Waffen gegen das Volk: Der 17. Juni 1953 in der DDR [Reprint 2014 ed.]
 9783486834123, 9783486567359

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
I. Det Weg in die Krise
Europa im Kalten Krieg
Das Schlüsseljahr 1952 in der DDR
Der Aufbau der Kasernierten Volkspolizei und die Militarisierung der DDR
Vom Kurswechsel zur Regimekrise
Verfehltes Krisenmanagement
II. Det Aufstand
16. Juni 1953 – die Initialzündung
Die Demonstration der Berliner Bauarbeiter
17. Juni 1953 – die Eruption in Berlin
Panzer in Ostberlin
Das ganze Land im Aufstandsfieber?
Die Unterdrückung der Proteste im Land Brandenburg
Relative Ruhe in Thüringen? Die Unruhe der Wismut-Kumpel
Die Massenerhebung im mitteldeutschen Industriegebiet
Aufstände zur Machtübernahme - die Ereignisse in Bitterfeld und Görlitz
Unruhen nach dem 17. Juni und auf dem Lande - ein Streiflicht
III. Der 17. Juni 1953 - Erfahrungsgeschichte und Rezeption
Arbeiterprotest, Volksaufstand oder Revolution?
Eine Protestbewegung aller Bevölkerungsschichten
Die Deutung des 17. Juni in der Historiographie
Die Macht und Ohnmacht des Militärs
Die sowjetische Strategie der massiven Einschüchterung
Machdose Volkspolizei und versagende Staatssicherheit
Hat die KVP als Machtorgan der SED versagt?
Zwischen Pflichtbewußtsein und Zweifel
Mit »Zuckerbrot und Peitsche« - SED-Politik nach dem 17. Juni
Mobilmachung einer »Arbeiterregierung« gegen ihr Volk
Resümee
Bildteil
Abkürzungen
Literaturverzeichnis
Ortsregister
Angaben zum Autor

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Torsten Diedrich · Waffen gegen das Volk

Torsten Diedrich

Waffen gegen das Volk Der 17. Juni 1953 in der DDR Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt

R. Oldenbourg Verlag München 2003

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz fur diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich

© 2003 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigen Papier (chlorfrei gebleicht). Vordere Umschlagseite: Mit Steinen greifen Ostberliner Arbeiter russische Panzer an (dpa/SV -Bilderdienst 335623) Hintere Umschlagseite: Beseitigung eines Grenzschildes an der Berliner Sektorengrenze (Landesarchiv Berlin 362850) Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Grafiken: Bernd Nogli, Zeichen- und Kartenstelle des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Potsdam Umschlaggestaltung: Maurice Woynoski, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56735-7

Inhalt Vorwort Einleitung I. Der Weg in die Krise Europa im Kalten Krieg Das Schlüsseljahr 1952 in der DDR Der Aufbau der Kasernierten Volkspolizei und die Militarisierung der DDR Vom Kurswechsel zur Regimekrise Verfehltes Krisenmanagement II. Der Aufstand 16. Juni 1953 - die Initialzündung Die Demonstration der Berliner Bauarbeiter 17. Juni 1953 - die Eruption in Berlin Panzer in Ostberlin Das ganze Land im Aufstandsfieber? Die Unterdrückung der Proteste im Land Brandenburg Relative Ruhe in Thüringen? Die Unruhe der Wismut-Kumpel Die Massenerhebung im mitteldeutschen Industriegebiet Aufstände zur Machtübernahme — die Ereignisse in Bitterfeld und Görlitz Unruhen nach dem 17. Juni und auf dem Lande — ein Streiflicht III. Der 17. Juni 1953 - Erfahmngsgeschichte und Rezeption Arbeiterprotest, Volksaufstand oder Revolution? Eine Protestbewegung aller Bevölkerungsschichten Die Deutung des 17. Juni in der Historiographie Die Macht und Ohnmacht des Militärs Die sowjetische Strategie der massiven Einschüchterung Machdose Volkspolizei und versagende Staatssicherheit Hat die KVP als Machtorgan der SED versagt? Zwischen Pflichtbewußtsein und Zweifel

VII IX 1 1 8 13 30 46 53 53 56 64 71 83 90 96 103 117 126 135 136 147 155 165 167 172 181 191

VI

Inhalt Mit »Zuckerbrot und Peitsche« — SED-Politik nach dem 17. Juni Mobilmachung einer »Arbeiterregierung« gegen ihr Volk Resümee

Bildteil Abkürzungen Literaturverzeichnis Ortsregister Angaben zum Autor

202 207 215 217 233 237 257 261

Vorwort »Ist es so, daß morgen der 17. Juni beginnt?« rief nicht ohne Grund der greise Minister für Staatsicherheit, Erich Mielke, angesichts des demonstrierenden Volkes der DDR im Herbst 1989 aus. Der Aufstand der Bevölkerung gegen die SED-Diktatur im Juni 1953 hatte sich über fast vierzig Jahre der Existenz des ostdeutschen Staates als ein Alptraum tief in die Seelen der Herrschenden gebrannt. Mit dem kurz darauf folgenden Untergang des »DDR-Sozialismus« vollendete sich, was am 17. Juni 1953 mißlang. 2003 jährt sich ein historisches Ereignis zum fünfzigsten Mal, welches wohl wie kaum ein anderes deutsche Nachkriegsgeschichte geschrieben und geprägt hat. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zählt zweifellos zu den bedeutendsten demokratischen Massenbewegungen in der deutschen Geschichte. Als Bestandteil der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung zwischen Ost und West in der Phase des Kalten Krieges steht er mit seinen nachhaltigen Auswirkungen auf die »doppelte Vergangenheit« der Deutschen zu Recht nach wie vor im Fokus des historiographischen Interesses. Ihre militär- und sicherheitspolitische Bedeutung erlangte die Volkserhebung nicht nur wegen der Niederschlagung der Protestbewegung durch sowjetische Besatzungstruppen und die »getarnte Armee« der DDR. Sie liegt insbesondere in der langfristigen Wirkung des Datums auf die gesamte ostdeutsche Gesellschaft. Das rigide innere Sicherheitssystem der DDR entstand nach dem 17. Juni 1953 als Produkt eben jenes Traumas, welches die herrschende Arbeiterregierung als offenkundige Delegitimierung durch das Volk erlebte. Letztlich führte der Volksaufstand zu einer übersteigerten Bedrohungsperzeption der SED- und Staatsfühiung, die sich in einem Netz von Sicherheitsorganen, von Überwachung und Kontrolle niederschlug, ohne dessen Kenntnis und Offenlegung der DDR-Staat und seine Gesellschaft heute gar nicht erklärbar sind. Seit 1990 erforscht das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) in einem Schwerpunkt die Militärgeschichte der ehemaligen DDR als Teil der gemeinsamen deutschen Geschichte. Das MGFA leistet damit einen spezifischen Beitrag zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Analyse des Militärund Sicherheitsapparates der DDR im Wechselwirken mit dem von der UdSSR dominierten Warschauer Pakt ermöglicht nicht nur Einblicke in die Herrschaftsmechanismen der »Diktatur des Proletariats«, sondern bildet gleichzeitig eine unverzichtbare Grundlage zum Verständnis der Gesellschaft der DDR, von Lebenswelten und Alltag, aber auch von Opposition,

VIII

Vorwort

Unterordnung und Gewöhnung. Dies alles sind wichtige Bausteine, die für das zusammenwachsende Deutschland den Blick auf vierzig Jahre DDRDiktatur öffnen und daher notwendiger Bestandteil der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sind. In dem vorliegenden Buch widmet sich der Autor insbesondere den militärhistorischen Aspekten des Volksaufstandes im Juni 1953. Er untersucht die Aufrüstung und Militarisierung der DDR-Gesellschaft ab 1952 als eine wesentliche Ursache für die wirtschaftliche, aber auch politische Krise des SED-Staates. Mit Hilfe neuer Dokumente werden der Einsatz sowjetischer Streitkräfte, der Kasernierten Volkspolizei und der Polizei der DDR gegen die Protestierenden beschrieben und analysiert. In der Summe zeigt die Darstellung, wie das SED-Regime nach dem 17. Juni 1953 gegen das eigene Volk mobil machte und damit die Grundlage dafür schuf, daß sich die DDR zu einer durchherrschten und militarisierten Gesellschaft entwickelte. Der Band versteht sich als Beitrag des MGFA, die Erinnerung an eine der größten deutschen Massenbewegungen für Demokratie und Freiheit im Bewußtsein der heutigen und folgender Generationen wachzuhalten. Mein besonderer Dank gilt dem Autor, Dr. Torsten Diedrich, der mit großem Einsatz die komplexe Materie aufgearbeitet und das Manuskript, erstellt hat. Ich danke ebenfalls all denen, die zum Gelingen des Buchprojekts beigetragen haben, insbesondere dem Lektor Dr. Hans-Joachim Beth, Frau Antje Lorenz für die Texterfassung, Herrn Bernd Nogli für die Karten, Herrn Maurice Woynoski für die Gestaltung des Bandes, Frau Marina Sandig bei der Unterstützung der Bildgestaltung und dem Leiter der Schrifdeitung, Dr. Arnim Lang, der gemeinsam mit Oberst Dr. Hans Ehlert, Leiter des Forschungsbereiches »Militärgeschichte der DDR«, die Publikation in jeder Hinsicht befördert und damit ihr zeitgerechtes Erscheinen sichergestellt hat.

Dr. Jörg Duppler Kapitän zur See und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes

Potsdam im Februar 2003

Einleitung Vor funfeig Jahren - am 17. Juni 1953 - prägten sowjetische Panzer vielerorts das Bild von Straßen und Plätzen in der DDR. Es waren keine Soldaten, die den sowjetischen Streitkräften gegenüberstanden, sondern überwiegend friedlich gegen die sozialen und politischen Verhältnisse protestierende Arbeiter, Handwerker, Hausfrauen und Jugendliche. Sie artikulierten ihre Unzufriedenheit mit einem Sozialismus, der ihnen Gleichheit und Wohlstand versprach, jedoch wachsende soziale Probleme, Bevormundung und Repressionen brachte. Die Streiks und Demonstrationen sowie die aufgestellten Forderungen drückten den Willen nach politischen Veränderungen in der DDR aus. Sowjetisches Militär, Einheiten der Kasernierten Volkspolizei (KVP) und Angehörige anderer Sicherheitsorgane unterdrückten den Protest von mehr als einer halben Million Menschen. Das SED-Regime, anfangs handlungsunfähig und fast entmachtet, aber mit Hilfe der Bajonette der Besatzungsmacht UdSSR wiederbelebt, erstickte den Unwillen des Volkes. Der Versuch der Opponierenden, demokratische Grundrechte in der DDR durchzusetzen bzw. die SED-Diktatur von sowjetischen Gnaden zu beseitigen, scheiterte, noch ehe sich aus der Massenbewegung ein zielgerichteter, organisierter politischer Aufstand entwickeln konnte. Der Volksaufstand gehört unzweifelhaft in die demokratischen Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung ebenso wie in die Reihe von antidiktatorischen und antitotalitären Erhebungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Soziale und politische Freiheit sowie die Erlangung der grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte waren zentrale Ziele der Protestbewegung. Dabei erfolgte 1953 eine spontane politische Polarisierung quer durch die gesamte Gesellschaft der DDR, beteiligten sich, wie in kaum einer deutschen Massenbewegung zuvor, fast alle Bevölkerungsschichten an den Protesten. Dementsprechend breit war das Spektrum der Forderungen der Protestierenden von rein sozialen bis hin zu radikal politisch verändernden Zielen. Die sich erhebende Arbeiterschaft nutzte im Juni 1953 historische Kampfformen der Arbeiterbewegung und setzte damit nach den Zweiten Weltkrieg ein erneutes Symbol deutscher Demokratiebestrebungen für Selbstbestimmung und Freiheit. Aus diesen Gründen darf der Volksaufstand in der DDR nicht auf nationale Aspekte oder gar auf die Wiedervereinigung als Ziel reduziert werden, sondern ist in seiner gesamten Breite als Demokratie- und

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Einleitung

Freiheitsbewegung in die wissenschaftliche Analyse einzubeziehen und in der öffentlichen Erinnerung zu halten. Der 17. Juni stellt gleichwohl einen Markstein in der internationalen Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur in einem Europa dar, das zu dieser Zeit stark vom Ost-West-Konflikt der divergierenden Gesellschaftssysteme geprägt war. Internationale Bedeutung erlangte der Volksaufstand in der DDR zudem als die erste Erhebung gegen das stalinistische Gesellschaftssystem und als der Beginn einer Reihe international zu beachtender Aufstände gegen diktatorische kommunistische Regime. Er war zugleich die »Legitimitätskrise des Stalinismus per excellence«, denn »ausgerechnet das Proletariat revoltierte gegen die Politik des sozialistischen Aufbaus, die die Partei angeblich in seinem Interesse verfolgte«1. Der Volksaufstand in der DDR 1953 wird sowohl in den folgenden Erhebungen in Polen und Ungarn 1956, beim Prager Frühling 1968 in der CSSR, 1980/81 in Polen und letztlich 1989 in der DDR reflektiert, er gehört außerdem in die unauslöschliche Erfahrungsgeschichte des sozialistischen Herrschaftssystems, sei es für die SED-Führung wie auch für die Regierenden in den Ostblockstaaten unter der Ägide Moskaus. Ebenso bedeutend ist seine Stellung in der nationalen deutschen Geschichte. Das vergangene Jahrhundert sah Millionen von Deutschen willig dem Kaiser 1914 in den Ersten, dem »Führer« 1939 in den Zweiten Weltkrieg folgen. Nach dem Ersten Weltkrieg erhob sich das kriegsmüde und hungernde deutsche Volk gegen den monarchistischen Staat. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Bevölkerung, selbst angesichts des erbarmungslosen Vernichtungskrieges des NS-Regimes und der immer offensichtlicher werdenden Niederlage, ja des drohenden Unterganges des deutschen Volkes, williger Statist einer selbstherrlichen deutschen Führung auf der Bühne der Weltgeschichte2. Es erwies sich in dieser Phase als nicht fähig, Demokratie und Menschenrechte gegen die Diktatur durchzusetzen. Der 17. Juni 1953 sah nun endlich die Ostdeutschen in dieser Rolle — in dem Versuch der plebeszitiven Auflehnung gegen den SED-Staat. Auch wenn die Volkserhebung in kurzer Zeit niedergeschlagen wurde, setzte die Bevölkerung der DDR doch ein international stark beachtetes Zeichen, daß sie sich nicht willenlos in diese zweite Diktatur ergeben werde. Damit prägte der Volksaufstand das Bild des geteilten Nachkriegsdeutschland entscheidend mit. Die DDR gelangte im Legitimitäts- und Alleinvertretungsanspruch für alle Deutschen gegenüber der Bundesrepublik endgültig ins Hintertreffen, ihre Ideen der »Magnetwirkung« auf die Bundesrepublik wurden eigentlich obsolet. Offensichtlich stellte die Erfahrung diktatorischen Handelns hinter dem Eisernen Vorhang auch den Katalysator 1 2

Vgl. Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, S. 119. Wilke, Aspekte des 17. Juni 1953 für die deutsche Nationalgeschichte, in: Symposium für ein Denkmal, S. 46.

Einleitung

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einer längst vollzogenen Spaltung dar, sowohl in den Köpfen der Bevölkerung als auch bei den politisch Führenden in Ost und West. In der Bundesrepublik wuchs die Überzeugung von der Richtigkeit der Politik einer stringenten Westintegration unter Hintanstellung der Wiedervereinigung. Im Osten führte die Entwicklung gleichsam über die Theorie, daß die »deutsche Frage« durch die Existenz zweier deutscher Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen gelöst sei, hin zur Kreierung der »eigenständigen sozialistischen Nation« in der DDR. Wie sehr der Volksaufstand die SED-Herrschaft auch in ihren eigenen Augen in Frage stellte, wurde nach der Öffnung der Archive der ehemaligen DDR deutlich. Mühsam konstruierte die SED das Bild des »konterrevolutionären Putschversuches«, um die Legitimität des »Sozialismus-Modells« in der DDR überhaupt noch begründen zu können. Beweise indes konnte auch ein eifrig bemühter Staatsicherheitsdienst nicht erbringen. Es war etwas passiert, was der marxistisch-leninistischen Theorie Hohn sprach — die von »Ausbeutung und Unterdrückung befreiten« Arbeiter wandten sich gegen den als bessere Gesellschaft deklarierten Sozialismus, weil die ergreifende Theorie mit der erlebten Praxis in keiner Weise in Einklang zu bringen war. Der SED-Staat von Moskaus Gnaden, von innen nicht durch freie Wahlen legitimiert, von der westlichen Welt nicht anerkannt, sah sich zur Erhaltung seiner Existenz gezwungen, sein Volk bewaffnet niederzuwerfen. Erstmalig offenbarte damit der Sozialismus stalinistischer Prägung auf deutschem Boden das Gesicht einer machtorientierten, wandlungsunfähigen Diktatur. Als bedeutendes Symbol der antitotalitären Demokratie- und Bürgerrechtsbewegung gewinnt der Volksaufstand ein politisch-kulturelles Identifikationspotential, das für die innere Einheit des nunmehr gemeinsamen Deutschland mit seiner geteilten Geschichte und Erinnerung so wichtig ist. Es sind der demokratiefordernde Charakter der Volkserhebung, der Kampf gegen totale Durchherrschung der Gesellschaft und staatliche Unterdrükkung sowie für die Durchsetzung der Grundrechte der Menschen und die individuelle Freiheit, die den 17. Juni 1953 heute und zukünftig als ein Thema der gesellschaftlichen Demokratiebestrebung, der öffentlichen Erinnerung wertvoll machen. Letztlich repräsentiert der Juni-Aufstand mit seinen weitreichenden Folgen ein wesentliches, erfahrungsgeschichtlich konstitutives Element der nachfolgenden DDR-Gesellschaft - als Oppositionserfahrung der Bevölkerung mit traumatisch-verdrängenden Auswirkungen, als Herrschaftserfahrung mit ebenso traumatischen, aber gleichwohl struktur- und selbstverständnisbestimmenden Folgen im Macht- und Herrschaftsapparat des SEDStaates. Insofern ist es durchaus richtig, daß sich die Erforschung des Volksaufstandes keinesfalls auf den begrenzten Zeitraum der Aktion beschränken darf, sondern seine langfristige gesamtgesellschaftliche Relevanz in den Blick nehmen muß. Hier besteht durchaus für die Zukunft noch gewichtiger Forschungsbedarf.

XII

Einleitung

Die Struktur und das Selbstverständnis der sozialistischen Diktatur allgemein und insbesondere der DDR erscheinen ohne den Volksaufstand 1953 und dessen innere und äußere Folgen im Ostblock weder erklärbar noch verständlich. Das Sicherheitssystem, die Mechanismen der Überwachung und der Kontrolle, aber auch der gesellschaftlichen Einvernahme ebenso wie der Repression und Verfolgung Andersdenkender sind stark von Erfahrungen aus dem Kalten Krieg und der Volkserhebung gegen den SEDStaat geprägt. Wie auch immer sich die DDR-Gesellschaft in den vierzig Jahren ihrer Existenz veränderte, Stabilität oder Instabilität des Systems zu beurteilen waren, die SED hat bis 1989 nie auf gewaltsame Formen der Herrschaftssicherung verzichtet und dafür einen alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erfassenden Sicherheitsapparat installiert. Die Juni-Ereignisse 1953 gingen in die deutsche Geschichte ein als »Volksaufstand« und gefeierter Nationalgedenktag auf der einen, als »konterrevolutionärer Putschversuch« auf der anderen Seite. Ebenso kontrovers, wie sich die beiden deutschen Staaten insgesamt gegenüberstanden, war auch ihre Bewertung der Juni-Unruhen 1953. In hohem Maße prägten politische Erwägungen die Sicht auf die Ereignisse und gaben in der DDR den Rahmen zur Aufarbeitung und Bewertung für die Geschichtswissenschaft vor. Auch hier haben sich sowohl in Ost als auch in West Langzeitwirkungen eingestellt, von verfestigten Bildern und Deutungsmustern bis hin zu Verdrängung und Desinteresse. Auch fünfzig Jahre nach dem Volksaufstand besteht nicht nur die Notwendigkeit, ein Vergessen zu verhindern, sondern es muß noch immer gegen ideologisierte Denkmuster angekämpft, aufgeklärt und erläutert werden. Die friedliche Revolution 1989/90 stellte und stellt die Historiker vor die Aufgabe, historische Prozesse in der deutschen Nachkriegsgeschichte neu und tiefgründig zu durchdenken und aufzuarbeiten. Seit 1990 erschien eine Vielzahl wissenschaftlicher Untersuchungen zum 17. Juni 1953, die sowohl eine Gesamtschau der Ereignisse bieten als sich auch fachspezifischen bzw. regionalgeschichtlichen Aspekten des Volksaufstandes widmen. Sie haben das Wissen um die Volkserhebung stark bereichert und dokumentieren die Vielfalt der Protestbewegung, bieten unterschiedliche Perspektiven, zeigen aber auch, daß der Quellenpool immer noch nicht ausgeschöpft ist. Die militärgeschichtlichen Aspekte des Volksaufstandes wurden von mir schon einmal aufgegriffen. Mit dem 1991 im Karl Dietz Verlag erschienenen Buch3 wollte ich einen ersten Beitrag zur Untersuchung der Geschichte des gescheiterten totalitären Systems in der DDR leisten. Die Arbeit spiegelt den damaligen Erkenntnisstand wider. In Mittelpunkt der Darstellung stand der Einsatz der Sicherheitsorgane der DDR, der Sowjetarmee, vor allem jedoch der Kasernierten Volkspolizei gegen das Volk. Nicht selten jedoch wurde die Studie als eine umfassende Monographie zur Geschichte des 17. Juni Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Bewaffnete Gewalt gegen das Volk.

Einleitung

XIII

1953 verstanden. Man kritisierte beispielsweise, daß die Rolle der Proteste auf dem Lande oder anderer gesellschaftlicher Schichten nicht tiefgründig genug ausgelotet worden sei. Das war tatsächlich nicht möglich. Ich bin froh, nicht all dies versucht 2u haben, denn ich hätte nie diese Fülle von Ansätzen, tiefgründig analysierten Teilaspekten, aber auch divergierenden Interpretationen bieten können. Selbst zu dem damals im Zentrum stehenden Thema der bewaffneten Gewalt gegen das Volk hat es inzwischen auch aus Moskauer Archiven neue Dokumente und Erkenntnisse gegeben. Die Überlieferungen sind so reichhaltig, daß selbst nach Jahren intensiver Forschungen noch Desiderate bleiben. Mit der hier vorliegenden Publikation ist trotz der Abstützung auf frühere Forschungsergebnisse ein völlig neues Buch entstanden, welches zum Einsatzverhalten der sowjetischen Streitkräfte, der KVP und der Polizei neue und erweiterte Erkenntnisse vorlegt. Gleichzeitig wird in der Studie der Versuch unternommen, eine für alle Interessierten gut lesbare Zusammenfassung von Ursachen, Verlauf und Folgen des 17. Juni 1953 anzubieten und die Gesamtbreite des aktuellen Forschungsstandes zu erfassen. Viele der dabei genutzten vertiefenden Analysen anderer Autoren aus den vergangenen zehn Jahren konnten allerdings nur komprimiert wiedergegeben werden. Auf Weiterfuhrendes ist verwiesen, weil all die wertvollen Erkenntnisse für sich selbst stehen und den Rahmen zweier Buchdeckel sprengen würden. So wird es wahrscheinlich auch zukünftig nicht »die« Monographie über den 17. Juni 1953 geben. Den Leser erwartet eine Analyse der Ursachen der wirtschaftlichen und politischen Krise in der DDR, die zu den Unruhen geführt haben. Die Krise kam durch die brachiale Politik der 2. Parteikonferenz 1952 zum Sozialismus und durch eine haidose Aufrüstung und Militarisierung der DDR zum Ausbruch, war aber nicht monokausal in diesem einen Jahr, sondern in der SED-Politik seit spätestens 1948 angelegt. In der DDR entstand 1953 eine »revolutionäre Situation«, die sich in Streiks und Protesten bereits vor dem 17. Juni offenbarte. Das Fanal zum DDR-weiten Massenprotest gaben die Berliner Bauarbeiter am 16. Juni. Der vorerst hauptsächlich von sozialen Motiven getragene Protest entwickelte sich schnell zu einer politischen Erhebung gegen die SED-Herrschaft an sich. Dargestellt sind Entstehung und Verlauf der Protestbewegung für Berlin sowie alle Regionen der DDR, ohne daß es möglich war, die gesamte Vielfalt und Breite der Aktionen detailliert zu behandeln. Die Gewichtung nahm ich nach dem erreichten Entwicklungsgrad des Massenprotestes bis hin zu den zielgerichteten politischen Aufständen im Bitterfelder und Görlitzer Raum vor. Das wissenschaftliche Hauptinteresse liegt auf den militärhistorischen Aspekten der Unruhen. So erfährt der geneigte Leser zusammengefaßt Wissenswertes über die Aufrüstung in der DDR, die Entstehung der KVP und die erste Phase einer Militarisierung der DDR-Gesellschaft. Bewegend ist die Schilderang der Protestaktionen in vielen größeren Städten, bei denen es

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Einleitung

alsbald zu einer Konfrontation der Demonstranten mit einer der Situation nicht gewachsenen DDR-Staatsmacht kam. Erst in den Mittags- und Nachmittagstunden des 17. Juni 1953 griffen sowjetische Besatzungstruppen und Einheiten der getarnten DDR-Armee, der KVP, ein. Warum so spät? Warum hat man die Streiks und Demonstrationen nicht bereits im Keim erstickt? Aufschlüsse und Antworten geben dazu bislang nicht zugängliche Dokumente. Die Untersuchung geht jedoch zudem verstärkt der Frage nach, was die Polizisten und Soldaten beim Einsatz gegen die Bevölkerung empfanden. Viele glaubten an eine bessere Gesellschaft in der DDR, mancher jedoch hegte Zweifel und konnte einen Einsatz gegen das Volk nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Ein letztes analytisches Kapitel untersucht den Forschungstand zu den Teilnehmern, Forderungen und zum Charakter der Juni-Unruhen in der DDR. Dabei kommen Historiker mit unterschiedlichen Sichtweisen und Deutungen zu Wort. Damit soll dem Leser die Bandbreite der Diskussion offenbart und gleichzeitig die fruchtbare Kontroverse in Gang gehalten werden. Ein abschließendes Urteil wird wohl noch lange auf sich warten lassen und das scheint gut so, weil jeder Definition letztlich einengende oder interpretatorische Momente innewohnen. Das Spannende bei der Neuerarbeitung des Themas für mich war, meinen damaligen Erkenntnis stand an dem nun über zehn Jahre währenden Fortschritt der Einsichten über den Volksaufstand zu messen. Vieles hat sich bestätigt, manche meiner Einschätzungen von damals habe ich kritisch in Frage gestellt, anderes wird weiterhin in der Diskussion bleiben. Ein konstruktiver und sachlicher Disput ist meines Erachtens nach fruchtbar für die auch weiterhin notwendige Forschung zu jenem prägenden Ereignis deutscher Nachkriegsgeschichte. Denn letztere kann bei weitem nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Es gibt noch Lücken bei der regional- und lokalgeschichtlichen Aufarbeitung ebenso wie bei der Analyse des Verhaltens von gesellschaftlichen Gruppierungen. Positive Ansätze gibt es in der Oppositionsforschung und zur biographischen Aufarbeitung der Streikführer. Letztlich läßt der beschränkte Zugang zu russischen Archiven immer noch manche Frage zum Einsatz der sowjetischen Besatzungstruppen und zum Wirken der Militärtribunale offen. Keinesfalls darf der Volksaufstand auf die »fünf Tage im Juni« reduziert werden. Wichtig ist die Ergründung und Einordnung des 17. Juni in den Gesamtzusammenhang der DDR- und internationalen Entwicklungsphase von 1952 bis 19544 sowie der prägenden Folgen des Volksaufstandes über diesen Zeitraum hinaus. In diesem Band wird der Leser einiges zur Entwicklung des Sicherheitssystems der DDR-Staatsmacht gegen die eigene Bevölkerung im Gefolge des Volksaufstandes erfahren, die einer inneren Dies wird zu Recht insbesondere durch die Autoren des Buches Der Tag X gefordert.

Einleitung

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Mobilmachung gleicht. Ähnliche Prozesse sind in anderen gesellschaftlichen Bereichen und in der Staatspartei selbst zu beobachten. Wichtig scheint mir zu guter Letzt die Erkenntnis, daß dieses Datum gerade im Prozeß der geistigen Wiedervereinigung des vierzig Jahre getrennt sozialisierten deutschen Volkes im Geschichtsdenken einen wichtigen Platz durch seine wissenschaftliche Aufarbeitung und mahnende Erinnerung behalten muß. An dieser Stelle gilt der Dank allen, die die Entstehung des Manuskripts in unterschiedlichster Weise unterstützt und gefördert haben, seien es Kollegen und Freunde mit ihrer helfenden Kritik, Mitarbeiter des Militärarchivs Freiburg, des BStU und des Bundesarchivs Berlin. Für die wissenschaftliche Unterstützung möchte ich namentlich Oberst Dr. Hans Ehlert, Dr. Rüdiger Wenzke sowie Oberst Dr. Hans-Joachim Harder aus dem MGFA, Dr. Hans-Hermann Hertie, Dr. Burkhard Cieslar und Inge Schmöker aus dem Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung Potsdam sowie Dr. Rainer Karisch danken. Dank gilt auch dem akribischen Lektor, Dr. Hans-Joachim Beth, Frau Karin Hepp für die Übersetzungen sowie der gesamten Schriftleitung für die Manuskriptbearbeitung. Nicht zuletzt danke ich meiner lieben Frau Angelika, die nächtelange Arbeit erdulden und die nötigste Versorgung übernehmen mußte.

1. Der Weg in die Krise Gesellschaftliche Konflikte brechen nicht unvermittelt und urplötzlich auf. Sie finden ihre Wurzeln meist weit vor der Eruption angelegt und entwikkeln sich mehr oder minder sichtbar. Im historischen Prozeß kündigen sie sich längerfristig durch einzelne Probleme und Konfliktpunkte an, die im sozialen Zusammenhang eher verschwommen und unklar wahrzunehmen sind. Damit bilden sie auch den idealen Nährboden für politische Fehleinschätzungen, zumal sie von den fuhrenden politischen Kräften oft nicht als in der Politik angelegt erkannt werden. Das trifft auch auf die gesellschaftliche Krise 1953 in der DDR zu. Ihre Ursachen1 können nicht monokausal auf die falsche Politik der SED seit 1952 zurückgeführt werden, sondern sind in der gesamten Systementwicklung spätestens seit 1948 angelegt. Hinzu kommt, daß die Partei- und Staatsfiihrung in hohem Maße dem äußeren Druck Moskaus ausgesetzt war und nur sehr bedingt souverän politische Entscheidungen treffen konnte. Dennoch verdeutlichen die Beschlüsse der SED, welche die Krise verursachten, sowohl eine auf Herrschafts- und Machterhaltung fixierte ebenso wie eine notfalls auch gegen das Volk gerichtete Politik. Das wachsende soziale und politische Konfliktpotential in der DDR-Gesellschaft hatte im Frühsommer 1953 einen kritischen Punkt erreicht. Europa im Kalten Krieg Die unmittelbare Vorgeschichte der Volkserhebung im Juni 1953 in der DDR begann ein Jahr zuvor. 1952 fielen bedeutungsvolle und folgenschwere Entscheidungen in der Auseinandersetzung der Mächte in Europa und mithin der beiden deutschen Staaten. Sie sollten in ihren Folgen das politiEs soll nicht Aufgabe dieser unter besonderer Beachtung der militärhistorischen Aspekte der Juni-Unruhen stehenden Publikation sein, die wirtschaftlichen und politischen Ursachen der Juni-Krise umfassend zu analysieren. Zu den Ursachen des 17. Juni 1953 gibt es eine reiche Auswahl an Literatur, die sich zumeist mit Einzelfragen, so mit der Lebenslage der Bevölkerung, der DDR-Wirtschaft, der Entwicklung der Industrie bzw. der Landwirtschaft, mit der Lage der privatwirtschaftenden Mittelschichten bzw. mit der Justiz befaßt. Umfassenderes dazu bei Baring, Buchheim, Bust-Bartels, Diedrich, Fricke, Hagen, Roth, »Der Tag X« und Schulz. Eine umfassende Analyse der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Situation im Bezug auf die Juni-Unruhen 1953 fehlt allerdings derzeit noch.

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1. Der Weg in die Krise

sehe und gesellschaftliche Antlitz der DDR in einem Maße mitbestimmen, daß es heute rückschauend zulässig ist, das Jahr 1952 als ein Schlüsseljahr in der Entwicklungsgeschichte des SED-Staates zu bezeichnen. Dies gilt in seiner Kausalität der Ereignisse und Folgen auch für 1953, ohne daß alles, was die vierzigjährige DDR-Geschichte in Kontinuität und Wandel bestimmte, monokausal und ursächlich nur in den Jahren 1952/53 zu sehen ist. Als beherrschende Kraft im sozialistischen Lager veranlaßte die Sowjetunion die DDR und die anderen Ostblockstaaten 1952 zu einem Kurswechsel unter planwirtschaftlich-militärischen Aspekten. Unmittelbarer Anlaß für die politische Richtungsänderung, welche die Gefahr einer endgültigen Spaltung Deutschlands für viele Bürger offensichtlich werden ließ, war die Unterzeichnung der Verträge über die Beziehungen der Bundesrepublik zu den westeuropäischen Staaten und zur Bildung einer »Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« (EVG) im Mai 1952. Aus den Verträgen erwuchs in der Konsequenz die Aufstellung von westdeutschen Streitkräften und deren Einbeziehung in ein westliches Militärbündnis. Ausgehend vom kommunistischen Weltbild des gesetzmäßigen Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus und der anfangs als unvermeidbar empfundenen militärischen Auseinandersetzung beider Gesellschaftssysteme, sahen Stalin und die KPdSU-Führung in dem Zusammenschluß westlicher Staaten eine akute Bedrohung der UdSSR und ihres Einfluß- und Machtbereichs in Europa. Stalin hatte in Fortschreibung von Lenins Theorie eine permanente Verschärfung der politischen, ökonomischen und ideologischen Auseinandersetzung als gesetzmäßig konstatiert. Eckpunkte zur Bestätigung seiner Theorie sah er in der Berlin-Krise 1948, der doppelten Staatsgründung auf deutschem Boden 1949 und dem Ausbruch des KoreaKrieges 1950. Letztlich maß Moskau den EVG-Verträgen die Bedeutung der unmittelbaren Kriegsvorbereitung des Westens und der Bundesrepublik gegen die UdSSR und das sozialistische Lager zu. In dieser Bedrohungsperzeption wurden die historischen Erfahrungen der UdSSR von Bürgerkrieg und Intervention 1918 bis 1920 und des deutschen Überfalls 1941 angesichts des tiefverwurzelten Antikommunismus in den führenden westlichen Ländern linear auf die Nachkriegsentwicklung fortgeschrieben. 1952 zog man nun die Schlußfolgerung, daß das sozialistische Lager für den möglicherweise bevorstehenden Krieg ökonomisch und militärisch besser gerüstet sein müsse als der potentielle Gegner. Den von Moskau für die DDR erarbeiteten Kurs verkündete die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Er zielte darauf, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens »die Grundlagen für den Aufbau des Sozialismus« zu schaffen sowie eigene nationale Streitkräfte der DDR aufzustellen, mit deren Vorbereitung man seit 1948 längst begonnen hatte. Damit hatte Moskau grünes Licht für eine eigenständige DDR-Entwicklung gegeben, die

1. Der Weg in die Krise

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dem ostdeutschen Staat die Rolle eines »sozialistischen Bollwerks« gegenüber der Bundesrepublik und den westlichen Großmächten zudachte. Letztendlich aber war die seit 1952 offensichtlich werdende Krise des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR eine internationale Krise und zugleich die erste Krise des stalinistischen Gesellschaftssystems. Sie resultierte aus der sowjetisch oktroyierten Stalinisierung in den Ostblockländern. In der SBZ/DDR war zielbewußt ein politisches System errichtet worden, welches schrittweise alle basisdemokratischen Ansätze der antifaschistisch-demokratischen Reform zugunsten einer »Diktatur des Proletariats«, die letztlich nichts anderes als die Diktatur der SED von sowjetischen Gnaden war, beseitigte. 1952 wollte die SED mit ihrem Kurswechsel politisch und ökonomisch die letzten föderativen Hemmnisse auf dem Weg zu einem von ihr allein beherrschten sozialistischen ostdeutschen Staat beseitigen. 1952 kulminierte eine Entwicklung, die ihre Wurzeln in der unmittelbaren Nachkriegsentwicklung angelegt fand. Der Zweite Weltkrieg hatte vielen Völkern der Erde großes Leid und Elend gebracht. Der Krieg war 1945 an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt. Das Dritte Reich erfuhr eine vernichtende militärische Niederlage, es verlor seine politische und physische Existenz. Die vier Siegermächte übernahmen auf deutschem Boden die oberste Regierungsgewalt. Die Folgen des Krieges fielen auf das deutsche Volk zurück, welches eine erhebliche Mitschuld am deutschen Nationalsozialismus und an seinen Weltherrschaftsgelüsten trug. Deutschland sollte für die Zerstörungen aufkommen und in seiner politischen und wirtschaftlichen Struktur nie wieder in der Lage sein, Europa in einen Krieg zu ziehen. In den Potsdamer Beschlüssen vom August 1945 schrieben die Siegermächte eine umfassende Entmilitarisierung und Demokratisierung Deutschlands als Vorbedingung dafür fest, daß dem deutschen Volk nach Abschluß eines Friedensvertrages die gleichberechtigte Rückkehr in die Völkergemeinschaft, seine souveränen Rechte in einem einheitlichen demokratischen deutschen Staat gewährt werden würden. Doch die Divergenz und das Mißtrauen zwischen bürgerlich-demokratischen und kommunistischen Gesellschaftsvorstellungen, die dem gemeinsamen Ringen gegen den Nationalsozialismus untergeordnet worden waren, traten schon in den Diskussionen um die politische Geographie eines Nachkriegseuropas erneut hervor. Es ging im Hintergrund vor allem um Macht und Einflußsphären bzw. um die Absicherung gegen das jeweilig andere System. In allen noch zu Deutschland gehörenden Teilen brachen die Menschen aus den Trümmern auf, um die Folgen des Krieges, aber auch die Vergangenheit mit Faschismus und Militarismus zu überwinden. In den westlichen drei Besatzungszonen begannen unter der Ägide der USA, Großbritanniens und Frankreichs die neu- oder wiedererstandenen politischen Kräfte des deutschen Volkes ihre Vorstellungen von einer bürgerlichen Demokratie zu verwirklichen. Das künftige Deutschland sollte dem Modell der westlichen

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freiheitlichen Demokratie entsprechen und politisch sowie wirtschaftlich in das westliche Lager eingemeindet werden. In einer solchen Einbindung sahen die USA, Großbritannien und Frankreich die beste Garantie dafür, daß sich Deutschland friedlich und demokratisch entwickeln werde. Die Ausgangsbedingungen für den ostdeutschen Versuch, mit einer neuen Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Vorbild Krieg, Faschismus und Militarismus von deutschem Boden zu verbannen, waren bekanntlich äußerst problematisch. Die UdSSR förderte in ihrer Besatzungszone vor allem jene politischen Kräfte, die ihrem Weltbild am nächsten standen - Kommunisten und linke Sozialdemokraten. Entsprechend der Theorie Lenins gingen die Kommunisten in der Sowjetunion wie in Deutschland davon aus, daß Nationalsozialismus und Expansionismus in Deutschland nur überwunden werden können, wenn die »Wurzeln des Militarismus und des Krieges, das nach Expansion strebende Monopolkapital«, beseitigt würden. Das neue gesellschaftliche Gefüge des Sozialismus sollte nach dieser Sichtweise garantieren, daß von einem neuen deutschen Staat nur Frieden ausgeht. Unter dem Eindruck des Krieges und in der Hoffnung auf eine bessere Gesellschaftsordnung identifizierten sich viele Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone mit der radikalen Beseitigung der alten Gesellschaftsstrukturen im Osten Deutschlands. Schrittweise jedoch wurden seit 1946 insbesondere von der Gruppe um den dogmatischen Kommunisten Walter Ulbricht und unter der Vorherrschaft Moskaus die zaghaften demokratischen Ansätze durch Strukturen des absoluten Machtmonopols der SED ersetzt. Stalins Interpretation des Sozialismusmodells fand in der SBZ seit 1948 mehr und mehr seine Realisierung. Deutschland war im Herzen der künftigen europäischen Nachkriegsordnung aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke, seines Menschenpotentials und seiner strategischen Lage von immenser politischer, wirtschaftlicher und militärischer Bedeutung. Deshalb prägte die Konfrontation der Gesellschaftssysteme im Kalten Krieg sowohl deren politische als auch militärische Ausformung mit. Letztlich teilte diese Auseinandersetzung um Macht und Einflußsphären Europa in zwei Lager, deren Konfrontationslinie sich quer durch Deutschland zog. In den verhärteten Fronten entwickelte sich das geteilte Deutschland mehr und mehr im Denken und in der praktizierten Politik der Besatzungsländer zu einem Unterpfand der Macht in Europa. In diesen Jahren entstanden die Grundlagen für eine wachsende Konfrontation um Deutschland wie auch auf deutschem Boden selbst, die letztlich den Rahmen der tiefen inneren Krise in der DDR 1953 bildeten. Die Vorstellungen über die Schaffung eines einheitlichen demokratischen deutschen Staates, wie sie das Potsdamer Abkommen festgeschrieben hatte, verloren in der sich verschärfenden Konfrontation zwischen der UdSSR auf der einen und den westlichen Siegermächten auf der anderen Seite innerhalb einer immer kontroverser werdenden Politik schrittweise an Realität. Ost und West gingen in die Schützengräben des Kalten Krieges.

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Die Verständigungsbereitschaft zwischen den gesellschaftlich divergierenden Mächten wich zusehends einem machtpolitischen Interessendenken. 1947 scheiterte die Moskauer Konferenz des Rates der Außenminister am Dissens in der Deutschlandfrage. Die Westmächte sahen in den rigorosen gesellschaftlichen Veränderungen im Einflußbereich Moskaus und der Formierung eines kommunistisch orientierten Blocks unter der Ägide der UdSSR den Export der Revolution in die Nachbarländer und somit eine Gefahr für die westliche Demokratie. US-Präsident Harry S. Truman verkündete am 12. März seine Doktrin, in der er nicht nur dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Griechenland sowie der Türkei finanzielle Hilfe, sondern allen »in ihrer Freiheit bedrohten freien Völkern« politische und finanzielle Unterstützung der USA zusagte. Dies war der Beginn der antikommunistischen Eindämmungspolitik (Containment) Washingtons. Im Juni wurde der nach dem amerikanischen Außenminister Marshall benannte Marshall-Plan verkündet, der das ökonomisch-politische Pendant zur Truman-Doktrin darstellte. Das europäische Hilfs- und Wiederaufbauprogramm, an dem auch Deutschland teilhaben sollte, war an politische Forderungen geknüpft. Die Antihiderkoalition zerfiel und der Kalte Krieg wurde nunmehr verschärft in Deutschland ausgetragen. Zu einer ersten Kraftprobe kam es 1948. Auf der Londoner Sechsmächtekonferenz, zu der Vertreter der UdSSR nicht geladen worden waren, beschlossen die Westmächte und die Beneluxstaaten die Errichtung eines föderativen Regierungssystems und die Beteiligung Westdeutschlands am Marshall-Plan. Aus Protest gegen die Beschlüsse und die Gründung der gegen die UdSSR gerichteten Brüsseler »Westunion« verließ der sowjetische Vertreter im Alliierten Kontrollrat, Marschall Vasilij D. Sokolovskij, dieses Gremium gemeinsamer Beratungen und Beschlüsse, das seitdem nicht mehr tagte. Im Juni 1948 führten die Westmächte in ihren drei Zonen eine separate Währungsreform durch. Diese Maßnahme glich einer ökonomischen Spaltung und fügte der SBZ extreme wirtschaftliche Schäden zu. Moskau antwortete mit der vollständigen Blockade Westberlins. Im Herzen Europas wuchs das Konfliktpotential für einen neuen Krieg. Zur Erhaltung des Status quo und der politischen Verhältnisse in den Besatzungszonen entstanden unter erheblicher Einflußnahme der Großmächte 1949 mit der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik zwei Staaten auf deutschem Boden. Diese wurden in der Folgezeit zum Spiegelbild der wachsenden Konflikte der divergierenden Gesellschaftssysteme. Im Mai 1949 trat in den Westzonen das Grundgesetz in Kraft. Es konstituierte die Bundesrepublik vorerst nicht als Staat, sondern sollte die politische und gesellschaftliche Ordnung für eine »Übergangszeit« organisieren. In den ersten Bundestagswahlen am 14. August 1949 erlangten CDU und CSU eine knappe Stimmenmehrheit vor der SPD. Es formierten sich Bundesrat und Bundestag. Letzterer wählte im September Konrad Adenauer (CDU) zum Bundeskanzler.

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Die UdSSR wies daraufhin die Gründung der DDR im Oktober 1949 an. Aus dem 2. Deutschen Volksrat, der im Mai 1949 aus den Teilnehmern des 3. Deutschen Volkskongresses in der SBZ gewählt worden war, entstand die Provisorische Volkskammer der DDR. Damit war die erste DDR-Regierung nicht aus Wahlen der gesamten Bevölkerung hervorgegangen, was der Bundesrepublik und den Westmächten den Anlaß gab, die DDR als legitimes Staatsgebilde anzuzweifeln und ihm die Anerkennung zu versagen. Bundesdeutsche Politiker beanspruchten die Alleinvertretung für das gesamte deutsche Volk. Diesen Anspruch konnte und wollte die in Ostdeutschland herrschende SED in keiner Weise anerkennen, zumal sie in der DDR das alleinig legitime, gesellschaftlich bessere System sah. Statt dessen erhofften die Kommunisten einen baldigen Sturz der Bonner Regierung durch die Arbeiterschaft und richteten ihren ideologischen Kampf in beiden deutschen Staaten darauf aus. Die Verfassung, die sich die DDR 1949 gab, orientierte sich wie das bundesdeutsche Grundgesetz noch stark an der Weimarer Reichsverfassung und ging von der Unteilbarkeit Deutschlands und von einer einheitlichen Staatsbürgerschaft aus. Sie enthielt damit viele basisdemokratische Grundrechte, so Rede-, Presse-, Versammlungs- und Religionsfreiheit ebenso wie das Streikrecht. Hinsichtlich der hierin fixierten Rechte der DDR-Bürger jedoch praktizierte die regierende SED eine sehr eigene Politik, die letztlich nur das zuließ, was der offiziellen Staatspolitik nicht zuwiderlief. Das betraf sowohl das Wahlrecht, die freie politische Meinungsäußerung als auch die freie Kontaktaufnahme zu Westdeutschen und die Wohnortwahl. Bereits vor dem 17. Juni 1953 sollten sich viele Verfassungsrechte als Makulatur erweisen2. Unwillig und wohl auch unfähig zu einem Dialog mit der DDR, unterbrach die Adenauer-Regierung mit Unterstützung der Westmächte die politischen und ökonomischen Verbindungen zur DDR. In westdeutschen Führungskreisen nahm man den ostdeutschen Staat als ein Gebilde Moskaus und insbesondere als eine politische Bedrohung der Bundesrepublik Deutschland wahr. Im Ausbau der ökonomischen und politischen Kraft des westlichen deutschen Staates sah Konrad Adenauer die Grundvoraussetzung für eine künftige Wiedervereinigung auf bürgerlich-demokratischer Basis. Somit war man an einer Aufrechterhaltung der Strukturen des einst zusammengehörenden Wirtschaftsmechanismus nicht interessiert. Ein Embargo für Stahllieferungen in die DDR oder die Verfolgung bundesdeutscher Unternehmer, die mit dem Osten wirtschaftliche Kontakte unterhielten, erzeugten in der DDR nachhaltige wirtschaftliche Probleme3.

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Vgl. Schröder, Der SED-Staat, S. 81. Vgl. Petzina, Deutschland und die wirtschaftlichen Folgen des Ost-West-Konflikts, S. 1 5 4 - 1 5 7 .

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Die DDR hatte bereits große Probleme bei der Beseitigung der durch die Spaltung entstandenen Disproportionen in der Wirtschaft zu bewältigen, die sich zusätzlich durch eine wirtschaftliche Ausplünderungspolitik der UdSSR in den unmittelbaren Nachkriegsjahren verschärften. Mehr als 2000 Betriebe waren in der SBZ im Rahmen der Wiedergutmachung demontiert worden, wobei Willkür der sowjetischen Behörden keine Seltenheit war. Über 200 weitere Werke, zumeist Großbetriebe des Maschinenbaus und der chemischen Industrie sowie des Bergbaus, wandelte die UdSSR in Unternehmen der »Sowjetischen Aktiengesellschaft« (SAG) um, d.h. ihre Produkte mußten als Reparationsleistungen an die UdSSR abgeführt werden. Zu diesen gehörten Werke wie Buna, Leuna oder die Wismut. War der Substanzverlust der Wirtschaft mit 18,5 % durch Kriegsschäden noch mit dem in den westlichen Besatzungszonen vergleichbar, verlor die SBZ durch Demontagen 30 % der verbliebenen Kapazität (im Westen 3 %). Hinzu kamen Belastungen aus laufenden Reparationsleistungen von 23,7 % (West 7,2 %). Die UdSSR hatte 10 Milliarden Dollar Reparationsleistungen von Deutschland gefordert, nach neueren Berechnungen hat allein die DDR über 14 Milliarden zahlen müssen. All diese Potenzen fehlten der DDR beim Aufbau ihrer eigenen Wirtschaft4. Die genannten Zahlen und Fakten verdeutlichen, wie immens die Belastungen der DDR-Wirtschaft durch die Kriegsfolgen und damit zusammenhängende Forderungen waren. Die wirtschaftliche Abgrenzungspolitik der Bundesrepublik erhöhte den Druck auf die DDR. Um so konsequenter erfolgte seitens der SED-Führung, auch auf ökonomischen Zwängen beruhend, die politische und wirtschaftliche Anbindung an die UdSSR und die östlichen Nachbarländer. Im Zuge der wachsenden deutsch-deutschen Konfrontation gerieten für die Menschen in Ost- und Westdeutschland das Zusammengehörigkeitsgefühl und der Wunsch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten immer mehr in Widerstreit zu der praktizierten Politik der Großmächte sowie der führenden deutschen Parteien. Viele Deutsche empfanden eine Ohnmacht gegenüber der großen Weltpolitik und vertrauten auf das allseits postulierte Bestreben zur Wiedervereinigung. Im Vordergrund stand für sie jedoch zunächst die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Dank der Marshall-Plan-Hüfe entwickelte sich der Lebensstandard im Westen Deutschlands zusehends schneller als in der DDR. Allein diese soziale Entwicklung bewog viele DDR-Bürger, diesen Staat zu verlassen und einen neuen Anfang in der Bundesrepublik zu suchen. Hinzu kam, daß der prostalinistische Kurs der SED auf Ablehnung stieß. Die innere Aversion gegen den sowjetischen Sozialismus und die »Sowjetisierung« der DDR entsprangen sowohl der nachwirkenden antibolschewistischen Ideologie des Dritten Reiches als auch dem Konfliktstoff einer Besat4

Vgl. Karisch, Allein bezahlt?, S. 55 - 93,110 -135, 228 - 232 und 290 f.

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zungspolitik der UdSSR mit ihren administrativen Mechanismen und dem rigorosen Vorgehen gegen vermeintliche Feinde. Sie wurde in der Bundesrepublik und hinüberwirkend auch in der DDR zudem durch den wachsenden Antikommunismus in Politik und Ideologie der westlichen Welt geschürt. All jene nicht zu unterdrückenden bzw. ideologisch auszumerzenden Empfindungen der DDR-Bürger blieben durch den Kreml und die SEDFührung unberücksichtigt, als 1952 in der DDR der politische Kurs zum Aufbau des Sozialismus eingeschlagen wurde. Der Ausbruch des Korea-Krieges 1950 und das politische und militärische Engagement sowohl der USA als auch der UdSSR in dieser Region riefen in Europa eine Kriegspsychose zwischen Ost und West hervor. Für die Westmächte bildete der Krieg einen weiteren Ausgangspunkt, um bereits angedachte Konzepte einer politischen und militärischen Integration der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Lager weiterzuentwickeln und in konkrete Verhandlungen einzutreten. Auf der Außenministerkonferenz in Washington 1951 beschlossen die Westmächte, die Bundesrepublik gleichberechtigt in die »kontinentaleuropäische Gemeinschaft« aufzunehmen und an der westlichen Verteidigung zu beteiligen. Auf dieser Basis liefen die Verhandlungen zur Bildung der EVG, in der Frankreich, Italien, die Beneluxstaaten und die Bundesrepublik die Integration der nationalen Streitkräfte unter einem gemeinsamen Oberbefehl vereinbaren wollten. Mit der Unterzeichnung der Verträge gedachte Bundeskanzler Konrad Adenauer, die Bundesrepublik Deutschland als souveränen Staat in der westlichen Gemeinschaft zu etablieren und gleichzeitig in dem Militärbündnis einen Beitrag zur Sicherheit Westeuropas gegen die Bedrohung durch das »kommunistische Herrschaftssystem« zu leisten. Auch in militärischer Hinsicht sollte die Bundesrepublik so zu einem gleichberechtigten und akzeptierten Partner der führenden Mächte werden.

Das Schlüsseljahr 1952 in der DDR Stalin und die Mächtigen in Moskau sahen in diesen Verträgen eine ernstzunehmende Bedrohung des Sozialismus in der UdSSR und für das sozialistische Lager überhaupt. Furcht bestand vor einem starken imperialistischen Deutschland und einer Phalanx westeuropäischer Industrieländer gegen die UdSSR. Die Förderung der »sozialistischen Revolution« in den ost- und südosteuropäischen Ländern im Gefolge des Zweiten Weltkrieges war in hohem Maße mit dem Sicherheitsbedürfnis der UdSSR verknüpft. Stark war das Interesse, einen Ring von Staaten um die Sowjetunion zu schaffen, von dem keine Gefahr für das riesige Imperium ausgehen konnte. Daß die Aus-

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Weitung des kommunistischen Systems im Westen als Expansionismus angesehen wurde, nahm man im Glauben an die Gesetzmäßigkeit der Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus nur marginal wahr. Auf der Grundlage der Gesellschaftstheorie insbesondere Lenins und ihrer Interpretation durch Stalin ging Moskau davon aus, daß sich in der Welt zwei Lager bilden würden, das sozialistische und das imperialistische, und daß deren militärische Auseinandersetzung unvermeidlich sei. Mit der Unterzeichnung der Verträge zur EVG schien sich 1952 die Zwei-LagerTheorie endgültig zu bewahrheiten. Dennoch überraschte den sowjetischen Diktator der beabsichtigte Zusammenschluß westeuropäischer Staaten, da er die Auffassung vertrat, daß sich die europäischen Industriestaaten aufgrund ihres Machtstrebens und ihrer gegensätzlichen Interessenlagen nicht so schnell würden einigen können. Im Zuge der sich herauskristallisierenden Einigung der Westmächte versuchten die UdSSR und die DDR, durch Notenwechsel aus der politischen Defensive herauszukommen und Bereitschaft zu Verhandlungen über einen Friedensvertrag mit Deutschland zu signalisieren. Am 10. März 1952 trat die Sowjetunion mit dem in die Geschichte als »Stalin-Note« eingegangenen Entwurf fur einen Friedensvertrag mit Deutschland an die Westmächte heran. Das Papier offerierte dem deutschen Volk die Herstellung der deutschen Einheit, den Abzug aller Besatzungstruppen, die volle Souveränität bis hin zum Recht zur Aufstellung nationaler Streitkräfte. Als politische Rahmenbedingungen waren lediglich die Errichtung eines nicht näher definierten »demokratischen Staates« und der Verzicht auf die Teilnahme an jedweden Koalitionen und Militärbündnissen gefordert. Offenbar schien die UdSSR bereit, sich auf minimale Essentials ihrer Sicherheitspolitik zu beschränken und auf ihren Einfluß auf Deutschland in hohem Maße verzichten zu wollen. Vor allem ging es Stalin jedoch darum, die scheinbar vor dem Abschluß stehenden Verhandlungen um die EVG und die Westintegration zu torpedieren und mit den weitreichenden Vorschlägen erneute Verhandlungen zwischen Ost und West zu initiieren. Wenn die Grundpfeiler sowjetischer Sicherheitsinteressen erhalten blieben, war ein neutrales Deutschland und der Abzug der amerikanischen Besatzungstruppen aus Europa im Vergleich zur Errichtung eines gegen den Kommunismus gerichteten Militärpakts unter Teilnahme Westdeutschlands sicherlich aus Moskauer Sicht das kleinere Übel. Zugleich konnten sich aus den Verhandlungen um den Friedensvertrag mit Deutschland weitere Einflußmöglichkeiten der UdSSR in Europa ergeben5. Dennoch sprachen gewichtige militärische Faktoren gegen eine Aufgabe des ostdeutschen Staates als sowjetisches Einflußgebiet. Die DDR war der am weitesten vorgeschobene Posten des sowjetischen Imperiums im Herzen Europas und damit Ausgangsbasis und Operationsgebiet einer möglichen 5

Vgl. Diednch/Wenzke, Die getarnte Armee, S. 81 - 86.

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militärischen Systemauseinandersetzung mit dem Imperialismus. Das erklärt beispielsweise die sowjetische Militärpräsenz in der DDR mit über 400 000 Mann starken Elitetruppen in sechs Armeen6. Zudem sah Stalin am Ende des Zweiten Weltkrieges in der Atomwaffe das »entscheidende Mittel des Imperialismus für einen neuen Krieg«7. Da 97 % der Uranvorkommen der Welt durch westliche Industriestaaten kontrolliert wurden, maß die UdSSR den Uranvorkommen im Erzgebirge immense Bedeutung zu. Die Lieferungen des größten Rüstungswirtschaftsuntemehmens der SBZ/DDR waren die materielle Voraussetzung zur Brechung des amerikanischen Kernwaffenmonopols. Der Zugriff auf die Uranvorkommen spielte im deutschlandpolitischen Kalkül Stalins eine wesentliche Rolle. Das beweisen die Diskussionen im Kreml 1952 zum Aufbau des Sozialismus in der DDR8 ebenso wie im Jahr 1953, als aus der Noteninitiative die SAG Wismut ausdrücklich herausgenommen wurde9. Möglicherweise kalkulierte jedoch Stalin mit der prokommunistischen Saat, mit deren Sprießen er in einem wiedervereinigten Deutschland rechnete. Zumindest durfte man bei gesamtdeutschen Wahlen auf einen Sieg der Sozialdemokraten hoffen, die der militärischen Westintegration der Bundesrepublik bislang eher ablehnend gegenüberstanden. Allerdings verkannte der Kreml die innenpolitische Lage in Westdeutschland. Die SPD hatte bislang auf alle Versuche der SED zur »Schaffung einer Aktionseinheit der Arbeiterklasse zwecks Verhinderung der Militarisierung« allergisch reagiert. Die westdeutsche Bevölkerung betrachtete die politischen Vorgänge in der »Zone« insgesamt argwöhnisch. Im März lehnten die Westmächte die Verhandlungen um einen Friedensvertrag ohne tiefergehende Prüfung mit dem Hinweis auf fehlende gesamtdeutsche Wahlen ab. Sie waren nicht bereit, ihre Sicherheitsinteressen für ein wiedervereinigtes, aber neutrales Deutschland aufzugeben. In ihren Augen gab es keine Gewähr dafür, daß Deutschland nicht in den sowjetischen Einflußbereich abdriftete, und zudem schien für eine wirksame Verteidigung Westeuropas der westdeutsche Verteidigungsbeitrag als unverzichtbar10. Dies hatte offensichtlich auch Stalin erkannt. Bei der zweiten Note der UdSSR mit einem Angebot »freier Wahlen« ging es kaum mehr ernsthaft um eine Einigung, denn Stalin hatte bereits Tage zuvor die Aufrüstung der DDR und deren Abschottung von der Bundesrepublik angewiesen. 6

7 8 9 10

In der DDR waren 1952 stationiert: die 3. Armee im Land Sachsen-Anhalt, die 8. Gardearmee im Land Thüringen, die 1. Gardearmee im Land Sachsen, die 3. mechanisierte Gardearmee im Land Mecklenburg, die 4. mechanisierte Gardearmee im Land Brandenburg und die 16. Luftarmee mit Stabssitz Wünsdorf. Holloway, Stalin and the Bomb, S. 364 (. Vgl. Weber, Arbeiter versus »Sozialismus«, S. 159. The Post-Stalin Succession Struggle, BL 25. Vgl. Maier, Die internationale Auseinandersetzung, S. 111.

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Anfang April 1952 »empfahl« Moskau in Gesprächen, zu denen Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht vom 31. März bis 10. April in Moskau weilten, die pazifistische Phase der DDR-Politik zu beenden und nationale Streitkräfte sowie eine Rüstungsindustrie zu schaffen. Erste Pläne über die Streitkräftegröße sahen die Aufstellung einer 300 000-Mann-Armee vor. Die sowjetischen Wünsche orientierten sich dabei eindeutig am geplanten Militärbeitrag der Bundesrepublik. Wie komplex die Vorstellungen zur Wiederbewaffnung in der DDR konzipiert wurden, verdeutlichen die Stichpunkte Piecks aus diesen Besprechungen. In seinen Mitschriften hielt er die Forderung nach der Bildung einer Armee, deren Ausrüstung und die Schaffung eines Dienstes der Jugend für Deutschland fest11. Die UdSSR schlug die Aufstellung von 9 bis 10 Armeekorps mit 30 Divisionen vor, in der DDR sollten 8 Wehrkreise entstehen. Stalin sprach sich für die Einführung der Wehrpflicht aus, die Ausbildung der Führungskräfte der Armee sollte in der UdSSR erfolgen. Die Jugend der DDR müsse vormilitärisch ausgebildet werden, es seien zivile Organisationen der Verteidigung zu schaffen12. Am 7. April 1952 präzisierte Stalin seine Vorstellung von der Aufrüstung in der DDR. Es gelte, keine Miliz, sondern eine ausgebildete Armee zu schaffen, die vollkommen bewaffnet und aus Infanterie, Marine, Aviation13, Unterseebooten, Panzern, Artillerie und Jägerdivisionen bestehe. Gleichzeitig initiierte er die rigorose Grenzziehung zur Bundesrepublik. Die Demarkationslinie erklärte er zur gefährlichen Grenze, an der man mit terroristischen Akten rechnen müsse und die jetzt in der ersten Linie mit Grenzpolizei und MfS und dahinter mit Sowjetsoldaten zu sichern sei14. Hier liegen die Ursprünge komplexer militärischer Grenz Sicherung in der DDR. Die Grenzpolizei mußte nunmehr nach sowjetischem Vorbild ein militärisches Profil entwickeln und war, wie in der UdSSR, dem MfS zu unterstellen. Schutz- und Sicherheitsstreifen sollten die Grenze verstärken und deren Uberwinden in beide Richtungen unmöglich machen15. Mit den Maßnahmen zur Verschärfung des Grenzregimes vom Mai/Juni 1952 wurde diese Forderung in der DDR rigoros umgesetzt. Die Einstellung Stalins zur Lage in Europa 1952 offenbarte sich sehr deutlich in seinen Reden 1952, insbesondere in denen auf dem XIX. Partei11 12 13 14

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Vgl. SAPMO-BArch, NY 36/696, Bl. 26, Notizen Piecks vom 1.4.1952. Vgl. ebd., Bl. 27. Gespräche veröffentlicht bei: Wolkow, Die deutsche Frage, S. 43 - 47. Gemeint ist hier die Luftwaffe. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/1 IV 2/2/206, Bl. 1 ff. sowie ebd., NY 36/695, Bl. 113 f., Protokoll der Politbürositzung vom 11.4.1952; Honecker und Hoffmann wurden für die »Organisation von Jugendlagern« (Dienst für Deutschland) verantwortlich gemacht; ebenso wurde die Vorbereitung der freiwilligen gesellschaftlichen Organisation »Schutz der Heimat« (GST) angewiesen. Vgl. BA-MA, DVH 3/2073, Bl. 86 f., Berater-Plan vom 12. Juni 1952.

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tag der KPdSU im Oktober 1952 und in der auf der ersten ZK-Tagung danach. Sie spiegelte sich wider im Referat Walter Ulbrichts auf der 10. Tagung des ZK der SED am 20. November 1952. »Genösse Stalin weist darauf hin«, betonte Ulbricht, »daß es am wahrscheinlichsten sei, daß die gegenwärtige Friedensbewegung im Falle des Erfolgs zur Verhütung eines gegebenen Krieges, zu seinem zeitweiligen Aufschub, zur zeitweiligen Erhaltung des gegebenen Friedens, zum Rücktritt einer kriegerischen Regierung und zur Ablösung durch eine andere Regierung führt, die bereit ist, zeitweilig den Frieden zu erhalten.« Solche Erfolge würden jedoch nicht bedeuten, daß »damit die Ursache der Kriege zwischen den kapitalistischen Ländern beseitigt sind«16. Vor diesem Hintergrund veranlaßte Moskau die Ostblockländer zu einer Politik des forcierten ökonomischen und militärischen Wetdaufs mit dem Westen. Aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges schlußfolgernd, zielte die Politik Stalins darauf, im Falle eines Krieges militärisch und vor allem ökonomisch besser gerüstet zu sein als der potentielle Gegner. Für die ökonomische Mobilmachung sah Stalin den Hauptschwerpunkt in der Entwicklung der Grundstoff- und Schwerindustrie. Der eingeleitete Kurs in den osteuropäischen Ländern bedeutete letztendlich nichts anderes als die Durchpeitschung des Stalinschen Wirtschaftsmodells unabhängig vom erreichten Entwicklungsstand, von nationalen Besonderheiten der einzelnen Staaten bei gleichzeitiger überdimensionaler Aufrüstung17. Unter Anerkennung der Führungsrolle der UdSSR trugen die DDR und die ost- und südosteuropäischen Staaten diesen politischen und wirtschaftlichen Kurs mit. Er schien die logische Konsequenz aus der Lageentwicklung in Europa nach Kriegsende zu sein. Der Kalte Krieg und die wachsende Konfrontation zwischen den Gesellschaftssystemen ließen bei den führenden Politikern in den sozialistischen Ländern auch das von Stalin seit den dreißiger Jahren entwickelte und verbreitete äußere Feindbild für den Kommunisten als wahrheitsnah erscheinen. Das SED-Politbüro leitete daraus die ökonomische und militärische Mobilmachung der DDR als ein dringliches Erfordernis ab und betonte, daß, wer für den Frieden sei, auch für die UdSSR sein müsse. Somit werde sich die DDR in das »Friedenslager mit der Sowjetunion an der Spitze« einordnen18. Die Führung der Staatspartei war sich sicher, daß die westlichen Länder und mithin die Bundesrepublik alles tun würden, um die DDR als staatliches Subjekt und die politische Ordnung in diesem Staat zu untermi-

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SAPMO-BArch, DY 30/1 V 2/1/56, Bl. 8, Protokoll der 10. Tagung des ZK der SED vom 20.11.1952. Vgl. hierzu 1953 - Krisenjahr. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/1 V 2/1/56, Bl. 45, Protokoll der 10. Tagung des ZK der SED vom 20.11.1952.

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nieren und zu liquidieren. Die Praxis des Kalten Krieges auf deutschem Boden entsprach dieser Erwartung19. Auf der Grundlage dieses Feindbildes kam Ulbricht in der erwähnten Ansprache auf der 10. Tagung des ZK, die wohl mit gutem Recht als »Stalinisierungsrede« bezeichnet werden kann, zu folgenden Schlußfolgerungen für die Politik der DDR: »Die eine wichtige Aufgabe ist die Organisation der Verteidigung der Heimat. Für die Deutsche Demokratische Republik hat der Hinweis des Genossen Stalin, daß bei allen Erfolgen der Friedensbewegung das Gesetz über die Unvermeidlichkeit von Kriegen zwischen kapitalistischen Ländern bestehen bleibt, solange der Imperialismus existiert, große Bedeutung. Um die Unvermeidlichkeit der Kriege zu beseitigen, muß der Imperialismus vernichtet werden. Das heißt, solange westlich von uns der Imperialismus herrscht ..., ist die Schaffung bewaffneter Streitkräfte eine Lebensnotwendigkeit fur die Bevölkerung der DDR20.« Drastisch begründete Ulbricht im November 1952 damit unwidersprochen jene Politik, die durch Moskau für alle sozialistischen Länder initiiert und mit der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 auf DDR-Verhältnisse zugeschnitten verkündet worden war. Sie wurde damit zum Selbstzweck eigener Machtsicherung. 1952 begann nun ein Aufrüstungsprozeß, der für die wirtschaftlich schwache DDR nicht ohne Folgen bleiben konnte. Er umfaßte, für eine Militarisierung typisch, die verschiedensten gesellschaftlichen Sphären, d.h. nicht nur den Aufbau nationaler Streitkräfte, sondern auch Maßnahmen zur Mobilisierung der Wirtschaft und zur Wehrvorbereitung im ideologischpolitischen Bereich.

Der Aufbau der Kasernierten Volkspoli2ei und die Militarisierung der D D R

Der im Sommer 1952 einsetzende Aufrüstungsprozeß im Osten Deutschlands stellte eine entscheidende Ursache für die tiefe innere Krise in der DDR 1953 auf ökonomischem, aber auch auf politischem Gebiet dar. Er führte, trotz strikter Geheimhaltung des Ausmaßes und der konkreten Maßnahmen, den Deutschen in Ost und West deutlich vor Augen, daß sich beide deutsche Staaten konträr entwickelten, daß sie alsbald, in den divergierenden Blöcken verankert, gegeneinander stehen würden. In beiden deutschen Staaten herrschte die Furcht davor, daß nicht nur die Spaltung auf lange Frist zementiert würde, sondern gar dereinst Deutsche auf Deutsche schießen könnten. 15 20

Siehe hierzu z.B. Merz, Kalter Krieg. SAPMO-BArch, DY 30/1 V 2/1/56, Bl. 52.

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Während jedoch in der Bundesrepublik über einen Wehrbeitrag verhandelt wurde, ohne daß bereits militärische Strukturen zur Verfügung standen, hatte auf sowjetische Weisung bereits im Frühjahr 1948 eine heimliche Aufrüstung begonnen. Innerhalb der bestehenden Schutzpolizeiformationen, die zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung von Anbeginn unerläßlich waren, waren 40 kasernierte Bereitschaften in einer Gesamtstärke von 10 000 Mann entstanden. Sie rekrutierten sich aus hierher versetzten Polizisten, geworbenen Freiwilligen und vor allem aus Kriegsgefangenen, die in sowjetischen Lagern vor die Alternative des Bleibens oder aber der Heimkehr mit einer Dienstverpflichtung gestellt worden waren. Unter ihnen befanden sich auch Wehrmachtoffiziere und wenige ausgewählte Generale, die militärisches Wissen und Erfahrungen in die Bereitschaften und Schulen der kasernierten Einheiten brachten. Von Anbeginn wurde hier militärisch ausgebildet. Es ging der UdSSR und den Kommunisten in der SBZ um die Heranbildung eines der neuen Gesellschaftsordnung treu ergebenen Offiziers- und Unteroffizierskorps für künftige nationale Streitkräfte. Mit der Gründung der DDR wurden die kasernierten Einheiten einer Hauptverwaltung für Ausbildung (HVA) im neu gebildeten Ministerium des Innern (Mdl) unterstellt. Bereits im Sommer 1949 hatte man die Zahl der Bereitschaften auf 35 reduziert und dafür die Schulen auf elf vermehrt. Beide Bereiche waren nunmehr fachspezifisch nach Infanterie-, Artillerie-, Panzer-, Pionier- und Nachrichtenausbildung formiert. An den Schulen erlernten die späteren Offiziere, in den Bereitschaften die künftigen Unteroffiziere das militärische Handwerk. Am Ende des Ausbildungsjahres 1949/50 waren diese Lehrgänge abgeschlossen. Nach den Ernennungen waren jetzt genügend Offiziere und Unteroffiziere vorhanden, um die Einheiten der HVA nach Einsatzprinzipien neu zu formieren. Es entstanden 24 gemischte Bereitschaften in Regimentsstärke, die nach sowjetischem Vorbild über mechanisierte, Artillerie-, Nachrichten-, Pionier- und andere Einheiten verfugten. Das Einsatzprinzip wurde dadurch verstärkt, daß durch die SKK immer mehr Waffen an die Einheiten ausgegeben wurden. Man war bemüht, eine durchgängige Bewaffnung mit Handfeuerwaffen zu erreichen, während die Ausstattung mit Artillerie und gepanzerten Fahrzeugen sich noch stark am Ausbildungscharakter der HVA orientierte. So standen bis Anfang 1952 nur 19 Panzer vom sowjetischen Typ Τ 34/76 sowie ebenso viele Fahrzeuge der Sturmartillerie der Bauart SFL 76 und 85 zu Lehrzwecken zur Verfügung. Seit 1950 befanden sich zudem Marineeinheiten im Aufbau, deren vorrangige Aufgabe ebenfalls die Ausbildung war, weil es noch an Booten und an Fachpersonal mangelte. Seit 1948 hatten ostdeutsche Werften auf sowjetische Anweisung begonnen, Boote und Schiffe für die Seepolizei zu bauen. Zum Jahreswechsel 1951/52 verfügte die DDR mit kasernierten Landeinheiten in Stärke von etwas über 50 000 Mann und mehr als 2500 Seepoli-

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zisten bereits über ein beachtliches militärisch geschultes Potential21. Es kann nicht verwundern, daß diese Entwicklung von den westlichen Mächten und der Bundesrepublik sehr argwöhnisch beobachtet wurde und das Mißtrauen gegenüber der UdSSR und dem ostdeutschen Staat weiter nährte. Auch hierin begründete sich der bundesdeutsche Wunsch, selbst über Streitkräfte zu verfugen und sich in die Absicherung eines westlichen militärischen Bündnisses zu begeben. 1952 begann nun auf der Basis der sowjetischen Anweisungen und der vorhandenen Militärstrukturen ein qualitativ und quantitativ immens gesteigerter Aufrüstungsprozeß. Die sowjetische Deutschlandpolitik, der »ZickZack-Kurs« zum Sozialismus, wie ihn die SKK bereits 1950 empfohlen hatte22, fand jetzt unter veränderten Vorzeichen seine Fortführung. Das Taktieren der UdSSR erfolgte aus einer Position der Stärke heraus, die zumindest die Sicherung des bereits errungenen Machtbereiches im Auge hatte23. Das Festhalten war jedoch gleichzeitig mit dem Versuch der Spielraumerweiterung kombiniert. Eine militärisch gerüstete DDR konnte dabei ein Faustpfand für Verhandlungen sein, wie es Angebote der Jahre 1953/54 verdeutlichen24. Die Frage, ob diese Streitkräfte hinsichtlich einer möglichen Einigung mit den Westmächten im Kontext eines verschiedentlich diskutierten künftigen Friedensvertrages nicht auch einen ostdeutschen militärischen Grundstock für die eventuell dann entstehende gesamtdeutsche Armee bilden sollten, muß in Erwägung gezogen werden, kann jedoch ohne sowjetische Quellen nicht beantwortet werden. Indizien gibt es, hatte man doch bereits Anfang der fünfziger Jahre HVA-Offiziere darauf orientiert, bereit zu sein, ihren Dienst auch in Hamburg oder München zu verrichten. Obwohl Moskau letztlich allein über alle militärischen und sicherheitspolitischen Maßnahmen in Ostdeutschland entschied, kamen die sowjetischen Intentionen der DDR-Führung sehr entgegen. Für sie zählte eine Armee mit Blick auf die Herrschaftssicherung und Landesverteidigung zu den Grundbedingungen staatlicher Existenz. Das Politbüro der SED verstand die angewiesenen Maßnahmen als Stärkung zum einen der eigenen Machtposition im Innern des Landes, zum anderen der internationalen Stellung der DDR in Europa. Damit lassen sich durchaus gewisse Parallelen zu den Intentionen der regierenden CDU in der Bundesrepublik ziehen, die ihren Ausdruck in den Bestrebungen zur Westintegration und für einen

21 22 23 24

Siehe zur Aufrüstung 1948 - 1 9 5 2 : Volksarmee schaffen - ohne Geschrei! Vgl. SAPMO-BArch, NY 36/736, Bl. 302, Notizen Piecks vom 14.4.1952. Vgl. Staritz, Die SED, S. 690. So bot die DDR der Bundesrepublik Verhandlungen über die Stärke, Bewaffnung und Dislokation der Polizeieinheiten in beiden deutschen Staaten an. Vgl. Dokumente zur Außenpolitik der DDR, Bd 1, S. 104; Protokoll IV. Parteitag der SED, S. 30 f.

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eigenständigen Wehrbeitrag in einem westlichen Militärbündnis fanden. Auf beiden Seiten sah man, wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung, die Erhaltung des Status quo, das Vorhandensein deutscher Streitkräfte als Voraussetzung und Garant neuer europäischer Akzeptanz, vollständiger Souveränität und Sicherung des Herrschaftsbereiches gegen den anderen deutschen Staat an. Die gravierenden Differenzen dieser Politik in puncto Herrschaftssicherung dürfen jedoch nicht übersehen werden. Hinter den gegensätzlichen deutschen Interessen standen die der jeweiligen Siegermächte. Nach den Anweisungen Stalins an die SED-Führung im April 1952 übernahm erneut die Sowjetische Kontrollkommission die Präzisierung und Überwachung der Aufrüstungsschritte in der DDR. In zwei Beratungen von SKK-Spitzenvertretern mit den führenden Repräsentanten der SED, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl und Walter Ulbricht, am 14. und 18. April 1952 wurde der Aufbau von Streitkräften und einer Rüstungsindustrie in der DDR konkretisiert. Zur Sprache kam dabei u.a. die Bildung von Wehrkreisen in der DDR, die durch Veränderung der konföderativen Länderstrukturen entstehen sollten und mithin den militärischen Hintergrund der Schaffung von Bezirken im Juli 1952 bildeten25. Auch die Frage der Grenzabschirmung wurde konkretisiert. Das Bild komplexer Verteidigungsvorbereitung nach sowjetischem Muster rundeten mehrere Beschlüsse des SED-Politbüros vom 6. Mai 1952 ab. Die Parteiführung beschloß, einen Dienst für Deutschland (DD) sowie die Organisation »Schutz der Heimat« (die spätere Gesellschaft für Sport und Technik) zu bilden. Vorgesehen war weiter die Schaffung des Deutschen Roten Kreuzes, mit dem die Errichtung einer breiteren Basis medizinischer Versorgung im Kriegsfall angedacht war, und des Staatssekretariats für Körperkultur und Sport, das für die körperliche Ertüchtigung der Bevölkerung zuständig sein sollte. Offensichtlich war in diesem Zusammenhang der militärpolitische Hintergrund26. Auch strukturell griff der Transformationsprozeß im militärischen Bereich. Ein Verteidigungsmimsterium wurde in seiner Organisationsform erarbeitet, jedoch vorerst verdeckt realisiert. Das Ministerium des Innern erfuhr eine Zweiteilung in eine Staatliche Verwaltung des Innern und ein 25

26

Vgl. SAPMO-BArch, NY 36/736, Bl. 301 ff., Notizen Piecks am 14.4.1952; Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen, S. 400; Hajna, Auflösung der Länder, S. 88 ff. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/1 IV 2/2/210, Protokoll der Politbürositzung vom 6.5.1952. Zu den von der UdSSR angewiesenen Maßnahmen siehe auch: ebd., NY 36/657, Bl. 128 ff.; ebd., NY 90/699, Bl. 11 ff. sowie ebd., NY 36/736, Bl. 302. Zur Umsetzung : Ebd., D Y 30/1 IV 2/3/293, Bl. 16, Protokoll der Sekretariatssitzung vom 23.5.1952. Die Bildung des D D war auf der Sekretariatssitzung vom 11.4.1952 beschlossen worden. Das Konzept lag dem Politbüro am 6. Mai 1952 vor. Vgl. SAPMO-BArch, D Y 30/IV 2/4/267 und I IV 2/2/210, Protokoll der Politbürositzung vom 6.5.1952.

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»Verteidigungsministerium« mit der Verantwortung für die bewaffneten Organe. Hier lag mit dem Büro für Wirtschaftsfragen außerdem die Verantwortung für die Ausrüstung der bewaffneten Formationen und für die Rüstungsproduktion. Die Umgestaltung der »Polizeitruppen« und deren Ausrüstung mit schweren Waffen lief bereits im Frühjahr 1952 an. Auf allen militärischen Ebenen hielten insgesamt 467 neue sowjetische Berater Einzug. Sie sollten die Realisierung der angewiesenen Maßnahmen kontrollieren und gleichzeitig Hilfestellungen für die Organisation des sowjetischen Streitkräftemodells in der DDR geben. Es wurde sogar überlegt, ein Korps mit 2 Divisionen in der UdSSR aufzustellen und auszubilden, um in kurzer Zeit für die DDR nicht nur einen Kaderstamm, sondern eine kampftechnisch einsatzfähige Truppe zu schaffen27. Der Plan scheiterte offenbar an Personalmangel. Allerdings gibt es auch Anzeichen für eine bereits vorab geplante Kontinuität der Aufrüstung in der DDR, welche die Stalin-Note mehr als politisches Manöver denn als reale Chance erscheinen läßt. Bei der Vorbereitung der 2. Parteikonferenz im Februar 1952 spielte die Streitkräftefrage im SEDPolitbüro noch keine Rolle28, wohl jedoch die Verwaltungsreform, welche die Auflösung der 5 Länder in der DDR zugunsten von Bezirken vorsah29. Dennoch liefen zu dieser Zeit bereits eine ganze Reihe von Vorbereitungen für einen Streitkräfteaufbau. Im Januar 1952 hatte eine Pressemitteilung der Westberliner Zeitung »Der Tag« für Aufregung bei der DDR-Führung gesorgt. Die Zeitung meldete, daß der HVA-Chef, Generalinspekteur Heinz Hoffmann, bei einem VP-Neujahrsempfang in Adlershof zum 1. Mai ein Polizeidienstgesetz angekündigt habe. Einen Neujahrsempfang gab es nicht, jedoch eine geheime Unterredung mit SKK-Offizieren, in der für den Juni 1952 die Einberufung von 250 000 Mann auf der Grundlage einer Wehrpflicht diskutiert worden war30. Neue Entwicklungsetappen hatte die UdSSR auch bei der Entwicklung der Seepolizei und dem Aufbau der VP-Luft schon vor den AprilGesprächen angeregt. In der 1950 gegründeten HV-Seepolizei (HVS) begann offensichtlich Anfang 1952 eine neue Aufbauetappe. Im Februar 1952 legte der Ausbildungsbefehl des Leiters der HVS die Stoßrichtung für die Entwicklung der Marineeinheiten der DDR fest: den Ausbau des bewaffneten Schutzes der Küste der DDR. Dafür wurde Anfang 1952 eine deutliche Erweiterung des Struktur- und Stellenplans der HVS angewiesen. Gleichzeitig begann der Aufbau der Peenewerft als Zentrum des künftigen militärischen Schiffbaus und des Hafens von Peenemünde als künftigen Haupt27 28

29 30

Vgl. SAPMO-BArch, NY 36/736, Bl. 302 f., Notizen Piecks vom 14.4.1952. Vgl. ebd., NY 36/654, Bl. 1 ff., Vorschläge des Politbüros in Verbindung mit der Vorbereitung der II. Parteikonferenz. Vgl. Hajna, Auflösung der Länder, S. 92. Vgl. BStU, AP 11095/70, Bl. 69, Bericht der MfS-Abt 1/1 vom 11.1.1952.

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Stützpunkt der Marinekräfte der DDR. Insbesondere von sowjetischem Interesse war die Projektierung eines modernen Seekriegshafens in BugDranske auf Rügen. Am 15. November 1951 hatte der Ministerrat der UdSSR die Aufstellung einer Kadertruppe fur eine DDR-Luftwaffe beschlossen und das sowjetische Streitkräfteministerium angewiesen, von 1952 bis 1954 220 deutsche Jagdfliegerpiloten auf dem sowjetischen Düsenjäger MiG-15 zu schulen31. 35 ausgewählte Mitglieder der FDJ und SED sollten auf sowjetischen Fliegerhorsten zu Kommandeuren von Fliegerstaffeln bzw. einer Luftwaffenführung qualifiziert werden. Sechs Flugzeuge vom Typ RD-10 standen im ersten Quartal 1952 der Ausbildung des ostdeutschen Bodenpersonals zur Verfügung. Der Startschuß für den Aufbau von Fliegerkräften erfolgte im Februar 1952 mit der Eröffnung des 1. Ausbildungslehrganges für Flieger der MiG 15, womit auch klar war, daß die Luftwaffe sofort den damals hochmodernen sowjetischen Strahltriebwerksjäger bekommen sollte. Auch für die Landeinheiten gibt es gleichlaufende Indizien. Der Chef der HVA erließ am 5. März 1952 einen Befehl zur Werbung von VP-Anwärtern über neuzubildende Landes- und Kreiswerbekommissionen. Das deutet nicht nur auf eine vor der Verkündung der Stalin-Note beschlossene deutliche Vermehrung des Personalbestandes hin, sondern dokumentiert die Veränderung des gesamten Werbesystems32. Wenngleich ohne sowjetisches Archivmaterial keine weiteren definitiven Aussagen zu den Aufrüstungsvorgaben Anfang 1952 an die DDR gemacht werden können, ist zu erkennen, daß vor der Ablehnung der Stalin-Note und der Unterzeichnung des General- und EVG-Vertrages im Mai 1952 deutliche Schritte hin zur Konsolidierung der Gesellschaftsordnung in der DDR und zur Entwicklung von Streitkräften eingeleitet wurden. Folglich sind, wie immer die Indizien interpretiert werden mögen, nach den Gesprächen im April 1952 in Moskau Kontinuität und Wandel bei der Aufrüstung in der DDR feststellbar. Es erfolgte der weitere kontinuierliche Ausbau des Militärapparates, allerdings seit April auf einer wesentlich höheren qualitativen Stufe als vorab geplant. Im Sommer 1952 wurden auf der 2. Parteikonferenz der SED die seit dem Frühjahr auch in der DDR-Gesellschaft spürbaren Aufrüstungsbemühungen offenbar. Ein Beschluß des Gremiums verkündete: »Die Sicherung des Friedens, des demokratischen Fortschritts und des sozialistischen Aufbaus in der Deutschen Demokratischen Republik und in Berlin gegenüber Aggressionsakten vom Westen erfordert die Festigung und Verteidigung der Grenzen der Deutschen Demokratischen Republik, die Stärkung der demokratischen Volksmacht, der demokratischen Ordnung und Gesetzlichkeit und die Organisierung bewaffneter Streitkräfte, die mit der neuesten Technik ausge31 32

Vgl. Wettig, Neue Erkenntnisse, S. 406 f. Vgl. BA-MA, DVH 1/009, Bl. 1 f., Befehl 173/52 vom 5.3.1952.

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rüstet und imstande sind, die Errungenschaften der Werktätigen vor einem imperialistischen Angriff zu schützen«33. Auf der Parteikonferenz begründeten Staatspräsident Wilhelm Pieck und SED-Generalsekretär Walter Ulbricht den Streitkräfteaufbau damit, daß es notwendig sei, »den Imperialisten die Lust an Kriegsabenteuem im Herzen Europas zu nehmen«34. Im Hintergrund stand jedoch, daß Moskau und die SED-Führung in der eingeleiteten Phase des Übergangs zum Sozialismus der Leninschen Theorie von dem gesetzmäßig notwendigen bewaffneten Schutz der sozialistischen Revolution entscheidende Bedeutung beimaßen. In Reflexion auf die Lage in Europa schien es den SED-Politikern als unumgänglich, eine Armee zu schaffen, um sich als Staat und Gesellschaftssystem behaupten zu können, auch wenn die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz mit den Festlegungen des Potsdamer Abkommens unvereinbar waren. Die eigenständige sozialistische Entwicklung der DDR erhielt damit das Primat vor einer Wiedervereinigung und der Bildung eines entmilitarisierten Deutschlands. Doch die SED konnte derartige Fragen nicht bestimmen. Trotz Staatsgründung war sie keineswegs souverän. Die sowjetische Staats- und Parteiführung verhielt sich gegenüber der DDR in allen Belangen von Politik und Wirtschaft auch weiterhin als Besatzungsmacht. Seit der formalen Auflösung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) Ende 1949 übte Moskau seinen Einfluß auf Partei- und Staatsebene über die SKK aus. Der Vorsitzende der Kontrollkommission war zugleich auch der Oberkommandierende der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland35. Über Memoranden, die faktisch Gesetzeskraft besaßen, wurden »Ratschläge« zu allen gesellschaftspolitischen Fragen und fürderhin in besonderem Maße zur Entwicklung militärischer Organe in der DDR gegeben. Im Frühsommer 1952 erging eine sowjetische »Empfehlung« zum Aufbau nationaler Streitkräfte der DDR, für die es 1,5 Mrd. DM zu veranschlagen galt. Die im Wirtschaftsplan des ostdeutschen Staates nicht vorgesehenen Ausgaben sollten »nach den sowjetischen Vorschlägen u.a. finanziert werden durch Einsparungen bei der Sozialversicherung und -fürsorge in Höhe von 420 Millionen Mark, durch erhöhte Besitz- und Einkommenssteuern sowie die Reduzierung des Konsums der Bevölkerung in Höhe von 350 bzw. 300 Millionen Mark«36. Damit waren die Grundlagen für die Aufrüstung in der DDR gelegt. Die UdSSR hatte ihre Vorstellung offeriert. Ohne einen Planungsprozeß, ohne die Überprüfung der wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten der Industrie und des Staatshaushaltes begannen die SEDund die Militärführung mit der Umsetzung der Forderungen zum Aufbau 33 34 35 36

Protokoll der II. Parteikonferenz, S. 491. Ebd., S. 216. Vgl. Herzu Das SKK-Statut. Stöckigt, Direktiven aus Moskau, S. 82 f.

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einer Armee und zur Schaffung einer Rüstungsindustrie. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der die Maßnahmen in der DDR durchgepeitscht wurden, läßt sich bislang nur mit dem Interesse der Regierenden erklären, schnellstmöglich Tatsachen zu schaffen, um aus der Rolle des Spielballs sowjetischer Deutschlandpolitik herauszukommen. Offenbar hatte man in der SED-Führung angesichts der Noteninitiative der UdSSR 1952 doch erhebliche Furcht um den Verlust der Macht gehegt. Am 1. Juli 1952 beschloß der Ministerrat der DDR, aus den Bereitschaften und Schulen der HVA die Kasernierte Volkspolizei (KVP) zu bilden. Mit der KVP, der VP-See und der seit Anfang des Jahres im Entstehen begriffenen VP-Luft entwickelte sich seit den Sommermonaten 1952 der Grundstock für die drei Teilstreitkräfte einer künftigen Armee in Personal, Struktur und Ausrüstung. Die SED-Führung stellte dem neuentstehenden militärischen Organ die Aufgabe, in sich alle Voraussetzungen für die Umbildung in die auf der 2. Parteikonferenz angekündigten nationalen Streitkräfte zu entwickeln. Wie bereits in der HVA angestrebt, ging es der SED vor allem darum, in der KVP ein militärisch ausgebildetes Kaderpotential »sozialistischer« Streitkräfte heranzubilden. Das bedeutete, neben der militärischen Ausbildung vor allem die ideologische Identifikation der Offiziere und Soldaten mit dem gesellschaftlichen System in der DDR sowie mit der SED und ihrer Politik zu erzeugen. Aus diesem Grund wurde nicht nur auf den sozialen Aspekt — die Werbung von Arbeitern, Handwerkern und Kleinbauern - Wert gelegt, sondern der ideologischen Infiltration innerhalb und außerhalb der Ausbildung besondere Bedeutung beigemessen. Zu diesem Zweck hatte die SED bereits seit 1948 ihre führende Rolle in und gegenüber den bewaffneten Formationen durchgesetzt. Die Staatspartei bestimmte durch ihre Beschlüsse und Weisungen die Entwicklungslinien der Polizeiformationen, und eine Abteilung des SED-Zentralkomitees kontrollierte ab 1952 deren Umsetzung. Zudem durften von den politischen Kräften in der DDR einzig die SED und die ihr ergebene Jugendorganisation FDJ ihre Organisationsstrukturen in den KVP-Einheiten entwickeln. Über möglichst hohe Mitgliederzahlen im Offiziers- und Unteroffizierskorps, aber auch bei den Mannschaften erhoffte man ein hohes Maß an ideologischer Beeinflussung und Kontrolle des Personalbestandes. 1953 waren weit über 50 Prozent des Offiziersbestandes als Mitglieder oder Kandidaten in der SED organisiert37. Schon 1948 waren auf allen Ebenen der kasernierten Einheiten, entsprechend dem sowjetischen Kommissarprinzip, Politorgane für die intensive ideologische Schulung und Kontrolle des Personals entstanden. Auch in der KVP reichten die Strukturen des Politapparates bis auf die Ebene der Kompanien herunter; deren Leiter war stets Stellvertreter des Kommandeurs. 37

Vgl. hierzu Diedrich/Wenzke, Die getarnte Armee, S. 204 - 211.

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Damit trug die KVP von Anbeginn bereits alle Grundlagen für die Ausformung künftiger Streitkräfte zu einer »Parteiarmee« in sich. Die KVP unterlag allerdings nicht nur der ständigen politischen Anleitung und Kontrolle durch die SED, sondern zudem der konspirativen Überwachung durch den Staatssicherheitsdienst der DDR. Im Zuge der Aufrüstung erweiterte sich das Tätigkeitsfeld des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) zur Absicherung und Überwachung der bewaffneten Kräfte deutlich. Das MfS übernahm nicht nur Aufgaben der militärischen Aufklärung, sondern überprüfte durch ein konspiratives Spitzelsystem auch den Personalbestand der bewaffneten Organe und mithin der KVP. Das Engagement des MfS diente nicht nur der Verhinderung von Spionage und Sabotage, es sollten der innere Zustand der Einheiten überprüft, Desertionen verhindert und »negative Einflüsse« beseitigt werden. Rigoros ging man gegen politisch Andersdenkende, Verbreiter von »RIASGerüchten« und »Negativdiskutierer« sowie gegen »Westkontakte« vor. Alles, was die bedingungslose Pflichterfüllung der Soldaten stören konnte, wurde in enger Zusammenarbeit mit der Militärführung und der Justiz aus der KVP eliminiert und womöglich juristisch geahndet. Diese in den Einheiten hinlänglich bekannte Überwachung erschwerte eine freie Meinungsbildung, oppositionelles Denken und Verweigerung in der KVP erheblich. Beim Aufbau der KVP orientierte man sich wie bisher in Struktur, Bewaffnung, Ausbildung und im inneren Gefüge am sowjetischen Streitkräftemodell. Insgesamt entstanden vier Armeekorps, die aus Tarnungsgründen als Territorialverwaltungen (TV) bezeichnet wurden. Aus militärischen und Geheimhaltungsgründen begann der Aufbau mit der TV Pasewalk im logistisch kaum erschlossenen Nordosten der DDR. Dem entstehenden Armeekorps unterstanden zwei Infanteriebereitschaften mit einer Sollstärke von je 13 127 Mann, eine mechanisierte Bereitschaft (VPB) mit 13 565 Mann sowie selbständige Kommandos und Abteilungen. Die angegebenen Stärken und Strukturen der Verbände machen deutlich, daß mit den hier stationierten Formationen die sowjetische Divisionsstruktur verwirklicht wurde38. Die Bereitschaften der Territorialverwaltungen Dresden, Leipzig und Dessau, die im Oktober ihren Aufstellungsbefehl erhielten, verblieben im Zuge des Aufbaus und aus Personalmangel zunächst kadriert, d.h. sie behielten die von der HVA überkommene Regimentsstruktur mit einer Sollstärke von 1800 Mann. Zudem existierten zur Kaderausbildung von Unteroffizieren und Offizieren 22 Schulen sowie diverse selbständige und rückwärtige Einheiten. Die hier aufgeführte Struktur der im Aufbau befindlichen DDRStreitkräfte macht deren immense Größe deutlich. So war vorerst allein für 38

BA-MA, DVH 3/2073, Bl. 15, Bericht über die Entstehung und Entwicklung der KVP vom 16.12.1953.

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die KVP eine Stärke von etwa 160 000, mit der VP-See und der VP-Luft bis zu 200 000 Mann vorgesehen. Zusammengerechnet erlangten die drei militärischen Formationen im Dezember 1952 bereits eine Gesamtstärke von 90 250 Mann und wurden bis Mitte 1953 auf 113 000 Mann aufgestockt39. Allein der personelle Aufwand, der 1952/53 für die Bildung einer Armee betrieben wurde, bedeutete eine gewaltige Belastung der DDR, stand doch Anfang 1952 in der HVA und der HVS gerade einmal mit rund 55 000 Mann kaum die Hälfte des Kaderpotentials bereits zur Verfügung. Die bis Mitte 1953 über 60 000 neugeworbenen Freiwilligen für die militärischen Einheiten, zumeist junge Männer, die gerade ihre Berufsausbildung abgeschlossen hatten, entzog man der Volkswirtschaft40. Wie sehr sie letztlich in der Produktion fehlten, zeigten im Frühjahr 1953 Aufrufe der FDJ an junge Mädchen, ihre »Tat für den Frieden« durch die Besetzung des Arbeitsplatzes eines zur KVP geworbenen männlichen Jugendlichen zu leisten. Gleichlaufend mit der Aufstellung der Einheiten begann die Zulieferung der Bewaffnung und Ausrüstung, analog des sowjetischen Modells. Moskau lieferte aus den nach Kriegsende demobilisierten Waffenbeständen im Mai und Juni 1952 427 Panzer, 128 Selbstfahrlafetten, 134 Schützenpanzer sowie Artillerie und Handfeuerwaffen in großer Stückzahl in die DDR. Es folgten 1953 weitere Lieferungen, so u.a. der Flugzeuge MiG 15, Jak 11 und Jak 18 in ähnlicher Größenordnung41. Bis Ende 1952 waren so Schulden für Rüstungsgüter in Höhe von 120 Mill. Rubel aufgelaufen. Diese hatte die DDR, wenngleich zum Teil relativ langfristig kreditiert, mit hochwertigen Exporten des Maschinenbaus und der chemischen Industrie zu bezahlen. Die notwendige Erfüllung der Exportverpflichtungen riß bedeutende Lücken in das für eine erweiterte Reproduktion in der DDR erforderliche Industriepotential. Die UdSSR behielt letztendlich ihr Monopol für Waffenlieferungen an die NVA und die Sicherheitsorgane der DDR bis zum Untergang dieses Staates bei. Die DDR war ökonomisch nicht in der Lage, die von Moskau gewünschte Rüstungsindustrie zu realisieren. 1952 allerdings gab es getreu den sowjetischen Weisungen mit einem enormen wirtschaftlichen Kraftaufwand den Versuch dazu. Auch hier standen handfeste sowjetische Interessen im Hintergrund. Durch die Betonung der konventionellen Kriegführung in der sowjetischen Militärstrategie kam der DDR aufgrund ihrer geographischen Lage eine herausragende Bedeutung zu, der 1952 auch aus rüstungswirtschaftlichen Überlegungen Rechnung getragen werden sollte. Die sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland hatten im Kriegsfall als erste strategische Staffel im Vorfeld des Territoriums der UdSSR den 39 40

41

Vgl. ebd., Bl. 32. Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Zu militärhistorischen Aspekten, S. 364. Vgl. Diedrich/Wenzke, Die getarnte Armee, S. 283 f.

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Gegner aufzuhalten, bis die zweite strategische Staffel aus dem polnischsowjetischen Raum zum Gegenangriff herangeführt war. Als Ziel formulierte die sowjetische Strategie, die Kampfhandlungen schnellstmöglich auf gegnerisches Territorium zu tragen. Damit kam dem DDR-Territorium die Rolle als Operations- und folgend als Durchmarschgebiet zu, was hohe Reparatur- und Instandsetzungskapazitäten, ein intaktes und belastbares Verkehrs- und Nachrichtennetz sowie entsprechende materielle und medizinische Reserven fur die Versorgung großer Truppenkörper bedingte. Daraus resultierten Interessen der UdSSR an der Entwicklung einer weitverzweigten Reparatur- und Instandsetzungsindustrie in der DDR, der Handfeuerwaffen-, Munitions- und Sprengstoffherstellung, einer ausgeprägten Kfz-Fertigung, aber auch einer Luftfahrt- und Werftindustrie. Genau diese Zweige waren es, für die seit dem Frühsommer 1952 die Planungen liefen bzw. deren Ausbau in Angriff genommen wurde. Das Ausmaß dieser Planungen kann hier nur an einem Beispiel verdeutlicht werden. Anders als bei Land- und Lufteinheiten sollte die DDR die Ausrüstung der VP-See von vornherein aus dem eigenen Marinebauprogramm sicherstellen. Das 1952 ausgearbeitete und im März 1953 vorgelegte Marinebauprogramm, das »Zeuthener Protokoll«, sah bis 1956 den Aufbau von Marinestoßkräften mit Fregatten, Schnellbooten, U-Boot-Jagdschiffen und U-Booten in einer Gesamtzahl von 139 Front- und Kampfschiffen vor. Dies hätte eine gewaltige Erweiterung der Werftkapazitäten der DDR erfordert. Die Planung sah ein Investitionsvolumen von 810 Mill. Mark und die Einstellung von 10 000 Arbeitskräften sowie den Aufbau eine Hilfsindustrie von 16 Werken als Zulieferer vor42. Das Projekt erwies sich als nicht realisierbar. Es scheiterte an den unzureichenden ökonomischen Potenzen der Werft- und Zulieferindustrie. Ahnlich sah es beim Aufbau der Flugzeugindustrie aus, deren Planung bis 1955 ein Investitionsvolumen von 1,1 Mrd. Mark vorsah. Besonders stark trafen die Aufrüstungsanstrengungen die Bau- und die Textilindustrie. Für die TV Pasewalk mußten in den Wäldern des Nordostens allein 54 Kasernen und 650 Wohneinheiten neu gebaut werden. Hinzu kamen Anforderungen zum Bau von Häfen und Flugplätzen sowie anderer Wehrbauten. Diese dringlichen Forderungen verschlangen einen Großteil der Mittel und Kapazitäten der Bauindustrie, die angesichts der Wohnungsnot im zivilen Sektor wesentlich nützlicher hätten verwendet werden können. Auch in der Leichtindustrie kam es zu bedeutenden Verschiebungen im Produktionssortiment. Auf die Textilindustrie kamen Anforderungen zur Herstellung Tausender Uniformen und anderer Bekleidungsstücke nicht nur für die KVP, sondern auch für den Dienst für Deutschland und die GST zu. So konnte die Uniformbestellung von 60 000 Garnituren mit einem Wert von 44,5 Mill. Mark nur realisiert werden, indem andere Bereiche der Pro42

Vgl. hierzu ebd., S. 288 f.

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duktdon gedrosselt wurden. Gewaltsame Planänderungen gab es ebenfalls bei Holz- und Kulturwaren durch Regierungsaufträge zur Versorgung der KVP43. Es nimmt nicht wunder, daß sich die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum, Textilien und anderen Gütern 1952/53 auch aus diesen Gründen drastisch verschlechterte. Wie in anderen Ostblockstaaten 1951/52 auch44 wurde 1952 mit sowjetischer Weisung begonnen, die Schwerindustrie als Basis der künftigen Wehrkraft auszubauen. Investitionen liefen in die Schwerpunktbereiche, die der Produktion für zivile Zwecke mußten zurückgestuft werden. Das verstärkte die Disproportionen in der DDR-Volkswirtschaft. Akkumulations-, Grundmittel und Arbeitsvermögen gingen der Wirtschaft zudem durch den beginnenden Aufbau einiger Sektoren der Rüstungsindustrie verloren. Diese erlangten, wie andere Schwerpunktbereiche, Priorität gegenüber zivilen Wirtschaftszweigen und erhielten demzufolge bevorzugt Investitionsmittel, Produktionsmittel, Arbeitskräfte und vor allem sogenannte Engpaßmaterialien, die wiederum zumeist der Konsumgüterindustrie entzogen wurden45. Die Größe des Schadens für die Volkswirtschaft läßt sich heute kaum noch verifizieren, Meldungen aus allen Wirtschaftsbereichen über Materialmangel und letztlich nur mit Mühe aufrechterhaltene einfache Reproduktion lassen jedoch das gewaltige Ausmaß erahnen. Da ein großer Teil der DDRProduktion als Reparationsleistungen, SAG-Produkte und letztlich auch als Gegenleistung der DDR für die gelieferte Militärtechnik in die UdSSR abfloß, waren auch von dieser Seite die Reproduktionsmöglichkeiten der Industrie beschränkt. Der DDR-Maschinenpark stammte durchschnittlich aus dem Jahr 1920, die Modernisierung der veralteten Produktions anlagen in der DDR war dringend notwendig, jedoch kaum möglich. Innovative Entwicklungen in der Industrie blieben so lediglich auf Schwerpunktbereiche beschränkt. Zuliefer- und Konsumgüterproduktion hinkten in ihrer Entwicklung hinterher, was zu Störungen im Fertigungsablauf und zu einer wachsenden Schieflage in der Volkwirtschaft führte. Doch auch die Kosten der Aufrüstung zeitigten deutliche Rückwirkungen auf die Wirtschaft und alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Die DDR verbrauchte nach bisherigen überschlägigen Rechnungen 1952 allein für Militärausgaben im weiteren Sinne, d.h. für die eigene Aufrüstung sowie für die weiterhin zu zahlenden Besatzungskosten etwa 3,3 Mrd. und im Folgejahr 3,5 Mrd. DDR-Mark. Die genannten Beträge repräsentierten im 43 44

45

Vgl. ebd., S. 2 9 7 - 3 0 0 . So finden wir in der Volksrepublik Ungarn die gleiche Entwicklung wie in der DDR. 1951/52 orientierte die UdSSR Ungarn auf den vorrangigen Ausbau der Grundstoffund Schwerindustrie. Eine wirtschaftliche Krise des Landes zwang 1953 zu einem Kurswechsel, den Moskau kurz nach den politischen Veränderungen für die SED »empfahl«. Vgl. Janos, Der »Neue Kurs« in Ungarn, S. 71 - 92. Vgl. Diedrich, Der 17. Juni 1953 in der DDR. Zu militärhistorischen Aspekten, S. 364.

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Jahr 1952 elf Pro2ent und im Folgejahr immerhin noch zehn Prozent der gesamten Staatsausgaben. Bei einem zentralistischen Wirtschaftssystem fiel das um so mehr ins Gewicht, als nahezu alle Geldmittel der staatlichen Wirtschaft sowie aus Steuern und Abgaben im Staatshaushalt zusammenliefen und hier umverteilt wurden46. Zuzüglich der Reparationsleistangen und anderer Formen des Sonderverbrauches (z.B. für die Uran-Förderung der SAG Wismut) mußten 1952 mit ungefähr 6 Mrd. Mark insgesamt 20 Prozent und im folgenden Jahr mit 5,4 Mrd. Mark noch 16 Prozent aller Ausgaben des öffentlichen Haushalts als Militarisierungs- und Kriegsfolgekosten aufgebracht werden47. Im Vergleich dazu verbrauchten das gesamte Gesundheitswesen der DDR nur 6 Prozent, die Volksbildung 8 Prozent der Haushaltsausgaben. Alle diese Ausgaben waren ob der kurzfristigen Anweisungen aus Moskau in den Wirtschaftsplänen der DDR nicht enthalten und folglich auch nicht bilanziert, d.h. durch Einnahmen abgedeckt. Der Volkswirtschaftsplan der DDR vom März 1952, d.h. vor den April-Gesprächen, hatte an Militärausgaben fur die HVA 178,2 Mill., für die HVS 20,6 Mill., d.h. rund 200 MilL Mark vorgesehen. Demgegenüber standen 1952 tatsächliche Aufwendungen für den Streitkräfteaufbau von 1228,8 Mill. Mark. Das entsprach einer Steigerungsrate auf über 600 Prozent. Eine aus dem Frühjahr 1953 stammende Wirtschaftsanalyse48 verdeutlichte dann auch die ökonomische Gesamtmisere der DDR. Im 1953 hatte die DDR Außenhandelsrückstände in Höhe von 549 Mill. Rubel, allein gegenüber der UdSSR von 382 Mill. Rubel. Dabei waren die teuren Waffenlieferungen aus der UdSSR zu 75 Prozent auf zehn Jahre kreditiert. Allein von den Aufrüstangsmaßnahmen waren für die Luftfahrtindustrie 150 Mill., für strategische Maßnahmen des Verkehrswesens 120 Mill., für zusätzliche Rohstoffimporte etwa 100 Mill., für zusätzliche Lieferungen an die UdSSR als Waffenimportgegenleistung 350 Mill. DDR-Mark trotz aller Sparmaßnahmen im Haushaltsplan nicht abzudecken. Das ergab eine Gesamtsumme von 1,1 Mrd. Mark Staatsschulden, die zu Buche schlugen. Tatsächlich versuchte die SED-Führung durch Einsparungen im sozialen Bereich, in der staatlichen Verwaltung und der Wirtschaft sowie durch Steuererhöhungen die Löcher im Haushalt zu stopfen — so wie in einem Memorandum aus Moskau vom Mai 1952 vorgeschlagen worden war49. Bewußt nahm man für die Hochrüstung das Sinken des Lebensstandards der Bevöl-

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47 48

49

Vgl. hierzu Baar/Müller/Zschaler, Strukturveränderungen und Wachstumsschwankungen, S. 5 5 - 6 0 ; Karisch, »Ein Buch mit sieben Siegeln«, S. 2 8 2 - 3 0 6 . Vgl. Diedrich, Aufrüstungsvorbereitung, S. 2 7 3 - 3 3 6 . SAPMO-BArch, D Y 30/IV 2/201/1, Bl. 1 - 8 5 , Bericht des Büros des Politbüros der SED »Die Entwicklung der Parteiarbeit seit der II. Parteikonferenz«, o.D. Vgl. zur Rüstungswirtschaft Diedrich/Wenzke, Die getarnte Armee, S. 2 6 4 - 3 1 4 .

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1. Der Weg in die Krise

kerung in Kauf, doch die Einsparungen reichten nicht aus. Eine möglichst schnelle Erhöhung der Arbeitsproduktivität sollte das Problem lösen. Die militärpolitischen Maßnahmen der SED erstreckten sich jedoch nicht nur auf den Aufbau von Streitkräften. Die Umsetzung von Stalins Idee — besser gerüstet zu sein als der Gegner — implizierte, die Gesellschaft für die erwünschte Verteidigungsbereitschaft zu mobilisieren. So ist bis Mitte 1953 ein regelrechter Militarisierungsprozeß zu konstatieren. Den Aufbau einer Armee und den Aufbau der Rüstungsindustrie begleitete eine ideologische Kampagne der SED zur Begründung der Notwendigkeit des Schutzes der DDR und zur Erzeugung der Wehrbereitschaft der Bevölkerung, um so mehr, als sich aufgrund der schmerzlichen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges pazifistische Einstellungen in der gesamten Bevölkerung verbreitet hatten. Im Zentrum der wehrpolitischen Arbeit stand dabei die Jugend als Hauptzielgruppe. Im August 1952 beschloß die Regierung der DDR die Bildung der GST. Die Wehrsportorganisation erhielt die Aufgabe, insbesondere Jugendliche auf den Militärdienst vorzubereiten und in Grundlagen des Militärwesens auszubilden sowie ideologisch für den Wehrdienst vorzubereiten und zu motivieren. Grundlage bildeten die seit 1950 in der FDJ bestehenden Interessengemeinschaften für Sport, von denen 45 000 Mitglieder in die GST übertraten. Der Ausbau wurde mit außerordentlichem Tempo vorangetrieben, um so schnell wie möglich den Eintritt junger Männer in die KVP zu fördern. Offiziere und Unteroffiziere der ICVP unterstützten die Schulung der GST-Ausbilder wie auch die Wehrübungen der GST selbst50. Im selben Monat entstand, angelehnt an den Reichsarbeitsdienst des Dritten Reiches, der Dienst für Deutschland. Dem historischen Beispiel folgend, wurde im DD versucht, eine Dreieinigkeit von freiwilligem Arbeitsdienst, Wehrertüchtigung und ideologischer Erziehung zu verwirklichen. Die Organisation warb mit einem fröhlichen Lagerleben und der Mitwirkung an »Großbaustellen des sozialistischen Aufbaus«. Zum Einsatz kamen die Mitglieder 1952 aber vorerst im Nordosten der DDR beim Aufbau von Kasernen für die KVP. Geplant waren 66 Lager und eine Investitionssumme von 600 Mill. DM51. Tatsächlich erreichte der DD aber nie das geplante Ausmaß. Unlösbare Probleme deuteten sich bereits im Spätherbst 1952 an, als esnicht gelang, vor dem Winter die notwendigen Barackenlager aufzubauen sowie die Versorgung der über 6000 Mitglieder materiell und medizinisch in ausreichendem Maße sicherzustellen. Der Versuch scheiterte im Frühjahr 1953 endgültig daran, daß die Kosten den Nutzen der Organisation weit überschritten und das Interesse der Jugend am DD in keiner Weise den Wünschen der SED-Führung entsprach52.

50 51 52

Vgl. hierzu Heider, Die GST, S. 13 - 24. Vgl. SAPMO-BArch, NY 90/449, Bl. 1 - 22, Aufbauplan DD vom August 1952. Vgl. Diedrich, Der »Dienst für Deutschland«, S. 153-167.

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Die genannten Organisationen kosteten nicht nur Geld, sie entwickelten auch einen großen Personalbedarf. Für die GST und den DD sowie fur das DRK wurde 1952 ebenso wie für die KVP und die anderen bewaffneten Organe unter der Jugend massiv und auch mit politischem Druck geworben. Seit 1949 war die mehr oder weniger offene Werbung für den Polizeidienst unter der Jugend nichts Ungewöhnliches. Seit dem März 1952 jedoch setzte eine regelrechte Kampagne ein, um den durch die vorgegebene Armeegröße enorm gestiegenen Personalbedarf zu realisieren. Die Regierenden erklärten die Werbung zur »vordringlichsten Aufgabe der Partei und der FDJ«53. Die Massenorganisationen und eine nicht geringe Zahl staatlicher Institutionen wurden in die Wehrvorbereitung und Werbemaßnahmen für die KVP eingebunden. In den Bezirken und Kreisen entstanden über 200 Registrierverwaltungen und -abteilungen, in den Betrieben Werbekommissionen für die Auswahl und Überzeugung Freiwilliger für die KVP. Letztlich lenkte die FDJ mit der Übernahme der Patenschaft über die Volkspolizei auf ihrem IV. Parlament im Mai 1952 den Schwerpunkt ihrer gesamten Tätigkeit in diese Richtung. Ähnliche Aufgaben stellte die SED-Führung den Grundorganisationen der Partei in den Betrieben sowie den staatlichen Leitern. Ein wachsender Druck entstand auf die Jugend, ein Druck, der auch in die Arbeitskollektive und in die Familien hineinwirkte. Als Einstellungsfrage zu Sozialismus und SED-Staat deklariert, fiel es schwer, eine ablehnende Haltung zum Dienst in der KVP oder dem DD bzw. zu einer Mitgliedschaft in der GST zu bekunden, ohne in den Verdacht einer staatsfeindlichen Einstellung zu geraten. Sollzahlen erhöhten den Druck auf die Werber, die nun ihrerseits ideologischen und moralischen Druck auf Unwillige, deren Frauen und Eltern ausübten. Widerstrebende Jugendliche rief man in den Betrieben mehrfach vor die Werbekommissionen und drohte ihnen berufliche Schwierigkeiten an, wenn sie sich nicht zur KVP meldeten. SED-Genossen mußten vor ihrer Grundorganisation Stellung nehmen, wenn sich ihre Söhne weigerten, dem SED-Staat militärisch zu dienen. Sogar auf die Mütter wurde im Demokratischen Frauenbund Deutschlands Einfluß auszuüben versucht54. Die ideologischen Kampagnen der Staatspartei zum Schutz der DDR und die Werbung machten damit vielen Bürgern in allen Schichten der Bevölkerung die Aufrüstung in der DDR gegenwärtig. Die aggressiv geführte Werbung ist ursächlich verantwortlich für den deutlichen Anstieg der Zahl der Flüchtlinge, besonders der Jahrgänge zwischen 18 und 25 Jahren. Diese breite Teile des gesellschaftlichen Lebens in der DDR erfassende Wehrvorbereitung, -mobilisierung und -erziehung lassen klare Merkmale einer

53

54

SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/1.01/191, Bl. 15, Referat Ulbrichts auf der Konferenz der Ersten Kreissekretäre der SED vom 23.4.1952. Zur Werbung siehe Diedrich/Wenzke, Die getarnte Armee, S. 169 -180.

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Militarisierung der Gesellschaft erkennen55. Einige wenige Merkmale sollen hierfür herausgehoben werden. So breiteten sich neben den bereits genannten deutlichen äußeren Anzeichen der Militarisierung militärisch-autoritäre Organisationsformen und Führungsprinzipien auf zivile Bereiche, insbesondere die Wirtschaft, die Betriebe und solche Massenorganisationen wie die FDJ und die GST, aus. Selbst die Jüngsten, die Kinder, blieben nicht von Versuchen verschont, die Gesellschaft frühzeitig auf die »Verteidigung der Heimat« einzuschwören. Die seit 1948 schubweise monopolisierte Kinderorganisation »Junge Pioniere« verbreitete die Wehrideologie in Arbeitsgemeinschaften, Schulzirkeln und Sportgruppen. In Sommer- und Wochenendlagern hielten militärische Rituale Einzug, Geländespiele und Nachtwanderungen mit Karte und Kompaß sowie militärische Mehrkämpfe prägten das Freizeitangebot zunehmend. Die Rüstungsproduktion und der Verteidigungshaushalt erhielten eine staatsrechtliche Sonderstellung im Staatshaushalt. Sie entzogen sich zudem jeder Kritik. Im Gesamtgefüge der Gesellschaft deutlich nachzuweisen ist die Abkehr von den pazifistischen Parolen noch auf dem Deutschlandtreffen 1950 hin zu einer radikalen Wehrpropaganda mit betonten Feindbildern und Haßerziehung. War die ideologische Erziehung in der DDR bereits vor 1952 von starken Dogmen geprägt, so ging es jetzt verstärkt um eine politische Indoktrination mit wehrpolitischem Hintergrund. Es sollte die Grundüberzeugung gesät werden, daß in der DDR eine a priori fortschrittliche, friedensbereite Gesellschaftsordnung einer historisch überholten und kriegslüsternen im Westen gegenüberstehe. Den Bürgern und insbesondere der Jugend wurde wissentlich ein überhöhtes Bild der Bedrohung durch die USA und die Bundesrepublik vor Augen geführt, um sowohl die Verteidigungsbereitschaft zu erzeugen als auch den DDR-Staat und die Aufrüstung zu legitimieren und letztlich das politische System nach innen zu stabilisieren. Dem diente die These von einem sich permanent verschärfenden Klassenkampf, unter der spätestens seit 1952 radikal gegen Andersdenkende und vermeintliche Gegner der DDR vorgegangen wurde. Diese »Erziehung zum Haß auf den Massenfeind« hatte nicht nur ideologisch einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Denken der Bevölkerung gelegt, sondern in seiner repressiven Auslegung eine deutliche Kluft zwischen Volk und Regierung geschaffen. Anfang der fünfziger Jahre war das gesamtdeutsche Denken und die Nähe der Menschen in Ost und West wesentlich ausgeprägter als nach der gegenläufigen Sozialisation im Gefolge des Mauerbaus in den siebziger und achtziger Jahren. Feindbildpropaganda und Haßerziehung schufen folglich zusätzlich ein geistiges Konfliktpotential in der Bevölkerung, welches sich im Volksaufstand endud. Typisch für den Militarisiemngsprozeß in der Gesellschaft war, daß die Aufrüstung und ihre Finanzierung jeder öffentlichen Kontrolle entzogen 55

Vgl. hierzu Diedrich/Ehlert/Wenzke, Die bewaffneten Organe der DDR, S. 1-67.

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waren. Nachweislich hatten selbst die Parteien des Demokratischen Blocks keine Kenntnis der genauen Pläne und Maßnahmen. Auch im Zentralkomitee und sogar im Politbüro der SED wußten nur wenige über das Gesamtausmaß der Hochrüstung Bescheid. Die Blockparteien waren von der SEDFührung nur zu der bekannten Zustimmungserklärung »Wer heute Frieden will, muß die Verteidigung des Friedens wollen« im Juni 1952, also für eine formaldemokratische Legitimation, gebraucht worden. Die Aufrüstungsmaßnahmen stießen, wie Analysen aus Moskauer Archiven beweisen, beim überwiegenden Teil der Menschen auf Skepsis, wenn nicht sogar auf Ablehnung. Zu frisch waren die Narben des verlorenen Weltkrieges, zu stark die Furcht vor einem erneut militaristischen Deutschland. Deutlich sahen viele DDR-Bürger in der Aufrüstung ihres Staates auch einen weiteren Schritt zur Zementierung der Spaltung ihres Vaterlandes. Trotz der Bemühungen der staatlichen Organe, die konkreten Tatsachen über den Aufbau der KVP geheimzuhalten, drang vieles durch Flüsterpropaganda, aber vor allem auch westliche Medien in das Bewußtsein der Bevölkerung. Insbesondere der RLAS hatte es sich zur Aufgabe erkoren, die Aufrüstung in der DDR zu brandmarken. In der viel gehörten Sendung »Berlin spricht zur Zone« berichteten die Autoren (Mitarbeiter der KgU) über die schlechte Lebenslage innerhalb der KVP, über Alkoholexzesse und Randale und beschrieben den Zustand der KVP als desolat. Ziel war es, »die KVP in den Augen der Bevölkerung zu diskreditieren, die Offiziere zu verunsichern und letztlich wohl auch die Zahl der Deserteure zu erhöhen56«. Gleichzeitig zeigte der RIAS immer wieder den Zusammenhang zwischen den enormen Ausgaben für die KVP und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten in der DDR auf57. Im Zusammenhang mit der sich verschlechternden Lebenslage der Menschen in der DDR wurde der Aufbau der KVP als bedrückend empfanden, zumal KVP-Angehörige materiell und sozial bedeutend besser gestellt waren als die Arbeiter in der DDR. Lag deren monatlicher Lohn 1952 im Durchschnitt bei 318,- Mark, erhielt ein Leutnant der KVP je nach Dienststellung zwischen 500,- Mark und 1050,- Mark58. Vergünstigungen wie Wohn- und Heidergeid, Verpflegungs- und Trennungszuschüsse sowie eine weitgefächerte soziale Absicherung kamen bei letzterem hinzu.

56 57

58

Wacket, »Wir sprechen zur Zone«, S. 1041. Vgl. zum RIAS Der RIAS am 16. und 17. Juni 1953; Chamberlin/Wetzel, Der 17.Juni und der RIAS, S. 1 6 5 - 1 9 0 ; Rexin, Die Rolle des RIAS am 16./17.Juni, S. 1 6 - 2 2 . Vgl. Statistisches Jahrbuch der DDR 1955, S. 98; BA-MA, DVH 3/5237, Bl. 76 ff. Der Sold des KVP-Soldaten setzte sich aus Bezügen fur Dienstgrad (Soldat 300,DM, Gefreiter 330,- DM, Leutnant 350,- DM usw.) und Dienststellung zusammen. Ein Leutnant erhielt als Zugführer 400+350 = 750,- DM. Dazu kamen Wohngeld und Treuezulagen. Vgl. ebd., DVH 3/2002, Bl. 14 ff. und Bl. 57 ff.

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1. Der Weg in die Krise

Wäre bekannt geworden, daß die Einsparungen insbesondere im sozialen Bereich der Bevölkerung in unmittelbarer Kausalität mit dem Aufbau der KVP und der Besserstellung ihrer Angehörigen standen, hätte dies wie ein Hohn auf die verkündete Phase vom Aufbau des Sozialismus gewirkt, denn betroffen durch diese Streichungen waren vor allem die Ärmsten in der Bevölkerung, z.B. die über zwei Millionen Rentner mit monatlichen Bezügen zwischen 65,- und 90,- Mark. Aus diesen, von der Bevölkerung erahnten Tatsachen, resultierten· im Juni 1953 viele Forderungen der Demonstranten, entwickelten sich aber auch Aversionen gegen die in ihren khakifarbenen Uniformen oft spöttisch als »nachgemachte Russen« bezeichneten KVPAngehörigen. Auf Ganze gesehen war die Militarisierung 1952/53 mitentscheidende Ursache der wirtschaftlichen und politischen Krise, die im Juni 1953 zur Arbeitererhebung in der DDR führte. Der Militarisierungsprozeß trug maßgeblich zu einer wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung bei. Vom Kurswechsel zur Regimekrise Unter den geschilderten äußeren Rahmenbedingungen begann in der DDR mit den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 die beschleunigte Realisierung des stalinisierten Sozialismusmodells. Die SED übernahm kritiklos die Entscheidung der KPdSU, die im Ausbau der DDR als politisches und militärisches Bollwerk gegen eine Bedrohung des internationalen Sozialismus durch den Imperialismus die vorrangige Aufgabe sah. In diesem Sinne leitete das ZK der KPdSU einen Kurswechsel in der Politik der SED ein. In die Erarbeitung der neuen politischen Grundsätze waren weder die Parteibasis der SED noch die anderen Parteien in der DDR mit einbezogen. Eine Verständigung mit den Bürgern des Landes über die weitreichende Politik zum Aufbau des Sozialismus in der DDR und über die Schaffung von Streitkräften fand nicht statt. Selbstherrlich setzte sich das Politbüro der SED unter dem Druck Moskaus damit über demokratische Grundnormen der Verfassung, über die Parteidemokratie und über das Statut der SED hinweg, welches eine Entscheidung über eine derartige Kursänderung nur einem Parteitag zubilligte. Zur Klärung der »Machtfrage« dekretierte die Entschließung der 2. Parteikonferenz den Ausbau der Staatsmacht. »Das Hauptinstrument bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus«, hieß es hier, »ist die Staatsmacht«59. Konsequent wurde in der Folge der Staatsaufbau nach den Erfordernissen der SED-Herrschaft reorganisiert. Aus den bis dahin noch vorhandenen fünf Ländern wurden ohne Verfassungsänderung vierzehn Bezirke geformt, Ostberlin war faktisch der fünfzehnte, ohne daß der Vier59

Protokoll der II. Parteikonferenz, S. 464.

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Mächte-Status Berlins offiziell angetastet wurde. Die Bezirksräte waren an die Weisungen des Ministerrates gebunden, die Bezirkstage formell der Volkskammer unterstellt. Alle Staats- und Wirtschaftseinrichtungen wurden zentralistisch den Bezirksstrukturen angepaßt. So entstanden auch Bezirksbehörden der Deutschen Volkspolizei (BDVP) sowie Volkspolizeikreisämter (VPKÄ) ebenso wie Bezirksverwaltungen (BV) und Kreisdienststellen (KD) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Gleiches traf auf die Gerichtsverfassung zu. Amts-, Landes- und Oberlandesgerichte wurden durch Kreisund Bezirksgerichte ersetzt, mit dem neuen Gerichtsverfassungsgesetz vom 2. Oktober 1952 wurde die Bildung des Obersten Gerichtes der DDR eingeleitet60. Gleichzeitig mit der Zentralisierung wurde die Unabhängigkeit richterlicher Gewalt weiter eingeschränkt. Damit waren die organisatorischen Grundlagen fur eine Politisierung und Radikalisierung der Strafjustiz in der DDR gelegt. Das auf der 2. Parteikonferenz der SED beschlossene Programm sah neben dem genannten politischen Hauptkurs entscheidende ökonomische Veränderungen vor61. An der Wirtschaftstheorie Stalins orientiert, sollte der volkseigene Sektor der Wirtschaft in kürzester Zeit auf Kosten des privatwirtschaftlichen Bereiches ausgebaut werden. Im Klartext hieß das nichts anderes, als daß die »Klassen«, die als Feinde des Sozialismus deklariert wurden und die nach Ansicht Stalins die wirtschaftliche Entwicklung hemmten, beschleunigt liquidiert werden sollten. Die Beschlüsse administrierten die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Intensivierung aller Bereiche der Volkswirtschaft sowie den vorrangigen Aufbau der Schwerindustrie als Basis für die ökonomische Entwicklung der DDR. Sie waren tatsächlich eine »Kampfansage an die Mittelschichten« in der DDR62. Aus der Idee der Überlegenheit der Planwirtschaft gegenüber der westlichen Ökonomie des Marktes glaubte die SED-Führung, im Rahmen der sowjetisch geprägten Gesamtpolitik des Ostblocks, mit dem ersten Fünfjahrplan von 1950 bis 1955 eine Entwicklung zu erzielen, die in ihrem Ergebnis einen höheren Lebensstandard in der DDR gewährleisten würde, als ihn die Bundesrepublik in diesem Zeitraum erreichen könnte. Man erhoffte sich daraus eine Magnetwirkung auf den anderen deutschen Staat, die hier, von der SED politisch unterstützt, ebenfalls zu einem gesellschaftlichen Umbruch in Richtung Sozialismus führen sollte63.

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61

62 63

Verordnung über die Neugliederung der Gerichte vom 28.8.1952, in: Gesetzblatt der DDR, T. 1,1952, S. 791. Falko Werkentin spricht mit Blick auf die Auswirkungen der Strategie der 2. Parteikonferen2 von einem »totalen sozialen Krieg« gegen die Bevölkerung. Vgl. Werkentin, Der totale soziale Krieg, S. 23 - 54. Kowalczuk, »Wir werden siegen ...«, S. 192. Vgl. Schulz, Der Weg in die Krise, S. 7 - 1 7 .

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1. Der Weg in die Krise

Zu dieser Hoffnung ermutigten die beachtlichen Erfolge des Zweijahrplans, mit welchem 1950 der Vorkriegsstand der durchschnittlichen Bruttoproduktion auf dem Gebiet der DDR erreicht worden war. Während jedoch die Stahlverarbeitung bereits wesentlich über dem Vergleichswert lag, erreichte die Stahlerzeugung nur einen um 40 Prozent niedrigeren Stand als 1939. Ursachen hierfür lagen in den nicht überwundenen Disproportionen aus der Teilung des einst einheitlichen deutschen Wirtschaftsmechanismus sowie in dem seit 1950 durch die Westmächte und die Bundesrepublik verhängten Stahlembargo64. In Anbetracht dieser Tatsachen sollte 1952/53 vorrangig die Schwerindustrie entwickelt werden. Eine nicht unwesentliche Motivation ging von der Erkenntnis aus, daß für den Aufbau einer Armee die Stahlerzeugung und -Verarbeitung zusätzlich gesteigert werden mußte. Allein für das Jahr 1953 sah die Planung vor, daß 50 Prozent aller Investitionen, die für die Industrie veranschlagt waren, in die Metallurgie fließen sollten. Daraus resultierende Probleme für die Konsumgüterindustrie waren unschwer abzusehen und wohl auch akzeptiert. Hatte die SED auf der 2. Parteikonferenz das politische und wirtschaftliche Programm beschlossen, so war es die 10. Tagung des ZK der SED vom 20. bis 22. November 1952, welche die exekutive Umsetzung der Beschlüsse präzisierte und vorantrieb. Die Plenarsitzung macht in drastischer Weise deutlich, wie die SED politisch und wirtschaftlich ihren »Sozialismus« durchzusetzen gedachte. Die erforderlichen Maßnahmen auf ökonomischem Gebiet erläuterte Ulbricht. Er verwies darauf, daß zur Durchsetzung des Kurses der 2. Parteikonferenz die ununterbrochene Steigerung der Arbeitsproduktivität bei ständiger Senkung der Selbstkosten in der Industrie notwendig sei. Es gelte zudem, die Überlegenheit der Produktionsgenossenschaften der Landwirtschaft gegenüber den privaten Einzelbauern herbeizufuhren. Das bedeutete nichts anderes als die Einschränkung der kapitalistischen Elemente in der Wirtschaft und die strengste Anwendung der Gesetze gegen Großbauern, Handel- und Gewerbetreibende. Ulbricht stellte fest, daß es mit der sozialistischen, der kapitalistischen und der privaten Warenproduktion drei Bereiche in der DDR-Wirtschaft gäbe, von denen die beiden nachgenannten die Volkswirtschaft störten. Das Handlungsmotiv müsse deshalb sein: »je umfassender der Bereich der sozialistischen Warenproduktion wird, um so mehr werden diese Störungen eingeengt und letzten Endes beseitigt65.« Die notwendige Intensivierung in der DDR-Wirtschaft wurde nun von der SED mit dirigistischen staatlichen Eingriffen gesteuert. Dazu nutzte man den gesamten Staatsapparat. Ulbricht hatte auf der 10. Tagung die 64

65

Vgl. Petzina, Deutschland und die wirtschaftlichen Folgen des Ost-West-Konflikts, S. 1 5 4 - 1 5 7 . SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/1/56, Protokoll der 10. Tagung des Z K der SED vom 20. bis 22. November 1952.

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Marschroute vorgegeben: »Die Stärkung der volksdemokratischen Grundlagen bedeutet die Lösung der ökonomischen Aufgaben [...] und die Beschränkung der kapitalistischen Elemente. Aber zugleich heißt das: Festigung der demokratischen Gesetzlichkeit, [...] Brechung des Widerstandes der gestürzten und enteigneten Großkapitalisten und Großagrarier und Liquidierung aller ihrer Versuche, die Macht des Kapitals wiederherzustellen. Dazu ist notwendig: die Stärkung des demokratischen Staatsbewußtseins in den werktätigen Massen und der Ausbau der staatlichen Sicherheitsorgane66.« Dementsprechend sollte gegen verzerrte und falsche Auffassungen vom Sozialismus und feindliche Ideologien vorgegangen werden. Im Verlauf der Tagung verdeutlichten Erich Honecker und Rudolf Herrnstadt die Lesart von Ulbrichts Worten. Honecker betonte, daß die Junge Gemeinde die ideologische Arbeit der FDJ untergrabe. Er setzte die kirchliche Jugendorganisation in das Beziehungsgefuge faschistischer Gruppen. Herrnstadt erklärte alle von kommunistischen Positionen abweichenden Meinungen zu »sozialdemokratischen Positionen«, die es zu bekämpfen gelte. Ein Magdeburger Genösse habe mit Sozialdemokraten in Westdeutschland gesprochen und Informationsmaterial mitgebracht. Dies sei Agententätigkeit. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß gerade Herrnstadt kaum ein Jahr später unter Anschuldigung sozialdemokratischer Positionen selbst aus dem ZK der SED ausgeschlossen wurde. Die Tagung macht in erschütternder Weise deutlich, daß mit dem wirtschaftlichen Kurs zum Aufbau des Sozialismus in der DDR ein politischideologisches Vorgehen verbunden war, das sich gegen alles richtete, was nach der von der SED-Führung verfolgten Sozialismusauffassung Stalins die sozialistische Entwicklung hemmte bzw. ihr zuwiderlief. Das gesamte System der Staatsmacht von der Administrative bis zur Justiz und zu den Vollzugsorganen wurde in den Prozeß der Stalinisierung der DDR und der Durchsetzung des »sozialistischen« Wirtschaftsmodells einbezogen. Durch diese Beschlüsse zur Liquidierung ganzer gesellschaftlicher Schichten und der danach praktizierten Politik kam der Verfassung der DDR nicht mehr Bedeutung als der eines Stück wertlosen Papiers zu. Die Politik der SED lief nicht nur den in der Verfassung verankerten allgemeinen Grundrechten des DDR-Bürgers zuwider, die SED setzte mit dieser Tagung ihren Kurs in Widerspruch zu wesentlichen Artikeln der Verfassung, die die Wirtschaftsordnung betrafen. Es war eine Politik, die in erheblichem Maße die Entwicklung der Krise in der DDR beförderte. Die seit dem Slansky-Prozeß 195267 in der CSR in allen Ostblockländem auf Betreiben Stalins verschärft geführte Auseinandersetzung mit dem »in66 67

Ebd.,Bl. 45. Rudolf Slansky, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, wurde 1952 in einem Schauprozeß als Feind der Revolution zum Tode verurteilt und hingerichtet. Im Sommer 1963 erfolgte seine Rehabilitierung.

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neren Feind« erfaßte all jene, die abweichende Auffassungen zu dem von der KPdSU verfochtenen Sozialismusbild artikulierten. Die Bandbreite derer, die argwöhnisch von den staatlichen Organen in der DDR beobachtet und gegen die mit staatlichen Repressivmaßnahmen vorgegangen wurde, reichte von linken Randgruppen der Kommunisten über ehemalige Sozialdemokraten, kirchliche Institutionen bis hin zu allen Schichten der Bevölkerung und ihren politischen Vertretern, die nicht der Arbeiterklasse angehörten. Mit der Verkündung des Aufbaus des Sozialismus in der DDR nahm die Handhabung des »inneren Feindbildes« verschärfte, teilweise exorzistische Züge an und schuf große Unsicherheit in der Bevölkerung. Zu leicht geriet man bei unbedachten Äußerungen, ja wohlgemeinter Kritik an der Parteibasis und in den Betrieben ins gesellschaftliche Abseits, was gleichbedeutend einen sozialen Abstieg, wenn nicht politische Verfolgung mit sich brachte. Damit wirkte die breite Gegnervision der SED gleichzeitig sozial und politisch disziplinierend, unterwarf die Menschen einer Art Eigenzensur, die nicht nur in hohem Maße die freie Meinungsäußerung unterband, sondern gesellschaftliche Strukturen in ihrer Entwicklung hemmte. Schönfärberei und Kritiklosigkeit auf allen gesellschaftlichen Ebenen wirkten, von der SED-Führung gefördert, in diesem Sinne systemerhaltend bis in das Jahr 1989. Auf der Grundlage der Richtlinien der 10. Tagung des ZK der SED begann in den Folgemonaten die Präzisierung und forcierte Durchsetzung der Beschlüsse der 2. Parteikonferenz der SED. Sie wurde in ihren ökonomischen Auswüchsen für jeden Bürger der DDR offensichtlich und spürbar und trieb die Unzufriedenheit der Bevölkerung entscheidend voran. Um die Löcher im Staatshaushalt zu stopfen, erhöhte die SED- und Staatsfiihrung die Steuern und Abgaben für Großbauern sowie für private klein- und mittelständische Unternehmer. 1952 arbeiteten in der DDR 16 753 private Industriebetriebe der verschiedensten Größenordnung. Sie erbrachten rund 20 Prozent der industriellen Bruttoproduktion der DDRWirtschaft und erzeugten fast 30 Prozent aller Konsumgüter. Die privatkapitalistische Industrie besaß somit ein beträchtliches ökonomisches Gewicht im Wirtschaftsmechanismus der DDR. Vom Herbst 1952 bis zum Frühjahr 1953 erließen staatliche Institutionen verschiedene Verordnungen, die es ermöglichten, Steuerrückstände rigoros ein2utreiben, Kredite zu kündigen bzw. neue zu verweigern und letztlich auch private Betriebe zu konfiszieren. Durch diese und andere Maßnahmen, z.B. die beschränkte Zulieferung von Rohstoffen und Halbzeugen, verschlechterten sich die Reproduktionsbedingungen für die privaten Unternehmen erheblich. Produktionsrückgang und Bankrotte nahmen Ende 1952/Anfang 1953 erheblich zu. Viele Unternehmer entschlossen sich, die DDR zu verlassen, da sie in diesem Staat keine Zukunft mehr sahen. Bei Nichterfüllung der Verpflichtungen drohten sehr harte Strafen nach Empfehlung der SKK — bis hin zum gewaltsamen Entzug des Eigentums.

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Die Justiz griff als exekutives Instrument immer mehr in diese Politik der Einschränkung und der Verdrängung »nichtsozialistischer« Schichten ein. Mit diesen Reglementarien und Zwangsmaßnahmen »gelang« es innerhalb eines halben Jahres, den Sektor der privaten Industrie physisch um 10 Prozent zu reduzieren68. Aufgrund der starken Verflechtung zwischen volkseigener und privater Produktion mußte jedoch dieser Liquidierungsversuch der SED auch spürbare Folgen für die gesamte Wirtschaft der DDR haben. Das zeigte sich vor allem mit Versorgungseinbrüchen in der industriellen Zulieferung wie im Konsumbereich für die Bevölkerung. Ähnlich gravierend war die Veränderung der Landwirtschaftspolitik 195269. Völlig unvorbereitet und unvermittelt traf die Bauern der Beschluß über die Kollektivierung der Landwirtschaft nach dem sowjetischen Kolchosprinzip, mit der die »Grundlagen des Sozialismus auf dem Lande« geschaffen werden sollten. Noch Ende 1951 hatte Otto Grotewohl auf dem III. Deutschen Bauerntag erklärt, daß die Regierung der DDR nicht beabsichtige, »Maßnahmen zur Durchführung der Kollektivierung der Landwirtschaft zu ergreifen«70. Ohne jedwede Aussprache wurden die Bauern 1952 mit den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz und den ersten eingeleiteten Maßnahmen konfrontiert. Bezeichnend für die selbstherrliche Politik der SED-Führung war die Erklärung Ulbrichts zu diesem Problem, daß aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen »das, was gestern richtig war, heute bereits überholt und unrichtig ist«71. Innerhalb weniger Monate stampften staatliche Institutionen im Sommer und Herbst 1952 über 2000 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) aus dem Boden. Für die materielle Absicherung der Veränderungen auf dem Lande mußte der Staatshaushalt etwa 1,5 Mrd. Mark außerplanmäßig zur Verfügung stellen. Die einsetzende staatliche Förderung der LPG lief in großem Maße zu Lasten der privat produzierenden Bauern. Zugleich erhöhte sich der ökonomische und administrative Druck auf die bäuerliche Wirtschaft. Einbezogen in die hochgeschraubten Planziele des Fünfjahrplans, sollten mit administrativen Maßnahmen und Forderungen die Produktionsleistungen bedeutend gesteigert werden. Das Ablieferungssoll stieg sowohl 1952 als auch 1953 weiter an und begann die Produktionsmöglichkeiten vieler Einzelbauern zu übersteigen. Insbesondere großbäuerliche Landwirtschaftsbetriebe wurden zudem von den Maßnahmen zur Zurückdrängung des privatkapitalistischen Sektors in der Landwirtschaft betroffen. Auch auf dem Lande sahen viele Einzelbauern keine weiteren Existenzmög68 69

70 71

Vgl. hierzu Tatzkow, Privatindustrie, S. 100. Vgl. zur Landwirtschaftspolitik Bauernkämper, Von der Bodenreform zur Kollektivierung; im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 besonders Mitter, »Am 17.6.1953 haben die Arbeiter gestreikt...«, S. 75-128. Vgl. hierzu Schulz, Ruhe im Dorf?, S. 105. Zit. nach ebd.

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lichkeiten in der DDR und verließen das Land. Mit rund 750 000 ha lagen Mitte 1953 etwa 13 Prozent des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens brach, ursächlich bedingt durch die verfehlte Landwirtschaftspolitik der SED gegenüber der ländlichen Privatwirtschaft. Rigoros trieben die Regierenden z.T. seit Jahren vorhandene Steuer- und Abgabenrückstände auf dem Lande sowie von Handwerkern, Einzelhändlern und Gewerbetreibenden ein und verringerten drastisch die Kredite an die Privatwirtschaftenden. Wer die Forderungen nicht mehr zu erfüllen vermochte, verlor seine soziale Existenz. Gleichzeitig griff die Justiz unter dem Vorwurf bewußten Boykotts oder Steuerhinterziehung erbarmungslos ein und erfüllte damit ihren Auftrag zur physischen Schrumpfung des Mittelstandes. Tausende »devastierter« Landwirtschaftsbetriebe wurden zugunsten der LPG enteignet. Allein von Februar bis Mai 1953 wurden 17 581 zumeist großbäuerliche Wirtschaften von den Staatsorganen übernommen, was einer Strangulation der privaten Landwirtschaft gleichkam72. Einer jener traurigen Willkurakte war die 1953 unter dem Namen »Aktion Rose« laufende Sequestrierung von Hotels und Pensionen im Küstengebiet der DDR. Die Gebäude wurden staatlichen Interessen zugeführt73. Viele Betroffene warteten die Zwangsmaßnahmen nicht ab und verließen vorher die Heimat in Richtung Westen. Die restriktiven Maßnahmen des »Klassenkampfes von oben« führten zu erheblichen Störungen der landwirtschaftlichen Produktion und verschärften die angespannte Versorgungslage der Bevölkerung. Die Folgen zeigten sich für die Bevölkerung der DDR sehr deutlich in den Geschäften. Obst und Gemüse wurden zur absoluten Mangelware, andere Lebensmittel konnten häufig nur in Verbindung mit stundenlangem Schlangestehen erworben werden. Für die Menschen in der DDR offenbarte sich die falsche ökonomische Politik drastisch in der Versorgung mit Konsumgütern und wachsenden Mängeln im Diensdeistungssektor. Die Geldeinkünfte der Werktätigen wuchsen, das Warenangebot jedoch nahm ab. Zudem erweiterte sich die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Arbeitsproduktivität und dem oft administrativ beeinflußten Lohngefüge zusehends. Die Anzeichen einer Krise mehrten sich. Die wachsenden Probleme in Industrie und Landwirtschaft der DDR blieben auch der SED- und Staatsführung nicht verborgen. Anfang 1953 erarbeitete eine Expertengruppe aus Funktionären des ZK und der Regierung eine Analyse zur wirtschaftlichen und politischen Lage in der DDR. In diesem internen Dokument sind, im Vergleich zu anderen Analysen und Berichten der SED-Führung, die Probleme in großer Offenheit angesprochen worden. Die Verfasser kamen zu dem Schluß: »In der gegenwärtigen 72 73

Vgl. Schulz, Der Weg in die Krise, S. 21. Vgl. Schwabe, Der 17. Juni 1953 in Mecklenburg und Vorpommern, S. 22-26 und 61.

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ökonomischen Lage der Deutschen Demokratischen Republik kann die gleichzeitige Lösung dieser Probleme (1. die Erfüllung der Reparationsverpflichtungen an die UdSSR; 2. die Realisierung des Staatsvertrages mit der UdSSR; 3. die Realisierung der Gewinne und sonstigen Leistungen der Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) und des Kontos Τ an die UdSSR; 4. die Erfüllung der Exportverpflichtungen und die Aufholung der Exportrückstände; 5. die Vorbereitung der Produktion von Verteidigungsmitteln; 6. die Bildung von Staatsreserven; 7. die Beseitigung der Rückstände in der Produktion; 8. die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung) im vorgesehenen Umfang nicht gesichert werden. Die Erfüllung eines strengen Regimes der Sparsamkeit und die Verbesserung der Wirtschaftsführung werden die Lage erleichtern, aber keinesfalls die Erfüllung der Hauptaufgaben garantieren können 74 .« Bezeichnenderweise rangierte die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung in der Aufgabenliste an letzter Stelle. Die hohen Reparationsleistungen der D D R an die UdSSR wirkten sich in starkem Maße hemmend auf die wirtschaftliche Entwicklung des ostdeutschen Staates aus. An die UdSSR erging deshalb im Frühjahr 1952 ein Ersuchen um Unterstützung durch zusätzliche Lieferungen von Konsumgütern in den Osten Deutschlands und vor allem um Erleichterungen bei den Reparationszahlungen, bei sonstigen Pflichtablieferungen und bei der Erfüllung der Exportverpflichtungen gegenüber der Sowjetunion. Eine Reaktion Moskaus erfolgte jedoch vorerst nicht. Den Kurs der Intensivierung und der Sparmaßnahmen behielt die DDRFührung bei. Zur Lösung der Probleme auf ökonomischem Gebiet legte sie Maßnahmen fest. Sie sahen Sparsamkeit in allen Wirtschaftszweigen sowie im Staatshaushalt und verschärfte staatliche Eingriffe und Kontrollen in der Wirtschaft vor. Zudem sollte eine Abkehr von »kapitalistischen Prinzipien der Industrienormen« und die Übernahme der sowjetischen Prinzipien erfolgen. Die Steigerung des Lebensstandards der Bevölkerung war u.a. durch Einschränkung der Lebenshaltung »kapitalistischer Elemente« vorgesehen 75 . Mit der Durchsetzung dieser Maßnahmen wurde die ökonomische Politik der 2. Parteikonferenz in erheblichem Maße verstärkt. Grundlage blieb das sowjetische Wirtschaftsmodell, bei dessen Realisierung auf das gröbste die nationalen Besonderheiten der D D R außer acht gelassen wurden. Der politische und ökonomische Hauptstoß richtete sich weiter gegen die kleinen und mittleren privatkapitalistischen Produzenten in Industrie und Landwirtschaft. Gleichzeitig verschärften die Regierenden die politische Disziplinierung. Mit einer umfassenden »Säuberung« von Staatsapparat und Wirtschaft nach Stalins Muster erhoffte die SED-Führung, Hemmnisse auf dem Weg zur sozialistischen Gesellschaft beseitigen zu können. Am 25. März 1953 zeich74 75

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/201/1, Bl. 28 f. Vgl. ebd., Bl. 31.

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nete Walter Ulbricht vor dem Politbüro das düstere Bild einer »totalen Unterwanderung der DDR-Wirtschaft durch Agenten und Akteure, die unbehelligt agieren könnten, da sich niemand um sie kümmert«76. So mußte es jedem Kritiker der SED-Politik bis in die ZK-Ebene eine Warnung sein, wenn die Frühjahrsanalyse 1953 offerierte: »Gegenwärtig erfolgt eine strenge Überprüfung der Parteimitglieder in ihren Funktionen, besonders derjenigen, die sich in westlicher Emigration befanden, Aufenthalt in Amerika oder Mexiko hatten und mit Trotzkisten in enger Verbindung standen. Dabei wird die Methode der Komplexüberprüfung durchgeführt, um der Gefahr, daß sich verdächtige Elemente absetzen, konsequent zu begegnen77.« Die Ängste Stalins, daß sich in den eigenen Reihen der Partei bis hin zu vertrauten Personen Agenten und politische Widersacher etablieren könnten, waren auch für die SED-Spitze um Ulbricht permanent vorhanden. In dem Maße, wie sich die Administrierung und Durchpeitschung eines politischen Kurses erhöhte, wie dieser Kurs auf wachsende Kritik stieß, nahm auch die Furcht vor politischen Gegnern zu, mehrte sich die Zahl der Überprüfungen und »Entlarvungen feindlicher Agenten« bis in höchste Gremien der SED78. Nicht zuletzt führte die SED-Spitze ökonomische und politische Probleme in der DDR immer wieder aus ihrer komplexen Feindbildvision auf das Wirken von außen eingeschleuster Agenten und das Hervortreten »innerer Feinde der Revolution« zurück. Gleichzeitig gab die ideologisierte Sicht auf innere Probleme die Handhabe zur Disziplinierung der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte. In diesem Zusammenhang offenbart die Analyse von 1953 in ihrem Absatz zur politischen Lage innerhalb der DDR in frappierender Weise die Stellung der SED zu den Parteien des Demokratischen Blocks: »Die Beschlüsse der 2. Parteikonferenz sowie die in der darauffolgenden Entwicklung aufgetretenen und enttarnten feindlichen Spionagemaßnahmen des Gegners erfordern neue Maßnahmen hinsichtlich der politischen Tätigkeit und der Struktur der LDP und CDU sowie auch der NDPD und des DBD [...] Die Hälfte der Funktionäre der bürgerlichen Parteien gehören dem reaktionären Flügel an, und ein Teil von ihnen ist offensichtlich als Agenten tätig79.« Gleichzeitig mit der Durchsetzung des Sozialismus in der DDR sollten offensichtlich die anderen »Hassen« und Schichten in der Gesellschaft und ihre politischen Vertretungen schrittweise zurückgedrängt werden. 76

77 78

79

Zit. nach: Mahlert, »Die Partei hat immer Recht!«, S. 439. Siehe auch Wilke/Voigt, »Neuer Kurs« und 17. Juni, S. 25 f. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/201 /1, Bl. 9. In der DDR wurden 1952/53 u.a. Dr. Hamann (LDPD) als Minister für Handel und Versorgung, die Staatssekretäre Albrecht (DBD) und Baender (SED) sowie Außenminister Dertinger (CDU) verhaftet und verurteilt. Aus der SED-Führung Schloß man Franz Dahlem, Paul Merker, Bruno Goldhammer und andere aus. SAPMO-BArch, DY 30, IV, 2/201/1, Bl. 8.

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Für Ulbricht und seine Anhänger kam die Krise in der DDR somit nicht überraschend, sie schien ihnen unvermeidlich. Der Generalsekretär des ZK der SED glaubte sogar eine Dialektik zwischen der Krise und der Theorie des sich permanent verschärfenden Klassenkampfes zu erkennen. So stellte Ulbricht in einem Artikel über die Lehren des XIX. Parteitages der KPdSU fest, es bestehe »kein Zweifel daran, daß anläßlich der kürzlich aufgetretenen Versorgungsschwierigkeiten die Vertreter der überlebten kapitalistischen Kräfte versucht haben, mit allen Mitteln die ökonomischen Gesetze des Kapitalismus im Kampf gegen die Schaffung der Grundlagen des Sozialismus auszunutzen. Es besteht kein Zweifel daran, daß die kapitalistischen Kräfte diesen Kampf verschärfen werden80.« Natürlich gab es in der DDR auch Privatwirtschaftende, die dem Staat bewußt schaden wollten und die Wirtschaft sabotierten. Ihnen stand jedoch die übergroße Mehrheit derer gegenüber, die sich in die DDR-Wirtschaft integrieren und mit ihrer Produktion ihr Auskommen sichern wollten. In ihrer einseitigen Sicht der Lage war die SED-Führung außerstande, grundsätzliche Kurskorrekturen in der Politik vorzunehmen. Vielmehr sollte aus den Argumenten die Legitimation erwachsen, die privatwirtschaftliche Warenproduktion mit ökonomischen und politischen Mitteln zu bekämpfen. Die Regierenden blieben auch bei der Überzeugung, daß der Aufbau des Sozialismus weder die Veränderung des ökonomischen Kurses noch die Vernachlässigung des Aufbaus nationaler Streitkräfte zulasse. Den ökonomischen Problemen müsse daher durch eine drastische Steigerung der Arbeitsproduktivität und durch die Beseitigung der Schere zwischen Lohnniveau und Planerfüllung zu Leibe gerückt werden. Überdies sollten durch intensive Sparmaßnahmen die Löcher im Staatshaushalt gestopft werden. Zur Entlastung der Aufwendungen aus dem Staatshaushalt beschlossen die SED-Spitze und die Regierung der DDR in den ersten Monaten des Jahres 1953 einschneidende Einsparungen, die in hohem Maße die soziale Versorgung der Bevölkerung betrafen. Der Streichung anheim fielen Erschwerniszuschläge für Schwerst- oder gesundheitsschädigende Arbeit. Der monatliche Haushaltstag für alleinstehende berufstätige Frauen wurde abgeschafft. Die traditionsreiche Errungenschaft der ermäßigten Fahrpreise zum Arbeitsplatz sowie die Fahrtkostenrückerstattung fielen ebenfalls weg. So konnte es geschehen, daß Lehrlinge aus abgelegenen Gegenden für die Fahrt zum Ausbildungsplatz monatlich mehr aufwenden mußten, als mit dem Lehrlingsentgelt abgedeckt werden konnte. Sie belasteten damit das Familienbudget ihrer Angehörigen zusätzlich. Tarife erfuhren zum Teil eine drastische Erhöhung, Leistungen des Gesundheitswesens wurden gekürzt. Beschäftigte mußten jetzt Urlaub nehmen, wenn sie einen aus medizinischen Gründen verordneten Kurplatz in Anspruch nehmen wollten. Mit der Beseitigung von Vergünstigungen für Indu80

Ulbricht, Lehren des XIX. Parteitages, S. 1307.

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striearbeiter, Lohnsenkungen in vielen Bereichen der Wirtschaft, Preissteigerungen und dekretierten Normerhöhungen sollte das Lohn-Preis-Gefüge in der DDR wieder ins Lot gebracht werden. In den ersten Monaten des Jahres 1953 führten der Rückgang von Lebensmittelimporten sowie das Sinken des Marktaufkommens der Landwirtschaft und der Industrie zu erheblichen Engpässen in der Versorgung der Bevölkerung. Mangel bestand auf dem Lebensmittelsektor vor allem an Zucker, Obst, Gemüse, Kartoffeln, Reis, Butter, Fetten und Ölen. Das Ministerium für Handel und Versorgung war bemüht, diese Lücken im Warenangebot insbesondere durch Rückgriffe auf Staatsreserven, Erhöhung der Importe und Verkaufsbeschränkungen zu verringern bzw. umzuverteilen. Frischgemüse und Obst bekamen nur noch Kinder und Diabetiker zugeteilt. Die HO-Geschäfte mit hohen Preisen, aber freiem Verkauf ohne Lebensmittelkartenbindung, erhielten Anfang 1953 keine Zulieferungen von Butter und Margarine mehr. Zur Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter beschlossen das Politbüro der SED und der Ministerrat der DDR im März und April 1953 erhöhte Leistungen in der Werksverpflegung. Da diese nicht entsprechend bilanziert waren, wies die Staatliche Plankommission zu Einsparungszwecken die Abschaffung der Intelligenz- sowie anderer Zusatzlebensmittelkarten an. Am 9. April 1953 verordnete der Ministerrat der DDR gar die Streichung der Lebensmittelkarten für Grenzgänger und »kapitalistische Elemente«81. Damit kam es zu der skurrilen Situation, daß Handwerker, Gewerbetreibende und andere »Besitzende« keine Lebensmittelkarten mehr erhielten und gezwungen waren, in den HO-Geschäften einzukaufen. Dort jedoch gab es aber weder Butter noch Margarine, von Zucker gar nicht zu reden. Oft traf der Entzug der Lebensmittelkarten Angehörige der Mittelschichten, von Unternehmern bis hin zu Hausbesitzern und selbständig Tätigen, noch härter, stürzte sie in eine Nodage. Einer alleinstehenden Witwe z.B. wurde die Karte gestrichen, weil sie ein Mietshaus besaß. Ihre Mietbezüge und die geringe Witwenrente reichten jedoch nicht aus, um für die notwendigen Reparaturen am Wohnhaus, geschweige denn für die erhöhten Aufwendungen zur Lebenshaltung aufzukommen. Die Frau verließ wie viele andere Menschen in jenen Monaten die DDR. Der Mangel an Lebensmittelprodukten führte zu Preiserhöhungen. Betroffen waren insbesondere Fleischwaren, Fette und Öle sowie Zuckerprodukte. Letztere wiesen zudem eine schlechtere Qualität auf, da die Zuckerkontingente für die Verarbeitungsindustrie reduziert worden waren82. Die gesamte Versorgungslage erzeugte im Frühjahr 1953 erhebliche Spannungen in der Bevölkerung und brachte ein wachsendes Maß an Unzufriedenheit mit sich. Der Komplex restriktiver Beschlüsse der SED- und 81 82

Vgl. Fricke, Der Arbeiteraufstand, S. 8. Vgl. hierzu Barthel, Die Versorgungskrise, S. 112 f.

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Staatsfuhrung wirkte sich fur jede Familie spürbar in sinkendem Realeinkommen bei steigenden Preisen aus. Preiserhöhungen mußten nicht nur in der Lebensmittelversorgung, sondern auch im Angebot der Industriewarenproduktion verzeichnet werden. Besonders Hausfrauen sahen sich beim Einkauf mit den wachsenden Versorgungsproblemen konfrontiert. Die Folge dieses politischen und ökonomischen Kurses war 1953 eine Fluchtwelle bis dahin nicht gekannten Ausmaßes. Verließen 1951 rund 166 000 und 1952 über 182 000 DDR-Bürger das Land, so wurden im ersten Halbjahr 1953 nicht weniger als 426 000 DDR-Flüchtlinge registriert83. Einen traurigen Höhepunkt markierte der Monat März mit allein 59 000 Menschen, die ihrer gewohnten Umgebung den Rücken kehrten. Das Ursachengeflecht für diese gigantische Massenflucht ist breit und reicht von rein privaten über ökonomisch-soziale bis hin zu eindeutig politischen Motiven. Insgesamt läßt sich feststellen, daß der gesamte Kurs der SED seit der 2. Parteikonferenz bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Unverständnis und Ablehnung stieß. Der soziale Frust der Bevölkerung erhielt durch eine Vielzahl anderer Faktoren weitere Nahrung. Eine besondere, noch tiefer zu untersuchende Rolle spielte das Nationalgefühl der Menschen und der unbedingte Wunsch nach Wiedervereinigung. Das bis 1952 allseitig proklamierte Ziel der Schaffung eines einheitlichen demokratischen Deutschlands entsprach nicht nur den Hoffnungen der Mittelschichten, sondern war in allen Bevölkerungsschichten fest verankert. Seit 1952 betrieben die Regierenden in der DDR eine für jeden spürbare Politik der Abschottung vom anderen Teil Deutschlands und von Westberlin. Im Mai und Juni 1952 traten auf Beschluß des Ministerrates der DDR »Maßnahmen zur verschärften Grenz Sicherung« in Kraft. Die Grenzlinie zur Bundesrepublik erhielt mit der Umsetzung der Polizeiverordnung vom 27. Mai 1952 Befestigungen und Stacheldrahtverhaue. Drei Autobahnen, über 180 Straßen und 32 Eisenbahnverbindungen wurden jäh unterbrochen. Jeder Grenzübertritt in den westlichen Teil Deutschlands war nun erlaubnispflichtig. Zuwiderhandlungen sollten mit bis zu zwei Jahren Gefängnis oder Geldstrafen bis 2000 DDR-Mark geahndet werden. Für den überwiegenden Teil der Bevölkerung hatten die Beschlüsse einschneidende Auswirkungen auf persönliche Beziehungen zu westdeutschen Verwandten und Bekannten. Dem Ziel der Verhinderung von illegalen Grenzübertritten vor allem von Ost nach West trug die im Mai 1952 erlassene Direktive zum verschärften Schußwaffengebrauch Rechnung. Der Befehl 20/52 des Ministeriums des Innern legte die Waffenanwendung bei bewaffnetem Widerstand, bei der Abwehr von Überfällen ohne Waffe sowie bei Fluchtversuchen fest. Der Tod an der Grenze bekam System. 83

Vgl. Ammer, Stichwort: Flucht, S. 1207.

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Für die Bewohner des grenznahen Raumes begann ein Leidensweg. Das Grenzgebiet zog sich durch 500 Ortschaften mit etwa 345 000 Einwohnern. Die Grenzabsperrungen waren mit Zwangsaussiedlungen aus dem Sperrgebiet verbunden. Allein Ende Mai/Anfang Juni 1952 wurden in einer Nachtund Nebelaktion 8175 »unzuverlässige« Personen aus dem Grenzgebiet ausgesiedelt. Insgesamt verloren über 12 000 Menschen ihr Haus oder die angestammte Wohnung84. Zusätzliche Erschwernisse für die Bewohner der 5-km-Zone brachte die Registrierungs- und Passierscheinpflicht für den Aufenthalt im Grenzgebiet. Sämtliche Besuche wurden damit genehmigungspflichtig. Einwohnern im 500-Meter-Schutzstreifen war der Aufenthalt im Freien nur von Sonnenauf- bis zum Sonnenuntergang erlaubt. Bauliche Veränderungen am eigenen Haus mußten von der Grenzpolizei genehmigt werden. Im Juni 1952 dehnte die DDR-Führung die Maßnahmen auf die Küstenregion und den »Ring um Berlin« aus. Zwar konnte gegenüber Westberlin aus Platzmangel keine Schutzzone eingeführt werden, doch erschwerte die SED-Führung Einreisen in die Westsektoren der Stadt. Die Kontrollmaßnahmen wurden verstärkt und eine Passierscheinpflicht für Westberliner und Bundesbürger zur Einreise in die DDR eingeführt. In Berlin unterbrachen die Behörden der DDR im Januar 1953 den durchgehenden Straßenbahnverkehr vom Ostteil der Stadt in die Westsektoren. Das erschwerte Grenzgängern aus beiden Teilen der Stadt den Weg zur Arbeit. Ab April 1953 erhielten in Ostberlin arbeitende Westberliner keine Lebensmittelkarten mehr. Bereits 1952 waren im Ostteil der Stadt über 1000 Ladenbesitzer aus Westberlin enteignet worden. Im November 1952 erließ die Regierung der DDR dann die »Verordnung zur Verhinderung der Spekulation mit Lebensmitteln und Industriewaren«. Diese untersagte den Verkauf von Konsumgütern an Westberliner Bürger, ein Verkauf, der zuvor als Beweis der Attraktivität der Wirtschaft der DDR gefördert worden war. Bezeichnend dafür war der propagandistische Slogan am Columbus-Haus am Potsdamer Platz: »Die kluge Westberliner Hausfrau kauft in der HO«. All diese Maßnahmen stießen in Berlin auf Unverständnis und Ablehnung, wobei die täglichen Kontakte zwischen Ost- und Westberliner Arbeitskollegen diesen Unmut transmittierten. Die Berliner fühlten sich als Bewohner einer Stadt, deren Teilung eine künstliche war und nur vorübergehend sein konnte. In diesem Verständnis dachten und handelten sie. Die »innerstädtische« Situation darf bei der Bewertung der Unruhen am 16. und 17. Juni in Berlin, insbesondere bei der Einschätzung der Teilnahme und Anteilnahme vieler Westberliner Bürger an den Ereignissen keinesfalls außer acht gelassen werden, sie wird erst in diesem Zusammenhang verständlich. Die wachsende Rechtsunsicherheit in der DDR war ein weiteres Problem, das die Menschen bewegte. Der Liquidierungsversuch »kapitalisti84

Vgl. hierzu Bennewitz/Potratz, Zwangsaussiedlungen.

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scher« Warenproduktion sowie die wachsende Furcht vor »inneren Feinden« rief in verstärktem Maße das MfS und die Justizorgane als Machtinstrumente des Staates auf den Plan. 1952/53 mehrten sich die Verfahren gegen »Wirtschaftsverbrecher«, »Saboteure« und »Agenten«. Viele der Verurteilten waren nicht frei von Schuld, so manchem, der die hochgesetzten Sollforderungen nicht erfüllen konnte, wurde jedoch bewußte »Wirtschaftssabotage« vorgeworfen. Vom 1. August 1952 bis zum 31. Januar 1953 leiteten die Justizorgane der DDR beispielsweise 1033 Verfahren gegen »Nichtablieferer« ein. 583 Prozesse wurden bis zum letztgenannten Zeitpunkt durchgeführt und 88 Vermögen konfisziert85. Für Nichterfüllung des Ablieferungssolls bzw. sogenannte Schwarzschlachtung konnten langjährige Freiheitsstrafen verhängt werden. Gegen andere »Wirtschaftsverbrecher«, wie etwa den Zittauer Orgelbauer Schuster, sprachen Gerichte mehrjährige Haftstrafen aus. Sein Vergehen bestand darin, Holz ohne Bezugsschein erworben zu haben86. In Güstrow verhafteten zwei Tage vor Pfingsten 1953 die Polizeibehörden den Mitinhaber der Sitzmöbelfabrik Bruchhäuser wegen Steuerhinterziehung. Ihm wurde vorgeworfen, er habe Schrott auf seinem Hof gehortet. Auf eine Bittschrift der Belegschaft antworteten die Behörden nicht, so daß es am 16. Juni in Güstrow vor dem Kreisgericht zu einer Protestkundgebung von rund 500 Handwerkern sowie Angehörigen des Inhaftierten kam87. Am 12. Juni kam es bei der Entlassung eines Betriebsbesitzers zu Tumulten vor einem Gefängnis in Brandenburg. Schnell sammelten sich hier etwa 5000 Menschen an, es kam zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, wobei der FDJ-Sekretär N. geschlagen wurde88. Derartige Fälle sind sicherlich extreme Beispiele, die jedoch keinesfalls die Ausnahme bildeten. Durchgeführte Schauprozesse zur Disziplinierung der Bevölkerung wie zur ideologischen Begründung des Vorgehens gegen die Mittelschicht bewegten Bauern, Handwerker und Unternehmer zum Verlassen der DDR. Immer häufiger jedoch äußerte sich der Unmut der Bevölkerung gegen die Justizorgane in Tumulten vor den Untersuchungsgefängnissen. Die genannten Beispiele in Güstrow und Brandenburg stellten durchaus keine Einzelfälle dar. Derartige Kundgebungen mehrten sich Ende Mai/Anfang Juni in der DDR und bekundeten eine wachsende Widerstandsbereitschaft 85

86 87 88

Vgl. ВAich, Bestand Mdl/HVDVP, 11/789, Bl. 46. Als die Akten eingesehen wurden, war der Bestand des Mdl mit den Akten der BDVP und VPKA noch geschlossen in Berlin. Inzwischen wurden die untergeordneten Bestände in die Landesarchive dieser Provenienz in die 5 Länder abgegeben. Dadurch wird eine zentrale Sicht auf die Polizei in der DDR erschwert. Da die neuen Signaturen nicht alle erfaßt werden konnten, sind die alten Signaturen, mit dem Bestandshinweis versehen, weiterverwendet worden. Vgl. Tägliche Rundschau, 15. Juli 1953. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/5/525, Bl. 72, LOPM-Berichte. Vgl. ebd, Bl. 84 f.

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der Bevölkerung gegen die politischen Maßnahmen der SED- und Staatsorgane. Zu einer ernsten politischen Belastung wurde gleichzeitig die Repression gegen Andersdenkende in der DDR. Die SED- und Staatsführung ließ in den Blockparteien, in Kreisen der Intelligenz und der Kirche verstärkt nach »Gegnern des Sozialismus« suchen. Als ein Beispiel sei hier nur das Vorgehen gegen die Mitglieder der Jungen Gemeinde im Frühjahr 1953 genannt. Die Verschärfung des staatlichen Vorgehens hing deutlich mit dem Ringen um den wehrideologischen Einfluß auf die DDR-Jugend zusammen, dem die pazifistische Grundeinstellung der Jungen Gemeinden zuwiderlief89. Oberschüler, die sich zur Jungen Gemeinde bekannten, wurden der Schule verwiesen, Lehrer aus dem Schuldienst entlassen, Studenten relegiert. Den Höhepunkt erreichte die von der SED gesteuerte und von der FDJ getragene Kampagne, als das Mdl die Junge Gemeinde am 28. April 1953 zu einer »illegalen Organisation« erklärte, ohne daß ein offizielles Verbot erfolgte90. Zwangsläufig führte die Politisierung der Strafjustiz zu einem sprunghaften Anstieg von Verhaftungen und Verurteilungen. Bislang ließ sich der Anteil derer, die aus politischen Gründen in Haft saßen, nicht ermitteln; Werkentin schätzt ihn jedoch angesichts der politischen Hintergründe auch bei verurteilten »Wirtschaftsverbrechern« wohl zu Recht auf 45 bis 50 Prozent91. Die Anzahl der Häftlinge im Gesamtmaßstab der DDR wuchs von 30 092 in 150 Haftanstalten im Juli 1952 auf 61 377 in 200 Haftanstalten im Mai 1953 an92. Im Mai 1953 war ein Gefängnisplatz durchschnittlich mit 3 bis 5 Häftlingen belegt, DDR-weit waren alle Haftanstalten zu 100 Prozent überbelegt, in Cottbus gar zu 350 Prozent93. Deutlicher konnte auch für die Bevölkerung in Stadt und Land die Rechtsunsicherheit nicht werden. Viele Menschen kannten Fälle von Verurteilungen für geringfügige oder zweifelhafte Vergehen. Doch auch für die »Klasse«, für welche die SED vorgab, ihre Politik zu führen, die Industriearbeiterschaft, wurde die Lage immer bedrückender. Schon die Einführung der Betriebskollektivverträge 1951 hatte die Erhöhung der Arbeitsleistungen bei Verschlechterungen der Rahmenarbeitsbedingungen, so bei Zuschlägen oder Freistellungen, enthalten. Seit Jahresanfang 1953 drängte die SED nunmehr auf eine freiwillige Normenerhöhung in den Betrieben. Ständig nahm der Druck der Normüberprüfungskommissionen und der SED-Funktionäre auf die Arbeiterschaft zur Initiierung einer 89 90 91 92

93

Vgl. hierzu Kaufmann, Agenten mit dem Kugelkreuz, S. 85 f. Vgl. Henkys, Die Opposition der »Jungen Gemeinde«, S. 149 ff. Vgl. Werkentin, Zur Dimension politischer Inhaftierungen, S. 141. Vgl. BArch, Bestand Mdl/HV Strafvollzug, 11/1571, Aufstellung der Haftanstalten und deren Belegung durch die HV Strafvollzug. Vgl. BArch, Bestand Mdl/HVDVP, 11/789, Bl. 46, Bericht des Mdl vom Mai 1953 sowie ebd., Mdl/HV Strafvollzug 11/1571, Statistik der Gefängnisbelegung.

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Bewegung »freiwilliger« Normerhöhungen zu. Nicht selten versuchten Funktionäre, die gestellte Aufgabe auf administrativem Weg durchzusetzen. Dabei hatten sich die Leistungen schon deutlich gesteigert. In der Berliner Stalinallee beispielsweise war bei Baubeginn die Vermauerung von 2500 Steinen die Höchsdeistung, im Sommer 1952 lag der Rekord bei 8400 Steinen pro Schicht. Trotz technischer Verbesserungen war diese Leistung im Vergleich zur kapitalistischen Akkordarbeit mit 1200 Steinen pro Schicht ein Vielfaches und Schwerstarbeit94. Mit dem neuen Normendruck und der Aussicht auf weniger Verdienst wuchs der Frust der Arbeiter. Zu Recht weisen Historiker darauf hin, daß es schon Ende 1952 und im Frühjahr 1953 in volkseigenen Betrieben der DDR häufiger zu kurzen Warnstreiks und Protestkundgebungen kam95. Ende 1952 gab es bei Versuchen zur Kürzung der Weihnachtszulagen eine regelrechte Streikwelle96. Oft brach sich der Frust aus geringfügigeren Anlässen Bahn, wie im Dezember 1952 in Magdeburger Schwermaschinenbaubetrieben, als es zu Unstimmigkeiten bei der Auszahlung der Jahresendprämien kam97. Im Hydrierwerk Zeitz brachten am 16. April 1953 Arbeiter auf einer Versammlung ihre Unzufriedenheit mit der Lebenslage in der DDR zum Ausdruck98. Im Nachhinein stellte die SED fest, daß die Streiks in einer größeren Anzahl von Betrieben vor allem wegen der Normerhöhungen erste Signale der bevorstehenden Eruption waren99. Sicher spielte dabei auch die Unzufriedenheit mit der gesamten Politik der SED eine Rolle, es fragt sich allerdings, ob dies berechtigt, hier schon von politischen Protesten zu sprechen. Die DDR-Führung war bemüht, all jene lokalen Proteste mit dem Mantel des Schweigens zu umhüllen; eher selten nahmen Lokalzeitungen zu Protesten Stellung, zumeist um diese als offene Provokation gegen die SED und die DDR zu brandmarken. Die Vorkommnisse jedoch drangen trotzdem in das Bewußtsein der Bevölkerung und schufen hier ein »Wir-Gefühl«, nicht allein zu sein mit der Unzufriedenheit. Hierbei spielten westliche Medien, insbesondere der RIAS, eine wesentliche Rolle. In der Senderubrik »Werktag der Zone«, ausgestrahlt vor Arbeitsbeginn, berichtete der Sender von Protesten und Streiks und forderte dazu auf, das Normendiktat zu boykottieren. Bereits 1951 hatte der Sender im Zusammenhang mit der Ablösung der Tarifverträge durch die Betriebskollektivverträge (BKV) eine Akti94 95

96 97 98 99

Vgl. Schulz, Der Weg in die Krise, S. 17. Vgl. u.a. Hagen, DDR - Juni '53, S. 2 8 - 3 1 ; Neubert, Opposition, S. 6 4 - 6 8 ; Mitter, Der »Tag X«, S. 20. Vgl. Der Tag X, S. 44 und S. 47. Vgl. Neuer Weg, 8 (1953), H. 4, S. 3. Vgl. Freiheit (Halle) vom 29.5.1953. Vgl. SAPMO-BArch, D Y 30/ I IV 2/205/15, S. 29, Analyse über die Vorbereitung, den Ausbruch und die Niederschlagung des faschistischen Abenteuers vom 16.-22.6.1953 vom 20.7.1953.

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on »Schnecke« zum Kampf gegen Normenerhöhungen initiiert. Seit März propagierte RIAS-Redakteur Gerhard Haas diese erneut. Am 24. März 1953 wandte er sich an die Arbeiter: »Es ist besser, jetzt gegen die Normenattentate zu protestieren als nach der Verordnung [...] Wer es nicht wagen kann oder möchte, seinen Protest gegen diese brutalste Ausbeutungsmethode durch Normenerhöhungen von oben offen zu bekunden, kann es gemeinsam mit Gleichgesinnten durch plötzliche und stillschweigende Normenuntererfüllung [...] In dieser ernsten Situation würden wirkliche freie Gewerkschaften den Generalstreik proklamieren100.« Die Sendungen, so kommentiert Hagen, grenzten »nach Inhalt und Sprache an einen Aufruf zum Handeln. Obwohl nach der Juni-Erhebung angesichts der massiven Beschuldigungen seitens der SED leitende Mitarbeiter betonten, der RIAS habe keinerlei Handlungsanweisungen oder Aktionsappelle gesendet, müssen wir annehmen, daß die sehr dichte Berichterstattung, die den Sender zu einer Gegenöffentlichkeit in der DDR werden ließ, in Verbindung mit mehr oder weniger scharf urteilenden Kommentaren wesentlich zur Erzeugung von Empörung und latenter Proteststimmung beigetragen hat [...] Mehr noch: Das Phänomen verbreiteter Gleichstimmung, das für die so atemberaubend schnelle Ausbreitung der Unruhen entscheidend werden sollte, ist mit Sicherheit durch das trotz aller Störversuche derart verbreitete Abhören der Sendungen aus Westberlin entscheidend gefördert worden101.« Die immer offensichtlicher werdenden Anzeichen der Empörung in der gesamten Bevölkerung nahm auch die SED-Führung, insbesondere das Politbüro, wahr. Die das ZK der SED aus den Bezirksleitungen erreichenden Berichte über Stimmungen und Meinungen verdeutlichten das rasante Anwachsen des Konfliktpotentials zwischen der SED-Politik und dem Willen der Bevölkerung. Um so unbegreiflicher ist es, daß die Parteispitze, allen voran der Dogmatiker Ulbricht, den Kurs noch verschärfte. Verfehltes Krisenmanagement Am 14. Mai 1953 trat das ZK der SED zu seiner 13. Tagung zusammen. Das Hauptreferat hielt erneut Ulbricht. Er erläuterte die Lehren des Prager Slansky-Prozesses102 und wandte sich gegen jedwede Abschwächung des Klassenkampfes. Es müsse im Gegenteil gegen überall anzutreffende 100 101 102

Zit. nach Wacket, »Wir sprechen zur Zone«, S. 1036 f. Hagen, D D R - J u n i ' 5 3 , S. 30. Die SED hatte die »Erfahrungen« aus diesem Prozeß bereits im Dezember 1952 (Beschluß vom 20. Dezember 1952) ausgewertet. Im Mai 1953 erfolgte dies noch einmal, um die SED zu einer verschärften Auseinandersetzung mit Andersdenkenden zu aktivieren.

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»Blindheit«, »Schlampigkeit« und »fehlende Wachsamkeit« energisch vorgegangen und »Kapitulanten« und »Volksschädlingen« der Kampf angesagt werden103. Danach widmete er sich der Normenfrage. Da der Appell zur freiwilligen Normerhöhung ergebnislos blieb, kündigte er »alle erforderlichen Maßnahmen zur Beseitigung des schlechten Zustandes in der Arbeitsnorm« an104. Das ZK beschloß, eine durchschnittlich zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnorm für die Produktion durchzusetzen. Am 28. Mai 1953 erließ der Ministerrat der DDR eine Verordnung zur generellen Normerhöhung in allen Betrieben der volkseigenen Industrie. Als Termin für die administrative Maßnahme wurde der 30. Juni, der Tag des 60. Geburtstages von Walter Ulbricht, festgesetzt. Nicht ohne Grund empfanden viele Arbeiter besonders die Terminsetzung als beißenden Hohn. Die in vielerlei Hinsicht berechtigte und notwendige Überarbeitung veralteter Normen ergab in ihrer schematischen Anwendung bei steigenden Anforderungen in der Produktion für viele Arbeiter eine reale Lohnsenkung von 25 bis 30 Prozent. Etliche konnten bei den allgemein niedrigen Löhnen (der Durchschnittsmonatslohn lag bei 322,- Mark im Jahr 1953) und den steigenden Lebenshaltungskosten nur durch die Übererfüllung der Normen ihrer Familie ein einigermaßen gutes Auskommen sichern. Von Lohnerhöhungen des Jahres 1952 waren die unteren Lohngruppen I bis IV kaum betroffen. Gerade bei diesen erwies sich ein Übererfüllungslohn als notwendiger Bestandteil des Familienetats. Hinzu kam, daß nicht selten tagelange Stillstandszeiten durch fehlendes Material die Erfüllung der Planziele in vielen Betrieben objektiv unmöglich machten. Der Versuch der SED-Führung, die ökonomischen Probleme in der DDR auf administrativem Weg zu beheben, brachte den Unmut der Bevölkerung auf den Siedepunkt. Letztendlich mehrten sich die Zweifel an der Aufrichtigkeit der Politik der SED zum »Wohle der arbeitenden Menschen«. Die gärende Unzufriedenheit unter den Berufstätigen begann sich immer offener zu dokumentieren. In den letzten Mai- und ersten Junitagen häuften sich die Arbeitsniederlegungen und Kurzstreiks in den verschiedensten Werken der DDR. Wegen verfügter Normerhöhungen kam es in Berlin im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Treptow und auf Baustellen zu Protesten. Im Bezirk Leipzig streikten Arbeiter am 15. und 16. Juni in den Betrieben »Ferna« in Roßwein, in der Kugellagerfabrik und im VEB Metallguss in Böhlitz-Ehrenberg105.

103 Vgl. Beschluß des Zentralkomitees vom 14. Mai 1953, in: Dokumente der SED, Bd 4, S. 394 ff.; BA-MA, DVH 3/2050, Bl. 72 ff. 104

105

Vgl. Beschluß des Zentralkomitees vom 14. Mai 1953, in: Dokumente der SED, Bd 4, S. 410 ff. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/5/527, Bl. 54, Bericht der Bezirksleitung der SED Leipzig vom 16.6.1953, 20.00 Uhr.

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Arbeitsniederlegungen gab es ferner in Gotha, Nordhausen, Karl-MarxStadt und anderen Orten. Die Krise in der DDR wirkte vollends auf die Arbeiterschaft zurück, die innere Entwicklung erfuhr einen kritischen Punkt. Die ökonomischen Erschwernisse und die sozialen Probleme schlugen in die neue Qualität der offenen Empörung um. Die Unumgänglichkeit politischer Veränderungen erkannten nunmehr sowohl die Kremlführung als auch die Regierung der DDR in Berlin. Nach dem Tode Stalins im März 1953 war urplötzlich ein Machtvakuum entstanden. In Moskau begann ein innerer Poker um die Macht. In Diadochenkämpfe verstrickt, überprüfte die Führung der KPdSU offensichtlich auch die bisherige Politik. Es deuteten sich nicht nur Veränderungen des innenpolitischen Kurses der UdSSR an, es wandelte sich auch die Deutschlandpolitik. Bereits im April 1953 äußerte die sowjetische Führung im Zusammenhang mit der Gewährung erster Erleichterungen bei der wirtschaftlichen Belastung der DDR — durch Aussetzung von Exportverpflichtungen und Reparationszahlungen — ihre Skepsis über den politischen Kurs der Ulbricht-Führung. Ende Mai 1953 erarbeitete das Präsidium106 der KPdSU einen Beschluß »Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik«107. Er wurde einer aus Otto Grotewohl, Fred Oelßner und Walter Ulbricht bestehenden Delegation des ZK der SED Anfang Juni in Moskau übergeben. Am 2. und 3.Juni berieten die SED-Funktionäre mit Vertretern der KPdSU-Führung über die Lage in der DDR. Als Hauptursache für die prekäre wirtschaftliche Lage und den Massenexodus aus der DDR wurde der Kurs der 2. SED-Parteikonferenz festgestellt, an dem die Moskauer Führung Mitschuld übernahm. Der Kreml empfahl der DDR-Regierung, den überhasteten Aufbau des Sozialismus abzubrechen und eine ausgewogene Politik von Wirtschaftswachstum und sozialer Absicherung der Bevölkerung einzuleiten. Dazu zählten eine rücksichtsvolle Kollektivierung der Landwirtschaft, die Förderung des privatwirtschaftlichen Sektors und des Konsumgüterbereiches der Industrie, die Durchsetzung der »Gesetzlichkeit« und die Einstellung des Kampfes gegen die Kirchen, Verbesserung des Lebensstandards und Gewinnung der Massen für die Politik der SED108. Bedrückt und verunsichert kehrte die dreiköpfige Delegation aus Moskau zurück. Am 5. und 6. Juni kam das SED-Politbüro zu einer vielstündigen Auf dem XIX. Parteitag der KPdSU im Oktober 1952 war das Politbüro in »Präsidium des ZK« umbenannt worden. 1 0 7 Hierzu mehr bei Wilke/Voigt, »Neuer Kurs« und 17. Juni, S. 4 2 - 4 8 . 108 Vgl. e bd., S. 649. An den Gesprächen nahmen teil: Berija, Bulganin, Chruscev, Kaganovic, Malenkov, Mikojan, Molotov, der neuernannte Hohe Kommissar Semenov und der neuernannte Oberkommandierende der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland Grecko. 106

1. Der Weg in die Krise

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Krisensitzung zusammen, an welcher der Hohe Kommissar Semenov teilnahm. Hörig wie gewohnt, wurde die sowjetische Weisung angenommen; der »Neue Kurs«, der hier beschlossen wurde, umfaßte genau die sowjetischen Punkte. An die Normen, die den Zorn der Arbeiterschaft erregten, dachte niemand. Sie standen nicht im sowjetischen Papier109. Am 9. Juni 1953 veröffentlichte das SED-Politbüro ein Kommunique, welches die Revidierung des Kurses zum Aufbau der Grundlagen des Sozialismus beinhaltete. Entgegen dem Willen des Hauptschuldigen Ulbricht, der keine Fehlerdiskussion wollte, gestand die SED eine Reihe von Fehlern ein. Der »Neue Kurs«, den der Ministerrat am 11. Juni mit seinem Beschluß bestätigte, beseitigte insbesondere repressive Maßnahmen gegen die Mittelschichten, die Handel- und Gewerbetreibenden sowie die privat produzierende Bauernschaft. Steuer- und Preisverfugungen wurden rückgängig gemacht, Veränderungen im Volkswirtschaftsplan zur besseren Versorgung der Bevölkerung vorgenommen. Der »Neue Kurs« zielte auf die Verbesserung des Lebensniveaus der Arbeiter und Handwerker, der Arbeits- und Lebensbedingungen der Intelligenz und auf die Förderung der Reproduktionsbedingungen des privatwirtschaftlichen Sektors in Industrie und Landwirtschaft. Schnell begann die Umsetzung der Beschlüsse. Preiserhöhungen wurden zurückgenommen, die Ausgabe von Lebensmittelkarten erfolgte wie vordem, die Zwangsmaßnahmen bei Steuerrückständen wurden eingestellt, enteignete Betriebe in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft wurden zurückgegeben und Strafgefangene entlassen110. Schon am 10. Juni trug die SED-Führung Spitzenvertretern der Kirche eine Entspannung des Verhältnisses von Staat und Kirche an und versprach die Rücknahme aller administrativen Einschränkungen und Repressionsmaßnahmen. Hier lag eine der Wurzeln für das eher beschwichtigende Verhalten der Kirche während der Unruhen111. Die herbe Kritik Moskaus an der SED-Spitze sowie die unterschiedlichen Auffassungen zur innerparteilichen Gesundung im Politbüro führten wohl maßgeblich dazu, daß das Kommunique des Politbüros ohne jegliche Beratung im ZK der SED am 11. Juni 1953 im SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« publik gemacht wurde. Das Kommunique zum »Neuen Kurs« nahm jedoch nicht zu den angeordneten Normenerhöhungen und anderen, speziell die Arbeiter betreffenden Problemen Stellung. Erneut waren die sowjetischen Anweisungen nur formal umgesetzt worden. Die Beschlüsse vom 9. und 11. Juni 1953 in der DDR bargen in sich selbst ein großes Konfliktpotential. Die vergessenen Probleme der Arbeiter mußten wie eine Zeitbombe wirken. Zudem stiftete der Kurswechsel in der 109 Vgl. Fricke, Zur Geschichte und historischen Deutung, S. 35. 1 1 0 Bis Mitte Juli wurden über 12 000 Gefangene amnestiert. 1 1 1 Vgl. dazu Goerner, Die Kirche als Problem der SED, S. 122 ff.

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1. Der Weg in die Krise

Bevölkerung wie auch in der SED-Basis eher Verwirrung112, als daß er half, die akuten Spannungsfelder zu mindern. In den unteren Ebenen der SED, den Bezirks- und Kreisleitungen, den Betriebsparteiorganisationen schuf die Entschließung des Politbüros ein allgemeines Durcheinander. Die Funktionäre in den Betrieben und Einrichtungen erhielten zwar die Weisung, die neue Politik der SED bekanntzumachen und zu erläutern, doch sahen sich die übergeordneten Parteiinstanzen weder in der Lage, Richtlinien auszugeben, noch verschiedenartige Zweifel und Unklarheiten auszuräumen. Viele Parteimitglieder glaubten an die Richtigkeit des Kurses der 2. Parteikonferenz und unterbanden Diskussionen über die neue Politik, da sie hierbei an RIAS-Propaganda glaubten113. So mancher Funktionär unterließ die Diskussion, weil er die Kursänderung selbst nicht verstand, geschweige denn in der Lage war, sie den Arbeitern zu erläutern114. In der Bevölkerung wirkte die Regierungserklärung sehr unterschiedlich. Insbesondere bei den Mittelschichten und der Intelligenz fand der »Neue Kurs« ein positives Echo, hinterließ jedoch auch eine große Zahl an Fragen und Zweifel ob der Glaubwürdigkeit des Sinneswandels. Auch hier, aber besonders bei der Arbeiter- und Bauernschaft wurde das Bekenntnis von Fehlern der sich unfehlbar darstellenden SED als politische »Bankrotterklärung« gewertet. Unverständnis äußerten die Arbeiter darüber, daß die Maßnahmen gegen die sowieso als reicher eingestuften Mittelständler zurückgenommen worden waren, die die Arbeiterschaft betreffenden Belange jedoch ausgespart blieben. Warum, so stand in Aussprachen oft die Frage, erfolgte das Umschwenken so plötzlich und ohne Parteitag? Taktierte die SED, war sie mit ihrem Latein am Ende, stand am Schluß gar ein Staatsbankrott zu befürchten115? In diesen Junitagen fanden allerorts Diskussionen in verschiedenen Gruppen der Bevölkerung statt. Funktionäre der Blockparteien, ebenso überrascht, weil nicht einbezogen in die Erarbeitung der Beschlüsse, brachten zum Ausdruck, daß sie die Fehler schon früher erkannt und die SED darauf hingewiesen hatten. Gerüchte liefen um, daß nun die SED aufgelöst und die KPD und die SPD neu gegründet würden. Andere besagten, daß Pieck und Ulbricht von den Sowjets verhaftet worden wären. Offen wie nie zuvor artikulierte die Bevölkerung ihre Zweifel an der Fähigkeit der Regierung der DDR und insbesondere an der SED. Die Zugeständnisse seien das Zeichen der großen Schwäche der Staatspartei, dies zeige sich dadurch, daß Vgl. hierzu Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 6 6 - 7 6 . Vgl. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/5/524. 114 Vgl. hierzu die Analyse bei Kowalczuk, »Wir werden siegen ...«, S. 2 0 2 - 2 1 9 . Siehe hierzu auch Stichwortprotokoll der Sondersekretariatssitzung der Bezirksleitung Suhl am 15.6.1953, in: Die Protokolle des Sekretariats der SED-Bezirksleitung Suhl, S. 1 0 0 1 - 1 0 1 7 . 1 1 5 Vgl. ebd. sowie BA-MA, DVH 3/7946, Bl. 5 ff.

112 113

1. Der W e g in die Krise

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die Fehler nur allgemein angesprochen und zu ihnen nicht offen Stellung bezogen würde116. In das Bewußtsein vieler Menschen geriet vor allem, daß die SEDFührung große Fehler zugestand, Fehler, die nicht geschehen wären, wenn man auf die Interessen der Massen geachtet und nicht über deren Köpfe hinweg regiert hätte. Vielfach wurde die Frage gestellt, ob die SED und die Regierung der DDR fähig und willens waren, wirklich die Belange der arbeitenden Menschen zu vertreten. Große Teile der Bevölkerung bezweifelten dies. Wenn man in den Monaten zuvor miterleben mußte, wie die »Kleinen« mit allen Härten des Gesetzes bestraft wurden, drängte sich die Frage auf, warum man nun nicht die Regierenden zur Verantwortung zog. Angesichts des offenkundigen Versagens erschienen der Rücktritt der Regierung und die Bestrafung der Verantwortlichen vielen Menschen schon vor dem 17. Juni als logische Konsequenz der gescheiterten SED-Politik, und dies äußerten Menschen DDR-weit schon vor den Unruhen. Auch ein anderer Problemkreis bewegte die Gemüter. Seit dem Tode Stalins war die Zukunft der DDR als Staat nicht nur internationaler Gesprächsstoff. Nach der Verkündung des »Neuen Kurses« in der DDR offenbarte sich die Veränderung der sowjetischen Deutschlandpolitik. War jetzt mit der Kurskorrektur ein erster Schritt hin zu der lange versprochenen und vielfach ersehnten Wiedervereinigung beider deutscher Staaten nahe? Einen derartigen Eindruck verstärkte die Anweisung an die SEDOrganisationen nach dem 11. Juni, alle Losungen, die das Wort »Sozialismus« enthielten, zu entfernen117. Dieses aus Stimmungs- und Meinungsberichten sowie aus Erinnerungen hervorgehende Bild des Denkens und Fühlens der Menschen in der DDR in jenen Junitagen erklärt vieles von dem, was in den Folgetagen auf den Straßen und Plätzen an Unmut und Wut frei wurde. Die nur ein knappes Jahr währende verfehlte Politik der SED zum Aufbau des Sozialismus hatte eine tiefe Kluft zwischen den Regierenden und der Bevölkerung geschaffen. Im Sommer 1953 dokumentierten sich in der DDR jedoch nicht nur Krisenerscheinungen als Folge einer kurzzeitigen fehlerhaften SED-Politik, sondern die Ereignisse offenbarten die erste tiefe, systemimmanente Krise des gesamten stalinistischen Herrschaftssystems. Diese erfaßte nahezu alle osteuropäischen Volksdemokratien. Die Symptome als Folge des Aufbaus des Sozialismus, ökonomisch mit »Stalinismus als Brachialmethode zur Industrialisierung«118 und politisch mit der Durchsetzung eines bürokratischzentralistischen Apparats unter Ägide der jeweils herrschenden »Partei neuen Typs« nach sowjetischem Modell seit 1948, glichen sich119: Ausbruch der 116 117 118 119

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

SAPMO-BArch, D Y 30, IV 2/5/524, Bl. 5. ebd. Bartsch, Wende in Osteuropa?, S. 1. Brzezinski, Der Sowjetblock, S. 106 ff.

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1. Der Weg in die Krise

latent vorhandenen Versorgungskrise der Mängelwirtschaft durch die Förderung der Schwerindustrie zuungunsten der Konsumgüterproduktion, Verschärfung dieser Krise durch die Verstaatlichung von mittleren Industriebetrieben und Kollektivierung der Landwirtschaft, rigide Zentralisierung des staatlich/politischen Systems bei gleichzeitiger Aufrüstung als Komponente der inneren und äußeren Machtsicherung, Exterritorialisierung der daraus erwachsenden politischen und wirtschaftlichen Probleme als konterrevolutionäre Einflußnahme und Versuche der Lösung des Konfliktpotentials politisch über die Kriminalisierung der Opposition, wirtschaftlich durch zwangsweise Erhöhung der Arbeitsproduktivität und Sparmaßnahmen. In Ungarn sank der Lebensstandard 1953 unter das Niveau von 1949. Auch hier kam es zu einem »Neuen Kurs«, der — verbunden mit politischen Veränderungen in der Partei- und Staatsführung — allerdings vorerst zu einer Beruhigung führte120. Die CSR und die VR Polen rangen ebenso mit großen wirtschaftlichen Problemen. Auch in der Tschechoslowakei wurde ein »Neuer Kurs« verkündet, nachdem es im Juni 1953 in einigen Orten zu Unruhen gekommen war. Bürger demonstrierten gegen eine Währungsreform, die Kleinguthaben einfach strich und damit die Ärmsten traf. In Plzen weitete sich die Protestbewegung zu einer lokalen Erhebung aus, die jedoch schnell von Polizei und Armee erstickt werden konnte121. Nach dem Tod Stalins war ein machtpolitisches Vakuum entstanden. Der durch Stalin geschaffenen zentralistischen Struktur des internationalen Staatskommunismus war damit das oberste Weisungsgremium kurzzeitig genommen. Das System zeigte schnell zentrifugale Tendenzen. Möglicherweise hat sich auch die KPdSU-Spitze aus diesem Grunde im Juni 1953 zu einer Präzedenzlösung bei den Unruhen in der DDR, zu einer eindeutigen Behauptung der Interessensphären entschieden.

120 Vgl Rainer, Der »Neue Kurs« in Ungarn, S. 71-92. 121

Vgl. Pernes, Die politische und wirtschaftliche Krise in der Tschechoslowakei 1953, S. 93-113.

II. Der Aufstand Den Volksaufstand gegen die Politik der SED lösten die Bauarbeiter, Maurer und Zimmerleute verschiedener Baustellen im Zentrum Ostberlins mit ihrer spontanen Unmutsbekundung am 16. Juni 1953 aus. Ihre Demonstration im Herzen der geteilten Stadt gab das Signal und das Beispiel für die Arbeitsniederlegungen und die Demonstrationen in vielen Orten der DDR, sie entflammte den Solidaritätsgedanken der Arbeiter und beseitigte eine Hemmschwelle für den öffentlichen Protest gegen Regierungspolitik und Staatsmacht. Daß es gerade die Bauarbeiter waren, die als erste den Mut fanden, ihre Unzufriedenheit mit den administrativen Normerhöhungen in derartiger Form in der Öffentlichkeit zu dokumentieren, hatte eine Reihe objektiver und subjektiver Ursachen.

16. Juni 1953 - die Initialzündung Seit Wochen und Monaten gab es auf den Berliner Baustellen heftiger werdende Diskussionen über die umstrittenen Normerhöhungen. Von Jahresbeginn an bemühten sich SED-Funktionäre und die staatlichen Normkommissionen, eine freiwillige Initiative der Bauarbeiter zur Normsteigerung zu entfachen. Nicht wenige Brigaden ließen sich überzeugen oder überreden. Eine Gesamtinitiative, wie sie von der SED-Führung gewünscht wurde und wie sie die staatlichen und SED-Institutionen umzusetzen versuchten, kam jedoch nicht zustande. In der sich allgemein verschlechternden Lebenslage der Bevölkerung und der von staatlicher Seite mit immer mehr politischem Druck geführten Kontroverse um die Normfrage häufte sich schrittweise ein großes Konfliktpotential an. Am Abend des 28. Mai 1953, dem Tag, an dem der Ministerrat der DDR die Normerhöhung anordnete, lud der VEB Wohnungsbau Berlin Brigadiere und Aktivisten der Baustellen ein, um, den Vorgaben entsprechend, einen gemeinsamen Beschluß zur durchschnittlich zehnprozentigen Normsteigerung für die Baubrigaden des Betriebs zu erwirken. In einer heftig geführten Debatte beschwerten sich viele der geladenen Bauarbeiter über die Forderungen zur Normveränderung, verwiesen auf die damit verbundenen beträchtlichen Lohneinbußen und prangerten die praktizierten erpresserischen Methoden der Normkommission und der SED-Leitung im Betrieb an. Zur Sprache kam das Beispiel der Maurerbrigade Rocke von der Baustelle Kran-

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II. Der Aufstand

kenhaus Friedrichshain, welches sich durchaus nicht als Einzelfall erwies. Der Brigadier war Anfang Mai von der Normkommission zur Erhöhung der Sollleistungen seiner Brigade aufgefordert worden. Die Funktionäre beriefen sich darauf, daß die auf einer anderen Baustelle tätigen Maurer der Brigade dem neuen Satz bereits zugestimmt hätten. Als Rocke dies bezweifelte, erklärte man ihm klipp und klar, daß auf Großbaustellen mit ihren Vergünstigungen nur jene Brigaden arbeiten dürften, die ihre Normen auch bereitwillig erhöhten. Unter diesen Umständen beugte sich Rocke den Forderungen und erklärte sich mit der Heraufsetzung der Normen um 6,5 Prozent einverstanden1. Die Versammelten im VEB Wohnungsbau lehnten an jenem Abend eine Erhöhung der Normen mehrheitlich ab. Das hatte zur Folge, daß die Normüberprüfungsbeauftragten und insbesondere die SED-Parteileitung administrativ die Durchsetzung des Ministerratsbeschlusses erwirkten. Der Unmut der Arbeiter auf den Berliner Baustellen wuchs, ja es folgten sogar kurzzeitige Streiks einzelner Brigaden bei der Verkündung von neuen Normfesdegungen. In dieser angespannten Atmosphäre unter den Bauarbeitern griff das »Neue Deutschland« am 14. Juni in Berlin und am 16. Juni in der DDR die Vorgänge auf den Berliner Baustellen auf und wandte sich gegen die »Holzhammermethoden« bei der Durchsetzung der neuen Normen. Der NDArtikel, der nicht die administrierte Normerhöhung in Frage stellte, sondern die Schuld den kleinen Funktionären bei der Umsetzung zuschob2, machte unbeabsichtigt die Probleme der Bauarbeiter Berlins im ganzen Land bekannt und stärkte gleichsam das Rechtsempfinden der Baubeschäftigten nicht nur in der Hauptstadt. Wohl auch damit war der Demonstration der Bauarbeiter der Stalinallee und des Krankenhausneubaus Friedrichshain an jenem 16. Juni ein Symbolcharakter gesetzt. Das SED-Organ kritisierte vor allem die schematische, administrative Arbeit der SED-Funktionäre und staatlicher Institutionen in der Normfrage. Jener Artikel verdeutlichte jedoch gleichzeitig, gewollt oder ungewollt, daß es eben nicht formal um Einzelprobleme der Arbeit mit den Menschen ging. Vielmehr wurde eine Gesamteinstellung der SED und der Staatsorgane zur Bevölkerung sichtbar, die zunehmend zu einer Kluft zwischen den Herrschenden und den Beherrschten geführt hatte. Sie läßt sich durchaus auf den Vgl. Neues Deutschland, 14. Juni 1953 (Ausgabe B); Neues Deutschland, 16. Juni 1953 (Ausgabe A). Hier ist Kowalczuk/Mitter zuzustimmen, daß nicht etwa ein Dissens zwischen Ulbricht und ND-Chefredakteur Hermstadt dem Artikel zugrunde lag, wie MüllerEnbergs (Der Fall Herrnstadt, S. 195 f.) vermutet, sondern eher das Bemühen, die Unzufriedenheit von der Ursache »Normenbeschluß« weg hin auf die Umsetzungsmethoden durch die unteren Ebenen zu kanalisieren. Welchen Zündstoff der Artikel haben würde, hat sicher auch Herrnstadt nicht geahnt. Vgl. Kowalczuk/Mitter, »Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden ...«, S. 52.

II. Der Aufstand

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Nenner simplifizieren: Die SED kennt den »wissenschaftlich begründeten« Weg und lenkt die Gesellschaft; die Arbeiter und die Bevölkerung insgesamt in ihren Erkenntnis schranken haben den Kurs zu begreifen und mitzugehen. Aus dieser Grundeinstellung, mit der eine Disziplinierung mittels eines breiten, ideologisierten Feindbildes einherging, hatte sich bereits in den wenigen Jahren realer Existenz der DDR in den Parteien und Staatsorganen ein System der Liebedienerei und Schönfärberei nach oben und des Druckes und der Anwendung politischer und ideologischer Machtmittel nach unten entwickelt. Das zur Veranschaulichung vereinfachte Schema kam bei der von »oben« angeordneten »Initiative« der Normerhöhung in vielfältiger Weise zum Tragen. Der VEB Wohnungsbau Berlin beispielsweise hatte bis zum 1. Mai 1953 eine Normeninitiative von 125 Brigaden angekündigt und war nun mit allen Mitteln bemüht, das sich selbst vorgegebene Ziel zu erreichen3. Die geschilderten Bedingungen auf den Berliner Baustellen, die durchaus auch als stellvertretend für das gesamte Baugewerbe in der DDR betrachtet werden dürfen, bildeten den subjektiven Rahmen einer wachsenden Unzufriedenheit der Bauarbeiter. Hinzu gesellten sich einige Besonderheiten der Bauindustrie, die objektiv die Bauschaffenden für eine Vorreiterrolle im Arbeitskampf prädestinierten. Ihr Zusammengehörigkeitsgefühl wie das Band gegenseitiger Solidarität waren ebenso historisch gewachsen wie die Stellung der Bauarbeiter zum Arbeitgeber. Durch die sich ständig verändernde Arbeitsstelle hatten sich ein Betriebszugehörigkeitsgefühl und eine Bindung zum Arbeitsplatz weit weniger ausgeprägt als in »seßhaften« Produktionsbetrieben. Im Winter und bei Frost ruhte die Bautätigkeit, das Gros der Arbeiter wurde entlassen. Somit war der Bauarbeiter gezwungen, mit seinen sozialen und finanziellen Forderungen den Familienunterhalt für das gesamte Jahr in der Bauperiode abzusichern. Zudem fehlten 1953 dem Baugewerbe Arbeitskräfte. Die Baubetriebe waren deshalb daran interessiert, die Arbeitskräfte möglichst zu halten, um die hochgesteckten Planziele verwirklichen zu können. Gleichzeitig bot sich den Berliner Maurern und Zimmerleuten in Westberlin eine Arbeitsplatzalternative. Die soziale Stellung der Bauarbeiter und die Lage im Baugewerbe ließen diese ihre sozialen Interessen weit prononcierter vertreten als andere Bevölkerungs schichten4. An einer Kulturveranstaltung des VEB Industriebau am Samstag, dem 13. Juni, einer Dampferfahrt zum Ausflugslokal Rübezahl am Müggelsee, nahmen Bauarbeiter verschiedener Baustellen Berlins teil. Während dieser Fahrt kam die Unzufriedenheit zur Sprache, und die Arbeiter debattierten über mögliche gemeinsame Arbeitskampfmaßnahmen. Brigadier Alfred Metzdorf rief gar zum Streik am 15. Juni auf, die Betriebsleitung führte dies 3

4

Vgl. Neues Deutschland, 14. Juni 1953 (Ausgabe B); Neues Deutschland, 16. Juni 1953 (Ausgabe A). Vgl. Baring, Der 17. Juni, S. 50 ff.

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II. Der Aufstand

jedoch auf den erhöhten Alkoholkonsum zurück5. Konkrete Absprachen sind aber nicht getroffen worden6. Am darauffolgenden Montag diskutierten Bauarbeiter am Krankenhausneubau Friedrichshain mit SED-Funktionären erneut die Normfrage. Die übereinstimmende Kontrastimmung der Arbeiter gegen die Normerhöhung ließ den Entschluß reifen, sich mit einer Petition direkt an die Regierung der DDR zu wenden. Als auf anderen Baustellen der Stalinallee die Absichten der Friedrichshainer bekannt wurden, kam es zu Warnstreiks am Block 40. Man entschloß sich, ebenfalls eine Resolution an die Regierung zu verfassen und diese mit einer Delegation am Folgetag dem Ministerpräsidenten Grotewohl persönlich zu präsentieren. Der Brief der Bauarbeiter des Krankenhausneubaus erreichte den Ministerpräsidenten bereits am Spätnachmittag des 15. Juni. Er enthielt die Forderung nach der Beibehaltung der bestehenden Normen. Der »Neue Kurs«, so argumentierten die Verfasser, habe nur den Kapitalisten (gemeint waren die Mittelschichten), nicht aber den Arbeitern etwas gebracht. Für den Folgetag kündigte das Schreiben eine Abordnung der Bauleute an, die an Ort und Stelle den Bescheid Grotewohls entgegennehmen sollte. Was in der Parteiführung der SED nach Bekanntwerden der Petition ablief, schildert der damalige SED-Funktionär Heinz Brandt: Grotewohl habe sich ratsuchend an die Bezirksleitung der SED Berlin gewandt. »Auf keinen Fall klein beigeben!«, lautete die Antwort7.

Die Demonstration der Berliner Bauarbeiter Als am Morgen des 16. Juni in einem Artikel der FDGB-Zeitung »Tribüne« die Notwendigkeit der Normerhöhung begründet wurde, brach sich die Empörung vollends Bahn. Der von Ulbricht initiierte Artikel betonte, daß der »Neue Kurs« keineswegs die Normsteigerungen in Frage stelle, sondern daß diese mit voller Kraft durchzuführen seien. Die am Morgen zur »Aufklärung« der Bauarbeiter nach Friedrichshain entsandten Parteiagitatoren kamen in einer aufschäumenden Diskussion kaum zu Wort. Sie kehrten zur Bezirksleitung der SED zurück und meldeten Streik und eine beabsichtigte Demonstration. Auf der Baustelle Block 40 in der Stalinallee bot sich am Morgen des 16. Juni ein ähnliches Bild wie am Krankenhausbau Friedrichshain. Man beschloß zu streiken, aber auch die Delegation zu Grotewohl aus Sicher5 6

7

Vgl. hierzu Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 87 f. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/527, Bl. 116 f., LOPM-Bericht der SEDBezirksleitung Berlin. Vgl. hierzu Entschwärzte Geschichte, Kronberger Bogendruck. Vgl. Brandt, Ein Traum, S. 232 ff.

II. Der Aufstand

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heitsgründen und zur Untermauerung der Forderungen zu begleiten. Längst waren auch die Diskussionen am Krankenhausneubau bekannt. Aus den Akten geht hervor, daß Radfahrer eine ständige Verbindung unter den Baustellen aufrechterhielten8. Damit wirkten Einzelbeschlüsse und Maßnahmen der Bauarbeiter einer Baustelle beispielgebend und führten zur Solidarisierung unter den Arbeitern. Gegen 9.00 Uhr formierte sich in der Stalinallee ein etwa 80 Mann starker Zug von Bauarbeitern. Auf einem schnell gezimmerten Transparent stand geschrieben: »Wir fordern Herabsetzung der Normen«. Zeitgleich bildeten die Arbeiter in Friedrichshain eine Demonstrationskolonne. Beide Züge vereinigten sich wenig später am Strausberger Platz. Man beschloß, weitere Bauarbeiter der umliegenden Baustellen für den gemeinsamen Protest zu gewinnen und lenkte den Schritt nun zu mehreren Orten des Berliner Baugeschehens in der Nähe der Stalinallee. Von staatlicher Seite gab es nur geringfügige Versuche, den Protestmarsch zu unterbinden. Hunderte Bauarbeiter hatten sich angeschlossen, als die Demonstranten ihre Schritte in Richtung Stadtzentrum zum Haus der Gewerkschaften in der Wallstraße lenkten. Man beabsichtigte, mit der Gewinnung von Gewerkschaftsfunktionären dem sozialen Anliegen größeren Ausdruck zu verleihen. Doch das Gebäude des FDGB war verschlossen, es gab seitens der dortigen Funktionäre keinerlei Reaktion auf das Begehren der Maurer und Zimmerleute. Die Demonstranten zogen weiter, über den Marx-Engels-Platz in Richtung Leipziger Straße zum Haus der Ministerien, dorthin, wo der Hauptsitz der Regierung und somit auch die Person Grotewohls vermutet wurde. Unter den Linden gesellten sich Arbeiter der Baustelle Staatsoper zu den Demonstrierenden. Gegen 14.00 Uhr erreichte der Zug, inzwischen auch durch Passanten und Schaulustige auf etwa 2000 Menschen angewachsen, den Vorplatz des Hauses der Ministerien. Die Bauarbeiter verlangten Ulbricht bzw. Grotewohl zu sprechen, um ihre Forderungen vorzutragen, oder aber eine Delegation in das Ministerium vorzulassen. Bis zu diesem Zeitpunkt zielte die Protestaktion auf die Beseitigung der Normerhöhungen. Sie trug vor allem sozialen Charakter, wenngleich die Forderung nach der Bestrafung der Schuldigen an den von der SED eingestandenen Fehlern mitschwang, jedoch nicht das Stimmungsbild beherrschte. Gleichzeitig war der Arbeiterprotest bar einer gezielten Organisation oder zentralen Führung. Die Bauarbeiter hatten keine Streikleitungen gebildet, die Aktionen verliefen spontan und situationsbedingt. Inkompetenz, Unsicherheit und Ignoranz führten seitens der staatlichen Organe dazu, daß sich niemand der Forderungen der Bauarbeiter annahm9. Dem zentralistischen System geschuldet, wagte niemand eine eigenständige Entscheidung. Lange Zeit geschah nichts, das Gebäude blieb verschlossen. 8 9

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/527, Bl. 96 ff., LOPM-Bencht Berlin. Vgl. Brandt, Ein Traum, S. 232 ff.

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II. Der Aufstand

Die entstehende Hilflosigkeit steigerte den Unmut der Menge. Immer wieder wurden Rufe nach Ulbricht und Grotewohl laut. Aufgrund eines Mißverständnisses hielt man die nach einiger Zeit erscheinende Staatssekretärin Walter für die Sekretärin Ulbrichts und ließ sie deshalb nicht reden, weil man lieber Ulbricht sprechen wollte. Wenig später gab der SEDBezirksleitungsfunktionär Hein2 Brandt den Demonstranten zu wissen, daß der Normenbeschluß überprüft werde. Ihm, wie wenig später Minister Fritz Selbmann und Professor Robert Havemann, wurde von der Menge kein Glaube geschenkt, und die begonnenen Reden wurden unterbrochen. Die ruhige, friedliche und geordnete Demonstration verwandelte sich zusehends in eine emotionsgeladene Protestveranstaltung. Immer wieder skandierten Arbeiter ihre Forderungen. Neben das Anliegen Beseitigung der Normerhöhung traten nun bereits soziale Forderungen zur Senkung der HO-Preise und zur Verbesserung der Lebenslage. Aus dem ursprünglich sozialen Hauptanliegen war ein Komplex sozialer und politischer Forderungen entstanden. Bauarbeiter forderten die Bestrafung der Schuldigen an den Fehlern der Führung, andere den Rücktritt der Regierung. Die Unklarheit darüber, wie es weitergehen sollte, nahm zu. Weitere Reaktionen aus dem Ministerium blieben aus. Ein Handlungszeichen setzte ein Bauarbeiter, der aufrief, nicht länger zu warten. Wenn Ulbricht und Grotewohl nicht erschienen, müsse man den Generalstreik ausrufen10. Die Uhren zeigten die vierte Stunde am Nachmittag, als sich der Demonstrationszug neu formierte und über die Friedrichstraße in Richtung Alexanderplatz weiterbewegte. Die aufgebrachte Menge forderte nun zu einer Massenaktion aller Arbeiter für den Folgetag auf. Man bemächtigte sich eines von zwei Lautsprecherwagen, die die Überprüfung des Ministerratsbeschlusses zur Normerhöhung verkünden sollten. Über seine Lautsprecher verbreitete man jetzt den Aufruf zum Generalstreik. Vor dem Präsidium der Deutschen Volkspolizei nahe dem Alex angelangt, forderte die Menge die Beseitigung der Volksarmee (gemeint war die KVP) und stattdessen soziale Verbesserungen für die Bevölkerung. »Butter statt Kanonen« war eine Parole, welche die Partei- und Regierungsvertreter am 16. Juni und in den Folgetagen allerorts zu hören bekamen. Später zogen die Demonstranten zurück zur Stalinallee, auf den Plätzen und in den Straßen überall diskutierende Gruppen hinterlassend. In Berlin-Lichtenberg gelang es einigen Arbeitern, die Werktätigen des VEB Fortschritt I davon zu überzeugen, daß der Streik notwendig sei. In den Nachmittagsstunden des 16. Juni wandte sich eine Abordnung der Bauarbeiter an den Westberliner Rundfunksender RIAS mit der Bitte, ihre Forderungen möglichst weit zu verbreiten und den Aufruf zum Generalstreik zu senden. Bereits um 13.30 Uhr hatte der RIAS über Demonstra10

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/537, Bl. 2-7, LOPM-Lagebericht Berlin vom 17.6.53, 2.00 Uhr.

II. Der Aufstand

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tionen im sowjetischen Sektor Berlins berichtet. Um 16.30 Uhr strahlte man eine ausführliche Schilderung der Vorgänge vor dem Haus der Ministerien aus. Erwähnt wurden die Forderungen nach höheren Löhnen, der Beseitigung der Normerhöhungen und nach Rücktritt der Regierung. »In Sprechchören wurde immer wieder die Forderung nach freien Wahlen gestellt, während Einzelne zum Generalstreik aufriefen11«, hieß es weiter. Die folgende Sendung um 19.30 Uhr stand völlig im Zeichen der Ostberliner Demonstrationen. Hier berichtete der Sender von der Delegation der Bauarbeiter der Stalinallee, die eine Resolution übergeben habe, die: »erstens, Auszahlung der Löhne nach den alten Normen schon bei der nächsten Lohnzahlung, zweitens, sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten, drittens, freie und geheime Wahlen, viertens, keine Maßregelungen der Streikenden und ihrer Sprecher«12 als Forderungen enthielt. Diese sogenannte Berliner Resolution wurde nunmehr in den Nachrichten ständig wiederholt. Damit erfuhren die Forderungen eine nahezu DDR-weite Verbreitung. Das Wort Generalstreik tauchte fortan nicht mehr auf. Die amerikanische Leitung des Senders und die Redakteure hatte sehr schnell erkannt, daß das Schüren der Unruhen im Ostsektor der geteilten Stadt von außen in Anbetracht der Konfrontation der Mächte auf deutschem Boden schnell zum Ausgangspunkt eines globalen Konfliktes werden konnte. Gleichzeitig war man sich der geschätzten Hörerschaft von 70-80 Prozent der DDRBürger bewußt. Die Sendungen wurden zu einer Gratwanderung zwischen wertungsneutraler Berichterstattung, Solidarisierungsaufrufen und Mahnungen zur Besonnenheit. Der Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen in Bonn, Jakob Kaiser, mahnte in der Nacht, daß sich niemand in Gefahr bringen solle, während Programmdirektor Eberhard Schütz gegen 20.00 Uhr erklärt hatte: »Macht Euch die Ungewißheit, die Unsicherheit der Funktionäre zunutze. Verlangt das Mögliche — wer von uns in Westberlin wäre bereit, heute zu sagen, daß das, was vor acht Tagen noch unmöglich erschien, heute nicht möglich wäre13.« In den Morgenstunden des 17. Juni wurde die Ansprache des Berliner DGB-Vorsitzenden, Ernst Scharnowski, mit dem Appell an die Ostdeutschen, überall ihre Strausberger Plätze aufzusuchen, zwischen 5.36 und 7.30 Uhr drei mal gesendet14. Bis in die Nachtstunden blieb entgegen sonstiger Gewohnheiten das Stadtzentrum Ostberlins belebt, formierten sich ab und zu kleine Demonstrationszüge. Jetzt bestimmten insbesondere 17- bis 24jährige das Straßen11

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Der RIAS am 16. und 17. Juni 1953, S. 445. Siehe Herzu auch Chamberlin/Wetzel, Der 17. Juni und der RIAS; Rexin, Die Rolle des RIAS am 16./17.Juni, S. 16-22; Wacket, »Wir sprechen zur Zone«, S. 1035- 1048; Der Aufstand der Arbeiterschaft, Tätigkeitsbericht RIAS. Der RIAS am 16. und 17. Juni 1953, S. 446. Zit. nach Rexin, Die Rolle des RIAS am 16./17. Juni, S. 20. Der RIAS am 16. und 17. Juni 1953, S. 453.

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bild im Zentrum. An den Kontrollpunkten der Sektorengrenzen wurden Westberliner Jugendliche mit propagandistischem Material gegen die D D R abgewiesen15. Im Schutz der Dunkelheit rissen Jugendliche Fahnen herunter und zerstörten Losungen; am Alex flogen Steine gegen den Bahnhof und die Scheiben der HO-Gaststätte. Gegen 23.00 Uhr begannen Kräfte der Schutzpolizei der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei, die Menschenansammlungen im Stadtzentrum zu zerstreuen. In Berlin kehrte Ruhe ein. Die Ruhe allerdings war trügerisch. Auf allen Ebenen der Berliner S E D liefen Informationen und erfolgten Anweisungen. Die Betriebsparteiorganisationen erhielten die Aufgabe, vor Arbeitsbeginn am 17. Juni in ihren Betrieben präsent zu sein. Es gelte, alle Arbeiter über die Beschlüsse der Parteiaktivtagung der S E D am Nachmittag des 16. Juni im Friedrichstadtpalast zu informieren. Auf dieser Tagung hatte sich Otto Grotewohl mit sehr ernsten Worten gegen das Administrieren der S E D in der Wirtschaft ausgesprochen und betont, daß eine ökonomische Weiterentwicklung ohne ein wachsendes Lebensniveau der Werktätigen nicht möglich sei16. Das Gremium hatte beschlossen, dem Ministerrat zu empfehlen, die Normenverfügung zurückzunehmen. Die Empfehlung der S E D war, angesichts der wirklichen Machtstrukturen in der DDR, nur ein formaler Akt. Die Parteisekretäre sollten das Beschlossene in den Betrieben publik machen, Flugblätter, die noch in der Nacht gedruckt wurden, die Absetzung der Normerhöhung kundtun. Die SED-Führung hoffte, mit diesen Informationen Unruhen am 17. Juni in Berlin verhindern zu können. Noch für die Nacht mußten die Parteiorganisationen Betriebs wachen organisieren, am Morgen des 17. Juni sollte mit den Arbeitern diskutiert, vor allem aber eine Teilnahme an Demonstrationen verhindert werden. Die Ereignisse des 16. Juni hatten jedoch nicht nur die Regierenden in Ostberlin aufgeschreckt, sondern erweckten auch bei der Besatzungsmacht Besorgnis. Noch am gleichen Abend hatten der Hohe Kommissar Vladimir S. Semenov und der Oberbefehlshaber der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland, Generaloberst Andrej A. Grecko, ein Gespräch mit Ulbricht, Grotewohl und Stasi-Chef Wilhelm Zaisser über die Lage gefuhrt. Man war übereinstimmend der Auffassung 17 , daß die Unruhen von Westberliner Seite aus gesteuert worden waren. Für den Folgetag sollten Volkspolizei und MfS-Mitarbeiter die Straßen und Plätze sichern, wo es zu Unruhen gekommen war. Grotewohl notierte 900 Mann der Volkspolizei in gemischten Kommandos, die hier präsent sein, sowie 500 Mann des MfS-

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16 17

Vgl. BArch, Bestand M d l / H V D V P , 11/1179, Bl. 119-122, HVDVP-Bericht aus der Nacht zum 17.6.1953. Vgl. Neues Deutschland, 18. Juni 1953. Vgl. The Post-Stalin Succession Struggle, Dokument 14. Bericht von Semenov und Grecko an Bulganin und Molotov vom 17. Juni 1953, 7.26 Uhr; SAPMO, BArch, N Y 90/437, Bl. 11-15, Mitschriften Grotewohls am 16./17. Juni.

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Wachbataillons, die den Schutz wichtiger Betriebe übernehmen sollten. Zugleich sollten wichtige Gebäude der Stadt gesichert werden. Als Einsatzreserve waren je 1200 Mann der VP sowie die Infanterieregimenter der KVP Oranienburg II und Potsdam II nach Berlin zu beordern18. Die zentrale Leitung des Einsatzes lag bei Grecko und Semenov. Man war sich einig, daß die Verhinderung möglicher Unruhen den ostdeutschen Polizeibehörden zukam, während sowjetische Truppen in Bereitstellung gehalten, jedoch nur im extremen Notfall einzusetzen seien. Der Polizeieinsatz sollte über das SED-Politbüro mit Karlshorst abgestimmt werden. Vorab sollten sowjetische Truppen in Stärke von 450 Mann im Berliner Zentrum und im Umfeld wichtiger Objekte mittels Fahrzeugstreifen Präsenz zeigen19. Dem entspricht die Erinnerung Semenovs, daß Grecko die sowjetischen Truppen aus den Sommerlagern zurückbeorderte20. Gleichzeitig ließ Grecko Panzer- und Artillerieeinheiten in die DDR-Hauptstadt beordern. Aus dem Raum Königswusterhausen verlegten die 1. Mech. Division sowie ein Bataillon des 105. Regiments des sowjetischen Innenrninistenums nach Berlin-Karlshorst, um die hier stationierte 12. Panzerdivision zu verstärken. Auch andere sowjetische Einheiten um Berlin wurden in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt und bezogen Bereitstellungsräume. Die Beobachtung mancher Demonstrationsteilnehmer am 17. Juni, die mit Dreckkrusten überzogene Panzer in Berlin wahrnahmen, bestätigen den eiligen Abzug von Einheiten aus den Sommerlagern21. Wohl noch in dieser Nacht, spätestens aber am Morgen des 17. Juni 1953 kam aus Moskau die Weisung, im Falle von Unruhen Macht zu demonstrieren22. Offenbar befürchtete man, daß sich der Westen am 17. Juni bei möglichen Unruhen stark engagieren, vielleicht sogar mit alliierten Truppen eingreifen würde. Die Leitung eines sowjetischen Einsatzes sollte nach Semenovs Erinnerung zuerst Berija übertragen werden, der aber kategorisch ablehnte. So übernahm der Chef des Generalstabes der sowjetischen Streitkräfte, Marschall Vasilij Sokolovskij, in Moskau die Führung der Berliner Militäraktion. In den frühen Morgenstunden wurden darum viele Ostberliner und Anwohner des Berliner Umlandes durch Motorengeräusche von Panzern und Fahrzeugkolonnen geweckt. Auch in der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei arbeitete man entsprechend den Anweisungen fieberhaft. Alle Berliner Volkspolizeikreisämter erhielten Mitteilungen über die Lage und wurden zugleich für den kommenden Morgen in Alarmzustand versetzt. Gleiches traf für alle Bezirksdirektionen der Deutschen Volkspolizei in der DDR zu. Die Einsatzreserve des 18 19 20 21 22

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

ebd. ebd. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, S. 294. hierzu Kowalczuk/Wolle, Roter Stern über Deutschland, S. 167 f. Scherstjanoi, »In 14 Tagen ...«, S. 926.

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PdVP in Berlin bekam auf Anweisung von VP-Generalinspekteur Willi Seifert noch in der Nacht Verstärkung durch Polizeikräfte aus Potsdam, Leipzig, Magdeburg und Aschersleben23. Zur Verhinderung der Demonstration, die nach dem Aufruf der Bauarbeiter am Morgen des 17. Juni vom Strausberger Platz ausgehen sollte, bildete der Einsatzstab des PdVP rund um den Platz vier Abschnitte. Je Einsatzabschnitt hatte eine Kompanie Schutzpolizei zu 100 Mann in den Seitenstraßen ab 7.00 Uhr aufzuziehen. 200 Polizisten wurden zur Verstärkung der Betriebswachen auf bedeutende Berliner Betriebe verteilt. Ein Einsatzkommando von 100 Mann bezog am Leipziger Platz, Kommandos von je 50 Mann am Brandenburger Tor und in der Brunnenstraße Stellung. Je 25 Mann wurden an der Oberbaumbräcke, der Elsenstraße und der Sonnenallee in Treptow sowie ein Reservetrupp in Berlin-Rummelsburg stationiert. Zusätzlich verstärkte man die VP-Inspektionen in Berlin24. Die DDR-Sicherungkräfte bildeten zwei Einsatzstäbe, einen der Sicherheitsorgane der VP und einen des Ministeriums für Staatssicherheit. Sie nahmen absprachegemäß unmittelbar Kontakt zu den sowjetischen Militärbehörden in Berlin-Karlshorst auf. Bereits am 16. Juni vormittags war der Polizeipräsident von Berlin, Waldemar Schmidt, in Karlshorst vorstellig geworden, um eine Genehmigung für den Einsatz gegen die demonstrierenden Bauarbeiter zu erlangen. Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatte die sowjetische Militärkommandantur einen Einsatz noch abgelehnt25. Die angeforderten KVP-Einheiten gedachte man als Einsatzreserve, aber auch zur verstärkten Sicherung der Sektorengrenzen in Berlin einzusetzen. Die PdVP-Einsatzzentrale unterteilte die Demarkationslinie zwischen Ostund Westberlin in fünf Abschnitte und plante je Abschnitt eine Einsatzstärke der KVP von 800 Mann. In den frühen Morgenstunden des 17. Juni erreichte die bei Berlin Hegenden selbständigen KVP-Bereitschaften Oranienburg II und Potsdam II der Alarmbefehl zum Einsatz an der Sektorengrenze Berlins. Ein KVP-Offizier des Regiments Oranienburg schildert dies wie folgt: »Soweit wie ich mich erinnern kann, bekamen wir am 16. Juni eine Vorinformation, die damalige KVP-Bereitschaft Oranienburg auf einen Sondereinsatz in Berlin vorzubereiten. Diesen Befehl erhielt der damalige Kommandeur, Herr Streletz26. Er führte im Anschluß daran mit den Verantwortlichen eine Besprechung durch [...] Nach dieser Einweisung wurden 23

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25 26

Vgl. BArch, Bestand Mdl/HVDVP, 11/304, Bl. 55, Befehl des Generalinspekteurs Seifert vom 16.6.1953. Vgl. ebd., Bestand Mdl/Berlin, 26/72, Bl. 1 ff., Plan zur Verhinderung von Demonstrationen am Strausberger Platz. Vgl. ebd. Fritz Streletz, der Kommandeur des Infanterieregiments Oranienburg, stieg später in der NVA zum Generaloberst und Chef des Hauptstabes auf.

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Hundertschaften zusammengestellt - soweit ich mich erinnern kann, 5 Hundertschaften - und der Personalbestand und die Fahrzeuge auf den Einsatz vorbereitet. In den Nachtstunden, ich würde sagen, gegen 03.00 Uhr, am 17.06.1953, kam von Berlin die Mitteilung an Herrn Streletz, die KVP-Bereitschaft Oranienburg nach Berlin-Altfriedrichsfelde — damals sagten wir dazu Magerviehhof — zu verlegen. Daraufhin sind wir gegen 05.00 Uhr morgens nach Berlin mit den Fahrzeugen in den Magerviehhof gefahren. Im Magerviehhof wurden wir in Bereitschaft gehalten27.« Offenbar kam der Einsatzbefehl direkt von der sowjetischen Militärkommandantur in Karlshorst. Tatsache ist, daß der Stab der KVP in BerlinAdlershof zu dieser Zeit nicht arbeitete, der Stab des Mdl gegen 5.00 Uhr erst die Alarmbereitschaft herstellte. Bis auf die genannten Dienststellen erfolgte vorläufig keine Alarmierung von KVP-Einheiten. Aus Erinnerungen hoher KVP-Offiziere ist überliefert, daß es am 17. Juni morgens um 4.00 Uhr ein Gespräch zwischen Walter Ulbricht, dem Leiter der Einsatzvorbereitungen für diesen Tag, Staatssicherheitsminister Wilhelm Zaisser, und dem Chef der KVP Heinz Hoffmann gegeben haben soll. Ulbricht habe in seinem und im Namen der führenden sowjetischen Militärs in Karlshorst bei diesem Treffen in der Schnellerstraße in BerlinSchöneweide Zweifel an der politischen Zuverlässigkeit der KVP bei einem möglichen Einsatz geäußert und ein Eingreifen von KVP-Einheiten nur für den äußersten Notfall erwogen. Hoffmann wurde aus diesem Grunde dem Einsatzstab Zaisser unterstellt. Zaisser erhielt den Auftrag, alle Einsätze mit dem Oberkommandierenden der sowjetischen Streitkräfte Grecko in Karlshorst abzustimmen. Die alarmierten Einheiten der KVP wurden somit auch nicht wie geplant der HVDVP unterstellt, sondern warteten im Konzentrierungsraum in Berlin-Friedrichs felde und kamen erst gegen 15.00 Uhr zum Einsatz28. Bis auf die genannten Einheiten war damit die KVP von den Vorbereitungen zur Absicherung der Staatsmacht für mögliche Unruhen am 17. Juni ausgenommen. In den Bezirken erhielten die Bereitschaften und Schulen ebenso wie die Führungsorgane der Armeekorps weder Lageinformationen über die Ereignisse des Dienstages in Berlin noch Weisungen zur Herstellung der Alarmbereitschaft. Der Zweifel an der politischen Zuverlässigkeit und die Furcht davor, daß sich die Soldaten mit den Arbeitern solidarisieren könnten, kommen auch in der Tatsache zum Ausdruck, daß es die Politoffiziere und Politoffiziersschüler der VP-Schule Treptow waren, die als erste KVP-Einheit in Berlin und gültig auch für die gesamte DDR zum Einsatz kamen. Diese Formation, im Volksmund Berlins als »die Stalinschüler« be-

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28

MGFA, Materialsammlung, Erinnerungen des damaligen KVP-Angehörigen H. Zukunft, Potsdam (MGI) 1990. Vgl. ebd.

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kannt, stellte, was die »politische Reife« betraf, wohl eine Elite dar, keinesfalls jedoch in militärischer Hinsicht. Für das Gros der KVP-Angehörigen verlief folglich die Nacht wie jede andere. Am Mittwoch, dem 17. Juni, standen Schulungs- und Ausbildungsmaßnahmen auf dem Ausbildungsplan, zu denen nicht wenige Kompanien am Morgen das Objekt in Richtung Gelände verließen. Andere Einheiten befanden sich in Sommerfeldlagern, die eine wirksamere Geländeausbildung für militärische Handlungen ermöglichen sollten. Die Vorbereitung der Exekutive des Staatsapparates machte deutlich, was die DDR-Regierung, wohl aber auch die Sowjets für den 17. Juni an Ereignissen erwarteten. Man vermutete eine relative Beschränkung der Geschehnisse auf Berlin. Hierfür erfolgte die Konzentrierung der Polizeikräfte im Zentrum des Ostteils der Stadt. Da die Hauptforderung der Demonstrierenden vom Vortag erfüllt schien, war die SED-Führung der Auffassung, daß neue Arbeitsniederlegungen mit Diskussionen und Argumenten verhindert, die Arbeiter am 17. Juni beruhigt werden könnten. Die Partei- und Staatsfuhrung unterschätzte dabei das Ausmaß der Unzufriedenheit ebenso, wie sie eine Transmission der Berliner Ereignisse für das DDR-Gebiet nicht einplante. Die Vorbereitung für größere Einsätze außerhalb Berlins hielt man nicht für notwendig. Darauf deuten sowohl der Abzug von Polizeikräften aus den Bezirken nach Berlin als auch die mehr pro forma durchgeführte Alarmierung der BDVP und VPKÄ in den Bezirken der DDR hin. Außerhalb Berlins erhielten die Parteiorganisationen nur die Anweisung, falls notwendig, Streiks und Demonstrationen in den Betrieben durch Argumentation zu verhindern. Auch in dieser Frage überschätzte die SED das Vertrauen der Bevölkerung zu den Parteiorganen, war man sich der entstandenen tiefen Kluft zwischen SED und Volk nicht bewußt. 17. Juni 1953 - die Eruption in Berlin Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von der Demonstration der Bauarbeiter im Zentrum Ostberlins in der ganzen Stadt und weit darüber hinaus. Seit dem Nachmittag des 16. Juni berichteten westliche Medien über die Ereignisse. Insbesondere der RIAS schürte mit seinen die ganze Nacht ausgestrahlten Berichten und Kommentaren die Glut der Empörung in Berlin und in der DDR29. Die Ausstrahlungen hatten einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Entwicklung der Volkserhebung. Hunderttausende hörten im Osten den in der DDR offiziell verpönten Sender. Am Morgen des 17. Juni diskutierten Tausende Arbeiter in den Berliner Betrieben die RIAS-Meldungen, das Selbsterlebte oder Gehörte. Bereits zu Arbeitsbeginn um 6.00 Uhr standen in mehreren Betrieben die Maschinen still. 29

Vgl. Der Aufstand der Arbeiterschaft, Tätigkeitsbericht RIAS, S. 3.

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Erregte Gespräche fanden auf den Werkhöfen und in den Werkhallen statt. Mitglieder der Parteiorganisationen der SED bemühten sich, die Beschäftigten zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. Vielen Arbeitern jedoch fehlte der Glaube an die Aufrichtigkeit der Politik der Regierung. Zu tief saßen Wut und Verzweiflung über eine Strategie der SED, die den Arbeitern eine deutliche Verschlechterung des Lebensniveaus gebracht hatte. So mancher bezweifelte, daß die SED willens bzw. fähig war, die von vielen als gut empfundene Theorie der besseren, ausbeutungsfreien Gesellschaft in die Tat umzusetzen. Für die meisten zählte die gegenwärtige Lebenslage mehr als die schönen Worte von einer besseren Zukunft. Eine große Zahl von Arbeitern kam schon mit dem festen Vorsatz in den Betrieb, die Forderungen der Bauarbeiter aufzugreifen, und suchte nun Gleichgesinnte, hatten doch die Bauarbeiter am Vortag gezeigt, wie machtlos der Staat auf eine derartige Protestkundgebung reagierte. Die Arbeiter strömten in Belegschaftsversammlungen zusammen, fanden hier Gleichgesinnte und stellten den Streikbeschluß auf eine Massenbasis, so z.B. geschehen im RFT-Funkwerk Köpenick30. Das Spektrum an Empfindungen der Arbeiterschaft in diesen Stunden war sehr breit — von tiefster Verbitterung über Solidaritätsgefühle mit den im Arbeitskampf befindlichen Bauarbeitern bis hin zum Hoffen auf das Verständnis der »Arbeiter-undBauern-Regierung« für den Arbeitskampf. Viele befürchteten, daß, wenn man jetzt schweigen würde, die SED über kurz oder lang auf den alten Kurs zurückschwenken werde. Andere führte die Überzeugungskraft der Kollegen in den Streik. Der Grundtenor in diesen Morgenstunden bei Streik und Demonstrationen war jedoch das Gefühl einer tiefempfundenen Berechtigung für den Protest, das durch die Übereinstimmung mit der Mehrheit der Arbeiter in der Diskussion gegen die Funktionäre noch anwuchs. Bauarbeiter fuhren per Rad bzw. mit Lkw durch den Ostteil Berlins und in die Randgebiete und forderten die Arbeiter anderer Baustellen sowie von Betrieben auf, sich mit den Forderungen und dem Streik der Bauarbeiter zu solidarisieren. Eine große Zahl Kollegen insbesondere der Metallindustrie und vorrangig volkseigener Großbetriebe trat nach einer Diskussion ebenfalls in den Ausstand. Nicht selten aber wurde den Delegationen der Bauarbeiter das Betreten des Werkgeländes von Angehörigen des Betriebsschutzes, aber auch von den Arbeitern zumeist kleinerer Betriebe verwehrt. Es ist eine größere Zahl von Betrieben nachweisbar, in denen die Belegschaften aktiv den Arbeitskampf verweigerten. Insbesondere privatwirtschaftliche Produktionsstätten, Post- und Fernmeldeeinrichtungen, Handelsorganisationen und manche größere Betriebe im Berliner Randgebiet arbeiteten an diesem Tag durchgängig. Am umfassendsten war die Streikbewegung im Ostberliner Stadtzentrum, aber auch in Berlin-Köpenick. Im Bezirk Mitte 30

Vgl. zu Streik, Streikverlauf und Hintergründen: Berger, »Ich nehme das Urteil nicht an«.

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beispielsweise beteiligten sich nach offiziellen Angaben 30 Betriebe mit allein 25 055 Beschäftigten am Ausstand, in Köpenick streikten von 42 Werken 3031. Gegen 7.00 Uhr strömten die ersten Demonstrationszüge aus den verschiedensten Betrieben des Stadtzentrums in Richtung Strausberger Platz, den die Bauarbeiter am Vortag als den allgemeinen Treffpunkt für eine Massenkundgebung ausgerufen hatten. Hunderte Arbeiter hatten sich hier bereits versammelt. Vergeblich bemühten sich die eingesetzten Polizisten, die Proteste zu unterbinden. Immer mehr Demonstranten bevölkerten die Straßen Ostberlins. Von den Außenbezirken zogen die Protestierenden über die Hauptverkehrsstraßen in Richtung Stadtzentrum. Aus allen Ostberliner Bezirken meldeten die Kreisleitungen der SED an die Berliner Bezirkszentrale Streiks und Demonstrationen. In einigen Stadtbezirken bildeten sich gewisse »Zentren« der Streikbewegung heraus. Ein Bericht der SED benennt für Lichtenberg den VEB Fortschritt I, für Köpenick die Yachtwerft und das Kabelwerk, für Weißensee den VEB »7. Oktober« und für Treptow das EAW32. »Zentrum« ist jedoch nur in dem Sinne zu verstehen, daß von hier Delegationen in andere Betriebe geschickt wurden, um die Streikbewegung auszudehnen. In diesen Werken, wie in anderen Großbetrieben, wählten die Arbeiter entsprechend der Arbeitskampftradition Streikleitungen oder Streikkomitees. Die Mitglieder dieser Gremien erhielten ihr Votum in keinem großen Wahlakt. Sie wurden oft durch mehrheitliches Handzeichen delegiert. Zumeist erhielten die Wortführer für eine Streikbewegung - angesehene Arbeiter, Gewerkschaftsfunktionäre aus den Abteilungen, seltener, aber hier bewußt auch ehemalige Sozialdemokraten - als Vertreter der Arbeiterschaft deren Vertrauen. Die Streikleitungen formulierten die Forderungen der Belegschaft, leiteten Maßnahmen des Arbeitskampfes ein und knüpften Verbindungen zu anderen Betrieben. Vielerorts verblieben die Streikleitungen in ihren Betrieben, während die Streikenden zu einer öffentlichen Demonstration ihrer Forderangen drängten. Oft standen die Mitglieder der Streikleitungen aber auch an der Spitze der sich im Betrieb formierenden Demonstrationszüge, wie etwa im VEB Bergmann-Borsig. Zu Beginn der Demonstrationsbewegung übten die gewählten Streikgremien noch eine organisierende und führende Funktion auf die Betriebsbelegschaften aus. Im weiteren Verlauf erhielten die Züge immer mehr Zustrom von anderen Streikenden, Passanten und Schaulustigen. Die Belegschaften der Betriebe wurden auseinandergerissen, und damit verloren auch die Streikleitungen mehr und mehr ihren ordnenden Einfluß. Innerhalb der Züge bildeten sich einzelne motivierende Gruppen heraus, die eine par31

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/546, LOPM-Bericht über die Unruhen vom 20.7.1953. Vgl. ebd.

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tielle Einflußnahme auf einen größeren Demonstrationsabschnitt ausüben konnten, jedoch in sich selbst nicht organisiert waren, keine Leitung der gesamten Demonstration gewährleisteten. Damit besaßen weder die großen Demonstrationszüge im Zentrum Berlins eine einheitliche Führung noch konnte die Gesamtbewegung in Berlin organisiert und gefuhrt werden. Es fehlte die politische Kraft, die aus der spontanen Arbeiterbewegung einen gezielten Aufstand hätte formen können. Im Stadtzentrum drängten die Menschenmassen inzwischen in Richtung Haus der Ministerien, das seinen Sitz im Gebäude des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums hatte. Wie am Vortag wurden hier die Regierenden vermutet. Der Sitz des ZK der SED und des Politbüros war nicht das Ziel der Demonstranten, eine Tatsache, welche die politische Ahnungslosigkeit der Massen verdeutlicht. Doch man hätte auch dort niemanden angetroffen. Die SED-Führung war in den Vormittagsstunden zu ihrem Schutz in die sowjetische Zentrale in Karlshorst beordert worden. Sie stand hier, wie sich Rudolf Herrnstadt erinnerte, lange Zeit hilflos herum33. Vor dem Haus der Ministerien stauten sich gegen 8.30 Uhr rund 8000 Demonstranten. Seit den frühen Morgenstunden lagen in dem Gebäude bereits Einsatzkommandos der Schutzpolizei in Bereitschaft. In der näheren Umgebung an der Sektorengrenze am Potsdamer Platz und am Brandenburger Tor hatten Einsatzkräfte der HVDVP und sowjetische Militärkontingente Bereitstellungsräume bezogen. Die Einheiten waren jedoch auf der Straße kaum präsent. Sie wurden verdeckt gehalten, um die Menge nicht zu provozieren. Sperrketten der Schutzpolizei verhinderten das Eindringen der Demonstrierenden in das Ministerium. Innerhalb kurzer Zeit wuchs die Menschenmasse vor dem Gebäude und in den Nebenstraßen auf 25 000 an. Die Demonstranten forderten: Weg mit den Normerhöhungen, Senkung der HOPreise um 40 Prozent, Rücktritt der Regierung, freie und geheime Wahlen. Trotz zum Teil strömenden Regens harrten die Menschen über eine Stunde auf dem Platz vor dem Gebäude aus. Die Menge erhielt ständig Zustrom aus den Nebenstraßen, andere entfernten sich, weil nichts geschah. In einer immer angespannter werdenden Atmosphäre unter den Demonstranten verstärkte das PdVP um 9.45 Uhr die Wachen vor dem Gebäude durch das MfS-Wachregiment. Doch die Menge war kaum mehr zu halten. Von der Seite drückten die Protestierenden gegen das Gebäude. Es kam zu Handgreiflichkeiten, Sperrketten rissen, der Gummiknüppel wurde freigegeben, um die Menge zurückzuschlagen. Die Arbeiter wehrten sich, entwaffneten die Polizisten, griffen selbst zu Schlagwerkzeugen. Viele Demonstranten erlitten Verletzungen, ebenso 13 Schutzpolizisten und 30 Angehörige des Wachregiments34. Die Wut der Menge wuchs weiter, allein 33 34

Vgl. Hagen, DDR - Juni '53, S. 56 f. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/539, Bericht der SED-KL Berlin/Mitte.

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schon deshalb, weil sich niemand ihrer Forderungen annahm. Das Haus der Ministerien blieb verschlossen. Mit dem Wasserstrahl aus Feuerwehrschläuchen versuchten Mitarbeiter des Hauses, die Demonstrierenden von den Eingängen zu verdrängen. Als Antwort flogen Steine. Eine plastische Schilderung der Situation gab im nachhinein ein Westberliner Passant: »Ich komme durch die Wilhelmstraße zur Sektorengrenze, die dort unmittelbar an dem Riesengebäude der Sowjetzonen-Regierung, dem ehemaligen Luftfahrtministerium, endang läuft. 30 bis 40 Volkspolizisten in Ledermänteln sperren die Wilhelmstraße ab. In der Prinz-AlbrechtStraße aber sind die dort sonst vorhandenen Eisenschranken weggerissen, und der Verkehr wogt frei an den Fenstern des Ministerpräsidenten Grotewohl vorüber. Über Ruinen komme ich in die Leipziger Straße, wo — vom Potsdamer Platz bis zur Friedrichstraße — ein Riesengewühl herrscht. Von einem Ruinenberg, den Dutzende erklettert haben, blicke ich auf die Menschenmenge. Mehrere Glieder Volkspolizisten, die sich gegenseitig am Koppel festhalten, haben den viereckigen Platz vor den Gebäudeeingängen umstellt, auf dem am Dienstag die Bauarbeiter demonstriert hatten. Dahinter sind drei grüngestrichene Panzerspähwagen mit drohenden MG-Läufen aufgefahren. Davor aber drängen sich die Massen. Ich komme gerade dazu, als ein Hagel von Steinen gegen die Regierungsfenster prasseln und fast alle Scheiben im Parterre und ersten Stock zertrümmern. Aus dem vergitterten Eingangstor in der Leipziger Straße sendet ein Wasserwerfer der Volkspolizei einen Strahl35.« Immer mehr Westberliner Bürger nahmen inzwischen, aus den westlichen Sektoren Berlins kommend, Anteil an den Geschehnissen im Zentrum Ostberlins. Teilweise waren diese Sektoren von Streikenden als Durchmarschgebiet benutzt worden, so z.B. von den Köpenickem oder den Hennigsdorfern, wobei die Westkollegen zur Solidarisierung aufgerufen worden waren. An den Sektorengrenzen bildete sich zudem eine große Schar Schaulustiger. Nicht wenige Westberliner beteiligten sich jedoch aktiv an den Protesten im Ostteil der Stadt. Sie überschritten die Sektorengrenze mit dem Bewußtsein, daß die Probleme der Arbeiter des einen Teils der Stadt auch die der Arbeiter des anderen seien. Viele hatte jahrelang mit Kollegen aus dem Osten zusammengearbeitet. Andere trugen eine tiefe Verbitterung über die SED-Politik im Herzen ob der politischen Maßnahmen gegen die Westberliner seit 1952. Es ist nachweisbar, daß sich z.B. DDR-Flüchtlinge aus dem Lager Reinickendorf aktiv an den Unruhen beteiligten. Sie waren Mitinitiatoren der Plünderung einer HO-Baracke in Wilhelmsruh36. Tatsache ist auch, daß sich Westberliner Organisationen engagierten, um der Regierung in Ostberlin einen politischen Eklat zu bereiten. Aktiv wurden Mitglieder der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU), der Ost35 36

Zit. nach: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 18. Juni 1953. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/539, Berichte der SED-BL Berlin.

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büros der CDU und der SPD mit Propagandamaterialien gegen die DDR37. Flugblätter der KgU -wurden am 17. Juni in allen Teilen Ostberlins aufgefunden. Sie enthielten soziale und politische Forderungen und verkündeten: »Das SED-Regime ist pleite38!« Es muß jedoch festgestellt werden: So sehr diese Organisationen von außen Widerstand gegen das DDR-Regime vor, während und nach dem 17. Juni 1953 leisteten, sie waren ebenso wie die Herrschenden im SED-Staat überrascht von dem Ausbruch des Unmutes in Ostdeutschland und weder in Berlin noch in der DDR Vorbereiter oder Lenker der Volkserhebung. Im Gefolge der Unruhen waren die Justizorgane der DDR bemüht, die Tätigkeit »bezahlter« Westberliner bei Sabotageakten und den Einsatz von Agentengruppen festzustellen und damit die von der SED propagierte Theorie des von außen gesteuerten Putschversuches zu stützen. Dies gelang kaum. Für das Gebiet außerhalb Berlins ist nachgewiesen, daß eine westdeutsche Teilnahme und ein Einfluß auf die Geschehnisse äußerst gering blieben39. Die Situation in der geteilten Stadt Berlin war hingegen anders. Westberliner hatten vielfältige Motive für die Beteiligung an den Unruhen, beginnend mit Neugier über Solidaritätsempfinden bis hin zu Haß und Antikommunismus, die aus der Berlin-Blockade oder anderen repressiven Maßnahmen der Abschottungspolitik der SED seit 1952 herrührten. Nach Verhängung des Ausnahmezustandes über Ostberlin waren die westlichen Alliierten, Westberliner Politiker und die Polizei bemüht, deeskalierend zu wirken. Die Polizei unterband dabei sowohl am 17. Juni als auch in den Folgetagen Aktionen der KgU40. Die Sicherheitskräfte wurden der Menschenströme aus Ost- und Westberlin immer weniger Herr. Abhilfe sollte die Unterbrechung des Verkehrsnetzes schaffen. Um 11.30 Uhr wies die Reichsbahndirektion in Abstimmung mit sowjetischen Behörden an, daß jeglicher S-Bahnverkehr in Berlin einzustellen sei. Den U-Bahnverkehr unterbrach das PdVP per Anweisung an den Verkehrsbetrieb, als gegen 10.00 Uhr bekannt wurde, daß etwa 6000 Hennigsdorfer Arbeiter durch die Westsektoren in Richtung Zentrum Berlin unterwegs waren und die U-Bahn benutzen wollten41. Straßenbahnen und Busse konnten aufgrund der Menschenmassen im Stadtzentrum ohnehin nicht mehr verkehren. Man erhoffte nun mit der Verkehrsstillegung den Zustrom der Arbeiter aus den Randgebieten zu unterbinden, doch die Demonstranten setzten ihren Weg zu Fuß fort. 37

38 39 40 41

Vgl zum Ostbüro der SPD: Bouvier, Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der SBZ, S. 295-310; Buschfort, Das Ostbüro der SPD, S. 92-108; Merz, Kalter Krieg, S. 193 f.; Hagemann, Der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen, S. 81-92. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/538, Bl. 137, Bl. 159 f., LOPM-Berichte Berlin. Vgl. Fußnote 37. Vgl. PhS, Bericht des Kommandos Schutzpolizei vom 20.6.1953. Vgl. BArch, Bestand MDI/HVDVP, 11 /304, Bl. 60, Einsatzbericht der HVDVP.

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Gegen Mittag eskalierte das Geschehen zwischen Potsdamer Platz und Alexanderplatz. Der angestaute Frust, die Passivität der DDR-Führung und die Repressivmaßnahmen der Polizei ließen die Demonstranten ihrerseits aktiv werden. Man wollte den Willen zu politischer Veränderung durch Taten untermauern. Die Aktionen waren jedoch aus der Situation heraus geboren, spontan und eher ziellos und meist Ausdruck hilfloser Wut. Polizeiabsperrungen wurden durchbrochen, gegen die Schutzmacht flogen Steine. Protestierende entwaffneten die VP-Wache vor dem ColumbusWarenhaus am Potsdamer Platz und verschleppten VP-Angehörige in den Amerikanischen Sektor. Funktionäre und Agitatoren wurden geschlagen, Polizisten mißhandelt. Unweit vom Sitz des Zentralrats der FDJ wurde ein Bücherstand in Brand gesetzt, Schaufensterscheiben der HO gingen zu Bruch, Randalierer plünderten Läden aus. Die Staatsmacht war nicht mehr Herr der Lage. Zu Tumulten kam es um 11.50 Uhr vor dem Gebäude des Nationalrates der DDR auf dem Leipziger Platz42. Demonstranten vernichteten die verhaßten DDR-Losungen. Gegen 11.20 Uhr erklommen drei Jugendliche das Brandenburger Tor und holten die DDR-Fahne herunter43. Unter dem Jubel der Menge verbrannten Protestierende die niedergeholten Fahnen44. Hunderte SED-Mitglieder warfen ihre Parteibücher und die SEDAbzeichen fort. An verschiedenen Stellen der Stadt traten demonstrierende Arbeiter Plünderern entgegen und verhinderten die Zerstörung von Ladeneinrichtungen, so beispielsweise in der Leipziger Straße. Auf dem Marx-Engels-Platz fand zu dieser Zeit eine Großkundgebung statt. Im Zentrum der Forderungen standen politische Veränderungen: der Ruf nach freien und geheimen Wahlen, nach dem Rücktritt der Regierung, nach Beseitigung der Allmacht der SED und nach Wiedervereinigung. Die Massenbewegung nahm nun Züge eines politischen Aufstandes an, die Aktionen blieben jedoch spontan, aus der Wut herausbrechend, ohne Führung, Koordination und klare Zielrichtung. Es war das Phänomen dieser wie anderer spontaner Massenbewegungen, daß die Demonstrierenden keine homogene Menge bildeten. Industriearbeiter, Angehörige der Mittelschichten, seltener der Intelligenz, Hausfrauen, Arbeitslose und Jugendliche einte nur der Wille zu politischen Veränderungen in der DDR. Eine sinngebende und koordinierende Führung bildete sich nicht heraus. Zu spontan waren die Bewegung wie ihre Einzelaktionen. Die Menge lebte von der Gemeinsamkeit des Frustes, dem »Wir«-Gefiihl im Aufbegehren gegen die Staatsmacht. Der Wille nach Veränderung in der DDR basierte auf einem allgemeinen Demokratieempfinden, kam in den Forderungen zum Ausdruck, der Weg 42

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/513, LOPM-Berichte über die Lage in Berlin am 17.6.1953. Einer der drei, die das Brandenburger Tor erkletterten und die rote durch eine Berliner Fahne ersetzten, war der einundzwanzigjährige Kraftfahrer Horst Ballentin. Vgl. PhS, Bericht der Polizeiinspektion Tiergarten vom 25.6.1953.

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dorthin erschöpfte sich aber meist im gemeinsamen Protest oder in ungezielten Einzelaktionen. Aufs Ganze gesehen blieb es ein überwiegend friedlicher Protest. Aktionen richteten sich mehr gegen Sachzeugen der SEDDiktatur denn gegen Personen oder Institutionen. Zumeist erzeugte Gewalt erst Gegengewalt. Panzer in Ostberlin Gegen 12.00 Uhr fielen vor dem Haus der Ministerien unweit des Potsdamer Platzes die ersten Schüsse seitens der eingesetzten Sicherheitsorgane, als die Menge versuchte, das Gebäude zu stürmen. Die Polizeikräfte waren im Stadtzentrum nicht mehr fähig, die Geschehnisse zu kontrollieren. Hier wie an anderen Unruheherden drohte das SED-Regime an der Wucht des Volkswillens unterzugehen. Doch Moskau war es mit der Erhaltung des DDR-Staates nunmehr ernst. Man hatte mit dem sowjetischen Generalstabschef und stellvertretenden Verteidigungsminister Marschall Sokolovskij, mit Marschall LA. Govorov und anderen ranghohen Militärs inzwischen einen einflußreichen Teil der sowjetischen Militärführung nach Karlshorst beordert. In direktem Kontakt mit Moskau leitete man von hier aus die Niederschlagung des Volksaufstandes. Von der Lage unterrichtet, gab Moskau gegen 11.00 Uhr die Weisung, in Berlin und an anderen Unruheherden militärisch durchzugreifen. Auch zur Verhängung des Ausnahmezustandes und zum Standrecht soll die militärische Führung der UdSSR in Berlin ermächtigt worden sein45. Gegen 12.30 Uhr forderte der sowjetische Militärkommandant der Zentralen Kommandantur der Stadt Berlin, Generalmajor Petr A. Dibrova, von einem Panzer aus die Menschen auf, den Potsdamer Platz zu räumen. Kurz darauf gab er den offiziellen Einsatzbefehl für die Einheiten der Sowjetarmee zur Herstellung von Ruhe und Ordnung in Ostberlin. Einheiten der sowjetischen Streitkräfte hatten im Zentrum Ostberlins seit etwa 10.00 Uhr insbesondere in der Nähe der Sektorengrenzen immer offensichtlicher Bereitstellungsräume bezogen. Nun, da die Ereignisse die Existenz der SEDHerrschaft zu bedrohen begannen, griffen sowjetische Panzer, Schützenpanzer und Schützenketten an allen Brennpunkten im Stadtzentrum ein. Panzer fuhren in die Demonstrationszüge, um die Massenansammlungen zu zerstreuen. Schützenketten und Artillerie sperrten die Sektorengrenzen ab und versuchten, einen weiteren Zustrom von Menschen aus dem Westteil der Stadt zu verhindern. Dies jedoch war nur in begrenztem Maße möglich, da allein Sektorengrenzschilder den Verlauf der Demarkationslinien kenntlich machten, die Grenzen quer über Plätze wie den Potsdamer Platz verlie45

Vgl. Semjonow, Von Stalin bis Gorbatschow, S. 296.

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fen. Vom Potsdamer Platz aus wurden die Demonstranten in Richtung Westsektoren und Leipziger Straße abgedrängt. Viele der Protestierenden flüchteten sich in die umliegenden Ruinen, um nach Weiterfahrt der Panzer Straßen und Plätze erneut zu bevölkern. Um 12.40 Uhr lösten sowjetische Panzer, von der Friedrichstraße kommend, einen Demonstrationszug in Richtung Brandenburger Tor auf. Widerstand wurde jetzt, wenn als notwendig erachtet, mit Waffeneinsatz gebrochen. Um 13.05 Uhr räumten Schützenketten und Panzerfahrzeuge der Sowjetarmee den Platz vor dem Ministerium für Post- und Fernmeldewesen in der Mauerstraße, nachdem es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen etwa 1500 Demonstranten und der Polizei gekommen war, die versuchte, das Gebäude abzusperren. Von den Fahrzeugen der Sowjetarmee wurden hierbei ungezielte MG-Salven über die Protestierenden abgegeben, die daraufhin fluchtartig in die Nebenstraßen drängten. Hier wie an anderen Stellen im Zentrum Berlins, hervorzuheben sind der Potsdamer Platz, die Straße Unter den Linden und der Alexanderplatz, gab es unter den Demonstranten viele Verletzte, aber auch Tote. Unter den Linden erfaßte ein Panzer einen jugendlichen Demonstranten und überrollte ihn. Anderswo trafen Querschläger oder gezielte Schüsse die Protestierenden. Rasch füllten sich die Krankenhäuser in Ost- und Westberlin mit Verletzten. Um 13.00 Uhr verhängte die Sowjetische Militärkommandantur über Groß-Berlin den Ausnahmezustand. Uber Lautsprecher und über den Rundfunk wurde die Entscheidung der sowjetischen Behörde den Berlinern bekanntgegeben. Ein großer Teil der Bevölkerung reagierte schockiert auf das sowjetische Eingreifen. Nicht wenige hatten geglaubt, der »Arbeiterund-Bauern-Staat« UdSSR würde ihren Protest gegen die SED tolerieren, ja, die Regierung für die gemachten Fehler ihrerseits zur Verantwortung ziehen. Viele Arbeiter, Angestellte und Hausfrauen verließen die Plätze und Straßen im Zentrum aus Furcht um das eigene Leben, aus Angst vor Repressalien der sich mit Gewalt präsentierenden Militärmacht oder aus Resignation. Andere blieben, empört über die Einmischung der UdSSR in eine oft als »deutsche Angelegenheit« bezeichnete Erhebung gegen das SED-Regime46. In hilfloser Wut flogen Steine gegen die Panzer, schlugen Jugendliche mit Knüppeln auf die Stahlkolosse ein. Das Bild auf den Straßen im Herzen Berlins veränderte sich in den Mittagsstunden. Es mehrten sich empörte, aggressive Demonstranten und Arbeiter, die politische Veränderungen erzwingen wollten. Uber die beiden Informationslinien der SED und der HVDVP wurden immer mehr Gruppen von 17- bis 25jährigen gemeldet, die Autos umkippten und anzündeten, die mit den Diskussionsgruppen der Studenten und der FDJ in handgreifliche Auseinandersetzungen gerieten und die auch gegen die eingesetzten 46

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/513, Bl. 19 f., LOPM-Bericht über die Lage in Berlin vom 17.6.1953.

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Sicherungskräfte gewalttätig wurden. In der Brunnenstraße wurde ein VPRevier gestürmt. Gegen 16.00 Uhr versuchten die Demonstranten, die Leipziger Straße aufzureißen und eine Barrikade zu errichten. Die DDRStaatsorgane registrierten 30 Angehörige des MfS-Wachregiments und mehrere Polizisten sowie 5 Mitarbeiter des Hauses der Ministerien, welche zum Teil erheblich verletzt worden waren 47 . Bei den Demonstrierenden mischte sich jetzt der Wille zu politischen Veränderungen in der D D R mit dem gesamten aufgestauten Unmut über die SED-Politik und hilfloser Wut über den gewaltsamen Einsatz von sowjetischem Militär und der DDR-Staatsmacht. Die Gummiknüppel und Wasserwerfer der Polizei, die Pistolen und Karabiner der KVP sowie die mit Panzern eingreifenden sowjetischen Militäreinheiten dokumentierten das Unrecht bewaffneter Gewalt gegen die berechtigten Forderungen der Protestierenden. Die Macht der Gemeinschaft auf den Straßen im Herzen Berlins ließ die Menge selbst die sowjetischen Panzer nicht fürchten. Einige versuchten, die Panzerfahrzeuge am Weiterfahren zu hindern, die Fahrerluken zu verdecken, die Ketten zu blockieren oder aber das Kanonenrohr zu verstopfen. Pflastersteine flogen immer häufiger gegen die Panzer. Gegen 14.15 Uhr räumten sowjetische Truppen, inzwischen verstärkt durch KVP-Einheiten, den Alexanderplatz. Bei dem Versuch, die Menschenmenge von etwa 25 000 Personen in die Nebenstraßen abzudrängen, kam es zu Auseinandersetzungen. Die KVP-Angehörigen und die Sowjetsoldaten setzten die Schußwaffen erst passiv ein, später gaben Sowjetsoldaten Warnschüsse ab. Die Demonstranten warfen mit Steinen, aber auch Knüppel und Zaunlatten gelangten gegen die Sicherungskräfte zum Einsatz. Die Zahl der Verletzten mehrte sich auf beiden Seiten, Demonstranten starben an Schußverletzungen. In ähnlichen Einsätzen erfolgte bis gegen 17.00 Uhr die Räumung des Potsdamer Platzes und der Leipziger Straße, der Umgebung um das Brandenburger Tor sowie des Marx-Engels-Platzes. Gegen 18.00 Uhr kam es in der Nähe des S-Bahnhofes Warschauer Straße an der Oberbaumbrücke zu einem besonderen Vorfall. Der Vorsitzende der CDU, Otto Nuschke, wurde in seiner Tatra-Limousine von den erregten Demonstranten gestoppt. Sie schoben das Fahrzeug mit dem stellvertretenden DDR-Ministerpräsidenten über die Oberbaumbrücke in den Westsektor der Stadt48. Hier griffen Westberliner Polizisten in das Geschehen ein und nahmen den CDUVorsitzenden vor den wütenden Demonstranten in Schutzhaft 49 . Ein kurzes Interview, welches der CDU-Vorsitzende einem RIAS-Reporter gab, ver47 48

49

Vgl. ebd. Nach Aussagen eines V-Mannes des Ostbüros der SPD soll dieser die Aktion initiiert haben. Vgl. Buschfort, Das Ostbüro der SPD, S. 95 f. Vgl. SAPMO-BArch, NY 90/437, Bl. 19 f., Bericht der Fahrer Nuschkes vom 18.6.1953.

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deutlicht sowohl die Überraschung der Regierenden über das Ausmaß der Unruhen wie die Einstellung der Staatsführung zu dem Geschehen. Nuschke erkannte die sozialen Ursachen der Proteste an, glaubte sie jedoch mit der Rücknahme der Normerhöhungen ausgeräumt und befürwortete somit den Einsatz sowjetischer Truppen zur Herstellung der Ordnung. Warum aber fuhr Nuschke in dieser Situation durch Berlin? Am Nachmittag des 17. Juni fand im Stab des Mdl in der Schnellerstraße eine von Ulbricht telefonisch anberaumte Sitzung führender SED-Funktionäre und Regierungsmitglieder statt50, auf der die Haltung der Regierung der DDR und der Blockparteien zu den Unruhen festgelegt wurde. Hier entstanden die Richtlinien für die Pressemitteilungen der Blockparteien am Folgetag. Der CDU-Vorsitzende hatte sich auf dem Weg in die Schnellerstraße befunden und dabei die Empfehlung mißachtet, die Brennpunkte der Unruhen zu meiden. Nach Verkündung des Ausnahmezustandes in Ostberlin waren von Westberliner Seite an der Sektorengrenze Lautsprecher aufgestellt worden, die zu Besonnenheit und Ruhe mahnten. Zwischen 17.00 und 20.00 Uhr lösten Westberliner Schutzpolizisten an der Sektorengrenze zum Ostteil der Stadt in mehreren Aktionen — z.B. in der Kochstraße und am Brandenburger Tor — die Menschenansammlungen auf dem Gebiet Westberlins auf. Dieses Vorgehen trug wesentlich zur Beruhigung der Situation im Stadtzentrum Berlins bei. Die Anweisungen des Westberliner Senats nach Rücksprache mit den westlichen Alliierten waren sowohl von dem Gedanken getragen, in der aussichtslos gewordenen Situation des Arbeiterprotestes gegen die bewaffnete Staatsmacht im Osten deeskalierend zu wirken, als auch von der Befürchtung, daß ein Übergreifen der Unruhen auf den Westteil der Stadt das Eingreifen sowjetischer Einheiten über die Sektorengrenze hinaus provozieren könnte. Gegen Abend des 17. Juni 1953 gelang es den sowjetischen Militäreinheiten im gesamten Ostberliner Stadtgebiet, den Ausnahmezustand schrittweise durchzusetzen. Dazu waren überall Panzer aufgefahren, hatten Infanterieeinheiten der Sowjetarmee mit Geschützen und Maschinengewehren an allen wichtigen Punkten in der Stadt Stellung bezogen. Die sowjetische Militärgewalt setzte in Berlin dem Volksaufstand ein Ende, nachdem sich die Polizeikräfte dazu als nicht in der Lage erwiesen hatten. Die Staatsmacht in der DDR hatte ihr bewaffnetes Potential jedoch nicht voll gegen den Volksaufstand ausgespielt. Nur sehr zögerlich, in größeren Kontingenten erst, als die Truppen der UdSSR die Situation bereits beherrschten, kam das stärkste bewaffnete Organ der DDR, die KVP, gegen die Arbeiter zum Einsatz. Zu groß war das Mißtrauen der SED-Führung und wohl auch der sowjetischen Militärkommandantur gegenüber diesen, in dieser Form erst ein Jahr existierenden militärischen Formationen. Von den 50

Vgl. Haupts, »Die CDU ...«, S. 296.

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Einsatzvorbereitungen zum 17. Juni ausgenommen, kam für die gesamte KVP die Alarmierung völlig überraschend und traf sie unvorbereitet51. Durch das Fehlen von Alarmplänen und jedweder Vorbereitung für die Herstellung der Einsatzbereitschaft gelang es nur sehr verzögert, die Arbeitsfähigkeit der Stäbe auf den verschiedenen Führungsebenen der KVP herzustellen. Angehörige des Mdl-Stabes wurden von ihren sowjetischen Beratern aus dem Bett geholt, andere völlig vergessen. Auf dem Weg zur Dienststelle begegneten den KVP-Offizieren bereits größere Gruppen von Demonstranten auf dem Adlergestell und zudem sowjetische Militärformationen der 12. Panzerdivision, die nach Berlin verlegten. Während das Straßenbild im Zentrum Berlins in hohem Maße von Demonstranten geprägt war, arbeiteten die zwei Einsatzstäbe zum Schutz der Staatsmacht fieberhaft. Der Operativstab im PdVP führte die Maßnahmen der HVDVP gegen die Protestierenden, in der MfS-Zentrale in der Normannenstraße lag unter der Führung vom MfS-Chef Zaisser der Hauptstab für alle exekutiven Maßnahmen zur Unterdrückung der Unruhen in Berlin und seit den Mittagsstunden für die gesamte DDR, soweit diese von deutschen Organen ausgeführt wurden. Uber eine Direktverbindung nach Karlshorst erhielt auch dieser Operativstab Anweisungen von der sowjetischen Besatzungsmacht. Durch Verbindungsoffiziere der KVP bestanden außerdem ständige Kontakte des Mdl-Stabes zu den sowjetischen Behörden in Karlshorst. Auch über diesen Kanal liefen Befehle und Weisungen an die DDR-Sicherheitsorgane. Absprachen über den Einsatz sowjetischer Militäreinheiten bzw. eine Koordinierung zwischen Militäreinheiten der UdSSR und den Sicherheitsorganen der DDR erfolgten anfangs nicht. Die Sowjetunion trat in vollem Umfang an diesem 17. Juni und in den Folgetagen als Besatzungsmacht auf und übernahm mit der Herstellung des Ausnahmezustandes die oberste Regierungsgewalt in der DDR. Um 5.30 Uhr des 17. Juni erhielt die Politoffiziersschule in BerlinTreptow durch den Minister des Innern, Willi Stoph, den Alarmbefehl. Der Kommandeur der VPS, Generalmajor Friedrich Dickel, Heß, entsprechend der Weisung des Innenministers, die Einsatzbereitschaft herstellen. Die Schule sollte in ihrer Gesamtstärke die operative Einsatzreserve zur Verfügung des Chefs der KVP stellen. Für den KVP-Einsatz entstand in der Normannenstraße ein Operativstab der KVP unter der Leitung des Generalmajors Kurt Wagner52. An die Offiziersschüler wurden die vorhandenen 307 Karabiner, an die Offiziere 129 Pistolen ausgegeben. Mehr Waffen sowie ausreichend Munition standen vorerst nicht zur Verfügung. Die Munition lagerte außerhalb des Objektes, ihre Zuführung zu den Einheiten 51 52

Vgl. hierzu die Erinnerungen von Drews und Schmidt in: Spurensicherung, S. 133-137 und 137-139. Vgl. BA-MA, DVH 3/3436, Bl. 85, Einsatzbericht der Politoffiziersschule BerlinTreptow.

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bedurfte der Zustimmung der sowjetischen Kontrolloffiziere und konnte auch wegen des Demonstrationsstromes in Richtung Zentrum auf der Straße vor der Kaserne vorerst nicht erfolgen. Gegen 9.00 Uhr rückte die erste Kompanie der Offiziersschüler mit dem Einsatzziel Warschauer Straße — Oberbaumbrücke aus der Kaserne aus. Der Kommandeur der VPS gab den Befehl, die Menschenansammlung an dem Übergang zu Westberlin aufzulösen. Der damalige Kompaniechef erinnert sich: »Dieser Befehl war außerordentlich allgemein, und es erfolgte auch keine nähere Erläuterung der politischen Lage und der Hintergründe für diesen Einsatzbefehl. Die Aufgabe bestand darin, mit der Kompanie, aufgesessen auf Lkw, in Richtung Stadtzentrum zu fahren, die Lkw, auf denen sich Karabiner und Munition befanden, in Seitenstraßen abzustellen und die Kompanie in kleine Gruppen aufzuteilen, unter die Demonstranten zu verteilen mit dem Ziel, auf die Demonstranten einzuwirken und die Demonstration aufzulösen. Offensichtlich waren die Informationen, die Generalmajor Dickel damals erhalten hatte, auch sehr allgemein, so daß er sich selber keine konkreten Vorstellungen über den Einsatz machen konnte. Er rechnete offensichtlich damit, daß dieser Einsatz nur wenige Stunden dauern sollte, so daß wir alle im Verlauf des Vormittages, spätestens mittags wieder in der Kaserne zurückerwartet wurden53.« Die Erinnerung widerspiegelt das Bild, welches sich die Einsatzstäbe und mithin die SED-Führung und die Regierung der DDR noch in den Vormittagsstunden des 17. Juni von den Demonstrationen der Bevölkerung machten. Man ging allgemein von dem friedlichen Protest des Vortages aus und glaubte mit der Rücknahme des Normenbeschlusses die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, die Demonstrationen durch Diskussion mit den Arbeitern auflösen zu können. Entsprechend lauteten die Weisungen an die KVP-Einsatzkommandos, sich in Diskussionsgruppen unter die Protestierenden zu mischen und sie von der vermeintlichen Hinfälligkeit des Arbeitskampfes zu überzeugen. »Vor Ort angekommen«, so erinnert sich der Kompanieführer der KVP weiter, »stellte sich erst einmal heraus, daß dieser Auftrag gar nicht ausführbar war und auf einer offensichtlichen Fehlbeurteilving der Lage beruhte. Es war mir gar nicht möglich, wie es mir befohlen war, die Kräfte der Kompanie einzusetzen [...] Auf jeden Fall wurde uns verboten, die Bewaffnung abzuladen. Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Einsatz ohne Waffen und damit ohne Schießerlaubnis zu erfolgen hat54.« Die KVP-Einheit sah sich Demonstranten in aufgebrachter Stimmung beidseitig der Brücke gegenüber. Es gelang den Offiziersschülern nur in sehr begrenztem Maße, die Brücke abzusperren, um ein Überschreiten der Sekto53

54

MGFA, Materialsammlung, Erinnerungsbericht des damaligen KVP-Angehörigen K.-H. Drews, Potsdam (MGI) 1990. Ebd.

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rengrenze insbesondere von Westberlinern zu verhindern. Sowohl die jungen KVP-Offiziere als auch die Offiziersschüler hatten Probleme mit der ungewöhnlichen Aufgabe und im polizeitaktischen Verhalten. Polizeiliche Räum- und Absperrketten standen nicht auf dem Ausbildungsplan, Polizeieinsatzmittel wie Gummiknüppel gehörten nicht zur Ausrüstung. Die KVPEinheiten wurden militärisch ausgebildet, und sie verstanden sich auch als Militärs. Um 11.00 Uhr erreichte ein Lkw mit 400 Karabinern und 12 000 Schuß Munition die Politschule Treptow. Erst jetzt konnten die anderen Kompanien die Einsatzbereitschaft herstellen. Um 13.00 Uhr erging der Befehl des Ministers des Innern, alle bewaffneten Kräfte unter Abzug eines Objektschutzes für den Einsatz gegen die Demonstranten zur Verfügung des Einsatzstabes Normannenstraße bereitzustellen55. Bis zu diesem Zeitpunkt befanden sich drei Kompanien der Politschule Treptow im Einsatz gegen Demonstranten am Potsdamer Platz und an der Oberbaumbrücke. Die gesamte Oranienburger Bereitschaft wurde immer noch in Friedrichsfelde als Einsatzreserve zurückgehalten. Erst in den Mittagsstunden, als sich erwies, daß die eingesetzten Kräfte der Schutzpolizei den Aufgaben zur Auflösung der Demonstrationen nicht gewachsen waren, wurden weitere Kompanien der VPS Treptow in Richtung Stadtzentrum verlegt. Die 5. Kompanie erhielt den Befehl, von der Oberbaumbrücke zum PdVP zu fahren und dort in Bereitstellung zu gehen. Gegen 11.30 Uhr wurde sie dann zur Unterstützung der Polizeikräfte auf dem Alexanderplatz bei Absperrmaßnahmen eingesetzt. »Wir erhielten die Aufgabe, die Absperrung am S-Bahnhof, in der Breiten Straße und der Alexanderstraße zu verstärken. Auf dem Alexanderplatz hatten sich riesige Menschenmassen versammelt, die dort durch die Kräfte der Volkspolizei nicht mehr beherrscht werden konnten [...] Die Aufgabe bestand darin, den Alexanderplatz von den Menschenmassen zu räumen. Das war eine völlig illusorische Aufgabenstellung. Der konnten wir überhaupt nicht gerecht werden. Uns gelang es lediglich, die Absperrmaßnahmen aus Richtung Westberlin in Richtung Alexanderplatz aufrechtzuerhalten. Aber selbst dort verstärkte sich der Druck immer mehr, so daß erst gegen 13.00 Uhr mit dem Einsatz der Sowjetarmee auf dem Alexanderplatz diese Aufgabe in Angriff genommen werden konnte und der Platz geräumt wurde56.« Später ergänzte Drews seine Erinnerungen um eine Sequenz, die hier wichtig erscheint: »Dort erfuhren wir von Augenzeugen, daß einzelne VPAngehörige im Verlauf des Vormittags — meist durch Gruppen randalieren-

55

56

Vgl. BA-MA, DVH 3/3436, Bl. 84, Einsatzbericht der Politoffiziersschule BerlinTreptow. MGFA, Materialsammlung, Erinnerungsbericht des damaligen KVP-Angehörigen K.-H. Drews, Potsdam (MGI) 1990.

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der Jugendlicher — eingekreist, entwaffnet und entfuhrt worden waren57.« Mag diese Ergänzung eine späte Erinnerung oder eine Rechtfertigung sein, Tatsache ist, daß derartige Informationen den einzusetzenden Kommandos gezielt präsentiert wurden, um die KVP-Angehörigen politisch zum Einsatz zu motivieren. Traten sie dann den wütenden Massen gegenüber, die ihrerseits ihren Protest gerechtfertigt sahen, nicht jedoch den Polizeieinsatz gegen die »führende Klasse« im SED-Staat, schien sich manchem Polizisten eben dieses Bild zu bestätigen bzw. ins Gedächtnis eingegraben zu haben. Wen mag verwundern, daß derartige Erlebnisse die Wahrnehmung des 17. Juni heute noch ebenso mitprägen, wie die der Demonstranten, die für die Wahrnehmung ihrer Verfassungsrechte vom SED-Staat unterdrückt, physisch verletzt oder zu langen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Die Erinnerungen der KVP-Angehörigen wie auch die Archivberichte verdeutlichen, daß bereits in dieser Phase des Volksaufstandes den Einsatzstäben der Staatsorgane der DDR die Kontrolle über die Ereignisse aus den Händen geglitten war. Das Ausmaß der Erhebung überstieg die Möglichkeiten der vorhandenen Einsatzkräfte. Einen rigorosen Befehl zum Niedermetzeln der Protestbewegung konnte und wollte wohl auch niemand geben. Die SED- und Staatsführung stand der unerwarteten Massenbewegung ratlos gegenüber. Erst das Eingreifen sowjetischer Militäreinheiten mit Panzertechnik und unter Schußwaffengebrauch wendete das Blatt. Sehr genau erinnert sich einer der KVP-Angehörigen an den Einsatz sowjetischer Militäreinheiten auf dem Alex: »Die sowjetischen Kräfte im Raum Alexanderplatz hatten einen Bestand von einem Panzer T-34 und von zwei bis drei Mot.-Schützen-Gruppen, die mit MPi, IMG und sMG bewaffnet waren. Der Einsatz erfolgte in Richtung Beimlerstraße, in Richtung der heutigen Rathauspassagen. Vorneweg fuhr der Panzer mit einem Offizier in der Turmluke, der von den Demonstranten beschimpft und mit Steinen beworfen wurde. Der Panzer wurde von Mot.-Schützen flankiert, die mit Schützenwaffen ausgerüstet waren und Warnschüsse in die Luft abgaben. Durch diesen demonstrativen Schußwaffen- und Panzereinsatz entstand offensichtlich auch eine Panik unter den Demonstranten, und in 15-20 Minuten waren dann die Massen vom Platz verdrängt58.« Am Alexanderplatz, später auch am Potsdamer Platz und am Brandenburger Tor kamen bei Räumeinsätzen KVP-Einheiten zum Einsatz. Sie operierten an den Brennpunkten des Geschehens jedoch ausschließlich hinter den sowjetischen Schützenketten zur Absicherung und Auflösung kleinerer Menschengruppen. Die KVP-Soldaten durften dabei ihre Karabiner nur passiv, d.h. mit dem Kolben bzw. zum Drücken einsetzen. Bei der Mehrzahl der Einsatzkommandos verfügten überdies bloß die Offiziere 57 58

Drews, Alexanderplate und Sektorengrenze, S. 135. MGFA, Materialsammlung, Erinnerungsbericht des damaligen KVP-Angehörigen Lindig, Potsdam (MGI) 1990.

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über einen Satz Pistolenmunition. Im direkten Räumeinsatz waren die KVPKompanien zumeist dem sowjetischen Befehlshaber und Einsatzleiter unterstellt. Nach dem Auflösen von Menschenansammlungen übernahmen die KVP-Kommandos dann Sicherungs- und Absperraufgaben. In den Mittags- und Nachmittagsstunden gelangten schrittweise alle in Berlin zusammengezogenen KVP-Einheiten zum Einsatz. Die 2., 3. und 4. Kompanie der KVP-Schule Treptow erhielten vom Einsatzstab Zaisser/Hoffmann die Weisung, unter Führung von MfS-Offizieren gemeinsam mit den MfS-Kräften an der Verhaftung von Streikführern und »Rädelsführern« teilzunehmen59 sowie große Betriebe in Berlin zur Unterbindung von Streiks und Demonstrationen zu besetzen. Die anderen Treptower Kompanien sowie die Einheiten der VPB Oranienburg60 übernahmen seit dem Nachmittag bis in die Nacht hinein Absperrmaßnahmen an den Sektorengrenzen zu Westberlin. Ihre Hauptaufgabe war es, das Überschreiten der Demarkationslinie insbesondere für Westberliner unmöglich zu machen und »verdächtige Personen« in Haft zu nehmen. Die Sektorengrenze war zu diesem Zweck in 5 Abschnitte unterteilt worden, an denen Kommandos der КУР und VP in Stärke von 250 bis 700 Mann eingesetzt waren, die unter der Führung von Generalmajor Wagner standen, der seit 17.00 Uhr als Stabschef im PdVP fungierte61. Die Durchsetzung des Ausnahmezustandes im Stadtzentrum besorgten hauptsächlich die sowjetischen Militärformationen. In den Morgenstunden des 18. Juni meldete der KVP-Einsatzstab den Versuch einer Gruppe von 400 Demonstranten, an der Brücke nach Wilhelmsruh in den Osten zu gelangen, der entschieden abgewehrt worden sei. Ansonsten habe es keine besonderen Vorkommnisse oder Schußwaffeneinsatz an den Sektorengrenzen, jedoch 550 Verhaftungen durch die KVP gegeben. Insgesamt seien 46 Polizisten (darunter 3 Angehörige der KVP) verletzt und davon 14 stationär in Krankenhäuser eingeliefert worden, darunter ein KVP-Angehöriger62. Auch in den Folgetagen prägten sowjetische Panzer und Militärpatrouillen das Straßenbild in Ostberlin. In den Morgenstunden begannen die Sowjets ihre Positionen an der Sektorengrenze militärisch auszubauen. Geschütze 59

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In Berlin wurden dazu 120 KVP-Angehörige den Einsatzgruppen des MfS unterstellt. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ I IV 2/202/14, o.B., Einsatzbericht des Einsatzstabes K V P im MfS vom 18.6.1953, 0.00 Uhr. Die Kräfte der Bereitschaft Oranienburg erhielten erst um 16.00 Uhr den Einsatzbefehl zu Sicherungsmaßnahmen an der Oberbaumbrücke bis nach Berlin-Schönefeld. Ihr Kommandeur, Oberstleutnant Streletz, mußte sich im nachhinein verantworten, weil seine Einheiten erst um 18.15 Uhr die Einsatzräume erreichten. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ I IV 2/202/14, o.B., Einsatzbericht des Einsatzstabes K V P im MfS vom 18.6.1953, 0.00 Uhr. Vgl. ebd., Einsatzbericht K V P sowie Lagebericht des Operativstabes PdVP vom 18.6.1953.

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wurden eingegraben, Schützenmulden ausgehoben. Man bereitete sich auf die Grenzsicherung in der zweiten Staffel hinter Polizei und KVP vor und zeigte der Berliner Bevölkerung unter geltendem Ausnahmerecht gleichzeitig Präsenz. Obwohl offensichtlich wurde, daß die westlichen Alliierten die Hoheitsrechte Moskaus in Ostberlin nicht anzutasten gedachten und eher beruhigend wirkten, fürchtete man deren Eingreifen. Argwöhnisch beobachtete die sowjetische Seite das Verhalten der alliierten Truppen in Westberlin63. Dies lag offenbar daran, daß man sich von sowjetischer Seite von Anbeginn einen solchen Ausbruch der Volksgewalt nur als westlich gesteuerte Bewegung vorstellen konnte. Obwohl Ausnahmezustand herrschte und überall sichtbar Militär- und Polizeistreifen operierten, setzten Tausende in den Berliner Betrieben den Streik fort. Auf den Baustellen war nur ein Drittel der Arbeiter anwesend, die jedoch die Arbeit nicht aufnahmen. Man diskutierte die Geschehnisse des Vortages und wartete auf Anweisungen der Streikleitung. Viele Baustellen im Zentrum waren zudem durch sowjetische Panzer blockiert. Nach offiziellen Angaben der SED wurde am 18. Juni in 80 Prozent der Betriebe in Berlin-Mitte bereits wieder gearbeitet, am Folgetag waren von 24 053 Arbeitern in den Produktionsbetrieben 17 141, von 1197 in Versorgungsbetrieben 965 an ihrem Arbeitsplatz. Am 16. Juni hatten nach diesen Angaben von 530 Betrieben im Stadtzentrum 9 Baustellen und Betriebe mit etwa 15 000 Beschäftigten, am 17. Juni 30 Betriebe mit 25 000 Kollegen gestreikt64. Offensichtlich geben die offiziellen Zahlen nicht das gesamte Ausmaß der Protestbewegung in Berlin wieder, eine genauere Analyse scheitert jedoch an fehlenden bzw. sehr wiedersprüchlichen Angaben, so daß den zu geringen offiziellen Zahlen der Vorzug gegenüber eher spekulativen höheren Zahlen gegeben wird. Relativ schnell kehrte in Berlin »Normalität« ein. Dies hatte seine Ursachen. Sowjetische Soldaten bzw. KVP-Kommandos hatten manchen Betrieb besetzt bzw. demonstrierten davor die bewaffnete Staatsmacht bei geltendem Ausnahmerecht. Die Polizei ließ auf den Straßen Ansammlungen ab drei Personen nicht mehr zu. Frei bewegen konnten sich am 18. Juni eigentlich nur die Agitationstrupps der SED und FDJ. Insbesondere das MfS, aber auch VP und KVP hatten bereits während der Unruhen begonnen, Angehörige oder ganze Streikleitungen sowie Wortführer gezielt zu verhaften, um der Protestbewegung die Köpfe zu nehmen. So waren die Streikleitungen des KWO Köpenick, von Bergmann-Borsig, des RFT Treptow, des KWO, des VEB Ausbau, des Kabelwerks »Karl Liebknecht« und des VEB

63 64

Vgl. Meldung von Grecko und Tarasov an Bulganin vom 18.6.1953, 11.00 Uhr in: Ostermann, This Is Not A Politburo, S. 90 f. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/ 5/ 539, Bl. 56 - 92, LOPM-Bericht Berlin Mitte.

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»7. Oktober« ganz oder zum größten Teil inhaftiert. Bis zum 19. Juni befanden sich allein in Ostberlin 1406 Personen »in Gewahrsam« 65 . Insgesamt hatten die sowjetischen Militärs und die DDR-Staatsmacht seit dem 18. Juni Ostberlin fest im eisernen Griff. Demonstrationsversuche wurden im Keim erstickt. Straßen und Plätze im Zentrum der Stadt sowie die Sektorengrenzen waren von Polizei und KVP gesichert, sowjetische Militärpatrouillen kontrollierten alle neuralgischen Punkte. Die Erhebung in Berlin war unterdrückt, hatte trotz anhaltender Streiks keine Möglichkeit, die Macht des Vortages zu erreichen. Klar war zudem allen geworden, daß die westlichen Alliierten, Westdeutschland und Westberlin den Aufständischen keine Unterstützung gewährten. Zu groß war die Gefahr eines Dritten Weltkrieges. Die Ostberliner Bevölkerung verhielt sich abwartend, harrte der Dinge, die da kommen würden. Tausende jedoch waren noch in den Westsektoren, und viele blieben später auch dort. Den Einheiten der KVP kamen nun Sicherungsaufgaben zu. Dazu zählte die Bewachung von Betrieben, öffentlichen Gebäuden und Verkehrsknotenpunkten. Bis zum 23. Juni sperrten Kompanien der VPS Treptow, VPB Potsdam und der VPB Oranienburg die gesamte Sektorengrenze zu Westberlin ab. KVP-Streifen suchten in den Ruinen an der Demarkationslinie nach versteckten »Provokateuren«, das DDR-Militär war weiterhin in die Verhaftungsmaßnahmen involviert. In den Folgetagen des 17. Juni wurde die KVP in Ostberlin weiter verstärkt. Zur Sicherung der Grenzlinie nach Westberlin und am Ring um Berlin war vom 18. Juni bis 12. August die am 17. Juni nach Berlin beorderte Bereitschaft Prenzlau eingesetzt. Vom 4. August bis zum 9. September löste die Bereitschaft Prora die KVP-Einsatzkräfte in Berlin ab. Der Kommandeur der Division Prora meldete in der Einsatzzeit die Verhaftung von 237 Personen. Darunter waren viele, die nur gegen die Ausgangssperre verstoßen hatten. Die KVP war somit in vollem Umfang als Exekutive in die Verhaftungswelle, die nach dem Volksaufstand einsetzte, mit einbezogen. Bereits am 17. Juni hatten die Staatsorgane im Magerviehhof ein Sammellager für die Verhafteten (geplant für bis zu 5000 Mann) errichtet. Unter zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen ließ man hier Hunderte Menschen zusammenpferchen, die bis in den Juli hinein auf eine Untersuchung bzw. eine Verurteilving zu warten hatten. In den offiziellen Berichten, aber auch in Erinnerungen wird bei den innerhalb Berlins eingesetzten KVP-Angehörigen eine große Einsatzbereitschaft für die Erfüllung der gestellten Aufgaben gegen die demonstrierenden Arbeiter geschildert. Die Mehrheit der Soldaten und Offiziere glaubte danach den in den Politinformationen und Einsatzvorbereitungen gegebenen Einschätzungen, wonach es sich bei der Erhebung um einen »von Westber65

Vgl. Kowalczuk/Mitter, »Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden ...«, S. 58.

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liner Agenten initiierten Putschversuch« gehandelt habe. Die relativ hohe Zahl erkennbarer Westberliner Bürger, derer die KVP-Angehörigen während des Einsatzes gewahr wurden, verstärkte diese Ansicht. Hinzu kamen Gefühle der Ungewißheit und der Angst in der Ausnahmesituation, die einen Prozeß des Nachdenkens über die gestellten Aufgaben in den Hintergrund treten ließen. In Gewissensnot geriet so mancher KVP-Angehörige erst nach dem 17. Juni, als die Patrouillen und Sperrposten den Haß und die Ablehnung der Bevölkerung zu spüren bekamen. Diese Ablehnung durch die Berliner Bürger stärkte bei überzeugten KVP-Angehörigen den Einsatzwillen, sie war andererseits jedoch auch eines der Hauptmotive zum Verlassen der Einheit. Die VPB Prora verzeichnete im Einsatzmonat August allein 35 Desertionen, die VPB Prenzlau 24, darunter die Gemeinschafts flucht eines ganzen Kommandos am Abschnitt 2, Potsdamer Platz. Bezeichnend für innere Konflikte bei KVP-Angehörigen ist auch, daß in der Bereitschaft Prenzlau in den knapp vier Wochen des Einsatzes drei Suizidversuche gemeldet werden mußten66. Im allgemeinen jedoch erwies sich die KVP während ihres BerlinEinsatzes als regierungs- und SED-treues bewaffnetes Organ. Sie erfüllte ihre Aufgaben in der sich klärenden Situation und unter Rückendeckung durch die sowjetische Militärmacht konsequent und dienstbewußt. Das von der SED propagierte Bild von einem konterrevolutionären Puschversuch ließ für die meisten Soldaten und Offiziere der KVP eine Diskrepanz zwischen dem postulierten Ziel des »bewaffneten Organs der Arbeiterklasse« und dem Einsatz eben gegen diese nicht aufkommen. In Ostberlin war damit der Widerstandswille der Bevölkerung für lange Zeit gebrochen. Weder erreichten die Streiks der Folgetage des 17. Juni das Ausmaß wie in anderen Gebieten der DDR, noch kam es hier zu einer wahrnehmbaren zweiten Welle der Empörung im Juli 1953. Die restriktiven Maßnahmen im Ostteil der geteilten Stadt wurden nur langsam zurückgenommen, die KVP kontrollierte noch bis Oktober 1953 die Sektorengrenzen zu Westberlin. Erst danach kehrte wieder eine gewisse Normalität in den Ostsektor Berlins zurück.-Die Niederschlagung des Protestes »mit rücksichtsloser Gewalt und der anschließende Rachefeldzug der SED lösten eine tiefe Depression in der gedemütigten Bevölkerung aus, wie sie erst nach dem Mauerbau am 13. August 1961 wieder eintreten sollte«67.

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Zu allen Angaben zu den VPB Prenzlau und Prora vgl. BA-MA, DVH 3/3436, Bl. 5 ff., Einsatzberichte der Bereitschaften. Vgl. Neubert, Opposition, S. 89.

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Das ganze Land im Aufstandsfieber? Wie ein Flächenbrand breitete sich das Feuer der Erhebung über die gesamte D D R aus. Die Proteste der Berliner Bauarbeiter am 16. Juni 1953 in Ostberlin wirkten als Initialzündung fur das Pulverfaß angestauten Unmuts im ganzen Land. Vor allem die Arbeiter in den Großstädten und Industriezentren der D D R nahmen den Funken des Protestes auf und solidarisierten sich mit den Forderungen der Berliner Bauarbeiter und deren Arbeitskampf. Die Volkserhebung begann in den frühen Morgenstunden des 17. Juni mit der Wucht, mit der sie am Abend zuvor in Berlin geendet hatte. In so mancher Fabrikhalle entwickelten sich in den Morgen- und frühen Vormittagsstunden hitzige Diskussionen um die Frage Teilnahme oder Nichtteilnahme am Streik. Oft war es die Kunde von Streiks in den Nachbarbetrieben oder aber von den Massenaktionen in der Hauptstadt, die den Ausschlag für die Teilnahme gab. Der Faktor der gegenseitigen Ermutigung zur Aktion gegen die SED-Politik erlangte am 17. Juni und in den Folgetagen eine immense Bedeutung. Die Meldungen des RIAS wurden in vielen Betrieben im Osten Deutschlands am Morgen des 17. Juni diskutiert. Aufgrund der inneren Krise und der katastrophalen Versorgungslage gab es allenthalben eine latent vorhandene Streikbereitschaft. Es bedurfte nur des zündenden Funkens, den die Berliner Bauarbeiter mit ihrer Demonstration erzeugten, und der Ausweitung der Idee eines Massenprotestes. Die Forderungen der Protestierenden, so ähnlich sie in den verschiedenen Regionen sein mochten, fanden zwar durch die Ausstrahlungen des RIAS Verbreitung, sie repräsentierten jedoch ureigenste Wünsche der Mehrheit der D D R Bevölkerung und waren bereits vor dem 17. Juni artikuliert worden. Insbesondere nachdem die Regierenden mit der Verkündung des Neuen Kurses Fehler eingestanden hatten, wurde in Versammlungen und Diskussionen sowie bei den Streiks der Rücktritt der Regierung als logische Konsequenz der verfehlten Politik eingeklagt68. »Will man«, so habe ich 1991 geschrieben, »das Übergreifen der Protestbewegung von Berlin auf die Bezirke der D D R bildlich fassen, bieten sich die Ringwellen an, die ein ins Wasser geworfener Stein erzeugt. So lassen sich Streiks und Demonstrationen sowie insbesondere ihr Anschwellen zu einer Massenbewegung in den Bezirken Magdeburg, Potsdam, Halle und Leipzig zeitlich bereits früher feststellen als beispielsweise in Gera oder Dresden. Dabei erklärt sich die stärkere Ausbreitung in Richtung Süden der D D R aus der weit größeren Präsenz von Industriebetrieben und deren natürlicher wirtschaftlicher Verbindung untereinander sowie zu Berliner Produktionsstätten. Den Bezirk Rostock erreichte jene Welle erst am 18. Juni,

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VgL Roth, Regional- und lokalgeschichtliche Forschungen, S. 62 f.

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im Mecklenburger Land versandete sie mangels Ballung sich gegenseitig motivierender Industriebetriebe69.« Nachdem sich die Historiographie mit dem neuen Quellenzugang im Gefolge der Wende anfänglich bemühte, die Geschehnisse in ihrer Gesamtheit zu erfassen und zu werten70, erwies es sich auch angesichts der Breite der überlieferten ostdeutschen Quellenbasis alsbald als richtig, den Volksaufstand tiefgreifender regionalgeschichtlich und im Verhalten der Bevölkerungsgruppen zu untersuchen71. Inzwischen liegen mehrere solche, z.T. sehr detaillierte Untersuchungen vor72. Sie dokumentieren die Vielfältigkeit der Proteste in ihrer Initialzündung, ihren Trägem, Forderungen und Verläufen umfassend. Wenngleich manche Verläufe aber auch das »Ringwellen-« wie das »Drei-Phasen-Modell« zu bestätigen scheinen73, ist es angeraten, von einer vereinfachten Schematisierung abzusehen. Letztlich zeigen die Detailstudien eine zeitliche und regionale Eigendynamik einer jeden dieser Protestbewegungen74. Während z.B. in einem Betrieb des Leipziger Randgebietes bereits in der Nacht zum 17. Juni die Arbeit niedergelegt und Leipzig seit dem frühen Morgen großflächig bestreikt wurde, flackerte die Protestwelle in umliegenden Ortschaften wie Delitzsch, Bad Düben oder Schmölln erst nachmittags auf, als Pendler von der Arbeit im Chemiedreieck zurückkehrten. In den in näherer Umgebung von Leipzig liegenden Industriestandorten Borna, Espenhain und Böhlen blieb es, abgesehen von wenigen kurzzeitigen Streiks, fast ruhig75. Der Zeitpunkt des Beginns von Arbeitsniederlegungen war, das haben die Forschungen erwiesen, sehr unterschiedlich und von den verschiedensten Faktoren abhängig. Oft zeigte sich neben den Informationen aus Berlin als motivierender Faktor, daß Streiks in Nachbarbetrieben oder in der Region bekannt wurden. In Brandenburg, Magdeburg, Leipzig sowie im weiter entfernten Jena und Görlitz begannen die Aktionen am 17. Juni nahezu zeitgleich mit den Berliner Protesten. Während im nordöstlich von Berlin gelegenen Strausberg die Arbeiter der Bau-Union am KVP-Bauobjekt Eggersdorf bereits ab 6.00 Uhr den Arbeitskampf aufgenommen und die Flamme der Empörung in die umliegenden Großbetriebe getragen hatten76, blieb es im südwestlich Berlins gelegenen Potsdam bis in die Mittagszeit 69 70

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Diedrich, Der 17. Juni, S. 97. Siehe hierzu u.a. Diedrich, Der 17. Juni; Hagen, DDR - Juni '53; Mitter/Wolle, Untergang auf Raten. Vgl. Diedrich, Putsch - Volksaufstand, S. 11; ders., Zwischen Arbeitererhebung, S. 3 0 1 - 3 0 5 . Beispielgebend für regionale Untersuchungen: Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen; für die soziale Zusammensetzung der Protestbewegung: Der Tag X. Siehe hierzu Klein, Die Arbeiterrevolte, H. 3; Roth, Der 17. Juni im Bezirk Leipzig. Siehe hierzu Hagen, DDR - Juni '53. Vgl. Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 1 0 4 - 1 1 2 und 1 3 5 - 1 5 7 . Vgl. Schwarze, Strausbergs heißer Juni, S. 1 4 - 1 7 ; Lucker, Strausberg, S. 58.

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ruhig77. Andernorts, wie in Riesa oder Radebeul, entwickelten sich die Proteste erst nachmittags, z.T. als der Ausnahmezustand bereits verhängt war78. Die mobilen Bauarbeiter waren oft und in fast allen Bezirken der DDR Mitinitiatoren und Träger der Protestbewegung. Sie erklärten sich als erste solidarisch mit ihren Berliner Kollegen und legten die Arbeit nieder. Damit setzten die Arbeiter der Bau-Union, die in den Industriezentren und in vielen Werken tätig waren, das Zeichen fur den allgemeinen Streik. Wie auch für den Berliner Raum nachweisbar, fuhren sie mit ihren Baufahrzeugen zu umliegenden Industriebetrieben, um die Streikbewegung auszuweiten. Im Bezirk Frankfurt/Oder waren sie die Auslöser fast der gesamten Protestbewegung79. Zudem gelangten über das Fernsprechnetz und durch Dienstreisende die Meldungen von der Massenbewegung in der Hauptstadt selbst in Regionen, die nicht im Sendegebiet des RIAS lagen. Roth weist jedoch zu Recht darauf hin, daß die Streikbewegung nicht nur von den Bauarbeitern ausging, sondern der Einfluß der Arbeiterschaft aus den Industriegebieten nicht nur größer, sondern auch prägender für die Gesamtbewegung war. Im Bezirk Dresden ging die Initiative für die Protestbewegung von den Arbeitern der SAG Sachsenwerke Niedersedlitz und dem VEB ABUS, in Görlitz von den beiden LOWA-Werken aus. Diese volkseigenen oder sowjetisch kontrollierten Betriebe80 brachten nicht nur das größte Menschenpotential in die Protestbewegung ein, sondern formulierten meist auch die Forderungen und gaben der Bewegung durch ihre Streikleitungen und Streikführer das Gepräge. Beispielgebend ist hier etwa die Rolle von Wilhelm Grothaus in Dresden81. Der kommunistische Kämpfer gegen den Faschismus und SED-Funktionär in der Landesregierung Sachsen war 1950 in Ungnade gefallen und nun kaufmännischer Angestellter im VEB ABUS. Mit seinem Engagement für Demokratie und Freiheit in seinem Betrieb und der SAG Sachsenwerke gab er Anstöße für den politischen Forderungskatalog und die Einberufung einer Delegiertenkonferenz am 18. Juni. Damit profilierte er sich zu einem der Köpfe des Aufstandes in Dresden82. Mit seiner Verurteilung zu 15 Jahren Zuchthaus wurde er Opfer auch der zweiten Diktatur in Deutschland. Trotz aller Unterschiede trug die Entwicklung der Streikbewegung am 17. Juni an den verschiedensten Orten der DDR ähnliche Züge. Die Arbeiter und Angestellten kamen in den Morgenstunden wie gewohnt zur Arbeit. In manchem Betrieb begann das Tagewerk ganz normal, in anderen brach77 78 79

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Vgl. Oelschläger, Ich glaube nichts mehr, S. 41 f. Vgl. Roth, Regional- und lokalgeschichtliche Forschungen, S. 61 f. Vgl. BStU, SdM 249, Bl. 1 6 - 2 4 , Bericht der SED-Kreisleitung VII с des MfS vom 24.6.1953. Sieh hierzu Roth, Die SAG-Betriebe und der 17. Juni. Vgl. Roth, Wilhelm Grothaus, S. 55 - 63. Vgl. Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 602.

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ten die Informationen über die Berliner Ereignisse erste Diskussionen unter die Arbeiter. Zum Teil gerieten durch die Betriebsführung zur Normfrage anberaumte Belegschaftsversammlungen zu hitzig geführten Debatten, anderswo beraumten Streikende solche Treffen spontan an. Nicht selten versuchten Betriebsparteisekretäre und andere beauftragte Genossen mit der Information von der Rücknahme des Normenbeschlusses die Wogen zu glätten. Es gab nicht wenige Fälle, in denen dies gelang. Aber in den industriellen Ballungsgebieten ging es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr um die Normfrage, sondern um die offen artikulierte Forderung nach politischen Veränderungen in der DDR. In vielen Betrieben gelangte der Streikgedanke über Dienstreisende unter die Beschäftigten. Am 17. Juni beispielsweise wurde im Walzwerk »Willi Becker« in Kirchmöser bis gegen 11.00 Uhr gearbeitet. Um diese Zeit kehrte ein Kollege aus Brandenburg zurück. Er berichtete über Streiks und Demonstrationen in der Stadt. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Information. Gegenüber dem sofort eingreifenden Parteisekretär und Mitgliedern der SED setzte sich die Menge in der Diskussion durch, zumal sie bei FDGB-Funktionären Unterstützung fand. Die Walzwerker identifizierten sich mit den aus Brandenburg übermittelten Forderungen. Hinzu gesellte sich der Gedanke der Solidarität mit den bereits Streikenden. Es gelte, so war hier wie andernorts in den Diskussionen zu hören, die Streiks zu einer Massenaktion auszuweiten, denn nur gemeinsam sei man stark, das habe die Geschichte gelehrt. Das Bewußtsein der Masse Gleichgesinnter beflügelte hier wie vielerorts die Bereitschaft zum Protest gegen die Herrschenden. Das »Wir-Gefühl« überzeugte oft die Zögernden, die Furcht um ihren Arbeitsplatz oder vor staatlichen Repressalien hatten. Die Walzwerker bildeten eine Streikleitung und traten in den Ausstand. Sie beauftragten ihre Streikführung, einen Forderungskatalog zu erarbeiten, der an die Regierung weitergeleitet werden sollte83. Um die Lage zu erkunden und den Streikgedanken weiterzutragen, entsandten die Walzwerker eine Delegation in das nahegelegene Reichsbahnausbesserungswerk Kirchmöser. Die Reichsbahner ihrerseits hatten von den Demonstrationen in Brandenburg gehört und waren bereits im Ausstand. Man entfernte die SED-Losungen von den Werkmauern und besetzte das Büro der SED-Betriebsorganisation. Es entstand ein Streikkomitee, dem auch vier FDGB-Funktionäre des Betriebes angehörten. Auch hier wurde eine Protestresolution an die Regierung der DDR verfaßt. Gleichwohl rief die Streikleitung dazu auf, Ruhe und Ordnung zu bewahren und kein Volkseigentum zu beschädigen. Wie in vielen Betrieben der DDR vertrat die Streikfiihrung in dieser Phase der Protestbewegung die Auffassung, mit friedlichen Arbeitskampfmethoden die Regierenden zu einer Veränderung der Politik zu bewegen. Ein Großteil der Streikenden erwartete jetzt Reak83

Vgl. BA-MA, DVH 3/3435, Bl. 111 ff., Bericht des Parteisekretärs des Walzwerkes.

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tionen von staatlicher Seite und beteiligte sich nicht an der folgenden Demonstration84. Typisch jedoch war, daß die Ausstrahlung der Streikleitungen mehrheitlich auf die Betriebsbelegschaft begrenzt blieb. Oft bestand zwischen den streikenden Betrieben zwar Verbindung, es gab jedoch kaum eine Koordinierung und gemeinsame Führung der Protestbewegung. Nur in wenigen Fällen, beispielsweise in Görlitz, Halle und im Raum Bitterfeld, ist die Bildung einer überregional wirkenden Streikleitung mit größerem Einfluß auf die Gesamtbewegung nachweisbar. Damit unterschied sich die Bewegung in der DDR 1953 von jenen in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung sowohl in ihrer Entstehung als auch in der weiteren Entwicklung. Hervorzuheben ist besonders, daß keine politischen Parteien oder Organisationen den Arbeitskampf organisierten und leiteten. Vielerorts formierten sich Demonstrationszüge zur Untermauerung des Protestes, die sich zu den Zentralen der staatlichen Macht in den Stadt- bzw. Ortszentren bewegten. Nicht mehr so einheitlich führten die Streikleitungen entweder die Demonstranten an oder aber verblieben in den Betrieben. Nicht selten entwickelte sich sogar eine »Zusammenarbeit« mit den Betriebsleitungen, indem Absprachen über wichtige, aufrechtzuerhaltende Produktion, über Neuwahlen der Gewerkschaftsleitungen oder gar über Veränderungen in der Betriebsführung getroffen wurden. Begleiteten die Streikkomitees die Protestzüge, so übten sie anfänglich eine organisierende Funktion auf die Demonstration aus. Doch in der Öffentlichkeit erhielten die Kolonnen auf dem Weg in die Zentren großen Zulauf von Passanten. Bestanden die Protestzüge der Betriebe zumeist aus Arbeitern, aber auch aus Angestellten und mancherorts sogar Mitgliedern der technischen Intelligenz, so mehrten nun vor allem Selbständige, Hausfrauen, Arbeitslose und Jugendliche die Protestbewegung. Mit dem Zulauf neuer sozialer Gruppen wuchsen die Radikalität und die Gewaltbereitschaft der Demonstranten. Gleichzeitig sank der Einfluß der betrieblichen Streikleitungen auf die Bewegung immer mehr. Die Demonstrationen erlangten einen spontaneren, situationsabhängigen Charakter. Kleinere Gruppen innerhalb der Gesamtbewegungen motivierten die Menge, erlangten relativen Einfluß auf Demonstrationsabschnitte. So war nicht selten zu beobachten, daß sich größere Gruppierungen aus den anwachsenden Protestmärschen vor Erreichen der Orts- oder Stadtzentren ausklinkten und, übernommen von einer separaten Führungsgruppe, andere Zielpunkte, seien es Betriebe, Bahnhöfe, öffentliche Gebäude oder Haftanstalten, ansteuerten. Die Kraft der gewaltigen Menge spürend, putschten sich die Demonstranten immer mehr auf. Skandierte politische Forderungen spielten im Willen und wachsenden Mut der Einzelnen ebenso eine bedeutende Rolle wie die ständig kursierenden Ge84

Vgl. ebd., Bl. 116.

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rächte. Arbeiter oder Passanten behaupteten, die SED habe sich bereits aufgelöst, in verschiedenen Städten seien die Arbeiter bewaffnet und hätten die Macht übernommen. An vielen Orten, so wurde gemutmaßt, habe sich die Polizei solidarisiert, seien ganze Einheiten der KVP übergelaufen. Abgesehen von dem Willen zur politischen Veränderung fehlte der Gesamtbewegung jedoch eine konkrete Zielrichtung und eine Führung. Das drückte sich auch in den Aktionen der Demonstranten gegen die Staatsmacht aus, die sich in den Zentren der Erhebungen glichen. In den verschiedensten Städten wurden öffentliche Gebäude der Stadtverwaltung, Zentralen der SED, des FDGB und der FDJ besetzt, Losungen und Bilder zerstört sowie Akten und Inventar vernichtet. In vielen Fällen waren Haftanstalten ein Zielpunkt der Protestierenden, aus denen politische Häftlinge, oft Kollegen, befreit werden sollten. Nicht selten wandten sich die Demonstranten auch gegen die Objekte der Sicherheitskräfte, Kreis- und Bezirksämter der Polizei sowie Werbebüros und andere Dienststellen der KVP. Dabei wirkte die scheinbare Machdosigkeit der Staatsorgane und deren zögerliches Verhalten motivierend, ließ das Bewußtsein der Menge wachsen, mit der Kraft ihrer Bewegung das SED-Regime beseitigen zu können. Der spontane Volksaufstand traf die Sicherheitsorgane in den Bezirken der DDR noch überraschender und unvorbereiteter als in Berlin. Zwar erhielten die BDVP Informationen über die Berliner Ereignisse am 16. Juni und alarmierten ihre VP-Dienststellen. Entsprechend den Vorbereitungsmaßnahmen und dem seit 1951 gültigen Alarmplan85, wurde in den Berlinnahen BDVP gegen 2.00 Uhr nachts die Alarmstufe II »Hummel« und gegen 5.00 Uhr bei den ersten Anzeichen von Streiks und Unruhen mit »Hornisse« die höchste Alarmstufe III befohlen86. Allerdings wurde schnell offenbar, daß das Ausmaß der Unruhen zumeist unterschätzt und das Alarmsystem wie auch die Einsatzplanung der Polizei unzureichend waren. Letztendlich reichten die verfügbaren VP-Kräfte in keiner Weise aus, um den gewaltigen Massenbewegungen in den Industriestädten Einhalt zu gebieten oder nur die Schutzbefohlenen Gebäude zu sichern.

Sehr schnell verloren in den Bezirken die Schutzpolizisten die Kontrolle über die Ereignisse. Nicht selten richtete sich die Protestaktion ja gerade als erstes gegen Gebäude, welche die ungeliebte Staatsmacht verkörperten, d.h. die SED-Zentralen, die Gefängnisse, die MfS-Dienststellen, aber auch die VP-Reviere und VPKÄ87. Die Polizei reagierte zumeist hilflos und unorien85

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Vgl. BArch, Bestand Mdl/HVDVP, 11/1100, Bl. 1 ff., Bericht zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft der DVP, o.D. (1953). Vgl. ebd., u.a. Bestand Mdl/BDVP Potsdam, 15/33, BL 3 ff., Bericht der BD VP Potsdam. In den Statistiken der HVDVP sind die Erstürmung von vier VP-Kreisämtern, einer BDVP sowie von acht Polizeirevieren und neun Gefängnissen festgehalten. Die Demonstranten besetzten 11 Kreisratsgebäude, 14 Bürgermeistereien, 7 Kreisleitungen und eine Bezirksleitung der SED sowie zwei Dienstgebäude des MfS. Vgl.

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tiert. Hinzu kamen Unsicherheit über den Charakter der Demonstrationen, den Einsatz von Schußwaffen und natürlich moralische Bedenken. Diese waren auf öffentlichen Plätzen und Straßen sichtlich größer als beim Schutz der Dienstgebäude. Oft hatten die Kräfte der Staatsmacht ihre Dienststellen noch gar nicht verlassen, als die wütende Menge auftauchte. Eingeschlossen war man zum Handeln kaum noch fähig. Häufig konnten die Polizeikräfte erst eingesetzt werden, nachdem sie durch die sowjetischen Besatzungstruppen oder die KVP aus ihren Dienstgebäuden befreit worden waren. Eine zentrale Führung über den Einsatzstab im PdVP kam auch nicht zustande. Das Präsidium, eigentlich im Range einer BDVP, war als Zentrale für den Polizeieinsatz auf die — wie man vermutete — begrenzten Unruhen im Berliner Raum eingerichtet. Sie war zum einen schon mit den Ereignissen in Berlin überlastet, es existierte aber auch nur ein unzureichendes Nachrichtensystem, und es gab Unklarheit über die Situation in den verschiedenen Regionen der DDR. In den Polizeidienststellen der DDR-Bezirke hatte man oft keine Kenntnis von dem zentralen Einsatzstab. Das eigentliche Führungsorgan der Polizei, die HVDVP, aber war mit der Bildung des Einsatzstabes entlastet und dementsprechend ungenügend auf die Führung der Polizeikräfte gegen ein solches Ausmaß von Unruhen vorbereitet. Selbst im Innenministerium herrschte am Vormittag des 17. Juni ein heilloses Durcheinander88. Die Bezirksbehörden der DVP erhielten keine Anleitung, zumeist führten die Dienststellenleiter mit oder auch ohne Einsatzbefehl nach Gutdünken. So war die schnell einsetzende Handlungsunfähigkeit des Schutzpolizeiorgans vorprogrammiert, zumal die Lage völlig unklar blieb. Letztlich fehlte es der HVDVP an Mobilität, um mit ihren Kräften rochieren zu können, es gab 1953 keine motorisierten Schnellkommandos mehr, auch keine Schutzpolizeibereitschaften. Ebenso machdos erwies sich das MfS. Vielerorts völlig unvorbereitet, anderswo auf Straßen und Plätzen auf westliche Provokateure wartend89, versagte der Staatssicherheitsdienst an diesem Tage im Vorfeld und während des Volksaufstandes vollkommen. Erst als die sowjetische Armee und die KVP die Lage stabilisierten, wurde auch das MfS wieder handlungsfähig,

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BArch, Bestand Mdl/HVDVP, 11/45, Bl. 12 ff. Nachweislich wurden wesentlich mehr Polizeidienststellen von den Demonstranten bedrängt, konnten jedoch nicht eingenommen werden. In den Erinnerungen eines im Mdl tätigen KVP-Offiziers heißt es dazu: »Im Bereich der Sekretariate Stoph pnnenminister] und Müller [Stellvertreter] wurde alles abgesperrt, auch viele Mitarbeiter hatten keinen Zutritt. Generalmajor Wagner [Chef Operativ der KVP] telefonierte pausenlos mit den Leitern von Dienststellen außerhalb Berlins. Generalmajor Bechler [Chef des Hauptstabes der KVP] sprach fast ständig über eine direkte Leitung mit Karlshorst [...] Man vermißte eine fuhrende und lenkende Hand« (zit. nach: Hagen, DDR - Juni '53, S. 58). Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 157 f.

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nun aber und im nachhinein betrachtet, wirkungsvoll gegen die Köpfe der Streikbewegung aktiv. Am 17. Juni glitt den Staatsorganen insbesondere in Ballungsgebieten und größeren Städten für Stunden die Macht aus den Händen. SED-, Staatsund Polizeiapparat wurden des Volkszorns nicht mehr Herr. Alsbald sah man sich allenthalben gezwungen, Hilfeersuchen an die KVP-Einheiten und an die sowjetischen Militärkommandanten zu senden. Anhand ausgewählter Beispiele in den Zentren des Volksaufstandes wird folgend der typische Verlauf der Unruhen und das Eingreifen der bewaffneten Staatsgewalt gezeigt werden. Die Darstellung soll dem Leser nicht nur ein plastisches Bild der JuniErhebung vermitteln, sondern gleichzeitig die Grundlage dafür schaffen, im dritten Kapitel den Volksaufstand und den Militäreinsatz zu charakterisieren. Die Unterdrückung der Proteste im Land Brandenburg Im heutigen Land Brandenburg, dessen Gebiet 1952 im wesentlichen in die Bezirke Frankfurt/Oder, Cottbus und Potsdam aufgeteilt worden war, lagen die Zentren der Erhebung im Speckgürtel von Berlin; sie erfaßte die Kreise Bernau, Fürstenwalde, Jessen, Senftenberg, Weißwasser, Strausberg/ Rüdersdorf, Cottbus, Hoyerswerda, Lauchhammer, Brandenburg, Oranienburg, Beizig, Rathenow und Zossen. Nach SED-internen Angaben kam es hier in 33 Kreisen mit 75 Ortschaften zu Unruhen90. Im Bezirk Frankfurt/Oder gingen die Streiks von der Bau-Union Spree in Hennickendorf aus und erreichten schnell die Industriekreise Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt), Fürstenwalde und Eberswalde. In der Kreisstadt Fürstenwalde konnten die Bauarbeiter der Bau-Union, nachdem ihnen die Fahrt nach Berlin von Grenzpolizei und Sowjetsoldaten verwehrt worden war, die Reifenwerker für die Protestbewegung gewinnen. Alsbald bevölkerten etwa 5000 Demonstranten das Stadtzentrum. Versuche, den Rat des Kreises zu besetzen, scheiterten durch den Einsatz sowjetischer Panzer. In Eberswalde blieben die Streiks im wesentlichen auf die Betriebe begrenzt, denn Eberswalde war sowjetische Garnisonstadt, und Sowjetsoldaten verhinderten frühzeitig eine Ausweitung der Proteste. Im Bezirk Cottbus flammte der Protest fast gleichzeitig auf der Baustelle Großkokerei Lauchhammer, im Braunkohlewerk Hoyerswerda und in der Bezirksstadt selbst auf91. Im Bezirk Potsdam gingen die Bauarbeiter der Reichsbahn-Bau-Union am Nordring in Streik, ihnen folgten die Beleg90

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/5/560, Zusammenfassender LOPM-Bericht über die Unruhen zwischen dem 17. und 22. Juni 1953. Siehe zu Cottbus: Peter, Der Juni-Aufstand im Bezirk Cottbus, S. 5 8 5 - 5 9 4 .

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Schäften des Stahl- und Walzwerks und des LEW Hennigsdorf. Unabhängig davon wurden Großbetriebe in Ludwigs felde, Wildau, Premnitz, Rathenow und Brandenburg frühzeitig bestreikt92. Die Proteste in Rathenow erlangten durch einen gravierenden Fall von Lynchjustiz traurige Berühmtheit. Der ehemalige Kriminalpolizist und damalige Betriebsschutzwachmann der HO Rathenow, Wilhelm Hagedorn, war von einer äußerst erregten Menge brutal zusammengeschlagen und schwerverletzt in die Havel geworfen worden93. Er wurde von vier Polizisten aus dem Fluß gezogen, verstarb aber wenig später im Krankenhaus94. Hagedoms Verhängnis war, daß er nach dem Krieg als Kriminalist und MfSMitarbeiter95 in die Durchsetzung des Befehls 201 der SMAD zur Entnazifizierung involviert war, die auch zur Verhaftung von vermeintlichen Kriegsverbrechern führte96. Der RIAS hatte 1951 vor »diesem Denunzianten« gewarnt. Am Mittag des 17. Juni wollte die aufgebrachte Menge den Achtundfünfzigjährigen nun zur Verantwortung ziehen. Für die Tat verurteilte das Bezirksgericht Potsdam später fünf Rathenower zu langjährigen Zuchthausstrafen. Das Urteil gegen Werner R. und Horst S., welches in erster Instanz die Todesstrafe vorsah97, veränderte das Oberste Gericht der DDR in jeweils 15jährige Freiheitsstrafen. In Beizig wurde ein Staatsanwalt vor der Menge hergetrieben, in Nauen wurden drei SED-Funktionäre verprügelt. In Rathenow nahmen Protestierende vier Angehörigen einer VP-Streife die Waffen und Motorräder ab98. Im Bezirk Potsdam verzeichnete die Stadt Brandenburg die heftigsten Unruhen99. Seit den frühen Morgenstunden wurde hier gestreikt, schon früh bevölkerten Protestierende die Straßen. Gegen 9.00 Uhr versuchten zehn Polizisten unter Einsatz von Gummiknüppeln die Demonstranten am Eindringen in das ihnen Schutzbefohlene SED-Kreisleitungsgebäude zu hindern. Zum Schußwaffeneinsatz konnte man sich auch wegen der Anwesenheit von Frauen und Jugendlichen nicht entschließen, klare Befehle fehlten. So wurde das Kommando letztlich überwältigt, ein fünfköpfiges VP-Ver92

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Vgl. Kotsch, Das Land Brandenburg, S. 362 f. Zu den Ereignissen im Land Brandenburg siehe ferner Schwarze, Strausbergs heißer Juni; Lucker, Strausberg; Leo, Tabu und Tradition; Oelschläger, Ich glaube nichts mehr. Siehe hierzu die Schilderung bei Hüdebrandt, Der 17. Juni, S. 99 - 1 0 5 . Vgl. Archiv PdVP, Referate 1 9 4 5 - 1 9 5 8 , Mappe I, Bl. 159, Referat Marons, o.D. (1953). Vgl. Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 159. Siehe hierzu die Darstellung »Ein beseitigter Grabstein«, in: Spurensicherung, S. 1 1 0 - 1 1 4 . Vgl. BLHA, Rep. 530/2153, Bl. 54, Justizbericht vom 25.6.1953. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/5/513, Bericht an die Abt. LOPM über die Unruhen am 17.6.1953. Vgl. BStU, SdM 249, Bl. 35 f., Bericht der SED-Kreisleitung VII с Potsdam (MfS) vom 25.6.1953.

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stärkungskommando erreichte sein Ziel erst gar nicht. Die Protestierenden hatten es bereits vorher auseinandergetrieben 100 . Um 8.30 Uhr erhielt die KVP-Bereitschaft Hohenstücken am Rande der Stadt Brandenburg durch das VPKA die Mitteilung, daß eine größere Menschenmenge aus Arbeitern der Bau-Union und Stahlwerkern beabsichtige, in Richtung Stadtzentrum zu ziehen. Der Leiter der VPB begab sich daraufhin zum VPKA, um einer Besprechung der öffentlichen Sicherheitsorgane mit Angehörigen der SED-Kreisleitung über einzuleitende Maßnahmen beizuwohnen. Zur Bereitschaft zurückgekehrt, informierte der Kommandeur der Bereitschaft, Oberst Krüger, unverzüglich den Stab im Mdl über die eingetretene Lage in Brandenburg und erbat einen Einsatzbefehl. Ein Eingreifen der KVP wurde durch das Mdl mit dem Hinweis, daß die Formationen der KVP noch nicht eingesetzt werden könnten, strikt untersagt 101 . Die Bereitschaft solle umgehend Alarm auslösen und abwarten. Ein KVP-Offizier aus der Bereitschaft Brandenburg erinnert sich an die Situation: »Am 17.06.1953 wurde in meinem Α-Kommando vormittags politische Schulung durchgeführt. Entsprechend der Dienstpflicht kontrollierte ich die einzelnen Schulungsgruppen. Gegen 10.00 Uhr bemerkte ich beim Blick aus dem Fenster, daß an einer Baubude eine Losung hing. Auf blauem Tuch mit weißer Schrift stand geschrieben: >Wir streikend Ich informierte darüber die Politabteilung der Bereitschaft und erfuhr, daß aus der Stadt Brandenburg auch solche Informationen eingetroffen seien. Der Politunterricht wurde fortgesetzt. Nach ca. einer Stunde erhielten wir den Befehl zum Antreten der Bereitschaft. Vom Kommandeur, Oberst Krüger, wurden wir über Arbeitsniederlegungen und Unruhen innerhalb der Stadt informiert. Es wurde festgelegt, die Ausbildung abzubrechen und in den Unterkünften weitere Befehle abzuwarten. Es war um die Mittagszeit, als die Bereitschaft wieder antrat. Die Informationen wurden dahingehend ergänzt, daß es durch Einzelpersonen und Gruppen zu tätlichen Ausschreitungen gekommen sei. Es wurde befohlen, Waffen zu empfangen und bereitgestellte Fahrzeuge zu besetzen. Ausdrückliche Weisung war, die Waffen zu unterladen. Die Anwendung von Schußwaffen ohne Befehl war verboten. Als wir aufgesessen auf Lastkraftwagen die Kaserne verließen, waren Zivilisten damit beschäftigt, die vor dem Kaserneneingang an der Mauer in Großbuchstaben vorhandene Losung zu beseitigen: >Der Sozialismus marschiert^ Eine Erklärung dafür erhielten wir nicht102.«

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Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Potsdam 15/33, Bl. 3 ff., Bericht der BDVP Potsdam vom 18.6.1953. Vgl. BA-MA, DVH 3/3436, Bl. 134. MGFA, Materialsammlung, Erinnerungsbericht des damaligen KVP-Angehörigen G. Brettschneider, Potsdam (MGI) 1990.

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Gegen 9.00 Uhr demonstrierten etwa 5000 Personen durch die Straßen Brandenburgs. In vielen Betrieben ruhte bereits die Arbeit, in nichtbestreikten Werken wurden die Arbeiter, auch unter Androhung von Gewalt, zur Teilnahme am Arbeitskampf aufgefordert. Viele folgten dem Aufruf zur Solidarität mit den Streikenden, so mancher verweigerte sich jedoch, häufig auch aus Furcht vor möglichen beruflichen oder persönlichen Folgen. Es gab aber nicht wenige, die an die Sache des Sozialismus glaubten, die überzeugt waren, daß die SED-Politik ehrlich sei. Oft strahlten solche Arbeiter große Überzeugungskraft aus und konnten Streiks ganzer Belegschaften verhindern. Die Demonstranten bekamen dennoch immer mehr Zulauf. Kleinere Gruppen lösten sich indes aus der Menge und drangen in das »Philipp-Müller-Haus« in der Straße der Pioniere und in die SED-Kreisleitung in der Kirchhofstraße ein und zerstörten dort Losungen sowie Bilder der Spitzenfunktionäre. Um etwa 10.00 Uhr ging beim VPKA Brandenburg die Meldung ein, daß die Kreisleitung der SED gestürmt worden sei und sich eine große Menschenmenge nun zum Amtsgericht und zur Untersuchungshaftanstalt Brandenburg begebe103. Als die Menge kurz darauf die Justizgebäude erreichte, forderte sie die Freilassung politischer Häftlinge. Weil die Gefängnisleitung dieser Forderung nicht nachkam, drangen die Protestierenden über das Amtsgericht in der Steinstraße in die Haftanstalt ein. Unter Schußwaffeneinsatz versuchten die zur Bewachung der Gefängnisse eingesetzten VPAngehörigen den Sturm auf die Gebäude zu verhindern. Als die Lage aussichtslos schien und die seit einer Stunde angeforderte Verstärkung nicht eintraf, legten die Polizisten die Waffen nieder. Das Streikkomitee zwang Amtsrichter Benkendorf, die Anstaltsunterlagen der Inhaftierten nach politischen Delikten durchzugehen. Etwa 20 Häftlinge wurden daraufhin freigelassen. Die Demonstranten forderten die entwaffneten Polizisten auf, ihre Koppel abzulegen und mitzudemonstrieren. Offenbar haben VPAngehörige diesem Druck auch nachgegeben. Auch Richter Benkendorf und der Staatsanwalt Bechtel bekamen die Wut der Menge über die willkürliche Justiz in der DDR zu spüren. Unter Schlägen trieb man sie auf den Marktplatz, wo Forderungen zur Lynchjustiz laut wurden. Benkendorf beschrieb dies wie folgt: »Ich wurde bis auf den Hof gebracht, und die 5 - 6 Mann, die mich umgaben, versuchten, eine Gasse zu bilden, und sie versuchten auch, mich vor den ersten Schlägen zu schützen. Dies gelang ihnen aber nur teilweise [...] Im Durchgang zum 2. Hof erhielt ich weitere zahlreiche Schlage über den Kopf, u.a. einen, der so heftig war, daß ich fast das Bewußtsein verlor und mir die Kopfschwarte bis auf die Schädeldecke aufgeschlagen wurde [...] Als die Masse mit mir am Markt angelangt war, er-

103

Vgl. BLHA, Rep. 505, Nr. 2153, Bl. 58-63, Bericht Benkendorf vom 30.6.1953.

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tönten die ersten Rufe >Hängt ihn auf!«Ulbrichtknechte< beschimpft. Fahnen wurden verbrannt und in den Schmutz getreten. An unserem Bestimmungsort, dem Kreisamt der Volkspolizei, angekommen, verließen wir die Fahrzeuge und sammelten uns im Hof. Aus den Fenstern des Amtes flogen Aktenordner und Papiere. Im Haus tobte eine unbekannte Personengruppe. Die Volkspolizisten des Amtes hatten sich in die oberste Etage zurückgezogen und leisteten Widerstand. Vor dem Amtsgebäude lag ein toter Zivilist. An einem Laternenmast hing ein Seil mit Schlinge und die grölende Menge forderte, den Täter auszuliefern, um ihn öffentlich zu richten. Angeblich ein Volkspolizist, der geschossen haben sollte. Vom Gebäude aus begannen wir zwei Aufgaben zu erfüllen. Den Volkspolizisten im oberen Stockwerk Beistand zu leisten sowie zugleich das Gebäude von eindringenden Gewalttätern zu räumen und um das Gebäude einen Sperring zu bilden, um das Eindringen weiterer Kräfte in das Volkspolizeigebäude zu verhindern. Auf den Treppen entwickelte sich ein kurzer Kampf — Mann gegen Mann. Die Gewalttäter gingen mit Brandhaken und Feuerwehräxten gegen uns vor. Wir versuchten, sie mit Gewehrkolben zurückzudrängen bzw. mit Körpergewalt zu überwältigen. Dieses Handgemenge dauerte ca. 30 - 40 Minuten. Die Festgenommenen waren in einem Raum zusammengefaßt. Dort wurde mit mir unbekannten Personen darüber verhandelt, daß einer vom Balkon bzw. Fenster des VP-Gebäudes aus die außerhalb tobende Menge zum Auseinanderlaufen auffordern sollte und dafür die Festgenommenen freigelassen 104 105

Ebd,Bl. 61. Vgl. BA-MA, DVH 3/3436, Bl. 134 f., Einsatzbericht der VPB Hohenstücken.

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würden. So geschah es dann auch. Der Aufruf an die Menge erfolgte, die Festgenommenen wurden freigelassen und tauchten sofort in der Menge unter. Jedoch anstelle einer Auflösung verschärfte sich die Situation, darunter die Drohungen gegen uns. Unsere Volkspolizisten außerhalb standen Mann an Mann mit quergehaltenen Karabinern und verhinderten, trotz Beschimpfungen und Bewerfen mit Gegenständen, ein weiteres Eindringen in das Gebäude [...] Ein VP-Angehöriger der vorderen Reihe, zum Rundumschutz des VP-Gebäudes eingesetzt, wurde plötzlich von seinen Eltern aus Brandenburg aufgefordert, sofort mitzukommen, sonst könne er was erleben. Wir konnten nicht verhindern, daß er seine Waffe sowie Koppel mit Patronentasche einem Volkspolizisten übergab und seinen Eltern folgte. Die Menge tobte weiter. Auf uns prasselten Rufe nieder wie: >Was wollt ihr noch? Ulbricht und die Bonzen sind längst nach Moskau abgehauen! Geht nach Hause, ihr habt hier nichts mehr zu verrichten106!« Die Situationsschilderung macht deutlich, unter welchen Bedingungen die Einheiten der KVP zum Einsatz gelangten und welcher psychische Druck auf den Soldaten und Offizieren lastete. Viele von ihnen konnten die Empörung der Masse überhaupt nicht verstehen, ihnen schien daher die Steuerung durch westliche Agenten durchaus plausibel. Andere hatten einfach Angst vor der tobenden Menge. Große Unsicherheit herrschte bei den Offizieren. Die Informationen waren spärlich. Stimmte das, was die Demonstranten behaupteten, so würde man sicherlich für den Einsatz zur Verantwortung gezogen, stimmte es nicht, so waren Kriegsrecht und Strafjustiz bei Nichterfüllung der Einsatzaufgabe zu befürchten. Aber selbst in der augenblicklichen Situation stand die Frage, wer die Oberhand behalten würde. Erst der Einsatz sowjetischer Militäreinheiten sorgte deshalb bei vielen KVP-Angehörigen für ein Gefühl der Erleichterung. Um 13.00 Uhr wies der sowjetische Militärkommandant der Stadt Brandenburg das Eingreifen der Besatzungstruppen an. Panzer und Schützenketten tauchten vor dem VPKA auf, befreiten die KVP-Angehörigen aus der für sie bedrohlichen Situation und trieben die Demonstranten auseinander. Zu diesem Zeitpunkt marschierten sowjetische Einheiten überall im Stadtgebiet auf und unterdrückten den Arbeiterprotest. Gleichzeitig besetzten sie die Quellen der Bewegung, das Stahl- und Walzwerk Brandenburg sowie das Walzwerk und das RAW in Kirchmöser. Die Einsatzkommandos der KVP lösten zwar an verschiedenen Stellen der Stadt Sicherungsaufgaben, es stand jedoch außerhalb ihrer Macht, die Gesamtsituation in der Stadt zu beherrschen. Das hatte seine Ursachen. Große Probleme bereitete den Kommandeuren der Dienststellen nicht nur in Brandenburg, daß sich niemand in der Lage zeigte, die entstandene 106

MGFA, Materialsammlung, Erinnerungsbericht des damaligen KVP-Angehörigen G. Brettschneider, Potsdam (MGI) 1990.

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Situation richtig einzuschätzen und damit klare Weisungen für den Einsatz der KVP zu geben. Das MfS mit seinen örtlichen Organen, zumeist von Demonstranten bestürmt, erwies sich in keiner Phase als handlungsfähig. Die Polizeibehörden hatten die Kontrolle über die Unruheorte verloren und richteten nunmehr Hilfeersuchen an die KVP sowie an die in der Nähe stationierten sowjetischen Truppen. Selbst wenn die KVP-Einheiten einsatzbereit waren, mangelte es am Einsatzbefehl aus Berlin. Eindeutige Weisungen des Einsatzstabes in der Normannenstraße blieben aus. Zumeist wandten sich die Kommandeure jedoch gar nicht dorthin, sondern an den Stab des Mdl, der ihnen mangels Information als der oberste Führungspunkt der KVP bekannt war. Deutlich waren die Befehle nur in einem Punkt, nämlich, daß keine Schußwaffen eingesetzt werden dürfen und die Demonstrationen nach der Orientierung vom Morgen des 17. Juni mit verbalen Argumenten aufzulösen seien. Gelangten die Einheiten der KVP dann zum Einsatzort, entsprachen die Weisungen jedoch keinesfalls mehr der vorgefundenen Situation. Entsprechend zersplittert, zumeist nicht mit der für die Einsatzaufgabe notwendigen Zahl von Soldaten, gelangten die Kommandos an Brennpunkte der Unruhen, wo sie sich oft Zehntausenden empörten Demonstranten gegenübersahen. Mit ähnlichen Problemen war die KVP auch anderenorts in der DDR konfrontiert.

Relative Ruhe in Thüringen? Die Unruhen der WismutKumpel Im heutigen Land Thüringen, welches 1952 im wesentlichen in die Bezirke Gera, Erfurt und Suhl unterteilt worden war, wurde der Bezirk Gera am heftigsten von Unruhen erschüttert, während es im Bezirk Suhl, ausgenommen den Kreis Hildburghausen, kaum offene Proteste gab107. Im Zweigwerk von Zeiss-Jena in Hildburghausen kam es nach Bekanntwerden der Streiks im Hauptwerk zu einem Streikversuch, der abgewürgt werden konnte. Die SED-Bezirksleitung meldete am Nachmittag des 17. Juni nach Berlin, daß im Bezirk alles ruhig sei, und gab der eigenen Verwunderung Raum, daß es selbst an der Grenze zu Bayern außer einigen Flugblattfunden keine Vorkommnisse gab. Im Bezirk Erfurt kam es in der Bezirkshauptstadt selbst zu Streiks und Demonstrationen, die von den Arbeitern der Bau-Union Erfurt initiiert wurden. Trotz einer völlig friedlich verlaufenden Kundgebung im Zentrum 107

Vgl. BStU, SdM 249, Bl. 4 5 - 5 9 , Berichte der SED-Kreisleitungen VII с Suhl und Gera vom 22. und 24.6.1953. Siehe zum Land Thüringen: Karmrodt, Der 17. Juni in Jena; Döbert, Der Schrei nach Freiheit; Moczarski, Der 17. Juni 1953 im Bezirk Suhl; Schlothauer, Dokumente des Widerstandes.

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verhängte die sowjetische Militärkommandantur sofort den Ausnahmezustand über die Stadt. Proteste gab es zudem in Weimar, Apolda, Mühlhausen und auf dem Lande108. In Sömmerda versammelten sich an die 10 000 Menschen auf dem Marktplatz. Die intensivsten Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht aber fanden am 17. Juni in Gera, Jena und Weida statt. In der Bezirksstadt Gera hatten Belegschaften aus heimischen Großbetrieben gegen Morgen mit Arbeitsniederlegungen begonnen und sich gegen Mittag zu Protestzügen vor dem Rat des Bezirkes formiert109. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Demonstrationen in Gera noch gewaltfrei. In den Mittagsstunden allerdings gab es hier jedoch einen ersten Versuch zur Befreiung politischer Häftlinge. Sowjetische Truppen unterbanden diese Aktion. Ein Wismut-Kraftfahrer wurde in diesem Zusammenhang vom Bergbaugericht Wismut Gera zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er mit seinem Kran-Fahrzeug versucht habe, das Tor der Haftanstalt in Gera zu durchbrechen110. Die Bezirksbehörde der DVP in Gera sah sich gegen 12.00 Uhr genötigt, wegen der turbulenten Ereignisse die KVP um Unterstützung zu bitten. Der Leiter der hier befindlichen Waffentechnischen Schule der KVP entschloß sich nach Ausbleiben einer Einsatzweisung in Absprache mit dem sowjetischen Kontrolloffizier seiner Einheit, selbständig zu handeln. Er entsandte einige Züge Offiziersschüler ohne Bewaffnung in die Stadt. Sie sollten durch ihr Erscheinen und mittels Gesprächen die Arbeiter beruhigen. Auf die Mitnahme von Waffen wurde verzichtet, um die Massen nicht zu provozieren. Die demonstrierende Menge forderte die aufmarschierenden KVPAngehörigen sofort zur Solidarisierung mit den Arbeitern auf. Versuche, die Demonstration zu unterbinden, führten zu Handgreiflichkeiten, wobei die Protestierenden das kleine Einsatzkommando aufrieben. Sie rissen den Offiziersanwärtern, wütend über den Einsatz von Arbeitersöhnen gegen das Volk, die Uniformen vom Leib und verletzten im Handgemenge mehrere Soldaten111. Das Einsatzkommando zog sich fluchtartig in die Kaserne zurück. Der Kommandeur der VPS befahl nun die Waffenausgabe, der sowjetische Kontrolloffizier gab Munition frei. Bei dem folgenden Einsatz gegen 15.00 Uhr zeigten sich die Offiziersschüler motiviert, mit der Waffe gegen die Protestierenden vorzugehen. Das gemeinsame Schicksal schmiedete sie zusammen, und nicht selten spielten unterschwellig angesichts der verletzten

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109 1,0

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/5/547, Bl. 127, Zusammenfassender Bericht der Abt. LOPM über die Unruhen vom 24.6.1953. Vg. Selzer, Der 17. Juni 1953 im Bezirk Gera. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30 IV /2/4/420, Bericht des Gebietskommandos der Wismut über die Unruhen in der Wismut. Vgl. BA-MA, DVH 3/3437, Bl. 19 f. sowie DVH 3/3436, Bl. 55 ff., Bericht der Politischen Verwaltung und Einsatzbericht der B-techn. Schule Gera.

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Kameraden Wut und Rachegefühle eine nicht unbedeutende Rolle bei der Ausprägung der Einsatzbereitschaft. Diese Gefühle nutzten die Politorgane bewußt aus. Für den Nachmittag des 17. Juni sowie für die Einsatzmotivation an den Folgetagen finden sich in den Politinformationen in hohem Maße Hinweise auf das Wüten »feindlicher Agenten« und in diesem Zusammenhang auf Tote und Schwerverletzte seitens der Sicherheitsorgane112. Tatsache ist, daß es zu schweren Mißhandlungen von Funktionären und Sicherheitskräften kam. Zitiert wurden zumeist die Beispiele aus Magdeburg und Rathenow, wo Übergriffe aggressiver Elemente unter den Demonstrierenden für Angehörige der Sicherheitskräfte den Tod zur Folge hatte. Letztlich zielten die Politinformationen über diese AusnahmefäUe jedoch darauf, den Einsatz bei den Soldaten als notwendig hinzustellen und so deren Einsatzbereitschaft zu erhöhen. Das Eingreifen der KVP-Einheiten im Stadtzentrum Geras erfolgte nun sehr resolut. Als die Menge nicht weichen wollte, wurden Waffen eingesetzt. Warnschüsse fielen, Querschläger verletzten dabei Demonstranten. Daraufhin zerstreuten sich die Menschen fluchtartig. Die bewaffneten KVPAngehörigen übernahmen die Sicherung der Gebäude des MfS, der UHA Gera und des VPKA, welche in den Mittagsstunden zum Teil von Demonstranten besetzt worden waren. Allerdings erwiesen sich die KVP-Einheiten als nicht in der Lage, weitere Protestkundgebungen im Stadtgebiet zu verhindern. In dieser Situation war die Geraer Protestbewegung von der Hoffnung getragen, daß sich die Wismutkumpel als regionaler Machtfaktor solidarisieren würden. Ein Bericht dokumentiert die Meinung: »Wenn die Wismut kommt, dann schlagen wir den ganzen Kram zum Klumpen, dann geht es erst richtig los113.« Als gegen 16.00 Uhr die ersten Wismut-Fahrzeuge in der Stadt Gera erschienen, sei »ein wahrer Freudentaumel auf den Straßen« ausgebrochen114. Etwa 300 Wismut-Kumpel trafen mit etwa 40 Bussen und Kippern von Berga über Weida und aus Saalfeld kommend, in Gera ein. Die Fahrzeuge sollen Transparente mit der Aufschrift »Nieder mit der Regierung« geführt haben. Das Eintreffen der Wismut-Kumpel steigerte die Erregung der Massen und mit ihr die Gewaltbereitschaft. Eine der spektakulärsten Aktionen unter Teilnahme der Wismut-Kumpel fand gegen 17.00 Uhr statt. Kursanten der Artillerietechnischen Schule der KVP Gera gingen gerade auf dem Marktplatz im Zentrum der Stadt gegen die Demonstranten vor, als die Wismut-Fahrzeuge erschienen. Die Kumpel sprangen direkt von ihren Lkw auf jene der gerade eingetroffenen Verstärkung der KVP, was unmittelbar 112

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Vgl. BA-MA, Pt 7946 und DVH 3/3410, Politberichte der Grenzpolizei und der K V P über die politische Arbeit während der Unruhen. SächsHStA, Gebietskommando DVP (BS) Wismut, 27/27. Vgl. ebd., Außenstelle Chemnitz, W-IV /2/3/304. Analyse der SED-Kreisleitung vom 8.7.1953.

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zu einem größeren Handgemenge führte. Im Verlauf der Auseinandersetzung stürzten die Kumpel einen vollbesetzten Armee-Lkw um. Dabei wurden einige KVP-Angehörige verletzt. Während dieser Auseinandersetzung erbeuteten die Bergleute 10 Karabiner und 4 MPi, die in der Mehrzahl allerdings zerschlagen wurden. Angesichts des Ansturms sahen sich die Kräfte der KVP und der BDVP zum Rückzug in das BDVP-Gebäude gezwungen115. Wenig später erzwangen Sowjetsoldaten mit Panzern die Räumung des Platzes. Bereits um 13.00 Uhr hatte der sowjetische Militärkommandant den Ausnahmezustand über die Stadt verhängt und die vorhandenen Truppen des selbständigen Panzer- und SFL-Ausbildungsbataillons in die Stadt befohlen. Das Eingreifen der Kumpel hatte jedoch der Protestbewegung neuen Aufschwung verliehen. Durch das Zusammenziehen weiterer sowjetischer Kräfte wurden bis 17.30 Uhr die Demonstrationen in der Stadt unterbunden. Der Oberbefehlshaber der 8. Gardearmee wies die DDRStaatsorgane nun in Maßnahmen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung ein. Erst danach schien ein koordiniertes Vorgehen der DDRMachthaber wieder zu funktionieren116. Die SED-Kreisleitung Wismut Gera bescheinigte in einer »Analyse« vom 8. Juli 1953, daß das Eingreifen der Sicherheitsorgane zu spät und »taktisch in nicht allen Fällen richtig« erfolgt sei. So waren die drei Lkw der KVP mit 60 Mann Besatzung, die zum Schutz des Bezirksratsgebäudes eingesetzt werden sollten, ohne Sicherung in eine Menschenmenge von 2000-3000 Demonstranten gefahren, womit der Einsatz wirkungslos wurde117. Auch bei weiteren Zerstörungsaktionen waren Wismut-Angehörige beteiligt, so u.a. am Hauptpostamt. Gegen 17.00 Uhr wurde über den gesamten Bezirk Gera der Ausnahmezustand verhängt. Doch selbst das Anrücken der sowjetischen Einheiten hielt die Wismut-Angehörigen nicht von weiteren Aktivitäten ab. Etwa 200 Kumpel drangen gegen 18.30 Uhr in Gera ein, umstellten auf einem zentralen Platz in Gera zwei rassische Soldaten und waren in der Folge in Auseinandersetzungen mit der Besatzungsmacht verwickelt, denn aufgrund dieser Vorfälle wurde die Stadt von sowjetischen Einheiten hermetisch abgeriegelt. Aktionstrunken fuhren die Wismut-Kumpel nunmehr nach Weida, eine Kleinstadt nahe Gera. Dort hatten bereits andere Wismut-Angehörige die Aktivitäten eines Weidaer Fuhrunternehmers unterstützt, die Belegschaften der ortsansässigen volkseigenen Betriebe zum Streik aufzurufen. Gegen 19.00 Uhr begannen 800 Demonstranten einen Angriff auf das VP-Revier. 115 116

117

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/5/536, Bericht an die Abt. LOPM. Meldung des Oberbefehlshabers der 8. Gardearmee an den Chef des Stabes G S O V G vom 24. Juni 1953 (Dokument im Besitz des Autors). Vgl. SächsHStA, Außenstelle Chemnitz, W-IV /2/3/304. Analyse der SEDKreisleitung vom 8.7.1953.

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Um 21.30 Uhi erreichte ein Einsatzkommando der KVP mit 5 Offizieren und 60 Mann das VP-Revier. Die KVP besetzte und verteidigte das Gebäude, welches um 22.00 Uhr erneut bedrängt wurde118. Die Bergleute nutzten dabei die in Gera von der KVP erbeuteten Karabiner. Die KVP schoß zurück. Nachweislich sind bei Schießereien vor dem Revier mehrere Personen verletzt, ein Weidaer Bäcker getötet worden119. Von sowjetischer Seite wurde ein Zug Soldaten mit einem Panzer in die Stadt entsandt, der gemeinsam mit den Polizeikräften die Protestbewegung unterband120. Auch hier riegelten sowjetische Trappen die Stadt hermetisch ab. Nach diesem Zwischenfall kehrten die beteiligten Wismut-Kumpel nach Berga zurück, um dann gegen Mitternacht das dortige VP-Revier zu stürmen. Die Streiks der Wismut-Kumpel im Raum Gera waren von den Kraftfahrern der Garage Katzendorf bei Ronneburg ausgegangen. Ihnen schlossen sich der Betriebsbereich Sorge-Nord, die Mechanische Werkstatt, die Bauabteilung sowie der Betriebspunkt Lichtenberg an. Am aktivsten betätigten sich, nach Einschätzung des Gebietskommandos der Volkspolizei, die Kipperfahrer, Mechaniker, Techniker und Schießmeister. Am 17. Juni wurden 40 Wismut-Fahrzeuge aus dem Thüringer Raum, die in Richtung Karl-Marx-Stadt unterwegs waren, an der Bezirksgrenze von motorisierten Sowjetsoldaten angehalten und die streikenden Bergarbeiter zum Verlassen der Fahrzeuge gezwungen. Durch die Abfahrt der Fahrzeuge wurde die Produktion im Tagebau Katzendorf völlig stillgelegt. Die Unruhen setzten sich, wiederum unter Beteiligung von WismutArbeitern, am 18. Juni trotz des bestehenden Ausnahmerechts fort. In Weida gab es an diesem Tag erneut Demonstrationen, so daß die KVPEinsatzkräfte durch die Infanterieschule Erfurt II verstärkt werden mußten. In zwei Räumeinsätzen um 13.30 und 17.00 Uhr erzwang die »Volksarmee« Ruhe in der Stadt. Nennenswert ist der Sturm auf eine Grundschule in Gera. Über 30 Kumpel hatten, aus welchen Motiven heraus auch immer, das Schulgebäude besetzt und demoliert. Zwei Züge KVP-Soldaten stürmten das Schulhaus und nahmen 27 Kumpel fest. Durch Hinweise aus der Bevölkerung wurden wenig später 7 »Rädelsführer« gefaßt sowie die benutzten Omnibusse sichergestellt121.

Vgl. BA-MA, DVH 3/ 3436, BL 55, Einsatzbericht der B-techn. Schule der K V P Gera. 1 1 9 Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/534 sowie BArch, Bestand Mdl/BDVP Gera, 21/26, Bl. 31/32. Der Chef der DVP, Maron, lobte im nachhinein den hervorragenden Einsatz der 15 Polizisten unter VP-Meister S., durch den das Polizeirevier stundenlang gegen den Ansturm der Demonstranten verteidigt wurde. Vgl. Archiv PdVP, Referate 1 9 4 5 - 1 9 5 8 , Mappe I, Bl. 159. 120 Meldung des Oberbefehlshabers der 8. Gardearmee an den Chef des Stabes G S O V G vom 24. Juni 1953 (Dokument im Besitz des Autors). 1 2 1 Vgl. BA-MA, Pt 3435, Bl. 227 ff. 118

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Wismut-Kumpel waren es auch, die an anderen Zentren der Unruhen im Bezirk Gera aktiv eingriffen und die Geschehnisse entscheidend mitbestimmten. Bei den Unruhen in Jena befanden sich unter den Demonstranten viele Wismut-Angehörige. Hier eskalierten die Ereignisse um die Mittagszeit. Seit 8.00 Uhr wurde in Jena, beginnend im Süd- und Hauptwerk des VEB Carl-Zeiss Jena, gestreikt. Als eine Abordnung Zeiss-Werker beim VEB Schott eintraf, versuchten Polizisten des Betriebsschutzes, die Arbeiter aufzuhalten. Die Situation wurde schnell derart aussichtslos, daß der Leiter des VP-Reviers befahl, die Waffen niederzulegen122. Die Volkspolizei erwies sich angesichts der Wucht der Proteste bald als hilflos. Zwar war das BDVP Gera noch in der Nacht über die Berliner Ereignisse informiert worden und hatte die VPKÄ zum Zusammenziehen der Kräfte veranlaßt, die Maßnahmen aber dienten mehr der Verhinderung eines Zulaufs von Protestierenden nach Berlin. Während der Unruhen versagte das Informationssystem zwischen SED, DVP und MfS vollkommen. Gegen 11.00 Uhr sammelten sich die Demonstranten in großer Zahl auf dem Holzmarkt. Auf dem Weg dorthin wurde das Gebäude der SEDKreisleitung gestürmt. Der 1. Sekretär der Kreisleitung hatte versucht, durch Agitation die Massen zu beruhigen, jedoch das Gegenteil erreicht. Die zehn VP-Angehörigen, die zum Objektschutz abbeordert waren, verhielten sich angesichts der Volksmassen passiv. Damit fiel die Parteizentrale als Fühmngspunkt aus und die Staatsmacht in Jena offenbar in Lethargie. Nach sowjetischen Berichten haben die Demonstranten die Führung der SEDKreisleitung gezwungen, vom Balkon des Gebäudes die Macht in Jena den Streikenden zu übergeben123. Die aufbegehrende Menge besetzte nun weitere öffentliche Gebäude, die Kreisverwaltung des MfS, das VPKA und die Büros der FDJ, der DSF und der GST. Die MfS-Mitarbeiter wurden von den Arbeitern verprügelt, es gab aber auch Übergriffe gegenüber Funktionären des SED-Staates. Gegen 11.00 Uhr hatten sich etwa 1500 Menschen vor der UHA Am Steintor 1 versammelt. Sie forderten die Freilassung politischer Gefangener. Wenig später erstürmten Demonstranten das Gefängnis und befreiten 61 Häftlinge. Arbeitern des VEB Schott war es gelungen, in das Funkwerk einzudringen und für 14.00 Uhr zu einer Kundgebung auf dem Trümmerfeld im Stadtzentrum aufzurufen. Bald drängten sich hier 25 000 Menschen. Bewegung kam in die Menge, als sowjetische Einheiten im Zentrum Jenas erschienen. Um 12.00 Uhr besetzten sie die SED-Kreisleitung und nahmen acht Demonstranten fest. Eine Stunde später fuhren sechs Panzer und Mannschaftswagen der 20. Gardedivision auf dem Holzmarkt auf. Vorerst 122 123

Vgl. Kannrodt, Der 17. Juni in Jena, S. 4. Bericht des Militärkommandanten der 46. Militärkommandantur an den Oberbefehlshaber der 8. Gardearmee und Militärkommandanten des 140. Militärbezirks vom 27.6.1953 (Dokument im Besitz des Autors).

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wendete das sowjetische Militär jedoch keine Gewalt an. Als Jenaer Frauen mit einer Sitzblockade versuchten, die Bewegung von Panzern aufzuhalten, und Demonstranten mit einem aus den Schienen gehobenen Straßenbahnwagen eine Barrikade errichteten, gaben die Russen Warnschüsse ab und begannen nun gewaltsam die Demonstrationen aufzulösen. Um 16.00 Uhr verstärkte das Kradfahrerbataillon der Division die Einsatzkräfte, denen es jedoch erst gegen 20.00 Uhr gelang, die Demonstranten auseinander zu treiben124. Ab 19.00 Uhr verhängte der sowjetische Militärkommandant von Jena den Ausnahmezustand. Die Menschenmenge wurde überall aufgelöst. Es begann eine Verhaftungswelle. Gleichzeitig fuhren sowjetische Panzer vor allen wichtigen Industriebetrieben in Jena und Umgebung auf, um die Belegschaften einzuschüchtern und sie von weiteren Aktionen abzuhalten. Um 21.00 Uhr nahm der Militärkommandant in dem Kreisleitungsgebäude die Führung der SED und der Polizeikräfte zusammen und wies Maßnahmen zur Sicherung der Betriebe, zur Verhinderung von Streiks am Folgetag sowie zur Verhaftung von »Provokateuren« an. Während der Auseinandersetzungen waren der Chef der Kreisverwaltung des MfS sowie 9 seiner Mitarbeiter verletzt sowie der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung verprügelt worden. Der VP hatten die Demonstranten 6 Pistolen abgenommen, der GST waren 71 Kleinkalibergewehre abhanden gekommen, von denen 9 demoliert gefunden werden konnten. Bis zum 27. Juni verhafteten die Sowjets und die Staatsorgane der DDR in Jena 174 »Provokateure«, von denen 74 in Haft verblieben. Die Verfolgungsmaßnahmen liefen jedoch weiter. Der Bericht vermeldet auch die Erschießung Alfred Dieners125. Am Folgetag verkündeten Plakate und Lautsprecherwagen zur Abschreckung der Bevölkerung die standrechtliche Erschießung126. Insgesamt gesehen waren es nur wenige Objekte der Wismut, die am 17. und 18. Juni bestreikt wurden. Diese lagen hauptsächlich im Thüringischen im Raum Gera. In diesen Betriebsteilen streikten am 17. und 18. Juni etwa 20 Prozent der Kumpel. Für die Wismut-Gebiete der Bezirke Karl-MarxStadt und Dresden sind nur geringe Reaktionen der Wismut-Kumpel auf die Unruhen nachweisbar. Zumeist lagen hier kaum größere Orte, von denen Streikinitiativen hätten ausgehen können, so daß das zündende Beispiel fehlte. Andere Ursachen liegen im sozialen Umfeld der Bergarbeiter127. Allgemein verdeutlichen Berichte der KVP-, der Grenz- und der Schutzpolizei eine relative Ruhe im Wismut-Gebiet128. Es ist inzwischen deutlich geworden, daß sich die Bergarbeiter der DDR an den Unruhen beteiligten. Ein gewichtiges Beispiel ist das der Mansfeld-Bergleute, die insbesondere am 18. und Vgl. ebd. Vgl. ebd. 126 Vgl hierzu Karmrodt, Der 17. Juni in Jena, S. 9 - 1 1 . 1 2 7 Siehe hierzu Roth/Diedrich, »Wir sind Kumpel«. 1 2 8 Siehe zur Wismut Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 3 6 4 - 3 9 4 . 124 125

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19. Juni die Träger der Unruhen im südlichen Raum des Bezirks Halle waren129. Das Bemerkenswerte für die Bergarbeiteraktionen im Raum Gera ist, daß die Kumpel, soweit nachweisbar, keine Streikinitiatoren waren, aber zum Teil beachtliche Strecken zurücklegten, um an Unruheorten »mitzumischen«. Insgesamt sticht der Bezirk Gera bei der Betrachtung der Unruhen in Thüringen deutlich hervor. In der Bezirksstadt wurden nach sowjetischen Angaben 18 Betriebe bestreikt, in Jena 7, allerdings mit großem Belegschaftspotential. Für die Stadt Eisenberg werden 9 Betriebe benannt, wobei im Metallurgiewerk durch die Drohung der Arbeiter, die Kessel zu sprengen, ein Großeinsatz von sowjetischem Militär und des Betriebsschutzes ausgelöst worden war. Jena war mit seinen über 20 000 Demonstranten und den politischen Aktionen gegen die Führungspunkte der Staatsmacht in der Stadt die mächtigste Aufstandsbewegung der Region. Interessant ist, daß die sowjetischen Militärkommandanturen die Unruhen trotz fehlender Indizien immer wieder auf eine Steuerung von außen zurückführten und die Ausbreitung der Streikbewegung mit den »provozierenden Sendungen des RLAS«, die von der Bevölkerung regelmäßig gehört würden, ursächlich verbanden130. Die Massenerhebung im mitteldeutschen Industriegebiet Am impulsivsten erfolgte die Volksaufstand am 17. Juni im mitteldeutschen Raum, in den Bezirken Halle, Leipzig und Magdeburg. Diese Gebiete zeichneten sich durch eine besonders starke Ballung von Industrie aus. Die Auseinandersetzung der Beschäftigten mit den Staatsorganen wurde in diesen Arbeiterzentren mit besonderer Schärfe geführt, und dementsprechend hoch war die Zahl der Opfer. Die Unruhen der heute zum Land SachsenAnhalt und Sachsen zählenden Bezirke Magdeburg, Halle und Leipzig lassen sich — speziell was die Region Halle/Leipzig betrifft — kaum voneinander trennen. Der Strom pendelnder Arbeiter setzte sich ebenso wie der Informationsfluß über die Bezirksgrenzen hinweg und führte zu einer wechselseitigen Beeinflussung. Im Bezirk Halle lagen die Zentren der Unruhen im Hallenser und Bitterfelder Raum, aber auch in Quedlinburg und Eisleben. Am 18. Juni kam das Mansfelder Gebiet dazu131. Im Bezirk Magdeburg sind als Unruheschwerpunkte die Bezirksstadt und Umgebung selbst und die Kreise Schönebeck, Halberstadt, Wernigerode und Staßfurt zu nennen132. 129 130

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/513 sowie BA-MA, DVH 3/3435, Bl. 59 ff. Meldung des Oberbefehlshabers der 8. Gardearmee an den Chef des Stabes G S O V G vom 24. Juni 1953 (Dokument im Besitz des Autors). Vgl. hierzu Klein, Die Arbeiterrevolte; Grashoff, Der 17. Juni 1953 in Halle. Vgl. zu Magdeburg: Magdeburg 17. Juni; Der Arbeiteraufstand in Halberstadt.

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In der Stadt Magdeburg ging die Streikbewegung am Morgen des 17. Juni von den Arbeitern des VEB Schwermaschinenbau »Ernst Thälmann« aus. Gegen 9.00 Uhr bewegte sich ein 5000 Mann starker Protestzug durch das Stadtgebiet. »Magdeburg folgt den Berlinern!«, lautete das Motto in diesen Morgenstunden133. Die Streikenden marschierten zu weiteren Betrieben und gewannen die Arbeiter des Dimitroff- und des Karl-LiebknechtWerks für den Streik. Am Karl-Marx-Werk verschloß der Betriebsschutz die Tore, die Thälmann-Werker brachen sie jedoch auf und verprügelten die Betriebswache. Auch hier schloß man sich der Arbeitsniederlegung an134. Die weitere Demonstration verlief relativ organisiert. Arbeiter mit Blindenarmbinden z.B. regelten den Verkehr und lenkten die Demonstration135. Gegen 11.00 Uhr vereinigten sich mehrere Demonstrationssäulen im Zentrum der Stadt. Am Hasenbachplatz besetzten Demonstranten die Bezirksleitung der FDJ, später auch die Bezirksleitung der SED. Um 11.45 Uhr gelang es einigen Personen, in das Magdeburger Fernmeldeamt einzudringen. Sie zerstörten einige Apparate und Einrichtungsgegenstände. Eine gezielte Unterbrechung des Fernmeldeverkehrs bzw. eine beabsichtigte Übernahme des Amtes läßt ihr Handeln jedoch nicht erkennen. Als der Leiter der BDVP Magdeburg, Chefinspekteur Paulsen, von den Unruhen erfuhr, nahm er sofort Verbindung zur sowjetischen Stadtkommandantur auf. Die Militärbehörde orientierte, wie vordem bereits fuhrende SED-Funktionäre auf einer Besprechung mit dem Leiter der Bezirksbehörde der DVP am Morgen des 17. Juni, strikt darauf, ein Blutvergießen auf alle Fälle zu vermeiden. Der Polizeichef erließ daraufhin die Weisung an alle Dienststellen der HVDVP, keine Schußwaffen gegen die Streikenden und Protestierenden einzusetzen. Wachtmeister mußten ihre Pistolen abgeben, Offiziere hatten sie unterzuschnallen136. Diese Tatsache ist deshalb von Interesse, weil die SED-Führung trotz eigener Anweisung, ein Blutvergießen zu verhindern, und trotz eindeutiger sowjetischer Befehlslage nach den Unruhen den BDVP-Chef wegen seiner konsequenten Haltung, die Schußwaffe gegen die Arbeiter nicht zum Einsatz zu bringen, für das Ausmaß der Unruhen in Magdeburg verantwortlich machte und ihn seiner Funktion enthob137. Auch hier eskalierten die Ereignisse um die Mittagszeit. Um 11.30 Uhr hatten sich Tausende Menschen vor der BDVP versammelt. Sie riefen die 133 134 135 136 137

Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Magdeburg, 18/179, Bl. 49, Bericht der BDVP Magdeburg. Vgl. ebd., Bl. 50. Vgl. ebd. Vgl. BArch, Bestand Mdl/HVDVP, 11/45, Bl. 97 ff. und BArch, Bestand Mdl/BDVP Magdeburg, 18/179, Bl. 5. Maron kritisierte im nachhinein das Verhalten auf das schärfste. Paulsen habe »in den frühen Morgenstunden die VP-Angehörigen selbst entwaffnet«. Vgl. Archiv PdVP, Referate 1945-1958, Mappe I, Bl. 172. Referat Maron, o.D. (1953).

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VP-Angehörigen zur Solidarisierung auf und forderten die Freilassung von politischen Gefangenen aus dem Zellentrakt. Die Polizisten mühten sich, die Tore der Behörde mit Lkw zu blockieren und mit Sperrketten ein Eindringen von Demonstranten zu verhindern. Gleichzeitig erging ein Hilferuf an den sowjetischen Militärkommandanten. Die Sperrketten der VP konnten dem Druck auf die Dauer nicht standhalten. Immer mehr Menschen drängten auf das Gebäude zu. Eine Gruppe von Protestierenden kletterte durch die Fenster des Dienstgebäudes, die Masse brach mittels Balken inzwischen das Haupttor in der Halberstädter Straße auf. Als es bereits einer großen Zahl von Demonstranten gelungen war, in die Innenräume einzudringen, erschienen sowjetische Einheiten. Beim Vorgehen gegen die Protestierenden in der BDVP und auf dem Vorplatz setzte die Sowjetarmee Schußwaffen ein. Dabei gab es auf selten der Demonstranten und Passanten viele Verletzte (namentlich sind über 40 bekannt) sowie 3 Tote, darunter ein unbeteiligter Passant und ein Arbeiter, der während einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem sowjetischen Offizier von letzterem erschossen wurde138. Etwa zur selben Zeit bestürmten Protestierende in der Magdeburger Neustadt die Haftanstalt Sudenburg. Die aufgeputschte Menge forderte die Freilassung der politischen Häftlinge. In einer sich zuspitzenden Situation entwaffneten gewalttätige Personen die VP-Posten vor dem Gefängnis und schössen durch eine Toröffnung in das Innere. Zwei Polizisten und ein MfS-Angehöriger fanden dabei den Tod. Die beiden mutmaßlichen Täter wurden am 18. Juni standrechtlich erschossen139. Erst jetzt erwiderten die Polizisten das Feuer. Demonstranten antworteten mit Steinwürfen und bemächtigten sich zweier VP-Posten als Kugelfang. In dieser heiklen Situation fuhren sowjetische Panzer auf und trieben die Menge auseinander. Die Protestierenden flüchteten sich in die Nebenstraßen, vor der Haftanstalt kehrte kurzzeitig Ruhe ein. Als sich die sowjetischen Militäreinheiten nach der Aktion vom Ort des Geschehens entfernten, bildete sich erneut eine Menschenansammlung vor der UHA. Der Gefängnisleitung wurde ein Ultimatum zur Freilassung der Häftlinge gestellt. Es kam zu Verhandlungen mit dem Parteisekretär der Anstalt. Währenddessen gelang es Demonstranten, die kleine Eingangstür neben dem 138 139

Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Magdeburg, 18/179, Bl. 54. Siehe auch Magdeburg 17. Juni, S. 87-89. Zu den Vorfällen an der Haftanstalt Sudenburg wurde eine Untersuchung am 17. und 18. Juni durchgeführt. Die Protokolle der Zeugenaussagen und Recherchen befinden sich im Archiv. Vgl. hierzu ebd., 18/182, Bl. 1 ff. Siehe hierau auch Magdeburg 17. Juni, S. 57; Fricke, Todesstrafe. Nach neuesten Erkenntnissen sollen die standrechtlichen Erschießungen in Magdeburg nicht von einem sowjetischen Kommando, sondern von zwei Volkspolizisten vorgenommen worden sein. Die eilig erstellten Ermittlungsakten deuten zudem darauf hin, daß sich unter den Stürmenden ehemalige Insassen der Haftanstalt aktiv beteiligten, so beispielsweise ein Gerhard R.

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Tor mit Äxten und Vorschlaghämmern aufzubrechen und in die Zellengebäude vorzudringen. Um 15.30 Uhr befreiten die Eingedrungenen 221 Inhaftierte ohne Unterscheidung der Delikte. Ein Teil der Häftlinge widersetzte sich der Befreiung, manche schützten ihre Wärter vor dem Zorn der Demonstranten140. Dies geschah, obwohl der sowjetische Militärkommandant in der Stadt bereits um 14.00 Uhr den Ausnahmezustand verhängt hatte. Den schnell zusammengezogenen Einheiten der Sowjetarmee war es anfangs selbst nicht möglich, sofort die Kontrolle über das Stadtgebiet zu erlangen. Erst im Verlauf des Nachmittags konnte in Magdeburg sowie anderen Orten, wie nachfolgende Beispiele zeigen, die Präsenz des sowjetischen Militärs auf das notwendige Maß erhöht werden, um den Ausnahmezustand in der ganzen Stadt rigoros durchzusetzen. Um 16.00 Uhr erfolgte dann der zweite Einsatz sowjetischer Militäreinheiten vor der Haftanstalt Sudenburg sowie vor der BD VP. Jedoch erst gegen 18.00 Uhr gelang es den Truppen, die Vorplätze beider Gebäude endgültig zu räumen. Auch im Bezirk Magdeburg blieben anfangs die Hilferufe der BDVP und der KVP-Bezirksregistrierverwaltung mit dem Hinweis, daß nur das Mdl bzw. die Chefs der TV einen Einsatzbefehl geben könnten, unbeantwortet141. In den frühen Nachmittagstunden lag die Genehmigung des Chefs der TV, Oberst Martin Bleck, vor, auf Anforderung durch die SED- und Staatsorgane mit Einsatzkommandos der KVP einzugreifen. Nun erhielt das Panzer-Lehrregiment Burg I die Einsatzweisung. Eine Expedition in Stärke von 400 Mann traf nach 17.00 Uhr vor der Haftanstalt Gommern und bei der MTS Königsborn ein. Das Gefängnis war jedoch bereits in den Mittagsstunden gestürmt, 17 Untersuchungshäftlinge befreit worden. Inzwischen hatten sowjetische Kräfte das Gebäude besetzt. Die KVP übernahm die Kontrolle der Haftanstalt und besetzte zudem die Zuckerfabrik, den VEAB und den VEB Ausrüstung. In Königsborn hielt man die MTS unter Kontrolle und löste in Möckern Ansammlungen auf. In den Folgetagen blieb die KVP in den Einsatzorten präsent und verhinderte ein erneutes Aufflackern der Proteste142. Das größte Ausmaß erreichte der Volksaufstand in den Bezirken Halle143 und Leipzig144. Das mitteldeutsche Industriegebiet bot durch die starke Ballung von Industrie sowie die sehr kurzen Informationswege beste Vor140

141

142 143 144

Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Magdeburg, 18/179, Bl. 54. Siehe auch ebd., 18/181, Bl. 18-22, Bericht des Leiters der UHA 1 vom 22.6.1953 sowie Möbius »Grundsätzlich kann von jedem Beschuldigten ...«, S. 34-45. Vgl. BA-MA, DVH 3/ 2238 a, Bl. 81, Bericht des C-Lehr-Regiments Burg I vom 22.6.1953. Vgl. ebd., Bl. 82 f. Siehe hierzu u.a. Grashoff, Der 17. Juni 1953 in Halle; Klein, Die Arbeiterrevolte. Siehe hierzu Roth, Der 17. Juni 1953 im Bezirk Leipzig; Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen.

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aussetzungen für die Erhebung. Die Streiks und Demonstrationen wurden zu einer offenen Auflehnung gegen das politische System in der DDR. Im Bezirk Halle ist wohl landesweit die gewaltigste Protestbewegung festzustellen. Alle 22 Kreise des Bezirks waren betroffen. Machtvolle Proteste gab es in Leuna, Merseburg, Schkopau, Bitterfeld, Wolfen, Weißenfels, Eisleben, Quedlinburg und Kothen. In Merseburg vereinigten sich die Demonstrationszüge der Großbetriebe Leuna und Buna zu einer Protestbewegung von über 20 000 Menschen. Die Protestierenden der beiden Werke bildeten eine gemeinsame Streikleitung, versuchten Strafgefangene aus dem Arbeitslager der Zellstoff- und Papierfabrik zu befreien und ordneten nach dem Eingreifen sowjetischer Truppen den Rückmarsch der Betriebsangehörigen in die Werke an. Zusammengestellte Kommandos hatten zuvor versucht, die Stadt- und die Kreisverwaltung zu besetzen, und Häftlinge aus dem Gefängnis befreit. Auf der Kundgebung auf dem Uhlandplatz gegen die Tyrannei des SED-Regimes war zugleich zur Friedfertigkeit und Disziplin aufgerufen worden. Auch im Bezirk Leipzig erfaßte die Protestbewegung alle 13 Kreise. Hier streikten mehr als 120 000 Beschäftigte in 28 Großbetrieben. Zentren des Bevölkerungsprotestes waren Delitzsch, Schkeuditz, Eilenburg, Böhlen und Schmölln. Ausgangs- und Kulminationspunkte aber bildeten die beiden Bezirkshauptstädte Halle und Leipzig. Die Streikbewegung begann in der Messestadt schon am 15. und 16. Juni mit kurzzeitigen Streiks gegen die Normerhöhungen. In der Nacht zum 17. Juni streikten Mitarbeiter des IFA-Getriebewerkes Liebertwolkwitz. Die Frühschicht nahm die Arbeit gar nicht erst auf. Von hier breitete sich die Streikbewegung am Südostrand von Leipzig aus. Fast gleichzeitig streikten die Bauarbeiter der Bau-Union in Schkeuditz und trugen von hier per Telefon und Kurier den Streikgedanken weiter. Machtvoll wurde die Protestbewegung mit dem Streik der Kirow-Werker. Sie und kurze Zeit später die Reichsbahner des RAW initiierten mit ihrem Aufruf »Übt Solidarität mit Berlin!« den Massenprotest. Ein großer Teil der Leipziger Betriebe Schloß sich der Streikbewegung an. Die BDVP Leipzig benannte im Bezirk 28 Großbetriebe mit einer Gesamtbelegschaft von 120 300 Beschäftigten, die sich mit einem Gros der Arbeiter an der Streikbewegung beteiligten. Der Polizeibericht schätzte für das Stadtgebiet Leipzig die Menge auf 24 000 Demonstranten145. Nach anderen Quellen belief sich die Zahl der Demonstranten auf 40 000-50 000 Menschen In der Mehrzahl dieser Fabriken bildeten die Belegschaften eine Streikleitung. Auch die Leipziger Arbeiter richteten Forderungsresolutionen an die Regierung, deren Inhalt sich ähnelte: 1. Abschaffung der Normerhöhungen, 145

146

Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Leipzig, 24/41, Bl. 167/168, Bericht der BDVP Leipzig. Vgl. Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 132 f.

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2. Senkung der HO-Preise, 3. Rücktritt der Regierung, 4. Freilassung aller politischen Häftlinge, 5. Zulassung aller Parteien, 6. freie und geheime Wahlen. Später kam als eine Hauptforderung der Demonstrierenden die nach Aufhebung des Ausnahmezustandes hinzu. Bereits in den Vormittagsstunden bildeten sich mehrere Demonstrationszüge mit Tausenden von Leipzigern. Die Protestierenden bewegten sich in das Stadtzentrum. Auf dem Platz des Friedens steckten Demonstranten einen Agitationspavillon der Nationalen Front in Brand. Am Mittag besetzten Demonstranten das Rundfunkgebäude Leipzig, die Gebäude der Leipziger Volkszeitung, das Ernst-Thälmann-Haus des FDGB und die Bezirksleitung der FDJ. Auch das VPKA wurde bestürmt. Im Hof gaben Polizisten Schüsse auf die Demonstranten ab, wurden Feuerlöschfahrzeuge mit C-Rohren gegen die Menge eingesetzt. Auch die Untersuchungshaftanstalt und die Gebäude der Staatsanwaltschaft in der Beethovenstraße wurden hart bedrängt. Hier waren, wie anderen Ortes auch, am Vormittag im Zuge des Neuen Kurses noch offizielle Haftentlassungen vorgenommen worden. Jetzt forderte man die Freilassung aller politischen Gefangenen. Den Protestierenden gelang es, mit einer Ramme das Tor der UHA aufzubrechen und bis zum Hof vorzudringen. Hier wurden sie von der Wachmannschaft der VP beschossen und zogen sich zurück. Um 13.00 Uhr tauchten die ersten sowjetischen Militäreinheiten in Leipzig auf. Gegen 14.00 Uhr trafen auch drei Lkw mit Schützen vor der UHA ein und verhinderten eine mögliche Häftlingsbefreiung. Sowjetische Einheiten räumten nun zuerst die besetzten Gebäude und gingen dann auch unter Schußwaffeneinsatz gegen die Menschenmenge auf dem Dimitroff-Platz, dem Karl-Marx-Platz, dem Platz des Friedens und vor dem Hauptbahnhof vor. Bei den Räumaktionen der sowjetischen Militärformationen sowie durch den Waffengebrauch der Polizei fanden in den Nachmittags- und Abendstunden im Leipziger Stadtgebiet sieben Menschen den Tod, unter ihnen auch ein VP-Offizier147. Der achtundzwanzigjährige Erich Kunze, der von der DDR-Führung später als Märtyrer im Kampf gegen die »Putschisten« gefeiert wurde, erlag Schußverletzungen. Verschwiegen wurde allerdings, daß ihn in der Nacht zum 19. Juni die tödlichen Kugeln in seinem voll besetzten Dienstfahrzeug aus Maschinenpistolen einer sowjetischen Streife trafen148. Das erste Todesopfer auf Seiten der Demonstranten war um 15.00 Uhr auf dem Dimitroff-Platz zu beklagen. Ein Augenzeuge schilderte: »Durch die Petersstraße bewegte sich ein völlig lautloser Zug, an dessen Spitze Männer schritten, die auf einer Bahre den ersten Toten trugen, einen jungen 147

148

Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Leipzig, 24/42, Bl. 130 ff., Bericht der BDVP Leipzig. Vgl. Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 182.

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Arbeiter mit einem Kopfschuß. Ein großer Kranz lag auf ihm und von überall her wurden Blumen auf ihn geworfen149.« Der beschriebene Zug endete am Hauptbahnhof, wo die Leiche des Neunzehnjährigen der Transportpolizei übergeben wurde150. Die KVP kam in Leipzig erst gegen 16.00 Uhr zum Einsatz. Ein Bericht des VPKA Leipzig kritisierte im Nachhinein diese Tatsache und stellte fest, daß bereits um 10.00 Uhr eine Verbindung zur KVP-Dienststelle hergestellt worden sei und trotz wiederholter Bitte bis 14.00 Uhr keine Hilfestellung erfolgte. Die KVP hatte keinen Einsatzbefehl aus Berlin erhalten können. Im Bericht wird geschlußfolgert: »Wäre es dem Einsatzstab des VPKA Leipzig möglich gewesen, schon am 17.6.53 vormittags auf die Kräfte der KVP zurückzugreifen, hätte es nicht zu diesen Ausschreitungen im Innern der Stadt kommen können, sondern man hätte durch organisierten Einsatz die im Entstehen begriffene Demonstration im Keime zerschlagen können [...] Beweis dieser Tatsache waren die Einsätze am 18.6.53, wo diese den ganzen Tag über erfolgreich durchgeführt wurden151.« Der aus der Sicht der zu lösenden Einsatzaufgaben der VP am 17. Juni erstellte Bericht verdeutlicht die Hauptprobleme der Staatsorgane an diesem Tag. Die Kräfte der HVDVP reichten nicht aus, um die Volkserhebung zu unterdrücken. Die Kompetenzen für den Einsatz des stärksten bewaffneten Organs der DDR, der KVP, waren aber zu einem Zeitpunkt, da die Protestbewegung mit bewaffneter Gewalt im Entstehen hätte unterdrückt werden können, nicht geklärt, die KVP nicht einsatzbereit. Als Einsatzbefehle an die KVP-Einheiten ergingen, war die Situation in den Großstädten bereits soweit eskaliert, daß sich das DDR-Militär außerstande erwies, die Proteste zu unterdrücken, oder aber sowjetische Einheiten schon in das Geschehen eingegriffen hatten. Das Beispiel Leipzig macht zwei weitere für die Unruhen in Großstädten typische Tatsachen sichtbar. Zum einen sind am 17. Juni zwei Unruhewellen zu beobachten, die eine, um die Mittagszeit beginnend und mit dem Einsatz sowjetischen Militärs zwischen 15.00 und 16.00 Uhr abflauend, eine zweite in den Abendstunden, zwischen 17.00 und 18.00 Uhr anschwellend, bis zur endgültigen Durchsetzung des Ausnahmezustandes. Zum anderen wird in Leipzig wie in Halle, Magdeburg und anderen Städten deutlich, daß es den sowjetischen Eingreiftruppen nicht gelang, den Volksaufstand im ersten Einsatz vollständig zu ersticken. Auch die Militärkommandanturen der UdSSR in der DDR wurden von der Wucht und dem Ausmaß des Protestes überrascht. Die schnell aus der Stadt oder der näheren Umgebung zusammengezogenen Militäreinheiten 149

150 151

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Juli 1953. Siehe zu den Vorfällen auch: BArch, Bestand Mdl/HVDVP, 11/44, Bl. 41 f. Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Leipzig, 24/42, Bl. 337. Ebd., 24/246, Bl. 82.

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waren zahlenmäßig oft nicht ausreichend, um sofort die Kontrolle über das gesamte Großstadtgebiet zu übernehmen. So wurden die Einheiten nach einem Räumeinsatz gegen die Demonstranten zumeist zu einem anderen Einsatzpunkt beordert. Mit dem Abrücken schwoll die Protestbewegung am ersten Einsatzort sofort wieder an, zumal das Abrücken nicht selten von den Protestierenden als ein Rückzug der Militärmacht empfunden wurde. In Leipzig verfügten die zum Einsatz beorderten sowjetischen Truppenkontingente nicht über die als notwendig angesehenen Panzerfahrzeuge. Der sowjetische Stadtkommandant befahl deshalb, daß Panzer des hier liegenden Infanterieregiments der KVP zur Verfügung zu stellen seien. Zur Bedienung der Τ 34 wurden gemischte Besatzungen aus Sowjetsoldaten und KVPAngehörigen gebildet. Auch hier traute man der ΚΥΡ offenbar nicht in vollem Umfang 152 . Insgesamt ist für Leipzig festzustellen, daß die Polizei anfangs darauf bedacht war, keine Zusammenstöße mit den Demonstranten zu provozieren und von einem Waffeneinsatz abzusehen. Erst um 10.30 Uhr erfolgte die Bewaffnung von Schulungskompanien der Abteilung Schutzpolizei, erhielten die Kriminalpolizei und die Abschnittsbevollmächtigten Schlagstöcke und Pistolen. Auch die sowjetische Militärmacht sicherte am Vormittag defensiv nur Gebäude der Innenstadt, ohne aktiv gegen die Protestierenden vorzugehen. Nicht selten, so im Falle des Transportpolizeireviers am Hauptbahnhof, versuchten Polizisten die Waffen wegzuschließen, als Demonstranten in die Dienststelle eindrangen. In den frühen Nachmittagsstunden allerdings eskalierten die Ereignisse und die Polizei gebrauchte nun auch Schußwaffen. Erst nachdem es in Leipzig die ersten Todesopfer zu beklagen gab, verhängte der sowjetische Stadtkommandant um 16.00 Uhr den Ausnahmezustand, offensichtlich, weil die Sowjetarmee vor Ort erst zu diesem Zeitpunkt die notwendige Stärke erlangt hatte. Nun wurde die Auseinandersetzung radikaler, mit dem ab etwa 17.00 Uhr gültigen Schießbefehl von Paul Fröhlich dann auch mit Waffengewalt geführt 153 . Aber auch auf der Seite der Demonstrierenden wurde die Gewalt forciert. Als Beispiel seien die haifnäckigen Angriffe auf Gebäude des MfS und der VP ab 18.00 genannt. Dabei schössen die Sicherheitskräfte ohne zu zögern und verletzten u.a. den vierundvierzigjährigen Johannes Köhler tödlich154. KVPEinheiten traten in Leipzig im wesentlichen erst nach Verhängung des Ausnahmezustandes und sowjetischem Militäreinsatz in Aktion. Anders gestaltete sich der Einsatz der KVP im Stadtgebiet Halle. Zwar trat dort sowjetisches Militär schon gegen 13.00 Uhr in Erscheinung, offensichtlich aber mußten die im Manöver befindlichen Hauptkräfte auch hier erst herangeholt werden. Massiv wurde der sowjetische Einsatz ebenfalls 152 153 154

Vgl. BA-MA, DVH 3/3437, Bl. 23a, Bericht der Politischen Verwaltung der KVP. Vgl. hierzu Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 178-182. Vgl. ebd., S. 134.

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erst gegen 16.00 Uhr. Polizisten setzten aber bereits in den Mittagsstunden ihre Waffen zur Verteidigung von Dienststellen ein. Um 14.15 Uhr erhielten die VP-Kräfte die Erlaubnis zum Schußwaffengebrauch. Bereits vor Verhängung des Ausnahmerechts und früher als die sowjetische Militärmacht kamen zudem Einsatzkommandos der KVP an mehreren Brennpunkten des Geschehens zum Einsatz. Doch der Reihe nach. In Halle gingen die Proteste an diesem 17. Juni vom Waggonbauwerk Ammendorf vor den Toren der Stadt aus. Zur Frühschicht um 6.00 Uhr kam es hier zu Diskussionen der Arbeiter. Bis 9.00 Uhr hatten sich auf dem Werkgelände etwa 2000 Arbeiter versammelt, die den Rest der Belegschaft an der Arbeitsaufnahme hinderten. Ein Polizeibericht schildert aus Behördensicht die Vorgänge: »Die Betriebsparteiorganisation versuchte durch Agitationseinsätze, die Leitung der Diskussion an sich zu reißen und positiv zu gestalten, was jedoch nicht gelang. Während bis 9.00 Uhr die Mißstimmung der Werktätigen sich hauptsächlich gegen die bestehenden HO-Preise und innerbetriebliche Mißstände richtete, verstanden es Provokateure, die Massen unter der Losung: >Sturz der RegierungFreilassung der politischen Verbrecher« weiter aufzuwiegeln und der beginnenden Demonstration aggressiven Charakter zu verleihen155.« Die sich anschließende Demonstration führte in Halles Stadtzentrum. Auf dem Weg dorthin wurden die Maschinenfabrik Halle/Karosseriewerk und die MTS-Reparaturwerkstatt Stalinallee angesteuert und die Belegschaften zum Streik aufgefordert. In beiden Betrieben bildeten sich ebenfalls Streikkomitees, die Schlosser beteiligten sich an dem Protestzug. Überall auf dem Weg zerstörten Demonstranten die Propagandalosungen der SED, so auch am Gebäudetrakt der KVP in der Stalinallee. Vor der Kaserne skandierten die Arbeiter Parolen gegen die Aufrüstung in der DDR: »Wir brauchen keine Volksarmee, wir brauchen Butter!« Die KVP zeigte gegenüber den Arbeitern keine Reaktion. Die Einheit war nicht alarmiert und verblieb im Standort. Nachdem der Protestzug die Kaserne passiert hatte, bemühte sich der Kommandeur der Dienststelle um Kontakte zur Bezirksbehörde der DVP in Halle und zur SED-Bezirksleitung, um über die Vorfälle zu informieren. Eine Verbindung zur Kreisleitung kam nicht mehr zustande, da diese zum genannten Zeitpunkt bereits von Demonstranten bestürmt wurde. Mit der BDVP vereinbarte der Kommandeur der VPD Halle III ein Eingreifen der KVP an Schwerpunkten des Geschehens. Während sich der Stab der KVP-Einheit langwierig um eine Einsatzgenehmigung aus Berlin bemühte, eskalierten die Ereignisse im Stadtzentrum. Nach dem ergebnislosen Versuch, die Kreisleitung der SED zu besetzen, zogen die Demonstranten mit dem Ruf nach Absetzung der Regierung vom 155

Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Halle, 19/073, Bl. 94, Bericht der BDVP Halle.

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Thälmannplatz hinauf zur Bezirksjustizverwaltung am Hansering. Tausende Passanten und andere Demonstranten reihten sich in die Menschenmenge ein. Die Protestierenden drangen in das Justizgebäude ein, Richter und Justizbeamte wurden verprügelt. Zur selben Zeit hatte sich vor der Strafvollzugsanstalt II in der Kleinen Steinstraße eine große Menge versammelt. Sie forderte die Freilassung der politischen Gefangenen. Die SVA war zu diesem Zeitpunkt mit 20 weiblichen und 13 männlichen Polizisten besetzt. Es bestand striktes Verbot, die Schußwaffen einzusetzen156. Um 12.30 Uhr gelang es den Demonstranten, die Holztore der SVA einzudrücken. Beim Vordringen der Protestierenden auf das Amtsgebäude nutzten die VPAngehörigen dann doch die Waffen, zuerst mit Warnschüssen, später gezielt. Als es Verletzte gab, wich die Masse zurück und stellte vor dem Gebäude das Ultimatum, daß die Gefangenen bis 15.00 Uhr freizulassen seien. Wieder forderte die BDVP dringlichst den Einsatz der KVP an, wieder verging geraume Zeit, während der zwischen der Dienststelle und dem Mdl hin- und hertelefoniert wurde. Nachdem der Chef der Kfz-Schule Halle III deutlich gemacht hatte, daß die HVDVP in Halle nicht mehr Herr der Lage sei, kam aus dem Mdl nach Rücksprache mit den sowjetischen Behörden in Karlshorst die Einsatzweisung. Das KVP-Kommando, welches gegen 14.30 Uhr an der Haftanstalt eintraf, bestand aus 3 Offizieren und einem Zug mit 24 Offiziersschülern, ausgerüstet mit Karabinern, jedoch ohne Munition157. Die kleine Einheit sah sich einer erdrückenden Menschenmenge gegenüber. Ein Tor der SVA war aufgebrochen, auf dem Gefängnishof befanden sich Dutzende Demonstranten. Der einsatzleitende Oberleutnant Röder entschied sich angesichts der Situation, beschwichtigend mit den Protestierenden zu reden. In der entstehenden politischen Diskussion stellte die Menge ein Ultimatum zur Freilassung der politischen Häftlinge und forderte die KVP auf, die Waffen niederzulegen. Der Kommandoführer ließ angesichts der Lage die nutzlosen Karabiner in der Haftanstalt einschließen. Sein Kommando übernahm die Sicherung des Gefängnisses mittels Sperrketten. Nachdem das Ultimatum abgelaufen war, begann der Druck der Menge auf das Gebäude erneut. Die Sperrketten der KVP rissen, die einzelnen Soldaten wurden abgedrängt, mehrere im Handgemenge verletzt. Das Verhalten des Einsatzleiters des KVP-Kommandos und seines Politoffiziers wurde nach den Unruhen aufgegriffen, um für die KVP als einem Organ der Staatsmacht ein Exempel zu statuieren. Das eher verantwortungsbewußte Vorgehen der KVP-Offiziere verkehrte man nach den Unruhen ins Gegenteil und warf ihnen »Feigheit« und »Verrat an der Arbeiterklasse« vor. Gegen beide Offiziere fand vor dem Bezirksgericht Cottbus ein Verfahren statt, in welchem der Kompaniechef zu sechs, der Politoffizier zu 156 157

Vgl. ebd., BL 95. Vgl. BA-MA, DVH 3/3435, BL 11, Einsatzbericht des Infanterieregiments НаИе I vom 23.6.1953.

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vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Im November 1953 gab die Politische Verwaltung der KVP an alle Einheiten eine Politinformation zu diesem Prozeß heraus. Es ging sowohl in der Gerichtsverhandlung als auch in der Politinformation nicht darum, die tatsächlichen Ereignisse und deren Ursachen zu ergründen und darzustellen. Die KVP-Führung und die Justiz gedachten im Zuge der ideologischen Vorbereitung der KVP auf den künftigen Einsatz bei inneren Konfliktsituationen ein regierungs- und befehlstreues Handeln der KVP-Angehörigen durchzusetzen. Doch zurück zu den Vorgängen in der Kleinen Steinstraße. Um 15.30 erreichte ein Einsatzkommando der Infanteriebereitschaft Halle I die SVA. Der Zug mit 3 Offizieren und 21 Soldaten führte Karabiner und Munition mit sich. Doch auch diese Einheit, die sich den Weg in die Haftanstalt unter Warnschüssen zu bahnen versuchte, wurde mit Steinen attackiert, von den Protestierenden eingeschlossen und letztlich auseinandergetrieben. Ein Teil der Soldaten gelangte in die rettenden Gebäude, 11 Mann aber wurden entwaffnet, geschlagen oder der Uniform beraubt. Während die Verletzten gleich in die Dienststelle zurückgebracht wurden, die Verstreuten am nächsten Tag dort erschienen, mußten zwei Feldwebel, die sich mit einem Demonstranten in dessen Wohnung begeben hatten, am 18. Juni vom MfS verhaftet werden. Den Demonstranten gelang es, in das Zellenhaus vorzudringen, in dem gerade auf Aufforderung des Staatsanwaltes die zu unter drei Jahren Verurteilten zur Beruhigung der Menge zur Endassung kommen sollten. Die Eindringenden befreiten den größten Teil der 245 Inhaftierten des Frauengefängnisses ohne Prüfung der Delikte. Zu den Befreiten zählte Erna Dorn, die später von der SED-Propaganda zur »KZ-Kommandeuse« und zur aktiven »Rädelsführerin« der Unruhen in Halle hochstilisiert werden sollte158. Bereits am 22. Juni 1953 verurteilte sie das Bezirksgericht Halle zum Tode. Sie habe, so das Urteil, die Massen zum Sturz der DDR aufgerufen, um einen »neuen Krieg und Blutvergießen« heraufzubeschwören159. Am 1. Oktober 1953 wurde Erna Dorn in Dresden enthauptet. Erna Dorn wurde ein Opfer der SED-Diktatur. Auch heute noch ist das Schicksal der offensichtlich psychisch erkrankten Frau nebulös160. Sie fiel 1950 erstmals mit kleinen Wirtschaftsvergehen auf. Ihre eigenen Angaben zur Person differieren erheblich und dokumentieren den Drang, sich wichtig zu machen161. Bereits Anfang der fünfziger Jahre hatte sie sich selbst der Agententätigkeit bezichtigt, dem MfS aber war ein Nachweis solcher Akti158

159 160 161

Vgl. Neues Deutschland, 22., 24. und 26.6.1953. Siehe auch: BArch, Bestand Mdl/BDVP Halle, 19/073, Bl. 95 ff. und SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/533. Zit. nach Gursky, Erna Dorn, S. 46. Siehe Ebert/Eschenbach, »Rädelsfüihrerin«; Gursky, Erna Dorn. Vgl. Werkentin, Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 202 f.

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vitäten nicht gelungen. Auch die Bekleidung einer Kontrollfunktion in einem KZ ist eine eigene Behauptung, die im Mai 1953 zur Verurteilung zu 15 Jahren Zuchthaus wegen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« führte162. Am 17. Juni wurden zwischen 15.00 und 15.30 Uhr die Häftlinge aus der SVA II befreit. Daß sich Erna Dorn unter den Befreiten befand, war ein Zufall, nicht wie die DDR-Presse am 21. Juni behaupten sollte, langfristig vorbereitet163. Zudem entpuppt sich auch ihre »Hetzrede« auf dem Hallmarkt als eine Propagandalüge, denn nach ihrem Freikommen hielt sie sich erst längere Zeit in der Stadtmission auf. Sie gab zwar in der Vernehmung an, auf dem Weg zum Hallmarkt gewesen zu sein und gegenüber Personen ihre Ansicht über den Sturz der Regierung geäußert zu haben, Ort und Zeit der Angaben stimmen jedoch nicht mit dem konstruierten Verlauf überein. Die erste Kundgebung auf dem Hallmarkt und die Konstituierung des »Zentralen Streikkomitees« fand zwischen 14.00 und 15.00 Uhr statt. Zu diesem Zeitpunkt erzwang eine Abordnung des Streikkomitees in der Staatsanwaltschaft auch die Vollmacht zur Freilassung der politischen Gefangenen. In diesem Zusammenhang wollen einige Zeitzeugen Erna Dorn auf dem Hallmarkt gehört haben164. Die zweite Kundgebung fand um 18.00 Uhr statt, auf der das »Zentrale Streikkomitee« nochmals die Forderungen verkündete und für den Folgetag zum Generalstreik aufrief. Hier erst wäre ein Auftritt Doms möglich gewesen. Ein von der Staatssicherheit am 18. Juni beschlagnahmter Film des Kameramannes Albert Ammer, der über die Unruhen in Halle und die Vorgänge auf dem Hallmarkt Aufschluß geben könnte, war bislang nicht auffindbar165. Tatsächliche Zeugen fur Dorns Auftreten auf dem Hallmarkt konnten selbst die DDR-Justiz und das MfS nicht finden166. Erna Dorn mußte gleichzeitig als Opfer politischen Rufmordes herhalten. Wider besseres Wissen gab die SED-Propaganda zum Nachweis des »faschistischen Charakters« der Volkserhebung Erna Dom die Identität der berüchtigten KZ-Aufseherin Gertrud Rabestein167. Die aber verbüßte ihre Strafe seit 1948 im Zuchthaus Hoheneck in Sachsen. Wie sehr jedoch das Propagandabild der DDR-Führung nachwirkt, zeigen Erinnerungsberichte,

Vgl. Gursky, Erna Dorn, S. 21. Vgl. Werkentin, Strafjustiz in der Ära Ulbricht, S. 205. 1 6 4 Vgl. Spurensicherung, S. 96. 1 6 5 Der DEFA-Mitarbeiter machte sich mit drei Kollegen gegen 13 Uhr auf, die Unruhen in Halle dokumentarisch festzuhalten. Er filmte die Vorgänge A m Kirchtor und die Gefangenenbefreiung in der Kleinen Steinstraße sowie die Kundgebung auf dem Hallmarkt. Im September 1953 verurteilte das Bezirksgericht Halle Ammer wegen Boykotthetze sowie Geheimnisverrats, weil auch sowjetische Truppen im Einsatz aufgenommen wurden, zu 3 Jahren Gefängnis. Vgl. BStU, A K 220/53, Bd 1 u. 2. 1 6 6 Vgl. Gursky, Erna Dorn, S. 42. 167 Neues Deutschland, 26.6.1953. 162

163

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in denen sich bis heute Erlebtes und Propaganda vermischen und die sehr kritisch zu hinterfragen sind168. Doch zurück zu den Vorgängen an der Haftanstalt. Nachdem zwei Einsatzkommandos von den Demonstranten vor der SVA zerstreut worden waren, wandte sich der Kommandeur der VPS an den Stab des Mdl in Berlin mit der Bitte um einen klaren Befehl zum Einsatz der Schußwaffen. Dieser wurde für den konkreten Fall vom Stellvertreter des Ministers des Innern und Chef der Politischen Verwaltung der KVP, Generalmajor Rudolf Dolling, erteilt169. Um 16.40 Uhr gelang es einem größeren Einsatzkommando der Infanteriebereitschaft Halle I mit 4 Offizieren und 55 Offiziersschülern unter Waffeneinsatz und mit Unterstützung der örtlichen Polizeiorgane und Kommandos der Kfz-Schule Halle III und der Nachrichtenschule Halle II, die in der Haftanstalt eingeschlossenen VP-Angehörigen zu befreien und die Demonstranten aus dem Gebäude zu verdrängen. Während der Auseinandersetzung vor der Haftanstalt Kleine Steinstraße starben durch den Schußwaffeneinsatz der KVP zwei, vor der Haftanstalt Am Kirchtor durch Sowjetsoldaten ebenfalls zwei Demonstranten. Beim Versuch, die SEDKreisleitung in Halle zu stürmen, erschoß die VP-Wache eine Person170. In Berlin war am Nachmittag des 17. Juni die Entscheidung gefallen, aufgrund der Unübersehbarkeit der regionalen Lage und der offensichtlichen Probleme einer zentralen Führung, in den Bezirken aus führenden SED-Funktionären sowie Leitungskräften des MfS, der HVDVP und der KVP örtliche Einsatzstäbe zu bilden. Diese sollten in Absprache mit der jeweiligen Militärkommandantur der UdSSR die Sicherheitsorgane der DDR befehligen171. Eine solche Zusammenarbeit hatten sowjetische Militärkommandanten bereits in verschiedenen Regionen selbstständig initiiert172. In den Nachmittagsstunden erhielten die KVP-Dienststellen Fernschreiben, wonach Einheiten der KVP fortan auch nach Aufforderung der örtlichen Organe in Einsatz gebracht werden dürften173. In Halle bildete zu dieser Zeit das Politbüromitglied Fred Oelßner auf Anweisung der SED-Führung einen Operativstab für die Einsatzleitung und -koordinierung der Sicherheitskräfte der Region. Von Oelßner, dem Leiter des Operativstabes in Halle, erhielt der Stabschef der VPD Halle I um 17.50 Uhr die Weisung, daß jeglicher Widerstand der Demonstranten mit Gewalt zu brechen sei174.

168 169 170

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Vgl. Spurensicherung, S. 9 5 - 1 0 0 . Vgl. BA-MA, DVH 3/3436, Bl. 367, Bericht der Kfz-Schule Halle III. Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Halle, 19/075, Bl. 32 ff., Bericht der BDVP über die Unruhen. Vgl. ebd., Bl. 12, Einsatzbericht des Infanterieregiments Halle I vom 23.6.1953. Vgl. Berichte der sowjetischen Militärkommandanturen (beim Autor). Vgl. BA-MA, DVH 3/3435, Bl. 148/49, Bericht des Panzerlehrbataillons Burg I vom 22.6.1953. Vgl. ebd., Bl. 12 und DVH 3/5775, Bl. 24/25.

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Auch in Halle gab es eine zweite Welle des Volksaufstandes gegen 18.00 Uhr. Erneut versuchten Demonstranten, den Widerstand der KVP an der Haftanstalt Kleine Steinstraße zu brechen. Am Haupteingang wurde ein Brand gelegt, ein Lkw versuchte, mit der Ladefläche das Haupttor einzudrücken. Die Menge schloß das Gebäude ein und forderte von den KVPAngehörigen, die Waffen niederzulegen und das Gebäude zu verlassen. Zudem verlangte sie die Auslieferung aller Staatsanwälte und Angestellten des Gefängnisses. Die Wortführer bemühten sich, die KVP-Angehörigen zur Solidarisierung zu bewegen, indem sie verbreiteten, daß die Regierung gestürzt und die Minister verhaftet seien. Um 18.30 Uhr, so die Sprecher, erwarte man eine große Anzahl bewaffneter Arbeiter aus den LeunaWerken. Kurze Zeit später fuhren sowjetische Panzer auf. Sie räumten den Platz im Zusammenwirken mit Schützenketten der Sowjetarmee175. Mit Unterstützung der KVP wurde die Masse auf den Marktplatz zurückgedrängt, die Wortführer und andere Personen sofort verhaftet. Um 19.00 Uhr verhängte der sowjetische Stadtkommandant Halles den Ausnahmezustand über das Stadtgebiet. Sowjetische Einheiten räumten Plätze und Straßen von Demonstranten. Einheiten der KVP übernahmen Sicherungsaufgaben. Ein Kommando bewachte seit den Nachmittagsstunden die Redaktionsgebäude der lokalen SED-Zeitung »Freiheit«, ein anderes wehrte vor der Hauptpost den Versuch von Demonstranten ab, in das Gebäude zu gelangen. Ein Unteroffizier und zwei Gefreite der KVP aber zogen während des Einsatzes vor dem Postamt ihre Uniformen aus und solidarisierten sich mit den Arbeitern176. Die geschilderten Beispiele dokumentieren ein Phänomen im Verlauf der Volkserhebung, welches insbesondere in größeren Städten, aber nicht nur dort zu beobachten war. Trotz des vielerorts bereits geltenden Ausnahmerechts lebte der Massenprotest immer wieder auf, gelang es den Sicherheitskräften erst in den Abendstunden, die Kontrolle über die Stadtkerne zu erlangen. Städte und größere Orte waren oft die Zentren der Unruhen einer Region. Demonstrationszüge von den Randgebieten oder umliegenden Orten erreichten die Zentren erst, nachdem die erste Protestwelle durch Militäreinheiten unterdrückt worden war. Manche Demonstranten hatten den Ort des Geschehens verlassen und waren an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, andere waren nach Hause gegangen. Viele jedoch blieben in Erwartung politischer Meldungen, aus Neugier oder in der Hoffnung, daß es jetzt erst richtig losgehen würde. Nicht wenige Arbeiter begossen ihren Sieg« in einer Kneipe. Als dann die Protestzüge aus den Randgebieten eintrafen, schwoll die Bewegung erneut an, vermischten sich »alte« und »neue« Kräfte. Aus den 175

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Vgl. BA-MA, DVH 3/3435, Bl. 11, Einsatzbericht des Infanterieregiments Halle I vom 23.6.1953. Vgl. ebd., Bl. 18.

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Erfahrungen der ersten Unruhen schöpfend und die eigentliche Ziellosigkeit weitervermittelnd, zogen die Protestierenden vielfach zu jenen Orten, die bereits früher Handlungspunkte waren, wie z.B. zum Gefängnis in der Kleinen Steinstraße in Halle. Es schien, als sollten errungene »Siege« wiederholt bzw. nicht erreichte Ziele mit der Verstärkung nun durchgesetzt werden. Zielobjekte waren immer wieder öffentliche Gebäude der Regierung, der SED und von Massenorganisationen sowie Haftanstalten. Darin manifestierte sich der politische Willen zum Sturz des herrschenden Systems. Dagegen richteten sich die Aktionen nur in wenigen Fällen auf die Unterbrechung der Nachrichtenverbindungen, auf die Lahmlegung des Verkehrs, was Ausdruck eines zielgerichtet geführten Aufstandes gewesen wäre. In der gesamten DDR ist auch kein Fall einer organisierten Bewaffnung der Protestierenden bekannt. Das verdeutlicht sowohl die Spontaneität der Erhebung als auch eine der Protestbewegung trotz der Auseinandersetzungen innewohnende Friedfertigkeit sowie deren Führungslosigkeit. Der Willen, politische Veränderungen in der DDR zu erzwingen, konnte — auch in Halle nicht, wo ein »Zentrales Streikkomitee« existierte — zumeist nicht in einen organisierten politischen Aufstand umgesetzt werden. In Halle waren das Streben zum Sturz der Staatsmacht und eine zentrale Führung vorhanden, die Entwicklung als Aufstand weit gediehen. Man besetzte die wesentlichen Führungszentren der regionalen Staatsmacht, die SED-Bezirks- und Stadtbezirksleitung, den Rat des Bezirkes, nutzte Lautsprecheranlagen und Lautsprecherwagen zur Koordinierung der Protestbewegung, rief aber auch zu einem friedlichen Protest auf. Allerdings blieben die Bastionen des stärksten bewaffneten Machtorgans der DDR, der KVP, unangetastet und handlungsfähig. Diese zerschlugen gemeinsam mit der hier sehr spät eingreifenden Sowjetmacht die Erhebung, bevor sich der Aufstand zielgerichtet konstituieren konnte. Aufstände zur Machtübernahme die Ereignisse in Bitterfeld und Görlitz Der politische Charakter und der Organisationsgrad des Volksaufstandes entwickelten sich - verglichen mit Halle — im Raum Bitterfeld und in Görlitz bedeutend weiter. In Bitterfeld strömten Arbeiter aus der Farben- und der Filmfabrik Wolfen, den umliegenden Baustellen und Reichsbahnbetrieben, dem Elektrochemischen Kombinat sowie anderen Betrieben und den Braunkohlengruben der Umgebung zusammen. Die etwa 30 000 Streikenden bildeten nicht wie in den übrigen Regionen nur separate Streikleitungen, sondern wählten ein überregionales Streikkomitee. Der »legale freiheitliche Rat« stand unter dem prägenden Einfluß der Streikfuhrer Paul Othma und Wilhelm Fiebelkorn. Bekannt geworden und mehrfach veröffentlicht ist der

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Forderungskatalog der Bitterfelder Streikleitung, der mit seinen politischen Forderungen auf basisdemokratische Veränderungen in der DDR zielte und treffend die Wünsche der Protestierenden repräsentierte. Unter der somit vereinheitlichten Führung wurden Aktionsmaßnahmen der Arbeiter beschlossen. In Bitterfeld besetzten die Demonstranten das VPKA, die Stadtverwaltung, die Dienststelle der Staatssicherheit und das Gefängnis. Aus letzterem konnten 53 politische Häftlinge befreit werden, während die wegen krimineller Delikte Verurteilten in Haft blieben. Im VPKA hatte eine SPDKommission der Arbeiter die Einsichtnahme in die Polizeiakten politisch Inhaftierter erzwungen und die Gefangenenbefreiung damit gezielt durchgeführt. Hier verhafteten die Streikenden den Polizeichef VP-Kommandeur Nossek und sperrten ihn und den Bezirksstaatsanwalt in die Zellen der politischen Häftlinge. Der Sekretär der SED-Bezirksleitung, der Vorsitzende des Landrates, der Bürgermeister und der Chef des örtlichen Staatsicherheitsdienstes konnten sich einer beabsichtigten Inhaftierung durch die Flucht in die sowjetische Ortskommandantur entziehen177. Es ging den protestierenden Massen bewußt um die Ausschaltung der Staatsorgane. Ebenfalls in hohem Maße organisiert nahmen die Streikenden in Bitterfeld Einfluß auf die umliegenden Gebiete. Per Bahn und mit Lkw wurden Arbeitergruppen in die näherliegenden größeren Orte entsandt, so nach Roßlau, Delitzsch, Gräfenhainichen, um den Gedanken der Volkserhebung weiterzutragen178. Für einen Aufstand bot der Kreis Bitterfeld günstige Bedingungen. Hier waren weder sowjetische noch KVP-Truppen stationiert. In der Stadt Bitterfeld hatten weder die sowjetische Militärkommandantur noch die örtlichen DDR-Machtorgane von den Unruhen in anderen Städten erfahren. Als man von Streiks und Demonstrationen hörte, wandte sich der Leiter des VPKA an die BDVP Halle und erhielt Weisung, Ruhe zu schaffen, ohne die Schußwaffe anzuwenden. Der folgende Versuch, vor dem Gefängnis die Demonstranten auseinander zutreiben, endete mit der Zerstreuung des VPKommandos und der Verhaftung des Polizeichefs. Als dies sein Stellvertreter erfuhr, verbarrikatierten sich die restlichen Polizeikräfte im VPKA, verschlossen die Waffen, einige zogen gar die Uniform aus. Zum Schutz der Staatsmacht wurde nichts mehr unternommen179. Die verfügbaren Kräfte der örtlichen sowjetischen Militärkommandantur reichten nur aus, das Gefängnis zu besetzen. Erst als eine MPi-Kompanie der 21. mech. Gardedivision in Bitterfeld eingetroffen war, die öffentlichen Gebäude gesichert hatte 177 Ygi B e r i c ht der 9. Militärkommandantur des Kreises Bitterfeld vom 19.6.1953 (Dokument im Besitz des Autors). 178

179

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/5/525, Bl. 105 f., Bericht über die Unruhen vom 17. Juni 1953 im Kreis Bitterfeld. Bericht des Militärkommandanten des 110. Militärbereichs vom 3. Juli 1953 (Dokument im Besitz des Autors).

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und zur Verstärkung Einheiten der Divisionsschule der 62. Gardeflakdivision herangeführt worden waren, verhängte der Militärkommandant um 15.00 Uhr über den Kreis Bitterfeld den Ausnahmezustand. Im Vergleich zu anderen Brennpunkten des Volksaufstandes kam es in Bitterfeld in deutlich geringerem Maße zu Ausschreitungen. Das lag vor allem daran, daß die zentrale Streikleitung alle Aktivitäten steuerte, zielgerichtete Aktionen initiierte, aber gleichzeitig zur Besonnenheit mahnte180. Gewalttätigen Randgruppen und Abenteurern gelang es nur begrenzt, die Massen aufzuputschen. Als in den Nachmittagsstunden des 17. Juni sowjetische Panzer und Schützeneinheiten in Bitterfeld auftauchten, gab das Streikkomitee Weisung an die protestierenden Arbeiter, den Befehlen der Besatzungsmacht unbedingt Folge zu leisten sowie in der Ausnahmesituation Ruhe und Ordnung zu wahren. Aufgrund dessen konnten Einheiten der Sowjetarmee und der KVP, ohne auf nennenswerten Widerstand zu treffen, die besetzten Gebäude und den Platz der Jugend sowie umliegende Straßen räumen. Der aufgestellte Forderungskatalog der Bitterfelder Arbeiter an die Regierung der DDR verdeutlicht den politischen Charakter der Protestbewegung im Bitterfelder Raum. In einem Telegramm wandte sich das Streikkomitee zudem an den Hohen Kommissar der UdSSR Semenov mit der Bitte, den Ausnahmezustand in Berlin und alle Maßnahmen gegen die Protestierenden einzustellen, um die Bildung einer wirklichen »WerktätigenRegierung« in der DDR zu ermöglichen181. Mit großer Empörung mußten die Bitterfelder Arbeiter mit ansehen, wie trotz ihres friedfertigen Verhaltens Sowjetsoldaten und KVP-Angehörige die Werke in Wolfen, Buna und Leuna besetzten, die Streik- und Demonstrationsbewegung am 17. Juni und in den Folgetagen abwürgten und das funfundzwanzigköpfige Streikkomitee verhafteten. Die Hoffnung auf ein loyales Verhalten des »Arbeiter-undBauern-Staates« UdSSR, von der auch Streikende an anderen Orten ausgingen, was von einer gewissen Naivität der Arbeiter bei der Beurteilung des Verhältnisses UdSSR-DDR zeugt, zerplatzte hier wie anderswo an den Realitäten des sowjetischen Militäreinsatzes. Unweit der Stadt Bitterfeld nahmen die Proteste jedoch - und auch dies ist ein typisches Beispiel der Volkserhebung in der DDR — einen ganz anderen Verlauf. Bitterfelder hatten den Protestgedanken auch in die kaum 10 km entfernten Orte Friedersdorf und Muldenstein getragen. Die Belegschaften des Reichsbahnkraftwerkes Muldenstein und des Ziegelwerkes Friedersdorf traten in den Ausstand. Die Ziegeleiarbeiter zogen, unterstützt von den Anwohnern, zum Gemeindeamt 180 Vgl hierzu Schmidt/Wagner, »... man muss doch mal zu seinem Recht kommen«, S. 22. 1 8 1 Vgl. zu den gesamten Vorgängen in Bitterfeld: BArch, Bestand Mdl/HVDVP, 11/151, BL 34/35; BArch, Bestand Mdl/BDVP Halle, 19/073; SAPMO-BArch, D Y 30/IV 2/5/546, IV 2/5/533; Der Morgen, Beilage, 16./17. Juni 1990.

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Friedersdorf. Dort trugen die Demonstranten dem Bürgermeister ihre Forderungen vor. Danach kehrten die Ziegeleiwerker in ihren Betrieb zurück, die Bevölkerung verlief sich. In Friedersdorf kehrte ohne Gewaltanwendung Ruhe ein. Am beeindruckendsten entwickelte sich die Volksaufstand an der Neiße. In der Grenzstadt Görlitz gingen die Unruhen von den LOWA-Arbeitern der Werke I und II aus. Den Forderungen der Demonstrierenden nach Senkung der HO-Preise, höheren Löhnen und Abschaffung der Normerhöhungen182 schlossen sich die Arbeiter fast aller größeren Betriebe an. Der Plan des Oberbürgermeisters und der Sicherheitskräfte in Görlitz, die Massen auf den Leninplatz zu leiten und dort mittels Kundgebung und Polizeieinsatz zu zerstreuen, scheiterte am gewaltigen Ausmaß der Bewegung. Bereits bevor die Menschenmassen den Leninplatz im Zentrum der Stadt erreichten, besetzten Demonstranten die SED- und FDJ-Kreisleitung, die MfS-Kreisdienststelle, das HO-Kaufhaus, die Kreisregistrierabteilung der KVP, das Kreisgericht sowie Einrichtungen der D S F und der Nationalen Front. Danach strebten die Protestierenden dem Rathaus zu. Hier wollte man unter Führung der Streikleitung den Oberbürgermeister Ehrlich seines Amtes entheben, der aber zum V E B E K M gefahren war, um dort die Arbeiter zu beruhigen. Folgend wollte er, dem Plan entsprechend, auf dem Obermarkt zu den Demonstranten sprechen, die Menge mit der Normrücknahme beruhigen und nach Hause schicken. Als Ehrlich hier eintraf, zwang ihn die Menge auf der Kundgebung aber, Rechenschaft über die SED-Politik abzulegen. Diese wurde aus dem besetzten Stadtfunk übertragen. Ehrlich wollte über die Fehler der S E D sprechen, wurde aber mit politischen Forderungen nach Abschaffung der Oder-Neiße-Grenze und der KVP konfrontiert. Nun forderte man die Protestierenden auf zu entscheiden, ob der O B weiter regieren sollte, was einhellig abgelehnt wurde. Ehrlich war »abgewählt«183. Noch vor Auflösung der Kundgebung wurde ein neues Stadtkomitee gewählt. Ihm gehörten u.a. der Augenarzt Dr. Hütter, der Rechtsanwalt Dr. Schöber, der Architekt Cammentz, der Besitzer des Radiogeschäftes Hellwig, der Zeltbahnenfabrikant Strohmeyer jr., Dozent der Volkshochschule Werner Herbig, der Lehrer Günter Assmann, Autoschlosser Hermann Gierich, Max Latt, der Sohn des Kofferfabrikanten Wirsching und Willi Renner an, der als Polizeichef von Görlitz vorgesehen wurde184.

182 183 184

Vgl. BArch, Bestand M d l / H V D V P , 11/305, Bl. 66, Bericht der HVDVP. Die Vorgänge auf dem Obermarkt sind dokumentiert bei Roth, Görlitz, S. 46 - 56. Vgl. zu den Vorgängen in Görlitz: BArch, Bestand M d l / H V D V P , 11/304, Bl. 62 ff., 11/305, Bl. 66 ff.; BArch, Bestand M d l / B D V P Dresden, 23/018, Bl. 59; BA-MA, Pt 7945, Bl. 4.

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Die Reden auf der Kundgebung dokumentierten185 in plastischer Weise die Entwicklung des spontanen Massenprotestes hin zu einer koordinierten Aufstandsbewegung, in der sich eine Führung erst herausbildete. Es gab gegenläufige Meinungen, vielfach herrschte Ratlosigkeit, aber es wurden hier auch Ideen geboren, die in der Folge die Handlungen bestimmten. Es entwickelte sich der Gedanke der friedlichen Machtübernahme, zur Ausschaltung der Führungszentren des SED-Regimes. Gleichwohl sollte das Volkseigentum geschützt werden. Die Polizei wurde zur Solidatisierung aufgerufen, einige VP-Angehörige folgten offenbar dem Appell. Auch wurde die Befreiung der politischen Häftlinge beschlossen. Das Stadtkomitee entwickelte sich zum organisatorischen Kopf der revolutionären Bewegung. Es beschloß die Bildung einer, wenn auch unbewaffneten Bürger- und Arbeiterwehr und begann mit deren Realisierung. In seinen Händen lag die demokratische Wahl eines neuen Stadtparlamentes. Das Komitee entwikkelte die lang vermißte Bürgernähe und war offener Ansprechpartner für alle neuen Ideen. Den Oberbürgermeister veranlaßte das Stadtkomitee, eine Bescheinigung zu unterzeichnen, die den politisch Inhaftierten in Görlitz die Freiheit wiedergab. Danach wurden die Untersuchungshaft- und die Strafvollzugsanstalt besetzt. Mit dem Papier in der Hand prüfte eine Arbeiterkommission in der SVA Görlitz die Akten der politischen Gefangenen. Jedoch bedrängte die ungeduldige Menge die Haftanstalt und befreite alle Inhaftierten. In keiner anderen Stadt kam es zu solch einer systematischen Häftlingsbefreiung. Unter den befreiten Häftlingen befand sich auch ein KVP-Angehöriger aus dem Haftkeller des MfS, der sich dann aktiv an der Aufstandsbewegung beteiligte. Für den Raum Görlitz kann somit eine Besonderheit des Volksaufstandes im Vergleich zu anderen Orten in der DDR festgestellt werden. Die Streikbewegung entwickelte sich zunächst wie anderenorts auch. Eine besondere Qualität erlangten jedoch die Aktionen dadurch, daß sich die Streikleitungen überbetrieblich konstituierten und die Führung übernahmen. In Görlitz dominierten die politischen Ziele die Massenbewegung, die letztlich auf den Sturz des regional bestehenden Machtsystems zielten. Dabei ging es vor allem um drei Hauptforderungen: Schaffung einer demokratischen Regierung, freie und geheime Wahlen sowie die Zulassung aller Parteien in der DDR (gemeint war im besonderen nachweisbar die SPD). In Görlitz ist auch eine stärkere Aktivität politischer Gruppierungen zu konstatieren als in anderen Orten. In der Gaststätte »Spatenbräu« soll nach Berichten der KVP am 17. Juni ein SPD-Revolutionskomitee getagt haben186. Offenbar handelte es sich dabei um das Stadtkomitee, welches aber in der geschlossenen Gaststätte nicht unterkam und deshalb im »Görlitzer Hof« tagte. Der stadtbe185 186

Vgl. Roth, Görlitz, S. 77-82. VgL BA-MA, Pt 7945, Bl. 2, Bericht der GPB Görlitz.

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kannte Sozialdemokrat Max Latt regte außerdem auf der Kundgebung ein Organisationskomitee zur Neugründung der SPD an. Nachweislich ist auch, daß weitere ehemalige SPD-Mitglieder in der Region politisch sehr aktiv wurden. In einem Ort des Landkreises Görlitz bildete sich sofort nach Ausbruch der Erhebung eine Ortsgruppe der SPD187. Die zentrale Leitung des Volksaufstandes gab der Bewegung die deutliche Zielrichtung auf die Veränderung der politischen Machtverhältnisse. Das untermauert auch die Tatsache, daß in Görlitz im Verlauf der Erhebung versucht wurde, das Nachrichtennetz der staatlichen Organe zu unterbrechen und eigene Möglichkeiten der Informationsweitergabe sowohl über den Stadtfunk als auch über Telefonverbindungen zu schaffen und die Forderungen und politischen Ziele in der Stadt und darüber hinaus zu verbreiten188. Weiter wurden durch das Stadtkomitee Maßnahmen zur Installierung eines neuen, den Vorstellungen der streikenden Arbeiter entsprechenden, gewählten politischen Machtorgans eingeleitet und verwirklicht. Die Protestbewegung in der sächsischen Grenzstadt schuf sich eine bürgerlichdemokratische Stadtverwaltung und ein erstes exekutives Organ. Es entstand die erwähnte, wenn auch nicht bewaffnete Arbeiterwehr189. Mit der Wahl des neuen Stadtparlamentes in den Betrieben wurden basisdemokratische Grundrechte reaktiviert. Nachfolger des abgesetzten SED-Oberbürgermeisters war der Augenarzt Dr. Hütter, mit der Wahl eines künftigen Polizeichefs war die Übernahme weiterer staatlicher Ressorts bereits vorbereitet. Auf der Kundgebung um 15.00 Uhr auf dem Obermarkt wurde die neue Staddeitung bekannt gegeben. Der »alte Latt« verkündete: »Görlitzer, es lebe die Juni-Revolution von 1953«190. Doch zum Zeitpunkt der Kundgebung, als Max Latt die »Revolution« verkündete, bestand bereits Ausnahmerecht. Um 14.30 verhängte der Militärkommandant des Kreises auf Weisung des Oberkommandierenden der GSBD den Ausnahmezustand. Der Gardeoberst Klepikov hatte die Ereignisse in der Stadt abwartend mit ansehen müssen, weil er nicht über ausreichendes Militär verfugte und um 12.30 Uhr noch einen Befehl erhalten hatte, der den Waffeneinsatz verbot. So hatten Sowjetsoldaten bei der Erstürmung der SED-Kreisleitung und der Kxeisdienststelle des MfS noch tatenlos zugesehen und offensichtlich die Hoffnung geweckt, daß sich die UdSSR in die politischen Veränderungen in der DDR nicht einmischen werde. Gegen 15.00 Uhr erreichte ein Bataillon der 9. Mech. Division der sowjetischen 3. Armee die Stadt. Einheiten der 11. Panzerdivision waren erst 187 188

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/546, LOPM-Gesamtbericht über die Unruhen. Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Dresden, 23/018, Bl. 12, Bericht der BDVP Dresden. Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/535, LOPM-Bericht über die Vorgänge in Görlitz. Zit. nach Roth, Görlitz, S. 80.

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um 20.00 Uhi verfügbar, deren Panzer gar erst in den Morgenstunden des 18. Juni191. Deshalb sollte in Görlitz zuerst die Bereitschaft der Grenzpolizei zum Einsatz gelangen. Gegen 11.00 Uhr wurde sie durch das VPKA über Aktionen in der Stadt linterrichtet. Der Kommandeur ließ die Alarmbereitschaft herstellen, ein Befehl zum Ausrücken jedoch stand aus. In der Zwischenzeit hatten sich schon Hunderte von Demonstranten um die Kaserne versammelt. Die Wortführer forderten die Grenzpolizei zur Niederlegung der Waffen auf. Sie sprachen besonders die Mannschaftsdienstgrade an, in der Hoffnung, Differenzen zwischen ihnen und den Offizieren zu erzeugen. Die Demonstranten stellten dabei zur Desorientierung die Behauptung auf, daß die KVP-Bereitschaften in Zittau und Bautzen bereits die Waffen niedergelegt und sich mit den Arbeitern solidarisiert hätten. Der Einsatzleiter befahl den Grenzpolizisten, vorerst zur Rundumverteidigung des Geländekomplexes überzugehen und ein Vordringen der Protestierenden zu verhindern. Wenn notwendig, sei die Waffe in Anwendung zu bringen, zuerst mit Warnschüssen, im Notfall gezielt. Längere Zeit, während der in Görlitz die Zentren der SED-Macht bereits besetzt waren, blieb die Bereitschaft blockiert. Die drohende Haltung der Grenzer zwang die Demonstranten letztlich zum Abziehen. Auf Befehl des Stadtkommandanten der UdSSR gelangte die Grenzpolizeibereitschaft deshalb erst gegen 15.00 Uhr gemeinsam mit sowjetischen Militärformationen gegen die von Demonstranten besetzten Gebäude der Stadt zum Einsatz. Sie erhielten wenig später zahlenmäßige Verstärkung durch mehrere Kompanien der VPB Zittau und der VPS Löbau. Bereits vor 15.00 Uhr hatte die KVP-Schule Löbau die Einsatzweisung erhalten; das Einsatzkommando aus 275 Offiziersschülern und Offizieren benötigte jedoch für die rund 30 km über eine Stunde, was auf die in der KVP letztlich mangelnde Alarmvorbereitung zurückzufuhren war. Nach 16.00 Uhr wurde von der KVP-Einheit aus Löbau auch das Rathaus besetzt. Während des Einsatzes der KVP und der Grenzpolizei flüchteten sich Mitglieder der Kreisleitung der SED und Angehörige des MfS in das Objekt der Grenzpolizei. Sie waren konkreter Handlungen gegen den Volksaufstand nicht mehr fähig, fürchteten um ihr Leben und warteten auf die Beruhigung der Lage durch das Militär. Während Sowjet- und KVP-Soldaten ihre Herrschaft in Görlitz wiederherstellten, ließen sie sich in der Sicherheit der Kaserne Filme vorführen192. Ab 18.00 Uhi wurden Straßen und Plätze in Görlitz geräumt, die Demonstranten auseinandergetrieben. Der sowjetische Militärkommandant wies die Verhaftung der »Rädelsführer« sowie die Inhaftierung der befreiten 191 192

Vgl. Bericht des Militärkommandanten der 71. Militärkommandantur, o.D. (Dokument im Besitz des Autors). Vgl. BA-MA, Pt 7945, Bl. 2, Bericht der GPB Görlitz.

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Gefangenen an. Herbe Kritik übte der sowjetische Gardeoberst an der Polizei, die nur ihr eigenes, nicht bedrohtes Gebäude gesichert habe. Das traf auch auf eine KVP-Dienststelle zu. Die Kreisregistrierabteilung in der Stadt wurde nicht nur nicht verteidigt, der Leiter stellte zur späteren Empörung der KVP-Führung den Demonstranten sogar seinen Dienstwagen zur Verfügung. Auch das MfS habe Häglich versagt. Selbst nach der Wiederherstellung der Staatsmacht in Görlitz sei die Arbeit der SED-Führung, der VP und des MfS unorganisiert und wie gelähmt gewesen193. Ab 20.30 beherrschte das Militär die Stadt, es trat Ruhe ein. Die ausgerufene Revolution war auch in Görlitz gescheitert. Speziell im Raum Görlitz ist zu beobachten, daß politische Funktionsträger sich nicht nur aktiv an der Erhebung beteiligten, sondern den Gedanken des Aufstandes über die Stadt hinaus in der Region verbreiteten. Der Kreistagsabgeordnete der LDP Lothar Markwirth194 fuhr gemeinsam mit Arbeitern von Görlitz in das nahegelegene Niesky, wo bereits Arbeiter der LOWA-Werke und anderer Betriebe streikten und demonstrierten. Es gelang hier jedoch nicht, den gleichen Organisationsgrad und eine einheitliche Führung des Volksaufstandes zu gewährleisten. In Niesky brachen die Unruhen mit besonderer Heftigkeit aus und nahmen zugleich aggressive Züge an. In der Stadt streikten rund 3000 Arbeiter verschiedener Betriebe195. Der Einfluß einiger gebildeter Streikleitungen blieb jedoch gering, eine zentrale politische Führung bildete sich nicht heraus. Demonstranten stürmten nach Görlitzer Beispiel das Rathaus, die Kreisleitung der SED sowie die Kreisdienststelle des MfS. Die StasiAngehörigen wurden von den aufgebrachten Arbeitern verprügelt und in die zum Objekt gehörenden Hundezwinger gesperrt196. Ein zu Hilfe eilendes Kommando des VP-Kreisamtes entwaffnete die Demonstranten und zerstörte die Beutewaffen197. Unter der Befehlsgewalt des sowjetischen Stadtkommandanten wurden Kommandos der DGP und von KVP-Einheiten aus Bautzen nach Niesky entsandt. Sie räumten die besetzten Gebäude und befreiten die MfS-Angehörigen aus ihrer mißlichen Lage. Im Görlitzer Umland hatten sich die Ereignisse in der Stadt schnell herumgesprochen und ebenfalls zu Protestaktionen motiviert. In Ludwigsdorf und Zodel folgte man dem Görlitzer Beispiel bei der Absetzung der örtli193

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Vgl. Bericht des Gardeoberst Klepikov vom 28.6.1953 (Dokument im Besitz des Autors). Markwirth wurde im sog. Nieskyer Prozeß, einem Schauprozeß des Bezirksgerichts Dresden vom 1 3 . - 1 5 . und 18.7.1953, zu lebenslanger Haft verurteilt. Man warf ihm Agententätigkeit für den Westen vor. Persönliche Dokumente Markwirths beim Autor. Vgl. zu den Vorgängen in Niesky: BA-MA, Pt 7945, Bl. 1 ff.; BArch, Bestand Mdl/BDVP Dresden, 23/018, Bl. 12 ff. Vgl. BA-MA, Pt 7945, Bl. 3 f., Bericht der GPB Görlitz. Weiterführendes zu Görlitz siehe Roth, Görlitz, S. 91 - 1 0 3 .

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chen Staatsfunktionäre und der Inthronisierung neuer, nur radikaler und meist unter Anwendung körperlicher Gewalt. Auffällig oft traten hier politisch Aktive der Blockparteien als Führer der Erhebungen in Erscheinung. In der Gemeinde Ebersbach führte das CDU-Mitglied Müller das Wort bei den Forderungen zur Auflösung der SED und fur Neuwahlen des Bürgermeisters. Der Ortsgruppenvorsitzende der CDU in der Gemeinde Kollm, Gottfried Diener, trug das in Görlitz Erlebte in seine Gemeinde und rief hier zur Demonstration gegen den Bürgermeister auf. Vor einer Menge von über 200 Personen forderte er mit der Parole »Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit« zur Veränderung der Verhältnisse auf. Da sich der Bürgermeister nicht blicken ließ, löste sich die Versammlung jedoch danach auf. Noch in der Nacht besetzte ein Polizeikommando die Gemeinde. Diener wurde am 18. Juni verhaftet und vor dem Bezirksgericht Dresden als »Rädelsführer« wegen Landfriedensbruch zu drei Jahren Gefängnis verurteilt198. Entscheidend für die Niederschlagung des Volksaufstandes im Kreisgebiet Görlitz war letztendlich wie in vielen anderen Orten der DDR der Einsatz sowjetischer Militäreinheiten. Diese setzten nach Verhängung des Ausnahmezustandes die endgültige Kontrolle über die Region durch. Sie zerschlugen auch die politische Bewegung und fahndeten gemeinsam mit Polizei- und KVP-Kräften sofort nach den Köpfen des Aufstandes. Mit deren Flucht, Untertauchen oder Verhaftung verlor die Protestbewegung ihre prägenden Kräfte. Der Volksaufstand in Görlitz trug markante Zeichen einer entwickelten Aufstandsbewegung, die sich sowohl durch eine eindeutige Zielrichtung auf politische Veränderung als auch durch die Führungstätigkeit politischer Kräfte auszeichnete. Der Einsatz sowjetischer Militäreinheiten, der KVP und der Grenzpolizei verhinderte schließlich den Bestand des vollzogenen Machtwechsels in Görlitz und im Kreisgebiet. Durch die Unterbrechung des Nachrichtenverkehrs seitens der Staatsorgane wurde ein Ubergreifen der politischen Erhebung auf weitere Gebiete größtenteils unterbunden. Nirgendwo im damaligen Bezirk Dresden — auch nicht in der Bezirkshauptstadt — erlangte die Protestbewegung einen derart ausgeprägten Aufstandscharakter wie in Görlitz. Im Bezirk wurden in 14 von 17 Stadt- und Landkreisen Unruhen gemeldet. Neben Görlitz, Niesky und Umgebung waren vor allem die Bezirkshauptstadt selbst, Bautzen, Pirna, Riesa, Zittau und Radebeul betroffen. Am 18. Juni gab es nochmals Demonstrationen in Dresden, Bautzen, Rothenburg, Gröditz und Riesa. Wenngleich auch in Dresden heftige Massenproteste stattfanden, konnte sich eine Aufstandsbewegung nicht in dem Maße entwickeln. In der Bezirkshauptstadt waren die Sicherheitsorgane besser auf die Unruhen vorbereitet als in anderen Orten. Bereits in den frühen Morgenstunden waren die 198

Der Autor dankt Gottfried Diener dafür, daß er ihm persönliche Dokumente zum 17. Juni 1953 zur Verfugung stellte.

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Staatsorgane aus Berlin über mögliche Unruhen informiert worden, hatten einen Einsatzstab gebildet und ihre Kräfte zusammenge2ogen. Begünstigend für die Staatsmacht kam hinzu, daß die Protestierenden weite Strecken in das zerstörte und nahezu unbewohnbare Stadtzentrum zurücklegen mußten, was Zeit für Abwehrvorbereitungen ließ. Zur Erstürmung von SED- und öffentlichen Gebäuden konnte es nicht kommen, da diese vorher gesichert worden waren. Bereits um 10.00 Uhr hatten Einheiten des 92. KarpatenRotbanner-Schützenregiments der Besatzungstruppen begonnen, wichtige Knotenpunkte und Gebäude im Zentrum der Stadt zu besetzen199. Panzer patrouillierten durch Dresden, sowjetische Patrouillen begleiteten auch viele Demonstrationszüge. Um 14.00 Uhr verhängte der Militärkommandant der Stadt mit dem Befehl Nr. 1 den Ausnahmezustand über die Stadt. Noch aber griff man gegen die friedlichen Protestzüge nicht ein, man verhinderte sogar, daß die Polizei gegen die Demonstranten mit Wasserwerfern vorging200. Erst als Demonstranten versuchten, das Telegrafenamt zu stürmen, wehrten sowjetische Soldaten mit Schußwaffen den Angriff ab. Jetzt wurden die Ansammlungen durch Militär aufgelöst. Auch die KVP kam dabei zum Einsatz. Die KVPSchule Dresden hatte um 15.00 Uhr durch die sowjetischen Militärkommandantur in Dresden den Befehl erhalten, sich zur Verfügung des sowjetischen Stadtkommandanten in einen Bereitstellungsraum zu begeben. Der Einsatz der Einheit erfolgte fortan auf sowjetischen Befehl. Mit der Herausbildung eines regionalen Führungsstabes der DDR-Sicherheitsorgane griffen auch andere KVP-Einheiten ein. Ab etwa 21.00 Uhr waren Ruhe und Ordnung in Dresden wiederhergestellt. In der Nacht begannen Besatzungstmppen, KVP und Volkspolizei im ganzen Bezirk strategisch wichtige Objekte und Betriebe zu besetzen. Damit befand sich der Bezirk im festen Griff des Militärs201. Unruhen nach dem 17. Juni und auf dem Lande — ein Streiflicht Im Verlauf des 17. Juni entwickelte sich in der Mehrheit der Unruhegebiete aus dem sozialen und politischen Aufbegehren der Industriearbeiter ein machtvoller Volksaufstand. Insgesamt erfaßte dieser über 500 Städte und Orte der DDR, wobei es allerdings geraten scheint, mit den Zahlenangaben 199 Ygj Bericht des Kommandeurs des 92. Karpaten-Rotbanner-Schützenregiments an den Chef der Inneren Truppen des Ministeriums des Innern in Deutschland, o.D., nach Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 213. 200 201

Vgl. ebd., S. 216. Siehe zum Bezirk Dresden weiterführend ebd.; zu Dresden siehe Russig, Der Volksaufs tand.

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vorsichtig zu sein, stellt sich doch die Frage, welche Kriterien zur Wertung herangezogen werden, ob Streiks und Demonstrationen oder, um das andere Extrem zu nennen, das Auffinden eines Flugblattes oder einer Losung zur Aufnahme in die Zählung berechtigen. Tatsächliches massives Protestverhalten ist in etwa 400 Orten in der DDR feststellbar. In 11 der 15 Bezirkshauptstädte wurde gestreikt, am 18. Juni kamen mit Rostock, Schwerin und Neubrandenburg drei weitere hinzu. An den Streiks und Demonstrationen beteiligten sich vom 17. Juni bis 23. Juni 1953 113 der insgesamt 181 Kreisstädte. Das allein verdeutlicht: Fast überall dort, wo eine größere Ballung der Bevölkerung und somit der Arbeiter gegeben war, kam die Unzufriedenheit der Menschen in der DDR durch Streiks und Demonstrationen zum Ausdruck. Acht Bezirksstädte waren zugleich Zentrum des Volksaufstandes und strahlten auf das umliegende Gebiet, in Magdeburg, Leipzig und Halle auf den gesamten Bezirk aus. Über 13 Bezirks- und 51 Kreisstädte verhängten die sowjetischen Militärkommandanturen den Ausnahmezustand, darüber hinaus oft über das ganze Bezirksgebiet202. Eine kurze Passage soll hier zum Bezirk Karl-Marx-Stadt angefugt sein. In diesem nach SED-Einschätzung traditionellen Arbeiterbezirk gab es kaum Proteste, und damit erübrigt sich die Untersuchung zu deren Niederschlagung. In der Bezirkshauptstadt, in Burgstädt, Glauchau, HohensteinErnstthal gab es Streikdrohungen, Diskussionen, Flugblattaktionen sowie Austritte aus LPG und der SED. Streiks sind in Karl-Marx-Stadt sowie weiteren 9 der 26 Kreise nachweisbar. Sie waren kurz und führten nicht zu Demonstrationen. Bereits vor dem 17. Juni war es in der Bezirkshauptstadt, insbesondere aber wegen Zwangsräumungen in Johanngeorgenstadt zu Protesten gekommen. Die Sicherheitskräfte waren deshalb bereits vor dem 17. Juni alarmiert und hatten Maßnahmen gegen Proteste im Bezirk vorbereitet. Die Frage, warum die Bevölkerung sich in dem industriereichen Bezirk Karl-Marx-Stadt nur in geringen Maße an der Erhebung beteiligte, ist durch Heidi Roth inzwischen umfassend analysiert203. Ein Grund ist in der Tatsache zu sehen, daß der Bezirk am weitesten von der Hauptstadt Berlin entfernt war und damit die Informationen über die Protestbewegungen die Bevölkerung hier erst relativ spät erreichten. Zu diesem Zeitpunkt hatten jedoch die SED- und Sicherheitsorgane, informiert durch die Polizeibehörden und die SED-Führung, bereits Sofortmaßnahmen ergriffen. Obwohl es in Karl-Marx-Stadt kaum Streiks gab, verhängte der Militärkommandant der UdSSR vorsorglich den Ausnahmezustand über die Stadt. Alle Sicherheitskräfte waren alarmiert und in Bereitschaft versetzt worden, öffentliche Gebäude und Betriebe zusätzlich gesichert. Damit wurde es streikwilligen Arbeitern erschwert bzw. unmöglich gemacht, eine breite Streikbewegung zu entfachen und eine gegenseitige Solidarisierung zu erzielen. Ansätze dazu 202 203

Vgl. Es geschah im Juni 1953, S. 37 ff. Siehe hierzu ausfuhrlich Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen.

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unterbanden die SED-Organe, das MfS und die Polizei. Der massive Polizei· und Militäreinsatz im gesamten Bezirk war damit ein präventiver Sicherungseinsatz zur Verhinderung öffentlicher Demonstrationen und Streiks204. Auf dem Gebiet der D D R beteiligten sich allein am 17. Juni über 500 000 Menschen an der Streikbewegung, die Zahl der Demonstranten wurde auf etwa 418 000 geschätzt. Die Zahlenangaben ergeben sich aus den Berichten über den Volksaufstand aus den Bezirken und Kreisen und können nur Näherungswerte sein. Genauere Angaben sind heute kaum möglich. Noch am 18. Juni wurden nach SED-Meldungen mindestens 126 Betriebe mit 68 340 Arbeitern voll bestreikt, in über 60 Betrieben streikten die Arbeiter zeitweilig205. Zu Demonstrationen kam es am 18. Juni zum Beispiel in Dresden mit 1000 Teilnehmern, Görlitz mit 400, Leipzig mit 900, Schmölln mit 500, Delitzsch mit 200, Wernigerode mit 1500, Halberstadt mit 5000, Stralsund mit 1500, Neustadt (Gera) mit 200, Triptis mit 180 und Weida mit 1500 Teilnehmern. Viele der Streiks, beispielsweise im Mansfelder Bergbaugebiet oder aber der Stahlarbeiter in Gröditz und Riesa, konnten sich nicht zu Demonstrationen entwickeln, weil sowjetisches Militär, aber auch KVPEinheiten sofort die Betriebe besetzten. Aufflackernde Streiks oder gar öffentliche Protestkundgebungen erstickte die DDR-Staatsmacht mittels der KVP sofort im Keim. Bereits die Äußerung von Streikabsichten reichte, um KVP-Einheiten auf den Plan zu rufen. Am 18. Juni 1953 z.B. streikten die Arbeiter des Stahlwerkes Riesa und des Stahlwerkes Gröditz unter der Führung ihrer Streikleitungen weiter. Daraufhin besetzten auf Anweisung der Territorialverwaltung Dresden Einheiten der KVP die Werkeingänge, um eine Ausweitung der Streikbewegung zu unterbinden. Die Streikenden wurden auf das Ausnahmerecht verwiesen und zur Arbeit aufgefordert. Die Wortführer sowie die Mitglieder der Streikleitungen verhaftete man sofort 206 . Ähnliches ist für alle bestreikten Großbetriebe in der D D R nachweisbar. Am 19. Juni drohte die KVP-Einsatzleitung den streikenden Kumpeln der Kyffhäuserhütte in Artern mit zwangsweiser Räumung des Betriebes sowie mit Massenverhaftungen207. Unter der Befehlsgewalt des MfS nahmen einzelne Einheiten der KVP an Verhaftungen, Bespitzelungen und Haussuchungen teil208. Die Kommandos der KVP wurden auf Weisung örtlicher Einsatzstäbe, zum Teil jedoch auch durch das Mdl in Einsatz gebracht. Diese Einsätze dauerten bis zur Aufhebung des Ausnahmezustandes und teilweise weit 204

205 206 207 208

Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Karl-Marx-Stadt, 25/42, Bl. 147-155, Bericht der BDVP vom 30.6.1953. Vgl. BArch, Bestand Mdl/HVDVP, 11/45, Bl. 18. Vgl. BA-MA, DVH 3/3436, Bl. 72/73. Vgl. BA-MA, DVH 3/3435, Bl. 61. Vgl. ebd., Bl. 132.

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darüber hinaus an. So hielt man die Besetzung wichtiger Betriebe bis Ende Juni, z.T. sogar bis in den Juli aufrecht. Noch im September lösten Formationen der KVP aus dem Norden Sicherungsaufgaben in und um Berlin. Insgesamt kamen am 17. Juni 8133 und in den Folgetagen bis zu 16 000 Mann pro Tag aus den Dienststellen der KVP, vorrangig der VP-Schulen, zum Einsatz209. In aussichtsloser Situation bemühten sich die Arbeiter, mit Streiks und versuchten Demonstrationen unter den Waffen der Sowjetarmee und der KVP ihre Ziele, d.h. politische Veränderungen in der DDR, dennoch durchzusetzen. Die fehlende Organisation wurde noch deutlicher sichtbar als am 17. Juni, denn die fuhrenden Köpfe des Vortages mußten angesichts der Verhaftungswelle untertauchen oder waren bereits in die Fänge von MfS, Polizei und Besatzungsmacht geraten. Wiederum war es die Gemeinsamkeit mit Tausenden Gleichgesinnten, die zu Streiks und Protestkundgebungen ermutigte. Dazu kam eine grenzenlose Empörung ob des Einsatzes bewaffneter Gewalt und der Opfer des Vortages. Uberall gab es Gerüchte von einem umfassenden Generalstreik in der DDR, vom Rücktritt der Regierung, gar von der Erschießung von Ulbricht und Pieck durch Moskauer Behörden. Nur spärlich sickerten Informationen von Unruhen in anderen Orten durch, doch diese ermutigten zu erneutem eigenem Handeln. Betroffen waren wiederum das mitteldeutsche Industriegebiet um Halle und Leipzig sowie die Nordbezirke der DDR. Der Schwerpunkt des Aufbegehrens im heutigen MecklenburgVorpommern lag im Bezirk Rostock. Hier hatte es bereits in den Abendstunden des 17. Juni Protestveranstaltungen gegen die Normerhöhungen in Stralsund, Barth und der Bezirkshauptstadt gegeben, in der auch 2200 Arbeiter des Dieselmotorenwerkes in Streik traten. Noch an diesem Tage war gegen 21.00 Uhr über alle drei Bezirke vorsorglich der Ausnahmezustand verhängt worden. In der Bezirkshauptstadt sowie in Stralsund, Wismar und einigen anderen Orten kam es am 18. Juni zu Streiks und Demonstrationen. Unruhen gab es hier besonders im Stadtgebiet Rostocks, wo ein Massenprotestzug von KVP-Einheiten mit Waffengewalt auseinandergetrieben wurde. Als Teile der Belegschaften der Warnow-Werft und der NeptunWerft in den Ausstand traten, wurden die Werksgelände sofort von Einheiten der Besatzungsmacht hermetisch abgeriegelt; damit verhinderte man, daß Demonstrationszüge das Werk verlassen konnten. Auch die KVPInfanteriebereitschaft Rostock kam ab 11.00 Uhr zur Unterdrückung von Demonstrationen in Warnemünde und Rostock und zur Abriegelung der Warnow-Werft zum Einsatz. Gemeinsam mit Sowjetsoldaten wurde verhindert, daß die Werftarbeiter der 2. Schicht, die mit einem Eisenbahnzug das

209

Vgl. BA-MA, DVH 3/2070, Bl. 64. Erfahrungsbericht der KVP zum Einsatz vom 17.-22.6.1953 vom Juli 1953.

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Vorgelände der Werft erreichten, diesen verlassen konnten. Im KVP-Bericht heißt es: »Während die noch hemmstehenden Personen aufgefordert wurden auseinander zugehen, begann eine Übertragung des Werkfunks. Der Sprecher war ein Angehöriger einer Delegation, welche von den Provokateuren zwecks Verhandlung zum Minister Weinberger, welcher sich in der Werft befand, entsandt wurde. Im Krach und in dem Tumult konnten unsere VPAngehörigen folgendes von der Übertragung vernehmen: >Minister Weinberger erkennt unsere Forderungen an, Antrag zum Rücktritt der Regierung wird der Regierung unterbreitet, Fahrgelder werden zurückerstattet, Löhne erhöht, ausgefallene Arbeitszeit bezahlt, Schießen auf Arbeiter durch Polizei wird nicht mehr zugelassen. Die hierfür Verantwortlichen werden zur Rechenschaft gezogen. Unterzeichnet Westendorf, noch einige andere Namen. Gez. Generalminister Weinbergerdurch westliche Agenten provozierter konterrevolutionärer Putschversuch^ für den Westen ein Beweis dafür, daß die Bevölkerung das kommunistische System ablehnte und ein freies Gesamtdeutschland nach westlichem Muster forderte. [...] Die interpretative Bearbeitung des 17. Juni zeigt in hervorragend deutlicher Weise, wie politische Manipulation und Verdrängung eines peinlichen Sachverhalts durch die jeweiligen Machthaber vonstatten geht3.« Beide Zitate charakterisieren treffend die politische Brisanz der 53er Ereignisse in der permanenten ideologischen Auseinandersetzung zweier deutscher Staaten mit divergierenden Gesellschaftssystemen. Bis zum Untergang der DDR bestimmten die jeweiligen politischen Sichtperspektiven die Beurteilung des 17. Juni entscheidend mit.

1

2 3

Heinz Brandt, Kommunist und Kämpfer gegen den Nationalsozialismus war 1953 Funktionär der SED-Bezirksleitung Berlin. Die Ereignisse des 17. Juni und die Realitäten des DDR-Sozialismus ließen ihn der DDR den Rücken kehren. 1961 wurde er in Westberlin weilend, vom MfS in die DDR verschleppt, zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt und 1964 in die Bundesrepublik endassen. Brandt, Ein Traum, S. 207. Schulz-Hageleit, Leben in Deutschland, S. 104.

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Arbeiterprotest, Volksaufstand oder Revolution? Der 17. Juni 1953, im Westen Deutschlands als Volksaufstand bzw. Arbeitererhebung definiert und bis 1989/90 als »Tag der deutschen Einheit« zum allerdings im Laufe der Zeit für viele sinnentleerten Feier- und Gedenktag erhoben, unterlag in der DDR dem SED-Verdikt des konterrevolutionären oder gar faschistischen Putschversuchs. In der Bundesrepublik wurden die Juni-Ereignisse als politisches Fanal erkannt. Die Erinnerung an die Unruhen sollte bis zum Untergang des SoziaKsmus eben den Legitimitätsmangel der SED-Diktatur — die unübersehbaren Divergenzen zwischen den Herrschenden und der beherrschten Bevölkerung — dokumentieren. Aus der Delegitirnierung der DDR erwuchs gleichzeitig Legitirmtätszuwachs für die Bundesrepublik und ihr politisches System. Zur Definition als »Arbeiteraufstand« motivierte der offensichtliche Interessengegensatz zwischen der »Arbeiterpartei« SED und ihrer eigenen Masse; das Bild des breiteren Konsens findenden »Volksaufstandes« fußte letztlich auf der Divergenz zwischen dem Volk auf der einen und dem totalitarismustheoretisch unterlegten SEDRegime auf der anderen Seite4. Aus eben diesem Grunde war die DDR-Führung bemüht, den 17. Juni als inszenierten Putsch von außen umzudeuten. »Am 17. Juni 1953 gelang es Agenten verschiedener imperialistischer Geheimdienste, die von Westberlin aus massenhaft in die Hauptstadt und einige Bezirke der DDR eingeschleust worden waren, [...] einen kleinen Teil der Werktätigen zu zeitweiligen Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen zu verleiten [...] Durch das entschlossene Handeln der fortschrittlichsten Teile der Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten, gemeinsam mit sowjetischen Streitkräften und bewaffneten Organen der DDR, brach der konterrevolutionäre Putsch innerhalb von 24 Stunden zusammen5«, vermittelte in diesem Sinne ein DDR-Geschichtsbuch den Schülern der 10. Hasse 1971. Bis zum Ende der DDR war das SED-Regime bemüht, den Volksaufstand, welcher die Legitimität des SEDStaates in Zweifel stellte und mit dessen militärischer Niederschlagung und folgender politischer Strafjustiz sich der »Arbeiter-und-Bauern-Staat« als kommunistische Diktatur offenbarte, zu externalisieren. Die Erhebung stand in krassem Gegensatz zur marxistisch-leninistischen Theorie von der Einheit von Arbeiterklasse und ihrer kommunistischen Partei und zugleich dem gesamten Automatismus von Gesetzmäßigkeiten in der sozialistischen Gesellschaftstheorie. Ihre objektive historische Analyse barg damit in sich die Gefahr, das gesamte sozialistische Geschichtsbild zu sprengen.

4 5

Vgl. Steinbach, Ein Denkmal zum 17. Juni 1953?, S. 75 f.; Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 65-95. Geschichte. Lehrbuch für die Klasse 10. Geschichtsbildprägend auch: Geschichte der SED. Ein Abriß.

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Bereits am Nachmittag des 17. Juni diktierte die SED den Vertretern der Blockparteien ihre Sicht vom konterrevolutionären Umsturzversuch, und am Folgetag beauftragte Ulbricht eine Kommission mit dem Nachweis und der Propagierung dieses Bildes6. Der DDR-Presse kam dabei außerdem die Funktion zu, die laufenden Repressivmaßnahmen zu rechtfertigen und eine Distanzierung der Bevölkerung von ihrer Protestbewegung ideologisch zu intendieren7. Obwohl es der Parteiführung wie auch dem Staatssicherheitsdienst nicht gelang, eine westliche Auslösung und Steuerung des Massenprotestes in der DDR nachzuweisen, hielt die SED zu ihrer eigenen politischen und staatlichen Legitimation an ihrer Version eines »faschistischen«, später »konterrevolutionären Putschversuchs«, des »lange vorbereiteten Tages X« fest8. Mit dem Untergang der DDR entstanden neue Rahmenbedingungen für die wissenschaftliche Aufarbeitung des Volksaufstandes. Eine Politisierung war nunmehr, wenngleich sie in den Diskussionen immer noch mitschwingt, weit weniger prägend als das reine wissenschaftliche Erkenntnisinteresse. Im Prozeß der geistigen Wiedervereinigung allerdings muß es Aufgabe der Wissenschaft sein, retrospektiv die Ereignisse ihrer politisierenden Instrumentalisierung zu entkleiden. Der schier unerschöpflich scheinende Quell von Überlieferungen, welcher sich mit der anfangs schrittweisen und nunmehr vollständigen Öffnving der Archive der SED-Diktatur bot, legte den Grundstein für diese Aufarbeitung, die mit dem Wegfall der deutsch-deutschen politischen Polarisierung und der Feiertagslethargie eine objektivere Einordnung in die nunmehr wieder gemeinsame deutsche Geschichte ermöglicht. Angesichts der Rolle der Historiographie für die Herstellung der inneren Einheit kommt der Erforschung des 17. Juni 1953 eine wesentliche Bedeutung zu, der sich die Wissenschaftler in den letzten Jahren bereits intensiv stellten. Jede Massenbewegung weist ein breites Spektrum von Kräften unterschiedlichster gesellschaftlicher Stellung und politischer Zielsetzung oder Interessenlage auf. Diese Symptomatik der Bewegung bringt es naturgemäß mit sich, daß bei jedweder Wertung der Ereignisse Für und Wider eng beieinander stehen. Entscheidend wird somit die Frage nach den dominierenden, wesensbestimmenden Merkmalen der einzuschätzenden Geschehnisse. Für die Analyse des Charakters der Volkserhebung im Juni 1953 ist es notwendig, die Betrachtung der vorherrschenden Kräfte und die aufgestellten Forderungen in der jeweiligen Phase der Unruhen in den Mittelpunkt der Untersuchung zu rücken. Damit verdeutlichen sich zugleich die auslösenden

6 7 8

Vgl. SAPMO-BArch, NY 90/ 437, Niederschrift Grotewohls vom 18.6.1953. Vgl. Zariczny, Die Erhebung vom 17. Juni 1953, S. 675. Siehe zum DDR-Geschichtsbild Diedrich, Putsch - Volksaufstand; Wolle, »Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?«, S. 24 f.

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Ursachen, von denen auch die Grundstimmung der Protestierenden geprägt war. Basis und Ausgangspunkt der Protestbewegung bildete ohne Zweifel die soziale Unzufriedenheit der Bevölkerung, die sich spätestens seit 1952 mehr und mehr mit einer politischen verwob. Dabei war die DDR als monopolbürokratischer Staat mit ihrem Versuch der »Überwindung des Kapitalismus« durch die Beseitigung der privatkapitalistischen Eigentumsform im Rahmen der stalinistisch-sowjetischen Systemoktroyierung Krisenproduzent und Krisenmanager in einem. In der DDR fand, verkürzt gesehen, seit 1945 unter Führung der SED ein Umbau des gesamten politischen und gesellschaftlichen Systems statt, eine Revolution von »oben«, die zwangsläufig den Widerstand der betroffenen unterdrückten Schichten heraufbeschwören mußte. Opposition und deren Unterdrückung prägten von Anbeginn das Erscheinungsbild der erzwungenen gesellschaftlichen Veränderung. Auf dem Höhepunkt der Krise wurde der transformierende, mobilisierende, kontrollierende und letztlich überforderte Staat zum omnipräsenten Konfliktpotential selbst9. Die Folgen der Durchpeitschung des stalinistischen Sozialismusmodells erreichten nunmehr auch die Arbeiter und Bauern, jene Schichten also, deren Förderung und Wohlstand das neue Gesellschaftsmodell eigentlich versprach. Die Infragestellung sozialer Entscheidungen des zentralistischen Staates stellte damit zugleich eine Infragestellung der Staatspolitik, ja des Staates selbst dar. In der Polarisierung zwischen Beherrschern und Beherrschten gab es, wenn man es genau nimmt, folglich keinen sozialen Konflikt, der nicht zugleich ein politischer war. So entstand im Leninschen Verständnis in der DDR 1953 eine »klassische« revolutionäre Situation - vom Theoretiker der kommunistischen Weltanschauung eigentlich nur für die kapitalistische Gesellschaftsordnung prognostiziert —, in der die herrschende Klasse ihre Politik nicht mehr unverändert fortführen konnte, die »unterdrückte« Klasse die Verschärfung von Not und Elend nicht mehr ertragen wollte. Im Osten Deutschlands wirkten als vorantreibende Kriterien für das Empfinden der Unhaltbarkeit der Lebenslage sowohl die Entwicklung in der Bundesrepublik als auch die Erfahrung des Lebensniveaus der Vorkriegszeit in Deutschland. Dieses Gefühl drückten Forderungen wie »Für einen Lebensstandard wie 1939«10 und ähnliche aus. Es wäre jedoch zu kurzschlüssig, die erste Erhebung gegen das stalinistische System auf eine einfache »Hungerrevolte« zu reduzieren11. Das Spektrum des Massenprotestes 1953 in der DDR war breiter. Die soziale Zielsetzung der Verbesserung der Lebenslage mußte im totalitären 9 10 11

Vgl. Jänicke, Krise und Entwicklung, S. 149. Vgl. ebd. Vgl. Heller, Vier Arten des gesellschaftlichen Aufstandes, S. 82.

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Staat zwangsläufig die Politik der Regierenden in Frage stellen. Große Teile der Bevölkerung empörte die soziale, durch die SED-Politik bewußt gestaltete Differenzierung in der Gesellschaft. Daraus entstand der Ruf nach »Senkung der Gehälter der Bonzen und der Intelligenz« bzw. »Senkung der Gehälter von VP und KVP auf das Niveau eines Durchschnittsverdieners«. Viele Arbeiter fühlten sich in der Gesellschaftsstruktur der DDR erneut als die unterste Schicht, die in keiner Weise den propagierten sozialistischen Idealen nahe kam. Ihre Rechte waren eingeschränkt, die Möglichkeiten der Mitbestimmung gering. Wenn sie aufbegehrten, erklärte man ihnen, daß sie die sozialistische Theorie nicht verstanden hätten bzw. sie sich vom »Klassengegner« beeinflussen ließen. Die Versuche der SED- und Staatsorgane, den krisenhaften Erscheinungen in der DDR mit administrativen Mitteln zu begegnen, mehrten bei den einfachen Arbeitern die Empfindung, im »Arbeiter-und-Bauern-Staat« schamlos ausgebeutet zu werden. Aus diesem Konnex heraus, aber auch aus einer allgemeinen Unzufriedenheit mit dem politischen System in der DDR entwickelten sich die am 17. Juni und danach postulierten politischen Anliegen der Bevölkerung. Dabei ging es sowohl um die Wiederherstellung der durch das SED-Regime schrittweise unterhöhlten demokratischen Grundrechte als auch um die Abschaffung der demokratisch nicht legitimierten Machtstrukturen der SED (»Raus mit der Partei aus den Betrieben«, »Neuwahlen der BGL«, »Ablösung des FDGB-Bundesvorstandes« u.a.). Hier wurde folglich auch Konfliktpotential mobilisiert, das älter war und aus der Abschaffung der betrieblichen Mitbestimmungsrechte und der Einführung der Rahmen- und Betriebskollektivverträge 1951 stammte12. Das Deutungsmuster des 17. Juni in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre als antitotalitärer Aufstand hat damit durchaus seine Berechtigung, denn es ging den Protestierenden in der Hauptsache um die Wiederherstellung der Grund- und Menschenrechte nach dem Muster eines freiheitlichen, demokratischen Verfassungsstaates. Dieser antidiktatorische Konsens prägte den Willen der Aufständischen wesentlich. Die damals in diesem Zusammenhang erfolgte Diktaturgleichsetzung III. Reich — DDR und die Betrachtung des 17. Juni als nachholendes Ereignis des ausgebliebenen Massenaufstandes gegen das Hitlerregime'3 waren wohl in erster Linie politischen Intentionen geschuldet und müssen kritisch hinterfragt werden. Neuerlich hat sich Steinbach zu diesem Problem wie folgt geäußert. »Wir müssen in diesem Tag den Ausbruch eines autonom entstandenen Bekenntnisses gegen eine abgelehnte Regierung sehen. Dieses Bekenntnis ist durchaus legitim, nimmt man die Prinzipien des Verfassungsstaates ernst. Es handelt sich um einen Aufstand in der DDR - nicht um ein stellvertretendes nationales Handeln. [...] Wenn wir diese Demonstration als nationalstaatlich 12 13

Siehe hierzu Stadtland, Herrschaft nach Plan. Vgl. Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 7 7 - 8 1 .

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orientiertes Bekenntnis interpretieren, geben wir jenen, die Geschichte politisch instrumentalisieren wollen, eine leicht zu nutzende Möglichkeit der Ausgrenzung jener, die sich um Deutungsalternativen bemühen14.« Insofern ist der Versuch, einen definitiven Wandel von einem sozialen zu einem politischen Massenprotest während der Erhebung zu konstatieren, durchaus problematisch. Natürlich war die politische Unzufriedenheit bereits lange vor dem 17. Juni latent vorhanden und wurde durch den staatlichen Repressivapparat unterdrückt. Die wirtschaftliche und politische Unfähigkeit der Regierenden, die »sozialistische Transformation« nicht zu Lasten nahezu aller Schichten der Bevölkerung durchzupeitschen, schuf dieses soziale und politische Konfliktpotential. Im Frühjahr 1953 kulminierten politische, ökonomische und soziale Faktoren zu einer handfesten Krisensituation. Vereinzelte, aber sich häufende Proteste waren ex post Vorboten des Konflikts. Mit dem Tod Stalins verband sich in der DDR-Bevölkerung die Erwartung auf eine Lockerung der Politik des beschleunigten Aufbaus des Sozialismus. Der abrupte Kurswechsel im Juni 1953 allerdings und die einsetzende Fehlerdiskussion offenbarten plötzlich eine Schwäche des Regimes, die in deutlicher Korrespondenz mit der Systemkrise des Ostblocks nach Stalins Tod stand. Krisensituationen schlagen dann in offene Aufstände um, wenn die Leine gelockert wird15. Tatsächlich wirkten die ungeschickte Strategie und die halbherzige Bekanntmachung des »Neuen Kurses« sowie das Festhalten an den Normenbeschlüssen krisenverschärfend und zugleich paralysierend auf die Anhänger des Systems. Offensichtlich wurden nunmehr vorhandene politische Wünsche und Forderungen durch die Bevölkerung wesentlich häufiger und offener artikuliert16. Fast zwangsläufig mußte die Fehlerdiskussion zu berechtigten Forderungen nach der Bestrafung der Schuldigen führen. Der Produktionsarbeiter war für seine Fehler, der Bauer für das Nichterreichen des Ablieferungssolls oft über alle Maßen bestraft worden. Der durch die unteren SED-Funktionäre kaum erklärbare Kurswechsel, die stillschweigende Beseitigung der Sozialismuslosungen ließ viele vermuten, daß das SED-Regime politisch am Ende sei. Wenngleich im Vorfeld des 17. Juni bereits Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung, nach freien Wahlen oder nach Wiedervereinigung erhoben worden waren, so waren diese jedoch noch nicht diskussionsbestimmend, sondern vielmehr Erscheinungsbild der heraufziehenden revolutionären Situation. Keinesfalls jedoch kann man sie als Produkt eines geistigen Klärungsprozesses17, einer sich formierenden Opposition oder politischen Bewegung werten. Geistige Klärung hieße nämlich, daß nicht nur das »Wogegen«, sondern das »Wofür« und ein Weg 14 15 16 17

Steinbach, Statement zum Denkmal des 17. Juni 1953, S. 56. Vgl. Innere Systemkrisen der Gegenwart, S. 153. Vgl. hierzu im SAPMO-BArch die LOPM-Berichte. Mitter, Der »Tag X«, S. 26.

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dorthin ins Kalkül gezogen worden wären. Es gab jedoch keine sich formierende Opposition, die diese Aufgabe hätte schultern können. Die Herstellung von Öffentlichkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verbreitung des Protestgedankens, von dessen Zielen und Methoden. Sie war, so stellt Hermann Wentker sowohl für 1953 als auch 1989 fest, »in beiden Fällen maßgeblich auf die westlichen Medien zurückzuführen18«. Diese ermöglichten es, daß das Zeichen aus Berlin schon am Folgetag nahezu in der ganzen DDR aufgegriffen wurde und ein spontaner, aber geschlossener Ausbruch des Unmuts überhaupt möglich war. Nur so konnte sich bei fehlender zentraler Führung von einem Tag auf den anderen aus der sozialen Unzufriedenheit schnell eine von politischen Forderungen getragene Massenbewegung entwickeln. Ohne den RIAS und andere westliche Medien hätte es, so Egon Bahr rückblickend, »den 17. Juni so nicht gegeben19«. Die Betonung liegt jedoch auf dem Wörtchen »so«. Das heißt keinesfalls, daß die Erhebung von außen gesteuert war, sondern nur, daß es ihr an einer vorab erarbeiteten Zielstellung und an einer Organisation fehlte, die den Protestgedanken schnell popularisieren konnte. Eindeutige politische Forderungen gab es bereits am 16. Juni während der Berliner Bauarbeiterdemonstration. Die durch den RIAS gesendeten Grundforderungen der Bauarbeiter — Auszahlung der Löhne nach den alten Normen, sofortige Senkung der Lebenshaltungskosten, freie und geheime Wahlen, keine Maßregelung von Streikenden und Streiksprechern — markieren eine deutliche politische Sinngebung. Eine klare Gewichtung der im engeren Sinne als sozial einzustufenden und der allgemeinen politischen Forderungen ist angesichts der Spontaneität, der differenten Ausdrucksformen und der Kürze des Aufstandes kaum vorzunehmen20. Am 16. Juni ebenso wie am Folgetag standen die politischen Forderungen in unmittelbarer Korrespondenz zu den sozialen. Das einende Band gemeinsamer Unzufriedenheit und die spürbare immanente Kraft der Massenaktionen ließen politische Forderungen laut werden, deren Äußerung zuvor sofortige politische Verfolgung und Inhaftierung eingebracht hätte. Eine zusätzliche motivierende Komponente war, daß das allseits gefürchtete MfS, der Polizei- und Justizapparat der DDR offenbar ihre zwingende Kraft verloren hatten. Angesichts des Massenprotestes schien es plötzlich möglich, politische Änderungen nicht nur zu fordern, sondern auch zu erzwingen. Bei der komparativen Betrachtung der Vorgänge in den einzelnen Regionen scheint eine gewisse Abfolge in der Entwicklung der Protestbewegung erkennbar, wird oft auch ein Umbruch von vorrangig sozial zu politisch motivierten Forderungen und Handlungen deutlich. Mancherorts aber 18 19 20

Wentker, Arbeiteraufstand, Revolution?, S. 392. Bahr, Etwas Unerhörtes, S. 8. Vgl. Kleßmann/Stöver, Das Krisenjahr 1953, S. 25.

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blieben die Forderungen ausschließlich im sozialen Bereich, sei es, weil Funktionären die Beruhigung der Streikenden gelang, sei es, weil die Bewegung klein blieb oder die Streikführung bewußt nicht gegen den Staat opponieren wollte21. Tatsächlich gibt es ebenso viele bestätigende wie differierende Beispiele, sowohl die Abfolge der Entwicklung der Protestbewegung als auch den Zeitpunkt der Entstehung und letztlich den politischen Entwicklungsgrad betreffend. Manche Proteste blieben im sozialen Forderungsbereich stecken wie in Friedersdorf oder Zossen, andere richteten sich gegen Objekte der Staatsmacht wie in Calbe, um dann von allein zu versiegen, andere gerieten zu einem eindeutig politischen Aufstand. Für all diese Fälle sind die konkreten Rahmenbedingungen zu betrachten. Es ist aber tatsächlich so, daß »manche der erst später zu erwartenden Phänomene wesentlich früher auftraten, daß also das idealtypische Nacheinander der Phasen durch den historischen Befund eines nicht nur ausnahmsweise Nebeneinander«22 zu korrigieren ist. Bei der Sinngebung der Protestbewegungen spielte die Formulierung der Forderangskataloge in den Betrieben eine gewichtige Rolle. Hier wurde über die Ziele der Proteste erstmalig diskutiert, schrieb man die politischen und sozialen Wünsche fest. Dabei kam die hohe Befähigung der Arbeiterschaft bei der autonomen Interessenartikulation mit prägendem sozialdemokratischem Basisdemokratieverständnis ebenso wie die routinierte Anwendung der Arbeitskampftechniken zum Ausdruck. Der Vergleich der überlieferten Forderungen vermittelt die überwiegende Verknüpfung sozialer und politischer Belange. Neben der Normenfrage standen auf sozialer Seite am häufigsten die nach der Rücknahme der administrierten Sozialeinsparungen, nach Senkung von Preisen und nach Lohnerhöhungen23. Weit gefächert präsentieren sich die politischen Forderungen, beginnend von der Entflechtung von SED und Gewerkschaft, über den Abbruch der Aufrüstung und der Abschaffung der Armee bis hin zur Beseitigung der Allmacht der Staatspartei, zum Wegfall der Zonengrenzen oder zur Zulassung aller Parteien in Deutschland. Fast überall sind die Forderungen nach dem Rücktritt der Regierung, nach freien Wahlen und nach der Wiedervereinigung Deutschlands anzutreffen. Die sachlich gehaltenen betrieblichen Forderungen bildeten die Basis für die Losungen, Transparente und Sprechchöre auf der Straße. Hinzu kamen Spontaneität, Einfallsreichtum sowie ein gehöriges Maß an Empörung. Die Bandbreite der Formulierungen, der Reime sowie der Hohnspräche auf den Straßen ist kaum zu erfassen. Ein wesentliches einendes Element bildete der Gedanke der Solidarität — mit den Streikenden in Berlin und in anderen Regionen, mit den gewählten Streikführern, aber auch den politisch Inhaf21 22 23

Siehe hierzu diverse Beispiele bei Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen. Hagen, DDR - Juni '53, S. 199; auch Czerny, 17. Juni, S. 62. Siehe tiefergehend Staddand, Herrschaft nach Plan, S. 487-493.

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tierten. Für eine schnelle Verbreitung der Losungen sorgten neben der Sichtpropaganda Telefonate, Dienstreisende und Pendler, mancherorts eroberte Lautsprecherwagen und nicht zuletzt westliche Medien. Eine derart rasche Verbreitung und Aufnahme der Forderungen setzte jedoch das latente Vorhandensein dieser Wünsche voraus. Breite Kreise der Bevölkerung empfanden das politische System in der DDR als diktatorisch und undemokratisch. Darauf deuten die Forderangen nach freien Wahlen ebenso wie die nach der Endassung der politischen Gefangenen hin. Nicht grundlos bekamen insbesondere das Justizpersonal und die Angehörigen der Staatssicherheit den Zorn der Bevölkerung zu spüren. Sie wurden nicht selten schwer mißhandelt. Überall skandierten die Demonstranten Forderungen nach Abschaffung der Staatssicherheit, einem Organ, welches für die Bevölkerung schon 1953 Gesinnungsschnüffelei und Repressivmaßnahmen verkörperte. Ein Teil der Forderungen dokumentierte das »deutsch-deutsche« Problem als solches. In den Forderungen nach freien gesamtdeutschen Wahlen, der Zulassving aller Parteien in der DDR, nach Rücktritt der Regierenden, nach Befreiung der politischen Gefangenen, dem Wegfall der Zonengrenzen — um nur einige zu nennen — artikulierten sich ureigenste Interessen vieler DDR-Bürger. Das innerhalb der Demonstrationszüge oft erklingende Deutschland-Lied widerspiegelte den Wunsch nach Wiedervereinigung. Ein Anschluß an die Bundesrepublik, die Übernahme des politischen Systems des anderen deutschen Staates oder die Rekapitalisierung des Wirtschaftssystems sind als Forderungen allerdings nirgends nachweisbar. Sie mögen bei manchem in den skandierten Losungen nach Wiedervereinigung impliziert gewesen sein, können jedoch nicht einfach — wie bei Kowalczuk24 — als allgemeines Ziel unterstellt werden. »Sicherlich tauchte in den Gravamina der Aufständischen auch der Wunsch auf, daß die Teilung Deutschlands ein Ende nehmen solle. Aber das war ein Wunsch unter vielen Wünschen. Die Regierung möge zurücktreten, so lautete eine andere Forderung. Ist er gleichbedeutend mit dem Wunsch nach einer Übernahme des westlichen Systems mit samt ihrer Repräsentanten? [...] Der Aufstand vom 17. Juni >wollte< die Zweiteilung Deutschlands nicht so überwinden ...25«, setzt sich Schulz-Hageleit in seiner Geschichtsanalyse mit Tendenzen der Wertung in der damaligen Bundesrepublik auseinander. Ebenso unzulässig ist es, aus den LPG-Auflösungen und -Austritten eine Reprivatisierung oder den mehrheitlichen Wunsch nach der Rückgängigmachung der Bodenreform zu konstruieren. Es ist insgesamt gesehen sicher nicht legitim, allein aus der Gegnerschaft zum SED-Regime die Befürwortung des bundesdeutschen Gesellschaftsmodells herzuleiten.

24 25

Vgl. Kowalczuk, Die Ereignisse von 1953, S. 184. Schulz-Hageleit, Leben in Deutschland, S. 110.

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Ein großer Teil der Deutschen war nach den Erfahrungen von NSHerrschaft und Krieg von dem Willen beseelt, ein anderes, demokratisches Deutschland aufzubauen. Das hatte die »sozialistische Idee« in Ost- wie in Westdeutschland nach dem Krieg durchaus salonfähig gemacht. Was die SED-Führung unter der Ägide der UdSSR in dieser Hinsicht anbot, hatte in ihrer diktatorischen Struktur und Gängelei nichts mehr mit diesen Idealen zu tun. Andererseits schien aber das politische System in der Bundesrepublik, so wie es sich 1953 offenbarte und natürlich so, wie es von den DDRMedien dargestellt wurde, für viele in der DDR nicht eine wirkliche Alternative zu sein. Die Forderungen mußten aber über die verschiedenen Schichten der Gesellschaft Konsensfähigkeit besitzen, um die Menge zu einen. Mit dem Ziel demokratischer Veränderungen im ostdeutschen Staat, was aber immer das Offenhalten bzw. Neueröffnen von Chancen für eine demokratische Wiedervereinigung mit einschloß, war dieser Konsens erreicht. Es ist m.E. folglich zu stark vereinfacht, aus dem ja auch von der SED als politisches Ziel proklamierten Wunsch nach Wiedervereinigung auf das politische Antlitz eines vereinigten Deutschland zu schließen. Tatsächlich war Wiedervereinigung in den fünfziger Jahren »noch kein zum leeren Ritual ausgehöhltes Schlagwort, sondern eine konkrete, wenn auch zeitlich nicht fixierbare Erwartung und selbstverständliche politische Zielvorstellung. Insofern hätten die von den Aufständischen geforderten freien Wahlen nicht nur zum Verschwinden des verhaßten SED-Regimes geführt, sondern auch eine Wiederherstellung des deutschen Nationalstaates bedeutet«26, vermuten Kleßmann und Stöver unter bewußter Ausklammerung der äußeren Rahmenbedingungen. Doch es wäre nach Bust-Bartels wohl bei »einer Wiedervereinigung nach den Vorstellungen der aufständischen Arbeiter [...] ein Deutschland mit einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung entstanden, die sich in erheblichem Maße von der [...] damaligen Gesellschaftsordnung sowohl in der DDR wie in der Bundesrepublik [...] unterschieden hätte27«. Sehr häufig wurde in der Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt die Politik der Adenauer-Regierung sehr kritisch gesehen, existierten Vorstellungen von einem unabhängigen national- bzw. sozialdemokratischen Deutschland. Hier waren auch Traditionen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert in der Arbeiterschaft der DDR durchaus mitprägend. Zum einen wirkten sicherlich die ideologischen Kampagnen der SED gegen die Bundesrepublik nach, zum anderen konnten sich viele in Ostdeutschland gerade deshalb nicht mit der Adenauer-Politik identifizieren, weil sie in ihr die Politik der Teilung, nicht der Wiedervereinigung sahen. Viele begehrten vor allem auch die Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung im Westen. Es bewahrheitete sich einmal mehr, daß das materielle Sein das Bewußtsein bestimmt. 26 27

Kleßmann/Stöver, Das Krisenjahi 1953, S. 22. Bust-Bartels, Der Arbeiteraufstand, S. 52.

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Der Wunsch nach freien gesamtdeutschen Wahlen implizierte daher mehr das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen für ihren Staat und dessen politisches System als einen bloßen Anschlußwillen an die Bundesrepublik. Heidi Roth vertrat als Ergebnis einer Befragung von Zeitzeugen die Auffassung, daß sich hinter dieser Forderung die Hoffnung verbarg, ein möglicher Sieg der SPD könne das politische System in einem vereinten Deutschland auf beiden Seiten im Interesse der Arbeiterschaft verändern28. Konkrete Aussagen hierzu finden sich während der Juni-Unruhen allerdings nicht, weil zwar die Frage: »Wogegen?« eindeutig artikuliert worden war, ein deutliches »Wofür« jedoch ob der Spontaneität der Proteste nicht formuliert werden konnte. »Die Deutung des 17. Juni 1953 als gesamtnationale Manifestation«, so wendet sich auch Steinbach gegen eine frühere derartige politisierende Überinterpretation, »beraubt ihn seiner herrschaftskritischen Brisanz. Deshalb kommt sie einer Verfälschung gleich29.« Die Berliner Demonstranten wandten sich massiv gegen die Sektorengrenzen in ihrer Stadt. Das kam am 17. Juni dadurch zum Ausdruck, daß nahezu alle Sektorenschilder von ihnen zerstört wurden. In Görlitz und im Raum Dresden, dort, wo eine überdurchschnittliche Ballung von Umsiedlern aus den früheren Ostgebieten Deutschlands die Bevölkerungsstruktur prägte, wurden sogar Stimmen gegen die Oder-Neiße-Grenze laut30. Die Unruhen brachten zutage, was in der Bevölkerung der DDR gärte, was aber zuvor kaum jemand offen zu äußern wagte oder was verdrängt worden war, und zwar aus der Notwendigkeit heraus, sich mit der Gesellschaft, aus der man nicht ausbrechen wollte oder konnte, zu arrangieren. Gemeinsam fühlte man sich stark, Sprechchöre und Lieder stärkten Zusammengehörigkeitsgefühl und Mut. Dabei wurden die Internationale und Arbeiterkampflieder ebenso gesungen wie das Deutschland-Lied. Offensichtlich wurde in den Demonstrationszügen das klassische Kampfverhalten der Arbeiterschaft rekapituliert, das in seinem Gebaren jedoch auch an die initiierten Aufzüge in der DDR erinnerte31. Der aufgestaute Unmut und die motivierende Kraft der Masse auf den Straßen führten im Frühsommer 1953 dazu, daß hier und da die Hoffnung keimte, die Grotewohl-Regierung und die SED-Herrschaft beseitigen zu können. Mit derart weitreichenden Zielen waren aber in den Morgenstunden des 17. Juni nur wenige Arbeiter in den Streik getreten. Im Bildersturm fand zuerst der Willen zu politischen Veränderungen seinen offenen Ausdruck. Bereits in den Betrieben, jedoch noch intensiver in der Öffentlichkeit stellten das Zerschlagen der Funktionärsbilder, das Herunterreißen von Fahnen und Plakaten und deren Verbrennung den ersten 28 29 30 31

Vgl. Roth, Der 17. Juni im Bezirk Leipzig, S. 583. Steinbach, Ein Denkmal zum 17. Juni 1953?, S. 75. Vgl. BA-MA, Pt 7945, Bl. 3, Bericht der GPB Görlitz über die Unruhen. Vgl. Hagen, DDR-Juni'53, S. 59 f.

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Schritt zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit den Herrschenden dar. Bald brannten auch Propagandapavillons, Akten und Bücher. Letztlich richtete sich die Empörung der Protestierenden gegen die regionalen Zentralen der SED, der Massenorganisationen, der Staatsführung sowie der Sicherheitsorgane. In vielen der betrachteten Fälle war es der Ausbruch des Frustes, der die Demonstranten in die Gebäude eindringen ließ und sich bis zu sinnloser Zerstörungswut und gewalttätigen Ubergriffen gegenüber Funktionären steigerte. Es gab jedoch in verschiedenen Regionen und Städten die bewußte Besetzung der Schaltzentralen der Macht, zumeist dort, wo die Erhebung überbetrieblich geführt und die Erhebung zu einem gezielten Aufstand entwickelt wurde. Um die Mittagszeit des 17. Juni und bis in die Folgetage hinein wirkten in den Industriezentren und größeren Städten die Informationen und Gerüchte über die Aufstände in anderen Städten in hohem Maße motivierend. Sie vermittelten den Demonstrierenden den Eindruck eines umfassenden Generalstreiks und Volksaufstandes, welcher die politische Zielsetzung — Sturz der Grotewohl-Regierung — als greifbar erscheinen ließ. Als typische Beispiele seien hier nur Halle und Görlitz genannt. Vor der Haftanstalt in der Kleinen Steinstraße Halles erwartete die Menge in den frühen Abendstunden das Eintreffen bewaffneter Leuna-Arbeiter. In Görlitz kursierte das Gerücht von der Verbrüderang der KVP-Einheiten aus Bautzen und Zittau mit den aufständischen Arbeitern. Dies waren nicht nur bewußt gestreute Falschmeldungen zur Unterminierung der Moral der Polizeitruppen, das waren vielmehr Gerüchte, die die Menge in diesen ungewissen Augenblicken dankbar annahm, die sie beflügelten. In diesem Zusammenhang stand das allerorts nachweisliche Informationsinteresse. Arbeiter hörten in den Betrieben westliche Medien ab oder gingen nach Hause, um an Informationen über die Unruhen in der DDR über die Medien zu gelangen. Die für die Arbeiter kaum nachprüfbaren Meldungen vom Generalstreik und von Erhebungen in anderen Orten spielten in der DDR auch nach der Niederschlagung der Protestbewegung durch das sowjetische Militär eine wesentliche Rolle. Sie spiegelten die geheimen Wünsche vieler Menschen angesichts der repressiven Maßnahmen der Staatsorgane der DDR und der sowjetischen Militärmacht wider und waren zugleich Auslöser für die bis zum 23./24. Juni 1953 immer wieder auflebenden Streiks und Unmutsbekundungen. Am 20. Juni streikten im Kreis Senftenberg nahezu alle Baubetriebe mit der Forderung nach Abzug der sowjetischen Truppen und nach Freilassung der politischen Gefangenen, insbesondere der verhafteten Streikführer. Anlaß war das Gerücht von einem bevorstehenden Generalstreik in der DDR32.

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/513, Bl. 70, LPOM-Bericht vom 20. Juni 1952.

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Eine Protestbewegung aller Bevölkerungsschichten »Daß der 17. Juni als Arbeiteraufstand begann, belegt die regionale Verteilung der Demonstrationen und Streiks. Die Schwerpunkte und auch die Höhepunkte der Aktivitäten lagen - an diesem früheren historiographischen Befund hat sich wenig geändert - in den Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung in Groß- und Mittelstädten. Da die offene Aufstandsbewegung im Grunde nur einen Tag dauerte, sind einer systematischen vergleichenden Analyse unter dem Aspekt der sozialen Struktur der Beteiligten enge Grenzen gesetzt33.« Zu den sozialen Schichten, die sich am Volksaufstand beteiligten, liegen inzwischen wichtige und tieferschürfende Analysen vor, die hier in ihren Ergebnissen nur rekapituliert werden sollen. Bei weitem aber kann die Forschung noch nicht als abgeschlossen gelten. Die Analysen haben erwiesen, daß zwar die maßgebenden Träger der Erhebung sowohl in Ostberlin als auch in der DDR die Arbeiter waren, die Bewegung insgesamt jedoch nicht auf dieses prägende Element reduziert werden darf. Die Zentren der Unruhen lagen, wie nachgewiesen, in Ballungsgebieten. Zwei Faktoren sind hier allgemein als typisch festzuhalten. Zum einen gab es hier eine hohe Konzentration von Arbeitern in Großbetrieben, zum anderen herrschte hier zumeist eine rege Bautätigkeit. So ist in der großen Mehrheit der Fälle nachweisbar, daß die Bauarbeiter auf Baustellen, in den großen VEB oder in ihrer Umgebung, ja sogar auf Spezialbaustellen der SAG bzw. KVP34 sich als erste mit ihren Berliner Kollegen solidarisierten und wie in der Hauptstadt den Streikgedanken in viele Betriebe weitertrugen. Zudem wirkten Streiks in einem Werk initiierend für weitere Betriebe, so daß sich die Protestbewegung schnell ausweitete und an Kraft und Umfang gewann. Das Forderungsprofil während der Unruhen war eindeutig durch die Interessen der Arbeiterschaft geprägt. Die Forderungen wurden in der Streikphase auf Belegschaftsversammlungen aufgestellt und durch die Streikleitungen schriftlich fixiert. Währenddessen entstanden auch die Transparente, die den Willen der Demonstranten widerspiegelten. Sie gaben Beispiel, wurden von anderen aufgenommen und ergänzt und fanden damit sinnstiftende Verbreitung. Folglich war die Arbeiterschaft unbestritten die Kraft, welche die Protestbewegung initiierte und sie in der Masse trug. Aufgrund ihrer Konzentration in den Betrieben und Industrieregionen fiel es den Arbeitern am leichtesten, spontan eine machtvolle Massenbewegung zu formieren. In ihren Reihen waren zudem die sozialdemokratischen 33 34

Kleßmann/Stöver, Das Krisenjahr 1953, S. 24. Auf den Sonderbaustellen der K V P sah man sich genötigt, am 18. und 19.6. Offiziere der K V P als Agitatoren einzusetzen, um die Bauarbeiter wieder zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. Vgl. BA-MA, DVH 3/5267, o.B., Lagebericht des Mdl vom 18.6. und Bericht über die Bau-Union Nord, o.D.

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und gewerkschaftlichen Traditionen und natürlich auch die Streikerfahrungen am intensivsten. Neben den Bauschaffenden beteiligten sich vor allem die Arbeiter der Stahlerzeugung, des Maschinenbaus sowie der chemischen Industrie an der Erhebung. Zur Ursachenforschung sowie für die genauere zahlenmäßige Erfassung ihrer Streikbewegung sind weitere Untersuchungen notwendig. Für den Maschinenbau nennen die parteiinternen Archivalien Zahlen zur Teilnahme an den Ausständen. Danach streikten die Arbeiter in 25 der 80 Schwermaschinenbaubetriebe, in 72 der 359 allgemeinen Maschinenbaubetriebe und in 23 der 39 Landmaschinen- und Transportmittelbaubetriebe35. Ebenfalls recht stark war die chemische Industrie, zumal es sich bei den bestreikten 30 Betrieben um zumeist beschäftigtenstarke Großproduzenten wie Leuna, Buna, das Elektrochemische Kombinat Bitterfeld oder die Film- und die Farbenfabrik Wolfen handelte. Im Bergbau wurde hingegen, abgesehen vom Mansfeld-Kombinat und dem Tagebau Kayna, überall gearbeitet, ebenso in der Energieerzeugung. Hier streikte nur das Kraftwerk Elbe. Im Senftenberger Gebiet hingegen erhöhten Belegschaften die Normen freiwillig oder fuhren Hochleistungsschichten36. Bei den Werken der Industriezweige, die am intensivsten betroffen waren, handelte es sich zumeist um Großbetriebe, die nicht selten eng miteinander verflochten waren. Eine weit geringere Teilnahme an Arbeitskampfmaßnahmen ist bei den Belegschaften in kleineren volkseigenen sowie in genossenschaftlichen oder privaten Produktionsbetrieben nachweisbar. Im Bezirk Potsdam beispielsweise wurden zwar 59 VEB, aber nur 3 genossenschaftliche und 5 private Betriebe bestreikt37. Oft fehlte hier das motivierende Moment, da die Arbeiter von den Normerhöhungen nicht unmittelbar betroffen waren. So mancher private Unternehmer wirkte in der Hoffnung auf die Durchsetzung des »Neuen Kurses« auf die Arbeiter ein, an ihren Arbeitsplätzen zu verbleiben. Auch die Bergarbeiter der DDR nahmen nur in begrenztem Maße an der Volkserhebung teil. Abgesehen von den Aktionen der Wismut-Kumpel im Bezirk Gera kam es am 18./19. Juni zu einer größeren, wenn auch sehr heftigen Streikbewegung der Bergarbeiter im Mansfeld-Kombinat. Dem Anteil der Intelligenz, der Mittelschichten und der Bauern an der Protestbewegung 1953 hat man bis 1995 zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Inzwischen sind tieferschürfende Untersuchungen zur Haltung der Angestellten, der technischen und wissenschaftlichen Intelligenz sowie anderer Mittelschichten erfolgt38. Gleichwohl bleibt es schwierig, im Durch35

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Vgl. ebd., DY 30/IV 2/5/547, Bl. 147 f., LOPM-Bericht über die Beteiligung an den Streiks. Vgl. SAPMO-BArch, NY 90/437, Bl. 291 - 2 9 6 , Auflistung der Arbeitsniederlegungen in den einzelnen Industriezweigen, o.D. Vgl. BArch, Bestand Mdl/BDVP Potsdam, 15/33, Bl. 9, Zusammenfassender Bericht zu den Unruhen im Bezirk. Siehe hierzu Kowalczuk, Volkserhebung ohne »Geistesarbeiter«?, S. 129 - 1 6 9 .

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einander der Unruhen klar die sozialen Schichten, ihre Interessen und Forderungen zu selektieren. Das trifft insbesondere auf die privatwirtschaftenden Handel- und Gewerbetreibenden und Kleinunternehmer zu, eben den Mittelstand, der von den Verstaatlichungsabsichten der SED-Führung am stärksten betroffen wurde. Pauschalisierend kann jedoch festgestellt werden, daß sich die Angestellten und die technische Intelligenz, selbst wenn in ihren Betrieben gestreikt wurde, zum großen Teil nicht mit den Arbeitern solidarisierten und sich passiv verhielten. Selbstredend gab es hier jedoch viele Ausnahmen. Mancherorts kooperierte die technische Intelligenz in den Betrieben von Anbeginn mit den Arbeitern. Nicht selten waren Ingenieure und Mitarbeiter von Forschungsbereichen nicht nur Demonstranten, sondern Mitorganisatoren der Streikbewegung, wie beispielsweise in Leuna, Radebeul, Schmöckwitz oder Köpenick39. Die Intelligenz insgesamt zeigte sich sehr heterogen im Verhalten während der Juni-Unruhen. Die pädagogische verhielt sich meist neutral. Nur 10 Prozent der Lehrer haben zwischen dem 17. und 19. Juni nicht gearbeitet, manche unterstützten die Streikkomitees. Auch Schüler zeigten Protestverhalten, in dem sie gegen Russischunterricht und Gegenwartskunde opponierten oder aus der FDJ austraten. Durch den Abbruch des Lehrbetriebes in Schulen und Berufsschulen gelangten viele Jugendliche auf die Straßen. Die medizinische Intelligenz engagierte sich dagegen stärker. Sie bekundete ihre Einstellung gegen den SED-Staat mit einer größeren Zahl von Parteiaustritten, nicht wenige nahmen aber auch an den Demonstrationen teil. Die Intelligenz an den Hochschulen und Universitäten verhielt sich zum größten Teil ebenfalls ruhig und abwartend. Häufiger nahmen Professoren, Dozenten und Assistenten an den Agitationseinsätzen der Studenten zur »Beruhigung« der Arbeiter teil, als daß sie sich der Protestbewegung anschlossen40. Vereinzelt kam es auch hier zu Austritten aus der SED. In vielen öffentlichen Stellungnahmen bekannten sich gerade aus diesem Bereich Professoren, Assistenten und Studenten zur Staatsmacht41. Die Künsder fanden sich hingegen zumeist nicht auf selten der Revoltierenden. Viele, insbesondere die staatlich geförderten, waren eher für den SED-Staat. Verallgemeinernd kann festgestellt werden, daß die akademisch gebildeten Schichten der DDR-Bevölkerung an den Unruhen kaum teilhatten bzw.

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Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/IV 2/5/546, Bl. 61, LOPM-Bericht über das Verhalten der Bevölkerungsschichten während der Unruhen. Vgl. hierzu Huschner, Der 17. Juni an Universitäten; Kowalczuk, Die Historiker der DDR. Siehe hierzu die Untersuchung von Kowalczuk sowie Buchbinder, »Tage der Provokation«.

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sie aus ihrem Bewußtsein verdrängten42. Wesentliche Ursachen dafür sind sowohl in der sozialen Stellung innerhalb der Gesellschaft als auch in dem Hoffen auf die Realisierung des »Neuen Kurses« zu sehen. Viele Geistesschaffende hatten sich mit dem System arrangiert, waren selbst Bestandteil dessen. Seit Anfang der fünfziger Jahre hatte hier zudem ein Elitenaustausch stattgefunden. Eine »neue«, prosozialistische Intelligenz erhielt besonders in den Geisteswissenschaften eine Chance, während »alte«, bürgerliche Eliten um ihre Ablösung furchten mußten und sich aus diesem Grund politischer Meinungsäußerungen enthielten. Zudem waren die Bindung an den Beruf, an das Erreichte weit ausgeprägter als bei den Arbeitern. Nicht zuletzt führten breite Kreise der Intelligenz die Probleme in der DDR auf die politischen Fehler der SED, nicht auf das politische System selbst zurück, welches ihnen durchaus erhaltenswert schien. Auf den Straßen und Plätzen gesellten sich Hausfrauen, Jugendliche und Angehörige der Mittelschichten, mancherorts auch Bauern zu den Protestierenden, die den weiteren Verlauf der Protestbewegung folgend mitbestimmten, mancherorts sogar prägten. Die Hausfrauen hatten 1952/53 die Verschlechterung des Lebensniveaus in ihren Familien und in den Verkaufsstellen sehr deutlich zu spüren bekommen. Entsprechend groß war ihre Empörung. Andererseits reichte der lange Arm ideologischer Beeinflussung durch die SED und die Staatsorgane nicht in dem Maße bis an den Küchenherd, um auch der Masse der Hausfrauen ein »sozialistisches« Bewußtsein einzuimpfen. Die relativ großen Möglichkeiten freier Zeiteinteilung prädestinierten sie geradezu zur spontanen Teilnahme an den Protestkundgebungen. Zu dem Fakt des größeren verfügbaren Zeitfonds gesellte sich bei den Jugendlichen vor allem Abenteuerlust. Jugendliche bestimmten in großer Zahl in allen Unruheorten besonders in den Nachmittagsstunden das Straßenbild mit. Vielfach sind Berichte über Ausschreitungen, Plünderungen und Zerstörungen gerade durch Gruppen von JugendEchen in den Archiven zu finden. Ihr Tun entsprang eher einer Heißblütigkeit und überschüssiger Kraft, vielleicht auch einem der Jugend innewohnenden Nihilismus als einer politischen Motivation. Dennoch muß in die Wertung des Handelns der Jugendlichen mit einbezogen werden, daß sie eine der Hauptgruppen in der Bevölkerung waren, die sich für westliche Radiosendungen und Lebensweisen interessierten. Viele junge Menschen in der DDR frustrierte zudem die ständige politische Gängelung durch die FDJ, vor allem aber die permanente Werbung für die KVP, die GST und den DFD und der damit auf sie ausgeübte politische Druck. »The american way of life« besaß für so manchen Teenager in der DDR mehr Anziehungskraft als das Vorbild des fleißigen sowjetischen Jungaktivisten.

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Vgl. Knoth, Loyale Intelligenz.

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Die Bauern, die durch die Wirtschafts- und Sozialpolitik der SED bis zum Sommer 1953 mit am stärksten diskriminiert und gegängelt worden waren, hatten allen Grund, sich an die Seite der streikenden Arbeiter zu stellen. Die konkreten Bedingungen auf dem Lande machten es den Bauern jedoch unmöglich, sich ebenso spontan wie diese zu erheben. Es bedurfte seine Zeit, Verbindungen zu knüpfen, Gleichgesinnte zu finden. Somit erklärt sich, warum Protestbewegungen unter der Bauernschaft oft erst am 18. Juni und danach zu beobachten waren. In vielen Dörfern fand der Protest der Bauern seinen spezifischen Ausdruck in der Verweigerung des Ablieferungssolls und in Austritten aus den LPG. Von diesem Prozeß waren auch Bezirke erfaßt, in denen es am 17. und 18. Juni nicht zu Massenprotesten gekommen war. Allein im thüringischen Kreis Meiningen (Bezirk Suhl) lösten sich z.B. die LPG in Bibra, Stettlingen, Hermannsfeld, Bettenhausen, Römhild und Haina auf*3. Es gibt zahlreiche Belege für Proteste und Streiks auf dem Lande, jedoch nur vereinzelt fanden sich Demonstrationszüge zusammen, wie in Schmergow am 16. Juni, in Mühlhausen mit 3000 Beteiligten oder Jessen mit 200 Demonstranten am Folgetag. Insgesamt waren die Bedingungen auf dem Lande fur eine Protestbewegung ungünstiger als in den Städten. Die Bauern mußten sich um die Versorgung des Viehs kümmern, wegen der geringen Bevölkerungsdichte vollzog sich die Weitergabe von Informationen wesentlich langsamer. Zu beachten sind hier jedoch andere Formen des Protestes gegen die SEDLandwirtschaftspolitik, wie die massenhaft auftretenden Austritte aus den LPG. Schon bis zum 30. Juni lösten sich 58 LPG auf, 112 weitere standen kurz davor. Insgesamt mußten staatliche Behörden bis zu diesem Zeitpunkt 2197 Austritte aus den Produktionsgenossenschaften aller drei Typen registrieren44. Bis Oktober 1953 existierten 274 LPG nicht mehr, allerdings wurden den Bauern die Austritte aus den Produktionsgenossenschaften auch durch eine moderatere Landwirtschaftspolitik erleichtert. Zudem sind Tätlichkeiten der Bauern gegen Funktionäre, Besetzung von LPG-Büros und Gemeindevertretungen in größerer Zahl nachgewiesen45. Eher selten kam es allerdings in den Gemeinden zu Versuchen, die örtliche SEDdominierte Vertretung durch eine selbstgewählte zu ersetzen. Dies ist vor allem im Umfeld der Stadt Görlitz zu beobachten. Heftige Kritik an der SED-Politik gab es auf Bauern- und Gemeindeversammlungen auch dort, wo keine Streiks und Demonstrationen nachweisbar sind. Diese Formen der Auflehnung waren aus den genannten Gründen zumeist nach dem 17. Juni festzustellen. Insgesamt darf die Protestbewegung 43 44 45

Vgl. SAPMO-BArch, DY 30/ IV 2/5/513, Bl. 39, LOPM-Bericht vom 18.6. über die Lage auf dem Land. Vgl. ebd., DY 30/ IV 2/5/546, Bl. 27, LOPM-Gesamtbericht über die Lage auf dem Land. Siehe Herzu Mitter, »Am 17.6.1953 haben die Arbeiter gestreikt...«.

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der ländlichen Bevölkerung mit ihren politischen und wirtschaftspolitischen Hintergründen nicht unterschätzt werden, sie stand jedoch in Macht und Wirkung weit hinter jener der Industriearbeiter zurück. Der Bruch in der Haltung zum SED-Staat während des 17. Juni ging durch alle Bevölkerungsschichten, gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen. Dabei richtete sich der Frust der Protestierenden in erheblichem Maße auch gegen den FDGB. Bereits in den Forderungskatalogen wurde immer wieder eine SED-unabhängige und für die Interessen der Arbeiter eintretende Gewerkschaft gefordert, nicht selten die Auflösung der amtierenden BGL verlangt oder sogar erzwungen. Im Umfeld des 17. Juni ist ein starker Anstieg von Austritten aus dem FDGB zu beobachten. Auch der Sturm auf den Straßen richtete sich gegen gewerkschaftliche Einrichtungen, darunter den FDGB-Bezirksvorstand in Leipzig. Die Arbeiter brachten damit ihren Protest gegen die Abschaffung der klassischen zugunsten einer staatlich instrumentalisierten Gewerkschaft zum Ausdruck. Man hatte das Vertrauen in die bestehende Gewerkschaft verloren. Doch schon in den Betrieben setzte ein starker Differenzierungsprozeß ein. Während sich viele FDGB-Funktionäre alter gewerkschaftlicher Traditionen erinnerten und aktiv für die Interessen der Arbeiter bis hin zum Engagement in Streikleitungen eintraten, gab es gleichwohl viele regimetreue und noch mehr passive Gewerkschaftsfunktionäre46. Auch in den Blockparteien ist die Haltung der Mitglieder schwer zu verifizieren. Die Gleichschaltung der CDU und der LDP war 1953 weit fortgeschritten. Haupts kommt in seiner Analyse zu dem Schluß, daß sich die Parteiführungen im wesentlichen SED-konform verhielten. Die Mitglieder und kleineren Funktionäre empfanden zwar kaum Loyalität gegenüber dem SED-Regime, praktizierten allerdings auch selten aktives Widerstandsverhalten während der Protestbewegung47. Regional versuchten einzelne Abgeordnete und Mitglieder der Blockparteien, sich vom Einfluß der SED zu lösen. Einige, wie der CDU-Ortsgruppenvorsitzende der Gemeinde Kollm, Gottfried Diener, der Nieskyer LDPD-Kreistagsabgeordnete Lothar Markwirth u.a., stellten sich sogar an die Spitze der regionalen Protestbewegung48. Insgesamt aber verhielten sich die Parteimitglieder abwartend, in den parteiinternen Diskussionen nach dem 17. Juni jedoch wurde an den Parteiführungen der LDP und der CDU heftige Kritik geübt49. Eine umfassende Analyse der Haltung der Blockparteien und Massenorganisationen, und hier speziell der NDP sowie der DBD, vor, während und nach den Unruhen könnte weitere wichtige Aufschlüsse zu Stimmung und Haltung in der DDR-Bevölkerung geben. 46 47 48 49

Siehe hierzu Stadtland, Herrschaft nach Plan; Beier, Wir wollen freie Menschen sein. Vgl. Haupts, Arbeiterunruhen oder Volksaufstand, S. 92. Persönliche Unterlagen der Genannten beim Autor. Siehe hierzu Haupts, Die Blockparteien; Haupts, »Die CDU ...«.

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Der spontane Ausbmch des Bevölkerungsfrustes spaltete sogar die Masse der Parteigenossen. Viele waren durch den plötzlichen Kurswechsel der SED verunsichert, wußten nicht, wie sie sich nun verhalten sollten. Anders als 1989 kam es durch die Unruhen von 1953 eher zu einer plötzlichen Polarisierung als zu einer schrittweisen Erosion der Parteibasis, ohne die Frustrationen und die Apathien, die die Verkündung des »Neuen Kurses« auslösten, zu negieren. Manch einer aus der Parteibasis sah sich während der Unruhen seinen Kollegen näher als der fernen Staatsmacht. So besagen Erinnerungen, daß Tausende Parteiabzeichen den Weg der Demonstrationszüge gekennzeichnet hätten. Im VEB Patina-Werk Halle hatten sich der Werkleiter und Mitglieder der Betriebsparteileitung an die Spitze des Demonstrationszuges gestellt, der Werkleiter der Papier- und Zellstofffabrik Merseburg solidarisierte sich über Lautsprecherwagen mit dem Streik in seinem Betrieb und rief dazu auf, sich an der Demonstration zu beteiligen50. Gerade im Bitterfelder Raum solidarisierten sich viele SED-Mitglieder mit den Streikenden, einige wurden sogar in der Streikleitung aktiv, wie der Vorsitzende der Gewerkschaftsleitung der Farbenfabrik Wolfen. Kowalczuk sieht drei Gruppen, in die sich die SED-Mitglieder während des Aufstandes aufspalteten, die größte, eine passiv/lethargische, eine zweite, die sich aktiv gegen Streiks und Demonstrationen stellte, und die kleinste mit Genossen, die sich mit den Aufständischen solidarisierten51. Im Jahr 1953 wurden insgesamt 4276 offizielle Austritte aus der SED gezählt, davon nach dem 17. Juni insgesamt mehr als 3500. Die Unzufriedenheit der Parteiführung mit ihren Mitgliedern dokumentierte sich in 26 416 Parteiausschlüssen, davon nach dem 17. Juni allein 23 ООО52. Die Juni-Ereignisse sollten zu einem einschneidenden Parteisäuberungsprozeß fuhren. Zum Verhalten der SED-Mitglieder vor und während des Volksaufstandes sowie zur Reglementierung der Parteispitze gegenüber ihren Parteimitgliedern nach dem 17. Juni liegen wichtige Forschungsergebnisse vor53. Mählert erkennt die Parteisäuberung im Gefolge des 17. Juni als eine deutliche kaderpolitische Zäsur54. Die evangelische Kirche war von den Unruhen ebenso überrascht wie die staatlichen Organe und konnte insgesamt nicht den Rückhalt der Opposition bilden, wie es vergleichsweise im Jahre 1989 geschah. Dennoch gab es Aktionen der »Jungen Gemeinde«, predigten vereinzelt Pfarrer gegen die DDR-Obrigkeit55. Insgesamt aber war die »heiße Phase« des Kirchenkamp50

51 52 53

54 55

Der bis 1933 aktive Sozialdemokrat wurde wegen kapitulantenhaften Verhaltens aus der SED ausgeschlossen. Vgl. Klein, Exempel 1953, S. 357. Vgl. Kowalczuk, Politische Handlungsträger beim sozialistischen Aufbau, S. 209 f. Vgl. ebd., S. 233. Siehe hierzu Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen; Kowalczuk, »Wir werden siegen ...«; Mahlert, »Die Partei hat immer Recht!«; Klein, Exempel 1953. Mahlert, »Die Partei hat immer Recht!«, S. 446 f. Vgl. Baron, Die fünfte Kolonne.

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fes mit den Gesprächen zwischen Staats- und Kirchenführung am 10. Juni 1953 beendet, und die Kirchenvertreter, ebenfalls von den Massenprotesten überrascht, waren allgemein nicht geneigt, ihre Verhandlungserfolge in Frage zu stellen56. Am 17. Juni hatte sich in der DDR — aufgeteilt in mächtige und unzählige kleinere Aktionen - spontan eine über 600 000 Menschen zählende Volksmenge aller gesellschaftlicher Schichten gegen das SED-Regime erhoben. Aus diesem Grunde wird den Unruhen häufig und nicht zu Unrecht das Attribut Volkaufstand zugeordnet. »Daß im Arbeiteraufstand vom 17. Juni das Potential eines breiten, von der gesamten Bevölkerung getragenen politischen Umsturzes mit entsprechenden gesamtdeutschen Folgen steckte, sich jedoch nicht mehr entfalten konnte, unterlag trotz der Betonung einer Arbeitererhebung keinem Zweifel57«, erklären Kleßmann und Stöver rückblickend. Allerdings verdeckt die nach der Hauptträgergruppe definierte und verbreitete wissenschaftliche Charakterisierung als »Arbeitererhebung« durchaus die alle Schichten der Gesellschaft erfassende Protestbewegung in ihrer Breite und gesellschaftlich-politischen Relevanz. Doch es gibt eine zweite Seite der Medaille. Die Mehrheit der Bevölkerung verhielt sich am 17. Juni und auch in den Folgetagen passiv. Tatsächlich erreichte einen großen Teil der Bevölkerung die Kunde von den Massenprotesten nicht oder erst nach Verhängung des Ausnahmerechts. Anderswo fehlte die Grundlage für Protestaktionen einer größeren Gruppe von Menschen. Dies betraf sicher auch einen großen Teil von Gegnern des DDR-Regimes. Andere wollten erst die Entwicklung der Dinge abwarten oder fürchteten Repressalien. Aber es stellte sich auch ein nicht geringer Teil der Bevölkerung hinter den SED-Staat. Dazu zählten nicht nur Staatsfunktionäre, sondern auch Arbeiter in Betrieben, Bauern auf dem Lande und nicht unbedeutende Teile der akademischen und technischen Intelligenz. Der Glaube an eine bessere »sozialistische Gesellschaft« war bei weitem nicht gebrochen, ein erheblicher Teil identifizierte sich mit der DDR und ihren gesellschaftlichen Verhältnissen. Unter ihnen waren viele kommunistisch Denkende oder Begünstigte der DDR, aber auch viele, die in der DDR eine Alternative zum Nationalsozialismus sahen. Als ein Beispiel sei nur das Eisenhüttenkombinat Ost im Bezirk Frankfurt/Oder benannt. Das Kombinat gehörte zu den vielen Betrieben, die nicht bestreikt wurden. Es ist nachgewiesen, daß sich die Belegschaft sogar gegen die zum Teil massiven Aufforderungen der dort tätigen Bauarbeiter zur Teilnahme an den Streiks und Demonstrationen wehrte58. Allerdings war hier eine Arbeiterschaft tätig,

56 57 58

Siehe hierzu ebd. Kleßmann/Stöver, Das Krisenjahr 1953, S. 21. Vgl. Semmelmann, Der 17. Juni in der Erinnerung ehemaliger Betriebsangehöriger, S. 3 8 - 5 0 .

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die nicht historisch gewachsen war und in der sozialdemokratische Traditionen kaum eine Basis hatten. Aufs Ganze gesehen, war der Massenprotest in der DDR ein Protest breitester Bevölkerungsschichten, auch wenn die Arbeiterschaft die Wurzeln wie auch die Hauptträger der Volkserhebung stellte. Letztere bildete den Kern der Bewegung, prägte das politische Antlitz, aus ihr erwuchs zudem die absolute Mehrheit der Protestierenden. Dem steht allerdings entgegen, das haben die neueren Forschungen deutlich gemacht, daß insbesondere dort, wo die Massenbewegung zu einem zielgerichteten Aufstand zur Erringung der politischen Macht gedieh, so in Bitterfeld oder Görlitz, das bürgerliche Element der DDR-Bevölkerung eine fuhrende Rolle übernahm, ja zielorientierend den Aufstand vorantrieb. Die Protestbewegung umfaßte alle sozialen Schichten der DDRGesellschaft. Das Ausmaß und die Formen der Beteiligung richteten sich nach den politischen und sozialen Interessen, der Stellung im und zum SED-Staat sowie letztlich nach den Möglichkeiten zum Protest. Folglich ist es durchaus berechtigt, die Proteste in der DDR 1953 als eine Bewegung des Volkes gegen die herrschende SED-Diktatur zu klassifizieren. Die Deutung des 17. Juni in der Historiographie Im allgemeinen Sprachgebrauch herrschte, die obsolete Klassifizierung der DDR-Historiographie einmal ausgenommen, bis 1989 in der Bundesrepublik das Synonym »Volksaufstand«; in wissenschaftlichen Publikationen »Arbeiteraufstand« vor. »Volksaufstand« hingegen ist in der Literatur jedweder Provenienz bis heute die meistgebrauchte Bezeichnung für die Unruhen 1953 in der DDR, obgleich sich die Historiographie von Anfang an um eine genauere Definition bemühte. Die wichtigsten Deutungen seien hier in einer Auswahl kurz aufgeführt. Ein erstes dominantes Deutungsmuster als eine »deutsche Revolution« folgte in der Bundesrepublik unmittelbar unter der Wirkung der Ereignisse59. Die Erstürmung der regionalen Zentren der Staatsmacht wurde hierbei dem Sturm auf die Bastille 1789 gleichgesetzt. Allerdings hatte sich die Pariser Bevölkerung - und das ist der markante Unterschied - im Invalidenhaus zuvor mit 32 000 Gewehren versorgt und wurde von der Bürgermiliz mit 5 Kanonen unterstützt. Diese Gedanken griff Stefan Brant (alias Klaus Harprecht) 1954 mit dem Buch »Der Aufstand« auf. Brant charakterisierte dort die Juni-Unruhen als gescheiterte Revolution: »Diese Studie versucht den Nachweis zu führen, daß der Streik der Bauarbeiter von der Stalinallee den Pankower Staat in einer klassischen Ausgangslage für die Revolution antraf. [...] Der Streik war vielmehr nur möglich, eben weil die sowjetdeutsche Re59

Vgl. Marion Gräfin Dönhoff in: Die Zeit vom 25.6.1953.

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publik >reif< für einen Umsturz war. Die Arbeitsniederlegungen im Block 40 der Stalinallee wurden zur Ouvertüre eines revolutionären Dramas, und daran ändert die Tatsache nichts, daß die Revolution nicht zum Sieg und zum Ende gelangen konnte, sondern in der Phase des Aufstandes stecken blieb. [...] Aufstand, das bedeutet: Sturm einer unorganisierten, ungelenkten revolutionären Bewegung auf die Bastionen des Regimes, das bedeutet: hundertfacher Sturm auf die Bastille, auf die Zuchthäuser, auf die Nester des Staatssicherheitsdienstes, die Verwaltungsgebäude, die Gerichte, die Parteibüros. Und dieser Aufstand war revolutionär in seinen Zielen, denn er strebte den gewaltsamen Sturz der öffentlichen Macht, eine Eroberung der exekutiven und legislativen Rechte an60.« Brant legte mit dieser Einschätzung eine erste Grundlage für die Wertung der Juni-Ereignisse, die in manchen Publikationen bis in die Gegenwart hinein anzutreffen ist. Die erste wissenschaftliche Analyse erstellte Ende der fünfziger Jahre Arnulf Baring. In »Der 17. Juni 1953« entschied sich der Autor für die Definition Arbeiteraufstand. Die tragende Kraft sei die Arbeiterschaft gewesen. Die Unruhen konnten wegen ihres plötzlichen Ausbruchs nicht die Kraft einer Revolution erreichen. Baring hebt die Ziel- und Führungslosigkeit als innere Ursache des Scheiterns der Erhebung heraus: »Aber man täusche sich nicht: der Aufstand ist nicht durch die sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden. Aufs Ganze gesehen war die revolutionäre Welle schon gebrochen, bevor die Russen aufmarschierten. Ihr Eingreifen war kein Wendepunkt, sondern hat nur einen Schlußpunkt gesetzt: die Streik- und Demonstrationsbewegung hatte sich im Laufe des Tages erschöpft, der Elan war versickert, der Aufstand in seinen Anfängen steckengeblieben61.« Weitere gewichtige Forschungsergebnisse legten u.a. Bust-Bartels 1980 und Fricke 1982 vor, die sich in ihrer Deutung des 17. Juni ebenfalls an der Hauptträgergruppe — der Arbeiterschaft - orientierten. Mit dem Untergang der DDR öffneten sich auch deren Archive und diese ermöglichten einen tieferen quellengestützten Zugang zum 17. Juni 1953, der sich in nahezu von allen Institutionen gesammelten Materialien und Analysen widerspiegelt. Dienten die Auswertungen dereinst dem SEDRegime dazu, nie wieder zuzulassen, daß sich das Volk gegen die Herrschenden erhebt, so waren sie nunmehr eine sprudelnde Quelle neuer Erkenntnisse, die in den vergangenen dreizehn Jahren noch immer nicht erschöpfend aufgearbeitet werden konnten. In einer früheren Analyse entschied sich der Autor 1991 aufgrund der wesensbestimmenden Kraft der Industriearbeiterschaft in den Juni-Unruhen und auf der Grundlage der bis dahin zugänglichen Quellen für den Begriff Arbeitererhebung62. Die Definition als »Aufstand« schien mir aus damaliger 60 61 62

Brant, Der Aufstand, S. 303 ff. Baring, Der 17. Juni 1953, S. 89. Siehe hierzu Diedrich, Der 17. Juni.

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Sicht das Wesentliche der Ereignisse nicht zu treffen. »Betrachtet man die einzelnen historischen Epochen mit ihren namhaften Aufständen, so haben diese zumeist eines gemein: Es gab immer eine Kraft, seien es einzelne Personen, Personengruppen oder politische Gruppierungen, die sich an die Spitze der Aufständischen stellten, Aktionen lenkten und häufig sogar vorbereiteten. Bei den Ereignissen im Juni 1953 in der DDR fehlte diese führende Kraft [...] Die Radosigkeit und immanente Spontaneität rührte in hohem Maße daher, daß die Demonstrierenden gar nicht wußten, was zu tun war, um ihren Wunsch nach Veränderungen in der DDR umzusetzen. Sie waren nicht bereit und in der Lage, die Macht zu übernehmen. Allein in Bitterfeld und Görlitz gab es ein Konzept des Handelns, und nur in Görlitz folgten den Anfangserfolgen der Demonstrierenden politische Schritte zur Veränderung, ja zur Machtübernahme. [...] Anders als in Aufständen und Revolutionen zuvor, anders auch als in Ungarn, Polen und der CSSR danach, gab es vor dem 17. Juni keine geistige Auseinandersetzung über die Politik der herrschenden Partei. Demzufolge wurden auch die politischen Kräfte, die Blockparteien, oppositionellen Gruppierungen bzw. die Kirche von den Ereignissen vollkommen überrascht und blieben am 17. Juni untätig [...] Bei aller Berechtigung der genannten Fakten muß jedoch festgestellt werden, daß die Arbeitererhebung in der DDR letzten Endes durch die Anwendung militärischer Gewalt unterdrückt worden ist. [...] Der Arbeitererhebung 1953 in der DDR fehlte im Gegensatz zur 89er Bewegung die Zeit, sich als zielgerichtete, geführte Bewegung zu konstituieren63.« Das Zitierte verdeutlichte schon damals den Unterschied zur Auffassung Barings, daß die Erhebung größtenteils aus sich heraus erstarb. Man muß Baring jedoch zugute halten, daß seine Quellenbasis weit geringer war, als die, die mir 1990/91 zur Verfügung stand. Das von Baring überbewertete Phänomen des selbständigen Versandens vieler Proteste war allerdings trotzdem markant. In meinem Erklärungsversuch von 1991 ist allerdings die Definition sehr stark auf die treibende Kraft der Protestbewegung - die Arbeiterschaft — zugeschnitten. Die Beteiligung anderer sozialer Schichten wurde von mir durchaus wahrgenommen, jedoch nicht als prägend verstanden. Spätere spezielle Untersuchungen zu den einzelnen Bevölkerungsgruppen, besonders regionalgeschichtliche Analysen, haben die soziale Vielfalt der Teilnehmenden und die politische Determiniertheit der Unruhen eingehender belegt, so daß zwar »Arbeitererhebung« den Kern der Bewegung verdeutlicht, nicht jedoch deren Breite. Weitere Publikationen folgten, so Manfred Hagens »DDR — Juni '53«. Er kam zu dem Ergebnis: »Das Wort Aufstand als umfassender Begriff würde einen sehr großen Teil der Ereignisse nicht einschließen können, obwohl diese in Spitzen Aufstandscharakter annahmen; zielstrebige Gewaltaktionen 63

Ebd., S. 156 f.

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und bewaffnete Gegenwehr gingen nur von einem kleinen Teil der Demonstranten aus. [...] Wollen wir nicht einen Kunstbegriff prägen, so läßt sich der Kern des Geschehens und das Handeln der großen Mehrzahl am besten bezeichnen als Volkserhebung — als erste Erhebung dieser Art gegen ein stalinistisches Regime64.« Der Gewerkschaftshistoriker Gerhard Beier sprach in seiner Analyse des Verhaltens der Gewerkschafder mit dem Losungstitel: »Wir wollen freie Menschen sein!« von einer verstümmelten Revolution, einem »Arbeiteraufstand vom Typus der proletarischen Revolution [...] Das abschließende Urteil bleibt ungewiß, denn der 17. Juni war eine gewaltsam verstümmelte Revolution. Sie wurde zerschlagen, bevor der revolutionäre Prozeß sich entfalten konnte65.« In mehreren Publikationen beschäftigten sich die Historiker Armin Mitter und Stefan Wolle mit dem Thema. Eines ihrer Fazits lautet: »War der 17. Juni ein Arbeiteraufstand oder war es ein Volksaufstand? Protestierte die Bevölkerung auf den Straßen und Plätzen der Deutschen Demokratischen Republik gegen die Verschlechterung der Lebenslage oder für die Abschaffung des kommunistischen Regimes? Der nach der Verkündung des Kommuniques vom 9. Juni 1953 von Tag zu Tag offenkundiger werdende Autoritätsverlust der herrschenden Partei und die seit diesem Zeitpunkt in allen Schichten der Bevölkerung gestellte Forderung nach Abschaffung des SEDRegimes zeigten, daß es sich um eine revolutionäre Erhebving handelte. Auch die Eigentumsverhältnisse sollten sich prinzipiell ändern. Immer offener wurde nach dem 9. Juni die Reprivatisierung der kleinen und mittleren Betriebe gefordert, und auch die LPG begannen sich aufzulösen. Nur durch den Einsatz militärischer Mittel konnte die revolutionäre Umwälzung gestoppt werden, die zwangsläufig in die Wiedervereinigung gemündet hätte66.« In ihrer 1999 erschienenen Publikation über den 17. Juni in Sachsen ist Heidi Roth in Kenntnis der Kontroverse in der Bewertung recht vorsichtig: »Alle Forderungen, die am 17. Juni 1953 öffentlich erhoben wurden, sich aber schon vorher in betrieblichen Protestaktionen herauskristallisiert hatten, wurden aus der Situation heraus und spontan artikuliert und von anderen Betrieben übernommen. Eine revolutionäre Programmatik gibt es nicht. Dazu fehlte die Zeit und eine politische Kraft, die in der Lage gewesen wäre, die Energien zu bündeln und in vorgezeigte Bahnen zu lenken. Bevor die Akteure über die Perspektiven ihres raschen Erfolges nachdenken konnten, war mit der Niederschlagung des Aufstandes die Chance zu politischen Veränderungen auch schon wieder vorüber67.« 64 65 66 67

Hagen, D D R - J u n i ' 5 3 , S. 206. Beier, Wir wollen freie Menschen sein, S. 22. Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 160. Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 609 f.

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Die verschiedenen Interpretationen ergeben sich aus der Gesamtschau der oft gar nicht so differenten Wertung von Ursachen, Verlauf, Teilnehmern, Forderungen und Zielen der Protestbewegung im Juni 1953 sowie unterschiedlicher Charakterisierung des Aufstands- und Revolutionsbegriffs. Besonders letztere Begriffsbilder sind in der Historiographie bis heute umstritten. Das Problem der Einordnung des 17. Juni hat die deutsche zeitgeschichtliche Historiographie in der letzten Zeit stark bewegt68. Das Ergebnis der Kontroverse ist bis heute offen und wird es vermutlich bleiben, sie ist jedoch konstruktiv und setzt neue Forschungsimpulse. Einem fast entmachteten Ulbricht konnte nichts Besseres widerfahren, als jene Unruhen im Sommer 1953. Der stürzende Stalinist erfuhr von Moskaus Gnaden letztendlich seine politische Wiedergeburt. Die sowjetische Führung, die wie in Ungarn auf politische Veränderungen auch in der Führungsspitze gedrängt hatte, brauchte nach den durch sowjetische Truppen in der DDR erstickten Unruhen einen starken Satrapen - den treuen kommunistischen Gefolgsmann Walter Ulbricht69 — um ihr »ungeliebtes«, aber strategisch doch so wichtiges »Kind« im Herzen Europas zu retten. Der 17. Juni 1953 war damit kein Endpunkt einer historischen Epoche, er hat in der DDR zwar vieles verändert, nicht jedoch das politische System. Dazu bedurfte es der friedlichen Revolution von 1989. In der Geschichtswissenschaft divergieren die Interpretationen der Revolutionstheorie. Die moderne politologische/sozialwissenschafitliche Definition faßt unter Revolution eine »tiefgreifende Veränderung der gesamten politischen und sozialen Strukturen und unter Umständen auch des kulturellen Normensystems einer Gesellschaft. Sowohl hinsichtlich der Geschwindigkeit als auch des Ausmaßes der Veränderung besteht keine Einigkeit über die genaue Abgrenzung der R. von anderen Formen des gesellschaftlichen Wandels. Zu unterscheiden ist R. im heutigen Verständnis allerdings von Prozessen, die lediglich den Bruch mit einer bestehenden Verfassung bedeuten oder nur zur personellen Auswechslung politischer und gesellschaftlicher Machtpositionen fuhren, wie etwa Staatsstreiche oder Putsche. Gewaltsamkeit großen Ausmaßes, obwohl mit den meisten und bekanntesten historischen Formen von R. verbunden, bildet hingegen kein konstitutives Merkmal des Begriffs. In der Regel unterscheidet man R. nach ihren Trägergruppen und/oder nach ihrer politisch-gesellschaftlichen Zielsetzung70.« Der Begriffsinhalt »Revolution« hat sich im 20. Jahrhundert bereits stark von seiner politisch-sozialen Komponente gelöst, wir finden die Begriffe 68

69 7n

Vgl. hierzu Diedrich, Putsch - Volksaufstand, S. 3 - 1 1 ; ders. Zwischen Arbeitererhebung, S. 288-305; Kowalczuk, Die Ereignisse von 1953, S. 181-186; Wentker, Arbeiteraufstand, Revolution?, S. 385-397. Vgl. Weber, Arbeiter versus »Sozialismus«, S. 158 f. Wörterbuch Staat und Politik, S. 659 f.

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industrielle und wissenschaftlich-technische Revolution oder Revolution im Militärwesen im allgemeinen Sprachgebrauch, die grundlegende Umwälzungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen meinen. Definiert man Revolution allein von der Erreichung ihres Zieles her, würden viele, ja die meisten Revolutionen durch das Raster fallen — beispielsweise die französische des Jahres 1789, die bürgerliche deutsche 1848/49, aber auch die Novemberrevolution in Deutschland am Kriegsende 1918. Fixiert man die Charakterisierung auf die Frage nach dem Erreichen einschneidender gesellschaftlicher Veränderungen, wären die französische und die Novemberrevolutionen tatsächliche — die 48er des 19. Jahrhunderts und der 17. Juni 1953 allerdings nicht. Doch kaum ein historisches Ereignis gleicht dem anderen. Die Erklärungskraft der Revolutionstheorie ist deshalb gering, weil Ursachen, Anlässe, Auswirkungen, Beteiligte, Verläufe, Rahmenbedingungen und Ergebnisse über die Jahrhunderte kaum komparabel sind. Die Massenbewegungen haben ihren Platz im gesellschaftlichen Umfeld, in der jeweiligen Sozialisation der Beteiligten, im historischen Selbstverständnis der Träger und in der jeweiligen Vorgeschichte der Revolution. Hintergründe sind auch in mentalen, ethnischen, ethischen, ideologischen und Glaubens fragen zu untersuchen. So ist es beispielsweise schon äußerst schwierig, Verallgemeinerungen in bezug auf Ideologie und Trägerschaft aus den Revolutionen in Frankreich 1789, Rußland 1917 und im Iran 1979 abzuleiten. Im einzelnen ist zu analysieren, welche Struktur- und Prozeßbedingungen die Erfolgsaussichten revolutionärer Bewegungen bei der Anhängergewinnung, Koalitionsbildung, Machteroberung und -konsolidierung beeinflussen. Die Erfolgsaussichten einer Revolution hängen vom inneren Zustand des Herrschaftssystems, aber auch von äußeren Rahmenbedingungen ab. Ökonomisch-politische Schwächen oder Legitimationsdefizite der vorhandenen Staatsordnung eröffnen revolutionären Eliten größere Möglichkeiten, eine Massenbasis für den Willen zur Veränderung zu schaffen und den Abfall wichtiger Eliten, im Idealfall auch des Militärs vom Regime zu erreichen71. Revolutionäre Spontaneität spielt eine gewichtige Rolle, führt jedoch nur dann zum Erfolg, wenn sie von revolutionären Eliten richtig instrumentalisiert wird. Revolutionäre profitieren von sozialer Unzufriedenheit, wenn sie diese politisieren, der Massenbewegung Ziele und Inhalte vermitteln. Dazu ist ein geistiger Klärungsprozeß im Vorfeld der revolutionären Bewegung notwendig, d.h. es muß sich eine revolutionäre Elite überhaupt bilden. Es gilt folglich nach den wesensbestimmenden Merkmalen von Erhebungen zu suchen und aus ihnen den Charakter einer Massenbewegung zu definieren. Die Einordnung des 17. Juni in den Kontext historischer Revolutionen ist besonders schwierig, weil ihm nicht nur wesentliche vergleichbare Merk71

Vgl. Kramwiedel/Thibaut, Revolution/Revolutionstheorie, S. 662.

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male fehlen, sondern weil der Aufstand so friih2eitig militärisch niedergeschlagen wurde, sich der nachweislich beginnende revolutionäre Prozeß nicht entfalten konnte. Die Analyse muß also mit der Frage beginnen, ob die Mehrheit der DDR-Bevölkerung tatsächlich versuchte, eine tiefgreifende Veränderung der gesamten politischen und sozialen Strukturen und des Normensystems der DDR — wie es für eine Revolution charakteristisch wäre - zu erzwingen? Beide Protestbewegungen, urteilt Hermann Wentker in seinem Vergleich der Protestbewegungen 1953 und 1989, waren »nicht auf die Übernahme der Macht im Staate, etwa wie 1917 die Bolschewiki unter Lenin, fixiert«72. Sie konnten es nicht, denn das Hauptmerkmal beider Bewegungen war ihre Spontaneität. Es fehlten im Vorfeld der geistige Klärungsprozeß, in dem sich Opposition formt, ihre politischen Ziele, aber auch ihre Strukturen und ihre Führung entwickelt. Die Massenbewegung im Juni 1953 resultierte aus der augenblicklichen Solidarisierung mit dem Bauarbeiterprotest des Vortages in Berlin. Nach Formen der Führung suchend, griffen die Arbeiter auf ihre langjährige Tradition zurück und bildeten aus der Situation heraus ihre Streikleitungen. Diesen fehlten jedoch sowohl Strukturen als auch Konzept, um den sich ausweitenden Massenprotest aus den Betrieben heraus auf die Straße zu begleiten. Die Bewegung überregional anzuleiten, gelang nur in den wenigsten Fällen. Dort wo diese hohe Organisationsform erreicht werden konnte, in Halle, Bitterfeld und Görlitz, ging es aber nicht automatisch um einen Staatsstreich. Obgleich politische Proteste keinesfalls immer friedlich verlaufen, war das immanent Friedfertige der politischen Proteste trotz vieler Gewaltaktionen der 1953er Volksbewegung ebenso eigen wie der 1989er. Die Bitterfelder Streikleitung drängte auf friedliches Protestieren und unterband Gewaltaktionen, in Dresden gab der Streikführer Wilhelm Grothaus den Protesten den Leitgedanken: »Wir wollen als deutsche Arbeiter diszipliniert streiken73«. In Ermangelung eines Konzeptes zum Sturz der SEDHerrschaft sollte der politische Wandel überwiegend durch friedlichen Protest erzwungen werden. Der Massenprotest 1953 mündete aber auch in Gewalt. Dies geschah vor allem da, wo die Autorität einer Streikfuhrung verloren gegangen war und gewaltbereite Protestierende das Handeln diktierten. Nicht selten waren Angehörige des Mittelstandes in dieser Phase führend. Der angestaute politische Frust endud sich gegen Symbole der SED-Herrschaft sowie gegen Gebäude und Funktionäre der Staatsmacht. DDR-weit wurden nach VPZählung 140 Gebäude besetzt, noch weit mehr erfolglos bestürmt74.

72 73 74

Wentker, Arbeiteraufstand, Revolution?, S. 392. Zit. nach Roth, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, S. 198. Vgl. BArch, Bestand Mdl, 11/45, Bl. 12, Zusammenfassender Bericht der HVDVP über Streiks und Vorkommnisse in der DDR.

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Die Aktionen richteten sich damit eindeutig gegen das SED-Regime und die dieses repräsentierenden Institutionen. Berechtigt das jedoch da2u, von einem Aufstand zu sprechen? Definitorisch wird mit dem Begriff Aufstand zumeist die zielgerichtete Anwendung von Gewalt, häufig sogar bewaffneter Gewalt verbunden. Auch Aufstand impliziert ein politisches Ziel und eine Führung, wenn nicht sogar ein geplantes Vorgehen. Die Betrachtung der Aktionen zeichnet ein anderes Bild — das zumeist einer hilflosen Unzufriedenheit und Empörung. In den meisten Fällen erfolgten die Gebäudebesetzungen völlig planlos aus der Situation heraus. Selten verbarg sich dahinter der Wille, die Funktionsfähigkeit des Staatsapparates lahm zu legen. Die Demonstranten belagerten nur wenige Rundfunkanstalten, Zeitungsredaktionen oder Telegrafenämter. Eine Nutzung der Medien für die eigenen Ziele lag nut an wenigen Orten im Kalkül. Die Besetzung von Bahnhöfen, Verkehrsknotenpunkten oder Energieerzeugem erfolgte gar nicht. Dazu hätte es einer strategischen Planung bedurft. Folglich ist Zerstörungswut das Merkmal des Protestes in den erstürmten Gebäuden, nicht der Versuch, Nachrichten über das Handeln der Staatsorgane zu erlangen, die errungenen Bastionen zu befestigen oder gegen die Räumung zu verteidigen. Aktionen zur Unterbindung der Kommunikation zwischen den Staatsorganen gab es nur in Görlitz und Potsdam. Selbst der für viele Revolutionen so typische Bau von Barrikaden ist am 17. Juni 1953 in Ansätzen nur in Jena und Berlin nachweisbar. Ähnlich verhielt es sich mit der Anwendung von Waffengewalt. Im Laufe der Unruhen erbeuteten die Demonstranten in einer ganzen Reihe von Orten Schußwaffen der Staatsorgane. Diese Gewehre, Maschinenpistolen und Pistolen wurden überwiegend zerstört, nicht selten sogar an die Einsatzkräfte zurückgegeben. Nur in zwei Fällen richteten Protestierende die Waffen gegen die Staatsmacht, hier jedoch nicht organisiert und nur aus der Situation heraus. Ein Sturm auf die Bastionen der Staatsmacht, und sei er nur unternommen, um die Volksbewaffnung zu erzwingen, fand nicht statt. Anders als in Aufständen und Revolutionen zuvor, anders auch als in Ungarn, Polen und der CSSR danach, gab es vor dem 17. Juni keine geistige Auseinandersetzung mit der Politik der herrschenden Partei, in der sich eine Opposition herausbilden konnte. Demzufolge wurden auch die politischen Kräfte - die Blockparteien, oppositionelle Gruppierungen bzw. die Kirche — von den Ereignissen vollkommen überrascht und blieben am 17. Juni untätig. War es 1989 die Kirche, die der sich entwickelnden Oppositionsbewegung Rückhalt bot, so ist 1953 nichts dergleichen feststellbar. Bei den Ereignissen im Juni 1953 in der DDR fehlte die führende Kraft. Die Ratlosigkeit der meisten Aktionen rührte daher, daß die Demonstrierenden gar nicht wußten, wie sie ihren Wunsch nach Veränderung in der DDR umsetzen sollten. Sie waren allzuoft weder bereit noch in der Lage, die Macht zu übernehmen. Allein in Bitterfeld und Görlitz folgten den Anfangserfolgen

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Schritte zur Machtübernahme. Diese Maßstäbe gesetzt, mag man wohl weniger von einem Aufstand, sondern eher von einer Erhebung sprechen. Bei aller Berechtigung der hier angestellten Überlegungen muß jedoch darauf verwiesen werden, daß die Volkserhebung in der DDR letzten Endes durch die Anwendung militärischer Gewalt unterdrückt worden ist. Dem Volksaufstand 1953 in der DDR fehlte im Gegensatz zur 89er Bewegung die Zeit, sich innerhalb der Protestaktionen als zielgerichtete, geführte Bewegung zu konstituieren. Die Bildung von überbetrieblichen Streikleitungen, SPD-Komitees und SPD-Ortsgruppen waren Ansätze dazu, die es in einigen größeren Städten gab. Den Reifegrad eines politischen Aufstandes erreichten nur die Regionen Bitterfeld und Görlitz. Die Intensität der Streik- und Protestbewegung am 18. Juni verdeutlicht außerdem, daß die revolutionäre Bewegung der Arbeiter zwar abflaute, aber durchaus noch in beträchtlicher Größe vorhanden war. Zudem ist eine Zunahme der Aktivitäten der Mittelschichten, der Handwerker, kleiner Unternehmer und der Großbauern zu beobachten und dies trotz bereits geltendem Ausnahmerecht. All diese Bestrebungen wurden mit allen Machtmitteln des Staates unterdrückt und konnten so objektiv nicht die Mächtigkeit des Vortages entfalten. Der Staatsapparat, durch das sowjetische Eingreifen aus der Lähmung gerissen, hatte seine Handlungsfähigkeit wiedergefunden. Die Protestierenden sahen sich nun einer bewaffneten Macht gegenüber, die zur Erhaltung des SED-Regimes bald rigoros durchgriff und der nur mit einem bewaffneten Aufstand Paroli geboten werden konnte. Dieser jedoch wäre durch die UdSSR, die als Besatzungsmacht fungierte und damit letztlich die maßgebende Gewalt in der DDR ausübte, mit militärischer Gewalt niedergeschlagen worden, das hat der militärische Einsatz schon gegen die überwiegend friedfertigen Proteste bewiesen. Damit waren für einen bewaffneten Aufstand oder eine Revolution auch die äußeren Rahmenbedingungen nicht gegeben. Wenn auch die Unruhen im Sommer 1953 im Juli noch einmal aufflammten75 - es ist richtig und wichtig, die Analyse nicht nur auf den Aufstand, sondern intensiv auf sein Vorfeld und die Zeit danach zu richten76 — so blieb die Protestaktion doch auf einen begrenzten Zeitraum zusammengedrängt. Das rigorose Vorgehen gegen Streikleitungen und Aktivisten der Volkserhebung unterband die Herausbildung einer oppositionellen Bewegung nach den Juni-Ereignissen. Die wenigen Köpfe des Massenprotestes, die sich spontan aus den unterschiedlichsten politischen Motiven an die Spitze gestellt hatten, mußten untertauchen oder landeten in den Fängen von MfS und DDR-Justiz. Die Protestbewegung des 17. Juni war eine große Volksbewegung gegen das DDR-Regime. Wegen des plötzlichen Ausbruchs und des Fehlens einer 75 7(5

Vgl. Mitter, Die Ereignisse, S. 31-41. Siehe hierzu die Analysen in: Der Tag X.

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führenden Opposition zielte sie aber zumeist nicht auf die Übernahme der Macht in der DDR. Es gelang nicht, entscheidende gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen. Folgt man hierbei Charles Maier, stände der 17. Juni 1953 in der Reihe typischer »deutscher Revolutionen« wie 1848 und 1918, die von der Unfähigkeit der Revolutionäre geprägt waren, gezielt die Macht zu übernehmen77. Liegt damit folglich ein Revolutionsversuch oder gar eine »gescheiterte Revolution« vor? Aus Sicht des Autors muß diese Frage mit einem Nein beantwortet werden. Dem Gebrauch des Revolutionsbegriffes steht das Fehlen mehrerer Revolutionskomponenten entgegen. Es fehlte die tragfähige revolutionäre Idee, es fehlte die revolutionäre Führung, es fehlte die zielgerichtete Gewalt und am Gewichtigsten: die Unruhen erzwangen keinerlei grundlegende gesellschaftliche Veränderungen. Ob man Gewalt nun je nach Definition zu einem konstitutionellen Bestandteil einer Revolution rechnen mag oder nicht, eine friedliche Weiterentwicklung der Protestbewegung hätte durchaus ähnliche Folgen wie 1989 haben können. Hier unterscheiden sich die Rahmenbedingungen 1953 und 1989 grundlegend78. Zu einem ähnlichen Schluß kommen auch Kleßmann und Stöver: »Insofern ist die These von der gescheiterten Revolution< eher skeptisch zu werten, weil die Aufstandsbewegung zu diffus war und angesichts fehlender Vorbereitungen auch sein mußte, als daß dieses Etikett ohne weiteres zutreffen würde79.« Eine eindeutige, gezielt auf den Umsturz der Gesellschaft gerichtete Bewegung benötigt Führungskräfte, die eine Programmatik und ein Konzept des Handelns entwickeln. Sie sind 1956 in Polen und Ungarn oder 1968 beim Prager Frühling in der CSSR ebenso nachweisbar wie letztlich 1989 in der DDR mit der von der Kirche unterstützten Oppositionsbewegung. Sie fehlen beim plötzlichen Ausbruch des Volksfrustes im Juni 1953. Innerhalb der Entwicklung der Protestbewegung wurden politische und soziale Wünsche verallgemeinert. Hier kristallisierten sich das Bedürfnis nach Demokratie, nach freien Wahlen, nach Absetzung der Regierung und nach Wiedervereinigung heraus. Konkrete Vorstellungen zur Umsetzung konnten sich nicht entwickeln. Dazu fehlten die geistigen Köpfe der Bewegung, ihre Führer. Auch dies kann sich in einer spontan begonnenen Revolution entwickeln, dazu kam es aber nicht. Sowjetische Truppen haben die weitere Entfaltung der spontanen Protestbewegung zu einem großflächigen Aufstand oder gar zu einer Revolution verhindert. Die Volkserhebung hatte keine Zeit, sich zu entwickeln und letztlich ließen die äußeren Umstände eine solche Revolution auch nicht zu. Damit blieb der Volksbewegung vom Juni 1953 das eigentliche Ziel versagt — die Veränderung der politischen Verhält77 78 79

Vgl. Maier, Das Verschwinden der DDR, S. 195 f. Vgl. hierzu Wentker, Arbeiteraufstand, Revolution?, S. 396 f. Kleßmann/Stöver, Das Krisenjahr 1953, S. 25.

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nisse in der DDR. So wird man letztlich Hermann Wentker zustimmen können, der aus seinem Vergleich zwischen 1953 und 1989 schlußfolgert: »Wenn man vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen der Erhebung von 1953 gerecht werden will, ist demgegenüber [dem Revolutionsbegriff - d. Autor] eine weniger griffige Bezeichnung angebracht: Es war ein im Kern von Arbeitern getragener Volksaufstand mit revolutionären Zügen80.« Der nicht nur meines Erachtens fruchtbringende wissenschaftliche Diskurs um die Deutung des 17. Juni sollte jedoch keinesfalls abgebrochen, sondern mit neuen Forschungsergebnissen vertiefend weitergeführt werden. Die Macht und Ohnmacht des Militärs »Tapfer und treu haben die Sicherheitsorgane unserer Republik, darunter auch die Deutsche Grenzpolizei, die ihnen übertragenen Aufgaben in Ehren erfüllt. Sie haben mit aller Entschiedenheit die Putschisten in die Schranken gewiesen und dafür gesorgt, daß die Rädelsführer, der verbrecherische Abschaum der westlichen Agentenzentralen, heute hinter Schloß und Riegel sitzen und ihrer Bestrafung entgegensehen. Der von langer Hand von ausländischen Agenten vorbereitete >Tag Xrf : Wusterwitz Lud

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