Das Volk der Pharaonen

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Ca44yu6C' DAS VOLK DER PHARA OMEN

DIANA

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LEO N A R D CO TTRELL

DAS VOLK D E R PHARAONEN

Einleitung von Universitäts-Dozent Dr. Hellmut Brunner Mit 7/ Illustrationeny davon / / Kunstdrucktafeln und 8 vierfarbige Tafeln

DIANA VERLAG K ON STA NZ • STUTTGART

Titel der englischen Originalausgabe: LIFE U N D E R THE P HARAOHS Deutsch von Micaela Mohr-Wille

Alle Rechte Vorbehalten, auch das der Übersetzung und jeder Reproduktion Copyright 1956 by Diana Verlag Zürich

SIR ALAN G A R D IN E R in Freundschaft und Verehrung gewidmet

INHALTS VERZEIC H N IS

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Vorwort ............................................................................................. Einleitung von Univ.-Dozent Dr. H. B runner................................ Erstes K ap itel.................................................................................. Das Volk, sein Land und seine Götter Zweites Kapitel.................................................................................. Rechmir^s Heimkehr Drittes Kapitel..................................................................................... Häuser und Einrichtung Viertes Kapitel..................................................................................... Der Wesir gibt eine Gesellschaft Fünftes Kapitel..................................................................................... Die ägyptische Frau Sechstes K a p ite l.............................................................................. Freunde und Liebende Siebentes Kapitel............................................................................... Die Armee des Pharao Achtes Kapitel.................................................................................. Per-hor geht zur Schule Neuntes K a p itel............................................................................... Die Kunst des Schreibens Zehntes Kapitel .............................................................................. Bauern und Handwerker Elftes K a p ite l.................................................................................. Zauberei und Medizin Zwölftes K apitel.............................................................................. Das Volk des Pharao Dreizehntes Kapitel........................................................................... Das Haus der Ewigkeit Anhang............................................................................................. Wirklichkeit oder Phantasie ? Verzeichnis der Dynastien Altägyptens............................................... Literaturnachweis...............................................................................

11 i6 77 97 115 132 157 172 184 203 220 242 269 281 302 319 326 326

VERZEICHNIS DER KUNSTDRUCKTAFELN

Tafel

I II III IV V VI VII VIII IX X XI XII XIII XIV XV XVI XVII XVIII XIX XX XXI XXII XXIII XXIV XXV XXVI XXVII XXVIII XXIX XXX

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Tribut syrischer Städte. - Hauskatze.............................. 24 Schreibtafel eines Schülers............................................. 25 Königin Nofretiri im G e b e t .......................................... 32 Königs-Sandalen. - Spiel der Schakale. - Spiegel . . . . 33 Damen bei einem G astm ahl......................................... 40 Pharao Thutmosis I. und Ramses II.................................. 48 Blinder Harfner. - Baumeister Imhotep. - Göttin Isis . . 49 Göttin Isis führt Nofretiri ins Totenreich...................... 56 Pharao Amenophis II. auf den Knien seiner Amme . . . 64 Falkenkopf mit Federkrone. - Schreibgerät. Handwerksgeräte.......................................................... 65 Ein Nilgott bringt Speisen............................................. 72 Lieblingshündin des Herrn............................................. 73 Ein Ehepaar opfert.......................................................... 80 Schiff trägt Sarg mit Mumie nach Abydos....................... 81 Göttin Isis führt König Ramses III. ins Totenreich . . . 88 Sänfte der Mutter Cheops. - Schiffsmodell. - Brettspiel . . 96 Tonmodell eines Seelenhauses......................................... 97 Rechmire sitzt mit seiner Mutter vor einem Speisetisch . 104 Rechmires Grab wird ausgerüstet......................................112 Diener tragen gefüllte Krüge ins Magazin......................113 Sklaven beim Ziegelstreichen..............................................120 Zwei Nubier führen eine Giraffe als T ribut.................. 121 Garten einer Villa mit Teichbecken....................................128 Thron von Cheops Mutter. - Hocker. Kragen mit Fayenceperlen............................................... 129 Kopfstützen zum Schlafen. - Spielbälle.............................. 136 Jagdhunde. - Gartenbewässerung mit Ziehbrunnen . . . 137 Zwei Mädchen tanzen zut Unterhaltung der Gäste . . . 144 Diener bringen Tischchen mit Früchten und Vögel . . . 145 Musikantinnen und Tänzerinnen.......................................... 152 Ein Diener bringt Gaben für das Totenmahl.......................160

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XXXI XXXII XXXIII XXXIV XXXV XXXVI XXXVII XXXVIII XXXIX XL XLI XLII XLIII XLIV XLV XLVI XLVII XLVIII IL L LI LII LIII LIV LV LVI LVII LVIII UX

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Geräte werden ins Grab getragen............................... i6i Der Grabherr sitzt unter einem Feigenbaum................i68 Schaufelförmige Laute. - Salbebehälter........................ 169 Zwei Mädchen spielen und tanzen............................... 176 Vogeljagd mit Wurfholz und Fischestechen................177 Der Herr jagt wilde Vögel im Papyrusdickicht............184 König Tutanchamun sprengt gegen syrische Feinde. . . Eine Gruppe nubischer Soldaten................................... 195 Kreter bringen Gefäße von K reta...............................200 Nubier mit mützenartiger Frisur bringen Tribute. . . . Steinbrucharbeit. - Soldaten mit Schild und Lanzen . . . Papyrustext in hieratischer Schrift. - Schreinerwerkzeuge . Dienerinnen schmücken einen Gast...............................216 Opfer des Königs vor Gott.......................................... 217 Dienerin mahlt Mehl. - Salbschale. Streichen von Lehmziegeln....................................... 224 Holzfigürchen. - Fayencefigur einer T änzerin............ 225 Nubische Fürstin besucht den Königshof................... 232 Thebanische W erkstatt.............................................. 233 Aus einer Prozession.................................................. 240 Vornehme Dame bringt Gänse als O p fer....................241 Hohepriester Userhet bringt ein Brandopfer dar. . . . Zwei Mumien vor der Beisetzung............................... 249 Darstellung der Weinlese.............................................. 256 Fischer verarbeiten ihren F ischfan g...........................237 Der Grabherr schaut Feldarbeiten z u ...........................264 Nacht betrachtet Erntearbeiten von seiner Laubeaus . . Arbeiter schneiden das K o r n .......................................273 Tutanchamun auf der Löwenjagd............................... 280 Nacht und seine Familie auf der Jagd........................... 304

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VORWORT

Vor einigen Jahren schrieb ich ein Buch «Das Geheimnis der Königsgräber»; es begann mit den Worten: «Dieses Buch schrieb ein Amateur für Amateure» und stellte einen Versuch dar, dem Studium Altägyptens eine korrekte, aber einfach gehaltene und lesbare Einführung zu geben. Das vor­ liegende Werk, das eine Art Fortsetzung des ersten bildet, gehört in eine ähnliche Kategorie, obwohl seine Zielsetzung eine andere ist. «Das Geheimnis der Königsgräber» beginnt mit einem Umriß der ägyptischen Geschichte, von den vor­ dynastischen Zeiten (d. h. vor 3500 v. Chr.) bis zur Ankunft der Römer, und geht dann dazu über, die Ägyptologie als Wissenschaft zu beschreiben, sowie die Entzifferung der Hieroglyphen und die allmähliche Entfaltung der altägypti­ schen Kultur, wie sie sich durch die fortlaufenden Entdeckun­ gen großer Archäologen, von Mariette bis Montet, offenbart. Nach der Veröffentlichung des Buches waren einige Leser so gütig, mich um ein weiteres Buch zu bitten, das in größerer Ausführlichkeit, als es das vorangehende zuließ, das tägliche Leben der alten Ägypter behandeln würde. Zunächst schob ich diesen Gedanken beiseite, teils, weil es eine ganze Anzahl hervorragender und gelehrter Bücher über dieses sehr spe­ zielle Thema gibt, hauptsächlich aber, weil ich im Begriffe war, ein Buch über Altkreta zu schreiben, und vorüber­ gehend meine Treue zum Pharao auf König Minos über­ tragen hatte. 11

Dann kehrte ich letztes Jahr nach Ägypten zurück. Obwohl ich in Geschäften dort weilte, die mit Ägyptologie wenig zu tun hatten, war es mir vergönnt, einige meiner alten Freunde unter den ägyptischen Archäologen aufzusuchen und die Stät­ ten wieder zu besichtigen, die ich vor sieben Jahren kennen­ gelernt hatte. Und als ich einmal Kairo hinter mir gelassen hatte, als ich den braunen Rücken des Pyramidenplateaus wiedersah, als ich mit meinem Freunde Zakarija Ghoneim neben der Stufenpyramide von Sakkära stand und über das wunderbare grüne Tal hinblickte, da kehrte der alte Zauber wieder; mein neu angefachter Enthusiasmus brannte heller denn je, und ich wußte, daß ich ein zweites Buch über Ägyp­ ten schreiben müsse. Ich ging wieder nach Luxor, wanderte wieder durch das Tal der Königsgräber, unterhielt mich bis tief in die Nacht mit Labib Habachi, dem Oberinspektor der Altertümer von Luxor, und diskutierte mit ihm und anderen Freunden über die neueste Entwicklung ägyptischer Ausgrabungs- und Forschungstätigkeit. Auch dem ägyptischen Museum von Kairo stattete ich wieder einen Besuch ab, und durch das Entgegenkommen von Herrn Dr. Mustapha Amar, dem Direktor des Service des Antiquites, durfte ich Königs­ mumien sehen und photographieren, die noch nicht öffent­ lich ausgestellt sind. Aber dieses Mal beschäftigte ich mich nicht nur mit den Denkmälern der Vergangenheit. Ich durfte kurze Zeit als Gast in ägyptischen Dörfern weilen, wo noch Überreste der altägyptischen Sprache leben; ich durfte Begegnungen und Gespräche mit Fellachen haben, die trotz ihrer arabischen Tünche die direkten Nachkommen der alten Ägypter sind; ich durfte endlich Zeremonien und Gebräuche beobachten, die solchen aus der Pharaonenzeit gleichen. Besonderen Dank 1 2

schulde ich Mr. Youssef el Afifi, dem Direktor des UnescoZentrums von Sirs-el-Lajan, der sein ganzes Leben dem Stu­ dium der Landbevölkerung gewidmet hat, und Herrn Dr. George Sobhy, einem ägyptischen Arzte, der gleichzeitig Ägyptologe und eine Autorität auf dem Gebiete der kopti­ schen Sprache ist und außerdem bemerkenswerte Forschun­ gen über die Reste der alten Sprache und Volkssitten, haupt­ sächlich auf medizinischem Felde, gemacht hat. Und dennoch blieb es ein Problem, welche Form diesem Buche gegeben werden sollte. Über das tägliche Leben der Ägypter haben Berufsägyptologen eine Reihe fachlicher Werke geschrieben, von denen allerdings etUche heute ver­ griffen sind. Ich bin kein Fachmann und würde mir nicht an­ maßen, ein umfassendes Lehrbuch über ägyptisches Leben und Kulturwirken zu schreiben, eine Aufgabe, für welche andere weit geeigneter sind als ich. Jedenfalls muß ich ehrlich gestehen, daß nicht jeder Aspekt dieser alten Zivilisation mich in gleichem Maße interessiert, und Leser, die eine ausgiebig dokumentierte Abhandlung über ägyptische Gesetzgebung, Verwaltung oder militärische Organisation wünschen, wer­ den diese in aller Ausführlichkeit in den fachwissenschaft­ lichen Büchern finden, die ich verwendet habe, und die am Ende des Buches im Literaturnachweis verzeichnet sind. In großen Zügen: das Buch behandelt das tägHche Leben des Pharaonenvolkes, die Häuser, in denen es lebte, seine Be­ kleidung, seine Vergnügungen, und enthält Kapitel über das Leben des Bauern, des Soldaten, des Priesters, des Arztes, des Handwerkers und des Kaufmannes. Doch bei der Wahl mei­ ner Themen ließ ich mich hauptsächlich von meinen Vor­ lieben und meiner Begeisterung leiten, denn nur so konnte ich dem Buche Leben vermitteln. Infolgedessen ist nach Mög­ 1 3

lichkeit jedes Kapitel mit einer Szene oder einem Gegenstand verbunden — dem gemeisselten Kopfe einer Frau, einem Kinderspielzeug, einer gemalten Szene in einem ägyptischen Grabe, einer Dichtung, einer Geschichte oder sogar irgend­ einer modernen Parallele mit dem Leben des alten Volkes, die ich bei den Fellachen beobachtete. Diese persönlichen Erinne­ rungen an Dinge, die mich bewegten oder mir Rätsel aufgaben, wurden die Sprungbretter der verschiedenen Kapitel. Vor vielen Jahren stieß ich in einem Buche von Arthur Weigall, einem Archäologen, der keine einzige langweilige Zeile geschrieben hat, auf eine Stelle, die ich mir erlauben möchte, hier aufzuführen, weil sie meine Art, an das Studium der Vergangenheit heranzutreten, charakterisiert: «Niemand hat ein größeres Recht, ein Volk des Alter­ tums für Staub zu halten, als von seinen eigenen Zeit­ genossen zu denken, sie seien Fleischklumpen. Kein wahrer Archäologe freut sich an den Skeletten als sol­ chen, denn seine ganzen Anstrengungen gehen dahin, ihre Knochen wieder anständig mit Fleisch und Haut zu überziehen, und ihre leeren Schädel mit einigen Gedan­ ken auszufüllen. Auch bereiten ihm die zerstörten Bau­ werke keinen Genuß, weil sie zerstörte Bauwerke sind; es tut ihm vielmehr leid, daß sie zerstört sind . . . In Wirklichkeit ist der Archäologe so in das Leben ver­ liebt, daß er alle Toten aus ihren Gräbern auferstehen lassen möchte. Er will es nicht wahr haben, daß die Menschen alter Zeiten Staub seien; er möchte sie her­ vorholen, um das Sonnenlicht, das ihm so kostbar ist, mit ihnen zu teilen. Er ist ein solcher Feind des Todes und des Zerfalles, daß er ihnen ihre Beute streitig machen möchte; und für jedes Leben, das der Feind ge­ 1 4

fordert hat, möchte er — wenn es ihm gelingt — ein ewig fortlebendes Gedenken schaffen.» Leonard CottrelL

I.

Marktszene: Fische und Salben werden verhandelt. Altes Reich.

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EIN LEITU N G von Univ,~Do^ent Dr, Hellmut Brunner

Tagespresse und illustrierte Zeitschriften, die ja heute nicht so sehr die geistigen (oder ungeistigen) Strömungen be­ stimmen als widerspiegeln, bringen in auffallend dichter Folge Berichte über Ägypten, das neue und das alte. Bücher über dieses Thema finden immer ihren Leserkreis, und der nachdenkliche Zeitgenosse muß sich nach den Ursachen die­ ser Erscheinung fragen. Gewiß war es auch vor siebzig oder dreißig Jahren ähnlich, doch lag damals der Grund für diese auffallende Hinwendung zu einem fernen Lande und einer fernen Zeit deutlicher auf der Hand: sensationelle Funde wie der der Königsmumien i88i oder der des unversehrten, gold­ strahlenden Grabes des Tutanchamun 1922 erregten die Neu­ gier weiter Kreise nach diesem seltsamen Volke mit den selt­ samen Grabsitten. Seitdem aber hat sich nichts ereignet, was sich mit solchen Höhepunkten der Archäologie vergleichen ließe. Zwar findet die Spatenforschung an sich jetzt ein sol­ ches Interesse, daß ein „Roman‘‘, dessen „Held‘‘ diese trokkene, nüchterne Wissenschaft ist, ein Bestseller werden konnte, aber die wirklichen Funde der letzten dreißig Jahre bleiben an Bedeutung für die Wissenschaft wie für die Öffent­ lichkeit hinter jenen klassischen Zeiten zurück, auch wenn Zeitungsnachrichten immer wieder von „sensationellen Funden‘" sprechen. Nicht hier dürfen wir die Lösung des Rätsels, das uns das gegenwärtige Interesse am Pharaonenreich auf­ gibt, suchen. Dazu scheint diese Anteilnahme auch, wenn 1 6

nicht die Beobachtungen täuschen, zu tief zu gehen; er­ streckt sie sich doch von aktuell frisierten Tagesnachrichten über populäre Bücher hin bis in die Hörsäle der Volkshoch­ schulen und der Universitäten. Es mag sein, daß die politischen Ereignisse der letzten Jahre am Ufer des Nils eine Rolle spielen, hat doch Ägypten wieder einmal, wie schon unzählige Male in den letzten 5000 Jahren menschlicher Geschichte, die Augen aller Länder auf sich gezogen. Je nach der eigenen Lage betrachten die Völ­ ker mit mehr oder weniger Sympathie, jedenfalls aber mit wachem Interesse das Ringen eines Landes um Selbständig­ keit und eigenes Gepräge, das seit mehr als 2000 Jahren nicht mehr von Männern der Heimat gelenkt worden ist und das im Laufe dieser Zeit nicht nur den Glauben zweimal, sondern auch seine Sprache gewechselt hat — ein Vorgang, der seines­ gleichen in der Geschichte sucht. Von der altägyptischen Reli­ gion, von der unten noch zu sprechen sein wird, ging Ägyp­ ten als erstes Land der Erde ganz zum Christentum über, und nach der Eroberung durch die Araber (640 n. Chr.), die auch die bis dahin noch lebende altäg}^tische Sprache völlig durch ihre eigene verdrängten, wurde der weitaus größte Teil der Einwohner Mohammedaner. Die Reihe der Fremdherrscher hatte schon früher eingesetzt: seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. folgten sich als Herren des Landes, nur bis ins 4. Jahrhundert V. Chr. noch gelegentlich von einheimischen Herrschern ver­ drängt, seitdem aber ohne Unterbrechung: Libyer, Äthiopen, Assyrer, Perser, Griechen und Makedonen, Römer, Byzan­ tiner, Araber, Mamelucken und Türken, Franzosen und Eng­ länder. Die Bevölkerung schien alle Selbständigkeit, alle schöpferischen Kräfte in der Zeit der altägyptischen Hoch­ kultur verbraucht zu haben, und die einheimische Bezeich­ 1 7

nung „Fellah“ wurde in der europäischen Wissenschaft 2u einem Typennamen für die unschöpferisch-dumpfen Nach­ fahren alter Hochkulturen. Und nun versucht dieses Volk der Ägypter, sich wieder einen geachteten und selbständigen Platz auf der Erde zu erringen. Ist es verwunderlich, daß ihm die Aufmerksamkeit der Welt in noch höherem Maße gilt als anderen Völkern, die ebenfalls die Bande der Ko­ lonialherrschaft abwerfen und nun versuchen, die neuen Freiheiten zum Segen imd nicht zum Fluch zu gebrauchen ?

2. Marktszene: Oben werden Wedel und Gemüse, unten Sandalen verhandelt.

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Doch gilt das Interesse der modernen Europäer, von dem wir sprachen, weitaus stärker noch dem alten als dem moder­ nen Ägypten, und daran ist gewiß nicht nur der voreilige Kurzschluß von den heutigen Bewohnern des Landes auf deren 5000 Jahre alte Vorgänger schuld. Auch die Gründe, die im vorigen Jahrhundert vor allem in England zu einer ersten archäologischen Beschäftigung mit Altägypten geführt haben, gelten heute nicht mehr: das Be­ streben, die Wahrheit der Bibel durch einen archäologischen Nachweis des Aufenthaltes Israels in Ägypten zu erweisen. Die Ergebnisse dieser von frommen Kreisen finanzierten wissenschaftlichen Untersuchungen waren negativ: Bis heute haben wir nicht ein einziges Denkmal am Nil gefunden, das die biblischen Geschichten von Josef oder Moses sicher be­ weisen könnte. Freilich kam eine gewisse Bestätigung der alttestamentlichen Berichte dennoch durch die Ägyptologie, wie sie sich aus diesen Anfängen entwickelt hat: Diese Erzäh­ lungen erscheinen auf Grund der gewonnenen historischen Kenntnisse wahrscheinlich, zumindest gut möglich: Immer wieder kamen Bewohner Palästinas, wenn dort Hungersnot herrschte, nach Ägypten, um hier die schlimmsten Zeiten zu überstehen, also gerade wie die Brüder Josefs. Außerdem wissen wir, daß das Pharaonenreich der 19. und 20. Dynastie verschiedentlich Semiten in die höchsten Staatsstellen erhoben hat, so daß die zunächst unwahrscheinliche Laufbahn Josefs nicht alleingestanden hätte. Und schließlich hat sich sehr viel Material gefunden, das die Einzelheiten des biblischen Be­ richtes in allgemeinen Zügen als gut ägyptisch ausweist; die Erzählung von dem Verführungsversuch der Gattin Potiphars hat ihre genaue Parallele in einer ägyptischen Ge­ schichte ; die Namen in diesen Erzählungen sind gut ägyptisch, 1 9

ja auch Moses selbst dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach einen ägyptischen Namen getragen haben, von dem man aus religiösen Gründen die Bezeichnung eines ägyptischen Gottes fortgelassen hat: In Ägypten heißen viele Männer Thutmosis, Ptahmosis, Ramosis, wovon, wenn der für israelitischen Glauben anstößige Gottesname entfernt wird, Mosis übrig­ bleibt. — So hat, auch wenn sich kein bündiger Beweis für die Historizität des Aufenthaltes der Israeliten am Nil gefun­ den hat, dennoch die Erforschung der Niltalkultur die bi­ blischen Berichte in ihren allgemeinen Zügen bestätigt. Aber heute ist das Interesse an der Bibel gewiß nicht mehr ein Motiv für die neuerwachte Liebe zu Ägypten. Nein, die wahren Gründe liegen tiefer. Gelegentlich fühlt man sich geradezu erinnert daran, daß schon in früheren Perioden euro­ päischer Geistesgeschichte alte Zeiten auf ein überwältigen­ des Interesse gestoßen sind, vor allem die römische und dann die griechische Antike, sei es in der karolingischen, in der großen oder in der humanistisch-idealistischen Renaissance. Damals sind durch die Beschäftigung mit versunkenen Kul­ turen gewaltige Kräfte im Abendland mobilisiert worden. Sollten wir vor einem ähnhchen Ereignis stehen ? Die Frage ist wichtig genug, sie ernsthaft anzugehen. War­ um halten weite Kreise der Gegenwart es für wichtig, sich mit dem ägyptischen Altertum zu beschäftigen, ja sich in ech­ tem Sinne mit ihm auseinanderzusetzen ? Dreifach scheint mir die Bedeutung Altägyptens für die Gegenwart zu sein, und aus einem der drei Gründe oder aus mehreren von ihnen resultiert wohl auch das allgemeine In­ teresse, auf das heute jede Nachricht aus jener fernen Welt stößt. Wir wollen diese drei legitimen Ursachen nacheinander betrachten — von den illegitimen, wie der Sensationslust, dem 2

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