozent der Ehemänner der nichterwerbstätigen Hausfrauen gehörten 1987 sowohl in der älteren als auch in der jüngeren Kohorte zur Arbeiterklasse, weitere 26 bzw. 30 Prozent zu den AusfUhrenden in Verwaltung, Handel und Dienstleistung. Dies erklärt den hohen SPD-Anteil der Hausfrauen besser als Thesen über besondere Hausfraueninteressen. 4. Schlußfolgerungen

Drei Schlußfolgerungen sollen als Hauptergebnisse der vorliegenden Analyse formuliert werden: 1. Die Klassengegensätze im Wahlverhalten gleichen sich in den Nachkriegsgenerationen an, weil die Arbeiter weniger und die AusfUhrenden in Verwaltung, Handel und Dienstleistung und die Fachkräfte mehr SPD oder generell linke Parteien wählen als die entsprechenden Gruppen der Vorkriegsgeneration. 2. Darüber darf nicht übersehen werden, daß die Unterschiede im Wahlverhalten zwischen Fachkräften einerseits und Führungskräften bzw. Kleinbürgertum andererseits in den Generationen relativ stabil bleiben. Bei insgesamt abnehmenden Klassengegensätzen kann diese Konfliktfront in Zukunft an Bedeutung gewinnen. 3. Für die politische Identität der Arbeiterklasse wird es auch in Zukunft entscheidend auf die Rolle ankommen, die die Gewerkschaften spielen. Ob eine aktive Arbeiterklassenpolitik die Chancen linker Parteien bei den abhängig beschäftigten Mittelklassen auf Dauer mindert, erscheint möglich, aber vom gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet (noch) unwahrscheinlich. Literatur

Alber, Jens, Modernisierung, neue Spannungslinien und politische Chancen der Grünen, in: Politische Vierteljahresschrift, 26/1985, S. 211-226. Bürklin, Wilhelm P., Governing left parties frustrating the radical non-established left: The rise and inevitable decline of the Greens, in: European Sociological Review, 3 (September)/1987, S. 109-126. Lepsius, M. Rainer, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der europliischen Sozialgeschichte, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1979. Pappi, Pranz Urban/Peter Mnich, Social Structure and Party Choice in the Federal Republic of Germany since the 1960's. Institut filr Soziologie der Universität Kiel, in: M. Franklin et al., Electoral Change, cambridge: cambridge University Press (i.Dr.) Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbband, Tübingen: Mohr (Siebeck), 5. Auflage 1976.

Herbert Döring Wählen Industriearbeiter zunehmend konservativ? Die Bundesrepublik Deutschland im westeuropäischen Vergleich·

Einleitung

Probleme des demokratischen Sozialismus, die bereits Eduard Bernstein formulierte, haben im Ausland mehr als hierzulande die Aufmerksamkeit der international vergleichenden Sozialforschung gefunden 1• Die von ihr diskutierten grundsatzliehen Fragen können in einem Band, der der Entwicklung von der "Klassenbewegung" zur "Volkspartei" gewidmet ist, als Ausgangspunkt zur Einordnung der auf den ersten Blick vielleicht etwas abseitig wirkenden Fragen dienen: warum wählen (weite) Teile der Industriearbeiter konservativ? Und: wählen zunehmend mehr Industriearbeiter konservativ? In allen Ulndern Westeuropas wählte und wählt in Vergangenheit und Gegenwart ein Teil der Industriearbeiter- sein in den Abschnitten 3 und 4 noch genauer zu bestimmender Umfang schwankt zwischen etwa einem Fünftel (Schweden) und knapp der Ha!fte (Bundesrepublik Deutschland und Niederlande) -nicht die "natürlichen" Parteien seiner ökonomischen Klassenlage, sondern christlich-soziale und konservative Parteien oder sogar Randparteien auf der extremen Rechten. Die konservative Parteipräferenz von Industriearbeitern kann ebenso wie das sozialdemokratische Bekenntnis von Angehörigen der Mittel- und Oberschicht als demokratisch erwünscht gewertet werden. Denn man kann mit Seymour Martin Lipset und anderen argumentieren: "Ein System, in welchem die Anhängerschaft der verschiedenen Parteien allzu genau den grundlegenden soziologischen Kategorien entspricht, kann nicht auf demokratischer Basis weiterbestehen, denn es reprasentiert einen so intensiven und

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Die Herausgeber bedanken sich bei den Herausgebern des Archivs für Sozialgeschichte für die Erlaubnis, den 1989 dort erschienenen Beitrag von Herbert Döring in diesem Band abdrucken zu dürfen. Dem Geschick von Evi Scholz im Datenmanagement ist es zu danken, daß die (archivierten) international vergleichenden Surveys, die die primäre Quelle dieser Studie bilden, stets rasch und reibungslos analysiert werden konnten. Eine vorläufige Fassung wurde im Januar 1989 im Kolloquium des Seminars Wissenschaft von der Politik der Universität Göttingen zur Diskussion gestellt. Für ihre kritischen Fragen und Hinweise bin ich allen Teilnehmern zu Dank verbunden. Vgl. Gösta Esping-Andersen, Politics Against Markets. The Social Democrade Road to Power, Princeton 1985; Adam Przeworski, Capitalism and Social Democracy, Cambridge 1985.

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Heroert Döring

akzentuierten dauernden Konflikt, daß ein Kompromiß einfach unmöglich ist." 2 Doch mit der Tatsache, daß ein Teil der Industriearbeiter stets konservativ wghlt, Mngt das von Bernstein formulierte Dilemma der Bündnisfrage zusammen. Sozialdemokratie, die über Gesetzgebung und Regierungsverantwortung zur Reform der Gesellschaft beitragen will, benötigt (in der Bundesrepublik z.B. ebenso wie in Schweden), um ihre Ziele zu verwirklichen, Bündnispartner außerhalb der Industriearbeiter. Nur ein einziges Mal- 1968- hat die schwedische Partei für sich allein - und dann auch nur mit Stimmen aus den Mittelschichten- eine absolute Mehrheit der gültigen Stimmen und der Mandate gewonnen3• Eduard Bernsteins Dilemma der Bündnisfrage ist eine Folge der Tatsache, daß sich eine Erwartung, die die Hoffnung des revolutiongren Theoretikers Kar! Marx und die Befürchtung des innovativen "bürgerlichen" Essayisten Walter Bagehot war, nicht erfüllte. Als die Ausdehnung des zensitgr begrenzten Wahlrechts in England in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Tagesordnung stand, erwarteten diese beiden in London lebenden Klassiker, daß die Unterschichten, die die große Mehrheit der Bevölkerung stellten, nach der damals erbittert umstrittenen Erweiterung des Wahlrechts künftig (überwiegend) sozialistische Regierungen ins Amt wghlen würden4• Doch nirgendwo wgh!ten in den darauf folgenden 120 Jahren Industriearbeiter, die Mitte des 2o. Jahrhunderts schließlich in den meisten hochindustrialisierten Demokratien die Mehrheit der Erwerbstätigen stellten, ehe sie von Büroberufen überflügelt wurden, ausschließlich Arbeiterparteien. Damit war und ist es sozialdemokratischen Parteien (mit Ausnahme der britischen Labour Party, die vom englischen Mehrheitswahlrecht profitierte, das eine relative Mehrheit der Stimmen in eine absolute Mehrheit der Sitze verwandelt, sich aber nirgendwo sonst auf dem europgischen Kontinent findet) dauerhaft verwehrt, als Klassenparteien der Arbeiter Regierungsmehrheiten bilden zu können. Sozialdemokratie, die mit Gesetzgebung Gesellschaft verändern will, ist gezwungen Koalitionen zu bilden. Ein anderes Dilemma betrifft die viel zitierte, aber selten prggnant definierte sogenannte "Verbürgerlichung" von Industriearbeitern. Gleichen sich Industriearbeiter durch wachsendes Einkommen, ähnlichen Konsum und vergleichbare soziale Sicherung an die

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Zit. nach Hans-Dieter Klingemann, Soziale Lagerung, Schichtbewußtsein und politisches Verhalten. Die Arbeiterschaft der Bundesrepublik im historischen und internationalen Vergleich, in: Rolf Ebbighausen/Friedrich Tiemann (Hrsg.), Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Ein Diskussionsband zum sechzigsten Geburtstag von Theo Pirker, Opladen 1984, s. 620. Vgl. Thomas T. Mackie/Richard Rose, The International Almanac of Electoral Hist01y, London 21982, S. 347, 349. Siehe zur Diskussion theoretischer Annahmen und komparativer empirischer Befunde der Wahlentwicklung sozialistischer Parteien Stefano Bartolini, The European Left Since World War 1: Size, Composition and Patterns of Electoral Development, in: Hans Daalder/Peter Mair (Hrsg.), Western European Party Systems. Continuity and Change, Beverly Hills 1985, S. 139-175. In seinem Artikel "The Chartists" in der New York Daily Tribune vom 25. August 1852 schrieb Kar! MaiX: "The canying of Universal Suffrage in England, would ... be a far more socialistic measure than anything which has been honoured with that name on the Continent. Its inevitable result, here, is the political supremacy of the working dass." Zitiert nach Robert McKenzie/Allan Silver, Angels in Marble. Warking Class Conservatives in Urban England, London 1968, S. 4; vgl. ebd. auch zur Haltung Bagehots.

Wählen Industriearbeiter zunehmend konservativ?

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Angestellten an? Wahlen Industriearbeiter unter Umstanden auch aus diesem Grunde überproportional und überzufl!llig zunehmend konservative Parteien? Dieses zweite Problem hl!ngt mit der von Bernstein früh gesehenen Tatsache zusammen, daß die Mittelschicht(en) nicht "proletarisiert", sondern zunehmend erst durch den Strukturwandel der Industriearbeit geschaffen wurden. Ist "Verbürgerlichung" von Industriearbeitern, was immer das sein mag, unter Umstl!nden geradezu eine Neben- und Spl!tfolge des lange Zeit so erfolgreichen "sozialdemokratischen Konsensus", der im "Verteilungsparadigma" (Raschke) sozialdemokratischer wie bürgerlicher Parteien in den (nun vergangenen) drei Jahrzehnten wirtschaftlichen Wachstums nach dem Zweiten Weltkrieg bestand?5 Mit anderen Worten: Beschleunigt Sozialdemokratie, indem sie durch verantwortliche Politik an der Regierung zur Hebung des Lebensstandards der Unterschichten beitragt, durch ihren eigenen Erfolg die viel zitierte "Verbürgerlichung" von Industriearbeitern? Diese Frage, die übertrieben ist, wird hier so zugespitzt formuliert, um sie besser empirisch prüfen (und widerlegen) zu können. Doch ist sie, wie die Entfaltung des Diskussions- und Forschungsstandes zu diesem Aspekt in Abschnitt 8 zeigen wird, durchaus nicht als Karikatur formuliert.

1. Konservativ wählende Arbeiter - Zeit zur Wiederentdeckung eines vernachlässigten

Themas Wahlen Industriearbeiter, die ohnehin zu einer im Vergleich zu den Angestellten relativ schrumpfenden Kategorie geworden sind, aufgrund ihrer besseren Bildung und eines gehobenen Lebensstandards etwa zunehmend konservativ? Diese Frage mag vielen, die die Probleme viel eher in Abwanderung und Widerspruch auf der grün-alternativen Flanke der Sozialdemokratie in Europa sehen, als sehr akademisch erscheinen. Darum ist sie aber nicht irrelevant oder trivial. Da alles Gescheite ohnehin schon einmal gedacht (und gesagt) worden ist, lohnt es sich, mit allerdings neuen - oder bislang zu diesem Problem noch nicht ausgewerteten - Daten, eine vernachlassigte Frage wieder aufzugreifen, die zuletzt, soweit ich sehe, von dem Komparatisten Mattei Dogan in dem brillanten und gescheiten Aufsatz "Le vote ouvrier en Europe occidentale", der nun schon fast drei Jahrzehnte zurückliegt, erforscht worden is{ Er hat die Frage, aus welchen Gründen - die sicherlich nicht monokausal sind - ein großer Teil der Industriearbeiter in allen Landern Westeuropas nicht seine "natürlichen" Klassenparteien wahlt, sogar als eines der interessantesten Forschungsprobleme der politischen Soziologie bezeichnet. ("Un des problemes !es plus interessants que l'on puisse se poser aujourd'hui en sociologie politique est de savoir pour quelles raisons, dans tous !es pays de I'Europe occidentale, une proportion 5

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Vgl. William E. Paterson/Aiastair H. Thomas (Hrsg.), The Future of Soda/ Democracy. P~ blems and Prospects of Socia/ Democratic Parties in Western Europe, Oxford 1986; Joachim Raschke, Politik und Wertwandel in den westlichen Demokratien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage 36 v. 6.9.1980. Mattei Dogan, Le vote ouvrier en Europe occidentale, in: Revue fram;aise de sociologie, 1. Jg. 1960, s. 25-44.

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Herbert Döring

importante des travailleurs manuels ne vote pas pour !es partis qui se reclament principalement de Ia 'classe ouvriere', c'est-ä-dire pour !es partis socialistes et communistes."\ Die Frage nach Ursachen und Ausmaß konservativer Parteipräferenz von Industriearbeitern, die eine lange Tradition hat, wird im Hinblick auf das Ende der Weimarer Republik lebhaft diskutiert8. Daß sie für die Gegenwart seit Dogans klassischem Beitrag, der auch heute noch von systematischen Politikwissenschaftlern zitiert wird 9, in Vergessenheit geraten ist, mag damit zusammenhängen, daß just zu dem Zeitpunkt, zu dem Dogan schrieb, sich neue Trends abzeichneten, welche die "eingefrorenen" alten Traditionslinien zu lockern und das Problem obsolet zu machen schienen. Sinkende Kirchgangshäufigkeit und ein mit der Ausbreitung höherer Bildung sowie mit der Verbreitung neuer Kommunikationsmedien in allen demokratischen Industriegesellschaften allgemein steigendes politisches Interesse zogen die Aufmerksamkeit der Forschung auf die "neue Politik", deren Konturen unklarer sind als die Verfechter dieses populären Begriffs meinen. Die Wahl konservativer Parteien durch Industriearbeiter schien ausreichend mit kirchlicher Bindung erklärt zu sein. Mit dem Rückgang des regelmäßigen Besuchs von Gottesdiensten konnte man annehmen, daß das ganze Problem an Gewicht verlöre. In der Tat hat sich der Kirchgang in allen liberal-demokratischen Systemen - und nicht nur in der Bundesrepublik - zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren drastisch verringert10. Aber der Anteil der Industriearbeiter, der für christlich-soziale und konservative Parteien stimmt, ist nicht gesunken (s. die Dokumentationen weiter unten in den Abschnitten 3 und 4). Er ist sogar, wie sich zeigen wird, leicht angestiegen. So stellt sich die Frage: Welche anderen Faktoren, die nicht so offensichtlich sind wie katholische Konfession und Kirchgang, üben nach wie vor (oder neuerdings) ihre Wirkung auf das Arbeiterwahlverhalten aus? Bei aktueller Betrachtung, die nur auf eine Nation und ihre jeweils letzte Wahl fixiert bleibt, kann daraufverwiesen werden, daß in Großbritannien, wo die Deutung des Thatcher-"ismus" zu einerneuen akademischen Wachstumsindustrie geworden ist, 1987 weniger als die Hälfte der Gewerkschaftler Labour wählte11• Für großes Aufsehen sorgte nach Ebd., S. 25. Vgl. Jürgen W. Falter/Dirk Hänisch, Die Anfälligkeit von Arbeitern gegenüber der NSDAP bei den Reichstagswahlen 1928-1933, in: Archiv für Sozialgeschichte, 26. Jg. 1986, S. 179-216. 9 Vgl. Manfred G. Schmidt, Wohlfahrtsstaatliche Politik unter bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a.M./New York 1982, s. 73 f. 10 Der Anteil der regelmäßig in die Kirche gehenden Katholiken erreichte in der Bundesrepublik 1956/57 mit 56 Prozent einen Höhepunkt. Bei der nächsten Befragung 1963 begann die Kurve zu "knicken"; 1982 lag der Anteil bei 32 Prozent (s. die Allensbacher Zeitreihe bei Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher, Die verletzte Nation. Über den Versuch der Deutschen, ihren Charakter zu ändern, Stuttgart 1987, Tab. A 102, S. 221). Die vergleichsweise "weichen" Umfragedaten werden validiert durch die "härteren" statistischen Jahrbücher der Kirchen. So berichtet das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Referat Statistik: Eckdatentabelle Jahreserhebung 1985 (Ausgabe 4.8.1987), für alle Bistümer insgesamt einen Anteil von 24.8 Prozent Gottesdienstbesucher. Zum westeuropäischen Vergleichs. Anm. 28. 11 Vgl. Ivor Crewe, A New Class of Politics (Auswertung des BBC/ Gallup Surveys 1987), in: Guardian v. 15. 6. 1987, S. 9, Tab. 5; Robert M. Worcester, Swings and Falls that Spawned a 7 8

Wählen Industriearbeiter zunehmend konservativ?

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der Bundestagswahl 1983 die von infas empirisch dokumentierte These, der die Forschungsgruppe Wahlen allerdings in einer in der "Zeitschrift für Parlamentsfragen" ausgetragenen Kontroverse widersprach, daß die SPD aus ihrem Stammwählerkernbereich gewerkschaftlich organisierter Industriearbeiter Wähler verloren habe 12• Die dadurch verursachte Aufregung hat sich zwar nach dem erneuten Anstieg der SPD unter den Industriearbeitern 1987 (vorläufig?) als Sturm im Wasserglas entpuppt. Aber die Sensibilisierung der Publizistik für die (neue?) Attraktivität konservativer Parteien für Industriearbeiter läßt die 1960 von Dogan gestellte Frage, wann und warum Industriearbeiter konservative Parteien wählen, nicht mehr als so abseitig erscheinen. Überdies ist zu fragen, in welchem Ausmaß rechtsradikale Parteien Arbeiter anziehen. Die Tatsache, daß die jüngsten überraschenden Wahlerfolge der "Republikaner" 1989 in Berlin überdurchschnittlich auch in Arbeitervierteln erzielt wurden 13, lenkt die Aufmerksamkeit erneut auf mögliche ausländerfeindliche Ressentiments unter Arbeitern. Das Thema des folgenden Forschungsaufsatzes ist, obgleich an sich schon komplex, dennoch stark eingegrenzt. Es konzentriert sich auf Industriearbeiter, die konservative Parteien wählen. Mindestens ebenso interessant wäre die komplementäre Erforschung des Wahlverhaltens der Angehörigen der Mittelschicht(en), die für sozialistische Parteien optieren. "Noch für die siebziger Jahre galt die Regel, daß weniger Arbeiter konservativ wählten als Mittelklassenangehörige sich bei Wahlen für die Arbeiterparteien entschieden."14 Was für Merkmale besitzen Angehörige der Mittelschicht, die sich subjektiv der Arbeiterschaft zurechnen? Handelt es sich "bei dem Teil des neuen Mittelstandes mit Arbeiterbewußtsein um Aufsteiger aus der Arbeiterschaft, um selbst als Arbeiter tätige Angehörige des Haushaltungsvorstands oder aber um Personen mit höherer Bildung ... , die mit der Selbsteinstufung alte Loyalitäten, die eigene soziale Lage oder eine symbolische Identifikation ausdrücken wollen?" 15 Diese Fragen müssen hier unbeantwortet bleiben. Sie waren im Prinzip mit denselben Methoden und Daten erforschbar. Aber angesichts der unklaren Konturen der "neuen Mittelschicht(en)", die noch schwieriger als

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Landslide (MORI Poil), in: Timesv. 13.6.1987, S. 15; David Butler/Dennis Kavanagh, The British General Election of 1987, London 1988, S. 275, Tab. 12.2. Vgl. Ursula Feist/Hubert Krieger/Menno Smid, Das "kritische" Potential bei der Bundestagswahl 1983: Die bewußte Arbeitnehmerschaft. Eine Antwort auf die Forschungsgruppe Wahlen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 15. Jg. 1984, S. 124-136; Manfred Berger/Wolfgang G. Gibowski/Dieter Roth/ Wolfgang Schulte, Das Eis schmilzt zuerst an den Rändern ... Zur infas-These von den Stammwählerverlusten der SPD, in: ebd., S. 305-312. Zur Bundestagswahl 1987 vgl. dies., Die Konsolidierung der Wende, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 18. Jg. 1987, Tab. 11 und 12; Ursula Feist/Hubert Krieger, Alte und neue Scheidelinien des politischen Verhaltens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 12 v. 21.3.1987. Vgl. Manfred Berger/Wolfgang G. Gibowski/ Dieter Roth, Ein Denkzettel für den Senat. Die Republikaner nutzten die Angst vor Ausländern aus, in: Die Zeitv. 3. 2. 1989, S. 4. Klaus von Beyme, Parteien in westlichen Demokratien, München 1982, Kap. 5: Die Wählerebene, S. 334. Übersicht über die "Parteipräferenzen sozioökonomischer Gruppen" in Westeuropa Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre bei Joachim Raschke, Organisierter Konflikt in westeuropäischen Parteien. Vergleichende Analyse parteiinterocr Opposition~ gruppcn, Opladen 1977, S. 257-261. Klingemann, Soziale Lagerung(Anm. 2), S. 610.

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Herbert Döring

Industriearbeiter komparativ zu erfassen sind, bedürfte die Klärung dieser Frage eines eigenen, gezielten Forschungsprojekts 16.

2. Wozu Vergleich? Indikatoren- und Datenprobleme komparativer Analyse

Vergleichende Analyse, die als "Comparative Politics" (im Sinne Arend Lijpharts) 17 die Besonderheit der Bundesrepublik aus der Kenntnis des typischen Variationsmusters Westeuropas (im Lichte international vergleichender Datensätze) bestimmt, kann dazu beitragen, vorschnelle Verallgemeinerungen und monokausale Theorien zu relativieren, wenn es ihr zu zeigen gelingt, daßtrotzdes Vorliegens gleicher Faktoren in anderen U!ndern andere Wirkungen eintreten. Thesen, die aus der Erfahrung eines Landes (oder eines als Gegenbeispiel zitierten zweiten) sehr plausibel erscheinen und darum als empirische Verallgemeinerung akzeptiert werden, können ihren verblüffenden Allgemeinheitsanspruch aber sehr rasch verlieren, wenn man weitere Fälle betrachtet. Umgekehrt kann eine systematisch vergleichende Analyse aber auch (manchmal) diejenigen Faktoren ermitteln, die als gemeinsamer Nenner allen untersuchten Fällen eigen sind, trotz bekannter großer Unterschiede zwischen ihnen. Ausgehend von Mattei Dogan, soll im folgenden geprüft werden: Bis zu welchem Grade treffen seine empirischen Befunde und theoretischen Argumente aus den sechziger Jahren auch in den Siebziger und achtziger Jahren noch zu und inwieweit müssen neue Interpretationen herangezogen oder gefunden werden, um die neuen Befunde der quantitativen Daten verständlich zu machen? Dogan, der dieser Abhandlung in vielem als Vorbild dient, hat zugleich einschränkend darauf hingewiesen, daß lokale und regionale Kontexte mit Surveydaten - aber auch schon wegen der Anzahl der untersuchten U!nder- nicht differenzierterfaßt werden können 18• Selbst wenn man die Befragten nach den in den Datensätze erfaßten nationalen Regionen gruppierte (für die Bundesrepublik beispielsweise nach Bundesländern), würden die aus "'gesamtnationalen' Aggregaten" gebildeten Kontexte andere Resultate als die auf der Ebene von Stimmbezirken anset-

16 So auch das Resümee von Heinz Ulrich Brinkmann, Wahlverhalten der "neuen Mittelschicht" in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage 30-31 v. 22. 7. 1988, s. 32. 17 Vgl. die Einlösung dieses Programms in der nicht eklektisch kompilierenden, sondern systematisch analysierenden Studie von Arend Lijphart, Democracies. Patterns of Majoritarian and Consensus Govemment in Twenty-One Countries, New Haven/London 1984. 18 "Il ne nous est pas possible de noter !es variations locales ou regionales du vote des ouvriers. A Amsterdam, plus d'un quart des electeurs votent communiste; ä Bologne, qui n'est pas une ville essentiellerneut industrielle, mais ou Ia tradition de gauehe est bien enracinee, pres de 40 % des electeurs votent communiste et beaucoup d'autres, socialiste. Toulouse, naguere capitale du radicalisme anticlerical, a vote aux deux tiers communiste ou socialiste en 1945-1946." Dogan, (Anm. 6), S. 30, Anm. 1.

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zenden "ökologischen" Aggregatdatenanalysen erbringen19• Daher seien Leser, die sich Aufschlüsse über regionale "Kontexte" erwarten, bereits hier gewarnt: Dies wird nach Anlage und Absicht der vorliegenden Studie nicht geleistet werden. Dogan untersuchte Westeuropa mit dem ihm als Hilfswissenschaft dienenden Instrument der (nationalen) Umfrageforschung. Dieses Instrument ist seitdem entscheidend verbessert worden auch insofern, als international vergleichende Umfragen hinzugekommen sind, die sowohl das Studium eines Landes als auch den komparativen Querschnitt mehrerer U!nder nebeneinander ermöglichen, weil diese Surveys zur selben Zeit mit demselben Fragebogen in mehreren Nationen gelaufen sind. Diese in Datenarchiven für jedermann nachprüfbaren Surveys bilden die Hauptquelle der folgenden Abhandlung. An diesen international vergleichenden Datensätzen werden eigene Analysen vorgenommen. Dagegen werden nationale Umfragen nur über die Literatur herangezogen. Unter Fragestellungen, die sich unter anderem aus der zeithistorisch-deskriptiven Literatur ergeben, werden gezielt neu ausgewertet: Die Civic-Culture-Studie von Almond und Verba (Feldarbeit 1959); die Political-Action-Studie über acht Nationen von Barnes/Kaase (Feldarbeit 1973-1976); die Internationale Wertestudie (Feldarbeit 1981); das von Erik Olin Wright initiierte internationale Verbundprojekt "Comparative Class Structure and Class Consciousness" 20 und nicht zuletzt die (bereits häufiger benutzten und daher gut bekannten) regelmäßigen Eurobarometerumfragen der Kommission der EG. Sie sind in einem die Analyse erleichternden integrierten Datensatz verfügbar (ICPSR Michigan 8434), der alle mehrmals gestellten Fragen zwischen 1973 und 1984 enthält. Vorzüge und Schwächen der hier im Zentrum stehenden international vergleichenden Bevölkerungsumfragen, die allein eine seriöse Antwort auf ein so weitgespanntes Thema ermöglichen, hat vorbildlich Hans-Dieter Klingemann in seinem Beitrag zu dem Theo Pirker gewidmeten Sammelband "Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland?" aufgewiesen 21 . Ohne diese Surveydaten könnte die hier geplante Analyse nicht- jedenfalls nicht international vergleichend - vorgenommen werden. Die repräsentative Wahlstatistik, die Stimmzettel in ausgewählten Stimmbezirken nach Alter und Geschlecht der Wähler unter Wahrung des Wahlgeheimnisses markiert, kann einen Vergleich nicht ermöglichen, weil es sie in anderen U!ndern nicht im gleichen Maße wie in

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Heinrich Best, Sozialstruktur und politische Konflikte in Deutschland. Perspektiven einer Analyse von Massendaten der historischen Eliten- und Wahlforschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 40. Jg. 1988, S. 469-473,471. 20 Bereits archiviert ist der fünf Nationen (USA, Schweden, Norwegen, Kanada und Finnland) umfassende Teil-Datensatz (Feldarbeit 1980-1983) dieses internationalen Verbundprojekts (ICPSR 8413). Surveys aus weiteren sechs Ländern befinden sich noch bei den Primärerhebern. Vgl. Barbara Erbslöh/Thomas Hagelstange/Dieter Holtmann/Joachim Singelmann/Hermann Strasser, Klassenstruktur und Klassenbewußtsein in der Bundesrepublik Deutschland. Erste empirische Ergebnisse, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 40. Jg. 1988, S. 245-261. 21 Klingemann, Soziale Lagerung (Anm. 2), konfrontiert in Schaubild 1, S. 594, die Schätzwerte aus Umfragen mit dem amtlichen Wahlergebnis für die SPD-(Zweit-)Stimmenanteile und diskutiert über seine gesamte Abhandlung hinweg die Aussagekraft der benutzten Daten.

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Hetbert Döring

der Bundesrepublik gibt 22 • Außerdem ist hier nicht nach dem Wahlverhalten von Männern und Frauen, sondern nach dem Wahlverhalten von Männern und Frauen, die Industriearbeiter sind, gefragt. Ohne Zuhilfenahme von (international vergleichbaren) Bevölkerungsumfragen wäre der Vergleich damit beendet, noch bevor er begonnen hat. Diese "Individualdaten", die nach Interviews repräsentativer Stichproben der erwachsenen Wahlbevölkerung für jeden Befragten individuell vercodet werden, erlauben dem Forscher eine "künstliche" (oder, wenn man so will, dem Stand der Kunst entsprechende) Neuaggregierung von Merkmalskombinationen. Meine Konzentration auf solche Individualdaten ist nicht, wie Ritter/Niehuss argwöhnen könnten, ein "Methodenmonismus"23 , denn ich habe auch die Ergebnisse von Aggregatdatenanalysen verarbeitet, sondern eine Frage des Forschungsdesigns, das der mir gestellten Aufgabe angemessen ist. Ich sehe keinen anderen Weg als den der Individualdatenanalyse, um in überschaubarer Zeit und zwar international vergleichend -zu seriösen Aussagen zu gelangen. Die in Datenarchiven deponierten (und damit der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglichen) international vergleichenden Datensätze erlauben sowohl die Analyse eines Landes oder mehrerer U1nder als auch länderübergreifende Querschnitte, weil dieselben Fragebogenformulierungen in demselben Zeitraum benutzt wurden.

22 Ekkehard Jesse, Die Bundestagswahlen von 1972 bis 1987 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 18. Jg. 1987, S.233 verweist darauf, daß andere Länder der Bundesrepublik nicht gefolgt sind. Im übrigen mindert die unterschiedliche Größe der Wahlkreise zwischen den Nationen die Aussagekraft einer komparativen Aggregatdatenanalyse. Vgl. Max Kaase, Vergleichende Wahlforschung. Ergebnisse, Kritik und Anregungen, in: Otto Büsch/Peter Steinbach (Hrsg.), Vergleichende europäische Wahlgeschichte. Eine Anthologie, Berlin 1983, S. 27: "Im Fall Großbritannien liegt das Problem in den Eigenarten des britischen Wahlrechts, das nur Wahldaten auf der Basis der Wahlkreise zuläßt, die durchschittlich 60 000 Wähler umfassen. Die Folgen solcher Mängel für die zu erstellenden Analysen sind so offensichtlich, daß sich eine weitere Diskussion erübrigt." 23 Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Bundestagsund Landtagswahlen 1946-1987, München 1987, S. 13 f. Führende Historiker in der Bundesrepublik besitzen offenbar ein tiefes Vorurteil gegen die hier benutzten Daten. So preisen Ritter/Niehuss ihre kategorische Ausklammerung dieser Datengruppe (sie beziehen sich allerdings etwas unfair nur auf die kommerzielle Umfrageforschung und ignorieren die auf wissenschaftlichen Designs beruhenden Wahlstudien) als Tugend und nicht als Nachteil. Sie nehmen die archivierten Wahlstudien, die von jedermann nachgeprüft werden können und die die Basis von Klingemanns Abhandlung bilden, nicht einmal zur Kenntnis, wenn sie (ebd. S. 156) schreiben: "Ein weiterer Grund für den Verzicht auf Umfrageergebnisse liegt in der Weigerung der demoskopischen Institute, die jeweilige Gewichtung ihrer Ergebnisse, die als Korrektur für die starken Abweichungen von den wirklichen Wahlentscheidungen notwendig sind, bekanntzugeben." (Nun will die Surveyforschung allerdings nicht das Wahlergebnis ermitteln, das man ja auch aus der Zeitung auf eine Karteikarte übertragen kann, sondern Beziehungen zwischen Variablen prüfen.) Die hier benutzten Daten könnten selbst von Ritter/Niehuss erworben und auf alle nur denkbaren Fehler hin abgeklopft werden. Die Einschlußkriterien für die Benutzung von Umfragen in der vorliegenden Abhandlung sind zum einen ihr wissenschaftliches (und nicht kommerzielles) Forschungsdesign und zum anderen (als conditio sine qua non) ihre allgemeine Verfügbarkeil und Nachprüfbarkeil durch Deponierung in einem Datenarchiv.

Wählen Industriearbeiter zunehmend konservativ?

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3. In welchem Ausmaß wählen Industriearbeiter sozialistisch? Querschnitte durch Westeuropa in den fünfziger, siebzigerund achtziger Jahren

Um diese Frage differenziert beantworten zu können, stellte Mattei Dogan drei Unterfragen, die jede für sich mit einer eigenen Gruppe von Quellen zu beantworten war. 1. Wie groß ist der Anteil der Industriearbeiter an der Erwerbsbevölkerung? (Diese Frage ist am genauesten mit Hilfe der Zensusdaten der nationalen "Volkszählungen" zu beantworten.) 2. Wie groß ist die Stimmenstärke "linker" Parteien (getrennt nach Kommunisten und Sozialdemokraten) in den Parlamentswahlen der einzelnen Länder? (Diese Frage ist am besten mit der amtlichen Wahlstatistik zu beantworten.) 3. Wie groß ist schließlich - und das ist die hier am meisten interessierende Frage - der Anteil der Industriearbeiter, der die "natürlichen" Parteien seiner ökonomischen Klassenlage wählt? (Diese Frage läßt sich komparativ mit den Individualdaten repräsentativer Stichproben nationaler Bevölkerungsumfragen beantworten.) Das Ergebnis seiner Recherchen an diesen drei Quellengattungen faßte Dogan in zwei instruktiven Tabellen zusammen. Die folgende Tabelle 1 übernimmt aus den 1960 publizierten Tabellen Dogans die für die fünfzigerJahrerelevanten Daten. Weil die uns geläufige Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern eine sozialrechtliche Kategorie ist, die es nirgendwo sonst außer in Deutschland gibt24 , setzt der Vergleich der Kategorie "Arbeiter" zwischen mehreren Ländern eine analytische Vorentscheidung voraus. So wurde der sektorale Anteil der "Industriearbeiter" am Arbeitsmarkt (Frage 1) für die siebziger Jahre aus dem von Peter Flora und seinen Mitarbeitern herausgebeneu Indikatorenhandbuch berechnet 25 • Für die Fortschreibung des (geschätzten) Anteils der Arbeiter, der in den einzelnen Ländern Linksparteien wählt, stehen seit Mitte 1970 nun auch die in der Einleitung bereits genannten international vergleichenden Sur-

24 Vgl. Walter Müller, Was bleibt von den Klassenstrukturen?, in: Peter Flora (Hrsg.), Westeuropa im Wandel (im Druck). 25 Peter Flora/Franz Kraus/Winfried Pfenning, State, Economy, and Society in Western Europe 1815-1975, Frankfurt a.M. 1987, Bd. II: Kap. 7. Die deutsche Unterscheidung zwischen Angestellten und Arbeitern ist im internationalen Vergleich nicht anwendbar. Auch die bundesdeutsche Differenzierung der Arbeiter in "ungelernte", "angelernte", "gelernte und Facharbeiter", "Vorarbeiter und Kolonnenführer", "Meister/Poliere" ist nicht universal anwendbar. Daher grenzte die von Flora geleitete Arbeitsgruppe bei ihrer detaillierten Auswertung der nationalen Zensusstatistiken "Employees" und "Workers" anders ab als in der nationalen deutschen "beruflichen Stellung". Während in der bundesdeutschen Statistik "Vorarbeiter und Kolonnenführer" und "Meister/Poliere" als Arbeiter klassifiziert werden, rechnet das Datenhandbuch diese "higher status dependent labourers", die in der Regel nicht stündlich entlohnt werden, sondern einen festen Anstellungsvertrag besitzen, den "Employees" zu; als "Workers" klassifiziert werden bei Flora et al. nur "lower-status dependent labourers or blue-collar personnet, including home workers" (ebd., S. 447). Diese im Interesse der internationalen Vergleichbarkeit getroffene Abgrenzung gilt es zu beachten, um etwaige Irritationen beim Vergleich mit den bundesdeutschen Kenngrößen zu vermeiden. Weitaus stärker aggregiert sind die OECD Labour Force Statistics. Ihre Differenzierung der Beschäftigten nach "Agriculture", "Industry" und "Services" erlaubt es nicht, zwischen Arbeitern und Angestellten in diesen drei Sektoren zu unterscheiden.

40

Herbert Döring

veys zur Verfügung26 • Um den nicht unproblematischen Vergleich sozialdemokratischer, christlich-sozialer und konservativer Parteifamilien zu erleichtern, die in einigen ll!ndern Unterschiedliches bedeuten können 27 , pflegen diese Parteien in international vergleichenden Analysen zu "Richtungen" recodiert zu werden. Da die Datensatze aber nicht nur diese pauschal aggregierte Kategorie enthalten, sondern die Parteien individuell mit ihren Namen vercoden, steht es dem Forscher frei, unter systematischen Fragestellungen anders zu gruppieren; und wir werden im weiteren Verlauf dieses Kapitels auch eine solche Disaggregierung vornehmen. Die Wahlabsicht, die Arbeiter in repräsentativen Bevölkerungsumfragen ihren Interviewern gegenüber nannten, wird hier zunächst auf der Basis der gültigen Nennungen prozentuiert - unter Ausschluß der "weiß-nicht"-Nennungen und der fehlenden Werte. Dies entspricht der auch in der Ermittlung des Wahlergebnisses üblichen Berechnung der Anteile der Parteien in Prozent der gültigen Stimmen. Mit dieser Prozentuierung wird auch ein Vergleich mit den von Dogan mitgeteilten Berechnungen aus den fünfziger Jahren möglich. Wir wollen aber in einer gesonderten Analyse im Anschluß daran auch noch der Veri!nderung der "missing data" und Antwortverweigerungen unter Arbeitern

26 Im Unterschied zu Aggregatdaten ist die Berufsstruktur hier auf der Basis der befragten Individuen vercodet. Sie kann daher vom Forscher entsprechend seiner Fragestellung in neuen Merkmalskombinationen aggregiert werden. Vgl. Pranz Urban Pappi (Hrsg.), SCYZialstrokturanafysen mit Umfragedaten. Probleme der standardisierten Erfassung von Hintergrundsmerkmalen in allgemeinen Bevölkerongsumfragen, Königstein/Ts. 1979. Unter den international vergleichenden Surveys ist - nach Anlage und Absicht des internationalen Verbundprojekts - die Berufsvercodung im Datensatz "Comparative Class Structure and Class Consciousness" sehr differenziert gestaltet. Auch in der Political-Action-Studie über acht Nationen ist es dank einer differenzierten Vercodung möglich, Industriearbeiter nach Branchen getrennt zu analysieren. Neben der Frage nach der Selbständigkeit, die es erlaubt, z. B. Schlosser, die abhängig beschäftigt sind, von denen zu unterscheiden, die sich (mit wenigen oder vielen Mitarbeitern) selbständig gemacht haben, ist überdies die Stellung von Arbeitern in der betrieblichen Hierarchie durch die Frage bestimmbar: "Hat(te) er Leute unter sich?" Ferner ist der berufliche Status bestimmbar - aber , wegen des international vergleichenden Ansatzes, eben nicht nach der speziellen deutschen sozialrechtlichen Unterscheidung zwischen Arbeitern, Angestellten und Beamten. In den regelmäßigen Eurobarometerumfragen der Kommission der EG in allen Mitgliedsstaaten und in der Internationalen Wertestudie 1981 werden die abhängig beschäftigten "Manuellen" erlaßt. Sie bilden den kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Umfragen. Es ist in diesen beiden Datensätzen nicht möglich, "manuelle" Arbeiter getrennt nach Branchen zu analysieren. Auch sind im kumulierten Eurobarometer unter den "Manuellen" die (abhängig beschäftigten) landwirtschaftlichen Arbeiter mit enthalten. Da die folgenden Analysen "mit den Beständen rechnen" müssen, wird je nach dem Sinn der Fragestellung eine im Rahmen des Möglichen liegende Umcodierung erforderlich sein. 27 Von Beyme, Parteien in westlichen Demokratien (Anm. 14); Francis G. Castlest Peter Mair (Left-Right Political Scales: Some "Expert" Judgments, in: European Journal of Political Research, 12. Jg. 1984, S. 73-88) ordnen Parteien in 16 Ländern (13 westeuropäische Staaten sowie Kanada, Neuseeland und die USA) nach der Links-Rechts-Einstufung ein. Sie berichten das Ergebnis einer Umfrage unter führenden Politikwissenschaftlern in den einzelnen Ländern. Daher gibt ihre Tabeliierung den Wissensstand wieder, der sich den Experten der Zunft als richtig darstellte. Diese Auflistung kann zur zusätzlichen Absicherung bei der Recodierung von Surveys herangezogen werden.

41

Wählen Industriearbeiter zunehmend konservativ?

Tabelle 1:

Sektoraler Anteil der (Industrie-) Arbeiter• und ihre sozialistische/kommunistische Parteipräferenz in Westeuropa von den 1950er zu den 1980er Jahren A. Zensusdaten Land

Anteil der Arbeiter" an der einheimischen Erwerbsbevölkerung" in % 1947-51 1960-61 1970-75

-*

Schweden Norwegen

45 45

45 45

Großbritannien Finnland Dänemark Belgien Italien

60~*

-*

34

36 43 47 44

44 44 42 44 44

Frankreich Niederlande Bundesrepublik Deutschland

40** 43 46

-* 47 44

-*

33 40 50

-*

43 44

• »Workers« und »Employees« nicht getrennt. •• Übernommen aus Dogan. Le vote ouvrier, tableau I, rubrique A.

B. Amtliche Wahlergebnisse

Stimmen sozialistischer/kommunistischer Parteien (in %gültiger Stimmen der Bevölkerung) "I950er und 1970er Jahre Jahr Soz. Komm. Total Komm. Jahrd Soz. 1948 1957

46,1 48,4

6,3 3,4

52,4 51,8

1979 1981

43,2 37,2

1951 1958 1953 1954 1958

48,8 25,1 39,6 38,7 { 14,2 4,5 14,5 29,0 29,5

0,1 23,6 4,6 3,6 22,7

48,9 48,7 44,2 42,3 41,4

1979 1979 1981 1977 1979

25,9 6,2 2,2

40,4 35,2 31,7

1981 1981 1980

36,9 23,9 32,9 27,1 9,8 3,8 37,8 28,3 42,9

1951 1956 1953

{

5,6 { 0,3 (4,9) 0,1 17,9 1,1 2,1 30,4 16,1 2,1 0,2

42

Herbert Döring

Tabelle 1:

(Fortsetzung)

C. Surveydaten %der Arbeite~ mit Wahlabsicht für »Linkspartei(en)« (Schätzwerte)' Dogan 1950err 74 75 65 80 73 63 71 67 50 48

1973

Political-Action-Studie 1973/76 »Man uelle«h »lndustrie«8

76J 68i 66 79

62 79

54i 62

57

58 58

54 56

kumulierte Eurobarometer 1975/76 1983/84 »Manuelle«i »Manuelle«

47k

50

68 41 64 75 56 55

67 43 66 1988 61 1 67m 58 52

a Zur Problematik einer international vergleichenden Definition der Kategorie >>Arbeiter>Workers« (sie ist nicht deckungsgleich mit dem deutschen sozialrechtlichen Status des Arbeiters) wurden die in der Landwirtschaft abhängig Beschäftigten herausgerechnet. Die Prozentpunkte beziehen sich auf Männerund Frauen der gesamten einheimischen Erwerbsbevölkerung. c Übernommen aus Dogan, Le vote ouvrier (Anm. 6), tableau !I, rubrique A. d Prozentpunkte der giiltigen Stimmen aus der nach Ländern gegliederten Datensammlung von Thomas T. .'vfackie/Richard Rose. International Almanac ofElectoral History, 2. Aufl .. London 1982. e Die Kategorie >>Linkspartei(en)« wurde in der von den Primärerhebern der Political-Action-Studie und des Eurobarometers vorgeschlagenen Recodierung übernommen. Siehe auch Anm. 27. Zwecks Vergleich mit der Tabelle Dogans wurden alle Prozentangaben der Parteipräferenz von Arbeitern auf der Basis der gültigen Nennungen berechnet. (Siehe zum Anteil der Nichtwähler und fehlenden Antworten Tab. 2.) Wiedergabe der von Dogan, Le vote ouvrier, tableau !I, rubrique B für die 50er Jahre durchgeftlhrten Auswertung nationaler Survey-Daten. g »Industriearbeiter>Gütererzeugende und verwandte Berufstätigkeiten, Bedienung von Transportmitteln und Handlangertätigkeitenworkers>manueller>Manuellen« mit einer Präferenz ftlr »Linkspartei(en)>ouvriers«, die beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl am 24. 4. 1988 aufden Kandidaten der extremen Linken (7 %), der Kommunisten (17 o/o) sowie auf Mitterand (43 %) entfielen, dann ergibt sich eine >>linketag5wahl : 1989 Europawahl

-

O~nga

Pansion

[[E] COUIC SU und SPO

infas '89 Wo sich nun alte Trennungslinien abschwllchen, die gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche der Vergangenheit perpetuierten, können neue Konflikte um gerechtere Verteilung von Lebenschancen die Gesellschaft in neue Lager spalten und für das politische Verhalten prllgend werden, zum Beipiel die Interessenunterschiede zwischen Frauen und Mllnnern, Jungen und Alten, Deutschen und Auslllndern oder Aus- bzw. Übersiedlern oder aber zwischen Arbeitnehmern mit sicheren oder unsicheren Arbeitsplatzperspektiven.

92

Tabelle 2:

Ursula Feist/ Klaus Liepelt

Polarisierung des Parteiensystems Linker Rand 1

Rechter Rand 2

1986: Bayern Harnburg

7.5 10.6

5.4 1.0

1987: Bundestagswahl Hessen Rheinland-Pfalz Harnburg Schleswig-Holstein Bremen

8.5 9.7 6.0 7.3 4.1 10.9

1.0 .1 2.8 .6 1.3 5.2

8.1 3.0

4.9 2.8

12.4 9.9 11.1 8.6

8.6

1988: Baden-Württemberg Schleswig-Holstein 1989: Berlin Hessen Frankfurt Buropawahl

5.5

7.3 9.4

1 Grüne, GAL, AL, DKP, SEW 2 NPD, REP, DVU, Liste D, ÖDP, Wählergemeinschaften etc.

2. Arbeitsmarktdualismus und Lebenslage

In den letzten zehn Jahren hat sich der Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend in einen "primaren" Arbeitsmarktbereich mit sicheren, relativ konjukturunabhangigen Arbeitsplatzen einerseits und in einen "sekundaren" Arbeitsmarktbereich mit unsicheren bis permanent gefahrdeten Arbeitsplatzen aufgeteilt. Dieser Prozeß schreitet um so mehr voran, je langer die Periode der Massenarbeitslosigkeit anhalt und die Dauerarbeitslosigkeit zunimmt. Unter dem Druck des technologischen Wandels hat die Industriegesellschaft ihre arbeitsmarktspezifische Kehrseite produziert: eine Zweiteilung der Arbeitnehmer, auf der sicheren Seite der Wirtschaft die einen, auf der unsicheren Seite die anderen. So konstituieren sich Arbeitnehmergruppen mit ganz unterschiedlichem Beschaftigungsrisiko. Wir gehen davon aus, daß die sich vertiefende Spaltung des Arbeitsmarktes das Bewußtsein der Arbeitnehmergruppen je nach ihrer veranderten sozialen Lage nachhaltig beeinflußt. So würde die Zugehörigkeit zu den Kernbelegschaften des "primaren" (sicheren) Arbeitsmarktbereichs einerseits, zu den Randbelegschaften des "sekundaren"

Dynamik des Arbeitsmarktes und Wählerverhalten

93

(unsicheren) Arbeitsmarktbereichs andererseits eine neue wirtschaftliche und soziale Trennungslinie markieren, an der sich ein neuer Verteilungskonflikt entzündet: um die Zuweisung von Arbeitsmarktchancen. Quer zur traditionellen Scheidelinie zwischen Verfügung und Nicht-Verfügung über Produktionsmittel, die die industrielle Revolution als Massenphänomen hervorgebracht hat und die Eigentümer bzw. Manager von den Arbeitnehmern trennt, macht der technologische Wandel nun einen zweiten Schnitt mitten durch die Arbeitnehmerschaft Ein neuer Gegensatz im Faktor Arbeit hat die Arbeitnehmerschaft in sich gespalten, das persönliche Beschäftigungsrisiko ist ungleich verteilt. Diese Dichotomie wird für den einzelnen Arbeitnehmer und seine Familie in den verschiedensten Erfahrungsbereichen erlebbar - in seinem Beruf, in seinem Betrieb, in seinem Wirtschaftszweig, in seinem privaten Umfeld, im persönlichen Lebensstil, im Medienalltag, in der Konfrontation mit Politik. Wer sich subjektiv sicher fühlt, entwickelt größeren Optimismus, Vertrauen in die Zukunft und in die eigene Leistungsfähigkeit, das Gefühl, seine Lebensverhältnisse individuell selbst zu bestimmen. Die sich sorgen und ängstigen müssen, empfinden leicht eine subjektive Ohnmacht, können ihrer eigenen Kraft nicht trauen, ihre Lebenslage zu kontrollieren, müssen Hilfe von außen erwarten, versuchen, sich kollektiv zur Wehr zu setzen. Entsprechende Erwartungen werden an die Parteien gerichtet. So haben die politischen Parteien die Spaltung des Arbeitsmarkts bereits zu spüren bekommen, ihre Marktanteile haben sich verändert. Dabei gehört zum empirischen Wissen der Wählerforschung: Wirtschaftliches Wohlergehen oder Mangellagen können Wahlen beeinflussen. Reaktionen auf Deprivation, selbst wenn nur subjektiv empfunden, reichen von Apathie über oppositionellen Protest bis hin zur Radikalisierung. Wohlstand, wenn auch nur die Hoffnung darauf, führt meist zur Affirmation bestehender Machtstrukturen. Ökonomische Deprivation bestimmter Teile der Wählerschaft im Gefolge der Arbeitsmarktspaltung muß nicht unmittelbar zu einem Legitimationsverlust des politischen Systems führen. Untersuchungen von infas aus den letzten Jahren haben gezeigt, daß das politische Verhalten von Arbeitnehmern, die durch Krisen persönlich betroffen sind, in den letzten Jahren eher durch Hinwendung zur Opposition bestimmt war, unabhängig davon, ob die Opposition durch CDU/CSU oder SPD gebildet wurde- solange es kein radikaleres Angebot gab. Sowohl in der Weimarer Republik als auch in der ersten Wirtschaftskrise nach Kriegsende in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre jedoch radikalisierten sich Krisenbetroffene in rechtsradikaler Stimmabgabe für die NSDAP bzw. dieNDP. Lang anhaltende ökonomische Deprivation größerer Teile der Arbeitnehmerschaft wie wir sie seit Anfang der achtziger Jahre beobachten - in einer insgesamt prosperierenden Gesellschaft birgt die Gefahr gesellschaftlicher, sozialer und politischer Isolierung dieser Gruppen. Aus dem Vormarsch der neuen Rechtsparteien seit der Bundestagswahl 1987 läßt sich inzwischen ableiten, wie deprivierte Arbeitnehmer erneut begonnen haben, sich durch rechtsradikale Stimmabgabe zu artikulieren.

94

Ursula Feist/Klaus Liepelt

Theoretisch sollten es die alten Arbeiterparteien sein, denen es am besten gelingen müßte, sich den Protest der am Arbeitsmarkt Benachteiligten zu eigen zu machen. Mit der wirtschaftlichen Strukturkrise der siebziger und achtziger Jahre indessen haben die Arbeiterparteien fast überall in der westlichen Welt -die Bundesrepublik macht da keine Ausnahme - an programmatischer Glaubwürdigkeit verloren. So stand die sozialliberale Koalition in ihrer letzten Phase 1981/82 angesichts schwieriger wirtschaftlicher und finanzieller Rahmenbedingungen vor dem Dilemma, bei eingeengtem Handlungsspielraum und einem notwendigen, aber undurchsetzbaren Sparkurs divergierende Interessen von Arbeitnehmergruppen mit unterschiedlichen Risikolagen zur Deckung bringen zu müssen. Auch heute in der Opposition tut sich die Sozialdemokratie schwer damit, ihre Wirtschafts-, Sozial- und Gewerkschaftspolitik auf die diskrepanten Lebensperspektiven von Kern- und Randbelegschaften, von sicher und unsicher Beschäftigten gleichzeitig einzustellen, während die liberalen und konservativen Parteien durch die Betonung der Leistungsgesellschaft und ihrer Prinzipien noch weniger willens und in der Lage sind, die Gräben in der gespaltenen Arbeitnehmerschaft zu überbrücken. Die ökonomische Spaltung der Gesellschaft und die ideologische Krise der Arbeitnehmerparteien haben in einigen europäischen Ländern zu einer tiefgreifenden Dichotomie in der Wählerschaft geführt. Am deutlichsten sichtbar wurde dies bisher in Großbritannien, wo inzwischen der verarmte Norden von Labour und der prosperierende Süden von den Konservativen politisch repräsentiert wird. Es scheint so, als ob auch in der Bundesrepublik Deutschland ein entsprechender Prozeß in Gang ist, wonach die SPD - zunehmend in Konkurrenz zu den neuen Rechtsparteien - immer stärker auf die deprivierten Teile der Arbeitnehmerschaft reduziert wird, und zwar in der nördlichen Hälfte der Bundesrepublik, während die Union in den zukunftsträchtigen Regionen mit Schrittmacher- oder Zukunftsindustrien, besonders im Süden, mithin die Interessen von Arbeitnehmern auf der Sonnenseite des Arbeitsmarkts aggregiert. Wenn diese Entwicklung sich fortsetzte, würde die SPD im Extremfall nicht mehr die traditionellen "Eliten der Arbeitnehmerschaft", sondern eher jenen Teil der Arbeitswelt vertreten, dem, in Betrieb wie Gesellschaft, die Meinungsführerschaft verwehrt bleibt. Auf längere Sicht käme die SPD in eine strukturelle Minderheitsposition. Der aufstiegsorientierte, wirtschaftlich aktivere Teil der Arbeitnehmerschaft würde sich in seinen Interessen entsprechend eher von CDU/CSU und F.D.P. repräsentiert fühlen. Mit dem Aufkommen der neuen Rechtsparteien kann die SPD-Opposition jedoch nicht mehr davon ausgehen, daß sie in der Vertretung der Interessen des Mangels quasi ein Monopol besitzt. Die Abgestiegenen und Abstiegsgefährdeten radikalisieren sich. Wo die Republikaner nicht ideologische Residuen des rechtskonservativen bis rechtsradikalen Spektrums ansprechen, mobilisieren sie Proteststimmen auf der Schattenseite der Leistungsgesellschaft.

95

Dynamik des Arbeitsmarktes und Wählerverhalten

2.1.

Arbeitsmarktdualismus empirisch definiert

Die These der Arbeitsmarktspaltung ist ein heuristischer Erklärungsansatz für die Funktionsweise des modernen Arbeitsmarkts. Ob ein Arbeitnehmer letzten Endes auf dessen sicherer oder auf dessen unsicherer Seite landet, wird vor allem bestimmt durch den Grad seiner Bindung an das Erwerbsleben, seiner Trainierbarkeit, seiner besonderen Qualifikation. Tabelle 3:

Risikofaktoren in der Arbeitswelt F~ktorenstruktur

Faktor 1 Allgerneine und Ni rtschaftser· wartungen

Entwi ck 1ung :er eigenen w· rtschaft: i cnen Verhältnisse 1m nächsten Jahr

0. 76

Ent.,.icklung -::er .,.irtscnaftl ichen '/erhäl tn1 sse der 3undesrepuol i k

0.64

Entwicklur1g jer eigenen Einkommens-

ver-hältnisse

0.69

Ob :n.ln sich in diesem Jahr ;nehr leisten kann

0.66

der Ei nste 11 ungen nach EOU1MAX·Rot.ation von 6 =-aktoren

Faktor 2 Erwar"tungen an den

Arbeitsm.-:~rkt

Verhä1 ::n i s se ; n der aur:cesreoub 1 i k geoen AnlaS :.•Jr 3eunrunigung

0.69

E:-wartung, aal3. Oie steigen wi ro

0. 74

~rbe1tslos1gKe1t

MöglichKeit oes 'Jerlustes je:s ..\rbeltsplatzes

Faktor J

Faktor 4

ErwartunP~rsönl igen an die cne ?erbetrieb]. soektive Entwi ck 1 ung im 3etrieb

F31 0.40 '"'iedergegeben. Oie Ladungen sind :,ach der ~='aKtorordnung gruppiert; diase ~ntspricht: nicht der Reihenfolge in dem Fragebogen.

Grundgesamtheit der Analyse l'laren 3.430 repräsentativ ausgewählte Arbeitnehmer im Bundesgeb 1 et

96

Ursula Feist/ Klaus Liepelt

Aber auch die vom einzelnen Arbeitnehmer kaum zu beeinflussende Angebotsseite determiniert seine Chancen: die konjukturelle Lage der Branche, die strukturellen Bedingungen der Region und die Marktposition des Betriebes. Zur instrumentellen Definition der Variable Arbeitsmarktdualismus haben wir die in der Arbeitswelt zu beobachtenden Merkmale von Sicherheit und Unsicherheit einer Faktorenanalyse unterworfen. Die Indikatoren dafür stammen aus einer reprllsentativen Arbeitnehmerumfrage von infas aus dem Jahr 1986. Sie umfaßten die Einschlltzung der wirtschaftlichen und technologischen Situation am eigenen Arbeitsplatz und im Betrieb, die Beurteilung gesamtwirtschaftlicher Entwicklungen sowie den persönlichen Berufsund Erfolgshintergrund. Die Faktorenanalyse separierte sechs voneinander unabhllngige Dimensionen, auf denen sich Arbeitnehmer in der Arbeitswelt unterscheiden: wirtschaftliche Erwartung, Arbeitsmarkterwartung, betriebliche Arbeitsplatzperspektive, Berufsperspektive, Technologiefolgen, Betroffenheit. In der so rekonstruierten Wirklichkeit gibt es demnach nicht nur eine Trennlinie zwischen Sicherheit und Unsicherheit. Man darf sich den "gespaltenen Arbeitsmarkt" also nicht, wie in der Theorie konzipiert, als ein Entweder-Oder vorstellen, mit einem klaren Grenzstrich, der das Ende aller Sicherheit markiert und hinter dem die Zone der Unsicherheit beginnt. Nach dieser infas-Analyse ist von einem pluralistischen System von Sicherheiten und Unsicherheiten auszugehen sowie von dazwischen liegenden Zonen der Gefllhrdung. Diese Komplexitllt haben wir zur Vereinfachung der weiteren Analyse auf das nachfolgende Schema zusammengedrllngt. Danach sind auf der sicheren Seite des Arbeitsmarkts angesiedelt: (S) Sichere Arbeitsplätze ("Primllrer" Arbeitsmarkt) Konjunkturunabhllngige Arbeitsplatze. (S 1) Arbeitnehmer, deren Beschllftigungsverhllltnis von der Konjunktur nicht berührt wird; Sichere Vollzeit-ArbeitspH!tze. (S 2) Arbeitnehmer, die voll und sicher beschllftigt sind; Sichere Teilzeit-Arbeitspllltze. (S 3) Arbeitnehmer, die sicher, aber nicht voll beschllftigt sind. Auf der unsicheren Seite des Arbeitsmarkts finden sich demgegenüber vier Gruppen: (U) Unsichere Arbeitsplätze ("Sekundllrer" Arbeitsmarkt) Gefilhrdete Arbeitsplatze im Öffentlichen Dienst. (U 4) Arbeitnehmer, dietrotzihrer Konjunkturunabhängigkeit subjektiv verunsichert sind; Vollzeit-Arbeitsplätze mit Unsicherheiten. (U 5)

97

Dynamik des Arbeitsmarktes und WähleNerhalten

Arbeitnehmer, die voll, aber unsicher beschäftigt sind; Extrem gefl!hrdete Vollzeit-Arbeitspll!tze. Arbeitnehmer, die voll beschl!ftigt, aber stark gefl!hrdet sind; Gefl!hrdete Teilzeit-Arbeitspll!tze. Arbeitnehmer, die stark gefl!hrdet und nicht voll beschäftigt sind.

(U 6)

(U7)

Abbildung 2: Der gespaltene Arbeitsmarkt

Oie unsichere Seite

Oie sichere Se,te

Grundgesamtheit der Analyse waren 3.430 repräsentativ ausgewählte Arbeitnehmer im Bundesgebiet

3. Politische Orientierung in den Arbeitsmarktsegmenten

Wie verhalten sich diese Arbeitnehmergruppen gegenüber den politischen Parteien? Wenn wir zunl!chst einmal nur die sichere und die unsichere Seite des Arbeitsmarkts betrachten, so zeigen die Arbeitnehmer in den beiden Arbeitsmarktbereichen in ihren Parteiprl!ferenzen beinahe diametral entgegengesetzte Verhaltensmuster: Die CDU/CSU hat eine Mehrheit im sicheren Bereich, wahrend die SPD ein betrl!chtliches Übergewicht im unsicheren Bereich erzielt. Betrachten wir die Gruppen auf der sicheren Seite des Arbeitsmarkts im einzelnen. Danach zeichnet sich ab, daß sichere, zukunftstrl!chtige Wirtschafszweige ein Hort konservativer Parteiorientierung sind. Offenbar ist es der CDU/CSU gelungen, sich beson-

98

Ursula Feist/Klaus Liepelt

ders in Arbeitnehmergruppen Gehör zu verschaffen, die sich subjektiv in stabilen Beschäftigungsverhältnissen sehen und von denen der überwiegende Teil im privaten Dienstleistungssektor oder im zukunftsorienteriten Teil der Industrie beschaftigt ist (S 2). Von diesen Arbeitnehmern orientieren sich fast 60 Prozent an der CDU/CSU. Abbildung 3: Parteipraferenzen der Arbeitnehmer in den Arbeitsmarktsegmenten

Sicherheitsbereich

Unsicherheitsbereich 64%

50%

CDU/ SPD

csu

FDP Grüne

CDU/ SPD FDP Grüne

csu

Der Anteil der Meinungslosen wurde proportional umgerechnet Grundgesamtheit der Analyse waren 3.430 repräsentativ ausgewählte Arbeitnehmer im Bundesgebiet

Die Unionsparteien führen mit knappem Abstand vor der SPD auch in den Berufsgruppen, deren Arbeitsplatze nicht konjunkturabhängig sind, also vor allem im öffentlichen Dienst (Sl). Ähnlich ist die Relation für die auf sicheren Teilzeitarbeitsplatzen beschaftigten, vor allem weiblichen Arbeitnehmer (S 3). Damit wird deutlich: Die Union hat mit ihrer Modernisierungsstrategie die Mentalität der aufstrebenden, erfolgreichen Arbeitnehmer angesprochen. Gewerkschaftliche Bindungen haben auch dort, wo das Netz dichter gespannt ist - im öffentlichen Dienst wie bei den Gruppen von Teilzeitbeschaftigten, die am Arbeitsmarkt begehrt sind -, das Vordringen der CDU/CSU allenfalls retardiert, nicht aber verhindert. Andererseits hat die Union durch das Eindringen in die leistungsbewußte, an individuellen Interessen orientierte Arbeitnehmerschaft ungewollt auch Integrationsverluste in Kauf nehmen müssen. Diese haben sich zunächst in Stimmenthaltung, spater dann durch rechtsradikale Voten, bei Wende-Enttauschungen und zukunftsverunsicherten Wahlbürgern, niedergeschlagen_

99

Dynamik des Arbeitsmarktes und Wählerverhalten

Abbildung 4: Parteipräferenzen der Arbeitnehmer in den Arbeitsmarktsegmenten•)

Parteipräferenz

690fo 64%

CDU/CSU

63%

,.-... 57%

55%

480fo/ 40%,

......... ,

__

28%

U7

FDP:

-

,46% 43%

32% --...../

/

36%

27%

U6

U5

U4

53

52

51

5

2 6

4

7

0 5

1

4

0

Grüne: 5

............

Arbeits· markt· segmente

7

Beschreibung der Arbeitsmarktsegmente:

= Konjunkturunabhängige Arbeitsplätze 52= Sichere Vollzeit-Arbeitsplätze 53= Sichere Teilzeit-Arbeitsplätze

51

U4 = Gefährdete Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst

U5 = Vollzeit-Arbeitsplätze mit Unsicherheiten U6 = Extrem gefährdete Vollzeit-Arbeitsplätze U7

= Gefährdete Teilzeit-Arbeitsplätze

*) Der Anteil der Meinungslosen wurde proportional umgerechnet Grundgesamtheit der Analyse waren 3.430 repräsentativ ausgewählte Arbeitnehmer im Bundesgebiet

Auf der unsicheren Seite des Arbeitsmarkts identifizieren sich bis zu zwei Drittel der durch Risikofaktoren betroffenen Arbeitnehmer mit der SPD. Am meisten gilt das für die Minderheit verunsicherter Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst (U 4). Am wenigsten stark ist das Übergewicht der SPD bei den gefahrdeten Teilzeitarbeitnehmern (U 7). Bei den Zwischengruppen sind die gefilhrdeten Vollzeitarbeitsplätze (U 5) überwiegend in Großbetrieben und in den Grundstoffindustrien, aber auch in den "modernen" Industriezweigen zu finden. Extrem gefährdete Arbeitspl1!tze (U 6) verteilen sich etwa proportional auf alle Betriebsgrößen; sie treten allerdings gehiluft in den traditionellen und zum Teil absterbenden Industriebranchen auf: Holz, Textil, Nahrung, Druck, Bau. Die Bundestagswahl 1987 mit den starken Verlusten in den modernen Wirtschaftszentren signalisierte ein Scheitern der Modernisierungsstrategien der SPD,

100

Ursula Feist/Klaus Liepelt

die sich den Berufsgruppen der "technischen Intelligenz" besonders annehmen wollte. Sie ist von diesen weithin nicht als Alternative akzeptiert worden; statt dessen wurde sie als Nothelfer und Krisenhelfer von Abstiegsgefährdeten oder sozial Deprivierten gefordert, also wider Willen auf ihre alte sozialdemokratische Tradition "festgenagelt". Diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität führte zu einem weiteren Defizit: Deprivierte, die von der Union nichts erwarten konnten und denen die SPD nicht zu helfen vermochte, landeten in einem anderen Auffanglager, in den Reihen der neuen Rechten. Nachdem sie sich politisch im Stich gelassen fühlten, setzten sie nun auf die Krisenrhetorik der Republikaner, die den tauben Großparteien die Ohren öffnen sollen. Die Stimmabgabe der Krisenbetroffenen nach rechts ist somit zu einem Gutteil ein AntiVote gegen die Volksparteien. Welche Rolle spielen bei dieser "Neuordnung" des politischen Marktes die traditionellen Bindungskräfte? In diesem Zusammenhang interessieren insbesondere der Einfluß der Gewerkschaften und der Berufsstatus.

3.1.

Das politische Verhalten von Gewerkschaftsmitgliedern

Gewerkschaftsmitgliedschaft ist nach wie vor eine Strukturvariable für die parteipolitische Verortung von Arbeitnehmern in der Bundesrepublik - trotzder Abschwächung von Parteimilieus und der seit Jahren schwelenden Kooperationskrise zwischen SPD und Gewerkschaften, den beiden Organisationen, in denen die Arbeiterbewegung historisch wurzelt. Unter Gewerkschaftsmitgliedern liegt die SPD in allen Arbeitsmarktsegmenten deutlich vor der Union. Der Vorsprung vor der CDU/CSU beträgt 26 Punkte bei den Arbeitnehmern in konjunkturunabhängigen Besch!!ftigungsverh!!ltnissen (S 1) und 30 Punkte bei den sicheren Vollzeit-Arbeitsplätzen (S 2). Wegen der geringen Fallzahl konnte für die sicheren Teilzeit-Arbeitsplätze (S 3) kein Wert für Gewerkschaftsmitglieder berechnet werden. Auf der unsicheren Seite des Arbeitsmarkts ist die Bindung der Gewerkschaftsmitglieder an die SPD noch deutlicher. Subjektiv empfundene Arbeitsmarktrisiken korrelieren bei gewerkschaftlicher Organisation der Arbeitnehmer also durchweg mit einer starken linken Parteipräferenz. So erreicht der Vorsprung der SPD vor der Union bei den verunsicherten gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst (U 4) einen Wert von 57. Gewerkschaftsmitglieder in den beiden graduell unterschiedlichen Risikobereichen der Privatwirtschaft (U 5, U 6) reagieren noch deutlicher: Hier distanzieren die Sozialdemokraten die Union um je 64 Punkte. Arbeitsplatzunsicherheit erzeugt aber auch bei nichtorganisierten Arbeitnehmern beträchtliche Zweifel an der Handlungskompetenz der Unionsparteien. Die SPD-Präferenz überwiegt nämlich im gefährdeten Arbeitsmarktsektor auch bei den nicht gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern. Mit einer Ausnahme rangiert hier die SPD vor der Union zwischen 18 und 35 Prozentpunkten. Nur bei nichtorganisierten, verunsicher-

Dynamik des Arbeitsmarktes und Wählerverhalten

101

ten Vollzeit-Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft (U 6) liegen SPD und CDU/CSU fast gleichauf. Unter den Erwerbstätigen stellen die nichtorganisierten Arbeitnehmer mit geringem Arbeitsmarktrisiko den harten Kern der CDU/CSU-Anhänger. Am starksten ist die Praferenz für die Unionsparteien bei den gesicherten Vollzeit-Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft (S 2). Mit 37 Prozentpunkten Vorsprung kontrolliert die Union dieses Segment der Arbeitnehmer. Abbildung 5: Parteipraferenz von gewerkschaftlich organisierten und nichtorganisierten Arbeitnehmern in den Arbeitsmarktsegmenten·

SPD-überhang

64

64 Gewerkschaftsmitglieder

35

18

Arbeits· markt· segmente

U7**)

·37 CDU/CSU·Überhang *) Der Antei I der Meinungslosen wurde proportional umgerechnet **) Bei Gewerkschaftsmitgliedern unbesetzt wegen zu geringer Fällezahl Beschreibung der Arbeitsmarktsegmente: 51 = Konjunkturunabhängige Arbeitsplätze 52 = Sichere Vollzeit-Arbeitsplätze 53 = Sichere Teilzeit-Arbeitsplätze

U4 = Gefährdete Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst U5 = Vollzeit-Arbeitsplätze mit Unsicherheiten U6 = Extrem gefährdete Vollzeit-Arbeitsplätze U7 = Gefährdete Teilzeit-Arbeitsplätze

Grundgesamtheit der Analyse waren 3.430 repräsentativ ausgewählte Arbeitnehmer im Bundesgebiet

102

Ursula Feist/Klaus Liepelt

Gewerkschaftsmitgliedschaft ist mithin auch unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Strukturwandels und seiner Krisen ein wichtiger Faktor der parteipolitischen Verortung zugunsten der SPD. Auf der unsicheren Seite des Arbeitsmarkts wird dieser Einfluß noch erheblich verstärkt: Die Einbindung in die informellen Kommunikationsnetze der traditionellen Arbeitswelt schlägt sich auch und gerade unter Krisenbedingungen in sozialdemokratischer Stimmabgabe nieder. Umgekehrt korrelieren Gewerkschaftsferne und Arbeitsplatzsicherheit mit besonders starker CDU/CSU-Orientierung. Die Union hat damit im Kampf um die politische Bindung von modernen Arbeitnehmern einen wichtigen Vorteil vor der SPD errungen. Wo die Einbindung in die Strukturen gewerkschaftlicher Interessenvertretung nicht gesucht wird, wo Arbeitnehmer individuelle Aufstiegsstrategien bevorzugen, ist konservatives Wählerverhalten die Regel.

3.2.

Das politische Verhalten nach beruflichem Status

Eine traditionelle Trennlinie im politischen Bewußtsein von Arbeitnehmern verläuft zwischen Arbeitern und Angestellten. Sie wird theoretisch auf den unterschiedlichen Grad an Abhängigkeit zurückgeführt, den Arbeiter bzw. Angestellte in ihrer Arbeitswelt kollektiv erfahren. Während Arbeiter ihre Situation als fremdbestimmt erleben und daraus ihre Klassenlage ableiten, gegen die sie sich solidarisch, das heißt kollektiv, zur Wehr setzen, entwickeln Angestellte ein Gefühl von Eigenkontrolle ihrer Lage, das ihre individuelle Handlungskompetenz zur Durchsetzung eigener Interessen in ökonomischen Verteilungsfragen stärkt. Traditionell organisierte und artikulierte die SPD die Interessen der Arbeiterschaft. Dagegen sind die Angestellten die zentrale Gruppe der politisch flexiblen Mittelschichten, eine durch den sozialen Wandel wachsende Wählergruppe, die historisch weniger stark in Milieus und Lagermentalität eingebunden ist. Die beiden großen Parteien umwerben als Folge ihrer eigenen Modernisierungsstrategien die Mittelschichten, unter denen in den letzten Jahren zunehmend auch die beiden kleineren Bundestagsparteien Erfolge verzeichnen konnten. Arbeiter. Unter den gewerblichen Arbeitnehmern liegt die SPD im sicheren wie im unsicheren Bereich des Arbeitsmarks vor der Union. Während der Vorsprung der Sozialdemokraten im sicheren Teil des Arbeitsmarkts nur 4 Prozentpunkte beträgt, distanziert die SPD im krisengefährdeten Teil des Arbeitsmarkts die Union um fast 50 Punkte. Auch wenn die Arbeiter traditionell der SPD näherstehen, so hat offensichtlich die Zugehörigkeit zum Sicherheits- oder Unsicherheitsbereich der Wirtschaft selbst in dieser Wählerschicht einen erheblichen Einfluß auf die Parteipräferenz: Die Union erreicht im Sicherheitsbereich fast so viele Arbeiter wie die SPD. Jeder Zweite auf einem krisensicheren Arbeitsplatz wird von der SPD nicht oder nicht mehr erreicht. Im Vorfeld der Bundestagswahl 1987 spaltete sich somit auch die Arbeiterschaft in ihren Ansprüchen und Erwartungen an politische Interessenvertretung. Diese Spaltung der Arbeiterschaft setzte bereits unmittelbar vor dem Regierungswechsel von 1982 ein; sie wurde bei der

103

Dynamik des Arbeitsmarktes und Wählerverhalten

Bundestagswahl 1983 sichtbar verstärkt; auch in den Wahlen 1987 blieb die parteipolitische Trennlinie bestehen. Tabelle 4:

Parteipräferenz bei Arbeitern im Sicherheits- und Unsicherheitsbereich des Arbeitsmarktes*

CDU/CSU

"'"

Parteipräferenz SPD FDP %

%

Grüne %

Sicherer Arbeitsmarkt

47

51

1

2

Unsicherer Arbeitsmarkt

23

72

1

4

*)

Der Anteil der Meinungslosen wurde proportional umgerechnet.

~rundgesamtheit der Analyse waren 3.430 repräsentativ ausgewählte

Arbeitnehmer im Bundesgebiet

Differenzierter ist das Bild, wenn man die Arbeiter in den einzelnen Teilsegmenten des Arbeitsmarkts betrachtet. Im sicheren Bereich hat die SPD einen Abstand zur Union zwischen 14 und 2 Prozentpunkten. Wo in der Privatwirtschaft die Arbeitsplatzsicherheit ungefährdet ist (S 2), liegt die SPD 4 Punkte vor der CDU/CSU, auf den begehrten Teilzeitarbeitsplätzen (S 3) sogar um nur 2 Punkte. Allein im öffentlichen Dienst (S 1) wird die CDU/CSU-Annäherung offenbar stärker ausbalanciert durch das dort existierende Gegengewicht eines dichteren Gewerkschaftsnetzes. Arbeitsplatzsicherheit führt auch unter Arbeitern von der SPD weg: Die gewerblichen Arbeitnehmer auf der sicheren Seite des Arbeitslebens zählen als Resultat des Wirtschaftswandels nicht mehr zu den Traditionswählern der Sozialdemokraten. Ganz anders ist indessen das Bild bei den Arbeitern in den verschiedenen Segmenten des unsicheren Arbeitsmarkts. Hier beträgt der Vorsprung der SPD mindestens 26 Punkte (gefährdete Teilzeit-Arbeitsplatze, U 7) und maximal 59 Prozentpunkte bei Arbeitern mit unsicheren Vollzeit-Arbeitsplätzen (U 5). Aber auch bei den extrem gefährdeten Arbeitsplätzen (U 6) liegt die SPD mit 50 Prozentpunkten Abstand ähnlich weit vor der Union. Entsprechend hoch muß man die Erwartungen veranschlagen, die aus der ökonomisch verunsicherten, krisenbetroffenen Arbeiterschaft an die SPD gerichtet wurden und - wie die weitere Entwicklung seit 1987 jedoch zeigt - von ihr aus der Sicht eines bemerkenswert hohen Teils der Arbeiterschaft nicht erfüllt worden sind. Angestellte. Auch im Angestelltenbereich verweisen die politischen Orientierungen auf die gleiche Trennlinie: Angestellte, die dem sicheren Arbeitsmarkt zuzuordnen sind, präferieren deutlich die Unionsparteien. Die für die Zukunftgestaltung wichtigen Kerngruppen der Arbeitnehmerschaft stehen der CDU/CSU näher. Eine differenzierte Betrachtung der Teilgruppen zeigt: Die Union integriert das Wählerpotential der sicheren Vollzeit-Arbeitsplätze (S 2) weit besser als die SPD. 38 Punkte macht hier der Abstand zwi-

Ursula Feist/ Klaus Liepel t

104

sehen den beiden Parteien aus. Aber auch im konjunkturunabhängigen Bereich (S 1) sowie bei den sicheren Teilzeit-Angestellten (S 3) hat die Union unter Angestellten einen wenn auch geringfügigen Vorsprung vor der SPD. Abbildung 6: Arbeitsmarktsegmentation und Parteipräferenz bei Arbeitern und Angestellten·

(Index: SPD minus CDU/CSU) SPO-überhang

59

14

1----l,_~r---1-1'----+--+-oV----+----+--

Arbeits· marktsegmente

-7

COU/CSU·Überhang

• 38

*) Der Anteil der Meinungslosen wurde proportional umgerechnet. Grundgesamtheit der Analyse waren 3.430 repräsentativ ausgewählte Arbeitnehmer im Bundesgebiet

Mit steigender ökonomischer Verunsicherung lindert sich aber auch das Präferenzmuster der Angestellten; es führte zu einer Annäherung an die SPD. So liegen die Sozialdemokraten bei den krisenbetroffenen Vollzeit-Angestellten (U 6) und bei den unsicheren Teilzeit-Beschllftigten (U 7) um 13 bzw. 6 Punkte vor der CDU/CSU. Extrem indessen ist die Reaktion bei verunsicherten Angestellten im öffentlichen Dienst (U 4). Deren besondere Problemlagen und ihre Gewerkschaftsnähe lllßt den Vor-

105

Dynamik des Arbeitsmarktes und Wählerverhalten

sprungder SPD auf 47 Punkte steigen. Er erreicht damit eine noch größere SPD-Nähe als bei der entsprechenden Gruppe von Arbeitern im öffentlichen Dienst. Alles in allem: Auch im Angestelltensektor ist eine Spaltung der politischen Präferenzen in Abhängigkeit von der Arbeitsmarktsituation zu beobachten. "Angestelltenmentalität" und ihre in der Literatur vielfach beschriebenen Charakteristika sind demnach heute weniger ein Spezifikum des Berufsstatus als vielmehr ein Attribut der jeweiligen Arbeitsmarkt- und Soziallage eines Arbeitnehmers. Tabelle 5:

Parteipräferenz bei Angestellten im Sicherheits- und Unsicherheitsbereich des Arbeitsmarktes·

CDU/CSU %

Parteipräferenz FDP SPD %

%

Grüne %

Sicherer Arbeitsmarkt

55

36

3

6

Unsicherer Arbeitsmarkt

39

52

1

8

*) Der Anteil der Meinungslosen wurde proportional umgerechne~. Grundgesamtheit der Analyse waren 3.430 repräsentativ ausgewählte Arbeitnehmer im Bundesgebiet

lii

Die Christdemokraten erzielen unter den Angestellten auf der sicheren Seite des Arbeitslebens mit 55 Prozent einen Vorsprung um fast 20 Prozentpunkte vor der SPD. Auf der unsicheren Seite dagegen überflügelt die SPD mit 52 Prozent die Union deutlich um 13 Punkte, und auch die Grünen steigern sich hier, bei den verunsicherten Angestellten, auf 8 Prozent.

4. Die neue Herausforderung - Wer aggregiert die Interessen der Krisen betroffenen?

Die Arbeitnehmerbefragung von infas, ein knappes Jahr vor der Bundestagswahl 1987 vorgenommen, stieß auf eine deutliche parteipolitische Spaltung in der Arbeitnehmerschaft: Während die Union stärker die Interessen der modernen Arbeitnehmer auf zukunftssicheren Arbeitsplätzen anzusprechen vermochte - unabh1!ngig von den traditionellen Konfliktlinien, markiert von Gewerkschaftsbindung und Berufsstatus -, war die SPD "Hoffnungsträger" der Krisenbetroffenen, die, mangels Alternativen, auf das traditionelle Interessenvertretungsprofil der Sozialdemokraten setzten. Der Riß in der Arbeitnehmerschaft geht dabei so weit, daß man bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit von einer neuen sich politisierenden Konfliktlinie sprechen kann. Hinzu kommt, daß unter den von der Krise Betroffenen in den Jahren seit 1987 eine weitere Politisierung stattge-

106

Ursula Feist/ Klaus Liepelt

funden hat. Die Modernisierungsverlierer haben ihren Protest teilweise nicht mehr über die parlamentarische Opposition zu Gehör gebracht, sie haben vielmehr das Angebot der neuen Rechtsparteien als radikale Alternative gewählt, in der sie nun ihre vernachlässigten Interessen artikulieren. Das Potential der Rechtsparteien ist 1989 in wenigen Monaten sprunghaft auf mittlerweile mehr als ein Zehntel der Wahlbevölkerung angestiegen. Darunter sind überdurchschnittlich viele, die sich subjektiv der Arbeiterschaft zurechnen (17 Prozent) und solche, die objektiv Opfer der wirtschaftlichen Modernisierung wurden (21 Prozent). Gewerkschaftliche Bindungen mögen diesen Prozeß retardieren, nicht aber aufhalten. Kleinräumige wahlstatistische Analysen zur Buropawahl 1989 belegen diesen Zusammenhang im Lebensumfeld des einzelnen Wählers. Abbildung 7: Potential von Rechtsparteien in der Bundesrepublik

-5%

E: ne P3n:ei ~echts •1on der CDU/CSU zu w.:ihlen, halten für m6gllch oder haoen schon einmal praktiziert .

Befragte insgesamt

I I

Januar 1989

Ma1iJun1 1989

il~

-12"o

Persönliche Erfahrunoen mit Arbeitsios1gke1t/ Kurzarbeit

21 JIJ

Angst vor Arbeitsc/atzverlust

14%

Soziale Selbsteinstufung Oberschicht/obere Mittelschicht Mittelschicht

Arbeiterschicht

davon:

~"'

-gewerkschaftlich organisierte Arbeiter

-nicht orgamsierte Arbeiter

20°1

1)

Frage:

Würden Sie persönlich vielleicht einmal Sie sie schon einmal gew.:ihlt?

Quelle,

infas-Repräsentativerhebungen im Bundesgebiet ohne Berlin (West), Januar 1989. ca. 1.500 Befragte ab 18 Jahren sowie Mai/Juni 1989. 3.172 Befragte ab 18 Jahren. Randem-Auswahl

~ine

Parte1 wählen, die rechts von der CDU/CSU steht? Oder haben

Die Prozesse der Arbeitsmarktspaltung mit ihren sozialen Folgen sind somit auf dem Weg, sich zu Konstituanten der Wählerorientierung zu entwickeln und die Freiheitsgrade einzuschränken, die eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft erreicht zu haben schien.

Dynamik des Aibeitsmarktes und Wählerverhalten

107

Dort, wo sich Bindungen an kollektive Interessenvertretungen erhalten haben, wird der Protest eher über die SPD gesteuert, wie beispielsweise in Duisburg-Rheinhausen. Dort, wo sich die politischen Vorfeldorganisationen zusammen mit den Arbeitsplätzen aus der Nachbarschaft zurückgezogen haben, entstand bei den Zurückgebliebenen, weil von den traditionellen Netzwerken nicht mehr ''versorgt", Raum für rechtsradikalen Protest -wie z.B. in Duisburg-Marxloh.

Literatur

Feist, Ursula et al., Die politischen Einstellungen von Arbeitslosen. Zwischen Protest und Resignation, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 45/1984 Feist, Ursula/Kiaus Liepelt, Modernisierung zu Lasten der Großen - Wie die deutschen Volksparteien ihre Integrationskraft verlieren, in: Journal filr Sozialforschung, H. 3/4 1987,S.277-295 infas-Politogramm, Bundestagswahl1987, Bann, Januar 1987: Europawahl1989, Bann, Juni 1989 Krieger, Hubert, Arbeitsmarktverhalten und politische Stabilität, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 17/1986 Krieger, Hubert/Kiaus Liepelt/Reinhard Schneider/Menno Smid, Arbeitsmarktkrise und Arbeitnehmerbewußtsein, Campus 1989

Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann

Vive Ia (tres) petite difference! Über das unterschiedliche Wahlverhalten von Männern und Frauen bei der Bundestagswahl1987

1. Bemerkungen zur Ausgangslage1

Ein halbes Jahrhundert lang, von den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 bis zur Bundestagswahl 1969, unterschieden sich in Deutschland Männer und Frauen in ihrem Wahlverhalten deutlich. So beteiligten sich in der Weimarer Republik die Männer durchweg prozentual stärker an den Wahlen als Frauen; auch stimmten sie im allgemeinen weitaus häufiger für rechts- oder linksextreme sowie politisch links von der Mitte stehende Parteien. Die Frauen dagegen wählten eher konservative und vor allem christlich orientierte Gruppen wie beispielsweise das katholische Zentrum, die ebenfalls katholische Bayerische Volkspartei oder den evangelischen Christlich-Sozialen Volksdienst und die Deutsch-Nationale Volkspartei 2• Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede im Wahlverhalten setzten sich, wie Abbildung 1 zeigt, in der Bundesrepublik zunächst fort: 1969 stimmten 50,6 Prozent der weiblichen, aber nur 40,6 Prozent der männlichen Wähler für die Unionsparteien, während die SPD nach wie vor signifikant häufiger von Männern als von Frauen gewählt wurde3• Bei der Bundestagswahl 1972 ebneten sich 1

2

3

Wir danken Jan-Bemd Lohmöller (Berlin), Hans Rattinger (Bamberg) und insbesondere Manfred Küchler (New York) für ihre kommentierenden Bemerkungen und kritischen Hinweise, die wir - soweit sie uns miteinander vereinbar erschienen - zu berücksichtigen versucht haben. Unser Dank gilt ferner Hartmut Hörnermann (FU Berlin) für seine Unterstützung bei der Berechnung der PLS-Pfadmodelle. Vgl. hierzu beispielsweise Herbert Tingsten, Political Behavior. Studies in Election Statistics, London 1937, S. 27-29, 38-65; ferner Jürgen W. Falter/Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann, Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik Materialien zum Wahlverhalten 1919-1933, München 1986, S. 81-85. Vgl. für die Nachkriegszeit und die Anfangsjahre der Bundesrepublik v.a. Gabriete Bremme, Die politische Rolle der Frau in Deutschland. Eine Untersuchung über den Einfluß der Frauen bei Wahlen und ihre Teilnahme in Partei und Parlament, Göttingen 1956, insbes. S. 77ff.; die Resultate der seit 1953 flächendeckend durchgeführten amtlichen Repräsentativstatistik bei Eckhard Jesse, Die Bundestagswahlen von 1953 bis 1972 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik. Zur Bedeutung eines Schlüsselinstrumentes der Wahlforschung. in: ZParl, 6/1975, S. 310-322; ders., Die Bundestagswahlen von 1972-1987 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik. in: ZParl, 18/1987 , S. 232-242; vgl. auch die - in ihren interpretativen Passagen allerdings eher populärwissenschaftlich gehaltene -Monographie von Joachim Hofmann-Göttig, Emanzipation mit dem Stimmzettel. 70 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland, Bonn 1986.

110

JUrgen W Falter/Siegtried Schumann

diese Unterschiede dann unvermittelt ein. Seitdem unterscheiden sich in der Bundesrepublik Männer und Frauen, wie gleichfalls aus Abbildung 1 hervorgeht, in ihrer Stimmabgabe und in ihrer Parteipräferenz kaum noch4• Abbildung 1: Geschlechtsspezifische Unterschiede im Wahlverhalten 1953-1987 11 9

7

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-9 -11

In Abbildung 1 wird die auf die gi!ltigen Stimmen bezogene Prozentpunktdifferenz im Wahlverhalten von Mannern und Frauen wiedergegeben5• Was daraus nicht abzulesen ist, ist das Phänomen, daß die Allgleichung des Frauen- und Männerwahlverhaltens gewissermaßen von beiden Seiten erfolgt ist, daß es sich also nicht um eine einseitige An-

4

Vgl. zum Übergang 1969/72 Klaus Liepelt/Hela Riemenschnitter, Wider die These vom besonderen Wahlverhalten der Frau, in: PVS, 14/1973, S. 567-605, die allerdings - bei recht ähnlichem Befund wie wir- stärker auf den Wandel kommunikativer Netze abheben und ihre Analyse in erster Linie dazu benutzen, das INFAS-Modell der Wählerwanderungsbilanz zu demonstrieren. 5 Der üblicherweise in der Literatur, auch von uns - vgl. Falter/Lindenberger/Schumann, Wahlen und Abstimmungen (Anm. 2), S. 83) -,zur Darstellung des Verhältnisses von Frauenund Männerwahlverhalten verwendete sogenante Tingsten-lndex (% Frauenstimmen für eine gegebene Partei/% Männerstimmen für diese Partei x 100) hat den Nachteil, als "Prozent von 'Prozenten" nicht linear zu sein und überdies kein definiertes Maximum und Minimum zu besitzen, was seine Interpretation schwierig macht. Dagegen beträgt das Minimum der Prozentpunktdifferenz -100 (falls keine Frauen, sondern nur Männer, und zwar alle, für eine gegebene Partei gestimmt haben), während ihr Maximum + 100 beträgt. Ein Wert von 0 (der einem Tingsten-lndexwert von 100 entspricht) bedeutet, daß exakt der gleiche Prozentsatz von Männern und Frauen für die jeweilige Partei votiert haben. Nachteilig bei diesem Differenzmaß ist, daß etwa gleich große relative Wahlverhaltensunterschiede bei kleinen Parteien deutlich niedrigere Werte produzieren als bei großen Parteien; hier scheint wiederum der Tingsten-Index überlegen zu sein. Da wir uns aber im folgenden in erster Linie auf die beiden "großen" Parteigruppierungen und auf die Wahlbeteiligung konzentrieren wollen, erscheint es unstrotzdieser Einschränkung sinnvoll, mit Prozentpunktdifferenzen zu arbeiten.

Vive Ja (tres) petite difference!

111

passungder Frauen an die Männer (oder umgekehrt) handelte. So erhielten die Unionsparteien 1972 nicht nur relativ weniger Frauenstimmen als bisher, sondern im Gegenzug auch anteilsmäßig betrachtlieh mehr Männerstimmen. Bei der SPD, die bis 1972 sowohl bei Frauen als auch bei Mannern Stimmenanteile hinzugewinnen konnte, nahm der Prozentsatz der Frauenstimmen zwischen 1969 und 1972 deutlich schneller zu als der der Männerstimmen, so daß hier ebenfalls eine Angleichung des geschlechtsspezifischen Wahlverhaltens erfolgte. Tabelle 1:

Die Veränderung wichtiger Sozialkategorien 1953-1987

Merkmal % Konfessionslose %Kirchgang "nie" % Gewerkschaftsmitglied %Abitur/Studium d %Angestellte/Beamte % Hausfrauen %Einwohner Gern. < 5000 % 60 Jahre und mehr % Berufstätige

Männer

1953 1969 1972 1987

7 21

4 16 39 6 38

7 18 35 9 39

9 17 39 14

49 20 81

39 25 78

37 27 76

14 22 69

Zahl der jeweils Befragten

1348 899

673

973

Merkmal

Männer < 30 J. 1953 1969 1972 1987

% Konfessionslose % Kirchgang "nie" % Gewerkschaftsmitglied %Abitur/Studium d %Angestellte/Beamte %Hausfrauen %Einwohner Gern. < 5000 % 60 Jahre und mehr % Berufstätige

4 14 24

2 15 27 10 19

4 21 32 7

44

44

5 18 20 14 47

10 25 23 26 39

47

40

29

94

87

82

Frauen

1953 1969 1972 1987 2 8 3 3 26 60 47 14 27

3 12 5 3 45 57 39 31 30

2 13 6 4 56 50 30 33 33

4 12 7 7 72 40 14 42 35

1898 1046 930

981

Frauen < 30 J. 1953 1969 1972 1987

18

1 10 7 6 32 39 48

65

53

65 56b 41

3 19 7 5 76 34 29

5 22 8 17 79 22 13

43b

56

55

2 20 4 a

Zahlenwerte errechnet aus denZA-Umfragen Nr. 0145 (1953), 0525 (1969),

0635 (1972) und 1536 (Januar 1987) a b c d

Wert nicht berichtet, da nur zwei Fälle in der Umfrage. Unerklärlicher Ausreißer; eventuell Codierungsfehler in der Umfrage? Inklusive Arbeitslose und Kurzarbeiter. Prozentuierungsbasis: männliche bzw. weibliche Berufstätige.

Diese Angleichungsprozesse im Frauen- und Mannerwahlverhalten lassen sich der Tendenz nach auch für die verschiedenen Alterskohorten beobachten, wobei jedoch in der jüngsten Kohorte für die CDU/CSU entgegen dem allgemeinen Trend ein Rückgang der

112

!argen W. Falter/Siegfried Schumann

Stimmanteile sowohl bei Frauen als auch bei Mgnnern zu konstatieren ist. Da jedoch der Rückgang bei den Frauen erheblich dramatischer ausmllt als bei den Mgnnern, resultiert daraus wiederum eine Allgleichung des Stimmverhaltens der beiden Geschlechter. Als Erklärung für diese Allgleichungsprozesse wird in der Literatur im allgemeinen ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren genannt, die sich auf mehrere Dimensionen erstrecken, ngmlich auf Mikro-, d.h. Verhaltens-, und auf Makro-, d.h. Strukturveränderungen einerseits, auf geschlechts-, rollen-, status- und positions- bzw. sozialisationsspezifische Elemente andererseits. Diese verschiedenen Erklärungsmomente sind in dem folgenden Zitat dem Sinn nach zusammengefaßt: "Während in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik der Einfluß der Kirchen, besonders der katholischen Kirche, auf das Wahlverhalten der Frauen von erheblicher Bedeutung war, wurde die Stimmabgabe der Männer häufig von ihrer Mitgliedschaft in Gewerkschaften oder dem Einfluß der Arbeitskollegen bestimmt. Mit dem Rückgang der Bedeutung der Konfession für das Wahlverhalten, der Lockerung der Bindung zwischen Kirchen und CDU/CSU, der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frauen außer Haus und der wachsenden Bedeutung gemeinsamer generationsspezifischer Erfahrungen für Männer und Frauen der jüngeren Altersgruppe verlor die unterschiedliche Einbindung von Mgnnern und Frauen in für sie spezifische Kommunikationsnetze an Bedeutung... Im übrigen ist die Allgleichung des Wählerverhaltens von Männern und Frauen ein Teil der generellen Nivellierungstendenzen innerhalb der Wghlerschaft beider Parteien, die sich auch in anderen Bereichen - etwa beim Bildungsniveau - nachweisen lassen" 6• Wenn wir diese Sammlung von Erklärungsmomenten richtig interpretieren, sind darin zwei ganz unterschiedliche Arten von Hypothesen enthalten. Die einen beziehen sich auf Veränderungen im gesellschaftlichen Bereich ("immer mehr Frauen ergreifen einen Beruf', "die Kirchenbindung von Frauen tgßt im Zeitverlauf nach" etc.) oder auf Verhaltensänderungen innerhalb der einzelnen Gruppen ("der Zusammenhang zwischen Kirchenbindung und Unionspräferenz verliert an Bedeutung"); die zweiten argumentieren vor allem mit unterschiedlichen Sozialisationseinflüssen, also beispielsweise geschlechtsspezifischen Erziehungsstilen, die über unterschiedliche soziale Lagen hinweg eine weitgehende Konstanz aufweisen, was dazu führe, daß sich das Wahlverhalten und/oder die politischen Einstellungen von Mgnnern und Frauen selbst dann noch tendenziell unterschieden, wenn diese sich ansonsten sozial völlig angeglichen hätten; eine weitere heute allerdings eher an Stammtischen als in der sozialwissenschaftliehen Literatur anzutreffende Art von Hypothesen betont stgrker die angeblich "genuinen" geschlechtsspezifischen Differenzen zwischen Männern und Frauen. Unter solchermaßen definierten "geschlechtsspezifischen" Differenzen sind dabei in erster Linie biologisch-genetische Unterschiede zu verstehen 7• 6 7

Gerhard A. Ritter/Merith Niehuss, Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Bundes- und Landtagswahlen 1946-1987, München 1987, S. 162. Daß auch unter angesehenen, sich selbst als "fortschrittlich" verstehenden Soziologen derartige Deutungsmuster üblich waren, mögen zwei Zitate belegen: "Die stärkere Gefühlsbetontheit der Frau neigt stets mehr zum Radikalismus [gemeint sind die NSDAP und die KPD; d. Verf.] als die kühler überlegende männliche Art", so (empirisch übrigens falsch)

Vive Ja (tres) petite difference!

113

Selbst wenn man davon ausgeht, daß die im obigen Zitat angebotenen Erklärungen der Tendenz nach zutreffen, stellt sich doch die Frage, welches der relative Anteil der verschiedenen Faktoren ist. Wir wollen dies im ersten Teil dieser Analyse näher diskutieren, wobei wir von der Hypothese ausgehen, daß Verhaltensänderungen innerhalb der einzelnen Sozialkategorien von erheblich stärkerem Gewicht gewesen sind als Größenordnungsverlinderungen zwischen den Kategorien. Hierfür spricht zum einen die in Tabelle 1 dokumentierte Tatsache, daß sich wegen gewisser kompensatorischer Effekte8 die Sozialstrukturellen Differenzen von M!!nnern und Frauen zwischen 1953 und 1987 in weitaus geringerem Ausmaße eingeebnet zu haben scheinen, als wir ursprünglich angenommen hatten, zum anderen, daß sich der Wechsel im Wahlverhalten nicht allmlihlich, sondern geradezu abrupt binnen nur drei Jahren, zwischen 1969 und 1972, vollzogen hat, einem Zeitraum, der für tiefergreifende Strukturlinderungen viel zu kurz erscheint. Die in Tabelle 1 wiedergegebenen Werte illustrieren dies sowohl für Mlinner und Frauen insgesamt als auch für die jüngere Altersgruppe9• So nimmt weder der Anteil der Konfessionslosen noch der nicht in die Kirche gehenden Befragten oder der Gewerkschaftsmitglieder und berufstlitigen Frauen in dem Drei-Jahres-Zeitraum zwischen 1969 und 1972 so stark zu, daß sich dadurch eine primär Sozialstrukturelle Determination des beschriebenen Allgleichungsprozesses plausibel begründen ließe. Da jedoch selbst noch so überzeugende Plausibilitlitsargumente eine empirische Beweisführung nicht zu ersetzen vermögen, erscheint es unumglinglich, unsere Arbeitshypothese mit geeigneten statistischen Mitteln zu überprüfen. Im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung wollen wir uns sodann als erstes der Frage zuwenden, ob und gegebenenfalls wo heute noch politische Verhaltens- und Einstellungsdifferenzen zwischen Mlinnern und Frauen vorliegen; daran anschließend wollen wir herauszuarbeiten versuchen, auf welche Weise möglicherweise das Geschlecht 1987 das Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung beeinflußt hat, um schließlich darüber zu spekulieren, ob die konstatierte Allgleichung des Wahlverhaltens von Mlinnern und

8

9

Theodor Geiger in seinem bekannten Aufsatz über die "Panik im Mittelstand", in: Die Arbeit, 7/1930, S. 651. Ganz ähnlich eine unmittelbar nach dem Krieg erschienene Studie über die Wähler des Nationalsozialismus: "sie [die Frauen] sind ihrer ganzen Natur nach weniger durch verstandesmäßige Argumente zu erfassen, als durch gefühlsmäßige. Nur sind sie in ihrem ganzen Gehabe mehr auf das Erhaltende und Pflegende gerichtet, also mehr auf das Häusliche und auf das Familienleben". So Heinrich Striefler, Deutsche Wahlen in Bi/dem und Zahlen. Eine soziagrarische Studie über die Reichstagswahlen der Weimarer Republik, Düsseldorf 1946, S. 20. Derartige Deutungsmuster stehen wissenschaftsgeschichtlich gesehen, auf halbem Wege zwischen dem "physiologischen Schwachsinn des Weibes" (Paul Julius Möbius) und der von Lepsius vertretenen soziokulturellen Betrachtungsweise (vgl. unten Anm. 24). So steigt zwar der Prozentsatz der weiblichen Abiturienten zwischen 1953 und 1987 den Umfragedaten zufolge von 3 auf 7 Prozent, gleichzeitig nimmt aber auch der Anteil der männlichen Abiturienten von 7 auf 14 Prozent zu, so daß sich die Prozentpunktdifferenz zwischen Männern und Frauen bei diesem Merkmal sogar vergrößert. Lediglich bei den Befragten unter 30 Jahren (unterer Teil von Tabelle 1) vollzieht sich eine etwas stärkere Angleichung. Dies gilt insbesondere, wenn man sich vor Augen hält, daß es sich hier um Umfragedaten mit entsprechenden stichprobenbedingten Konfidenzintervallen handelt, innerhalb derer die wahren Werte mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit liegen.

114

Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann

Frauen von Dauer sein wird oder ob die Bundestagswahl 1987 so etwas wie einen neuen Wendepunkt in Richtung auf eine wieder stärker werdende geschlechtsspezifische Differenzierung des Wahlverhaltens darstellen könnte.

2. Bestimmungsfaktoren der Differenzierung und Angleichung des Wahlverhaltens von Männern und Frauen 1953-1972

Wir wollen in diesem Teil unserer Untersuchung der Frage nachgehen, was für die zwischen 1953 und 1969 beobachteten Verhaltensdifferenzen bzw. die geradezu abrupte Allgleichung von Männer- und Frauenwahlverhalten nach 1969 verantwortlich ist: (a) Sind es eher biologisch bestimmte bzw. sozialisationsbedingte grundsätzliche Differenzen oder eher sozialstrukturell verursachte Unterschiede? Und (b) U!ßt sich die beobachtete Allgleichung starker auf Strukturanpassungen oder stärker auf Verhaltens- und Einstellungsänderungen zurückführen, stellt sie also eher das Ergebnis von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen oder eher von politisch-sozialen Klimaveränderungen dar? Wir haben zu diesem Zweck mehrere über das Zentralarchiv für empirische Sozialforschung zugängliche Meinungsumfragen ausgewertet, nämlich (a) die sogenannte Reigrotzki-Umfrage aus dem Jahr 1953 als die erste verfügbare, in einem Wahljahr liegende größere deutsche Umfrage, (b) eine Umfrage zur Bundestagswahl 1969 als der letzten Wahl, bei der erhebliche Verhaltensdifferenzen zwischen Mannern und Frauen auftraten, ferner (c) eine Umfrage zur Bundestagswahl 1972 als der ersten Wahl ohne die traditionellen Wahlverhaltensunterschiede von Mannern und Frauen und schließlich (d) einige Umfragen zur Bundestagswahl1987 als der bisher letzten Wahl 10• Tabelle 2 gibt, in Form von Korrelationskoeffizienten, Auskunft über den Einfluß des Faktors "Geschlecht" auf das Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung. Im Gegensatz zu den Abbildung 1 zugrundeliegenden Werten handelt es sich hierbei um Umfragedaten. Ein positives Vorzeichen bedeutet, daß Frauen häufiger als Männer für die fragliche Partei gestimmt haben, ein negatives zeigt das Gegenteil an. Da es sich um sogenannte dichotome Variablen handelt, die im vorliegenden Fall den Wertebereich 1 (Merkmal ist vorhanden) bzw. 0 (Merkmal ist nicht vorhanden) annehmen, sind die Korrelationskoeffizienten recht niedrig. Sie replizieren dennoch das bereits in Abbildung 1 anhand der Daten der amtlichen Repräsentativstatistik nachgewiesene Ergebnis eines für die CDU/CSU zwischen 1969 und 1972 besonders abrupt verlaufenden Bruches und eines allgemeinen Nachlassens des Einflusses der Variablen "Geschlecht" auf das Wahlverhalten. Wurden die Unionsparteien 1969 noch deutlich häufiger von Frauen als von Mannern und die SPD häufiger von Mannern als von Frauen gewählt, so sinkt 1972 der Korrelationskoeffizient überall beträchtlich. Im Jahre 1987 besteht dann so gut wie keine bivariate statistische Beziehung mehr zwischen Geschlecht und Wahlverhalten. Lediglich in der Wahlbe-

10 Hierbei handelt es sich einerseits um das Wahlpanel der Forschungsgruppe Wahlen mit insgesamt drei Wellen und andererseits um den sogenannten Trendmonitor mit insgesamt 13 zwischen Januar 1986 und Februar 1987 durchgeführten Befragungen.

115

Vive Ja (tres) pctitc differcncc!

teiligung unterscheiden sich Frauen (die etwas seltener zur Wahl gehen) noch immer, wenngleich nur geringfügig, von den Mannern. Tabelle 2:

Die Korrelation von (weiblichem) Geschlecht und Wahlabsicht 1953-1987 (Phi-Koeffizienten) 1953

UNION SPD F.D.P. Grüne WAHLBEIEILIGUNG

1969

1972

1987 -01 -00 -02 -02 -06

-13 -03

-09 -02

11

05 -04 -01

-05

-13

-07

11

Korrelation mit sog. Dummy-Variablen, d.h. auf 0 und 1 kodierten Variablen, wobei 1 die Anwesenheit und 0 die Abwesenheit des jeweiligen Merkmals indiziert (Geschlecht: weiblich

= 1).

Nachstehend wollen wir, wie angekündigt, zunächst der Frage nachgehen, ob die zwischen 1953 und 1969 existierenden Wahlverhaltensunterschiede eher biologisch-genetisch bzw. sozialisationsbedingter Natur11 oder eher sozialstrukturell verursacht sind, und, falls letzteres zutrifft, worauf die konstatierte Allgleichung primär zurückzuführen ist, auf Struktur- oder auf Klimaveranderungen. Falls das unterschiedliche Wahlverhalten von Mannern und Frauen nicht geschlechts-oder sozialisationsspezifisch, sondern sozial verursacht ist, wovon wir als Arbeitshypothese ausgegangen sind, sollte der Einfluß der Geschlechtsvariablen auf das Wahlverhalten bzw. die Wahlbeteiligung dann tendenziell verschwinden, wenn soziale Einflußfaktoren konstant gehalten bzw. statistisch kontrolliert werden. Falls dies nicht eintritt, kann das als Indiz (wenn auch natürlich nicht als endgültiger Beweis) für die Wirkung eines genuin geschlechtsspezifischen Faktors - etwa einer unterschiedlichen politischen Sozialisation von Mannern und Frauen, die auch dann ihre Wirkung behalt, wenn Manner und Frauen ansonsten sozial gleichgestellt sind - angesehen werden 12• Um dies nachzuprüfen, haben wir für jeden der vier Untersuchungszeitpunkte eine Reihe von multiplen Regressionsanalysen mit den gängigen Erklärungsfaktoren des Wahlverhaltens sowie einigen zusätzlichen, fragestellungsrelevanten Variablen berechnet. Als gewissermaßen "übliche" Prädiktaren des Wahlverhaltens haben wir Konfession, Kirchgangshäufigkeit (als Indikator für Kirchenbindung), Ortsgröße und Gewerkschaftsbindung herangezogen, zudem werden das Alter, die Schulbildung, die Be-

11

Man könnte hier sowohl die biologisch-genetischen als auch die sozialisationsbedingten Unterschiede unter den Begriff "geschlechtsspezifisch" zusammenfassen, da beide - falls überhaupt -der Theorie nach über die betrachteten Zeiträume hinweg für das Wahlverhalten quasi unveränderlich wirksam sein müßten. Sollte der Einfluß des Faktors Geschlecht nach Kontrolle von Sozialstrukturmerkmalen verschwinden, was hier der Fall ist, so wäre dies als Widerlegung beider Annahmen zu interpretieren. 12 Um einen Beweis kann es sich schon deshalb nicht handeln, weil niemals alle potentiell verhaltensrelevanten Faktoren statistisch kontrolliert werden können.

116

JUrgen W. Falter/Siegfried Schumann

rufstätigkeit und natürlich das Geschlecht der Befragten in die Regressionsgleichungen aufgenommen.

Tabelle 3:

Der kombinierte Einfluß wichtiger Sozialvariablen auf die Wahlabsicht bei den Bundestagswahlen 1953, 1969, 1972 und 1987 (Multiple Regressionsanalyse; standardisierte Beta-Koeffizienten x100)

WAHUGeschl. Partei weibl.

Konfess.

Kirch- Berufs- Alter gang tätigkt.

1953 CDU SPD F.D.P. WBT

059 -070 -042 -016

171 -092 -150 015

193 -202 -001 068

-032 -031 016 -001

-034 035 027 035

027 -065 -Oll 000

016 -084 142 -018

-084 238 -105 -016

12% 17% 6% 1%

1969 CDU SPD F.D.P. WBT

057 -038 -025 -048

258 -218 -083 014

192 -182 -021 044

008 -014 006 053

-025 039 -032 105

-036 013 -018 -035

036 -089 129 068

-168 120 -026 068

19% 18% 3% 3%

1,0%/0,2% 0,6%/0,1% 0,1%/0,05 0,8%/0,2%

1972 CDU SPD F.D.P. WBT

030 -015 -018 -026

197 -147 -096 -091

185 -200 056 018

061 -063 001 -017

117 -078 -074 -013

060 -052 -017 -000

-096 156 -115 -012

-160 178 -036 -003

16% 16% 3% 1%

0,2%/0,1% 0,1%/0,0% 0,0%/0,0% 0,0%/0,0%

1987 CDU SPD F.D.P. Grüne WBT

-045 019 -025 -001 -081

131 -097 -049 -032 -000

113 -074 029 -050 040

013 -001 000 -021 -016

139 -017 030 -198 076

-052 059 -010 -001 031

066 -131 104 134

-141 174 -070 031 038

9% 7% 2% 8% 2%

0,0%/0,2% 0,0%/0,0% 0,0%/0,0% 0,0%!0,0% 0,6%/0,6%

Ortsgröße

Schul- Gewerk- R2-Ge bildg. schaft samt

055

R 2-Change Geschlecht

1,3%/0,2% 1,7%/0,3% 0,1%/0,1% 0,0%!0,0%

R2 gibt den Anteil der Varianz der abhängigen Variablen wieder, der durch das Regressionsmodell erklärt wird. WBT = Wahlbeteiligung. CDU = CDU/CSU. R2-Change Geschlecht: Die jeweils erste Spalte gibt die Erklärungsleistung ( =Varianzreduktionskraft) des Prädiktors Geschlecht für das Wahlverhalten im bivariaten Modell, also ohne Berücksichtigung möglicher anderer Prädiktoren an,die jeweils zweite Spalte nennt den mit Hilfe des Prädiktors "Geschlecht" erzielbaren zusätzlichen Anstieg der Varianzreduktionskraft des Regressionsmodells, wenn man "Geschlecht" als letzte Variable im hierarchischen Modell einführt. Daten für 1987: FGW-Panel, 1. Welle (ebenso Tabelle 4).

Ihre Ergebnisse sind - in Form standardisierter Regressionskoeffizienten - in Tabelle 3 dargestellt 13• Von links nach rechts gelesen ergeben die Koeffizienten fOr jeden der vier 13 Vgl. für die nicht ganz leichte und über die verschiedenen Umfragen hinweg nicht immer unproblematische Operationalisierung der einzelnen Variablen die im Anhang enthaltenen Angaben. Einige Merkmale haben wir probehalber mit unterschiedlichen Operationali-

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Vive Ia (tres) petite difference!

Wahlzeitpunkte die Schätzgleichung für den relativen Einfluß, den die unabhängigen auf die jeweiligen abhängigen Variablen, also die Wahl der in der ersten Spalte angegebenen Parteien bzw. die Wahlbeteiligung, ausüben. Da es sich um standardisierte Regressionskoeffizienten handelt, können wir die relative Erklärungsleistung jedes einzelnen Merkmals im Verhältnis zu den übrigen im Modell enthaltenen Variablen ermitteln 14• Dabei stellen wir zunächst fest, daß Konfession, Kirchgang und Gewerkschaftszugehörigkeit für die Wahl der großen Parteien bei allen hier betrachteten Wahlen den stärksten relativen Einfluß ausüben. Bei F.D.P. und Grünen wie auch bei der Wahlbeteiligung spielen Alter und Schulbildung eine vergleichsweise bedeutsame Rolle. Wichtig für unsere Fragestellung ist jedoch zunächst einmal, daß das Geschlecht im Vergleich zu anderen Erklärungsfaktoren zu keinem Zeitpunkt und bei keiner Partei von herausragender Bedeutung war. So rangiert es beispielsweise schon 1953 im Hinblick auf die Wahl von CDU oder CSU nur an vierter, im Hinblick auf die Wahl der SPD sogar nur an fünfter Stelle. Nach 1969 fällt es in seiner relativen Erklärungsleistung sogar auf den letzten bzw. vorletzten Platz zurück. Der relativ geringe Erklärungsbeitrag der Geschlechtsvariablen wird noch deutlicher, wenn man die letzte Spalte von Tabelle 3 näher betrachtet, in der als jeweils erste Information die statistische Erklärungsleistung ( Varianzreduktionskraft) des Prädiktors Geschlecht für das Wahlverhalten für den Fall berichtet wird, daß "Geschlecht" an erster Stelle im hierarchischen Regressionsmodell eingeführt wird; dies entpricht der Erklärungsleistung des isoliert betrachteten Faktors "Geschlecht" im bivariaten Modell, das in Tabelle 2 referiert worden ist, also ohne Berücksichtigung möglicher anderer Prädiktoren. Als jeweils zweite Information wird der mit Hilfe des Merkmals "Geschlecht" erzielbare Anstieg der Varianzreduktionskraft des Regressionsmodells für den Fall wiedergegeben, daß "Geschlecht" im (hierarchischen) Regressionsmodell nach allen anderen Merkmalen als letzte Variable eingeführt wird. Leistet das Geschlecht im bivariaten Fall wenigstens noch einen erkennbaren, wenn auch sehr geringen Erklärungsbeitrag, der 1953 und 1969 rund fünf bis zehn Prozent der insgesamt durch das Regressionsmodell

=

sierungen (z.B. leicht modifizierten Schnittpunkten) in die Regressionsanalyse eingeführt, ohne daß dies die relative Bedeutung der Regressionskoeffizienten nennenswert beeinflußt hätte. Natürlich ist uns bewußt, daß wir mit der gewählten Form der Analyse (Regression mit nicht-quantitativen abhängigen Variablen) etwa sozusagen gegen ein statistisches Reinheitsgebot verstoßen. Doch führt weder die Nachrechnung der Modelle mit entsprechend transformierten abhängigen Variablen noch die Arbeit mit weniger anspruchsvollen Meßmodellen (wir haben einige der Regressionsmodelle mittels Multiple Classification Analysis repliziert) zu substantiellen Veränderungen der Schätzresultate. Vgl. zur Transformation der abhängigen Variablen Hans-Dieter Klingemann/Charles Lewis Taylor, Affektive Parteiorientierung, Kanzlerkandidaten und Issues, in: PVS, 18/1977, S. 342; zu der Alternative logistischer Meßmodelle vgl. neben anderen Jürgen W. Falter/Kurt Ulbricht, Zur Kausalanalyse qualitativer Daten. Grundlagen, Theorie und Anwendung in Wahlforschung und Hochschuldidaktik, Bem 1982. 14 Bei der Interpretation der standardisierten Regressionskoeffizienten ist zu berücksichtigen, daß sie zwar innerhalb der jeweiligen Regressionsgleichung, nicht aber über verschiedene Regressionsmodelle hinweg verglichen werden dürfen.

118

Jargen W. Falter/Siegtried Schumann

erklärten Varianz beträgt15 , so tendiert schon im bivariaten Modell nach 1969 der Erklärungsbeitrag der Geschlechtsvariablen gegen Null. Dies entspricht der in Tabelle 2 wiedergegebenen Tendenz. Theoretisch interessanter für unsere Fragestellung ist aber der Fall, wo das Geschlecht im hierarchischen Regressionsmodell an letzter Stelle rangiert, da hier die zusätzliche Erklärungsleistung des Merkmals nach allen anderen Variablen gemessen wird. Dies entspricht der oben aufgestellten Forderung nach Konstanthaltung bzw. statistischer Kontrolle möglicher alternativer Erklärungsfaktoren wie Schulbildung, Berufstätigkeit etc., durch die sich tendenziell Frauen von Mannern unterscheiden und die möglicherweise für die festgestellten Verhaltensunterschiede verantwortlich sind. An letzter Stelle eingeführt, trägt das Geschlecht auch schon 1953 und 1969 statistisch nur marginal zur Erklärung des Wahlverhaltens bei. 1972 und 1987 ist die zusätzliche Erklärungsleistung des Geschlechtsfaktors entweder gleich Null oder sie liegt so nahe bei Null, daß sie als praktisch inexistent zu interpretieren ist. Dies gilt allerdings nicht für die abhängige Variable "Wahlbeteiligungsabsicht". Damit läßt sich die Hypothese, daß die festgestellten Wahlverhaltensdifferenzen von Mannern und Frauen in erster Linie biologisch oder sozialisationsbedingt bedingt seien, zurückweisen. Dagegen erfährt die konkurrierende Hypothese, die das differierende Wahlverhalten von Männern und Frauen durch unterschiedliche Positions-, Rollen- und Statusausprägungen zu erklären versucht, durch die Ergebnisse von Tabelle 3 eine vorläufige Bestätigung. Durch dieses Ergebnis wird nicht nur unsere Arbeitshypothese bestärkt, sondern es ist damit nun auch die Basis für die im folgenden zu untersuchende Fragestellung gegeben, ob die konstatierte Angleichung des Männer- und Frauenwahlverhaltens nach 1969 (eher) das Resultat einer Struktur- oder (eher) das Ergebnis einer Klimaänderung (man könnte auch sagen: eines Wertewandels) darstellt. Dies soll anhand der in Tabelle 4 enthaltenen Informationen überprüft werden. Im Gegensatz zu Tabelle 3 werden hier sogenannte unstandardisierte Regressionskoeffizienten wiedergegeben, da es nun darauf ankommt, die sich auf die verschiedenen Wahlen beziehenden (und damit aus unterschiedlichen Stichproben gewonnenen) Koeffizienten miteinander zu vergleichen, um so Informationen über die relative und absolute Bedeutungsänderung der einzelnen Erklärungsfaktoren zwischen 1953 und 1987, insbesondere aber zwischen 1969 und 1972, zu gewinnen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß sich die Bedeutung der einzelnen Erklärungsfaktoren für das Wahlergebnis der Parteien nicht nur durch den Einfluß, den jedes Merkmal auf die einzelnen Wähler ausübt, sondern auch durch Größenordnungsveränderungen der Prädiktaren selbst verschieben kann. Dies läßt sich am Beispiel der Kirchgangshäufigkeit, die wir hier mangels eines direkteren Maßes als Indikator für Kirchenbindung

15 Es sollte nicht übersehen werden, daß die Varianzreduktionskraft des Regressionsmodells insgesamt trotz der Vielzahl und theoretischen "Bewährung" der in das Modell eingehenden Prädiktaren recht gering ist. Dies ist u.a. auch darauf zurückzuführen, daß wir aus Gründen einer einheitlichen Interpretation in dem Modell selbst dort mit dichatomisierten Variablen arbeiten, wo kontinuierliche Informationen (wie beim Alter oder im Prinzip auch bei der Schulbildung) vorliegen.

Vive Ja (tres) petite difference!

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verwenden, verdeutlichen: Während der relative Einfluß der Bindung an die katholische Kirche auf die Wahl der CDU/CSU 1953 und 1972 bei Männern praktisch gleich hoch ist, geht der Anteil derer, die häufig in die Kirche gehen, in denselben Zeitraum von rund 62 Prozent auf knapp 50 Prozent zurück, so daß der absolute Einfluß des Merkmals (auf das Wahlergebnis der Unionsparteien) als Folge dieser Mittelwertverschiebung ebenfalls abnimmt. Um derartige absolute Größenordnungseffekte zu berücksichtigen, enthält Tabelle 4 als zusätzliche Information nach Geschlechtern getrennt die jeweiligen zeitspezifischen Mittelwerte (M) der Prädiktaren und das Produkt aus den unstandardisierten Regressionskoeffizienten und diesen Mittelwerten (BM), das im Falle der von uns gewählten 1/0-Kodierung (1 = Anwesenheit, 0 = Abwesenheit des jeweiligen Merkmals) den Gesamteinfluß dieses Merkmals auf das Wahlergebnis von CDU/CSU oder SPD repräsentiert 16• So zeigt sich beispielsweise, daß sich die relative, unter Berücksichtigung der anderen Prädiktaren des Modells geltende Bedeutung der Gewerkschaftsbindung für die Wahl der Unionsparteien und der SPD zwischen 1972 und 1987 kaum verändert, daß aber durch den prozentualen Rückgang der Gewerkschaftsbindung im Gesamtelektorat der (negative oder positive) Gesamtbeitrag dieses Faktors zum Wahlergebnis beider Parteien erkennbar abnimmt 17• Mit Hilfe einer solchen Betrachtungsweise, die sowohl die Veränderung der individuellen Einflußwirkung als auch die Entwicklung der Größenordnungsverhaltnisse der jeweiligen Merkmale berücksichtigt, läßt sich u. E. die scheinbare Diskrepanz zwischen den Forschungsergebnissen von Baker et al. und Franz Urban Pappi auflösen. Während erstere Ende der siebziger Jahre ein Nachlassen der Einflußwirkung der klassischen Prädiktaren des deutschen Wahlverhaltens konstatierten, kam Pappi etwa zur selben Zeit zu dem entgegengesetzten Ergebnis, daß der Einfluß von Gewerkschaftsund Kirchenbindung auf das Wahlverhalten eher noch gestiegen und damit größer sei als

16 Strenggenommen gilt diese Betrachtungsweise nur für quantitativ definierte Merkmale. Denn: Würde man die Kodierung der Dummyvariablen umdrehen, also von einer 1/0- zu einer OllKodierung wechseln, was ja vollkommen willkürlich ist, würde der Regressionskoeffizient b lediglich das Vorzeichen wechseln, während M nun 1-p statt vorher p betrüge, wenn p der empirische Anteil (Mittelwert) in der zunächst als "1" kodierten Kategorie ist. Bei der von uns gewählten 1/0-Kodierung mißt BM die Differenz zwischen dem empirischen Mittelwert der Randverteilung der abhängigen Variablen (also hier Prozentanteil für eine bestimmte Partei) und dem Prädiktorwert für die Alternativkategorie der jeweiligen Dummyvariablen. Ist beispielsweise "häufiger Kirchgang" mit 1 kodiert, dann mißt BM die Differenz zwischen der Wahlabsicht für die CDU bei allen Befragten und der bei Nicht-Kirchgängern. Daraus folgt unmittelbar, daß bei einem Rückgang des Anteils der Kirchgänger tendenziell der generelle CDU-Anteil immer stärker durch den CDU-Anteil bei den Nicht-Kirchgängern bestimmt wird. Diese Anmerkung stützt sich auf einen Hinweis von Manfred Küchler, New York. 17 Aus Platzgründen sind die Regressionsgleichungen nun, anders als in Tabelle 3, für Männer und Frauen getrennt, vertikal angeordnet. Je Regressionsgleichung aufsummiert, ergibt BM bis auf kleinere Rundungsfehler die in Tabelle 4 in Klammem aufgeführten Parteianteile laut Umfrage. Zu beachten ist bei der Interpretation der Parteianteile, daß speziell die Umfrage von 1972 eine relativ starke Verzerrung zugunsten der SPD (und zuungunsten der beiden Unionsparteien) aufweist. Vgl. hierzu Max Kaase, Die Bundestagswahl 1972: Probleme und Analysen, in: PVS, 14/1973, S. 147ff.

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lürgen W Falter/Siegfried Schumann

je zuvor 18• Den in Tabelle 4 berichteten Regressionsschätzungen zufolge sind die klassischen Cleavage-lndikatoren des Wahlverhaltens, also vor allem Konfession, Religion und Gewerkschaftsbindung (neben dem Alter, das inzwischen an Bedeutung gewonnen hat), nach wie vor die besten sozialen PrHdiktoren der individuellen CDUJCSU-Wahl. Angesichts des Rückgangs von Kirchenbindung und Gewerkschaftsmitgliedschaft gegenüber 1969 sind sie jedochfür das Wahlergebnis von 1987 von geringerer Bedeutung als früher. Mit anderen Worten, beide Betrachtungsweisen haben aus ihrer jeweiligen Perspektive recht. Tabelle 4:

Die Bedeutungsveränderung einzelner Einflußfaktoren für das Wahlverhalten von Mannern und Frauen über die Zeit (Multiple Regressionsanalyse; unstandardisierte Regressionskoeffizienten x Merkmalsmittelwert)

Männer

CDU/CSU Konfession Kirchgang Berufstätig Alter Ortsgröße Schulbildung Gewerkschaft Konstante

1953 B

(38.6)

0.139. 48.0 = 6.67 0.163. 62.1 = 10.12 0.089. 83.7 = •7.45 -0.033.76.0 = -2.51 0.002. 49.3 = 0.10 -0.084. 10.3 = -0.87 -0.138.24.9 = -3.44 36.10

R2

9%

Frauen

B

CDU/CSU Konfession Kirchgang Berufstätig Alter Ortsgröße Schulbildung Gewerkschaft Konstante R2

1969

M = BM

B

M =BM

(42.8) 0.209. 49.4 = 10.33 0.276. 56.1 = 15.48 0.010 • 80.5 = 0.81 -0.029.90.7 = -2.63 -0.089. 59.2 = -0.53 0.078. 31.8 = 2.48 -0.181· 44.2 = -8.00 24.95 22%

1953 M = BM

(49.9) 0.198. 47.8 = 9.46 0.198. 68.9 = 13.64 -0.072. 21.5 = -0.19 0.040. 76.9 = 3.08 -0.072. 50.8 = -3.66 0.274. 3.8 = 1.04 ·0.139. 3.5 = ·0.49 27.08 13%

M =BM

(52.7) 0.301 • 50.0 = 15.05 0.113 • 65.0 = 7.35 0.013 • 27.9 = 0.36 -0.048. 89.4 = -4.20 0.076. 60.8 = o.49 ·0.011· 26.4 = -0.29 -0.163. 28.0 = -4.56 38.59

15%

M =BM

(37.5) 0.150. 50.3 = 1.55 0.155. 49.7 = 7.70 -O.o28 • 78.4 = 2.20 0.084. 83.4 = 7.01 -0.042. 62.7 = -2.63 0.085. 29.1 = 2.47 -0.187.39.9 = -7.46 25.02 13%

1969 B

1972 B

M =BM

(41.5) 0.198·47.9= 9.48 0.193. 62.2 = 12.07 -0.018 -33.6 = -0.61 0.131· 83.5 = 10.94 -0.083. 70.2 = -5.83 0.137. 23.7 = 3.25 -0.142· 28.2 = -4.00 16.22 15%

M =BM

(44.2) 0.176. 47.3 = 8.33 0.092. 43.9 = 4.04 0.036 • 68.8 = 2.45 0.132. 78.3 = 10.34 -0.076. 85.2 = -6.39 0.052. 41.7 = 2.17 -0.211· 33.0 = -6.96 30.21 12%

1972 B

1987 B

1987 B

M =BM

(44.3) 0.117·49.5= 5.19 0.120. 52.2 = 6.26 -0.003. 34.1 = -0.10 0.202. 79.0 = 15.96 -0.080. 85.9 = -6.87 0.070 -33.7 = 2.36 -0.137. 21.0 = -2.88 23.75 8%

18 Vgl. Franz Urban Pappi, Sozialstruktur und politische Konflikte in der Bundesrepublik. Individual- und Kontextanalysen der Wahlentscheidung, unveröffentl. Habilitationsschrift, Universität zu Köln 1976, S. 495ff.; ders., Sozialstruktur, gesellschaftliche Wertorientierungen und Wahlabsicht, in: PVS, 18/1977, S. 195-229; Kendall Baker et al., Germany Transformed, Cambridge 1981, S. 163-193.

121

Vive Ja (tres) petite difference!

Tabelle 4:

Männer SPD Konfession Kirchgang Berufstätig Alter Ortsgröße Schulbildung Gewerkschaft Konstante

Fortsetzung 1953 B

M = BM

(36.6) -0.064. 48.0 = -3.07 -0.166·62.1 =-10.31 -0.013.83.7 = -1.09 -0.086. 76.0 = -6.54 0.036 • 49.3 = 1. 78 -0.111·10.3 = -1.14 0.346. 24.9 = 8.62 48.29

R2

18%

Frauen

B

SPD Konfession Kirchgang Berufstätig Alter Ortsgröße Schulbildung Gewerkschaft Konstante

R2

1969 B

-0.161 • 49.4 = -0.261· 56.1 = 0.020. 80.5 = 0.082. 90.7 = 0.087. 59.2 = -0.130-31.8 = 0.206. 44.2 = .59.22

(51.1) -8.00 -14.64 1.61 7.44 0.53 -4.13 9.11

B

M = BM

( 49.9) -0.088.47.8 = -4.21 ·0.185·68.9=-12.75 -0.009. 27.5 = -0.25 -0.030· 76.9 = -2.31 0.084 • 50.8 = 4.27 -0.267. 3.8 = -1.02 0.152· 3.5.= 0.53 40..57

M =BM

(43.4) -0.270. 50.0 = -13.50 -0.108·65.0=-7.02 -0.047. 27.9 = -1.31 0.048·89.4 = 4.29 0.013. 60.8 = 0. 79 -0.056. 26.4 = -1.48 0.205·28.0= 5.74 .5.5.90

15%

1987 B

12%

1972 B

M =BM

(42.5) -0.133. 47.3 = -6.29 -0.089· 43.9 = -3.91 -0.019.68.8 = -1.31 0.035. 78.3 = 2. 74 0.089. 85.2 = 7.85 -0.152. 41.7 = -6.34 0.240. 33.0 = 7.92 4221

14%

1969 B

M =BM

(54.8) -0.116. 50.3 = -5.84 -0.154.49.7 = -7.6S -0.007. 78.4 = -0.55 -0.069.83.4 = -5.76 0.049. 62.7 = 3.07 -0.162.29.1 = -4.71 0.228-39.9 = 9.10 67.06

21%

1953

11%

1972

M =BM

M =BM

(51.5) -0.170.47.9 = -8.14 -0.195·62.2=-12.13 -0.009-33.6 = 0.30 -0.122•83.5 = -10.19 0.094 • 70.2 = 6.60 -0.208. 23.7 = -4.93 0.147•28.2= 4.15 7.5. 77 15%

1987 B

M =BM

-0.081· 49.5 = -0.075·52.2= -0.003 • 34.1 = -0.127· 79.0 = 0.084. 85.9 = -0.186 -33.7 = 0.141·21.0= 58.65

(44.3) -4.01 -3.92 - 0.10 -10.03 7.22 -6.27 2.96

7%

Werte in Klammem: Die Parteianteile lt. Umfragen. Abweichungen zu den aufsummierten Regressions-Schätzgleichungen basieren auf Rundungsfehlem.

Im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht jedoch nach wie vor die zwischen 1969 und 1972 erfolgte Allgleichung des Wahlverhaltens von Mlinnern und Frauen_ So fällt beispielsweise auf, daß den Umfragedaten zufolge die Unionsparteien in diesem Zeitraum bei den Frauen einen erheblichen Stimmenrückgang von 53 Prozent auf 42 Prozent hinnehmen mußten, während die SPD ihren Stimmenanteil bei den weiblichen Wlihlern von 43 Prozent auf 52 Prozent steigern konnte_ Dies entspricht der Tendenz nach den in Abbildung 1 dargestellten, aus der reprlisentativen Wahlstatistik bekannten Bewegungen_ Da sich zwischen 1969 und 1972 bei den in Tabelle 1 und Tabelle 4 referierten Strukturdaten keine entsprechend dramatischen Verschiebungen beobachten lassen19, ist anzunehmen, daß die festgestellten Wahlverhaltenslinderungen vor allem aus

19 Wenn man einmal von der Variable "Ortsgröße" absieht, deren Veränderung in erster Linie auf Verwaltungsreformen zurückzuführen sein dürfte. Angesichts des kurzen, nur drei Jahre umfassenden Zeitraums war dies wohl kaum anders zu erwarten.

122

!argen W. Falter/Siegfried Schumann

Veränderungen innerhalb der Sozialkategorien resultieren. In der Tat läßt sich, wie Tabelle 5 zeigt, vor allem bei nicht kirchengebundenen Wählerinnen ein überproportionaler Rückgang der CDU/CSU-Neigung und damit eine verstärkte Anpassung an das Wahlverhalten der männlichen Wähler dieser Kategorie beobachten. Besonders drastisch scheint diese Anpassung an das Wahlverhalten der Männer bei den berufstätigen Frauen ohne Kirchenbindung gewesen zu sein 20• In den Kontrastgruppen mit häufigem Kirchgang dagegen ist eine nahezu gleichförmige Abwendung beider Geschlechter von den Unionsparteien zu konstatieren, so daß hier die ursprünglichen (sehr kleinen) Verhaltensdifferenzen erhalten bleiben.

Tabelle 5:

Die CDU/CSU-Wahl von Männern und Frauen bei den Bundestagswahlen 1969 und 1972 in Abhängigkeit von der Kirchenbindung und der Berufstätigkeit - ein erster Kontrastgruppenvergleich Alle % 69

72

43

38 42

-5 -11

10

4

DIF

M

F 53

Kirchgang

häufig % 69

M

selten

72

% 69

59

43 -16

M F

1

-1 DIF

F 60 42 -18

Berufstätig

% 69

M F

N N

(Männer) (Frauen)

nein

ja 72

% 69

60 58

44 -16 43 -15

M F

-2

-1 DIF

377 305 185 205

72

22 38

23 1 19 -19

16

-4 DIF

nein

ja 72

% 69

59 61

40 -19 42 -19

M F

2

2 DIF

113 105 464 501

72

% 69

72

23 40

23 0 18 -22

M 18 F 37

27 9 21 -16

17

-5 DIF

19

-6 DIF

295 309 116 162

71 83 248 262

M = Männer; F = Frauen; 69 = Bundestagswahl1969; 72 = Bundestagswahl1972. Fettgedruckt: Prozentwerte. Normalgedruckt: Prozentpunktdifferenzen (DIP). Daten: ZA-Umfragen 0525 und 0635.

20 Worauf diese Umorientierung speziell bei dieser Gruppe von Wählerinnen zurückzuführen ist, z.B. auf den Einfluß der Debatte über den §218 StGB, läßt sich mit den uns zur Verfügung stehenden Daten nicht zweifelsfrei klären.

Vive Ja (tres) petite difference!

123

Generell belegen die in den Tabellen 3 und 4 wiedergegebenen Regressionsanalysen einen Rückgang der Einflußwirkung des Konfessionsfaktors. Bei Frauen wird dieser Rückgang teilweise wieder durch einen Bedeutungsgewinn des Faktors "Kirchgang" wettgemacht. Inhaltlich läßt sich dieser kompensatorische Effekt eventuell wie folgt deuten: Als sich die konfessionell definierte Wahlnorm nach 1969 tendenziell auflöste, trat möglicherweise eine stärker religiös definierte Wahlnorm an ihre Stelle, was dazu geführt haben könnte, daß sich die verbliebenen kirchentreuen Frauen, anders als die Männer, um so enger "um die Fahne" versammelten, d.h. häufiger CDU oder CSU wählten. Bemerkenswert ist sicherlich auch der Anstieg der Regressionskoeffizienten im Falle der Variablen "Alter". 1987 stellt dieser Faktor den überhaupt stärksten Prädiktor des Unionsund, mit negativem Vorzeichen und nur bei den Frauen, des SPD-Wahlergebnisses dar. Hier schlägt sich die mit den Mitteln der repräsentativen Wahlstatistik nachgewiesene Altersumschichtung der Unions- und SPD-Wählerschaft nieder. Die in Tabelle 4 referierten Regressionsergebnisse sind ein Beleg dafür, daß es sich dabei um einen genuinen und nicht auf Religion, Klasse oder Konfession zurückzuführenden Effekt handelt, der sowohl innerhalb der sozialdemokratischen als auch der Unionswählerschaft bei Frauen besonders ausgeprägt ist. Tatsächlich ist der relative Einfluß der Altersvariablen auf das Wahlver halten, wie schon Tabelle 3 zu entnehmen war, sehr viel höher als beispielsweise der des Geschlechtsfaktors21 • Daneben findet die einzige größere Änderung, die wir im Zeitraum 1969-1972 beobachten können, bei den Regressionskonstanten statt. Diese spiegeln in den hier verwendeten Prognosegleichungen den Einfluß nicht explizit berücksichtigter Faktoren wider, wie sie beispielsweise die Parteibindungen, die Issue- und Kandidatenorientierungen oder die grundsatzliehen Werthaltungen darstellen, sofern sie nicht schon (qua gemeinsamer Varianz) in den Prädiktaren des Modells mitenthalten sind22• Die Regressionskonstante sinkt (im Falle der CDU/CSU) bzw. steigt (im Falle der SPD) bei den Frauen zwischen 1969 und 1972 deutlich, ohne von entsprechenden Veränderungen der Regressionskoeffizienten begleitet zu sein. Angesichts einer während dieses Zeitraums verstärkt zu beobachtenden gesellschaftlich-politischen Umorientierung weiter Bevölkerungskreise23 ist dies unserer Ansicht nach als ein starkes Indiz für das Vorliegen eines Epocheneffekts, einer Art Klimaverlinderung oder das Wirken des vielzitierten Wertewandels zu interpre21

Daß im weiter unten berichteten Pfadmodell dieser gestiegene Effekt des Merkmals "Alter" nicht zum Zuge kommt, ist vermutlich auf die Einbeziehung von intervenierenden Einstellungen und Werthaltungen zurückzuführen. 22 Normalerweise mißt man im Regressionsmodell den Einfluß ungemessener Fa.l'toren in Form nichterklärter Varianzanteile mit Hilfe des Determinationskoeffizienten (1- R}. Andererseits entspricht im bivariaten Fall die Regressionskonstante dem Mittelwert der abhängigen Variablen, wenn die unabhängige Variable den Wert Null annimmt. Aus dieser Perspektive repräsentiert die Konstante die Resultante aller übrigen auf die abhängige Variable einwirkenden Kräfte. Wäre der explizit im Regressionsmodell enthaltene Prädiktor der einzige auf die abhängige Variable einwirkende Einfluß, müßte die Konstante den Wert Null annehmen. 23 Vgl. hierzu u.a. Siegfried Schumann, Die Auswirkung des Wandels von Wertorientierungen auf das Wahlverhalten, Vortragsmanuskript Hanns Seidel Stiftung v. 13.12.1988 (Aufsatzpublikation in Vorbereitung).

124

JUrgen W. Falter/Siegfried Schumann

tieren. Unsere Daten legen es nahe, die beobachtete Allgleichung des Wahlverhaltens von Männern und Frauen nach 1969 in erster Linie im Sinne einer Veränderung im mentalen Bereich, als eine Art Emanzipationssprung24, zu deuten. Das 1972 erstmals hervortretende Verhaltensmuster scheint sich dann bis 1987 im Grunde gehalten zu haben, so daß man von einem neuen Gleichgewicht sprechen kann, das sich für die Unionsparteien graphisch in Form regelmäßiger Oszillationen um einen nahezu stationären Mittelwert niederschlägt, wie aus Abbildung 2 zu ersehen ist. Wir wollen im folgenden den Zustand des Jahres 1987 näher beleuchten und dabei unter anderem fragen, ob eher mit einer Fortsetzung dieses Gleichgewichtszustandes oder eher mit einer neuen Ausdifferenzierung eines geschlechtsspezifischen Wahlverhaltens zu rechnen ist. Abbildung 2: Die CDU/CSU- Stimmen nach dem Geschlecht 1953-1969 ·55

Irrauen I

1957

1961

1965

1969

1972

1976

1980

19113

3. Wahlverhalten und politische Einstellungen von Männern und Frauen bei der Bundestagswahl1987

In diesem Teil der Analyse soll untersucht werden, ob und gegebenenfalls in welchem Maße es heute (noch oder wieder) geschlechtsspezifische Wahlverhaltens- und Einstellungsunterschiede gibt. Zu diesem Zweck wollen wir zunächst genauer rekonstruieren, in 24 Ähnlich schon M. Rainer Lepsius, Wahlverhalten, Parteien und politische Spannungen. Vermutungen zu Tendenzen und Hypothesen zur Untersuchung der Bundestagswahl1972, in: PVS, 14/1973, S. 296: "Alternativ könnte man auch von einem geschlechtsspezifischen 'Emanzipationseffekt' ausgehen, als eigenständigem Ausdruck kultureller Wandlungen ... ".

Vive Ia (tx"Cs) petite difference!

125

welchen sozialstruktureilen Gruppen die größten Unterschiede im Wahlverhalten von Mannern und Frauen auftreten; anschließend soll eventuellen Einstellungs- und Partizipationsdifferenzen zwischen den Geschlechtern nachgegangen werden; abschließend wollen wir das Zusammenspiel von Sozialstrukturellen und mentalen Korrelaten des Wahlverhaltens mit Hilfe zweier Kausalmodelle naher analysieren. Tabelle 6 gibt die Ergebnisse eines sogenannten Kontrastgruppenvergleichs wieder, der nichts anderes darstellt als die baumförmige Anordnung einer mehrfachen Kreuztabeliierung der beabsichtigten Wahlbeteiligung und der geäußerten Stimmpräferenz nach den (mit Ausnahme der Konfession und der Ortsgröße) gleichen unabh11ngigen Variablen, die bereits in den multiplen Regressionsanalysen von Tabelle 3 und 4 untersucht worden sind 25 • Die Baumstruktur resultiert aus der schrittweisen Aufteilung der Gesamtstichprobe nach dem Geschlecht, der beiden daraus resultierenden Teilstichproben (Manner und Frauen) nach der Schulbildung, der hieraus wiederum resultierenden vier Teilstichproben nach dem Alter usw. bis zur Gewerkschaftsmitgliedschaft. Als Ergebnis dieser Aufteilungsprozedur erhalten wir sozial immer differenzierter werdende Kategorien von Befragten, die sogenannten Kontrastgruppen, mit deren Hilfe sich die Überlagerung (d. h. Verstarkung) bzw. die Überkreuzung (d. h. cross pressure) sozialer Einflüsse auf das Wahlverhalten genauer verfolgen lassen. Allgemein zeigt sich, daß die bereits aus den Tabellen 3 und 4 gelaufigen Einflußmuster gleichermaßen für Frauen wie für Manner zutreffen: Häufiger Kirchgang als Indikator der Kirchenbindung oder Religiositat begünstigt in allen Kontrastgruppen die Unionsparteien, die Gewerkschaftsmitgliedschaft - ebenfalls in allen Aufspaltungen - die SPD. Die starkste Affinitat zur CDU/CSU zeigen mit 73 Prozent (bei Männern) bzw. 70 Prozent (bei Frauen) nicht (mehr) berufstätige, besser ausgebildete, kirchengebundene altere Personen ohne Gewerkschaftsbindung. Den geringsten Zuspruch erfahren die Unionsparteien mit nur 9 Prozent (bei Männern) bzw. 17 Prozent (bei Frauen) in der Gruppe der gewerkschaftsgebundenen älteren, nicht (mehr) berufstätigen Wähler mit überdurchschnittlicher Schulbildung und schwacher Kirchenbindung. Die höchsten SPDAnteile finden sich mit 79 Prozent (bei Männern) bzw. 74 Prozent (bei Frauen) unter jüngeren, überdurchschnittlich ausgebildeten Wählern ohne Beruf und Kirchenbindung, falls diese selbst oder ihre Familie gewerkschaftlich organisiert sind. Die prozentual niedrigste SPD-Wahlabsicht äußerten mit 15 bzw. 16 Prozent gewerkschaftlich nicht gebundene berufstatige altere Manner und Frauen mit einer überdurchschnittlichen Schulaus-

25 Trotz der äußeren Ähnlichkeit sollte der Kontrastgruppenvergleich nicht mit der sogenannten Tree Analysis oder Kontrastgruppenanalyse (AID) von Sonquist und Morgan verwechselt werden. Der Kontrastgruppenvergleich repräsentiert lediglich eine bestimmte Darstellungsweise, d.h. er ist strenggenommen kein eigenes Analyseverfahren, sondern will eine Reihe von sukzessive komplexer werdenden Kreuztabeliierungen mitsamt der Zwischenschritte übersichtlich präsentieren. Technisch gesprochen, enthält der vorliegende Kontrastgruppenvergleich mehrere Kreuztabellen von der einfachen 2x5-Tabelle mit 10 Zellen bis zur komplexen 2x2x2x2x2x2x5-Tabelle mit insgesamt 320 Zellen. Auf die Darstellung der ebenfalls ermittelten Auszählungsergebnisse nach den Variablen "Konfession" und "Ortsgröße" wurde im Interesse ausreichender Zellbesetzungen und noch nachvollziehbarer Übersichtlichkeit in der Darstellung verzichtet.

126

Jargen W Falter/Siegfried Schumann

Das Wahlverhalten von M!!nnern und Frauen bei der Bundestagswahl 1987 im Kontrastgruppenvergleich

Tabelle 6:

Männer CDU 42 SPD 44 FDP 5 GRU 8 WBT 85 Schulbildung CDU SPD FDP GRtl

8

55

8 4

20 86

+

"""""33 56 3 8 82

11

74

Kirchgang

28

7

81

45 3

+

----s9

35

3 8

--y;-

~

84

14 87 ~

Berufstätigkeit

WBT

32

--n--

WBT CDU SPD FDP GRtl

52 3 4

WBT

Alter CDU SPD FDP GRU

+_ _4_4

_ 4_0_

+

+ ~

49 2 1 83

+

~

50 4 1 88

+

91

+

271 32 7 34 83

+

62

Li()

36 7 15 87

+

26 7 3 91

+

+ ~

29 9 4 91

+

+

~~~~~~~~~~~~~~~~

SPD FDP GRU

43 3 17 65

WBT

36 4 4 83

61 2 9 81

45 3 2 86

62 1 1 82

36 3 1 85

58 4 1 88

37 5 1 88

33 7 38 82

45 8 18 85

39 7 14 87

29 8 9 88

29 5 4 88

22 7 1 92

35 9 3 92

23 9 3 90

Gewerkschaft CDU SPD FDP GRO WBT N N

-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+ 25 44 67 36 33 17 62 37 42 19 64 41 47 24 64 46 2f9 42 60 45 24 57 44 66 20 73 22 60 24 70 44 40 56 33 36 52 73 31 60 54 79 30 54 45 72 28 50 29 54 28 30 31 57 20 47 24 53 17 67 26 63 15 44 5 0 0 9 3 2 4 0 2 1 3 3 5 2 6 4 8 0 9 0 9 2 11 2 5 7 7 6 11 4 11 4 25 0 0 9 9 8 2 3 1 1 1 1 1 1 1 0 39 34 19 10 14 16 9 8 4 7 1 0 2 8 3 4 57 80 73 100 77 85 83 88 79 88 83 91 86 90 87 90 82 83 85 83 88 84 85 93 88 89 93 90 93 87 89 94 24

10

16 11

519

232 417 454 314 285 245 109 536 283 121 162 166 219 404 207 181 136 290 215 42 12 235 131 21 22 59 68

127

Vive Ja (tres) petite difference!

(Fortsetzung)

Tabelle 6:

Frauen CDU 44 SPD 41 FDP 5 GRtl 8 WBT 80

+

Schulbildung CDU SPD FDP GRU WBT Alter CDU SPD FDP GRU WBT

-41-32 7 18 86

+

_3_7_ 50 3 8

"""39

SPD FDP GRU WBT

+

~

50 4 9 73

49 3 7 80

Kirchgang ~

35

1

24 84

+

52 44 3 1

+

li'2""" 48 6 3 83

77

+

---ss---27

9 5

7

78

Berufstätigkeit CDU SPD FDP GRtl WBT

44

3

76

+

_3_3_

--:so

+

89

~

36 6 29 85

+

+

+

28

34 7 21 84

+

--:so-

~

25 10 3 88

+

30 8 9 92

+

+

~W~~~~FWWW~~W~W~

59 2 10 77

40 5 5 83

56 4 11 75

40 3 4 73

56 3 2 75

36 3 1 78

55 5 4 81

43 6 2 86

39 7 34 83

33 6 17 87

37 5 24 82

28 10 10 87

29 13 4 86

22 9 2 89

41 9 11 94

22 8 6 91

Gewerkschaft CDU SPD FDP GRÜ WBT

-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+ 35 20 56 43 36 12 59 33 42 22 62 46 43 23 53 39 20 17 44 28 36 22 54 39 54 31 70 37 48 21 71 38 53 72 28 52 50 70 31 61 51 74 34 49 48 66 36 58 35 60 31 47 35 40 24 39 26 63 18 50 30 63 16 45 1 3 7 1 5 2 4 1 4 1 3 3 3 8 8 1 8 3 6 3 7 1 10 9 15 0 9 10 12 4 7 10 11 5 7 2 8 15 3 4 2 3 0 2 4 3 2 1 36 20 19 19 21 35 9 13 5 0 2 3 10 13 5 7 78 79 81 86 74 77 72 76 74 83 77 87 78 87 84 91 85 82 85 97 83 81 87 88 86 94 89 94 92 96 93 88

N 223 194 319 241 820 1518 164 215 300 244 428 256 171 289 61 121 N 101 137 160 93 167 247 81 85 73 37 134 84 18 33 28 33

Daten aus FGW-Trendmonitor 1986/87 (ZA 1536; kumuliert; n • 14375)

128

Jargen W. Falter/Siegtried Schumann

bildungund stärkerer Kirchenbindung. Die F.D.P. erreichte lediglich bei schulisch besser gebildeten, nicht in einer Gewerkschaft organisierten Personen überdurchschnittliche Werte, während sie bei Befragten, die nur in die Volks- oder Hauptschule gegangen sind oder in einer Gewerkschaft organisiert waren, im Durchschnitt nur geringe Erfolge erzielen konnte. Die Grünen schließlich erreichten ihre besten Ergebnisse bei jüngeren, überdurchschnittlich ausgebildeten Wählern (und Wählerinnen) ohne Berufstätigkeit und Kirchenbindung. Unter den nicht gewerkschaftlich gebundenen Befragten dieser Kategorie wollte vor der Bundestagswahl 1987 sogar eine relative Mehrheit (39 bzw. 36 Prozent) "grün" wählen. Dagegen tendieren ältere Wähler im allgemeinen weit unterdurchschnittlich zur Partei der Grünen26• So interessant die Resultate dieses - von der Aufgliederung wie auch von der Anzahl der Befragten her gesehen geradezu einen Mammutbaum repräsentierenden - Kontrastgruppenvergleichs im einzelnen auch sein mögen: Unser Hauptinteresse liegt auch hier auf den geschlechtsspezifischen Unterschieden im Wahlverhalten bzw. in der Wahlabsicht Schon ein erster Blick auf die Kontrastgruppen belegt jedoch, daß die Ähnlichkeiten sehr viel größer sind als die Differenzen: Das Wahlverhalten von Männern und Frauen folgt in bemerkenswerter Gleichförmigkeit denselben Einflußmustern, so daß größere Unterschiede eher eine Ausnahme darstellen. Tatsächlich treten bedeutendere Wahlverhaltens- oder Wahlabsichtsunterschiede zwischen Männern und Frauen erst auf der vierten und fünften Verzweigungsebene des Kontrastgruppenbaums auf (wo sie dann aber wegen rasch abnehmender Fallzahlen teilweise statistisch schon nicht mehr siginifikant sind). Die größte Differenz in der CDU/CSU-Wahlabsicht zeigen Männer und Frauen mit 13 Prozentpunkten in der Kontrastgruppe der gebildeten älteren Berufstätigen ohne Kirchenbindung. Während von den männlichen Befragten dieser Merkmalskombination 52 Prozent für eine der Unionsparteien stimmen wollten, waren es bei den Frauen nur 39 Prozent. Im Falle der SPD trat der größte Unterschied in der Wahlabsicht bei jüngeren, weniger gebildeten, nicht berufstätigen, selten oder nie in die Kirche gehenden Wählern auf7• Insgesamt bietet sich - im Gegensatz zur Wahlabsicht allgemein - kein einheitliches Bild. Dennoch verdeutlicht der Kontrastgruppenvergleich, daß 1987 sowohl für das Wahlverhalten von Mannern und Frauen als auch für die feststellbaren, allerdings durchweg recht niedrig ausfallenden geschlechtsspezifischen Unterschiede im Wahlverhalten soziale Einflußfaktoren von Bedeutung sind. Dieses Resultat

26 Berücksichtigt werden sollte bei der Interpretation dieser Zahlen, daß es sich um die Mittelwerte aus insgesamt 13 kumulierten Umfragen handelt, die zwischen Januar 1986 und dem Februar 1987, also über einen Zeitraum von etwa einem Jahr, von der Forschungsgruppe Wahlen erhoben worden sind. Die Zahlen sind deshalb nicht identisch mit denen aus direkt vor oder nach der Wahl durchgeführten Befragungen. Vielmehr geben sie wohl eher Stimmungen als konkrete Wahlabsichten wieder. Für die hier in erster Linie interessierenden Verhaltens- oder Einstellungsunterschiede zwischen Männemund Frauen ist dies jedoch nur von geringer Bedeutung. Der Einfachheit halber sprechen wir trotzdem im vorliegenden Artikel abwechselnd von Wahlverhalten und Wahlabsichten. 27 Allerdings treten angesichts der Zahl von nur 34 männlichen Befragten bei dieser Merkmalskombination Signifikanzprobleme auf.

129

Vive Ja (tres) petite difference!

legt es nahe, deren Effekt in den beiden diese Untersuchung abschließenden Pfadmodellen statistisch zu kontrollieren. Zuvor erscheint es jedoch sinnvoll, noch einen Blick auf die Unterschiede im politischen Interesse und Informationsverhalten von Mannern und Frauen zu werfen, da solche Unterschiede möglicherweise für die Erklarung der aus Tabelle 6 ersichtlichen Wahlbeteiligungsdifferenzen von Bedeutung sind. In den Tabellen 7 und 8 sind einige Indikatoren hierfür wiedergegeben, wobei wir wiederum, wie schon in Tabelle 1, zum einen weibliche und mannliehe Befragte insgesamt und zum anderen nur die jüngeren Manner und die jüngeren Frauen betrachten. Die Ergebnisse beider Tabellen sind schnell abgehandelt. In Tabelle 7 zeigt sich, daß in den Jahren 1986 und 1987 sowohl die weiblichen Befragten insgesamt als auch die der Alterskohorte unter 30 Jahren nach eigenen Angaben politisch signifikant weniger interessiert waren als Manner, daß sie weniger politische Gesprache führten und ein etwas abweichendes politisches Informationsverhalten (weniger Tageszeitungen, mehr Fernsehen) an den Tag legten als diese. In der jüngeren Alterskohorte fallen diese Unterschiede zwar etwas schwacher aus, andern sich aber weder in der Tendenz noch in der Größenordnung entscheidend. Tabelle 8 belegt, daß diese geschlechtsspezifische Differenz im politischen Interesse bereits 1953 existiert und seit 1972 kaum abgenommen hat. Tabelle 7:

Merkmal

Politisches Interesse und Informationsverhalten von Mannern und Frauen im Jahre 1987 Alle

.

Politikinteresse Ja Davon: Sehr stark/stark Politische Informatlon aus Tageszeitungen sehr viel/viel wenig/nichts Polit. Gespräche mit Freun9J!n Polit. Gespräche in Familie

..

..

18-29 J. Männer Frauen

Männer

Frauen

61 73

59

34

57 76

64

72

8

57 17

63 13

51 22

71 63

52 53

68 61

58 57

= FGW-Panel1987, 1. Welle, V 6 und V 161. = FGW-Panel1987, 2. Welle, V 237 und 239.

34

130

!argen W. Falter/Siegfried Schumann

Tabelle 8:

Das politische Interesse von Mannern und Frauen 1953-1987

Männer 1953 (V254) • Politik wichtig Unentschieden Politik egal 1969 (V11) Interesse sehr stark/stark mittel/wenig überhaupt nicht 1972 (V15) Politisches Interesse ja nicht besonders gar nicht 1987(V6) Politisches Interesse ja nicht besonders nein, gar nicht

Alle

Frauen

18-29 J. Männer Frauen

77 9 13

63 21 16

74 9 17

20

27 66 8

11 66 23

26 67 6

8 73 19

56 32 12

38 35 27

61 29 9

39 42

61 28

34 40

57 31 11

11

26

63 17

20

34

42 24

Politisches Interesse 1953 nicht direkt erhoben. Als Indikator wird hier die subjektive Wichtigkeit von Politik verwendet.

Dagegen treten bei den politischen Einstellungen in den Monaten vor der Bundestagswahl 1987 erstaunlich wenige Unterschiede zwischen Mannern und Frauen auf. Es dominiert die Nichtdifferenz, unabhängig davon, ob es sich um Einstellungen zu den Spitzenkandidaten der Parteien, um wichtige politische Zielsetzungen, Kompetenzzuschreibungen an die Parteien und Politiker oder um Parteibindungen handelt. Entweder treten gar keine geschlechtsspezifischen Unterschiede auf oder sie sind so gering, daß sie statistisch nicht signifikant sind. Hiervon gibt es nur ganz wenige, theoretisch allerdings recht bezeichnende Ausnahmen, wie aus Tabelle 9 erkennbar wird: Frauen verstehen sich häufiger als Anhängerinnen der Antikernkraftbewegung, der Friedensbewegung und, nicht ganz unerwartet, der Frauenbewegung. Damit zusammenhängende Positionen werden von ihnen deutlich häufiger bejaht als von Mannern, und zwar unabhängig davon, ob wir Frauen und Manner insgesamt oder nur die jüngeren Jahrgänge ins Auge fassen. So sind deutlich mehr Frauen als Manner gegen einen weiteren Ausbau der Kernenergie, für einseitige Abrüstung, für eine autonome Entscheidung der Frau über eine eventuelle Abtreibung und dafür offene Stellen vorzugsweise mit Frauen zu besetzen. Dies gilt, wie wir

Vive Ja (tres) petite difference!

131

außerdem in einer gesonderten Auszählung nach dem Alter und dem Familienstand28 festgestellt haben, unabhängig von der Altersgruppe sowohl für verheiratete als auch für ledige Frauen, wobei sich -wiederum in beiden Alterskohorten -ledige Frauen im Schnitt etwas häufiger als verheiratete Frauen als Anhängerinnen der Antikemkraftbewegung bezeichnen oder kernkraftkritische Positionen vertreten. Auf allen anderen Einstellungsdimensionen, die in den von uns ausgewerteten Umfragen erfaßt worden sind, herrscht in ähnlichem Maße Einigkeit zwischen den Geschlechtern, wie wir dies schon beim Wahlverhalten beobachten konnten. Auch auf der Einstellungsebene haben sich, mit den erwähnten Ausnahmen, Frauen und Männer so aneinander angeglichen, daß die geschlechtsgruppeninternen Differenzierungen weitaus stärker sind als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dennoch ist natürlich nicht auszuschließen, daß gerade von den verbleibenden Einstellungs- und Interessenunterschieden ebenso ein Einfluß auf das Wahlverhalten und die Wahlbeteiligung ausgeht wie von den geschilderten Sozialstrukturellen Ausdifferenzierungen. Wir wollen diese Möglichkeit abschließend in zwei Kausalmodellen mit latenten Variablen überprüfen29• Damit soll ermittelt werden, ob das Geschlecht eventuell nach Kontrolle möglicher alternativer Einflußfaktoren des Wahlverhaltens nicht doch direkt oder vermittelt über Einstellungen und Werthaltungen einen Einfluß auf das Wahlverhalten oder die Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik ausübt30•

28

Leider wurde im FGW-Panel nicht danach gefragt, ob die Befragten Kinder haben, was im Zusammenhang mit der Einstellung zur Kernkraft "nach Tschernobyl" theoretisch interessant sein könnte. 29 Derartige Kausalmodelle ("Pfadmodelle mit latenten Variablen") stellen eine Art Verbindung von multipler Regressions- und konfirmatorischer Faktorenanalyse dar. Sie ermöglichen die Einbeziehung sehr vieler manifester Variablen in ein einziges Kausalmodell und erlauben auf diese Weise eine bessere Abbildung der sozialen Komplexität, als dies im allgemeinen mit den üblichen multivariaten statistischen Analyseverfahren möglich ist. Ferner ermöglichen sie die Berechnung indirekter, d.h. über andere Faktoren verlaufender Effekte. Auch stellt das hier durchgeführte LVPLS-Verfahren etwas geringere Anforderungen an das Datenniveau, als dies etwa die klassische Regressions- oder Faktorenanalyse tun. Vgl. zum Verfahren u. a. JanBernd Lohmöller, Latent variables path analysis with partial Ieast-squares estimation, Forschungsbericht 81.04 des Fachbereichs Pädagogik der Hochschule der Bundeswehr München; Wolfgang Voges/Jan-Bernd Lohmöller, Bedingungen vorzeitiger Beendigung der EIWerbsphase. Ein PLS-Modell zur Erklärung der Kausalzusammenhänge am Beispiel des Vorruhestandes, in: Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf, Arbeitspapiere des SFB 186 der Universität Bremen, Bremen o. J. (1988). 30 Dies erscheint hier deshalb sinnvoll, weil sich hinter den in Tabelle 2 festgestellten statistischen Nichtbeziehungen durchaus, wie es ja schon die multiple Regressionsanalyse gezeigt hat, sogenannte scheinbare Non-Korrelationen verbergen können, die dann verschwinden, d.h. durch (positive oder negative) statistische Zusammenhänge ersetzt werden, sobald man die dafür verantwortlichen Drittvariablen, beispielsweise sogenannte Suppressorvariablen, statistisch kontrolliert. Vgl. hierzu Hermann Gaensslen/Werner Schubö, Einfache und komplexe statistische Analyse, München/Basel1973, S. 121ff.

Jargen W. Falter/Siegfried Schumann

132

Tabelle 9:

Geschlechtsspezifische Unterschiede bei ausgewählten politischen Einstellungen im Jahre 1987 (Angaben in Prozent der Männer bzw. Frauen) Alle

Var.-Nr.

18-29 J. Männer Frauen

Männer

Frauen

16 22 6

21 25 11

30

24 17 38

39 31 46 63

50 36

64

36 25 47 58

91 99 84 79 77 96 94 77 79 65 93 70 93

91 99 86 78 78 98 95 80 78 70 95 73 94

84 98 67 76 68 94 89 67 76 73 89 58 94

85 99 73 75 65 99 88 68 76 74 90 70 96

Anhängerschaft zur ... 419 421 423

Antikemkraftbewegung Friedensbewegung Frauenbewegung

34 8

33 35 21

Stellung zu ausgewählten politischen Streitfragen: 3771 3821 3871 3921

Gegen Ausbau der Kernenergie Für einseitige Abrüstung Frau entscheidet über Abtreibung Frauen nicht bevorzugt einstellen

64

58

Weitere ausgewählte politische Ziele: 2442

245 2 2462 2472 2482 2492 2502 251 2 2522 253 2 2542 255 2 2562

Wirtschaft ankurbeln Arbeitslosigkeit bekämpfen Für Ruhe und Ordnung sorgen Beziehungen zur UdSSR verbessern Gutes Verhältnis zu den USA Wirksamer Umweltschutz Renten sichern Staatsschulden abbauen Beziehungen zur DDR verbessern Den Bürgern mehr Einfluß einräumen Preisstabilität sichern Europäische Einigung vorantreiben Für Abrüstung in Ost und West eintreten

Daten aus FGW-Panel1986/87 1

Kateg. 6 und 7 der jeweiligen Frage.

2

Kateg. 1 und 2 der jeweiligen Frage.

Der Aufbau des Modells erfolgt in mehreren Schichten oder Ebenen von quasi unverrückbaren Merkmalen wie dem Geschlecht, dem Alter, der Konfession oder dem Wohnort der Befragten (Ebene A) über zwar prinzipiell wandelbare, konkret aber nur sehr schwer zu verändernde soziale Einflußfaktoren wie die Schulbildung oder die Berufstätigkeit (Ebenen Bund C) und grundsätzliche Werthaltungen vorpolitischer Natur wie die Kirchen- oder die Gewerkschaftsbindung (Ebene D) sowie die politische Grundeinstel-

Vive Ja (tres) petite difference!

133

Jung und das Interesse an Politik31 (Ebene E) bis hin zu konkreten, stark tagespolitisch bestimmten Einstellungsfaktoren innen-, außen- oder umweltpolitischer Natur (Ebene F). Abhängige, d.h. durch das Modell zu erklärende Variable ist im ersten der beiden Pfadmodelle (Abbildung 3) eine latente Variablenamens "Lagerwahl", die von links nach rechts, d.h. von den Grünen über die SPD und die F.D.P. bis zur CDU/CSU, gepolt ist, im zweiten Pfadmodell (Abbildung 4) ist es die Wahlbeteiligungsabsicht32• Die formale Erklärungsleistung des Modells ist im Vergleich zu den in Tabelle 3 berichteten Regressionsmodellen, die - bei allerdings unterschiedlich spezifizierten abhängigen Variablen - nur eine Varianzreduktionalkraft von zwei Prozent bis maximal neun Prozent aufweisen, mit 52 Prozent im Falle der "Lagerwahl" und 15 Prozent im Falle der Wahlbeteiligung beträchtlich. Inhaltlich wollen wir uns bei der Betrachtung der beiden Pfadmodelle wiederum auf den Faktor "Geschlecht" konzentrieren. Wie aus den Pfadkoeffizienten, die wie multiple Regressionskoeffizienten zu interpretieren sind, hervorgeht, übt dieser Faktor auf eine Reihe von weiteren Merkmalen, so auf die Bildung, die Berufstätigkeit, die Konfession und das politische Interesse sowie auf den Einstellungskomplex Antikernkraft-, Friedens- und Frauenbewegung einen direkten Einfluß aus. Hierin schlägt sich nieder, daß Frauen im Durchschnitt eine niedrigere Schulbildung als Männer aufweisen, seltener berufstätig sind und ein geringeres politisches Interesse zeigen als diese 33• Dagegen wird weder das Wahlverhalten noch die Wahlbeteiligung vom Geschlecht der Befragten direkt beeinflußt. Der Einfluß erfolgt vielmehr indirekt, d.h. vermittelt über andere Faktoren wie beispielsweise im Falle des Wahlverhaltens die Variable "Anti-KKW/Frieden/Frauen" oder im Falle der Wahlbeteiligung das politische Interesse und die Schulbildung34• Bemerkenswert ist dabei, daß das (weibliche) Geschlecht die Wahllinker Parteien auf dem Pfad über die Variable "Anti-KKW/Frieden/Frauen" positiv beeinflußt, während

31

Auf die Aufnahme der Parteiidentifikation in das Pfadmodell wurde verzichtet, da diese Variable den Löwenanteil der Varianz der abhängigen Variablen bindet. Vgl. hierzu Jürgen W. Falter/Hans Rattinger, Parteien, Kandidaten und politische Streitfragen bei der Bundestagswahl 1980: Möglichkeiten und Grenzen der Normal-Vote-Analyse, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1980, Opladen 1983, insbes. S. 399ff. 32 Die Operationalisierungen der einzelnen Variablen des Pfadmodells und die Faktorladungen der latenten Variablen werden im Anhang genauer beschrieben (vgl. Tabelle A2). 33 Die beiden im Anhang wiedergegebenen Pfadmodelle, die für jüngere und ältere Wähler (unter/ab 30 Jahre) getrennt berechnet wurden, belegen, daß für beide Altersgruppen fast identische Einflußmuster gelten. Allerdings sind bei einer Reihe von Merkmalen die Effekte unterschiedlich stark ausgeprägt. So ist beispielsweise der negative Einfluß des Geschlechts auf die Berufstätigkeit in der jüngeren Generation deutlich schwächer ausgeprägt als bei den Älteren. Differenzen zwischen Jung und Alt treten vor allem bei einigen indirekt vom Geschlecht ausgehenden Effekten auf, etwa der wesentlich stärkeren Einflußwirkung von Einstellungen auf die LagerwahL Dagegen übt bei älteren Wählern die Links-RechtsSelbsteinstufung einen vergleichsweise größeren Einfluß auf das Wahlverhalten aus (vgl. Anhang, Tabelle A3). 34 Dies gilt auch für die Berechnung der gleichen Pfadmodelle für die beiden Teilstichproben der unter und über Dreißigjährigen, die wir aus Platzgründen hier jedoch nicht im einzelnen verbal darstellen können.

134

Jargen W. Falter/Siegfried Schumann

sein Effekt auf dem Pfad über die Faktoren Alter, Kirchenverbundenheit und LinksRechts-Einstufung negativ ise 5• Hier schlägt sich einerseits die stärkere SPD- und Grünen-Wahl von Frauen mit Affinitäten zu den neuen sozialen Bewegungen nieder, andererseits die signifikant über dem Durchschnitt liegende Wahl der Unionsparteien durch ältere, kirchenverbundene Frauen. Für die jüngere Alterskohorte trifft letzteres bezeichnenderweise nicht zu. Zur Wahlbeteiligung trägt der Geschlechtsfaktor auf dem Umweg über das politische Interesse und die Schulbildung negativ bei: Frauen sind, wie wir aus den Tabellen 2, 6 und 7 entnehmen konnten, im Durchschnitt sowohl formal etwas weniger gebildet als auch politisch tendenziell uninteressierter als Männer und beteiligen sich deshalb auch heute noch etwas weniger an der Wahl als diese. Natürlich ist mit diesen bewußt knapp gehaltenen, auf die Rolle des Geschlechtsfaktors begrenzten Interpretationen der Informationsgehalt der beiden Pfadmodelle bei weitem nicht erschöpft. Aus Gründen der Platzökonomie wollen wir es jedoch bei diesen wenigen Anmerkungen belassen. Ganz allgemein liefern die beiden Pfadmodelle eine Illustration dafür, warum 1987 die Erklärungsleistung der Sozialvariablen derart gering ausfällt, wie in Tabelle 3 dargestellt: In beiden Kausalmodellen treten keine wie auch immer gearteten direkten Einflußpfade von den Sozialvariablen der Ebenen A bis C zum Wahlverhalten oder der Wahlbeteiligung auf. Die Vermittlung über die Werthaltungen und Einstellungen der Ebenen D, E und F ist vielmehr höchst indirekt; sie erfolgt hauptsächlich auf dem Weg über die Kirchen- und Gewerkschaftsverbundenheit Die Determination dieser und der weiteren intervenierenden Variablen des Modells durch die Sozialfaktoren jedoch ist alles andere als stark. Daraus läßt sich die erhebliche Bedeutung eines wert-, einstellungs- und identifikationsgeleiteten Wahlverhaltens ablesen, während die Wahlbeteiligung, wie wir gesehen haben direkt nur vom politischen Interesse und indirekt von der Bildung, dem Alter und dem Geschlecht beeinflußt wird. Festzuhalten bleibt jedoch, daß sowohl das Wahlverhalten als auch die Wahlbeteiligung 1987 auch nach Kontrolle möglicher alternativer Einflußfaktoren im Pfadmodell zwar nicht direkt, aber doch indirekt in einem gewissen, wenn auch nicht allzu großen Ausmaß vom Geschlecht der Wähler mitbestimmt worden sind 36•

35 Natürlich kann das Geschlecht kausal das Alter sowenig wie beispielsweise die Ortsgröße determinieren. Wir haben dennoch einen entsprechenden "Pfad" aufgenommen, da Frauen im Durchschnitt deutlich älter werden können als Männer und aus diesem Zusammenhang weitere Einflußwirkungen (etwa die CDU/CSU-Affinität älterer, alleinstehender Frauen) resultieren. 36 Dies steht nicht, wie es scheinen könnte, im Widerspruch zu den Resultaten der in den Tabellen 3 und 4 referierten Regressionsanalysen, die ja nur die direkten Effekte eines Merkmals abbilden, sondern stellt eine Ergänzung dazu dar.

Vive Ja (tres) petite difference!

135

Abbildung 3: PLS-Pfadmodell zur Erklärung der Wahlentscheidung von 1987 nach politischen Lagern (Pfadkoeffizienten x100; R 2=52%)

EBENE B

EBENE A

EBENE C EBENE D

EBENE E EBENE F

[ ~ JGeschlec,

---1] 10

.l

1 Alter

-1

-~

I

-30-> Bildung

...--

...-L---39--- -

lortsgrö~e

I

Ber

~

täti keit

1.....-

- ---2ll---> JCIRCHENERBUN-

--- 25--> DENHErr L--26

[Katholiken l (vs. Prot.)

3'

-""' -~

!1

L-------------> L--------------------->> GROSSBUCHSfABEN:

POSlMAT. VS. HAT. ZIELE

Latente Variablen sind in Großbuchstaben geschrieben, manifeste Variablen normal. Daten: FGVJ..Panel, 1. Uelle.

136

!argen W. Falter/Siegfried Schumann

Abbildung 4: PLS-Pfadmodell zur Erkll!rung (Pfadkoefftzienten xl 00; R 2 15%)

=

EBENE A

J.

der

Wahlbeteiligung

von

EBENE B EBENE C EBENE D EBENE E EBENE F

I

-14

8

_r ~

--12-> ~

A

k ----:~l=,r=J--_j 2-

---- 31:=]

EiE]

1------1--- -·..,26>-------IJ

~

L------·1-----~~1-----1----1~~

-1 1

~~~~ 1~- -1----J.ll~ ~]

L------------~' ~- ~T

L __ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ __J)

GR05SBOCIISI'l\:

~

Latente Variablen sind in Großbuchstaben geschrieben, manifeste Variablen normal. Daten: FGII-Panel, 1. IIeUe.

1987

Vive Ja (tres) petite difference!

137

4. Resümee

Ausgehend von der Frage, ob die zwischen 1953 und 1969 zu beobachtenden Unterschiede im Wahlverhalten von Männern und Frauen eher biologischer bzw. sozialisationsbedingter Natur oder eher durch die soziale Lage und Gruppenzugehörigkeit induziert seien, haben wir zunächst untersucht, ob diese Differenzen nach Kontrolle möglicher sozialer Erklärungsfaktoren verschwinden. Daß dies der Fall war, ist von uns als klarer Beleg für die Stichhaltigkeit der sozialstruktureilen Erklärungsvariante interpretiert worden. In einem zweiten Analyseschritt sind wir dann der Frage nachgegangen, ob die nach 1969 zu beobachtende Angleichung des Wahlverhaltens von Frauen und Männern eher eine Folge struktureller Veränderungen oder eines plötzlich politisch relevant werdenden Wertewandels darstellt. Die von uns erarbeitete empirische Evidenz deutet darauf hin, daß der so abrupt zwischen 1969 und 1972 erfolgende Anpassungsschritt vermutlich eher auf einen Klimawandel als auf sozialstruktureile Anpassungseffekte zuri!ckzufilhren ist. Ob und gegebenenfalls welche Faktoren der Angebotsseite dafür verantwortlich waren, beispielsweise die Reform der Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch oder auch der praktische Nachweis der "Regierungsfähigkeit" der SPD durch die Große Koalition, geht aus den vorliegenden Daten leider nicht hervor. Dari!ber hinaus scheinen einige der traditionellen Einflußfaktoren des Wahlverhaltens in der Interaktion von insgesamt nachlassender Prägekraft filr das individuelle Wählerverhalten und geringerer quantitativer Ausprägung an Bedeutung filr das Wahlergebnis zu verlieren. In einem weiteren Analyseschritt haben wir schließlich die Situation zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 1987 eingehender untersucht. Dabei stellte sich heraus, daß das Wahlverhalten der Männer wie der Frauen von den gleichen sozialen Determinanten und Faktorkonfigurationen geprägt ist. Nennenswerte Unterschiede zwischen Männern und Frauen treten 1987 in erster Linie beim politischen Interesse und Informationsverhalten sowie bei (ganz wenigen, substantiell aber bedeutsamen) Einstellungsdimensionen auf, die sich vor allem auf die Haltung zu den neuen sozialen Bewegungen und die Streitfragen Kernkraftwerke, Friedens- und Frauenpolitik beziehen. Das Wahlverhalten wird vom Geschlecht auch noch 1987, wenn auch nur bei relativ wenigen Wählern, auf dem Umweg i!ber dieses Einstellungsbi!ndel beeinflußt. Auch auf die Wahlbeteiligung scheint das Geschlecht i!ber die Faktoren Bildung und politisches Interesse einen gewissen Einfluß auszui!ben, wobei Frauen, die im Durchschnitt formal etwas weniger gebildet und politisch geringer interessiert sind als Männer, sich tendenziell weniger an Wahlen beteiligen. Angesichts dieser Resultate war die hier untersuchte Fragestellung trotz der geringer gewordenen, nur noch bei wenigen BUrgern aufscheinenden geschlechtsspezifischen Differenzen sicherlich nicht ohne Berechtigung. Im Lichte dieser Ergebnisse und unter der Voraussetzung einer, vor allem durch den Generationenwechsel und die Bildungsrevolution bedingten Zunahme "rationaler", d.h. sachorientierter Wählerentscheidungen läßt sich zum Abschluß die bedingte Voraussage treffen, daß eine neue Welle unterschiedlichen Wahlverhaltens von Männern und Frauen nicht ganz unwahrscheinlich ist: In dem Maße, in dem frauenspezifische Themen, zum Beispiel die nach wie vor eklatanten Benachteiligungen im Beruf, bei weiblichen Wählern

138

Jargen W Falter!Siegfried Schumann

Resonanz finden, ist es durchaus vorstellbar, daß sich bei einer Reihe von Wählerinnen ein neues frauen- (wenn auch nicht im oben defininierten Sinne geschlechts-) spezifisches Wahlverhalten herausbildet. Wer davon letztes Endes profitieren wird, eine durch Rita Süssmuth und Ursula Lehr repräsentierte Union oder diesmal tatsächlich - mit einem halben Jahrhundert Verspätung - die politische Linke, wird davon abhängen, wer am ehesten Frauenthemen in ausreichendem Maße und vor allem glaubhaft vertritt37•

5. Anhang

Tabelle Al: Erläuterungen zu den "Baum- und Regressionsvariablen" Kirchgangshliufigkeit: 1953: regelmäßig + unregelmäßig vs. selten + nie, V406; 1969: mehrmals

wöchentlich bis mehrmals im Jahr vs. einmal im Jahr und seltener, V437; 1972: jeden Sonntag bis ab und zu vs. einmal im Jahr und seltener, V131; 1987(frendmonitor): jeden Sonntag bis ab und zu vs. einmal im Jahr und seltener, V352; 1987(Panell. Welle): wie bei Trendmonitor, V185.

Gewerkschaftsmitgliedschaft: 1953: Mitglied vs. nicht Mitglied, V200; 1969: ja, selbst + ja, anderer im Haushalt vs. nein, niemand, V376; 1972: Befragter oder Haushaltsangehörige(r) vs. nein, niemand im Haushalt, V129; 1987(frendmonitor): ja, selbst oder andere(r) im Haushalt vs. nein, V350. 1987(Panell. Welle): wie bei Trendmonitor, V183.

Einwohnerzahl: 1953: über 20.000 vs. bis 20.000, V339; 1969: 20.000 und mehr vs. bis 19.999, V465;

1972: über 30.000 vs. bis 30.000, V132; 1987(frendmonitor): 30.000 und mehr vs. unter 30.000, V358. 1987(Panell. Welle): wie bei Trendmonitor, V191.

Berufstätigkeit: 1953: ja + ja, mithelfend im eigenen Betrieb + arbeitslos vs. Rest, V97; 1969: ganztags + halbtags + stundenweise + arbeitslos vs. Rest, V384; 1972: voll berufstätig + teilweise berufstätig + arbeitslos vs. Rest, V118; 1987(frendmonitor): voll beschäftigt + teilweise beschäftigt + Kurzarbeit + arbeitslos vs. Rest, V342. 1987(Panell. Welle): wie bei Trendmonitor, V178.

Schulabschluß: 1953: Volksschule vs. mittlere Reife + Abitur + Universität, V345; 1969: nach

der Volksschule noch eine andere Schule besucht vs. nach der Volksschule keine andere Schule mehr besucht, V402; 1972: Volksschule, mit und ohne Abschluß vs. Rest, V120; 1987(frendmonitor): Hauptschule, mit und ohne Abschluß vs. Rest, V341. 1987(Panel 1. Welle): wie bei Trendmonitor, V177.

Alter: in allen Umfragen: 45 Jahre und mehr vs. unter 45 Jahren; 1953: V343; 1969: V383; 1972: V117; 1987(frendmonitor): V339. 1987(Panell. Welle): V175.

37 Angesichts der globalen Umweltprobleme und der sich abzeichnenden Verschlechterung der Lebensbedingungen in weiten Bereichen ist aber auch eine neue Innerlichkeit und Religiosität denkbar, von der die aufgezeigte emanzipative Tendenz kompensiert, ja weggespült werden könnte.

Vive Ia (tres) petite difference!

139

Tabelle A2: Die Definitionen und Faktorladungen der latenten Variablen Variablen der Modelle: 1 2 3 4 5 6 7

Geschlecht (weiblich); Dummyvariable: "weiblich" vs. "männlich"; V172 Alter; Alter in Jahren; V175 Ortsgröße; Größe des Wohnorts; V191 Katholiken (vs. Prot).; Dummyvariable: "Katholiken" vs. "Protestanten"; V184 Bildung; Höhe des Schulabschlusses; V177 Berufstätigkeit; Dummyvariable: "ja" vs. "nein"; V178 Gewerkschaftsverbundenheit; Latente Variable: a. (FL* = 75) Gewerkschaftsmitglied im Haushalt; Dummyvariable: "ja" vs. "nein"; V183 b. (FL = 79) pol. Mitspracherecht für die Gewerkschaften; V147 8 Kirchenverbundenheit; Latente Variable: a. (FL = 99) Kirchgangshäufigkeit; V185 b. (FL = 33) pol Mitspracherecht für die Kirche; V146 9 Konfessionslos; Dummyvariable: "Konfession" vs. "keine Konfession"; V184' 10 Links/Rechts Einordnung; Selbsteinschätzung "Links" bis "Rechts"; V145 11 Polit. Interesse; Politisches Interesse; V6 12 Anti-KKW/Friede/Frauen; Latente Vatiable: a. (FL = 77) Anhängerder Anti-Kernkraft-Bewegung; V148 b. (FL = 80) Kernkraftwerke stillegen; V153 c. (FL = 67) Reaktorunfall möglich; V155 d. (FL = 66) Anhänger der Friedensbewegung; V149 e. (FL = 46) Anhänger der Frauenbewegung; V150 13 Polit. Beziehungen verbessern (Westen); Polit. Beziehungen zum Westen verbessern; Latente Variable: a. (FL = -27) Beziehungen zur Sowjetunion verbessern; V82 (neg) b. (FL = 69) Beziehungen zu den USA verbessern; V83 c. (FL = -19) Beziehungen zur DDR verbessern; V87 (neg) 14 Wirtsch. Ziele; Wirtschaftspolitische Ziele; Latente Variable: a. (FL = 63) Wirtschaft ankurbeln; V79 b. (FL = -19) Arbeitslosigkeit bekämpfen; VBO (neg.) c. (FL = 20) Renten sichern; V85 d. (FL = 79) Staatsverschuldung abbauen; V86 e. (FL = 27) stabile Preise; V89 15 Postmat. vs. Mat. Ziele; Postmat. vs. Materialistische politische Ziele: latente Variable: a. (FL = 48) Umweltschutz; V84 b. (FL = 51) den Bürgern mehr Einfluß, V88 c. (FL = -75) Ruhe und Ordnung; V81 (neg) 16a Lagerwahl: Links vs. Rechts; Wahlsonntagsfrage für "Wähler": CDUICSU= 1 I F.D.P.=21 SPD=3 I Grüne=4; VlO 16b Wahlbeteiligung; unter den wahlberechtigten Befragten; VB • Faktorladung (=Korrelation der manifesten mit der jeweiligen latenten Variablen)

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JUrgen W. Falter/Siegfried Schumann

TabelleA3: Das für jüngere und ältere Wähler getrennt berechnete PLS-Pfadmodell zur Erklärung der Wahlentscheidung von 1987 (Pfadkoeffizienten x100; R2= 59% für 18-29 J. bzw. 48% für 30 u. m. J.)

EBENE A

EBENE B

EBENE C

EBENE D

EBENE E

EBENE F

r-----------------------------------------> ANTI.------------> llW I

I

13/12

,------>

14/20

45/32

I

GEWERKSCHAFTSVERBUNDENHEIT

26/L23 >

> [

Berufs-24- -- - - > tätig-56 keit

>

FRIEDE/ FRAUEN POLIT. BEZIEHUNGEN ZUM

WESTEN

L~~: /1-------, RECHTS g~g: NUNG

-14

Konfes-10/-11--> sionslos -22/-28 -04/-16

I

24/19

I

L--------------------------------:> L----------------------------------------------:>

,v

POSTMAT. VS. MAT. ZIELE

GROSSBUCHSfABEN: Latente Variablen sind in Großbuchstaben geschrieben, manifeste Variablen normal. Der jeweils erste Zahlenwert bezieht sich auf Wählerl-innen unter 30, der jeweils zweite Zahlenwert auf Wählerl-innen über 30 Jahren. Daten: FGW-Panel, 1. Welle.

Vive Ia (tres) petite difference!

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Literatur

Baker, Kendall et al., Germany Transformed, Cambridge 1981 Bremme, Gabriele, Die politische Rolle der Frau in Deutschland. Eine Untersuchung Uber den Einfluß der Frauen bei Wahlen und ihre Teilnahme in Partei und Parlament, Göttingen 1956 Falter, Jürgen W./Kurt Ulbricht, Zur Kausalanalyse qualitativer Daten. Grundlagen, Theorie und Anwendung in Wahlforschung und Hochschuldidaktik, Bern 1982 ders./Hans Rattinger, Parteien, Kandidaten und politische Streitfragen bei der Bundestagswahl 1980: Möglichkeiten und Grenzen der Normai-Vote-Analyse, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl1980, Opladen 1983, S. 320-421 ders.(Thomas Lindenberger/Siegfried Schumann, Wahlen und Abstimmungen in der Weimarer Republik Materialien zum Wahlverhalten 1919-1933, München 1986 Gaensslen, Hermann/Werner Schubö, Einfache und komplexe statistische Analyse, München/Basel 1973 Geiger, Theodor, "Panik im Mittelstand", in: Die Arbeit, 7/1930, S. 637-654 Hofrnann-Göttig, Joachim, Emanzipation mit dem StimmzetteL 70 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland, Bann 1986 Jesse, Eckhard, Die Bundestagswahlen von 1953 bis 1972 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik. Zur Bedeutung eines Schlüsselinstrumentes der Wahlforschung, in: ZParl, 6/1975, S. 310-322 ders., Die Bundestagswahlen von 1972-1987 im Spiegel der repräsentativen Wahlstatistik, in: ZParl, 18/1987 , S. 232-242 Kaase, Max, Die Bundestagswahl 1972: Probleme und Analysen, in: PVS, 14/1973, S. 145-190 Klingemann, Hans-Dieter/Charles Lewis Taylor, Affektive Parteiorientierung, Kanzlerkandidaten und Issues, in: PVS, 18/1977, S. 301-347 Liepelt, Klaus /Heia Riemenschnitter, Wider die These vom besonderen Wahlverhalten der Frau, in: PVS, 14/1973, S. 567-605 Lepsius, M. Rainer, Wahlverhalten, Parteien und politische Spannungen. Vermutungen zu Tendenzen und Hypothesen zur Untersuchung der Bundestagswahl 1972, in: PVS, 14/1973, S. 295-313 Lohmöller, Jan-Bernd, Latent Variables Path Analysis With Partial Least-squares Estimation, Forschungsbericht 81.04 des Fachbereichs Pädagogik der Hochschule der Bundeswehr München, München 1981 Pappi, Franz Urban, Sozialstruktur und politische Konflikte in der Bundesrepublik Individual- und Kontextanalysen der Wahlentscheidung, unveröffentlichte Habilitationsschrift, Universität zu Köln 1976 ders., Sozialstruktur, gesellschaftliche Wertorientierungen und Wahlabsicht, in: PVS, 18/1977, s. 195-229 Ritter, Gerhard A /Merith Niehuss, Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Bundesund Landtagswahlen 1946-1987, München 1987

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Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann

Schumann, Siegfried, "Die Auswirkung des Wandels von Wertorientierungen auf das Wahlverhalten", Vortragsmanuskript Hanns-Seidel-Stiftung v. 13.12.1988 (Aufsatzpublikation in Vorbereitung) Striefler, Heinrich, Deutsche Wahlen in Bildern und Zahlen. Eine soziografische Studie über die Reichstagswahlen der Weimarer Republik, Düsseldorf 1946 Tingsten, Herbert, Political Behavior. Studies in Election Statistics, London 1937 Vages, Wolfgang /Jan-Bernd Lohmöller, Bedingungen vorzeitiger Beendigung der Erwerbsphase. Ein PLS-Modell zur Erkl!!rung der Kausalzusammenhange am Beispiel des Vorruhestandes, in: Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf, Arbeitspapiere des SFB 186 der Universität Bremen, Bremen o. J. (1988)

Franz Urban Pappi Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten in der Bundesrepublik

1. Einleitung Die Bedeutung sozialer Bewegungen hat sich in den westlichen Demokratien seit Ende der sechziger Jahre deutlich erhöht. Das gilt verstärkt für die Bundesrepublik, in der die sogenannten neuen sozialen Bewegungen eine größere Sichtbarkeit erreicht haben als in vielen anderen vergleichbaren Ulndern. Gruppierungen außerhalb der etablierten Parteien und Interessenguppen bedienen sich des Bewegungsbegriffs zur Selbstbeschreibung. Unabhängig von der Verwendung dieses Begriffs als politischem Kampfbegriff haben sich die Sozialwissenschaften seit Lorenz von Stein wissenschaftlich mit dem Bewegungsphänomen auseinandergesetzt Neuerdings wird diese Thematik unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklungen in den deutschen Sozialwissenschaften wieder verstärkt aufgegriffen. Dabei wird versucht, dem Phänomen der neuen sozialen Bewegungen auf verschiedene Weise gerecht zu werden. Am umfassendsten sind Ansätze, die in diesen Bewegungen einen Indikator und gleichzeitig einen Motor eines umfassenderen gesellschaftlichen Wandels sehen. "Das, was mit den 'neuen sozialen Bewegungen' entsteht, entsteht als ein krisenharter Wandlungs-, ja Mutationsprozeß nicht an den Rändern, sondern im Zentrum der entwickelten Industriegesellschaften. Dieser Prozeß ist dabei, den tiefsten Einschnitt in die historische Verfaßtheit unserer Gesellschaften seit der Entstehung der Arbeiterbewegungen hervorzubringen."! Vor einigen Jahren drückten derartige Äußerungen mehr ein Forschungsprogramm als eine fundierte Einsicht in Ursachen und Wirkungen des sozialen Wandels aus. Inzwischen liegen mehrere Monographien vor, so z.B. der umfassende historisch-systematische Grundriß über soziale Bewegungen von Raschke2 , in dem Besonderheiten der Bewegungen in der nachindustriellen Phase im Vergleich zu früheren sozialen Bewegungen herausgearbeitet werden. Wir verfolgen hier eine bescheidenere Fragestellung. Wenn es stimmt, daß die neuen sozialen Bewegungen zu einem Charakteristikum unserer Gesellschaft geworden sind, ist die Frage sinnvoll, wie sich dieser Bewegungssektor auf die normalen Mechanismen der Interessenaggregierung auswirkt. Neben den etablierten Kanälen der Interessenarti-

1 2

Adalbert Evers/Zoltan Szankay, Was entsteht mit den neuen sozialen Bewegungen?, in: Peter Grottian/Wilfried Nelles (Hrsg.), Großstadt und neue soziale Bewegungen, Basel: Birkhäuser 1983, s. 24. Joachim Raschke, Soziale Bewegungen, Frankfurt a.M.: Campus 1985.

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Franz Urban Pappi

kulation durch eigene Interessengruppen und der Interessenaggregation durch die etablierten Parteien versuchen soziale Bewegungen, ihren Forderungen außerhalb des Institutionengerüsts durch direkte politische Aktionen Gehör zu verschaffen. Wir wollen am Beispiel von Wahlen untersuchen, wie die von den neuen sozialen Bewegungen artikulierten Interessen von den Parteien unter Einschluß der Grünen berücksichtigt werden. Die Grünen verstehen sich selber als Repräsentanten des Bewegungssektors. In welchem Umfang gelingt es ihnen tatsächlich, dieses Potential auszuschöpfen, und wie stark ist die Konkurrenz der etablierten Parteien, insbesondere der SPD, in dieser Hinsicht? Dies sind die Fragen, die wir beantworten wollen. Damit die Antwort gelingt, muß versucht werden, die Anhänger der neuen sozialen Bewegungen in der Wählerschaft generell zu identifizieren. Hierzu eignen sich keine Einzelfallstudien, sondern nur allgemeine Bevölkerungsumfragen, die repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung sind. Damit stellt sich als erstes Hauptproblem die Frage, wie man mit den Mitteln der Umfrageforschung die Anhänger neuer sozialer Bewegungen identiftzieren kann.

2. Der sozialwissenschaftliche Bewegungsbegriff und die Identifikation von Anhängern der neuen sozialen Bewegungen in der Wählerschaft

Unabhängig davon, ob man Bewegungen historisch vergleichend oder im Querschnitt für die Wahlerschaft eines Landes untersuchen will, muß man sich zunachst des sozialwissenschaftliehen Bewegungsbegriffs versichern. Was soll als soziale Bewegung verstanden werden? Dann fallt es im zweiten Schritt leichter, an das Selbstverständnis der Anhänger der neuen sozialen Bewegungen direkt mit entsprechenden Fragen anzuknüpfen. Wie immer, wenn man sozialwissenschaftliche Definitionen eines bestimmten Begriffs gegenüberstellt, mag sich zunachst der Eindruck einer relativen Willkür ergeben. Trotzdem kann man mit Charles Tilly3 wenigstens die Dimensionen festmachen, die zur Definition sozialer Bewegungen herangezogen werden. Diese Definitionen akzentuieren entweder Bevölkerungsgruppen, kollektive Handlungen oder Glaubensüberzeugungen und programmatische Ziele. Sie unterscheiden sich darin, welcher Dimension sie Vorrang einräumen. Glaubensüberzeugungen und Meinungen sind der entscheidende Referenzpunkt in der Definition von McCarthy und Zald4: "A social movement is a set of opinions and beliefs in a population which represents preferences for changing some elements in the social structure and/or reward distribution of a society." Andere Autoren sehen das Besondere sozialer Bewegungen primär in bestimmten Charakteristiken ihrer Organisation als Gruppe oder Gruppierung, so in der Definition von Heberle, nach der soziale Bewe3 4

Charles Tilly, From Mobilization to Revolution, Reading: Addison Wesley 1978. John D. McCarthy/Mayer N. Zald, Resource Mobilization and Social Movements, in: American Journal ofSociology, 32/1977, S. 1217-1218.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

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gungen unorganisierte Gruppen sind, "für die Ferdinand Tönnies den Terminus 'soziale Samtschaften' geprägt hat" 5• Wichtige Unterdimensionen in der allgemeinen Dimension der Bevölkerungsgruppe oder der Organisation der Gruppe sind nach Tilly zum einen die Möglichkeit der kategorialen Abgrenzung der potentiellen Mitglieder und zum anderen der Umfang, in dem bereits innerhalb der Gruppierung soziale Beziehungen existieren. Tilly spricht hier kürzelhaft von der "catness" und der "netness" der Organisation6• Der dritte mögliche Einstieg in die Definition ist die kollektive Aktion bzw. das gemeinsame Handeln einer Gruppierung. Diesen Einstieg wählt Raschke, dessen Definition in Kurzform lautet: "Soziale Bewegung ist ein ... kollektiver Akteur, der ... das Ziel verfolgt, grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen." 7 Das Gemeinsame dieser Definitionen kann man also in folgenden Merkmalen sehen: einer Bevölkerungsgruppierung, die nicht formal organisiert ist und trotzdem zusammengehört, weil sie entweder einen Bezug zu Zielen bzw. einer Ideologie hat, die Gemeinsamkeit stiftet, oder diese Gemeinsamkeit in kollektivem Handeln erlebt. Die gesellschaftliche Reform oder Teilreform als Ziel setzt das Erlebnis einer Krise voraus, die von der Bewegung ideologisch bearbeitet wird 8• Welchen Einstieg man konkret in die Begriffsbestimmung vornimmt, ergibt sich auch aus der Fragestellung, die man untersuchen will. Tilly interessiert sich z.B. für kollektive Aktionen und vermeidet es deshalb, diese abhängige Variable bereits in die Begriffsbestimmung der sozialen Bewegung aufzunehmen. "By a social movement we mean a group of people identified by their attachment to some particular set of beliefs."9 In welchem Umfang derartige Gruppierungen gemeinsam handeln, läßt sich dann als empirische Fragestellung untersuchen. Der eine Freiheitsgrad, den die Definition läßt, ermöglicht überhaupt erst den empirischen Ansatz. In der Literatur wird einzelnen Gruppierungen, die sich selbst als Bewegung verstanden haben, der Bewegungscharakter im sozialwissenschaftliehen Sinn abgesprochen. Keinerlei Dissens herrscht hingegen bezüglich der Einordnung der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert als einer sozialen Bewegung par excellence. Den nicht unmittelbar beteiligten Bürgern mag diese Bewegung zunächst durch ihre kollektiven Aktionen aufgefallen sein, vor allem durch Streiks und Straßendemonstrationen. Identifizierbar blieb die Gruppierung in ihrem potentiellen Mobilisationsbereich durch das objektive Merkmal der Industriearbeit Und als Progammatik setzte sich im Laufe des 19. Jahrhundcrs der Sozialismus immer mehr durch. Je nachdem, welchen Einstieg man in die Begriffsbestimmung wählt, wird man also die Aufmerksamkeit auf die Formen kollektiver Aktionen richten, auf die Industriearbeiterschaft generell oder auf den Sozialismus und auf Grup-

5 6 7 8 9

Rudolf Heberle, Hauptprobleme der politischen Soziologie, Stuttgart: Enke 1967. Tilly, Mobilization (Anm. 3), S. 9. Raschke, Soziale Bewegungen (Anm. 2), S. 77 (Hervorhebung: der Verf.). Vgl. das Ablaufschema von Ottheim Rammstedt, Soziale Bewegungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 170. Tilly, Mobilization (Anm. 3), S. 9.

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pierungen, die dieses Gedankengebllude unterstützten. Hier sei die Frage erlaubt, wie man anhand dieser drei Kriterien die neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik dingfest machen könnte. Am unproblematischsten erscheint hier noch die Dimension der kollektiven Aktion. Der sonst nicht weiter betroffene Zeitungsleser und vor allem der Fernsehzuschauer kann sich einen Eindruck von der sozialen Wirklichkeit der Bewegungen verschaffen, wenn er auf die Demonstrationsdichte in bestimmten Städten oder Regionen achtet. Auch in der U!ngsschnittbetrachtung ergeben sich interessante Aufschlüsse. So hat die Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre viel von ihrem Elan eingebüßt, als sich herausstellte, daß die Bundesrepublik den NATO- Beschluß über die Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen vollziehen würde und ihn dann tatsächlich vollzogen hat. Auch die Antikemkraftbewegung kann immer dann besonders eindrucksvolle Demonstrationen organisieren, wenn es äußerliche Anlässe gibt wie die Entscheidung zum Bau einer Wiederaufbereitungsanlage oder ein externes Ereignis wie den Reaktorunfall in Tschernobyl. Schwieriger ist die Identifikation der neuen sozialen Bewegungen über die Dimension der Programmatik. Hier drängt sich dem außenstehenden Beobachter häufig der Eindruck einer gewissen Willkür auf. Man will nicht recht verstehen, was der engagierte Einsatz gegen Kernkraftwerke mit Boykottaufrufen zur Volkszählung zu tun hat, wenn diese Forderungen von denselben Gruppen vorgetragen werden. Man kann hier natürlich analytisch versuchen, eine gemeinsame Dimension zu postulieren oder, besser, aus den konkreten Forderungen generalisierend ableiten. So sehen manche Autoren, im Anschluß an Inglehart 10, das Gemeinsame der neuen sozialen Bewegungen darin, daß diese vorwiegend ideelle und nicht materielle Betroffenheiten thematisieren11• Nimmt man bestimmte Forschungsergebnisse wie das von Muller und Opp 12 zur Kenntnis, nach denen z.B. ein aktives Engagement gegen Kernkraftwerke am besten durch allgemeine politische Entfremdung bzw. mangelnde Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik erklärt werden kann, so könnte man das Gemeinsame der Programmatik dieser neuen sozialen Bewegungen auch in der Gegnerschaft zum System der repräsentativen Demokratie sehen, so daß Einzelziele wie Boykott der Volkszählung, sofortige Abschaltung der Kernkraftwerke oder einseitige Abrüstung nur taktischen Charakter haben. Diese Erklärung hätte auch den Vorteil, daß man so die deutsche Vorreiterrolle bei den neuen sozialen Bewegungen mit einem speziellen LegitimitätsdefiZit der westdeutschen Demokratie in Verbindung bringen könnte, das bei manchen jüngeren Deutschen mit höherer Schulbildung auch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit des Deutschen Reiches zusammenhängt. In empirischen Untersuchungen ist immer wieder gefunden worden, daß die Personen mit höherer Schulbildung der jüngeren Generation die Hauptträger der neuen sozialen

10 Ronald Inglehart, The Silent Revolution, Princeton, N.J.: Princeton University Press 1977. 11 Vgl. z.B. Max Kaase, "Soziale Bewegungen zwischen Innovation und Antimodernismus", Universität Mannheim, unveröffentl. Ms. 1986. 12 Vgl. Edward N. Muller/Karl-Dieter Opp, Rational Choice and Rebellious Collective Action, in: American Political Science Review, 80/1986, S. 471-487.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

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Bewegungen sind. Daraus darf man jedoch im Hinblick auf die dritte Dimension, nämlich die Abgrenzung nach Bevölkerungsgruppen und Organisationsformen, nicht schließen, diese Personengruppe sei in demselben Sinne Träger der neuen sozialen Bewegungen wie die Arbeiter Träger der Arbeiterbewegung gewesen sind. Denn die neuen sozialen Bewegungen vertreten in der Regel allgemeine Ansprüche und nicht Sonderanliegen einzelner Gruppen. Eine Ausnahme stellt allein die Frauenbewegung dar, die z.B. auch von Habermas als Emanzipationsbewegung von den anderen neuen sozialen Bewegungen unterschieden wird. Der feministischen Bewegung gehe es in der Tradition der bürgerlich-sozialistischen Befreiungsbewegungen um die Einlösung der "anerkannten universalistischen Grundlagen von Moral und Recht"13. Dies verleihe dem Feminismus die "Schubkraft einer offensiven Bewegung, wahrend alle übrigen Bewegungen einen eher defensiven Charakter haben"t4. Jenseits der diffusen Programmatik der neuen sozialen Bewegungen sehen viele Autoren das Besondere und Neue in den Organisationsformen. So betont Raschke zusatzlieh zu den Merkmalen "Abwesenheit einer einheitlich geschlossenen Ideologie", "thematische Vielfalt und rascher Issuewechsel" auf der organisatorischen Seite den geringen Grad organisatorischer Festigung, die Abneigung vor "Bürokratisierung und Zentralisierung in Verbindung mit Führerfeindlichkeit" und die "Vielzahl autonomer, aber stark vernetzter Teilbewegungents. Will man die Anhänger oder Mitglieder der neuen sozialen Bewegungen mit den Mitteln der Umfrageforschung erfassen, so drangt sich zunächst eine negative Bilanz auf. Die Ziele seien diffus, die Organisationsformen spontan, und die Teilnahme an einschlägigen Demonstrationen lasse sich mit einer Querschnittsbefragung der wahlberechtigten Bevölkerung nicht optimal erfassen. Allerdings wird man zugeben müssen, daß dieser negative Eindruck vor allem im Hinblick auf die neuen sozialen Bewegungen als Ganzes entsteht. Für einzelne Bewegungen lassen sich z.B. die Ziele sehr viel exakter bestimmen. Jeder Versuch, die Anhänger und Mitglieder neuer sozialer Bewegungen zu identifizieren, wird deshalb kumulativ vorgehen müssen. Es sind zunächst Einzelbewegungen zu bestimmen, und erst im zweiten Schritt kann empirisch festgestellt werden, inwieweit die Anhänger und Mitglieder dieser Einzelbewegungen mehr oder weniger identisch sind. Die Auswahl der Einzelbewegungen aus dem Sektor der neuen sozialen Bewegungen hat für die Untersuchung strategische Bedeutung. Diese Einzelbewegungen sollten für den ganzen Sektor repräsentativ sein und gleichzeitig für die Parteien einschließlich der Grünen insofern relevant, als ihre Ziele und Forderungen im Wahlkampf als Bezugspunkte aufgegriffen wurden. Diese letzte Bedingung umfaßt sowohl die Ablehnung konkreter Forderungen als auch ihre Übernahme; wichtig ist die Thematisierung im Wahlkampf. 13 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M.:Suhrkamp 1981, s. 578. 14 Ebd., s. 578. 15 Raschke, Soziale Bewegungen (Anm. 2), S. 412.

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Schwieriger ist natürlich die erste Bedingung einer reprasentativen Auswahl zu erfüllen. Die Liste aller Einzelbewegungen scheint ziemlich lang zu sein. So führt beispielsweise Stöss, ohne den Anspruch auf Vollstandigkeit zu erheben 21 Einzelbewegungen auf16. Allerdings kann diese Vielfalt nach bestimmten thematischen Gesichtspunkten geordnet werden, so daß im neueren deutschen Schrifttum eine Konzentration auf bedeutend weniger Bewegungen festzustellen ist. So behandelt z.B. Roth unter der Überschrift "Neue soziale Bewegungen" 17: "Bürgerinitiativen als Elementarform der neuen sozialen Bewegungen", "ökologischer Protest und Anti-AKW-Bewegung", "die neue Frauenbewegung", "Aiternativprojekte und Gegenkultur" und "die neue Friedensbewegung". Da es in unserem Zusammenhang auf klare, wahlkampfrelevante Zielsetzungen als Nebenbedingung ankommt, scheiden die Bürgerinitiativ- und die Alternativbewegung aus. Bei ersterer ware es aus Gründen der Zielvielfalt sowieso problematisch, von einer Bewegung zu sprechen 18. "Weder lassen sich die vielfaltigen Inhalte sinnvoll zu einer Bewegung zusammenpacken, noch passen sie ohne Rest unter einen weitgefaßten ökologischen Hut..." 19. Die Bedeutung der zu Anfang der siebziger Jahre entstandenen Bürgerinitiativen liegt mehr im Organisatorischen, Roth spricht von einem neuen Formprinzip, das den Bewegungssektor seither gepragt hae0• Auch für die Alternativbewegung erscheint die Diagnose von Roth zutreffend: "So wie die Bürgerinitiativen eine ansteckende politische Form der neuen sozialen Bewegungen geworden sind, laßt sich die Alternativszene als ihre wichtigste soziale Grundlage deuten."21 Kommunen und Wohngemeinschaften, Hausbesetzerszene, alternative Wirtschaftsprojekte im Bereich der Schattenwirtschaft und alternative Medien mit der "tageszeitung" an der Spitze grenzen, vor allem in den Großstadten, ein soziales Umfeld ab, aus dem sich wahrscheinlich gerade die Aktivisten des Bewegungssektors rekrutieren, die bei Demonstrationen allgegenwartig erscheinen. Nach dieser negativen Auswahl verbleiben aus der Rothschen Liste die Ökologie- einschließlich der Anti-AKW-Bewegung, die Friedens- und die Frauenbewegung. Es sind dies die drei Bewegungen, die wir als Einzelbewegungen auswahlen wollen. Dabei geben wir der Anti-AKW-Bewegung den Vorrang vor der diffuseren allgemeinen ökologischen Bewegung, weil dem Protest gegen Kernkraftwerke nach Tschernobyl im Frühjahr 1986 soviel öffentliche Aufmerksamkeit gezollt wurde, daß die Auswirkungen auch im Wahlkampf noch sehr spürbar waren. Ob man die Antikemkraftbewegung als "Vorreiter" der

16

17

18 19 20

21

Vgl. Richard Stöss, Vom Mythos der "neuen sozialen Bewegungen", in: Jürgen W. Falter/Christian Fenner/Michael Th. Greven (Hrsg.), Politische Willensbildung und Interessenvermittlung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, S. 549. Roland Roth, Neue soziale Bewegungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik- eine vorläufige Skizze, in: Kari-Wemer Brand (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in Westeuropa und den USA, Frankfurt a.M.: Campus 1985, S. 20. Vgl. aber Peter Comelius Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung, Reinbek: Rowohlt 1976. Roth, Neue soziale Bewegungen (Anm. 17), S. 45. Vgl. ebd., S. 44. Ebd., S. 61.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

149

Ökologiebewegung sehen kann22, mag zwar aus der Sicht mehr konservativer Umweltschiltzer fragwürdig erscheinen. Zwar gehen innerhalb des Sektors der neuen Bewegungen ökologische Initiativen und Protest gegen Kernkraftwerke Hand in Hand, aber die Zuordnung der Antikemkraftbewegung zu den neuen Bewegungen ist eindeutiger als die der ökologischen Initiativen in ihrer ganzen Breite, einschließlich der mehr konservativen Umweltschützer. Als zweite neue soziale Bewegung wählen wir die Friedensbewegung aus. Sie formierte sich in der Bundesrepublik nach dem NATO-Doppelbeschluß neu, der schließlich trotz ihrer Proteste zur Nachrüstung mit Mittelstreckenraketen führte. Diese Bewegung hatte im Herbst 1983 ihren höchsten Mobilisierungsgrad erreicht, der nur deshalb möglich war, weil das Rekrutierungsfeld weit in kirchliche Kreise und in die Anhängerschaft der SPD hineinreichte. Nimmt man die kommunistischen Gruppen hinzu, die in der Bundesrepublik schon seit den fünfziger Jahren in pazifistischen Strömungen präsent sind, so zeigt sich ein ausgesprochen pluralistischer Zug der Friedensbewegung, der sonst bei erfolgreichen Mobilisierungskampagnen im Bewegungssektor weniger charakteristisch ist. Der andere Unterschied zur Antikernkraft- und auch zur Frauenbewegung ist die enge thematische Vorgabe. Der direkte Bezug zum Nachrüstungsbeschluß macht diese Bewegung abhängiger von externen Faktoren wie bestimmten sicherheitspolitischen Entscheidungen der Regierung als die anderen Bewegungen. Die sogenannte neue Friedensbewegung seit 1980 hat also stark den Charakter einer "Ein-Punkt-Bewegung"23. Ebenso wie die Friedensbewegung im Pazifismus hat die neue Frauenbewegung in der bürgerlichen und der sozialistischen Frauenbewegung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Vorläuferinnen. Als nach dem Ersten Weltkrieg in den meisten Demokratien das allgemeine Wahlrecht auf die Frauen ausgedehnt wurde, ist eine der Hauptforderungen der älteren Frauenbewegung erfüllt worden, so daß die Bewegung viel von ihrem früheren Elan verlor. Der Ursprung der neuen Frauenbewegung wird auf die Studentenbewegung zu Ende der sechziger Jahre zurückgeführt. Mit dem Kampf um die Abschaffung des Abtreibungsverbots ist der neuen Frauenbewegung Anfang der siebziger Jahre in vielen U!ndern ein großer Mobilisierungserfolg gelungen, der größere ideologische Unterschiede zwischen Teilen der Bewegung überbrücken half. Erst in den letzten Jahren hat in der Bundesrepublik der Kampf um die Gleichberechtigung der Frau im Beruf klarere Konturen gewonnen, so daß nach einer Phase des "Rückzugs nach Innen" in "Selbsterfahrungsgruppen"24 die allgemeinpolitische Bedeutung dieser Bewegung wieder zugenommen hat. Insofern empfahl sich die Aufnahme dieser Bewegung auch wegen unserer zweiten Bedingung, der einer allgemeinen Politisierung. Andererseits läßt sich das volle Spektrum des neuen Bewegungssektors (unsere erste Bedingung) nur abdecken, wenn man die einzige dieser Bewegungen aufnimmt, die im Sinne von Habermas noch als Emanzipationsbewegung zu verstehen ist.

22 Ebd., S. 53. 23 Ebd., S. 67. 24 Ebd., S. 56-57.

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Wir verstehen die neuen sozialen Bewegungen nicht als Ganzheit, sondern als Summe von Teilen. Mit der Antikernkraft-, der Friedens- und der Frauenbewegung haben wir das Spektrum dieser Bewegungen im wesentlichen abgedeckt. Die Konzentration auf diese drei erleichtert die Identifikation von Zielen und damit die Abgrenzung auf einer der drei herausgearbeiteten Identifikationsdimensionen. Trotzdem bleibt natürlich auch bei einer Konzentration auf Einzelbewegungen das Problem der spontanen Organisationsformen und der sporadischen Demonstrationen, und letztere wird man mit den Mitteln der Umfrageforschung im Rahmen einer einmaligen Querschnittsbefragung kaum in den Griff bekommen können. In dieser Situation besinnen wir uns auf die eigentliche Stärke der Umfrageforschung: die Erfassung subjektiver Phänomene. Warum sollte es nicht möglich sein, die Interviewten direkt danach zu fragen, ob sie sich als Anhänger der Friedensbewegung, der Antikernkraftbewegung oder der Frauenbewegung betrachten? Diese Bewegungen sind Bewegungen zumindest in dem Sinn, als sie diesen Begriff für sich selbst in Anspruch nehmen. Soweit dies in der Wählerschaft generell bekannt ist, ist es also möglich, eine psychologische Mitgliedschaft in diesen Bewegungen zu erfassen. Im Rahmen dieser Frage können dann die Anhänger zusätzlich gefragt werden, ob sie an Demonstrationen und Versammlungen dieser Bewegungen teilnehmen. Damit läßt sich die Aktivitätsdimension nicht in dem Sinn objektiv erfassen, daß wir die Teilnehmer an einzelnen Großdemonstrationen oder kleineren Versammlungen feststellen würden, sondern nur als globale Einschätzung der eigenen Aktivitäten. Für diese Art der Messung ist es zunächst wichtig, anband eines Meßmodells die Güte der Messung zu bestimmen. Dies wird im nächsten Abschnitt geschehen. In den weiteren Kapiteln wird dann die psychologische Mitgliedschaft auf die Zieldimension und die Organisationsdimension bezogen. Die Ziele können als externe Kriterien verwendet werden, um die Gültigkeit der Messung zu überprüfen. Bei der Organisationsdimension werden wir versuchen, die lockere Organisationsform der Bewegungen mit Hilfe ego-zentrierter Netzwerke zu operationalisieren. Stimmt die psychologische Mitgliedschaft mit einschlägigen Zielpräferenzen überein und lassen sich andererseits die besonderen Organisationsformen wenigstens im Ansatz dingfest machen, wird ein Urteil über Bedingungen der Umsetzung von Anhängerschaft in Wahlverhalten möglich sein. Wir können bestimmen, welche Parteien von den Anhängern der einzelnen Bewegungen gewählt werden und sind nicht mehr gezwungen, eine Sympathie für die Partei der Grünen direkt als Indikator der Bewegungsanhängerschaft zu interpretieren. Daß in der empirischen Einstellungsforschung die Anhänger der sozialen Bewegungen weitgehend mit den Anhängern der Grünen gleichgesetzt werden, hat schon Stöss in einem kritischen Artikel über den Mythos der neuen sozialen Bewegungen kritisiert. Auf diese Weise ließe sich überhaupt nicht feststellen, inwieweit sich das grün-bunte Wählerpotential mit den Anhängern der neuen sozialen Bewegungen deckt25. Mit unserer Methode können wir dieses Forschungsdefizit beheben.

25 Vgl. Stöss, Mythos (Anm. 16), S. 548.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

151

Außerdem werden wir überprüfen, wie stark sich die Anhänger der einzelnen von uns erfaßten Bewegungen überschneiden. So läßt sich empirisch entscheiden, inwieweit der Bewegungssektor eine Einheit darstellt, über die ganze Heterogenität der Ziele hinweg.

3. Die Anhänger neuer sozialer Bewegungen nach dem Kriterium der Selbstidentifikation

Die Stl:lrke der Umfrageforschung ist die Erhebung subjektiver Phl:lnomene in einer Bevölkerung. In dieser Forschungstradition haben Fragen nach der Selbstidentifikation mit bestimmten Bevölkerungsgruppierungen einen hohen Stellenwert. So wird z.B. die ursprünglich von Centers verwendete Frage der subjektiven Schichtidentifikation noch heute mit guten Ergebnissen in der Umfrageforschung verwendet26• Das andere berühmte Beispiel ist die in der amerikanischen Wahlforschung entwickelte Frage nach der Parteiidentifikation27• Bekanntlich sind die amerikanischen Parteien sehr viel loser organisiert als die europl:lischen, wl:lhrend andererseits die persönliche Zurechnung zu einer Parteigruppierung in den USA wegen der Priml:lrwahlen auch institutionelle Bedeutung hat. Wenn man die amerikanische Frage nach der Parteiidentifikation nicht einfach auf europl:lische Verhaltnisse übertragen konnte, liegt das sicherlich auch an solchen institutionellen Unterschieden. Centers hat bereits auf drei Minimalvoraussetzungen hingewiesen, die erfüllt sein müssen, damit eine Frage nach der Selbstidentifikation Sinn macht. So muß die entsprechende Gruppierung einen eindeutigen Namen haben, und es muß das Bewußtsein einer Interessengemeinsamkeit der Bevölkerungsgruppe vorhanden sein. Dadurch, daß der Bewegungsbegriff heute verstärkt als politischer Kampfbegriff verwendet wird, dürften Namen wie Friedensbewegung, Frauenbewegung oder Antikemkraftbewegung in der Bevölkerung zur Bezeichnung dieser Gruppierungen bekannt sein. Die Interessengemeinsamkeit ergibt sich aus den geteilten politischen Zielen der einzelnen Bewegungen. Als dritter Faktor wirkt sich vielleicht gerade die Abwesenheit klar umgrenzter Organisationen positiv auf die Bereitschaft aus, sich wenigstens subjektiv einer Bewegung zugehörig zu fühlen. Bei den straff organisierten Parteien oder auch den Gewerkschaften besteht dagegen für eine subjektive Identifikation das Problem, daß sich jeder fragen muß, warum er nicht Mitglied wird, wenn er sich subjektiv mit der Organisation identifiziert. Nachdem nach unserem Eindruck alle Voraussetzungen für eine Selbstidentifikation gegeben waren, konnte die Frage selbst sehr einfach formuliert werden. Wir fragen schlicht danach, ob man sich als Anhänger oder Anhangerio einer bestimmten Bewegung betrachte. Die ausgewl:lhlten Bewegungen sind die Antikernkraftbewegung, die Friedensbewegung und die Frauenbewegung. Der genaue Fragenwortlaut und die Ant-

26 Vgl. Richard Centers, The Psychology of Social Classes, Princeton: University Press 1949, S. 74-106. 27 Vgl. Angus Campbellet al., TheAmerican Voter, NewYork: Wiley1960, S. 120-167.

152

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wortverteilungenfür die drei Befragungszeitpunkte gehen aus Tabelle 1 hervor, die Fragen wurden in der Panelstudie der Wahlstudie 1987 gestellt28. Tabelle 1:

1.

Die Identifikation mit neuen sozialen Bewegungen in der Wählerschaft der Bundesrepublik zu drei Zeitpunkten

Betrachten Sie sich als Anhänger/Anhängerinder Antikemkraftbewegung? September 1986 alle nur Panelfälle• % %

Ja Nein KA. N

2.

22 78 0

20 80 0

20 80 0

19 81 0

1954

1311

1544

1311

1311

Betrachten Sie sich als Anhänger/Anhängerinder Friedensbewegung?

Ja Nein KA. N

28

Januar 1987 alleb nur Panelfälle % %

Februar 1987 nur Panelfälle %

0

27 73 0

75 0

25

72

75 0

23 76 0

1954

1311

1544

1311

1311

25

Betrachten Sie sich als Anhänger/Anhängerinder Frauenbewegung? September 1986 alle nur Panelfälle• % %

Ja Nein KA. N

Februar 1987 nur Panelfälle %

23 77 0

September 1986 alle nur Panelfälle• % %

3.

Januar 1987 alleb nur Panelfälle % %

Januar 1987 alleb nur Panelfälle % %

Februar 1987 nur Panelfälle %

12 87 1

12 88 1

10 89 1

10 89 1

8 91 1

1954

1311

1544

1311

1311

a) Die in allen drei Wellen Befragten. b) Die in der ersten und zweiten Welle Befragten. 28

Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung der Universität Köln, Wahlstudie 1987, Teil 2: Panelstudie (ZA-Nr. 1537), 1987.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

153

Bei jeder Wiederholungsbefragung besteht das Problem der sogenannten Panelmortalitl!t. Man muß bei jeder weiteren Befragungswelle mit zusätzlichen Ausf!!llen rechnen, die die Ergebnisse möglicherweise verzerren. Um diesen Fehler abschätzen zu können, sind in Tabelle 1 für den ersten und zweiten Befragungszeitpunkt jeweils die Randverteilungen für alle Befragten und dann nur für diejenigen, die dreimal befragt werden konnten, gegenübergestellt. Dabei zeigt sich, daß unter den Panelf!!llen die Nichtanhänger der neuen sozialen Bewegungen etwas stärker vertreten sind als in dem repräsentativen Querschnitt der ersten Befragungswelle. Der Unterschied h!!lt sich allerdings in so engen Grenzen, daß wir uns bei den weiteren Analysen auf die Panelfälle beschränken werden, ohne dadurch große Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Die Wahl zum 11. Deutschen Bundestag fand am 25. Januar 1987 statt. Die zweite Welle der Panelbefragung wurde kurz vor der Wahl im Januar durchgeführt und die Nachwahlbefragung im Februar. Der Abstand zwischen diesen beiden Befragungen betrug im Durchschnitt also vier Wochen. Für die erste Befragungswelle wurde dagegen ein Zeitpunkt gewählt, der vor dem Beginn des eigentlichen Wahlkampfs unmittelbar nach der Sommerpause lag, nämlich September 1986. Damals waren in der öffentlichen Meinung die Folgen des Kernkraftunfalls in Tschernobyl noch wirksam; die zweite große Umweltkatastrophe, der Chemieunfall bei Sandoz in Basel, ereignete sich dagegen erst einige Wochen nach Beendigung der Septemberbefragung. Insgesamt war die Zeit nach Tschernobyl eine Zeit erhöhter Mobilisierung für die Antikernkraftbewegung. Dagegen dümpelte die Friedensbewegung vor sich hin, nur noch ab und zu öffentliche Aufmerksamkeit erregend durch Gerichtsurteile über die Zulässigkeit oder Nichtzulässigkeit von Sitzblockaden. Für die Frauenbewegung gab es während der ganzen Laufzeit der Wiederholungsbefragung kein hervorstechendes Ereignis, das eine ungewöhnliche Mobilisierung ausgelöst hätte. Trotz dieser Unterschiede im Mobilisierungsgrad der einzelnen Bewegungen geht aus Tabelle 1 hervor, daß der Gesamttrend für alle drei Bewegungen gleich war: Die Anh!!ngerschaft nahm von September 1986 bis Februar 1987 ab. Als Erklärung wäre einmal an externe Ereignisse zu denken, die die Mobilisierung des Bewegungssektors allgemein beeinflußt. Näher liegt aber die Vermutung, daß während des Bundestagswahlkampfs die etablierten Parteien, insbesondere die des Regierungslages, ihre Anhängerschaft wieder stärker für sich gewinnen konnten, so daß abnehmende Bewegungsmobilisierung mit zunehmender Parteimobilisierung erklärt werden kann. Von allen drei Bewegungen hat die Friedensbewegung die meisten Anhänger. Betrachten wir hier den repräsentativen Querschnitt der ersten Befragung vom September 1986, so erklärten damals immerhin 28 Prozent der Befragten, sie seien Anh!!nger der Friedensbewegung. Die Antikemkraftbewegung folgt mit 23 Prozent an zweiter Stelle, und mit deutlichem Abstand nimmt die Frauenbewegung mit 12 Prozent Rang drei ein. Bei letzterer stellt sich allerdings die Frage, wie groß die Unterschiede zwischen Männern und Frauen bei der Identifikation mit der Frauenbewegung sind. In Tabelle 2 wird erwartungsgemäß die Vermutung bestätigt, daß mehr Frauen als Männer Anh!!nger der Frauenbewegung sind. So bezeichneten sich im September 1986 acht Prozent der Männer, aber immerhin 15,2 Prozent der Frauen als Anhänger/innen dieser Bewegung. Der Rückgang der Anh!!ngerschaft trat bei Männern und Frauen in

154

Pranz Urban Pappi

gleicher Weise auf. Nach der Bundestagswahl gaben nur noch sechs Prozent der Männer und elf Prozent der Frauen an, Anhänger der Frauenbewegung zu sein.

Tabelle 2:

Anhänger und Anhängerinnen der Frauenbewegung zu den drei Zeitpunkten

Identifikation mit der Frauenbewegung" September 1986

Januar 1987

Februar 1987

%

%

%

KA.

8.0 90.5 1.5

6.3 92.3 1.5

93.4 1.0

N

671

671

671

2. Frauen

%

%

%

Ja Nein

KA.

15.2 84.7 0.2

13.0 86.3 0.8

10.8 89.1 0.2

N

640

640

640

1. Männer Ja Nein

5.5

a) Nur Panelfälle.

In der dritten Befragungswelle wurde die Anhängerfrage um eine Nachfrage ergänzt. Wenn sich jemand als Anhänger einer Bewegung zu erkennen gab, wurde er gefragt, ob er an Demonstrationen und Versammlungen dieser Bewegung teilnehme. Damit wird die Aktivitätsdimension als Unterdimension der psychologischen Mitgliedschaft abgefragt. Auf diese Weise vermeidet man es, konkret nach der Teilnahme an spezifischen Veranstaltungen zu fragen, ein Unterfangen, das bei einer bundesweiten Befragung sehr schwer zu realisieren sein dürfte. Mit dem eindeutigen Bezug auf eine bestimmte Bewegung durch die Namensnennung in der Vorfrage wird dem Befragten die Möglichkeit gegeben, die entsprechenden Versammlungen und Demonstrationen nach Bewegungszugehörigkeit einzuordnen. Betrachtet man den Prozentsatz der aktiven Anhänger für jede Bewegung (vgl. Tabelle 3), so ergeben sich etwa dieselben Größenverhältnisse zwischen den Bewegungen wie für die Anhängerschaft insgesamt. 4,8 Prozent der Wahlberechtigten sind danach als aktive Anhänger der Friedensbewegung, 3,9 Prozent als aktive Anhänger der Antikemkraftbewegung zu zählen; die Frauenbewegung hat insgesamt den niedrigsten Prozentsatz von aktiven Anhängern, nämlich 1,3 Prozent der Männer

155

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

und 1,9 Prozent der Frauen. Auffällig ist hier, daß zwar doppelt so viele Frauen wie Männer passive Anhänger der Frauenbewegung sind, daß aber bei der Aktivitätsdimension der Vorsprung der Frauen nur noch ein Drittel betragt. Tabelle 3:

Aktive und passive Anhänger• neuer sozialer Bewegungen im Februar 1987 Antikemkraft- Friedensbewegung bewegung % %

Aktive Anhänger Passive Anhänger Nicht-Anhänger

KA. N

a)

3.9 14.8 81.0 0.3 1311

Frauenbewegung Männer Frauen

%

%

4.8 18.7 75.8 0.7

1.3 4.2 93.4 1.0

1.9 8.9 89.1 0.2

1311

671

640

Die Anhänger einer Bewegung wurden jeweils gefragt: "Gehen Sie zu Demonstrationen und Versammlungen dieser Bewegung?" Ja, gehe hin ( = aktive Anhänger). Nein, gehe nicht hin ( = passive Anhänger).

Was sagen nun diese Zahlen tatsachlich über die Starke der neuen sozialen Bewegungen aus? Dies ist eine Frage nach der Gültigkeit und Zuverlässigkeit unseres Meßinstruments. Dabei gilt es bei der Beurteilung der Ergebnisse eines zu berücksichtigen: Wie hoch ein Prozentsatz tatsächlich ist, hangt nicht nur von der zugrundeliegenden Einstellung, sondern auch vom Schwierigkeitsgrad der Frage ab. Eine genaue Beurteilung der Güte derartiger Ergebnisse ist nur möglich, wenn man sie mit geeigneten Meßmodellen vergleicht. Da wir eine Wiederholungsbefragung durchgeführt haben, können wir ein solches Meßmodell auf unsere Daten anwenden. Küchler hat bei einer Analyse der Anhllnger der Friedensbewegung mit den Daten des Wahlpanels 1983 festgestellt, daß ein großer Teil der zweimal Befragten in ihrem Antwortverhalten von einem Zeitpunkt zum nächsten stark schwankte. Die Frage ist, was sich in solchen Schwankungen ausdrückt. Sind es, wie Küchler vermutet, die Unzuverlassigkeiten der Messung 29, oder hat sich die dem manifesten Antwortverhalten zugrundeliegende latente Einstellung geändert? Das von uns herangezogene Meßmodell erlaubt eine Beantwortung dieser Frage. Bevor wir die Ergebnisse unseres Modelltests präsentieren, soll in einem methodischen Exkurs das Meßmodell vorgestellt werden.

29

Vgl. Manfred Küchler, Die Friedensbewegung in der BRD - Alter Pazifismus oder neue soziale Bewegung, in: Falter u.a. (Hrsg.), Willensbildung(Anm. 16), S. 332.

156 3.1.

Franz Urban Pappi

Methodischer Exkurs: Das Rasch-Modell in der Umfrageforschung

Die Umfrageforschung kann im Unterschied zur psychologischen Testtheorie in der Regel nicht zu viele Fragen zur Messung eines bestimmten Konstrukts einsetzen. Mit Hilfe log- linearer Modelle läßt sich das Rasch-Modell auf Situationen übertragen, in denen nur wenige Items vorliegen3o. Dabei werden Fragen mit nur zwei Antwortkategorien unterstellt, also z.B. einfache Ja- und Nein-Antworten wie bei der Frage nach der Selbstidentifikation mit einer sozialen Bewegung. Das Rasch-Modell ist ein probabilistisches Modell, nach dem jeder Befragte i (i E 1,2... n) mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit von Pti auf Frage 1 mit ja antworten wird. Das Verhältnis von positiven zu negativen Antworten bei i sei .\ ti:

(1)

pli läßt sich demnach auch wie folgt ausdrücken: (2) Das Grundpostulat des Rasch-Modells besagt, daß die individuelle Antworttendenz von der Schwierigkeit der Frage ( a:1 ), die für alle Befragten gleich ist, und der latenten Einstellung des Befragten(~;; i} abhängt. Diese beiden Einflußfaktoren sind voneinander unabhängig, so daß sich das Grundpostulat wie folgt ausdrücken läßt:

'X. 1I.

= a Jl,jt:

(3)

Wollen wir also die Anhängerschaft der Antikemkraftbewegung erfassen, so unterstellen wir, daß jeder Befragte auf dem Kontinuum von absoluter Nichtanhängerschaft bis zu hundertprozentiger Anhängerschaft eine bestimmte Position hat, die aber latent ist und sich nicht direkt beobachten läßt. Dies sei seine latente Einstellung oder Disposition t;;i, Ob er auf eine bestimmte Frage zur Erfassung der Anhängerschaft mit ja antwortet, hängt aber auch von der Frage und nicht nur von der latenten Einstellung ab. Fragen wir z.B. danach, ob i an Versammlungen und Demonstrationen der Bewegung teilnimmt, so ist diese Frage schwieriger in dem Sinn, daß tatsächliche Aktivitl!t mehr Engagement verlangt als einfache Selbstdefinition als Anhänger. Wir bezeichnen diese Schwierigkeit der Frage 1 mit a:l. Da in der Umfrageforschung die a:'s nicht geeicht sind, sind die Antwortverteilungen auf einzelne Fragen nicht sehr aussagekräftig.

30 Vgl. Charles F. Turner/Elizabeth Martin (Hrsg.),SUiveyingSubjective Phenomena, Bd. 1, New York: Russen Sage Foundation 1984, S. 210-229.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

157

Nach dem Grundpostulat (3) ist der Schwierigkeitsgrad der Frage für alle Befragten gleich. Unterschiedlich sind nur die Werte auf der latenten Variablen F; i.Wenn jeder Befragte eine bestimmte Frage anders auffassen würde, wäre keine Messung möglich. Duncan hat dieses Modell auf Panelbefragungen übertragen 31 • In diesem Fall haben wir es nicht mit mehreren Fragen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrades zu tun, sondern mit einer Frage, die zu mehreren Zeitpunkten gestellt wird. Trotzdem kann die Schwierigkeit einer Ja-Antwort verschieden sein. So kann man annehmen, daß es unmittelbar nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl "leichter" gewesen ist, sich als Anhänger der Antikernkraftbewegung auszugeben als ein Jahr später. Man könnte sogar überspitzt annehmen, daß die Antworttendenz auf diese Frage nur von der augenblicklichen Stimmungslage der Öffentlichkeit abhängt und überhaupt keinen Rückschluß auf die zugrundeliegende Einstellung erlaubt. Duncan interpretiert diesen Stimmungsfaktor ä Ia Durkheim als "repr~entation collective". Jeder Befragte hat eine bestimmte Tendenz, diesen Stimmungsfaktor im Interview zum Ausdruck zu bringen. Diese Tendenz hat aber nichts mit seiner latenten Einstellung zu tun, die wir als für alle konstant gleich 1 setzen können.

(H2) Dies sei unsere Hypothese 2. Sollte sie stimmen, wäre unsere Frage nach der Selbstidentifikation nicht geeignet, die latente Bewegungsanhängerschaft zu erfassen. Es könnte natürlich sein, daß sich die o:'s für die drei Zeitpunkte des Wahlpanels gar nicht signifikant unterscheiden, daß also der Stimmungsfaktor zugunsten der neuen sozialen Bewegungen während des Wahlkampfs konstant geblieben ist: Pt

= Pz =P3 =o: I (l + o:)

(H 1)

Eine weitere Alternative wäre, daß der Stimmungsfaktor mit o: = 1 als konstant angenommen wird, so daß die Antworttendenz nur von der latenten Einstellung abhängt. Dies sei unsere Hypothese (H3). (H3) In dieser Hypothese wird zum ersten Mal eine individuelle Antworttendenz postuliert. Dies entspricht dem normalen Rasch- Modell. In unserem Fall einer einzigen dreimal gestellten Frage an jeden Befragten sind nur sehr spärliche Informationen zur Schätzung dieser individuellen Antworttendenz vorhanden. Es ist nur bekannt, ob sich jemand dreimal, zweimal, einmal oder keinmal als Anhänger einer Bewegung zu erkennen gegeben hat. Auf der Basis dieser sparliehen Information müssen wir die "individuelle" Antworttendenz im Rahmen einer log-linearen Analyse für Häufigkeitsverteilungen schätzen. 31 Vgl. Otis Dudley Duncan, Some Models of Response Uncertainty for Panel Analysis, in: Social Science Research, 14, 1985, S. 126-141.

Pranz Urban Pappi

158

Die Häufigkeiten liegen für die verschiedenen Antwortmuster vor, die sich aus der Kombination von Ja- und Nein-Antworten ergeben. Das sind insgesamt 23 = 8 Antwortmuster. Greifen wir den Fall einer dreimaligen Ja-Antwort heraus, so ergibt sich die individuelle Wahrscheinlichkeit für einen Angehörigen dieser Gruppe nach Formel (4). pl23i = plip2ip3i =

3

~i /[1 + ~)

3

(4)

Der Nenner des rechten Ausdrucks bleibt gleich, unabhängig davon, welche Antwortmuster wir betrachten. Greifen wir das Antwortmuster "110" heraus als Anhängerschaft im September 1986 und im Januar 1987 und Nichtanhängerschaft im Februar 1987, so lautet die Formel für die Berechnung der entsprechenden individuellen Wahrscheinlichkeit wie folgt:

(5) Duncan wählt die Konvention, den Nenner des Ausdrucks in der Parametrisierung nach dem Rasch-Model mitt. i zu bezeichnen, in unserem Fall also:

~~ = (l + ~i)

3

(6)

Damit können wir Formel (4) alternativwir folgt schreiben:

P123i

= ~ i3 /~.I

(7)

Aus den individuellen Antwortwahrscheinlichkeiten bilden wir nun die Häufigkeiten, indem wir für jedes Antwortmuster die individuellen Wahrscheinlichkeiten aufaddieren. Duncan betrachtet die individuellen Antworttendenzen in einer Zelle der 23-Tabelle als die erwartete Häufigkeit einer Stichprobe der Größe 1, so daß sich die erwarteten Häufigkeiten für alle Befragten als entsprechende Summe schreiben lassen.

F123

3

n

= .~ ~ · I ~i I=l

I

(8)

Der komplexe Summenausdruck kann als neue kategoriale VariableS mit dem Index s eingeführt werden; s nimmt für H 3 die vier Werte 0, 1, 2, 3 an, je nachdem, wie häufig jemand auf die Anhängerschaftsfrage mit ja antwortet. Diese neue Variable ist wie folgt auf das ursprüngliche Rasch-Modell bezogen: (9)

Wenn Modell 3 die Daten richtig voraussagt, könnten wir zur Erfassung der latenten Einstellung einen entsprechenden einfachen Index mit den Werten von 0 bis 3 bilden. Die Antworten zu jedem Befragungszeitpunkt wären gleich schwierig oder gleich leicht.

159

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

Wenn also jemand nur einmal auf die Frage mit ja geantwortet hat, spielt es keine Rolle, wann dies gewesen ist. Wir wissen aber bereits, daß die Bewegungsanhängerschaft vom September 1986 bis zum Februar 1987 abgenommen hat. Gleichzeitig vermuten wir, daß unsere Fragen nicht nur die allgemeine Stimmungslage der Öffentlichkeit messen, sondern auch geeignet sind, Anhängerschaft als Disposition der Individuen zu erfassen. Wir erwarten also, daß das volle Rasch- Modell notwendig ist, um unsere Daten voraussagen zu können. Dies sei unsere Hypothese H4 mit folgenden Einzelgleichungen:

Pli = a 1~/0 + al~t); 1

= a 3 ~/0

+ a3~t);

(H 4-1)

p3i

= 1/(l

+ a3~t]

(H4-2)

- p3i

= 1/(l

+ a3~)

(H 4-3)

a2~/(l + a2~t);

p2t p3i

Pli = l!(l + al~)

Nach dieser Hypothese bleibt die latente Einstellung während der ganzen Zeit der Wiederholungsbefragung konstant. Wenn die Prozentsätze der Anhänger zurückgehen, so ist dies allein auf die a;s, also die Stimmungsparameter, zurückzuführen. Da in unserem Fall die zweite und dritte Befragungswelle zeitlich näher beieinanderliegen, wäre es auch denkbar, daß r:x2 = r:x3> daß sich also die Januar- und Februarbefragung nicht mehr im Stimmungsparameter unterscheiden. Dieses Modell sei im folgenden als H4.1 bezeichnet. Antwortmuster für eine dichotome Variable zu drei Zeitpunkten und Parametrisierung eines Rasch-Modells (H5)

Tabelle 4:

Parametriesieruny eines Rasch-Mode ls 1

Antwortmuster t

=1

t

=2

1

f.:jl',;f/t.j

0

F.:

0

1

1 1

1

0

0

0

1

0 0

0

1)

1

F,;j

Kategoriale Variable zur Modell-Schätzung

Su S11

ir,; i I 6 i F,; ir,; tl t. i

S11

t.i

s ••

I t.i

Sto

0

r,;jl llj

Sot

0

1

r,;jl l>j

s.,

0

0

1

I t.t

Soo

r,;j I F,;j

sei latente Einstellung für t

und t = 3. t.i = ( 1 + (j)

(

1 + r,;i )'

1,

l',;j sei latente Einstellung für t

=2

160

Pranz Urban Pappi

Wenn die Wahrscheinlichkeit einer positiven Antwort im Zeitablauf zurOckgeht, so kann dies aber auch Ausdruck einer geänderten individuellen Einstellung sein. Sei die latente Einstellung zum ersten Befragungszeitpunkt ~ i und zum zweiten und dritten Befragungszeitpunktl; i und sei o:1 = 1, so daß die Stimmungsparameter keine Rolle spielen, dann können die Gleichungen H4-1 bis H4-3 entsprechend variiert werden, um Modell H5 zu berechnen. In Tabelle 4 sind die Formeln für die 23-Antwortmuster nach H5 spezifiziert, die sich bei einer Frage mit Ja- (=1) und Nein-Antworten (=0) und drei Befragungszeitpunkten ergeben. Man kann dieses Modell noch durch einen Stimmungsparameter für Januar oder für Februar 1987 ergänzen; dies sei dann Modell H5.1. Ein Freiheitsgrad für einen weiteren Stimmungsparameter ist nicht mehr vorhanden.

3.2 Anwendung der Rasch-Modelle auf die Fragen zur Bewegungsanh!Jngerschaft Wir erwarten, daß die Normalform des Rasch-Modells (H4) die Häufigkeitsverteilungen der acht Antwortmuster für die drei Bewegungen voraussagt. Diese Erwartung bedeutet inhaltlich für jede Bewegung, daß sich die mit unseren Fragen erfaßte latente psychologische Mitgliedschaft während des ganzen Befragungszeitraums nicht geändert bat. Was sieb ändern kann, ist die allgemeine Stimmungslage, die infolge des Wahlkampfs oder aus anderen Granden im Zeitverlauf bewegungsfeindlicher geworden ist. Es wird darüber hinaus interessant sein, festzustellen, wie gut die einfacheren Modelle, die mit weniger Parametern auskommen (Hl bis H3), die Daten anpassen. Die Hauptalternative zu der Hypothese H4 ist die, daß sich infolge des Wahlkampfs oder aus anderen Gründen die latente Anhängerschaft selbst geändert hat (H5), und zwar so, daß die nahe beieinanderliegenden Januar- und Februarbefragungen dieselbe Einstellung erfassen, während dieselbe Frage, im September 1986 gestellt, eine andere latente Einstellung mißt. Diese wird zwar mit der späteren Anhängerschaft korrelieren, aber nicht mit ihr identisch sein. In Tabelle 5 sind die likelihood ratio X2(L2) für die einzelnen Modelle und für jede der drei Bewegungen gegenübergestellt. Dabei zeigt sich zunächst, daß gegenüber Hl (gleicher Prozentsatz an Bewegungsanhängern zu den drei Zeitpunkten) die Einführung der Annahme einer latenten Einstellung (H 3) eine sehr viel bessere Reduzierung von L2 bewirkt als die Einführung der Periodenparameter A, B und C. Trotzdem führt die Berücksichtigung dieser zwei Parametergruppen im Grundmodell H4 nicht zu einer ausreichenden Modellanpassung. Allerdings wird das kritische L2 ~ 3.22 bei zwei Freiheitsgraden und p ~ 0.2 bei der Frauenbewegung nur relativ knapp verfehlt.

161

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

Tabelle 5:

Identifikation mit der Antikernkraft-, der Friedens- und der Frauenbewegung im Wahlpanel: latente Einstellung und allgemeine Stimmungslage

Modell

Geschätzte Effekte8

Hl H2 H3 H4 H4.1 H5 H5.1

j.L,B für F3 = j.Lii1 j.L,A,B,C, für F8 bc = fl.A8 Bbc" Ss E S0 ••• s 3 Ss,B,C Ss,B=C Sxy E S0 ... S5 sxy,B

a)

Freiheits- Antikemkraftgrade bewegung

V

6 4 4 2 3 2 1

588.81 585.11 24.12 17.24 17.69 1.36. 0.81.

Friedensbewegung

V

593.06 590.49 19.33 14.68 15.33 0.87. 0.13.

Frauenbewegung

V

378.06 369.43 19.84 84.64 28.39 4.62 0.47.

p > 0.20 ll = Wert zur Anpassung von n (general mean). Die Exponenten a, b, c sind 1, wenn der entsprechende Effekt vorhanden, und 0, wenn er nicht vorhanden ist. A Effekt für t = 1, B für t = 2, C für t = 3; s = a + b + c.

Die Frauenbewegung unterscheidet sich auch insofern von der Friedens- und Antikernkraftbewegung, als ein Periodenparameter B oder C selbst dann noch notwendig zur Modellanpassung ist, wenn man zwei latente Einstellungen pro Bewegung annimmt (vgl. H5 mit H5.1). Für die Antikernkraft- und Friedensbewegung dagegen bringt ein Periodeneffekt gegenüber H5 keine signifikanten Verbesserungen, so daß wir uns hier für H5 als das beste Modell entscheiden. Aus dieser Entscheidung folgt für die lndexkonstruktion, daß die latente Einstellung für Januar und Februar 1987 durch Aufsummieren der Ja-Antworten gebildet werden kann. Jemand, der sich zweimal als Anhänger der Antikernkraft- bzw. Friedensbewegung zu erkennen gegeben hat, ist ein entschiedenerer Anbanger als jemand, der nur einmal auf die entsprechende Frage mit ja geantwortet hat. Die dritte Gruppe bilden die überzeugten Nichtanbanger, die im Januar und Februar mit nein geantwortet haben. Die Korrelation dieses Index mit der Ja-Nein-Antwort im September beträgt für die Antikemkraftbewegung 'Y = 0.78 und für die Friedensbewegung y = 0.75. Die latenten Einstellungen sind also stark miteinander korreliert. Trotzdem muß man davon ausgehen, daß es sich nicht um dieselbe Einstellung handelt. Wenn wir für die Frauenbewegung denselben Index berechnen und die Korrelation mit der entsprechenden Antwort im September korrelieren, so ist mit Y = 0.86 tatsächlich ein engerer Zusammenhang zu konstatieren. Inhaltlich bedeutet dies, daß die psychologische Mitgliedschaft in der Frauenbewegung über einen längeren Zeitraum hinweg stabil geblieben ist. Bei dieser Bewegung tritt allerdings das Problem auf, daß die Frage für Männer und Frauen nicht dieselbe Bedeutung haben muß. Wir können es nur lösen, wenn die Bewegungsanhlingerschaft in diesem Fall getrennt für Männer und für Frauen untersucht wird. Gegenüber dem einfachen H4-Modell sind folgende Ergänzungen sinnvoll. Zum einen kann man annehmen, daß die Periodeneinflüsse für Männer und

162

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Frauen gleich gewesen sind, daß aber die Verteilung der latenten Einstellung nach Geschlecht verschieden ist. So wissen wir bereits, daß sich erwartungsgernaß mehr Frauen als Manner als Anhangerinnen der Frauenbewegung betrachten. Wir bezeichnen dieses modifizierte H4-Modell als H6.1. Unwahrscheinlicher erscheint die andere Alternative, daß nämlich die Verteilung der latenten Einstellung gleich ist, aber die Periodeneffekte für Manner und Frauen verschieden sind. Das würde bedeuten, daß Frauen anders auf die allgemeine Stimmungslage zugunsten oder zu ungunsten der Frauenbewegung reagieren als Mllnner. Wir werden dieses Modell als H6.2 überprüfen. Sollte es zutreffen, hatte das die unangenehme Konsequenz, daß dieselben Fragen auf Manner und Frauen verschieden wirken und sich deshalb nicht für eine gemeinsame Skalierung der latenten Einstellung eignen. In Tabelle 6 sind die U-Werte für diese Modelle einander gegenübergestellt. Dabei wird der Vollständigkeit halber noch ein Modell H6.3 unterschieden, das sowohl nach Geschlecht unterschiedliche Periodeneffekte zulaßt als auch eine unterschiedliche Zusammensetzung der beiden Gruppen. Modell H6.3 kann zwar die Datenstruktur gut voraussagen, ein Vergleich der U-Werte für H6.2 und H6.1 mit H6.3 zeigt allerdings, daß man auf die unterschiedlichen Periodeneffekte verzichten kann, nicht jedoch auf die Annahme einer unterschiedlichen Verteilung der latenten Einstellung bei Mannern und Frauen. Insofern ist das Modell H6.1 dem Modell H6.3 vorzuziehen. H6.1 entspricht der Logik der Rasch-Skalierung, nach der die Fragen bei verschiedenen Bevölkerungsuntergruppen dieselbe Bedeutung haben, die Bevölkerungsuntergruppen sich aber im Hinblick auf die Verteilung der latenten Einstellung unterscheiden können. Daraus folgt für die Indexkonstruktion bei der Frauenbewegung, daß man am besten einen Index als Summe der Ja-Antworten in allen drei Befragungswellen bildet. Die Auswertungen sollen im folgenden aber in der Regel hier getrennt für Manner und Frauen vorgenommen werden.

Tabelle 6:

Die Identifikation mit der Frauenbewegung bei Mannern und Frauen: latente Einstellung und allgemeine Stimmungslage

Modell

Geschätzte Effekte•

H4 H6 H6.1 H6.2 H6.3

Ss, B, C Ss,B,C,G Ss, B, C, G, G * Ss Ss, B, C, G, B * G, C * G Ss, B, C, G * Ss, B • G, C • G

a)

u

Freiheitsgrade 10 9 6 7 4

33.32 33.10 6.13. 12.71 5.85.

p > 0.20 Bedeutung der Effektes. Tab. 5. G • Ss usw. steht für Interaktionseffekte, G für Geschlecht.

Der Index der Anhangerschaft der Antikemkraftbewegung und der Friedensbewegung ist demnach die Summe der Ja-Antworten auf die Identifikationsfrage im Januar und

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Februar 1987, wahrend der Index der Frauenbewegung die Summe der Ja-Antworten aller drei Befragungswellen mit Werten von 0 bis 3 umfaßt. Die ersten beiden Indizes erfassen ausschließlich die latente Einstellung zu den jeweiligen Bewegungen kurz vor und nach der Bundestagswahl, die latente Identifikation mit der Frauenbewegung basiert auf den Antworten, die gleichzeitig auch von dem Stimmungsparameter a beeinflußt sind. Die Befragten mit dem jeweils höchsten Indexwert stellen somit die konsistenten Anhänger der einzelnen Bewegungen dar. Dies sind bei der Antikemkraftbewegung 12,0 Prozent der Befragten, bei der Friedensbewegung 15,4 Prozent, bei der Frauenbewegung 2,2 Prozent der Männer und 4,3 Prozent der Frauen (vgl. Tabelle 7). Diese konsistenten Anhanger sind nicht völlig identisch mit den aktiven Anhängern, d.h. denen, die auch zu Demonstrationen und Versammlungen gehen. Nur circa ein Viertel der konsistenten Anhänger sind auch aktiv in diesem Sinn, bei den Anhängerinnen der Frauenbewegung sogar nur etwa ein Fünftel (vgl. Tabelle 7). Man kann die Personen, auf die beide Merkmale - sowohl Konsistenz als auch Aktivität - zutreffen, als den harten Kern der jeweiligen Bewegung bezeichnen. Hier erweist sich die Friedensbewegung mit 3,9 Prozent der Befragten ebenfalls als die größte, gefolgt von der Antikemkraftbewegung mit 3,1 Prozent. Zum harten Kern der Frauenbewegung würden dagegen nur 0,6 Prozent der Männer und 0,9 Prozent der Frauen gehören; bezieht man die Befragten, die sich wenigstens zweimal als Anhänger bzw. Anhangerinnen der Frauenbewegung ausgaben, mit ein, so erhöhen sich die Prozentsätze leicht auf 0,9 Prozent für die Manner und 1,2 Prozent für die Frauen. Bei der Bundestagswahl 1987 waren ca. 45 Millionen Personen wahlberechtigt. Bei freier Hochrechnung unserer Prozentsätze ergibt das einen harten Kern von 1,4 Millionen Anhänger der Antikernkraftbewegung, von knapp 1,8 Millionen Anhänger der Friedensbewegung und beinahe 350.000 Anhangern bzw. Anhangerinnen der Frauenbewegung. In der Wählerschaft kommen auf einen Mann 1,15 Frauen, im harten Kern der Frauenbewegung ist dieses Verhältnis 1,72. Die hochgerechneten Zahlen sollen hier nur als Anhaltspunkte für die Einschätzung der mobilisierungsfähigen Kerngruppen der einzelnen Gruppen dienen. Ob es zur Mobilisierung kommt, hangt von der aktuellen Politisierung der Forderungen der Bewegungen ab, denen wir uns im nächsten Abschnitt zuwenden.

164

Franz Urban Pappi

Tabelle Z·

Indizes der Anhängerschaft neuer sozialer Bewegungen und Teilnahme/Nichtteilnahme an Demonstrationen und Versammlungen: Insgesamtprozente

1. Antikemkraftbewegung Summe der Ja-Antworten im Januar u. Februar 1987 0 1 2

Anhängerschaft im Februar 1987 Nein passiv aktiv 73.7 7.5 81.2

2.Friedensbewegung Summe der Ja-Antworten im Januar u. Februar 1987 0 1 2

0 1 2

67.0 9.3

86.9 6.8 0.8

94.5

0 1 2 3

14.9

3.9

7.4 11.5

0.9 3.9

18.9

4.8

Anhängerschaft im Februar 1987 Nein passiv aktiv

3

4. Frauenbewegung: Frauen Summe der Ja-Antworten im September 1986 und Januar und Februar 1987

0.8 3.1

Anhängerschaft im Februar 1987 Nein passiv aktiv

76.3 3. Frauenbewegung: Männer Summe der Ja-Antworten im September 1986 u. Januar und Februar 1987

5.9 9.0

1.4 1.4 1.5

0.3 0.3 0.6

4.3

1.2

Anhängerschaft im Februar 1987 nein passiv aktiv

76.5 9.8 3.2

89.5

2.4 3.2 3.3

0.5 0.3 0.9

8.8

1.7

Insgesamt

73.7 14.2 12.0 100% (1306) Insgesamt

67.0 17.6 15.4 100% (1301) Insgesamt

86.9 8.5 2.5 2.2 100% (650) Insgesamt

76.5 12.6 6.6 4.3 100% (633)

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

165

4. Die politischen Ziele der neuen sozialen Bewegungen

Die Zieldimension ist eine der drei zentralen Dimensionen des sozialwissenschaftliehen Bewegungsbegriffs. Als gemeinsamer Nenner der Ziele von Bewegungen wird oft das Anstreben grundsätzlichen sozialen Wandels32 oder zumindest von Teilreformen33 angenommen. Je höher die Abstraktionsebene der Analyse, desto besser läßt sich von den Forderungen der Tagespolitik auf zugrundeliegende Ziele größerer Reichweite schließen, die beispielsweise "radikal- bzw. direktdemokratische Ansprüche, das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, ... die Ablehnung von Bürokratie und von außen gesteuerter Verbindlichkeit"34 sowie egalitäre Ansprüche beinhalten. Bei unserem Einstieg in die Problematik spielen jedoch die konkreten Forderungen der Bewegungen die entscheidende Rolle. Mit diesen Forderungen müssen sich die etablierten Parteien im Wahlkampf auseinandersetzen, und sie bieten den Einzelbewegungen, aus denen wir den Bewegungssektor additiv zusammensetzen, Mobilisierungschancen, die über den harten Kern der Bewegungsanhänger jeweils hinausreichen. Ungeachtet möglicher Globalziele größerer Reichweite, die die einzelnen Bewegungen gemeinsam haben, wählen wir zunächst konkrete politische Streitfragen aus, die zur Kernthematik der Einzelbewegungen zählen. Wir können dann in einem separaten Schritt im nächsten Abschnitt untersuchen, ob die Einstellungen zu den konkreten Forderungen der Einzelbewegungen zu einer latenten Grundorientierung gehören, die allen Komponenten des Sektors der neuen sozialen Bewegungen gemeinsam ist. In diesem Abschnitt werden die ausgewählten Streitfragen vorgestellt. Außerdem überprüfen wir, wie eng die Beziehung zwischen den Einstellungen und der Anhängerschaft ist, die wir einmal mit dem Index der subjektiven Mitgliedschaft und einmal mit der Aktivitätsdimension erfassen. Je enger diese Beziehung ist, desto größer ist die politische Mobilisierung. Durch letztere lernen die Anhänger, die politischen Forderungen der Bewegungen als eigene politische Ziele zu übernehmen. Die Ziele der hier interessierenden Bewegungen sind in einem separaten Schritt mit einer qualitativen Inhaltsanalyse von Flugblättern - vornehmlich aus dem Kieler Bewegungssektor - identifiziert wordenJs. Innerhalb einer einzelnen Bewegung können sehr viele verschiedene Gruppen tätig sein, die auch in ihren konkreten Zielsetzungen Unterschiede aufweisen. Eine repräsentative Zielauswahl stößt deswegen auf große Schwierigkeiten. Ein anderer Faktor, der die Auswahl beeinflußt, ist die zeitliche Begrenzung, weil je nach Ereignissen in dieser Periode unterschiedliche Thematisierungen auftreten können. Für die Antikemkraftbewegung hatte die Politisierung nach dem Unfall in Tschernobyl im Apri11986 eine Zuspitzung aufnur eine Forderung zur Folge: die Forderung nach

32 33 34 35

Vgl. Raschke, Soziale Bewegungen (Anm. 2). V gl. Heberle, Hauptprobleme (Anm. 5). Stöss, Mythos (Anm. 16), S. 551. Vgl. Pranz Urban Pappi/Michael Zwick, "Zielsetzungen neuer sozialer Bewegungen in der Bundesrepublik", Institut für Soziologie der Universität Kiel, unveröffentl. Ms. 1986.

166

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sofortigem Ausstieg aus der Kernenergienutzung. Wir haben deswegen dieses Ziel gewählt. Eine ähnliche Zuspitzung auf eine Forderung war für die Friedensbewegung nach dem NATO-Doppelbeschluß zur Nachrüstung zu konstatieren, nämlich auf sie zu verzichten. Nachdem die Nachrüstung in der Bundesrepublik vollzogen war, konnte man wieder eine breitere Auffächerung der Zielsetzungen der verschiedenen Gruppen innerhalb der Friedensbewegung beobachten. Gefordert wurde im Frühjahr 1986 z.B. die Einstellung von Rüstungsexporten, auch auf Kosten von Arbeitsplätzen, der Austritt aus der NATO und die Kündigung aller Verträge, die die Bundesrepublik zur militärischen Unterstützung verpflichten, ferner der einseitige Abbau von Atomwaffen und die Erleichterung der Wehrdienstverweigerung. Wir haben uns schließlich für die Forderung nach einseitiger Abrüstung des Westens als Bewegungsziel der Friedensbewegung entschieden. Die Ziele der Frauenbewegung sind zwar relativ breit gefächert, doch lassen sich einige wenige zentrale Bereiche aufführen. So hat die Neuregelung der Möglichkeit zum legalen Schwangerschaftsabbruch in der Bundesrepublik Mitte der siebziger Jahre nicht zu einer Lösung geführt, die für die meisten Gruppen der Frauenbewegung befriedigend wäre; die "Autonomie über den eigenen Körper" gilt vielen noch nicht als erreicht. Eine weitere konkrete Forderung ist die Kriminalisierung sexueller Gewalt in der Ehe. Daneben gibt es ein breites Spektrum von Forderungen, die die Stellung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt verbessern sollen, sei es, daß man die Quotierung von Arbeitsplätzen auf allen Berufs- und Einkommensebenen anstrebt, sei es, daß man sich für den Ausbau familienergänzender Dienste und Einrichtungen wie Kindergärten, Ganztagschulen usw. einsetzt. Wir haben uns wegen der von jeher großen Bedeutung der Abtreibungsfrage auch für die etablierten Parteien für diese Streitfrage entschieden und zusätzlich noch das Ziel einer Bevorzugung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt aufgenommen, das im Kern auf die Quotierungsforderung hinausläuft. Bei der Operationalisierung dieser Zielfragen sind wir so vorgegangen, daß das jeweilige Bewegungsziel als der eine Endpunkt einer abgestuften Skala formuliert wurde, auf deren anderen Endpunkt wir eine Gegenforderung stellten. Es werden also Entscheidungsalternativen mit benannten Endpunkten (1 und 7) und unbenannten Zwischenstufen (2 bis 6) vorgegeben. Auf dieser Intervallskala sollte der Befragte seine eigene Position durch die Wahl einer entsprechenden Ziffer angeben. Dieses Fragenformat der "self-anchoring issue scale" hat den Vorteil, daß es auch für die Überprüfung räumlicher Modelle der Parteienkonkurrenz eingesetzt werden kann. Bei der Anwendung in unserem Fall ist es wichtig, daß die eine Extremforderung mit dem Ziel einer Bewegung identisch sein muß. Die entsprechenden Formulierungen sind den folgenden Tabellen zu entnehmen.

167

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

Tabelle 8:

Die Einstellung zur Kernenergie nach dem Index der Anhängerschaft und der Aktivität in der Antikemkraftbewegung

a. Index der Anhängerschaft 0 2 1 % % %

Einstellung zur Kernenergie im Februar 1987•

Insgesamt %

Weiterer Ausbau der Kernenergie: 1-3

31.3

11.3

2.5

25.0

Unentschieden:

4 5 6

35.2 15.8 11.1

17.7 22.0 26.3

5.1 12.1 30.6

29.0 16.3 15.7

7

6.5

22.6

49.7

14.0

953

186

157

1296

Sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke N

r = 0.461 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

Einstellung zur Kernenergie im Februar 1987•

b. Anhängerschaft im Februar 1987 nein passiv aktiv insgesamt % % % %

Weiterer Ausbau der Kernenergie: 1-3

30.0

3.5

2.0

25.0

Unentschieden:

4 5 6

34.0 16.3 12.5

8.8 19.6 29.4

3.9 2.0 29.4

29.1 16.2 15.6

7

7.1

38.7

62.7

14.1

1052

194

51

1301

Sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke N

r a)

= 0.441 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

Bewegungsziel 7: "Sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke". Alternativziel I: "Weiterer Ausbau der Kernenergie".

Im Februar 1987 sprachen sich 14 Prozent der Befragten für eine sofortige Abschaltung aller Kernkraftwerke aus, teilten also das von uns ausgewählte Bewegungsziel der Antikernkraftbewegung. Die Mobilisierung der Antikemkraftbewegung war auch neun Monate nach Tschernobyl noch hoch, was aus der hohen Übereinstimmung zwischen Anhängerschaft bzw. Aktivität und Einstellung zum Bewegungsziel herausgelesen werden kann. Wir messen diese Übereinstimmung pauschal mit dem Korrelationskoeffizienten r, ohne auf die Einzelheiten der Prozentverteilungen einzugehen.

168

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Tabelle 9:

Die Einstellung zur Abrüstung nach dem Index der Anhängerschaft und der Aktivität in der Friedensbewegung

Einstellung zur Abrüstung im Februar 1987"

Militärische Überlegenheit des Westens:

a. Index der Anhängerschaft 0 1 2 % % %

Insgesamt %

1-3

40.0

23.2

13.0

32.7

Unentschieden:

4 5 6

36.8 9.8 7.7

36.7 11.8 11.4

26.5 18.5 20.5

35.2 11.5 10.4

Einseitige Abrüstung

7

5.7

17.0

21.5

10.2

229

200

1285

N 856 r = 0.309 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

Einstellung zur Abrüstung im Februar 1987"

Militärische Überlegenheit des Westens:

b. Anhängerschaft im Februar 1987 nein passiv aktiv insgesamt % % % %

1-3

38.4

17.2

6.4

32.7

Unentschieden:

4 5 6

37.0 9.9 7.9

31.4 16.3 18.4

20.6 17.5 19.0

35.1 11.5 10.4

Einseitige Abrüstung

7

6.9

16.7

36.5

10.2

245

63

1286

N 978 r = 0.310 (Einstellung ohne Zusammanfassung)

a)

Bewegungsziel 7: "Der Frieden kann nur gesichert werden, wenn der Westen beginnt, einseitig abzurüsten." Alternativziel1: "Der Frieden kann nur gesichert werden, wenn der Westen dem Osten militärisch überlegen ist."

Für die Friedensbewegung zeigt sich, daß das Bewegungsziel der einseitigen Abrüstung insgesamt nur von zehn Prozent der Befragten unterstützt wird im Vergleich zu den 14 Prozent Unterstützung für das Bewegungsziel der Antikernkraftbewegung. Solche Unterschiede in den Prozenten sollen hier nicht überinterpretiert werden. Wie viele Befragte sich jeweils mit einem Bewegungsziel identifiZieren, hängt auch davon ab, welche Frageformulierung und welches Alternativziel gewahlt wurde. Aussagekrllftiger ist auch hier der Zusammenhang zwischen Zielpraferenz und Anhangerschaft. Wenn dieser Zusam-

169

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

menhang mit dem Koeffizienten von r= 0.31 geringer ist als die entsprechende Korrelation im Falle der Antikernkraftbewegung, so ist dies ein deutlicher Hinweis auf die geringere Mobilisierung der Friedensbewegung zum Zeitpunkt der letzten BundestagswahL Andererseits gilt auch in diesem Fall, daß die Aktivitätsdimension und der Index der Anhängerschaft genau gleich stark mit der Zielpräferenz korrelieren. Tabelle 10:

Die Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch bei Männern und Frauen nach dem Index der Anhängerschaft und der Aktivität in der Frauenbewegung

1. Männer Einstellung zum Schwanger schaftsabbruch" Unter Strafe stellen: 1-3 Unentschieden: 4 5 6 Der Frau überlassen: 7

0 %

a. Index der Anhängerschaft 1 2 % %

30.7 21.2 11.5 12.9 23.7

18.8 12.5 25.0

18.1 18.2 27.3 12.7 23.6

556 55 N r = 0.118 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

3 %

insgesamt %

7.1 14.3

43.8

42.9 35.7

28.7 20.6 12.9 13.3 24.5

16

14

641

Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch a

b. Anhängerschaft im Februar 1987 nein passiv aktiv insgesamt % % % %

Unter Strafe stellen: 1-3 Unentschieden: 4 5 6 Der Frau überlassen: 7

29.1 21.2 12.6 12.6 24.4

7.1 10.7 25.0 21.4 35.7

N 618 28 r = 0.098 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

22.2 22.2 22.2 33.3

28.1 20.8 12.8 13.0 25.2

9

662

170

Franz Urban Pappi

2. Frauen Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch"

Unter Strafe stellen: 1-3 Unentschieden: 4 5 6 Der Frau überlassen: 7

0 %

a. Index der Anhängerschaft 1 2 % % 23.8 11.3 8.8 13.8 42.5

32.1 15.4 9.4 14.0 29.2

480 80 r = 0.170 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

N

Einstellung zum SchwangerSchaftsabbruch•

Unter Strafe stellen: 1-3 Unentschieden: 4 5

6 Der Frau überlassen: 7

a)

insgesamt

11.9 11.9 19.0 23.8 33.3

3.7 18.5 11.1 14.8 51.9

28.4 14.8 10.0 14.6 32.1

42

27

629

%

b. Anhängerschaft im Februar 1987 nein passiv aktiv insgesamt % % % % 30.9 14.8 9.5 14.3 30.4

10.6 14.0 15.8 15.8 43.9

566 57 r = 0.157 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

N

3 %

8.3 16.7 16.7 58.3

28.7 14.6 10.2 14.5 32.1

12

636

Bewegungsziel7:

"Es sollte in jedem Fall der Frau überlassen werden, ob sie die Schwangerschaft abbrechen will oder nicht."

Alternativziel 1:

"Der Staat sollte Schwangerschaftsabbrüche generell unter Strafe stellen."

Würde man sich allein an der Unterstützung eines Bewegungsziels in der Öffentlichkeit orientieren, dann hatte die Frauenbewegung die meiste Unterstützung. 25 Prozent der Manner und 32 Prozent der Frauen sind der Meinung, daß man es in jedem Fall der Frau überlassen sollte, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen wolle oder nicht. Allerdings sagt die Unterstützung des Bewegungsziels gerade in diesem Fall nur sehr wenig darüber aus, ob man sich auch der Frauenbewegung zugehörig fühlt. Die Korrelationen zwischen der Zielpräferenz und der Anhängerschaft betragen bei Mannern ca. r = 0.11 und bei Frauen ca. r = 0.17. Von allen drei untersuchten Bewegungen weist die Frauenbewegung also die geringste Mobilisierung auf. Erwartungsgernaß ist die Mobilisierung aber bei Frauen etwas höher als bei Mannern. Daß das Bewegungsziel stark unterstützt wird, ist Ausdruck eines allgemeinen Einstellungswandels in dieser Frage und nicht nur auf Mobilisierungserfolge der Frauenbewegung zurückzuführen. Wenn es in dieser Frage zu einem Einstellungswechsel kam, so ist das auch auf die Politik der SPD und der F.D.P. zu einer Zeit zurückzuführen, als die neuen sozialen Bewegungen insgesamt noch eine geringere Rolle spielten.

171

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

Tabelle 11:

Die Einstellung zur Gleichberechtigung der Frau im Berufsleben bei Männern und Frauen nach dem Index der Anhängerschaft und der Aktivität in der Frauenbewegung

1. Männer Einstellung zur Gleichberechtigung"

Gleichbehandlung:

V nentschieden Bevorzugung der Frauen:

a. Index der Anhängerschaft 2 0 1

%

%

%

%

3

insgesamt

5-7 4 3 2

77.9 15.9 2.9 1.3

72.7 20.0 5.5 1.8

75.0 6.3 12.5 6.3

50.0 7.1 28.6

76.8 15.9 3.9 1.4

1

2.0

14.3

2.0

14

643

N 558 55 r = 0.109 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

Einstellung zur Gleichberechtigung"

Gleichbehandlung: Unentschieden: Bevorzugung der Frauen:

16

%

b. Anhängerschaft im Februar 1987 nein passiv aktiv insgesamt

%

%

%

%

5-7 4 3 2

77.4 16.1 3.4 1.3

71.4 10.7 10.7 3.6

44.4 11.1 22.2 11.1

76.4 16.0 3.9 1.7

1

1.8

3.6

11.1

2.0

N 620 28 r = 0.117 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

9

664

2. Frauen

Einstellung zur Gleichberechtigung•

Gleichbehandlung: Unentschieden: Bevorzugung der Frauen:

N

a. Index der Anhängerschaft 2 0 1

%

%

%

%

3

insgesamt

5-7 4 3 2

71.1 18.5 4.4 2.9

71.4 11.3 7.5 3.8

69.1 16.7 7.1 4.8

48.1 18.5 18.5 11.1

69.9 17.5 5.6 3.5

1

3.1

6.3

2.4

3.7

3.5

42

27

629

480 80 r = 0.105 (Einstellung ohne Zusammenfassung)

%

172

Franz Urban Pappi

Einstellung zur Gleichberechtigung")

Gleichbehandlung: Unentschieden: Bevorzugung der Frauen:

b. Anhängerschaft im Februar 1987 aktiv nein passiv insgesamt % % % % 5-7 4 3 2

71.4 17.8 4.8 2.8

63.1 10.5 15.8 7.0

25.0 33.3 16.7

69.9 17.5 5.7 3.5

1

3.2

3.5

25.0

3.6

12

636

566 57 N r = 0.173 (Einstellung ohne Zusammenfassung) a)

Bewegungszie17: Altemativziel1:

"Es muß vorübergehend perGesetzsichergestellt werden, daß Frauen bei Einstellungen bevorzugt werden." "Per Gesetz soll nur sichergestellt werden, daß Männer und Frauen bei Einstellungen gleichberechtigt sind."

Wie ist die Situation im Hinblick auf eine Quotenregelung zugunsten der Frauen bei der Besetzung von Arbeitsstellen? Diese Frage wird erst neuerdings diskutiert und ist im politischen Raum vor allem von den Grünen aufgegriffen worden. Wir haben als Bewegungsziel formuliert: "Es muß vorübergehend per Gesetz sichergestellt werden, daß Frauen bei Einstellungen bevorzugt werden." Als Alternativziel ki!me hier rein logisch in Betracht, daß man sich für eine Bevorzugung der Mi!nner ausspricht. Allerdings wird diese Forderung heute von niemand öffentlich erhoben. Wir haben deswegen als Alternativziel die liberale Position der Chancengleichheit formuliert: "Per Gesetz soll nur sichergestellt werden, daß Mi!nner und Frauen bei Einstellungen gleichberechtigt sind." Diese Alternative entspricht weitgehend dem normativen Selbstversti!ndnis unserer Gesellschaft. Drei Viertel der Mi!nner sprechen sich für eine Gleichbehandlung aus und 70 Prozent der Frauen. Das Bewegungsziel, Frauen bei Einstellungen zu bevorzugen, wird nur von zwei Prozent der Mi!nner und knapp vier Prozent der Frauen geteilt. Trotz dieser ganz anderen Ausgangslage im Vergleich zur Frage des Schwangerschaftsabbruchs sind die Korrelationen zwischen Zielpri!ferenz und Anhi!ngerschaft in beiden Fi!llen etwa gleich. In dieser Frage zeigt sich aber zum ersten Mal insofern ein Unterschied zu den anderen Zielen, als für die Frauen die Korrelation der Zielpri!ferenz mit der Aktiviti!tsdimension höher ist als die mit dem Index der Anhi!ngerschaft (r = 0.17 im Vergleich zu r = 0.11 bei den Frauen). Daraus kann man schließen, daß bei Bewegungen, die im eigentlichen Sinn noch vor der Mobilisierungsphase stehen, die aktiven Anhi!nger den eigentlichen Kern der Bewegung ausmachen. Erst wenn die Mobilisierung erste Erfolge erzielt hat, sind auch die subjektiven Mitglieder der Bewegung sti!rker von den Bewegungszielen überzeugt. Der Index der Bewegungsanhi!ngerschaft hat sich nach den Ergebnissen der Analyse dieses Abschnitts als gültiger Indikator der subjektiven Mitgliedschaft in den Bewegun-

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

173

gen erwiesen. Der unterschiedliche Grad der Übereinstimmung zwischen dem Index und der Präferenz für ein Bewegungsziel wird als Indikator für die Mobilisierung der Bewegung zum Zeitpunkt der Befragung verstanden. Danach hatte die Antikemkraftbewegung Anfang des Jahres 1987 eine höhere Mobilisierung erreicht als die Friedensbewegung. Die Frauenbewegung folgt auf der Mobilisierungsdimension erst in deutlichem Abstand. Ein exakter Vergleich unseres Index der Anhängerschaft mit der Aktivitätsdimension wäre nur möglich, wenn wir auch die Aktivität zumindest zu zwei Zeitpunkten erfaßt hätten. Es gilt auch hier, daß eine einmalige Frage nach dem Besuch von Demonstrationen und Versammlungen einen größeren Fehler enthält als eine wiederholte Messung. Wenn wir also die einfache subjektive Mitgliedschaft mit der aktiven Anhängerschaft exakt vergleichen wollten, müßten die Meßvoraussetzungen aller Variablen gleich sein. Dann mag sich generell zeigen, daß man mit der Aktivität einen härteren Kern der Bewegung erfaßt als mit der einfachen Frage nach der subjektiven Mitgliedschaft. Wir wollen dies bei der Auswertung im nächsten Abschnitt berücksichtigen, bei der wir uns für die Frage interessieren, wie stark die Überlappung der Anhänger der einzelnen Bewegungen ist. Damit soll die Frage beantwortet werden, inwiefern man von einer neuen sozialen Bewegung sprechen kann oder inwieweit die Einzelbewegungen doch ganz verschiedene Teile der Bevölkerung mobilisieren.

5. Die neuen sozialen Bewegungen als Einheit?

Das Gemeinsame der neuen sozialen Bewegungen wird oft im Organisatorischen gesehen. Nach der bereits zitierten Charakteristik von Raschke ist eine lockere Organisationsform und die Vernetzung der Teilbewegungen bei großer Zielvielfalt typisch. Damit Ulßt sich leicht ein Gegensatz zu den etablierten Interessengruppen konstruieren, die Einheit der neuen sozialen Bewegungen wird so allerdings mehr negativ bestimmt. Als gemeinsame positive Charakerisierung findet sich oft die Betonung umwelt- und sozialverträglicher Lebensweisen durch verschiedene neue soziale Bewegungen36• So gesehen kann man noch am ehesten an eine Einheit von Antikernkraft- und Friedensbewegung denken, während Feministinnen als Teil einer Emanzipationsbewegung noch ganz andere Inhalte vertreten, die mit den allgemeinsten Zielen der Friedens- und Antikernkraftbewegung nicht zusammenhängen müssen. Wir überprüfen die Einheit der neuen sozialen Bewegungen auf der Ebene der Anhänger und nicht auf der Ebene der Bewegungsführer und ihrer möglichen Formen der Zusammenarbeit oder auch der rein kulturell-symbolischen Ebene der Ideologien oder Bewegungsziele. Zunächst soll geprüft werden, wie stark die Indizes der subjektiven Mitgliedschaft in den drei Bewegungen korrelieren. Dann soll die Überlappung der An-

36 Vgl. Kari-Wemer Brand, Kontinuität und Diskontinuität in den neuen sozialen Bewegungen, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 42.

174

Pranz Urban Pappi

hängerschaften bzw. der aktiven Anhängerschanen direkt untersucht werden, wobei wir methodisch auf die bereits vorgestellten Rasch- Modelle für Umfragedaten zurückgreifen. Schließlich soll unabhängig von der subjektiven Mitgliedschaft geprüft werden, ob sich die Präferenzen für Bewegungsziele auf einen gemeinsamen Einstellungsfaktor zurückführen lassen. Beiall diesen Analysen erwarten wir, daß sich die Frauenbewegung stärker von der Antikernkraft- und der Friedensbewegung unterscheidet als die beiden letzteren Bewegungen untereinander. Deswegen werden die drei Bewegungen auf der Ebene der Anhänger generell kaum als Elemente einer einzelnen neuen sozialen Bewegung auftreten. Wenn man von einer Einheit der drei Bewegungen sprechen kann, dann wahrscheinlich am ehesten für die aktiven Anhänger, die auch Versammlungen und Demonstrationen besuchen. Tabelle 12:

Korrelationen (r) der Indizes der Bewegungsanhängerschaft bei Männern (obere Dreiecksmatrix) und Frauen (untere Dreiecksmatrix)

Friedensbewegung

Frauenbewegung

1.0

0.727

0.397

Friedensbewegung

0.787

1.0

0.468

Frauenbewegung

0.529

0.553

1.0

Antikemkraftbewegung Antikemkraft bewegung

Beginnen wir mit der deskriptiven Information der Korrelationen der Indizes der subjektiven Mitgliedschaft in den drei Bewegungen (vgl. Tabelle 12). Da Frauen sich erwartungsgemäß mehr mit der Frauenbewegung identifizieren als Männer, wurden die Korrelationen getrennt nach Geschlecht berechnet. Der Hypothese entsprechend zeigt sich, daß die Indizes für die Antikernkraft- und die Friedensbewegung tatsächlich stärker zusammenhängen als diese beiden Indizes mit dem für die Frauenbewegung. Da gleichzeitig alle Korrelationen für die Frauen höher sind als die entsprechenden für die Männer, kommen die Frauen der Vorstellung einer einheitlichen neuen sozialen Bewegung etwas näher als die Männer. Eine genaue Überprüfung dieser Vorstellung soll mit dem Rasch-Modell erfolgen. Wir beziehen in diese Überprüfung zum einen die Klassifizierung aller Befragten danach ein, ob sie sich im Februar 1987 als Anhänger der einzelnen Bewegungen bezeichnet haben oder nicht. Zum anderen werden dieselben Befragten nach dem Merkmal der aktiven Anhängerschaft in zwei Gruppen eingeteilt, d.h. in die Gruppe der aktiven Anhänger und die entsprechende Residualgruppe. Für beide Analysen gehen wir von der Vorstellung aus, daß dem Antwortverhalten eine gemeinsame latente Dimension der subjektiven Mitgliedschaft in einer einheitlichen neuen sozialen Bewegung zugrunde liegt. Wenn sich jemand dreimal als Anhänger bezeichnet, hat er eine höhere Ausprägung auf dieser latenten Dimension als wenn er sich

175

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

weniger oft als Anhänger bezeichnet oder sogar keine der drei Identifikationsfragen mit ja beantwortet. Daneben unterscheiden sich die drei Bewegungen im Schwierigkeitsgrad. Eine Ja-Antwort auf die Frage nach der Identifikation mit der Friedensbewegung ist in dem Sinn am leichtesten, daß sich hier mehr Befragte als Anhänger zu erkennen gaben als bei der Antikernkraftbewegung, die an zweiter Stelle der Schwierigkeitsskala folgt, und als bei der Frauenbewegung, mit der sich die wenigsten identifizierten. Das einfachste Modell unterstellt, daß sich Männer und Frauen gleich verhalten (Modell 1 in Tabelle 13). Es kann nun sukzessiv durch Annahmen über das unterschiedliche Antwortverhalten von Mannern und Frauen ergänzt werden. Sollte man z.B. nur noch zusätzlich berücksichtigen, daß Geschlechtsunterschiede lediglich im Schwierigkeitsgrad der Identifikation mit der Frauenbewegung auftreten (Modell 3) oder auch im Schwierigkeitsgrad der einen oder der anderen weiteren Bewegung (Modell 4 bzw. 5)? Muß man annehmen, daß nur die Zusammensetzung von Mannern und Frauen auf der latenten Dimension verschieden ist (Modell 6) oder muß diese Annahme schließlich noch mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden für einzelne Bewegungen ergänzt werden (Modelle 7 und 8)? Die Hypothese für die Gruppierung nach Anhängerschaft und Nichtanhängerschaft lautet, daß keines dieser Modelle den Daten angemessen ist, weil es eben keine gemeinsame latente Dimension gibt. Eine solche Dimension könnte aber bei der Gruppierung in aktive Anhänger versus übrige Befragte vorhanden sein. Tabelle 13:

RaschModell

Frauen- (A), Friedens- (B) und Antikemkraftbewegung (C): Überlappung der Anhänger und der aktiven Anhängerschaften nach Geschlecht (G) im Februar 1987

Geschätzte Effekte•

Ss,B, C Ss,B,C, Ss,A.G,B, C Ss, A.G, B, C, B.G Ss, A.G, B, C, C.G Ss, Ss.G Ss, Ss.G, A.G, B, C Ss, Ss.G, A.G, B, C, B.G

1 2 3 4

5 6 7 8

Freiheitsgrade

10 9 9 8 8 8

5 4

Anhänger/ Nichtanhänger L2 41.92 41.64 31.37 30.27 31.36 286.20 25.69 25.22

Aktive Anhänger/Rest L2 16.63 16.35 16.20 7.67* 14.27 58.70 9.32 5.58*

• p > 0.20 a

Ss E So ... S3, wobei s = a + b + c und a = 1, b = 1, c = 1, wenn Identifikation mit A-, B-, C-Bewegung, sonst 0. A, B, C Schwierigkeitseffekte für entsprechende Bewegung.

Die Anpassung dieser verschiedenen Modelle an die Daten (vgl. Tabelle 13) bestätigt die Vermutung einer einzigen latenten Dimension bei der aktiven Anhängerschaft. Hier erbringt bereits Modell 4 eine ausreichende Anpassung der Daten. Danach verteilen sich

Pranz Urban Pappi

176

Männer und Frauen gleich auf die vier Kategorien der latenten Dimension, verschieden ist nur der Schwierigkeitsgrad des Items Frauenbewegung und des Items Friedensbewegung. Für die weitere Abgrenzung der Anhängerschaft, die sowohl aktive als auch passive Anhänger umfaßt, kann dagegen kein Modell die Daten anpassen. Hier kann also nicht von einer einheitlichen latenten Dimension der Anhängerschaft der neuen sozialen Bewegungen ausgegangen werden. Je näher man dem Kern der Bewegungsaktivisten kommt, um so mehr ist aber die Annahme einer latenten Dimension gerechtfertigt. Die aktiven Anhänger stellen in der Wählerschaft insgesamt eine sehr kleine Gruppe dar. Parteien, die Stimmen maximieren wollen, sollten eher versuchen, die Anhänger im weiteren Sinn anzusprechen, falls sie es nicht ohnehin vorziehen, ihre W!!hler in der größeren Gruppe derjenigen zu suchen, die sich mit keiner der neuen sozialen Bewegungen identifizieren. Die Anhänger im weiteren Sinn unterscheiden sich aber je nach Bewegung, so daß eine gemeinsame Strategie für alle Bewegungen nicht am erfolgversprechendsten ist. Wahrscheinlich ist eine enge Orientierung an den jeweiligen Bewegungszielen aussichtsreicher, die inhaltlich nicht zu einer Fundamentalopposition gegen das etablierte politische System gebündelt zu werden brauchen.

Tabelle 14: a. Korrelationen (r) zwischen den Präferenzen für Bewegungsziele bei M!!nnern (obere Dreiecksmatrix) und Frauen (untere Dreiecksmatrix) Abschaltung Kernkraftwerke Abschaltung Kernkraftwerke Einseitige Abrüstung Freigabe Abtreibung Quotenregelung

Einseitige Abrüstung

Freigabe Abtreibung

Quoten regeJung

0.467 1.0 0.194 0.081

0.172 0.175 1.0 0.113

-0.100 -0.163 0.062 1.0

1.0 0.413 0.202 0.016

b. Faktorladungen der Präferenzen für Bewegungsziele bei Frauen und M!!nnern• Frauen Faktor2 Faktor 1 Abschaltung Kernkraftwerke Einseitige Abrüstung Freigabe Abtreibung Quotenregelung a

0.83 0.79 0.45 0.07

Männer Faktor 2 Faktor 1

-0.09 -0.47

0.87 0.81 0.37

0.92

0.25

0.04

0.04

-0.08 -0.45 0.88

Hauptkomponentenmethode zur Faktorextraktion mit den Eigenwerten 1.58, 1.02, 0.82, 0.58 für Frauen und 1.62, 1.06, 0.79 und 0.53 für Männer. Anschließend Varimax-Rotation für Frauen und Verwendung dieser Lösung als Zielmatrix für Männer.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

177

Daß auch die Präferenzen für die vier von uns unterschiedenen Bewegungsziele nicht auf einen gemeinsamen Einstellungsfaktor zurückgeführt werden können, zeigen die Ergebnisse der Faktorenanalyse. Bei den Korrelationen (vgl. Tabelle 14a) fallt auf, daß bei Mannern die Zielpräferenzen für eine sofortige Abschaltung der Kernkraftwerke und für einseitige Abrüstung sogar leicht negativ mit einer positiven Einstellung zur Quotenregelung korrelieren. Bei den Frauen ergeben sich dagegen durchgängig positive Korrelationen, selbst wenn auch bei ihnen die Korrelationen der positiven Einstellung zur Quotenregelung mit den anderen Zielpräferenzen sehr gering ausfallen. Trotz dieser Unterschiede in den Korrelationen sind die Ergebnisse der Faktorenanalyse für Manner und Frauen sehr ähnlich. Der erste Faktor bringt die Übereinstimmung der Zielpräferenzen für die Bewegungsziele der Antikernkraft- und der Friedensbewegung zum Ausdruck, wahrend der zweite Faktor für die Einstellung zur Quotenregelung nötig ist. Die Einstellung zur völligen Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs weist mittlere Ladungen auf beiden Faktoren auf. Da diese Ladung auf dem zweiten Faktor negativ ist, kann dieser Faktor nicht als Zielpräferenzfaktor der Frauenbewegung bezeichnet werden, sondern als spezieller Faktor der Einstellung zur Quotenregelung, unter Abzug der Einstellungelemente, die auf dem gemeinsamen Bewegungsfaktor laden. Diese Faktorstruktur könnte man mit schiefwinkeliger Rotation sicherlich noch besser untersuchen. Für unsere Zwecke genügt hier aber das Ergebnis, daß die Bewegungsziele der Frauenbewegung sich nicht ohne weiteres in einen gemeinsamen latenten Bewegungsfaktor einordnen lassen.

6. Die ego-zentrierten Netzwerke von Bewegungsanhängern

In der Organisationsdimension weichen die neuen sozialen Bewegungen am eindeutigsten von Organisationen der etablierten Politik ab. Sie versuchen feste Organisationsformen, wie sie vom Vereinsrecht bereitgehalten werden, zu vermeiden. Das hat den Nachteil, daß man nicht wie bei Gewerkschaften oder Parteien einfach nach Mitgliedschaft in diesen Organisationen fragen kann. Wir haben deswegen bisher den Begriff subjektive Mitgliedschaft verwendet, den wir mit der einfachen Frage, ob man sich als Anhänger einer Bewegung betrachtet oder nicht, operationalisiert haben. In diesem Abschnitt soll diese auf den Befragten und seine subjektive Einordnung zielende Vorgeheusweise durch Fragen ergänzt werden, die als Maße einer "objektiven" Mitgliedschaft in neuen sozialen Bewegungen gewertet werden können. Wir setzen mit diesem Versuch die Charakterisierung der Organisationsdimension der neuen sozialen Bewegungen als "Netzwerke von Netzwerken"37 auf unsere Untersuchungsebene eines Bevölkerungsquerschnitts um, in dem sich einzelne als Bewegungsanhanger ausgeben. Wir betrachten diese Anhänger dann als Mitglieder einer Bewegung im sozialen, objektiven Sinn, wenn sie erstens andere Anhänger in ihrem persönlichen 37 Friedhelm Neidhardt, Einige Ideen zu einer allgemeinen Theorie sozialer Bewegungen, in: Stefan Hradil (Hrsg.), Sozialstruktur im Umbruch, Opladen: Leske & Budrich 1985, S. 197.

178

Pranz Urban Pappi

Netzwerk haben und zweitens darüber hinaus weitere Anh!!nger außerhalb ihres persönlichen Netzwerks kennen. Diese Operationalisierung ist einmal durch neuere Arbeiten über den Charakter neuer sozialer Bewegungen gerechtfertigt und zum anderen durch Forschungen über die Rekrutierung und Mobilisierung von Anhängern. Dazu kommt als drittes Element eine konsequente Anwendung des Konzepts der ego-zentrierten oder persönlichen Netzwerke in der Umfrageforschung. Sehr konsequent hat z.B. Melucci 38 den Netzwerkcharakter neuer sozialer Bewegungen in der Organisationsdimension herausgearbeitee9• Die Organisationsdimension lasse sich nicht mit "formalen" Organisationen erschöpfen, sondern müsse auch "das Netzwerk 'informeller' Beziehungen, das zentrale Individuen und Gruppen mit einem breiteren Feld von Teilnehmern verbindet", umfassen 40• Diese Art der Organisation erlaube eine sHirkere Autonomie vom politischen System als bei herkömmlichen Organisationsformen. "The normal situation of today's 'movement' is to be a network of small groups submerged in everyday-life which require a personal involvement in experiencing and practising cultural innovation. They emerge only on specific issues as for instance the big mobilizations for peace, abortion, against nuclear policy etc." 41 • Diese neue Organisationsform werde nicht einfach instrumentell eingesetzt, sondern sei ein Ziel fUr sich selbst, eine symbolische Herausforderung der herrschenden Organisationsformen. Netzwerke sind aber nicht nur programmatischer Ausdruck der Zielsetzungen der neuen sozialen Bewegungen, sondern spielen auch fUr die Rekrutierung von neuen Mitgliedern oder fUr die Mobilisierung von Sympathisanten eine entscheidende Rolle. So konnten Snow et al. 42 fUr amerikanische Bewegungen zeigen, daß vorhandene informelle Beziehungen rein freundschaftlicher Art zu einem Bewegungsanhänger mit größerer Wahrscheinlichkeit zu einer Rekrutierung fUhren als andere Rekrutierungskanäle, z.B. über Massenmedien oder über persönliche Ansprache von vorher unbekannten Personen. In einer holländischen Studie über die Teilnahme an einer großen Demonstration der Friedensbewegung wurde nachgewiesen, daß informelle Rekrutierungsnetzwerke sehr viel effizienter sind als formale Kontakte. Dabei stellte sich übrigens heraus, daß das bekannte Ergebnis von der größeren Bewegungsnähe jüngerer Personen mit höherer Schulbildung nicht fUr die reine Unterstützung von Bewegungszielen gilt, sondern erst fUr den Personenkreis, der über Netzwerke rekrutiert werden kann. "lt is not that more highly educated individuals who are sensitive to political or economic developments create new mobilization potentials butthat these individuals are more connected with the social networks engaged in recruitment." 43 • 38

Alberto Melucci, An End to Social Movements?, in: Social Science Information, 23/1984, H. 4/5, s. 819-835.

39 Vgl. auch Kaase, "Soziale Bewegungen" (Anm. 11). 40 Melucci, An End to Social Movements? (Anm. 37), S. 828 (Übersetzung: der Verf.). 41 Ebd., S. 829. 42 Vgl. David A. Snow et al., Social Networks and Social Movements, in: American Sociological Review, 45/1980, S. 787-801. 43

Bert Klandermans/Dirk Oegema, Potentials, Networks, Motivations, and Barriers, in: American Sociological Review, 52/1987, S. 526.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

179

Diese Untersuchungsergebnisse gelten entweder für die Organisationskerne der neuen Bewegungen oder für die Rekrutierungsfelder im Umkreis aktueller Bewegungsereignisse wie einer Großdemonstration. Wie aber soll man diese Ergebnisse auf die Bedingungen einer nationalen Querschnittsbefragung umsetzen? Hier kann man an die Forschungserfahrungen anknüpfen, die in der Umfrageforschung bisher mit dem Konzept ego-zentrierter persönlicher Netzwerke gemacht worden sind44. So läßt sich der Stellenwert von Anhängern einer bestimmten Bewegung im Netzwerk eines Befragten am besten bestimmen, wenn ein Namensgenerator verwendet wird, der ein affektuell positiv bewertetes Netzwerk ohne politische Bezüge aufspannt. Für die genannten Personen in diesem Netz kann dann erfragt werden, wer Bewegungsanhänger ist und wer nicht. Wir entschieden uns für den Namensgenerator "Diskussion wichtiger Probleme"; der Befragte sollte bis zu fünf Personen durch Angabe der Vornamen aufzählen, mit denen er in den Ietzen sechs Monaten über wichtige Probleme gesprochen hat. Erst in einer weiteren Frage sollte dann für jede genannte Person angegeben werden, ob sie Anhänger der Antikemkraftbewegung ist oder nicht. Die Erfassung weiterer Bewegungen wäre zu aufwendig gewesen, so daß die Analyse der sozialen Mitgliedschaft auf die Antikemkraftbewegung beschränkt werden mußte. Die Unterstützung der eigenen Ansicht durch mindestens eine andere Person im persönlichen Netzwerk egos ist für den Begriff des sozialen Mitglieds noch nicht ausreichend. Kennzeichen der neuen sozialen Bewegungen soll ja gerade die Vernetzung verschiedener Kleingruppen sein. In einer normalen Querschnittsbefragung ließe sich dieser Aspekt nur über ein Schneeballverfahren konsequent umsetzen, das aus praktischen Gründen aber nicht in Frage kam. Deshalb wird als Minimalbedingung der Vernetzung zwischen den persönlichen Netzwerken lediglich gefragt, ob man in seinem weiteren Bekanntenkreis, der über die genannten Personen im persönlichen Netzwerk hinausgeht, Anhänger der Antikemkraftbewegung kenne. Diese Kontakte können als schwache Beziehungen im Sinn von Granovetter4s aufgefaßt werden. Sie sind hier wesentlich, weil ohne diese Beziehungen nach außen die Gefahr besteht, sozial geschlossene Freundeskreise als Teile einer Bewegung zu interpretieren, zu der sozial kein Zugang besteht. Bei der jetzigen Operationalisierung ist diese soziale Zugangschance zumindest im Prinzip gegeben. Wir sind uns darüber im klaren, daß wir damit nicht die Kernnetzwerke der Bewegungen erfassen, sondern nur den ersten Schritt tun in Richtung auf die Kernnetzwerke der neuen sozialen Bewegungen, die man aber erst in weiteren Schritten erreichen würde. Die Auswertung der Netzwerkinformation wird in zwei Schritten vorgenommen. Zuerst soll geprüft werden, wie der Anteil der Antikemkraftanhänger im persönlichen Netzwerk die subjektive Identifikation, gemessen mit dem Index der Anhängerschaft, beeinflußt. Dann soll diese Auswertung getrennt für die Befragten, die außerhalb ihres per-

44 Vgl. Pranz Urban Pappi, Die Netzwerkanalyse aus soziologischer Perspektive, in: ders. (Hrsg.), Methoden der Netzwerkanalyse, München: Oldenbourg 1987, S. 11-37. 45 Vgl. MarkS. Granovetter, The Strengthof Weak Ties, in: American Journal of Sociology, 78/1973, s. 1360-1380.

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Franz Urban Pappi

sönlichen Netzes weitere Anhänger der Antikemkraftbewegung kennen, und für diejenigen, die keine weiteren Anhänger kennen, durchgefilhrt werden. Als abhängige Variable kommt neben dem Index der Allhangerschaft auch die Aktivitätsdimension in Betracht. Auf diese Weise soll überprüft werden, welche Information man am besten filr die Erfassung der sozialen Mitgliedschaft in der Antikemkraftbewegung berücksichtigt, die Unterstützung im persönlichen Netz oder die Verbindung mit Personen außerhalb der primären Umwelt oder beide Informationen, wie ursprünglich beabsichtigt. Die durchschnittliche Netzwerkgröße beträgt 2.46 Personen46, d.h., daß der Durchschnittsbefragte so viele Personen nennt, mit denen er im letzten halben Jahr über wichtige Probleme gesprochen hat. In dieser Durchschnittszahl sind sechs Prozent Befragte enthalten, die überhaupt keinen Gesprächspartner angegeben haben. Wir sind für unsere Analyse nur an einem Netzwerkcharakteristikum interessiert: Wie groß ist der Anteil der Anhänger der Antikemkraftbewegung im persönlichen Netzwerk des Befragten? Wir verwenden den Anteil statt der absoluten Zahl der Anhänger, um von der unterschiedlichen Größe der persönlichen Netzwerke zu abstrahieren. Diese Prozentzahl kann sinnvoll nur filr die Personen im Netz berechnet werden, für die der Befragte wußte, ob sie Kernkraftgegner sind oder nicht. Auf die entsprechende Frage antworteten beim ersten Freund 12 Prozent der Befragten mit ''weiß nicht"; dieser Prozentsatz steigt kontinuierlich mit der Reihenfolge der Nennung bis auf21 Prozent beim fünften Gesprächspartner. Allerdings konnten nur 9 Prozent der Befragen zu keinem der genannten Freunde eine Angabe über deren Kernkraftgegnerschaft machen. Schließt man diese Personen zusammen mit den Befragten, die überhaupt keinen Gesprächspartner nannten, aus der Analyse aus, so verbleibt bei den restlichen 85 Prozent der Befragten ein Netzwerk mit der Durchschnittsgröße von 2.1 Personen, für die gültige Angaben vorliegen. Wir werden in den weiteren Analysen aber die Befragten ohne für unsere Zwecke verwertbare Netzwerkinformation als eigene Kategorien berücksichtigen, weil es immerhin möglich ist, daß gerade Anhänger der Antikemkraftbewegung bewußt als sensitiv empfundene Angaben über ihre Gesprächspartner vermieden. Bezogen auf alle Befragten haben 61 Prozent persönliche Netzwerke ohne einen einzigen Kernkraftgegner, bei fünf Prozent besteht das Netz bis zu zwei Fünftein aus Anhängern der Antikernkraftbewegung, bei sechs Prozent aus der Hälfte bis zu vier Fünftein und bei immerhin 13 Prozent besteht das persönliche Netzwerk ausschließlich aus Kernkraftgegnern. Es ist zu vermuten, daß eine sehr enge Beziehung zwischen dieser Netzwerkzusammensetzung und dem Index der Anhängerschaft besteht.

46 Vgl. zur Beschreibung der persönlichen Netzwerke Pranz Urban Pappi/Christian Melbeck, "Die sozialen Beziehungen städtischer Bevölkerungen•, Institut für Soziologie der Universität Kiel: unveröffentl. Ms. 1987.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

181

Tabelle 15: Antikernkraftbewegung: Netzwerkzusammensetzung und Index der Anhängerschaft

Index (Werte 0 bis 2)

Durchschnitte

Fallzahl

Anteil Antikemkraftanhänger im Netzwerk: 0 0.1 bis 0.5 0.5 bis 1.0 1.0

0.15 0.66 0.95 1.10

791 68 81 167

Angabe zu keinem Freund Überhaupt keineFreundeangegeben

0.38 0.36

118 81

Alle

0.38

1306

Tl

2

= 0.25, nur für die ersten vier Gruppen Tl 2 = 0.31.

Diese Vermutung bestmigt sich voll und ganz, wie die Durchschnittswerte des Index der Bewegungsanhängerschaft nach den einzelnen Kategorien der Netzwerkzusammensetzung zeigen. Befragte in den beiden Restkategorien, die entweder überhaupt keinen Gesprächspartner genannt haben oder zu keinem der genannten Freunde angeben konnten, ob er Bewegungsanhänger ist, entsprechen genau dem Durchschnitt. Es kann also ausgeschlossen werden, daß sich in diesen Kategorien besonders viele Bewegungsanhänger verbergen, die die Netzwerkfragen nicht beantworten wollten. Für die eigene Einstufung fehlen die entsprechenden Werte sowieso nur bei fünfvon den 1311 Befragten. Die hohe Korrelation von h 2 0.25 erhöht sich auf0.31, wenn man die beiden Restkategorien eliminiert. Allerdings ist auch diese enge Beziehung noch nicht perfekt. Etwa ein Drittel der Befragten, die ausschließlich Antikemkraftanhänger in ihrem persönlichen Netz haben, ist selbst kein Anh!lnger dieser Bewegung und ein knappes Fünftel derer, die auf die Anhangerfrage selbst zweimal mit ja geantwortet haben, hat keinen einzigen gleichgesinnten Gesprächspartner unter den Freunden. In der nächsten Auswertungsstufe wird die Frage nach Antikemkraftanhängern im weiteren Freundeskreis mit einbezogen. Hier kann zunächst ein enger Zusammenhang zwischen der Netzwerkzusammensetzung und dem Kennen weiterer Kernkraftgegner konstatiert werden. Nur 13 Prozent der Befragten ohne einen einzigen Kernkraftgegner in ihrem persönlichen Netzwerk kennen Kernkraftgegner außerhalb ihrer primären Umwelt, aber 63 Prozent derer, die mindestens einen Kernkraftgegner unter ihren engeren Gesprächspartnern haben. Interessanterweise wirkt sich aber der Anteil der Bewegungsanhänger im persönlichen Netz jenseits des Wertes 0 nicht weiter positiv auf die Bekanntschaft mit weiteren Bewegungsanhängern aus. Nur einen Kernkraftgegner zum

=

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Pranz Urban Pappi

engeren Gesprächspartner zu haben, ist ausreichend für eine hohe Wahrscheinlichkeit, auch außerhalb des persönlichen Netzwerkes weitere zu kennen.

Tabelle 16: Antikernkraftbewegung: Anhänger im persönlichen Netz und im weiteren Bekanntenkreis in ihrer Wirkung auf den Index der Anhängerschaft beim Befragten a) Anhänger im weiteren Bekanntenkreis: ja

Persönliches Netz: Anteil Anhänger 0 Durchschnitt Index 0.47 Fallzahl (92)

0.1 bis 0.5 0.77 (39)

0.5 bis 1.0 1.08 (53)

1.0 1.39 (85)

Alle 0.92 (269)

0.5 bis 1.0 0.78 (23)

1.0 0.54 (50)

Alle 0.16 (729)

b) Anhänger im weiteren Bekanntenkreis: nein

Persönliches Netz:Anteil Anhänger 0 Durchschnitt Index 0.09 Fallzahl ( 633)

0.1 bis 0.5 0.52 (23)

Wie wirken sich die beiden Merkmale auf den Grad der Anhängerschaft des Befragten aus, der wieder mit dem von 0 bis 21aufenden Index gemessen werden soll? Aus der letzten Spalte von Tabelle 16 geht hervor, daß sich Befragte, die weitere Kernkraftgegner außerhalb ihres persönlichen Netzwerkes kennen, mehr mit der Antikemkraftbewegung identifiZieren als Befragte, die keine weiteren Anhänger kennen. Kontrolliert man zusatzlieh den Anteil der Kernkraftgegner im persönlichen Netzwerk, so zeigt sich, daß auch dieser Faktor wirksam bleibt. Soziale Unterstützung aus der näheren und weiteren Umwelt des Befragten wirkt sich also zugunsten der Identifikation mit der Antikernkraftbewegung aus. Für die Bestimmung des relativen Gewichts von näherer und weiterer Umwelt vereinfachen wir die Datenlage, indem wir nur noch unterscheiden, ob wenigstens ein Gesprächspartner im persönlichen Netzwerk Kernkraftgegner ist oder nicht. Wie die Aufgliederung in Tabelle 16 zeigt, wird diese Dichotomisierung den Verhältnissen in der Gruppe derer, die keine weiteren Kernkraftgegner kennen, gut gerecht, während in der ersten Gruppe etwas mehr Information verloren geht. Als abhängige Variable sollen im folgenden zwei Merkmale verwendet werden. Zuerst interessiert uns die Auswirkung auf die Anhängerschaft im Februar 1987, wobei wir nur unterscheiden, ob sich der Befragte als Anhänger der Antikemkraftbewegung bezeichnet hat oder nicht. Diese rein subjektive Mitgliedschaft wird wahrscheinlich von der näheren Umwelt des Befragten mehr beeinflußt als von der weiteren. Als nächstes sei aber noch die Auswirkung auf die AktiviU!tsdimension untersucht, wobei wir diese Analyse auf die Anhänger der Bewegung be-

183

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

schränken und für sie unterscheiden, ob sie zu Demonstrationen und Versammlungen der Bewegung gehen oder nicht. Es würde das Vernetzungsargument der Theoretiker bestätigen, wenn für die Aktivität die weiteren Bekannten im Sinn schwacher Beziehungen mehr Gewicht besäßen als die starken persönlichen Beziehungen. Tabelle 17:

Antikernkraftbewegung: Identifikation (I) und Aktivität (A) vorausgesagt mit starken (St) und schwachen (Sch) Beziehungen zu Kernkraftgegnern

Geschätzte Effekte (Logit-Analyse) D D

D

D

+ St + Sch

Freiheitsgrade

Abhängige I

Variable A

(Durchschnitt)

3

356.54

21.22

(mindestens ein Kernkraftgegner im persönlichen Netz)

2

66.42

19.41

(Kennen von Kernkraftgegnern außerhalb des persönIichen Netzes) 2

131.33

2.35**

5.82*

2.17*

+ St + Sch

1

u

u

* p > 0.01; ** p > 0.20

A

= Anhänger vs. Nichtanhänger im Februar 1987. = Aktive vs. passive Anhänger, ohne Nichtanhänger, im Februar 1987.

Für die Bewegungsanhängerschaft oder subjektive Mitgliedschaft ist die soziale Unterstützung aus dem persönlichen Netzwerk wichtiger als schwache Beziehungen zu weiteren Bewegungsanhängern außerhalb des persönlichen Netzes (vgl. Tabelle 17). Das Verhältnis von subjektiven Mitgliedern zu Nichtmitgliedern kann befriedigend aber erst vorausgesagt werden, wenn man sowohl die starken als auch die schwachen Beziehungen zu Kernkraftgegnern berücksichtigt, wobei man für eine gute Anpassung sogar noch einen Interaktionseffekt zwischen beiden Beziehungsarten verwenden müßte. Ganz anders ist die Situation bei Voraussage der Bewegungsaktivität unter den Bewegungsanhängern. Hier führt allein eine schwache Beziehung zu weiteren Bewegungsanhängern zu einer signifikanten Reduzierung von U, starke Beziehungen zu Kernkraftgegnern im persönlichen Netzwerk haben keinen Einfluß auf den Besuch von Demonstrationen und Versammlungen. Dieses Ergebnis ist eine klare Bestätigung der in der Literatur so oft betonten organisatorischen Eigenheiten von neuen sozialen Bewegungen, die in der Vernetzung der verschieden Gruppen gesehen werden. Aktive Bewegungsmitglieder entsprechen dem Bild, das man sich von den neuen sozialen Bewegungen macht. Rein subjektive Identifikation führt zu einer weiteren Abgrenzung von Bewegungssympathisanten, die dann schwer zu mobilisieren sein werden, wenn sie über kei-

184

Franz Urban Pappi

nen Zugang zu entsprechenden Zirkeln außerhalb ihrer persönlichen Freundesnetzwerke verfügen. Für Parteien, die sich um das Wählerpotential dieser Gruppen bemühen, sind aber die Sympathisanten als die größere Gruppe wahrscheinlich wichtiger als die Aktivisten im Kern der jeweiligen Bewegung.

7. Das Wahlverhalten von Bewegungsanhängern

Wir können jetzt zu der eingangs gestellten Frage zurückkehren, inwieweit es den Grünen in Konkurrenz zu den etablierten Parteien gelingt, das Wählerpotential des Bewegungssektors auszuschöpfen. Die Grünen verstehen sich als die Repräsentanten der neuen sozialen Bewegungen in den Parlamenten und in außerparlamentarischen Mobilisierungskampagnen. Die Grundhypothese ist also schlicht, daß sich dieses Rollenverständnis auch an Wahltagen auszahlt. Wir ergänzen die Grundhypothese aber insofern, als wir erwarten, daß sich subjektive Bewegungsanhängerschaft um so mehr in eine Wahlentscheidung für die Grünen umsetzt, je stärker die jeweilige Bewegung mobilisiert ist. Der Grad der Mobilisierung wird aus den Ergebnissen erschlossen, die wir über den Zusammenhang von Bewegungsanhängerschaft und Zielpräferenzen gewonnen haben. Danach wird sich das Wahlverhalten der verschiedenen Kategorien von subjektiven Anhangern für die Kernkraftbewegung am stärksten unterscheiden, gefolgt von der Friedensbewegung und schließlich von der Frauenbewegung. Tabelle 18:

Antikernkraftbewegung: Index der Anhängerschaft und Zweitstimme bei der Bundestagswahl 1987

Wahlentscheidung

Summe der Ja-Antworten im Jan., Febr. 1987 Prozentsatz Anhänger 0 1 2 (1,2) in Wählergruppen ----------------------------------------------------------% % %

CDU/CSU SPD F.D.P. Grüne Andere Parteien Nichtwähler Keine Angabe

50.9 32.0 5.8 1.6 0.5 7.7 1.6

12.4 57.0 7.0 12.4

N

963

Cramer's V

9.7 0.5

3.2 50.3 2.5 31.2 1.3 7.6 3.8

5.4 37.5 23.3 82.7 44.4 28.8 31.8

186

157

26.2

1.1

= 0.367, bei Männem V = 0.407, bei Frauen V = 0.358.

Der Zusammenhang zwischen Bewegungsanhängerschaft und Wahlverhalten kann nach zwei Gesichtspunkten ausgewertet werden: 1. Wie stark konzentrieren sich die Bewegungsanhanger, insbesondere die konsistenten Anhänger, die zwei- oder dreimal die Anhängerfrage mit ja beantwortet haben, auf die einzelnen Parteien bzw. auf die Gruppe

185

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

der Nichtwähler? 2. Wie groß ist der Anteil der Bewegungsanhänger unter den Wählern einer Partei? Die Antwort auf die erste Frage zeigt, wie konsequent die Bewegungsanhänger ihre Überzeugung in die Wahl bestimmter Parteien umsetzen; die Antwort auf die zweite Frage gibt Hinweise darauf, wie stark eine Partei auf die Bewegungsanhänger angewiesen ist. In den folgenden Tabellen sind beide Auswertungsarten, nämlich spalten- und zeilenweise Prozentuierung, aufgeführt. Betrachten wir die Antikernkraftbewegung, so zeigt sich deutlich, daß die beiden Aspekte auseinanderfallen. So wählten nur eine knappes Drittel der konsistenten Anhänger der Antikemkraftbewegung die Grünen, aber 81 Prozent der Grünen-Wähler sind Antikernkraftgegner. Das erste Ergebnis rührt daher, daß mehr konsistente Anhänger der Antikemkraftbewegung bei der letzten Bundestagswahl die SPD gewählt haben als die Grünen, während diese Gruppe andererseits in der SPD-Wählerschaft nur 38 Prozent ausmacht (vgl. Tabelle 18). Von allen Parteien hat die CDU/CSU die im Hinblick auf die Kernkraftfrage homogenste Wählerschaft. 95 Prozent der CDU/CSUWähler identifizieren sich nicht mit der Antikernkraftbewegung. Am anderen Extrem stehen mit immerhin "nur" 81 Prozent Antikemkraftgegnern die Grünen. Tabelle 19:

Friedensbewegung: Index der Anhängerschaft und Zweitstimme bei der Bundestagswahl 1987

Wahlentscheidung

Summe der Ja-Antworten im Jan., Febr. 1987 Prozentsatz Anhänger 0 1 2 (1,2) in --------------------------------------------------Wählergruppen % % %

CDU/CSU SPD F.D.P. Grüne Andere Parteien Nichtwähler Keine Angabe

50.2 32.8 5.0 1.9 0.6 7.8 1.6

27.9 44.5 7.9 7.9 0.9 8.7 2.2

8.0 51.0 5.0 26.0 1.0 7.5 1.5

N

872

229

200

Cramer's V

= 0.307, bei Männem V

= 0.349, bei Frauen V

15.5 41.6 38.9 80.5 44.4 34.0 36.0 33.0

= 0.293.

Bei der Friedensbewegung sind diese Verhältnisse ähnlich, mit dem Unterschied, daß hier die CDU-Wähler nicht mehr ganz so konsequent aus Nichtanhängern dieser Bewegung zusammengesetzt sind wie im Fall der Antikernkraftbewegung. Betrachtet man die Spaltenprozente, so zeigt sich für die SPD-Anteile ein kontinuierliches Ansteigen mit dem Grad der Bewegungsanhängerschaft, von 32,8 Prozent bei den Nichtanhängern, über 44,5 Prozent in der Mittelgruppe bis zu 51,0 Prozent bei den konsistenten Anhängern. Die Friedensbewegung hat insgesamt mehr Anhänger als die Antikernkraftbewegung, und diese konzentrieren sich etwas weniger auf die Grünen als Partei ihrer Wahl. So wählten "nur" 26 Prozent der konsistenten Anhänger die Grünen im Vergleich zu den 31 Prozent bei den Kernkraftgegnern.

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186

Tabelle 20:

Frauenbewegung: Index der Anhängerschaft und Zweitstimme bei der Bundestagswahl 1987

Summe der Ja-Antworten im Sept. 1986 und im Jan., Febr. 1987

Prozentsatz Anhänger (1,2,3) in Wählergruppen

0

1

2

3

%

%

%

%

CDU/CSU SPD F.D.P. Grüne Andere Parteien Nichtwähler Keine Angabe

44.4 35.0 5.7 4.2 0.6 8.2 1.9

28.1 48.9 4.4 10.4 0.7 6.7 0.7

8.6 51.7 6.9 24.1

12.2 41.5 2.4 26.8 4.9 7.3 4.9

9.3 23.5 15.5 47.0 33.3 16.5 13.0

N

1049

135

58

41

18.2

Wahlentscheidung

Cramer's V

8.6

= 0.180, bei Männem V = 0.194, bei Frauen V = 0.213

Bei der Frauenbewegung weisen nur die Grünen ein konsistentes Profil in dem Sinn auf, daß ihr Anteil mit dem Grad der Identifizierung mit dieser Bewegung kontinuierlich ansteigt, von 4,2 Prozent bei den Nichtanhangern bis auf 26,8 Prozent bei den konsistenten Anhangern. Allerdings ist in diesem Fall selbst nur eine Minderheit der Wählerschaft der Grünen (47 Prozent) dieser Bewegung zuzurechnen. Die Hypothese, daß sich der Zusammenhang zwischen Bewegungsanhangerschaft und Wahlverhalten mit zunehmender Mobilisierung verstärkt, bestätigt sich. Der Gesamtzusammenhang, gemessen mit Cramer's V, ist für die Antikemkraftbewegung am stärksten, für die Friedensbewegung am zweitstärksten und für die Frauenbewegung am geringsten. Im allgemeinen sind die Manner konsequenter in der Umsetzung von Bewegungsanhangerschaft in Wahlverhalten, dies gilt aber nicht für die Frauenbewegung. Allerdings ist der Unterschied hier zwischen Mannern und Frauen relativ gering und würde ganz verschwinden, wenn man nur die Wahlentscheidung für eine der vier im Bundestag vertretenen Parteien betrachten würde, ohne Berücksichtigung der Nichtwl!hler, der anderen Parteien und der Befragten, die keine Angabe zur Wahlentscheidung machten. Für die Frauenbewegung gilt generell, daß zum Zeitpunkt der letzten Bundestagswahl noch kaum von einer Mobilisierung gesprochen werden konnte. Mit dem Index der Bewegungsanhängerschaft werden die konsistenten Anhanger erfaßt, die sich zwei- bzw. dreimal auf eine entsprechende Frage als Anhl!nger der Bewegung bezeichneten. Diese so abgegrenzten Anhl!ngerschaften sind ein Wählerreservoir sowohl für die Grünen als auch für die SPD. Man kann nun fragen, wann Bewegungsanhanger eher die Grünen und wann sie eher die SPD wählen. Eine naheliegende Hypothese ist, daß die Neigung, die Grünen zu wählen, mit der Nahe zum aktiven Bewegungskern zunimmt. Dies hieße z.B., daß die aktiven Bewegungsanhanger eher die Grünen als die

187

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

SPD wählen, wobei wir bereits nachgewiesen haben, daß das Aktivitätsniveau wiederum von den schwachen Beziehungen zu anderen Bewegungsanhängern abhängt. Diese Einflüsse können im Rahmen eines Kausalmodells überprüft werden, das sich wegen der Datenlage für die Netzwerkinformation auf die Antikemkraftbewegung beschränken muß. Die Aktivitätsdimension wurde noch für alle drei Bewegungen erfaßt und kann deshalb noch vergleichend untersucht werden. Dabei zeigt sich zunächst, daß 62 Prozent der aktiven Anhänger der Antikemkraftbewegung die Grünen wählen, 52 Prozent der aktiven Anhänger der Friedensbewegung und 38 Prozent der aktiven Anhänger der Frauenbewegung. Nur bei letzterer Bewegung überwiegen unter den Anhängern, die zu Demonstrationen und Versammlungen der Bewegung gehen, die SPD-Wähler mit 52 Prozent; ansonsten sind die Aktivisten jeweils überwiegend Wähler der Grünen, während die passiven Bewegungsanhänger jeweils absolute Mehrheiten für die SPD aufweisen. Unter den Aktivisten finden sich kaum Wähler der CDU/CSU oder der F.D.P .. Um die Ursachen der Entscheidung für die Grünen im Gegensatz zur Wahl der SPD klar herausarbeiten zu können, beschränken wir die folgende Analyse auf die Wähler dieser beiden Parteien und die Bewegungsanhanger, die nach passiv und aktiv unterschieden werden. Ein einfaches Maß des Zusammenhangs der beiden Variablen ist das Verhältnis der Kreuzprodukte (cross product ratio). Es beträgt für die Antikemkraftbewegung 7.30, für die Friedensbewegung 5.96 und für die Frauenbewegung 1.49. In Logit-Modellen hat der diesen Zahlen entsprechende logarithmierte Wert die Interpretation: Effekt der Aktivität auf die Wahl der Grünen als Differenz der Log-Odds SPD/Grüne für die aktiven Anhänger von den entsprechenden Log-Odds für die passiven Anhänger. Mit 1.99 ist dieser logarithmierte Effekt für die Antikemkraftbewegung am größten, am zweitgrößten für die Friedensbewegung und am drittgrößten für die Frauenbewegung. Die Aktivität wirkt sich also mit zunehmender Mobilisierung der Bewegung stärker auf die Wahlentscheidung zugunsten der Grünen aus. Im letzten Abschnitt wurden die schwachen Beziehungen zu Bewegungsanhangern als Ursache oder assoziierter Faktor der Bewegungsaktivität identifiziert (vgl. Tabelle 17). Nehmen wir an, daß die Rekrutierung in Netzwerke von Bewegungsaktivisten eine Ursache der eigenen Aktivität ist, kann nun überprüft werden, ob die schwachen Beziehungen darüber hinaus noch Erklärungskraft für die Wahlentscheidung zugunsten der Grünen haben, wenn man die eigene Aktivität oder Nichtaktivität kontrolliert. Dies ist empirisch nicht der Fall, da die eigene Aktivität die Hauptursache der Wahlentscheidung für die Grünen statt für die SPD bleibt, so daß wir die Aktivitätsvariable als klassische intervenierende Variable konzipieren können. Das folgende einfache Kausalmodell mit logarithmierten Effekten beschreibt das Wahlverhalten der Bewegungsanhänger: Schwache Beziebungen zu AntiAKW -Anhängern

2.38 -------- >

Bewegungsaktivität

1.58 -------- >

Wahlentscheidung für Grüne statt fürSPD

Der Effekt von der Aktivität zur Wahlentscheidung ist mit 1.58 kleiner als der oben angegebene Wert von 1.99, weil jetzt zusätzlich die schwachen Beziehungen zu Bewe-

Pranz Urban Pappi

188

gungsanhangern als Kontrollvariable dienen. Das entsprechende Modell ergibt mit einem U von 3.08 und zwei Freiheitsgraden eine gute Anpassung der Daten. Die starken Beziehungen zu Bewegungsanhangern haben dagegen weder eine Erklärungskraft für die eigene Aktivität noch für die Wahl der Grünen. In einem zweiten Schritt soll überprüft werden, ob für die Wahlalternative SPD oder Grüne auf der einen Seite und CDU/CSU oder F.D.P. auf der anderen Seite die Bewegungsanhängerschaft mit der Alternatiwerschlüsselung ja oder nein und die starken Beziehungen zu Bewegungsanhangern Erklärungskraft haben. Auch hier können wir zunächst annehmen, daß zwischen eigener Anhängerschaft und den starken Beziehungen zu Bewegungsanhangern ein Zusammenhang besteht, wobei die Richtung des Einflusses theoretisch nicht spezifiziert werden kann. Dann kann die Wahlentscheidung von diesen beiden Faktoren abhängig gemacht werden. Starke Beziehungen zu Anti-AKW-Anhängern

3.09 Eigene Anhängerschaft

2.33 ----------- >

Wahlentscheidung für SPD, Grüne statt CDU/CSU, F.D.P.

In dem resultierenden Modell zeigt sich, daß die starken Beziehungen die Wahlentscheidung nicht direkt beeinflussen. ll!ßt man nur einen Einfluß der eigenen Anhängerschaft auf die Wahlentscheidung zu und kontrolliert die andere Variable, so können die Daten mit L2 = 1.49 bei zwei Freiheitsgraden sehr gut angepaßt werden. Die starken Beziehungen zu Bewegungsanhangern üben also höchstens einen indirekten Einfluß auf die Wahlentscheidung aus. Daß die Bewegungsanhängerschaft eine Ursache der Wahlentscheidung ist, wurde in dem Modell theoretisch postuliert. Es ist natürlich auch die Möglichkeit in Rechnung zu stellen, daß die Wahlentscheidung, besonders wenn sie längerfristig festliegt, umgekehrt die Identifikation mit einer neuen sozialen Bewegung beeinflußt. So hat die Bewegungsidentifikation im Untersuchungszeitraum von September 1986 bis zum Februar 1987 abgenommen. Dieser Trend könnte z.B. so zustande gekommen sein, daß langjährige CDU/CSU-Wähler, die nach Tschernobyl der Antikemkraftbewegung zuneigten, durch den Wahlkampfwieder gelernt haben, was sie von der Kernkraft zu halten haben, so daß es zu einer Revision der Identifikation mit der Antikemkraftbewegung kam. Eine genaue Inspektion der Paneldaten zeigt allerdings, daß dieser Sachverhalt nicht so einfach liegt. Für die Änderung der Identifikation mit der Antikemkraftbewegung spielen die starken Beziehungen zu Kernkraftgegnern eine ausschlaggebende Rolle. Verfügt der Befragte über solche Beziehungen, nahm die Identifikation mit der Bewegung im Wahlkampf sogar zu. Das Verhältnis des Wechsels Anhängerschaft zu Nichtanhängerschaft für die zwei Zeitpunkte September 1986 und Februar 1987 zum Wechsel in die andere Richtung betragt für diese Gruppe 0.62. Hat der Befragte in seinem persönlichen Netzwerk keine Kernkraftgegner, überwiegt der Wechsel von Anhängerschaft zu Nichtanhängerschaft den Wechsel in umgekehrte Richtung, das entsprechende Verhältnis be-

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trägt 4.80. Damit bestätigt sich auch filr die neuen sozialen Bewegungen die bereits von der Lazarsfeld-Gruppe47 gefundene Gesetzmäßigkeit, daß die Primärgruppen durch den Wahlkampf in ihren politischen Überzeugungen homogener werden. Da es insgesamt mehr Befragte ohne starke Beziehungen zu Kernkraftgegnern gab als solche mit starken Beziehungen, erklärt sich aus dem allgemeinen Gesetz die Abnahme der Bewegungsanhängerschaft durch die Mobilisierungswirkung des Wahlkampfes. Wir verzichten hier auf eine genaue Untersuchung der Art des Wechsels im Wahlkampf, weil dazu weiter ausgeholt werden müßte. So ist es insbesondere nicht ausreichend, nur die starken Beziehungen zu Kernkraftgegnern zu erfassen. Die politische Zusammensetzung der Freundeskreise müßte umfassender berücksichtigt werden, insbesondere müßten die Anhänger der etablierten Parteien in den Netzwerken mit in die Betrachtung einbezogen werden, um die Gesamtwirkungen des Wahlkampfes besser beurteilen zu können.

8. Schlußbemerkungen Wir mußten in diesem Aufsatz einen ziemlich langen Anlauf nehmen, um die anfangs gestellten Fragen beantworten zu können: 1. In welchem Umfang gelingt es den Grünen, das Wählerpotential des Bewegungssektors auszuschöpfen? 2. Wie stark ist die Konkurrenz der etablierten Parteien, insbesondere der SPD, in dieser Hinsicht? Der lange Anlauf war notwendig, weil es zunächst galt, die Tauglichkeit der Umfrageforschung zur Erfassung von Bewegungsanhängern unter Beweis zu stellen. Dieser Nachweis erscheint gelungen. Eine einfache Selbstidentifikationsfrage ist zumindest filr solche Bewegungen angebracht, die über die Minimalmobilisierung verfUgen, die sie in der Wählerschaft bekannt macht. Kurzfristig, nämlich im Vergleich der Januar- und Februar-Umfrage von 1987, sind die Antworten genügend stabil, um die Gefahr der Messung von Nicht-Einstellungen auszuschließen. Mittelfristig zeigte sich, daß es unter dem Einfluß des Wahlkampfes aber sehr wohl zu einer Änderung der zugrundeliegenden latenten subjektiven Mitgliedschaft kommen kann. Eine solche Veränderung ließ sich filr die Antikemkraftbewegung und die Friedensbewegung nachweisen, nicht aber filr die Frauenbewegung. Mit letzterer identifzierten sich zwar insgesamt sehr wenige Befragte, ihr Antwortverhalten war aber relativ stabil über den längeren Zeitraum von September 1986 bis Februar 1987. Der Zusammenhang zwischen Bewegungsidentifikation und einer positiven Einstellung zu den jeweiligen Bewegungszielen konnte bestätigt werden. Die Tatsache, daß dieser Zusammenhang filr die Antikemkraftbewegung am engsten ist, läßt sich als Mobilisierungsindikator interpretieren. Die Mobilisierung dieser Bewegung war im Untersuchungszeitraum am größten, die der Frauenbewegung am geringsten. Wir haben die drei untersuchten Bewegungen, die Antikernkraft-, die Friedens- und die Frauenbewegung, klassifikatorisch als Bewegungssektor bezeichnet. Aus diesem 47 Vgl. Paul F. Lazarsfeld u.a., Wahlen und Wähler, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1969.

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Sprachgebrauch kann nicht geschlossen werden, daß sich die Anh!:lngerschaften der drei Bewegungen tatsächlich so stark überschneiden, daß man von einer einheitlichen neuen sozialen Bewegung sprechen könnte. Erst wenn man die Bewegungsaktivisten untersucht, die auch Demonstrationen und Versammlungen besuchen, läßt sich eine einzige Dimension der Anhängerschaft in neuen sozialen Bewegungen nachweisen. Um die subjektive Bewegungsmitgliedschaft mit objektiven Mitgliedsindikatoren zu überprüfen, die dem Charakter der neuen Bewegungen gerecht werden, wurden Netzwerkinformationen herangezogen. Dieses aufwendige Verfahren konnte nur für eine Bewegung, nämlich die Antikernkraftbewegung, empirisch umgesetzt werden. Es zeigte sich, daß es insbesondere die schwachen Beziehungen zu Kernkraftgegnern sind, die das Aktivitätsniveau zugunsten der Bewegung positiv beeinflussen. Dieser Befund stimmt sehr gut mit dem in der Literatur herausgestellten Charakter der Bewegungen als "Netzwerke von Netzwerken" (Neidhardt) überein. Die beiden oben wiederholten Fragen können nun wie folgt beantwortet werden. Die Grünen können das Wählerpotential der Bewegungsaktivisten sehr gut ausschöpfen. Allerdings ist dies eine relativ kleine Gruppe, die die Grünen kaum auf Dauer über der Fünf-Prozent-Hürde halten wird. Insofern sind die Grünen auch auf Wähler aus der Gruppe der passiven Bewegungsanh!:lnger angewiesen, haben hier aber mit starker Konkurrenz von Seiten der SPD zu rechnen. Sollte das Aktivitätsniveau der neuen sozialen Bewegungen weiterhin abnehmen, werden die Grünen davon negativ betroffen sein, während der SPD in den verbleibenden Gruppen der passiven Bewegungsanh!:lnger relativ gute Chancen eingeräumt werden müssen. Die grünen Fundamentalisten steuern eher eine Politik der aktiven Mobilisierung des Bewegungssektors, während die sogenannten Realos die Partei mehr als Bewegungsrepräsentant in den Parlamenten sehen. Aktive Mobilisierungspolitik heißt Verstärkung der Bewegungskerne, Repräsentanz der Interessen des Bewegungssektors in den Parlamenten spricht mehr den Kreis der passiven Anhänger an, die wahrscheinlich die institutionalisierten Formen der Interessenaggregierung den unkonventionellen Bewegungstaktiken vorziehen. Zwischen der Skylla einer Konzentration auf den kleinen Kern der Aktivisten und der Charybdis der Attraktivitätssteigerung für Bewegungssympathisanten, die auch die SPD wählbar finden, haben die Grünen wahrscheinlich ihre Obergrenze in der Wählerschaft bereits erreicht.

Neue soziale Bewegungen und Wahlverhalten

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192

Franz Urban Pappi

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Uwe Pfenning Parteipolitische Aktivitäten, Sozialstruktur und politische Netzwerke der Grünen Rheinland-Pfalz im Jahr 1984: Eine Fallstudie•

1. Vorbemerkung

Die formale, parteigesetzliche Gründung der Bundespartei Die Grünen erfolgte am 12./13. Januar 1980 in Karlsruhe. Bereits zuvor existierte auf Länderebene eine Vielzahl bunt-grün-alternativer Vereinigungen. Seither sind zahlreiche Veröffentlichungen - Studien, Spekulationen, Pamphlete und Hypothesen - über die Grünen erschienen. Dieser Beitrag ergtlnzt diese Publikationen, thematisiert die Grünen jedoch aus der Sicht der empirischen Parteiensoziologie, aus den analytischen Aspekten des oftmals vermuteten Zusammenhangs zwischen den sogenannten neuen sozialen Bewegungen und den Wahlerfolgen und der Etablierung der Grünen im Parteiensystem der Bundesrepublik. In der Mehrzahl der empirischen Studien und der theoretischen Abhandlungen wird ein Zusammenhang zwischen den neuen sozialen Bewegungen (Friedens-, Frauen- und Ökologiebewegung) und der Partei Die Grünen angenommen, und in einigen Analysen wird aus der Wahlabsicht für die Grünen auf das Mobilisierungspotential dieser Bewegungen rückgeschlossent. Angesichts des unbefriedigenden empirischen Forschungsstandes zu den neuen sozialen Bewegungen muß dies als forschungspraktische Hilfskonstruktion angesehen werden. Das Deflzit an parteiensoziologischen empirischen Befunden gilt auch für die sozialwissenschaftliche Diskussion über die Grünen. Lediglich Bürklin ergtlnzt die Ergebnisse reprtlsentativer wahlsoziologischer Bevölkerungsumfragen mit einer Befragung der Kandidaten der Grünen Baden-Würtemberg für die Bundestagswahl1980. So bleibt festzustellen, daß rund zehn Jahre nach der Gründung der Grü-

1

Die vorliegende Studie ist das Ergebnis einer Diplomarbeit über das Thema "Organisationsstruktur, Mitgliedschaft und parteipolitische Aktivitäten der Grünen Rheinland-Pfalz im Jahr 1984" am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung, Prof. Dr. Max Kaase, Universität Mannheim 1987. Vgl. dazu Manfred G. Schmidt, Wohlfahrtsstaat und neue soziale Bewegungen, in: Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament v. 17.3.1984, S. 3-14; Schmidt untersucht auf der Basis der ALLBUS-Daten 1982 die Analogien zwischen der Sozialstrukturellen Zusammensetzung der Wählerschaft der Grünen und der Anhängerschaft der neuen sozialen Bewegungen. Vgl. zur Darstellung des Forschungsstandes über die Grünen auch den Beitrag von Richard Stöss/Lilian Klotzsch, Die Grünen, in: Parteienhandbuch, Bd. 2, Opladen 1983, S. 1561-1582; vgl. ferner Ferdinand Müller-Rommel, Die Grünen im Lichte von neuesten Ergebnissen der Wahlforschung, in: Thomas Kluge (Hrsg.), Grüne Politik, Bonn 1984. Müller-Rommel benutzt für seine Analysen ebenfalls Daten des ALLBUS, verwendet jedoch falsche Recodierungen und kommt deshalb zu falschen Ergebnissen.

194

Uwe Pfenning

nen zur Vielzahl der medienpolitischen, spekulativen und publizistischen Arbeiten bislang kein empirisches Gegengewicht besteht2. In den Studien über die Grünen werden sehr unterschiedliche Ansätze vertreten. Im Rahmen der Legitimationskontroverse und im Sinne eines plebiszitären Demokratisierungsverständnisses wurden zunächst die Bürgerinitiativbewegung und nunmehr die Grünen als Ausdruck von Legitimations- und Integrationsdefiziten der bundesrepublikanischen Gesellschaft und deren Parteiensystem bewertet3. Weiterhin dienen die Grünen als Beleg für theoretische Ansätze über die Auswirkungen eines Wertewandels von materialistischen zu postmaterialistischen Werten für das Ausbilden einer "neuen Politik"4. Bürklin verortet die Grünen auf einer Idealismus-Realismus-Dimension und thematisiert sie als Element bzw. Akteur eines politischen Elitenzyklus auch aus interessanter historischer Sicht. Insgesamt werden sie aber bislang mehr als spekulatives Objekt der Politikwissenschaft behandelt, denn als Gegenstand empirischer Forschung. Vor allem fehlen Analysen, die die Strukturen der Partei die Grünen und ihre Verbindungen zu den Organisationen und Gruppierungen erfassen, die im allgemeinen unter dem Sammelbegriff neue soziale Bewegungen subsumiert werden. Der Begriff Struktur(en) bezieht sich hierbei auf die räumliche Gliederung, die parteipolitischen Aktivitäten und die Sozialstruktur der Mitglieder. Die potentiellen und antizipierten Verbindungen zwischen den Grünen und außerparlamentarischen Gruppierungen lassen sich durch die Anwendung eines einfachen Netzwerkmodells darstellen. Die Annahme derartiger Verbindungen wird nachfolgend als Verbindungsthese bezeichnet.

2. Studienkonzepte: Sozialstruktur, Aktivitätstypologie und politische Netzwerke

Im Gegensatz zu den zahlreichen und konzeptionell recht ausgereiften Studien der Wahlforschung ist die Parteienforschung ein Stiefkind der politischen Soziologie - und dies, obwohl den Parteien im politisch-institutionellen System eine entscheidende Rolle zukommt und frühe Ergebnisse der Parteienforschung provokative Fragen aufgeworfen habens. 2 3

4

5

Vgl. hierzu Wilhelm Bürklin, Grüne Politik, Opladen 1984. Vgl. dazu Jürgen Dittbemer/Rolf Ebbighausen (Hrsg.), Parteiensystem in der Legitimationskrise, Opladen 1973; vgl. zum Überblick auch Max Kaase, Legitimationskrise in westlichen demokratischen lndustriegesellschaften: Mythos oder Realität, in: Helmut Klages/Peter Kmieciak, Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a.M. 1979, S. 328-350 und ders. Zur Legitimität des politischen Systems in den westlichen Demokratien, in: Albrecht Randelzhofer/Wemer Süß (Hrsg.), Konsens und Konflikt- 35 Jahre Grundgesetz, Berlin 1986, S. 463494; vgl. auch Kurt Kröger, Bürgerprotest im demokratischen Staat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlamentv. 1.10.1983, S. 3-11, Bonn 1983. Vgl. dazu Ferdinand Müller-Rommel, Sozialstruktur und postmaterialistische Wertorientierungen von Ökologisten, in: Politische Vierteljahresschrift, 4/1981, S. 383-397, Opladen 1981; vgl. auch Russen J. Dalton/Kai Hildebrandt, Die neue Politik, in: Politische Vierteljahresschrift, 18/1977, Opladen 1977, S. 230-256. Vgl. Robert Michels, Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie, 1925, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Wemer Conze, Stuttgart 1970. Michels themati-

Parteipolitische Aktivitäten der Grünen

195

Auch im Rahmen der Partizipationsforschung sind nur wenige Arbeiten über parteipolitisch orientierte Aktivitäten verfügbar6• Insofern kann die Beschäftigung mit den Grünen auch einen Ausblick für eine Belebung der Parteiensoziologie eröffnen. Wichtige Elemente einer Parteienanalyse sind die sozialstruktureHe Zusammensetzung der Mitglieder, die innerparteiliche Organisationsform, die Aktivitätsmuster und eventuelle Verbindungen zu außerparlamentarischen Gruppierungen. Letztere sind aufgrund der angenommenen Verbindungslinien insbesondere für Studien über die Grünen von besonderem Interesse, finden sich aber auch in den tradierten Annahmen über Lobbyistenturn und über die Verbindungen zwischen SPD und Gewerkschaften einerseits sowie zwi. schen den Unionsparteien und katholischen Verbänden andererseits. Der Versuch, die vorgenannten Strukturmerkmale von Parteien in einer gemeinsamen Analyse zusammenzubringen, führt zur Auswahl von räumlich abgegrenzten Untersuchungseinheiten. Insbesondere die Erhebung von Netzwerken bedingt, im Gegensatz zu den flächendeckenden, Repräsentativität anstrebenden Studien, ein auf lokale Räume bezogenes Auswahlverfahren. Für die räumliche Gliederung der Parteien sind das in erster Linie die Ortsverbände. Auf dieser Ebene können die Verbindungen zu den ohnehin sehr dezentralen und zumeist nur lokal organisierten Untergliederungen der neuen sozialen Bewegungen veranschaulicht werden 7•

6

7

siert anhand von empirischen Studien über die SPD den Konflikt zwischen etablierten Parteieliten, Parteibasis und organisatorischer Stabilität. Die in seiner Tradition stehende Forschung faßte seine Ergebnisse im Gesetz der "ehernen Oligarchie" zusammen. Vgl. für eine kritische Würdigung Oskar Niedermayer, Die deutsche Sozialdemokratie nach 1945: Mitgliederentwicklung und Sozialstruktur, in: Oskar Niedermayer/Karlheinz ReiftHermann Schmutt (Hrsg.), Neumitglieder in der SPD, Neustadt a.d.W. 1987. Für einen Einblick in einige Fallstudien vgl.u.a. Renate Mayntz, Parteiengruppen in der Großstadt - Untersuchungen in einem Berliner Kreisveroand der CD V, Köln 1959; Rolf Meyenberg, SPD in der Provinz, Oldenburg 1975; Helmut Becker/Bodo Hombach, Die SPD von Innen - Eine Bestandsaufnahme an der Basis der Partei, Bonn 1983; Manfred Güllner, Daten zur Mitgliederstruktur der SPD: Von der Arbeiterelite zu den Bourgeoissöhnchen, in: Wahlforschung - Sonden im politischen Markt, Zeitschrift Transfer, Nr.2, Bonn-Bad Godesberg 1977, S. 91-106. Güllner untersucht ansatzweise auch regionale Unterschiede in der Mitgliederentwicklung. Zum Überblick vgl. Oskar Niedermayer, Innerparteiliche Partizipation, Opladen 1989; ders., SPD-Mitglieder im Bezirk Pfalz, Institut für Vergleichende Sozialforschung der Universität Mannheim, Nr. 10, August 1986, Universität Mannheim. Im Zusammenhang mit den Arbeiten von Niedermayer und der in diesem Beitrag dargestellten Ortsverbandsbefragung der Grünen Rheinland-Pfalz ergaben sich erstmals auch direkte Vergleichsmöglichkeiten für die zeitgleiche Betrachtung von Parteigruppierungen. Vgl. auch Michael Th. Greven, Parteimitglieder. Ein empirischer Essay, Opladen 1987. Vgl. für eine umfassende Darstellung des Netzwerkkonzepts Michael Schenk, Soziale Netzwerke und Kommunikation, Tübingen 1984, und ders., Kommunikationsstrukturen in Bürge-rinitiativen, Tübingen 1982. Für die vorliegende Fallstudie wurde das Netzwerkkonzept übertragen auf die interpersonalen Beziehungen von Mitgliedern zu verschiedenen Organisationen und interorganisatorischen Beziehungen verschiedener Gruppierungen untereinander. Es handelt sich hierbei um ein einfaches Konzept ego-zentrierter Netzwerke, wobei die Ortsverbände der Grünen die Ego-Einheiten bildeten.

196

Uwe Pfenning

3. Eine Fallstudie: Die Ortsverbände der Grünen Rheinland-Pfalz

Die folgenden Analysen beruhen auf einer Ortsverbandsbefragung des Landesverbandes der Grünen Rheinland-Pfalz in den Monaten April bis Juni 1984. Es wurden Angaben über die Struktur des Ortsverbandes wie Mitgliederzahl und -Zusammensetzung, Vorstandswahlen usw. ebenso erhoben wie individuelle Daten über parallele Mitgliedschaften und Aktivitätseinstufungen der Mitglieder. Zum Zeitpunkt der Studie waren die Grünen Rheinland-Pfalz noch nicht im Landtag vertreten. Es existierten insgesamt 71 Ortsverbl!nde, von denen 18 (=26 Prozent) an der schriftlichen Umfrage teilnahmen. Besonders auffällig war, daß sich die Ortsverbande in den urbanen Zentren (Mainz, Trier, u.a.) überhaupt nicht beteiligten. Die 18 Ortsverbande umfaßten zusammen 239 Mitlieder. Die Landesgeschäftsstelle der Grünen Rheinland-Pfalz nannte für Anfang 1984 eine Mitgliederzahl von annähernd 1400 Personen, so daß die 18 Untersuchungseinheiten ca. 18 Prozent der Gesamtmitgliederschaft repräsentierten. Im Vergleich zur Rücklaufquote anderer parteisoziologischer Einzelfallstudien muß der niedrige Prozentsatz enttauschens. Er dokumentiert jedoch bereits inhaltlich das Ergebnis, daß empirische Studien über die Grünen dort auf Vorbehalte treffen und eine besondere Vergehensweise erforderlich machen.

3.1.

Die Mitgliederstruktur der Granen

Einen ersten Einblick in die "sozialwissenschaftliche Anatomie" der Ortsverbande der Grünen Rheinland-Pfalzgibt Tabelle 1. Verglichen werden die Zahlenwerte der Untersuchungseinheiten mit den Angaben der Landesgeschaftsstelle im Januar 1985. Die jeweiligen Abweichungen könnten durch verschiedene Mitgliederzusammensetzungen der Ortsverbande des landlieh-mittelzentrischen Raumes und der Ortsverbande in den urbanen Oberzentren zustandekommen. Zwar wachst die Güte der Übereinstimmung auch mit der zahlenmäßigen Besetzung der einzelnen Kategorien, jedoch sind Stichprobeneffekte nicht auszuschließen9. Ein erstes Ergebnis entspricht den Erwartungen: Die Altersgruppe der 19-35j11hrigen stellt ca. 80 Prozent aller Mitglieder der Grünen. Dies bedeutet, daß die jüngste Altersgruppe (unter 18 Jahre) und die Senioren nur schwach in der Mitgliederschaft vertreten

8

9

Die Ausschöpfungsquote ist im Vergleich mit anderen Fallstudien (vgl. Anm. 6) neueren Datums sehr niedrig und verweist auf die "Datenfeindlichkeit" der Grünen. Becker/Hombach nennen eine Rücklaufquote von 85 Prozent, Niedermayer 72 Prozent und Meyenberg 46 Prozent. Die Ortsverbände im ländlichen und mittelzentrischen Raum stellen ca. 80 Prozent aller Ortsverbände und ca. 73 Prozent der Gesamtmitgliederschaft der Grünen.

197

Parteipolitische Aktivitäten der Griinen

sind. Hervorzuheben ist auch der gut 30prozentige Frauenanteil an der Mitgliederschaft10. Tabelle 1:

Demographische Zusammensetzung der Mitgliederschaft der Grünen Rheinland-Pfalznach Geschlecht, Alter und Beruf

MERKMAL

Geschlecht: Männer Frauen Keine Angabe Alter: 16-18 Jahre 19-24 Jahre 25-29 Jahre 30-39 Jahre 40-49 Jahre 50 und älter Berufliche Stellung: Arbeitnehmer Angestellte im öffentlichen Dienst Angestellte in der Privatwirtschaft Beamte Studenten/Schüler Selbständige Sonstigeb Keine Angabe a b

ORTSVERBANDSSTUDIE Juni1984 in% abs.

MITGLIEDERSTAND Januar 1985" in% abs.

29

160 66 13

68 32

1201 572

3 34 31 26 2 5

8 80 72 62 4 12

2 21 29 30 11 7

34 391 528 540 196 134

5 13

10 25

11 7

202 116

13

25

16

301

8 34 9 19

15 65 18 36

10 29 12 15

185 503 197 274

71

45

Prozentsätze tw. von 100 abweichend durch Rundungsfehler Angaben nach Unterlagen der Landesgeschäftsstelle. Hierzu zählen u.a. Hausfrauen, Rentner, Zivildienstleistende.

Betrachtet man die berufliche Stellung, so wird die herausragende Bedeutung der sich in einer Ausbildung befindlichen Mitglieder offenbar; bei dieser "uneigentlichen Berufsgruppe" handelt es sich vornehmlich um Studenten. Hingegen sind Arbeitnehmer im Vergleich zu anderen Parteien und zum Bevölkerungsdurchschnitt deutlich unterrepr11sentiert. Und wirft man den Blick auf ausgew11hlte Gemeindestrukturen (unterteilt nach

10 Zum Vergleich des Frauenanteils: Die Bundesgeschäftsstellen der Parteien geben den Anteil weiblicher Mitglieder für 1984 mit folgenden Zahlen an: CDU: 22 Prozent, SPD 25 Prozent, CSU 14 Prozent, F.D.P. 24 Prozent.

198

Uwe Pfenning

Einwohnergröße und, in Anlehnung an den Boustedt-Index, nach ländlich versus industriell geprägten Gemeinden), so lassen sich weitere Einzeltendenzen aufzeigen. Tabelle 2:

Mitgliederanteile im Vergleich zwischen ländlichen und industriellen Gemeindetypen•

Merkmal

Ländliche Struktur (N = 13 Ortsverbände) in% abs.

Industrielle Struktur (N = 5 Ortsverbände) in% abs.

Mitgliederzahl: 1-9 Mitglieder 10-19 Mitglieder 20 und mehr Mitglieder Summe

25 41 63 104 12 20 165=100%

69 31

74=100%

51 23

Geschlecht: Frauen Männer Summe Quotientb

Alter: 16-18 Jahre 19-24 Jahre 26-29 Jahre 30-39 Jahre 40-49 Jahre 50 und älter Summe

Berufliche Stellung:

Arbeiter Angestellte, Privatwirtschaft Angestellte, öffentlicher Dienst Beamte Selbständige Studenten Sonstige Summe

28 42 72 110 152=100% 2.6

5 33 32 28

8

54 52 47

1

1

6 7

2

24 50 74=100% 2.1

35 27 20

1

164=100%

10 16

32 68

26 20 15

4

3

14

10 74=100%

8 14 21

9

11 15 38 51 13 17 135=100%

4 19

2 11

10 5 24 32

6

7

4

59=100%

3 14 19

a

Der Gemeindetyp wurde nach Vorgabe der Boustedtkategorien durch Selbsteinstufung der Befragten erhoben.

b

Der Quotient gibt das Verhältnis Männer/Frauen als Verhältniszahl an.

Für die Analyse der Mitgliederstruktur nach diesen beiden Gemeindetypen ist vor allem die Dominanz der ländlichen Kleinstädte zu beachten. Andererseits bestätigt sich die große Bedeutung der studentischen Mitgliederschaft, unabhängig vom Gemeindetyp. Auch sind die Ortsverbände der industriell geprägten Gemeinden mitgliederstarker.

199

Parteipolitische Aktivitäten der Griinen

3.2.

Mitgliederentwicklung: Bewegung in der Bewegung?

Von besonderem Interesse für die Beschreibung der Mitgliederstruktur ist die Entwicklung der Mitgliederzahlen und deren Bilanzierung auf Ortsverbandsebene. Die Bandbreite der Mitgliederzahl der einzelnen Ortsverbände variiert zwischen sieben und maximal 23 Personen. Durchschnittlich weisen die Ortsverbände eine Mitgliederzahl von 13 bis 14 Personen auf und können insofern als Kleingruppen eingestuft werdenn. Elf der insgesamt 18 Ortsverbände haben eine Mitgliederzahl von 10 bis 19 Personen und stellen zusammen ca. 65 Prozent der Mitgliederschaft der Grünen in dieser Studie.

Tabelle 3:

Anzahl der eingetragenen Mitglieder nach Ortsverbänden•

MITGLIEDERZAHL

ANZAHLDER ORTSVERBÄNDE abs.

bis 9 Mitglieder 10 - 19 Mitglieder 20 und mehr Mitglieder a

5

11 2

ANTEIL AN DER GESAMTMITGLIEDERSCHAFf in%

abs.

17 65 18

41 155 43

Unter eingetragenen Mitglieder werden nur die Personen verstanden, die den Grünen durch Abgabe des schriftlichen Aufnahmeantrages beigetreten sind.

Mit der Betrachtung der Mitgliederzahl der Ortsverbände ist hier zum ersten Mal die Verbindungsproblematik, d.h. die Frage nach den organisatorischen und individuellen Beziehungen zwischen den Grünen und den neuen sozialen Bewegungen, konkret ausgesprochen. Ausgehend von der in der Literatur dokumentierten Ausweitung individueller politischer Handlungsfelder (z.B. gleichzeitige Aktivitäten einer Person in einer Bürgerinitiative und in einer Partei), wäre eine Beteiligung von Anhängern neuer sozialer Bewegungen als Sympathisanten an den Aktivitäten der Grünen zu erwarten. Hinzu kommt, daß die Grünen sich in einer Gründungsphase befanden und eventuell die individuelle Entscheidung über einen Parteieintritt erst nach einer Phase informeller Mitarbeit erfolgte. Durch die Interaktion mit den Gruppierungen aus dem Umfeld der neuen sozialen Bewegungen könnte den Grünen somit ein Potential von "mithelfenden", aber abwartenden Sympathisanten zur Verfügung gestanden haben. Entsprechend wurde in der Studie nach der regelmäßigen Teilnahme von Nichtmitgliedern an den Ortsverbandssitzungen gefragt.

11

Der Aspekt, daß die lokalen Gruppen der Grünen eigentlich als Kleingruppen anzusehen sind, wird in vielen Aufsätzen, die die Grünen quantitativ und/oder strukturell behandeln, übersehen.

200 Tabelle 4:

Uwe Pfenning

Anzahl der Sympathisanten, die regelmäßig an den Parteisitzungen der Ortsverbände der Grünen teilnehmen

keine Anzahl der Ortsverbände Anzahl der Personen

4

Anzahl der Personen 1-2 3-4 9 16

1 4

5-7

Summe abs.

4 27

18 47

Insgesamt werden 47 Nichtmitglieder in 18 Ortsverbänden als regelmäßige Teilnehmer an den Parteitreffen genannt. Das bedeutet, daß in der Mehrzahl der Ortsverb!!nde neben den regulären Mitgliedern ein weiteres, in der Regel kleines Mitarbeiterpotential vorhanden ist (16 Prozent). In drei Ortsverbänden stellen die Sympathisanten jedoch über 40 Prozent der an den Parteisitzungen regelmäßig teilnehmenden Personen. Diese Entwicklung ist unabh!!ngig vom Gründungsjahr und von situativen Faktoren der Ortsverbände12. Die geringe Mitgliederzahl und die statistische Unabh!!ngigkeit der Mitgliederentwicklung und der Sympathisantenzahl vom Gründungszeitpunkt des Ortsverbandes läßt nicht vermuten, daß dieses Potential längerfristig in die Partei formal integriert wird und ständig neue Anhängerkreise entstehen. Dies verdeutlicht bereits in Ansätzen die personellen Probleme der Grünen. Im Zusammenhang damit ist die Mitgliederbewegung nach Ein- und Austritten zu sehen. Die Bilanzierung der Mitgliederstatistik ist durch die hohe Anzahl fehlender Motivnennungen beeinträchtigt. Dennoch lassen sich einige interessante Punkte festhalten. In den Ortsverbänden der Studie waren im Bezugszeitraum 1983/84 117 Neueintritte zu verzeichnen; dabei ist zu berücksichtigen, daß acht Ortsverb!!nde erst 1983 und zwei Ortsverbände sogar erst 1984 gegründet worden waren. Diese Neueintritte entsprechen ca. 49 Prozent aller erfaßten Mitglieder. Hier zeigt sich also die relative "Jugend" der Parteiorganisation. Saldiert man die Eintritte und Austritte, so ergibt sich ein "NettoMitgliederzuwachs" von 82 Personen für den Bezugszeitraum. Neben den Neueintritten sind die Übertritte von anderen Parteien und von außerparlamentarischen Gruppen ohne größere Bedeutung (fünf Prozent bzw. sechs Prozent). Angesichts der Verbindungsthese undangesichtsprominenter Mandatsträger der Grünen, die von anderen Organisationen zu den Grünen überwechselten, mag dies überraschenB.

12 Aufgrund der geringen Fallzahl wurde für die Durchführung des exakten Fischer-Wahrscheinlichkeitstests eine Recodierung für eine Vierfeldertafel vorgenommen und zusätzlich eine einfache bivariate Regression mit dem Gründungsjahr als unabhängige Variable berechnet. Für beide Testverfahren ergaben sich deutlich nicht signifikante Ergebnisse (Fischer-Test P = .41; Regressionskoeffizient r2= .02) 13 So entstammte u.a. das ehemals führende Mitglied der Grünen Baden-Württemberg W.D. Hasenclever ebenso der SPD wie z.B. die Gruppe der Grünen Liste Bremen um Olaf Dinne. Der Bundestagsabgeordnete A. Mechtersheimer trat von der CSU zu den Grünen über.

201

Parteipolitische Aktivitäten der Grünen

Tabelle 5:

Mitgliederbewegung der Grünen nach Ortsverbanden und Personensumme im Jahr 1983/84

EINTRITI'E/AUSTRITTE

ANZAHL ORTSVERBÄNDE

ANZAHL PERSONEN

abs.

abs.

in%

Eintritte: 1 - 5 Personen 6 - 10 Personen 10 und mehr Personen

11 3 4

Austritte: keine 1 - 5 Personen 6 und mehr Personen

33 21 63 Summe: 117

28 18 54 100

7 9 2

21 14 Summe: 35

60 40 100

MOTIVLAGEN" Eintritte: Beitritt bei Gründungsversammlung ~eitritt wegen Bundestagswahl1983 ~bertritt von außerparteilicher Gruppe Ubertritt von anderer Partei Ohne Motivangabe

4 2 2 3 11

47 9 7 6 53

39 7 6 5 43

5 2 3 2 1

20 9 3 2 1

57

Austritte: Austritt wegen persönlicher Konflikte No-Future-Einstellung/Desinteresse Wechsel zu anderer Organisation Formale Gründe (Wegzug u.a.) Ohne Motivangabe a

25

9 6 3

Mehrfachangaben je Ortsverband möglich.

Als Motive für die Parteiaustritte werden überwiegend persönliche Konflikte und Desinteresse angeführt (82 Prozent). Sieht man von den Eintritten im Zusammenhang mit Neugründungen von Ortsverbänden einmal ab und bezieht zugleich die Austritte in die Berechnung ein, so verbleibt nur eine geringe Zuwachsrate von 35 Personen (15 Prozent aller Mitglieder). So gesehen sind die Grünen in dem untersuchten Fall keineswegs eine "Wachstumspartei".

3.3.

Organisationsformen: Von Rotationen und Konflikten

Die Debatte über das Rotationsprinzip rückte die Organisationsfrage zeitweise in den Mittelpunkt von Diskussionen innerhalb und außerhalb der Grünen, wobei diese Diskussionen nicht nur auf Wahlmandate, sondern auch auf die innerparteilichen Funktionsäm-

202

Uwe Pfenning

ter bezogen waren. Damit sehen sich die Grünen in besonderer Weise durch die Oligarchiethese von Michels (1925) herausgefordert. Zur Beschreibung der Organisationsstruktur wurde in dieser Studie nach der Zusammensetzung und den Aufgaben des Vorstandes, dem Rhythmus und der Bedeutung der Parteisitzungen sowie nach dem Gründungsjahr des Ortsverbandes gefragt. Tabelle 6:

Gründungsjahr

1979 1980 1982 1983 1984

a

Anzahl der gewahlten Vorstande in Abhangigkeit vom Gründungsjahr

keinen

2 1 Summe: 3

Anzahl der gewählten Vorstände (absolute Anzahl der Nennungen) 1-2 3-4 5 und mehr

1 4 1 1 7

1 1

1

3

2

5

3

abs.

Summea in%

1 3 4

6 17 22

8

44

2 18

11 100

Summe der Ortsverbände für das jeweilige Jahr.

Die Mehrzahl der Ortsverbande wurde, wie bereits gesagt, erst nach 1982 gegründet, lediglich vier Ortsverbande konstituierten sich schon vor 1981. Der Gründungsschub im Jahr 1983 setzte sich auch 1984 fort 14• Hier kann ein Zusammenhang mit dem positiven Abschneiden der Grünen bei der Bundestagswahl 1983 (bundesweit 5,6 Prozent, in Rheinland-Pfalz 4,6 Prozent) vermutet werden, zumal die Ergebnisse demoskopischer Umfragen den Grünen stetig steigende Wahleranteile signalisierten. Innerhalb der Ortsverbande und besonders für die nach 1982 gegründeten ist eine große Vorstandsfluktation zu verzeichnen. Als mögliche Begründungen kommen Vorstandsrotationeil oder gruppenpsychologische Konfliktsituationen in Betracht. Jedoch erbrachte die Studie, daß in nur einem Ortsverband ausdrücklich eine Vorstandsrotation angestrebt wurde. Hingegen laßt sich statistisch ein schwacher Zusammenhang zwischen Konflikten im Ortsverband und vermehrten Vorstandswahlen nachweisen 15 • Dieser Zusammenhang wird deutlicher, wenn man die Angaben zu den Vorstandsaufgaben qualitativ auswertet und sie in Bezug zur personellen Ausgestaltung setzt. In 13 der 18 Ortsverbande unserer Studie entspricht die personelle Zusammensetzung gerade den vereinsrechtlichen Mindestanforderungen von zwei bis drei Personen. Insgesamt nehmen 46 Personen Vorstandsamter wahr, darunter 70 ProzentMannerund 30 Prozent Frauen. In vier Ortsverbanden sind keine Frauen im Vorstand vertreten, in einem Ortsverband stellen die Frauen die Vorstandsmehrheit In der Regel setzt sich bei 14 Ende 1984 existierten nach Angabe der Landesgeschäftsstelle bereits 84 Ortsvereine, für 1988 werden über 120 Ortsverbände angegeben. 15 Bei Ortsverbänden mit drei und mehr gewählten Vorständen (N = 8) nennen sieben vorhandene Konflikte, lediglich ein Ortsverband negiert die Konfliktfrage (Fischer-Test p = 0.08).

Parteipolitische Aktivitäten der Grünen

203

den Grünen der Vorstand eines Ortsverbandes aus zwei Mannern und einer Frau zusammen. Die Vorstande haben nach eigenen Angaben nur formal-repräsentative Funktionen wahrzunehmen. Als Aufgaben werden hauptsächlich organisatorische Belange (Einladungen, Terminkoordination, formale Kontakte, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Organisation von Veranstaltungen) genannt, eine inhaltlich-programmatische Kompetenz wird ihnen nicht zuerkannt. Es finden auch keine gesonderten Vorstandssitzungen statt. Die geringe personelle Besetzung der Vorstande steht im Widerspruch zu den arbeitsintensiven Funktionsanforderungen. Zugleich wird der Anreiz, Vorstandsfunktionen auszuüben, durch die Auslagerung programmatischer Kompetenzen vermindert. So werden in der Mehrzahl der Konfliktnennungen denn auch "Macher-Basis-Konflikte" angegebent6. Bezieht man den Sitzungsrhythmus als einen wesentlichen Faktor der organisatorischen Belastung in die Betrachtung ein, wird die Überforderung der Kleinvorstande noch deutlicher. 14 Ortsverbande tagen alle zwei Wochen, wöchentlich oder sogar noch öfter, lediglich vier Ortsverbände tagen nur einmal monatlich oder nach Bedarf bzw. Absprache.

3.4.

Aktivitätstypologie: Grilne Gladiatoren

Die regelmäßigen Parteitreffen sind bereits Bestandteil der Aktivitätsmuster der Ortsverbände der Grünen. Weiterhin wurde, in Anlehnung an die Studie von Becker/Hombacht7, nach innen- und nach außengerichteten öffentlichen Aktivitäten der Ortsverbande unterschieden. Erweitert wird die Analyse durch die Betrachtung von konventionellen und unkonventionellen Aktionsforments. Zu den wenigen Fallstudien über das Ausmaß individueller Partizipation in Parteigliederungen wurde oftmals versucht, zwischen dem aktivem Kern und passiven Mitgliedern zu unterscheident9. Diese Unterscheidung kann sowohl in Zusammenhang zu verschiedenen Theorien über Gruppenprozesse als auch - angesichts der geringen Mitgliederzahlen für alle Parteien von zusammengenommen ca. vier Prozent der Bevölkerung - zur allgemeinen Partizipationsde-

16 Insgesamt bejahen zwölf Ortsverbände vorhandene Konflikte; neun von ihnen benennen Konflikte zwischen Vorstandschaft und Mitgliedern. 17 Vgl. Becker/Hombach, Die SPD von Innen (Anm. 6). 18 Vgl. hierzu Samuel H. Bames/Max Kaase et al., Political Action: Mass Participation in Five Western Democracies, Beverly Hills, Sage 1979. 19 Nach unterschiedlichen Operationalisierungen, die auch die Vergleichbarkeit der Prozentsätze beeinträchtigen, wurde dies in den Studien von Becker/Hombach, Meyenberg und Niedermayer (vgl. Anm.6) versucht. Die Ergebnisse für den Anteil aktiver Mitglieder schwanken hierbei zwischen 11 Prozent (Meyenberg), 15 Prozent (Becker/Hombach) und 24 Prozent (Niedermayer). Der Begriff "Gladiatoren" ist von Lester W. Milbrath entliehen, der damit die fast professionelle Aktivscharten der Parteieliten umschreibt. Vgl. Lester W. Milbrath, Political Participation- How and Why Do People Get Involved in Politics, Chicago 1965.

204

Uwe Pfenning

batte gebracht werdenzo. Einbezogen in die Betrachtung der innerparteilichen Beteiligung wurden wiederum die Sympathisantenanteile (vgl. Abschnitt 3.2). Tabelle 7:

Aktivitätseinstufung der Mitglieder und Sympathisanten nach Ortsverbänden

Personenkreis

Regelmäßig aktive Mitglieder Regelmäßig aktive Sympathisanten Gelegentlich aktive Mitglieder Gelegentlich aktive Sympahtisanten

Anzahl Personen je Ortsverband 1-3 4-6 7-9 10 und mehr 1

9

7

4

5

4

13

2

5

1

Mittelwert

(a)

6.8

18

122

2.8

11

31

6

6.8

16

108

2

5.4

17

51

3

Summe

(b)

(a) Summe der Ortsverbände für den entsprechenden Personenkreis. (b) Summe der Personen für den entsprechenden Personenkreis.

Im Verhältnis zu den Ergebnissen anderer Parteistudien weisen die Mitglieder der Grünen ein außerordentlich hohes Aktivitätsniveau auf. Von 239 Mitgliedern sind ca. 51 Prozent regelmäßig, und weitere 46 Prozent gelegentlich aktiv. Durchschnittlich sind auf Ortsvereinsebene sechs bis sieben Personen regelmäßig aktiv. Zugleich zeigt sich, daß fast alle Mitglieder zu bestimmten Zeitpunkten an der Gestaltung der Ortsverbandspolitik beteiligt waren. Das weist nochmals auf den Kleingruppencharakter der Ortsverbande hin. Die Aktivitätseinstufung der Sympathisanten erbringt eine Relativierung des Anteils der tatsächlich aktiven Nichtmitglieder. 31 Personen in elf Ortsverbänden können zum aktiven Kern gezählt werden, weitere 51 Nichtmitglieder in 17 Ortsverbänden sind nur gelegentlich aktiv. In fast allen Ortsverbänden der Grünen sind mehr oder minder aktive Nichtmitglieder vorzufinden. Der Anteil der Frauen am aktiven Kern liegt bei ca. 32 Prozent und entspricht damit dem weiblichen MitgliederanteiL Jedoch sind ca. 49 Prozent aller weiblichen Mitglieder und lediglich ca. 43 Prozent aller mannliehen Mitglieder regelmäßig aktiv. Im Vergleich vor allem zu den anderen Parteien sind die "Grünen" Frauen in der Parteiarbeit ganz außerordentlich engagiert.

20 Hierunter wird die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Alter von 16 und mehr Jahren verstanden. Diese Bezugsgröße wurde verwendet, weil nach allen Parteisatzungen mit Erreichung des 16. Lebensjahres der Eintritt in eine Partei möglich ist. In absoluten Zahlen entsprechen diese vier Prozent ca. 1,98 Mio. parteipolitisch organisierten Personen.

205

Parteipolitische Aktivitäten der Grünen

Der Anteil der aktiven Personen ist mit annähernd 45 Prozent bei den unter 25jährigen Mitgliedern am höchsten. In der Altersgruppe der 25-29jährigen sind noch etwa 33 Prozent, bei den über 30jährigen noch etwa 30 Prozent beständig aktiv, und erst bei den über 60jährigen steigt der Aktivitätsgrad wieder auf ca. 44 Prozent an. Lebenszyklische Einflüsse (universitäre Ausbildung, berufliche Orientierung und Etablierung, Familien- und Ruhestand) sind mögliche Erklärungen für diesen Befund. Ein weiterer Aspekt sind die öffentlichen Aktionsformen. Im wesentlichen dominieren auch bei den Grünen tradierte und bewährte Formen öffentlicher Parteiarbeit Podiumsdiskussionen, Informationsveranstaltungen und Informationsstände bilden mit etwa 77 Prozent aller öffentlichen Aktionen den Schwerpunkt der öffentlichen Selbstdarstellung. Filmvorführungen und kulturelle Veranstaltungen ergänzen die genannten Veranstaltungsweisen in geringem Maße.

Tabelle 8:

Aktionsformen der Ortsverbände der Grünen 1983/84

AKTIONSFORM

HÄUFIGKEIT JE ORTSVERBAND 0 1-2 34 5 und mehr

KONVENTIONELLE AKTIONEN: Podiumsdiskussion/Referat-, Informationsveranstaltung 6 Filmveranstaltung 14 Informationsstand 8 Kultur und Musik 14

4 3 1 3

3 1 2 1

UNKONVENTIONELLE AKTIONEN: Demonstration/Kundgebung 15 14 Sitzstreik

2 3

1

5 7

1

SUMME abs. in%

46 7 58 8

34 5 43 6

8 7 Summe: 134

6 6 100

Die als unkonventionell eingestuften Partizipationsformen wie die Durchführung von Demonstrationen und Sitzstreiks bzw. Blockaden haben einen Anteil von 12 Prozent am Gesamtaufkommen der öffentlichen Aktionen 21 . Die zusätzlich erhobene Angabe über die Anzahl der Teilnehmer bewegt sich zwischen 10 und 50 Personen. Es handelt sich also offenbar um kleinere Aktionen im lokalen Kontext. Neben diesen mehr beschreibenden politischen Handlungsweisen der Ortsverbände sind die Handlungsbereiche der Mitglieder und der Ortsverbände von großer Bedeutung. In ihrer Political-Action-Studie weisen Harnes, Kaase et al. 22 auf eine politische Repertoireausweitung der Bürger hin. Vorhandene, tradierte Formen politischer Beteiligung (z.B. Mitarbeit in einer Partei) werden durch neue Formen (z.B. Mitarbeit in

21 22

Die Einordnung in konventionelle und unkonventionelle Aktionsformen orientiert sich hierbei an der Political-Action-Studie von Bames/Kaase et al. (Anm. 18). Vgl. ebd.

206

Uwe Pfenning

Bürgerinitiativen) ergänzt, nicht aber ersetzt. Diese parallel besetzten politischen Handlungsfelder führen zu Mehrfachmitgliedschaften, die wiederum insbesondere unter Gesichtspunkten der Mobilisierung von Bedeutung sind. Diese politischen Netzwerke sind Gegenstand der nachfolgenden Darstellungen.

3.5.

Politische Netzwerke: Parallelen

Innerhalb der Studie wurde nach parallelen Mitgliedschaften der Mitglieder in anderen Organisationen und nach Kontakten des Ortsverbandes als politischer Handlungseinheit zu solchen Organisationen unterschieden. Tabelle 9 dokumentiert die Verteilung der parallelen Mitgliedschaften bzw. Zugehörigkeiten zu anderen Organisationen. Tabelle 9:

Parallele Zugehörigkeiten der Mitglieder der Grünen in Verbänden und anderen Gruppierungen•

ORGANISATION

Bundesverband Umweltschutz (BBU) Bürgerinitiative Jugendzentrum Frauengruppe Friedensgruppe Umweltgruppec DGB-Mitglied Sportverj!ine Sonstige

a b

c

d

ANZAHLDERPERSONEN SUMMENBILDUNG FÜRb... 1-2 34 5 und Ortsverbände Nennungen mehr abs. in% Rang abs. Rang 3 4 3 3 4 3 4 4 4

2 2 3 2 5 3

1 1 4 1 1

3 7 4 5 11 6 10 7 4

17 39 22 28 61 37 56 39

9 3 7 6 1 5 2 3

4 18 9 10 35 19 30 15 17 Summe: 157

9 4 7 6 1 3 2 5

Mehrfachnennungen je Ortsverband möglich. Die Summenbildung für die Personen bezieht sich auf die Organisationsnennungen. Aufgrund der Mehrfachnennungen ist die Summe von 157 Nennungen nicht unmittelbar mit der Anzahl von Personen gleichzusetzen. Hierunter wurden die Angaben für den Bund, Greenpeace und Gnorr gefaßt. Im Gegensatz zum BBU, der neben Fördermitglieder im eigentlichen Sinne nur Einzelorganisationen umfaßt, sind diese Umweltgruppen mitgliederorientiert. Hierunter fallen Angaben ohne konkrete Angabe der Organisation (z.B. Betriebsräte, andere Vereine u.a.).

Insgesamt wurden 157 außerparteiliche Verbindungen angegeben. Die quantitativ bedeutsamsten Gruppen für die Mitglieder der Grünen sind die Friedensinitiativen, die Ortskartelle des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Umweltverbande und lokale

207

Parteipolitische Aktivitäten der Grünen

Bürgerinitiativen. Mit Ausnahme der Sportvereine und des DGB können die aufgeführten Vereinigungen den neuen sozialen Bewegungen zugerechnet werden23 • Bei den Mehrfachmitgliedscharten handelt es sich überwiegend um Einzelkontakte, d.h. lediglich ein bis drei Mitglieder je Ortsverband gehören den genannten Organisationen an. Die absolute Anzahl von 157 Nennungen ist allerdings ein Indiz für die außerordentlich hohe personelle Verflechtung. Insbesondere den Friedensinitiativen kommt in diesem Zusammenhang eine herausragende Bedeutung zu. Zu ihnen weisen die Mitglieder der Grünen die größte politische Affinität auf, denn in 67 Prozent aller Ortsverbände sind derartige individuelle Mehrfachmitgliedscharten anzutreffen. Als weiteres Spezifikum gehören in fünf dieser elf Ortsverbände mehr als vier Mitglieder gleichzeitig der örtlichen Friedensinitiative an. Hinsichtlich dieser Struktur der Außenkontakte der Mitglieder der Grünen unterscheiden sich die Friedensgruppen deutlich von den Umweltverbänden und den Bürgerinitiativen. Diese besondere Stellung kann im Zusammenhang mit der öffentlichen Diskussion über die Stationierung der Pershingli-Raketen bzw. der Cruise-Missiles-Marschflugkörper und der sich daraus ergebenden Mobilisierung der Friedensbewegung in den Jahren 1982-85 gesehen werden. Der hohe Anteil gleichzeitiger individueller Mehrfachkontakte weist auf eine kollektive Mitarbeit und somit auf das große Ausmaß an Unterstützung hin, das die Grünen diesen Initiativen zugewendet haben. Dies spiegelt sich auch bei der Betrachtung der Organisationsnetzwerke wieder. Die Ortsverbände und die Gruppierungen der neuen sozialen Bewegungen sind hierbei als korporative Akteure zu verstehen. Tabelle 10:

Organisationskontakte der Ortsverbände der Grünen

Organisation/ Partei

CDU SPD FDP Jungsozialisten Vereine Bürgerinitiative Umweltgruppe Frauengruppe Friedensinitiative

Anzahl der Ortsverbände Abs. 2 6 1 3 2 2 7

1 9

AufschlüsseJung nach der Art der Kontakte Nur Informations- Mitar- Gemeinsame formal austausch beit Aktionen 1 2

3

1 1

1

1

1

1 1

2

1

3

1" 1" 1a 1 1 1 4 1 3

a

Die Angaben über gemeinsame Aktionen mit CDU,F.D.P. und SPD beziehen sich auf eine Podiumsdiskussion eines Ortsverbandes.

23

Vgl. für die Zuordnung der verschiedenen Initiativen zum Kreis der sogenannten neuen sozialen Bewegungen u.a. Joachim Huber, Wer soll das alles ändern? Die Alternativen der Altemativbewegung, Berlin 1980.

208

Uwe Pfenning

Tabelle 10 dokumentiert nicht nur den quantitativen Umfang, sondern auch die Qualitat der Kontakte. Auch in den Organisationsnetzwerken bestatigt sich die besondere Rolle der Friedensinitiativen: Die Art der Kontakte ist mehrheitlich auf Mitarbeit und Kooperation ausgerichtet. Zwar sind auch die Umweltgruppen insgesamt von großer Bedeutung für die Organisationsnetzwerke der Grünen, jedoch sind die individuellen parallelen Mitgliedschaften hier deutlich niedriger als bei den Friedensinitiativen (vgl. Tabelle 9). Die Auswertung der Qualitat der Kontakte Jaßt zumindest der Tendenz nach einen weiteren Unterschied zwischen Friedensgruppen und Umweltgruppen erkennen. Mit letzteren verbindet die Ortsverbande der Grünen die Durchführung gemeinsamer Aktionen, mit den Friedensgruppen darüber hinaus die wechselseitige Mitarbeit. Die lokalen Bürger- und Frauengruppen haben für die Organisationsnetzwerke nur eine geringe Relevanz und beruhen mehr auf den persönlichen Einzelkontakten. Interessant sind auch die zahlreichen Verbindungen der Ortsverbande der Grünen mit der SPD und den Jungsozialisten. In den bisherigen Darstellungen wurden nur die Haufigkeiten der Nennungen für individuelle und für organisationsbezogene Beziehungen analysiert. Von Bedeutung sind aber auch Kongruenz und Dichte dieser beiden politischen Netzwerktypen. Der Kongruenzbegriff bezieht sich hierbei auf die Heterogenitat bzw. Homogenitat von Netzwerken, d.h inwieweit individuelle und organisatorische Kontakte zu einer außerparteilichen Gruppierung auf lokaler Ebene zusammenfallen. Die Dichte beschreibt hingegen die Kombination(en) der individuellen und organisationsbezogenen Kontakte im Ortsverband.

Tabelle 11: Kongruenz von individuellen außerparteilichen Mitgliedschaften und politischen Organisationskontakten der Ortsverbande der Grünen für ausgewahlte Gruppierungen• Organisation/ Vereinigung

Frauengruppe Bürgerinitiative Umweltgruppe(n) Friedensgruppe Summe: a

Inkongruente Verbindungen Nur MitgliederNur Organisakontakte tionskontakte 5 7 2 5

19

Kongruente Verbindung

Keine Verbindung

Anzahl der Ortsverbände je Nennungsmöglichkeit 1 keine 12 2 keine 9 3 4 9 3 6 4 9 10

Der Begriff Kongruenz ist bezogen auf die Netzwerkhomogenität bzw. -heterogenität, er dient jedoch auch zur Unterscheidungzweier Netztypen (lndividualkontakte und Organisationskontakte). Deshalb wurde dieser Begriff der tradierten Netzwerksemantik vorgezogen.

Bei den Frauen- und kommunalen Bürgerinitiativen besteht keine Gleichzeitigkeit (=Kongruenz) von Individual- und Organisationsverbindungen. Für diese Gruppierungen bestatigt sich die Dominanz der Individualkontakte. Bei den Umwelt- und Friedens-

Parteipolitische Aktivitäten der Grünen

209

initiativen herrschen hingegen kongruente, gleichzeitige Kontakte in den Ortsverbanden vor. Individuelle Personalunion und organisatorische Verflechtungen sind für diese Verbande verstärkt vorzufinden. Ein weiterer Befund ist die Bedeutung der neuen sozialen Bewegungen als politischem Partner für die Grünen. Lediglich ein Ortsverband hat keinerlei parteiexterne Beziehungen. In den restlichen 17 Ortsverbänden sind Kontakte zu ingesamt 38 Vereinigungen aus dem Umfeld der neuen sozialen Bewegungen anzutreffen. Im Zusammenhang mit der in den Sozialwissenschaften geführten Diskussion über die Anzahl von selbstorganisierten Gruppen, Bürgerinitiativen usw. unterstützt dieses Resultat eher die zahlenmäßig hoch angesetzten Schätzungen24. Dies zeigt sich auch in der Verteilung der örtlichen Präsenz dieser Gruppierungen, gemessen an den individuellen und organisatorischen Kontakten mit den Grünen. In vier Ortsverbänden ist nur ein Kontakt vorzufinden, in 13 Ortsverbänden gibt es hingegen Assoziationen zu zwei und mehr Umfeldorganisationen der neuen sozialen Bewegungen. Unter allen Mehrfachkontakten finden sichjeweils Friedensgruppen. Mit den Daten dieser Studie konnte nicht nachgeprüft werden, inwieweit es sich hierbei um Mehrfachmitgliedschaften handelt. Desgleichen wurden Gruppierungen der neuen sozialen Bewegungen, die keinen Kontakt zu dem jeweiligen Ortsverband der Grünen haben, nicht erfaßt. Die kleine Einwohnerzahl der Gemeinden, im Verbund mit den ohnehin vorgefundenen Mehrfachkontakten, spricht jedoch für die Annahme, daß weitgehend alle vorhandenen lokalen Vereinigungen der neuen sozialen Bewegungen erhoben wurden.

4. Ergebnisse und Zusammenfassung

Die vorliegende Fallstudie über die Ortsverbände der Grünen Rheinland-Pfalz im Jahre 1984 erbrachte erwartete und unerwartete Ergebnisse. Zunächst verdeutlichte die Analyse der Mitgliederstruktur drei markante Besonderheiten. Es dominiert (80 Prozent) die jüngere Altersgruppe zwischen 18 und 30 Jahren, der Frauenanteil ist sehr hoch, und schließlich fällt der große Anteil der Mitglieder auf, die sich in einer universitären Ausbildung befinden. Diese drei Faktoren unterscheiden die Grünen von der Mitgliederstruktur der anderen Parteien, und zwar sowohl bezüglich der Wähler25 als auch bezüglich der Parteimitglieder. Bedeutsam erscheint auch das Verhältnis zwischen Wählerpotential und Mitgliederzahl. Im Gegensatz zu den verhältnismäßig hohen Wahlanteilen der Grünen in Rheinland-Pfalz ist der Mitgliederstand 1984 nur als gering einzustufen. Dies zeigt sich auch im Vergleich mit dem Organisationsgrad anderer Parteienu. Die Grünen präsentieren sich 24 Vgl. zu den verschiedenen Schätzungen Bernd Guggenberger, Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, Mainz 1980, S. 26. 25 Vgl. Wilhem Bürklin, Die Grünen, in: Rüdigervon Voss/Karl Friedrich (Hrsg.), JungwählerWem gehört die Zukunft, Stuttgart 1986, S. 145-177. 26 Die Grünen verfügten in Rheinland-Pfalzbei den verschiedenen Wahlen über absolute Stimmenanteile zwischen 114 000 (Landtagswahl 1983, 4.5 Prozent) und 128 636 (Landtagswahl

210

Uwe Pfenning

damit als eine WählerparteL Von der Gründung der Grünen sind offensichtlich keine großen Impulse fi.lr eine verstärkte Politisierung, insbesondere von Jugendlichen, ausgegangen. Das zentrale, eigentliche Ergebnis dieser Studie stellt die Dokumentation der engen Verbindungen zwischen den Gruppierungen der neuen sozialen Bewegungen und der Partei die Grünen dar. Die Analyse der Netzwerke und der Aktivitätstypologie konnte aufzeigen, daß die von Barnes, Kaase et al. 1979 formulierte individuelle politische Repertoire-Ausweitung ein Faktum ist und sich in die Organisations- und Aktivitätsform einer neuen (!) Partei übertragen hat. Vielfach sind die Mitglieder der Grünen "Personalunionisten", d.h. sowohl Mitglieder bzw. Mitstreiter in Bürgergruppen als auch zugleich Parteimitglieder. Bei den Aktionsformen der Partei kommen jedoch überwiegend probate, konventionelle Mittel zum Einsatz. Diese Struktur einer Basispartei und einer Doppelstrategie sichert den Grünen ein großes MobilisierungspotentiaL Diese Aussage gilt jedoch nicht gleichermaßen fi.lr alle Gruppen der neuen sozialen Bewegungen. Am engsten verbunden sind die Grünen mit den Friedensgruppen im Land. Überraschen mag die Tatsache, daß die Umweltverbände primär fi.lr den Bereich gemeinsamer Aktionen bedeutsam sind, nicht aber als Mitgliederreservoir. Hierbei könnte es von Bedeutung sein, daß die Umweltverbände sich schon einige Zeit vor den Grünen organisatorisch formierten (zu Beginn der Siebziger Jahre) und damit bereits teilweise das Aktivpotential der neuen sozialen Bewegungen (ein)banden. Kommunale Bürgerinitiativen und Frauengruppen sind ohne größere Bedeutung. Die vergleichende Analyse der politischen Individualnetzwerke und der Organisationsnetzwerke der Ortsverbände belegt die Einseitigkeit der Netzwerkkongruenz. Organisationskontakte bestehen ausschließlich zu denjenigen Gruppen, die öffentliche Themen (Umwelt, Frieden) aufgreifen und behandeln. Die Verbindung zu Frauengruppen und zu kommunalen Bürgerinitiativen wird über Einzelkontakte von Mitgliedern aufrechterhalten. In den verschiedenen Analysen wurde auch eine bislang unterbewertete Komponente "grüner" Strukturen aufgezeigt: die Konfliktanfälligkeit der - im soziologischen Sinne Kleingruppen der Ortsverbände der Grünen. Die Abwahl des fundamentalistisch orientierten Bundesvorstandes um Jutta Ditfurth auf dem Karlsruher Parteitag im Dezember 1988 dokumentierte auch nach außen die innerparteilichen Konflikte, die bereits zuvor verschiedentlich eskaliert waren. Die Personalisierung der Konflikte wurde durch diesen Kleingruppencharakter begünstigt. Allerdings ist anzunehmen, daß die Grünen durch ihre interpersonellen und organisatorischen Verbindungen zu Gruppen, die den neuen sozialen Bewegungen nahestehen, bereits über eine Art Stammwählerpotential verfi.lgen und somit auch diese Konfliktlagen ohne größere Wählerverluste überstehen können.

1987, 5,9 Prozent) Stimmen. In Bezug gesetzt zur Mitgliederzahl ergibt sich daraus, daß auf ein Mitglied 1983 ca. 88 und 1987 ca. 61 Wähler kamen. Bezogen auf ihre Mitgliederanteile in Rheinland-Pfalz, betragen diese Zahlen 1983 für die CDU 15 Personen, für die SPD 14 Personen und für die F.D.P. 37 Personen.

211

Parteipolitische Aktivitäten der Grünen

Tabelle 12:

Die Grünen 1980 1982 1984 1986 SPD 1980 1982 1984 1986

DieGrünen 1980 1982 1984 SPD 1980 1982 1986

Vergleich der Zusammensetzung der Wählerschaft von SPD und Grünen nach ausgewi!hlten Merkmalen (in %)

Altersstruktur 18-21 J.

22-29 J.

30-44J.

45-59 J.

60 und älter

19,0 20,2 16,1 10,6

29,9 37,9 29,6 37,6

34,3 28,3 36,5 34,4

11,7 7,1 10,4 10,1

5,1 6,6 7,4 7,3

5,1 4,2 4,2 6,1

16,3 14,6 14,0 15,4

30,4 27,7 30,4 31,5

25,3 24,1 25,4 25,4

22,8 29,3 25,9 21,7

Ideologische Selbsteinstufung auf einer Links-Rechts-Skala" rechts gemäßigt Mitte gemäßigt links rechts links 12,1 8,8 13,2

33,3 37,8 44,3

31,1 38,3 34,4

22,7 11,4 8,0

0,8 3,6 0,0

5,5 4,2 8,4

32,2 30,9 33,9

46,7 49,1 44,1

12,5 11,8 10,7

3,2 3,9 2,9

Postmaterialistische Wertorientierungen (Inglehart-lndex) Postmaterialisten Materialisten Mischtypen Die Grünen 1980 1982 1984 1986

10,9 14,8 6,5 4,1

44,5 35,2 32,2 30,7

44,5 50,0 61,3 65,1

SPD 1980 1982 1984 1986

36,7 36,9 29,6 15,2

46,5 49,5 48,6 55,0

16,4 13,6 21,9 29,8

Quelle: Unveröffentlichtes Manuskript von Pfenningtrrometer für einen ALLBUS-Bericht 1989, erhältlich bei ZUMA Mannheim, Abteilung ALLBUS. Datengrundlage sind die Sozialwissenschaften der Bevölkerungsumfragen allgemeinen repräsentativen (ALLBUS) für 1980, 1982, 1984 und 1986. a

Die Selbsteinstufung erfolgte auf einer lOer Skala, die Recodierung für die Tabellenkategorien ist: links (1,2), gemäßigt links (3,4), mitte (5,6), gemäßigt rechts (7,8), rechts (9,10). Diese Frage wurde im ALLBUS 1984 nicht erhoben.

212

Uwe Pfenning

S. Nachtrag

Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Buches sind die Daten der Fallstudie ca. sechs Jahre alt. Inzwischen sind die Grünen seit der Landtagswahl 1987 im Landtag von Rheinland-Pfalz vertreten, standen in Hessen in einer rot-grünen Koalition zeitweise in der Regierungsverantwortung, haben heftige innerparteiliche Konflikte erlebt und gelten mitunter bereits als etablierte Partei, etabliert allerdings mehr im Sinne eines stabilisierten Wählerpotentials, und als neue "dritte Kraft" im Parteiensystem der Bundesrepublik. Dies kann gesagt werden, obwohl die neuen sozialen Bewegungen ihre Mobilisierungskraft teilweise verloren und insgesamt den Höhepunkt ihrer politischen Bedeutung überschritten zu haben scheinen. Diese Entwicklung ist kein Widerspruch zu den Ergebnissen unserer Fallstudie. Es konnte in einer explorativen Analyse nachgewiesen werden, daß die lokale Existenz von neuen sozialen Bewegungen keine Bedingung fiir die Konstituierung von "Grünen"- Ortsverbänden ist, sondern vielmehr (nur) eine verstärkende, motivierende Wirkung hat 27 • Allgemeine wahlsoziologische Analysen zeigen zudem auf, daß die Grünen innerhalb der jüngeren Wählerschaft ein beständiges Reservoir haben und sich ihre Anhänger inzwischen auf der Links-Rechts-Skala verstärkt linksorientiert verorten. Dies bedeutet, daß die Grünen inzwischen weniger den Charakter einer One-Issue-Partei, sondern einer neuen Linkspartei haben und insofern mit der SPD um Wähler- und Mitgliederanteile konkurrieren28• Insofern scheinen die Grünen und ihre Wahlerfolge gegen die zunehmenden umweltpolitischen Programme und Anstrengungen von SPD und CDU/CSU auch resistent zu sein 29. Angesichts der Knappheit an konzeptionell wohlfundierten Parteienstudien und den Forschungsdefiziten der politischen Soziologie im Bereich der Parteienanalyse erwies sich die Anwendung eines Netzwerkmodells auf die interpersonalen und interorganisatorischen Beziehungen von Parteimitgliedern als interessanter, fiir die Forschung vielversprechender Ansatz. Es wäre wünschenswert, wenn in der Parteienforschung Netzwerkuntersuchungen auf breiterer Grundlage Anwendung finden wUrden.

27 In explorativen Analysen (Fischer-Test, Faktorenanalyse) erwiesen sich die Kennwerte bzw. Wahrscheinlichkeiten für einen Zusammenhang zwischen der Mitarbeit von Nichtmitgliedern und der Präsenz neuer sozialer Bewegungen sämtlich als nicht signifikant. Ergänzende bivariate Regressionen weisen jedoch einen starken Zusammenhang (r2= .46) zwischen der Anzahl der aktiven Nichtmitglieder und der Anzahl der Außenkontakte der Grünen auf. 28 Vgl. auch Bürklin, Griine Politik (Anm. 2); ders., Die Grünen (Anm. 25); Niedermayer, Die Deutsche Sozialdemokratie nach 1945 (Anm. 5); Pfenning, Organisationsstruktur, Mitgliedschaft und parteipolitische Aktivitäten der Griinen in Rheinland-Pfalz im Jahr 1984 Eine politisch-soziologische Ana{yse einer Ortsverbandsbefragung. Diplomarbeit, Universität Mannheim, 1987; Mohler/Pfenning/Pfenning, Parteipräferenzen in sozialen Netzwerken, in: ZUMA-Nachrichten Nr.24, Mannheim 1989, S. 73-86. 29 So ist z.B. der negative Zusammenhang zwischen der Mandatsanzahl der SPD bei einer Kandidatur der Grünen, bezogen auf die Kommunalwahlen 1979/84 in Rheinland-Pfalz, hoch signifikant (Chi-Quadrat, p= 0.03, Pearson's R= -.41, p = 0.01).

Parteipolitische Aktivitäten der Grünen

213

Literatur

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Uwe Pfenning

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II.

Ideologie, Parteien, Issues, Kandidaten

Dieter Fuchs/Steffen M. Kühne!

Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

1. Theoretischer Rahmen und Problemstellung

Das Links/Rechts-Schema ist ein effizienter Mechanismus der Vereinfachung komplexer politischer Sachverhalte durch symbolische Generalisierun{ Die Herausbildung solcher abstrakter Mechanismen ist vor allem in differenzierten politischen Systemen ein funktionales Erfordernis zur Orientierung und Kommunikation der Bürger in der politischen Welt. Das Links/Rechts-Schema hat sich vorwiegend in den westeuropäischen Demokratien als ein politischer Code mit diesen Funktionen institutionaltsiert, während in den Vereinigten Staaten das Liberal/Konservativ-Schema als das funktionale Äquivalent angesehen werden kann. Der über das Links/Rechts-Schema verlaufende Prozeß der Vereinfachung komplexer politischer Sachverhalte ist sicherlich einer der Gründe, warum sich die Links/RechtsSkala als eines der Standardmeßinstrumente in politischen Umfragen durchgesetzt hat. Mit der Selbsteinstufung auf der Skala wird häufig die Erwartung verbunden, daß damit das Resultat dieses Vereinfachungsprozesses im Sinne einer zusammenfassenden Einstellung der Befragten zu den aktuellen politischen Streitfragen gemessen wird. Das Links/Rechts-Schema ist nach diesem Verständnis so etwas wie ein Super-Issue2• Diese Sichtweise impliziert als Voraussetzung die Annahme, daß die Befragten mittels des Links/Rechts-Schemas ständig Synthesen der laufenden politischen Streitfragen vorneh1

2

Vgl. Philip E. Converse, Some Mass-Elite Contrasts in the Perception of Political Spaces, in: Social Sdence lnfonnation, 14/1975, S.49-83; Dieter Fuchs/Hans-Dieter Klingemann, The Left-Right Schema, in: M. Kent Jennings/Jan van Deth et al., Continuities in Political Action, Berlin: de Gruyter 1989; Ronald Inglehart, The Changing Structure of Political Cleavages in Western Society, in: Russen J. Dalton/Scott C. Flanagan/Paul Allen Beck (Hrsg.), Electoral Change in Advanced lndustrial Democracies, Princeton: Princeton University Press 1984, S.2569; Ronald Inglehart/Hans-Dieter Klingemann, Party Identification, Ideological Preference and the Left/Right Dimension among Western Mass Publics, in: Ian Budge/Ivor Crewe/Dennis Fairlie (Hrsg.), Party ldentification and Beyond, London: Wiley 1976, S.243-273; George Th. Mavrogordatos, Downs Revisited: Spatial Models of Party Competition and Left/Right Measurements, in: International Political Science Review, 8/1987, S.333-342; Detlef Murphy et al., Haben "links" und "rechts" noch Zukunft?, in: Politische Vierteljahresschrift, 22, 1981, S.398-414; Cornelis van der Eijk/Broer Niemöller, Theoretical and Methodological Considerations in the Use of Left-Right Scales, Papier, vorgestellt auf dem ECPR Joint Sessions of Workshops, Salzburg, Österreich, 1984. Vgl. Inglehart, Changing Structure (Anm.1), S. 31; Inglehart/Klingemann, ldeological Preference (Anm.1), S.244; van der Eijk/Niemöller, Left-Right Scales (Anm.1), S.8.

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Dieter Fuchs/Steffen M. Kühne/

men. Das würde bedeuten, daß sie quasi-logische Beziehungen zwischen dem abstrakten sogenannten ideologischen Prinzip und spezifischen Einstellungen herstellen können3 und somit zu einem "ideologischen Denken" in der Lage sind. Die Selbsteinstufung auf einer Links/Rechts- oder einer Liberal/Konservativ-Skala wird unter anderem aufgrund dieser Implikation als "ideologische Selbstidentifikation" bezeichnet4. Wir schließen uns diesem Sprachgebrauch an und kommen am Ende unserer Analyse noch einmal auf die Frage zurück, in welchem Sinne bei der Links/Rechts-Selbsteinstufung von Ideologie gesprochen werden kann. Eine Voraussetzung zur Beantwortung dieser Frage ist die KU!rung der inhaltlichen Bedeutung der Selbsteinstufung auf einer Links/Rechts-Skala. Solange diese nicht vorgenommen ist, "ist die Verwendung der Links/Rechts-Selbsteinstufungder Befragten kein geeignetes Maß dafür, die ideologische Orientierung der einzelnen Befragten zu erfassen"s. Die ideologische Selbstidentifikation ist meßtechnisch die Einstufung auf einer Links/Rechts- oder Liberal/Konservativ-Skala. Mit ihr wird neben der Richtung vor allem die Intensität der ideologischen Selbstidentifikation gemessen. Intensität ist ein evaluatives Kriterium und die ideologische Selbstidentifikation somit ein evaluatives Maß6. In der folgenden Analyse wird deshalb die evaluative Bedeutung des Links/Rechts-Schemas thematisiert. Um diese herauszuarbeiten, erweitern wir vorab die Perspektive etwas. Das Links/Rechts-Schema als solches ist lediglich eine räumliche Metapher oder ein räumlicher Archetyp7. Die Orientierungs- und Kommunikationsfunktion kann erst erfüllt werden, wenn dieser Raum mit Bedeutungen verknüpft ist. Entsprechend einer grundlegenden analytischen Differenzierung der Einstellungsforschungs unterstellen wir, daß sich der Bedeutungsraum des Links/Rechts-Schemas aus einer kognitiven und einer evaluativen Dimension konstituiert. Die kognitive Dimension bezieht sich auf die Frage, welche Elemente wie stark mit dem in Frage stehenden Objekt verbunden werden, und die evaluative Dimension bezieht sich auf die Frage, wie diese kognitiv zugeordneten

3

4

5 6 7 8

Vgl. Pamela J. Conover/Stanley Feldman, The Origins and Meaning of Liberal/Conservative Self-ldentification, in: American Journal of Politica/ Sdence, 25/1981, S.617; Donald R Kinder, Diversity and Complexity in American Public Opinion, in: Ada W. Finifter (Hrsg.), Politica/ Science, Washington: American Political Science Association 1983, S.391. Kathleen Knight, Ideology in the 1980 Election: Ideological Sophistkation Does Matter, in: Journal of Politics, 47/1985, S.828-853; Paul M. Sniderman/Philip E. Tetlock, Interrelationship of Political Ideology and Public Opinion, in: Margaret G. Herman (Hrsg.), Politica/ Psychology, San Francisco/London: Jossey-Bass, 1986, $.62-96. Pranz U. Pappi, Die Links-Rechts-Dimension des deutschen Parteiensystems und die Parteipräferenz-Profile der Wählerschaft, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und politisches System, Opladen: Westdeutscher Verlag 1983,$.439. Vgl. Conover/Feldman, Origins and Meaning (Anm.3), S.623; Knight, ldeological Sophistication (Anm.4), S.833. Vgl. Jean A. Laponce, Left and Right, Toronto: University of Toronto Press 1981, S. 10; Giovanni Sartori, Partiesand Party Systems, Cambridge University Press 1976, S.334. Vgl. Martin Fishbein/Icek Ajzen, Belief, Attitude, Intention and Behavior, Reading: AddisonWesley 1975; William J. Mc Guire, Attitudesand Attitude Change, in: Gardner Lindzey!Elliot Aronson (Hrsg.), The Handbook of Soda/ Psychology, New York: Raudom House 1985, $.233346.

Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

219

Elemente bewertet werden9. Nach diesem Verständnis ist die Kognition die Voraussetzung von Evaluation. Dieses Voraussetzungsverhältnis bedeutet nicht notwendigerweise, daß diejenigen Bedeutungselemente, die mit einem Objekt am stärksten verbunden werden, auch mit den intensivsten Affekten besetzt sind. Die Evaluation eines Objekts kann in diesem Sinne also bis zu einem gewissen Grad unabhängig von der Kognition variierento. Eine vollständige Beschreibung der Bedeutung eines Objektes erfordert daher die Erfassung der kognitiven und evaluativen Dimension des Bedeutungsraumes dieses Objektes. Die kognitive Bedeutung des Links/Rechts-Schemas wurde bereits von Fuchs und Klingemannu analysiert. Sie verwendeten denselben Datensatz, der auch unserer Analyse zugrundeliegt Die Autoren haben die kognitive Dimension des semantischen Raumes des Links/Rechts-Schemas auf der Basis offener Fragen nach dem subjektiven Verständnis der Symbole "Links" und "Rechts" rekonstruiert. Eines der Ergebnisse dieser Rekonstruktion war, daß sich der semantische Raum des Links/Rechts-Schemas strukturell aus einer limitierten Menge generalisierter Bedeutungselemente zusammensetzt, die sich inhaltlich auf die grundlegenden politischen Konfliktstrukturen der westlichen Demokratien beziehen. Diese sind nach der klassischen Arbeit von Lipset und Rokkan12 vor allem durch das Klassen- und Religionscleavage bestimmt. Es ergaben sich darüber hinaus indirekte empirische Hinweise, daß sich die (kognitive) Bedeutung des Links/Rechts-Schemas in Richtung einer neuen politischen Konfliktlinie zu transformieren oder zumindest anzureichern beginnt. Diesen Aspekt versuchen wir in unserer Analyse der evaluativen Bedeutung des Links/Rechts-Schemas wieder aufzugreifen. Bei unserer Analyse gehen wir in Analogie zu Fishbein und Ajzen vor, die eine Einstellung zu einem Objekt als eine Funktion von bewerteten Kognitionen (beliefs) begreifenn. Bei der empirischen Erfassung der Einstellung zu einem Objekt ist es nach Fishbein und Ajzen eigentlich notwendig, daß für jeden Befragten dessen zentrale (salient) Kognitionen (beliefs) ermittelt werden14. Wenn das aber aus praktischen Gründen nicht möglich sein sollte, dann können die in der interessierenden Population zentralen Kognitionen verwendet werden. Durch diese "modal salient beliefs"ts, die Kognitionen also, die in der gegebenen Population relativ am häufigsten auftreten, werden die uns nicht bekannten zentralen Kognitionen der einzelnen Befragten jeweils substituiert. Diese Substitution setzt allerdings Informationen über die "modal salient beliefs''voraus. In unserem Fallliegen diese Informationenaufgrund der Analyse von Fuchs und Klin9 Vgl. Fishbein/Ajzen, Attitude (Anm.8), S.222ff. 10 Vgl. Robert P. Abelson, Differences between Belief and Knowledge Systems, in: Cognitive Science, 3/1979, S.355-366; Robert B. Zajonc, Feeling and Thinking, in: Amen·can Psychologist, 35/1980, S.151-175. 11 Fuchs/Klingemann, Left-Right (Anrn.1). 12 Seymour M. Lipset/Stein Rokkan, Cleavage Structure, Party Systemsand Voter Alignments, in: dies. (Hrsg.), Party Systemsand Vater Alignments, New York: The Free Press 1967, S.l-67. 13 Fishbein/Ajzen, Attitude (Anm.8), S.223. 14 Vgl. Ebd., S.218. 15 Ebd., S.219.

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gemann vor. Es handelt sich dabei um die schon erwähnten Bedeutungselemente, die von den Befragten einer repräsentativen Stichprobe mit den Begriffen "Links" und "Rechts" assoziiert werden und die sich inhaltlich auf die grundlegenden politischen Konfliktstrukturen beziehen. Die grundlegenden politischen Konfliktstrukturen manifestieren sich auf verschiedenen Ebenen der gesellschaftlichen Differenzierung. Sie gründen in Interessenkonflikten verschiedener sozialer Gruppen, die ihren Ausdruck innerhalb des politischen Systems als Konkurrenz der politischen Parteien finden. Diese strukturell fundierten Konflikte müssen aber erst interpretiert werden, damit sie politische Wirksamkeit entfalten können. Dies geschieht dauerhaft in Form von gesellschaftlichen Werten und politischen Ideologien und aktuell in Form von Issues. Die genannten Elemente der verschiedenen Manifestationen grundlegender politischer Konfliktlinien - soziale Gruppen, politische Parteien gesellschaftliche Werte und politische Ideologien - sind nach Fuchs und Klingemann die Klassen von Bedeutungselementen, die die Befragten auch empirisch mit den Symbolen "Links" und "Rechts" assoziieren. Die Bewertung der wichtigsten konkreten Typen dieser Klassen von Bedeutungselementen sind in unserem Kontext die bewerteten "beliefs" von Fishbein und Ajzen. Dabei ergibt sich eine Restriktion aufgrund der Datenlage. Der von uns verwendete Datensatz enthalt lediglich die Bewertungen von sozialen Gruppen und politischen Parteien, nicht jedoch der gesellschaftlichen Werte und politischen Ideologien. Wir untersuchen in der folgenden Analyse also die evaluative Bedeutung des Links/Rechts-Schemas, indem wir die Bewertung politischer Akteure (soziale Gruppen, politische Parteien), die die grundlegenden politischen Konfliktstrukturen symbolisch repräsentieren, systematisch in Beziehung zur Links/Rechts-Selbsteinstufung setzen. Dazu spezifizieren und testen wir ein StrukturgleichungsmodelL

2. Datenbasis und Operationalisierungen Grundlage unserer empirischen Analyse sind drei repräsentative Querschnittserhebungen, die im Rahmen der 2. Welle der Politicai-Action-Studie in der Bundesrepublik Deutschland, in den Niederlanden und in den Vereinigten Staaten erhoben wurden. Alle Erhebungen wurden mit standardisierten Interviews durchgeführt. In den Niederlanden begann die Erhebung im November 1979 und erstreckte sich bis zum April 1980. In der Bundesrepublik war die Feldzeit von Februar bis März 1980 und in den Vereinigten Staaten von Mai bis September 1981. Die Fallzahlen betragen in der Bundesrepublik 2095 Befragte, in den Niederlanden 806 Befragte und in den Vereinigten Staaten 1156 Befragtet6. Die Studie enthalt eine Fragenbatterie, bei der die Befragten den Grad ihrer Sympathie für verschiedene soziale Gruppen und politische Parteien auf einem "Sympathiethermometer" angeben sollen, das einen Wertebereich von 0 (ganz und gar 16 Die Daten werden vom "Zentralarchiv für empirische Sozialforschung der Universität zu Köln" für Sekundäranalysen zur Verfügung gestellt. Studiennummer: ZA 1188.

Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

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unsympathisch) bis 100 (ohne Einschrl!nkung sympathisch) aufweist. Unter den in der Batterie berücksichtigten sozialen Gruppen können u.E. die "Gewerkschaften" und "Großunternehmer" den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, den Klassenkonflikt also, angemessen reprl!sentieren. Der Religionskonflikt wird auf der Ebene der sozialen Gruppen durch die Bewertung der katholischen Kirche (Bundesrepublik) bzw. des Klerus (Niederlande, Vereinigte Staaten) erfaßt. Bezüglich des Religionskonflikts folgen wir der Annahme der Politicai-Action-Studie, daß "Katholische Kirche" in der Bundesrepublik und "Klerus" in den Niederlanden und Vereinigten Staaten funktionale Äquivalente sind17. Eine größere Schwierigkeit als bei den alten politischen Konfliktlinien bereitet die Auswahl von sozialen Gruppen, die die neue politische Konfliktlinie im Sinne Inglehartsts reprl!sentieren können. Als neue politische Konfliktlinie kann sie naturgernaß noch nicht in gleicher Weise ihren Ausdruck in Form von etablierten Organisationen gefunden haben, wie das bei dem Klassen- und Religionscleavage der Fall ist. Die von Inglehart postulierte neue politische Konfliktlinie eines Wertekonflikts zwischen materialistischen und postmaterialistischen Werten entwickelte sich im Gegenteil vorwiegend als eine außerparlamentarische Bewegung gegen die etablierten Parteien und Organisationen. Die konkreten Trl!ger dieser Bewegung sind die verschiedenen "neuen sozialen Bewegungen", und auf dieser Ebene müßten sich demzufolge die Akteure identifizieren lassen, die die neue politische Konfliktlinie symbolisch reprl!sentieren. Bei der von Fuchs und Klingemann durchgeführten Analyse der kognitiven Bedeutung des Links/Rechts-Schemas konnten aber so gut wie keine direkten Bezugnahmen auf die neuen sozialen Bewegungen ermittelt werden. Wenn wir an den Prl!missen festhalten, daß sich tatsachlich eine neue politische Konfliktlinie in den westlichen Demokratien konsolidiert hat und das Links/Rechts-Schema gleichzeitig das generalisierte Medium in der Politik ist, dessen Bedeutungsgehalt durch die grundlegenden politischen Konfliktstrukturen bestimmt wird, dann müßte sich die absorbierende Kraft des Links/Rechts-Schemas für die neuen sozialen Bewegungen in anderer Weise zeigen, als durch explizite Bezugnahmen auf konkrete neue soziale Bewegungen. Diese absorbierenden Mechanismen könnten auf einer allgemeineren Ebene liegen. Die neuen sozialen Bewegungen sind thematisch zu verschieden und verlindern sich im Zeitverlauf zu rasch, als daß sie als solche hinreichende Ansatzpunkte für eine Bedeutungsgeneralisierung abgeben könnten. Sie haben aber trotzihrer Unterschiedlichkeit und Fluktuation zumindest zwei identische Elemente: Sie zielen in bestimmter Weise auf die Verlinderung des Status quo ab und setzen Protestaktionen als ein politisches Mittel zur Realisierung ihrer Ziele ein. Damit knüpfen sie an ein traditionelles Bedeutungselement des Links/RechtsSchemas an. In den meisten Definitionen ist sozialer Wandel versus soziale Kontrolle, Ablehnung versus Befürwortung des Status qua, progressiv versus konservativ, ein, wenn

17 V gl. Samuel H. Barnes/Max Kaase et al., Political Action. Beverly Hills/London: Sage 1979. 18 Vgl. Inglehart, ChangingStructure (Anm.1).

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Dieter Fuchs/Steifen M Kühne/

nicht das Kernelement der Bedeutung des Schemast9. Diese theoretisch behauptete Kernbedeutung zeigt sich auch empirisch als eine der wichtigsten (kognitiven) Bedeutungsdimensionen des Links/Rechts-Schemaszo. Es stellt sich jetzt die Frage, wie sich diese Bedeutungsdimension auf der Ebene von sozialen Gruppen identifizieren 11!ßt, die abstrakter sind als die konkreteren neuen sozialen Bewegungen. In der Batterie der Sympathiebewertung politischer Akteure sind u.E. zwei Akteure enthalten, die diese Funktion erfüllen können: "protestierende Studenten" und "revolution1!re Gruppen". In beiden F1!11en wird eine soziale Gruppe unter Abstraktion von Inhalten angesprochen; die Referenz ist deshalb abstrakter als bei neuen sozialen Bewegungen wie z. B. der Friedensbewegung oder der Ökologiebewegung. Der Bedeutungsschwerpunkt liegt durch diese Abstraktion starker auf den Aspekten "Protest" bzw. "Revolution", d.h. auf verschiedenen Ausdrucksformen der allgemeinen Kategorie des sozialen Wandels. Wir betrachten daher die Sympathie zu diesen beiden Gruppen als Indikatoren des Konstrukts "Sozialer Wandel." Das Komplement zu diesem Konstrukt ist "Soziale Kontrolle", das in unserem Datensatz durch die Sympathie zur "Polizei" erfaßt werden kann, desjenigen Akteurs also, der staatliche Ordnungsfunktionen zu übernehmen hat. In ähnlicher Weise sind Conover und Feldmanzt bei ihrer Analyse der Bedeutung des Liberal/Konservativ-Schemas in den Vereinigten Staaten vorgegangen. Sie spezifizierten ein Konstrukt "Social Contra!", dessen Indikatoren die Einstellung zu "Police" und zu "Military" waren. Das dazu kontrastierende Konstrukt nannten sie "Radical Left", das durch die Einstellung zu "Radical Students" und "Black Militants" erfaßt wurde. Dieses Konstrukt ist vergleichbar mit unserem Konstrukt "Sozialer Wandel". Nach der Theorie der politischen Konfliktlinien findet der Klassen- und Religionskonflikt seinen Ausdruck im politischen System in einer Konkurrenz zwischen den Parteien um die Besetzung von Entscheidungspositionen. Die Hauptakteure dieses Konflikts sind in den meisten Parteiensystemen der westlichen Demokratien zwei Parteien, die als die dominante Linkspartei bzw. die dominante Rechtspartei bezeichnet werden können. In unserem Datensatz sind für jedes der drei analysierten Länder Sympathiebewertungen der "wichtigsten Linkspartei" und der "wichtigsten Rechtspartei" enthalten. Die Frage ist, welche Partei in den einzelnen Landern als solche verstanden wird? Für das Zweiparteiensystem der Vereinigten Staaten bereitet die Auswahl - Demokraten (Linkspartei) und Republikaner (Rechtspartei) - keine Schwierigkeiten. Für das Vielparteiensystem der Niederlande wird in der Political-Action-Studie die PvdA als die wichtigste Linkspartei und die VVD als die wichtigste Rechtspartei bezeichnet. Die VVD ist unter den größeren Rechtsparteien offenbar diejenige, die ideologisch am profilierte-

19 Vgl. Jean Laponce, Spatial Archetypes and Political Perceptions, in: American Political Science Review, 69/1975, S.ll-69; Seymour M. Lipset et al., The Psychology of Voting, in: Gardner Lindzey (Hrsg.), Handbook of Social Psychology, Reading: Addison-Wesley 1954. 20 Vgl. Fuchs!Klingemann, Left-Rigltt (Anm.1). 21 Conover/Feldman, Origins and Meaning (Anm.3).

223

Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

sten ist22; die größte Wahlerschaft unter den Rechtsparteien weist hingegen die CDA auf. Da in der Batterie ebenfalls die Sympathie zu dieser Partei abgefragt wird, nehmen wir diese Einstellung zusatzlieh in unsere Analyse auf. In der Bundesrepublik wird in "Political Action" die SPD als die wichtigste Linkspartei und die CDU als die wichtigste Rechtspartei angesehen. Wir haben zusatzlieh noch "Die Grünen" als eine weitere Linkspartei berücksichtigt, da wir nicht ausschließen können, daß sie ideologisch eher profilierter als die SPD ist. Sie hatte dann in der Bundesrepublik für das linke Spektrum die gleiche Bedeutung wie in den Niederlanden die VVD für das rechte Spektrum. Wir beziehen in unsere Analyse somit neun (Bundesrepublik und Niederlande) bzw. acht (Vereinigte Staaten) Sympathiebeurteilungen ein, die nach unserer Auffassung Indikatoren von Konstrukten sind, die auf der Ebene sozialer Gruppen und politischer Parteien die grundlegenden politischen Konfliktlinien reprasentieren. Diese Sympathieskalen bilden die unabMngigen Variablen, mit denen wir den evaluativen Bedeutungsgehalt des Links/Rechts-Schemas "erklaren" wollen. Das Links/Rechts-Schema in seiner evaluativen Dimension wird in allen drei Landern durch die Selbsteinstufung auf einer zehnstufigen Skala erfaßt, deren Pole mit "links" bzw. "rechts" gekennzeichnet sind. Um den raumliehen Charakter dieser "spatial archetypes" (Laponce) zu erhalten, sind die zehn Kategorien, die den horizontalen Raum unterteilen, nicht numeriert. Abbildung 1 faßt die Operationalisierungen unserer Konstrukte noch einmal in einem Überblick zusammen. Abbildung 1: Zuordnung der Indikatoren zu den Konstrukten I. Soziale Gruppen

1. Sozialer Wandel (Protestierer) a)

Protestierende Studenten Wie sympathisch oder unsympathisch sind Ihnen die protestierenden Studenten? ganz und gar unsympathisch ohne Einschränkungen sympathisch

b)

0 100

Revolutionäre Gruppen Wie sympathisch oder unsympathisch sind Ihnen die revolutionären Gruppen? ganz und gar unsympathisch ohne Einschränkungen sympathisch

22 Vgl. V an der Eijk/Niemöller, Left-Right(Anm.l).

0 100

224

Dieter Fuchs/Steifen M. Kühne/ 2.

Soziale Kontrolle (Polizei) Wie sympathisch oder unsympathisch ist Ihnen die Polizei? ganz und gar unsympathisch ohne Einschränkungen sympathisch

3.

ohne Einschränkungen sympathisch

0 100

Kapital (Unternehmer) Wie sympathisch oder unsympathisch sind Ihnen die Großunternehmer? ganz und gar unsympathisch ohne Einschränkungen sympathisch

5.

100

Arbeit (Gewerkschaften) Wie sympathisch oder unsympathisch sind Ihnen die Gewerkschaften? ganz und gar unsympathisch

4.

0

0 100

Religion (Kirche) Wie sympathisch oder unsympathisch ist Ihnen die katholische Kirche? ganz und gar unsympathisch ohne Einschränkungen sympathisch

0 100

Stimulus in den Niederlanden: de kerken Stimulus in den USA: clergymen (priests, ministers, rabbis)

II. Politische Parteien Parteien in der Bundesrepublik: 1.

Die Grünen Wie sympathisch oder unsympathisch sind Ihnen die "Grünen• ganz und gar unsympathisch ohne Einschränkungen sympathisch

2.

100

dieSPD Wie sympathisch oder unsympathisch ist Ihnen die SPD? ganz und gar unsympathisch ohne Einschränkungen sympathisch

3.

0

0 100

dieCDU Wie sympathisch oder unsympathisch ist Ihnen die CDU? ganz und gar unsympathisch ohne Einschränkungen sympathisch

0 100

225

Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

Parteien in den Niederlanden:

1. P.v.d.A. (Linkspartei) 2. C.D.A. (Rechtspartei: christlich-konservativ) 3. V.V.D. (Rechtspartei: liberal-konservativ) Parteien in den USA: 1. Democratic Party (Linkspartei) 2. Republican Party (Rechtspartei)

III. Links/Rechts-Schema Links/Rechts-Selbsteinstufung (10-stufig) Viele Leute verwenden die Begriffe "links" und "rechts", wenn es darum geht, unterschiedliche politische Einstellungen zu kennzeichnen. Wir haben hier einen Maßstab, der von links nach rechts verläuft. Wenn Sie an Ihre eigenen politischen Ansichten denken, wo würden Sie diese Ansichten auf dieser Skala einstufen?

linkslllllllllll

rechts

3. Modellspezifikation und Analysestrategie Wir gehen davon aus, daß es auf individueller Ebene eine systematische Beziehung zwischen der Selbsteinstufung auf einer Links/Rechts-Skala und der Bewertung von "beliefs" gibt, die der Befragte mit den Stimulusobjekten "Links" und "Rechts" verbindet. Diese Beziehung wird unserer Auffassung nach nicht völlig ideosynkratisch hergestellt, sondern folgt interindividuellen Realitl!tsdefinitionen. Das heißt, daß es hinsichtlich der evaluativen Bedeutung des Links/Rechts-Schemas ein "mass belief system"23 gibt, ein "belief system" also, das von relativ vielen Mitgliedern der Bevölkerung geteilt wird. Von wievielen Mitgliedern ein gemeinsames "belief system" vorliegen muß, damit von einem "mass belief system" gesprochen werden kann, ist eine offene Forschungsfrage. Wir können somit hinsichtlich des notwendigen Grades der Übereinstimmung also keine apriorische Erwartung formulieren. 23

Philip E. Converse, The Nature of Belief Systems in Mass Publics, in: David Apter (Hrsg.), ldeology and Discontent, New York: The Free Press 1964, S.206-261.

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Die Annahme einer mehr oder weniger geteilten evaluativen Bedeutung des Links/Rechts-Schemas bedeutet, daß Korrelationen bzw. Kovarianzen zwischen den Sympathieskalen und der Links/Rechts-Selbsteinstufung auftreten müssen, die ungleich Null sind. Wir untersuchen deshalb das evaluative "mass belief system" von Links/Rechts mit korrelations- bzw. kovarianzanalytischen Methoden. Aufgrund der gegebenen Polung der Variablen erwarten wir dabei negative Korrelationen zwischen den Sympathieeinschätzungen "linker" Gruppen und Parteien und der Links/Rechts-Selbsteinstufung und umgekehrt positive Korrelationen zwischen den Sympathieeinschätzungen "rechter" Gruppen und Parteien und der Links/Rechts-Selbsteinstufung. In der Literatur gibt es unterschiedliche Vorstellungen über die kausale Richtung des Zusammenhangs zwischen ideologischer Selbstidentifikation und anderen relevanten Einstellungen. Während Conover und Feldman24 die ideologische Selbstidentifikation als abhängige Variable postulieren, die durch andere Einstellungen erklärt werden soll, analysieren Peffiey und Hurwitz25 in ihrem hierarchischen Kausalmodell umgekehrt den Einfluß ideologischer Selbstidentifikation auf andere Einstellungen 26• Unseres Erachtens sind beide Kausalrichtungen plausibel, je nachdem welche Perspektive errichtet wird. Wenn es beispielsweise um die Frage geht, inwieweit die Einstellungen zu bestimmten politischen Issues durch die ideologische Selbstidentifikation strukturiert werden, dann geht der kausale Einfluß von der ideologischen Selbstidentifikation aus. Wenn es aber um die Frage geht, aufgrund welcher Bedeutungen denn diese Strukturierung überhaupt ausgeübt werden kann, dann geht der kausale Einfluß von denjenigen Einstellungen aus, von denen unterstellt wird, daß sie bedeutungsgenerierend sind. Da wir an letzterer Frage interessiert sind, ist bei uns -wie in dem Modell von Conover und Feldman -die ideologische Selbstidentifikation die abhängige Variable. Das bedeutet konkret, daß wir den Einfluß der in Abbildung 1 dargestellten Sympathieeinschätzungen von sozialen Gruppen und politischen Parteien auf die ideologische Selbstidentifikation analysieren, die durch die Selbsteinstufung auf der Links/Rechts-Skala gemessen wird. Wir führen diese Analyse in allen drei Ländern getrennt für zwei Subgruppen durch, die wir "kognitive Elite" und "kognitive Masse" nennen. Dabei knüpfen wir an ein gesichertes Ergebnis der Forschungen über ideologische Identifikation und Elaboriertheit an, n11mlich daß sich "Elite" und "Masse" in der Struktur ihres politischen Denkens betr11chtlich unterscheiden 27• Zu einem 11hnlichen Ergebnis kommen auch die Forschungen im Kontext der Schema-Theorie, die diesen Unterschied begrifflich als den zwischen

24 Conover/Feldman, Origins and Meaning (Anm.3). 25 Mark A. Peffley/Jon Hurwitz, A Hierarchical Model of Attitude Constraint, in: American Journal of Political Science, 29/1985, S.871-889. 26 Sowohl bei Conover/Feldman als auch bei Peffley/Hurwitz wird ideologische Selbstidentifikation mit der Liberal/Konservativ-Skala gemessen. 27 Vgl. Philip E. Converse, Public Opinion and Voting Behavior, in: Fred I. Greenstein/Nelson W. Polsby (Hrsg.), Handbook of Political Science, Reading: Addison-Wesley 1975, S.75-169; Kinder, Diversity and Complexity (Anm.3).

Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

227

"experts" und "novices" fassen28. Als Unterscheidungskriterium zwischen "Elite" und "Masse" wird - neben dem politischen Interesse - in der Regel die Bildungshöhe genommen, d.h. zur Elite gehören die Befragten mit höherer Schulbildung und zur "Masse" die Befragten mit niedriger Schulbildung. lnglehart und Klingemann29 konnten die Relevanz dieser Unterscheidung von "Elite" und "Masse" auch für die Links/Rechts-Selbsteinstufung zeigen. Um den durch die Bildungshöhe bestimmten Elitebegriff von dem Begriff der Positionselite ausdrücklich abzusetzen, verwenden wir im folgenden die Begriffe "kognitive Elite" und "kognitive Masse". Zur kognitiven Elite in den Niederlanden und der Bundesrepublik zählen wir diejenigen Personen, die auf einer in der Studie enthaltenen fünfstufigen Schulbildungsskala den höchsten Wert aufweisen. Es handelt sich dabei um Personen, die auf einer Universität oder Fachhochschule studiert haben bzw. noch studieren. In den Vereinigten Staaten wurden alle Befragten zur kognitiven Elite gerechnet, die auf dem College oder der Universität einen Abschluß erreicht haben. Wenn wir der Einstufung der Politicai-Action-Studie gefolgt wären, die zur höchsten Bildungskategorie alle Befragten rechnete, die "some college" als Schulbildung angaben, dann hatte das zu dem unrealistischen Anteil von 42 Prozent der Befragten geführt, die zur kognitiven Elite gehört hätten. Alle Befragten, die nach unserer Definition nicht zur kognitiven Elite zählen, wurden in allen drei Undern der kognitiven Masse zugerechnet. Bei einem fallweisen Ausschluß ungültiger bzw. fehlender Werte ergeben sich auf diese Weise für die Bundesrepublik 128 Befragte für die kognitive Elite und 1643 Befragte für die kognitive Masse. In den Niederlanden sind die entsprechenden Zahlen 66 und 556 Befragte und in den Vereinigten Staaten 200 und 560 Befragte. Die Korrelationen und Varianzen der berücksichtigten Variablen sind für jede der Subgruppen drei Länder und jeweils kognitive Elite und Masse - im Anhang 1 dokumentiert. Um die Variationsdiskrepanzen zwischen der Links/Rechts-Skala und den Sympathieskalen zu verringern, sind die Werte der Sympathieskalen jeweils durch den Faktor 4 geteilt worden. Zur Untersuchung des Einflusses der Sympathieeinschätzungen auf die Links/RechtsSelbsteinstufungspezifizieren wir für alle Subgruppen ein rekursives Pfadmodell, dessen Parameter mit dem Kovarianzanalyseprogramm LISREL 7 von Jöreskog und SörbomJO geschätzt werden. Mit Ausnahme des Konstrukts "Sozialer Wandel", für das zwei Indikatoren zur Verfügung stehen, sind alle Prädiktaren nur über jeweils einen Indikator erfaßt. Meßfehler bzw. Reliabilitäten können daher nicht geschätzt werden.

28 Vgl. 8usan T. Fiske/Donald R Kinder/Michael W. Larter, The Novice and the Expert, in: Journal of Experimental Social Psychology19/1983, 8.381-400; Richard R Lau/David 0. 8ears, 8ocial Cognition and Political Cognition, in: dies (Hrsg.), Political Cognition, Hillsdale: Lawrence Erlbaum 1986, 8.347-366. 29 lnglehart/Kiingemann, Ideological Preference(Anm.1). 30 Kar! G. Jöreskog/Dag 8örbom, LISREL 7, Chicago: 8P88 lnc. 1988.

1

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Sozialer Wandel ( Protes!lerer)

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Abbildung 2: Ausgangsmodell zur evaluativen Bedeutung des Links/Rechts- Schemas

Links I Rechts

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Die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

229

Ausgangspunkt der Analyse ist ein Modell, bei dem die Parteien als intervenierende Variablen spezifiziert werden. Die politischen Parteien sind verfassungsmäßig und bislang auch faktisch die dominanten politischen Akteure. Sie haben eine vermittelnde Funktion zwischen den Staatsbürgern und den politischen Entscheidungsinstanzen, d.h. sie präsentieren den Bürgern personelle und programmatische Alternativen, über die diese dann in periodischen Wahlen entscheiden. Man kann deshalb argumentieren, daß vor allem die Einstellung zu den Parteien die evaluative Bedeutung des Links/Rechts-Schemas bestimmt. Das würde in unserem Pfadmodell bedeuten, daß direkte Effekte auf die Links/Rechts-Selbsteinstufung lediglich von der Bewertung der Parteien ausgehen und die anderen Effekte allein über diese intervenierenden Variablen vermittelt sind. Ideologische Selbstidentifikation ware danach eher ein zusammenfassendes Maß für die Einstellung zu den Parteien in einem gegebenen politischen System als ein eigenständiges Maß für die "ideologische" Position der Befragten. Um diese Frage der Abhängigkeit der Links/Rechts-Selbsteinstufungvon der Parteiidentifikation gibt es eine andauernde Kontroverse31 mit unterschiedlichen Schlußfolgerungen. Bei Inglehart und Klingemann korreliert die Links/Rechts-Selbsteinstufung bei den niedriger Gebildeten relativ starker mit einer Parteienkomponente (partisan component) als mit einer ideologischen Komponente (ideological component), wahrend das bei den höher Gebildeten genau umgekehrt ist. Durch unsere Differenzierung zwischen kognitiver Elite und Masse können wir diesen Aspekt erneut empirisch testen. Wir beginnen mit dem in Abbildung 2 dargestellten Ausgangsmodell, erwarten aber nicht, daß dieses Modell schon gut zu den Daten paßt. Zumindest bei der kognitiven Elite erwarten wir auch direkte Effekte auf die ideologische Selbstidentifikation von Konstrukten, die sich auf soziale Gruppen beziehen. Bei unseren Modellmodifikationen werden sukzessive - ausgehend von dem jeweils letzten Modell - zusatzliehe Effekte spezifiziert, wenn die vom LISREL-Programm ausgedruckten Modifikationsindizes dies anzeigen. Berücksichtigt werden allerdings nur theoretisch sinnvolle Modifikationen, in unserem Falle also Pfade von den exogenen Variablen auf die ideologische Selbstidentifikation und eventuell zusatzliehe Kovarianzen zwischen sozialen Gruppen und politischen Parteien sowie Nebenladungen der Indikatoren. Da die Modifikationsindizes fallzahlabhängig sind, verfolgen wir die Faustregel, zusätzliche Effekte bis zu einem maximalen Modifikationsindex von 5 bei den fallzahlkleinen Elitegruppen und bis zu 7 bei den fallzahlgrößeren Massegruppen zu berücksichtigen. Neben der Einführung zusätzlicher Effekte werden umgekehrt Effekte unterdrückt (technisch: auf Null fixiert), wenn die von LISREL ausgewiesenen t-Werte nicht signifikant sind, wobei wir bei allen Elitegruppen ein minimales Signifikanzniveau von etwa 90 Prozent und bei den Massegruppen eines von minimal 95 Prozent verlangen. In der Kovarianzstrukturanalyse32 wird die Güte eines Modells durch die Übereinstimmung zwischen dem Muster der empirisch vorgegebenen Varianzen und Kovari31

Inglehart/Kiingemann, Ideological Preference (Anm.1); van der Eijk/Niemöller, Left-Right (Anm.1). 32 V gl. J. Scott Long, Covariance Structure Models, Beverly Hills/London: Sage 1983.

230

Dieter Fuchs/Steffen M. Kühne/

anzen einer Stichprobe und den durch Modellstruktur und Parameterwerten implizierten theoretischen Varianzen und Kovarianzen gemessen. Möglich und sinnvoll ist ein solcher Vergleich nur bei überidentifizierten Modellen, bei denen als notwendige Voraussetzung die Anzahl der zu schatzenden Größen geringer ist als die Anzahl der empirischen Varianzen und Kovarianzen der Indikatoren. Bei korrekter Modellspezifikation und erfi.lllten Verteilungsannahmen fi.lhrt die Höhe der Übereinstimmung zwischen Modell und Daten zu einem asymptotisch gültigen Chiquadratanpassungstest. Wir hoffen, aufgrund der Modellmodifikationen bei allen Subgruppen zu Modellen mit befriedigender Übereinstimmung mit den jeweiligen Daten zu gelangen. Wegen der geringen Trennscharfe ist dies bei kleinen Stichproben -wenn ein Modell nicht völlig fehlspeziftziert ist - eher zu erreichen als bei größeren Fallzahlen. Um diesen Effekt auszugleichen, betrachten wir bei den kleinen Elitegruppen die Modellanpassung als hinreichend, wenn der Chiquadratanpassungstest eine Wahrscheinlichkeit von mindestens 20 Prozent aufweist. Bei größeren Fallzahlen wirken sich Verletzungen der Verteilungsannahmen und leichte Fehlspezifikationen sehr viel starker auf die Modellanpassung aus. Wir verlangen daher bei der Massegruppe nur ein Wahrscheinlichkeitsniveau von mindestens 5 Prozent. Bei geringeren Wahrscheinlichkeitswerten können unsere (modifizierten) Modellstrukturen nicht als empirisch bestätigt gelten. Theoretisch interessant sind fi.lr unsere Fragestellung in erster Linie die durch die Pradiktoren erklärten Varianzen der ideologischen Selbstidentifikation und die Höhe der standardisierten Effekte der einzelnen Pradiktoren. Wir weichen damit von der in der Literatur gegebenen Empfehlung zur Vorgehensweise bei Vergleichen von Pfadmodellen ab, nach der zwischen Gruppen primär unstandardisierte Koeffizienten verglichen werden sollen33. Im Unterschied zu üblichen Kausalanalysen geht es uns hier aber weniger um die Frage, inwieweit alle Gruppen eine gleiche Kausalstruktur aufweisen, sondern um den relativen Einfluß der einzelnen Prädiktaren auf die ideologische Selbstidentifikation. Dieser ist nur durch standardisierte Koeffizienten zu ermitteln. Wir analysieren die evaluative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation fi.lr die drei Ulnder Bundesrepublik Deutschland, Niederlande und Vereinigte Staaten. Dieser komparative Ansatz ermöglicht interessante Vergleichsperspektiven. Die beiden europäischen Ulnder unterscheiden sich von den Vereinigten Staaten durch einen größeren Institutionalisierungsgrad des Links/Rechts-Schemas. Die Niederlande und die Bundesrepublik wiederum unterscheiden sich durch die Struktur ihrer Parteiensysteme. Während in den Niederlanden ein ausgeprägtes Vielparteiensystem vorliegt, gab es in der Bundesrepublik zum Zeitpunkt der Erhebung lediglich ein Dreiparteiensystem - was die parlamentarische Repräsentanz betrifft. Wenn man Kosten-Nutzen-Überlegungen zugrundelegt, dann ist aus Gründen einer effektiven Informationsverarbeitung die Herausbildung und Anwendung generalisierter Schemata vor allem im Vielparteiensystem notwendig34, Die unterschiedlichen systemischen und kulturellen Voraussetzungen in den

33 Vgl. Jae-On Kim/G. Donald Ferree, Jr., Standardization in Causa) Analysis, in: Sociological Methods and Research, 10/1981, 8.187-210. 34 Vgl. Inglehart/Kiingemann, Ideological Preference (Anm.1).

Die eva/uative Bedeutung ideologischer Selbstidentifikation

231

drei Ländern müßten sich auf den evaluativen Bedeutungsraum des Links/Rechts-Schemas auswirken. Nach unserer Argumentation wäre die klarste Struktur in den Niederlanden zu erwarten und die am wenigsten klare in den Vereinigten Staaten. Ein Grundproblem bei internationalen Vergleichen ist die Frage der funktionalen Äquivalenz der verwendeten Indikatoren. Die funktionale Äquivalenz läßt sich aber nicht auf der Beobachtungsebene selbst entscheiden, sondern ist abhängig von inhaltlich-theoretischen Hypothesen. Diese liegen aber in der Regel nicht vor. Daraus folgt das Dilemma, daß internationale Vergleiche einerseits notwendig und fruchtbar, andererseits aber ihre Ergebnisse auch schwer zu interpretieren sind, und das gilt insbesondere dann, wenn Differenzen zwischen den Ländern vorliegen3s. Die Gefahr von Fehlinterpretationen steigt mit der Unterschiedlichkeit der betrachteten Uinder36. Für unsere Analyse bedeutet das, daß wir am ehesten bei den Ergebnissen für die Vereinigten Staaten auf Interpretationsprobleme stoßen könnten, da die für unsere Analyse wichtige Theorie politischer Konfliktlinien vor allem für die europäischen Länder entwickelt wurde und zudem das Links/RechtsSchema in den Vereinigten Staaten nicht das wichtigste generalisierte Medium ist.

4. Ergebnisse

Bevor wir auf die Modellschätzungen eingehen, betrachten wir kurz die im Anhang 1 wiedergegebenen Korrelationen der Indikatoren. Diese entsprechen in einigen wichtigen Aspekten von uns bereits formulierten Erwartungen. In allen drei Ländern sind die Korrelationen bei der kognitiven Elite deutlich höher als bei. der kognitiven Masse. Bei einem Vergleich der drei Länder zeigt sich, daß insgesamt die Korrelationen in den Niederlanden am höchsten sind, dann folgt die Bundesrepublik Deutschland, und am niedrigsten sind sie in den Vereinigten Staaten- das gilt insbesondere für die kognitive Masse. Bezüglich des Stellenwertes der politischen Parteien im Vergleich zu den sozialen Gruppen lassen sich aus der Inspektion der Korrelationen mit der Links/RechtsSelbsteinstufung keine eindeutigen Schlüsse ziehen. In der Bundesrepublik weisen die beiden etablierten Parteien SPD und CDU in beiden kognitiven Gruppen eine sichtbar höhere Korrelation mit der Links/Rechts-Selbsteinstufung auf als die übrigen Prädiktoren. In den Niederlanden korrelieren nur bei der kognitiven Masse die Parteien etwas höher mit Links/Rechts als die Gruppen. In den Vereinigten Staaten wiederum fallt auf, daß bei der kognitiven Elite die Sympathieeinschätzung der Republikaner relativ am stärksten mit der Links/Rechts-Selbsteinstufung korreliert. Zumindest bezüglich des relativen Einflusses der Prädiktaren geben also die Korrelationen noch ein sehr inhomogenes Bild sowohl was den Vergleich der drei Länder betrifft als auch hinsichtlich des Ver-

35 Vgl. Melvin L. Kohn, Cross-National Research as an Analytical Strategy, in: American Socio. logical Review, 52/1987, S.713-731. 36 Hierzu Manfred Küchler, The Utility of Surveys for Cross-National Research, in: Social Science Research, 16/1987, S.229-244.

232

Dieter Fuchs/Steifen M. Kühne/

gleichs der beiden kognitiven Gruppen innerhalb der einzelnen Lander.Wir hoffen, deshalb zu klareren Aussagen auf der Grundlage der Modellschätzungen zu kommen. Tabelle 1 gibt die Modellanpassung für das Ausgangs- und das Endmodell wieder. Dort zeigt sich, daß das in Abbildung 1 spezifierte Ausgangsmodell in keinem der drei Lander und in keiner der kognitiven Gruppen eine akzeptable Übereinstimmung zwischen Modell und Daten erbringt. Damit kann auf der Grundlage unserer Daten die Hypothese, daß die ideologische Selbstidentifikation lediglich ein zusammenfassendes Maß der Einstellung zu den Parteien ist, nicht bestätigt werden. Eine gewisse Ausnahme von unserer generellen Interpretation bildet die kognitive Masse in den Vereinigten Staaten. Hier ist bereits der Fit des Ausgangsmodells nach unserem Kriterium als annähernd befriedigend anzusehen. Dies scheint jedoch nicht daran zu liegen, daß in diesem Faii das Ausgangsmodell bereits die Realität relativ genau wiedergibt, sondern an den insgesamt sehr niedrigen Korrelationen in dieser Gruppe. Bei der Analyse von Kovarianzstrukturmodeiien hat sich gezeigt, daß die Trennschärfe des Verfahrens bei insgesamt niedrigen Zusammenhängen zwischen den Variablen sinkt: Wenn nicht viel an Kovarianz zu erklären ist, dann ist ein akzeptabler Macteilfit auch wahrscheinlicher37. Tabelle 1: Ergebnisse der Modellanpassung

Staat und Subpopulation

Ausgangsmodell Chiquadrat df Prob.

Chiquadrat

Endmodell df Prob.

1. Bundesrepublik -kognitive Elite - kognitive Masse

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Regierungspopularität auf Kredit

5.3.

363

Politische Interventionen

Der Regierungswechsel, der im Oktober 1982 stattfand, ist eine derjenigen Interventionen, die typischerweise eine schlagartige Veränderung der Popularitätsfunktion bewirken. Vor dem Wechsel kam der Großteil an Unterstützung für die Regierung von den SPD-Wählern, zumeist ungeachtet der Wirtschaftslage; nach dem Wechsel übernahmen die Stammwähler der CDU/CSU diese Rolle. Dieser Austausch allein hätte allerdings kaum einen wesentlichen Sprung in der Regierungspopularität bewirkt. Eine neue Mehrheit mußte notwendigerweise auch Wähler gewinnen, die sich keiner Partei zugehörig fühlten. Die Wirtschaftssituation konnte dabei zunächst keinen direkten Einfluß ausüben, denn sie war ja das Ergebnis der Politik der alten Regierung. Wie auch immer sich die Wirtschaftslage auf die alte Regierung ausgewirkt hatte - vorteilhaft oder nachteilig -: Jene Bewertung konnte nicht auf die neue Regierung übertragen werden. Um diese aber auf der Basis ihrer eigenen Leistungen und Fehler beurteilen zu können, bedurfte es zunächst einiger Zeit. Wir gehen davon aus, daß in einem solchen Moment der Ungewißheit und mangelnder Information die parteilosen Wähler eine Beurteilung aufschieben und der neuen Regierung zunächst einen "Popularitätskredit" einräumen32• Wenn die Regierung nach und nach ihre eigenen Richtlinien durchsetzt und eine Bilanz der neuen Politik möglich wird, muß dieser Kredit allerdings zurückgezahlt werden. Welches sind die "Konditionen", und wie lange ist die "Laufzeit" für diesen Kredit? Reicht es aus, wenn die neue Regierung den Status quo aufrecht erhält, die Situation sich also nicht verschlechtert? Dieses Szenario geht davon aus, daß die Wirtschaftlage, welche die alte Regierung hinterlassen hat, nunmehr zum akzeptablen Standard geworden ist. Eine nicht sehr überzeugende Lösung, wie uns scheint. Schließlich war es gerade die negative Wirtschaftsbilanz, die für den Popularitätsverlust der alten Regierung verantwortlich war, und es ist deshalb unwahrscheinlich, daß diese Situation nun als befriedigend betrachtet wird. Wahrscheinlicher ist, daß der Kredit nur in Form einer Lösung der Probleme, in unserem Fall also einer Verbesserung der Wirtschaftslage, zurückgezahlt werden kann. So oder so wird der urspüngliche Vorschuß mit der Zeit abgebaut. Ein Popularitätsverlust kann durch eine positive Wirtschaftsentwicklung wettgemacht werden. Die Frage ist, ob die Regierung schnell genug und in einem ausreichenden Maße "selbstverdiente" Popularität gewinnen kann, um den Verlust des Vorschusses auszugleichen.

32 Zur Behandlung des "honeymoon" von neu gewählten Inhabern der Regierungsgewalt vgl. John Mueller, War, Presidents and Public Opinion, New York: Wiley 1973. Ähnlich auch bei C.A.E. Goodhart/RJ. Bansali, Political Economy, in: Political Studies, 18. Jg. 1970, S. 43-106.

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Quelle: siehe Anmerkung 4. Die Schätzungen wurden mittels des Programms BMDP2Tvorgenommen.

35

Vgl. Arnulf Baring, Machtwechsel: Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1982.

36

Vgl. hierzu die Schätzungen des "backswing" in der Zeitreihenanalyse von Goodhart/Bansali, Political Economy (Anm. 32).

Regierungspopularität auf Kredit

367

6. Ergebnisse

6.1.

Einfluß der Wirtschaftslage

Wie aus Tabelle 1 ersichtlich, hatte die Wirtschaftslage eine prägende Wirkung auf die Popularität der bundesdeutschen Regierungen von 1969 bis 1987. Die kurzfristigen Schwankungen der Parteienpopularität zeigen eine deutliche Reaktion auf die Arbeitslosenzahlen. Laut unserer Schätzung bedeutet ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit um 100.000 einen Popularitätsverlust für die Regierungsparteien von circa einem halben Prozent. Ein Anstieg von Null auf zwei Millionen Arbeitslose würde demnach die öffentliche Unterstützung der Regierung um elf Prozentpunkte schmälern. Dies ist ein Verlust, den sich keine Regierung erlauben kann. Der Einfluß der Inflationsrate erscheint weniger drastisch und hat zudem nur eine fragwürdige (statistische) Signifikanz. Der nackte Schätzwert läßt sich interpretieren als ein vier prozentiger Verlust an Popularität bei einem Anstieg der Inflation von Null auf sieben Prozent. Mehr hätte eine westdeutsche Regierung also nicht zu fürchten gehabt, denn die Inflationsrate war -zumindest im Untersuchungszeitraum - nie höher als sieben Prozent. Der geringe Einfluß der Inflationsrate erscheint durchaus erklärbar: Die Preise waren in den siebziger und achtziger Jahren selten das wirtschaftliche Hauptproblem. Deutschland war in diesem Bereich fast immer der Musterschüler, und internationale Vergleiche in der Presse mußten eher beruhigend wirken. Hinzu kommt, daß in Phasen relativ hoher Inflation (1974{75 und 1981/82) dem nachfolgenden Anstieg der Arbeitslosigkeit jeweils mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Konstante in Tabelle 1 verdient Beachtung, weil sie uns etwas über den Popularitätswert unter Idealbedingungen mitteilt. In einem wirtschaftlichen Paradies von Null Prozent Arbeitslosigkeit und Inflation würde die Regierung - laut dieser Schätzung - eine Popularität erreichen, die 6,8 Prozent über ihrem Gleichgewichtsgrad läge. Dies entspräche einer öffentlichen Unterstützung von 56 Prozent. Es muß nicht betont werden, daß keine Regierung bisher so gesegnet war. Am nächsten kam diesem Zustand wohl die sozialliberale Regierung in ihren Anfangsjahren, mit einer Kombination von 200.000 Arbeitslosen und drei Prozent Inflation - eine Kombination, die einem Popularitätsgrad von 53,5 Prozent entspräche. Mitte der siebziger Jahre, als die Wirtschaftsstatistiken eine Million Arbeitslose und fünf Prozent Inflation anzeigten, müßte dem Modell zufolge die Regierungspopularität unter den Equilibriumswert abfallen, ein Warnzeichen für die Regierung. Eine Situation wie 1982, als die Arbeitlosigkeit nahezu zwei Millionen erreichte und die Inflationsrate fast sechs Prozent betrug, müßte, so unsere Schätzung, die Regierungspopularität schließlich auf 43 Prozent drücken. Es bedürfte fast eines Wunders, um eine Regierung, die auf die Unterstützung der Öffentlichkeit angewiesen ist, in dieser Situation noch zu retten. Tatsächlich sank die Unterstützung für die sozialliberale Koalition im Sommer 1982 auf 40 Prozent. Es war das letzte Quartal vor der "Wende", und die Wirtschaft durchlief die schlimmste Rezession der Nachkriegszeit. Eine zufällige Parallelität der Ereignisse

368

Helmut Norpoth/Chiistian Goergen

kann wohl ausgeschlossen werden. Der wirtschaftliche Niedergang, den die Öffentlichkeit hauptsachlich über den dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu spüren bekam, forderte sein Opfer. Die sozialliberale Koalition verlor einen entscheidenden Prozentsatz an öffentlicher Unterstützung. Angesichts des rapiden Vertrauensverlusts begannen die Parteieliten, über neue Koalitionen nachzudenken. Die Handlungsmöglichkeiten der SPD waren beschriinkt, und die F.D.P. nutzte die vielleicht letzte Möglichkeit, um die Koalition zu beendenundeine aussichtsreichere neue Verbindung einzugehen.

6.2.

Einfluß der Wahlen

Die wirtschaftspolitisch bedingten Verluste an Popularitiit waren 1982 so enorm, daß eine Wahl wohl kaum ausgereicht hatte, um die sozialliberale Koalition zu retten. Unsere Schätzung für den Mobilisierungseffekt einer Wahl zugunsten der Regierungsparteien beliiuft sich auf drei Prozent. Der Großteil dieses Schubs bleibt aber nur für ein Quartal erhalten und verschwindet dann völlig. In den "besseren" Zeiten der SPD/F.D.P.-Regierung half dieser Schub um diesen Parteien den Wahlsieg zu sichern(1976 und 1980).

6.3.

Schmidt als Kanzler

Für den Kanzlerwechsel von 1974 ergibt sich- überraschend vielleicht- keine signifikante Verbesserung der Regierungspopularitiit. Wie erwiihnt, hatte die Koalition aber insgesamt ohnehin nur geringe Verluste verzeichnet, da damals die Abgiinge vom SPD-Konto von Zugiingen bei der F.D.P. wettgemacht wurden. Dieser Trend wurde durch die Amtsübernahme Schmidts gestoppt und zum Teil umgekehrt. Ganz anders war die Situation 1982, als beide Koalitionspartner kräftige Popularitätseinbußen hinnehmen mußten. Dies erklärt wohl auch die veriinderte Haltung der F.D.P., die anscheinend nur gewillt war, eine Koalition aufrecht zu erhalten, solange die Verluste des Partners sich zu ihren Gunsten auswirkten.

6. 4.

Die Wende

Die Ablösung Helmut Schmidts durch Helmut Kohl als Kanzler im Zuge des konstruktiven Mißtrauensvotums beinhaltete die Formung einer neuen Koalitionsregierung. Damit war die Verbindung zwischen Wirtschaftslage und Regierungspopularitiit zuniichst durchtrennt. Mit dem Versprechen einer Wende, auch und vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht, erwarb sich die neue Regierung einen Popularitätskredit, der durch die versprochenen Verbesserungen zurückbezahlt werden sollte. Wenn man den Schätzungen von Tabelle 1 folgt, so belief sich dieser Kredit auf zehn Prozentpunkte. Dieser Befund mag befremdlich erscheinen, kam doch die neue Regie-

369

Regierungspopularität auf Kredit

rung in den Augen vieler Beobachter als eine Art uneheliches Kind zur Welt. Die Installation einer CDU/CSU-F.D.P.-Regierung durch Abstimmung im Bundestag und nicht in der Wählerschaft wurde keineswegs freudig in der deutschen Öffentlichkeit aufgenommen. Laut Umfragen mißbilligten 60 Prozent der BOrger die Art des Machtwechsels37• Die CDU/CSU bezahlte diese Mißbilligung teuer: Ihr Anteil der Wählerunterstützung fiel von 56 Prozent im letzten Quartal vor dem konstruktiven Mißtrauensvotum auf 44 Prozent im folgenden Quartal. Insgesamt konnte sich die neue Koalition in ihrem EiDgangsquartal (1982/4) nur auf die Unterstützung von 47 Prozent der Wählerschaft verlassen. Kein Grund zur Euphorie. Trotz des FehJens eines Euphorieeffekts besaß die neue Regierung jedoch eine bei weitem breitere Unterstützung als ihre Vorgängerin im letzten Quartal ihrer Amtsführung (1982/3). Der Abstand war in der Tat groß genug, um den Schaden nahezu völlig wettzumachen, den die Wirtschaftslage der alten Regierung zugefügt hatte. In diesem Sinne, so unsere Sicht der Dinge, besaß die neue Regierung einen Popularitätsvorschuß. Mit der Zeit wUrde dieses Polster allerdings schrumpfen und zwar mit einer Rate von (1 - 0,95) oder filnf Prozent pro Quartal. Vom Popularitätskredit, der sich auf zehn Prozentpunkte belief, wUrde in den nächsten Jahren folgender Betrag Obrigbleiben: 1 Jahr später: 2 Jahre später: 3 Jahre später: 4 Jahre später: 5 Jahre später: 6 Jahre später:

7,6 6,2 5,0 4,0 3,3 2,7

Unsere Schätzungen filhrten zu der ex-post-Erwartung, daß die Kohl-Regierung diesen Verfall an Unterstützung erfahren wUrde, es sei denn, sie wäre in der Lage, die Situation am Arbeitsmarkt und/oder die Inflationsrate deutlich zu verbessern. Das zweite Ziel wurde zweifellos erreicht. Die Bundesrepublik erlebte 1986 teiweise negative Inflationsraten. Dieser Erfolg sollte sich in einem dreiprozentigen Plus an Popularität niederschlagen. Gleichzeitig blieb der Stand der Arbeitslosigkeit aber fast unverändert bei Ober zwei Millionen im Jahresdurchschnitt. Die zehnprozentige Popularitätseinbuße, die als Effekt zu erwarten wäre, wurde im ersten Regierungsjahr fast vollständig durch den Popularitätskredit wettgemacht; nach drei Jahren konnte er aber nur noch die Hälfte und nach sechs nur noch ein Viertel abdecken. Als die Bundestagswahl von 1987 näherrilckte, so unsere Schätzung, drUckte die Wirtschaftslage die Popularität der Kohl-Regierung unter den Stand, der filr einen Wahlsieg nötig war. Nur mit Hilfe des Mobilisierungseffekts konnte ein knapper Erfolg gesichert werden. Die Schätzungen aus der obigen Tabelle erlauben eine ex-post Vorhersage für

37 Vgl. Manfred Berger/Wolfgang G. Gibowski/Dieter Roth/Wolfgang Schulte, Legitimierung des Regierungswechsels. Eine Analyse der Bundestagswahl 1983, in: Klingemann/Kaase, Wahlen und politischer Prozeß (Anm. 3), S. 251-288, inbesondere S. 259.

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Helmut Norpoth/Christian Goergen

das erste Quartal 1987, sprich den Zeitpunkt der BundestagswahL Danach sollte sich der Anteil der Regierungsparteien auf 50,8 Prozent belaufen. Dies liegt etwas unter dem tatsächlichen Ergebnis, aber das dUrfte bei unkorrigierten Messungen des CDU/CSUAnteils meistens der Fall sein.

6.5.

Der Erinnerungsfaktor

Wie erwartet, ist fOr alle bisher diskutierten Faktoren ein Erinnerungseffekt wirksam. Allerdings ist die Wirkung mit einem Schätzwert von 0,46 nicht sonderlich stark. Immerhin scheint die aktuelle Information Ober Wirtschaftsdaten nicht jeweils voll durchzuschlagen, sondern wird etwa zur Hälfte an die Messungen des letzten Quartals augepaßt. Um dies zu verdeutlichen, nehme man den Fall, wo eine Million Arbeitslose in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen gemeldet werden. Sobald diese Information ihre (wahrscheinlich negative) Wirkung auf die Regierungspopularität ausgeübt hat, kann sie im nächsten Quartal nicht nochmals die gleiche Wirkung haben - vorausgesetzt die Wählerschaft hat ein Gedächtnis. Bei einem perfekten Erinnerungsvermögen wäre die Wirkung im nächsten Quartal gleich Null. Ohne jegliche Erinnerung wUrde die Information jedesmal als völlig neu aufgefaßt. Eine Schätzung von 0,46 ist zwar keineswegs unbedeutend, weist aber doch auf eine beachtliche Erinnerungsschwäche in der deutschen Bevölkerung hin. Das öffentliche Gedächtnis ist offensichtlich schlechter, als allgemein vermutet wird 38• Einer der möglichen GrUnde fOr diesen niedrigen Wert ist allerdings eher technischer Art: Es erscheint logisch, daß das Erinnerungsvermögen Ober kürzere Zeiträume besser funktioniert. Die Verwendung vierteljährlicher an Stelle monatlicher Daten schwächt deshalb den Eindruck des Erinnerungsvermögens ab. Ein weiterer Grund fOr den niedrigen Gedächtniswert mag in der Tatsache liegen, daß hier die Popularität beider Regierungsparteien vereint gemessen wurde und nicht nur die Unterstatzung fOr die große, fUhrende Partei. Die Wählerbasis der F.D.P. ist bekanntermaßen weit weniger stabil als die der CDU/CSU oder der SPD, und dies trägt mit zu einem flOchtigeren Charakter des Erinnerungseffekts bei. In der Tat zeigen die Zeitreihen fOr SPD und CDU/CSU allein einen weitaus stärkeren Gedächtniswert als unter Einbeziehung der F.D.P .. Welches ist die bessere Meßreihe? Letztendlich sind es Parteikoalitionen, nicht Parteien im Alleingang, die die Bundesrepublik regieren, und deshalb zählt letztlich die gemeinsame Popularittit.

6.6.

Die Gate des Modells

Unsere Schätzungen der Popularitätsfunktion bestehen einen wichtigen Test der Validität fOr Zeitreihenuntersuchungen: Das Modell produziert Residuen, die statistisch nicht 38 Siehe z.B. Kirchgässner, Economic Conditions (Anm. 9).

Regierungspopularität auf Kredit

371

zu unterscheiden sind von weißem Rauschen (white noise). Der Lijung-Box-Test ist erfüllt. Bei Verzögerungen bis zu 20 Zeitpunkten zeigt keine der Residualkorrelationen einen signifikanten Wert. Ein Grund dafür ist die autoregressive Struktur des Gedächtniseffekts. Rein technisch sorgt die Einbeziehung eines autoregressiven Prozesses dafür, daß die Restwerte einer Serie nicht mehr miteinander korrelieren. Auf einer anderen Ebene heißt das, daß ein Erinnerungseffekt mit in das Modell einbezogen wird. Offensichtlich basiert ein Phänomen wie die Unterstützung für eine Partei oder Regierung, das sich auf der individuellen Ebene abspielt, zu einem guten Teil auf gespeicherter Information, sprich Gedächtnis. Dies kommt genau in dem Ausmaß zum Tragen, in dem sich aktuelle Informationen auf eine Gesamtbeurteilung auswirken. Eine dynamische Analyse sollte diesen Faktor also miteinbeziehen. Eher enttäuschend schneiden unsere Ergebnisse aber bei dem vertrauten Test für die Erklärungskraft des Modells ab: Der Wert für R 2 liegt bei müden 0,67. Damit ist in der Gilde der Zeitreihenanalytiker wohl kein Blumentopf zu gewinnen. Ein zu großer Teil der Kurzzeitschwankungen der Regierungspopularität ist demnach nicht erklärt worden. Dennoch sehen wir keinen Grund, verschämt aufzugeben. In fast allen Zeitreihenanalysen stammt der Mammutanteil des R 2 von dem Erinnerungseffekt, der sich in unserer Untersuchung als relativ gering erwies. Wir haben das Rennen zur R 2-Ziellinie deshalb näher bei 0 als bei 100 aufgenommen. Schließlich gibt es gute Gründe, warum die "objektiven" Wirtschaftsdaten, selbst unter Einbeziehung politischer Interventionen, nicht die Gesamtheit der Veränderungen der Regierungspopularität erklären können. Ein offensichtliches Problem sind Meßfehler. Die Beobachtungen der abhängigen Variablen, Regierungspopularität, beruht auf Stichproben aus der Bevölkerung, sie geben nicht den ''wahren" Popularitätswert zu diesem Zeitpunkt wider. Wichtiger noch sind die Probleme, die sich daraus ergeben, daß die Kette zwischen Wirtschaftdaten und Regierungspopularität lang und zerbrechlich ist. Die daraus resultierende Variation ist durch kein politökonomisches Modell erklärbar und drückt den erreichbaren Höchstwert für R 2 weit unter 1. Eine weitere Klärung des Zusammenhangs zwischen individueller Informationsverarbeitung und Attribution wäre sicherlich ein wichtiger Schritt in Richtung einer vollständigeren Erklärung von Regierungspopularität. Forschung auf diesem Gebiet hat zumindest gezeigt, daß die Informations-Attributionskette stark genug ist, um eine Wirkung der Wirtschaftsdaten auf die Regierung aufrechtzuerhalten. Schließlich sollte nicht übersehen werden, daß es eine Unzahl von anderen Kurzzeitkräften gibt, die zum einen oder anderen Zeitpunkt Bedeutung erlangen und die Gesamteinschätzung zumindest zeitweilig wesentlich beeinflussen können, aber insgesamt eher zufällig auftreten.

7. Abschließende Bemerkungen

Ist es also doch die Wirtschaft, die das Schicksal der Politiker bestimmt? Ein Pakt mit dem Teufel, abgeschlossen mit dem Ziel des Machterhalts in einem System, das ohne öf-

372

Helmut Norpoth/Christian Goergen

fentliche Unterstützung nicht funktioniert. Indem sie die Verantwortlichkeit für wirtschaftlich gute Zeiten übernehmen, setzen Regierungen sich Ziele, die möglicherweise nicht zu erreichen oder zumindest nicht aufrechtzuerhalten sind. Die Quittung ist dann der Verlust von Popularitl!t und Amt. Für die Bundesrepublik sind die Vor- und Nachteile dieses Faustsehen Bündnisses in der vorliegenden Untersuchung evident geworden. Die Popularitilt der Regierung beruht zu einem wesentlichen Teil auf der Wirtschaftlage. Gleichzeitig scheinen die Bürger jedoch keine unrealistischen Anforderungen zu stellen. Die Öffentlichkeit ist offenbar gewillt, erhebliche Abweichungen von den wirtschaftlichen Idealwerten hinzunehmen. Es ist ein offensichtlicher Stabilisierungsfaktor, daß öffentliche Mehrheiten nicht sofort verloren gehen, wenn die angestrebten Ziele nicht erreicht werden. Es mag überraschen, daß die Regierungspopularitilt in der Bundesrepublik stilrker auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit reagiert, als auf den Geldwertverlust Die Deutschen werden oftmals beschuldigt, übermilBig sensibel auf steigende Inflationsraten zu reagieren. Als Grund dafür wird die horrende Hyperinflation von 1922/23 gesehen, die sich durch Erzilhlungen und Leidensberichte in das Gedi!chtnis der nachfolgenden Generationen übertragen hat. Unserer Analyse zufolge hat die Inflation den Regierungen in den letzten 20 Jahren kaum geschadet. Vielleicht haben die Werte auch nie die "Schmerzgrenze" erreicht. In diesem Fall war es "vorauseilender Gehorsam", der einen Einfluß der Inflationsrate auf die Regierungspopularitilt verhinderte. Man kann nur spekulieren, wie die deutsche Öffentlichkeit auf 25 Prozent Inflation -wie in Großbritannien in den siebziger Jahren - reagiert hätte. Die starke negative Korrelation zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit weist auch darauf hin, daß die Überfürsorge im monetilren Bereich vielleicht mit verantwortlich für das Ansteigen der Arbeitlosigkeit war, zumindest aber stilrkere Gegenmaßnahmen verhinderte. Arbeitslosigkeit war also offensichtlich der Hauptfaktor für den Popularitiltsverlust der deutschen Regierungen. Damit soll nicht gesagt werden, daß es die Arbeitslosen selbst waren, die den Wandel herbeigeführt haben39• Die Beantwortung dieser Frage ist nicht Gegenstand dieser Arbeit. Es bestehen allerdings wenig Zweifel daran, daß die veröffentlichten Zahlen zur Arbeitslosigkeit der Wi!hlerschaft als wirtschaftliches Barometer dienen. In den siebziger Jahren hat das Ansteigen der Arbeitslosigkeit auf über eine Million Menschen diesem Problem eine übermilchtige Stellung in der Hierarchie der öffentlichen Probleme beschert 40 • Diese Position hat sich seitdem nicht grundlegend veri!ndert.

39 Vgl. zu diesem viel erörterten Thema im Rahmen der deutschen Forschung Dieter Roth, Ökonomische Variablen und Wahlverhalten: Das Beispiel Arbeitslosigkeit, in: Politische Vierteljahresschrift, 18. Jg. 1977, S. 537-550; Hans Rattinger, Allgemeine und persönliche witschaftliche Lage als Bestimmungsfaktoren politischen Verhaltens bei der Bundestagswahl 1983, in: Dieter Oberndorfer/Haus Rattinger/Karl Schmitt (Hrsg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel and Wertwandel, Berlin: Duncker & Humblot 1985. 40 Vgl. Manfred Berger/Wolfgang G. Gibowski/Dieter Roth/Wolfgang Schulte, Stabilität und Wechsel: Eine Analyse der Bundestagswahl 1980, in: Kaase/Kiingemann, Wahlen und politisches System (Anm. 14), S. 12-57, insbesondere S. 48; dies., Legitimierung des Regierungs-

Regierungspopularität auf Kredit

373

In einer Vorschau auf die Bundestagswahl von 1987 wurde Arbeitslosigkeit als das Thema genannt, das alle anderen überschatten würde 41 • Obwohl die Quote schon seit vier Jahren relativ konstant bei über zwei Millionen Arbeitslosen lag, war kein Nachlassen - oder vielleicht eher eine Wiederbelebung - des öffentlichen Interesses festzustellen. Keinesfalls hatte der "Machtwechsel" von 1982 das Problem aus den Schlagzeilen verdrängt. In der Anfangszeit war die Kohl-Regierung von der Verantwortung für die Arbeitslosigkeit nahezu freigesprochen worden. Diese Immunitat verlor ihre schützende Wirkung allerdings mit geometrischer Regelmäßigkeit. Spätestens in der Vorwahlzeit von 1987 war der Zeitpunkt erreicht, wo Arbeitslosigkeit mehr als ein Problem der Regierung Kohl als das ihrer Vorgängerin empfunden wurde. Wie zu erwarten, reicht ein Regierungswechsel allein nicht aus, um aus einer schlechten Situation eine gute zu machen. Die Öffentlichkeit erwartet eine substantielle Verbesserung. Kann die Regierung diese nicht in angemessener Zeit bewirken, so muß mit einem Verfall ihrer Popularität und schließlich mit einem Machtwechsel gerechnet werden.

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41

wechsels. Eine Analyse der Bundestagswahl 1983, in: Klingemann/Kaase, Wahlen und politischer Prozeß (Anm. 3), S. 251-287, inbesondere S. 270. Vgl. hierzu Wolfgang G. Gibowski/Max Kaase, Die Ausgangslage für die Bundestagswahl am 25. Januar 1987, in: Klingemann/Kaase, Wahlen und politischer Prozeß (Anm. 3), S. 509-543, insbesondere S. 518.

374

Helmut Norpoth/Christian Goergen

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Regierungspopularität auf Kredit

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Hans Rattinger Einstellungen zur Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten: Ein Vergleich von Befunden und Strukturen in den späten achtziger Jahren

1. Einleitung: Hintergrund und Problemstellung

In der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik haben Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik in der politischen Diskussion - und damit auch in der öffentlichen Meinung in drei Phasen eine besondere Rolle gespielt 1. In den fünfzigerJahrenwaren Westintegration, Wiederbewaffnung und Kernwaffenstationierung Gegenstand erbitterter Kontroversen, nicht zuletzt deshalb, weil in diesem Kontext auch Weichenstellungen in der Deutschen Frage unvermeidlich waren. In den frühen siebziger Jahren wurde die Ostpolitik der neuen sozialliberalen Koalition kaum weniger heftig umkampft; die Bundestagswahl 1972 und ihr Vorspiel waren von diesen Auseinandersetzungen entscheidend gepragt2. Die dritte und bis in die Gegenwart reichende Periode erhöhter öffentlicher Aufmerksamkeit für diesen Politikbereich folgte auf den NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979. Vorzeichen dieser erneuten Politisierung der Thematik waren bereits anlaßlieh der Diskussion um die Stationierung von Neutronenwaffen in Buropa wahrend der CarterAdministration erkennbar geworden, aber die Nachrüstungskomponente des Doppelbeschlusses potenzierte die Intensitat der Konflikte und bewirkte eine Klarung und Verschiebung der Fronten und der innenpolitischen Schlachtordnung. Ohne den Bedeutungszuwachs der sicherheitspolitischen Auseinandersetzungen sind weder der folgende Zulauf zu den Grünen und zur Friedensbewegung und ihren Aktionen erklarbar noch die faktische Distanzierung großer Teile der SPD von ihrem Kanzler Helmut Schmidt, die eine der Ursachen für das Zerbrechen der sozialliberalen Koalition war (wenn auch vielleicht nicht die entscheidende). Der nachfolgende Wahlkampf ging als 1

2

Vgl. hierzu u.a.G. Schweigler, West German Foreign Policy: The Domestic Consensus, Beverly Hills: Sage 1983; J.M. Mushaben, Cycles of Peace Protest in West Germany: Experiences from Three Decades, in: West European Politics, 8. Jg. 1985, S. 24-40; M. Cioc, Pax Atomica: The Nuclear Defense Debate in West Germany During the Adenauer Era, New York: Columbia University Press 1988; S.F. Szabo, Post-INF Germany: TI1e Changing Palilies of Defense in the Federal Repub/ic (Manuskript, Woodrow Wilson International Center for Scholars), Washington, D.C. 1988. Vgl. H. Garding, Ostpolitik und Arbeitsplätze: Issues 1972 und 1976, in: D. Oberndörfer (Hrsg.), WähleiVerhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Duncker & Humblot 1978, S. 327-390.

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Hans Rattinger

"Raketenwahlkampf' in die Annalen ein, obwohl sich dann der tatsächliche Einfluß der Stationierungsfrage auf die Stimmabgabe bei der Bundestagswahl 1983 eher in Grenzen hielt 3• Hoffnungen, die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber sicherheitspolitischen Fragen würde nach dem Beginn der Raketenstationierung wieder auf das früher gewohnte Niveau absinken, gingen nicht ganz in Erfüllung. Aktionen der Friedensbewegung nahmen zwar nach Häufigkeit und Intensität stark ab. Die Wiederaufnahme der Ende 1983 abgebrochenen Genfer Rüstungskontrollverhandlungen über INF-Systeme im Frühjahr 1985 und der erneute Machtwechsel in der Sowjetunion, der zu einer wesentlich flexibleren Haltung führte, sorgten aber dafür, daß die Thematik nicht von der Bildfläche verschwand. Obwohl die Stationierung amerikanischer Pershing-li-Raketen und Cruise Missiles in Westeuropa seit Ende 1983 plangemäß voranging, stellte diese erneute Verfolgung der Verhandlungskomponente des Doppelbeschlusses in Aussicht, seine Nachrüstungskomponente zumindest zu begrenzen, wenn nicht wieder zu reduzieren oder sogar ganz zurückzunehmen. Wäre die Nachrüstung bei fortdauernd gespannten Beziehungen zwischen den Supermächten abgeschlossen und über einige Jahre hinweg Grundlage des Status quo geworden, hätten diese Hoffnungen vielleicht in Erfüllung gehen können, so aber wurde die Problematik zum öffentlichen "Dauerbrenner"; die Kritik an der Raketenstationierung ging in die Hoffnung aufihre Revision durch Rüstungskontrolle über. Daß sicherheitspolitische Themen dennoch für die Bundestagswahl im Januar 1987 und im vorangehenden Wahlkampf eher eine geringere Rolle als 1983 spielten4, hat mehrere Ursachen. Erstens hatte die SPD aus der Bundestagswahl 1983 die Lehre ziehen müssen, daß dieser Politikbereich - trotz aller öffentlichen Diskussionen und Demonstrationen - nur für einen relativ kleinen Teil der Wähler direkt wahlrelevant ist, so daß sie es im Hinblick auf die Mobilisierbarkeit ihrer Klientel vorzog, wirtschaftliche Schwierigkeiten - vor allem die Arbeitslosigkeit - und das Feld der Sozialpolitik im Wahlkampf zu thematisieren. Zweitens hatten umweltpolitische Probleme im Vorfeld der Wahl einen beträchtlichen Bedeutungszuwachs erfahren, besonders durch den Reaktorunfall in Tschernobyl und die massive Vergiftung des Rheins durch ein Unglück im Chemiekonzern Sandoz in Basel. Drittens schließlich zeichnete sich zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 1987 angesichts der deutlich verbesserten Beziehungen zwischen den Supermächten und nach dem Gipfeltreffen von Reykjavik ein Rüstungskontrollabkommen über die INF-Systeme bereits ab, auch wenn die endgültigen Konturen der wenige Monate später vereinbarten doppelten Null-Lösung (d.h. völliger weltweiter Abbau von atomar bestückten landgestützten Raketen und cruise missiles mit Reichweiten über 500 Kilometern, aber unterhalb strategischer Reichweiten) noch nicht ganz klar erkennbar waren. 3

4

J.W. Falter/H. Rattinger, Die Bundestagswahl1983: Eine Normalwahlanalyse, in: H.-D. Klingemann/M. Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, s. 289-337. Vgl. M. Berger/W.G. Gibowski/M. Jung/ D. Roth/W. Schulte, Die Konsolidierung der Wende: Eine Analyse der Bundestagswahl 1987, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 18. Jg. 1987, S. 253-284, s. 277ff.

Einstellungen zur Sicherheitspolitik

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Man h!!tte nun erwarten können, daß nach dem INF-Vertrag, der im Dezember 1987 in Washington unterzeichnet (und beiderseits inzwischen ratifiziert) wurde, dieser Politikbereich die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit wieder verlieren würde. Das INF-Abkommen machte schließlich den größten Teil der früheren Kontroversen seit Beginn der achtziger Jahre gegenstandslos. Es beseitigte das Problem der sowjetischen Überlegenheit im INF-Bereich zusammen mit seiner Lösung, der Nachrüstung der NATO, die selbst zum Problem hinsichtlich ihrer sozialen Akzeptanz geworden war. Da weitgehender Konsens darüber besteht, daß sicherheitspolitische Fragen für große Teile der Wählerschaft zumeist von relativ geringer persönlicher Zentralität sind5, wäre die Rückkehr zur "Normalität" etwa der sechziger und siebziger Jahre (wenn man von dem Kampf um die Ostpolitik absieht) durchaus denkbar gewesen. Eine solche Entwicklung wäre auch dadurch begünstigt worden, daß den Grünen durch diesen Vertrag ein wichtiges Sachthema entwertet wurde, daß ferner die SPD heute in sicherheitspolitischen Fragen einerseits weniger gespalten und andererseits von den anderen etablierten Parteien weniger entfernt ist als noch vor wenigen Jahren. Daß diese Erwartung bisher nicht in Erfüllung gegangen ist - und es wahrscheinlich mittelfristig auch nicht wird - hat eine Reihe von Gründen innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik. In der Bundesrepublik selbst fand der INF-Vertrag breite Zustimmung6, und er hat gewissermaßen den Wunsch nach mehr geweckt. In Vorkehrungen traditioneller militärischer Sicherheitspolitik ist die Bundesrepublik nun schon seit fast 35 Jahren eingebunden, aber die Teilnahme an tatsachlicher Rüstungskontrolle (wenn bei INF auch nicht als Vertragspartner) ist etwas Neues. Der Hunger kommt mit dem Essen, sagt man. Zahlreiche sowjetische Initiativen und Vorschlage aus den Monaten nach dem Vertragsabschluß wirken zus!!tzlich appetitanregend, zumal die Sowjetunion mit diesem Vertrag gezeigt hat, daß sie - zumindest numerisch - zu stark asymmetrischen Abkommen bereit ist; vielleicht ließe sich derlei sogar wiederholen! Ankündigungen östlichen Unilateralismus (wie im Dezember 1988 beim Besuch des sowjetischen Generalsekretärs in den Vereinigten Staaten und anschliessend von Verbündeten im Warschauer Pakt, einschließlich der DDR) führen zu der Frage nach der Notwendigkeit westlicher Gegenleistungen und stellen die Friedfertigkeit der anderen Seite in ein besonderes Licht. Schließlich hat die NATO seit dem INF-Vertrag ihre eigenen, hausgemachten Probleme. Das Abkommen hatte im Westen durchaus seine Gegner, auch in der Bundesrepublik7• In diesem Zusammenhang sieht man in der NATO seit der dem Ver5

6

7

Siehe H. Rattinger/P. Heinlein, Sicherheitspolitik in der öffentlichen Meinung: Umfrageergebnisse für die Bundesrepublik Deutschland bis zum "heißen Herbst' 1983, Berlin: Wissenschaftlicher Autoren Verlag 1986, S. 58ff. Für die USA s. die grundlegende Arbeit von G. Almond, The American People and Foreign Policy, New York: Präger 1950. Vgl. H. Rattinger, The INF-Agreement and Public Opinion in West Germany, in: D. Dewitt/H. Rattinger (Hrsg.), Bast- West Arms Control: The New Challenges, London: Routledge 1989. Zum Hintergrund der neueren Auseinandersetzungen vgl. D.S. Yost, West German Party Politics and Theater Nuclear Modernization Since 1977, in: Armed Forces and Sodety, 8. Jg. 1982, S. 525-560. Zur Situation vor und nach Abschluß des INF-Vertrages vgl. J. Dean, The INF Agreement: Pluses and Minuses for Western Security, in: Am1s Control Today

380

Hans Rattinger

trag vorausgehenden Diskussion die Gespenster der "Entnuklearisierung" Europas und als Gegenmittel - der "Modernisierung" der landgestützten nuklearen Kurzstreckenraketen des Westens (d.h. bis 500 km Reichweite). Besonders die letztere Idee verhindert, daß die Befassung der Öffentlichkeit mit Sicherheitspolitik wieder zurückgeht, denn sie stellt eine neue Runde von Raketenstationierung in Aussicht, vor allem in der Bundesrepublik. Indem sie die Wichtigkeit eines rüstungskontrollpolitischen "Gesamtkonzepts" der NATO betont8, spielt die Bundesrepublik auf Zeit: Weder über eine solche Modernisierung noch über eine eventuelle dritte Null-Lösung soll vor dem Vorliegen eines derartigen Gesamtkonzepts entschieden werden. Neuerdings versucht die Bundesregierung, diese Entscheidungen noch weiter hinauszuzögern, zumindest bis nach der Bundestagswahl 1990, wie der neue amerikanische Außenminister Baker bei seinem ersten Besuch in Bann erfahren mußte. Durch diese zögernde Haltung gegenüber einer erneuten Nachrüstungsentscheidung bestätigt die Bundesregierung zwei grundlegende Prämissen dieses Beitrags, daß nämlich erstens auch nach dem INF-Vertrag die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik gegenüber sicherheitspolitischen Problemstellungen sensibel geblieben ist und daß zweitens die öffentliche Meinung dem Aktionsradius der Sicherheitspolitik gewisse Restriktionen auferlegt. Wenn die Bundesregierungtrotz der klar geäußerten Präferenzen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens zu einer Modernisierungsentscheidung vor der Bundestagswahl 1990 nicht bereit ist und damit Konflikte mit den NATO-Partnern in Kauf nimmt, dann spiegelt dies die Sorge um fehlende gesellschaftliche Akzeptanz wieder. Unabhängig davon, wie wahlrelevant dieses Akzeptanzdefizit 1990 tatsächlich werden würde, bestehen nach den Erfahrungen mit der ersten Nachrüstungsrunde kaum Gelüste, einen erneuten "Raketenwahlkampf' mit allen seinen Risiken zu führen. Daß die antizipierte Opposition nicht vernachlässigbarer Teile der öffentlichen Meinung die Kraft hat, die Bundesregierung zur Verzögerungstaktik zu bewegen, verdeutlicht, daß auch in den ausgehenden achtziger Jahren die Beschäftigung mit sicherheitspolitischen Einstellungen in der Bundesrepublik und ihren Strukturen nicht ausschließlich ein akademisches Glasperlenspiel ist, sondern sehr wohl auch praktische Bedeutung hat. Warum aber erfolgt dies hier in Form des Vergleichs von Einstellungen zur Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten? Daß der Verfasser anderwärts bereits mehrere auf die Bundesrepublik beschrankte Untersuchungen vorgelegt hat9, ist eher ein trivialer Grund. Schon bedeutungsvoller ist, daß ein solcher Ver-

8 9

(July/August), 17. Jg. 1987, S. 3-10, M.R Gordon, INF: A 1-Iollow Victory?, in: Foreign Policy, 1987, 1-1. 68, S. 159-179; C. Gasteyger, Buropa nach dem INF-Abkommen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1988, 1-1. 10, S. 3-10; F. 1-Ieisbourg, Nach dem INF-Abkommen von Washington: Für eine Weiterentwicklung der Grundlagen des Atlantischen Bündnisses, in: Europa-Archiv, 43. Jg. 1988, S. 119-128. Vgl. D. Mahncke, A Comprehensive Concept for Security and Arms Control in Europe, erscheint in: D. Dewitt/1-1. Rattinger (1-Irsg.), Bast- West Arms Contra!: The New Challenges, London: Routledge 1989. Neben der bereits zitierten Arbeit (Anm. 5) s. vor allem Hans Rattinger, The Federal Republic of Germany: Much Ado About (Almost) Nothing, in: G. Flynn/1-1. Rattinger (1-Irsg.), The Public and Atlantic Defense, Totowa, N.J.: Rowman & Allanheld 1985, S. 101-174; ders.,

Einstellungen zur Sicherheitspolitik

381

gleich selbstverstandlieh besonders geeignet ist, nationale Eigenheiten sichtbar zu machen. Ganz spezifisch sprechen aber die folgenden Überlegungen für einen solchen Versuch: Erstens ist über die achtziger Jahre hinweg die öffentliche Meinung zur Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik zu einer der zentralen Quellen amerikaaiseher Besorgnisse über die deutsche Zuverll!ssigkeit in der NATO geworden. Die Bundesrepublik spielt in der NATO aufgrund ihrer Lage und ihres Bündnisbeitrags eine herausgehobene Rolle, so daß ihre innenpolitischen Kontroversen von amerikaaiseher Seite mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt werden. Die Reservationen der Grünen und von Teilen der SPD gegenüber der NATO und der etablierten westlichen Sicherheitspolitik werden- vor allem von Konservativen in den USA - als Alarmsignal aufgefaßt, besonders deshalb, weil sie vor dem Hintergrund einer öffentlichen Meinung eingeschätzt werden, die als zunehmend antiamerikanisch, neutralistisch und pazifistisch wahrgenommen wird. Besonders häufig sind derartige amerikaaisehe Bedenken, um nicht zu sagen Kritik und Anklagen, im Zusammenhang mit der Denkfigur der "successor generation"10 anzutreffen, wonach sich die Erosion der Akzeptanz der bisherigen militärischen Sicherheitspolitik vor allem auf die jüngeren Generationen konzentriere, so daß durch biologische Entwicklungen eine weitere Verschärfung dieser Problematik unausweichlich sei. Dabei geht es beileibe nicht nur um Analyse, sondern praktische Folgerungen sind schnell gezogen: Wenn die Bevölkerung der Bundesrepublik die gewohnten Sicherheitsarrangements immer weniger unterstützt und ihr die Bereitschaft für einen "adäquaten" Beitrag zu ihrer eigenen Sicherheit und zum Bündnis immer schwerer abzugewinnen ist, warum sollten sich dann die Vereinigten Staaten weiter an den Lasten der Truppenstationierung in Buropa beteiligen und durch erweiterte nukleare Sicherheitsgarantien ("extended deterrence") Risiken eingehen 11 , die über die Sicherung der "Festung Amerika" hinausgehen? Solche Überlegungen und Argumente sind natürlich auch politischer und taktischer Natur- und in diesem Fall gegenüber irgendwelchen empirischen Evidenzen weitgehend immun. Deshalb ist es auch nicht Ziel dieses Beitrages zu dokumentieren, daß derartige Bedenken gegenüber der Entwicklung der öffentlichen Meinung zur Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik unbegründet sind. Vielmehr ist es ein erstes Anliegen, durch den Vergleich mit den USA eine Vorstellung davon zu erhalten, inwiefern solche Befunde für die Bundesrepublik, die als bedrohlich oder kritikwürdig

Change Versus Continuity in West German Public Attitudes on National Security and Nuclear Weapons in the Early 1980s, in: Public Opinion Quarterly, 51. Jg. 1987, S. 495-521; ders., Development and Structure of West German Public Opinion on Security Issues in the 1980s, in: D. Munton/H. Rattinger (Hrsg.), Debating National Security: The Public Dimension, Boulder, Co!.: Westview 1989; ders., The Bundeswehr and Public Opinion, in: S.F. Szabo (Hrsg.), The Bundeswehrand Western Security, London: Macmillan 1989. 10 Vgl. S.F. Szabo, West Germany: Generations and Changing Security Perspectives, in: ders. (Hrsg.), The Successor Generation: International Perspectives of Postwar Europeans, London: Butterworths 1983, S. 43-75. 11 Zum Begriff der "erweiterten Abschreckung" und ihren Problemen s. S.J. Cimbala, Extended Deterrence, Lexington, Mass.: Lexington Books 1987.

382

Hans Rßttinger

herausgestellt werden, tatsächlich nationale Besonderheiten darstellen oder aber ihre Entsprechung in den Vereinigten Staaten selbst finden. Ein zweiter Anlaß, einen solchen Vergleich gerade für die späten achtziger Jahre zu versuchen, ist die Entwicklung der internationalen Situation. Die oben skizzierten Sorgen in den USA über die "German uncertainties" haben durch die rüstungskontrollpolitischen Initiativen des Generalsekretärs der KPdSU und seine hohe Popularität weiteren Auftrieb erhalten. In den Vereinigten Staaten wird befürchtet, daß dadurch in Westeuropa und besonders in der Bundesrepublik das Verstandnis für vom Osten ausgehende Gefahren und Bedrohungen gänzlich erlischt, was eine weitere Erosion der Akzeptanz militärischer Sicherheitspolitik im Rahmen der westlichen Allianz zur Folge haben könnte. Auch hier stellt sich die Frage, inwiefern solche Tendenzen (in den USA zusammenfassend oft als "Gorbatschow-Effekt" bezeichnet) möglicherweise auch in den Vereinigten Staaten selbst zu beobachten sind. Ein weiterer Grund für den Vergleich besteht darin, daß militarische Sicherheitspolitik in beiden Landern in den nächsten Jahren von der Ressourcenseite her unter Druck geraten dürfte. In den Vereinigten Staaten begrenzt das Haushaltsdefizit die Möglichkeiten, die während der Reagan-Administration erfolgte Expansion des Rüstungshaushalts fortzusetzen. Im Präsidentschaftswahlkampf 1988 spielte dieses Thema eine große Rolle, vor allem auf Seiten des demokratischen Kandidaten, und der erste Etatentwurf der Bush-Administration begrenzt den Anstieg der Verteidigungsausgaben bereits auf den Inflationsausgleich. In der Bundesrepublik stehen einerseits militärische Entwicklungsund Beschaffungsentscheidungen von erheblicher finanzieller Reichweite an, andererseits Finanzierungsprobleme des Gesundheits- und Rentensystems. Für beide U!nder ist zu vermuten, daß die öffentliche Meinung Entscheidungen für den Verteidigungsbereich und gegen die Haushaltskonsolidierung bzw. das soziale Sicherungsnetz um so weniger akzeptieren wird, je mehr die Ost-West-Beziehungen durch Entspannung, Kooperation und Rüstungskontrolle gekennzeichnet sind. Diese Ressourcenprobleme sind zwar nicht völlig identisch, aber hinreichend ähnlich, um den Vergleich zwischen sicherheitspolitischen Einstellungen in beiden Landern als Hintergrund für die weitere Entwicklung auf diesem Gebiet als nützlich und interessant erscheinen zu lassen. Wie wird dieser Vergleich in diesem Beitrag nun im einzelnen aussehen? Zunächst werden im folgenden Abschnitt Datenbasis und Auswertungsverfahren kurz charakterisiert. Danach folgt eine weitgehend deskriptive Gegenüberstellung von Befunden zu einer Reihe von Einstellungen zur Sicherheitspolitik und zum atlantischen Bündnis in der Bundesrepublik und den USA, die in dem Datenmaterial in gleicher oder ähnlicher Form vorgefunden werden konnten. Der nächste Abschnitt behandelt Zusammenhänge zwischen diesen Einstellungen einerseits und einigen sozialstrukturellen Merkmalen und parteipolitischen Präferenzen andererseits. Dabei wird es vor allem darum gehen, die Polarisierung der öffentlichen Meinung zu diesem Politikbereich in den beiden Landern nach dem Alter und der Parteibindung zu vergleichen. Im letzten Abschnitt erfolgt schließlich eine kurze Untersuchung einiger Beziehungen zwischen verschiedenen sicherheitspolitischen Attitüden.

Einstellungen zur Sicherheitspolitik

383

2. Die Datenbasis

Diese Arbeit beruht nicht auf eigener paralleler Datenerhebung in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik. Sie berichtet die Ergebnisse von Sekundäranalysen, woraus sich erhebliche inhaltliche und methodische Beschränkungen ergeben. Sie basiert für die Bundesrepublik auf der 1987 von EMNID für das Bundesministerium der Verteidigung durchgeführten Umfragestudie "Meinungsbild zur wehrpolitischen Lage", für die USA auf den Erhebungen des "Americans Talk Security"-Projekts. Die EMNID-Studie gehört zu einer Serie jährlicher Befragungen, die bis in das Jahr 1962 zurückreicht Die 1987er Erhebung erfolgte durch persönliche Befragung zwischen Ende Juli und Mitte August bei einer Zufallsstichprobe der bundesrepublikanischen Bevölkerung (ohne West-Berlin) ab 18 Jahren (N =1968). Leider standen nicht die Originaldaten zur Verfügung, sondern nur die umfangreichen Kreuztabeliierungen des EMNID-Berichts 12, was die Auswertungsmöglichkeiten der deutschen Daten stark beschränkte. Im Rahmen des von privater Seite finanzierten "Americans Talk Security" (ATS) Projekts wurden von Oktober 1987 bis Dezember 1988 insgesamt zwölf Telefonumfragen mit ausschließlich sicherheitspolitischem Gehalt bei jeweils rund tausend registrierten Wählern in den Vereinigten Staaten durchgeführt 13• Verglichen mit der EMNID-Studie, waren die Fragenkataloge jeweils etwa doppelt so lang, so daß ATS insgesamt einen wesentlich breiteren Themenbereich abdeckt. Die Auswahl der einzubeziehenden Merkmale mußte deshalb von der deutschen Studie ausgehen, die überdies eine Reihe von Fragen enthielt, zu denen es in den amerikanischen Daten keine Entsprechung geben konnte (z.B. zu Friedensbewegung, Wehrpflicht oder Verhältnis zu Stationierungstruppen). Für diejenigen Fragen in der deutschen Umfrage, zu denen in den ATS-Studien gleiche oder ähnliche Fragen gefunden werden konnten, wurden die von EMNID vorliegenden einfachen Auswertungen (Häufigkeitsverteilungen und Kreuztabellen) mit dem amerikanischen Material repliziert, das vollständig maschinenlesbar vorlag. Dabei handelt es sich um einen gemeinsamen Bestand von rund eineinhalb Dutzend Fragen (zu ihrem Wortlaut s. den Anhang), die verschiedene Teilbereiche des sicherheitspolitischen Einstellungsraums abdecken. Ihre inhaltliche Klassifikation wird im folgenden Abschnitt behandelt. Zuvor jedoch ist noch kurz auf einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Datenquellen einzugehen. Die EMNID-Studie ist repräsentativ für die Bevölkerung ab 18 Jahren, die ATS-Umfragen erfaßten dagegen nur registrierte Wähler. Im Durchschnitt der Präsidentenwahljahre 1972 bis 1984 waren 68,6 Prozent der Amerikaner in wahlbe-

12 Dem Bundesministerium der Verteidigung sei an dieser Stelle für die Überlassung dieses Materials gedankt. 13 Die einzelnen Umfragen des ATS-Projekts wurden von Market Opinion Research, Marttila & Kiley und der D. Yankelovich Group durchgeführt. Berichte und Datensätze sind grundsätzlich frei zugänglich. Berichte und weitere Informationen über das Projekt können angefordert werden von: ATS, 83 Church Street #17, Winchester, Mass. 01890, USA Den Vertrieb der Daten besorgt das Roper Center der University of Connecticut in Storrs.

384

Hans Rattinger

rechtigtem Alter registriert 14, 1988 dürfte die Größenordnung ähnlich gewesen sein. Die Wahrscheinlichkeit der Registration ist aber keine Zufallsgröße, sondern sie hat systematische Ursachen, so daß sich die registrierten Wähler von der Gesamtbevölkerung ab 18 Jahren signifikant unterscheiden werden. So ist vor allem zu erwarten, daß die registrierten Wähler im Mittel älter und gebildeter sind und einen höheren sozioökonomischen Status haben. Tabelle 1:

Vergleich der ATS-Stichproben mit der amerikanischen Gesamtbevölkerung nach Alter, Bildung, Einkommen und Berufsgruppe

Amtliche Werte 1986 Mittleres Lebensalter Höchster Ausbildungsstand (in %) Grade school Same high school Graduated high school Same college (bis 3 Jahre) Graduated college Median-Haushaltseinkommen pro Jahr in$ Berufsgruppe (in %) Managers, professionals Technical, sales, administrative support Service occupations Precision production, crafts, repairs Operators, fabricators, laborers Farming, forestry, mining

Mittel der ATS-Studien

43,5

45,3

13,4

3,3

Anzahl der einbezogenen ATS-Studien 11 11

11,9

7,4

38,4 16,9 19,4

33,2 27,0 29,4

24.897

29.850

24,2

37,2 29,1

11 2

31,3 13,4 12,2 15,7 3,1

12,2 7,5

11,3 2,7

Die amtlichen Werte 1986 für Lebensalter und Ausbildung beziehen sich auf alle Personen ab 18 Jahren, die anderen amtlichen Angaben beziehen sich auf alle Haushalte bzw. auf alle Erwerbstätigen. Quelle: United States Department of Commerce, Bureau of the Census, Statistical Abstract ofthe United States 1988, Washington, D.C.: United States Government Printing Office, 1987.

Wie Tabelle 1 zeigt, ist genau dies bei den ATS-Studien der Fall. Besonders deutlich sind die Abweichungen hinsichtlich Ausbildung und Berufsgruppenzugehörigkeit Während in der Gesamtbevölkerung rund 64 Prozent höchstens ein high school Diplom besitzen, sind es im Mittel der ATS-Stichproben nur 44 Prozent. Nach der Berufsgruppe sind in den ATS-Studien gehobene white-collar-Berufe stark über- und alle anderen unterrepräsentiert, besonders deutlich die blue-collar-Berufe. Deshalb sind bereits die Häufigkeitsver-

14 United States Department of Commerce, Bureau of the Census, Statistical Abstract of the United States 1988, Washington, D.C.: United States Government Printing Office 1987, S. 249.

Einste/lungen zur Sicherheitspolitik

385

teilungender deutschen Umfrage mit denjenigen der amerikanischen nicht unmittelbar vergleichbar, so daß im nachfolgenden deskriptiv-vergleichenden Abschnitt eine entsprechende Korrektur bewerkstelligt werden muß. Für den abschließenden Abschnitt über Assoziationen zwischen verschiedenen sicherheitspolitischen Einstellungen ist eine solche Korrektur jedoch nicht ohne weiteres denkbar; die dort berichteten Ergebnisse gelten somit nur für registrierte Wahler in den USA, nicht für die gesamte Bevölkerung ab 18 Jahren. Aufgrund des deutlich höheren Ausbildungsniveaus bei dieser Teilgruppe ist zu erwarten, daß derartige Zusammenhange eher starker ausfallen werden als es für die Gesamtbevölkerung der Fall ware15 •

3. Vergleich sicherheitspolitischer Einstellungsverteilungen

In diesem Abschnitt werden Daten zu den folgenden Aspekten sicherheitspolitischer Einstellungen in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten miteinander verglichen: Interesse an diesem Politikbereich, Perzeptionen der sicherheitspolitischen Ausgangslange, Attitüden zu Abschreckung und Verteidigung, Beurteilungen institutioneller Vorkehrungen der Sicherheitspolitik und schließlich konkreter Implikationen dieser institutionellen Arrangements 16. Die Analyse beschrankt sich, wie schon gesagt, auf die Jahre 1987 und 1988, weil einerseits longitudinale Deskriptionen für beide U!nder vorliegen17 und andererseits das Hauptgewicht dieses Beitrags auf Korrelaten und Strukturen sicherheitspolitischer Einstellungen liegen soll, nicht auf ihrer Darstellung. Die Kombina-

15 Vgl. P.E. Converse, The Nature of Belief Systems in Mass Publics, in: D.E. Apter (Hrsg.), Ideology and Discontent, New York: 1964, S. 206-261; ders., Attitudesand Non-Attitudes, in: E.R Tufte (Hrsg.), The Quantitative Analysis of Social Problems, Reading, Mass.: AddisonWesley 1970, S. 168-189; G.F. Bishop/RW. Oldendick/A.J. Tuchfarber/S.W. Bennett, Attitudes and Nonattitudes in the Belief System of Mass Pub lies, in: Journal of Social Psychology, 110. Jg. 1980, S. 53-64; dies., Pseudo-Opinions on Public Affairs, in: Public Opinion Quarterly, 44. Jg. 1980, S. 198-209. 16 Zur Klassifikation sicherheitspolitischer Einstellungsobjekte s. Rattinger, The Federal Republic of Germany (Anm. 9), S. 104ff.; Rattinger/Heinlein, Sicherheitspolitik (Anm. 5), S. 39 ff. 17 Für die Bundesrepublik s. z.B. B. Meyer, Der Bürger und seine Sicherheit: Zum Verhältnis von Sicherheitsstreben und Sicherheitspolitik, Frankfurt a.M.: Campus 1983; Rattinger (Anm. 9); Rattinger/Heinlein, Sicherheitspolitik (Anm. 5); S.F. Szabo, The Federal Republic of Germany: Public Opinion and Defense, in: C.M. Kelleher/G. Mattox (Hrsg.), Evolving European Defense Policies, Lexington, Mass.: D.C. Heath 1987, S. 185-202; ders., West German Public Attitudes on Arms Contra!, in: C. Fisher/8. Blechman (Hrsg.), The Silent Partner: West Germany and Arms Contra!, Cambridge, Mass.: Ballinger 1988, S. 195-230. Für die USA s. J. Marttila, A Survey of American Attitudes About Nuclear Weapons and Arms Contra!, Boston: Marttila & Kiley 1985; D. Yankelovich (Hrsg.), Amelieans Talk Security: Compendium of Po// Findings an the National Security Issue, New York: D. Yankelovich Group 1987; R Y. Shapiro/8.1. Page, Foreign Policy and the Rational Public, in: Journal of Conflict Resolution, 32. Jg. 1988, S. 211-247; s. ferner die regelmäßigen Berichte des Council on Foreign Relations, letztmals J.E. Rielly (Hrsg.), American Public Opinion and U.S. Foreign Policy 1987, Chicago: Council on Foreign Relations 1987.

386

Hans Rllttinger

tion des Strukturaspekts mit einer longitudinalen Perspektive würde den verfügbaren Rahmen sprengen. Die hier für die USA verwandten ATS-Daten stammen, wie erwähnt, nicht aus allgemeinen Bevölkerungsumfragen, sondern beziehen sich nur auf registrierte Wähler. Um mit den deutschen Daten vergleichbar zu sein, müssen sie für die amerikanische Gesamtbevölkerung umgewichtet werden. Da die ATS-Stichproben am stärksten nach der formalen Bildung von der amtlich ermittelten Sozialstruktur abweichen (vgl. Tabelle 1), wurden alle Ergebnisse für die Vereinigten Staaten entsprechend der Verteilung des Ausbildungsstandes in der Gesamtbevölkerung umgerechnet. Tabelle 2 enthält deshalb für die USA jeweils zwei Angaben, einmal die Originalwerte von ATS, die für die registrierten Wähler gelten, und daneben die umgewichteten Werte. Dieses Korrekturverfahren setzt natürlich voraus, daß die berichteten Einstellungen nur mit dem Bildungsstand, nicht jedoch mit der Wahrscheinlichkeit der Registrierung zusammenhängen, eine insgesamt wohl realistische Annahme. Der Vergleich beruht in diesem Abschnitt stets auf den für die amerikanische Gesamtbevölkerung umgerechneten Werten; auf die Auswirkungen dieser Korrektur wird dann zum Schluß eingegangen. Tabelle 2:

Vergleich sicherheitspolitischer Einstellungen in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten (alle Angaben in Prozent, soweit nicht anders angemerkt)

BRD

USA

USA, nur registrierte Wähler

Anzahl der ATSStudien

Interesse an sicherheitspolitischen Themenc eher interessiert 44 76 79 3 eher nicht interessiert 56 24 21

very/fairly closely not very closely, hardly at all

Gespräche über Sicherheitspolitik

62

21 13

4

60

21 15

4

1

never once or twice manytimes DK, NA,NS

387

Einstellungen zur Sicherheitspolitik

BRD

USA

USA, nur registrierte Wähler

Anzahl der ATSStudien

NATO überlegen beide gleich WP überlegen keine Angabe

Militfirische Kräfteverhältnisse insgesamt 11 55 32 2

lndei

1,20

USAstärker ebenso stark USA schwächer keine Angabe

Militfirische Kräfteverhältnisse USA- UdSSJt U.S.ahead 14 15 16 ~ M ~ 3 abouteven 23 38 35 U.S. behind 3 3 3 DK,NA,NS

lndei

1,09

NATO überlegen beide gleich WP überlegen keine Angabe

16(20) 37(47) 26(33) 21

Indei

1,13

NATO überlegen beide gleich WP überlegen keine Angabe

Militiirische Kräfteverhältnisse bei konventionellen Waffen• 7 (9) 18 18 U.S. ahead 31 30 1 about even 31(39) 48 50 U.S. behind 41(52) 21 3 2 DK,NA,NS

Indei

1,43

1,24

1,20

Militl/.rische Kräfteverhliltnisse bei Kernwaffen• 10 55 30 5

10 55 30 5

1,21

1,21

1,31

2

U.S. ahead roughlyequal Soviets ahead DK,NA,NS

1,33

Streben die USA nach mi/itfirischer Überlegenheit?

streben nach Überlegenheit streben Gleichgewicht an nehmen Unterlegenheit hin keine Angabe

40

25

22

55

62

63

4 1

8 5

10 5

U.S. should have more 1

U.S. should have same U.S. should have less DK,NA,NS

388

Hans Rattinger

BRD

USA

USA, nur registrierte Wähler

Anzahl derATSStudien

Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion°

UdSSR mißbraucht Verständigungsbereitschaft UdSSR meint Entspannungernst keine Angabe

22

61

57

75 2

33 6

37 6

eher verbessern unverändert eherverschlechtem keine Angabe

Ezwartung zur Entwicklung der Beziehungen zur Sowjetunion° 56 getting better 59 62 35 32 40 5 staying about same 4 2 getting worse 4 1 DK,NA,NS 2 2

4

Kommunistische/sowjetische Bedrohung" sehr groß 5 21 20 groß 24 37 35 nicht so groß 54 29 31 7 nicht ernst zu nehmen 15 11 12 keine Angabe 2 2 2

1,19 Atomwaffen zu gefährlich, sollten sofort abgeschafft werden 47 Ohne Atomwaffen wäre Kriegswahr51 scheinlichkeit höher keine Angabe 2

würde mit der Waffe kämpfen irgendwie kämpfen und sich wehren beides abgelehnt keine Angabe

1,69

very serious serious minor no threat at all DK,NA,NS

1,64

Kernwaffen und Abschreckung"

54

55

43

42

3

3

1

Verhalten bei einem östlichen Angriff 37 39 16 12 13 1 40 25 24

41 2

Soviet Union cannot be trusted Soviet Union can be trusted DK,NA, NS

20 6

18 6

elimination of all nuclear arms in the world U.S. should have enough nuclear arms to deter attack DK,NA, NS

send troops send military supplies use diplomatic pressure stay out DK,NA, NS

Verhalten bei östlichem Kernwaffeneinsatz gegen NATO Verbündete 34 35 use nuclearweapons 11 11 1 depends (spontan) 50 49 use other means 5 5 DK,NA,NS

389

Einstellungen zur Sicherheitspolitik

BRD

USA

USA, nur registrierte Wähler

Anzahl der ATSStudien

Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der NATO

gefestigte NATO weiterhin NATO aufgelockerte NATO NATO verlassen sonstiges keine Angabe

3 75 7 9 4 2

gegen Abzug für Abzug bzw. Teilabzug keine Angabe

Abzug amerikanischer Truppen° 27 29 75 23 24 31 29 23 17 16 2 2 2

vor allem der Bundesrepublik allen beiden vorallem den Amerikanern niemandem keine Angabe

Nutzen der amerikanischen Truppenpräsenz für das eigene Land extremely 25 9 8 convincing 51 28 27 very convincing somewhat 3 17 32 34 convincing 6 28 28 not convincing 3 1 3 DK,NA,NS

1

strongly oppose somewhat oppose somewhat favor strongly favor DK,NA,NS

Ausgaben für die Sicherheit Europas

7

39 51

4

7

38 52

2

4

more same less DK,NA,NS

USA können sich die Verteidigungder Verbündeten nicht leisten 44 42 strongly agree 34 36 somewhat agree 12 13 2 somewhat disagree 9 8 strongly disagree 1 1 DK,NA,NS

viel zu wenig zu wenig gerade richtig zuviel viel zuviel keine Angabe

Höhe der Verteidigungsausgaben° 0 6 17 15 47 42 42 30 39 41 15 2 2 2

2

too little right amount too much DK,NA,NS

Der Wortlaut der einzelnen Fragen ist im Anhang wiedergegeben. Angaben in Klammem sind Prozentsätze ohne "keine Angabe". Bei unmittelbarvergleichbaren Fragen wurdf der Unterschied der Antwortverteilungen zwischen der Bundesrepublik und den USA mittels chi auf Signifikanz überprüft.

390

Hans Rattinger

Abkürzungen und Anmerkungen: WP: Warschauer Pakt. --: Für das jeweilige Land in den Daten nicht verfügbar. DK, NA, NS: don't know, no answer, not sure. c: Antwortverteilungen unterscheiden sich mit p < 0,001. .. d: Berechnet als gewichtetes Mittel mit null Punkten für westliche Uberlegenheit, einem Punkt für Gleichstand und zwei Punkten für östliche Überlegenheit bei Vernachlässigung der Befragten ohne Angabe. Ein Indexwert von 1 bedeutet also, daß Wahrnehmungen östlicher und westlicher Überlegenheit sich genau die Waage halten, Indexwerte über (unter) 1 signalisieren einen Überhangvon Wahrnehmungen östlicher (westlicher) Überlegenheit. e: Berechnet wie unter Anmerkung d beschrieben, mit null Punkten für keine Bedrohungswahrnehmung und drei Punkten für Wahrnehmung "sehr großer" Bedrohung. Quellen: Bundesrepublik EMNID, Meinungsbild zur wehrpolitischen Lage, Herbst 1987, Tabellenband. USA: Eigene Berechnungen aus den ATS-Studien 1 (Oktober 1987) bis 10 (Oktober 1988).

Zur Frage des Interesses an Sicherheitspolitik könnte man Tabelle 2 so interpretieren, daß Amerikaner wesentlich interessierter seien als Westdeutsche. Ein solcher Schluß warejedoch übereilt, weil die verfügbaren Fragen hier nicht ganz identisch sind - ein sehr allgemeines Problem internationaler Vergleiche, die nicht auf eigener standardisierter Erhebung beruhen 18• Die deutsche Frageformulierung zielte direkt auf das Interesse an der Bundeswehr und auf damit zusammenhangende Probleme ab, die amerikanische Frage erhob die Aufmerksamkeit gegenüber Medieninhalten. Wahrscheinlicher als ein viel höheres Interesse in den Vereinigten Staaten ist, daß die deutschen Befragten ihr

18 International vergleichende Umfragestudien zu sicherheitspolitischen Einstellungen mit standardisiertem Fragenprogramm sind eher eine Seltenheit. Einige der Ausnahmen sind: R Zoll, Sicherheitspolitik und Streitkräfte im Spiegel öffentlicher Meinungen in den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Sicherheit und Militär, Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, S. 33-65, gelegentlich das Eurobarometer der EG (s. A. H. Ziegler, The Structure of Western European Attitudes Towards Atlantic Cooperation: Implications for the Western Alliance, in: British Journal of Political Science, 17. Jg. 1987, S. 457-477), in dem dieser Themenbereich aber selten eine größere Rolle spielt, und vor allem die Erhebungen im Auftrag der United States Information Agency. Die letzteren Studien sind aber nicht ohne weiteres zugänglich und sie beziehen die USA grundsätzlich nicht ein, sind also vor allem für Vergleiche zwischen westeuropäischen Ländern brauchbar (s. S.F. Szabo, West European Public Perceptions of Security lssues: A Survey of Attitudes in France, the FRG, Great Britain and ltaly Over Three Decades (Research Report, U.S. Information Agency), Washington, D.C. 1988). Die meisten internationalen Vergleiche sicherheitspolitischer Einstellungen müssen also, ebenso wie dieser Beitrag, auf Material zurückgreifen, das nicht unter einer einheitlichen Fragestellung erhoben wurde; vgl. z.B. S.F. Szabo, Public Opinion and Forcign Policy in Europe and the United States: A Comparison of the Chicago Council and European Surveys, Chicago: Council on Foreign Relations 1988; ders., Public Opinion and the Alliance: European and American Perceptions of NATO and European Security, in: S. Sloan (Hrsg.), NATO in the 1990s, New York: Pergamon-Brassey's 1989; D. Munton, Up (or Down) on Arms: Canadian and American Perspectives of Security, in: D. Munton/H. Rattinger (Hrsg.), Debating National Security: The Public Dimension, Boulder, Co!.: Westview 1989; RC. Eichenberg, Public Opinion and National Security in Europe and the United States, in: L. Brady (Hrsg.), NATO in the 1980s, New York: Präger 1985, S. 226-248; ders., Public Opinion and National Security in Western Europe: Consensus Lost? lthaca, N.Y.: Cornell University Press 1989.

Einstellungen zur Sicherheitspolitik

391

Desinteresse ehrlicher zugaben, die amerikanischen indes ihre Aufmerksamkeit beträchtlich übertrieben. Für die Bundesrepublik wurde 1988 ermittelt, daß sich selbst für die laufenden Genfer Abrüstungsverhandlungen zwischen den Supermächten sich nur 55 Prozent "sehr" interessierten, dagegen 45 Prozent allenfalls "ein wenig" oder "überhaupt nicht" 19• Für die USA ist den ATS-Daten andererseits zu entnehmen, daßtrotzder angeblich recht intensiven Verfolgung der Medienberichterstattung zur Sicherheitspolitik durch rund drei Viertel der Befragten über 60 Prozent angaben, vor dem Interview niemals eine vergleichbar intensive Konversation über diesen Themenbereich gehabt zu haben. Wenn man die Häufigkeit von Gesprächen zu einer Thematik als "härteren" Indikator für Interesse nimmt, dann kann von größerem Interesse in den Vereinigten Staaten nicht mehr die Rede sein. Unter Perzeptionen der sicherheitspolitischen Ausgangslage können hier Einschätzungen des militärischen Gleichgewichts, Einstellungen gegenüber der Sowjetunion und Bedrohungswahrnehmungen abgehandelt werden. Die Wahrnehmungen der militärischen Kräfteverhältnisse unterscheiden sich zwischen den beiden U!ndern recht deutlich. Insgesamt gesehen glauben die amerikanischen Befragten eher an westliche Unterlegenheit gegenüber dem Osten als die deutschen, nur bei den konventionellen Waffen ist das umgekehrt. Für beide U!nder gilt, daß die Verhältnisse bei den Kernwaffen am positivsten für den Westen gesehen werden, bei den konventionellen Waffen am negativsten, während globale Einschätzungen ohne Nennung bestimmter Waffensysteme dazwischen liegen. Die Antworten der westdeutschen Probanden weisen darüber hinaus drei Besonderheiten auf: Erstens liegen die verschiedenen Wahrnehmungen der militärischen TeilKräfteverhältnisse weiter auseinander als in den USA Zweitens zeigen die Urteile über den nuklearen und den konventionellen Vergleich viel größere Unsicherheit Ue 21 Prozent ohne Angabe). Drittens wird die NATO gegenüber dem Warschauer Pakt schwächer eingeschätzt als die Vereinigten Staaten allein gegenüber der Sowjetunion allein, was angesichts des viel höheren Anteils der Rüstung der UdSSR an derjenigen des Warschauer Pakts nicht verständlich ist und die Unsicherheit bei der Beurteilung der militärischen Stärkerelationen unterstreicht. Abschließend ist dazu festzuhalten, daß Ende der siebziger Jahre dieser Vergleich noch genau andersherum ausfiel. Für Oktober 1979 berichtet Zoll 20, daß westdeutsche Befragte wesentlich stärker von der östlichen Überlegenheit überzeugt waren als solche aus den USA (die Tabelle 2 entsprechenden Indexwerte waren damals 1,38 für die Bundesrepublik, 0,95 für die USA). Diese Umkehrung der Verhältnisse trotz der Verstärkung des militärischen Bereichs während der Reagan-Administration ist zwar einerseits erstaunlich, andererseits jedoch verständlich, wenn man berücksichtigt, von welcher Rhetorik über einen östlichen Vorsprung dieser Ausbau des amerikanischen Militärpotentials begleitet war.

19 SINUS, Sowjetische und amerikanische Politik im Urteil der Deutschen in der Bundcsrepublik: Eine Studie im Auftrag der Fricdrich-Ebert-Stiftung und des STERN, München: SINUS 1988, s. 10. 20 R Zoll, Sicherheit und Militär (Anm. 18), Tabelle 3.

392

Hans Rattinger

Hinsichtlich der von den Vereinigten Staaten gewünschten militärischen Kräfteverhaltnisse zeigen die Daten ebenfalls deutliche Diskrepanzen zwischen den beiden ll!ndern. Daß die USA anstreben sollten der Sowjetunion überlegen zu sein, ist in der dortigen öffentlichen Meinung eine Minderheitenposition, die ein Viertel der Befragten einnimmt; fast zwei Drittel der Amerikaner sprechen sich für einen militlirischen Gleichstand aus. In der Bundesrepublik glauben 40 Prozent, daß die Vereinigten Staaten nach Überlegenheit streben, wlihrend 55 Prozent meinen, sie seien mit einem Gleichgewicht zufrieden. Ein militlirischer Gleichstand wird aber von einer deutlichen Mehrheit in der Bundesrepublik als am besten für die eigene Sicherheit und für diejenige Westeuropas angesehen21 . Daß wesentlich mehr Befragte in Westdeutschland von einem amerikanischen Streben nach Überlegenheit ausgehen als dies für die eigene Sicherheit gut halten22, reflektiert ein gewisses Maß an Mißtrauen gegenüber den Motiven und Zielen amerikanischer Sicherheitspolitik. In ihrem Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion unterscheiden sich Amerikaner und Westdeutsche extrem stark. An einen Mißbrauch der westlichen Entspannungspolitik durch die Sowjetunion glauben in den hier herangezogenen Daten in der Bundesrepublik nur 22 Prozent; in den USA dagegen meinen über 60 Prozent, daß man sich nicht darauf verlassen könne, daß die Sowjetunion ihre Verpflichtungen in Rüstungskontrollvertrligen auch taslichlich einhalten werde. Derartige Diskrepanzen bilden die Grundlage der in der Einleitung skizzierten Bedenken, die von amerikanischer Seite zur Entwicklung der öffentlichen Meinung zu sicherheitspolitischen Fragen in der Bundesrepublik vorgebracht werden. Trotz des hohen Mißtrauens gegenüber der Sowjetunion in den Vereinigten Staaten weichen jedoch die Erwartungen zur Entwicklung der Beziehungen zur Sowjetunion zwischen den beiden ll!ndern überhaupt nicht voneinander ab. Mit einer Verschlechterung rechnet praktisch niemand, eine starke absolute Mehrheit (56 Prozent bzw. 59 Prozent) geht von einer weiteren Verbesserung der Beziehungen aus23 • Dieser Optimismus hinsichtlich der Ost-West-Beziehungen schlligt aber auf die Wahrnehmungen der östlichen Bedrohung nicht überall gleich durch, vielmehr spiegeln diese viel eher das unterschiedliche Ausmaß des Mißtrauens gegenüber der Sowjetunion wider. In der Bundesrepublik meinen 75 Prozent, die Sowjetunion meine die Entspannungspolitik ernst, und 69 Prozent sehen keine oder eine "nicht so große" Bedrohung. In den Vereinigten Staaten halten 61 Prozent die Sowjetunion nicht für vertrauenswürdig, und 58 Prozent nehmen eine "ernste" oder "sehr ernste" Bedrohung wahr. In der Bundesrepublik dagegen teilen diese Einschatzung nur 29 Prozent, so daß die Beurteilungen hierzulande im Mittel etwas oberhalb der Antwortkategorie "nicht so große Bedrohung"

21 1983 waren 71 Prozent, 1986 63 Prozent und 1988 72 Prozent dieser Meinung; vgl. SINUS Sowjetische und amerikanische Politik (Anm. 19), S. 34. 22 V gl. ebd., S. 35. 23 1979 waren noch 13 Prozent in der Bundesrepublik und 27 Prozent in den USA der Auffassung, die Beziehungen zur Sowjetunion würden sich verschlechtern; s. R. Zoll Sicherheit und Militär (Anm. 18), Tabelle 5. Die Entwicklung hin zu größerem Optimismus war also in den USA noch sehr viel kräftiger.

Einstellungen zur Sicherheitspolitik

393

liegen, in den USA wesentlich näher an "serious" als an "minor threat"24• Auch hier findet man also in den öffentlichen Meinungen eine Basis für die in der praktischen Politik artikulierten amerikanischen Bedenken gegenüber der sicherheitspolitischen Zuverlässigkeit der Bundesrepublik vor: Die amerikanische Bevölkerung ist von dem bedrohlichen und expansiven Charakter des "evil empire" auch noch in den spaten achtziger Jahren viel mehr überzeugt als die westdeutsche. Diese Überzeugungen übersetzen sich jedoch nicht in ähnlich unterschiedliche Einstellungen zu nuklearer Abschreckung und militärischer Verteidigung im Falle eines Angriffs. Tabelle 2 zeigt, daß das Ziel Kernwaffen vollständig abzuschaffen, in den Vereinigten Staaten überraschenderweise populärer ist als in der Bundesrepublik (54 Prozent gegenüber 47 Prozent). Auch militärischer Widerstand gegen einen östlichen Angriff in Europa hat in den Vereinigten Staaten keine stärkere öffentliche Unterstützung als in der Bundesrepublik. Hierzulande lehnen 43 Prozent solchen Widerstand ab, 45 Prozent der Amerikaner möchten die USA überhaupt nicht oder nur diplomatisch involvieren, 37 Prozent plädieren für den Einsatz amerikanischer Truppen, und 12 Prozent würden die eigene Rolle gern auf die Lieferung militärischen Nachschubmaterials begrenzt sehen. Die Antwortverteilung zum amerikanischen Kernwaffengebrauch bei einem atomaren Einsatz des Ostens gegen NATO-Verbündete sieht ganz ähnlich aus. Trotz ihres höheren Mißtrauens gegenüber der Sowjetunion und ihren ausgeprägteren Bedrohungswahrnehmungen sind Amerikaner nicht in vergleichbarem Maße stärker bereit als Westdeutsche, östlicher Aggression in Buropa militärisch zu begegnen. Ebensowenig findet man eine viel höhere Zustimmung in den Vereinigten Staaten als in der Bundesrepublik, wenn es um die wichtigste Institution der westlichen Sicherheitspolitik geht, um die NATO und um ihr Kernstück, die amerikanische Truppenpräsenz in Europa. Im Gegenteil: In den EMNID-Daten sind nur neun Prozent der Befragten für einen westdeutschen Austritt aus der NATO, 75 Prozent sind gegen einen Abzug amerikanischer Truppen. Von den amerikanischen Befragten jedoch sprechen sich 50 Prozent gegen und 48 Prozent für einen solchen Abzug aus. Mehr als drei Viertel der westdeutschen Probanden meinen, daß die amerikanische Truppenpräsenz entweder vor allem der Bundesrepublik oder beiden U!ndern nütze, Amerikaner dagegen sind gegenüber Argumenten, wonach von dieser Präsenz auch die Vereinigten Staaten profitierten, recht skeptisch. 37 Prozent halten solche Argumente für "sehr" oder "äußerst" überzeugend, 60 Prozent dagegen zeigen sich nur etwas oder gar nicht davon beeindruckt. Entsprechend überrascht es nicht, daß eine absolute Mehrheit der Befragten in den USA die eigenen finanziellen Verpflichtungen für die Sicherheit Europas verringert sehen möchte, daß nur 20 Prozent der Auffassung widersprechen, die Vereinigten Staaten könnten sich die Ausgaben für den Schutz ihrer Verbündeten nicht leisten, während fast 80 Prozent dieser Ansicht zustimmen. Der auf Befunde über die öffentliche Meinung gestützte "Vorwurf'' im transatlantischen Verhl!ltnis könnte hier genau umgekehrt werden. Die Unterstüt-

24 Zoll, Sicherheit und Militär (Anm. 18), Tabelle 1, berichtet für 1979 einen noch größeren Abstand (fast 40 Prozentpunkte) zwischen den Perzeptionen einer ernsthaften östlichen Bedrohung in den beiden Ländern.

394

Hans Rattinger

zung der Öffentlichkeit für die NATO und die Präsenz amerikanischer Truppen ist in der Bundesrepublik in der Tat über die achtziger Jahre hinweg zurückgegangen25 , aber in den USA ist sie zu Ende dieses Jahrzehnts noch deutlich niedriger. In die konkreten Folgerungen aus institutionellen sicherheitspolitischen Arrangements werden hier nur die Einstellungen zum Verteidigungshaushalt einbezogen. Die Unterschiede zwischen den beiden Ländern kehren sich hierbei erneut um, sind aber bei weitem nicht so stark wie beim Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion, den Bedrohungswahrnehmungen und den Bewertungen des westlichen Bündnisses. In beiden Ländern meinen die meisten Befragten, daß die jeweiligen Verteidigungshaushalte adqäquat sind. Die Anteile derjenigen, die diese Ausgaben für zu hoch halten, übertreffen deutlich die Anteile derjenigen, die sie erhöht sehen möchten. Dieser Überhang ist aber in der Bundesrepublik viel stärker als in den Vereinigten Staaten; hierzulande sagen 45 Prozent, die Verteidigungsausgaben seien zu hoch, und nur sechs Prozent halten sie für zu niedrig. In den Vereinigten Staaten stehen den 39 Prozent, die den Militärhaushalt für zu hoch halten, immerhin 17 Prozent gegenüber, die ihn als zu niedrig erachten. Dieser Vergleich ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Verteidigungsausgaben pro Kopf und als Anteil am Bruttosozialprodukt in den USA deutlich höher sind als in der Bundesrepublik26• Es ist deshalb eindeutig, daß die amerikanische Öffentlichkeit eher bereit ist als die deutsche, Militärausgaben zu tolerieren und für notwendig zu halten. Wenn es jedoch um Ausgaben im Rahmen der Bündnisverpflichtungen zum Schutz anderer Nationen geht, schwindet diese Bereitschaft rapide. Die wichtigsten Ergebnisse dieses deskriptiven Überblicks lassen sich wie folgt zusammenfassen: In den ausgehenden achtziger Jahren weisen die öffentlichen Meinungen zu sicherheitspolitischen Fragen in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik einige signifikante Unterschiede auf, die jedoch nicht einfach darauf hinauslaufen, daß hierzulande Pazifismus, Antimilitarismus und Neutralismus grassieren und in den USA gegenteilige Einstellungsmuster dominieren. In den Vereinigten Staaten besteht eine etwas größere Neigung als in der Bundesrepublik, den Osten als militärisch überlegen zu sehen, das Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion ist auch einige Jahre nach dem letzten dortigen Machtwechsel noch deutlich höher, der Osten wird als viel bedrohlicher betrachtet und Verteidigungsausgaben begegnen etwas geringerer Skepsis. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Beziehungen zur Sowjetunion, nuklearer Abschreckung und der Verteidigung gegen eine östliche Aggression in Europa sind kaum erhebliche Einstellungsunterschiede auszumachen. Was schließlich die westliche Allianz und die amerikanische Truppenpräsenz in Europa angeht, so erweist sich die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik als wesentlich "bündnistreuer".

25 Vgl. Rattinger, Development and Structure (Anm. 9), Abb. 9. 26 Die United States Arms Control and Disarmament Agency (World Milital}' Expenditures and Arms Transfers 1987, Washington, D.C.: United States Govemment Printing Office 1988, Tabelle 1) berichtet für 1985 für die Bundesrepublik einen Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt von 3,3 Prozent und Verteidigungsausgaben pro Kopf von 330 Dollar (konstante Werte auf der Basis 1984); für die USA werden 6,6 Prozent und 1077 Dollar angegeben.

Einstellungen zur Sicherheitspolitik

395

Zum Abschluß dieses Abschnitts hat noch der angekündigte Vergleich zwischen den Einstellungen der Gesamtbevölkerung und der registrierten Wähler in den USA zu erfolgen. Die eingangs beschriebene Korrektur für die unterschiedliche Verteilung von Bildungsabschlüssen führt nirgendwo zu dramatischen Diskrepanzen zwischen den beiden in Tabelle 2 für die Vereinigten Staaten wiedergegebenen Antwortverteilungen, sondern bewirkt maximal Abweichungen von wenigen Prozentpunkten. Dies deutet darauf hin, daß diese Einstellungen zwar in Beziehung zur Ausbildung stehen, solche Zusammenhänge aber nicht sonderlich stark sein können, worauf im folgenden Abschnitt detaillierter eingegangen wird. Die registrierten Wähler sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung etwas interessierter an Sicherheitspolitik, sie glauben weniger an militärische Überlegenheit des Ostens, sie sprechen sich seltener für amerikanische Überlegenheit aus, sie mißtrauen der Sowjetunion weniger und halten sie für weniger bedrohlich, sie befürworten eher die Verteidigung Europas und stehen amerikanischem Truppenabzug und Militärausgaben ablehnender gegenüber. Insgesamt gesehen, sind damit die sicherheitspolitischen Einstellungen der registrierten Wählerschaft der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik geringfügig ähnlicher als diejenigen der gesamten amerikanischen Bevölkerung.

4. Zusammenhänge zwischen sicherheitspolitischen Einstellungen, sozialstruktureilen Größen und Parteineigung

In diesem Abschnitt setzen wir die von sicherheitspolitischen Einstellungen in der Bundesrepublik und den USA mit Alter, Geschlecht, Ausbildung und Parteineigung der Befragten in Beziehung. Ziel dieser Untersuchung ist vor allem eine Klärung der Fragen, wie stark die oft behauptete Differenzierung solcher Attitüden nach dem Lebensalter in der Bundesrepublik tatsächlich ist und wie dies im Vergleich dazu in den Vereinigten Staaten aussieht, wie sich diese Unterschiede gegenüber denjenigen nach anderen sozialstrukturellen Größen darstellen (Geschlecht, Ausbildung) und ob schließlich die mehrfach berichtete starke parteipolitische Polarisierung solcher Einstellungen in der Bundesrepublik27 auch in den USA anzutreffen ist. Parteineigung wurde in der EMNIDUmfrage durch die Frage nach der Bundestagswahlabsicht erhoben, in den ATS-Studien durch die bekannte Parteiidentifikationsfrage28• Für die Vereinigten Staaten wird neben der Parteineigung die Selbsteinstufung auf einem "liberal-konservativ"-Kontinuum

27 Vgl. Rattinger, Change Versus Continuity (Anm. 9); ders., Development and Structure (Anm. 9); ders., The Bundeswehrand Public Opinion (Anm. 9). 28 Die Frage lautete in den ATS-Studien: "Generally speaking, do you think of yourself as a Republican, a Democrat, an Independent, or what?" Falls "independent" so erfolgte die Anschlußfrage: "Do you think of yourself as closer to the Democratic Party or the Republican Party?"

396

Hans Rattinger

einbezogen29• Die hier interessierenden Zusammenhange für beide Länder durch die vollständigen Kreuztabeliierungen der Einstellungsmerkmale aus Tabelle 2 mit allen diesen sozialstrukturellen Größen und der Parteineigung wiederzugeben, ist aus Platzgründen nicht möglich. Jede einzelne Kreuztabeliierung wird deshalb in Tabelle 3 durch je einen Kontingenzkoeffizienten zusammengefaße0• Tabelle 3:

Zusammenhang sicherheitspolitischer Einstellungen in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten mit Alter, Geschlecht, Ausbildung und parteipolitischer Orientierung (Kontingenzkoeffizienten, mit 100 multipliziert) Liberalkonservativ USA

Anzahl der ATSStudien USA

13

13

3

ParteiGeschlecht Alter Bildung neigung BRD USA BRD USA BRD USA BRD USA Interesse an Sicherheitspolitik

-40c

Mil. Kräfteverhältnisse insgesamt

-16c

Mil. Kräfteverhältnisse USA-UdSSR

-11b

Mil. Kräfteverhältnisse bei Kernwaffen -06 Militärische Kräfte-19c verhältnisse, konventionelle Waffen

-23c

-103

23c

19c

21c

28c

2'f

19c

-12b

-14"

11

13

-11"

-11'

21c

14

148

3

01

10

13

15c

-13

20c

20b

133

2

-3'f

1'f

18b

-20c

21b

l'f

13

12

1

Die Frage lautete: "When it comes to most political issues, do you think of yourself as a liberal, a conservative, or a moderate?" Falls "moderate" so lautete die Anschlußfrage: "Do you think of yourself as closer to being liberal or being conservative?" 30 Zur Berechnung vgl. die Erläuterungen zu Tabelle 3. 29

397

Binstellungen zur Sicherheitspolitik

Tabelle 3 (Fortsetzung) ParteiGeschlecht Alter Bildung neigung BRD USA BRD USA BRD USA BRD USA

Liberalkonservativ USA

Anzahl derATSStudien USA

Streben USA nach mil. Überlegenheit? -07

22c

-16c

163

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-29°

-30°

-20b

11"

1

Mißtrauen gegenüber der Sowjetunion -04

133

19c

21b

-1zh

-23b

38c

17

24b

4

Etwartung zur Entwicklung der Beziehungenzur UdSSR-OS

-18b

10

01

10

22b

-20c

15

-15

5

Kommunistische/sowjetische Bedrohung -04

18b

11"

15 8

-2o•

-21b

36c

188

20b

7

Absolute Mittelwerted 07

18

15

14

14

22

29

17

18

Kernwaffen und Abschreckung

-09

00

16°

-02

-04

-02

39°

22b

208

2

Verhalten bei östlichem Angriff

-so•

-34·

-24c

-17"

20°

238

23c

228

21

1

13

23b

1

19

21

Verhalten bei Kernwaffeneinsatz gegen NATO Verbündete

-24c

Absolute Mittelwerte 30 Mitgliedschaft der BRD in der NATO

108

Abzug amerikanischer Truppen

OT

Nutzen der amerikanischen Truppenprä- -10" senz für eigenes Land

19

10 20

10

26°

13 12

13

31

50°

-15°

-21°

24c

-18"

-15°

-23b

56c

19b

16

1

10

21"

-13

-14°

-22b

44c

13

11"

3

Ausgaben für die Sicherheit Europas

-08

-01

-15

17

14

2

USA können sich Verteidigung der Verbündeten nicht leisten --

-14 3

-20b

-25·

193

16

2

Absolute Mittelwerte 09

13

17

16

26

13

15

21

50

398

Hans Rattinger

Tabelle 3 (Fortsetzung) ParteiGeschlecht Alter Bildung neigung BRD USA BRD USA BRD USA BRD USA Höhe der Verteidigungsausgaben

-15°

Absolute Mittelwerte über alle Merkmale 14

Liberalkonservativ USA

Anzahl derATSStudien USA

2

-06

28°

20b

-18°

-22b

44c

29°

21'

16

18

14

15

20

32

18

18

Alle Einträge dieser Tabelle sind Pearsonsche Kontingenzkoeffizienten C für Kreuztabellen zwischen den beiden entsprechenden Merkmalen, also: chi 2

c = ( -----------) Y2 chi2 +N

Um zwischen Kreuztabellen unterschiedlicher Größe vergleichbar zu sein, sind sie für Freiheitsgrade korrigiert durch Division durch das jeweilige theoretische Maximum von C, also durch: Minimum(Zeilenzahl, Spaltenzahl)-1

(------------------------------------------------) Y2 Minimum(Zeilenzahl, Spaltenzahl)

Sie wurden mit 100 multipliziert, um das Dezi~alkomma zu vermeiden. Signifikanzangaben beziehen sich auf die entsprechenden Werte von chi . Normalerweise ist C stets positiv. Um jedoch die Richtung der Zusammenhänge sichtbar zu machen, wurden hier Vorzeichen zugeordnet indem die einzelnen Variablen als "Rangordnung" betrachtet wurden. Dabei wurden die "positiven" oder "größeren" Ausprägungen wie folgt angenommen: Geschlecht: weiblich Alter: älter Ausbildung: länger Parteineigung: zu CDU/CSU bzw. Republikanern (in den USA) Liberal-konservativ: konservativ Interesse an Sicherheitspolitik: hoch Militärische Kräfteverhältnisse: Osten überlegen Streben USA nach Überlegenheit?: ja bzw. sollten danach streben Mißtrauen gegenüber Sowjetunion: hoch Beziehungen zur UdSSR: werden besser Östliche Bedrohung: hoch Kernwaffen und Abschreckung: Befürwortung Verhalten bei Angriff: Widerstand bzw. Hilfeleistung Mitgliedschaft in NATO: Befürwortung Abzug amerikanischer Truppen: Ablehnung Nutzen amerikanischer Stationierung: Für das jeweilige Befragungsland Ausgaben für Verteidigung bzw. Bündnis: erhöhen --. a: b: c: d:

In den Daten nicht verfügbar. p0.

(2.5)

Dies gilt aber nicht für die zweite Ableitung. Gilt die Entscheidungshypothese, so ist für die Wähler die Wahrscheinlichkeit P, der entscheidende Wähler zu sein, die relevante 21 Vgl. V.O. Key, Southern Politicsin Stateand Nation, NewYork: Alfred A. Knopf1959, S. 507; K.S. Palda, The Effect of Ex:penditure on Political Success, in: Journal of Law and Economics, 18/1975, S. 745-775; W.N. Chambers/P.C. Davies, Party Competition, and Mass Participation, in: J.H. Silbery/A.G. Bogue/W.H. Flanigon (Hrsg.), The Histozy ofAmerican Eiectoral Behavior, Princeton: Princeton University Press 1978, S. 174-197; G.C. Caldeira/S.C. Patterson, Contextual lnfluences on Participation in U.S. State Legislative Elections, in: Legislative Studies Quarterly, 7/1982, S. 359-381; S.C. Patterson/G.A. Caldeira, Getting Out the Vote, in: American Political Science Review, 77/1983, S. 675-689; G.W. Cox, Cioseness and Tumout, in: Journal of Politics, 50/1988, S. 768-778. 22 Vgl. ebd.

453

Hebt ein" knappet' Wahlausgang die Wahlbeteiligung?

Größe, auch wenn sie noch so gering ist. Wegen der überproportionalen Zunahme dieser Wahrscheinlichkeit in Abhängigkeit von der erwarteten Knappheit, d.h. wegen () 2P/( aE(CL))2>0 1 gilt dann (unter einigen zusätzlichen Annahmen)

()2WBT >0.

(2.6a)

(aE(CL))2

d.h. mit zunehmender Knappheit muß die Wahlbeteiligung überproportional ansteigen. 23 Dabei ist es unerheblich, ob die Knappheit absolut oder relativ gemessen wird. Gilt andererseits die Mobilisierungshypothese und geht man davon aus, daß die Bemühungen der Kandidaten um die Wähler bei zunehmender Knappheit nicht überproportional zunehmen, d.h. gilt ()2N(()E(CL))2 ~ 0, wobei A die Bemühungen der Kandidaten darstellt, so gilt wegen der mit zunehmender Ausschöpfung des Wählerreservoirs abnehmenden Grenzerträge der Mobilisierungsbemühungen, die empirisch z.B. von Caldeira/Patterson24 für den Fall finanzieller Aufwendungen aufgezeigt wurden und die sich in ()2WBT/(()A)2.· .. ,.,•,·,·,·,•.•.•.•.•

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QUELLE: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragcn 4081/1,

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Medienberichterstattung als Indikator öffentlicher Meinung, in: Walter A. Mahle (Hrsg.), Langfristige Medienwirkungen, Berlin: Spiess 1986, S. 101-109.

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582

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

hen- ähnlich wie Lippert/Rader/Weiß71 - vom Modell eines mehrstufigen Selektionsprozesses bei der Herstellung, Darstellung, Vermittlung und Rezeption/Wirkung von Politik aus (vgl. Schaubild 1). Unsere generelle Forschungsfrage lautet: Inwieweit stimmen Politikdarstellung, Politikvermittlung und Vorstellungen von Politik im Bewußtsein der Bevölkerung in ihren Schwerpunktsetzungen überein? Dabei werden Übereinstimmungen zwischen Politikdarstellung und massenmedialer Politikvermittlung als Einfluß der Politik ("Macht der Politik"), Nicht-Übereinstimmungen dagegen als Einfluß der Medien ("Macht der Medien") interpretiert. Auch Übereinstimmungen zwischen Medien und Bevölkerung werden als Einfluß der Medien interpretiert. Der Zusammenhang von Aspekten der Realität, ihrer Darstellung durch die Massenmedien und ihrer Wahrnehmung in der Bevölkerung im langfristigen Prozeß wurde in der deutschen Kommunikationswissenschaft in Anlehnung an US-amerikanische und skandinavische Vorbilder von Kepplinger und Mitarbeitern analysiert72• Ebenso wie Kepplinger gehen wir grundsätzlich davon aus, daß ein empirischer Vergleich von Aspekten der Realität mit der Darstellung dieser Realität durch Massenmedien praktisch möglich und wissenschaftlich ergiebig ist. Aspekte der Realität kann man anhand von qualifiZierten Indikatoren als Vergleichsmaßstab benutzen 73 • Auf dieser Basis ist prinzipiell auch meßbar, ob die Massenmedien die Realität verzerrt oder unverzerrt darstellen, ob sie etwas "hochspielen" oder "herunterspielen" 74 • Entsprechend unserem Forschungsdesign wurden folgende Daten für den Zeitraum vom 1. Oktober 1986 bis zum Wahltag 25. Januar 1987 in die Analyse einbezogen: Inhaltsanalyse des Informationsangebots der Grünen: das Bundestagswahlprogramm, die einmalige Ausgabe der Wahlkampfzeitung "Extrablatt" sowie sämtliche Pressemitteilungen von Bundespartei und Bundestagsfraktion im viermonatigen Untersuchungszeitraum vor der Wahl 75 ; 71

72

73 74

75

Vgl. Ekkehard Lippert/Georg Räder/Hans-Jürgen Weiß, Wahlkämpfe als spezifische Form politischer Kommunikation, in: Thomas Eilwein (Hrsg.), Politikfeld-Analysen 1979, Opladen: Westdeutscher Verlag 1980, S. 115. Vgl. Hans Mathias Kepplinger/Herbert Roth, Kommunikation in der Ölkrise des Winters 1973n4, in: Publizistik, 23. Jg. 1978, S. 337-356; ders./Rainer Mathes, Künstliche Horizonte, in: Joachim Scharioth/Harald Uhl (Hrsg.), Medien und Technikakzeptanz, München: R. Oldenbourg 1988, S. 111-152; Hans Mathias Kepplinger, Die Kernenergie in der Presse, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 40. Jg. 1988, S. 659-683. Vgl Kepplinger, Voluntaristische Grundlagen der Politikberichterstattung (Anm. 56), S. 59. Vgl. Hans Mathias Kepplinger, Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 15 1989 v. 7. 4. 1989, S. 15. In seinen bisherigen empirischen Untersuchungen verwendet Kepplinger als Indikatoren für die Realität allerdings ausschließlich "externe Daten" in Form von Statistiken oder Ereignissen. Dies ist unseres Erachtens nur ein bedingt geeigneter Maßstab für einen Vergleich mit der Medienberichterstattung, weil Statistiken und Ereignisse nur ein sehr eingeschränkter Maßstab für politische Realität sein können. Hinzu kommen die auch von Kepplinger erwähnten Methodenprobleme beim Vergleich von kumulierten Aussagen in den Massenmedien und Realitätsindikatoren wie Statistiken zur Umweltbelastung. Unberücksichtigt blieben damit zum Beispiel Wahlkampfveranstaltungen, Interviews, Hintergrundgespräche, Pressekonferenzen sowie die Bundestagsarbeit Damit sind nur bestimmte Aspekte der politischen Realität der Grünen einbezogen, die jedoch als gewichtige

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

583

Inhaltsanalyse der Presseberichterstattung: regionale Tageszeitungen "Allgemeine Zeitung", Mainz, und "Badische Zeitung", Freiburg76 1983-1987; Inhaltsanalyse des Agenturangebots und einer Publizistischen Stichprobe: in den drei Wochen vor dem Wahltermin 65 Tageszeitungen (90 Prozent der Gesamtauflage aller Tageszeitungen in der Bundesrepublik) und die Nachrichtenagenturen dpa und AP; Panel-Befragung: vor der Bundestagswahl 1987 die dritte von insgesamt vier PanelBefragungen, die im Rahmen des Gesamtprojekts 1985, 1986, 1987 und 1989 durchgeführt wurden. Gegenstand von Thematisierungen sind in unserem Kategoriensystem in erster Linie politische Probleme ("Sachthemen"), auf die sich Äußerungen und Handlungen von Personen, Personengruppen oder Organisationen beziehen. Zentral ist hierbei für uns der Begriff Politikfelder. Jedes Thema ist, je nach Abstraktionsgrad der Betrachtungsweise, ein eigenes Politikfeld oder Teil eines Politikfeldes. Damit ist - entsprechend dem politikwissenschaftlichen Ansatz der Policy-Forschung - die inhaltliche Dimension von Politik in den Vordergrund gestellt. Das zweifellos "unendlich weite Feld" der Politikfelder und der darauf gerichteten Politikfeldanalysen77 erscheint uns ein geeigneter Maßstab, um wissenschaftliche Vergleiche zwischen Politikherstellung, -darstellung, -vermittlung, -rezeption und -wirkung anstellen zu können. Dies gilt besonders für unseren Untersuchungsgegenstand die Grünen, die von ihrem Selbstverständnis her ähnlich wie schon Bürgerinitiativen und Neue Soziale Bewegungen die Politikinhalte in den Mittelpunkt stellen78. Indikatoren auf der Ebene der Darstellung von Politik einen relevanten Bezugspunkt für die Analyse bilden. 76 Die Auswahl der Zeitungen entspricht der quasi-experimentellen Anlage unseres Forschungsprojektes. Durch die regionale und mediale Zentrierung der Untersuchung ist die methodisch erforderliche Verknüpfung von Inhaltsanalyse- und Befragungsdaten realisierbar. Trotz der Beschränkung auf zwei Zeitungen sind repräsentative Aussagen für die Bundesrepublik möglich, da es sich um "typische" Zeitungen handelt, wie wir aufgrund unserer zusätzlich durchgeführten Inhaltsanalysen zu repräsentativen Sampies der Tagespresse wissen. Vgl. Manfred Knoche, "Platzhirsch Schily und Superstar Kelly von Weiberrat abgesägt", in: Heinz Pürer (Hrsg.), Medienereignisse- Medienwirkungen? Zur Wirkung der Massenmedien, Salzburg: Kuratorium für Journalistenausbildung 1985, S. 107-125; ders./Monika Lindgens, Selektion, Konsonanz und Wirkungspotential der deutschen Tagespresse, in: Media Perspektiven 8/1988, S. 490-510. Die beiden Zeitungen sind im Rahmen des Forschungsprojektes Gegenstand einer Kontinuierlichen Inhaltsanalyse (KONTIA) der Presseberichterstattung über die Grünen seit ihrem erstmaligen Einzug in den Deutschen Bundestag im März 1983. Es handelt sich also um eine Langzeit-Vollerhebung, auf deren Basis die Möglichkeit genutzt wird, kumulative Pressewirkungen zu messen, die hypothetisch als bedeutsames Wirkungspotential angesehen werden. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Kumulation, Konsonanz und Öffentlichkeitseffekt, in: Publizistik, 18. Jg. 1973, S. 26-55; dies., Massenmedien und sozialer Wandel, in: Zeitschrift für Soziologie, 8. Jg.1979, S.164-182; dies., Theorie und Methode (Anm. 70). 77 Vgl. Adrienne Windhoff-Heritier, Policy-Analyse. Eine Einführung, Frankfurt a.M./New York: Verlag 1987, S. 7; dies., Policy-Forschung und "traditionelle" Politikwissenschaft, in: Hans-Hermann Hartwich (Hrsg.), Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 191-198. 78 Vgl. Bodo Zeuner, Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft - ein vergessener Anspruch?, in: Ulrich Albrecht/Elmar Altvater/Ekkehart Krippendorff (Hrsg.), Was heißt und zu

584

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

5. Politische Agenda - Presse-Agenda - Publikums-Agenda

5.1.

Selektion der Presse aus Pressemitteilungen der Grünen

In der Diskussion über "Macht der Politik" versus "Macht der Medien" gilt allgemein als wissenschaftlich nachgewiesen, daß die Medienberichterstattung durch die Öffentlichkeitsarbeit und Wahlkampfstrategien von Parteien und Regierungen in beträchtlichem Ausmaß "gesteuert" oder "instrumentalisiert" wird. Die bislang wenigen empirischen Untersuchungen hierzu belegen übereinstimmend diesen Einfluß auf die Presse79 und auf das Fernsehen80• Die Verallgemeinerbarkeit dieser Ergebnisse erscheint uns jedoch allenfalls für den Einfluß etablierter Parteien, Institutionen, Organisationen und Unternehmen möglich, soweit sie mit politischer oder wirtschaftlicher Macht ausgestattet sind. Ein entsprechender Einfluß der Grünen auf die Medien ist - jedenfalls vor der Bundestagswahl 1987 -nicht zu erkennen 81 • Im Zeitraum von vier Monaten vor der Wahl fanden nur rund zehn Prozent der von den Grünen angebotenen knapp 300 Pressemitteilungen eine teilweise, meist marginale Aufnahme 82 in den beiden untersuchten Zeitungen (vgl. Tabelle 1 oben). Das gleiche Bild ergibt sich auf der Basis der Analyse von 65 Tageszeitungen (90 Prozent der Auflage der gesamten Tagespresse) für den Zeitraum von drei Wochen unmittelbar vor dem Wahltermin. Hier wurden durchschnittlich weniger als zehn Prozent der Pressemitteilungen und weniger als fünf Prozent der darin angebotenen Informationselemente in die Presseberichterstattung aufgenommen. Einen weiteren Maßstab für die Beurteilung des Einflusses von Öffentlichkeitsarbeit auf die Presseberichterstattung gewinnt man, indem man den Anteil der Artikel mit Aufnahme einer Pressemitteilung an der Gesamtzahl der in den Zeitungen zu den Grünen veröffentlichten Artikel betrachtet. Wir gebrauchen dafür den Begriff Determinationsquote83. Die Determinationsquote für die Pressemitteilungen der Grünen betragt im Bundestagswahlkampf 1987 im Durchschnitt rund 20 Prozent. 80 Prozent aller Artikel in

79

80 81 82

83

welchem Ende betreiben wir Politikwissenschaft?, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 137. Vgl. Peter Nissen/Walter Menningen, Der Einfluß der Gatekeeper auf die Themenstruktur der Öffentlichkeit, in: Publizistik, 22. Jg. 1977, S. 159-180; Hans-Joachim Lang, Parteipressemitteilungen im Kommunikationsfluß politischer Nachrichten, Frankfurt a.M./Bern/Cirencester: Peter D. Lang 1980; Barbara Baerns, Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus?, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1985. Vgl. Schatz, Fernsehnachrichten (Anm. 40); Wolfgang R. Langenbucher/Michael Lipp, Kontrollieren Parteien die politische Kommunikation?, in: Joachim Raschke (Hrsg.), Bürger und Parteien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1982, S. 217-234. Vgl. Knoche/Lindgens, Selektion, Konsonanz und Wirkungspotential (Anm. 76), S. 500. Wir sprechen bewußt von "Aufnahme" und nicht von "Übernahme", da auf der Basis eines detaillierten inhaltsanalytischen Vergleichs von Pressemitteilungen und Artikeln deutlich wurde, daß die Zeitungen nur in Ausnahmefällen Pressemitteilungen teilweise oder ganz wörtlich übernommen haben. Vgl. Knoche/Lindgens, Selektion, Konsonanz und Wirkungspotential (Anm. 76), S. 498.

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

Tabelle 1:

585

Veröffentlichung von Pressemitteilungen der Grünen in der Tagespresse im Bundestagswahlkampf 1987 (in Prozent)•

Veröffentlichung

Bundestagsfraktion

Pressemitteilungen der Grünen Bundesvorstand

Insgesamt

Allgemeine Zeitung

Teilweise veröffentlicht Nicht veröffentlicht

9.4 90.6

100.0

7.9 92.1

11.5 88.5

6.4 93.6

10.7 89.3

100.0 (244)

100.0 (47)

100.0 (291)

8.5 91.5

5.4 94.6

7.6 92.4

100.0 ( 33)

100.0 ( 13)

100.0 ( 46)

Badische Zeitung

Teilweise veröffentlicht Nicht veröffentlicht Insgesamt

(N)

65 Tageszeitungen

Teilweise veröffentlicht Nicht veröffentlicht Insgesamt

(N)

Determination der Presseberichterstattung durch Pressemitteilungen der Grünen im Bundestagswahlkampf 1987 (in Prozent)*

Determination Teilweise Aufnahme PM Ohne Aufnahme PM Insgesamt

(N)

Allgemeine Zeitung

Artikel in Tageszeitungen Badische Zeitung

65 Tageszeitungen

155

13.1 86.9

84.5

22.2 77.8

100.0 (176)

100.0 (200)

100.0 (1028)

• Allgemeine Zeitung, Mainz, und Badische Zeitung, Freiburg (1.10.1986- 24.1.1987) 65 Tageszeitungen (5.1.- 24.1.1987)

den Zeitungen sind demnach völlig ohne Informationen aus Pressemitteilungen der Grünen (vgl. Tabelle 1 unten). Auch unter Berücksichtigung dieses Maßstabs kann man

586

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

schwerlich von einer "Steuerung" oder "Instrumentalisierung" der Presse durch die Grünen sprechen.

5.2.

Thematisiemng von Politikfeldern der Grilnen

5.2.1. Politische Realität, Medienrealität und Wirkungspotential Hinsichtlich der Thematisierung von Politikfeldern befinden sich die Grünen in einem prinzipiellen Dilemma. Um bei den Wählern Erfolg zu haben, müssen sie für ihre bisherigen Anhänger hauptsächlich Politikfelder der Neuen Politik in den Vordergrund stellen. Darüber hinaus müssen sie sich, um für neue Wähler attraktiv zu sein, auch auf Politikfeldern der "Alten" Politik als kompetent zeigen 84• Das ursprüngliche Image der "Ein-Punkt-Partei" ist somit ambivalent: Einerseits wird das besondere Engagement der Grünen in der Umweltpolitik in der Bevölkerung weitgehend positiv bewertet. Andererseits werden sie gerade wegen dieser starken Assoziierung als Umweltpartei abgelehnt, nämlich als eine Partei ohne umfassende Programmatik85 , die demzufolge gar keine "richtige" Partei ist. Thematisieren sie dagegen eine Vielzahl von Politikfeldern auch der "Alten" Politik, besteht eine weitere Gefahr: Das positive Profil einer Umweltund Friedenspartei geht verloren, an seine Stelle tritt das negative Bild von "Verzettelung". In einem ähnlich prinzipiellen Dilemma befinden sich offensichtlich auch andere Parteien. Mit Blick auf die Medien und die Wähler empfahl zum Beispiel Bergsdorf vor der Bundestagswahl 1987 der Bundesregierung und den Unionsparteien, die Öffentlichkeit nicht mit einer Vielzahl von Themen zu konfrontieren. Ein Themenüberangebot erwecke den Anschein von Sprunghaftigkeit, wenige Themen dagegen erzeugten die Gewißheit von Konzentration und Beharrlichkeit. Die wenigen entscheidenden Themen müßten "unentwegt, aber natürlich intelligent wiederholt werden" 86• Folgt man der Phaseneinteilung des von Dalton beschriebenen "Realigning"-Prozesses87, so kann man für den Zeitraum zwischen den Bundestagswahlen 1983 und 1987 parallel verlaufende Prozesse eines noch nicht abgeschlossenen Übergangs von der zweiten zur dritten sowie von der dritten zur vierten Phase beobachten. Den Grünen kommt es darauf an, sich als Partei dadurch dauerhaft zu etablieren, daß die neuen Issue- und Wertorientierungen in der Bevölkerung zu neuen - grünen - Parteibindungen führen (Übergang von der zweiten zur dritten Phase). Die anderen Parteien versuchen auf un-

84 Vgl. Naßmacher, Auf- und Abstiegvon Parteien (Anm. 10), S. 184, 186. 85 Vgl. Hans-Dieter Klingemann, Der vorsichtig abwägende Wähler, in: Klingemann/Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß (Anm. 2), S. 400 ff. 86 Wolfgang Bergsdorf, Themen müssen unentwegt, aber intelligent wiederholt werden, in: Frankfurter Rundschau, Nr. 33 v. 8. 2. 1986, S. 10. 87 Vgl. Dalton, Wertwandel oder Wertwende (Anm. 46), S. 443 ff.

587

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

terschiedliche Weise, durch Besetzung neuer Issues wie Umwelt-, Friedens-, Energieund Frauenpolitik die alten Parteibindungen zu reaktivieren, um damit die dauerhafte Etablierung der Grünen zu verhindern oder sie zumindest auf eine "ungefährliche" Minderheit zu beschränken (Verhinderung des weiteren Übergangs von der zweiten zur dritten Phase bzw. "Rückgängigmachen" der dritten Phase durch Übergang zur vierten Phase). Angesichts der sichtbaren Erfolge der Grünen bei den Wählern mit der Thematisierung neuer Issues88 wollen die anderen Parteien mit ihrer Kritik an der "Ein-PunktPartei" den Eindruck vermitteln, die Grünen seien keine "richtige Partei", die zur Lösung der wichtigsten politischen Probleme beitragen können. Wie auch amerikanische Erfahrungen zeigen, sind "one-purpose-parties" fi1r die herrschenden Parteien weniger gefährlich, weil sie sich leichter absorbieren lassen und sich damit als eine vorübergehende Erscheinung erweisen89• Die seit 1983 real zunehmende Beschäftigung der Grünen mit einer Vielzahl von Issues wird ebenso zum Nachteil der Grünen genutzt. Die urspünglich "grünen" Politikfelder werden durch die etablierten Parteien besetzt. Gleichzeitig wird weiterhin behauptet, die Grünen seien auf traditionellen Politikfeldern wie Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik konzeptionslos, realitätsfern, arbeitnehmerfeindlich oder systemgefährdend. Ziel dieser Mehrfachstrategie ist es, die Grünen fi1r die Umwelt- und Friedenspolitik als überflüssig und fi1r die übrigen Politikfelder als inkompetent oder gefährlich erscheinen zu lassen. Unsere vergleichende Analyse orientiert sich zunächst an denjenigen Politikfeldern, die im Wahlprogramm der Grünen zur Bundestagswahl 1987 zu sieben Schwerpunkten zusammengefaßt sind90: Demokratie und Recht: Datenschutz, Innere Sicherheit, Gesellschaftliche Minderheiten, Ausländer/Asyl u.a. Frauen: Antidiskriminierungsgesetz, Quotierung, § 218, Gewalt gegen Frauen u.a. Internationalismus: Menschenrechte, Weltwirtschaftsordnung, Waffenexport u.a. Frieden: Abrüstung, Bundeswehr, Militärblöcke, NATO u.a. Ökologie: Atomenergie, Waldsterben, Wasser-, Boden- und Luftverschmutzung, Abfallbeseitigung, Verkehr u.a. Wirtschaft: Arbeitsmarkt, Arbeitslosigkeit, Demokratisierung der Wirtschaft u.a. Soziales: Gesundheit, Kinder, Alte Menschen, Soziale Grundsicherung u.a. Bemerkenswert ist zunächst die fast hundertprozentige (Pearson's r .98) signifikante Übereinstimmung in den Schwerpunktsetzungen der beiden Tageszeitungen (vgl. Tabelle 2). Nur rund ein Drittel der Presseberichterstattung bezieht sich auf Politikfelder des Wahlprogramms, davon mehr als die Hälfte auf das Politikfeld Ökologie/Umwelt. Politikfelder, die im Wahlprogramm nicht behandelt werden, bilden die Kategorie

=

88 Vgl. Ferdinand Müller-Rommel, Social Movements and the Greens, in: Buropean Journal of Political Research, 13. Jg. 1985, S. 54. 89 Vgl. Roemheld, Minorisierung im Parteienwettbewerb am Beispiel der "Grünen" (Anm. 59), S. 144. 90 Vgl. Die Grünen (Hrsg.), Bundestagswahl Programm 1987, Bonn o. J. (1986).

588

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

Tabelle 2:

Thematisierung von Politikfeldern der Grünen nach WahlprogrammSchwerpunkten. Pressemitteilungen der Grünen, Zeitungen und Bevölkerung im Vergleich·

Politikfelder Wahlprogramm-Schwerpunkte Demokratie und Recht Frauen Internationalismus Frieden/Abrüstung Ökologie Wirtschaft Soziales

PM

AZ

(59.1) 11.0 2.6 5.3 7.4 19.9 10.2 2.7

(24.9) 3.0 .9

Mainz Panel

BZ

Freiburg Panel

.9 16.8 2.1 1.2

6.7 6.7 1.0 10.3 44.3 2.2 .5

(35.4) 6.9 1.8 .9 3.9 16.6 3.2 2.1

8.8 9.7 1.4 10.4 44.5 2.3 1.4

18.8

21.3

26.8

21.2

19.5

Die Griinen als Fraktion/ Partei DieGrünen Die Grünen und andere Parteien/Organisationen

(22.1) 6.9

(53.8) 28.1

15.2

25.7

Insgesamt (N)

100.0 (928)

100.0 (334)

Wahlprogramm-Schwerpunkte/ Sonstige Politikfelder

40.3

3.6

14.2

Wahlprogramm-Schwerpunkte/ Die Grünen als Fraktion/Partei

37.0

-28.9

-8.0

Sonstige Themen

(43.4) 22.4

..

-

21.0

-••

100.0 (578)

100.0 (434)

100.0 (568)

••

..

Prozent-Differenz-Index

• Pressemitteilungen der Grünen (PM), Allgemeine Zeitung Mainz (AZ), Badische Zeitung Freiburg (BZ) (1.10.1986- 24.1.1987) Panel-Befragung in Mainz und Freiburg (Januar 1987) Frage: "Vielleicht erinnern Sie sich an einige Themen, die für die Grünen im Bundestag in letzter Zeit wichtig waren. Können Sie mir einige nennen?" • • Entsprechend der Frageformulierung haben die Befragten fast ausschließlich Themen im Sinne von Politikfeldern genannt In Prozent der thematisierten Politikfelder Pearson's r PM-AZ n.s. PM-BZ n.s. AZ - Panel Mainz .87* AZ-BZ .98** BZ - Panel Freiburg n.s.

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

589

"Sonstige Politikfelder"91 • Eindeutig dominant sind in den Zeitungen Thematisierungen der Grünen als Partei/Fraktion und ihres Verhältnisses zu anderen Parteien/Organisationen. Kein signifikanter Zusammenhang besteht dagegen zwischen Pressemitteilungen und Zeitungen. In den Pressemitteilungen liegt das Schwergewicht auf den Politikfeldern der Wahlprogramm-Schwerpunkte. Die Unterschiede zwischen den Schwerpunkten in den Pressemitteilungen und den Zeitungen werden anband zusammenfassender Prozent-Differenz-Indices92 deutlich (vgl. Tabelle 2 unten). Sie drücken sich in einem Übergewicht von Wahlprogramm-Schwerpunkten zu sonstigen Politikfeldern bei den Pressemitteilungen aus, ebenso in einem Übergewicht von WahlprogrammSchwerpunkten gegenüber Thematisierungen der Grünen als Partei/Fraktion. Dieser Strukturvergleich erscheint uns jedoch nicht als ausreichender Maßstab zur Beurteilung der Politikvermittlungsleistungen der Zeitungen und des Wirkungspotentials für die Zeitungsleser. Für mitentscheidend halten wir auch das geringe absolute Volumen der Thematisierungen. In beiden Zeitungen ist vor der Bundestagswahl 1987 mit Ausnahme von Umweltthemen nichts Nennenswertes zu Politikfeldern des Wahlprogramms der Grünen veröffentlicht worden. Das Wirkungspotential hierzu ist folglich für die Leser äußerst gering. Auffallend ist hier vor allem die Vernachlässigung der Politikfelder Frauen, Wirtschaft, Soziales und Frieden/Abrüstung. Die Zeitungen vermitteln hauptsächlich das Bild einer Partei, die mit sich selbst und anderen beschäftigt ist, aber ansonsten, mit Ausnahme der Umweltproblematik, wenig politische Aktivität und Kompetenz auf Politikfeldern Neuer und Alter Politik erkennen läßt. Im Unterschied zur Wahlforschung, aber in Anknüpfung an einen Ansatz der Agenda-Setting-Forschung interessieren wir uns für die von der Bevölkerung in den Medien wahrgenommene Wichtigkeit von Thematisierungen grüner Politik (perceived issue salience) 93 • Deshalb wurde im Panel bewußt nicht danach gefragt, was für die Befragten persönlich wichtig ist, sondern welche Vorstellung sie davon haben, welche Themen für die Grünen wichtig waren bzw. in welchen Politikbereichen sie aktiv sind94 • Nur so kann adäquat gemessen werden, inwieweit die Politikvermittlung in den Zeitungen einen Einfluß auf das Bild von den politischen Prioritäten der Grünen in der Bevölkerung hat. Für die Leser der Zeitungen fördert dieses Wirkungspotential einer im wesentlichen auf

91

Hierbei handelt es sich zum einen um auch in den Zeitungen wenig thematisierte Teilbereiche von Politikfeldern wie Justiz, Post, Sport, Wissenschaft, Medien, Kultur und Wohnungsbau. Vor allem zählen hierzu häufige Thematisierungen zu Gebieten, die nicht als Politikfelder im eigentlichen Sinn gelten: aktuelles Geschehen und Grundsatzfragen zu Parlament und Parteien sowie politische Affären. 92 Den Prozent-Differenz-Index haben wir in Anlehnung an Hildebrandt/Dalton, Die Neue Politik: Politischer Wandel oder Schönwetterpolitik? (Anm. 45), S. 240 ff., gebildet. 93 Vgl. Ehlers, Themenstrukturierung durch Massenmedien (Anm. 64), S. 168 f. 94 Die Panel-Daten wurden auf zweifache Weise gewonnen: Zum einen durch die offene Frage "Vielleicht erinnern Sie sich an einige Themen, die für Die Grünen in letzter Zeit wichtig waren. Können Sie mir einige nennen?" Zum anderen durch die geschlossene Frage "Auf dieser Liste stehen verschiedene Politikbereiche. Bitte sagen Sie mir zu jedem dieser Bereiche, ob Die Grünen im Bundestag Ihrem Eindruck nach dort sehr aktiv, aktiv, weniger aktiv oder überhaupt nicht aktiv sind."

590

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

ökologische Issues konzentrierten Berichterstattung eine Bestätigung des weitverbreiteten Bildes der Grünen als einer "Ein-Punkt-Partei". Der strukturelle Vergleich Presse Panel deutet darauf hin. In beiden Städten bezieht sich beinahe die Hälfte aller Themennennungen der Befragten auf das Politikfeld Ökologie (vgl. Tabelle 2). Wirtschaft, Soziales und Internationalismus dagegen werden sehr selten genannt. Auch die Nennungen zu Frieden/Abrüstung, Frauen sowie Demokratie und Recht liegen nur bei rund zehn Prozent, doch haben diese Schwerpunkte bei den Befragten einen höheren Rang als bei den Zeitungen. Die strukturelle Gleichheit zwischen Medien-Agenda und Themenvorstellungen in der Bevölkerung drückt sich in signifikanten Korrelationskoeffizienten aus, die jedoch nur eine erste globale Aussage über den Zusammenhang der Themenrangfolgen gestatten 95 •

5.2.2. Konsonanz der Nachrichtenauswahl Ein ähnliches Bild wie in den vier Monaten vor der Wahl zeigt sich auch bei der Gegenüberstellung von Pressemitteilungen, Nachrichtenagentur-Angebot und der Berichterstattung in 65 Tageszeitungen im Zeitraum von drei Wochen direkt vor der Bundestagswahl. Politikfelder der Wahlprogramm-Schwerpunkte werden hier allerdings in der Presse noch weniger thematisiert als im vorangegangenen Zeitraum. Sie erreichen nur einen Anteil von knapp zehn Prozent an der gesamten Berichterstattung. Auch bei den Agenturen ist dieser Anteil mit nur knapp 20 Prozent gering. Das Schwergewicht der Berichterstattung liegt auf sonstigen Politikfeldern, auf den Grünen als Fraktion/Partei und auf dem Verhältnis der Grünen zu anderen Parteien und Organisationen. Bemerkenswert ist die hohe strukturelle Übereinstimmung von Thematisierungen der Agenturen und der Zeitungen (vgl. Tabelle 3). Tendenziell gilt dies auch für die Pressemitteilungen der Grünen. Dahinter steht der von uns bereits an anderer Stelle aufgezeigte Einfluß der Agenturen im Prozeß der Politikvermittlung96 • Die Erweiterung der Analyse auf 65 Tageszeitungen, die 90 Prozent der täglichen Auflage repräsentieren, ermöglicht es, Aussagen über das Wirkungspotential der Grünen-Berichterstattung für die gesamte Bundesrepublik zu machen. Für den einzelnen Bürger ist zwar als Wirkungspotential in der Regel jeweils nur das Angebot einer Zeitung 95

Da die ursprünglichen Untersuchungseinheiten von Inhaltsanalyse und Befragung nicht kompatibel sind, haben wir eine neue gemeinsame Einheit, das "lssue" bzw. zu Gruppen zusammengefaßte "lssues", als Vergleichmaßstab und Basis der Berechnungen zugrunde gelegt. Vgl. dazu beispielhaft Schutz, News Structure and People's Awareness of Political Events (Anm. 7), S. 140 f. Abweichend von der üblichen Berechnung von Rangkorrelations-Koeffizienten nach Spearman haben wir Produkt-Moment-Korrelationen nach Pearson berechnet, um zu präziseren Meßergebnissen zu gelangen. Das Grundproblem bleibt jedoch bestehen: Es handelt sich um eine relativ grobe Messung; die in der Regel hohen Korrelations-Koeffizienten sind in erheblichem Maße erklärbar aus der zugrundegelegten geringen Anzahl von Einheiten, die zudem noch auf globalen Kategorien beruhen. Vgl. dazu bestätigend Maximilian Gottschlich, Ökologie und Medien, in: Publizistik30. Jg. 1985, S. 318 ff. 96 Vgl. Knoche/Lindgens, Selektion, Konsonanz und Wirkungspotential (Anm. 76), S. 498 ff., 507.

591

Fünf-Prozent-HünJe und Medienbarriere

Tabelle 3:

Thematisierung von Politikfeldern der Grünen nach WahlprogrammSchwerpunkten. Pressemitteilungen der Grünen, Agenturangebot und Presse im Vergleich· PM

Agentur

Presse••

Wahlprogramm-Schwerpunkte Demokratie und Recht Frauen Internationalismus Frieden/Abrüstung Ökologie Wirtschaft Soziales

39.5 (1.06) 4.2 (.11) 4.2 (.11)

18.8 (.67) 3.1 (.11) 1.6 (.06)

8.1 (.08) 1.3 (.01) .9 (.01)

6.3 (.17) 14.6 (.39) 8.3 (.22) 2.1 (.06)

6.3 (.22) 7.8 (.28)

.1 (.00) 5.2 (.05) .6 (.01) .1 (.00)

Sonstige Themen

35.4 (.94)

32.8(1.17)

35.6 (.31)

Die Grünen als Fraktion/ Partei Die Grünen Die Grünen und andere Parteien/Organisationen

25.1 (.67) 6.3 (.17)

48.4 (1.72) 25.0 (.89)

56.3(.49) 25.2 (.22)

18.8 (.50)

23.4 (.83)

31.1 (.27)

100.0 48 (2.67)

64 (3.56)

100.0

100.0 1028 (.88)

4.1

-14.0

-27.5

14.4

-29.6

48.2

Politikfelder

Insgesamt (N) Prozent-Differenz-Index Wahlprogramm-Schwerpunkte/ Sonstige Politikfelder Wahlprogramm-Schwerpunkte/ Die Grünen als Fraktion/Partei

• Agenturmaterial von dpa und AP, 65 Tageszeitungen (5.1.- 24.1.1987) in Prozent der Beiträge; Beiträge pro Erscheinungstag in Klammern durchschnittliche Anzahl der (Wirkungspotential). • • Konsonanz zwischen den 65 Zeitungen nach Konkordanz-Koeffizient Kendall's W = .88. Pearson's r: PM- Agentur .so" PM- Presse .79• Agentur- Presse .98••

in einer bestimmten Region wichtig, weil nur selten zwei Zeitungen regelmäßig gelesen werden. Aber unter dem Gesichtspunkt der Bundestagswahl ist die Gesamtheit der Tagespresse als Wirkungspotential relevant. Man gewinnt jedenfalls einen falschen Eindruck, wenn man, wie meistens üblich, die Analyse auf vier oder fünf überregionale "Qualitätszeitungen" beschränkt, die zusammen nur eine verhältnismäßig geringe Auflage haben. Pro Tag und pro Zeitung wurde im Durchschnitt ein Artikel veröffentlicht (vgl. Tabelle 3, Werte in Klammern). In 80 Prozent der Artikel werden die Grünen nicht

592

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

exclusiv, sondern meist in geringem Umfang neben anderen thematisiert. Da das Ausmaß der Thematisierungen ohnehin gering ist, haben wir hier darauf verzichtet, die Beitrage nach dem Umfang der Grünen-Thematisierungen zu gewichten. Knapp 40 Prozent der Zeitungen veröffentlichten keinen einzigen Artikel, weitere 45 Prozent maximal zwei Artikel zu Wahlprogramm-Schwerpunkten. Alle Politikfelder dieser Schwerpunkte zusammen erreichten nur eine verschwindend geringe Publizität. Hierin sind sich die 65 Zeitungen sehr ähnlich; der Konkordanz-Koeffizient (Kendall's W) betragt .88. Noch starker als bei den beiden ausgewählten Zeitungen in den vier Monaten vor der Wahl konzentriert sich die Grünen-Berichterstattung kurz vor der Wahl in allen Zeitungen auf die Thematisierung der Grünen als Fraktion/Partei und ihres Verh1!ltnisses zu anderen Organisationen/Parteien97 • Dies gehört zweifellos zu den Aufgaben der Presse und ist legitimerweise auch Teil der Politikvermittlungsfunktion. Aber eine vielzitierte Kernaussage aus dem Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts besagt, der Bürger könne politische Entscheidungen nur dann treffen, wenn er umfassend informiert sei und so auch die Meinungen kenne, die andere sich gebildet haben98• Unter diesem Gesichtspunkt halten wir das geringe Gewicht der Vermittlung von politischen Zielen, Forderungen und Lösungsvorschlägen auf relevanten Politikfeldern der Grünen für problematisch. Objektiv kommt die Presseberichterstattung den erwähnten Wahlkampfstrategien der anderen Parteien entgegen, die darauf abzielen, die Grünen in der Öffentlichkeit als marginal, überflüssig, inkompetent und hauptsachlich mit sich selbst beschaftigt erscheinen zu lassen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch die fast ausschließlich negative Bewertung der Grünen in den Kommentaren der Zeitungen.

5.2.3. Langfristige Thematisierung von Politikfeldern der Grünen in den Zeitungen und Perzeption in der Bevölkerung 1983 - 1987 Auf der Basis unserer seit 1983 durchgeführten Kontinuierlichen Inhaltsanalyse (KONTIA) von zwei Zeitungen und den parallel dazu durchgeführten Panel-Befragungen99 können wir Aussagen über den langfristigen Zusammenhang von Thematisierungen der Politikfelder der Grünen in den Zeitungen und ihrer Perzeption in der Bevölkerung machen. Grundlage für den Vergleich sind die Antworten auf die offen gestellte Frage nach Themen, "die in letzter Zeit für die Grünen im Bundestag wichtig waren". 97 Eine ähnliche Schwerpunktsetzung hatte auch die Medienberichterstattung zu den Grünen im Österreichischen Nationalratswahlkampf 1986; vgl. Roland Burkart/Angela Fritz, Informationsvermittlung im Wahlkampf, Wien: Literas-Universitätsverlag 1988, S. 17 ff. 98 Vgl. Manfred Knoche, Die Meßbarkeit publizistischer Vielfalt, in: Siegfried Klaue/Manfred Knoche/Axel Zerdick (Hrsg.), Probleme der Pressekonzentrationsforschung, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1980, S. 132. 99 Es handelt sich um jeweils für die beiden Städte repräsentative Stichproben von 16- bis 30jährigen. Bis zur Bundestagswahl 1987 wurden drei Panel-Befragungen durchgeführt, die vierte und letzte Panel-Welle folgte im Januar 1989. Mit der Durchführung der Feldarbeit war CONTEST-CENSUS, Frankfurt, beauftragt.

593

Fünf-Prazent-Hürde und Medienbarriere

Wir orientieren uns hierbei zungchst an dem "salience"-Modell der Agenda-Setting-Forschung, nach dem die Themenstrukturierungsfunktion von Medien für das Publikum als Ganzes auf der Basis aggregierter Daten gemessen wird 100. Aufgrund des Longitudinalund Panel-Designs unserer Untersuchung sind wir in der Lage, durch Berechnungen von cross-lagged correlations Aussagen über die Richtung von Kausalbeziehungen zu machen101.

Tabelle 4:

Thematisierung von Politikfeldern der Grünen na~h Themengebieten. Zeitungen und Bevölkerung im Vergleich (1983-1987)

Politikfelder Umwelt Energie Frieden Frauen Ausländer Innere Sicherheit Arbeit Demokratische Rechte Soziales Wohnen/Städtebau Wirtschaft Justiz Verkehr Gesundheit Entwicklungspolitik

(N)

KONTIAl

Paneil

KONTIA2

Panel2

KONTIA3

Panel3

8.5 5.8 13.9 1.5

55.6 10.9 24.3 8.4 1.0 3.1 3.7 .0 .8 .2 .4 .0 .2 .2 .8

11.7 9.9 6.2 1.8 .4 14.4 5.0 2.0 1.9 .8 3.1 3.3 1.8 1.2

38.1 14.4 31.5 6.2 2.5 13.8 23.9 .4 1.2 .2 .4 .2 2.3 .0 .2

10.5 19.5 6.5 3.7 2.0 12.1 3.2 1.2 1.4 1.3 1.3 .8 .7 .6 .1

63.0 50.6 20.4 17.9 10.5 6.8 4.3 2.9 1.6 1.4 1.0 .2 .2 .2 .0

(486)

(969)

(486)

(848)

(486)

1.1

6.9 3.1 1.3 1.3 .2 1.9 2.1 1.1

.3 1.2 (2104)

1.1

In Prozent der Beiträge bzw. der Befragten nach Rangfolge Nennungen Panel3. Werte unter 1 Prozent für die Politikfelder: Landwirtschaft, Ernährung, Bildung/Wissenschaft, Forschung!fechnologie, Post/Fernmeldewesen, Medien, Kultur, Familie, Jugend, Sport. Kontinuierliche Inhaltsanalyse (KONTIA) AZ Mainz und BZ Freiburg KONTIA 1: März 1983- März 1985 KONTIA 2: April1985 -März 1986 KONTIA 3: Aprill986 -Januar 1987

Panel-Befragung (Panel) Mainz und Freiburg Panel 1: März 1985 Panel 2: März 1986 Panel3:Januar1987

Generell kann man über die drei Zeitphasen hinweg eine weitgehende strukturelle Übereinstimmung zwischen den Themenprioritgten der Presse und der Leser erkennen (vgl.

100 101

Vgl. Ehlers, Themenstrukturierung durch Massenmedien (Anm. 64), S. 169. Vgl. Winfried Schulz, Mobilisierung und Demobilisierung im Europawahlkampf, in: Horst Baier/Hans Mathias Kepplinger/Kurt Reumann (Hrsg.), Öffentliche Meinung und sozialer Wandel, Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 152 ff.

594

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

Tabelle 4). Innerhalb der drei Phasen gehören in der Regel die fünf am häufigsten behandelten Themen auch zu den von den Befragten am häufigsten genannten. In der Anfangszeit grüner Präsenz im Bundestag konzentrierte sich die Berichterstattung hauptsächlich auf die von den Grünen vertretenen Positionen der Friedensbewegung (u.a. Stationierungsdebatte und Friedensdemonstrationen), auf die Umweltproblematik (u.a. Waldsterben und saurer Regen) sowie auf den geforderten Ausstieg aus der Atomenergie (u.a. Entwurf eines Atomsperrgesetzes). Entsprechend werden von den Befragten 1985 hauptsächlich Umwelt, Atomenergie und Frieden als wichtige Themen der Grünen genannt. Bei der zweiten Befragungswelle ein Jahr später ist das Spektrum genannter Themen breiter geworden: Umwelt und Frieden werden zwar noch immer als die wichtigsten Themen der Grünen betrachtet. Wahrgenommen wurde aber auch die Ablehnung der sogenannten Sicherheitsgesetze (u.a. Einführung des maschinenlesbaren Ausweises, Schleppnetz-Fahndung), die in den Zeitungen stark thematisiert wurden. Auch über die Beschäftigung der Grünen mit der geplanten Änderung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes wurde relativ häufig berichtet; dem entspricht ein größeres Themenwissen unter den Zeitungslesern. Die Berichterstattung über die Grünen zwischen Panel-Welle 2 und 3 im Jahr vor der Wahl war stark geprägt von der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im April 1986. Durch die anschließende Diskussion über einen möglichen Ausstieg aus der Atomenergie nahm das Themenfeld Energie in der Grünen-Berichterstattung den ersten Rang ein. Die von den Grünen verstärkt geforderte sofortige Stillegung aller Atomkraftwerke in der Bundesrepublik war bei der nächsten Panel-Welle der Hälfte der Befragten bekannt. Die Rheinvergiftung durch einen Unfall beim Chemiekonzern Sandoz in Basel im November 1986 sowie eine Reihe weiterer Chemieunfälle am Rhein im selben Monat (BASF, Hoechst und Bayer) tangierte die Bevölkerung in den Befragungsgebieten Mainz und Freiburg offenbar stark. Im Zusammenhang damit war zwar im überregionalen Teil der beiden Zeitungen relativ wenig über die Grünen berichtet worden. Dennoch hielt ein Großteil der Befragten die Rheinvergiftung für ein wichtiges Thema der Grünen. Dies deutet auf die Wirkung eines aktualisierten allgemeinen Images der Grünen als Umweltpartei hin, das aufgrund früherer Berichterstattung gebildet wurde. Die hohe strukturelle Übereinstimmung zwischen Presse-Agenda und PublikumsAgenda besteht über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg gleichermaßen in den Gruppen der Intensiv- und Wenig-Leser sowie bei den Grünen-Wählern und den Nicht-Wählern der Grünen. Die hohen Koeffizienten der cross-lagged correlations (vgl. Schaubild 2) zeigen diese Zusammenh!!nge. Andere Zusammenhänge, die auf einen Einfluß der Publikums-Agenda auf die Medien-Agenda hindeuten würden (Wirkungen von Panel 1 auf KONTIA 2 oder von Panel 2 auf KONTIA 3), sind nicht signifikant. Zusammenfassend kann dies insofern als Einfluß der Presse interpretiert werden, als die Berichterstattung aufgrund des geschilderten geringen Wirkungspotentials offensichtlich Intensiv-Lesern wenig Möglichkeiten eröffnet, andere Themen als die Wenig-Leser wahrzunehmen. Die abwechselnd in bestimmten Zeitperioden häufiger thematisierten Politikfelder Umwelt, Energie, Frieden und Innere Sicherheit tragen scheinbar kumulativ vermutlich auch im Zusammenwirken mit Einflüssen anderer Medien und mit Um-

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

595

welteinflüssen- dazu bei, daß sich auch bei Wenig-Lesern ein Minimum an globalen Vorstellungen von politischen Themen der Grünen im Laufe der Zeit herausbildet. Dieses Minimum deutet weniger auf ein ausgeprägtes Themenwissen der Befragten hin; es entspricht eher einem allgemeinen Image von den Grünen. Im Gegensatz zu geringen Grünen-Thematisierungen in der Presse im Zusammenhang mit allgemeinen Ereignissen und Themen (Tschernobyl, Rheinverschmutzung, Atomenergie etc.) hat ein Großteil der Befragten dennoch die Vorstellung, dies seien wichtige Themen für die Grünen. Aktuelle Ereignisse, die thematisch in ein bereits verbreitetes allgemeines Image von den Grünen passen, werden anscheinend mit den Grünen in Verbindung gebracht, auch wenn die Presse aktuell im Zusammenhang mit diesen Ereignissen nur spärlich über die darauf bezogenen politischen Aktivitäten der Grünen berichtet. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, daß die anderen Parteien es auch mit Unterstützung der Presse schwer haben, die Themen zu besetzen, die als "typisch grün" gelten. Schaubild 2: Thematisierung von Politikfeldern der Grünen nach Themengebieten.

Zeitungen und Bevölkerung im Vergleich (1983-1987). Cross-lagged correlations (Pearson's r)·

Berechnungsbasis: Werte in Tabelle 4. Kl- KJ: KONTIA 1-3 (siehe Tabelle 4) Kw: KONTIA vor der Bundestagswahl (1.10.1986- 24.1.1987) Pl- P3: Paneil - 3 (siehe Tabelle 4)

Es zeigt sich hier prinzipiell, daß die genaue Kenntnis des Medienangebots Möglichkeiten der Analyse und Dateninterpretation eröffnet, die ohne diese Kenntnis verschlossen bleiben. Ein Beleg für Wirkungen wird bei Zugrundelegung allein von Befragungsdaten im allgemeinen statistisch dann gesehen, wenn sich signifikante Unterschiede zwischen Intensiv- und Wenig-Lesern zeigen. In unserem Fall ist jedoch, wie dargelegt, eher die Übereinstimmung von Intensiv- und Wenig-Lesern ein Beleg für Pressewirkungen, und

596

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

zwar ein spezifischer Beleg für Nicht-Wirkungen im Sinne von Veränderungen, die wir als bedeutsame Wirkung im Sinne von Stabilisierung des Bestehenden ansehen. 5.3.

Thematisierung von politischen Zielen, Forderungen und Lösungsvorschlägen der Granen

5.3.1. Politische Realität, Medienrealität und Wirkungspotential In ihrem Wahlprogramm haben die Grünen rund 200 konkrete politische Ziele, Forderungen und Lösungsvorschläge vorgestellt, wobei deutliche Schwergewichte auf Ökologie sowie Demokratie und Recht liegen (rund 50 Prozent). Die übrigen Forderungen verteilen sich gleichgewichtig auf die anderen fünf Schwerpunkte Frauen, Frieden, Internationalismus, Wirtschaft und Soziales (vgl. Tabelle 5 unten). In der Wahlkampfzeitung "Extrablatt" wurde hingegen neben ökologischen und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen besonders die grüne Frauenpolitik sowohl innerhalb der Partei (z.B. die Quotierung von Kandidatenlisten) als auch in der Gesellschaft (z.B. Antidiskriminierungs-Gesetz, §218, Gewalt gegen Frauen) betont. In den Pressemitteilungen der Vorwahlzeit, die sich zum Großteil auf die politischen Aktivitaten der Bundestagsfraktion beziehen, stehen ebenfalls Vorschlage zur Lösung ökologischer Probleme an erster Stelle. Aber auch zu wirtschaftspolitischen Fragen wird in diesem Zeitraum relativ h11ufig Position bezogen. Nimmt man die von den Grünen für die Öffentlichkeit formulierten Politikziele als insgesamt verfügbares Input der Agenda-BuHding für die Politikvermittlung durch die Presse und vergleicht damit das Output der in den Zeitungen veröffentlichten Ziele, so wird eine starke Reduktion sichtbar: Von insgesamt 211 verschiedenen Einzelforderungen der Grünen wurden in den vier Monaten vor der Wahl in der "Allgemeinen Zeitung", Mainz, nur 26, in der "Badischen Zeitung", Freiburg, nur 39 angesprochen. 90 bzw. 80 Prozent der grünen Initiativen, Forderungen und Vorhaben hatten somit überhaupt keine Chance, vermittelt über die Zeitungen die Leser zu erreichen (vgl. Tabelle 5 unten). Angesichts dieses absolut geringen Volumens an veröffentlichten Forderungen fehlt es an Substanz, um die Frage nach möglichen Kriterien für die Auswahlentscheidungen der Zeitungen wissenschaftlich prüfen zu können. Der strukturelle Vergleich zwischen der Grünen-Agenda und der Presse-Agenda macht deutlich, daß die Vorschlage der Grünen im Bereich der Ökologie relativ gesehen noch am ehesten Chancen haben, in die Berichterstattung einzugehen (vgl. Tabelle 5 oben). Offenbar billigen auch die Journalisten den Grünen prim11r auf diesem Gebiet Lösungskompetenz zu und greifen entsprechende Ideen und Vorstösse vorrangig auf. Auch die Grünen selbst legen in ihren Publikationen den Schwerpunkt auf Probleme der Ökologie. Darüber hinaus behandeln sie eine Vielzahl verschiedener Themen, entsprechend ihren anerkanntermaßen vielfältigen politischen Initiativen im Bundestag 102• Dies führte auch bei den Grünen selbst zu der Befürchtung, daß man sich zu sehr verzettelt 102 Vgl. Statistik zu "Gesetzentwürfe, Große und Kleine Anfragen, schriftliche und mündliche Fragen im Deutschen Bundestag" in Comelsen, Ankläger im Hohen Haus (Anm. 17), S. 146.

597

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

Tabelle 5:

Thematisierung von Zielen, Forderungen und Lösungsvorschlägen der Grünen nach Wahlprogramm-Schwerpunkten. Publikationen der Grünen und Zeitungen im Vergleich·

Ziele/Forderungen/ Lösungsvorschläge Wahlprogramm-Schwerpunkte Demokratie und Recht Frauen Internationalismus Frieden/Abrüstung Ökologie Wirtschaft Soziales

Die Grünen

AZ

BZ

1.7 1.2

13.5 8.2 5.6 6.7 25.2 9.3 6.1

.6 15.1 2.3 2.3

4.0 3.5 1.0 4.5 19.1 2.0 1.5

4.8

4.1

4.0

Ohne Ziele/Forderungen/ Lösungsvorschläge

34.2

79.1

71.9

(N)

(541)

(172)

(200)

Sonstige Themen

Selektion von Zielen, Forderungen und Lösungsvorschlägen der Grünen durch die Zeitungen.. Die Grünen Demokratie und Recht Frauen Internationalismus Frieden/Abrüstung Ökologie Wirtschaft Soziales

(N)

(43) (14) (13) (25) (70) (25) (21)

(211)

AZ

BZ

-.93 -.86 -1.00 -.96 -.83 -.84 -.81

-.88 -.86 -.85 -.76 -.74 -.88 -.86

-.88 (26)

-.82 (39)

Bundestagswahl-Programm 1987, Wahlkampfzeitung "Extrablatt" und Pressemitteilungen der Grünen (1.10.1986- 24.1.1987). Allgemeine Zeitung Mainz (AZ) und Badische Zeitung Freiburg (BZ) (1.10.1986- 24.1.1987). In Prozent der Beiträge • • Differenz-Prozente der von den Grünen formulierten und von den Zeitungen (mindestens einmal) veröffentlichten Ziele, Forderungen und Lösungsvorschläge.

598

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

habe und es nicht ausreichend gelungen sei, Schwerpunkte zu setzen 103• Insofern vermitteln die Zeitungen zum Teil nur ein stark verkleinertes Abbild der Schwerpunktsetzungen bzw. Versaumnisse der Grünen. Dies gilt allerdings weniger für die Bereiche Wirtschaft, Demokratie und Recht sowie Frauen, denen die Grünen ein stärkeres Gewicht geben als die Zeitungen. Als wesentliches Untersuchungsergebnis gilt es zu berücksichtigen, daß in 70 bzw. 80 Prozent der veröffentlichten Artikel kein einziger Hinweis auf Ziele, Forderungen oder Vorschl!!ge der Grünen zu finden ist. Vermutlich reproduzieren die Journalisten bewußt oderunbewußt das Image der "Ein-Punkt-Partei", das ihr eigenes Bild von den Grünen und nachweisbar auch ihre Berichterstattung seit dem Einzug der Grünen in den Bundestag bestimmt. Dieses Selektionskriterium kann auch durch die Wahrnehmung verstärkt werden, daß Ökologieprobleme die Leser - über Parteigrenzen hinweg - stark interessieren. In jedem Fall zeigen sich Anzeichen des Festhaltens an einem früh aufgebauten "frame of reference" 104, der eine Stereotypisierung des Bildes von den Grünen als einer "Ein-Punkt-Partei" in der Öffentlichkeit begünstigt, die so nicht mehr mit der politischen Realität übereinstimmt. Eine Erweiterung des Profils der Grünen entsprechend ihren Aktivitäten auf verschiedenen anderen Politikfeldern wird dadurch behindert.

5.3.2. Wirkungen in der Bevölkerung Die langfristigen Wirkungen dieser in vielen Politikbereichen eher marginalen und im wesentlichen auf ökologische Vorschl!!ge zentrierten Berichterstattung lassen sich unter anderem anhand der im Panel gestellten Frage nach der Problemlösungskompetenz der Grünen prüfen. Hypothetisch muß man davon ausgehen, daß es sich negativ auf die Wahlchancen der Grünen auswirkt, wenn ihnen aufgrund der Presseberichterstattung keine oder nur geringe Kompetenz auf dem Gebiet der wenig umstrittenen, allgemein aber als wichtig angesehenen "Valenzissues" wie Arbeitslosigkeit, Preisstabilität und Renten zugeschrieben wird und sie statt dessen nur mit den polarisierenden "Positionsissues" wie Abrüstung, Kernenergie und Ausländer in Verbindung gebracht werden 105 • Die ein breites Spektrum umfassenden Problerne wurden hier - zur besseren Vergleichbarkeit mit den von Grünen und Zeitungen publizierten Forderungen - ebenfalls den Wahlprogramm-Schwerpunkten zugeordnet (vgl. Tabelle 6).

103 Dies kam in der Bilanz der Bundestagsfraktion der Grünen über ihre vierjährige Bundestagsarbeit in ihrer letzten Fraktionssitzungvor der Wahl selbstkritisch zum Ausdruck. 104 Vgl. James D. Halloran/Philip Elliot/Graham Murdock, Demonstrationsand Communication: A Case Study, Harmondsworth: Penguin Books 1970. 105 Vgl. Jürgen W. Falter/Hans Rattinger, Die Bundestagswahl1983: Eine Normalwahlanalyse, in: Klingemann/Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß (Anm. 2), S. 324 ff.

599

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

Tabelle 6:

Beurteilung der Issue-Kompetenz der Grünen in der Bevölkerung. Wähler und Nicht-Wähler der Grünen sowie Wenig- und Intensiv-Leser der Zeitungen im Vergleich (Januar 1987). Nicht-WählerderGrünen WählerderGrünen IntensivWenigIntensivWenigLeser Leser Leser Leser

Demokratie und Recht Demokratische Rechte und Freiheiten der Bürger schützen Rechte von Ausländern sichern Rechte von Minderheiten und Randgruppen sichern

Gesamt

45.7 43.7

54.1 51.6

71.7 65.2

84.5 86.9

57.6 55.8

45.7

59.7

69.6

88.1

59.9

74.6

79.2

91.3

95.2

81.3

55.8

69.2

87.0

92.9

695

24.4

30.8

39.1

58.3

33.7

91.4 26.9

94.3 30.8

97.8 60.9

98.8

94.2 38.1

4.6 3.6 7.1 16.8

1.9 1.3 3.1

8.3

16.4

10.9 8.7 8.7 37.0

8.3 45.2

4.9 3.1 6.2 23.5

20.3 32.5

15.1 41.5

30.4 63.0

52.4 66.7

25.1 44.2

Soziales Für soziale Gerechtigkeit sorgen Renten sichern

42.1 13.2

54.7 5.7

69.6 30.4

88.1 27.4

56.8 14.8

(N)

(197)

(159)

Frauen Benachteiligungen von Frauen abbauen Frieden/Abrüstung Frieden durch Abrüstung sichern Entspannungspolitik mit dem Osten fortsetzen Ökologie Umweltschutz verbessern Energieversorgung sicherstellen Wirtschaft Wirtschaftliche Stabilität sichern Preise stabil halten Staatsverschuldung abbauen Arbeitslosigkeit bekämpfen Für mehr Ausbildungsplätze für Jugendliche sorgen Rechte der Arbeitnehmer sichern

(46)

65.5

2.4

(84)

(486)

Frage: "Ich habe hier eine Liste mit wichtigen Problemen und Aufgaben für die Politik. Bitte sagen Sie mir zu jedem Problem, ob die Grünen Ihrer Meinung nach dazu geeignete Lösungsvorschläge anzubieten haben oder nicht."

600

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

Unabhängig von ihrer Parteipr!!ferenz und Rezeption der Grünen-Berichterstattung stimmen fast alle Befragten darin überein, daß die Grünen geeignete Vorschl!!ge zur Verbesserung des Umweltschutzes vorzuweisen haben. Dieses ungewöhnlich hohe Maß an Kompetenzzuweisung- im Verlauf der vier Jahre unserer wiederholten Befragungen unverändert hoch -deutet darauf hin, wie eng die Umweltprobleme und ihre Lösung mit den Grünen verbunden werden 106• Wesentlich skeptischer stehen die Befragten - vor allem die Wähler der anderen Parteien - den grünen Konzepten zur Energiepolitik gegenüber. Sie lehnen auch nach Tschernobyl als "critical event" zu 40 Prozent die Forderung nach sofortigem Ausstieg aus der Atomenergie ab 107; sie fürchten offenbar bei Realisierung dieser Pl!!ne eine Gef!!hrdung der Energieversorgung. Nicht dieser Meinung sind zwei Drittel der Grünen-Anh!!nger, die auch intensiv Zeitungsberichte über die Grünen lesen. Sie vertrauen auch auf diesem Gebiet den Lösungsans!!tzen dieser Partei. Auffallend positiv ist das Parteiimage hinsichtlich der Berücksichtigung und Vertretung von Frauen. W!!hrend in den Zeitungen über grüne Forderungen zur Gleichstellung von Frauen in Politik und Gesellschaft eher spärlich berichtet wurde, haben die Grünen mit einigen spektakul!!ren Initiativen wie zum Beispiel dem weiblichen Fraktionsvorstand 1984 oder der in Harnburg 1986 erfolgreichen Frauenliste in den Medien Publizität erhalten 108• Die Denkanstösse und neuen Impulse sowie ihre reale Umsetzung in die politische Praxis (z.B. Mehrheit von Frauen auf den Kandidatenlisten zur Bundestagswahl) haben den Grünen auch bei Anh!!ngern der anderen Parteien eine gewisse Anerkennung gebracht und bei den anderen Parteien, insbesondere bei der SPD, starke "Nachahmungseffekte" ausgelöst. Zusammenfassend kann man zun!!chst einmal eine deutliche Zweiteilung in der Kompetenzzuweisung feststellen, die in etwa der Zweiteilung der Kompetenzzuweisungen für CDU/CSU/F.D.P. und SPD entspricht 109: hohe Kompetenzzuweisung, auch tendenziell bei Nicht-Grünen-W!!hlern, auf den Gebieten Ökologie, Frieden/Abrüstung, Frauen sowie Demokratie und Recht (Bürgerrechte), geringe Kompetenzzuweisungen bei ökonomischen Problemen (wirtschaftliche Stabiliti!t, Preise, Staatsverschuldung). Abweichend von diesem Schema sind die Einstufungen im Bereich Soziales und zu Problemen der Arbeit. Hier zeigen sich, zumindest bei den Anh!!ngern der Grünen, zum Teil beachtliche Kompetenzzuweisungen für die Bek!!mpfung der Arbeitslosigkeit, die Siehe106

Damit werden Ergebnisse anderer Untersuchungen bestätigt; vgl. z.B. Forschungsgruppe Wahlen e.V., Die Konsolidierung der Wende (Anm. 13), S. 277 ff.; Rainer-Oiaf Schultze, Die Bundestagswahl 1987 - eine Bestätigung des Wandels, in: Aus Polit1k und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 12 1987 v. 21. 3. 1987, S. 7; Klingemann, Der vorsichtig abwägende Wähler (Anm. 85), S. 401 f. 107 Dies ist ein Ergebnis der gesonderten Frage nach der Berechtigung von politischen Forderungen und Vorschlägen der Grünen. 108 Wir haben zur Wahl des Frauenvorstands 1984 eine umfassende Studie zur Berichterstattung und Kommentierung der gesamten deutschen Tagespresse (126 Zeitungen) durchgeführt. Dabei zeigte sich eine äußerst konsonante und in ihrer Tendenz negative Kommentierung dieses Ereignisses. Vgl. Knoche, "Platzhirsch Schily und Superstar Kelly von Weiberrat abgesägt" (Anm. 76). 109 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e.V., Die Konsolidierung der Wende (Anm. 13), S. 277 ff.

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

601

rung von Arbeitnehmerrechten und die Sorge für soziale Gerechtigkeit. Dies sind Politikfelder, in denen die Grünen tatsächlich verstärkt Problemlösungsvorschläge vorgelegt haben, die jedoch von der Presse kaum vermittelt wurden. Insofern ergibt sich hier ein weiterer Hinweis auf mögliche Wirkungen einer Medienbarriere: Wenig thematisierte reale Politikfelder, die nicht dem globalen Image der "Ein-Punkt-Partei" entsprechen, können insbesondere von Nicht-Anhängern der Grünen kaum wahrgenommen werden. Die Frage ist nun, inwieweit die Kompetenzzuweisungen der Befragten durch das Lesen der Zeitungen beeinflußt sind und inwieweit die Kompetenzzuweisungen wiederum die Wahlabsicht beeinflussen. Diese Fragestellung erscheint sinnvoll im Zusammenhang mit dem Bestreben von Politikern, durch die Verbreitung einer möglichst großen Anzahl ihrer Informationen über Massenmedien Kompetenzzuweisungen und Wahlabsicht der Bürger im eigenen Interesse zu beeinflussen. Für die Grünen ist dies besonders wichtig, weil sich ihre Anhänger nach Falter/Rattinger am weitaus stärksten in ihrem Wahlverhalten durch Sacheinsteilungen und Kompetenzzuweisungen bestimmen lassen 110• Auch demokratietheoretisch wird im allgemeinen ein positiver Zusammenhang zwischen einer Vermehrung des lnformationsangebots, der Informiertheit der Bürger und ihrer politischen Kompetenz unterstellt. Schulz dagegen stellt theoretisch und auf der Basis von empirischen Forschungsergebnissen die Realisierung des Aufklärungsanspruchs der Massenmedien generell in Frage 111• Er bezweifelt, daß eine Verbreiterung des Informationsangebots zu besserer politischer Informiertheil und eine bessere Informiertheit zu mehr Bürgerbeteiligung und politischer Kompetenz der Medienrezipienten führe. Ein Informationsüberangebot, verbunden mit geringer Informationsqualität und Konsonanz der Politikvermittlung durch Massemmedien, mache eher negative Folgen wie Oberflächenwissen, Desorientierung, Demotivierung, Apathie oder Irrationalismus wahrscheinlich. Die Gefahr des Überangebots an Informationen über die Grünen ist - wie unsere Inhaltsanalyse gezeigt hat - bislang nicht gegeben. Wir müssen in diesem Fall also eher mögliche negative Folgen eines Unterangebots prüfen. Dennoch sind die Überlegungen von Schulz für uns auf zweifache Weise relevant. Man kann vermuten, daß sich ein allgemeines Informations-Überangebot in Verbindung mit einem Unterangebot zur Politik der Grünen besonders negativ auf die Informiertheil und politische Kompetenz der Bürger sowie auf die Wahlchancen der Grünen auswirkt. Denn wesentlich mehr als die etablierten Parteien mit einem grundsätzlich bekannten traditionellen Image sind die Grünen als neue und alternative Partei darauf angewiesen, daß die Bevölkerung über bislang unbekannte politische Probleme sowie über die dazu formulierten neuen Ziele, Forderungen und Lösungsvorschläge der Grünen zumindest informiert wird. Desweiteren ist das Problem der theoretischen Plausibilität der gängigen Hypothese angesprochen, daß mehr Information zu mehr Informiertheit und darüber zu mehr politischer Kompetenz oder Bürgerbeteiligung führe. Schulz äußert seine Zweifel im Zusammenhang mit seiner Kritik an der Wissenskluft-Hypothese. Ähnliche Zweifel sind si-

110 111

Vgl Falter/Rattinger, Die Bundestagswahl1983 (Anm. 105), S. 335. Vgl. Winfried Schutz, Information und politische Kompetenz, in: Ulrich Saxer (Hrsg.), Gleichheit oder Ungleichheit durch Massenmedien?, München: Ölschläger 1985, S. 115.

602

Manfred Knoche/Monika Lindgens

eherlieh auch angebracht, wenn man die Agenda-Setting-Hypothese auf ihre kognitive Dimension der Wissensvermittlung beschränkte. Für weniger gravierend halten wir das angesprochene Problem im Zusammenhang mit unserer Zielsetzung, den Zusammenhang von grundsätzlich wertgeladenen Thematisierungen bestimmter Politikfelder in den Massenmedien mit deren Resonanz in der Bevölkerung und dem Wahlverhalten zu untersuchen. Themennennungen der Befragten werden in diesem Kontext nicht als Themenwissen gewertet, sondern gelten als Indikatoren eines allgemeinen Images einer Partei, das in den Antworten relativ unabh1!ngig von tatsächlichem konkreten Wissen zum Ausdruck kommt. Der strukturelle Vergleich der Thematisierungsschwerpunkte der Zeitungen (vgl. Tabelle 5) und der Kompetenzzuweisungen der Befragten (vgl. Tabelle 6) zeigt wenig Übereinstimmungen. Auch für einen Teil der von den Zeitungen wenig thematisierten Problemgebiete haben die Befragten mehrheitlich den Grünen eine Problemlösungskompetenz bescheinigt. Übereinstimmungen gibt es nur auf dem Gebiet der Ökologie (relativ große Publizität entspricht hoher Kompetenzzuweisung) und auf dem Gebiet der Wirtschaft (wenig Publizität entspricht geringer Kompetenzzuweisung). Ein Sonderfall ist das Gebiet Soziales, wo es - bei allgemein geringem Publizitätsgrad - teilweise hohe allgemeine Kompetenzzuweisung gibt ("Für soziale Gerechtigkeit sorgen"). Will man über den nur begrenzt aussagekräftigen strukturellen Vergleich von Aggregatdaten hinausgehend Einflußfaktoren für die Kompetenzzuweisungen und das Wahlverhalten bestimmen, so stellt sich das bekannte Problem der Kausalität. Auch Klingemann(faylor sehen dieses Problem auf der Basis ihrer Daten aus wiederholten Trendbefragungen als nicht gelöst an 112• Das Kausalitätsproblem stellte sich auf der Basis unserer Paneldaten in geringerem Maße, weil im allgemeinen durch die zeitliche Aufeinanderfolge der erhobenen Daten und der Identität der Befragungspersonen ein gültiger Anhaltspunkt für die Richtung von Kausalitätsbeziehungen gegeben ist. Die oben vorgestellten cross-lagged correlations haben dies bestätigt. Dennoch bleibt zum Beispiel die theoretisch zu entscheidende Grundfrage, ob ein statistisch gemessener Zusammenhang zwischen Kompetenzzuweisung und Wahlabsicht zum gleichen Meßzeitpunkt als Einfluß der Kompetenzzuweisung auf die Wahlabsicht oder umgekehrt gewertet werden soll.

112 Vgl. Hans-Dieter Klingemann/Charles Lewis Taylor, Einstellungskomponenten der Wahlentscheidung bei Bundestagswahlen in Deutschland, in: Kaase (Hrsg.), Wahlsoziologie heute (Anm. 45), S. 317.

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

Fluktuation Wahlabsicht• im Panel1986 -1987

Tabelle 7:

Panel insgesamt Panel2 März 1986

Nicht-Wähler der Grünen Wähler der Grünen Panel 3 insgesamt

(N)

Ch? .0000

Panel3 Januar 1987 Nicht-Wähler Wähler derGrünen derGrünen

Panel2 insgesamt

(N)

66.3

11.3

n.6

(377)

7.0

15.4

22.4

(109)

73.3 (356)

26.7 (130)

100.0

Nicht-Wähler der Grünen Wähler der Grünen Panel 3 insgesamt

(N)

Panel3 Januar 1987 Nicht-Wähler Wähler derGrünen derGrünen

Panel2 insgesamt

(N)

75.3

10.7

86.0

(209)

5.8

8.2

14.0

( 34)

81.1 (197)

18.9 ( 46)

100.0 (243)

Phi .41

Intensiv-Leser Panel2 März 1986

Panel3 Januar 1987 Nicht-Wähler Wähler derGrünen der Grünen

Panel2 insgesamt

(N) (168) ( 75)

Nicht-Wähler der Grünen Wähler der Grünen

57.2 8.2

11.9 22.6

69.1 30.9

Panel 3 insgesamt

65.4 (159)

34.6 ( 84)

100.0

(N)

Chi 2 .0000

(486)

Phi.51

Wenig-Leser Panel2 März 1986

Chi 2 .0000

603

(243)

Phi.54

Frage: "Und wenn schon am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre: Welche Partei würden Sie dann vermutlich wählen?"

604

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

Unsere Analyse des Zusammenhangs von Medienangebot, Mediennutzung, Kompetenzzuweisung und Wahlabsicht als Indikator für Wahlverhalten war zusätzlich durch zwei weitere Probleme erschwert: durch das "Mikro-Makro-Puzzle" der Aggregatstabilität bei individueller Instabilität in Panelbefragungen 113 und durch die Verknüpfungsproblematik von lnhaltsanalyse- und Befragungsdaten auflndividualdatenebene 114. Aufgrund unserer Untersuchungsanlage mit dem engen Bezug von Inhaltsanalyse und Befragung hatten wir prinzipiell gute Voraussetzungen, um Einflüsse des Medienangebots bei den Befragten auf Individualdatenebene im Zeitvergleich messen zu können. Entgegen unserer Annahme stimmten die beiden ausgewählten Zeitungen in ihrer Berichterstattung über die Grünen jedoch weitgehend überein. Damit mangelte es an Varianz des Medienangebots, einer wesentlichen Voraussetzung für sinnvolle statistische Berechnungen auf lndividualdatenebene. Eine Datenverknüpfung bringt in unserem Fall keine Vorteile gegenüber dem relativ undifferenzierten Maßstab der Mediennutzungsvariablen. Die nachfolgende Analyse geht von den Veränderungen in der Wahlabsicht der Befragten im Zeitraum der Panel-Wellen 1 bis 3 von März 1985 bis Januar 1987 aus. Sowohl die Ergebnisse zur Entwicklung des Trends (Netto-Veränderungen) als auch zu individuellem Wechselverhalten (Fluktuationen) vermitteln den Eindruck hoher Stablität (vgl. Tabelle 7). Der Anteil der Wähler der Grünen steigt in den knapp zwei Jahren vor der Bundestagswahl 1987 netto von 20 auf 27 Prozent 115• Der Anteil der Stabilen, die ihre Parteipräferenz nicht verändern, liegt von Welle zu Welle bei rund 80 Prozent. Auffallend ist, daß die Grünen-Wähler wesentlich unstabiler sind als die anderen Befragten: Von 1985 bis 1986 und von 1985 bis 1987 wechseln jeweils rund 50 Prozent der GrünenWähler ihre Parteipräferenz, während nur maximal 20 Prozent der Nicht-Grünen-Wähler ihre Wahlabsicht verändern. Daß es dennoch im Trend einen Zuwachs an GrünenWählern gibt, ist mit der absolut höheren Anzahl der Wechsler hin zu den Grünen zu erklaren. In den Partialtabellen (vgl. Tabelle 7), getrennt nach Wenig- und Intensiv-Lesern116, wird ein statistisch hochsignifikanter, starker Zusammenhang zwischen den Parteipräferenzen zu den verschiedenen Meßzeitpunkten bestätigt. Auch hierin kommt die hohe Stabilität der Parteipräferenzen zum Ausdruck, desgleichen der geringe Einfluß der Med:iennutzung. Ein gewisser Einfluß, sichtbar in den erhöhten Chi-Quadrat- und PhiWerten, ist jedoch bei den Intensiv-Lesern erkennbar. In dieser Gruppe ist die Parteiprä113

Vgl. Max Kaase, Das Mikro-Makro-Puzzle der empirischen Sozialforschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38. Jg. 1986, S. 209-222. 114 VgL Lutz ErbringlEdie N. Goldenberg/Artbur H. Miller, Front-Page News and Reai-World Cues, in: American J oumal ofPolitical Science, 24/1980, S. 16-49; Rolf Hügel/Wemer Degenhardt/Hans-Jürgen Weiss, Structural Equation Models for the Analysis of the Agenda-setting Process, in: European Journal of Communication, 4/1989, S. 191-210. 115 Der Anteil der Befragte111 mit der Absicht, die G:riinen zu wählen ("Sonntagsfrage"), entspricht in etwa dem Antel1 der Wähler in der befragten Altersklasse (18 - 30 Jahre) in den beiden Untersuchungsgebieten. 116 Intensiv- und Wenig-Leserwurden unterschieden nach den Kriterien "Intensität der Nutzung des politischen Teils der Zeitung" (AZ Mainz/BZ Freiburg) und "Intensität des Lesens von Artikeln über die Grünen" (Nutzungsindex).

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

605

ferenz für die Grünen vergleichsweise stabiler, und die Nicht-Wähler der Grünen neigen eher zum Wechsel. Ob dieser Zusammenhang als schwacher Einfluß der Mediennutzung interpretiert werden kann, ist hier nicht entscheidbar. Festzuhalten gilt es nur, daß der Anteil der Grünen-Wahler unter den Intensiv-Lesern um etwa 15 Prozentpunkte höher ist als unter den Wenig-Lesern. Zur Messung von kausalen Einflüssen der Mediennutzung auf die Kompetenzzuweisung und die Wahlabsicht als Indikator für Wahlverhalten haben wir verschiedene Pfadanalysen durchgeführt. Der Einflußfaktor Mediennutzung wird dabei differenziert in Einflüsse des Lesens des politischen Teils der beiden regionalen Zeitungen Allgemeine Zeitung, Mainz, und Badische Zeitung, Freiburg, des Lesens überregionaler Zeitungen ("Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Die Welt", "Süddeutsche Zeitung", München, "Frankfurter Rundschau", "Tageszeitung", Berlin) sowie der Wochenzeitung "Die Zeit", der Publikumszeitschrift "Stern" und des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel", des Sehens politischer Magazine in den verschiedenen Fernsehprogrammen. Als konkurrierende Einflußvariablen gelten die Kompetenzzuweisung und die Wahlabsicht der Befragten. Die Pfadanalysen wurden als wiederholt augewandte multiple Regressionen getrennt für "Instabile" (Änderung der Wahlabsicht von 1986 nach 1987) und "Stabile" (unveranderte Wahlabsicht 1986 und 1987) durchgeführt. Die Entscheidung für die Reihung der Variablen zu einer kausalen Ordnung basiert vor allem auf der zeitlichen Anordnung der Messungen in den Panel-Wellen 1, 2 und 3. Die Allgemessenheit dieser Reihung wurde mit dem Verfahren der phasenverschobenen Kreuzkorrelation (cross-lagged panel correlation) für die Variablen Kompetenzzuweisung und Wahlabsicht zu den Zeitpunkten 1986 und 1987 überprüft. Dabei wurde die Richtung der Reihung Komptenzzuweisung - Wahlabsicht für die Gruppe der "Instabilen" - bestlltigt, während dies für die Gruppe der "Stabilen" wegen etwa gleich hoher Koeffizienten in beiden Richtungen nicht entscheidbar war; hier muß eher von einer Kovariation der beiden Variablen ausgegangen werden; den Ausschlag für die Reihung gab also hier die zeitliche Anordnung.

606

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

Schaubild 3: Pfaddiagramm

für die Beziehungen zwischen Mediennutzung, Kompetenzzuweisung und Wahlabsicht (Panel 1986- 1987)

Panel insgesamt .17***

!Zeitung 2~~-----------. .26***

.40***

I

I

lwahl

.25***

.30***1

1-----------lKompetenz 2

IFernsehen zl

.10* 1

1

1

Wahl 2

_

.11*

.22***,.........1 _, Kompetenz 31---lWahl 31

.37*** 1

~----------------~

.10*

Instabile (Änderung der Wahlabsicht 1986- 1987) 2-2*---11 Kompetenz 31-1--·-2- -*-*--ll Wahl 31 IKompetenz 21-l--"I -.39*** I 8

Stabile (Unveränderte Wahlabsicht 1986 -1987) .15* .10*

Berechnungsbasis:

Zeitung: Fernsehen: Kompetenz: Wahl:

Wiederholt angewandte multiple Regression für dichatomisierte Variablen zum Zeitpunkt 1 (1985), 2 (1986) und 3 (1987) Ausgewiesen sind die standardisierten Regressions-Koeffizienten (Beta-Koeffizienten); in das Pfaddiagramm wurden nur Beziehungen mit signifikanten Koeffizienten aufgenommen. N = 486 (Panel insgesamt) N= 89 (Instabile) N= 397 (Stabile). Nutzung der Berichterstattung über die Grünen in der Tageszeitung am Ort (Index der Nutzungsintensität). Nutzung der Politischen Magazine. Zuweisung von Problemlösungskompetenz der Grünen zu Politikfeldern Ökologie, Frieden, Frauen, Demokratische Rechte, Arbeitslosigkeit und Renten (Summen-Index). Wahlabsicht ("Sonntagsfrage").

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

607

Die Ergebnisse der multiplen Regressionsrechnungen sind in Schaubild 3 dargestellt. Medieneinflüsse sind für das Panel insgesamt nur partiell und schwach zu erkennen. Die Wahlabsicht kurz vor der Bundestagswahl1987 wird nicht direkt von der Mediennutzung beeinflußt, sondern nur von den Kompetenzzuweisungen und der Wahlabsicht zum vorangegangenen Meßzeitpunkt. Schwach von Zeitungs- und Fernsehnutzung beeinflußt wurde dagegen die Wahlabsicht zum Zeitpunkt 1986, wobei auch hier die Einflüsse der vorangegangenen Kompetenzzuweisung und Wahlabsicht überwiegen. Der geringe Einfluß des Fernsehens läßt sich - ähnlich wie der geringe Einfluß des Zeitunglesens - aus dem geringen Wirkungspotential dieses Mediums erklären. Die Thematisierung der Grünen in den Nachrichtensendungen und politischen Magazinen von ARD, ZDF, SAT 1 und R1L plus im Bundestagswahlkampf 1987 war minimal. Nur in 1,5 Prozent der von November 1986 bis zur Wahl im Januar 1987 gesendeten Beiträge von Nachrichten- und Magazinsendungen kamen die Grünen zu Wort, nur in rund 5 Prozent wurden sie insgesamt, zumeist von anderen, thematisiert 117• Die Unterscheidung in Instabile und Stabile zeigt, daß ein nur schwacher Medieneinfluß allein bei den Stabilen festzustellen ist. Dies bestätigt die Hypothese, daß das quantitativ geringe, auf wenige Politikfelder zentrierte Wirkungspotential der Zeitungen keine Wirkungen im Sinne von Veränderungen hat. Der stabilisierende Einfluß der Medien wird vor allem bei den Stabilen deutlich. Sowohl bei den Wählern als auch bei den Nicht-Wählern der Grünen wirkt sich der Medieneinfluß in gleicher Weise aus: Er führt nicht zur Änderung der Wahlabsicht Die Instabilen dagegen, die ihre Wahlabsicht ändern, tun dies ohne Medieneinfluß.

6. Resümee und Ausblick

Bei unserer Analyse gingen wir von der besonderen Situation vor der Bundestagswahl 1987 aus, die durch einen einschneidenden Wandel im Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland gekennzeichnet war. Erstmals stellten sich die Grünen als eine seit vier Jahren im Bundestag vertretene Partei zur Wiederwahl. Seit ihrer Gründung als Bundespartei 1980 hatten die Grünen die systembedingte Fünf-Prozent-Hürde nicht nur im Bundestag, sondern auch im Europäischen Parlament und in der Mehrzahl der Landesparlamente überwunden. Bei der Bundestagswahl 1987 ging es deshalb unter anderem um die Frage, inwieweit die Grünen und damit ein Vier-Parteien-System durch das Wählervotum gestützt würden. Die politische Situation vor der Wahl war eindeutig durch eine Polarisierung gekennzeichnet, die in den Wahlkampfstrategien der etablierten Parteien gegenüber den Grünen als kleiner Oppositionspartei zum Ausdruck kam. Von seiten der CDU/CSU wurden die Grünen als undemokratisch ausgegrenzt, von seiten der SPD erhielten sie eine kompromißlose Absage für ein mögliches Bündnis nach der Wahl. Die Grünen hatten zwar in den vorangegangenen Jahren deutlich ein Profil "links von der SPD" als Systemalternative mit dem Ziel grundsätzlicher Veränderungen in Pali117 Vgl. hierzu die Ergebnisse einer Inhaltsanalyse bei Jürgen Sandhöfer, Fernsehnachrichten, Magisterarbeit Freie Universität Berlin 1988 (unveröff.), S. 93.

608

Manfred Knoche/ Monika Lindgens

tik und Gesellschaft herausgebildet. Gleichzeitig war ein Prozeß der Parlamentarisierung und Professionalisierung nicht zu übersehen. Sie hatten sich überraschend schnell von einer "Protestpartei" zu einer "Parlamentspartei" entwickelt, was zu starken innerparteilichen Auseinandersetzungen Anlaß gab. Insbesondere hatten sie sich von einer "EinPunkt-Partei" für Umwelt und Frieden zu einer Partei entwickelt, die aufvielen relevanten Politikfeldern mit eigenen Zielen, Forderungen und Lösungsvorschlägen initiativ geworden war. In dieser politischen Ausgangssituation ließ sich die Rolle der Presse im Prozeß der Politikvermittlung unter einem neuartigen Aspekt untersuchen. Die alte Frage nach der Macht der Medien über die Politik bzw. der Macht der Politik über die Medien konnte am Beispiel einer neuen, kleinen Oppositionspartei behandelt werden. Wie unsere Untersuchungsergebnisse belegen, ist die Presseberichterstattung nicht durch die Thematisierungen von Politikfeldern, Zielen, Forderungen und Lösungsvorschlägen von seiten der Grünen gesteuert oder instrumentalisiert worden, wie es bei den anderen Parlamentsparteien gesehen wird. Trotz erfolgreicher Überwindung der Fünf-ProzentHürde hatten sie statt dessen, ähnlich wie in den beiden vorangegangenen Bundestagswahlkämpfen, noch immer mit Medienbarrieren zu kämpfen. Im Gegensatz zu früher wurden die Grünen zwar nicht mehr vollständig "ausgeblendet". Ihre zunehmende Parlamentspräsenz war also durchaus mit einer erweiterten Medienpräsenz verbunden. Das prinzipiell unvermeidbare journalistische Selektionsverhalten hatte jedoch eine starke Reduktion von Informationen über relevante Politikfelder der Grünen und ihre Wahlprogramm-Schwerpunkte zur Folge. Die Berichterstattung vermittelte vorrangig das nicht realitätsgerechte Bild einer Partei, die hauptsächlich mit sich selbst und anderen beschäftigt ist, aber auf den Feldern Alter und Neuer Politik - mit Ausnahme der Umweltpolitik - nur ein geringes Maß an Aktivität und politischer Kompetenz erkennen läßt. Damit begünstigten die Zeitungen, bewußt oder unbewußt, das Stereotyp einer "EinPunkt-Partei". Eine realitätsgerechte Erweiterung des politischen Profils der Grünen in der Öffentlichkeit, entsprechend ihren realen Aktivitäten auf Politikfeldern wie Wirtschaft, Soziales oder Arbeit, wurde dadurch behindert. Dazu trugen die Grünen zum Teil selbst insofern bei, als sie ihre Schwerpunktsetzungen Neuer und Alter Politik nicht deutlich und konzentriert genug vermittelten. Insgesamt kam die Berichterstattung objektiv den Aus- und Abgrenzungsstrategien der anderen Parteien gegenüber den Grünen entgegen. Sie muß deshalb im Zusammenhang mit der Minorisierung kleiner oppositioneller Parteien im Parteiensystem der Bundesrepublik gesehen werden. Besonders begünstigt wird dabei die Absorptionsstrategie als Teil der Minorisierungsstrategie. Diese ist im Bestreben der anderen Parteien zu sehen, die wichtigen neuen Themen und Politikfelder der Grünen wie Ökologie und Frauen in der Öffentlichkeit selbst zu besetzen. Die Grünen sollen so einerseits als überflüssig, andererseits auf anderen Politikfeldern als inaktiv, inkompetent oder gar systemgefährdend erscheinen. Entsprechend dem geringen und auf ökologische Probleme zentrierten Wirkungspotential fand die Mehrzahl der politischen Ziele, Forderungen und Lösungsvorschläge der Grünen nur eine geringe Resonanz in der Wählerschaft. Wie auch das Wahlergebnis zeigt, haben neue Issue- und Wertorientierungen der Wähler nicht in besonderem Maße

Fünf-Prozent-Hürde und Medienbarriere

609

zu neuen grünen Parteibindungen geführt. Der von Dalton beschriebene "Realigning"Prozeß (Parteibindungsprozeß) scheint vor einer Ausweitung der dritten Phase (Parteibindung an die Grünen) bereits in die vierte Phase überzugehen, nämlich in die Absorption neuer Themen und Wertorientierungen durch die etablierten Parteien sowie in die Rückbildung alter Parteibindungen in der Bevölkerung. Die Wirkung der Presse besteht demnach in ihrer weitgehenden Wirkungslosigkeit, was politische Veränderungen betrifft. Die nur marginale Thematisierung der Politik der Grünen bewirkt, daß ein wesentlicher Teil der politischen Realitat nicht an die Wähler vermittelt wird. Auf dieser Basis besteht schon theoretisch nur eine geringe Möglichkeit, über Politikvermittlung Bewußtseinsveränderungen oder Veränderungen des Wahlverhaltens zu bewirken. Unsere Untersuchungsergebnisse liefern keine Anhaltspunkte für die Vermutung, die Medien bewirkten eine Verbreiterung der gesellschaftlichen Basis von Minderheiten 118• Offensichtlicher ist der Beitrag der Medien zu einer entgegengesetzten Wirkung. Das geringe Wirkungspotential der Politikvermittlung behindert eine Verbreiterung der gesellschaftlichen Basis der Grünen. So kann sich auch zukünftig in der politischen Realität bestatigen: Die Grünen sind zwar ein fester Bestandteil des Parteiensystems, aber mit wenig politischem Einfluß und öffentlicher Resonanz. Mit den Medienbarrieren werden zugleich Systemgrenzen sichtbar. Die Grünen passen mit ihrer sachorientierten Politik nur wenig in die Muster politischer Berichterstattung in Wahlkämpfen, die sich an symbolischer Politik, Personalisierung und Nachrichtenwerten als professionellen Regeln orientiert. Darüber hinaus ist die nur geringe Berücksichtigung einer kleinen politischen Partei durchaus systemkonform, das heißt durch das herrschende Prinzip eines repräsentativen Pluralismus nach Proporz-Gesichtspunkten legitimiert. Die Fünf-Prozent-Hürde des politischen Systems findet also- auch ohne gesetzliche Grundlage - ihre Entsprechung im Mediensystem. In diesem Sinn kann man von einer Symbiose von Medien und Politik sprechen. Eine vor allem in den 70er Jahren auch von Wissenschaftlern angesprochene "kompensatorische Aufgabe" der Medien, die eine überproportionale Berücksichtigung von Minderheiten zur Herstellung von Chancengleichheit im politischen Wettbewerb beinhaltete, wäre heute auch auf die Grünen zu beziehen 119• Eine derartige Empfehlung stößt jedoch deutlich an Systemgrenzen. So wird nicht zufl!llig von verschiedenen Wissenschaftlern mit Hinweis auf eine angebliche Verzerrung durch überproportionale Berücksichtigung von Minderheiten in den Medien eine illegitime Machtausübung der Medien kritisierrl20• Für die reale Existenz derartiger Verzerrungen gibt es allerdings im Falle der Berichterstattung über die Politik der Grünen keine empirischen Belege. Zu beobachten ist vielmehr eine andere Art von

118 119

120

Siehe hierzu Abschnitt 3.3. Vgl. den Überblick über partizipatorische bzw. kompensatorische Ansätze bei Jarren, Politik und Medien im Wandel (Anm. 38), S. 622 f.; eine "kompensatorische Informationsvermittlung" wird -auch bezogen auf die Grünen -angeregt von Langenbucher/Uekermann, Politische Kommunikationsrituale (Anm. 50), S. 58. Vgl. zusammenfassende Hinweise bei Jarren, Politik und Medien im Wandel (Anm. 38), S.

624 f.

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Verzerrung: eine Politikvermittlung in der Presse, die der politischen Realität der Grünen inhaltlich nicht gerecht wird. Es hat den Anschein, als sei die Überwindung von Medienbarrieren für die Grünen schwieriger als die Überwindung von Fünf-Prozent-Hürden. Dies kann nicht überraschen. Denn es ist grundsatzlieh nicht zu erwarten, daß eine Partei als linke Systemalternative erfolgreich ihre Ideen über Medien verbreiten kann, die ein wesentlicher Teil des kritisierten Systems sind. Politisch wie wissenschaftlich von Interesse ist deshalb die Frage, ob die Grünen dennoch eine für sie günstigere Medienrealitat erreichen könnten, wenn sie - unter Beibehaltung ihrer politischen Ziele - allein ihre Politikdarstellung mehr als bisher an den Realitaten des traditionellen Zusammenspiels von Politik und Medien orientierten. Auf der Annahme, daß dies möglich sei, beruhen im Grunde die Aktivitaten von organisierter Öffentlichkeitsarbeit der Grünen. Einer Parlamentarisierung mit ihrer Anpassung an die Regeln des politischen Systems entspricht - so die Logik - eine "Mediatisierung" der Politik, das heißt eine mediengerechte Darstellung von Politik durch Anpassung an die Regeln des Mediensystems. Im Bundestagswahlkampf 1990 könnte eine starkere "Mediatisierung" ihrer Politikdarstellung für die Grünen eine Überlebensfrage sein. Zumindest unter der weitergehenden Zielsetzung, mehr Wahler als bisher zu gewinnen, ist eine für die Grünen günstigere "Medienprasenz" als 1987 eine notwendige Voraussetzung. Das soll nicht heißen, daß sich die Wahlkampfstrategie allein auf die Medien beziehen sollte. Aber die Grünen sind als junge, alternative Partei nach wie vor mehr als andere Parteien darauf angewiesen, daß ihre Ziele, Forderungen und Vorschlage in der Bevölkerung wenigstens bekannt werden. Damit sind sie eindeutig auf die Politikvermittlung aller verfügbaren "etablierten" und "alternativen" Medien angewiesen. Das Verhaltnis der Grünen zu den Medien ist ambivalent. Die Bedeutung der Medien für die Politikvermittlung wird zwar gesehen. Einer "Mediatisierung" der Politikdarstellung steht jedoch unter anderem das politische Selbstverstandnis der Basisorientierung und der Betonung eines Sachprogramms entgegen. Diese Position verkennt jedoch, daß die Medienrealitat auch ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Realitat ist, das heißt der in der Bevölkerung weit verbreiteten Bedürfnisse, Einstellungen und Verhaltensweisen. Wie unsere Analyse zur Bundestagswahl 1987 zeigt, scheitert eine fast ausschließlich an Sachfragen und inhaltlichen Details orientierte Wahlkampfstrategie schon an den Medienbarrieren. Dies hangt unter anderem damit zusammen, daß die Medien sich stark daran orientieren, was sie an die Leser, Hörer und Seher im wörtlichen Sinn "verkaufen" können. Und das sind gegenwartig kaum komplizierte, breit gefacherte Sachprogramme. Notwendig ist zumindest eine deutliche Schwerpunktsetzung mit der Konzentration auf wenige zentrale politische Themen. Noch notwendiger ist eine starkere Einbeziehung von Personen. Eine Entpersonalisierung der Politik, wie sie die Grünen aufgrund ihres Selbstverstandnisses in den bisherigen Wahlkampfen zu realisieren versuchten, ist nicht nur für die Medien, sondern vor allem auch für die Wahler unattraktiv. Würden die Grünen im Bundestagswahlkampf 1990 ihre Politikdarstellung starker als bisher auf das Mediensystem einstellen, ohne ihre politischen Ziele anzupassen, wäre dies eine Herausforderung für die Medien. Zu erwarten waren weitergehende Antworten auf

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die Frage, ob die Medien bei der Vermittlung grüner Politik eher professionellen Regeln oder ihren eigenen politischen Intentionen folgen.

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Kurt Koszyk/Jürgen Prause Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986/87. Eine Themen- und Tendenzanalyse

1. Ausgangslage

Im Juni 1982 behandelte eine Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistikund Kommunikationswissenschaft das Thema "Massenmedien und Wahlen in der Demokratie"1. Die Beiträge sprachen dem Fernsehen in Wahlkampagnen "eine besondere Bedeutung" zu 2• Alle zu Wort gekommenen Parteienvertreter bestätigten diese sehr allgemeine Aussage, in der nicht zuletzt quantitative Argumente angeführt werden Der Tagespresse wird offenbar nur noch eine bescheidene Komplementärfunktion eingeräumt. Für die F.D.P. betonte der Abteilungsleiter Kommunikation und Service, Peter Schröder, daß von seiner Partei Anzeigen in Tageszeitungen "kaum noch geschaltet" werden, eher schon in Programmzeitschriften, Illustrierten und, bei Spezialthemen, in Fach- und ausgewählten Zielgruppenzeitschriften3• Nirgendwo ein Hinweis darauf, daß der redaktionelle Teil der Zeitungen für den Wahlkampf interessant ist. Sollten die von den Parteien arrangierten "Medienereignisse", wie Kongresse, Foren, Redaktionsbesuche von Spitzenkandidaten usw., ohne jede Bedeutung sein, wenn man an die Berichterstattung der Tagespresse denkt? Dennoch wird man der Presse - insbesondere im redaktionellen Teil - neben dem eher kurzfristigen, sehr wohl wahlentscheidenden Mobilisierungseffekt des Fernsehens eine

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Winfried Schulz/Kiaus Schönbach (Hrsg.), Massenmedien und Wahlen, München: Ölschläger 1983 ( Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, B. 11) Klaus Schönbach, Massenmedien und Wahlen- Perspektiven der europäischen Forschung, in: ebd., S. 105, auch S. 18; ders., "The Issues of the Seventies". Elektronische Inhaltsanalyse und die langfristige Beobachtung von Agenda-Setting-Wirkungen der Massenmedien, in: Publizistik, 27. Jg. 1982, H. 1-2, S. 129-139. Vgl. auch die Gewichtung bei Hans-Jürgen Weiß, Die Wahlkampfberichterstattung und Kommentierung von Fernsehen und Tagespresse zum Bundestagswahlkampf 1980, in: Media Perspektiven, 4/1982, S. 263-275. Für eine gewisse Reserve gegenüber der Überbewertung des Fernsehens sprechen ebenfalls die Ergebnisse von Michael Darkow/Michael Buß, Der Bundestagswahlkampf 1980 - ein Ereignis am Rande des Wahlkampfs, in: Schulz/Schönbach (Hrsg.), Massenmedien und Wahlen (Anm.1), S. 446-463 Peter Schröder, Medien in den Wahlkampfstrategien der F.D.P., in: Schulz/Schönbach (Hrsg.), Massenmedien und Wahlen (Anm.1), S. 155-161. Diese Deutung belegt auch die DFG-Enquete Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland, Weinheim: Acta Humaniora, VCH 1987.

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Kurt Koszyk/Jürgen Prause

länger anhaltende, kontinuierliche Wirkung4 mindestens auf jene Wähler-Abonnenten zubilligen können, die an Argumenten interessiert sind und die Politik nicht nur über die Vermittlung des Fernsehens wahrnehmen. Und schließlich gehören Tageszeitungen ebenso sehr in den komplexen Konzeptzusammenhang der Meinungsführer, des MultiStep-flow und des Agenda-Setting. 5 Leider hat es in der Bundesrepublik Deutschland niemals über verschiedene Wahlkämpfe hinweg kontinuierliche Analysen der Presse gegeben. Die vorliegenden inhaltsanalytischen Studien beschränken sich aus methodischen Gründen, wegen der Kosten sowie wegen des Arbeitsaufwands zumeist darauf, punktuell isolierten Themen nachzugehen6. Inhaltsanalysen werden aus ökonomischen Rücksichten nach Möglichkeit schmal konzipiert. Um den engen Rahmen zu überwinden, bediente sich Winfried Schulz 1967 der "Publizistischen Stichprobe", die auf den grundlegenden statistischen Arbeiten von Walter J. Schütz beruht 7• Dieses Instrument stand 1961 noch nicht zur Verfügung, als die Friedrich-Ebert-Stiftung erstmals in Deutschland eine Inhaltsanalyse über die Tendenz der wichtigsten Zeitungen mit selbständiger Mantelredaktion durchführen ließ 8. Aus heutiger Sicht wurde damals ein aufwendiger Umweg beschritten. Allerdings ging es zunächst gar nicht um das Problem der Wirkung von Tageszeitungen, sondern darum, ein Instrument zu entwikkeln, mit dessen Hilfe ihre Tendenz ermittelt werden kann.

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7

8

Vgl. Klaus Schönbach, Journalisten, Medien und Publikum in Wahlkämpfen der Bundesrepublik Deutschland. Versuch einer Bilanz, in: Hans Wagner (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit des Journalismus. Festschrift für Heinz Starkulla, München: Olzog 1988, S. 113-127; Vgl. auch Manfred Knoche/Axel Zerdick/Monika Lindgens/Eva Schabedoth, Selektions-, Konsonanzund Fokussierungseffekte der Presseberichterstattung über Die Grünen im Bundestag im langfristigen Medienwirkungsprozeß. Arbeitsbericht, Maschr. vervielf., Berlin August 1988 (DFG-Forschungsprojekt im Schwerpunktprogramm "Publizistische Medienwirkungen"); Vgl. auch Walter A. Mahle (Hrsg.), Langfristige Medienwirkungen, Berlin: Spiess 1986; Reinhold Horstmann, Journalistische Berufsnorm versus redaktionelle Linie, in: Publizistik, 30. Jg. 1985, H. 2-3, S. 299-313. Vgl. Michael Schenk, Medienwirkungsforschung, Tübingen: Mohr 1987. Vgl. Klaus Merten, lnhaltsanalyse, Opladen: Westdeutscher Verlag 1983; Schönbach, Journalisten (Anm. 4); Klaus Schönbach/Siegfried Weisehenberg u.a., Inter- und Intra-Transaktionen im Medienwirkungsprozeß, Abschlußbericht des von der DFG im Schwerpunktprogramm "Publizistische Medienwirkungen" geförderten Forschungsprojekts, Maschr. vervielf., Hannover I Münster, Mai 1987, S. 59, haben die Lokalteile und die Stadtteilzeitungen der RuhrNachrichten, der Westfälischen Rundschau und der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung für die Zeit vom 23.7. bis 10.11.1984 mit Hilfe der ZUMA analysiert, insgesamt 16583 Artikel. Winfried Schulz, Die Studentendemonstrationen beim Schah-Besuch in Berlin. Ergebnisse einer Inhaltsanalyse der Publizistischen Stichprobe, in: Publizistik, 13.Jg. 1968, H.1, S. 30-43; ders.: Zur Methode der Publizistischen Stichprobe, in: Publizistik, 13. Jg. 1968, H. 2/3/4, S. 330339; Vgl. auch Knoche/Zerdick u.a., Selektionseffekte (Anm. 4), ferner Winfried Schulz (Hrsg.), Der Inhalt der Zeitungen. Eine Inhaltsanalyse der Tagespresse der Bundesrepublik Deutschland (1967), Düsseldorf: Rheinisch-Bergische Druckerei- und Verlagsges. 1970. Vgl. Kurt Koszyk u.a., Presse und Bundestagswahl1961, Maschr. vervielf., Bonn: Forschungsstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung, November 1962.

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

621

1961 hatten schon viele Zeitungen ihr ursprünglich parteipolitisches Profil hin zu einer angeblich unabhängigen, überparteilichen Position entwickelt, wie sie vor 1933 den sogenannten Generalanzeigern9 nachgesagt wurde. Das galt vor allem für die Lizenzpresse der ehemaligen britischen Zone, in der von der Besatzungsmacht bis auf wenige Ausnahmen eine "political party press" mit hoher Auflage und vielen Nebenausgaben installiert worden war 10• Fünfundzwanzig Jahre nach der ersten Untersuchung entstand im Zusammenhang mit einem Seminar am Institut für Journalistik der Universität Dortmund der Wunsch, erneut eine Tendenzanalyse durchzuführen. Die vorhandenen Ressourcen ließen allerdings weder eine Gesamterhebung auf der Basis der Publizistischen Stichprobe zu, noch erschien es sinnvoll, nach dem 1961 angewendeten Verfahren vorzugehen. Eine auf das Ruhrgebiet begrenzte Studie bot sich an, um sowohl den wenigen Teilnehmern des Seminars (Studierende der Journalistik mit vor allem praktischen Interessen) methodische Einsichten zu vermitteln als auch Ergebnisse aus einer für den Verlauf des Wahlkampfs besonders interessanten Region zu erarbeiten. Die Entscheidung für das Ruhrgebiet lag nahe. Mit einer Strukturuntersuchung waren 1974 erste Erfahrungen gesammelt worden 11 • Damals richtete sich das Interesse auf die vier im Ruhrgebiet erscheinenden, redaktionell selbständigen, nicht standortgebundenen Tageszeitungen "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" (WAZ, Essen), "Westfälische Rundschau" (WR, Dortmund), "Neue Ruhr-Zeitung" (NRZ, Essen) und "Ruhr-Nachrichten" (RN, Dortmund). Unmittelbar nach Abschluß der Untersuchung von 1974 kam ein Umstrukturierungsprozeß in Gang, in dessen Verlauf nacheinander die "Westfälische Rundschau", die "Neue Ruhr-Rhein Zeitung" und schließlich auch die Hagener "Westfalenpost" unter das Dach der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitungsverlagsgesellschaft Erich Brost und Jakob Funke mbH & Co KG." in Form verlegerischer Kooperation, aber redaktioneller Selbständigkeit schlüpften 12• Der anfänglich vielfach bezweifelte Erfolg der WAZ-Kooperation und die zugesicherte Selbständigkeit der teilweise politisch divergierenden Redaktionen macht gerade eine neue Tendenzanalyse sinnvoll. Auch das Profil der "Ruhr-Nachrichten" veränderte

9

Vgl. Emil Dovifat, Generalanzeiger, in: Walther Heide (Hrsg.), Handbuch der Zeitungswissenschaft, Bd. I, Leipzig: Hiersemann 1940, Sp. 1217-1230. 10 Vgl. Kurt Koszyk, Pressepolitik für Deutsche 1945-1949, Berlin: Colloquium 1986, bes. S. 154198. 11 Vgl. Kurt Koszyk/Bemd Grobe, Zeitungsstruktur im Ruhrgebiet. Gutachten für das Presseund Informationsamt der Bundesregierung, Maschr. vervielf., Bochum Juni 1975. Da die "Westfalenpost" damals den Mantel von den "Ruhr-Nachrichten" bezog, wurde sie nicht gesondert in die Analyse einbezogen. Vgl. Walter J. Schütz, Wettbewerbsbedingungen und Konzentrationstendenzen der deutschen Tageszeitungen, in: Publizistik, 8. Jg. 1963, H.4, S. 363379, Vgl. auch Bemd-Peter Lange/Uirich Pätzold, Medienatlas Nordrhein- Westfalen, 3 Teile, Bochum: Schürmann & Klagges 1983. 12 Vgl.Hans Janke, Riese im Revier: Die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung", in: Michael Wolf Thomas (Hrsg.), Porträts der deutschen Presse, Berlin: Spiess 1980, S. 45-61; Holger Rust, Alp( en)-Träume, in: journalist, 6/1988, S. 37-40.

Kurt Koszyk/Jürgen Prause

622

sich nach dem Ableben ihres Gründers Lambert Lensing 1965 und unter dem Eindruck der mächtig wachsenden Konkurrenz aus Essen unübersehbar, nicht zuletzt, seit der junge Verleger Florian Lensing-Wolff die Chefredaktion selbst übernommen hat 13• Die "Westfälische Rundschau" wurde 1946 für die SPD lizenziert, und sie hatte dieses Profil auch noch 1961. Die "Neue Ruhr-Zeitung" stand dieser Partei nahe, verhielt sich aber im Wahlkampf 1961 zurückhaltender als das Dortmunder Blatt. Die "Westfalenpost" erschien seit 1946 als Lizenzblatt der CDU 14• Die WAZ, 1948 als unabhängiges Blatt von den Briten lizenziert, zeigte 1961 keine ausgeprägte Tendenz. In Leitartikeln wurde aber die Kampfweise der CDU gegen die SPD moniert 15 • Die in unsere Analyse einbezogenen redaktionellen (Mantel-)Teile hatten im 4. Quartal 1986 folgende verbreitete Auflagen: 242 000 (davon ein Teil im Münsterland und im Raum RN Unna verbreitet) 731 000 (davon ein Teil am Niederrhein verbreitet) WAZ 235 000 (davon ein Teil im Sauerland verbreitet) WR 202 000 (davon ein Teil am Niederrhein verbreitet) NRZ 169 000 (hauptsächlich im Sauerland verbreitet) WP Summe der Regionalpresse 1579 000

Weil knapp 30 Prozent der bundesdeutschen Wählerschaft in Nordrhein-Westfalen leben, ist die Entscheidung in diesem Bundesland bedeutsam. Die Sozialdemokraten stellten 1986 Ministerpräsident Johannes Rau gegen Bundeskanzler Helmut Kohl auf. Dabei spielte das Ergebnis der NRW-Landtagswahl vom 12. Mai 1985 eine erhebliche Rolle 16• Gegenüber dem Ergebnis vom 11. Mai 1980 konnte die SPD im Ruhrgebiet ihren Anteil nochmals um vier Prozent auf 62,6 Prozent steigern, während die CDU mit 28 Prozent

Chefredakteur Robert Schmelzer, heute Herausgeber der "Westfalenpost", den Ton in den "Ruhr-Nachrichten• an. Er ließ keine Gelegenheit aus, den Spitzenkandidaten der SPD, Willy Brandt, anzugreifen. In seinem Leitartikel vom 16.9.1961 schrieb Schmelzer: "Mich erregt die Möglichkeit, einen deutschen Bundeskanzler zu haben, der Partisanen Ratschläge erteilt hat, wie man deutsche Soldaten umlegen kann.• Die RN versorgen heute u.a. die "Recklinghauser Zeitung• und den "Hellweger Anzeiger• (Unna) mit ihrem Mantel. 14 Vgl. Koszyk u.a., Presse und Bundestagswahl 1961 (Anm. 8), S. 236, 239, 244, 248. Vgl. auch Heinz-Dietrich Fischer, Parteien und Presse in Deutschland seit 1945, Bremen: Schünemann 1971, der die "Neue Ruhr-Zeitung• nicht erwähnt; Karl Hugo PruysNolker Schulze, Macht und Meinung. Aspekte derSPD-Medienpolitik, Köln: Wissenschaft und Politik 1975. 15 Chefredakteur Siegfried Maruhn kommentierte Adenauers Äußerung, Chruschtschow habe der SPD mit der Berlin-Krise geholfen, am 30.8.1961 dahingehend, diese Methode der Polemik könne "nur auf den Urheber zurückfallen". 16 Vgl. Ursula Feist/Hubert Krieger, Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 12. Mai 1985. Stimmungstrend überrollt Sozialstrukturen oder: Die Wende ist keine Kaffeefahrt, in: ZParl, 3/1985, s. 355-372.

13

1961 gab der damalige

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986/87

623

fast sechs Prozentpunkte verlor. An Rhein und Ruhr bildete sich eine SPD-Dominanz heraus. Johannes Rau wurde von den SPD-Wahlkampf-Strategen nach dem Machtwechsel in Bonn 1982 als "HoffnungstrSger" aufgebaut. Praktisch blieb der SPD, nachdem Hans-Jochen Vogel am 6. MSrz 1983 Helmut Kohl unterlegen war, nichts anderes übrig, als mit einem neuen zugkrSftigen Spitzenkandidaten in den Wahlkampf 1986/87 zu gehen. Die Entscheidung für Rau fiel den Sozialdemokraten um so leichter, als er im Mai 1986 bei den durchschnittlichen Bewertungen in den Meinungsumfragen mit + 1,1 deutlich vor Kohl (- 0,1) lag 17• Unter dem frischen Eindruck der Tschernobyl-Katastrophe erreichten die Oppositionsparteien SPD und Grüne im "Politbarometer" 18 im Mai 1986 bundesweit einen Wert von 49 Prozent gegenüber nur 44 Prozent von CDU/CSU und F.D.P. Aber im Juni 1986 drehte sich der Wind. Am 11. August 1986 berichtete die "Süddeutsche Zeitung", daß die Wetten 1 : 9 gegen das Wahlziel von Rau stünden, mit der SPD die absolute Mehrheit der Mandate im Bundestag zu erringen. Als vier Tage spSter mit Äußerungen von Klaus Bölling über Rau Kritik sogar aus den Reihen der SPD kam, schien die CDU vollends Oberwasser zu haben. Ihr Generalsekretar Heiner Geißler sah "Mehltau von Mitleid und Skepsis" auf die Oppositionspartei niedergehen, sprach von den "zu großen Schuhen" des nordrhein-westfalischen MinisterprSsidenten und bezeichnete Rau als "nlhlkandidaten". Die Berichterstattung über den SPD-Parteitag in Nürnberg demotivierte die WShler weiterhin wegen der "Fiügelkämpfe" in der SPD, über die in den Medien berichtet wurde. Norbert Blüm, nie um schlagfertige Parolen verlegen, zieh die Opposition, in die "grüne Traumfabrik" eingestiegen zu sein. Und Kar! Schiller ließ es sich nicht nehmen, das SPDWirtschaftskonzept von Nürnberg zu kritisieren. Für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" "kippte" die SPD bereits Anfang September 1986, als die CDU einen "rot-grünen Sieg" mit dem "Niedergang Deutschlands" gleichsetzte. "Die Welt" bezeichnete Helmut Kohls AutoritSt am 3. September 1986 als unumstritten. Allgemein wurde das Ergebnis der Landtagswahl in Niedersachsen am 15. Juni 1986 als Wende im Meinungstrend interpretiert. Den weiteren Verfall der Wahlaussichten der Opposition markierten die Landtagswahlen in Bayern am 12. Oktober 1986 und in Harnburg am 9. November 1986. Obwohl die CSU um 2,5 Prozent auf 55,8 Prozent abnahm, verbuchte die SPD in Bayern ein Minus von 4,4 Prozent und sackte auf 27,5 Prozent ab. Offenbar hatten die Grünen, die mit 7,5 Prozent erstmals in den bayerischen Landtag einzogen, der SPD geschadet. In Harnburg waren die Verluste der SPD derart, daß sie statt einer absoluten Mehrheit nurmehr 41,7 Prozent erreichte und die CDU gar mit 41,9 Prozent stärkste Fraktion

17 Vgl. Wolfgang G. Gibowski/Max Kaase, Die Ausgangslage für die Bundestagswahl am 25. Januar 1987, in Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl1983, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986, S. 509543. 18 Mitschriften des "Politbarometers", wie es von Klaus Bresser regelmäßig auf der Grundlage der Repräsentativumfragen der Forschungsgruppe Wahlen im ZDF vorgestellt wird, standen den Dm1munder Seminarteilnehmern für die Zeit vom 2.9.1986 bis21.1.1987 zur Verfügung.

624

Kurt Koszyk}Jürgen Prause

wurde. Da die SPD eine Koalition mit den Hamburger Grün-Alternativen, die 10,4 Prozent erzielten, ablehnte, schleppte sich bis zur Neuwahl am 12. Mai 1987 hin, was als "Hamburger Verhältnisse" bezeichnet wurde 19. Offenbar hatte Rau als Spitzenkandidat bereits ausgedient, bevor der Bundestagswahlkampf richtig in Schwung kam. Er bot am 10. November 1986 denn auch seinen Rücktritt von der Kandidatur an. Die ökologischen Pannen am Rhein und Kohls rhetorische Entgleisungen (Goebbels-Gorbatschow-Vergleich und KZ in der DDR) schadeten entweder nicht oder erwiesen sich als geradezu hilfreich für die CDU-Wahlstrategie. Die SPD hatte mit sich selbst genug zu tun. Egon Bahr schrieb nach dem Hamburger Desaster im "Vorwärts": "Wir kämpfen nicht mehr um die Mehrheit ... wir müssen die absolute Mehrheit der Union verhindern." SPD-Vorstandssprecher Wolfgang Clement warf das Handtuch. Raus Landesgeschäftsführer Bodo Hornbach verließ die zentrale SPDWahlkampfleitung wegen "Banner Intrigen", hinter denen viele Willy Brandt witterten. In Nordrhein-Westfalen organisierte Hornbach einen "Sonderwahlkampf'. Die Endphase vom November 1986 bis Januar 1987 bot sich deshalb für eine Analyse der Regionalpresse im Ruhrgebiet besonders an.

2. Hypothesen

Für die Hypothesenbildung konnte auf Überlegungen zurückgegriffen werden, die 1980 einer Bewertungsanalyse der Münsteraner Tagespresse am Beispiel der Kanzlerkandidaten (Schmidt und Strauß) zugrundegelegt wurden 20. Untersucht werden sollte ferner, wie sich die Kooperation von Zeitungen unterschiedlicher Tendenz in einer Verlagsgesellschaft auf die Berichterstattung in Wahlkämpfen auswirkt 21 . Die für die Medien wie für unsere Gesellschaft behauptete "Entpolitisierung" müßte, wäre sie nachweisbar, Konsequenzen in der redaktionellen Arbeit haben. Die politische Struktur eines Verbreitungsgebiets kann nicht ohne Folgen für die Linie einer Zeitung sein. Journalisten müssen in ihren Texten Rücksicht auf die bei Umfragen und Wahlen erkennbaren Mehrheitsmeinungen im Verbreitungsgebiet ihrer Zeitung nehmen. Schon für den Wahlkampf 1976 stellten Hans Mathias Kepplinger und Gabriela Ohl fest, daß die Gesamttendenz von Zeitungen nicht mit der Tendenz einzelner Journalisten-Aussagen übereinstimmt. 22 Da19 Vgl. Max Kaase/Wolfgang G. Gibowski, Die Landtagswahlen 1987/88, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30-31/88,22.7.1988, S. 3-18. 20 Vgl. Horstmann, Berufsnorm (Anm.4); Vgl. auch Blanca und Wemer Degenhardt/ Heinz R. Uekermann, Bedingungen der Themenstruktur des politischen Publikums im Wahlkampf 1980, in: Schutz/Schönbach (Hrsg.), Massenmedien und Wahlen (Anm. 1), S. 321-341. 21 Wie die Konzentration von zwei politisch konträren Regionalzeitungen die redaktionelle Linie beeinflußt, untersuchen am Beispiel der "Neuen Westfälischen" Bernd Grobe/Gerd Depenbrock/Gernoth Grunst, Der Bundestagswahlkampf 1972 in den Tageszeitungen der Zeitungsregion Bielefeld, 3 Teile, Maschr. vervielf. Bochum 1973. 22 Vgl. Hans Mathias Kepplinger/Gabriela Ohl, "Bei keiner Zeitung stimmte die Gesamttendenz der Berichterstattung mit der Tendenz der Journalisten-Aussagen überein", in: die feder, 19. Jg. 1980, Nr. 10, S. 8-10.

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

625

nach wurde in vielen Zeitungen heute mehr als früher Pluralismus der Meinungen geduldet. Aus dem Kommunalwahljahr 1984 liegen Ergebnisse einer Befragung von 36 Lokaljournalisten sowie einer Analyse der Lokalteile der in Dortmund verbreiteten Regionalzeitungen RN, WR und WAZ vor23 . Befragungen der Redakteure bestätigten, daß in der WR-Redaktion die zu erwartende SPD-Praferenz und in der RN-Redaktion die CDU-Praferenz ausgeprägt waren. Allerdings wurde der Dortmunder Oberbürgermeister (SPD) von den RN-Redakteuren positiver beurteilt als seine Partei, während bei den WR-Redakteuren der CDU-Spitzenkandidat besser bewertet wurde als die CDU. Die WAZ-Redaktion zeigte kein ausgeprägtes Parteiprofil, sondern SPDfreundliche "Ausgewogenheit". Der SPD-Oberbürgermeister lag in der Sympathieskala bei den WAZ-Redakteuren zeitweise sogar hinter dem CDU-Kandidaten. Schönbach/Weischenberg kommen zu dem Urteil, "daß die Dortmunder Zeitungen - bei allen Unterschieden im Detail- auch im Bewußtsein der dort angesiedelten Journalisten deutlich unterschiedliche Positionen besetzen, und daß die Journalisten mit diesen Positionen jeweils recht gut übereinstimmen". Dieses Profil dürfte in den Mantelredaktionen noch ausgeprägter sein. Der Inhalt der Sparten Politik und Wirtschaft während des Bundestagswahlkampfs 1986/87 ist dafür ein Gradmesser. Am lohnendsten für eine Tendenzanalyse scheint das in den letzten Jahren von der Umfrageforschung entwickelte Konzept der "Problemlösungskompetenz"24 zu sein. In eine Wahlanalyse der Presse können damit Kategorien übernommen werden, die sich bei Umfragen als die im Bewußtsein der Bevölkerung vorherrschenden und in der Konsequenz auch in den Wahlkampfkonzepten der Parteien herauskristallisierenden Themen erweisen. Haben diese Themen in der Presseberichterstattung eine davon abweichende Priorität, so ist eher daraus zu schließen, daß die Redaktionen ihre Linie nicht von solchen Meinungsbefunden bestimmen lassen. Im einzelnen wurden für unsere Analyse folgende filnf Hypothesen formuliert und überprüft: 1. Die Thematisierung der Berichterstattung wird von den Strategien der Parteizentralen beeinflußt. Die Parteien schaffen Anlässe für die Berichterstattung, die deshalb weitgehend außengeleitet ist. 2. Die redaktionelle Selektion und Präsentation sowie die Beurteilung der Parteien sind symptomatisch für die Parteipräferenz einer Zeitung. 3. Die Beurteilung der Spitzenkandidaten läßt auf das Tendenzprofil einer Zeitung schließen.

23 24

Vgl. Schönbach/Weischenberg u.a., Medienwirkungsprozeß (Anm. 6), S. 59ff, 71ff. Zu Beginn der Arbeiten stand der Aufsatz von Wolfgang G. Gibowski/Max Kaase (Anm. 17), in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/1986, S. 3-19, zur Verfügung. Danach hatten laut EMNID seit 1984 folgende Themen Priorität in der "öffentlichen Meinung": Arbeitslosigkeit, Rentensicherung, Umweltschutz, seit 1986 akzentuiert durch Tschernobyl, Wirtschaftskonjunktur und Staatsverschuldung.

626

Kurt Koszyk/Jürgen Prause

4. Eine Zeitung beurteilt eine Partei und ihre Kandidaten oft unterschiedlich. Das Urteil über Parteien fallt negativer aus als das über ihre Spitzenkandidaten. 5. Das Urteil von Zeitungen über die Spitzenkandidaten korreliert positiv mit den Ergebnissen der Umfrageforschung.

3. Analyseverfahren

Bei den Medienanalysen übetwiegen Themen- und Tendenzanalysen. Die Theorie der Inhaltsanalyse läßt viele Vorgehensweisen zu, solange die Stichprobe, die Kategorienbildung, die Bewertung und die Interpretation der Ergebnisse Zuverlässigkeit und Gültigkeit garantieren25 • Unsere Stichprobe bezog sich auf die Hauptausgaben der WAZ, WR, NRZ, RN und auf die Hagener Ausgabe der WP. Aus den Monaten November 1986 bis Januar 1987 wurden zwölf Ausgaben ausgewählt und zwei "künstliche" Wochen gebildet. In den Ausgaben vom 3., 11., 19. und 27. November, vom 5., 13., 15., 23. und 31. Dezember 1986 sowie vom 8., 16. und 24. Januar 1987 wurden die Seiten der Sparten Politik und Wirtschaft auf "wahlkampfrelevante" Themen hin untersucht und die Ergebnisse anhand von 25 Kategorien codiert 26 • Die Kodierung der Fundstellen betraf außer den formalen Kriterien (einschließlich Länge eines Artikels, Plazierung, Illustration, Darstellungsformen, Quellenangaben) die Themengruppen Innenpolitik, Außenpolitik, Wirtschafts- und Finanzpolitik, Sozialpolitik, Umweltschutz, Organisations- und Personalfragen der Parteien sowie den Wahlkampfverlauf. Diese Themen wurden den Bundestagsparteien und den jeweils genannten Politikern zugeordnet. Die Bewertung erfolgte nach dem Urteil des Kodierers in positiv, negativ, neutral und bei Zweifelsfällen als "unklar". Kodiert wurde auch, ob eine Partei oder ein Politiker als Subjekt oder als Objekt einer Aussage auftraten.

25

Vgl. zu den Vor- und Nachteilen der computerunterstützten Inhaltsanalyse und der von uns angewendeten konventionellen Vorgehensweise mit Codierern den Beitrag von Werner Früh, Konventionelle und maschinelle Inhaltsanalyse im Vergleich: Zur Evaluierung Computerunterstützter Bewertungsanalysen, in: Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Computerunterstützte Inhaltsanalyse in derempirischen Sozialforschung, Frankfurt a.M.: Campus 1984, S. 35-53.

26

Die Verarbeitung erfolgte mit Hilfe des Statistical Analysis System (SAS) im Rechenzentrum der Universität Dortmund. Vgl. Jane T. Helwig, SAS IntroductOJy Guide, Raleigh, N.C.: SAS Institute Inc. 1978. Für Anregungen sei Frau Dipi.-Volksw. Elisabeth Schach gedankt. Die ursprünliche Absicht, die von den "Ruhr-Nachrichten" dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Speicher der ausgewählten Tagesausgaben direkt für die Datenverarbeitung heranzuziehen, scheiterte an technischen Schwierigkeiten. Deshalb wurde nicht versucht, auf die Textspeicher der WAZ-Gruppe zurückzugreifen. Da es sich um ein inhaltlich und zeitlich begrenztes Projekt handelte, gab es keinen Bedarf, den Analyseentwurf während der Kodierungsphase zu revidieren. Vg. dazu Pierre Lanfranchi, lntroduction to Computer-Aided Content Analysis Methods in History and Social-Science, Maschr. vervielf., Florenz: European University Institute Dezember 1986; Vgl. auch Klaus Schönbach, Elektronische Inhaltsanalyse in der Publizistikwissenschaft, in: Publizistik, 24. Jg. 1979, H. 4, S. 449-457.

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

627

Strittige Fälle der Kodierung, vor allem der Bewertung, wurden in der Kodiergruppe ausführlich erörtert, um auf diese Weise eine möglichst homogene Datenstruktur zu erreichen. Die erkennbare tendenzielle Abweichung von den Ergebnissen bisheriger Bewertungsanalysen bei den "Ruhr-Nachrichten" ist darauf zurückzuführen, daß der Kodierer bei der Einordnung in die Kategorien positiv und negativ restriktiv verfuhr. Dies hat aber keinen Einfluß auf die Interpretation des dennoch erkennbaren Profils dieser Zeitung. Ihre Redaktion bemüht sich offenbar besonders geschickt darum, in einem mehrheitlich von SPD-Anhängern geprägten Vertriebsgebiet der präferierten Partei nicht durch positiv wertende Aussagen, sondern durch quantitativ stärkere Berücksichtigung im redaktionellen Teil zu dienen. Die in den folgenden Ergebnissen genannten Grundgesamtheilen (n = x) beziehen sich auf die Frequenz der Fundstellen in Sätzen. Bei den Parteien und Politikern wurden auch die pronominalen Formen gezählt. 27

4.

Ergebnisse

Der Umfang der Thematisierung in der Berichterstattung ist bei den einzelnen Zeitungen sehr unterschiedlich. In allen Fällen wurden die politischen Themen von der Dynamik des Wahlkampfs beherrscht. Aber die Redaktionen nehmen ihre GatekeeperFunktion deutlich wahr, wie sich schon an dem unterschiedlichen Umfang der Themennennungen nach unserem Kategorienschema bei WAZ (n=622), WR (n=865), NRZ (n=1111), WP (n=604) und RN (n=727) zeigt. Einen Hinweis auf das Tendenzprofil der Zeitungen liefert die Struktur der Bewertung. Bei der WAZ ist die Bewertung am deutlichsten ausgeprägt, ganz gleich in welcher Darstellungsform (nur 37,6 Prozent aller Nennungen sind neutral), bei den RN am wenigsten (85,8 Prozent neutral), WR (50 Prozent), NRZ (63,1 Prozent) und WP (63,8 Prozent) liegen mit ihren neutralen Nennungen weit über dem WAZ-Wert. Das Bild wird aber deutlicher, wenn man die positiven und negativen Nennungen vergleicht. Während die WAZ eher ausgewogen erscheint (33,5 Prozent positiv: 28,5 Prozent negativ), überwiegt bei allen anderen Zeitungen die kritische Darstellung: WR 18,3 Prozent: 31,7 Prozent, NRZ 9,9 Prozent: 22,7 Prozent, WP 9,1 Prozent: 27,1 Prozent und RN 4,2 Prozent: 10 Prozent aller Nennungen. Wenn Zeitungen ein Urteil fällen, so gerät es ehernegativ als positiv. Das ist ein Hinweis auf die Wahrnehmung einer Kritikfunktion. Negative Nachrichten werden von Redaktionen eher berücksichtigt als positive, oder anders ausgedrückt: Zeitungen bevorzugen Reizthemen 28 •

27

28

Die Datenauswertung orientiert sich an den jeweiligen Quantitäten. Nicht in allen Fällen können die Hypothesen eindeutig verifiziert oder falsifiziert werden. Das gewählte Verfahren stößt an gewisse Grenzen, die in der Interpretation zu verdeutlichen sind. Inwieweit das auf die Konkurrenz mit der Kaufpresse zurückzuführen ist, müßte überprüft werden.

628

4.1.

Kurt Koszyk/Jürgen Prause

Ergebnisse zu Hypothese 1

"Die Thematisierung der Berichterstattung wird von den Strategien der Parteizentralen beeinfluß!. Die Parteien schaffen Anlässe filr die Berichterstattung, die deshalb weitgehend außengeleitet ist." Alle fünf untersuchten Zeitungen räumen dem Wahlkampf großes Gewicht in ihrer Berichterstattung ein, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Am stärksten ausgeprägt ist die Dominanz der Organisations- und Personalfragen einschließlich der Wahlkampfthemen in der WP, in der diese mit 48 Prozent fast die HHtfte aller Themennennungen ausmachen. Zum Vergleich: Darauf entfallen 41 Prozent der Nennungen in der NRZ, 32,8 Prozent in der WAZ und 29,8 Prozent in der WR. Den niedrigsten Anteil an der Berichterstattung haben die Wahlkampfthemen in den RN mit 20,2 Prozent.

Schaubild 1: Thematische Aufgliederung der Berichterstattung (Durchschnittswerte für alle Untersuchungszeitungen)

t.lAHLKAHPF

IIIIIENPOLITIK

34.. 4~

'3.4~

AUSSENPOLITIK 28.6:1.

UHt.lELTPDLITIK 6.3~

SOZIALPOll TIK t.liRTSCKRFTSPOLITIK n = 39B

2.2~

29 . 2i:

Verglichen mit dem Wahlkampf, der im Durchschnitt (bezogen auf alle untersuchten Zeitungen) 34,4 Prozent der Themennennungen ausmacht, ist der Anteil der übrigen innenpolitischen Themen generell niedrig: Er betragt durchschnittlich nur 9,4 Prozent. Die Außenpolitik kommt auf durchschnittlich 20,8 Prozent, wirtschaftspolitische Themen erreichen 20,2 Prozent. Kaum ins Gewicht Hlllt die Sozialpolitik mit einem durchschnittli-

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

629

chen Anteil von 2,2 Prozent. Auf immerhin 6,3 Prozent kommt im Durchschnitt die Umweltpolitik (dank eines beherrschenden Themas: der Rheinverseuchung). Tabelle 1:

Die am häufigsten vorkommenden Einzelthemen (in %)

inderWAZ: (n = 622)

1. Wahlkampfverlauf 2. sonstige Themen 3. Harnburg-Wahl 4. Wahlziele 5. Waffenexporte 6. Terrorismusbekämpfung 6. Neue Heimat 7. Kohle und Stahl 8. Verhältnis zur UdSSR 9. Preise/Inflation 10. InnenpoL sonstiges

13,0 11,4 9,0 7,4 7,1 5,3 5,3 5,0 4,7 2,9 2,7

in derWR: (n = 865)

1. Waffenexporte 2. Wahlkampfverlauf 3. Koalitionsfragen 4. InnenpoL sonstiges 4. Neue Heimat 5. Terrorismusbekämpfung 6. Tarifpolitik 7. Harnburg-Wahl 8. Verhältnis zur UdSSR 9. Auseinandersetzung mit dem pol. Gegner 10. Arbeitsmarkt

10,2 8,9 8,4 7,9 7,9 6,5 5,3 4,7 4,4

inderNRZ: (n = 1111)

1. Auseinandersetzung mit dem pol. Gegner 2. Waffenexporte 3. Harnburg-Wahl 4. Wahlkampfverlauf 5. Wahlkampf/sonstiges 6. Wahlziele 7. Verhältnis zur DDR 8. Kohle und Stahl 9. Terrorismusbekämpfung 9. Arbeitsmarkt 9. Neue Heimat 9. Koalitionsfragen

inderWP: (n = 604)

1. Wahlkampfverlauf 2. Auseinandersetzung mit dem pol. Gegner 2. Meinungsumfragen 3. Waffenexporte 4. Harnburg-Wahl 5. Terrorismusbekämpfung 6. Koalitionsfragen 7. Rheinverseuchung 8. Verhältnis zur UdSSR 9. Verhältnis zur DDR 10. Neue Heimat

3,8 3,7 10,2 7,8 5.7 5,4 5,3 5,1 4,1 3,7 3,6 3,6 3,6 3,6 15,7 6,8 6,8 5,8 5,6 5,3 5,1 4,8 4,6 4,3 4,1

630 in den RN:

(N = 727)

Kurt Kos:zyk/Jürgen Prause 1. sonstige Themen 2. Neue Heimat 3. Waffenexporte 4. Harnburg-Wahl 5. Verhältnis zur UdSSR 6. Auseinandersetzung mit dem pol. Gegner 7. Wahlkampfverlauf 8. Kernkraft 9. Koalitionsfragen 9. Konjunktur 10. Steuerreform

15,4 7,6

7,2 5,1

5,0 4,1 3,9

3,4 3,3 3,3 3,0

Wichtige politische Themen, die sich in allen untersuchten Zeitungen unter den zehn Mutigsten finden, sind: Waffenexporte (dieses Thema kommt vom 27.11.1986 an fast durchgängig bis zum Wahltag vor, die WAZ berichtet allerdings seltener); Terrorismusbekilmpfung (in den RN nur an 12. Stelle, dieses Thema spielt im November eine große Rolle und kommt dann noch einmal Mitte Dezember vor); Neue Heinuu (in der WR und den RN nahezu durchgangig bis zum 8.1., in der WAZ nur am 19.11., 5.12.1986 und 8.1.1987); Verhtiltnis zur UdSSR (dieses Thema kommt zu rund 80 Prozent in den ersten fünf Untersuchungsausgaben vor). Nicht in allen Zeitungen unter den zehn Mutigsten Themen befinden sich: die Rheinverseuchung (bei der WR und den RN an elfter Stelle); Kohle und Stahl (in der WAZ an siebenter Stelle, in der NRZ an achter Stelle, in der WR an elfter Stelle); Tarifpolitik (nur WR); Preise/Inflation (nur WAZ); Steuerrefonn (nur RN); Kernkraft (nur RN). Ein so wichtiges Thema wie Arbeitsmarkt/Arbeitslosigkeit findet sich nur in zwei Zeitungen, der WR (mit 3,7 Prozent) und der NRZ (mit 3,6 Prozent), unter den zehn häufigsten Themen. In den RN kommt es nur auf einen Anteil von 1,9 Prozent , in der WAZ auf nur 1,8 Prozent. Wahlkampfthemen sind erwartungsgernaß generell im Kommentar besonders ausgepragt. Wahlkampfverlauf, Wahlziele und Koalitionsfragen sind die bevorzugten Kommentarthemen. Mit Ausnahme der RN kommentieren alle untersuchten Zeitungen den Wahlkampf Mutiger, als es seinem generellen Anteil an der Berichterstattung entspricht: WAZ in 38,7 Prozent, WR in 41,3 Prozent, NRZ in 47,2 Prozent, WP in 51,5 Prozent, RN in 17,6 Prozent der Kommentare. Eine Sekundarquelle, die direkten Aufschluß über den Anlaß der Berichterstattung gibt und somit auch über den Parteieneinfluß auf diese, wird in den untersuchten Artikeln in den meisten Fällen nicht angegeben (WAZ 91,6 Prozent; WR 82,4 Prozent; WP 80 Prozent; RN 60,5 Prozent). Unter den wenigen angegebenen Sekundllrquellen haben Parteisprecher, Regierungssprecher und Wahlkundgebungen einzelner Parteien den größten Anteil. Parteisprecher werden in den RN zu 8,3 Prozent, in der WAZ nur zu 1,1 Prozent als Sekundl!rquelle angegeben, Regierungssprecher am Mutigsten in den RN

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

631

mit 4,4 Prozent, Wahlkundgebungen am häufigsten in der WR mit 5,7 Prozent aller Beitrilge29. Nach Baerns30 dominiert Öffentlichkeitsarbeit, im vorliegenden Falle der Parteien, die journalistische Arbeit und alle Quellentypen. Bei Tagespresse-, Hörfunk- und Fernsehtexten wurde eine solche Abhängigkeit von jeweils über 60 Prozent festgestellt, bei den Nachrichtenagenturtexten von 59 Prozent. König bestiltigt diesen Befund im wesentlichen, modifiziert ihn aber dahingehend, daß die Zeitungsredaktionen sich mehr an der Textverarbeitung durch Nachrichtenagenturen orientieren als an anderen Sekundilrquellen, selbst wenn ein Ereignis vom Erscheinungsort der Zeitung zu berichten ist. Medien, so König verallgemeinernd, neigen zur "Quellenverschleierung". Unsere Ergebnisse deuten in die gleiche Richtung, mit durchaus unterschiedlicher Gewichtung. Hypothese 1 lilßt sich also nicht direkt bestiltigen, aber auch nicht direkt verwerfen. Unterschiedlich ausgeprilgt tendieren die Redaktionen dazu, Quellen der Berichterstattung nicht anzugeben. Den RN ist zu bescheinigen, daß sie dabei positiv auffallen. Indirekt wird der Umfang der Berichterstattung jedoch stark von den Veranstaltungen der Parteien beeinflußt. Zum Beispiel gehen bei der WR zu 23,4 Prozent Berichte über den "Wahlkampfverlauf' auf Wahlkundgebungen einer Partei zurück, bei den RN zu 21,4 Prozent, bei der WAZ aber nur zu 8,6 Prozent. Die Mantelredaktionen bemühen sich also, nicht bloß dem Agenda-Setting der Parteien und den durch die Parteien erzeugten Pseudoereignissen zu folgen. Die Ergebnisse lassen zumindest zwei Interpretationen zu: Der Wahlkampf beherrscht die gesamte politische und wirtschaftliche Berichterstattung. Das trifft auf reine Wahlkampfthemen zu, die Wahlkampfverlauf, Wahlziele und Wahlstragegien der Parteien betreffen. Aber auch unter den allgemeinen politischen Themen dominieren solche, die in den Sog des Wahlkampfs geraten und zum Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen den Parteien werden. Eine Differenzierung in wahlrelevante und allgemein interessierende Beitrage vorzunehmen ist schwierig. Der Einfluß der Parteien wird nicht so sehr an der Übernahme ihrer Verlautbarungen deutlich, sondern an der Thematisierung, die doch weitgehend, auch im negati-

29

Zu den Primärquellen ist zu sagen: Die Zeitungen geben nicht immer an, wenn sie eine Nachricht oder einen Bericht von Agenturen übernommen haben. Insofern verzichten wir auf die Wiedergabe der durch unsere Analyse erfaßten Daten, weil sie in sich zwangsläufig ungenau sind. Höchstens die Quantität wäre im Vergleich ein Hinweis auf die saubere redaktionelle Arbeit. Aber für die Frage nach der Quelle der Thematisierung ist diese Angabe unbedeutsam.

30

Vgl. Barbara Baerns, Öffentlichkeitsarbeit oder Journalismus? Zum Einfluß im Mediensystem, Köln: Wissenschaft und Politik 1985, S. 87ff., 91ff, 98ff. Die Daten basieren auf einer Erhebung vom Oktober und April 1978. Vgl. auch Thomas König, Die nordmeinwestfälische Landespolitik in der Berichterstattung von Nachrichtenagenturen und Tageszeitungen, Phil.Diss., Dortmund 1988. König hat die Berichterstattung von August bis Oktober 1985 und vom 28.2. bis 6.6.1986 untersucht.

632

Kurt Koszyk/Jiirgen Prause

ven Sinne, auf die Aktivit!!ten von Parteien zurückgeht, und sei es in der Vermittlung durch Sekundärquellen, die aber selten genannt werden.

4.2.

Ergebnisse zu Hypothese 2

"Die redaktionelle Selektion und Präsentation sowie die Beurteilung der Parteien sind symptomatisch für die Parteipräferenz einer Zeitung." Nicht in jedem Fall ist schon die Häufigkeit der Partei- und Politikernennungen in der Berichterstattung ein Indiz filr die Parteipräferenz einer Zeitung. Mit Ausnahme der NRZ kommt in allen untersuchten Zeitungen die CDU/CSU am Mutigsten vor, mit deutlichem Abstand zur SPD. Hier wirkt sich offenbar die Dominanz der Regierungsparteien in den Quellen aus. Schaubild 2: Relative Häufigkeit Berichterstattung

1 )4 7

der

Partei-

171)

und

Politikernennungen

10~0

in

der

15 21".

Deutlicher wird die Parteipräferenz, wenn man die Häufigkeit der Parteinennungen auf der Titelseite betrachtet. In der WP wird bei der Nennung auf der Titelseite die Union mit einem Anteil von 39,7 Prozent gegenüber einem SPD-Anteil von 24,2 Prozent klar bevorzugt. Umgekehrt präferiert die NRZ die SPD: Auf sie entfallen 30,5 Prozent der Nennungen auf Seite 1, auf die Union lediglich 24,5 Prozent. In der WR ist der SPD-Anteil mit 28,4 Prozent nur leicht höher als der Anteil der Unionsparteien (28,0 Prozent). Zum Ausgleich kommt in der WR die Union auf Seite 2 Mutiger vor als die SPD. In der WAZ ist die Union auf der Titelseite weitaus häufiger präsent als die SPD (übrigens auch auf Seite 2): die CDU/CSU zu 41,6 Prozent, die SPD zu 23,9 Prozent. Im Verhält-

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986/87

633

nis dazu erscheint auch die F.D.P. sehr häufig auf Seite 1, namlich zu 19,3 Prozent. In den RN erscheinen sowohl die Union als auch die SPD häufiger auf Seite 1, als es ihrem Anteil insgesamt entspricht: die CDU/CSU zu 30,7 Prozent und die SPD zu 25,5 Prozent. Die WP bevorzugt die Union auch bei der Plazierung in Überschriften: Auf die Union entfallen 27,3 Prozent aller Nennungen, auf die SPD nur 17,4 Prozent. Dagegen hat die SPD in der NRZ bei der Nennung in der Überschrift mit 21,7 Prozent aller Nennungen einen klaren Vorsprung vor der CDU/CSU mit 15,6 Prozent. In der WAZ erscheinen CDU/CSU und SPD ungenthr gleich haufig in Überschriften: die CDU/CSU zu 33,6 Prozent, die SPD 31,9 Prozent, die F.D.P. 12,4 Prozent und die Grünen zu 4,4 Prozent. Auch in den RN liegen Union und SPD ungefahr gleichauf: CDU/CSU 21 Prozent, SPD 19 Prozent, F.D.P. 10 Prozent und die Grünen 1,6 Prozent. In der WR kommt die Union Mufiger als die SPD in der Überschrift vor, beide Parteien allerdings weniger häufig, als es ihrem generellen Anteil entspricht: CDU/CSU 27,6 Prozent, SPD 20,5 Prozent, F.D.P. 15,2 Prozent und Grüne 1,4 Prozent Tabelle 2:

Parteienbewertung in der WAZ (in %) (n=917) insgesamt

Nachricht

Bericht

Kommentar

pos. neg. neu.

33,0 21,6 45,4

17,7 16,2 66,1

28,1 31,5 40,5

42,3

CDU/

pos. neg. neu.

27,3 38,7 34,0

18,2 50,0 31,8

34,9 37,8 27,3

3,1 50,8 46,1

F.D.P.

pos. neg. neu.

49,6 20,0 30,4

46,2 23,1 30,8

40,9 22,5 36,6

11,1 38,9 50,0

GRÜNE

pos. neg. neu.

19,3 21,1 59,6

8,3

23,1 7,7 69,2

SPD

csu

91,7

32,7

25,5

100

In der redaktionellen Bewertung der Parteien kommt die politische Praferenz einer Zeitung am deutlichsten zum Ausdruck. Durch die Ergebnisse der Inhaltsanalyse wird bestatigt, daß WAZ, WR und NRZ in ihrer Berichterstattung eher SPD-freundlich, WP und RN eher CDU-freundlich sind. In der WAZ-Kommentierung wird die SPD Mutiger positiv als negativ beurteilt. Dieser Befund wird durch die negative Nachrichtengebung und Kommentierung für die CDU unterstrichen.

634

Kurt Koszyk/Jürgen Prause

In der WR-Berichterstattung zeigt sich zwar eine Praferenz für die SPD, die aber nicht so stark wie erwartet ausfallt. So wird die SPD zwar im Kommentar und auch im Bericht haufiger positiv als negativ beurteilt, nicht aber in der Gesamtheit der Beitrage. Und immerhin wird die SPD im Kommentar zu 30 Prozent negativ bewertet. Die Union wird überwiegend negativ bewertet, im Kommentar zu fast drei Vierteln. Der Koalitionspartner F.D.P. wird im Kommentar zu fast zwei Dritteln negativ bewertet, dagegen in Nachricht und Bericht haufiger positiv als negativ. Tabelle 3:

Parteienbewertung in der WR (in %) (n=l357) insgesamt

Nachricht

Bericht

Kommentar

SPD

pos. neg. neu.

22,9 27,9 49,2

2,9 29,4 67,7

23,8 18,1 58,1

39,3 30,4 30,4

CDU/

pos. neg. neu.

12,0 42,9 44,9

35,3 64,7

23,8 25,4 50,3

5,3 73,7 21,0

F.D.P.

pos. neg. neu.

38,5 24,8 36,3

12,5 18,8 62,5

30,9 17,3 51,8

19,2 65,4 15,4

GRÜNE

pos. neg. neu.

31,7 12,2 56,1

55,6

44,0 5,0 55,0

37,5 62,5

csu

44,4

Bei der Auswertung der RN-Berichterstattung zeigt sich, daß hier abweichend von den anderen Zeitungen in der Parteienbewertung, wie schon weiter vorne erwahnt, erheblich zurückhaltender kodiert wurde, was einen vergleichsweise geringen Anteil an positiven und negativen Bewertungen zur Folge hat. Alle Parteien wurden also überwiegend neutral beurteilt. Immerhin Jaßt sich eine klare Praferenz für die CDU/CSU (und die F.D.P.) feststellen, die haufiger positiv als negativ bewertet werden. Die SPD dagegen wird weit hi!ufiger negativ beurteilt. Die NRZ und die WP können hinsichtlich der Parteienbewertung als die beiden Extreme im Spektrum der untersuchten Zeitungen angesehen werden. Die Tendenz zugunsten der SPD ist in der Berichterstattung der NRZ am deutlichsten ausgepragt, die Tendenz zugunsten der Unionsparteien am deutlichsten in der WP-Berichterstattung.

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

Tabelle 4:

Parteienbewertung in der RN (in %) (n=1526) insgesamt

SPD

CDU/

csu

F.D.P.

GRÜNE

Tabelle 5:

Nachricht

pos. neg. neu.

1,4 17,0 81,6

pos. neg. neu.

7,2 5,3 87,6

pos. neg. neu.

7,8 5,0 87,2

100

pos. neg. neu.

8,5 91,5

100

100 6,3 93,7

Bericht

Kommentar

4,7 95,3

1,9 75,5 22,6

1,7 3,1 95,2

62,0 10,3 27,6

5,8 94,2

75,0 8,3 16,7

100

Parteienbewertung in der WP (in %) (n=l050) insgesamt

Nachricht

Bericht

Kommentar

SPD

pos. neg. neu.

4,6 49,2 46,2

12,9 14,8 72,2

2,3 38,4 59,3

5,9 88,2 5,9

CDU/

pos. neg. neu.

17,6 13,4 69,0

6,1 36,7 57,1

9,7 9,7 80,6

45,8 8,3 41,7

F.D.P.

pos. neg. neu.

4,8 24,7 70,5

4,3 4,3 91,3

19,7 80,3

6,6 56,6 36,6

pos. neg. neu.

12,7 15,9 71,4

12,0 4,0 84,0

55,6 44,4

csu

GRÜNE

100

635

636

Kurt Koszyk/Jürgen Prause

Tabelle 6:

Parteienbewertung in der NRZ (in %) (n=1713) insgesamt

Nachricht

Bericht

Kommentar

SPD

pos. neg. neu.

24,9 13,4 61,5

6,8 18,2 75,0

9,0 11,8 79,2

35,5 22,0 42,5

CDU/

pos. neg. neu.

3,4 37,0 59,6

2,3 22,7 75,0

3,3 18,0 78,7

80,0 20,0

pos. neg. neu.

7,1 29,8 63,1

5,6 94,4

5,8 18,8 75,4

8,5 51,5 40,0

pos. neg. neu.

3,4 17,3 79,3

23,0 77,0

11,1 16,7 72,2

csu

F.D.P.

GRÜNE

Tabelle 7 gibt die Haufigkeit der Nennungen der fünf untersuchten Tageszeitungen zu den am meisten thematisierten Politikern an 31 . Tabelle 7:

Haufigkeit der Nennung von Politikern (in %) WAZ

WR

RN

WP

(n=917)

(n = 1347)

(n = 1526)

(n = 1050)

(n = 1713)

8.9 6.3 3.3 4.7 3.6 1.6 1.5 1.2 1.3

7.6 5.3 1.2 3.8 1.6 1.0

8.9 7.8 1.2 2.2 1.9 1.3

6.5 10.6 2.4 2.2 1.8 2.0

1.2

1.9 1.0

Kohl Rau Strauß Genscher Bangemann Brandt Zimmermann Vogel Wallmann Möllemann Blüm Lambsdorff Lafontaine Geißler Fischer

13.1 7.4 3.5 2.7 2.6 2.2 1.9 1.5 1.0 1.0 *)

1.7 1.6 1.0

*)Unter 1 Prozent der Nennungen. 31

Zu Rau und Kohl Vgl. unten Abschnitt 4.3

2.5 1.0

NRZ

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

637

Bezüglich der Bewertungen der genannten Politiker ergibt sich bei den fünf Tageszeitungen das folgende Bild: In der WAZ werden die SPD-Politiker überwiegend positiv beurteilt: Brandt zu 45 Prozent (und nur zu 5 Prozent negativ) und Vogel zu 79 Prozent. Strauß wird in der WAZ zu mehr als zwei Dritteln negativ beurteilt, Zimmermann sogar zu mehr als drei Vierteln. Außenminister Genscher wird zu 85 Prozent positiv beurteilt, Bangemann immerhin noch zu 50 Prozent und auch Möllemann zu 56 Prozent. In den RN werden die meisten Spitzenpolitiker weit überwiegend neutral bewertet. Einen verMltnismäßig hohen Anteil positiver Wertungen hat Bangemann (20 Prozent). Verhältnismäßig oft negativ bewertet wird Strauß (32 Prozent). In der WR wird Genscher zu zwei Dritteln positiv bewertet, Bangemann zu 44 Prozent (gegenüber 26 Prozent negativ). Strauß wird zu drei Vierteln negativ bewertet, aber Blüm nur zu 12,5 Prozent und Zimmermann zu 20 Prozent (80 Prozent neutral), Wallmann zu 39 Prozent negativ (61 Prozent neutral). Brandt wird zu 18 Prozent positiv beurteilt (77 Prozent neutral), Vogel zu 31 Prozent (69 Prozent neutral). Bezüglich der Themen überwiegt allgemein die Tendenz, daß die SPD weit häufiger im Zusammenhang mit Wahlkampfthemen im engeren Sinne vorkommt als die CDU/CSU, die öfter im Zusammenhang mit politischen Sachthemen erscheint als die SPD (Regierungsbonus). Die Union wird am häufigsten in Verbindung mit Themen genannt, die den Wahlkampf anheizten (U-Boot-Affäre, Verhältnis zur UdSSR, Verhältnis zur DDR) und die von ihr nicht gerade geschätzt worden sein dürften.

4.3.

Ergebnisse zu Hypothese 3

"Die Beurteilung der Spitzenkandidaten läßt auf das Tendenzprofil einer Zeitung schließen." Von allen Politikern kommen die Kanzlerkandidaten von CDU/CSU und SPD, Kohl und Rau, erwartungsgemäß am häufigsten in der Berichterstattung vor. Lediglich in der NRZ ist Rau der am häufigsten genannte Kandidat, in allen anderen untersuchten Zeitungen entfallen auf Kohl die meisten Nennungen. Am deutlichsten fällt der Vorsprung von Kohl in der WAZ aus. Die reine Häufigkeit der Erwähnung der Spitzenkandidaten kann also nur eingeschränkt als Indiz für die Parteipräferenz einer Tageszeitung gewertet werden.

638

Kurt Koszyk/Jürgen Prause

Schaubild 3: Häufigkeit der Kanzlerkandidaten in der Berichterstattung

Kohl

Rau

URZ n

188

Auch bei der Plazierung auf der Titelseite bevorzugt nur die NRZ den SPDKanzlerkandidaten Rau. Die WR plaziert Kohl viel h!lufiger auf der Titelseite als Rau, nämlich im Verhältnis 3:1. Ganz ähnlich ist das Bild bei der Plazierung in der Überschrift:

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

Tabelle 8:

639

Plazierung der Spitzenkandidaten in der Überschrift (in %)

NRZ

WAZ

WR

(n=20)

(n=26)

(n=21)

(n=24)

(n=21)

RN

WP

Kohl

70,0

65,4

39,0

66,7

57,1

Rau

30,0

34,6

61,0

33,3

42,9

Am deutlichsten zeigt sich die Parteipräferenz der untersuchten Zeitungen in der Bewertung der Spitzenkandidaten.

Tabelle 9:

Bewertung der Spitzenkandidaten in allen Genres WAZ

WR

NRZ

WP

RN

(n = 188)

(n = 208)

(n=293)

(n = 175)

(n = 197)

Kohl positiv negativ neutral

40,8 35,8 23,3

13,1 50,0 36,9

4,5 49,5 46,0

23,7 19,4 56,9

4,3 3,5 92,2

Rau positiv negativ neutral

42,6 16,2 41,2

44,2 15,1 40,7

42,9 1,6 55,0

9,8 59,8 30,5

24,7 75,3

Die Ergebnisse belegen die SPD-Pr1!ferenz bei NRZ, WR und WAZ und die Unionspräferenz bei WP und RN. Am stärksten ausgeprägt ist die relative Rau-Präferenz bei NRZ und WR. In der NRZ wird der SPD-Kandidat zu 43 Prozent positiv, der Kanzler hingegen fast zur H1!lfte negativ beurteilt. In den NRZ-Kommentaren wird Rau zu 56 Prozent positiv und überhaupt nicht negativ beurteilt, Kohl dagegen nicht ein einziges Mal positiv,aber zu 73 Prozent negativ. Ähnlich sieht es bei der WR aus. Rau wird hier zwar häufiger kritisiert als in der NRZ, aber längst nicht so eindeutig wie Kohl. Der Kanzler wird nur im Bericht Mufiger positiv (31,8 Prozent) als negativ (20,5 Prozent) beurteilt. (Zum Vergleich: Rau wird hier zu 40,5 Prozent positiv und zu 10,8 Prozent negativ bewertet.) In den Kommentaren der WR wird Kohl zu 80,9 Prozent negativ und nur zu 4,8 Prozent positiv beurteilt, Rau dagegen zu 60 Prozent positiv, aber immerhin zu 32,9 Prozent negativ.

640

Kurt Koszyk/Jürgen Prause

Daß Kohl in der WAZ überraschend gut abschneidet, verdankt er einem hohen Anteil positiver Wertungen in der Berichterstattung (48,8 Prozent). Ganz anders das Bild in den WAZ-Kommentaren: Hier wird Kohl zu 59,1 Prozent negativ bewertet und nur zu 4,6 Prozent positiv. Im Gegensatz dazu wird Rau im Kommentar je zur mllfte positiv und neutral bewertet, also nicht ein einziges Mal negativ. Sehr negativ wird der SPD-Kanzlerkandidat Rau in der WP und in den RN bewertet: in den Kommentaren der RN zu mehr als drei Vierteln (76,5 Prozent) und in den Kommentaren der WP sogar zu 90 Prozent negativ. Positiv wird er in den RN-Kommentaren gar nicht beurteilt, in der WP zu 10 Prozent. Rau wird auch in den Berichten der RN häufiger als Kohl negativ bewertet (überhaupt nicht positiv), nilmlich zu 7,7 Prozent gegenüber 1,2 Prozent bei Kohl. Der Kanzler wird in WP-Kommentaren zur H11lfte positiv und nur zu 10 Prozent negativ bewertet. Nicht so gut kommt er in den RN weg, wo er im Kommentar häufiger negativ als positiv bewertet wird, nilmlich zu 27,3 Prozent negativ und zu 18,2 Prozent positiv.

4.4.

Ergebnisse zu Hypothese 4

"Eine Zeitung beurteilt eine Partei und ihre Kandidaten oft unterschiedlich. Das Urteil über Parteien fällt dabei negativer aus als über deren Spitzenkandidaten" Die Hypothese wird generell durch die Ergebnisse der Inhaltsanalyse bestiltigt. In allen Tageszeitungen mit Ausnahme der RN schneiden bezilglich des Anteils an positiven Bewertungen beide Kandidaten besser als ihre Parteien ab, wenn auch in sehr unterschiedlichen Relationen und Gewichten. Dagegen zieht Kanzler Kohl in der Regel mehr Kritik auf sich als seine Partei, wilhrend Kanzlerkandidat Rau - mit Ausnahme der WP zum Teil ausgeprilgt weniger negativ als seine Partei bewertet wird. Insgesamt wird Kohl im positiven Bereich stets weniger positiv, im negativen Bereich stets negativer als sein Opponent Rau eingeschätzt. Auf beiden Dimensionen hat Rau zumindest bei den hier untersuchten Tageszeitungen relativ die bessere Ausgangsposition.

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

641

Tabelle 10: Vergleich von Parteienbewertung und Kandidatenbewertung WAZ

WR

RN

WP

NRZ

Kohl positiv negativ neutral

40,8 35,8 23,3

13,1 50,0 36,9

4,3 3,5 92,2

23,7 19,4 56,9

4,5 49,5 46,0

CDU/positiv CSU negativ neutral

24,1 27,9 48,0

9,6 50,6 39,8

13,6 5,1 81,3

17,6 13,4 69,0

3,4 37,0 59,6

Rau positiv negativ neutral

42,6 16,2 41,2

44,2 15,1 40,7

24,7 75,3

9,8 59,8 30,5

42,9 1,6 55,5

SPD positiv negativ neutral

24,3 25,2 50,5

11,5 47,3 41,2

3,7 28,0 68,2

4,6 49,2 26,2

24,9 13,4 61,5

Verhältniszahlen: Kohl positiv negativ

1,70 1,28

1,36 0,99

0,32 0,69

1,35 1,45

1,32 1,38

Rau positiv negativ

1,75 0,64

3,84 0,32

0,88

2,33 1,22

1,72 0,12

Auch der F.D.P.-Spitzenkandidat Genscher wird durchweg besser beurteilt als seine Partei. In der WAZ und WR wird er zu 84 Prozent bzw. 64,6 Prozent positiv bewertet, während es die F.D.P. nur auf eine positive Bewertung von 18 Prozent bzw. 22,1 Prozent bringt. Dagegen wird die F.D.P. als Partei in der WAZ zu 30 Prozent und in der WR zu 40 Prozent negativ bewertet, Genscher hingegen nur zu 8 Prozent bzw. 9,2 Prozent. In den RN wird Genscher überhaupt nicht positiv, aber doch erheblich seltener als die F.D.P. negativ beurteilt.

642 4.5.

Kurt Koszyk!lürgen Prause

Ergebnisse zu Hypothese 5

"Die Beurteilung der Spitzenkandidaten durch die Presse korreliert in hohem Maße mit den Ergebnissen der Demoskopie." Anhand der Untersuchung wird deutlich, daß filr die Bewertung der Spitzenkandidaten und ihrer Wahlchancen demoskopische Ergebnisse nicht so ausschlaggebend sind wie die Zeitungstendenz. Meinungsumfragen werden zur Verstl!rkung der redaktionellen Präferenz für eine Partei (einen Kandidaten) eingesetzt, wenn sie mit dieser übereinstimmen (wie in der WP). Oder sie werden einfach nicht zur Kenntnis genommen, wenn sie der Zeitungspräferenz widersprechen (wie in der NRZ). Daß auch in den übrigen untersuchten Zeitungen die Demoskopie keine große Rolle spielt, dafilr spricht das geringe Vorkommen dieses Themas: So kommt das Thema Meinungsumfragen in der WR gerade sechsmal (0,7 Prozent), in den RN nur einmal und in der WAZ überhaupt nicht vor. Die Ausnahme ist die WP, in der Meinungsumfragen das am dritthäufigsten vorkommende Thema und sogar das am häufigsten kommentierte Thema sind. Weitergehende Aussagen zur Rolle der Demoskopie ließen sich nur nach eingehender qualitativer Analyse der Zeitungen machen.

5. Bewertung der Ergebnisse

Unsere Ergebnisse basieren auf einer Momentaufnahme der vom Ruhrgebiet aus verbreiteten Regionalzeitungen aus den Monaten November 1986 bis Januar 1987. Zwar deuten die zitierten Studien aus den letzten Jahren in Münster und Dortmund in die gleiche Richtung, doch sind solche Einzelbefunde schwerlich zu verallgemeinern. Die Zahlen lassen manche Fragen offen, z.B. die nach den Quellen der in den Regionalzeitungen abgedruckten Informationen. Bekannt ist, daß die RN praktisch nur den Dienst der Deutschen Presseagentur (dpa) auswerten, dazu die Katholische Nachrichtenagentur (KNA), die Blätter der WAZGruppe zumindest zusätzlich Associated Press (AP), den Deutschen Depeschendienst (ddp) und den Vereinigten Wirtschaftsdienst (vwd). Tatsächlich greifen Redaktionen aber filr die Berichterstattung auf viele weitere Quellen zurück. Bei Wahlkampfveranstaltungen werden zudem von den Parteien spezielle Pressematerialien, wie Redetexte, verteilt. Der Einfluß der Parteien läuft eher mittelbar über die Agenturen und Dienste und nicht über die Eigenleitung der Redaktion. Nachrichten stammen im Mantel überwiegend aus den Diensten von Nachrichtenagenturen, die heute direkt auf Redaktionsterminals abgerufen werden können. Berichte werden oft mit zusätzlichen Materialien angereichert. Obwohl die jeweils angegebenen Quellenangaben kodiert worden sind, waren sie nicht zahlreich und vollständig genug, um statistisch verarbeitet werden zu können. Unsere Momentaufnahme erfaßt vor allem den Prozeß der redaktionellen Themenverarbeitung und die dabei obwaltende Tendenz, die sich an der Bewertung von Parteien und Spitzenkandidaten ablesen läßt. Bis auf die WAZ sind alle ausgewerteten Zeitungen

Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkampf 1986187

643

vor 1949 als parteinahe Organe lizenziert worden: WP und RN für die CDU, WR und NRZ für die SPD. Inzwischen sind sie, speziell WR und NRZ, auch aufverlegerische Distanz zur Parteiorganisation gegangen, ohne ihren alten Favoriten gänzlich abzuschwören. Deutsche Leser ohne enge Parteibindung, und das sind die meisten, mögen keinen allzu engen, dogmatischen Parteijournalismus. In der jungen Generation ist Kritik an herrschenden Verhältnissen beliebt. Die Kaufpresse, von der "Bild" werden im Ruhrgebiet etwa 475 000 Exemplare verbreitet, also fast 30 Prozent der Gesamtauflage der Regionalpresse, beeinflußt die Machart der Abonnementszeitungen. Sprachliche und thematische Dynamisierung verbindet sich mit knapper, fast telegrammartiger Darstellung. Nachrichten, Berichte und Kommentare werden zu kurz gehalten, Meinungen oft nicht argumentativ, sondern plakativ formuliert. Eine quantitative Analyse kann die damit verbundenen journalistischen Praktiken und den Informationsverlust für den Leser schwerlich dingfest machen32• Die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen jedoch, daß in einem Verlagshaus kooperierende Regionalzeitungen durchaus divergierende politische Profile bewahren können; Parteipräferenzen, je nach der politischen Struktur eines Verbreitungsgebiets, redaktionell durch einen hohen Anteil neutraler Aussagen verdeckt werden, um, oberflächlich beurteilt, beim Leser nicht den Verdacht der Parteiabhängigkeit zu schüren; das Verhältnis von positiven und negativen Urteilen über Parteien und Politiker auf die redaktionelle Grundtendenz verweist, selbst wenn die Grundgesamtheiten klein sind; ebenfalls im Nachrichtenteil Tendenz ausgeprägt ist; einige Zeitungen ihre Parteienpräferenz eindeutig in Bewertungen ausdrücken, andere auch durch die Quantität und die Plazierung von an sich neutralen Aussagen. Im Wahlkampf erweisen die Zeitungen den Parteien durchaus gute Dienste, wie diese Untersuchung belegt. Die Journalisten allerdings sehen sich herausgefordert, dieser Tendenz durch vermehrte Eigeninitiative und Recherche entgegenzuwirken, soll nicht der Journalismus zur Hilfstruppe von Parteistrategien werden. Journalisten machen aus ihrem Herzen keine Mördergrube, aber sie tragen ihr Herz auch nicht gerade auf der Zunge, wie vor allem in den Jahren der Weimarer Republik, teilweise auch zu Kaisers Zeiten. Heute könnte also von einem intakten Journalismus gesprochen werden, wenn eine Vielfalt konkurrierender Zeitungen gewährleistet wäre. Auch da, wo sie noch vorhanden ist, machen die Leser leider davon eher selten Gebrauch. Wie zu Eberts und Hindenburgs Zeiten lesen die meisten Deutschen nur eine Zeitung, ihr Leib- und Magenblatt 33• Dies relativiert die Tatsache, daß die Tagespresse

32 Vgl. Colin H. Good, Presse und soziale Wirklichkeit, Düsseldorf: Schwann 1985. 33 V gl. Richard Lewinsohn, Das Geld in der Politik, Berlin: S. Fischer 1931, S. 156f.

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Kurt K=zyk/Jürgen Prause

aber nach wie vor die bevorzugte aktuelle Informationsquelle für lokale und regionale Vorgange bildet.

Literatur

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Regionalzeitungen aus dem Ruhrgebiet im Bundestagswahlkllmpf 1986{87

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Kurt Koszyk/Jürgen Prause

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Peter Schrott Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987: Politikerstrategien und Wählerreaktion•

1. Vorbemerkung

Das Jahr 1960 stellte einen neuen Höhepunkt in der Geschichte des modernen Wahlkampfs dar. Zum ersten Mal sahen Millionen Amerikaner eine Fernsehdebatte zweier Prasidentschaftskandidaten, zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon. Damit wurden sie Zeugen einer direkten Konfrontation zweier Bewerber für das höchste politische Amt in den USA Seit dieser Zeit sind Wahlkampfdebatten im Fernsehen von besonderem Interesse für Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen. Dabei konzentrierten sich die Forscher entweder auf eine Analyse des Inhalts der Debatten oder aber auf deren spezielle Effekte auf den Rezipienten. Direkte kausale Beziehungen zwischen Inhalt und Effekt wurden allerdings bislang nicht geknüpft. Die vorliegende Analyse versucht, diese Lücke zu schließen, indem sie beide Ebenen in die Untersuchung einbezieht. Ihr Ziel ist es, die Ergebnisse von Inhaltsanalysen der Debatten seit 1972 mit Umfrageergebnissen direkt in Beziehung zu setzen und somit einen Zusammenhang zwischen Politikerstrategien auf der einen und der daraus resultierenden Zuschauerreaktion auf der anderen Seite herzustellen.

2. Debattenstudien in der Politikwissenschaft

Da die Debattenforschung ihren Ursprung und Hauptschwerpunkt in den USA hat, soll zunachst ein Überblick über die Ergebnisse der amerikanischen Studien gegeben werden. Im Anschluß daran werden die deutschen Debattenstudien aufgegriffen. Mit Unterbrechungen gibt es in den USA seit 1960 Fernsehdebatten. Der jüngste Wahlkampf von 1988 unterstreicht die Bedeutung noch, die ihnen in den USA zugewiesen wird. Es gab mehrere Debatten schon in der Vorwahlphase, so zum Beispiel die "primary debate" der Demokraten, die das nationale Fernsehen landesweit ausstrahlte. 1 •

Für kritische Kommentare danke ich Günter Bentele, Lutz Erbring, Charlotta Flodell und Dieter Storll. An dieser Stelle möchte ich auch Kendall L. Baker und Helmut Norpoth danken, die mir freundlicherweise die Daten der Inhaltsanalysen 1972, 1976 und 1980 zur Verfügung gestellt haben. 1 David Lanoue/Peter Schrott, The Effects of Primaxy Season Debates on Public Opinion, in: Political Bchavior(1989, in Druck).

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Nach einer Serie von "primary debates" fanden dann kurz vor der Wahl zwei Debatten zwischen den Präsidentschaftskandidaten Dukakis und Bush sowie eine Debatte zwischen den Vizepräsidentschaftskandidaten Bensan und Quayle statt. 2 Es gibt in den USA schon seit geraumer Zeit Stimmen, die die Debatten institutionalisiert sehen wollen, d.h. es wird gefordert, sie als festen Bestandteil des Wahlkampfs festzuschreiben. 3 Hinter diesem Wunsch steht eine Vielzahl von Gründen und Interessen. Die Debatte von 1976 zwischen Ford und Carter fand statt, weil beide Kandidaten glaubten, sie würde ihre Chance erhöhen, die Wahl zu gewinnen. 4 Nach Ansicht eines Wahlkampfmanagers von Ford wurde die Debatte als einzige Möglichkeit erachtet, Carter einzuholen, der zu diesem Zeitpunkt laut Umfragen 20 Prozent Vorsprung in der Gunst der Wählerschaft hiett. 5 Carters strategische Motive wurden darin gesehen, daß er versuchen wollte, seine Wlihler zu bestärken, sie von sich und seiner Politik zu überzeugen und sie letztendlich zum Wahlgang zu mobilisieren. 6 Es schien zu diesem Zeitpunkt, daß Carters Vorsprung im Spatsommer leicht zu schrumpfen begann und seine Berater der Ansicht waren, daß viele von Carters potentiellen Wahlern ihn als zu weich und zu anfällig für einen republikanischen "Medien blitz" ansahen. Demnach folgten beide Kandidaten zwar unterschiedlichen Beweggründen - bedingt durch die jeweilige Situation -, aber beide debattierten, um zu "gewinnen".7 "Die Demokratie demokratischer zu machen" 8 wird als ein Argument für die Institutionalisierung von Debatten angeführt. Es wird davon ausgegangen, daß die Wählerschaft im Prinzip fahig ist, themenbezogene Entscheidungen zu fallen, dies aber oftmals dadurch erschwert wird, daß Parteien keine eindeutigen und klaren Aussagen bezüglich ihrer politischen Programme anbieten. 9 Diese politischen Positionen könnten der Wählerschaft nun durch direkte, unverfatschte "Erstehandinformation" von seiten der Debattenteilnehmer gegeben werden. Das politische Verständnis des Wählers könnte gescharft und der Wähler dadurch von einer puren parteibezogenen Wahlentscheidung weg 10 und zu einer komplexeren, themenbezogenen Wahlentscheidung hingeführt werden. Der

2 Siehe New Yorlc Timesv. 26.9., 6. u. 21.10.1988. 3 Vgl. Elihu Katz/Jacob J. Feldman, The Debates in the Light ofResearch: ASurvey of Surveys, in: Sidney Kraus (Hrsg.), The Great Debates, lndiana University Press, Bloomington 1962. 4 Vgl. Sidney Kraus, Presidential Debates: Political Option or Public Decree, in: Sidney Kraus (Hrsg.), The Great Debates, lndiana University Press, Bloomington 1979. 5 Vgl. Richard B. Cheny, The 1976 Presidential Debates: A Republican Perspective, in: Austin Ranney (Hrsg.), The Past and the Future of Presidential Debates, Washington, D.C.: American Enterprise Institute 1979. 6 Vgl. hierzu Stephan Lesher mit Patrick CaddelVGerald Rafshoon, Did the Debates help Jimmy Carter?, in: ebd. 7 Kraus, Presidential Debates (Anm. 4). 8 Vgl. Katz/Feldman, The Debates in the Light of Research (Anm. 3). 9 Vgl. VIadimer 0. Key, The Responsihle Electorate, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1966. 10 Vgl. Angus CampbeiVPhilip E. Converse/Warren E. Miller/Donald E. Stokes, The American Vater, NewYork: John Wiley 1960.

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

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Vorteil der Debatte läge vor allem darin, daß kein "gate-keeper"11 involviert ist und dadurch keine von den Medien verzerrten Interpretationen weitergegeben würden. 12 Der Wähler ist Zeuge eines direkten verbalen Schlagabtausches der Kandidaten für das wichtigste politische Amt des Landes, ohne von den Medien "kontaminiert" zu werden oder ''vorgeschrieben" zu bekommen, welches die wichtigen politischen Themen seien. 13 Die Debatte kann darüber hinaus als eine Interaktion zwischen Politikern und Wählern angesehen werden. Der Politiker versorgt den Wähler mit Informationen über sich, seine Partei und die politischen Ziele; und der Wähler kann reagieren, indem er diese Informationen in den Prozeß seiner Wahlentscheidung mit einbezieht. 14 Da Debatten normalerweise auf den großen Fernsehkanälen übertragen und somit von einer großen Anzahl von Zuschauern gesehen werden, sind sie besonders für den Politik- und Kommunikationswissenschaftler von Interesse. Er kann den möglichen Einfluß auf das Wahlverhalten messen; er kann aber auch die Strategien erforschen, die ein Politiker in einer solchen Debatte anwendet. Das heißt, er kann nicht nur den Rezipienten und seine Reaktion auf eine Debatte untersuchen, sondern auch das Verhalten des Kommunikators, also die individuelle Debattenleistung des einzelnen Politikers. Denn wenn die Wahlentscheidung des einzelnen Wählers auf rationellen Gründen basieren soll, dann müssen genügend Informationen vorhanden sein. Ob der Politiker versucht, diese Informationen tatsächlich dem Zuschauer zu vermitteln oder ob er nur daran interessiert ist, sein persönliches Image zu fördern und zu verbessern, läßt sich anband solcher Untersuchungen aufzeigen. Verschiedene Studien haben gezeigt, daß die Zuschauer an den Debatten sehr interessiert sind 15 , daß sie Informationen über die Charaktereigenschaften und die politischen Standpunkte der Politiker zugewinnen. 16 Lang und Lang17 entdeckten beispielsweise im Rahmen einer experimentellen Untersuchung der 1976er Präsidentschaftsdebatte zwischen Carter und Ford bei den Befragten ein Mehr an Information über die Kandidaten, und dies, selbst nachdem für mediale Effekte durch Nachrichtensendungen und Fernsehkommentare kontrolliert worden war. Sie interpretierten ihr Ergebnis im Sinne eines Persuasionseffekts, das heißt, diese Information führte zu einer Veränderung der Kandi11 12 13

14 15 16 17

D.M. White, The Gate-keeper: A Case Study in the Selection of News, in: Journalism Quarterly, Bd. 27 (1950), S. 383-390. Elisabeth Noelle-Neumann, Wahlentscheidung in der Fernsehdemokratie, Freiburg: Ploetz 1980. Siehe Gladys Engel Lang/Kurt Lang, Immediate and Mediated Responses, in: Kraus (Hrsg.), The Great Debates (Anm. 4); Frederick T. Steeper, Public Response to Gerald Ford's Statements on Bastern Europe in the Second Debate, in: George F. Bishop/Robert G. Meadow/Marilyn Jackson-Beeck (Hrsg. ), The Presidential Debates, New York: Praeger 1978. Vgl. Dennis K Davis, Influence on Vote Decisions, in: Kraus (Hrsg.), The Great Debates (Anm.4). Vgl. Katz/Feldman, The Debates in the Light ofResearch (Anm. 3). V gl. Kurt Lang!Giadys Engel Lang, Reactions of Viewers, in: Kraus (Hrsg. ), The Great Debates (Anm. 3); Arthur H. Miller/Michael MacKuen, Informing the Electorate: A National Study, in: Kraus (Hrsg.), The Great Debates (Anm. 4). Lang/Lang, Immediate and Mediated Responses (Anm. 13).

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datenevaluierung bei den unentschlossenen Wählern. Eine andere Studie Ober dieselbe Debatte fand ebenfalls einen höheren Informationsstand der Rezipienten nach der Debatte, aber diese Studie argumentierte im Sinne einer Verstärkung von vorhandenen Parteipradispositionen.18 Abramowitz 19 untersuchte den Einfluß dieser Debatte auf die Rationalität von Wahlentscheidungen und fand Hinweise auf einen Persuasionseffekt, indem der Wähler die Themenposition seines bevorzugten Kandidaten übernahm. Weitere Studien, auch im deutschen Kontext20, belegen diese zwei grundlegenden Effekte, den Zugewinn von Information und die Verstärkung von vorherrschenden Parteineigungen. Da die Debatten ein Bestandteil des "horse race" im amerikanischen Wahlkampf darstellen, ist auch die Frage nach der Zuschauereinschätzung der Debattenleistungen der Teilnehmer dort von besonderer Bedeutung. So kann, danach befragt, der Zuschauer relativ problemlos einen "Sieger" benennen. Darüber hinaus scheint die Wahl eines Siegers einer beliebigen Debatte bei den Befragten relativ universal zu sein, wie die verschiedenen Studien aufzeigen. 21 Allerdings wurde dabei nicht zu erklären versucht, wie ein Kandidat oder ein Politiker sich zu verhalten hat, um zum Sieger ernannt zu werden22, oder ob die Perzeption des Siegers als ein möglicher Einflußfaktor auf die Wahl in Frage kommt. Neben den Wirkungsfragen konzentriert sich die Debattenforschung auf die vermittelten Inhalte der Debatten. Diese Tradition ist weit weniger verbreitet, was mit daran liegen mag, daß eine Inhaltsanalyse von umfangreichen Texten oder audiovisuellen Materialien oftmals sehr teuer - im Sinne von Zeit und Geld - ist. Als weiteres Problem mag hinzukommen, daß die Methode der Inhaltsanalyse, zumal der manuellen, zu einem großen Teil durch eine subjektive Beurteilung des Kodierers geprägt ist. So erfordert eine korrekt durchgeführte Inhaltsanalyse ein sehr sorgfältiges Training der Kodierer, um beispielsweise Reliabilitätsprobleme zu vermeiden. 23

18 Vgl. Miller/MacKuen, Informing the Electorate (Anm. 16). 19 Alan I. Abramowitz, The Impact of a Presidential Debate on Voter Rationality, in American Journal of Political Science, Bd. 22 (1978), S. 680-690. 20 Siehe z. B. Hans-Jürgen Weiss, Wahlkampf im Fernsehen: Untersuchungen zur Rolle der großen Fernsehdebatten im Bundestagswahlkampf 1972, Berlin: Verlag Volker Spiess 1976; Kendall L. Baker/Helmut Norpoth/Kiaus Schönbach, Die Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten vor den Bundestagswahlen 1972 und 1976, in: Publizistik, 26. Jg. 1981, S. 530-544; Garrett J. O'Keefe/Harold Mendelssohn, Media Influences and Their Anticipation, in: Kraus (Hrsg.), The Great Debates (Anm. 4). 21 V gl. David 0. Sears/Steven H. Chaffee, Uses and Effects of the 1976 Debates: An Overview of Empirical Studies, in: Kraus (Hrsg.), The Great Debates(Anm. 4). 22 Eine Ausnahme stellt hier die Studie von Baker, Norpoth und Schönbach 1981 (Anm. 20) dar, die feststellten, daß Politiker mit einem eher positiven Debattenstil in der besseren Position waren, die Debatten zu •gewinnen•. 23 Daß dies generell möglich ist, zeigen einige Studien, die zu einer hohen Quote in der Reliabilität kommen. Vgl. George Gerbner/Ole R HolstilKlaus Krippendorff/William J. Paisley/Philip J. Stone (Hrsg.), The Analysis of Communication Content, New York, John Wiley and Sons 1969.

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

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Jackson-Beeck und Meadow24 führten eine Inhaltsanalyse der amerikanischen Präsidentschaftsdebatten von 1960 und 1976, der Medienberichterstattung über diese Debatten sowie der offenen Fragen einer Umfrage bezüglich der Beurteilung der wichtigsten Themen jener Zeit durch. Ihr Forschungsinteresse konzentrierte sich auf eine historische Entwicklung von Themen und darauf, wie Debatteninhalte von Medien vermittelt und vom Rezipienten aufgenommen werden. Sie stellten zum einen eine Diskrepanz zwischen den Debatteninhalten und den Perzeptionen über die politischen Probleme des Landes fest und zum anderen eine Diskrepanz zwischen den Debatteninhalten und der Medienberichterstattung. 25 Eine vergleichende inhaltsanalytische Debattenstudie hatte zum Ziel, verschiedene Politikerstrategien und Debattenstile auf beiden Seiten des Atlantiks zu untersuchen, um eventuelle generelle Debattenstrategien daraus zu entwickeln. 26 Als Datenmaterial dienten die amerikanische Präsidentschaftsdebatte zwischen Carter und Reagan im Wahljahr 1980 und die Fernsehdebatte der deutschen Spitzenpolitiker im Bundestagswahlkampf desselben Jahres. Die Untersuchung verdeutlichte einen personenbezogenen Debattenstil der amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und eine auf die Parteien orientierte Diskussion der deutschen Politiker. 1984 wurde der Inhalt der Präsidentschaftsdebatte zwischen Reagan und Mondale analysiert. Die gewonnenen Daten wurden mit den offenen Antworten einer Umfrage27 verglichen, um den Informationstransfer zu messen und einen möglichen Einfluß der Debatten auf die politischen Einstellungen der Befragten aufzuzeigen. Die Studie wurde 1988 anläßlich der "primary debate" der demokratischen Präsidentschaftskandidaten repliziert, wobei die Inhaltsanalyse der Debatte sowie die Inhaltsanalyse der offenen Fragen zu ähnlichen Ergebnissen wie bereits 1984 führten. 28 Ein Großteil der von den Politikern gegebenen Informationen wurde von den Befragten erkannt, und darüber hinaus wurden auch politische Einstellungen im Laufe der Debatte verändert. Mit Ausnahme dieser wenigen Studien scheint das Interesse an inhaltsanalytischen Ansätzen in der Debattenforschung in den USA nur sehr wenig ausgeprägt zu sein. Im westdeutschen Kontext wiederum wurde die Inhaltsanalyse sehr intensiv in der Debattenforschung angewandt. 29 Baker und Norpoth30 vergleichen ihre Inhaltsanalyse 24 Marilyn Jackson-Beeck/Robert G. Meadow, Ascertainment and Analysis of Debate Content, in: Bishop et al. (Hrsg.), The Presidential Debates (Anm. 13). 25 Jackson-Beeck und Meadow kritisierten die Vorurteile vieler Sozialwissenschaftler gegen eine Inhaltsanalyse der Debatten, die argumentierten, "since nothing was said in the debates, presumably there is no content to analyze•. 26 Vgl. Peter Schrott, The Content and Consequences of the 1980 Televised Debates in West Germany and the United States, Papier, vorgestellt auf der Jahresversammlung der Midwest Political Science Association, Chicago, 14.-16. April1980. 27 Vgl. David Lanoue/Peter Schrott, Sources of Opinion Change in the 1984 Presidential Debates: An Experimental Study, in: Political Psychology, 1989, (im Druck). 28 Vgl. Lanoue/Schrott, The Effects of Primary Season Debates (Anm. 1). 29 Siehe Weiss, Wahlkampf im Fernsehen (Anm. 20); Baker/Norpoth/Schönbach, Die Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten (Anm. 20); Baker/Norpoth, Candidates on Television: The 1972 Electoral Debates in West Germany, in: Public Opinion Quarterly, Bd. 45 (1981), S. 329345; Norpoth/Baker, Politiker unter sich am Bildschirm: Die Konfrontation von Personen und

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der Debatte 1972 mit einer Umfrage und finden einen Informationszugewinn für die Oppositionsparteien. Weiterhin stellen sie fest, daß der Debattensieger unter den Fernsehzuschauern einen Nettozugewinn von Wahlerstimmen für sich verbuchen kann, wahrend der Verlierer der Debatte eher bei denen gewinnt, die die Debatte nicht gesehen haben. Sie sehen dies als einen möglichen Hinweis auf einen Debatteneffekt, warnen jedoch vor einer Überinterpretation der Ergebnisse, da die Datenlage keine Möglichkeit eines kausalen Nachweises zulaßt. In einer vergleichenden Debattenstudie von 1972 und 1976 finden Baker, Norpoth und Schönbach31 eine Diskrepanz zwischen dem politischen Inhalt der Debatten und der Erinnerungsleistung bei Befragten, deuten aber wieder auf einen möglichen Zusammenhang zwischen einem eher positiven Debattenverhalten der Politiker und dem Zugewinn von Wahlerstimmen hin. Die wohl ausführlichste Inhaltsanalyse einer Debatte wurde von Weiss anlaßlieh der Debattenserie von 1972 erstellt.32 Er war zum einen an der demokratietheoretischen Perspektive der Debatten und zum anderen an den Einflußmöglichkeiten der teilnehmenden Politiker interessiert. Sollte die Debatte lediglich dazu dienen, das persönliche Image des einzelnen teilnehmenden Politikers zu verbessern, dann würde diese Debatte, so die These, nicht zum demokratischen Prozeß beisteuern, im Gegenteil, sie wUrde den Zuschauer manipulieren und nicht den Wähler informieren. Er findet ebenso wie Baker und Norpoth 33 einen Informationszugewinn unter den Zuschauern. Ein betrachtlieber Teil der Debatten diente der Diskussion von sachlichen politischen Themen. Gleichzeitig jedoch, so argumentiert Weiss, führte die gesamte Organisation der Debatte zu deren Personalisierung und gab den Politikern somit die Möglichkeit, um Wahlerstimmen zu buhlen. Er fand insgesamt eine Verstärkung der Parteiprädispositionen und einige wenige Einstellungveranderungen, aber keine Verhaltenseffekte. Weiss argumentierte abschließend, daß Jetztendlich eine systematische Verbindung von Debatteninhalt und Umfrageantworten nötig sei, um kausale Aussagen zu treffen. Insgesamt kristallisiert sich bei der Durchsicht dieser Literatur das fehlende Bindeglied zwischen dem aktuellen Debatteninhalt und der Information, die man Ober die Zuschauer hat, als ein großes Problem der Debattenforschung heraus. Forscher konzentrieren sich entweder auf die Effekte - so vor allem in den USA - oder aber auf den Inhalt der Debatten. An dieser Stelle soll versucht werden, das Band zwischen Debatteninhalt und der Reaktion des Wählers herzustellen. Die Inhaltsanalyse der Debatten wird die Strategien aufZeigen, die die Politikern anwenden, um die Debatten zu gewinnen. Die Analyse der Wählerantworten wird den Nachweis erbringen, daß diese Strategien in der Tat die Perzeption des einzelnen Wählers beeinflussen.

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Sachthemen in den Fernsehdiskussionen 1972-1980, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und politisches System, Opladen: Westdeutscher Verlag 1983; Peter Schrott, The West Gennan Television Debates, 1972- 1983: Candidate Strategiesand Voter Response, Diss., State University of New York, Stony Brook, 1986. Baker/Norpoth, Candidates on Television (Anm. 29). Baker/Norpoth/Schönbach, Die Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten (Anm. 20). Weiss, Wahlkampf im Fernsehen (Anm. 20). Baker/Norpoth, Candidates on Television (Anm. 29).

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

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3. Das Konzept des Siegers

Obwohl die meisten Forscher argumentieren, daß Debatten einzelne Ereignisse in einer Vielzahl von Wahlkampfveranstaltungen sind und somit von ihnen kein durchschlagender Effekt erwartet werden könne34, schrieben einige Forscher John F. Kennedys Wahlsieg 1960 seiner exzellenten Debattenleistung zu. 35 Debatten, zumindest im amerikanischen Kontext, mögen auch von Bedeutung sein, wenn ein Politiker verzweifelt versucht, den Abstand zu einem anderen Politiker wettzumachen. So sah Walter Mondale 1984 seine einzige Chance darin, durch eine hervorragende Debattenvorstellung den Vorsprung von Ronald Reagan wettzumachen. Und tatsächlich haben Umfragen nach der ersten Debatte gezeigt, daß Mondale an Popularit!U gewonnen hatte und den Abstand zu Ronald Reagan verkürzen konnte.36 Folglich kann ein Politiker, wenn er in einer Debatte siegt, zumindest kurzfristig an Popularität gewinnen und dadurch einen gewissen Effekt auf die Zuschauerschaft ausstrahlen. Der Sieg in einer Debatte mag auch einen indirekten Effekt nach sich ziehen, der in der Natur der Debatte begründet liegt. Eine Debatte ist grundsätzlich ein Wettbewerb zwischen zwei oder mehreren Teilnehmern und ist dadurch ein integraler Bestandteil des "Wahlkampfwettrennens".37 Dabei ist es für das Publikum möglich, einen Sieger und einen oder mehrere Verlierer zu sehen. Darüber hinaus finden diese Debatten relativ kurzfristig - vor allem in der Bundesrepublik - vor dem Wahltermin statt und könnten somit einen Ausschlag dadurch geben, daß sie das letzte politische Ereignis darstellen, an das sich der Wähler erinnert. Das heißt, der Zuschauer mag einzelne Themen, Probleme und Besonderheiten der verschiedenen Politiker vergessen haben, nicht aber die grundsätzliche Einschätzung des Politikers in der Debatte; er mag sich an den Sieger und/oder den Verlierer erinnern. Inwiefern dieser indirekte Effekt einen unentschlossenen Wähler leiten könnte, wenn er in der Wahlzelle steht, um seine Stimme abzugeben, wurde in verschiedenen Studien aufgezeigt. McLeod, Dural, Ziemke und Bybee38 fanden einen Effekt des "Siegers" auf die Veränderung von Wahlabsichten bezüglich des Kandidaten. Weiterhin engagierten sich die Befragten, die Carter als den Sieger sahen, zunehmend im Wahlkampf und zeigten eine verstärkte Annäherung an die demokratische Partei. Im bundesrepublikanischen Kontext wurde in einer Studie39 der systematische Zusammenhang zwischen dem Debattensieger und dessen Perzeption auf das individuelle Wahlverhalten aufgezeigt. So beeinflußt die Variable Debattensieger die Perzeption des 34 35 36 37 38

Vgl. Kraus (Hrsg.), The Great Debates(Anm. 3 u. 4). Siehe KaWFeldman, The Debates in the Light of Research (Anm 3). Siehe die New York Timesv. 8.10.1984. Siehe KaWFeldman, The Debates in the Light of Research (Anm 3). Jack M. McLeod/Jean A. Duraii/Dean A. Ziemke/Carl R Bybee, Reactions of Young and 01der Voters: Expanding the Context of Effects, in: Kraus (Hrsg.), The Great Debates (Anm. 4). 39 Siehe Peter Schrott, Electoral Consequences of Winning Campaign Debates, Papier, vorgestellt auf der Jahresversammlung der Midwest Political Science Association, Chicago, April 1988.

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PeterSchrott

jeweiligen Kandidaten, d.h. wird ein Kandidat als Sieger der Debatte angesehen, so wird er generell positiver eingeschätzt. Darüber hinaus kann ein Politiker durch den Sieg in einer Debatte den Wähler auch direkt zu seinen Gunsten beeinflussen. Dabei tritt weniger ein Persuasions- als ein Verstärkereffekt ein. Das heißt, unentschlossene oder in ihrer Entscheidung schwankende Wähler werden in ihren - schwach - vorgeprägten Meinungen bestärkt, sofern der Politiker der bevorzugten Partei als Debattensieger eingeschätzt wird. Es drangt sich nun die Frage auf, wodurch die Perzeption eines Debattensiegers geprägt und beeinflußt wird. Wie schon erwähnt, wird das Hauptinteresse eines Politikers darauf beruhen, die Debatte zu gewinnen, um seine Wähler zu mobilisieren und um unter Umständen noch Wählerentscheidungen zugunsten seiner Partei zu beeinflussen. Kann der Politiker durch eine geschickt gewählte Strategie die Perzeption des Zuschauers systematisch zu seinen Gunsten beeinflussen, oder ist der Debattenausgang abhängig von Variablen wie Parteineigung, äußeres Erscheinungsbild oder ähnliches? Kann ein Politiker seine Strategie so wählen, daß er sich und seine Partei erfolgreich durch eine Debatte führen und den Zuschauer davon überzeugen kann, daß er bzw. seine Partei die einzige Alternative ist, wofür es sich zu stimmen lohnt?

4. Debattenstrategien

Myles Martel, 1980 ein Medienberater von Ronald Reagan, beschreibt zwei breite Klassen von Strategien40, die der Politiker vorab zu wählen hat. Die eine ist die inhaltliche Strategie, d.h. der Politiker und seine Berater entscheiden, welche Themen in der Debatte angesprochen werden. Obwohlletztere zu einem gewissen Teil von den Moderatoren und deren Fragen festgelegt werden, finden die Teilnehmer doch genUgend Ausflüchte und Möglichkeiten, die thematischen Inhalte nach ihren Neigungen auszurichten.41 Die andere ist die interaktive Strategie. Sie bestimmt den Modus des Verhaltens in der Debatte. Martel 42 benennt fünf grobe interaktive Strategien: Angriff, Verteidigung, Verkauf, Ignorieren und "ich auch ... aber besser". Die Angriffsstrategie wird gewöhnlich von den Politikern der Oppositionsparteien angewandt. Es gilt unter anderem, den "Kanzlerbonus"43 direkt zu überwinden. Durch den Angriff auf den Kanzler versuchen die Oppositionspolitiker, die Unterschiede zwischen der Perzeption seiner Errungenschaften und seinen tatsächlichen Leistungen herauszustellen. Der Kanzler - auf der anderen Seite - wird den Herausforderer zumindest teilweise attackieren. Er möchte weder als "zu weich" eingeschätzt noch von dem Gegner auf 40 Myles Martel, Political Campaign Debates. Images, Strategies, and Tactics, New York/London, Longman 1983. 41 Vgl. Evron M. Kirkpatrick, Presidential Candidate Debates: What Can We Leam From 1960?, in: Ranney (Hrsg.), The Past and the Future (Anm. 5). 42 Martel, Political Campaign Debates(Anm. 40). 43 Vgl. Helmut Norpoth, Kanzlerkandidaten, in: Politische Vierteljahresschrift, 18.Jg. 1977, H. 2/3, s. 551-572.

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

655

dessen Themen fiXiert werden. Durch einen Konterangriff kann er die Schwächen des Angreifers zur Disputation stellen. Statt zu kontern mag ein Politiker auch versuchen, sich gegen Attacken zu verteidigen, besonders dann, wenn es sich um wichtige Themen seiner politischen Linie handelt. Durch eine Verteidigung der Themen folgt er seiner inhaltlichen Strategie.44 So stellen zum Beispiel die Oppositionspolitiker in fast jeder Debatte die ökonomischen Leistungen der Regierung in Frage. Diese Attacken voraussehend, mag der Kanzler bereits eine Strategie entwickelt haben, die darauf ausgerichtet ist, genau diese Leistungen zu verteidigen. Die wohl am haufigsten gewählte Strategie für einen Amtsinhaber ist die Verkaufsstrategie, um das Beispiel der ökonomischen Leistungen nochmals aufzugreifen. Der Kanzler wird mit großer Wahrscheinlichkeit versuchen, die wirtschaftlichen Erfolge seiner Regierung herauszustellen, besonders dann, wenn diese Leistungen hinterfragt werden oder aber relativ unbekannt sind. Die Verkaufsstrategie ermöglicht darüber hinaus, neben der Regierungsleistung auch persönliche Charakteristika, eigene Verdienste in der Vergangenheit und die eigene Kompetenz hervorzuheben. Eine weitere Strategie ist die, den politischen Gegner einfach zu ignorieren. In der bundesdeutschen Debattenkonstellation mit mehreren Teilnehmern, die in Parteikoalitionen eingebunden sind, ist es denkbar, daß die Kanzlerkandidaten den politischen Partner des Gegners ignorieren. Damit könnte zum einen die politische "Bedeutungslosigkeit" des Betreffenden unterstrichen und zum andern die Energie für den Schlagabtausch mit dem eigentlichen Kontrahenten um das politische Amt konserviert werden. Die Strategie des "ich auch ... aber besser" wird vornehmlich dann bevorzugt, wenn die Leistungen des herausgeforderten Politikers auf einem bestimmten Gebiet in der Öffentlichkeit anerkannt werden und durch eine Attacke riskiert werden würde, einen negativen Effekt gegen die eigene Politik zu bewirken. In diesem Fall mag es weise sein, sich mit des Gegners Zielen und Erfolgen zu identifiZieren und gleichzeitig zu insistieren, daß die eigenen Fähigkeiten auf diesem Gebiet zu einer noch effizienteren Politik führen würden. Natürlich sind diese Strategien relativ grob im Design und schließen sich nicht gegenseitig aus. Im Gegenteil, die meisten Politiker werden eine gemischte Strategie planen und anwenden. Abhängend von ihrer inhaltlichen Strategie, werden sie defensiv auf Attacken reagieren, den politischen Gegner attackieren und gleichzeitig ihre eigene Kompetenz hervorheben. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß eine Debatte mit einer einzigen Strategie ausgefochten wird. Vielmehr ist zu vermuten - und das soll diese Analyse aufzeigen -, daß Politiker überwiegend einer Strategie folgen und daß diese Strategien von Politiker zu Politiker unterschiedlich sind. Die interaktiven Strategien sind für diese Analyse von besonderem Interesse, da angenommen wird, daß sie zu einem großen Teil entscheiden, wer in den Augen des Publikums am besten abschneidet und wer am meisten von den Debatten profitieren wird. Die 44 Vgl. Martel, Political Campaign Debates (Anm. 40).

656

Peter Schrott

Bedeutung und Wichtigkeit eines Debattensieges läßt sich am besten durch ein Zitat eines Wahlkampfberaters von Ronald Reagans belegen: "If the govenor succeeds ... in making Jimmy Carters record the major issue of the debate in the campaign we will succeed in the debate and win the election." 45

5. Format der Debatten

Bei der ersten Debattenserie 1972 mußte über ein Debattenformat und die mögliche Teilnahme entschieden werden, die allen Beteiligten zusagte. Nachdem sich die Parteien nicht auf eine direkte Konfrontation der zwei Spitzenkandidaten wie in den USA einigen konnten46, wurde eine Diskussion der Parteivorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien beschlossen. 1976 wurde die Teilnehmerschaft auf den Parteivorsitzenden oder den Kanzlerkandidaten erweitert, da Helmut Schmidt zwar der Spitzenkandidat, nicht aber der Parteivorsitzende war. In Tabelle 1 sind sämtliche Debattenteilnehmer seit 1972 aufgelistet.

Tabelle 1:

Teilnehmer der Fernsehdebatten 1972-1987

Politiker der Parteien:

1972

1976

1980

1983

1987

SPD

Brand!

Schmidt

Schmidt

Vogel

Rau

CDU

Barzel

Kohl

Kohl

Kohl

Kohl

F.D.P.

Scheel

Genscher

Genscher

Genscher

Bangemann

csu

Strauß

Strauß

Strauß

Strauß

Strauß

Die Grünen

Ditfurth

Mit Ausnahme von 197247 fand die Debatte drei bis vier Tage vor der Wahl statt und wurde von beiden großen Fernsehanstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausgestrahlt. Da sie - besonders vor Einführung des Privatfernsehens - die einzige Alternative des Fernsehabends darstellte, war eine große Sehbeteiligung garantiert. So gaben 1972 84 Prozent der Befragten an, die Debatte teilweise oder ganz gesehen zu haben. 1976 sahen 75 Prozent die Debatte, 1980 68 Prozent, 1983 56 Prozent und 1987 gaben immerhin noch 46 Prozent an, die "Elefantenrunde" gesehen zu haben.

45

Zit. in: ebd., S. 19.

46 Vgl. Baker/Norpoth, Candidates on Television (Anm. 29). 47 Vgl. ebd.

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

657

Diese Zuschauerzahlen, auch wenn fallend, spiegeln ein starkes Interesse in der Wahlbevölkerung wider und unterstreichen die potentiellen Einflußmöglichkeiten der Politiker auf die Wahlentscheidung. Was immer der Wähler an neuen Informationen zugewinnt oder wie immer sein Eindruck von den Debattenleistungen ist - es wird frisch in der Erinnerung haften, wenn drei Tage später die Stimme abgegeben wird.

6. Daten und Methoden

Um die Frage nach den Strategien und deren Einfluß auf die Perzeption des Zuschauers zu beantworten, werden Daten aus Inhaltsanalysen mit Daten von Wahlumfragen in direkten Zusammenhang gebracht. Die Inhaltsanalysen liefern die aggregierten Daten für das individuelle Verhalten eines jeden teilnehmenden Politikers in den Debatten, und die Umfragen liefern uns die Information darüber, wie diese Verhaltensweisen vom Wähler eingeschätzt wurden. Das Codierschema für die Inhaltsanalyse ist von Klingemann48 entwickelt und seitdem erfolgreich auf Inhaltsanalysen von Parteiplattformen, Wahlkampfreden49 und Fernsehdebatten angewandt worden. 50 Es besteht aus 52 unterschiedlichen Kategorien, die in sieben Oberkategorien eingeteilt sind: Ideologie, soziale Gruppen, Innenpolitik, Außenpolitik, Regierungs- und Parteimanagement, persönliche Eigenschaften von Politikern und nichtpolitische Eigenschaften.51 Die Analyseeinheit ist das politische Argument und wird dann als eine Beobachtung oder Referenz codiert, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: 1. Das Argument bezieht sich auf eine der politischen Parteien in der Bundesrepublik oder auf einen Politiker; 2. dieser Bezug zu einem Politiker oder einer Partei ist positiv oder negativ. Nur wenn diese zwei Bedingungen erfüllt sind und ein Satz ein Argument enthalt, das eine Partei oder einen Politiker mit einem der 52 Eigenschaften in Verbindung bringt, wird es als eine Referenz kodiert. Eine Referenz ist dann als positiv definiert, wenn sie entweder eine positiv bewertete Eigenschaft mit einer der Parteien oder einem Politiker assoziiert oder eine negativ bewertete Eigenschaft von einem dieser Objekte disassoziiert Eine negative Referenz würde dann den inversen Fall darstellen, d.h. eine Referenz, die entweder etwas negativ mit einem Objekt assoziiert oder etwas positiv von diesem Objekt disassoziiert 52 Samtliehe Debatten von 1972 bis 1987 wurden nach diesem Codierschema analysiert, um die inhaltlichen wie interaktiven Strategien der teilnehmenden Politiker herauszuarbeiten.

48 49 50 51 52

Hans-Dieter Klingemann, Standardcode zur Verschlüsselung der Einstellungen zu den politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Mannheim: ZUMA 1976. Vgl. Klaus Schönbach, Wahlprogramme und Wählerrneinung, in: Politische Vierteljah~ schrift, 18.Jg. 1977, H. 2/3, S. 360-407. Baker/Norpoth, Candidates on Television (Anm. 29); Baker/Norpoth/Schönbach, Die Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten (Anm. 20). Eine detaillierte Beschreibung gibt Schönbach, Wahlprogramme (Anm. 49). Vgl. Norpoth/Baker, Politiker unter sich (Anm. 29).

658

Peter Schrott

Während die inhaltliche Strategie direkt als Variable in der Inhaltsanalyse erhoben wird, erfordert die Operationalisierung der interaktiven Strategien noch einige ergänzende Ausführungen. Es wird angenommen, daß ein Politiker sich "verkauft", indem er positive Aussagen an seine Person, an seine Erfolge als Politiker, an seine Parteiziele und seine Ideen bindet. Ein Politiker, der eine Verteidigungsstrategie bevorzugt, wird ahnliehe Ausprägungen aufzeigen, d.h. er summiert positive Argumente auf seinem Konto. Eine Angriffsstrategie bedeutet, daß der Politiker seinen Gegner mit negativen Aussagen belegt.53 Die "ich auch ... aber besser"-Strategie zeichnet sich durch einen hohen Anteil von positiven Aussagen aus, da auch der politische Gegner im positiven Zusammenhang angesprochen wird. Eine gemischte Strategie von Verkauf und/oder Verteidigung bei gleichzeitigem Angriff auf den politischen Gegner dürfte eine ausgeglichene Bilanz von positiven und negativen Referenzen ergeben. Durch Aggregation dieser positiven und negativen Referenzen erhalten wir einen Indikator für die Globalstrategie. Diese Information wird dann mit der Perzeption der Debatte in der Bevölkerung in Beziehung gesetzt. Getestet wird, ob das tatsächliche Debattenverhalten die Gesamteinschätzung der Debattenleistung, nämlich wer der Sieger war, beeinflußt. Sollte dies der Fall sein, wird die Analyse auch zeigen, welche Strategie die beste ist, um eine Debatte zu gewinnen. Die Daten zur Einschätzung der Debatten in der Meinung der Zuschauer erhalten wir durch die Aggregation von Umfragen. Diesen Teil der Daten liefern nationale Wahlumfragen von 1972, 1976, 1980, 1983 und 1987. 54 Die Frage nach dem Sieger wurde in den Umfragen von 1972 bis 1980 wie folgt gestellt: "Welcher der vier Politiker hat Ihrer Ansicht nach - alles in allem - am besten dabei abgeschnitten?" Als Antwortmöglichkeit konnte jeweils einer der Teilnehmer oder "Alle gleich gut" bzw. "Alle gleich schlecht" genannt werden. Die Frage für die Debatte 1987 lautete: "Diese Gesprächsrunde ist ja wie eine Art Wettkampf- was meinen Sie, wer von den fünf der Sieger war, wer hat gewonnen?" Aggregiert wurde die jeweilige Anzahl der Befragten, die einen der teilnehmenden Politiker als Sieger ansahen. In etlichen Studien wird argumentiert, daß die Parteineigung des Zuschauers den entscheidenden Faktor in der Beurteilung der Debattenleistung eines Politikers darstellt. Danach sieht ein Wähler mit einer bestimmten Parteineigung in dem Politiker dieser Partei den Sieger, weil er seine vorgefaßten Meinungen auf diesen Politiker projiziert und gleichzeitig alles ablehnt, was der Oppositionspolitiker dazu zu sagen hat. In diesem Falle hätte das Verhalten des einzelnen Politikers keinen Einfluß auf den Zuschauer, da der Ausgang der Debatte schon vorher bestimmt wäre. Deshalb wird die Parteineigung des Befragten in die Analyse mit einbezogen.

53

Die Strategie, den Gegner oder andere Teilnehmer zu ignorieren, läßt sich nur auf der individuellen Ebene zwischen zwei Politikern nachvollziehen und ist innerhalb einer Gesamtstrategie nicht meßbar. Vgl. dazu Baker/Norpoth, Candidates on Television (Anm. 29). 54 Die Datensätze der Wahlumfragen 1972 bis 1980 wurden vom ICPSR (Studiennummern 7102, 7513, 7963) in Ann Arbor, Michigan, die von 1983 vom Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung Köln (ZA-Nr. 1275,1276) und die von 1987 freundliehetweise vom Institut für Demoskopie in Allensbach zur Verfügung gestellt.

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

659

7. Ergebnisse

Rückschlüsse auf Erfolg oder Mißerfolg der einzelnen Strategien können nur durch die Kenntnis sowohl der Inhalte der Debatten als auch der Antwort der Wähler gezogen werden. Gleichermaßen müssen die interaktiven Beziehungen bekannt sein, weil eine erfolgreiche Debatte zweifellos nicht nur vom Inhalt einer Mitteilung abhängt, sondern auch davon, wie diese Mitteilung dem Publikum vermittelt wird. Deshalb wird zunächst der Inhalt jeder Debatte in deskriptiver Weise analysiert, um die inhaltlichen und die interaktiven Debattenstrategien herauszuarbeiten. Anschließend wird in einer Regressionsanalyse der Zusammenhang zwischen den Strategien der Politiker und den Zuschauerreaktionen hergestellt werden.

ZJ

Der Inhalt der Debatten

In Tabelle 2 sind die angesprochenen Themen der Debatten von 1972 bis 1987 aufgelistet. Die Befunde dieser politischen Inhalte enthalten einige interessante Aspekte, die einer Kommentierung bedürfen. Im Jahre 1972 war der Hauptargumentationsstrang auf die Außenpolitik gerichtet (42 Prozent). Das am häufigsten diskutierte Thema behandelte die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten (30 Prozent). Zuvor hatten die DDR und die Bundesrepublik den Grundlagenvertrag abgeschlossen, der einen Markstein in der deutschdeutschen Politik darstellte und die Beziehungen zwischen den beiden Regierungen verbessern sollte. In den Debatten von 1972 bot nun dieser Vertrag den Regierungspolitikern - vor allem Brandt - die Möglichkeit, ihre Errungenschaften zur Schau zu stellen, wobei die Popularität des Vertrages der Opposition eine Kritik fast unmöglich machte. Im Bereich Innepolitik (29 Prozent aller Referenzen) nahmen die Diskussionen über Wirtschaftspolitik den größten Raum ein, während ideologischen Unterschieden (2 Prozent) und sozialen Gruppen (3 Prozent) nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Der Rest der Diskussionen bezog sich auf Regierung und Partei-Management (24 Prozent). Dabei entfielen 13 Prozent, der Großteil der Argumente, auf politische Ethik, Fairneß und Ehrlichkeit55 • In der Debatte 1976 verschob sich der inhaltliche Schwerpunkt von der Außenpolitik (16 Prozent) auf die Innenpolitik (40 Prozent). Das Schlüsselproblem stellte die Bildungspolitik (17 Prozent) dar, besonders Lehrstellen. Dem folgten Aussagen zur Wirtschafts- (10 Prozent) und Sozialpolitik (6 Prozent). Das Thema Beziehungen zur DDR fiel deutlich ab, stellte jedoch mit zwölf Prozent noch immmer den stärksten Anteil der außenpolitischen Diskussion dar. Während das Interesse an sozialen Gruppen mit drei Prozent niedrig blieb, stieg die Häufigkeit mit Ideologie verbundener Referenzen deut55

Zumeist wurden dabei die politischen Führungskräfte angesprochen. Vgl. hierzu Baker/Norpoth, Candidates on Television (Anm. 29).

660

Peter Schrott

lieh an (11 Prozent). Die politische Ethik und Fairneß war wiederum ein stark debattiertes Thema und nahm dieses Mal den größten Einzelanteil an den Debatten ein (18 Prozent). Tabelle 2:

Die Themen der Fernsehdiskussionen 1972

1976

1980

Ideologische Eigenschaften

2

11

7

Soziale Gruppen

3

3

3

3

4

Innenpolitik Wirtschaftspolitik Lohn-/Preispolitik Arbeits-/ Beschäftigungspolitik Sozialpolitik Steuerpolitik Bildungspolitik Innere Sicherheit/ Recht- und Ordnung Umweltpolitik Frauenpolitik Sonstiges

29 12 5

40 10 1

25

32 12 1

48 7

1 2 2 2

3 6 2 17

2 1

6 4 2 1

5 8 5

12

1 5

3 13 4 3

Außenpolitik Deutschlandpolitik Ostpolitik West/Bündnispolitik Europäische Einzelstaaten Dritte Welt Sonstiges

42 30 4 1

24 6

34

19 1 4 10

Regierungs- und Oppositionsleistung Errungenschaften im Amt Politische Moral, Ethik, Faimeß Wahlkampfstil Organisation Parteigruppierungen Sonstiges Summe N a

5

16 12 4

10

5 12

1983

1987 5

4 11 19

2 4 1

1 3

24

30

42

31

25

2

2

4

4

6

13

18 6 3 1

24 5 7 2

4 18 5

5 7 6

6 2 1

1 100 1387

100 942

Aufgrund von Rundungsfehlern ungleich 100.

100 896

100 671

101a 807

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

661

Die Debatte von 1980 wurde vorrangig auf personiftzierter Ebene ausgetragen. 42 Prozent aller Referenzen wurden der Kategorie "Regierung und Partei-Management" zugeordnet, das entspricht etwa der Anzahl der Referenzen zur Innen- und Außenpolitik (49 Prozent). Den Löwenanteil in der Debatte stellte erneut die "Ethik" dar. 24 Prozent aller Argumente bezogen sich auf politische Moral, Fairneß und Ethik der Teilnehmer und deren Parteien. Die Problematik des Terrorismus gewann an Bedeutung (12 Prozent), und auch die Diskussion zur Wirtschaftspolitik zog die Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf sich (10 Prozent). Außenpolitische Fragen wurden genauso intensiv -oder genauso träge - diskutiert wie Fragen der Innenpolitik. Der 24-prozentige Anteil dieser Referenzen umfaßte die Beziehungen zum Westen (12 Prozent), die Beziehungen zum Osten allgemein (5 Prozent) und die innerdeutschen Beziehungen (6 Prozent). Die Annäherung an soziale Gruppen wurde erneut vermieden (3 Prozent), während die Teilnehmer ein beachtenswertes Interesse daran fanden, sieb gegenseitig mit ideologischen Attributen in Zusammenbang zu bringen (7 Prozent). Die Debatte von 1983 zeigt ein neues Bild. 34 Prozent des kodierten Materials bezogen sich auf Fragen der Außenpolitik, 32 Prozent auf die Innenpolitik und 31 Prozent bezogen sieb auf Regierungs- und Partei-Management. Der führende Gesichtspunkt in der Innenpolitik war die Wirtschaftspolitik (12 Prozent), gefolgt von Arbeitslosigkeit (6 Prozent), Ökologie (5 Prozent) und sozialpolitischen Problemen (4 Prozent). Mit dem Thema Ökologie kam 1983 in den Debatten eine neue Problematik auf. Zum ersten Mal nahmen sich die Teilnehmer die Zeit, ökologische Fragen zu diskutieren. Fünf Prozent aller Referenzen beschäftigten sich mit diesen Problemen und spiegelten das steigende Interesse der Bevölkerung an ökologischen Fragen und das Anwachsen einer ökologischen Partei (der Grünen) wider. 56 In der Außenpolitik bestimmten die Beziehungen zum Westen (19 Prozent) die Diskussionen. Dabei ging es hauptsächlich um die Haltung und das Engagement der verschiedenen Parteiführer und ihrer Parteien zur NATO und zu Deutschlands bedeutendstem Verbündeten, den USA An nächster Stelle standen die Beziehungen zu Osteuropa (11 Prozent), und als drittes folgte die deutsch-deutsche Politik (4 Prozent). In dem Bereich Regierungs- und Partei-Management (31 Prozent) stellte die politische Ethik in dieser Debatte nur einen kleineren Diskussionspunkt dar (4 Prozent). Den Hauptanteil (18 Prozent) nahmen Argumente über die Art der Kampagne und die Strategien der Mitglieder ein. Die Debatte von 1987 war geprägt von der innenpolitischen Diskussion. Das Thema Umweltpolitik nahm mit 13 Prozent den Löwenanteil ein. Ein weiteres neues Thema wurde in die Debatte eingeführt, die Frauenpolitik. Immerhin wurde dieser Bereich in vier Prozent der Fälle angesprochen. Diese Themen spiegeln zum einen das steigende Interesse und die Publizität umweltpolitischer Problembereiche und zum anderen die erstmalige Teilnahme einer Politikerin der Grünen wider. Auch die Diskussion zur Sozial-

56

Die Grünen errangen bei den Wahlen 1983 schließlich 5,6 Prozent der Stimmen.

662

Peter Schrott

politik resultiert in erster Linie aus einem Disput zwischen Frau Ditfurth und ihren mannliehen Kollegen. Etwa jedes vierte Argument wurde mit Regierungs- und Oppositionsleistungen verknüpft. Diese Aussagen verteilen sich relativ gleichmäßig auf die generellen Leistungen im Amt (6 Prozent), politische Moral, Ethik und Fairneß (5 Prozent), Wahlkampfstil (7 Prozent) und Parteiorganisation (6 Prozent). Die Verteilung der Debattenschwerpunkte deckt einige interessante Fakten auf. Ein Ergebnis ist - allgemein gesprochen -, daß die Debatten nicht in jedem Wahljahr unter denselben Gesichtspunkten, mit denselben Schwerpunkten durchgeführt werden. Wieviel Aufmerksamkeit einem bestimmten Thema gewidmet wird, hangt von dessen Bedeutung im betreffenden Wahljahr und der allgemeinen Kampagne ab. Themen, die in der Kampagne von Bedeutung waren, werden es auch in der Debatte sein. Große Ereignisse im Zeitraum der Wahlkampagnen wie der Grundlagenvertrag 197257, Bildungspolitik 1976, Terrrorismus 1980, Bindung an die NATO und die USA 198358, die anhaltende Umweltdiskussion 1987, ziehen ebenfalls eine große Beachtung in den Debatten auf sich. Dennoch gibt es ein Muster von Themen, das für eine von allen Teilnehmern augewandte Hauptstrategie kennzeichnend ist. So gibt es in jeder Debatte ein konstant starkes Interesse an sachlichen Themen der Innen- und Außenpolitik, wobei beispielsweise wirtschaftliche Themen wie Arbeitslosigkeit, Löhne und Preise immer angesprochen werden. Auch gibt es einen festen Anteil von Themen, die auf personifizierte Argumente und die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner schließen Jassen.

7.2

Interaktionen der Debattenteilnehmer

Es wurden drei Typen von interaktiven Debattenstrategien untersucht. Da ist zunächst die Globalstrategie, d.h. die generelle Einstellung und Verhaltensweise der Teilnehmer zueinander. Diese Strategie ist vom Politiker vorab gewählt und er entscheidet, ob er sich in erster Linie verkaufen oder ob er den politischen Gegner attackieren möchte. Zwei weitere Indikatoren in dieser Analyse wurden aufgrund des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland ausgewählt. Zwar ist die Fernsehdebatte eine Diskussion von Spitzenpolitikern der Parteien - wovon zwei die Kanzlerkandidaten sind -, aber gewählt wird die Partei. Dennoch hat die Wahlforschung gezeigt, daß auch die Images der Kanzlerkandidaten für die Wahlentscheidung an Bedeutung gewinnen. 59 Das heißt, der Politiker wird versuchen, sowohl sich als auch seine Partei anzupreisen. Die Frage ist, ob er dies gleichermaßen tut oder ob hinsichtlich Partei und Politiker unterschiedliche 57 Vgl. Max Kaase, Die Bundestagswahl1972: Probleme und Analysen, in: Politische Vierteljahresschrift, 14.Jg. 1973,8.145-190. 58 Vgl. David P. Conradt, The 1983 Federal Election: A PreliminaiY Analysis, Papier, vorgestellt auf der Jahresversammlung der American Political Science Association, Chicago, 1.-4. September 1983. 59 Helmut Norpoth, Kanzlerkandidaten (Anm. 43).

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

663

Strategien angewandt werden. Denkbar wäre eine eher sachliche Debatte bezüglich der Parteiprogramme und -plattformen und eine eher personifizierte Debatte in der Auseinandersetzung mit dem einzelnen Politiker. Auf diesen Überlegungen basierend, wurden die Indikatoren "Politiker"-Strategie und "Parteien"-Strategie gebildet.

7.3

Globalstrategie

Als Indikator für die Globalstrategie wurde der Anteil der positiven Referenzen der jeweiligen Teilnehmer aggregiert. Tabelle 3 verdeutlicht die unterschiedlichen Strategien, die die Politiker anwandten. Brandt, SPD-Führer 1972, verfolgte eine Verkaufs- und Verteidigungsstrategie mit knapp 70 Prozent positiver Referenzen (eine reine Verkaufsstrategie würde sich zu 100 Prozent addieren). Schmidt, Bundeskanzler von 1974 bis 1982, betrieb eine gemischte Strategie von Verkaufund Verteidigung der eigenen Errungenschaften und ein Attackieren der Opposition (eine rein gemischte Strategie würde sich auf 50 Prozent belaufen). Mit knapp 54 Prozent positiver Referenzen im Jahre 1976 und gut 52 Prozent im Jahre 1980 repräsentierte er eine fast gleiche Verteilung positiver und negativer Äußerungen. Vogel (1983) stützte sich auf eine eher positive Strategie, während Rau 1987 eine nahezu ausgeglichene Strategie wählte. Tabelle 3:

Globalstrategie-PositiveReferenzen der Teilnehmer (in Prozent)

Politiker der Parteien:

1972

1976

1980

1983

1987

SPD

69.9

53.7

52.2

61.1

53.0

CDU

38.0

29.0

35.5

73.3

66.1

F.D.P.

72.3

74.2

62.1

74.2

72.2

csu

20.8

17.8

30.0

39.1

36.7

Die Grünen

26.0

Der F.D.P.-Führer stellte deutlich den Teilnehmer mit der stärksten Verkaufsstrategie dar. Da er häufig von anderen Teilnehmern ignoriert wurde60 , konnte er problemlos eine reine Verkaufsstrategie verfolgen. Sein geringer Anteil von nur 62 Prozent positiver Referenzen im Jahre 1980 war vermutlich das Resultat der Angriffe durch Strauß (CSU), die Genscher (F.D.P.) zum Gegenangriff zwangen.

60 Vgl. Baker/Norpoth, Candidates on Television (Anm. 29).

664

Peter Schrott

Die einzig wirkliche Veränderung der Strategien in dieser Zeit kann bei den CDU-Politikern gefunden werden. Im Jahre 1972 wahlte der CDU-Führer Barzel eine Angriffsstrategie. Dieser Strategie folgte der neue CDU-Führer Kohl1976 und 1980. 1983 wechselte Kohl jedoch zu einer deutlichen Verkaufsstrategie über; inzwischen war er Bundeskanzler geworden. 61 Diese positiv ausgerichtete Globalstrategie behielt er auch 1987 bei. Strauß (CSU) schien hauptsachlich eine Angriffsstrategie zu verfolgen. Nur in den Jahren 1983 und 1987 kam er über die 30- Prozent- Schwelle positiver Äußerungen. Dies ist vermutlich auf die Bildung der neuen Regierungskoalition von CDU/CSU und F.D.P. zurückzuführen. In dieser Situation hatte Strauß sogar etwas Positives über den F.D.P.Spitzenpolitiker zu sagen. Trotz des relativen Anstieges positiver Äußerungen 1983 und 1987 bestand seine Globalstrategie darin, seine Gegner durch Angriff zu schlagen. Bei der Vertreterinder Grünen, Frau Ditfurth, überwog die Angriffsstrategie. Diese Globalstrategie entspricht zum einen dem erwarteten Verhalten einer Oppositionspolitikerin und mag zum anderen Ausdruck dafür sein, daß sich die Politikerin teilweise gegen alle anderen Teilnehmer zur Wehr setzen mußte und dies zumeist in Form von Konterangriffen tat.

Z4

"Politiker"-Strategien

Die Art und Weise, in der die Teilnehmer mit sich selbst und miteinander umgingen, wurde analysiert, indem die Differenz von positiven und negativen Binsehatzungen jedes Teilnehmers mit personellem Bezug berechnet wurde. Dies gibt uns einen Indikator über eine personenbezogene Grundstrategie, ob eine Verkaufs- oder eine Angriffsstrategie überwiegt. Die Ergebnisse sind aus Tabelle 4 zu ersehen. 1972 und 1980 übermittelten alle vier Teilnehmer ein negatives Politikerimage. 1976 traf dies auf drei von vier Teilnehmern zu; die Ausnahme war Genscher (F.D.P.). 1983 jedoch wies nur ein Teilnehmer (Strauß, CSU) eine negative Bilanz auf. 1987 waren es Strauß und Ditfurth, die in überwiegend negativen Attributen ihren Erfolg suchten. Strauß' Angriffsstrategie reichte von einem eher gemaßigten Diskussionsstil im Jahre 1987 (minus 22 Prozent) bis zu heftigem Auftreten 1976 (minus 78 Prozent). Seine Auftritte 1983 (nur minus 30 Prozent) und 1987 wiederum spiegelten sein insgesamt positiveres Verhalten in diesen Debatten wider. Bei den SPD-Teilnehmern ist zwischen 1972 und 1980 ein negatives Verhalten zu Politikern zu verzeichnen. Die positive Differenz von 1983 (8 Prozent) und 1987 (5 Prozent) weist auf eine fast perfekte Strategie von Verkauf/Verteidigung und Angriff hin.

61

Daß es sich dabei um eine Verkaufs-, und nicht um eine Verteidigungsstrategie handelte, lag daran, daß der Oppositionsführer Vogel (SPD) Kohl nicht angriff, sondern ihn ignorierte. Vgl. dazu Schrott, The West German Television Debates (Anm. 29).

665

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

Tabelle 4:

Politiker der Parteien:

"Politiker"-Strategie- Referenzen der Teilnehmer, bezogen auf Politiker (in Prozent)•

1972

1976

1980

1983

1987

SPD

-18

-29

-32

+8

+5

CDU

-61

-60

-51

+17

+23

F.D.P.

-26

+40

-1

+39

+33

csu

-69

-78

-44

-30

-22

Die Grünen a

-78

Die Koeffizienten stellen die Differenzen zwischen positiven und negativen Referenzen dar.

Wahrend sich F.D.P.-Führer Scheel 1972 auf eine Angriffsstrategie konzentrierte, entwickelte Genscher eine andere Strategie. 1976 und auch 1983 verfolgte er vorrangig eine Verkaufsstrategie, wobei 1980 die Differenz von minus 1 Prozent einer gemischten Strategie von Verkauf und Angriff entspricht. Bangemann folgte 1987 Genschers Vorbild einer personenbezogenen Verkaufsstrategie, die mit etwa 35 Prozent deutlich positiver ausfiel als die der anderen Teilnehmer.

Z5

"Parteien"-Strategien

Um herauszufinden, wie die Teilnehmer die Errungenschaften und Fehler der Regierungs- und Oppositionsparteien diskutierten, wurde die Differenz von positiven und negativen Referenzen - diesmal mit Bezug auf die Parteien - berechnet. Die Ergebnisse dieses Indikators einer auf Parteien (und Institutionen wie ehemaliger und gegenwartiger Regierung) bezogenen Strategie sind in Tabelle 5 aufgezeigt. Zunachst weisen die Ergebnisse in Tabelle 5 Parallelen zur politischen Globalstrategie auf und divergieren deutlich von den auf die Politiker bezogenen Strategien. Die positive Differenz bei SPD- und F.D.P.-Politikern macht deutlich, daß sie vorrangig eine Verkaufs- und Verteidigungsstrategie gegenüber der Regierung, der Opposition und den Parteien allgemein verfolgten. Der CDU-Politiker weist in den Debatten von 1972 bis 1976 - als Oppositionsführer - eine negative Bilanz auf. Strauß (CSU) legte in allen fünf Debatten ein auf Angriff angelegtes Verhalten an den Tag. Generell wandten die Oppositionspolitiker in der Argumentation, die Parteien und Institutionen betreffend, vorrangig eine Angriffsstrategie an. Eine Ausnahme bildete der SPD-Spitzenkandidat Vogel 1983 und- etwas weniger ausgepragt- der Kanzlerkandidat Rau 1987.

666

Peter Schrott

Tabelle 5:

Politiker der Parteien:

"Parteien"-Strategie- Referenzen der Teilnehmer, bezogen auf Parteien (in Prozent)"

1972

1976

1980

1983

1987

SPD

+60

+49

+44

+17

+3

CDU

-10

-24

-4

+60

+36

F.D.P.

+67

+61

+43

+52

+48

-54

-59

-33

-19

-33

csu Die Grünen

a

-33

Die Koeffizienten stellen die Differenzen zwischen positiven und negativen Referenzen dar.

Das Auftreten der Regierungspolitiker deutet wiederum auf eine Verkaufs- und Verteidigungsstrategie hin. Die Abweichung der Norm findet sich bei Strauß, der niemals von seiner Angriffshaltung abgewichen ist, auch nicht als Mitglied der Regierungskoalition. Kohl jedoch wechselte bei seinem Amtsantritt 1983 als Kanzler von der Angriffszur Verkaufs- und Verteidigungsstrategie über, die er auch 1987 beibehielt. Zusammenfassend zeigen diese Ergebnisse, daß die individuelle Behandlung der Parteien zumindest teilweise von der Rolle des politischen Mandatträgers abh!!ngt.

7.6

Debattenstrategien und Zuschauerperzeptionen

Die Schwierigkeit, Debattenleistungen mit Zuschauerperzeptionen zu verbinden, liegt in dem Problem, diese unterschiedlichen Typen von Daten in einen Datensatz zu integrieren. Das Problem wurde dadurch gelöst, daß die Information über das Debattenverhalten der Politiker sowie die Wählerperzeptionen dieses Debattenverhaltens aggregiert wurden. Der individuelle Debattenteilnehmer ist hierbei die Analyseeinheit Die Variablen zum Debattenverhalten repräsentieren die in der vorhergehenden Inhaltsanalyse induzierten interaktiven Strategien. Diese unabhängigen Variablen sind die Globalstrategie (GS), "Politiker"-Strategie (PoS) und "Parteien"-Strategie (PaS). Die abh!!ngigen Variablen Sieger (SIE) und Verlierer (VER) wurden als der Prozentsatz der Befragten gemessen, die einen bestimmten Politiker als den Sieger sahen und als den Prozentsatz der Leute, die einen Politiker als den Verlierer sahen. Parteineigung (PID) wurde als eine Kontrollvariable mit in das Modell genommen und stellt die Prozentzahl der Befragten dar, die sich mit einer bestimmten Partei identifizieren.

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

667

Wer gewann und wer verlor

7. 7

Es wurde angenommen, daß der Ausgang einer Debatte von der Strategie abhängig ist, die jeder Politiker auswählt. Mit "Ausgang" ist das Urteil der Zuhörerschaft über die Leistung des einzelnen Teilnehmers an der Debatte gemeint. Jeder Politiker entscheidet sich für die Strategie, von der er annimmt, daß sie den Zuschauer zu seinen und seiner Partei Gunsten beeinflussen wird. Man mag argumentieren, daß die Zuschauer nur die zwei Kanzlerkandidaten beobachten und beurteilen. Und nur diese werden als potentieller Sieger bzw. Verlierer gesehen. In diesem Falle wären die kleineren Parteien und ihre Vorsitzenden irrelevant für den Ausgang der Debatte. Ein Blick auf Tabelle 6 belehrt uns jedoch, daß die Daten von vier Wahlumfragen62 diese These nicht bestätigen.

Tabelle 6: Politiker der Parteien:

SPD CDU F.D.P.

csu

DieGrünen

a

Sieger und Verlierer der Fernsehdebatten 1972-1987" (in Prozent)

1972

1976

1983

1987

Sie- Verger lierer

Sie- Verger lierer

Sie- Verger lierer

Sie- Verger lierer

40.2 13.2 30.5 7.9

22.8 21.0 34.7 7.1

23.6 39.4 8.3 7.6

5.3 28.0 8.4 5.9 8.4

13.3 31.7 4.4 45.3

28.7 17.7 5.6 33.7

36.5 4.6 16.3 21.3

1980 wurde weder nach Sieger noch nach Verlierer gefragt. 1987 wurde nicht nach dem Verlierer gefragt.

1972 gewann der SPD-Politiker Brandt, 1976 sein Koalitionspartner Genscher (F.D.P.) und 1983 wie auch 1987 siegte Kanzler Kohl (CDU). Mit anderen Worten, es war dreimal der Kanzler und einmal der Regierungskoalitionspartner, der die Zuschauer am meisten beeindrucken konnte. Die Verlierer auf der anderen Seite waren Strauß (CSU) 1972, 1976, 1987 und Vogel (SPD) 1983, d.h. der Verlierer der Debatte war zweimal der Spitzenpolitiker von der kleineren Oppositions- bzw. Regierungspartei und einmal der Kanzlerkandidat der Opposition63 • Das deutet darauf hin, daß der Kampf um den Debattensieg nicht auf einen Zweikampf zwischen dem amtierenden Kanzler und seinem Gegenkandidaten reduziert ist. Und genausowenig ist der Kampf gegen die Niederlage auf die Kanzlerkandidaten beschränkt. Vielmehr scheint es so zu sein, daß der Zuschauer alle Debattenteilnehmer genau beobachtet und seinen Eindrücken entsprechend ein62

In der Wahlumfrage 1980 wurden keine Fragen nach Sieger und Verlierer der Debatte gestellt, und somit wurde diese Wahl von der weiteren Analyse ausgeklammert. 63 In der Wahlumfrage 1987 wurde keine direkte Frage nach dem Verlierer gestellt.

668

Peter Schrott

schätzt. Folglich darf eine Analyse des Debattenverhaltens und des daraus resultierenden Sieges oder der Niederlage nicht auf die Kanzlerkandidaten allein beschränkt werden.

7.8

Debattenstrategien und eine Debatte "gewinnen"

Diese Untersuchung hat -wie oben erläutert - die Hypothese, daß die interaktiven Strategien der Politiker die Perzeption des Zuschauers nachhaltig beeinflussen. Darüber hinaus soll geklärt werden, welche Strategie die "erfolgreichste" ist, d.h. welche der oben definierten Strategien erkl!!rt am besten den Ausgang einer Debatte. Tabelle 7:

Der Einfluß von Kandidatenstrategien auf die Perzeption der Debattenzuschauer: Der Sieger (unstandardisierte Regressionskoeffizienten; Standardfehler in Klammern) (N 17)

=

Debatten-Strategien Variablen

PID

-4.537

.318 os•• (.11)

.326** (.15)

.47

12.192

.093 PoS (.06)

.397** (.17)

.27

10.712

.169 Pas••• (.05)

.275* (.14)

.54

Konstante

•••

p < .05 p < .025 p < .005

b1reinigtes

R

einseitiger Test einseitiger Test einseitiger Test

Die Resultate werden in Tabelle 7 aufgezeigt. Die Gleichung des ersten Modells zeigt einen signifikanten Einfluß der Debattenvariable GS sowie der Variablen Parteiidentifikation (PID). Das bereinigte R 2 ist .47. Der signifikante Schätzer für PID zeigt, daß die Befragten dazu tendieren, "ihren" Parteivorsitzenden als den Sieger anzusehen, was eindeutig auf einen Verstärkereffekt der Debatte hindeutet. Darüber hinaus zeigen die Ergebnisse aber vor allem, daß ein positives Debattenverhalten deutlich die Perzeption des Zuschauers beeinflußt. Folglich ist es für einen Politiker besser, seine Globalstrategie auf Verkauf und Verteidigung auszurichten, d.h. mit positiven Argumenten zu interagieren und sich nicht nur auf seine Parteianhängerschaft zu verlassen, will er die Debatte als Sieger verlassen. In Zahlen ausgedrückt, kann ein Politiker damit rechnen, für jeweils etwa drei Punkte eines positiv ausgerichteten Debattenverhaltens ungefähr ein Prozent in der Gunst der Zuschauerperzeption zu gewinnen.

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

669

Das Resultat des zweiten Modells in Tabelle 7 ist weit weniger beeindruckend. Wie sich herausstellt, ist der Schätzwert für PoS nicht signifikant, was bedeutet, daß die Interaktion unter den Politikern und deren personenbezogene Strategien keinen Einfluß auf den Ausgang der Debatte, d.h. auf die Perzeption des Siegers, zu haben scheint.64 Das bereinigte R 2 mit .27 ist relativ niedrig und fast ausschließlich auf die Parteineigung der Befragten zurückzuführen, die auch in diesem Modell signifikant ist. Der dritte Test jedoch, der das Verhältnis von positiven und negativen -auf Parteien bezogene- Referenzen (PaS) in Betracht zieht, schneidet deutlich besser ab. Das R 2 ist mit .54 das größte der drei Modelle. Dies ist nicht überraschend, wenn man sich der Strategien erinnert, die die Teilnehmer im Umgang mit Parteien an den Tag legten. Die Inhaltsanalyse zeigte, daß die Gesamtstrategie der Teilnehmer zu einem starken positiven Verhältnis gegenüber den Parteien führte, da sie diese in erster Linie in einer Verkaufsund Verteidigungsstrategie anpriesen. Natürlich könnte man argumentieren, daß die "Partei"-Strategie (PaS) eine sehr grobe Messung einer generellen Beurteilung der politischen Parteien ist, und von daher würde man auch erwarten, daß die Teilnehmer generell positive Einstellungen zu den etablierten politischen Parteien in der Bundesrepublik haben. Jedoch ist zu berücksichtigen, daß PaS nicht den Inhalt der Referenzen, sondern die Interaktionsstrategien der Teilnehmer beinhaltet, d.h. die Art und Weise, in der Politiker ihre eigene Partei, die ihnen angehörenden Institutionen und die gegnerischen Parteien beurteilen. Dies bedeutet, daß negative Einstellungen gegenüber der Partei des politischen Gegners auch dann angenommen werden können, wenn generell eine positive Einstellung gegenüber den etablierten Institutionen und Parteien herrscht. Folglich ist es nicht per Definition gegeben, daß die Politiker sich hauptsächlich auf eine positive Einschätzung ihrer eigenen Partei und der ihrer Koalitionspartner konzentrieren. Im Endeffekt zeigen uns die Ergebnisse allerdings, daß es vorteilhafter ist, ein positives Image der etablierten Institutionen und Parteien zu offerieren. Wie auch bereits durch das Modell der Globalstrategie angedeutet, macht sich eine Verkaufs- oder Verteidigungsstrategie beim Kampf um den Debattensieg bezahlt. Dagegen ,scheint es gefährlich zu sein, den politischen Gegner anzugreifen. In nur einem der Modelle ist Parteiidentifikation der stärkste Faktor für den Debattensieg. In den anderen beiden Modellen ist PID nur ein schwacher Schätzer, was nachhaltig der These widerspricht, daß die Parteineigung die Perzeption des Siegers bei den Zuschauern determiniert.

Z9

Debattenverhalten und die Debatte "verlieren"

Um eine Debatte zu gewinnen, bedarf es einer auf positive Attribute ausgerichteten Verhaltensweise. Eine Debatte mit vier bzw. fünf Teilnehmern nicht zu gewinnen, heißt nicht notwendigerweise, die Debatte zu verlieren. Neben einem Sieger gibt es drei

64 PoS wäre jedoch auf einem .01-Signifikanzniveau einseitig signifikant und sollte daher als möglicher Einflußfaktor nicht gänzlich ausgeschlossen werden.

670

Pctcr Schrott

"Nichtsieger", und der Zuschauer kann einen von ihnen als Verlierer betrachten. Deshalb, und besonders wenn der Sieger der Politiker der "eigenen" Partei ist, mag es sein, daß der Zuschauer auch sehr stark daran interessiert ist, wer der Verlierer in einer Debatte ist. Er könnte sich von daher auf die negative Leistung der Teilnehmer konzentrieren. Um diese Möglichkeit zu testen, wurden die gleichen Modelle wie oben geschlitzt, wobei die abhängige Variable der Verlierer (VER) der Debatte war. 65

Tabelle 8:

Der Einfluß von Kandidatenstrategien auf die Perzeption der Debattenzuschauer: Der Verlierer (unstandardisierte Regressionskoeffizienten; Standardfehler in Klammern) (N = 17)

Debatten-Strategien Variablen

PID

39.700

-.419 GS*** (.11)

.114 (.14)

.45

16.678

-.170 PoS** (.06)

.029 (.16)

.26

19.683

-.203 Pas••• (.05)

.166 (.14)

.47

Konstante

.....

p < .05 p < .025 p < .005

b1_reinigtes R

einseitiger Test einseitiger Test einseitiger Test

Tabelle 8 zeigt ähnliche Ergebnisse wie oben. Die Strategievariablen aller drei Modelle haben signifikante Koeffizienten mit den erwarteten negativen Vorzeichen. Die Schätzer für die Globalstrategie (-.419) und PoS (-.170) sind stärker als in den Siegermodellen und unterstreichen die Gefahr einer negativ ausgerichteten interaktiven Strategie. In beiden Modellen ist PID insignifikant. Das heißt, eine Debatte zu verlieren, hängt ausschließlich von der Debattenstrategie ab. Wiederum ist es die auf politische Parteien bezogene Strategie, die den größten Anteil der Varianz im Modell erklärt. Das bereinigte R 2 ist .47. Es scheint, daß auch der Verlierer einer Debatte mehr davon abhängig ist, in welchem Kontext die politischen Institutionen und Parteien diskutiert werden und weniger davon, in welchen evaluativen Zusammenhang der einzelne Politiker gebracht wird. Diese Ergebnisse bestätigen ein weiteres

65

Diese Modelle wurden mit den Daten der Wahlen 1972, 1976, 1983 und 1987 geschätzt. Die Daten für den Verlierer 1987 wurden als Annäherungswerte aus der Frage "Wie haben Ihnen alles in allem die fünf Politiker gefallen" berechnet. Aggregiert wurde der Anteil der Befragten, die mit "nicht gut" antworteten.

Wahlkampfdebatten im Fernsehen von 1972 bis 1987

671

Mal den generellen Unterschied zwischen "Politiker"- und "Parteien"-Strategien in bundesdeutschen Debatten. lnteresssant ist, daß Parteiidentifikation in allen drei Verlierermodellen insignifikant ist, d.h. Parteiidentifikation hat keinen Effekt auf die Selektion des Verlierers (zumindest nicht im Aggregat). Ein (erwarteter) negativer Effekt hätte darauf hingedeutet, daß ein Politiker eher dann zum Verlierer gestempelt wird, wenn er wenig Parteifolge im Publikum hat. Auf die gleiche Art, wie die Parteiidentifikation zum Sieger einer Debatte addiert, wäre eine inverse Beziehung hinsichtlich des Verlierers denkbar gewesen. Dies ist nicht der Fall. Folglich haben wir zwar auf der einen Seite einen Verstärkereffekt auf den Sieger einer Debatte, aber keinen gegenläufigen Effekt auf den Verlierer. Eine starke Parteineigung verhindert demzufolge nicht notwendigerweise die Niederlage in einer Debatte. Bei einem direkten Vergleich aller sechs Tests zeigt es sich, daß eine positive Debattenstrategie im Kampf um den Sieg und gegen eine Niederlage wichtig ist. Der entscheidende Faktor scheint die "Parteien"-Strategie zu sein. Eine positiv auf Parteien ausgerichtete Strategie führt am ehesten zum Sieg oder verhindert zumindest eine Niederlage. Die Ergebnisse insgesamt unterstützen die These, daß es wichtiger ist, eine Verkaufs- und Verteidigungsstrategie zu verfolgen, da diese - ein positives Image hinterlassend - vermutlich auch eher in der Erinnerung der Zuschauer haften bleiben.

8. Schlußbemerkung

Seit 1972 gibt es in der Bundesrepublik vor jeder Bundestagswahl zumindest eine Fernsehdebatte der Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten (Elefantenrunde). Sie findet gewöhnlich drei Tage vor dem Wahlsonntag statt. Während die einen in dieser Veranstaltung ein Indiz für "mehr Demokratie"66 sehen, sehen die anderen in ihr die Chance der Wahlbeeinflussung durch einen Debattensieg.67 Beide Ansätze wurden in der Debattenforschung untersucht und teilweise bestätigt.68 Keine Untersuchung hat jedoch bisher einen direkten Zusammenhang zwischen einer augewandten Debattenstrategie und der Perzeption dieser Debatte hergestellt. Diese Analyse versuchte, die Lücke zu füllen. In einer Inhaltsanalyse wurden drei interaktive Debattenstrategien entwickelt und in einer Aggregatdatenanalyse mit Umfragedaten kombiniert. In einer Regressionsanalyse wurde dann der Zusammenhang zwischen Strategien und Perzeption durch gewöhnliche kleinste Quadrate geschätzt. Die Ergebnisse zeigten, daß der beste Schätzer für den Sieger (und auch den Verlierer) das Verhältnis von positiven und negativen Referenzen gegenüber politischen Par66 Moderator Reinhard Appel bei der zweiten Fernsehdebatte 1972, zitiert aus der Mitschrift des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. 67 Vgl. Martel, Political Campaign Debates(Anm. 40). 68 Vgl. Kraus (Hrsg.), The Great Debates (Anm. 3 u. 4) für die USA; Weiss, Wahlkampf im Fernsehen (Anm. 20); Baker/Norpoth/Schönbach, Die Fernsehdebatten der Spitzenkandidaten (Anm. 20) für die Bundesrepublik

672

PeterSchrott

teien (PaS) ist. Den zweitbesten Schätzer stellt die Globalstrategie (GS) dar, die beides, das Verhältnis zu politischen Parteien wie das Verhältnis zu anderen Politikern, in Betracht zieht. Während die erste Debattenvariable die auf Parteien bezogene Strategie repräsentiert, zeigt die zweite Variable die Gesamtstrategie an. Der schwächste Schätzer stellt sich als das Verhältnis von positiven und negativen Referenzen gegenüber Politikern (PoS) heraus. Alle drei deuten jedoch darauf hin, daß es von der interaktiven Strategie eines Politikers abhängt, ob er in der Debatte einen bleibenden Eindruck hinterläßt Von daher sollte jeder Politiker, der eine Debatte gewinnen- oder zumindest nicht verlieren - möchte, dazu angehalten sein, sorgfältig eine Strategie zu planen, die auf einem Verkauf oder zumindest einer Verteidigung der eigenen Positionen und vor allem der politischen Institutionen basiert und weniger auf dem Angriff des politischen Gegners. Nachdem der Bezug zwischen interaktiven Strategien und dem Ausgang einer Debatte hergestellt ist, sollte der nächste Schritt sein, eine mögliche direkte Verbindung zwischen Inhalt und Perzeption herzustellen. Sollte dies gelingen, so ließen sich beide Thesen - mehr Demokratie durch Information und mehr Einfluß der Politiker durch Interaktion - aufrechterhalten; die Debatten würden nicht in den Verdacht geraten, den Wähler nur zu manipulieren, sondern könnten auch ein hilfreiches Instrument für die Wahlentscheidung sein.

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Hans Mathias Kepplinger/Hans-Bemd Brosius

Der Einfluß der Parteibindung und der Fernsehberichterstattung auf die Wahlabsichten der Bevölkerung

1. Einleitung

Der Einfluß der Massenmedien auf Parteipr!!ferenzen und Wahlentscheidungen wird vor allem im Rahmen von drei Forschungsans!!tzen untersucht, die unterschiedliche Elemente der Medieninhalte in den Mittelpunkt rücken: Tendenzen der Parteiendarstellung\ Imagefaktoren der Kandidatenpr!!sentation2 sowie Hinweise auf die Akzeptanz von Kandidaten und Parteien3• Im ersten Fall wird der Einfluß einseitiger Darstellungen ermittelt, im zweiten Fall wird der Einfluß der optischen Darstellung der Kandidaten untersucht und im dritten Fall der Einfluß von Aussagen über Zustimmung oder Ablehnung der Kandidaten und ihrer Programme in der Öffentlichkeit analysiert. Daneben finden sich Studien über den Einfluß der Intensität der Berichterstattung über einzelne Ihemen 4, allerdings bleibt hier der Zusammenhang zwischen der Thematisierung einzelner Sachverhalte und der Entscheidung für eine Partei oder einen Kandidaten offen, weil die Beziehung zwischen medialer Gewichtung und individueller Bewertung nicht gekl!!rt ist. An dieser Stelle setzen die Theorien der instrumentellen Aktualisierung 5 und des Priminl an. Die Theorie der instrumentellen Aktualisierung beruht auf der Annahme, daß in jedem Konflikt nahezu beliebig viele Ereignisse geschehen, die die Sichtweise des einen oder des anderen Kontrahenten stützen. Diese Ereignisse besitzen einen instrumentellen Charakter, wobei die subjektive lnstrumentalit!!t der Ereignisse eine ausschlaggebende Rolle spielt: Entscheidend ist nicht, ob ein Ereignis tatstichlieh für oder gegen einen Kon-

2 3 4

5 6

Vgl. Hans-Jürgen Weiß, Die Wahlkampfberichterstattung und -kommentierung von Fernsehen und Tagespresse zum Bundestagswahlkampf 1980, in: Media Perspektiven 1982, S.263-275. Vgl. Hans Mathias Kepplinger, Darstellungseffekte, Freiburg 1987. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Die Schweigespirale, München 1980. Vgl. David Wcaver, Media Agenda-Setting and Elections: Assumptions and Implications, in: Winfried Schutz/Klaus Schönbach (Hrsg.), Massenmedien und Wahlen, München 1983, S. 263282. Vgl. Hans Mathias Kepplinger, Instrumentelle Aktualisierung, in: Publizistik, 29/1984,5.94. Vgl. Leonard Berkowitz/Karen Heimer Rogers, A Priming Effect Analysis of Media Influences, in: Jennings Bryant/Dolf Zillmann (Hrsg.), Perspectives on Media Effects, Hilsdale, New Jersey 1986, S. 57-81.

676

Hans Mathias Kepplinger/ Hans-Bemd Brosius

trahenten spricht. Entscheidend ist vielmehr, wie die Bevölkerung es wahrnimmt. Das Ziel der Kontrahenten und der Medien, die ihnen nahestehen, besteht darin, Ereignissen Publizitl!t zu geben, die der eigenen Seite nützen oder der anderen Seite schaden. Dies wird als instrumentelle Aktualisierung bezeichnet. Je häufiger die Rezipienten mit Ereignissen konfrontiert werden, die die Sichtweise eines der Kontrahenten stützen, desto eher übernehmen sie seine Sichtweise und stärken damit seine Position. Dies zeigt sich in der Beurteilung von nationalen u9d internationalen Konflikten 7• , Die Theorie des_Priming beruht auf der Annahme, daß die Thematisierung eines Problems die relative Bedeutung dieses Problems zur Beurteilung eines Sachverhaltes vergrößer{ Dies gilt auch für die Beurteilung von Politikern. Falls dem Politiker eine große Kompetenz zur Lösung eines Problems zugeschrieben wird, verbessert sich durch die Thematisierung des Problems seine Beurteilung. Falls ihm eine geringe Kompetenz zugeschrieben wird, verschlechtert sie sich. Die Thematisie~ung ändert nicht notwendigerweise die zugeschriebene Kompetenz, sondern ihre Relevanz für die Urteilsbildung. Dieser Effekt tritt schon bei der Präsentation von relativ wenigen Beiträgen über ein Thema ein 9. Beide Theorien können für die Analyse von Wahlentscheidungen kombiniert werden. Wahlen sind ritualisierte Konflikte, in denen bestimmte Ereignisse und Informationen die Kontrahenten stützen oder schwächen, weil sie Lauterkeit, Kompetenz und Durchsetzungsvermögen der Kandidaten bestl!tigen oder in Zweifel ziehen bzw. die Problemsicht und programmatische Position der Parteien als sachgerecht oder sachfremd erscheinen lassen. Je intensiver die Massenmedien über Ereignisse berichten, die einen Kandidaten und seine Partei stützen (bzw. seine Kontrahenten und ihre Parteien schwächen), desto eher wird er gewl!hlt werden. Wahlkampfthemen sind kleine Ausschnitte aus dem wesentlich breiteren Themenspektrum der Politik. Je intensiver die Massenmedien über Probleme berichten, für deren Lösung ein Kandidat oder seine Partei in den Augen der Mehrheit eine große Kompetenz besitzt, desto mehr steigen ihre Wahlchancen. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, daß sie keinen Einfluß der Fernsehberichterstattung auf die Meinungen der Bevölkerung zu den angesprochenen Themen und über die Kompetenz der Kandidaten unterstellen. Ein solcher Einfluß kann, muß aber nicht bestehen. Statt dessen nehmen beide Ansätze an, daß die Berichterstattung über die Themen ihre Rele-

7

8

9

Vgl. Hans Mathias Kepplinger/Hans-Bemd Brosius/Joachim Friedrich Staab/Günter Linke, Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Konflikte, in: Max Kaase/Winfried Schulz (Hrsg.), Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde, Opladen 1989, S. 199-220; dies., Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie kognitiv-affektierter Medienwirkungen, vervielfältigtes Manuskript 1989. Vgl Thomas H. Carr/Charley McCauley/Richard C. Sperber/C.M. Parmalee, Wards, Pictures, and Priming, in: Journal of Experimental Psychologie: Human Perception and Performance, 8!1982, S. 757-777; E. Tory Higgins/John A Bargh/Wendy Lombardi, Nature of Priming Effects on Categorization, in: Journal of Experimental Psychologie: Leaming, Memozy, and Cognition, 11/1985, S. 56-69. Vgl Shanto lyengar/Donald E. Kinder, More than Meets the Eye, in: George Comstock (Hrsg.), Public Communication and Behaviour I, Orlando 1986, S. 135-171; dies., News that Matter: Television and American Opinion, Chicago 1987.

Einfluß der Parteibindung und Fernsehberichterstattung auf Wahlabsichten

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vanz für die Wahlentscheidung vergrößert. Sie lenkt die Entscheidung in die eine oder andere Richtung, weil das Thema eine bestimmte Sichtweise stützt bzw. weil ein Kandidat für dieses Thema als besonders kompetent gilt. Die skizzierten Annahmen können durch eine Kombination von Medieninhaltsanalysen und Bevölkerungsumfragen geprüft werden. Die Inhaltsanalysen und Umfragen müssen, da sich die Entscheidungen vermutlich nicht schnell ändern, über einen Zeitraum von mehreren Monaten durchgeführt werden. In der Inhaltsanalyse muß die Intensität der Berichterstattung über verschiedene Ereignisse oder Themen (Anzahl und Umfang der Beiträge) ermittelt werden. Zusätzlich ist es sinnvoll, Aussagen über die Problemlösungskompetenz von Parteien und Kandidaten zu erfassen. In den Befragungen müssen Urteile über die Kompetenz der Kandidaten zur Lösung verschiedener Probleme und über die subjektive Instrumentalität der einzelnen Themen ermittelt werden. Zusätzlich sind die Parteipräferenzen und die Beurteilung der Kandidaten zu erfragen. Für die folgende Analyse liegen derart differenzierte Erhebungen nicht vor. Über die subjektive Instrumentalität der Themen und die zugeschriebene Kompetenz der Kandidaten und Parteien können deshalb hier keine Aussagen gemacht werden. Allerdings ist es möglich, den Einfluß der Thematisierung einzelner Politikfelder auf die Parteipräferenzen innerhalb eines relativ langen Zeitraums und anhand sehr vieler Messungen zu untersuchen. Damit sind die Voraussetzungen für die Anwendung statistischer Analyseverfahren gegeben, mit denen der Einfluß der Massenmedien auf die Parteipräferenzen relativ genau bestimmt werden kann.

2. Fragestellung und Methode

Die ~entrate Fragestellung der vorliegenden Studie lautet: Welchen Einfluß hat die Thematisierung bzw. Problematisierung von verschiedenen Politikfeldern in den Fernsehnachrichten auf die Wahlneigung der Bevölkerung für die vier im Bundestag vertretenen Parteien? Zur Beantwortung dieser Frage standen wöchentliche Inhaltsanalysen der Fernsehnachrichten und wöchentliche Bevölkerungsumfragen zur Verfügung. (1) Mit den Inhaltsanalysen wurden alle Beiträge in den vier Hauptnachrichtensendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Hierbei handelte es sich um "Tagesschau" und "Tagesthemen" (beide ARD) sowie "heute" und "heute-journal" (beide ZDF). Bei der "Tagesschau" wurde die Ausgabe um 20.00 Uhr, bei "heute" die Ausgabe um 19.00 Uhr ausgewählt. Der Untersuchungszeitraum umfaßte das ganze Jahr 1986. Analyseeinheit waren die einzelnen Beiträge innerhalb einer Nachrichtensendung. Bei der "Tagesschau" wurden n=4.636 Beiträge analysiert, bei den "Tagesthemen" n=3.454, bei "heute" n=5.388, beim "heute-journal" n=2.866 Beiträge. Neben formalen Variablen (Datum, Plazierung, Stilform) wurden inhaltliche Merkmale erfaßt. Mit einer umfangreichen Liste wurden pro Beitrag ein Hauptund ein Unterthema ermittelt. Insgesamt wurden 15 Hauptthemen von Beiträgen (beispielsweise "Innenpolitik" oder "Wahlen") und 227 spezifischere Themen (für "Innenpolitik" z.B. die Themen "Terroristischer Anschlag" oder "Neuer Personalaus-

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weis") unterschieden. Beiträge, die nicht aus dem politischen Bereich stammten, wurden ohne Ausnahme unter der Hauptkategorie "Sonstiges" verschlüsselt. Hierbei handelt es sich um 16 Prozent der insgesamt 16.344 Beiträge. Die Inhaltsanalyse wurde von der Konrad-Adenauer-Stiftung durchgeführt, ihre Ergebnisse sind für die vorliegende Studie reanalysiert worden. Eine genaue Darstellung der Anlage und Durchführung der Inhaltsanalyse liegt in Buchform vor10• Aufgrund der Hauptthemen und der Unterthemen wurden die Beiträge der Fernsehnachrichten 16 Politikfeldern zugeordnet. Anschließend wurde die Häufigkeit der Berichterstattung über die 16 Politikfelder im Jahresverlauf ermittelt. Dann wurden alle Beiträge über die 16 Themen auf Wochenbasis zusammengefaßt. Es standen also 16 einzelne Zeitreihen mit jeweils 53 Meßzeitpunkten zur Verfügung. (2) Zur Ermittlung der Parteineigung in der Bevölkerung lagen insgesamt 53 wöchentliche Umfragen eines repräsentativen Querschnitts der westdeutschen Bevölkerung für das ganze Jahr 1986 vor. Die Befragungen waren vom Umfrageinstitut Emnid durchgeführt worden und erfaßten pro Woche eine repräsentative Zufallsstichprobe von etwa 1.000 Befragten. Die Parteineigung wurde anhand der sogenannten Sonntagsfrage ermittelt. Für jede der vier Parteien (CDU, SPD FDP und Grüne) lag somit eine Zeitreihe mit 53 wöchentlichen Messungen vor, die den prozentualen Anteil der potentiellen Wähler einer Partei umfaßten.

Analysemethode

Korrelationen zwischen Zeitreihen geben Auskunft über das Ausmaß der Übereinstimmungen zwischen beiden Verläufen. Sie sagen jedoch über die Richtung der möglichen Wirkungen nichts aus und können daher nicht ohne weiteres kausal interpretiert werden. Mit zeitverzögerten Korrelationen kann festgestellt werden, welche Entwicklung zuerst eintrat - etwa eine Veränderung der Berichterstattung oder der Bevölkerungsmeinung. Sie sind jedoch aufgrund der Komplexität der Beziehungen - etwa bei wechselseitigen Effekten durch Rückkopplungen- nur sehr schwer interpretierbar. Ein einfaches Verfahren zur Identifikation von Ursachen und Wirkungen bei Zeitreihen-Analysen hat Granger vorgeschlagen 11• Seine Überlegung lautet: Die Ansichten

10 Vgl. Hans Mathias Kepplinger/Klaus Gotto/Hans-Bernd Brosius/Dietmar Haak, Der Einfluß der Fernsehnachrichten auf die politische Meinungsbildung, Freiburg 1989. 11 Vgl. Clive William J. Granger, lnvestigating Causa! Relations by Econometric Models and Cross Spectral Methods, in: Econometrica, 37/1969, S. 424-438; .lohn R. Freemann, Granger Causality and the Time Series Analysis of Political Relationship, in: Amen·can Journal of Political Science, 27/1983, S. 327-358; Ralph A. Catalano/David Dooley/Robert Jackson, Selecting a Time-Series Strategy, in: Psychological Bulletin, 94/1983, S. 506-523; Gebhard Kirchgäßner, Einige neuere statistische Verfahren zur Erfassung kausaler Beziehungen zwischen Zeitreihen, Göttingen 1981; ders., Welche Art der Beziehung herrscht zwischen der objektiven wirtschaftlichen Entwicklung, der Einschätzung der Wirtschaftslage und der Popularität der Parteien, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und politisches System, Opladen 1980, S. 222-256.

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eines Menschen zum gegenwärtigen Zeitpunkt hängen vor allem von seinen Ansichten in der Vergangenheit ab. Ein Großteil der Varianz der heutigen Parteineigung wird durch die vergangene Parteineigung aufgeklärt. Ein darüber hinausgehender Varianzanteil kann auf externe Variablen, z.B. die vorhergehende Medienberichterstattung, zurückgeführt werden. Die entscheidende Frage lautet, ob die vorangegangene Fernsehberichterstattung - über die eigenen Ansichten in der Vergangenheit hinausgehend einen substantiellen Beitrag zur Erklärung der Ansichten in der Gegenwart leistet. Methodisch gesehen werden hierbei zwei Regressionsmodelle miteinander verglichen. Im ersten Modell wird die gegenwärtige Parteineigung durch die vergangene Parteineigung allein erklärt. Im zweiten Modell wird die gegenwärtige Parteineigung durch die vergangene Parteineigung und zusätzlich durch die vorangegangene Berichterstattung erklärt. Der Vergleich beider Modelle ergibt einen Betrag der zusätzlich erklärten Varianz, deren statistische Signifikanz geprüft werden kann 12• Der Signifikanzwert gibt an, ob die Berichterstattung einen eigenen bedeutsamen Einfluß auf die Parteineigung gehabt hat. Je höher die erklärte Varianz durch die vergangene Parteineigung an sich ist, d.h. je stabiler die Parteineigung im Zeitverlauf ist, desto bedeutsamer ist der Zuwachs an erklärter Varianz durch vorangegangene Berichterstattung. Ein gleicher Zuwachs kann deshalb, in Abhängigkeit von der Stabilität der Parteineigung, einmal bedeutsam sein, ein anderes Mal nicht. Die Granger-Kausalität, die auf multiplen Regressionen beruht, liefert keinen experimentellen und damit logisch zwingenden Nachweis von Kausalbeziehungen, weil der Einfluß von Drittvariablen, anders als im kontrollierten Experiment, nicht ausgeschlossen werden kann. Sie stellt jedoch ein Verfahren dar, durch das theoretisch angenommene und empirisch gefundene Zusammenhänge in ihre Richtung und ihre Stärke zerlegt werden können. Die folgende Analyse beruht auf zwei Annahmen. Die erste Annahme lautet: Die gegenwärtige Parteineigung der Befragten wird durch ihre Parteineigung in den beiden vorangegangenen Wochen beeinflußt. Hierbei handelt es sich um eine Setzung, da die vorliegenden Umfragen keine Daten über die individuelle Konstanz der Parteineigung enthalten. Die zweite Annahme lautet: Die gegenwärtige Parteineigung wird ebenfalls durch die Berichterstattung über diverse Politikfelder in den beiden vorangegangenen Wochen beeinflußt. Hierbei handelt es sich um einen Erfahrungswert, der in mehreren Studien ermittelt wurde 13. Einschränkend muß vermerkt werden, daß vermutlich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Themen bestehen, die aufgrund der bisher nur rudimentären Kenntnis der Themendauer und der relativ groben Analyse der Themen in der vorliegenden Studie vernachlässigt werden müssen.

12 Vgl. Kirchgäßner, Statistische Verfahren (Anm.ll). 13 Vgl. Hans Mathias Kepplinger/Wolfgang Dombach/Hans-Bemd Brosius/Joachim Friedrich Staab, Medientenor und Bevölkerungsmeinung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38/1986, S. 247-279; Kepplinger/Gotto/Brosius/Haak, Fernsehnachrichten (Anm.10); Hans-Bemd Brosius/Hans Mathias Kepplinger, The Agenda-Setting Function of Television, in: Communication Research, 17/1990, S.183-211; dies., Linear and Nonlinear Models of Agenda-Setting in Television (im Erscheinen).

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Hans Mathias Kepplinger/ Hans-Bemd Brosius

Geht man von den zwei formulierten Annahmen aus und legt man das Analysemodell von Granger zugrunde, so lassen sich zwei grundlegende Regressionsgleichungen formulieren. Die erste Regressionsgleichung beschreibt den Einfluß der vergangeneo Parteineigung (eine und zwei Wochen vorher) auf die gegenwi!rtige Parteineigung. Sie lautet: Yo = blyt-1

+ b2yt-2 + c

Die zweite Regressionsgleichung beschreibt den Einfluß der vergangeneo Parteigeigung und der vergangeneo Thematisierung in den Fernsehnachrichten. Sie lautet: y0 = blyt_1 + b2yt_ 2 + b3xt_ 1 + b4xt-Z + c Der Einfluß der Intensiti!t der Fernsehberichterstattung über die insgesamt 16 Politikfelder auf die Parteineigung der Bevölkerung wurde auf Wochenbasis (n=53 Meßzeitpunkte) berechnet. Dabei müssen generelle Trends der Parteineigung beachtet werden. Die Parteineigung für die CDU nahm im Jahresverlauf zu (beta=0.79; p=O.OOOl), die Parteineigung für die SPD nahm in etwa gleichem Maße ab (beta=-0.71; p=O.OOOl). Da Trends in Zeitreihen (d.h. fehlende Stationariti!t der Reihen) zu Verzerrungen bei den Ergebnissen führen können 14, müssen die Zeitreihen trendbereinigt werden. Die Trendbereinigung kann auf mehrere Arten erfolgen, z.B. durch Differenzierung 15 . Die Differenzierung ist eine nicht-lineare Transformation, die bei Zeitreihen, die einer Zufallsspannbreite unterliegen wie z.B. Parteineigungen, zu einer hohen negativen Autokorrelation der Reihe führen kann. Diese wiederum beeinflussen die Ergebnisse der Granger-Regr.essionen 16. Ein besseres Verfahren stellt die Ausschaltung eines linearen Trends mit einer einfachen Regression dar. Durch die Zeitreihe wird eine Regressionsgerade gelegt. Die Residuen sind Abweichungen vom linearen Trend und folglich trendbereinigt Sie werden zu einer neuen Zeitreihe zusammengestellt. Sie ist trendbereinigt und gleichzeitig eine lineare Transformation der Originalreihe. Für alle 16 Politikfelder und für die vier Parteineigungen wurden Regressionsgeraden berechnet und die Residuen zu einer neuen Zeitreihe zusammengestellt.

14

Nicht-stationäre Zeitreihen sind aufgrund des gemeinsamen oder gegenläufigen Trends mehr oder weniger zwangsläufig miteinander korreliert. Beispielsweise wird bei einer Zeitreihenanalyse die Anzahl der Storche einen Einfluß auf die Anzahl der Geburten haben, weil beide Reihen einen (abnehmenden) Trend haben, ohne daß man von einem Einfluß sprechen dürfte. Ein Einfluß einer Zeitreihe auf eine andere liegt aber nur dann vor, wenn die wöchentlichen Kovariationen in dieselbe Richtung gehen. 15 Vgl. die Diskussion in Brosius/Kepplinger, The Agenda-Setting Punction of Television (Anm.13). 16 Wenn in einer beliebigen Woche ein Wert zufällig hoch liegt, d.h. höher als der generelle Trend der Reihe, ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Wert der nächsten Woche geringer ausfällt größer, als daß er noch höher ist. Dies kann eine negative Autokorrelation bedingen, die darauf zurückzuführen ist, daß die entsprechende Reihe nur innnerhalb eines vorgegebenen Wertebereichs streut.

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Zur Prüfung des Einflusses der Fernsehberichterstattung auf die Parteineigung wurde zunächst - entsprechend der oben beschriebenen Vorgehensweise - eine multiple Regression mit der jeweils gegenwärtigen Parteineigung als abhängiger Variable und den vergangenen Parteineigungen (eine und zwei Wochen vorher) als unabhängigen Variablen berechnet. Danach wurde die vergangene Intensität der Berichterstattung (ebenfalls eine und zwei Wochen vorher) zusätzlich in die Regression aufgenommen und die Veränderung des quadrierten multiplen R ermittelt17• Für jedes der 16 Politikfelder wurde der Einfluß der Berichterstattung auf die Parteineigung für die vier Parteien (CDU, SPD, FDP und Grüne) berechnet, so daß insgesamt 64 Granger-Regressionen durchgeführt wurden.

3. Ergebnisse

Wir geben zunächst einen Überblick über die Themen der Fernsehberichterstattung und die Parteipräferenzen der Bevölkerung. Anschließend analysieren wir die Zusammenhänge zwischen beiden Variablen. Die aktuellen Sendungen des Fernsehens behandelten 1986 vor allem die Themen Gesundheitswesen und Energieversorgung. Dies ist hauptsächlich auf den Reaktorunfall von Tschernobyl zurückzuführen. Die großen Standardabweichungen bei diesen Themen weisen darauf hin, daß die Berichterstattung nach dem Unfall sehr intensiv, ansonsten aber wesentlich geringer war. Auch über Innere Sicherheit, Verteidigung, Umweltschutz, die Wirtschaftslage und den Arbeitsmarkt berichteten ARD und ZDF intensiv. Ein Blick auf die Wahlpräferenzen der Bevölkerung ergibt folgendes Bild: Die CDU/CSU bevorzugten im Mittel 45.3 Prozent, die SPD 40.1 Prozent, die Grünen 7.6 Prozent und die FDP 6.3 Prozent. Die Position der CDU/CSU und die der Grünen verbesserten sich im Laufe der Jahre etwas, die Position der SPD verschlechterte sich etwas, die Position der FD.P war relativ stabil. Die Fernsehberichterstattung über die 16 Politikfelder konnte theoretisch in 64 Fällen Einflüsse auf die jeweils gegenwärtige Präferenz für eine der vier genannten Parteien ausüben (16 x 4 = 64). Für jeden dieser Fälle wurden die entsprechenden Granger-Kausalitäten berechnet. Den ersten Schritt bildete die Berechnung des Einflusses der vorangegangenen auf die gegenwärtige Parteineigung. Die vorangegangene Parteineigung für die SPD besaß einen starken Einfluß auf die jeweils gegenwärtige Präferenz für diese Partei. Sie erklärt 41.2 Prozent der Varianz. Dagegen hatte die vorangegangene Neigung für die CDU/CSU nur einen schwachen Einfluß auf die augenblickliche Bereitschaft, die Unionsparteien zu wählen. Sie erklärt nur 8 Prozent der Varianz. Die sehr stabile Bindung an die SPD führt rechnerisch dazu, daß schon geringe Veränderungen durch äußere Faktoren - hier die Fernsehberichterstattung - signifikant werden.

17 Dadurch, daß nicht die zeitgleiche Intensität der Berichterstattung verwendet wurde, liegt eine klare zeitliche Abfolge von der Berichterstattung zur Parteineigung vor, die eine wesentliche Voraussetzung für eine kausale Interpretation bildet.

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Tabelle 1:

Durchschnittliche Anzahl der Fernsehbeiträge pro Woche und durchschnittliche Parteineigung der Bevölkerung in Prozent (N =53)

Mittelwert

Standardabweichung

Gesundheitswesen Energieversorgung Innere Sicherheit Verteidigung Umweltschutz Wirtschaftslage Arbeitsmarkt DDR Preisstabilität Buropapolitik Ostpolitik Staatsverschuldung Entwicklungspolitik Steuern Renten Bildungspolitik

19.6 18.9 12.9 9.4 8.7 8.6 8.1 5.6 4.0 2.2 2.0 2.0 1.9 1.9 1.5 0.8

28.1 30.2 12.1 8.5 11.0 7.9 6.2 4.8 3.3 3.2 4.5 5.1 2.7 5.0 2.0 1.1

Wähleranteil CDU/CSU * Wähleranteil SPD Wähleranteil FDP Wähleranteil Grüne

45.3 40.1 6.3 7.6

1.4 1.4 0.9 1.0

Der Wähleranteil wurde mit der sogenannten Sonntagsfrage gemessen und ist in Prozent ausgewiesen.

Im zweiten Schritt wurde der Einfluß der Fernsehberichterstattung berechnet. Die Granger-Kausalitäten weisen bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 10 Prozent 18 in sieben Fällen einen statistisch signifikanten Einfluß der Fernsehberichterstattung auf die Parteipräferenzen aus. Die Thematisierung der Energieversorgung und der DDR beeinflußte die Präferenzen für die CDU/CSU, die Thematisierung des Umweltschutzes, der Renten und der Ostpolitik die Präferenzen für die SPD, die Thematisierung der Bildungspolitik die Präferenzen für die FDP und die Thematisierung des Gesundheitswesens die Präferenzen für die Grilnen. Die Fernsehberichterstattung Ober die genannten Politikfelder besaß in den genannten Fällen einen bemerkenswert großen Einfluß, dessen Richtung hier noch offen bleibt. Die Fernsehberichterstattung erklärt zwischen 6.6 und 18.9 Prozent der Varianz zusätzlich zum Einfluß traditioneller Parteibindungen (Tabelle 2).

18 Das Signifikanzniveau von 10 Prozent wurde gewählt, weil die Parteineigung selbst als relativ stabil anzusehen ist. Darüberhinaus lagen die Prozentwerte zur Parteineigung nur als ganze Prozentzahlen vor, was vor allem bei den kleineren Parteien ungenau sein dürfte.

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Einfluß der Parteibindung und Fernsehberichterstattung auf Wahlabsichten

Tabelle 2:

Einfluß der vorangegangenen Parteineigung und Fernsehberichterstattung auf die gegenwärtige Parteineigung (erklärte Varianz) -quadriertes multiples R von Granger-Regressionen -

Erklärte Varianz

CDU

durch vergangene Parteineigung

8.0

zusätzlich durch Berichterstattung über Gesundheitswesen

7.7

Energieversorgung Innere Sicherheit Verteidigung Umweltschutz Wirtschaftslage Arbeitsmarkt DDR Preisstabilität Buropapolitik Ostpolitik Staatsverschuldung Entwicklungspolitik Steuern Renten Bildungspolitik

...

10.9** 2.7 2.3 6.3 0.4 2.5 9.7* 0.9 0.5 7.0 1.7 0.1 2.0 2.7 1.9

Grüne

SPD

FDP

41.2***

18.2*

21.1**

4.9

2.0

18.9***

1.6 0.8

1.5 0.6 6.8 6.7 0.7 6.4 0.8 0.1 4.1 0.2 0.3 5.0 0.4 1.9 10.6**

1.3

10.0** 1.6 3.1 1.4 0.2 1.5 7.5** 2.4 0.3 1.4 5.6* 4.9

3.9 3.9 0.7 2.3 1.0 1.4 2.8 1.0 3.3 2.2 0.1 0.5 0.5 4.8 0.1

p = 0.10 p = 0.05 ••• p = 0.01

Eine vorangegangene Neigung zur CDU/CSU bestärkte die gegenwärtige Bereitschaft, die Unionsparteien zu wählen und umgekehrt. Dies kann aus den positiven beta-Gewichten für die vergangene Parteineigung in Tabelle 3 entnommen werden. Die Thematisierung der Energieversorgung und der DDR durch die aktuellen Sendungen von ARD und ZDF verminderte jedoch die Neigung, die CDU/CSU zu wählen (-0.53; -0.27). Beide Themen schadeten somit den U nionsparteien. Die vorangegangene Parteineigung für die SPD beeinflußte ebenfalls die gegenwärtige Bereitschaft, diese Partei zu wählen, positiv. Zugleich verminderte die Thematisierung des Umweltschutzes und der Ostpolitik durch ARD und ZDF ihre Wahlchancen (-0.30; -0.23). Dagegen profitierte die SPD von der Thematisierung der Renten (0.24) durch die Fernsehanstalten. Je mehr sie darüber berichteten, desto mehr stiegen die Chancen der SPD und umgekehrt. Dies galt analog auch für die FDP und die Grünen, die von einer zunehmenden Thematisierung der Bildungspolitk (0.30) bzw. des Gesundheitswesens (0.66) profitierten. Der letzte Befund ist vor allem auf die Diskussion nach dem Unfall von Tschernobyl zurückzuführen. Tabelle 3 zeigt für die signifikanten Beziehungen die kompletten Regressionsgleichungen. Die beta-Gewichte geben die Starke, ihre Vorzeichen die Richtung des Einflusses an.

684 Tabelle 3:

Hans Mathias Kepplinger/ Hans-Bemd Brosius

Stärke und Richtung des Einflusses der vorangegangenen Parteineigung und Fernsehberichterstattung auf die gegenwärtige Parteineigung - Regressionsgleichungen für signifikante Hllle vergangene Parteineigung

Fernsehberichterstattung

Politikfeld (Partei)

beta (t-1)

beta (t-2)

beta (t-1)

beta (t-2)

Mult. R

Energieversorgung (CDU) DDR(CDU) Umweltschutz (SPD) Ostpolitik (SPD) Renten (SPD) Bildungspolitik (FDP) Gesundheitswesen (Grüne)

0.27* 0.34** 0.27* 0.38*** 0.43*** 0.24* 0.27*

-0.04 -0.05 0.15 0.26* 0.28** 0.28** -0.12

-0.53** 0.21 -0.30** -0.23** 0.24** 0.30** 0.66***

0.21 -0.27* -0.16 -0.12 0.01 0.11 -0.20

0.43** 0.42* 0.72*** 0.70*** 0.68*** 0.54*** 0.63***

• p = 0.10 •• p = 0.05 ••• p = 0.01

4. Diskussion

Die Berichterstattung über politische Themengebiete besaß in sieben von potentiell 64 Fallen einen signifikanten Einfluß auf die Parteineigung~der\-\Täfiier·:·rratiei"ist der Einfluß der traditionellen Parteibindung der Befragten schon berücksichtigt. Die Berichterstattung in den Fernsehnachrichten verursachte damit nicht nur Veränderungen des Problembewußtseins 19, sondern hatte darüber hinaus auch Konsequenzen für die Wahlabsichten. Die Fernsehberichterstattung hatte auf die Absicht, eine große oder kleine Partei zu wählen, unterschiedliche Wirkungen. Große Parteien profitierten selten von der Intensivierung der Berichterstattung über ein Thema. Die CDU verlor vor allem Wähleranteile beim Thema Energieversorgung (Tschernobyl), die SPD beim Thema Umwelt. Die kleinen Parteien scheinen dagegen durch eine Thematisierung Wähler hinzugewonnen zu haben. Die FDP profitierte von der Thematisierung der Bildungspolitik, die Grünen profitierten von der Thematisierung des Gesundheitswesens. Dies galt im letzteren Fall nicht nur für die Zeit um Tschernobyl, sondern für das ganze Jahr. Gewinne der SPD gingen in der Regel mit Verlusten der CDU/CSU und der Grünen einher und umgekehrt. Dies zeigen die starken negativen Korrelationen von -0.66 bzw. -0.45. Keine der anderen Korrelationen ist so deutlich negativ. Die durch die Thematisierung entstandenen Verluste oder Gewinne der großen Parteien gingen

19 Vgl. Brosius/Kepplinger, The Agenda-Setting Function of Television; dies., Linear and Nonlinear Models of Agenda-Setting in Television (Anm.13)

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Oberwiegend jeweils zu Gunsten oder Ungunsten der anderen großen Partei. Verluste und Gewinne der kleineren Parteien verteilten sich dagegen eher auf alle anderen Parteien. Aus den vorliegenden Analyseergebnissen kann man folgern, daß in den Augen der Wähler die SPD Kompetenz filr die Rentenpolitik, die FDP Kompetenz filr die Bildungspolitik und die Grünen Kompetenz filr die Gesundheitspolitik besaßen. Dagegen fehlten den Unionsparteien in den Augen der Wähler Kompetenzen filr die Energiepolitik und hinsichtlich der DDR, während es der SPD an Kompetenzen filr die Umweltpolitik und die Ostpolitik mangelte. Vor allem durch die Thematisierung der Umweltpolitik konnten sich die Grünen auf Kosten der SPD profilieren.

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IV.

Stabilität und Veränderung

Forschungsgruppe Wahlen e. v.· Sieg ohne Glanz: Eine Analyse der Bundestagswahl1987..

1. Das Wahlergebnis vom 25. Januar 1987

Mit der Bestätigung der bürgerlichen Koalition entsprach das Bundestagswahlergebnis vom 25. Januar 1987 den allgemeinen Erwartungen: Mehr als drei Viertel aller Befragten hatten mit dem Sieg der bisherigen Banner Koalitionsparteien gerechnet. Gemeinsam hatten die Regierungsparteien zwar 2.4 Prozentpunkte verloren, nach wie vor aber mit 53.4 Prozent eine komfortable Mehrheit gegenüber den Oppositionsparteien, die zusammen nun auf 45.3 Prozent kamen und einen Zugewinn von 1.5 Prozentpunkten verbuchen konnten. Dennoch kamen einzelne Aspekte des Wahlergebnisses unerwartet. Mit 44.3 Prozent erreichte die CDU/CSU ihr niedrigstes Ergebnis seit 1949. Der Verlust von 4.5 Prozentpunkten war hoch; nur 1961, bei der Bundestagswahl nach dem Bau der Berliner Mauer, war der Rückgang (5.1 Prozentpunkte) noch größer ausgefallen. Im Gegensatz dazu können Ergebnis und Zuwachs der F.D.P. (9.1 Prozent; +2.1) nur bei kurzfristigem Vergleich mit 1983 überraschen. Daß die F.D.P. zulegen würde, lag nach dem vergleichsweise schwachen Abschneiden von 1983 nahe. Das Abschneiden von SPD und Grünen kam nur für jene unerwartet, die aufgrund der zum Teil guten Umfrageergebnisse beider Parteien im Verlauf der Legislaturperiode mit sehr viel mehr gerechnet hatten. Die Wechselbeziehungen zwischen SPD und Grünen sind spätestens seit der Bundestagswahl von 1980 bekannt. Die zu erwartende Verbesserung der Grünen (8.3 Prozent; +2.7) mußte daher wenigstens zum Teilper Saldo zu Lasten der SPD gehen (37 Prozent; -1.2). Besonders auffällig war das Anwachsen der "sonstigen" Parteien auf 1.4 Prozent ( + 1.0). Allein die NPD stieg von 0.2 Prozent auf 0.6 Prozent. Gerade weil wohl niemand ernsthaft mit der Abwahl der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition gerechnet hatte, lösten die unerwarteten Aspekte dieses Ergebnisses große Überraschungen aus und führten schon bald zu weitreichenden Deutungen des Wahlausgangs. So spricht Schultze 1 mit Hinweis auf das Ergebnis beider Volksparteien von einer

•• 1

Manfred Berger, Wolfgang G. Gibowski, Matthias Jung, Dieter Rothund Wolfgang Schulte. Überarbeitete Fassung von: Die Konsolidierung der Wende. Eine Analyse der Bundestagswahl1987, in: ZParJ2/1987, S. 253-284. Rainer-Oiaf Schultze, Die Bundestagswahl1987- eine Bestätigung des Wandels, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 12/87, S. 3.

690

Forschungsgruppe Wahlen

sich beschleunigenden Dekonzentration im Parteiensystem. Feist/Krieger2 gehen weiter und deuten den gleichen Zusammenhang als nachlassende Integrationskraft der beiden großen Parteien. Im Rahmen der Diskussion von Konstanz und Wechsel im Wahlverhalten der sozialen Gruppen sowie der politischen Determinanten dieses Wahlausgangs wirft das gleichzeitige Anwachsen der beiden kleinen Parteien Fragen auf: Ulßt tatsächlich die Integrationskraft beider Volksparteien nach, oder haben kurzfristige Ausschläge der politischen Konjunktur den beiden kleinen Parteien Gewinne und den beiden großen Verluste beschert? Ebenfalls erklärungsbedürftig ist der ROckgang der Wahlbetei!igung, der von Feist/Krieger3 als Legitimationsverlust des politischen Systems eingeordnet wird. Tatsächlich war die Wahlbeteiligung mit 84.3 Prozent (-4.8) die niedrigste seit 1949. Doch kann allein aufgrund des ROckganges schon vom "Vertrauensverlust in die Institutionen von Staat und Gesellschaft" 4 gesprochen werden?

2. Wahlergebnisse im Zeitvergleich

Auch wenn die Unionsparteien 4.5 Prozentpunkte verloren haben, bleibt zu erklären, warum sich die Ergebnisse der Unionsparteien seit 1961 - trotzschwankender Wahlbeteiligung - in sehr engen Bereichen bewegen. Vergleichbares gilt fOr die SPD-Ergebnisse bis 1980, auch wenn die Sozialdemokraten mit Ausnahme von 1972 stets schlechter abschneiden als die Unionsparteien; erst mit dem Auftreten der Granen sinken die Resultate der SPD deutlich. Auch bei dieser Wahl ist daher fOr beide Volksparteien zu analysieren, wie stabil die sozialen Strukturen sind, die den beiden Parteien jeweils zu einem relativ hohen Grundsockel an Wählerstimmen verhelfen. Das seit 1972 andauernde Wechselspiel zwischen mäßigen und sehr guten Wahlergebnissen der CDU/CSU legt aber auch die Frage nahe, ob nicht doch bei allen Beharrungstendenzen die Zahl der potentiellen Wechselwähler zwar langsam, aber ständig zunimmt und ob damit die Chance eines Machtwechsels bei Wahlen steigt. Da sich das Ergebnis der F.D.P. mUhelos in der Reihe ihrer bisherigen Wahlergebnisse unterbringen läßt, bleibt insgesamt am auffälligsten, daß sich mit den Granen eine vierte Partei eingerichtet hat, die ihre Position bei dieser Wahl weiter festigte. Doch selbst zusammen erreichen SPD und Grane 1987 (45.3 Prozent) nicht mehr als die SPD 1972 allein. Sind die Granen als vierte Partei damit ein Phänomen, das sich ausschließlich auf den linken Teil des Wählerspektrums beschränkt?

2 3 4

Ursula Feist/Hubert Krieger, Alte und neue Scheidelinien des politischen Verhaltens. Eine Analyse zur Bundestagswahl vom 25. Januar 1987, in: ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 33/34. Ebd., S. 34.

691

Sieg ohne Glanz

Tabelle 1:

Amtliche Bundestagswahlergebnisse von 1949 bis 1987 (Parteianteile in % der gültigen Zweitstimmen) 1949 1953 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 87.8 87.7 86.8 86.7 91.1 90.7 88.6 89.1 84.3 50.2 45.3 47.6 46.1 44.9 48.6 44.5 48.8 44.3 9.1 7.0 7.7 12.8 7.9 10.6 8.4 5.8 9.5 31.8 36.2 39.3 42.7 45.8 42.6 42.9 38.2 37.0 8.3 1.5 5.6 0.5 0.9 1.0 1.4 3.6 5.4 0.5 16.5 10.3 5.7

Wahlbeteiligung CDU/CSU FDP SPD

78.5 86.0 31.0 45.2 9.5 11.9 29.2 28.8

Sonstige

27.9

GRÜNE

Tabelle 2:

Sitzverteilungen im Bundestag von 1961 bis 1987 (ohne Berliner Abgeordnete)

Fraktion

1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987

CDU/CSU FDP SPD

242 67 190

245 49 202

242 30 224

225 41 230

243 39 214

226 53 218

244 34 193 27

223 46 186 42

Insgesamt

499

496

496

496

496

497

498

497

GRÜNE

3. Wahlbeteiligung

Auf den ersten Blick scheint die Veränderung der Wahlbeteiligung neben dem Abschneiden der Union das auffälligste Ergebnis der Bundestagswahl 1987 zu sein. Meldungen wie "die schlechteste Wahlbeteiligung seit 1949" werden als "Ausdruck von Legitimationsverlusten des politischen Systems" interpretiert; Stichworte wie Spendenaffaren, Infragestellung von repräsentativer Demokratie und Kritik am Gewaltmonopol des Staates werden als Erklärungen angeboten.5 Die Wahlbeteiligung 1987 beträgt nach den Unterlagen der amtlichen Statistik 84.3 Prozent und liegt damit um 4.8 Prozentpunkte unter der von 1983. Sie ist weit niedriger als die der Bundestagswahlen 1972 und 1976. Die Wahlbeteiligung 1987 wurde auf der Basis von 45.327.982 Wahlberechtigten errechnet- eine Zahl, die mit Sicherheit zu hoch ist. Zum letzten Mal wurden die Angaben der Melderegister, die die Grundlage für ~ie in der Wahlstatistik ausgewiesenen Wahlberechtigten liefern, aufgrund der Ergeb-

5

Vgl. ebd., S. 33 f.; ähnlich, wenn auch moderater: Schultze, Die Bundestagswahl (Anm. 1), S. 9.

692

Forschungsgruppe Wahlen

nisse der Volksz!!hlung von 1970 korrigiert. Somit entsprechen die bei der Bundestagswahl 1972 ausgewiesenen Wahlberechtigten weitgehend der damals tats!!chlich vorhandenen Zahl an Wahlberechtigten. Seither hat sich die deutsche Bevölkerung in der Bundesrepublik um knapp eine Million verringert, w!!hrend gleichzeitig die Zahl der Wahlberechtigten, wie in der Wahlstatistik ausgewiesen, um 3.8 Millionen zugenommen hat. Diese Unterschiede können allerdings nur teilweise durch die Ver!!nderung der Altersstruktur erkl!!rt werden. Korrigiert man die offensichtliche ÜberscMtzung der tatsächlichen Wahlberechtigten um ein bis zwei Millionen, dann betr!!gt die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 1987 zwischen 86 Prozent und 88 Prozent. Sie ist damit so hoch wie die Wahlbeteiligung in den fünfzigerund sechziger Jahren, allerdings niedriger als in den siebziger Jahren. Insbesondere bleibt sie deutlich hinter der Wahlbeteiligung von 1983 zurück, um so mehr, wenn man berücksichtigt, daß auch 1983 aus den gleichen Gründen von der amtlichen Statistik eine zu niedrige Wahlbeteiligung ausgewiesen wurde. 6 UnabMngig von der Genauigkeit ihrer Berechnung blieb die Wahlbeteiligung in einer Größenordnung, die es nicht rechtfertigt, von Legitimationsverlusten zu sprechen. Im Gegensatz zu den Wahlberechtigten lassen sich bei Wahlen die W!!hler zweifelsfrei feststellen: Ihre Zahl ging 1987 im Vergleich zu 1983 um etwas über eine Million zurück.

4. Wahlbeteiligung und Abschneiden der Parteien

Analysiert man die Wahlbeteiligung auf der Ebene der Wahlkreisergebnisse, dann zeigt sich das erwartete Bild: Die Wahlbeteiligung war 1987 um so höher, je höher die Wahlbeteiligung 1983 war (r = 0.95). Zudem erstreckt sich der Rückgang der Wahlbeteiligung relativ gleichm!!ßig über das ganze Land. Am st!!rksten ist die Wahlbeteiligung in denjenigen Wahlkreisen zurückgegangen, in denen die Wahlbeteiligung bereits 1983 sehr niedrig ausgefallen war. Dadurch hat sich die Spanne zwischen hoher und niedriger Wahlbeteiligung bei dieser Wahl noch etwas verst!!rkt. Es gibt jedoch keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Ver!!nderung der Wahlbeteiligung 1980/83 und der entsprechenden Ver!!nderung 1983/87. Der starke Rückgang der Wahlbeteiligung und die hohen Verluste der Union haben schon bei den Interpretationen am Wahlabend einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Sachverhalten nahegelegt Zus!!tzliche Plausibilit!!t gewann diese Vermutung durch das Wetter am Wahltag: Durch Eis und Schnee seien insbesondere !!Itere W!!hler, die bekanntlich überdurchschnittlich stark die Union prllferieren, behindert worden. Dieser Einfluß der Wahlbeteiligung auf das Unionsergebnis wird jedoch bestritten 7•

6 7

Vgl. dazu Forschungsgruppe Wahlen, Bundestagswah/1983. Bericht Nr. 32, Mannheim 1983, S. 21, sowie Bundestagswah/1987. Bericht Nr. 45, Mannheim 1987, S. 28. Vgl. Schultze, Die Bundestagswahl1987 (Anm. 1), S. 9. allerdings ziemlich pauschal mit dafür weniger geeigneten Zahlen; insbesondere folgt aus den überdurchschnittlichen Verlusten und den unterdurchschnittlichen Stimmenanteilen für die Union bei hoher Wahlbeteiligung nicht, daß die Union von der sinkenden Wahlbeteiligung nicht so negativ betroffen worden ist.

693

Siegohne Glanz

Um eine genauere Vorstellung über den Zusammenhang von Wahlbeteiligung und Abschneiden der beiden großen Parteien zu erhalten, ist eine etwas differenziertere Betrachtung notwendig. 8 Zunächst ist festzustellen, daß sowohl 1983 als auch 1987 die SPD meist um so besser abschneidet, je höher die Wahlbeteiligung in den jeweiligen Wahlkreisen ist. Für die Union gilt der umgekehrte Zusammenhang. Eine Korrelation über alle Wahlkreisergebnisse zwischen der Veränderung der Wahlbeteiligung und der Veränderung der SPD-Anteile zeigt einen schwachen Zusammenhang (r=0.34): Je weniger die Wahlbeteiligung zurückgegangen ist, desto besser hat die SPD abgeschnitten. Zu wessen Lasten die Einbrüche in der Wahlbeteiligung gingen, kann man deutlich sehen, wenn man sich die regionale Verteilung der stärksten Wahlbeteiligungsrückgänge betrachtet. So liegen 21 der 25 Wahlkreise mit dem höchsten Rückgang der Wahlbeteiligung in Bayern und im südlichen Baden-Württemberg, wo die Union 1987 Ergebnisse um 60 Prozent erzielte. Die restlichen vier Wahlkreise mit einem besonders hohen Rückgang der Wahlbeteiligung liegen in den Hansestädten Harnburg und Bremen, wo zumindest 1983 die SPD deutlich vor der CDU lag. Selbst wenn man jene 50 Wahlkreise, die den höchsten Rückgang in der Wahlbeteiligung zu verzeichnen haben, heranzieht, so ändert sich das Bild kaum: 37 liegen in Bayern und Baden-Württemberg und sind durch ein weit überdurchschnittlich günstiges Niveau für die Union charakterisiert. Im Vergleich zu 19831agen hier die substantiellen Einbußen der Union: Zu dem starken Rückgang in der Wahlbeteiligung kommt die Verschlechterung der Prozentanteile der Union hinzu, die in Anbetracht der Ausgangsstärke allerdings eher durchschnittlich ausfallen. Zusammen ergibt dies einen starken Rückgang der absoluten Anzahl der Unionswähler, der weit stärker ist, als er in den Prozentdifferenzen der Unionsergebnisse zu erkennen ist. Tabelle 3a:

Erwarteter Gewinner der Bundestagswahl (in %) Anhänger

Gewinner CDU/CSU + F.D.P. SPD+Grüne weiß nicht/k.A.

CDU/CSU

98.9 0.2 0.8

SPD

F.D.P.

Grüne

50.5 44.8 4.7

92.7 3.0 4.3

64.9 30.6 4.4

Gesamt

76.0 19.3 4.6

QueUe: Politbarometer Januar 1987, Forschungsgruppe Wahlen.

8

Die hier vorgenommene Aggregatdatenanalyse (Basis: 248 Wahlkreisergebnisse) erlaubt lediglich grobe Aussagen über politische Strukturmuster, wobei die Aggregatdatenergebnisse mangels anderer Daten ansteHe des eigentlich interessierenden individuellen Wahlverhaltens analysiert werden. Die daraus resultierenden eventue11en Fehlinterpretationen werden als ökologischer Fehlschluß bezeichnet; sie sind bei den kleineren Parteien besonders hoch, weshalb im folgenden auf die Untersuchung der Auswirkungen der Wahlbeteiligung auf die F.D.P. und die Grünen verzichtet wird.

694

Forschungsgruppe Wahlen

Die Wahlkreise mit besonders hohem Rückgang der Wahlbeteiligung können also überwiegend als Hochburgen der Union angesehen werden, als Regionen, deren Milieu von der Union und ihren Anhängern geprägt ist. Waren die Siegesaussichten für die Regierungskoalition 1987 schon bei der Gesamtheit der Befragten sehr hoch, so glaubten 99 Prozent der Unionsanhanger unmittelbar vor der Wahl an einen Sieg der von ihnen präferierten Koalition. Dieser Sachverhalt zusammen mit einem eher farblosen, da kaum polarisierenden Wahlkampf nahm der Bundestagswahl 1987 die Spannung, welche die Bundestagswahl 1983 hatte, bei der es um die Bestätigung des durch die Parteieliten vollzogenen Machtwechsels ging und bei der die Auffassung über den Ausgang der Wahl noch zwei Monate vorher sehr geteilt gewesen war. Für die Hochburgen der Union trifft das noch stärker zu, weil das durch die spezifische Situation einer Hochburg geprägte politische Klima den politischen Gegner nur wenig sichtbar werden läßt. Eine solche Konstellation erweitert das Verhaltensrepertoire der Wähler. Hinzu kamen Äußerungen zum Beispiel von Franz Josef Strauß, der schon in seiner Neujahrsansprache und in seinen auch vom Fernsehen übertragenen Wahlkampfreden einen Sieg in Höhe von 55 Prozent für die Koalition als sicher prognostizierte. 9 Ein Rückgang der Wahlbeteiligung, insbesondere zu Lasten der Union, aufgrund von Unzufriedenheiten mit einzelnen politischen Entwicklungen (Landwirtschaft) ist dann genauso naheliegend wie zum Beispiel aus privaten Gründen oder wegen des Wetters.

5. Das Ergebnis in den Bundesländern

Gerade bei der regionalen Betrachtung ist es aufschlußreich, die Veränderungen der Wahlbeteiligung und die der Parteianteile gemeinsam zu berücksichtigen. Man muß sich zunächst vergegenwärtigen, daß einzelne Bundesländer zum Gesamtergebnis, insbesondere der beiden großen Parteien, einen überdurchschnittlich hohen Beitrag leisten. So kamen 1983 32.2 Prozent der SPD-Stimmen aus Nordrhein-Westfalen, obwohl dort nur 28.5 Prozent der Wahlberechtigten wohnten, und 21.8 Prozent der Unionsstimmen aus Bayern mit 18.2 Prozent der Wahlberechtigten; einen überdurchschnittlichen Beitrag, wenn auch nicht so stark, leistete Baden-Württemberg bei der Union. An diesen Daten kann man ermessen, was es für die Union insgesamt bedeutete, daß in den beiden führenden Unionsländern, Bayern und Baden-Württemberg, die Wahlbeteiligung deutlich überdurchschnittlich zurückgegangen und in Baden-Württemberg zusätzlich noch der stärkste Rückgang des Prozentergebnisses der CDU von allen Bundesländern zu verzeichnen ist. In Baden-Württemberg hatte die CDU 1987 rund 400.000 Wähler weniger als 1983 und mit -7.7 Prozentpunkten an den Wahlberechtigten die größten Verluste aller Bundesländer, dicht gefolgt von Bayern mit knapp sieben Prozentpunkten Verlust und knapp einer halben Million weniger Wählern. Wer von diesen Verlusten der Union in erster Linie profitierte, läßt sich zwar bei einer Aggregatdatenanalyse nur vermuten, es

9

Vgl. Nina Grunenberg, Der alte Mann und die Macht. in: Die Zeitv. 16.1.1987, S. 3. Ähnlich äußerte sich auch Lothar Späth. Vgl. dazu Mannheimer Morgen v. 22.1.1987, S. 1 f.

695

Sieg ohne Glanz

ist jedoch nicht unplausibel anzunehmen, daß besonders in Baden-Württemberg die F.D.P. davon den Nutzen hatte ( + 157.000 W1!hler) und, wie in Bayern auch, die sonstigen Parteien, die rund die Hälfte ihres Zuwachses in diesen beiden Uindern erzielten. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß die durchschnittlichen Verluste der CDU in Nordrhein-Westfalen (-6.1) aufgrunddes Bevölkerungsreichtums dieses Bundeslandes mit einem Minus von knapp 700.000 Wahlern zu Buche schlagen (vgl. Tabellen 3 und 4). Wahlergebnisse in den Bundeslandern: Anteile an den Wahlern 1987 (in %) und Differenzen zu 1983 (in Prozentpunkten und in Tausend)

Tabelle 3:

Wahlbeteiligung

Union

SPD

-4.6 I -96 -0.2 I -26 -1.1 I -254 -5.3 I -33 -5.1 I -688 -3.0 I -153 -4.5 I -131 -5.9 I -393 -4.4 I -425 -3.6 I -37

Schleswig-Holstein Harnburg Niedersachsen Bremen Nordrhein-Westfalen Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern Saarland

84.4 83.0 85.0 82.7 85.4 85.7 86.7 83.1 81.7 87.3

-4.8 -5.7 -4.4 -6.5 -4.1 -4.5 -3.7 -5.3 -5.9 -3.3

41.9 37.4 41.5 28.9 40.1 41.3 45.1 46.7 55.1 41.2

Bundesgebiet

84.3

-4.8

44.3 -4.5 I -2237

.

F.D.P. Schleswig-Holstein Harnburg Niedersachsen Bremen Nordrhein-Westfalen Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern Saarland

.

Bundesgebiet

Ohne West-Berlin.

9.4 9.6 8.8 8.8 8.4 9.1 9.1 12.0 8.1 6.9

+3.1 +3.3 +1.9 +2.3 +2.0 + 1.5 +2.1 + 3.0 +1.9 +0.9

I I I I I I I I I I

39.8 41.2 41.4 46.5 43.2 38.7 37.1 29.3 27.0 43.5

-1.9 -6.2 +0.1 -2.2 +0.4 -2.9 -1.3 -1.8 -1.9 -0.3

9.1 +2.1 I 734

8.0 11.0 7.4 14.5 7.5 9.4 7.5 10.0 7.7 7.1

+2.8 + 2.8 +1.7 +4.8 +2.3 + 3.4 +3.0 + 3.2 +3.0 +2.3

-50 -94 -48 -24 -89 -145 -48 -138 -198 -12

37.0 -1.2 I -840

Grüne 51 31 81 8 193 47 49 157 111 5

I I I I I I I I I I

I I I I I I I I I I

Sonstige 45 24 75 18 232 115 70 170 193 16

8.3 +2.7 I 959

0.9 0.7 0.9 1.3 0.9 1.4 1.2 2.2 2.1 1.4

+0.5 +0.1 +0.5 +0.5 +0.4 +0.9 +0.7 +1.7 +1.3 +0.7

I I I I I I I I I I

8 1 19 2 47 30 20 88 90 5

1.4 +1.0 I 311

696

Forschungsgruppe Wahlen

Tabelle 4:

Wahlergebnisse in den BundesUindern: Anteile an den Wahlberechtigten 1987 und Differenzen zu 1983 (Zweitstimmen)

Union

SPD

F.D.P.

Schleswig-Holstein Harnburg Niedersachsen Bremen Nordrhein-Westfalen Hessen Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Bayern Saarland

35.1 30.9 35.1 23.7 34.0 35.0 38.7 38.3 44.7 35.4

-6.0 -2.3 -5.5 -6.2 -6.1 4.6 -5.4 -7.7 -6.9 4.7

33.3 34.0 35.0 38.2 36.6 32.8 31.8 24.0 21.9 37.4

-3.6 -7.8 -1.8 4.4 -1.4 4.4 -2.3 -3.1 -3.3 -1.7

7.9 7.9 7.5 7.2 7.1 7.7 7.8 9.8 6.6 5.9

Bundesgebiet

37.0

-6.1

30.9

-2.8

7.6 +1.5

.

+2.3 +2.4 +1.3 +1.5 +1.4 + 1.0 +1.6 +2.0 +1.2 +0.5

Grüne

6.7 9.1 6.3 11.9 6.3 8.0 6.4 8.2 6.2 6.1

+2.1 +1.9 +1.2 +3.4 +1.7 +2.6 +2.4 +2.2 +2.2 +1.8

6.9 +2.0

Sonstige

0.7 0.6 0.7 1.1 0.8 1.2 1.1 1.7 1.7 1.2

+0.4 +0.1 +0.3 +0.4 +0.4 +0.7 +0.7 +1.3 + 1.1 +0.6

1.1 +0.7

Ohne West-Berlin.

Zwar hat der starke Rückgang der Wahlbeteiligung in Harnburg und Bremen auch das Abschneiden der SPD beeinflußt, aufgrund des zahlenmaßig geringen Gewichts der beiden Hansestadte wirkte es sich jedoch trotz der gleichzeitigen Anteilsverschlechterung der SPD in Harnburg (-6.2 Prozentpunkte) nur wenig auf das Abschneiden der SPD im Bund insgesamt aus. Hier machte sich vielmehr das relativ gute Ergebnis der SPD in Nordrhein-Westfalen bemerkbar, wenn auch dort die SPD rund 90.000 Wahler weniger als 1983 mobilisieren konnte. Die Grünen konnten bundesweit trotz der niedrigeren Wahlbeteiligung eine Million mehr Wahler als 1983 gewinnen, wobei die regionalen Unterschiede, mit Ausnahme von Bremen einerseits sowie Niedersachsen andererseits, relativ gering sind. Aufgrund des höheren politischen Interesses bei den Wahlern der Grünen dürften sie vom Rückgang der Wahlbeteiligung weniger betroffen gewesen sein. Bei der Analyse der Wahlergebnisse in den Bundeslandern konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die Abweichungen der Anteilsveranderungen in den Bundeslandern vom Bundesdurchschnitt Hier fallen dann zunachst die Extreme ins Auge: einerseits der weit unterdurchschnittliche Verlust der CDU in Schleswig-Holstein und die SPD-Zunahme in Nordrhein-Westfalen und andererseits die weit überdurchschnittlichen Verluste der CDU in Baden-Württemberg und der SPD in Bremen, was auf den ersten Blick nahtlos an die bei jeder Bundestagswahl wieder neu diskutierte These vom Nord-SüdGefalle anknüpft.

Sieg ohne Glanz

Tabelle 4a:

691

Varianzzerlegung der Veränderung von Parteianteilen

a) Varianzzerlegung der Gewinne und Verluste der CDU!CSU Varianz 1953/49 1957/53 1961/57 1965/61 1969/65 1972/69 1976172 1980176 1983/80 1987/83



Bund 77 56 47

248

43 42 20 9 8 14 19 20

27 91 90

84 88

24

Varianz

c)



35 21 33 14 18 8 1 8 18 5

Bund

5

.

Varianz 13 13 26 16 17 19 11 1 22 7

Bund

16 22 18

34

39 37

5

4 6 7

davon entfällt auf (in %) Länder Rest

23 18 74 74 78 77 17 90 77 86

Varianzzerlegung der Gewinne und Verluste der SPD

1953/49 1957/53 1961/57 1965/61 1969/65 1972/69 1976172 1980/76 1983/80 1987/83

7

22 35 42 33 36 4 6 10

24 28

b) Varianzzerlegung der Gewinne und Verluste der F.D.P.

1953/49 1957/53 1961/57 1965/61 1969/65 1972/69 1976/72 1980/76 1983/80 1987/83

davon entfällt auf (in %) Länder Rest

21 49 16 10 11 6 38 6 13 5

56 33 10 16 11 17 45 4 10 9

davon entfällt auf (in%) Länder Rest 20 13 7 21

3 61 77 62 71 62 85 8 93 16

11

12 8 33 4 31

77 26 16 17 18 26 7 59 3 53

d) Varianzzerlegung der Gewinne und Verluste der Grünen Varianz 1980!76 1983/80 1987/83

2 18 9



Bund 92 91 85

davon entfällt auf (in %) Länder Rest 4

3 4

4

6

11

Varianz (um Null) in quadrierten Prozentpunkten. Quelle: Hoschka/Schunck, Stabilität (Anm. 10), Abb. 16-18, und eigene Berechnungen für 1980 bis 1987.

698

Forschungsgruppe Wahlen

Zur Analyse der möglichen regionalen Differenzierungen empfiehlt sich ein ursprünglich von Stokes10 vorgeschlagenes Modell, bei dem die Varianz der Veranderung einer Partei von einer Wahl zur nachsten betrachtet wird. Hierzu wird eine spezielle Form der Varianzanalyse verwendet, bei der nicht Streuungen um den Mittelwert der Veranderungen untersucht werden, sondern die Streuungen um Null, also die gesamte Veranderung einer Partei. Auf diese Weise kann man eine Varianzzerlegung in einen Bundesanteil, U!nderanteil und eine den lokalen Einflüssen auf der Wahlkreisebene zuzuordnende Restvarianz erhalten. Die Ergebnisse dieser Varianzzerlegung sind in Tabelle 4a dargestellt.11 Die übliche Varianzanalyse würde nur die Abweichungen vom Bundesdurchschnitt der Veranderungen berücksichtigen und damit den bundeseinheitlichen Einfluß außer acht lassen. Bei der CDU/CSU betragt 1987 der Bundesanteil der Varianz der Veranderung 88 Prozent und liegt damit etwa genauso hoch wie bei den übrigen Wahlen seit 1976. U!nderanteile (5 Prozent) und lokale Varianz (7 Prozent) sind fast ohne Bedeutung. Ähnliches gilt für die F.D.P. und die Grünen. Das bedeutet, daß bei diesen drei Parteien die globalen bundesweiten Veranderungen deutlich überwiegen. Allein bei der SPD ist der Bundesanteil mit 16 Prozent ahnlieh gering wie bei der Bundestagswahl 1980; der U!nderanteil ist mit 31 Prozent deutlich höher, aber immer noch kleiner als die lokale Varianz, deren Anteil bei 53 Prozent liegt. Im Unterschied zu den anderen Parteien ist damit für die SPD die regionale Differenzierung nach Bundeslandern bei dieser Wahl wieder relativ groß. Im übrigen bestatigt sich bei dieser Wahl das seit 1976 typische Bild: ein sehr hoher Bundesanteil bei niedrigen Anteilen von U!nder- und lokalen Einflüssen, wobei diese beiden von etwa gleich geringer Bedeutung sind.

6. Stimmensplitting

Nachdem sowohl 1980 als auch 1983 ein wachsender Gebrauch des Stimmensplittings festzustellen war, wurde bei der Bundestagswahl 1987 die Möglichkeit, Erst- und Zweitstimme an unterschiedliche Parteien zu vergeben, weniger Mutig genutzt. Traditionell geben sowohl die Wahler der Union als auch die der SPD fast ausschließlich "ihrem" Kandidaten auch die Erststimme. So wählten nur knapp fünf Prozent der Unionswahler und gut sieben Prozent der SPD-Wähler mit der Erststimme den Kandidaten einer anderen Partei. Sehr Mutig dagegen haben die Wahler der F.D.P. und der Grünen ihre Stimmen aufgeteilt: Über 60 Prozent der F.D.P.-Wahler und knapp die Hälfte der Grünen-Wähler haben nicht den "eigenen" Kandidaten gewahlt.

10 Siehe dazu Peter Hoschka/Hennann Schunck, Stabilität regionaler Wählerstrukturen in der Bundesrepublik, in: Max Kaase (Hrsg.), Wahlsoziologie heute, Opladen 1977, S. 295-297. 11 Siehe ebd., Abb. 16-18.

699

Sieg ohne Glanz

Tabelle 5:

Stimmensplitting von F.D.P. und Grünen seit 1972 (von 100 abgegebenen Zweitstimmen entfielen an Erststimmen)

Zweitstimme

Erststimme

F.D.P.

F.D.P. Union SPD Rest

Grüne

1972

1976

1980

1983

1987

382 79 529 10

607 80 299 14

485

291 583 101 25

387 432 131 50

521 52 398 29

582 43 315 60

Grüne Union SPD Rest

133 355 27

649 118 187 46

Quelle: Repräsentative Wahlstatistik (ohne Briefwahl).

Aus Tabelle 5 kann man deutlich die in den jeweiligen Wählerschaften verankerten Koalitionsprl1ferenzen erkennen. Nach einer klaren Präferenz der F.D.P.-Anh!tnger zugunsten der SPD bis einschließlich 1980 manifestiert sich ab 1983 der Koalitionswechsel der F.D.P. in einem deutlich gelinderten Splittingverhalten ihrer jeweiligen Wähler. Die 1987 erkennbare Konsolidierung der F.D.P. findet ihren Ausdruck in dem gestiegenen Prozentsatz derjenigen, die sowohl mit Erst- als auch Zweitstimme F.D.P. wählen. Genauso klar ist das Bild im Wählerlager der Grünen. Zwar ist hier der Anteil derjenigen, die mit Erst- und Zweitstimme die Grünen wählen, deutlich höher, die Präferenz zugunsten der SPD ist jedoch eindeutig. Lediglich 4.3 Prozent derjenigen, die mit ihrer Zweitstimme die Grünen gewählt haben, gaben einem Kandidaten der Union ihre Erststimme. Wie auch bei der F.D.P. stieg bei den Grünen der Anteil derjenigen Wähler, die mit beiden Stimmen die Grünen wählten.

7. Alter und Geschlecht

Betrachtet man die langfristigen Entwicklungen der geschlechtsspezifischen Parteiprl1ferenzen, wie sie in der Tabelle 6 ausgewiesen sind, dann fallen am stärksten die gravierenden Verlinderungen bei der Union auf. Erzielte die Union bis zur sozialliberalen Koalition bei den Frauen deutlich bessere Ergebnisse als bei den Ml1nnern, so hat sich dies seit 1972 egalisiert. Entsprechend spiegelbildlich verläuft die Entwicklung bei der SPD, die traditionell eher von Mannern gewählt wurde. 1980 können wir - zumindest über alle Altersgruppen aggregiert- praktisch keine geschlechtsspezifischen Unterschiede im Wahlverhalten mehr feststellen, was auch im großen und ganzen bis zu dieser Bundestagswahl fortdauert. Allerdings lassen sich bei der Union 1983 und 1987 Anslitze eines positiven Trends bei den Frauen erkennen.

700 Tabelle 6:

Forschungsgruppe Wahlen

Unterschied zwischen den Parteianteilen bei Mi!nnern und Frauen (Prozentpunkte: Mi!nner- Frauen)

Bundestagswahl 1957 1961 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987 CDU/CSU SPD F.D.P. Grüne Sonstige

-8.9 6.4 1.2

-9.2 6.8 1.4

1.3

1.1

-9.6 -10.0 7.8 5.2 0.5 0.8 1.4

4.0

-3.0 1.2 1.1

-1.6 0.5 0.5

0.7

0.7

0.5 -0.8 -0.3 0.4 0.3

-1.5 -1.0 0.9 1.1 0.4

-2.6 0.7 0.9 0.6 0.4

Quelle: Repräsentative Wahlstatistik (ohne Briefwahl).

Die Tabellen 7 und 8 weisen das Wahlergebnis bei der Bundestagswahl 1987 getrennt nach Geschlecht und Alter aus. Diese Zahlen stammen aus repri!sentativ ausgewi!hlten Wahlbezirken, in denen die Stimmabgabe mit besonders gekennzeichneten Stimmzetteln erfolgt, so daß die Wi!hlerstimmen nach Geschlecht und Alter getrennt ausgezi!hlt werden können. Sie enthalten somit keine Stimmen aus der zugehörigen Briefwahtl2 (vgl. Tabellen 7 und 8). Für die Union zeigt sich der bekannte Anstieg der Wahlergebnisse mit zunehmendem Alter, der sich im Vergleich zu 1983 noch versti!rkt hat, da in den jüngeren Altersgruppen überdurchschnittliche Verluste der CDU/CSU aufgetreten sind; in der jüngsten Altersgruppe, den 18- bis 24ji!hrigen, sind jedoch nur leicht überdurchschnittliche Verluste zu verzeichnen. Daß die Union bei den Frauen etwas besser abschneidet als bei den Mi!nnern, verdankt sie den geringen Verlusten bei den über 35ji!hrigen Frauen, wi!hrend sie bei den Frauen der jüngsten Alterskohorte schlechter abschneidet als bei der entsprechenden mi!nnlichen Altersgruppe. Trotz ihrer Verluste von insgesamt knapp fünf Prozentpunkten konnte sie ihr Ergebnis von 1983 in der Altersgruppe der über 60ji!hrigen praktisch halten - ein Hinweis darauf, daß die aufgrund der Rentenpolitik entstandene Veri!rgerung bei der Bundestagswahl 1987 wohl keine große Rolle mehr gespielt hat. Die Ergebnisse der SPD hingegen sind nicht durch altersbedingte Unterschiede gekennzeichnet. Vor dem Erscheinen der Grünen war dies anders. Damals schnitt die SPD um so besser ab, je jünger die Wi!hler waren. Die Verluste, die die SPD im Vergleich zu 1983 erlitt, gehen fast ausschließlich auf das Konto der Frauen. Hier traten in allen Altersgruppen deutlich sti!rkere Rückgi!nge bzw. geringere Zuwi!chse auf als bei den Mi!nnern.

12 Wie in Tabelle 7 ausgewiesen, entstehen dabei folgende Differenzen zum Gesamtergebnis der Bundestagswahl: CDU/CSU: -0.5, SPD: + 1.1, F.D.P.: -0.4 und Grüne: -0.3.

8.3

9.2

38.5

37.0 34.7 40.6 45.2 50.1

42.5

18-24 25-34 35-44 45-59 60 und älter

Insgesamt

38.1

43.8

7.7

8.3

37.8

45.1

csu

-5.0 -8.4 -9.7 -4.0 -0.8

-5.2

18-24 25-34 35-44 45-59 60 und älter

Insgesamt

-1.9 -1.4 0.2 -1.5 -2.5 -1.6

csu -5.5 -8.4 -8.4 -3.5 0.0 -4.1

0.3 5.4 5.2 1.3 0.7 2.4

3.2 1.6 1.9 2.3 1.1

2.0

-0.1 0.7 1.9 -0.3 -1.9

0.1

SPD

FDP

-0.8 -2.3 -0.8

-4.7 2.9 2.0

1.1

2.0

2.7

1.6 6.6 5.2 1.4 0.6 3.0 1.3 2.0 2.6 1.4 -0.9 -0.4 -5.2 -8.4 -9.1 -3.8 -0.3 3.0 7.8 5.2 1.5 0.5 2.8 1.1 2.2 2.7 1.5

GRÜNE FDP

8.0

15.5 17.4 9.6 3.8 1.8

GRÜNE

SPD

csu GRÜNE

Frauen CDU/ SPO FDP

CDU/ GRÜNE

Männer

Quelle: Repräsentative Wahlstatistik (ohne Briefwahl).

CDU/

8.7

8.3 7.6 10.6 9.9 7.3

FDP

Gesamt

38.1 39.0 37.1 38.8 37.5

36.0 34.6 41.5 46.3 52.3

16.5 17.9 9.3 3.9 1.6

8.0 7.3 10.5 9.4 6.9

SPD

Gesamt

csu

38.7 39.0 36.6 38.1 37.2

GRÜNE

34.8 34.4 42.5 47.4 53.5

csu

Frauen CDU/ FDP SPD

Veränderungen der Parteianteile 1987- 1983 nach Geschlecht und Alter (in Prozentpunkten der Zweitstimmen)

Altersgruppe (Jahre)

Tabelle 8:

Quelle: Repräsentative Wahlstatistik (ohne Briefwahl).

14.5 16.9 9.9 3.7 2.2

8.6 7.9 10.7 10.3 7.9

37.5 39.0 37.6 39.4 38.0

csu

CDU/ GRÜNE

FDP

SPD

CDU/

Männer

Parteianteile 1987 nach Geschlecht und Alter (in% der gültigen Zweitstimmen)

Altersgruppe (Jahre)

Tabelle 7:

-....)

0 .....

~

.Q

::s (1)

!5.

~

~

702

Forschungsgruppe Wahlen

Die F.D.P. erzielt ihre besten Ergebnisse bei den 35- bis 59jährigen, ihre höchsten Zuwachse in der jüngsten Altersgruppe der unter 24jährigen. Geschlechtsspezifische Unterschiede können kaum festgestellt werden. Bei den Grünen finden wir die gewohnte, relativ starke Unterstützung in den jüngeren Altersgruppen, wobei für sie in der jüngsten Altersgruppe ein deutlich geringerer Zuwachs festzustellen ist. Die größten Ergebnisverbesserungen erreichten die Grünen bei den 25- bis 45jährigen, während sie bei den über 45jährigen nach wie vor keine Rolle spielen. Im Vergleich zu 1983 ergeben sich im Wählerlager der Grünen deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede: Zwar schneiden die Grünen insgesamt bei den Männern immer noch etwas besser ab als bei den Frauen, aber bei den unter 35jährigen haben sie bei den Frauen weit mehr zugelegt als bei den Männern, so daß hier die Ergebnisse bei den Frauen inzwischen besser sind als bei den Männern.

8. Konstanz und Wandel im Wahlverhalten sozialer Gruppen

Die auffällige Stabilität der Bundestagswahlergebnisse wird gewöhnlich damit erklärt, daß es innerhalb großer sozialer Gruppen für bestimmte Parteien Präferenzen gibt, die diesen Parteien einen Grundsockel an Wählerstimmen garantieren. Diese Präferenzen werden darauf zurückgeführt, daß sich sozialstrukturell verankerte politische Konfliktstrukturen (cleavages) im Parteiensystem ausdrücken. 13 Stinchcombe interpretiert cleavages als Koalitionen zwischen Parteieliten und sozialen Gruppen, die entstanden seien, als diese sozialen Gruppen zum ersten Mal politisch mobilisiert wurden. 14 Das deutsche Parteiensystem wird von zwei dauerhaften Koalitionen bestimmt: zum einen von der in der Zeit der industriellen Revolution entstandenen Koalition zwischen der Arbeiterschaft und der SPD, zum anderen von der Koalition zwischen Katholiken und der Union, die ursprünglich von der Zentrumspartei begründet worden war und von den Unionsparteien übernommen wurde. Daß diese Zuordnungen sich heute noch so deutlich zeigen 15 , mag allerdings verwundern. Die Entwicklung der SPD und der Union zu modernen Volksparteien hätte eigentlich die Beziehungen zu ihrer klassischen Klientel stärker beeinträchtigen müssen, als dies offensichtlich der Fall ist. Die starke soziale Mobilität unserer Gesellschaft führt nun dazu, daß die Gruppen, um die es hier geht, immer kleiner werden. Die Arbeiterschaft, nach dem Krieg mit 51 Prozent die weitaus größte Berufsgruppe, liegt heute mit weniger als 40 Prozent be-

13 Vgl. Seymour M. Lipset/Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems and Voter Alignments: An Introduction, in: dies., Party Systemsand Vater Alignments, New York: Free Press 1967, S. 1-64; Pranz Urban Pappi, Sozialstruktur, gesellschaftliche Wertorientierungen und Wahlabsicht, in: Kaase (Hrsg.), Wahlsoziologie heute (Anm. 10), S. 195-229. 14 Vgl. Arthur J. Stinchcombe, Social Structure and Politics, in: Fred I. Greenstein/Nelson W. Polsby (Hrsg.), Handbook of Political Science, Bd. 3, Reading: Addison Wesley 1985, S. 557662. 15 Manfred Berger et al., Regierungswechsel und politische Einstellungen. Eine Analyse der Bundestagswahl1983, in: ZParl, 14. Jg. 1983, H. 4, S. 556-582.

Sieg ohne Glanz

703

reits deutlich hinter den Angestellten und Beamten. Die Katholiken, die 1953 noch mehrheitlich (60 Prozent) eine starke Kirchenbindung aufwiesen, gehen immer seltener in die Kirche. 1987 wurde noch für 36 Prozent der Katholiken eine starke Kirchenbindung festgestellt (vgl. Tabellen 9 und 10). Tabelle 9:

Berufsstrukur seit 1950 (in %) Arbeiter

1950 1961 1970 1987

Beamte/Angestellte

51.0 48.1 45.6 39.6

Selbständige

20.6 29.9 38.4 50.1

28.3 22.0 16.0 10.3

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Tabelle 10:

Kirchenbindung im Zeitlauf (in %) 1953 1965 1969 1972 1976 1980 1983 1987

Katholiken Kirchenbindung3 ) stark mäßig keine Protestanten Kirchenbindung stark mäßig keine andere oder keine Konfession

a)

47

47

48

48

43

46

43

46

60 20 20 49

59 24 16 50

48 30 21 49

46 26 27 47

40 26

36 29 35 48

35 27 37 50

36 31 33 47

19 33 48 4

8 49 42 3

7 45 47 3

6 36 57

6 31 63 8

7 29

9 27 63 7

7 29

5

34

49

64

6

64

7

Die Häufigkeit des Kirchgangs wird in den Studien unterschiedlich erfragt. 1953 gab es die Antwortmöglichkeit (1) regelmäßig, (2) unregelmäßig, (3) selten oder nie. 1965 und 1969: (1) mehr als einmal in der Woche, (2) mindestens einmal in der Woche, (3) wenigstens einmal im Monat, (4) mehrmals im Jahr, (5) nur einmal im Jahr, (5) selten oder nie. Seit 1972: (1) jeden Sonntag, (2) fast jeden Sonntag, (3) ab und zu, (4) einmal im Jahr, (5) seltener, (6) nie. Für die obigen Kategorien wurden folgende Zusammenfassungen vorgenommen: stark: 1953 (1), ab 1965 (1) und (2); mäßig: 1953 (2), 1965 bis 1969 (3) und (4), ab 1972 (3); keine: 1953 (3), 1965 bis 1969 (5) und (6), ab 1972 (4) bis (6).

Bei den Umfragen handelt es sich aus Gründen der Vergleichbarkeit jeweils um Auszählungen von Bundesumfragen (ZA 145, 556, 426, 635, 823, 1053/November 80, 1275/März 83 und 1532/Februar 87).

704

Forschungsgruppe Wahlen

Regionale Mobilität führt darüber hinaus zur Auflösung klassischer Milieus, so daß die Wahlnormen sozialer Gruppen nicht mehr für alle Dazugehörenden gültig sind. In den Bereichen mit sich überschneidenden Zuordnungen (cross pressure), zum Beispiel katholischen Arbeitern, war zudem schon immer mit konkurrierenden Parteiorientierungen zu rechnen. Bei der Analyse des Wahlverhaltens sozialer Gruppen ist daher jeweils zu berücksichtigen, inwieweit sich Trends abnehmender Verbindlichkeit der Parteiorientierungeil abzeichnen. Davon sind jedoch die Schwankungen zu unterscheiden, die sich bei gutem und schlechtem Abschneiden einer Partei auch in den jeweiligen sozialen Gruppen zeigen. Abnehmende Verbindlichkeiten gruppenspezifischer Wahlnormen, also die Entkopplung sozialer Konfliktstrukturen von der parteipolitischen Dimension (dealignment), könnte vor allem bei solchen Gruppen auftreten, bei denen aufgrund wichtiger anstehender Probleme eine besondere Betroffenheit erwartet werden kann. In Zeiten dauerhaft hoher Arbeitslosigkeit wird daher vor allem das Wahlverhalten der Arbeiterschaft interessieren, das ja schon aufgrund der wahlsoziologischen Erwartungen hinsichtlich der Orientierung zugunsten der SPD von besonderem Interesse ist. 16 Bundestagswahlen repräsentieren Zäsuren im politischen Prozeß, die es besonders gut ermöglichen, den Status der Beziehungen sozialer Gruppen zu den Volksparteien zu analysieren. Untersuchungen im Verlauf einer Legislaturperiode haben gezeigt, daß die Wahlabsichten innerhalb der theoretisch relevanten sozialen Gruppen von Monat zu Monat großen Stimmungsschwankungen unterliegen können, daß sich aber zum Zeitpunkt der Bundestagswahl diese Beziehungen wieder nach den von der Theorie vorgegebenen Mustern ordnen. 17 Aus diesem Grund beruhen die folgenden Analysen auf den in den Umfragen direkt nach einer Bundestagswahl festgestellten Äußerungen der Befragten zu ihrem Wahlverhalten bei der gerade vergangenen Bundestagswahl. 18

9. Die Wahlentscheidung 1987 in den Berufsgruppen

Die Streitfragen der Legislaturperiode mit dem Schwerpunkt auf den zwischen Regierung und Opposition umstrittenen Konzepten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit - die gewerkschaftliche Forderung nach der 35-Stunden-Woche und die Auseinandersetzun-

16

Nach der Bundestagswahl 1983 hatte es zwischen der Forschungsgruppe Wahlen und infas eine Kontroverse über das Wahlverhalten der Arbeiter gegeben, die in der ZParl ausgetragen wurde. infas hatte damals von Verlusten der SPD in ihrer Stammwählerschaft gesprochen, während die Forschungsgruppe Wahlen die Hauptverluste der SPD im Dienstleistungsbereich lokalisierte. Vgl. dazu ZParl, 15. Jg. 1984, S. 124-136, S. 305-312. 17 Vgl. dazu Wolfgang G. Gibowski/Max Kaase, Die Ausgangslage für die Bundestagswahl am 25. Januar 1987, in: Hans-Dieter Klingemann/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl1983, Opladen 1986, S. 524. 18 Die Kontroverse mit infas über das Wahlverhalten der SPD-Stammwähler bei der Bundestagswahl 1983 hatte nachdrücklich bestätigt, daß der Zeitpunkt der Erhebung der zur Analyse benutzten Daten von ganz erheblicher Bedeutung ist. Vgl. dazu den Beitrag der Forschungsgruppe Wahlen, in ZParl, 15. Jg. 1984, S. 305-312.

Sieg ohne Glanz

705

gen um den § 116 Arbeitsförderungsgesetz waren Folge dieser Problematik - rückten von vornherein die Wahlentscheidungen in den Berufsgruppen ins Blickfeld. Neben der von den theoretischen Erwartungen gepr1!gten Aufmerksamkeit für das Wahlverhalten der Arbeiterschaft interessierte, ob es der SPD nach ihren starken Verlusten in den Dienstleistungsbereichen sowie an den R1!ndern ihrer Stammw1!hlerschaft bei der Bundestagswahl 1983 nun gelingen würde, insbesondere den "zweiten" F1ügel ihrer W1!hlerschaft wieder anzusprechen, also das 1983 in den Verlusten an die Grünen sichtbar gewordene Dilemma zwischen neuer und alter Politik zu überwinden. 19 Auch für die Regierungsparteien, insbesondere die CDU/CSU, war die Legislaturperiode im Hinblick auf berufsspezifische Konflikte nicht unproblematisch verlaufen. Schwierigkeiten mit den Bauern wurden nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch in den Ergebnissen der Landtagswahlen in Niedersachsen und Bayern sichtbar. Aber auch in den übrigen Bereichen der kleinen und mittleren Selbst1!ndigen hatten sich Entt1!uschungen über nicht konsequent erfolgte Einlösungen der Wende breitgemacht Die Schwierigkeiten beider Volksparteien mit ihren fundamentalistischen F1ügeln eröffneten auf der linken Seite für die Grünen, auf der rechten Seite für zum Teil neue Gruppierungen sowie die erneut sichtbar werdende NPD gewisse Perspektiven. Bei den ungelernten Arbeitern und den Facharbeitern haben die Oppositionsparteien mehr und die Regierungsparteien weniger Zuspruch gefunden als 1983. 20 Für die CDU/CSU liegt das Abschneiden bei den Arbeiterntrotz des Rückgangs durchaus noch im Rahmen früherer Ergebnisse. Bei der SPD ist ein besseres Abschneiden bei den Facharbeitern wohl durch die Erfolge der Grünen verhindert worden.

19 Vgl. dazu Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann, Soziale Struktur, Wertorientierung und Parteisystem, in: Joachim Matthes (Hrsg.), Sazialer Wandel in Westeuropa, Frankfurt a.M. 1979, S. 534-573; Gibowski/Kaase, Ausgangslage, (Anm. 17), S. 509-541. 20 Die hier dargestellten Analysen basieren jeweils auf Befragungen kurz nach dem Wahltag und stellen die Zusammenhänge zwischen der Rückerinnerung der Befragten an ihre Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl und der Zugehörigkeit zu den verschiedenen Gruppen dar. Aufgrund bisheriger Erfahrungen mißt die Rückerinnerungsfrage zeitlich sehr kurz nach dem Wahltag die Wahlentscheidung der Befragten sehr gut, was sich ja auch durch die Übereinstimmung von Wahlentscheidung und amtlichem Wahlergebnis zeigt. Alle Untersuchungen- mit Ausnahme der dritten Welle der Wahlstudie 1976- sind repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland ohne Berlin-West.

706 Tabelle 11:

Forschungsgruppe Wahlen

Wahlentscheidung und Beruf des Haushaltsvorstands (in %) Arbeiter ungelernt 1976 1980 1983 1987

gelernt 1976 1980 1983 1987

38 6

43 9 38 9

36 2 62

931

1732

109

Alle Befragte Wahlentscheidung

1976 1980 1983 1987

CDU/CSU

48 8 43

F.D.P SPD Grüne

43 12 44 1

51

5

n=

1114 968

Wahlentscheidung

Angestellte und Beamte bis mittlere 1976 1980 1983 1987

CDU/CSU

F.D.P SPD Grüne

45 10 44

365

37

44 6 49

0

45 3 50 1

32 11 57 0

43 1 52 3

35 4 52 9

87

84

151

342

257

293

516

39 6

55

5 55 3

leitende 1976 1980 1983 1987

41 15 42 2

56 4 34 7

47 9 33 10

58 14

342

306

618

89

28

52 10 37 1

56 3 24 17

45 18

80

61

114

28

Selbständige bis mittlere 1976 1980 1983 1987 63 5 32

8 123

56 13

63 18

0

61 11 26 2

99

80

138

28

13

5

Quelle: Nachwahlbefragungen November 1986 (ZA 825), November 1980 (ZA 1053), März 1983 (ZA !275) und Februar 1987 (ZA 1532), Forschungsgruppe Wahlen.

Sieg ohne Glanz

707

Bei den kleinen und mittleren Angestellten und Beamten - es handelt sich um die größte Berufsgruppe Oberhaupt - haben die Regierungsparteien zusammen leichte Einbußen hinnehmen müssen und in der kleineren Gruppe der leitenden Angestellten und Beamten ein etwas besseres Ergebnis als 1983 erzielt. Dementsprechend haben sich die Oppositionsparteien bei den kleinen und mittleren Angestellten und Beamten verbessert und bei den leitenden etwas verschlechtert. Innerhalb des Regierungslagers legte die F.D.P. jeweils zu, besonders bei den leitenden Angestellten und Beamten, bei denen CDU und CSU sehr viel schwacher abschnitten als bisher. Im Oppositionslager kamen die Verbesserungen bei kleinen und mittleren Angestellten und Beamten nur durch die Grünen zustande, die bei den leitenden Angestellten und Beamten dagegen starke Einbußen verzeichnen mußten. Langfristige systematische Veranderungen sind jedoch bei keiner der vier Parteien erkennbar. Bei den kleinen und mittleren Selbstandigen konnten die Regierungsparteien, besonders die F.D.P., ihre Position verbessern, wahrend von den Oppositionsparteien nur die SPD deutliche Einbußen erlitt. Bemerkenswert ist, daß die F.D.P. aufgrundihrer Zugewinne in dieser Gruppe zweitstarkste Partei wurde (vgl. Tabellen 11 und 12). Die traditionell vorgegebenen Beziehungen zwischen den sozialen Gruppen und den beiden Volksparteien sind um so intensiver und dauerhafter, je besser sie organisatorisch abgestützt sind. 21 Im Falle der Orientierung zugunsten der SPD trifft dies für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu. Hier bilden die gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter die eigentliche Stammwahlerschaft der SPD. 22 Daß Wahler, die selbst Mitglieder in einer Gewerkschaft sind (oder in einem Haushalt leben, in dem ein Haushaltsmitglied in einer Gewerkschaft ist), eine Fradisposition für die SPD haben, ist offensichtlich. Unter den Gewerkschaftsmitgliedern ist der Anteil der SPD über die Jahre hinweg konstant geblieben, obwohl die Grünen stark zugenommen haben. Auch der Anteil der CDU/CSU ist hier auf niedrigerem Niveau einigermaßen stabil. Unter den organisierten Arbeitern hat sich der Anteil der Regierungsparteien im Vergleich zu 1983 verringert und der der Oppositionsparteien erhöht; die Veranderungen im Oppositionslager verlaufen dabei ausschließlich zugunsten der Grünen. Im langfristigen Vergleich liegen aber weder die Ergebnisse der SPD noch die der CDU/CSU in ungewöhnlichen Bereichen.

21

Vgl. Manfred Berger et al., Stabilität und Wechsel: Eine Analyse der Bundestagswahl1980, in: Kaase/Klingemann (Hrsg.), Wahlen und politisches System. Analysen aus Anlaß der Bundestagswah/1980, Opladen 1983, S. 29. 22 Vgl. Forschungsgruppe Wahlen, Das Eis schmilzt zuerst an den Rändern ... , in: ZParl, 15. Jg. 1984, s. 307.

271

501

161

100

99

168

51 7

5

36

n=

2

55

41 4 48 7

35 12 52

CDU/CSU F.D.P SPD Grüne

29 14

1976 1980 1983 1987

Wahlentscheidung

Angestellte und Beamte Mitglieder

278 700

-

9

5

36

55

392

n=

56

55 8

32 3

1204

31 9

48 11

282

-

34

10

55

312

37 3

13

47

264

61 4 26 9

Nichtmitglieder

639

56 5 31 7

550

50 12 26 10

1976 1980 1983 1987

675

48 13 38 1

1976 1980 1983 1987

Nichtmitglieder

36 3 56

29 10 58 3

35

CDU/CSU F.D.P SPD Grüne

9

1976 1980 1983 1987

Alle Befragte Mitglieder

204

-

35 6 58 153

29 8 62 1 163

3 64 0

34

300

9

60

29 1

1976 1980 1983 1987

Arbeiter Mitglieder

Wahlentscheidung und Gewerkschaftsmitgliedschaft nach Berufsgruppen (in %)

Wahlentscheidung

Tabelle 12:

241

-

5 47

48

181

53 0

11

36

205

5

51 2 42

Nichtmitglieder

358

5 47 6

40

1976 1980 1983 1987

-.J

~ g

0

~'6

~

t::

610! g.

00

0

Sieg ohne Glanz

709

Auch unter den nicht gewerkschaftlich gebundenen Arbeitern haben die Regierungsparteien verloren und die Oppositionsparteien gewonnen. Wie sehr Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft in einer Gewerkschaft die Wahlentscheidung beeinflußt, wird hier besonders gut deutlich. Während die CDU/CSU 1983 bei den nichtorganisierten Arbeitern Mehrheitspartei werden konnte, liegt die SPD nun wieder vor der Union. Soweit also keine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft vorliegt, gibt es keine eindeutige Vorpragung für eine der beiden Volksparteien, was dort relativ starke Ergebnisveränderungen von Wahl zu Wahl erleichtert. Dennoch liegen auch hier die Ergebnisse sowohl von CDU/CSU wie auch der SPD in dieser Gruppe 1987 im Bereich bisheriger Wahlergebnisse. Auch bei den Angestellten und Beamten sind die Effekte des für die SPD positiven Einflusses von Gewerkschaftsmitgliedschaft deutlich zu erkennen. Im Vergleich zu 1983 hat die SPD dazugewonnen, während die CDU/CSU verloren hat. Auch hier bleiben alle Parteien im Rahmen bisheriger Ergebnisse, wobei die F.D.P., wie bei den Wahlentscheidungen anderer Gruppen ebenfalls zu erkennen ist, seit der Wende niedriger liegt als zuvor. In der Gruppe der nicht in einer Gewerkschaft oder dem Beamtenbund organisierten Angestellten und Beamten dominiert die Orientierung zugunsten der CDU/CSU. Gemeinsam haben die Regierungsparteientrotz starker Gewinne der F.D.P. hier etwas weniger erreicht als 1983, wahrend SPD und Grüne ihre Anteile halten konnten. Insgesamt liegen alle Parteien sowohl bei den Berufsgruppen wie auch bei der Untergliederung der Berufsgruppen nach Mitgliedschaft bzw. Nichtmitgliedschaft in einer Gewerkschaft im Rahmen bisheriger Ergebnisse. Um das Gewicht der Arbeiter an den Ergebnissen der SPD festzustellen, wurden die Anteile der Arbeiter bzw. der Arbeiter, die auch Gewerkschaftsmitglieder sind, an den SPD-Wählern berechnet. Aufgrund der Verluste der SPD in den Dienstleistungsbereichen bei der Wahl 1983 haben die Arbeiter 1987, wie schon vor vier Jahren, einen größeren Beitrag zum SPD-Wahlergebnis geleistet als bei den Bundestagswahlen von 1976 und 1980. Vergleichbares gilt auch für die Arbeiter, die gewerkschaftlich organisiert sind. Die zwischen 1983 und 1987 zu erkennenden Unterschiede sind allerdings zu geringfügig, um systematisch interpretiert zu werden.

710 Tabelle 13:

Forschungsgruppe Wahlen

Bedeutung der Arbeiterschaft für die SPD (in %)

Anteile der...

1976

1980

1983

1987

gelernten Arbeiter an den SPD-Wählern

34.8

34.8

42.7

41.0

Arbeiter, die auch GeWerkschaftsmitglieder sind, an den SPD-Wählern

24.7

22.6

29.1

27.5

10. Die Wahlentscheidung in den Religionsgruppen

Die traditionelle Orientierung zugunsten der CDU oder der CSU bei der katholischen Wohnbevölkerung zeigt sich in den vorliegenden Umfrageergebnissen deutlich. 1987 schneidet die CDU/CSU in der Gruppe der Katholiken in etwa so ab wie bei ihrem vergleichbaren Wahlergebnis von 1980. Die SPD kann dagegen im Vergleich zu 1983 zulegen, gegenüber 1980 verliert sie jedoch. Somit ergibt sich insgesamt bei den Katholiken eine Verbesserung des Oppositionslagers gegenüber dem Regierungslager im Vergleich zu 1983. Gegenüber 1980 ergeben sich jedoch keine Veränderungen. Tabelle 14:

Wahlentscheidung und Konfession (in %)

Wahlentscheidung CDU/CSU F.D.P. SPD Grüne n=

Katholiken

1976 1980 1983 1987 63 5 31

56 7 35 2

65 5 6

55 7 30 6

539

445

409

818

25

Nichtkatholiken

1976 1980 1983 1987 34 11

54 575

32 16 50 2

40 5 49 7

32 10 45 12

523

523

914

Bei den nichtkatholischen Wählern ist eine Prädisposition für die SPD klar erkennbar, die allerdings nicht so deutlich ausfallt wie die Neigung der Katholiken zur CDU/CSU. Bei den Nichtkatholiken haben beide große Parteien im Vergleich zu 1983 deutlich verloren, während die beiden kleinen Parteien krtiftig dazugewonnen haben. Per Saldo konnten die Oppositionsparteien ihre Position behaupten, während die Regierungsparteien geringfügig verloren. Im Vergleich zu früheren Ergebnissen hat die SPD seit dem Auftreten der GRÜNEN unter der nichtkatholischen Bevölkerung ständig Stimmen verloren, wahrend die CDU/CSU hier so abschneidet wie bei ihrem vergleichbaren Ergebnis von 1980.

-

149

306

152

171

239

Nicht-Katholiken stark 1976 1980 1983 1987

n=

Wahlentscheidung 45 10 45

168

51 12 27 9 67

54 10 36 0 52

43 18 36 4 40

60 11 30

41

CDU/CSU F.D.P SPD Grüne

n=

40 7 40 10 257

50 4 33 13 143

5 56 3

141

36

31 9 47 12 502

35 4 54 7 292

27 15 56 2 305

30 10 60

297

35 13 47 5 241

48 3 45 4 134

40 19 41 0 129

keine 1976 1980 1983 1987

142

255

110

128

36 0

36 3 60

53 7 35 4

65 8 26 1

keine 1976 1980 1983 1987

54 10

mäßig 1976 1980 1983 1987

58 9 32

70 6 19 4

78 3 16 3

74 7 19 0

82 2 16

mäßig 1976 1980 1983 1987

CDU/CSU F.D.P SPD Grüne

Katholiken stark 1976 1980 1983 1987

Wahlentscheidung und Kirchenbindung (in %)

Wahlentscheidung

Tabelle 15:

~ ~

-...1

Q i;l"'

0

::.

g.

~

~

712

Forschungsgruppe Wahlen

Unter den Katholiken, die häufig in die Kirche gehen - wir interpretieren die Haufigkeit des Kirchgangs als Intensität der Kirchenbindung -, sind die Prädispositionen filr die CDU/CSU noch sehr viel eindeutiger als unter den Katholiken insgesamt. Im Vergleich zu 1983 verlieren hier die Unionsparteien Stimmen, die auch durch die Gewinne der F.D.P. nicht ganz ausgeglichen werden, SPD und Grilne können dagegen zulegen. Der Anteil der CDU/CSU liegt bei dieser Wahl niedriger als zuvor, auch etwas niedriger als bei dem vergleichbaren Wahlergebnis von 1980. Besonders gravierend ist der Rilckgang der Unionsparteien bei den Wahlern mit katholischer Religionszugehörigkeit und nur maßiger bzw. keiner Kirchenbindung. Hier kann die SPD jeweils kraftig zulegen. Insgesamt haben die Regierungsparteien bei mäßiger bis keiner Kirchenbindung deutlich verloren, wahrend sich die Oppositionsparteien verbessern konnten (vgl. Tabelle 15). Da es für die Protestanten keine wöchentliche Kirchgangsnorm gibt, beschreiben die Kategorien der Kirchenbindung in dieser Religionsgruppe inhaltlich andere Zusammenhänge als bei den Katholiken; dementsprechend sind auch hier die Gruppen mit starker und mäßiger Kirchenbindung sehr viel kleiner. Unabhängig davon schneiden die Regierungsparteien bei den Protestanten mit starker Kirchenbindung insgesamt sehr viel besser ab als bei mäßiger bzw. keiner Kirchenbindung. Im Vergleich zu 1983 können CDU/CSU und F.D.P. ihre Anteile gemeinsam auch in etwa behaupten. Im Oppositionslager sind bei starker Kirchenbindung vor allem die Grilnen zu Lasten der SPD erfolgreich. Unter den protestantischen Wählern ohne Kirchenbindung bleiben die Lagerstärken in etwa erhalten. Hier legen jeweils die kleinen Parteien kraftig zu, wahrend die beiden großen Parteien deutlicher Stimmen verlieren. Berechnet man den Beitrag der Katholiken zur Unionswählerschaft, so ergibt sich folgendes Bild: 1987 war ihr Anteil an der Unionswahlerschaft mit 60.2 Prozent so hoch wie bei dem vergleichbaren Wahlergebnis von 1980. Die beiden ebenfalls vergleichbaren Wahlergebnisse von 1976 und 1983 zeigen dagegen eine Abnahme des Gewichts der Katholiken an der Unionswählerschaft Aufgrund der hier vorliegenden Berechnungen ilberlagern sich mutmaßlich zwei Trends: Zum einen geht der Anteil der Katholiken an der Unionswählerschaft langsam zurilck; zum anderen war 1987 der Rilckgang der CDU/CSU insgesamt aber sUirker als unter den Katholiken, so daß sich das Gewicht der katholischen Unionswähler bei dieser Wahl im Vergleich zu 1983 relativ vergrößerte. Entsprechendes gilt für die Gruppe der Katholiken mit starker Kirchenbindung. Tabelle 16:

Bedeutung der Katholiken filr die Unionsparteien (in %)

Anteile der...

1976

1980

1983

1987

Katholiken an den Unions-Wählern Katholiken mit starker Kirchenbindung an den Unions-Wählern

63.5

60.3

56.3

60.2

36.6

30.6

25.1

28.7

Sieg ohne Glanz

713

11. Wenn sich die sozialen Kreise überschneiden ...

Die Wahlentscheidungen in Gruppen mit sich überschneidenden sozialstrukturell vermittelten parteilichen Zuordnungen können besonders deutlich zeigen, in welchen Bereichen die Determinationskraft der Sozialstruktur weiter besteht bzw. wo sie nachläßt. Genau genommen kann nur im Hinblick auf die gleichzeitige Kontrolle von Arbeiterschaft bzw. Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und katholischer Religionszugehörigkeit davon gesprochen werden, daß sich die parteilichen Zuordnungen kreuzen. Doch gerade die immer wieder angesprochene hohe Volatilität im neuen Mittelstand, also in den Berufsgruppen der Angestellten und Beamten, sowie die Entwicklungen in den früheren sozialstrukturellen Schwerpunkten der F.D.P. im protestantischen alten Mittelstand - also bei den Selbständigen -, sind in diesem Kontext von Interesse. Zunächst wird deutlich, daß die Koalitionsparteien bei den katholischen Arbeitern starke Verluste und die Oppositionsparteien Gewinne in entsprechender Höhe verbuchten. 1987 hat die Union bei den katholischen Arbeitern sehr viel schlechter abgeschnitten als bisher in dem hier betrachteten Zeitraum; die Verluste der CDU/CSU konnten zudem nicht durch Gewinne der F.D.P. ausgeglichen oder gemildert werden. Auch unter den nichtkatholischen Arbeitern verlor die CDU/CSU, was allerdings durch die Gewinne der F.D.P. etwas kompensiert werden konnte. Während sich das Abschneiden der SPD bei den nichtkatholischen Arbeitern, vor allem unter Berücksichtigung der Erfolge der Grünen, in normalen Bereichen bewegte, lagen bei den katholischen Arbeitern die Gewinne der Oppositionsparteien und die Verluste der Regierungsparteien außerhalb bisheriger Ergebnisse (vgl. Tabelle 17). Die Determinationskraft von Religionszugehörigkeit zeigt sich auch in den Berufsgruppen der Beamten und Angestellen. Zwar geht die CDU/CSU bei den katholischen Beamten und Angestellten deutlicher zurück- was auch durch die Gewinne der F.D.P. nicht kompensiert werden kann-, dominiert hier jedoch nach wie vor. Bei den nichtkatholischen Angestellten und Beamten fällt der Rückgang der CDU/CSU zwar noch stärker ::>us, doch wird er durch das starke Anwachsen der F.D.P. weitgehend ausgeglichen. Hier gewinnen auch die Grünen überdurchschnittlich viel hinzu. Für die Veränderungen der Parteien in der Arbeiterschaft sowie bei den Beamten und Angestellten, jeweils nach Religionszugehörigkeit unterschieden, zeigt sich folgendes Muster sehr deutlich: Die Verluste der CDU/CSU unter den Katholiken - unabhängig davon, ob es sich um Arbeiter oder Beamte und Angestellte handelt - können durch Gewinne der F.D.P. kaum kompensiert werden. In beiden Fällen legt die SPD zu, während die Grünen nicht so stark werden wie in den nichtkatholischen Bevölkerungsgruppen. Dort kann der ebenfalls deutliche Rückgang der CDU/CSU von der F.D.P. jeweils weitgehend kompensiert werden, während die SPD tendenziell zurückgeht. Beide kleine Parteien gedeihen in den nichtkatholischen Bevölkerungsgruppen also bedeutend besser als in den katholischen. Bei den Nichtkatholiken liegen die Anteile der SPD nun niedriger als bei bisherigen Wahlen im betrachteten Zeitraum.

244

n=

164

58 4 36 2

320

47 3 44 6

74 3 23

52

n=

52

68 4 24 0

41

76 11 11 2

79

16 6 6

71

Selbständige Katholiken 1976 1980 1983 1987

155

52 7 40 0

CDU/CSU F.D.P SPD Grüne

Wahlentscheidung

57 3 39

CDU/CSU F.D.P SPD Grüne

Wahlentscheidung

Arbeiter Katholiken 1976 1980 1983 1987

207

24 8 67

211

33 1 63 3 346

9

60

25 5

70

7 39

54

63

48 20 30 3 58

45 22 31 2 95

45 27 22 6

Nichtkatholiken 1976 1980 1983 1987

186

17 12 70 0

Nichtkatholiken 1976 1980 1983 1987

200

.

8 27

65

181

51 9 39 2 160

67 5 21 9 351

58 8 25 6

Beamte und Angestellte Katholiken 1976 1980 1983 1987

Tabelle 17: Wahlentscheidung und Konfession nach Berufsgruppen (in %)

254

34 14 51

241

18 43 2

36

Nichtkatholiken 1976 1980

206

47 3 41 8

1983

381

35 12 39 13

1987

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......

Sieg ohne Glanz

715

Die Unterschiede der Wahlentscheidungen katholischer und nichtkatholischer Selbstandiger sind überaus deutlich. Bei den katholischen Selbstandigen dominiert eindeutig die CDU/CSU, wahrend sie bei den nichtkatholischen Selbstandigen nur auf eine relative Mehrheitsposition kommt. In beiden Fallen ist die F.D.P. zweitstarkste Partei. Bei den katholischen Selbstandigen ist es den Regierungsparteien gelungen, ihre starke Position zu behaupten, wobei die Verluste der CDU/CSU durch die Gewinne der F.D.P. ausgeglichen werden; unter den nichtkatholischen Selbstllndigen konnten F.D.P. und Grüne ihre Positionen zu Lasten der SPD verbessern. Daß die Regierungsparteien vor allem in der katholischen Arbeiterschaft Einbrüche zu verzeichnen haben, zeigt sich auch bei der gleichzeitigen Betrachtung von Religionszugehörigkeit und Gewerkschaftsmitgliedschaft. Zwar liegt die CDU/CSU unter den katholischen Gewerkschaftsmitgliedern auf sehr viel höherem Niveau als bei den nichtkatholischen Gewerkschaftsmitgliedern, doch sind ihre Verluste und die der F.D.P. im Vergleich zu 1983 überaus deutlich. Auch bei dieser Betrachtung kommt die CDU/CSU auf ihr schwachstes Ergebnis im hier betrachteten Zeitraum, wahrend die Oppositionsparteien ihre Position im Vergleich zu 1983 bedeutend verbessern können. Bei den nichtkatholischen Gewerkschaftsmitgliedern ist der Rückgang der Regierungsparteien insgesamt auf niedrigem Niveau gering. Auch hier bestatigen die bisherigen Beobachtungen, daß sich die Position der SPD bei den nichtkatholischen Bevölkerungsgruppen zugunsten der Grünen deutlich abschwllcht. Ganz ahnlieh sind die Verlinderungen unter den Arbeitern, die nicht Mitglied in einer Gewerkschaft sind. Unter den katholischen Nichtmitgliedern ist der Rückgang der CDU/CSU wieder überaus stark, ohne durch die leichten Zugewinne der F.D.P. wesentlich gemildert zu werden; die Verluste der Regierungsparteien verlaufen ausschließlich zugunsten der SPD. Bei den nichtkatholischen Arbeitern, die gewerkschaftlich nicht organisiert sind, sind die Verluste der Regierungsparteien auf vergleichsweise niedrigem Niveau etwas geringer. Entsprechend geringer sind die Zugewinne der Oppositionsparteien, wobei die Grünen hier, anders als unter den katholischen, nicht organisierten Arbeitern, ihre Position etwas verbessern können (vgl. Tabelle 18). Die sozialstrukturell verankerten parteipolitischen Orientierungen sozialer Gruppen haben natürlich nicht zur Folge, daß die beiden Volksparteien die Stimmen in diesen Gruppen gewissermaßen automatisch erhalten, sondern daß die Wllhler, wie es Pappi ausdrückt, mit ihrem Verhalten einen Sinn verbinden und nicht einfach aus Gewohnheit so handeln. 23 Das Konzept der politisierten Sozialstruktur24 sieht demnach die Ursachen der Stabilitat des Parteiensystems in den materiellen und ideellen Interessen dieser Gruppen, denen die Parteien bei jeder Wahl neu entsprechen müssen.

23 Vgl. Pranz Urban Pappi, Konstanz und Wandel der Hauptspannungslinien in der Bundesrepublik, in: Matthes, Sozialer Wandel (Anm. 19), S. 471. 24 Vgl. ebd., S. 467. Vgl. dazu auch die Ausführungen Pappis: Sozialstruktur, gesellschaftliche Wertorientierungen und Wahlabsicht, in: Max Kaase (Hrsg.), Wahlsoziologie heute. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl1976, PVS, 18/1977, S. 195-229.

1S2

6S

n•

77

7

98

S2

47

41 1

0

48

s

1

7

49

43

S3

POP 6 SPD 41 GRÜNE·

csu

CDU/

1987

1!J6

74

18 6

87

1

77

9

13

1980

1976

1983

1976

1980

Nicbtbtbolit en

Mitglieder

86

0 79 0

21

1983

148

12

68

2

17

1987

141

37

.

61 1

1976

82

0

7 41

S2

1980

Katholiken

8S

4

27

3

66

1983

16S

4

37

s

S3

1987

Nichtmitglieder

Wahlentscheidung der Arbeiter nach Konfession und Gewerkschaftsmitgliedschaft (in %)

Katboliten

Tabelle 18:

100

.

9 60

31

1976

96

0

1S 63

22

1980

Nichtkatholik en

120

1 S3 6

40

1983

193

S6 8

6

30

1987

-..1

......

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