Vorurteil - eine Geißel der Menschheit 9783205790723, 9783205785057

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Vorurteil - eine Geißel der Menschheit
 9783205790723, 9783205785057

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P RO F E S S O R F R E D E R I C K M AY E R ist international als Kreativitätsexperte anerkannt. In den USA war er Universitätsprofessor und Sonderberater für das „Center for the Study of Democratic Institutions“ in St. Barbara, Kalifornien. Er ist Autor von über 20 Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Sein Buch „History of Educational Thought“ wurde von vielen Universitäten als Lehrbuch benützt. Es hat die moderne, internationale Pädagogik wesentlich beeinflusst. Frederick Mayer ist Träger des Goldenen Ehrenzeichens der Stadt Wien, Fellow of the Royal Society of Arts in London, Mitglied des Austrian Chapters des Club of Rome, Ehrenmitglied der Nomura Foundation in Japan, war 1988 Ehrenpräsident der internationalen UNIDO-IACT-Konferenz in Wien und hat das Programm für die Zukunft der industriellen Administration geschrieben. Prof. Frederick Mayer ist 2006 verstorben.

Frederick Mayer

Vorurteil – eine Geißel der Menschheit

Böhlau Verlag Wien . Köln . Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.d-nb.de/ abrufbar. ISBN 978-3-205-78505-7 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2010 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien . Köln . Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck: Prime Rate kft., Budapest

Für Dr. Rudolf O. Zucha, einen der kreativsten Psychologen unserer Zeit

Inhalt Vorwort

9 TEIL I

Das Problem „Vorurteil“

19

TEIL II Spielformen des Vorurteils

83

TEIL III Keine Illusionen

161

TEIL IV Wege zur Bewältigung

201

ANHANG Quellenhinweis

237

Literaturauswahl

239

Vorwort Wird der Mensch überleben? Das ist das Kernproblem unserer Zeit. Solange Vorurteil und Hass derart dominieren, solange unüberwindbare Grenzen hinsichtlich der Verständnisbereitschaft und der Kommunikation bestehen, kann die Menschheit nicht allzu optimistisch in die Zukunft schauen. Beim Studium der Erziehungseinrichtungen in vielen Teilen der Welt habe ich erfahren, wie der Fortschritt des Wissens durch mangelndes Verständnis und fehlende Offenheit aufgehalten wird. Aufgeschlossenheit zu wecken, sollte eines der Hauptziele der Erziehung sein. Oft genug bilden unsere Erziehungsinstitutionen leider engstirnige Köpfe heran, denen akademische Würde und Anpassung als höchste Tugenden erscheinen. Die Kluft zwischen Wissen und Weisheit wird ständig größer. Wissen zielt darauf ab, sich zu vervielfachen – zum Weiterkommen braucht man Experten. Weisheit dringt zum Wesen der Dinge vor und verlangt eine ständige Ausweitung der Perspektive und ein endloses Suchen nach Verstehen. Ich habe dieses Buch geschrieben, um einen Beitrag zur internationalen Toleranz zu leisten. Es ist keine akademische Abhandlung über Vorurteile, sondern ein persönliches Zeugnis – gedacht für interessierte Leser, insbesondere für die Jugend. 9

Vorwort

Die Schrecken des 20. Jahrhunderts, hervorgerufen durch die Fluten des Vorurteils, sollten uns bewusst machen, dass wir nicht mehr auf diesem ewig gleichen Weg des Antagonismus weitergehen dürfen. Wie verhängnisvoll sich Vorurteile auswirken können, zeigt ein Bericht aus den USA. Eine junge Frau in Maryland hatte ein Verhältnis mit einem Mann, der alle Schwarzen und Mischlinge gehasst hat. Die Frau hatte zwei kleine Mädchen, eines war ein Mischling – ein Dorn im Auge des Mannes. Um ihren Freund für sich zu gewinnen, hat die junge Frau ihre Wohnung in Brand gesteckt. Dabei sind beide Kinder umgekommen … Das Schicksal hunderter Millionen Menschen in allen Teilen der Welt, die Opfer von Vorurteilen wurden, sollte uns daran erinnern, dass Toleranz kein Luxus ist, sondern eine unerlässliche Grundlage für die Zukunft. Doch Toleranz verlangt eine Fähigkeit zum Miterleben und Mitfühlen. In diesem Zusammenhang stellte Ingmar Bergmann, der große Regisseur, fest, dass immer mehr „Analphabeten des Gefühls“ produziert werden, für die Sensibilität ein Fremdwort darstellt. Eine effektive Aufklärung muss auf allen Gebieten angestrebt werden. In dieser Sicht ist Vergangenheitsbewältigung eine Notwendigkeit. Dabei kann z. B. Information über die Gräueltaten der Nazis und ihrer Verbündeten, wie etwa die Ustascha-Bande 10

Vorwort

in Jugoslawien, nur ein Anfang sein. Die Gefühle müssen angesprochen werden, sodass eine echte Identifikation mit den Opfern möglich wird. Wie wichtig ist in dieser Hinsicht ein Film wie „Schindlers Liste“. Hier erlebt der Zuschauer den Alltag der Nazi-Unterdrückung. Hier erlebt er einen Sadisten, Göth, der seine destruktiven Impulse ausleben konnte, für den Juden Ratten waren, die ausgerottet werden mussten. Dabei kam Göth von einer gutbürgerlichen Familie, die sich als gebildet betrachtete und die Literatur besonders schätzte. Dass die Nazis 1933 kritische Bücher verbrannten, war kein Zufall. Autoren wie Thomas Mann, Heinrich Heine, Erich Maria Remarque wurden von den Nazis als subversiv betrachtet. Nicht Völkerfreundschaft, sondern Chauvinismus sollte betont werden; nicht kritisches Denken, sondern Gehorsam gegenüber dem Führer sollte den Lebensstil bestimmen. Nicht Friede sollte ein Ziel sein, sondern Bereitschaft, alles für das Vaterland zu opfern. Kein Wunder, dass so viele große Künstler und Wissenschafter Deutschland verlassen haben. Wurde nicht das Schöpferische verpönt? Wurde nicht jede pazifistische Meinung als Verrat betrachtet? Viele betonen heute, dass die Vergangenheit nicht mehr relevant ist. Sind nicht genügend Kriegsverbrecher verurteilt worden? Hat man nicht oft den Opfern eine Kompensation bezahlt? Ist die Jugend heute nicht total anders als damals? 11

Vorwort

Die Antwort ist, dass ohne Sensibilität kein echter Fortschritt erreicht werden kann und dass neue Formen der Brutalisierung die Menschheit bedrohen. Dass unter den Nazis so viele Menschen vernichtet wurden, dass alles so systematisch gemacht wurde und dass relativ wenig Opposition bestand – diese Tatsachen können nicht ignoriert werden. Beispielhaft war das Schicksal von Janusz Korczak, der als Jude von den Nazis ermordet wurde. Als Arzt widmete er sich den unteren Schichten der Gesellschaft. Danach galt sein Engagement den Kindern von Polen. Wurden sie nicht so häufig unterdrückt? Wurden ihre Wünsche so oft nicht wahrgenommen? Korczaks Buch „Wie man ein Kind lieben soll“ ist berühmt geworden und wird fast in allen Teilen der Welt gelesen und geschätzt. Als Warschau von den Deutschen belagert wurde, war Korczak Tag und Nacht tätig, um verwundete Kinder ärztlich zu betreuen. Kindern, die ihre Eltern verloren hatten, versuchte er, ihren Lebensmut zu stärken. Da die Versorgungslage in Warschau katastrophal war, bettelte er bei den Behörden, sodass viele Kinder zu essen bekamen. Der deutsche Sieg bedeutete ein teuflisches Ghetto für die Juden. Der Wohnraum war schon am Anfang begrenzt und wurde immer enger. Viele Familien mussten sich ein Zimmer 12

Vorwort

teilen. Ansteckende Krankheiten wirkten sich oft tödlich aus, denn die meisten Bewohner des Ghettos waren unterernährt. Kleine Kinder versuchten über die Ghettomauern zu klettern, um Nahrung für ihre Familie zu bekommen. Sehr oft wurden sie von den deutschen Soldaten niedergeschossen. Viele Soldaten schlossen Wetten ab, wer am meisten Kinder töten konnte. Einige Soldaten nannten das Ganze eine Rattenjagd. Janusz Korczak versammelte so viele Kinder als nur möglich in einem Gemeinschaftshaus. Draußen herrschte eine unbarmherzige Welt, drinnen konnten sie Wärme und Mitgefühl finden. Wenn sie weinten, versuchte er, sie zu trösten. Die Kinder wurden ermutigt Gedichte zu schreiben, auch Theaterstücke wurden aufgeführt. Er betonte, wie wichtig es ist, dass ältere Kinder sich den kleinen Kindern widmen. Können sie dadurch nicht mehr lernen als durch die konventionellen Schulbücher? Im August 1942 wurde das Gemeinschaftshaus aufgelöst; Korczak wusste, was das bedeutete. Mit den Kindern verließ er das Haus; sie marschierten zum Umschlagplatz, als ob es ein Festtag wäre. Die Kinder waren unbesorgt, denn Korczak wollte sie in keiner Weise ängstigen. Selbst einige deutsche Bewacher des Ghettos waren beeindruckt von dem Mut der Kinder und von Korczaks Haltung. Doch Barmherzigkeit gab es nicht für die Juden in Warschau. Ob jung oder alt, ob gebildet oder ungebildet, ob gesund oder von 13

Vorwort

Krankheit geschwächt, ob relativ wohlhabend oder arm –, die meisten wurden vergast oder durch andere Methoden getötet. Es gab einen Aufstand im Ghetto, doch er blieb ohne Erfolg. Nur wenige Juden blieben am Leben. Die Zerstörung des Ghettos wurde als großer deutscher Sieg gefeiert. Korczak und seine Kinder wurden nach Treblinka gebracht, wo sie alle vergast wurden … Herbert Kuhner schreibt in einem unvergesslichen Gedicht: „Wende Dich ab, sagten sie, wende Dich nur einmal ab, und die Zukunft gehört Dir; aber ich konnte mich von den Kindern nicht abwenden und ich konnte nicht vergessen, dass ich eines von ihnen hätte sein können, eines von ihnen bin. Es war unmöglich nicht hinzuschauen, wie man es von mir verlangte. Ich konnte und wollte mich nicht abwenden von den Kindern mit den eintätowierten Nummern am Arm.“

14

Vorwort

Wir dürfen nicht vergessen, wie viele Gruppen außer den Juden von den Nazis verfolgt wurden. Denken wir an die vielen Sozialisten, Kommunisten, kritischen Christen, Geistesgestörten, Roma und Sinti, Homosexuellen, die von den Nazis ermordet wurden. Wir dürfen die Tatsache nicht ignorieren, dass durch Hitler ein Krieg verursacht wurde, der über fünfundfünfzig Millionen Opfer forderte. Man würde denken, dass nach Hitler keine Verfolgungen und Kriege mehr stattfänden und dass Vernunft und Versöhnung triumphierten. Doch das ist nicht der Fall. Denken wir nur an die furchtbaren Bürgerkriege in Sri Lanka, in Ruanda, im Sudan, in der früheren Sowjetunion und im früheren Jugoslawien. Es scheint, dass Unmenschlichkeit, die auf Vorurteilen basiert, eine unbegrenzte Zukunft hat. Es wird weiter gerüstet. Die Waffenarsenale der großen Nationen sind gigantisch, auch bakteriologische Waffen werden entwickelt, deren Zerstörungskraft fast noch größer ist als die von Atombomben. Doch wir dürfen das Positive nicht ignorieren, denn immer mehr Menschen in allen Teilen der Welt verlangen fundamentale Veränderungen auf allen Gebieten, sodass die Überwindung von Vorurteilen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch angestrebt wird. Frederick Mayer 15

Teil i

Das Problem „Vorurteil“ Herr Professor Mayer, Sie sind ein erfahrener und international anerkannter Erziehungsfachmann. Was hat eigentlich Ihr großes Interesse für das Problem des Vorurteils verursacht? Eine Lebensphilosophie ist gewöhnlich ein Spiegelbild autobiografischer Erfahrungen. Unsere Ideen werden meist nicht auf sachlich-rationale Weise erworben, sondern sind Ergebnisse von oft unbewussten Emotionen. In den Vereinigten Staaten habe ich viele Lehrer beobachtet, die fast durchwegs große Vorurteile hatten. Mein Professor in Verfassungsgeschichte z. B. hatte ein grundlegendes Lehrbuch über die Entwicklung der amerikanischen Verfassung geschrieben, sein Buch wurde von über 50 Universitäten als Pflichtlektüre verwendet. Er konnte hunderte verwickelte Rechtsfälle aus dem Gedächtnis zitieren. Aber wenn er über den „New Deal“, das Reformprogramm Roosevelts, sprach, wurde er unsachlich und verurteilte es in jeder Hinsicht. Er betrachtete es als eine subversive Bewegung und F. D. Roosevelt als einen Zerstörer der Vereinigten Staaten. 19

Teil I

Ein anderer Professor war ein Soziologe von hohem Ansehen und sehr gefragt bei öffentlichen Vorträgen. Er betrachtete sich selbst geradezu als Symbol der Objektivität und wissenschaftlichen Unvoreingenommenheit. Aber wenn er über Schwarze sprach, wiederholte er oftmals die Ideen von Gobineau und Rosenberg, nur in einer etwas vornehmeren Form. Einer meiner Freunde war deutscher Flüchtling. In Europa hatte er eine angesehene Stellung inne, in den akademischen Kreisen Amerikas spielte er nur eine untergeordnete Rolle. Er hatte kaum genug zum Leben. Der Präsident der Universität, an der er arbeitete, war ein Antisemit und machte meinem Freund klar, wie glücklich er sein könne, in den Vereinigten Staaten zu leben, und dass er dankbar dafür sein solle, überhaupt eine akademische Stelle innezuhaben. Mein Freund hatte viele Bücher geschrieben und wäre normalerweise ordentlicher Hochschulprofessor gewesen. Stattdessen war er nur Assistent und sein Vertrag musste jedes Jahr verlängert werden. Nach seinem Tod wurden seine Bücher berühmt und in viele Sprachen übersetzt. Der genannte Präsident sprach dann einmal anlässlich einer Gedenkfeier zu Ehren meines Freundes und wies darauf hin, wie stolz er sei, dass mein Freund an dieser Universität gelehrt hätte, und wie viele anregende Gespräche sie geführt hätten. Er vergaß zu erwähnen, dass 20

Das Problem „Vorurteil“

sich ihre Gespräche hauptsächlich um Geld gedreht hatten. Tatsächlich war die finanzielle Lage meines Freundes so verzweifelt, dass er in einem Armenhaus starb. Der Dekan der Fakultät war ein überzeugter Methodist. Jeden Sonntag ging er zur Kirche. Er schrieb schöne Bücher über die Notwendigkeit eines höheren ethischen Bewusstseins. Er konnte viele Vorträge über Nächstenliebe und weltweite Verständigungsbereitschaft halten. Er liebte jeden – außer Agnostiker, Atheisten, Juden und Katholiken. Nachdem ich mein Studium an der Universität beendet hatte, verbrachte ich den Sommer in einem Lager für straffällig gewordene Jugendliche. Viele von ihnen hatten schon Gefängnisstrafen abgesessen. Der stellvertretende Leiter, mein Vorgänger, war ins Krankenhaus eingeliefert worden, nachdem er von einem Jungen mit dem Messer verwundet worden war. Das hatte ich nicht gewusst, sonst hätte ich diese Stelle sicherlich nicht angenommen. Das Lager war 40 Meilen von Pasadena entfernt und unsagbar primitiv. Wir schliefen im Freien. Ich sah dort in der kurzen Zeit mehr Giftschlangen als in meinem ganzen sonstigen Leben. Allerdings fürchtete ich mich mehr vor den Leuten im Lager, die zwischen acht und achtzehn Jahre alt waren – hauptsächlich Mexikaner aus Long Beach und der East Side von Los Angeles. Nichts von dem, was ich auf der Universität gelernt hatte, konnte mir helfen, mich auf ihre Sprache und ihren Lebensstil 21

Teil I

einzustellen. Ich begegnete einer neuen Welt der Gewalt, in der Banden eine beherrschende Rolle spielten. Ich war ein Versager, solange ich auf sie herabsah, solange ich gängige Klischees auf sie anwandte. Nach einiger Zeit akzeptierten sie mich. Ich lernte zuzuhören und ihre Ideen zu teilen. Ich stellte fest, dass ich nur rein zufällig eine akademische Bildung besaß, während viele von ihnen niemals die Pflichtschule beendeten; viele von ihnen beherrschten nicht einmal die englische Sprache im notwendigen Ausmaß. Einige von ihnen wurden meine engen Freunde – eine Freundschaft, die über viele Jahre andauerte. Später sprach ich an der East Side von Los Angeles in verschiedenen Jugendklubs, und ein Zigarettenverkäufer hielt mich an und fragte: „Fred, kennst du mich noch? Wir waren zusammen im Camp Adahi!“ Nach meinem Aufenthalt im Camp Adahi wurden mir meine eigenen Vorurteile immer bewusster. Ich beschloss, mit einem sogenannten Straffälligen nicht anders zu sprechen als mit einem Universitätsprofessor. Ich stellte fest, dass Erziehung nicht wirklich verbessert werden kann, wenn man nicht das Problem des Vorurteils in den Mittelpunkt stellt, nicht nur in den Schulen, sondern auch in allen anderen sozialen Einrichtungen. Wie viele Schicksale wurden durch Voreingenommenheit zerstört! Wie viele Hoffnungen wurden durch unbefriedigende menschliche Beziehungen vernichtet! 22

Das Problem „Vorurteil“

Ich erinnere mich an einen Freund, der nach dem Zweiten Weltkrieg an einem College Vorlesungen hielt. Ein deutsches Mädchen, eine Austauschstudentin, war in einem seiner Kurse. Die beiden hatten ähnliche Interessen und verliebten sich. Die Eltern meines Freundes hatten große Vorurteile gegen Deutsche. In ihren Augen waren alle Deutschen Nazis. Sie drohten, meinen Freund zu enterben. Er hatte eine enge Bindung an seine Eltern und wollte vor allem keinen Konflikt mit seinem Vater, denn dieser hatte einen Herzfehler, und jede Aufregung hätte sein Leben verkürzen können. Mein Freund heiratete das Mädchen nicht. Sie fuhr nach Deutschland zurück; er heiratete irgendein anderes Mädchen, das seine Interessen durchaus nicht teilte. Sein Leben war ruiniert. Auch ein Opfer des Vorurteils! Ich schrieb eine „Geschichte des Erziehungsgedankens“, nicht um die Vergangenheit darzustellen, sondern um Geschichte als ein überprüfbares Modell dafür zu verwenden, herauszufinden, was sie uns für die Gegenwart lehren könne. In der amerikanischen Erziehungswissenschaft ist man bisher vom griechischen Gedankengut ausgegangen. Ich nahm stattdessen die indische Philosophie als Grundlage und stützte mich stark auf östliche Einflüsse. Ich stellte fest, dass durch die Überbetonung der westlichen Vorstellungswelt leider eine engstirnige Haltung zum Vorschein kam, die durch eine Mischung von Traditionalismus und Arroganz verursacht ist. Wenn man die Einflüsse des Konfuzius und Chuang-tse, des Yoga und des Zen23

Teil I

Buddhismus – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – vernachlässigt, bedeutet das ernste Mängel in den Ansätzen der Erziehung und einen sehr anfechtbaren Standpunkt. Der Student soll lernen, dass echte Kultur keine Grenzen hat, dass ein Volk nicht der Inbegriff des Großen ist, dass wir nur durch Infragestellen und durch Überwindung der überkommenen Leitbilder lernen können. Sie haben an bedeutenden Kongressen teilgenommen. Wie hat Ihre Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen Ihre Ansichten beeinflusst? Meine Arbeit mit internationalen Organisationen in Europa hat mich überzeugt, dass die Fehlschläge im internationalen Leben nicht in mangelndem Wissen begründet sind, sondern in fehlendem Verständnis. Ich leitete einmal ein Seminar für Funktionäre internationaler Organisationen über Kommunikationsprobleme. Wir nahmen das Wort „aggressiv“ als Beispiel. Für einen Engländer hat „aggressiv“ einen negativen Beigeschmack. Wenn er sagt, jemand sei aggressiv, meint er das gleiche wie feindselig. Für einen Amerikaner ist Aggressivsein eine positive Eigenschaft. Amerikanische Firmen wollen aggressive Leute in führenden Positionen. Darunter versteht man ein fortschrittliches, energisches Management. 24

Das Problem „Vorurteil“

Der Diskussionsleiter des Seminars war Russe. Er schaute sehr mürrisch drein, fast wie ein Kommissar. Ich wusste nicht, dass ihm gesagt worden war, dass das Seminar 11/2 Stunden dauere. Zu mir hatte man von zwei Stunden gesprochen. Nach 11/2 Stunden schaute er ständig auf die Uhr, worüber ich mich sehr ärgerte. Als ich ihn später näher kennenlernte, lachten wir nur über das Missverständnis. In Wirklichkeit war er gar kein grimmiger Typ, sondern ein sehr netter und verständnisvoller Mensch. In Wien, wo ich zur Zeit wohne, leben die meisten Angestellten internationaler Organisationen eigentlich in einem Ghetto. Sie schauen auf die Österreicher hinab und oft hört man die Bemerkung: „Hier beginnt der Balkan.“ In Wirklichkeit ist Wien eine der bezauberndsten Städte der Welt, und seine frühere kulturelle Bedeutung mit Persönlichkeiten wie Freud, Schönberg und Wittgenstein – um nur einige zu nennen –, ist noch immer in großem Maß spürbar. Sie betrachten das Vorurteil als das größte Erziehungsproblem unserer Zeit. Ist das nicht etwas überzogen? Ackermann und Jahoda definieren in „Anti-Semitism and Emotional Disorder“ (1950) Vorurteil als „Verhaltensmuster der Feindseligkeit im zwischenmenschlichen Bereich, das sich gegen eine ganze Gruppe oder gegen einzelne ihrer Mitglieder richtet“; es erfüllt eine irrationale Funktion für den Träger. 25

Teil I

Allport und Kramer zeigen in einer Studie aus dem Jahr 1946, dass vier Fünftel der amerikanischen Bevölkerung in irgendeiner Form feindselig eingestellt seien. Laut einer IMAS-Untersuchung hat die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung antisemitische Einstellungen, verdeckt oder offen. Natürlich ist es unmöglich, diese Gefühle zu messen, da sie oft unbewusst sind. Vielleicht mögen diese beiden Untersuchungen übertreiben, aber was zählt ist, dass das Vorurteil in der Geschichte – direkt oder indirekt – hunderte Millionen Menschen getötet hat; es hat unzählige Menschen seelisch vernichtet. Es hat Tragödien verursacht, die die fähigsten Dramaturgen nicht in gleicher Form wiedergeben könnten. Es ist die Ursache der meisten Kriege. Es bedeutet eine dauernde Gefahr für die Menschheit. Ist diese Meinung nicht übertrieben? Für die Geschichte mögen diese Untersuchungen stimmen. Über unsere Zeit gibt es aber auch viel Positives zu berichten. Im Gegenteil, es scheint die Frage berechtigt: Werden wir heute nicht immer toleranter? Diese Frage kann irreführen. Sie sollte besser folgendermaßen lauten: Werden wir genügend tolerant, um als Nationen und als einzelne zu überleben? Die Antwort ist doppeldeutig: Wenn wir dem erschreckenden Wettrüsten zuschauen, können wir nicht optimistisch sein, denn dieses Rüsten ist ein Ausdruck 26

Das Problem „Vorurteil“

von Vorurteil und Feindschaft. Es ist unmöglich, einen Krieg zu führen, ohne gleichzeitig Vorurteile zu schaffen. Teilweise haben sogar Erziehungseinrichtungen diese Aufgabe übernommen. Zum Beispiel haben viele deutsche Lehrer vor 1914 die Franzosen als rachsüchtig, unglaubwürdig, unzivilisiert, chauvinistisch und unterlegen dargestellt, und viele französische Lehrer erklärten, Deutschland sei ein von Militarismus und Rücksichtslosigkeit beherrschtes Land, das sich immer schon gegen den kulturellen Aufstieg des Menschen verschworen habe. Solche Vorurteile sind leider nicht selten. Von Interesse ist z. B. das gegenseitige Vorurteil, das China und Russland in den sechziger Jahren und besonders 1973/74 prägte. Um konkret zu sein: Einer meiner Freunde, der für die UNO arbeitet, war Vorsitzender eines internationalen Seminars in London. Er ist Halbchinese. Vor Beginn des Seminars sprach ihn ein chinesischer Experte an, dessen erste Frage war, ob auch Russen teilnehmen. Als ihm versichert wurde, dass keine Russen erwartet würden, sagte der Chinese, dass in diesem Fall eine Delegation seines Landes bereit wäre, zu dieser Konferenz zu kommen. Die Kampagne der gegenseitigen Feindschaft wurde sowohl durch Propaganda als auch durch ideologische Auseinandersetzungen ausgetragen. Alle Möglichkeiten der Kommunikation wurden benutzt, einschließlich Zeitungen, Radio, Fernsehen und zahlloser Massenveranstaltungen. 27

Teil I

Heute ist die Beziehung zwischen den beiden Ländern besser. Ein Grund liegt im Verfall der ehemaligen Sowjetunion. Marxisten behaupten, dass das Vorurteil ein typisches Symptom einer ausbeuterischen Gesellschaft ist, welche die Minderheit als Sündenbock benutzt. Was sagen Sie dazu? Sicher wurden in der Geschichte viele Vorurteile von wirtschaftlichen Interessen bestimmt. Sklavenarbeit beispielsweise brachte einer großen Gruppe von Ausbeutern riesigen Profit. Ausländische Arbeitskräfte in vielen Teilen Europas tragen zum wirtschaftlichen Wachstum der Industrie bei. Anderseits verstärkt sich das Vorurteil unvermeidbar zu dem Zeitpunkt, zu dem eine Institution oder eine Nation einen Absolutheitsanspruch stellt, wenn sie mit Erfolg versucht, alle Aspekte des Lebens eines Staatsbürgers zu kontrollieren. Das traf bei Sparta, bei der Kirche des Mittelalters, bei Deutschland unter Hitler, bei Italien unter Mussolini zu und es trifft zu für die totalitären Versuche der Gedankenkontrolle in unserer Zeit. Die Grundlage der totalitären Herrschaft besteht darin, dass Wahrheit nicht den Irrtum tolerieren kann. Natürlich ist die Wahrheit eng begrenzt, und der Andersdenkende liegt dadurch immer falsch. Er wird als gefährliche Bedrohung der Einheit betrachtet, er gehört beseitigt – wenn notwendig mit Gewalt. 28

Das Problem „Vorurteil“

Solch ein Konflikt hat pseudo-religiöse Bedeutung. Schon Benjamin Franklin, einer der genialsten amerikanischen Staatsmänner, der Sinn für Humor hatte, stellte fest, dass es zu seiner Zeit zwei große Kirchen gäbe: „Die eine ist unfehlbar, und die andere kann nichts Falsches tun.“ Während der McCarthy-Ära – einer Zeit, in der es „Hexenjagden“ gegen politisch Andersdenkende gab – wollte ein kleines College die grundlegenden amerikanischen Werte verteidigen. Dies geschah, um das College gegen Angriffe konservativer Studenten und Bürger der Stadt zu schützen, die als McCarthyAnhänger jede fortschrittliche Idee als gefährlich und vom Kommunismus inspiriert ansahen. Mitglieder der Fakultät, die das neue China verteidigten, wurden als radikal bezeichnet. Einige Richtungen der modernen Kunst wurden als subversiv betrachtet. Mehrere Professoren bekamen spät in der Nacht anonyme Anrufe, in denen sie „dreckige Rote“ genannt wurden, die gelyncht werden sollten. Um zu beweisen, wie solide das College sei, wie ungefährlich seine politischen Grundsätze seien und dass sie mit den Anschauungen Senator McCarthys übereinstimmten, wurde ein Fakultätskomitee gegründet. Seine Aufgabe bestand darin, die „ewigen Grundsätze“ zu verteidigen, die Amerika groß gemacht hatten. 29

Teil I

Dieses Komitee bestand aus Vertretern der Philosophie, der Biologie, der Physik, der Geschichte, der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaft und der Politologie. Der teilnehmende Philosoph fragte die Gruppe, ob sie glaubten, dass die zu verteidigenden Werte absolut seien. Die Mitglieder der Gruppe bestätigten das einmütig. Wenn das so ist, meinte der Philosoph, und die Werte wirklich absolut und ewig seien, brauchen sie keine Verteidigung – eine Tatsache, die das Komitee sehr verwirrte; es gab sehr bald sein Vorhaben wieder auf. Bischof James Pike von der anglikanischen Kirche war ein großer Gegner der Lehre McCarthys. Eines Tages wollte ihm ein College in den Südstaaten das Ehrendoktorat der Theologie verleihen. Diese Hochschule ließ keine schwarzen Studenten zu. Aus diesem Grunde lehnte Bischof Pike diese Ehre ab. Er erklärte, dass er nicht an eine „weiße Theologie“ glaube. – Nachdem Bischof Pikes Sohn Selbstmord begangen hatte, sandte ihm ein Geistlicher seiner Kirche, Anhänger der Ideen McCarthys, ein Telegramm: „Gott sei Dank, ein Pike weniger.“ Es ist unmöglich, einen Menschen zu verstehen, der solch eine Nachricht an einen Vater schickt, der vollkommen verzweifelt über den Verlust seines Sohnes ist. Es zeigt, wie ein Vorurteil fast pathologischen Hass verursachen kann. Für den anglikanischen Priester waren Pikes liberale Ideen nicht nur subversiv, sie waren vom Teufel erdacht.

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Das Problem „Vorurteil“

Dieses Beispiel zeigt, dass das Problem des Vorurteils prinzipiell zwei verschiedene Lebensstile mit sich bringt. Einer ist flexibel, risikofreudig und sieht hoffnungsvoll in die Zukunft; für den anderen ist Unbeweglichkeit charakteristisch, er ist der Vergangenheit verhaftet, ihm liegt eine dualistische Weltsicht zugrunde. Er erzeugt Teufel, er schafft die Grundlagen für Massenhysterie. Sie fordern also größere Risikobereitschaft. Heißt das, dass wir unsere Entscheidungen nie als endgültig ansehen können? Es gibt eine Form des Zweifels, die unbedingt notwendig ist, wenn die Menschheit überleben will. Ein Aspekt dieser Skepsis besteht darin, dass wir lernen, die Bedeutung unserer Behauptungen abzuwägen, und dass wir die Grundsätze der wissenschaftlichen Methode anerkennen. In unserer Zeit der mehr oder weniger geheimen Verführer sollten wir unterscheiden lernen zwischen Tatsachen und Propaganda. Wir sollten lernen, nicht an veralteten Ideen und Vermutungen zu kleben. Wir sollten versuchen, unsere eigenen Motive zu überprüfen. Hat nicht Sokrates gesagt, dass ein unreflektiertes Leben nicht wert ist, gelebt zu werden? Peirce, ein bedeutender amerikanischer Philosoph, wurde einmal von einem Kritiker beschuldigt, dass er in seinen Schriften den Eindruck mache, er sei in seinen Schlussfolgerungen 31

Teil I

unsicher. Peirce betrachtete diese Feststellung als ein Kompliment. Er nannte nämlich seine Philosophie einen Weg der Fehlbarkeit. Da wir oft achtlos sind in dem, was wir glauben und schätzen, sollten wir doch nur vorläufige Meinungen entwickeln, denn nur so bleiben wir offen und lernbereit und entgehen dem Einfluss des Vorurteils. Aber Zweifeln ist kein Lebensstil, es ist ein vorläufiges Denksystem. Wenn es zu dauernder Neutralität führt, bedeutet es ein Ausweichen vor moralischer Verantwortung. Wir können nicht gleichgültig sein, wenn es um Themen wie Krieg, wirtschaftliche Ausbeutung, die Situation in den Entwicklungsländern, rassische und religiöse Vorurteile geht. Es ist unsere Aufgabe, für Humanität einzutreten und zu kämpfen. Was können wir tun, um gegen Hass und Vorurteil zu kämpfen? Wir können damit beginnen, unsere eigenen Motive zu analysieren und uns vor Augen zu führen, welche Auswirkungen Vorurteile haben. Wir neigen dazu, Opfer falscher Vorstellungen zu sein. Neulich sprach ich zu einer Gruppe Hochschulstudenten über die Auswirkungen von Vorurteilen. Ich erwähnte, dass über 6 Millionen Juden von Hitler ausgerottet wurden. Dabei sah ich, dass das wenig Eindruck auf sie machte. Dann berichtete ich, wie ein Tag im Hitler-Deutschland aussah und bemerkte einen Wechsel in ihrer Haltung. Sie 32

Das Problem „Vorurteil“

besichtigten anschließend Auschwitz und erst da waren fast alle von der Gefährlichkeit eines Vorurteils überzeugt. Ich möchte nicht vereinfachen. Viele glauben eben, keine Vorurteile zu haben, und doch können sie unvorstellbare Antipathien entwickeln. Wenn man z. B. amerikanische Studenten fragt, ob sie glauben, dass alle Menschen gleich sind, werden sie sicher zustimmen. Wenn man sie aber fragt, ob Schwarze auch dazugehören, werden viele Argumente angeführt, um die Minderwertigkeit der Schwarzen zu beweisen. Warum werden Vorurteile so oft durch falsche Bildungsideale weitergegeben? Viele sogenannte Gebildete glauben, dass sie eine größere Einsicht besäßen. Sie fühlen, dass sie zu einer besonderen Klasse gehören, und schauen auf jene hinunter, die nicht die gleiche akademische Stufe erreicht haben. Sie neigen dazu, Zeugnisnoten mit echtem Wissen zu verwechseln. Viele amerikanische Eltern sind darauf aus, dass ihre Kinder die allerbesten Universitäten wie Harvard, Yale oder Princeton besuchen. Schon früh werden enorme Anstrengungen unternommen, damit der schulische Erfolg garantiert ist und die richtigen Anlagen des Sprösslings entwickelt werden, um eine Zulassung zu diesen erhabenen Zentren des Wissens zu erreichen. Das Ergebnis ist, dass sie sich als etwas Besonderes fühlen. 33

Teil I

Die ehemaligen Studenten von Harvard und Yale haben ihre eigenen Clubs. Absolventen von Harvard und Yale kommen sich meistens vor, als hätten sie einen einzigartigen Platz in der Welt erreicht – eine Einstellung, die sie arrogant werden lässt. Ich war in einem Komitee, das die Aufgabe hatte, jemanden für die Wahl zum Fachvorsitzenden an einer Privatuniversität in Kalifornien vorzuschlagen. Die Qualifikation der verschiedenen Kandidaten, ihre Ausbildung, ihre Persönlichkeit und ihre bisherige Laufbahn wurden eingehend diskutiert. Zum Schluss standen zwei Kandidaten zur Wahl. Der eine hatte sein Diplom von einer staatlichen Universität, der andere von Harvard. Die Mehrheit sprach sich für den letzteren aus. Schließlich war er ja ein „Harvard-Mann“. Ich wies darauf hin, dass eine solche Wahl, die nur auf der Harvard-Empfehlung beruhte, von einem Vorurteil bestimmt sei. Bedeutet ein HarvardDiplom notwendigerweise bessere Fähigkeiten? Aber ich wurde überstimmt. Es zeigte sich, dass der HarvardAbsolvent kalt und unnahbar war. Er betrachtete Kalifornien als ein primitives Land und konnte nicht erwarten, bis er wieder in den „vornehmen Kulturkreis“ der Ostküste kam. In den Vereinigten Staaten schauen die Absolventen der bedeutenden Universitäten herunter auf die großen staatlichen Universitäten; und die Akademiker der riesigen staatlichen Universitäten haben Vorurteile gegen Akademiker der kleinen Privatuniversitäten. 34

Das Problem „Vorurteil“

In England hat der Einfluss der Internatsschulen wie Eton oder Harrow zu einer anmaßenden Haltung der oberen Schichten geführt, welche die britische Rechtsordnung für Generationen geprägt hat. Da Schulen wie Eton und Harrow eine jahrhundertelange Tradition hinter sich haben, opfern viele Eltern. Unsummen von Geld, um ihre Söhne dorthin schicken zu können. Was ist das Ergebnis? Meistens lernen die Schüler dort mehr als in der Gesamtschule, meistens entwickeln sie aber ebenso große Vorurteile. Normalerweise haben sie kein Verständnis für die Probleme der Arbeiter, und sie haben wenig Sympathie für nicht-europäische Kulturen. Sie neigen zu einem Clan-Denken. Kurz gesagt, sie haben alles gelernt, außer Werte, die für die Entwicklung einer echten Zivilisation unbedingt notwendig sind. Exklusive Schulen können oft ungeahnte Schwierigkeiten hervorrufen. In einer bekannten internationalen Schule in Westeuropa, die hauptsächlich von Söhnen und Töchtern von Diplomaten und Industriellen besucht wird, hat sich z. B. ein Geheimbund etabliert, der sich auf Gelddiebstahl spezialisierte. Es wird gewettet, wer den größten Betrag stiehlt. Mitglieder dieser Gruppe üben sich jüngeren Schülern gegenüber in Gewalttätigkeiten. Einige Kinder zahlen Geld, damit sie in Sicherheit sind. Ein Lehrer, der befürwortete, dass alle Mitglieder dieser Gruppe aus der Schule ausgeschlossen werden sollten, erhielt nachts anonyme Telefonanrufe, in denen er bedroht 35

Teil I

wurde. Nicht nur innerhalb der Schule waren Quälereien an der Tagesordnung, sondern sie richteten sich auch gegen Gastarbeiterkinder. Als ich ein Mitglied der Gruppe einmal fragte, warum er so auf den Gastarbeiterkindern herumhacke, antwortete er: „Ich hasse sie, ihre Art, wie sie schauen und reden, sie sind Ungeziefer. Das soll ihnen eine Lehre sein!“ Im Gespräch mit vielen südafrikanischen Lehrern fand ich durchwegs große Vorurteile gegen Schwarze. Immer wieder waren ihre Hauptargumente: – – – – –

Ein Schwarzer hat schlechte Gewohnheiten. Ein Schwarzer lebt nach anderen Gesetzen. Ein Schwarzer lebt nur nach seinen unreflektierten Gefühlen. Ein Schwarzer ist weniger wert als sein weißer Zeitgenosse. Vermischung mit Schwarzen senkt das Kulturniveau einer Nation. Die traurige Tatsache ist, dass so viele südafrikanische Erzieher überzeugt waren, dass solche Ansichten wissenschaftlich erwiesen sind. Meistens versuchte ich sie zu überzeugen, dass eine solche Meinung nur auf Vorurteilen beruht, doch fast immer war mein Bemühen, ihre Gedanken zu ändern, erfolglos. Sie haben zu lange in einer Atmosphäre der Vorurteile gelebt und sind schließlich durch die enge Sicht der Gesellschaft so geworden. Klassenunterschiede können ebenso verheerend sein: Der frühere österreichische Bundeskanzler, Fred Sinowatz, kam z. B. 36

Das Problem „Vorurteil“

aus der Arbeiterklasse; als Schüler hatte er deswegen viele Kränkungen zu ertragen. Einmal erzählte er über seine Außenseiterrolle im Gymnasium: Als er in Mathematik schlecht stand, wurde sein Vater zum Direktor beordert. Der Direktor fragte nach seinem Beruf, worauf der Vater antwortete: „Schlosser“. „Ihren Sohn auf ein Gymnasium zu schicken, ist Zeitverschwendung!“, meinte der Direktor. „Warum tritt er nicht in die Fußstapfen seines Vaters?“ Offensichtlich sollte der Sohn deshalb nicht mehr erreichen, weil der Vater auch keine höhere Bildung besaß. In vielen Entwicklungsländern können die Vorurteile noch viel mehr schaden. Sklavisch werden die europäischen und amerikanischen Verhaltensmuster imitiert. Geistige Arbeit wird geschätzt. Ein Examen wird als in sich sinnvoll betrachtet. Zu gleicher Zeit wird die Notwendigkeit der Landarbeit ignoriert. Manuelle Arbeit wird verachtet; es ist das Zeichen des gebildeten Menschen, dass er keine schmutzigen Hände bekommt. Eine noch größere Kluft besteht zwischen Planung und den aktuellen Bedürfnissen des Staates. Die Konsequenz ist, dass z. B. in Addis Abeba ein modernes Spital mit den letzten technischen Errungenschaften gebaut wird, dass aber die medizinische Versorgung der Landbezirke vollkommen unzureichend ist. Indien entwickelt wissenschaftliche Institute, die keinen Vergleich zu scheuen haben, sie konstruieren sogar Atombomben, aber die grundlegende Berufsausbildung der Massen wird 37

Teil I

vollkommen vernachlässigt. Indische Studenten sind viel zu sehr spezialisiert. Tausende indische Akademiker sind arbeitslos. Indische Studenten haben wenig soziales Interesse, stattdessen benehmen sie sich sehr herablassend unteren Schichten gegenüber. Die herkömmliche Erziehung produziert unvermeidlich das Gefühl des Besserseins. Solch eine Haltung ist sowohl in der Erziehung als auch in der Religion bedenklich. Sie bringt einen Isolationismus hervor, entwickelt ein Kastensystem; vor allem aber wird dadurch dem Menschen seine soziale Verantwortung genommen. Können durch theoretische Untersuchungen Vorurteile ausgemerzt werden? Der bedeutende amerikanische Denker Emerson beschreibt eine Gruppe von Leuten – einen Dichter, einen Geschäftsmann und einen Philosophen – auf einem Spaziergang: Der Geschäftsmann denkt über den Ertrag nach, der Philosoph betrachtet die Gesetze der Natur, der Dichter reflektiert über die Schönheit der Bäume und wie er all das in einem Gedicht ausdrücken könne. Kurz gesagt, alle drei hatten das gleiche erlebt, aber ihre Reaktionen waren total verschieden. Der gleiche Unterschied besteht, wenn wir die Probleme der Menschen betrachten. Unsere Einstellungen und Betrachtungen, unsere Ziele, das Bild, das wir von uns selbst haben, die Eindrücke der 38

Das Problem „Vorurteil“

frühen Kindheit, unsere kulturelle Umgebung, unsere Familiensituation – alle diese Faktoren können das Ergebnis unserer Bemühungen beeinflussen. Sogar ein so bedeutender Pionier auf dem Gebiet der Psychologie wie Sigmund Freud konnte nicht dem Vorurteil seiner Umwelt entgehen. Er schätzte z. B. John Stuart Mill sehr, aber als dieser für die vollkommene Gleichwertigkeit der Geschlechter eintrat, nannte er ihn „verrückt“. Für Freud war das patriarchalische Prinzip ein Teil seiner Weltanschauung. Frauen waren minderwertigere Wesen als Männer, verkrüppelt und gehemmt in ihrer Entwicklung. Dieses Vorurteil ließ Freud das Wesen der Liebe missverstehen. So betonte er zu sehr die sexuelle Bedeutung. Freud unterschätzte auch das Wesen und die Bedeutung der mütterlichen Liebe. Das schmälert aber in keiner Weise die Bedeutung Freuds, auch nicht die Wichtigkeit seiner systematischen Untersuchung über das Wesen des Menschen. Im Gegenteil, man sollte den Schwerpunkt der Forschung viel stärker auf die Untersuchung der Schwierigkeiten des Menschen setzen, muss aber danach trachten, die Vorurteile möglichst abzubauen und dafür mehr Wert auf Kreativität legen – sowohl in der Methode als auch in den Inhalten. Die Literatur kann in dieser Hinsicht z. B. nützlicher sein als eine Vielfalt statistischer Untersuchungen. Der deutsche 39

Teil I

Psychiater Bumke sagte einmal: „Ein echter Dichter bereichert die Philosophie und Psychopathologie mehr als 100 Laboratorien und 1000 Gelehrte.“ Literatur öffnet die Tür zum konkreten und einzigartigen Leben. Statistiken können hingegen nur eine besondere Art von Verallgemeinerung sein, die den Menschen zwingt, in eine vorgegebene Kategorie zu passen. Der Roman „Sohn dieses Landes“ von Richard Wright z. B. kann für den Leser eine tiefere Erfahrung sein und seine Haltung mehr beeinflussen als das Durcharbeiten vieler statistischer Untersuchungen über Rassenprobleme in den Vereinigten Staaten. Welcher Zusammenhang besteht zwischen autoritären Charakterzügen und Vorurteilen? Eine Studie von Theodor W. Adorno zeigt, dass eine autoritäre Persönlichkeit von ganz bestimmten Verhaltensmustern geprägt ist, ganz gleich, in welchem Kulturkreis sie aufwächst. Meistens passen sich autoritäre Personen den Gegebenheiten an. Sie glauben, das Festhalten an den herrschenden Sozialstrukturen sei äußerst wichtig. Was die Gruppe entscheidet, darf von niemandem angezweifelt werden. Das erklärt, warum viele Deutsche unter Hitler und viele Italiener unter Mussolini nicht rebellierten. Warum sollte man sich dem Lauf der Dinge entgegenstellen? Warum Missachtung und Sanktionen der Gruppe riskieren? 40

Das Problem „Vorurteil“

Außerdem ist eine autoritäre Person durch starre Wertmaßstäbe geprägt. Offenheit und Großzügigkeit werden mit Verachtung betrachtet. Ordnung gilt als Wert, der nicht nur bewundert, sondern fast angebetet wird. Fremde Elemente werden immer abgelehnt, weil sie vielleicht Unordnung bringen und das gewohnte Leben stören könnten. Hauptanliegen einer autoritären Persönlichkeit ist die Suche nach Anerkennung. Vorgesetzte werden mit Ehrfurcht angesehen, Untergebene mit Herablassung, wenn nicht sogar Verachtung behandelt. Wenn ein autoritärer Mensch sich mit seinen Vorgesetzten identifizieren kann, fühlt er sich stark und sicher. Er braucht jemanden, den er unterdrücken kann; er ist frustriert, weil er selbst nie den Höhepunkt der Macht erreichen kann und humanitäres Verhalten als Schwäche ansieht. Für einen solchen Menschen ist die Welt ein Ort, wo der Starke überlebt und der Schwache untergeht. Er hat jederzeit Argumente aus der Biologie und Geschichte parat, um seine Ansichten zu belegen. Die göttliche Vorsehung ist seiner Meinung nach auf der Seite der Sieger. Er besitzt die Moral des „Herrenvolkes“, das einen eisernen Willen und eine patriarchalische Einstellung hat. Oft findet man bei diesen Menschen, dass sie zu wenig Wärme und Liebe von ihren Eltern erfahren haben. Diese kalte Atmosphäre der Kindheit und die Hassliebe zu den Eltern führt zur eigenen inneren Kälte. Der bekannte moderne Psychiater 41

Teil I

Erik Erikson meinte einmal, dass das Kind auf dem Über-Ich der Eltern sein Leben aufbaut. Eine spartanische Erziehung mit der Betonung der Pflicht, wie sie z. B. in Preußen lange Zeit geübt wurde, bringt Generationen von „Junkern“ hervor, die sich von Gott erwählt glauben, andere, minderwertige Rassen und Nationen beherrschen zu müssen. Autoritäre Menschen sprechen oft von einem Pflichtgefühl. Das wird dann zu einer dauernden Entschuldigung für fehlende Humanität. Pharisäertum wird zum Lebensstil. Ein autoritärer Mensch mag persönlich hohe Wertstandards haben, aber in seiner Beziehung zu Untergebenen erweist er sich als der ärgste Tyrann. Viele Junker würden beispielsweise niemals lügen oder ihre Geschäftspartner betrügen, dass sie aber ihre Diener und Bauern als wahre Leibeigene behandeln, bereitet ihnen keinerlei Gewissensbisse. Eine autoritäre Persönlichkeit glaubt an harte Bestrafung. In der Erziehung heißt das, dass Disziplin das oberste Prinzip der Schule ist. In der Politik führt das zur Ablehnung jeder progressiven Gesetzgebung. In der Rechtsprechung bedeutet es, dass Kriminelle mitleidlos behandelt werden. Die Strafe soll hart sein, damit andere davor zurückschrecken, straffällig zu werden. Der autoritäre Mensch verkörpert das Primitive. Wie seine Vorfahren glaubt er an das Totem. Ein Symbol seiner Gruppe, wie etwa die Fahne, betrachtet er mit Ehrfurcht. Die Nation, die er anbetet, ist für ihn genauso heilig, wie es für den 42

Das Problem „Vorurteil“

früheren Menschen der Stamm mit dem Medizinmann war, der magische Kräfte besaß. Der autoritäre Mensch stattet seinen Führer mit unfehlbarer Weisheit und Einsicht aus. Reinlichkeit spielt im Leben einer autoritären Persönlichkeit meistens eine große Rolle. Roma und Sinti, Juden, Hippies und Schwarze werden oft deshalb abgelehnt, weil sie als nicht „sauber“ gelten. Sogar Nationen, in denen Autorität keine allzu große Rolle spielt, entwickeln manchmal einen ausgesprochenen Reinlichkeitskult. Im Zweiten Weltkrieg zogen viele amerikanische Soldaten die Engländer den Franzosen vor, weil England angeblich sauberer war und bessere sanitäre Anlagen besaß. Die Wächter in deutschen Konzentrationslagern waren stolz auf ihre untadelige äußere Erscheinung, die sich sehr von den schmutzigen Fetzen der Lagerinsassen abhob. Die Wächter vergaßen vollkommen, dass die Gefangenen kaum Waschgelegenheiten besaßen. Psychologen behaupten, wenn Sauberkeit zum Zwang wird – und das ist bei autoritären Personen oft der Fall – sei eine tief eingewurzelte Neurose die Ursache; Zwangswaschungen seien der verzweifelte Versuch, Schuldgefühle zu verdrängen. Untersuchungen haben ergeben, dass viele Menschen sexuelle Befriedigung empfinden, wenn sie gedemütigt werden. Andere erleben sexuelle Lust, wenn sie ihre sadistischen Triebe abreagieren können. Die autoritäre Persönlichkeit vereint meist beide Züge in sich. 43

Teil I

Die Neurose eines autoritären Menschen ist ansteckend und kann Massenhysterien hervorrufen. Kein Wunder, dass so viele Deutsche „Sieg Heil! Sieg Heil!“ schrien. Sie sangen mit großer Begeisterung die Parteilieder, die von der Ehre sprachen, jüdisches Blut vergießen zu dürfen. Diese schizoiden Züge der autoritären Personen bedeuten eine echte Bedrohung für die Zivilisation: Äußerlich eine Stütze der Anständigkeit und ein Vorkämpfer der Zivilisation ist ein autoritärer Mensch in Wirklichkeit ein Gegner jeden Fortschritts und ein Bündel von Vorurteilen. Es ist fast so, als ob ein Ur-Mensch sich eine Maske aufgesetzt hätte, die ihn selbst und viele andere täuscht und immer neuen Streit und Zwiespalt produziert. Welche sozialen Auswirkungen haben Vorurteile? Die sozialen Spielarten des Vorurteils betreffen den größten Teil der Bevölkerung. Mit dem Begriff Vorurteil verbindet man meist die Ablehnung von Juden und Schwarzen; es kommt weniger zu Bewusstsein, dass die gleiche Diskriminierung – wenn auch nicht ganz so massiv – gegenüber Alten, Behinderten, Bewohnern bestimmter Gebiete, Kriminellen, Geisteskranken und vielen anderen Gruppen besteht. Besonders gehässig sind die bestehenden Vorurteile dem alternden Menschen gegenüber. Er ist entweder isoliert oder wird bemuttert, häufig wird er wie ein Kind behandelt, nur mit 44

Das Problem „Vorurteil“

viel weniger Liebe. Der Slogan „Alt und verkalkt“ zeigt eine Haltung, die leider nur zu oft zu finden ist. Theoretisch schätzt unsere Gesellschaft Kinder sehr hoch, aber jedes Jahr müssen die Gerichte über tausende von Kindesmisshandlungen entscheiden – Handlungen, die nicht nur physische, sondern auch psychische Bedeutung haben. Oft sieht man aus der Art, wie Erwachsene Kinder anschreien oder welch unhöflicher Ton etwa in einer Schule herrscht, dass in vielen Teilen der westlichen Welt Hunde ein besseres Dasein haben können als die meisten Kinder. Fehlhaltungen gegen Kinder können sich beispielsweise wie folgt äußern: – Kinder müssen unter allen Umständen ruhig sein. – Ein unhöflicher Ton Kindern gegenüber gilt bei vielen Eltern und Lehrern als Erziehungsmaßnahme. – Wenige Eltern wissen, wie man Kinder zur Ruhe bringt. – Oft bekommen Kinder übermäßige Belohnungen und werden so schon früh zu krassen Konsummenschen. – Eine kreative Beschäftigung der Eltern mit ihren Kindern ist in allen Gesellschaftsschichten äußerst selten. – Besonders in der unteren Mittelschicht wird Kultur heute fast ausschließlich durch das Fernsehen vermittelt. Viele Kinder sind kulturell unterentwickelt, Bücher und Musik werden als nicht notwendige Luxusgegenstände betrachtet. – Ordnung gilt als oberstes Ziel in der Erziehung.

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Teil I

In den Vereinigten Staaten besuchte ich einmal einen Bezirk, der ungefähr der Bevölkerungsstruktur des 16. Wiener Gemeindebezirkes entspricht. Eine Frau forderte einen Abenteuerspielplatz für ihren Wohnblock und hatte deswegen zu einer Nachbarschaftsversammlung aufgerufen. Ich war sehr überrascht, als ich eine Gruppe von Erwachsenen und Kindern vor ihrer Haustüre stehen sah. Ich fragte sie, warum sie nicht ihr Wohnzimmer zur Verfügung stelle, das doch groß genug sei. Ihre Antwort war: „Die Kinder könnten mir die Möbel zerkratzen.“ Kinder, die von ihren Eltern tyrannisiert werden, die nicht kreativ spielen können, die es nicht lernen zu teilen, sind meist sichere Kandidaten für ein Leben voller Vorurteile. Vorurteile gegen Jugendliche scheinen ganz besonders stark zu sein. Wenn ich jemanden sagen höre, die heutige Jugend sei schlecht und unmoralisch, so handelt es sich meist um einen Menschen, der nicht nur äußerst voreingenommen ist, sondern auch eindeutig neurotische Züge aufweist. Wohin die Ablehnung Jugendlicher führen kann, ist sehr drastisch in dem Film „Easy Rider“ beschrieben. Der Ausdruck des Hasses und der Feindschaft auf den Gesichtern der Leute in einem Café, als sie die unkonventionellen Jugendlichen hereinkommen sehen, ist typisch für die „braven Bürger“, die alle ablehnen, die sich in Sprache, Verhalten und Kleidung von ihnen unterscheiden. 46

Das Problem „Vorurteil“

Ein weiterer Anlass für Vorurteile ist das Schicksal vieler Behinderter, vor allem ihre große Isolation. Härteste Proteste werden laut, wenn irgendwo in der Nachbarschaft ein Heim für behinderte Kinder errichtet werden soll. Aus Zeitungsberichten wissen wir, wie grausam solche Kampagnen sein können – eine Grausamkeit, die mich sehr an die Aktionen des Ku-Klux-Klan erinnert. Einwohner eines bestimmten Bezirkes zu sein oder in einem Obdachlosenheim zu leben, bedeutet, ein vollkommen isoliertes Dasein zu führen. Der Zugang zu vielen Berufen ist dann automatisch versperrt, bestimmte Sozialkontakte sind unmöglich. Es ist egal, ob man in der Großfeldsiedlung, in Wien-Floridsdorf, im Märkischen Viertel in Berlin oder in einer Gemeindewohnung in Chicago lebt. Auch Vorbestrafte werden mit einer Mauer von Vorurteilen umgeben. Einer meiner Freunde hatte eine Strafe wegen Diebstahls zu verbüßen. Als er entlassen wurde, begann er, ein eigenes Geschäft aufzubauen und war äußerst gesetzestreu, in jeder Beziehung ein vorbildlicher Bürger. Er verliebte sich in ein sehr hübsches und anziehendes, aber konventionell denkendes Mädchen. Kurz vor der Hochzeit erzählte er von seiner Vergangenheit, weil seine Ehe nicht mit Geheimnissen belastet sein sollte. Sie war entsetzt. Sie erklärte ihm, dass sie nicht mit einem vorbestraften Mann verheiratet sein könne. Er war so verzweifelt über ihre Haltung, dass er Selbstmord beging. 47

Teil I

Trotz breit angelegter Aufklärungskampagnen herrschen immer noch große Vorurteile gegenüber Geisteskranken. Ruth Benedict kam in „Patterns of Culture“ zu dem Schluss, dass die wirklich Geisteskranken nicht die Bewohner von Irrenanstalten sind, sondern oftmals unter denen zu suchen sind, die das politische Geschehen der Menschheit bestimmen. David Cooper stellt in seinem Buch „Psychiatrie und Anti-Psychiatrie“ fest, dass eine geistige Krankheit, ein psychischer Zusammenbruch, oft Grundlage für eine neue Integration werden kann, die ein Zeichen geistiger Gesundheit ist. Viele neurotische Symptome werden so zu Formen verständlichen Verhaltens, die meist von den Psychiatern fehl interpretiert werden. Wirklich neurotisches Verhalten, das meist zerstörend und voller Vorurteile ist, kann sich oft hinter der Maske des Normalen verbergen. Nach vielen Jahren Berufstätigkeit in Heimen mit Geistesgestörten kam David Cooper zu dem Schluss, dass viele Ärzte und Assistenten, die ihre Patienten als Objekte betrachten und behandeln, mindestens ebenso dringend einer ärztlichen Hilfe bedürfen wie ihre Patienten. Kann Vorurteil auch zu Selbstmord führen? Forscher auf dem Gebiet des Selbstmords, wie Ringel in Wien und Henseler in Ulm, haben aufgezeigt, wie wichtig das Selbstwertgefühl ist, um eine gesunde Lebenseinstellung entwickeln 48

Das Problem „Vorurteil“

zu können. Dieses Selbstwertgefühl wird aber schon in der Kindheit durch Familie und Schule geschwächt. Bemerkungen wie die folgenden einem Kind gegenüber können unter Umständen entsetzliche Auswirkungen haben: – Du bist schlimm und wirst immer schlimm sein. – Aus dir wird nie etwas werden. – Warum kannst du nicht so sein wie deine Brüder? – Du bist dumm. – Du bist eine Schande für unsere Familie. Im Leben erzeugt meistens ein Fehler wieder neue Fehler. Ein Kind, das zu Hause nicht akzeptiert wird und das in der Schule versagt, wird häufig zum Kandidaten der Selbstzerstörung. Diese muss nicht immer im Freitod enden, sie kann ebenso gut in der Zerstörung der eigenen Kreativität bestehen – einer Zerstörung, die ein Leben in endloser Verzweiflung heraufbeschwört. Eine meiner Bekannten war in Auschwitz gewesen; sie war eine der wenigen, die einigermaßen gesund überlebten. Sie hatte nach Amerika geheiratet, und ihr Mann war sehr erfolgreich; ihr Sohn war ein ausgezeichneter Student. Aber sie wurde von Albträumen gequält. Sie konnte einfach die erlebten Schreckensszenen nicht vergessen. Sie hatte oft genug gesehen, wie Menschen wegen des geringsten Vergehens gehängt oder wie ihre Freunde in die Gaskammern gebracht wurden. In ihren Träumen hörte sie die brutalen Kommandos der Wachen, sie 49

Teil I

sah die Baracken, in denen die 20 Frauen sich kaum bewegen konnten, sie erinnerte sich an die Wintertage, die unerträglich kalt waren. Sie versuchte es mit Beruhigungstabletten, aber vergebens. Sie ging zu verschiedenen Psychiatern, aber die konnten ihr auch nicht helfen. Schließlich beging sie mit einer Überdosis Schlaftabletten Selbstmord. Sehr bekannt ist auch das Schicksal des großen österreichischen Dichters Stefan Zweig, der Selbstmord beging, weil er sich nach seiner Emigration nach Brasilien in dem neuen Land nicht zurechtfinden konnte und einer Welt ohne Hoffnung und ohne Zukunft begegnete. Tausende Flüchtlinge wie er und viele, die auch noch dazu weniger Geld hatten als Stefan Zweig, nahmen sich das Leben – Opfer eines großen Vorurteils. Ein Symptom unserer Zeit ist, dass Aids-Kranke oft so schlecht von Verwandten und Bekannten behandelt werden, dass sie sich vollständig isoliert fühlen. Nicht wenige Aids-Kranke verlieren ihren Arbeitsplatz; manchmal müssen sie auch ihre Wohnungen verlassen. Die Schmerzen, die mit ihrer Krankheit verbunden sind, werden oft immer intensiver. Am Ende können sie, da sie so abgemagert sind, wie die Häftlinge von Auschwitz aussehen. Viele Aids-Kranke, die jede Hoffnung auf gesundheitliche Besserung aufgegeben haben, verüben Selbstmord. 50

Das Problem „Vorurteil“

Diese Tat kann als Protest gegen eine herzlose Gesellschaft betrachtet werden, die von Zuwendung spricht, aber in Wirklichkeit eine furchtbare Härte zeigt. Warum ist Klischeedenken so gefährlich? Walter Lippmann definierte einmal den Begriff Klischee als „Bilder in unserem Kopf“. Meistens stimmen diese Bilder mit der Wirklichkeit nicht überein. Falsche Klischees entwickeln sich wahrscheinlich in der frühen Kindheit und werden ein Leben lang kultiviert. Ein guter Freund, ein sehr kreativer, schwarzer Dichter, erzählte mir von seiner Kindheit und von der Gemeinschaft, in der er aufwuchs. Es gab fast keine Rassendiskriminierung. Als er vier Jahre alt war, spielte er eines Tages in einem Park. Da rief ein Kind: „Dreckiger Nigger.“ Das passierte 30 Jahre vor meiner Begegnung mit ihm, trotzdem hatte er die Beschimpfung nicht vergessen. Als er damals nach Hause kam, fragte er seine Mutter, was die Worte bedeuten; aber sie konnte ihm keine befriedigende Antwort geben und meinte nur, dass einige Menschen keine Schwarzen mögen. Mein Freund blieb sein ganzes Leben lang Weißen gegenüber misstrauisch, sie konnten sich ja jederzeit gegen ihn wenden und sein Selbstbewusstsein in Frage stellen. Er fürchtete instinktiv eine Wiederholung seines Kindheitserlebnisses. 51

Teil I

Wir sollten uns dessen bewusst sein, dass unsere herkömmliche Sprache direkt oder indirekt Intoleranz unterstützt. Das bezieht sich nicht nur auf Ausdrücke wie „Nigger“, „Tschusch“ oder „Judensohn“. Wenn wir z. B. das Wort „Schwarzer“ gebrauchen, sind die Assoziationen eher negativ. Wenn wir sagen, jemand habe eine schwarze Seele, denken wir von ihm eher schlecht. Weiß dagegen beinhaltet das Gefühl der Reinheit. Die weiß gekleidete Braut wird z. B. als Symbol der Unschuld betrachtet. Verfeinerter Rassismus begegnet uns noch immer in vielen Lesebüchern. Amerikanische Schüler protestierten und verlangten neue Lesestücke, die die wirkliche Situation der Rassenunterdrückung zeichnen und nicht die Lehre von der Erhabenheit der weißen Rasse wiedergeben sollten. Das Wiener Institut für Entwicklungsfragen führte mehrere Untersuchungen deutscher und österreichischer Lesebücher durch, die beweisen, dass z. B. die Informationen über afrikanische Staaten einseitig und voller Vorurteile sind. In vielen Tageszeitungen wird der Meinung Vorschub geleistet, Entwicklungshilfe sei Verschwendung von Steuergeldern. Hinter solchen Angriffen steckt ein hohes Maß an Rassismus. Klischees führen automatisch zu Schikanen. So war es z. B. in Russland unter Stalin: Opponenten wurden als Konterrevolutionäre gebrandmarkt. Ihre Aktionen wurden als gefährliche und ansteckende Seuche dargestellt. Unter den angegriffenen 52

Das Problem „Vorurteil“

Personen befanden sich auch Deutsche, die in der Wolgagegend lebten, einige jüdische Ärzte, eine große Anzahl Offiziere, Journalisten, die „zu viele“ Kontakte ins Ausland hatten, ehemalige KZ-Häftlinge, kurz gesagt, alle diejenigen, die nicht von Stalins Unfehlbarkeit überzeugt waren. Sobald sie als Konterrevolutionäre abgestempelt waren, hatten sie ihre legalen Rechte verwirkt. Sie waren damit jeder Art von Quälerei ausgesetzt. Man konnte sie nach Sibirien schicken oder sie konnten umgebracht werden. War das nicht alles im Sinne der Staatssicherheit? War das nicht angemessen, um konterrevolutionäre Elemente zu zerstreuen, um so den Sieg der Revolution sicherzustellen? Die Berichte Solschenizyns in seinen Büchern „Ein Tag im Leben des Ivan Denissowitsch“ und „Archipel Gulag“ schockieren uns vielleicht. Sie sollten uns jedoch nicht überraschen: Wenn einmal die Gesellschaft Individualisten als Dissidenten abtut und ganze Gruppen als potenzielle Verräter abstempelt, sind die Türen für eine organisierte Hetze geöffnet. Wenn wir eine konstruktive Zukunft haben wollen, müssen wir aufhören, uns von Slogans und Etiketten leiten zu lassen. Ein Mensch kann nicht durch eine Gruppenzugehörigkeit definiert werden, er ist nicht durch seine Weltanschauung, durch seine Hautfarbe, Nationalität und Religion programmiert. Er ist einzigartig. Einen Menschen nach Pauschalurteilen zu bewerten, ist eine Verdrehung der Wirklichkeit, die doch komplex, pluralistisch und dauernd veränderbar ist. 53

Teil I

Konkret heißt das: Egal, ob wir schwarz oder weiß, jung oder alt, Russen oder Amerikaner, Juden, Protestanten oder Katholiken sind, wir sollen nicht einfach durch unsere Gemeinschaften oder gesellschaftlichen Hintergründe charakterisiert sein. Unsere Einzigartigkeit und unsere Persönlichkeit sollten herausgestrichen werden. Wir wollen so betrachtet werden, wie wir wirklich sind – mit all unseren schwachen und starken Seiten, mit unseren Fähigkeiten, unseren Fehlern, mit unseren Wünschen und Abneigungen. Wir wollen als Menschen akzeptiert werden und nicht als Abstraktionen. Ein griechischer Philosoph wurde einmal nach seiner Nationalität gefragt. Seine Antwort war: „Ich bin ein Bürger des Universums.“ Das ist die Haltung, die zu Emanzipation und weltweiter Freundschaft führt. Worin besteht der Zusammenhang zwischen Kritik und Vorurteil? Einer der bekanntesten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts, Sinclair Lewis, schrieb unter anderem ausgezeichnete Werke über den amerikanischen Charakter. Einige seiner letzten Bücher kamen nicht so gut an, z. B. „Der einsame Kämpfer“. Einige Kritiker, die ihn nicht leiden konnten, waren in ihren Besprechungen sehr gehässig. Waren seine Ausführungen nicht übertrieben? Wiederholte er sich nicht ständig? Ließ er nicht jede ästhetische Tiefe fehlen? Ein Kritiker 54

Das Problem „Vorurteil“

ging sogar so weit, zu sagen, dass Lewis in seinem Stil gerade noch das Niveau eines Studenten im 2. Semester erreiche. All das setzte Sinclair Lewis sehr zu, förderte seinen Hang zum Alkoholismus, zerstörte sein Selbstbewusstsein; ohne Zweifel trug es auch dazu bei, dass er ins „Exil“ nach Italien ging und schließlich völlig zusammenbrach. Gerade in der Situation, wo er Verständnis und Ermutigung am meisten nötig hatte, wurde sein Selbstvertrauen durch die scharfen Angriffe der Kritiker erschüttert, die darin wetteiferten, zu beweisen, dass er absolut mittelmäßig sei. Zwischen dem durchschnittlichen Kritiker und einem wirklich kreativen Menschen besteht ein Riesenunterschied. Der Kritiker – sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft – hat oft nur eine begrenzte Sicht. Seine Welt ist klein; er wird von der Vergangenheit her bestimmt. Der Neid spielt bewusst oder unbewusst eine wichtige Rolle in seinem Leben. Der wirklich kreative Mensch auf der anderen Seite hat eine offene Perspektive. Er nimmt die Zukunft vorweg, er lebt, wie Nietzsche sagt, „im Übermorgen“. Er schafft oft ganz bewusst ein Chaos. Er kann eine viel größere Unsicherheit verkraften als der Kritiker. Der Künstler strahlt oft einen Geist der Fülle aus, weil er eben expansiv denkt. Der Kritiker hingegen ist sich leider oft seiner Motive nicht bewusst. Kein Wunder, dass große Neuerungen auf den Gebieten der Philosophie, der Naturwissenschaften, der Malerei, der Architektur, der Dichtung und des Romans durch formalistische Kritik verzögert wurden. 55

Teil I

Als Max Planck seine Quantentheorie darlegte, verließ ein Kritiker den Vortragssaal und erklärte: „Meine Herren, das ist keine Naturwissenschaft!“ Als William James in den USA seine Lehre des Pragmatismus entwickelt hatte, wurde er von Kritikern abgekanzelt, dass er sich zwar beim Volk populär gemacht habe, aber sicher kein ernst zu nehmender Philosoph sei. Als Frank Lloyd Wright seinen neuen architektonischen Stil entwickelte, griffen ihn viele seiner Kollegen an, er pervertiere die Kunst. Bekannt sind auch die Aversionen gegenüber Sigmund Freud – damals und heute noch. Ein bekannter Psychologieprofessor in Wien, der sicher große Fähigkeiten auf seinem Gebiet hatte, erwähnte z. B. die Ansichten Freuds in seinen Vorlesungen nur in einer Fußnote mit der Bemerkung: „Sie sind noch nicht genügend wissenschaftlich geprüft.“ Eines Tages traf ich einen bekannten Philosophieprofessor, der vor allem auf dem Gebiet des logischen Empirismus und der Philosophie der Naturwissenschaften arbeitet. Er erzählte, dass während seiner Studienzeit solche Gedanken als unphilosophisch abgetan worden waren. Er vergaß zu erwähnen, dass er – nachdem seine Gedanken sich durchsetzten und er akademisches Ansehen erworben hatte – jetzt selbst das gleiche tat, in dem er Ideen und Gedanken anderer einfachhin als unwissenschaftlich ablehnte. Der Kritiker glaubt meist, objektiv zu sein. Er meint, die Wahrheit verteidigen zu müssen. Er ist sicher, dass sein Urteil 56

Das Problem „Vorurteil“

richtig ist. In Wirklichkeit wird er aber oft von Vorurteilen geleitet, die er nur verdrängt hat. So wird z. B. der Künstler oft zu einem Sündenbock, auf den der Kritiker seine Frustration überträgt. Wir erziehen nicht zur Großzügigkeit. Selten versuchen wir, Verständnismuster zu schaffen. Wir ermutigen den Reformer nicht. Und was ist das Ergebnis? Der Künstler steht mehr oder weniger außerhalb der Gesellschaft. Ein Sprichwort in Österreich sagt, dass ein kreativer Mensch erst einmal ins Ausland, vor allem nach Deutschland und in die Vereinigten Staaten gehen muss, um zu Hause Anerkennung zu finden. Sobald ein Künstler gestorben ist, sind wir sehr großzügig. Einige der Kritiker, die Sinclair Lewis zu Lebzeiten verurteilt und sein Selbstvertrauen zerstört hatten, priesen ihn nach seinem Tod ungeniert als den größten amerikanischen Autor. Wie wirken sich international Voreingenommenheiten gegenüber älteren Menschen aus? Sicher wird heute einiges getan, um das Leben der älteren Menschen zu verbessern – wirtschaftlich, sozial und medizinisch. Es gibt mehr Klubs für sie und auch mehr Freizeitangebote. Die Altersheime sind menschenwürdiger geworden. Politiker wissen, dass Senioren Wahlen entscheiden können. Die Forschung, die sich mit den Problemen des Alters beschäftigt, wurde intensiviert. 57

Teil I

Ältere Politiker wie Kekkonen sind weltbekannt geworden und Künstler wie Casals, Rubinstein und Picasso, Philosophen wie Russell und Dewey waren noch im hohen Alter aktiv. Grandma Moses, die über hundert Jahre alt geworden ist, hatte eine künstlerische Karriere hinter sich, die sich erst in den letzten drei Jahrzehnten ihres Lebens entfaltete. Arturo Toscanini, der bekannte Dirigent, gab siebzigjährig noch Konzerte in vielen Teilen der Welt; eine derartige Leistung hätte sicher jüngere Kollegen ermüdet. Aber das sind Ausnahmen. Für die meisten Menschen ist Alter nicht eine Phase der Erfüllung, sondern der totalen Entfremdung – eine Entfremdung, die durch Vorurteile intensiviert wird. Hier einige Beispiele: Fall 1: Sie ist 75. Ich habe sie in den USA kennengelernt. Ihr ganzes Leben ist von Pflichtgefühl bestimmt. Ihre Mutter starb, als sie sehr jung war. Besonders verehrte sie ihren Vater. Sein Tod verursachte eine tiefe Depression, sodass sie psychiatrische Behandlung brauchte. Ein Bekannter wollte sie heiraten, aber er hatte nicht ihre intellektuellen Interessen und nicht den gleichen Familienhintergrund. Jeder Kandidat für eine mögliche Ehe wurde mit dem Vater verglichen – ein Vorurteil, das immer negative Auswirkungen hatte. Sie ist sehr puritanisch erzogen worden und 58

Das Problem „Vorurteil“

hat sich nie davon gelöst. Freudianer würden mit Recht behaupten, sie habe ein zu starkes Über-Ich. Sie war in einer mittelmäßigen Stellung bei der Post beschäftigt. Ihre Vorgesetzten sahen in ihr eine fleißige Angestellte, die ihre Aufgaben zufriedenstellend erfüllte. Nach ihrer Pensionierung wurde sie immer einsamer und depressiver. Sie vernachlässigte ihre Wohnung. Viele Tage ist sie überhaupt nicht ausgegangen. Die Melancholie wurde so stark, dass sie einen Psychiater aufsuchte, der sie medikamentös behandelte. Ihr Zustand hat sich etwas gebessert. Sie lebt hygienischer und räumt ihre Wohnung auf. Aber ihr Horizont ist sehr eng. Außer einer Bekannten, die sie zweimal in der Woche sieht, hat sie kaum Kontakt mit der Außenwelt. Sie geht früh schlafen und steht oft nachts auf. Früher hat sie viel ferngesehen, hat aber jetzt wenig Interesse dafür. Meistens ist sie von Langeweile geplagt und weiß nicht, wie sie den Tag verbringen soll. Sehr oft geht sie zum Friedhof, um das Grab ihres Vaters zu besuchen. Bilder, die ihn zeigen, sind überall in der Wohnung. Selbstverwirklichung ist immer ein Fremdwort für sie gewesen. Die Dominanz ihres Vaters hat zu einer einseitigen Lebensweise geführt. Fall 2: Eine Frau, die jetzt fast achtzig Jahre alt ist, lebt in der BRD. Sie ist Witwe mit einer kleinen Pension. Ihr Mann wurde im Krieg 59

Teil I

getötet, sie hatten einander kaum gekannt. Sie hatte einige Freundschaften mit Männern, die aber nicht zur Ehe führten. Überhaupt hat sie eine sehr negative Meinung von Männern. Am meisten hat sie ihre Mutter bewundert, die mit einem Alkoholiker verheiratet und das Haupt der Familie war. Ärzte spielen eine große Rolle im Leben dieser Frau. Sie hat zwei unnötige Operationen hinter sich. Sie fürchtet sich besonders vor Krebs. Wenn sie irgendein Geschwür an ihrem Körper entdeckt, glaubt sie, dass es bösartig sei, und rennt zum Arzt. Jeden Tag wacht sie mit einem neuen Wehwehchen auf. Wie verbringt sie ihre Zeit? Was sind ihre Hauptinteressen? Sie wohnt schon seit dreißig Jahren im selben Haus, hat aber kaum Kontakt zu ihren Nachbarn. Sie beklagt sich, dass die Mieter, die einen Stock höher wohnen, soviel Lärm machen. Dauernd beklagt sie sich auch über die jüngeren Menschen. Sie seien unhöflich und hätten zu wenig Respekt vor älteren Menschen. Sie lebt in der Vergangenheit, und in ihrer Wohnung hängen viele Bilder, die sie in ihrer Jugend zeigen. Jedem Besucher präsentiert sie ihr Album, in das viele Fotos von ihrer Mutter und ihren Schulkameraden eingeklebt sind. Sie geht oft spazieren. In der Nähe ihrer Wohnung ist ein Park. Meist geht sie allein. Sie beklagt sich, dass die Kinder zuviel Lärm machen. Sie ist eine gute Köchin und verbringt Stunden mit Einkaufen. Sie bewegt sich zuwenig und isst zuviel; so hat sie dauernd zugenommen. 60

Das Problem „Vorurteil“

Ihr Arzt will, dass sie abnimmt. Sie hat verschiedene Abmagerungskuren versucht, aber ohne Erfolg. Abends sitzt sie vor dem Fernsehapparat. Ohne Fernsehen wäre sie verloren. Sie liest kaum, nur Boulevardzeitungen. Manchmal geht sie ins Café, wo sie sich Torte mit Schlag bestellt und Zeitschriften liest, die über das Leben der oberen Zehntausend berichten. Fall 3: Eine Frau, 68 Jahre alt, die in einem Altersheim in den USA lebt. Sie war mit einem Anwalt verheiratet. Er ist seit zwanzig Jahren tot. Ihr Sohn ist ebenfalls Anwalt. Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch bei ihr im Altersheim. Ich fragte sie, wie es ihr dort gehe. Ihre Antwort war: „Ich möchte lieber bei meinem Sohn wohnen. Ich bin noch rüstig und würde ihm nicht zur Last fallen, doch er hat keine Zeit für mich. Seine Frau ist sympathisch, aber sie hat keine eigene Meinung und ist sehr passiv meinem Sohn gegenüber. Ich würde gern mit den Enkelkindern zusammen sein – es sind drei Buben, 15, 11 und 9, aber ich werde nie eingeladen. Die Familie besucht mich nur selten; sie bleibt nie sehr lange, höchstens eine Stunde. Ich merke immer, dass mein Sohn nervös wird, denn für ihn bin ich zu langweilig. Er sagt zu mir, wie froh ich sein solle, in einem so gut geführten Heim zu wohnen. Er hat nicht ganz unrecht. Ich habe ein schönes Zimmer und gute 61

Teil I

ärztliche Betreuung, auch das Essen ist akzeptabel, aber ich bin einsam. Es sind wenig Männer hier. Die Frauen sind unfreundlich und tratschen nur. Ich fühle mich wie ein Außenseiter im Heim, denn ich habe intellektuelle Interessen und lese sehr viel.“ „Wie sehen Sie Ihre Zukunft?“ „In meinem Alter hat man keine Zukunft, nur eine Vergangenheit. Ich ärgere mich über meinen Sohn. Warum ist er so kalt? Ich habe doch so viel für ihn getan. Er ist äußerst undankbar. Meine Zukunft wäre anders, wenn ich bei ihm wohnen und engen Kontakt mit den Enkeln haben könnte. Statt dessen werde ich hier vegetieren. Wie oft weine ich nachts! Wie oft wünsche ich mir, nicht mehr lange zu leben! Am meisten habe ich Angst, einen Schlaganfall zu bekommen und ein Pflegefall zu werden. Lieber würde ich Selbstmord begehen.“ Fall 4: Ein Mann, 76 Jahre alt, in den USA. Beruflich war er Bankbeamter. Seine Frau ist vor fünfzehn Jahren gestorben. Er hat zwei Söhne, die weit entfernt in einem anderen Staat wohnen und ihn selten besuchen. Besonders leidet er unter der Inflation, die in Amerika viel stärker ist als in den meisten europäischen Ländern. Er lebt in einem Untermietzimmer und kocht für sich selbst. Er muss sehr billig einkaufen, denn seine Rente reicht kaum aus und verliert ständig an Kaufkraft. Er 62

Das Problem „Vorurteil“

glaubt, dass früher alles besser war und dass sich Amerika in einer Phase des Niederganges befinde. Ich fragte ihn einmal, wer dafür verantwortlich sei. Seine Antwort war: „Korrupte Politiker und eine verwöhnte Jugend.“ Er gehört zu einer reaktionären Bewegung, der „American Legion“, und bekämpft die weltweite Gefahr der „Linken“. „Law and order“ bestimmen seine Gedanken. Am liebsten wäre es ihm, wenn die Todesstrafe global eingeführt würde. Er ist fanatischer Patriot, der sich ein starkes Amerika wünscht. In seinem Zimmer hängen Bilder von General Douglas MacArthur, der für ihn ein Idol ist. Sein Zimmer ist sehr sauber, und er ist auch meistens gut angezogen. Jeden Morgen macht er Turnübungen, um fit zu bleiben. Abends sieht er fern und liest die Zeitung, besonders interessiert er sich für den Wirtschaftsteil. Oft schreibt er Briefe an die lokale Zeitung, um für mehr Polizisten und Rüstung zu plädieren und sich über die Inflation zu beklagen. Er hat eine Freundin, die acht Jahre jünger ist und die er zweimal in der Woche sieht. Sie hat auch nur eine kleine Rente und teilt seine politischen Ansichten. Ihre Freundschaft beruht auf gemeinsamen Vorurteilen. Es gibt, wie schon erwähnt, auch viele positive Beispiele des Alters. Aber die Mehrzahl der älteren Menschen erlebt immer wieder eine Niederlage. Was sind die Hauptursachen dafür? Warum ist Alter für Millionen eine Tragödie? 63

Teil I

Die meisten Menschen haben falsche Ziele, die von Oberflächlichkeit und Anpassung bestimmt sind. Sie haben sich nicht entwickelt. Sehr wenige sind auf das Alter vorbereitet. – Der alte Mensch ist in den USA nur zu oft das Opfer von Betrügern. Versicherungen werden angeboten; wenn aber die Not kommt, merkt der ältere Mensch, dass er wegen irgendwelcher juristischer Kniffe keine Unterstützung von der Versicherung bekommt. Oder er investiert sein ganzes Vermögen in einen Platz im Altersheim; doch das Altersheim macht bankrott, und der alte Mensch steht ohne finanzielle Mittel da – eine Tatsache, die immer wieder zum Selbstmord führt. – Tanzkurse werden angeboten, und es kommt vor, dass ältere Frauen tausende Dollars für diese Kurse zahlen, obwohl sie kaum daran teilnehmen können. Besonders die Älteren sind für die Verführungen der vielen Sekten anfällig. Die Sekten versprechen alles: ein besseres Leben, Solidarität, Erfüllung im Jenseits. Doch am meisten sind die Sekten an materieller Unterstützung seitens der Senioren interessiert. – In den Slums der USA sind die Älteren besonders gefährdet. Immer wieder werden sie überfallen. Selbst tagsüber wagen sie sich kaum noch auf die Straße. Sie sind besonders von Drogensüchtigen bedroht, die oft nicht wissen, was sie tun und manchmal morden, ohne sich bewusst zu sein, was sie anstellen. In vielen Wohnungen haben die Senioren mehrere Schlösser und Alarmanlagen angebracht; sie fühlen sich wie in einer belagerten Festung. 64

Das Problem „Vorurteil“

– Der alte Mensch lebt meistens in einem Ghetto. Er fühlt sich entwertet. Wenn er Hilfe braucht, wird er oft gedemütigt. Er braucht viel Fürsorge und Güte, statt dessen erlebt er meistens Indifferenz und Vorurteile. – Das Problem der Einsamkeit wird immer größer. Um das Leben zu meistern, brauchen wir soziale Kontakte. Gerade der ältere Mensch hat zu wenig Gelegenheit, Kommunikation zu pflegen, und er ist auch nicht zur Dialogfähigkeit erzogen worden. – Ohne Freundschaft ist das Leben eine Tragödie; das wussten schon Denker wie Aristoteles und Epikur. Aber in einer Leistungsgesellschaft wird Freundschaft unterbewertet und Konkurrenz hochgehalten. Am meisten leidet der ältere Mensch darunter. – Der Stress des heutigen Lebens ist so intensiv, dass besonders die Männer frühzeitig sterben. Sie leiden unter beruflichem und privaten Stress und vernachlässigen oft ihre Gesundheit. Sie fühlen, dass sie eine konformistische Rolle spielen müssen – eine Rolle, die psychosomatische Krankheit verursacht und zu einer emotionalen Leere führt. Von einer gewissen Altersstufe an gibt es, besonders in den USA, viel zu wenige Männer – eine Tatsache, die viele Frauen unzufrieden macht. Man sieht dort viele ältere Frauen, die wie junge Mädchen aussehen wollen: mit kurzen Röcken, bunten Hüten und gefärbtem Haar. Doch ihre Bemühungen sind meistens erfolglos; auch sie sind 65

Teil I

nur Beispiele für ein verfehltes Leben. Oft haben sie ihre Männer angetrieben, materiell erfolgreich zu sein, immer mehr zu konsumieren, immer mehr zu besitzen. Das Resultat ist, dass so viele amerikanische Männer einen tödlichen Herzinfarkt erleiden und neurotische Witwen hinterlassen, die materiell viel besitzen, aber seelisch unterentwickelt sind. – Um wirklich erfolgreich zu leben, braucht der Mensch ein intensives Interesse für die Kultur. Aber wo wird dieses Interesse wirklich gefördert? Sicher nicht in den meisten Familien und Schulen und auch nicht in den Medien. Im Gegenteil: Passivität wird zum Lebensstil, und besonders der ältere Mensch leidet darunter. – Ruhestand – das klingt in der Theorie wunderbar. In der Praxis ist er meistens ein Fluch; der ältere Mensch braucht Bewegung in jeder Hinsicht, er muss seinen Körper fit halten, sein Geist muss dynamisch sein, seine Perspektive muss sich erweitern. Aber für viele ältere Menschen mit einer falschen Lebensphilosophie und falschen Werten sind diese Forderungen utopisch. – Toscanini betonte einmal, dass Routine den Tod der Kreativität bedeute. Gerade das Leben des älteren Menschen ist von Routine und Monotonie geprägt. Oft weiß er nicht, was er mit sich anfangen soll. Er hat zu viel Zeit, über die Vergangenheit nachzudenken. Meistens sieht er sie in einer rosigen Beleuchtung und vernachlässigt dadurch die Möglichkeiten der Zukunft. – Wie selten lernen wir, dass es wichtig ist zuzuhören, weil wir 66

Das Problem „Vorurteil“

dadurch neue Welten erleben und überhaupt viel sympathischer werden. Statt dessen konzentrieren wir uns auf unsere eigenen Meinungen und lassen den anderen kaum zu Wort kommen – eine Haltung, die sich besonders im Alter negativ auswirkt. – Schöpferische Tätigkeit ist wichtig. Und doch wird sie oft vernachlässigt. Warum nehmen Dichtung und Kunst eine zweitrangige Stellung in der Erziehung ein? Warum fördern wir die Fantasie nicht viel mehr? Im Alter zahlen wir dann einen hohen Preis für diese Vernachlässigung; denn der wirklich schöpferische Mensch hat einen Geist, der nicht gebrochen werden kann: Immer wieder entwirft er neue Projekte, immer wieder hat er neue Einfälle, immer wieder erlebt er eine kreative Unruhe, die ihn vorwärtstreibt und herausfordert. So viele betonen, dass der alte Mensch keine kreative Stimulation braucht. Das ist ein Vorurteil mit äußerst negativen Konsequenzen. – Ohne Engagement ist unsere Existenz nur Vergeudung. Wo lernen wir, wie wichtig es ist, sich den Nöten der Schwachen und Verfolgten zu widmen? Wie notwendig es ist, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken! Wie Selbstsucht immer wieder zur allgemeinen Rücksichtslosigkeit führt! Bisher lernen wir diese Haltungen nur selten durch Erziehung, die meistens alles andere als menschliche Zuwendung fördert und sich nicht auf unsere Stärken, sondern auf unsere Schwächen konzentriert.

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Teil I

– Gerade der alte Mensch braucht ein Gefühl der Solidarität, das durch Toleranz und Verständnis untermauert ist. Doch nur zu oft ist er ein Opfer von Voreingenommenheit. Ein älterer Herr in Los Angeles sagte zu mir: „Jetzt weiß ich, wie ein Schwarzer fühlt, wenn man über ihn hinwegsieht. Ich bin in der gleichen Situation. Wenn ich zum Arzt gehe, bin ich nur eine Nummer. Wenn der Arzt mich untersucht, macht er es lieblos, oberflächlich und kurz. Wenn ich mich beklage, sagt er: ,Was wollen Sie, in Ihrem Alter? Seien Sie froh, dass Sie noch am Leben sind.‘ Wenn ich einkaufen gehe und immer die billigste Ware verlange, werde ich schief angesehen. Wenn ich mich nicht entscheiden kann, was ich kaufen will, werde ich manchmal von den Verkäufern angeschrien. Immer schwieriger ist es für mich, mit der geringen Pension auszukommen. Meine Miete ist gerade hinaufgesetzt worden. Ich habe dagegen protestiert, aber ohne Erfolg. Ich fragte den Hausbesitzer, wie ich unter diesen Umständen auskommen solle. Seine Antwort war: ,Das ist nicht mein Problem!‘ Ich habe das Gefühl, dass er es nicht erwarten kann, bis ich sterbe. Dann wird er meine Wohnung renovieren lassen und noch mehr Geld verlangen. Alt, arm und gebrechlich zu sein, ist ein furchtbares Schicksal. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalten werde. Oft beneide ich meine Freunde, die nicht mehr am Leben sind, denn sie erleben nicht dauernd diese Rohheit und Herabsetzung.“ – In vieler Hinsicht können wir vom Fernen Osten lernen, wo 68

Das Problem „Vorurteil“

der alte Mensch nicht als minderwertig betrachtet, sondern geehrt wird. Dort hat auch kaum jemand Angst, alt zu werden. Natürlich wäre es falsch, die Jugend zu sehr einzuschränken und eine Haltung des Traditionalismus zu kultivieren. Überall besteht die Notwendigkeit, die Vitalität der Jugend mit der Abgeklärtheit des Alters in Einklang zu bringen. Sir Francis Bacon beschrieb in seinem Essay „Über Jugend und Alter“, dass beide Phasen des Lebens gewisse Beschränkungen haben und wie sie sich ergänzen können. „ … Junge Leute eignen sich mehr zum Erfinden als zum Beurteilen, mehr zur Ausführung als zur Beratung und mehr zu neuen Entwürfen als zu geordneten Geschäften. In der Leitung und Überwachung von Unternehmen pflegen junge Leute mehr zu beginnen, als sie vollenden, und mehr aufzuwühlen, als sie wieder besänftigen können; sie fliegen auf das Ziel hin, ohne die Mittel und Wege zu berücksichtigen; sie verfolgen unverständig ein paar Grundsätze, auf die sie von ungefähr gestoßen sind, und reformieren unbesorgt drauf los, was zu ungeahntem Schaden führt … Reife Männer machen zuviel Einwände, beraten zu lang, wagen zu wenig, bereuen zu früh und bringen nur selten den ganzen Gewinn heim, sondern begnügen sich meist mit mittelmäßigem Erfolg.“ Die Empfehlung von Sir Francis Bacon ist eindeutig: „Es ist sicherlich gut, den Dienst beider zu suchen, … denn ihre Tugenden können die gegenseitigen Mängel ausgleichen.“ 69

Teil I

Wie großartig wäre es, wenn ältere und junge Menschen zusammen leben würden, wenn z. B. Altersheime in der Nähe von Studentenheimen gebaut würden. Beide Gruppen könnten durch gemeinsame Tätigkeiten ihr Leben bereichern. Jedes Ghetto symbolisiert bewusste Einengung. Nur mit alten Menschen zu sein bedeutet, so oft Erzählungen über Krankheiten hören zu müssen und eine Resignation zu erleben, die Melancholie fördert. Dagegen nur mit der Jugend zu sein bedeutet nicht selten, über viele unmögliche Träume zu hören, die in der Realität nicht verwirklicht werden können. „Wir wollen junge Führungskräfte“, ist eine Forderung, die oft in den USA gemacht wird. Kein Wunder, dass Generaldirektoren schon mit 35 Jahren ernannt werden. Doch das Problem stellt sich nicht selten, dass ein 30-jähriger Abteilungsleiter intrigiert, um selbst Leiter der Firma zu werden. In Japan dagegen findet man viele Generaldirektoren, die über 70 sind, die sich dauernd weiterentwickeln, die viel Verständnis für die Jugend haben, deren Ehrgeiz es ist, der Firma zu dienen und nicht ihre eigene Karriere in den Vordergrund zu stellen. In Japan spricht immer der Älteste zuerst. Er ist abgeklärt genug, um eine gewisse Distanz zu den täglichen Ereignissen zu haben. Wenn jugendliche Mitarbeiter Vorschläge zur Verbesserung des Betriebes und der Arbeitsweise machen, werden sie von höchster Stelle ermutigt, ihre Ideen zu verwirklichen. 70

Das Problem „Vorurteil“

Der Fortschritt der Menschheit wird zum Teil davon abhängen, wie sich die Beziehung zwischen Jugend und Alter entwickeln wird. Auf diesem Gebiet ist ein Land wie Japan weit kreativer als die USA, wo der Jugendkult so intensiv betrieben wird. Auch in Europa wird die Jugend oft ins Zentrum gestellt. Ein Bekannter von mir in Deutschland, 42 Jahre alt, hat seine Stelle als Prokurist einer großen Firma, die rationalisiert wurde, verloren. Er schickte hunderte Bewerbungsschreiben aus und bekam nur selten eine Antwort. Er wartet immer noch auf eine neue Beschäftigung. Er sagte zu mir: „Ich fühle mich so überflüssig. Ich könnte so viel für eine Firma leisten, doch niemand will mich. Mit 42 Jahren fühle ich mich wie ein alter Mann, der ignoriert wird und den niemand mehr braucht.“ In Japan hatte ich einen Freund, der mit 90 das Studium des Taoismus begann; früher war er Computerspezialist. Ich fragte ihn, warum er das getan hätte. Seine Antwort war: „Ich wollte nicht einseitig sein. Computer können die wichtigen Probleme der Menschheit nicht lösen. Ideen sind die Fundamente für alles, auch für das Alter.“ Nicht das Alter hinnehmen, sondern sich weiterentwickeln, bis der Tod kommt – das ist eine bedeutende Herausforderung. Rupert Zimmermann verdeutlicht diesen Standpunkt in poetischer Weise: 71

Teil I

„Fließe nieder goldner Fluss aus den müden Zweigen; – ach, wie bald bei Traum und Kuss sich die Tage neigen. – Breite deine ganze Pracht vor die schweren Tritte; mahne mich zur Mitternacht um die letzte Bitte: Wirble einen bunten Kranz mir um Haupt und Lende, dass ich wie im Feuertanz meinen Tag beende.“

Wie schön kann es im Alter sein über das Leben zu reflektieren, mehr zu beobachten und Zeit zu haben, neue Freundschaften zu schließen. Es ist äußerst wichtig, jede Form der Stagnation zu vermeiden. Ist schöpferisches Lernen im Alter nicht noch wichtiger als in der Jugend? Durch neue Einsichten kann das Alter einen echten Höhepunkt bringen – einen Höhepunkt, den Longfellow so beschreibt: „Im Alter ist nicht weniger Gelegenheit Als in der Jugend, nur in anderem Kleid, Und wenn die Nacht den Himmel überzieht, Erstrahlen Sterne, die man tags nicht sieht.“

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Das Problem „Vorurteil“

Das Leben progressiv zu gestalten, ist eine Notwendigkeit. Das heißt, für eine erweiterte Gemeinschaft zu leben bedeutet Betonung der Herzensgüte, die Entwicklung des „edlen Menschen“, wie schon Konfuzius ihn forderte – eines Menschen, der seine Ideale durch seinen Lebensstil verwirklicht. Solange wir falsche Prioritäten setzen, solange wir zu wenig Gefühl für den alten Menschen aufbringen, besonders für den erfolglosen, sind wir noch weit entfernt von jeder Kultur, die Taten verlangt, statt leerer Worte. Ein Umdenken ist notwendig, wenn wir nicht alle Opfer eines falschen Wertsystems und immer stärker werdender Voreingenommenheiten werden wollen. Sie erwähnten, dass Vorurteile praktisch überall auf der Welt zu finden sind. Können Sie diese Behauptung belegen? Wir brauchen nur nach Asien zu schauen, um zu erkennen, wie ernst dieses Problem ist. Die Lebensbedingungen der Ausgestoßenen in Indien sind erbärmlich. Die Auseinandersetzung zwischen Hindus und Moslems hat Millionen Menschenleben gekostet. Auf Sri Lanka herrscht ständig Streit zwischen den Singhalesen und der Gruppe der Tamilen. In Birma (engl. Burma) wollen die Karens mehr Rechte, während in Pakistan die Pathans ihre Unabhängigkeit fordern. Die chinesischen Minderheiten wurden einer extremen Diskriminierung ausgesetzt, besonders in Thailand, Malaysia, 73

Teil I

Indonesien und den Philippinen. Als 1965 der Aufstand in Indonesien misslang, wurden über 35.000 Chinesen ermordet und Tausende wurden in Konzentrationslager gebracht. In West-Borneo wurden 25.000 chinesische Landarbeiter in Pontianak angesiedelt, wo die meisten von ihnen in den desolaten Slums wohnen. Fast 1000 Chinesen wurden als politische Gefangene in der Nähe von Kuching interniert. Zwischen 1948 und 1960 sind 1 Million Menschen – viele davon Chinesen – in den sogenannten Neuen Dörfern angesiedelt worden, trostlose Gegenden, fast wie Konzentrationslager. Auf den Philippinen leiden die Moslems unter periodischen Verfolgungen. Die Tausegs, eine Moslemgruppe mit maoistischen Ideen, wollen seit langem eine unabhängige Republik. In West-Europa ist die Lage der Gastarbeiter vor allem in Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz oftmals ganz erbärmlich. Sie werden unterbezahlt, leben oft unter menschenunwürdigen Bedingungen und stoßen bei der Bevölkerung auf Ablehnung und Misstrauen. In England, wo rassistisch denkende Politiker sehr populär sind, erleben Einwanderer eine starke Diskriminierung. Der nordirische Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken forderte Tausende von Opfern. Auf beiden Seiten gebrauchten Heckenschützen Methoden, die an die Mafia erinnern. Der Zerfall der Sowjetunion wurde durch Diskriminierung der Minderheiten beschleunigt. Die verschiedenen Volksgruppen 74

Das Problem „Vorurteil“

bekämpfen einander mit solcher Intensität, dass immer wieder Gräueltaten geschehen. Es gibt unzählige Flüchtlinge, die alles verloren haben und wie Bettler leben müssen. In einigen asiatischen Provinzen der ehemaligen Sowjetunion sind Nationalisten so stark geworden, dass Russen ständig Diskriminierung erleben. Antisemitismus scheint weiterhin ein Problem zu sein, nicht nur in Deutschland und Österreich sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern, in den USA wie im Nahen Osten, wo der israelitische Staat eine negative arabische Reaktion hervorgerufen hat. Gleichzeitig gibt es Vorurteile seitens der Israelis gegen die Palästinenser, die oft als wenig intelligent und unterlegen angesehen werden. Weiters diskriminieren die europäischen Juden diejenigen, die eine dunkle Hautfarbe haben, vor allem die Juden aus dem Jemen. In den USA besteht das Rassenproblem weiter, von ihm sind hauptsächlich Schwarze, Indianer, Mexikaner und Puertorikaner betroffen. In Teilen Südamerikas sind die Indianer schon beinahe ausgerottet. Zypern ist ein klassisches Beispiel der Tragödie Vorurteil – eine Tragödie, die durch die türkische Invasion und die türkische Eroberung eines Teils der Insel intensiviert wurde. Südafrika hat nach dem Triumph der Schwarzen einen gewissen Fortschritt erreicht, doch die Lage vieler Schwarzer ist von Entbehrung und Armut geprägt. 75

Teil I

Die Verfolgung von Minderheiten steht in vielen Nationen Afrikas an der Tagesordnung, vor allem in Uganda, Äthiopien, Burundi, Zaire und Nigeria – eine Verfolgung, die schon hunderttausende Tote und noch mehr Flüchtlinge gekostet hat. In Ruanda hat der Bürgerkrieg zwischen Hutus und Tutsis Millionen von Opfern gefordert. Im ehemaligen Jugoslawien fanden blutige Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen statt. Besonders schrecklich wirkten sich die Kämpfe zwischen Kroaten und Serben aus – mit hunderttausenden Opfern auf beiden Seiten. Kroatien als unabhängiger Staat diskriminiert die in Kroatien lebenden Serben durch permanente Verletzungen der Bürgerrechte. In Kroatien herrscht immer noch der Ustascha-Ungeist, der schon im Zweiten Weltkrieg 800.000 Serben und viele tausend Juden das Leben kostete. Die Herrschaft der Ustascha-Bande war so blutig, dass selbst viele Deutsche protestierten. Der Bürgerkrieg in Bosnien ist so grauenhaft, dass selbst UN-Beobachter, die in Ruanda gedient haben, schockiert sind. Auf der einen Seite waren die Kroaten und Moslems, die beachtliche Hilfe aus den USA und von arabischen Nationen bekamen, auf der anderen Seite waren die Serben, die von Griechenland unterstützt wurden. Die Zivilbevölkerung litt am meisten durch den Bürgerkrieg. Im TV konnte man sehen, wie viele Dörfer dem Erdboden gleichgemacht wurden und wie die 76

Das Problem „Vorurteil“

Spitäler mit unzähligen Verwundeten überfüllt waren, sodass weder Ärzte noch Krankenschwestern effektive Hilfe leisten konnten. Man darf nicht vergessen, dass die verschiedenen Volksgruppen jahrzehntelang friedlich zusammen gelebt haben. Viele Ehen wurden zwischen Kroaten und Serben geschlossen. Gemeinsam hat man sich am Aufbau Jugoslawiens beteiligt. Verantwortungslose Agitatoren waren so erfolgreich, dass diese Atmosphäre der Toleranz endete. Hunderttausende der verschiedenen Volksgruppen wurden vertrieben und in Lagern interniert, die Symbole der Hoffnungslosigkeit darstellten. Die kurdische Minderheit in der Türkei wird so blutig unterdrückt, dass tausende Kurden ins Ausland geflüchtet sind; viele kurdische Dörfer wurden von der türkischen Armee zerstört. Dabei wurde oft Napalm eingesetzt, sodass tausende Kurden lebendig verbrannten. Es ist bezeichnend, dass in der Türkei die Analphabetenrate sehr hoch ist. Für Bildung sind nur begrenzte finanzielle Mittel vorhanden, dagegen erhält die türkische Armee die modernsten Waffen, um Unterdrückungsmaßnahmen gegen alle Minderheiten zu intensivieren. Tragisch wie das Schicksal der Kurden ist schon immer die Lage der Indianer in den USA gewesen. Hunderte Verträge wurden abgeschlossen, um ihre Rechte zu sichern, schließlich 77

Teil I

mussten Tausende in Reservaten leben und waren zu einer menschenwürdigen Existenz nicht mehr fähig. Das Leben dort war so entmutigend, dass die Selbstmordziffer bei den Indianern doppelt so hoch lag wie bei den weißen Amerikanern. Die größte Beleidigung war, dass zahllose Filme sie als Aggressoren zeigten, wo sie doch in Wirklichkeit Opfer unzähliger gebrochener Verträge und organisierter Massenmorde waren, von denen weder Kinder noch Frauen verschont blieben. Die üblichen stereotypen Redewendungen über Indianer sind: – Sie sind faul, – sie sind schlampig, – sie sind Wilde. Solche Ausdrücke sind für viele anwendbar: Für Koreaner in Japan, für Montagnards in Vietnam – sie alle tragen den Makel einer missratenen Kreatur. Eine Minderheit ist in zweifacher Hinsicht benachteiligt: Türen bleiben automatisch geschlossen, sodass Chancengleichheit ein bloßer Traum bleibt. Gleichzeitig werden die Minderheiten wegen ihrer Mängel verachtet – Mängel, die meist durch die diskriminierende Mehrheit verursacht sind. Ich möchte daran erinnern, dass sich Hass schnell ausbreitet. So vernichtete Hitler nicht nur die Juden, sondern seine Wut dehnte sich auch auf Behinderte, Roma und Sinti, Slawen und 78

Das Problem „Vorurteil“

ideologische Gegner aus. In seiner Vorstellung war nur für das Herren-Volk Platz. Alle anderen sollten Leibeigene sein oder beseitigt werden. Was so deprimiert, ist die Tatsache, dass die Unterdrückten immer wieder zu Unterdrückern werden. So litten z. B. die Franzosen unter den Hitler-Verfolgungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandten die französischen Kolonialherrscher die gleiche Unterdrückungsmethode in Algerien an. Die Methoden der SS wurden von der französischen Geheimpolizei nur verfeinert, und die Folterungen der politischen Gefangenen waren manchmal noch grausamer. All das wurde durch chauvinistische französische Propagandisten dadurch gerechtfertigt, dass die Algerier minderwertig seien und sich gegen eine höhere Zivilisation zu wehren versuchten. Oft las man in Frankreich Schlagzeilen über die Auseinandersetzung zwischen Algeriern und Franzosen, besonders in Südfrankreich. Als Algerien die Unabhängigkeit erreicht hatte, gingen tausende Algerier nach Frankreich, weil ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten sehr beschränkt waren. In Frankreich zogen sie sich die Feindschaft nicht nur der vertriebenen Franzosen zu, die Algerien während seiner wachsenden Selbstständigkeit verlassen mussten, sondern auch der wirtschaftlich unterprivilegierten Schichten, die eine Konkurrenz durch die algerischen Arbeiter befürchteten. 79

Teil I

Besonders in Marseille kam es fast zu einer offenen Auseinandersetzung. Immer wenn es zu einer Welle von Verbrechen kam, vermutete man algerische Fremdarbeiter dahinter. Ihre Verbrechen und Gesetzesübertretungen wurden von einigen Zeitungen so aufgebauscht, dass der durchschnittliche Leser in der Meinung bestärkt wurde, dass Algerier im allgemeinen unteren Schichten angehören und dass sie alle einen Hang zur Gewalttätigkeit und Kriminalität haben. Gleichzeitig verbreitete sich ein extremer Nationalismus und religiöser Fanatismus in Algerien. Diese Bewegung war so erfolgreich, dass tausende Franzosen 1994 Algerien verlassen mussten. Immer wieder lesen wir über Mordanschläge auf Franzosen in Algerien – Anschläge, die mit äußerster Brutalität durchgeführt wurden. Das sind nur einige Beispiele für den Tribut, den Vorurteile fordern. Wenn wir uns jetzt das Vorurteil in seinen häufigsten Spielformen vor Augen führen und dazu noch die Diskriminierung der Alten, der Behinderten, der Homosexuellen, der unkonventionellen Jugendlichen, der Vorbestraften, der Geisteskranken, der politisch Andersdenkenden beobachten, dann wird das Vorurteil wirklich zu einem Schwindel erregenden Problem, zu einer „Geißel der Menschheit“.

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Teil ii

Spielformen des Vorurteils Viele glauben, dass die Schwarzen nie eine bedeutende Kultur besaßen. Ist diese Ansicht richtig? Dieser Standpunkt ist absolut falsch und beruht auf einer engstirnigen kulturellen Denkweise. In Europa und Amerika wird afrikanische Geschichte entweder vernachlässigt oder ganz weggelassen. Einige wissen etwas aus der ägyptischen Geschichte, aber wer weiß schon, dass die negroiden Rassen in Ägypten einen großen Bevölkerungsanteil stellten? Wie viele wissen, dass ein enger Kontakt zwischen Äthiopien und Ägypten bestand? Wer weiß zum Beispiel, dass sich der schwarze Pharao Piankhy durch große Taten und hervorragende Staatsführung auszeichnete? Piankhys Nachfolger, Shabaka, war einer der bedeutendsten Herrscher der Weltgeschichte. Er war ein Beispiel für Gerechtigkeit seinen Untertanen gegenüber. Er war so fortschrittlich, dass er schon damals die Todesstrafe abschaffte, und sein Rechtswesen war aufgeklärter als das vieler moderner Staaten. Die Kultur der Schwarzen in Afrika geht Jahrtausende weit zurück. Schwarze der Steinzeit entwickelten die Kunst der Töpferei. Archäologen haben herausgefunden, dass schon Ishongo-Schwarze, die vor ca. 8000 Jahren lebten, Formen der Arithmetik einschließlich verschiedener Elemente der 83

Teil II

Multiplikation kannten. In der Sahara sind Felszeichnungen entdeckt worden, die von Schwarzen vor wenigstens 5000 Jahren gezeichnet wurden und die im Detail und in der Genauigkeit des Ausdrucks mit den vorgeschichtlichen Felszeichnungen in Altamira in Spanien konkurrieren können. Hauptsächlich unter der Einwirkung der Kultur der Schwarzen konnte sich Ägypten, besonders im südlichen Teil, entwickeln. Der Sudan spielte eine entscheidende Rolle im Austausch von Ideen und Waren. In Afrika wie in anderen Teilen der Welt wurden Schwarze durch ihre Kriegsführung und ihre Künste bekannt. In Japan tat sich der schwarze General Sakanouye Tamuramaro besonders durch seine geistige Weitsicht und militärische Begabung hervor. Der schwarze Dichter Antar, der ca. 615 n. Chr. starb, war Sohn eines arabischen Adeligen und einer Sklavin; er kann sich in der Tiefe seiner Aussagen über Liebe und kriegerische Tugenden durchaus mit den großen weißen Dichtern messen. Im Mittelalter war Afrika Zeuge des Aufstiegs großer Reiche, wie z. B. Mali. Besucher, die die Möglichkeit hatten, die Sozialeinrichtungen zu besichtigen, waren von den großartigen Gebäuden und der Anpassungsfähigkeit des Sozialsystems tief beeindruckt. Gerechtigkeit wurde mit Wohlwollen ausgeübt. Der Sultan von Mali verzieh beispielhaft jenen Straffälligen, die ihre Taten bereuten. 84

Spielformen des Vorurteils

Sundiata Keita zeichnete für die Ausweitung der politischen Macht von Mali verantwortlich, während Musa einer Figur aus 1001 Nacht glich. 1324 unternahm Musa mit 12.000 Dienern eine Pilgerreise nach Mekka. Für karitative Zwecke verteilte er tausende Pfund Gold. Unter seiner Herrschaft blühten die Künste, und großartige Gebäude wurden in den Städten des Sudan, besonders in Timbuktu, erbaut. Als Mali an Bedeutung verlor, nahm Songhay seinen Platz ein. Der größte Herrscher war Askia Mohammed, der zwischen 1493 und 1512 ein Reich schuf, das größere Ausmaße hatte als Westeuropa. Askia, ein Vorbild an Güte und Toleranz, hieß neue Ideen willkommen und forcierte die Bildung mit äußerster Großzügigkeit. Die Hauptstadt Timbuktu überragte bei weitem die damaligen europäischen Hauptstädte. Mit 100.000 Einwohnern hatte sie eine bedeutende Universität, die sich besonders auf dem Gebiet der Medizin auszeichnete. Ihre Studenten hatten einen sehr guten Ruf. Es ist überliefert, dass der Handel mit Büchern das meiste Geld einbrachte, mehr als andere Wirtschaftszweige. Der Historiker Es Sadi beschrieb, dass Studenten aus ganz Afrika nach Timbuktu kamen, um dort zu studieren. Er selbst besaß eine große Bibliothek mit mehr als 1500 Büchern. Er berichtete z. B., dass der graue Star von sehr geschickten Ärzten operiert wurde – offensichtlich mit großem Erfolg. 85

Teil II

Stadtplanung und persönlicher Komfort kennzeichneten das Leben in Timbuktu. Die Bewohner waren an allen Genüssen des damaligen Lebens interessiert und besuchten oft Veranstaltungen mit Musik- oder Theaterdarbietungen. Das Sozialsystem vieler afrikanischer Staaten war oft fortschrittlicher als in einigen Teilen des modernen Europa. Für die Kranken wurde gut gesorgt, die Alten wurden respektiert; das Land wurde gemeinschaftlich verwaltet. Die herzlichen Familienbeziehungen sind auch heute noch ein Charakteristikum der Schwarzen und bilden zugleich eine Oase inmitten der Diskriminierung durch die weiße Bevölkerung. Maler wie Picasso wurden von der früheren afrikanischen Kunst mit ihren geometrischen Formen angeregt. Afrikanische Musik mit ihrem starken Rhythmus und ihrem Ansporn zum Mittun war eine ständige Quelle der Anregungen für moderne Komponisten. Kunst war nie Ausdruck einer elitären Gruppe, sondern vereinte die gesamte Bevölkerung. Tänze waren nicht nur Zeichen individueller Leidenschaft, sondern vereinigendes Element des Stammes. Ich habe viele Gottesdienste schwarzer Gläubiger in den Vereinigten Staaten besucht. Niemand kann sich vorstellen, wie aufgeschlossen die Gemeinden waren, wie ergreifend die Spirituals, wie eindrucksvoll die begeisterte Teilnahme.

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Spielformen des Vorurteils

Ebenso entscheidend ist die Art, in der die meisten schwarzen Kinder aufwachsen. Sogar wenn die sozialen Bedingungen hoffnungslos sind und die Armut eine nackte Tatsache, ist der Ton der Zuneigung und Güte unüberhörbar. Wie sehr steht das im Gegensatz zu der Kälte, die so viele weiße Eltern ihren Kindern gegenüber zeigen! Wir machen den Fehler, dass wir Kultur hauptsächlich mit materiellen und wissenschaftlichen Ausdrücken bewerten. Viel wichtiger wären Gefühle wie Herzlichkeit und Spontaneität. Ohne Herzlichkeit ist aller Fortschritt nur oberflächlich. Ohne sie wird wahrer Fortschritt unmöglich. Ohne sie kommen unweigerlich Gefühle der Überheblichkeit auf, die neuen Nährboden für Streit schaffen. Solch eine Herzlichkeit und Spontaneität kann häufig unter Schwarzen in Afrika gefunden werden. Neulich sprach ich mit einer Entwicklungshelferin, die in Tansania im Einsatz gewesen war. Dort hatte sie auch einige Tage im Busch verbracht, weit weg vom Komfort der Zivilisation. Sie begegnete einer älteren Witwe, die sie einlud, mit ihr in ihrem Zelt zu bleiben. Obwohl die Frau arm war, teilte sie alles mit dem österreichischen Mädchen. Die schwarze Frau fragte, in welcher Art Zelt die Eltern des Mädchens lebten und machte den Vorschlag, dass ihre Eltern doch auch nach Afrika kommen sollten. Sie würden dann alle zusammen leben. Was immer sie habe, stelle sie zur Verfügung. 87

Teil II

Ehe die beiden sich voneinander verabschiedeten, sagte die schwarze Frau, dass sie gern das „Zelt“ der Eltern in Europa besuchen möchte. Sie erwartete, dort auch so herzlich und natürlich aufgenommen zu werden. Das Mädchen musste ihr lange erklären, dass solch ein Besuch – verbunden mit den Schwierigkeiten bei der Einreise – nicht so einfach zu arrangieren sei. Wer ist da wirklich zivilisiert? Kommen eigene Vorurteile vorwiegend im gesprochenen Wort zum Ausdruck? Schwarze Freunde haben mir erzählt, wie sehr Vorurteile eine Umgebung geschaffen haben, die ihr ganzes Leben beeinflusse. Solche Vorurteile können durch Gesten und Mimik genauso zum Ausdruck kommen wie durch Worte. Zum Beispiel berichtet ein Schwarzer, dass eine weiße Lehrerin in seiner Volksschule immer das Fenster öffnete, wenn er hereinkam. Sie ließ ihn fühlen, dass er dreckig und ungewaschen war. Jetzt als Erwachsener nimmt er zweimal täglich ein Bad und benutzt die stärksten Deodorants. So hartnäckig war der Eindruck seiner voreingenommenen Lehrerin. Einer meiner Bekannten gab eine große Summe Geld für eine gute Sache. Er betonte immer wieder, dass er Partys gemeinsam für Schwarze und Weiße gebe. Bei einem Empfang für schwarze Künstler hörte ich ihn jedoch einmal sagen: „Ich 88

Spielformen des Vorurteils

mag alle Neger.“ Er dachte, er sei aufgeklärt, aber seine Worte waren ein Symbol für sein Vorurteil. Wir sagen normalerweise nicht, dass wir alle Schweizer oder Franzosen mögen. Durch die Übertreibung seiner Zuneigung zu Schwarzen wurde sein Vorurteil offenkundig. Vorurteile hängen weniger ab von unseren Absichten und Erklärungen als von unserer tatsächlichen Haltung. Die Meinungen, die uns bewusst sind, stellen nur einen Teil des Ganzen dar. Wenn jemand ein Vorurteil ausspricht, kann man dadurch sehr viel über seine eigenen Komplexe erfahren. Das kann oft der Schlüssel zu seinen Kindheitserfahrungen sein. Oft können wir sogar entdeckten, dass eine Person Vorurteile hat, bevor sie den Mund aufmacht. Einfach die Art, wie einer schaut, der Ausdruck seiner Augen, der Grad seiner Strenge – das alles sagt viel mehr aus als seine Reden über die Gleichberechtigung der Rassen. Ist Rassenmischung ein Ausdruck von Dekadenz? Im Gegenteil! Man sollte sich vergegenwärtigen, dass es keine reine Rasse gibt. Vom Beginn der Geschichte an hat es immer Verschmelzungen gegeben. In Hawaii habe ich beobachten 89

Teil II

können, wie großartig sich die Vermischung der Rassen und Nationalitäten auswirken kann und dass dadurch eine neue vitale Kultur entstanden ist. Wenn jemand mich fragt, ob ich will, dass meine Tochter einen Schwarzen heiratet, würde ich sagen, dass ich gar keine Tochter habe, aber wenn ich eine Tochter hätte und sie würde einen Schwarzen heiraten wollen, würde ich ihre Entscheidung willkommen heißen. Von Bedeutung ist es, dass man auf die Person schaut, auf ihre Haltung, ihre Ideen und Ideale, sodass wir in jeder Hinsicht universal werden. Solange wir irgend jemanden diskriminieren, in Gedanken wie durch Taten, sind wir zutiefst unzivilisiert. Der amerikanische Psychologe Arthur Jensen benutzte Intelligenztests, um herauszufinden, dass Schwarze einen niedrigeren Intelligenzquotienten haben als Weiße. Was halten Sie davon? Ganz sicher nichts. Fähigkeiten sind eine Sache von Vererbung und Umgebung. So weisen schwarze Kinder im Süden der USA in einer schlechten Umwelt immer schlechtere Ergebnisse auf als schwarze Kinder aus Los Angeles, die durch bessere Schulen gefördert wurden. Die ersteren werden 85 Punkte erreichen, letztere wahrscheinlich eine Zahl um 120. Der Intelligenzquotient ist eben beträchtlich durch soziale Faktoren bestimmt. In Wirklichkeit können aber wichtige Züge des 90

Spielformen des Vorurteils

Menschen wie Kreativität, Wissensdurst und Solidarität nicht mit Intelligenztests gemessen werden. Ein zu großer Glaube an Intelligenztests ist sehr einseitig. Er ist Teil einer falschen Philosophie und bedeutet einen Fortbestand des Rassismus: ,Einige Menschen sind von Natur aus höher stehend, andere von Natur aus minderwertig.‘ Wenn Schüler nicht sehr behindert sind, ist es oft besser, dass der Lehrer den Intelligenzquotienten seiner Schüler nicht genau weiß; der Lehrer könnte u. U. voreingenommen sein, und der erfolglose Schüler würde noch mehr entmutigt werden. Die Geschichte der Erziehung zeigt uns, wie sehr sich Menschen unter kreativer und kultureller Beeinflussung verändern können. Umschulungen und Weiterbildungskampagnen wie in China zeigen, dass unsere Einschätzung der menschlichen Fähigkeiten bisher viel zu niedrig war und dass die Umwelt bei der Bestimmung der Fähigkeiten die größte Rolle spielt. Diese Fähigkeiten sind gleicherweise bei der schwarzen wie bei der weißen oder bei der gelben Rasse zu finden. Warum sind sich so viele Menschen der Folgen der Diskriminierung nicht bewusst? Diese Frage deckt die ungeheure Problematik auf, warum wir nicht genügend Verständnis für die Unterdrückten aufbringen können. 91

Teil II

Ein Grund ist, dass die Mehrzahl der Menschen wenig Ahnung von der Lebensweise der Minderheiten hat. Die Lebensbedingungen in einem schwarzen Slum z. B. sind total anders als die in einer Vorstadt, in der Weiße leben. Der Unterschied ist genauso groß wie zwischen den Verei– nigten Staaten und einem afrikanischen Staat wie z. B. Ghana. Echte Sittlichkeit und lebendiger Glaube sind meistens Bestre– bungen der Minderheit, während die Mehrheit von Natur aus dahin tendiert, intolerant zu sein. Die Herrschaft der Mongolen, der Azteken und der Bantus war genauso grausam und brutal wie die der Polizei in den weißen Herrschaftsgebieten Afrikas. Die „Last des weißen Mannes“ wurde 1899 in Kiplings berühmten Gedicht verständlich gemacht. Der Begriff von der Last des weißen Mannes steht als Symbol für das dauernde Vorurteil gegen Minderheiten in der modernen Geschichte: Nehmt auf die Last des weißen Mannes – Schickt voran die Besten eurer Zucht – Geht, fesselt eure Söhne ans Exil, Um der Not zu dienen eurer Sklaven, Damit in schwerem Joch sie fronen Aufgeregtem, ungezähmtem Volk – Euch neu gefang’nen, widerspenst’gen Stämmen, Teufel noch zur Hälfte, Kind zur anderen.

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Spielformen des Vorurteils

In Wirklichkeit wurde die Mission des weißen Mannes zum Leid der Schwarzen – ein Leid, das für Millionen Menschen verheerende Folgen hatte. Albert Camus meinte, dass wir „entweder Opfer oder Henker“ sind. So kann ein- und dieselbe Gruppe in einem Land verfolgt werden, und, sobald sie (in einem andern Land) selbst an die Macht kommt, die gleichen Gräueltaten begehen. Diese Behauptung kann man z. B. am Schicksal der Puritaner beweisen. Am Beginn der modernen Geschichte waren die Puritaner als Minderheit in England den ärgsten Formen der Diskriminierung ausgesetzt. Als sie dann nach Amerika kamen, wurden sie die herrschende Schicht. Dort machten sie ihre Anschauungen von Rechtgläubigkeit geltend und begannen sofort, Quäker, Baptisten und Katholiken zu verfolgen. Es gibt sogar einen Dualismus zwischen öffentlichen und privaten Normen. Im Privatleben entschuldigen wir Mord und Diebstahl normalerweise nicht – Taten, die von der Gesellschaft in Kriegszeiten unter Umständen als legitim erachtet werden. Nietzsche bemerkte einmal, dass der Wahnsinn einzelner Menschen gering sei im Vergleich zu dem ganzer Zivilisationen. Peter Altenberg beschreibt die Lebensweise des modernen Menschen als Bewegung vom Miteinander über ein Nebeneinander zu einem Gegeneinander. Seit Eile und Stress unser Leben beherrschen, haben wir nicht mehr genügend Zeit, uns um unsere Nachbarn zu kümmern. Unsere Haltung ist meist: 93

Teil II

„Ich will von den Sorgen der anderen nichts hören.“ Wenn wir auf den Straßen einer großen Stadt, egal ob London, Paris oder Berlin, die Gesichter der Menschen genauer betrachten, finden wir nur zu viele, die geprägt sind von Bitterkeit, Frustration und Feindschaft. In „Schwarz wie ich“ vermittelt uns Griffin eines der bewegendsten Dokumente darüber, was es heißt, Teil einer Minderheit zu sein. Griffin ist ein liberaler weißer Schriftsteller, der mit Hilfe medizinischer Mittel für einige Zeit seine Hautfarbe änderte; er wurde ein Farbiger auf Zeit. Über Nacht änderte sich sein Status. Vorher waren die meisten Leute freundlich zu ihm; nun traf er fast nur auf Feindschaft. In vielen Restaurants wurde er nicht bedient. In einigen Hotels brauchte er sich gar nicht erst um ein Zimmer bemühen. Sogar eine Toilette zu finden, wurde ein Problem. Einen Scheck einzulösen – normalerweise die einfachste Sache der Welt – wurde zur Feuerprobe, da automatisch angenommen wurde, dass er ein Betrüger sei. Seine Intimsphäre wurde andauernd missachtet. Einmal hänselte ihn ein Weißer und befragte ihn in impertinentester Weise über sein Sexualleben. Fremde sprachen ihn mit „boy“ an, obwohl er ein Mann in mittleren Jahren war. Bald hörte Griffin ganz auf, Person zu sein. Er wurde zum Sandsack weißer Vorurteile. 94

Spielformen des Vorurteils

Einer meiner Freunde, Louis Lomax, hatte sich in einem der Südstaaten ein Hotelzimmer reservieren lassen. Als der Angestellte sah, dass er Schwarzer war, wurde ihm das Zimmer verweigert. Am nächsten Tag kam er wieder mit einem Turban auf dem Kopf und erklärte, er sei ein indischer Prinz. Sofort stand ein Raum für ihn bereit. Er wurde nicht nur zuvorkommend behandelt, sondern man gewährte ihm sogar besondere Vergünstigungen. Vor allem im Süden ist die Diskriminierung ohne Zweifel durch die gesetzliche Verankerung zurückgegangen; sie ist jedenfalls nicht mehr so gravierend wie in den Büchern von Griffin („Schwarz wie ich“) und Lomax („Die Revolte der amerikanischen Neger“). Aber die feineren Formen des Vorurteils bestehen weiter, weil unser Gerechtigkeitssinn noch nicht genug wachgerüttelt ist und weil so viele von uns sich nicht vorstellen können, was es heißt, zu einer Minderheit zu gehören. Warum kam es zur Sklaverei – z. B. in den Vereinigten Staaten? Die Sklaven waren das Opfer, das das Wirtschaftssystem des Südens in den USA forderte. Sie waren unter den schauerlichsten Umständen nach Amerika gebracht worden, aneinandergeschmiedet mit eisernen Ketten. In den Schiffen waren sie wie Sardinen geschlichtet. Die Sklavenhändler 95

Teil II

diskutierten darüber, ob es besser sei, einige Schwarze zu verlieren, indem man die Schiffe mit Sklaven vollpackte, oder ob man mehr Gewinn erzielen könnte, wenn man den Sklaven mehr Platz ließe. Die einen, die ihre Schiffe bis zum Bersten vollluden, behaupteten, dass sie durch die große Anzahl der Schwarzen auf einem Schiff schließlich mehr Sklaven auf dem Markt verkaufen könnten. Die anderen, die den Schwarzen mehr Platz ließen, meinten, dass jene Sklaven mit einem größeren Profit verkauft werden könnten, die durch „bessere“ Bedingungen eine geringere Sterberate aufwiesen, obwohl insgesamt weniger herübergebracht würden. Von menschlicher Behandlung war überhaupt keine Rede. Wenn ein Sklave krank wurde, warf man ihn gewöhnlich über Bord. So wurde in tausenden Fällen gehandelt – ein Beweis für die Grausamkeit des Sklavenhandels. Im Jahr 1619 wurden 20 Schwarze in Virginia verkauft, 1775 gab es hier bereits 75.000 Sklaven. In den gesamten USA betrug die Anzahl der Sklaven im Jahr 1750 250.000; 1776 waren es bereits 500.000. Man schätzt, dass über 5 Millionen Schwarze unter den oben beschriebenen Bedingungen von Afrika in die Vereinigten Staaten „importiert“ wurden. Bei der Ankunft der Sklaven in Amerika wurden gewöhnlich Kinder von ihren Eltern und Ehefrauen von ihren Männern getrennt. Salomon Northrup, ein als freier Mann 96

Spielformen des Vorurteils

geborener Schwarzer, wurde von Sklavenhändlern entführt. Er berichtete im Buch „Zwölf Jahre als Sklave“ über eine typische Sklavenversteigerung. Die Schwarzen wurden wie Vieh zum Verkauf zusammengetrieben. Potenzielle Käufer befühlten ihre Arme und beschauten ihre Zähne. Die Schwarzen wurden, nach Männern und Frauen getrennt, an den Wänden des Raumes aufgestellt. An der Spitze der Reihe standen die kräftigsten, die den meisten Gewinn bringen würden. Eine ergreifende Szene spielte sich ab, als ein Käufer den Sohn einer Schwarzen erwarb. Sie flehte, mitgenommen zu werden. Der Käufer erwiderte, er habe nicht genug Geld. Sie versprach, alles zu tun, wenn sie nur bei ihrem Kind sein könne. Der Käufer blieb hart. Sie begann zu weinen, worauf ihr der Auktionär mit der Peitsche drohte. Sie hörte nicht auf, ihn anzuflehen, sie nicht von ihrem Kind zu trennen – vergeblich. Sie umarmte ihren Sohn und versicherte ihm, ihn nie zu vergessen. Tränen bedeckten ihr Gesicht. Während der ganzen Zeit befahl ihr der Auktionär, sich wieder in die Reihe einzuordnen oder sie würde auf das strengste bestraft werden. Schließlich wurde ihr der Junge weggenommen. „Weine nicht, Mama“, sagte er, „mach dir keine Sorgen um mich. Weine nicht!“ Sie sah ihn nie wieder. Südstaatler verteidigten die Sklaverei dadurch, dass sie das Leben der Schwarzen als komfortabel bezeichneten. Tatsächlich aber lebten viele in erbärmlichen Hütten, ohne Fenster, auf der 97

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bloßen Erde. Im Sommer konnten sie die Hitze kaum ertragen und im Winter durchdrang die Kälte ihre dünne Kleidung. Sie arbeiteten von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang. Sie wurden eine Stunde vor Sonnenaufgang geweckt und ausgepeitscht, wenn sie sich verspäteten – ebenso erging es ihnen bei jedem anderen Vergehen. Kein Wunder, dass es zu Sklavenaufständen kam. So versuchte im Jahre 1800 der Sklave Gabriel zusammen mit Hunderten von Leidensgenossen, die hauptsächlich mit Knüppeln, Messern und ein paar Gewehren bewaffnet waren, gegen Richmond in Virginia zu marschieren. Er wurde gefangen genommen und zusammen mit vielen seiner Kameraden gehängt. 1822 versuchte Denmark Vesey einen Sklavenaufstand in South Carolina zu organisieren. Auch er wurde mit 30 anderen Rebellen gehängt. Nat Turner erlitt das gleiche Schicksal. Er war ein schwarzer Prediger, der seinen Besitzer getötet hatte und mit vielen Anhängern versuchte, andere Sklaven zu befreien und die weißen Unterdrücker auszurotten. Mit 19 Rebellen endete er am Galgen. Für viele Weiße, besonders im Süden, waren die Schwarzen überhaupt keine menschlichen Wesen. Ihre Minderwertigkeit wurde mit sozialen, kulturellen, ja sogar religiösen Argumenten begründet. Die Schwarzen erhielten praktisch keine Bildung. Als sie schließlich befreit wurden, waren sie zu 95 % Analphabeten. 98

Spielformen des Vorurteils

Das amerikanische Bewusstsein rührte sich nur langsam. Nur wenige sprachen es so deutlich aus wie Garrison, der flammende Artikel gegen die Sklaverei schrieb. Aber schrittweise gewannen doch jene an Boden, die für die Abschaffung eintraten. Die Südstaaten leisteten Widerstand bis zum bitteren Ende. So behauptete Calhoun noch 1850 in einer Rede, dass das Ende der Sklaverei Amerika in Armut und wirtschaftlichen Ruin stürzen würde. Der Oberste Gerichtshof entschied 1857 im berühmten Dred-Scott-Erkenntnis, dass die Sklaven Eigentum ihrer Besitzer seien und dass (als Eigentum) Schwarze auch in jene Staaten mitgenommen werden könnten, in denen Sklaverei verboten war. Eine wahrhaft barbarische Entscheidung! Der amerikanische Bürgerkrieg befreite zwar formell die Sklaven; aber tatsächlich wurden viele von ihnen Leibeigene. Ihre Lebensbedingungen waren immer noch trostlos. Damit wurde ein Grundstein für das gelegt, was Gunnar Myrdal das „amerikanische Dilemma“ nannte. Was ist Lynchjustiz und wie kam es dazu? In vielen Teilen des Südens waren die Schwarzen in der Mehrheit. Rebellion war dauernd zu erwarten. Die Sklaven mussten durch Furcht im Zaum gehalten werden; zu diesem Zweck gebrauchte man die Lynchjustiz. 99

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Darüber hinaus spielten verschiedene sexuelle Verhaltensweisen eine wichtige Rolle. Viele Weiße hatten eine Schwarze als Geliebte. Oft prahlten sie damit, dass diese Frauen sie wesentlich mehr befriedigten als ihre weißen Gattinnen oder Mätressen. Aber wenn ein Schwarzer sich einer weißen Frau näherte, ja selbst wenn er sie in verdächtiger Weise ansah, war er in Gefahr, gelyncht zu werden. Häufig wurde Lynchjustiz unter dem Schutz des Ku-KluxKlan ausgeübt. Das war eine Geheimorganisation (nicht unähnlich der SA oder SS), welche ganze Gemeinden – in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts ganze Staaten – terrorisierte. Heute ist der Klan wieder aktiv. Das Lynchen begann gewöhnlich mit dem Gerücht, einer weißen Frau sei Gewalt angetan worden. Daraufhin wurde eine Menschenjagd organisiert. Der Verdächtige wurde festgenommen. Bald versammelte sich eine aufgebrachte Menge und verwüstete den Wohnbezirk der Schwarzen. Dann wurde das Gefängnis gestürmt. Die Polizei leistete wenig oder gar keinen Widerstand. Der schwarze Häftling wurde von der Menge grausam zugerichtet, dann gehängt, und sein Leichnam wurde als Warnung für andere aufständische Schwarze zur Schau gestellt. Die Anstifter der Lynchjustiz wurden nur selten zur Verantwortung gezogen. Die meisten Vorurteile gegen die Schwarzen hatten gewöhnlich die minderbemittelten Weißen – Leute, die ebenso 100

Spielformen des Vorurteils

einer Minderheit angehörten und die Sündenböcke brauchten. Lynchen war für sie ein Fest, eine Flucht aus der Eintönigkeit des Alltags. Wir brauchen nur Faulkner und Caldwell zu lesen, um uns vorzustellen, wie trostlos das Leben in einer Kleinstadt des Südens war. Jede Abwechslung wurde willkommen geheißen, auch wenn sie die grausamsten Gefühle hervorrief. Es ist interessant festzustellen, dass sich die Weißen oft nach den Lynchszenen in wüsten Ausschweifungen ergingen. Die Saufereien und sexuellen Freizügigkeiten dauerten nicht nur stunden-, sondern tagelang. In den Augen vieler skrupelloser Politiker der Südstaaten war die Lynchjustiz eine Methode, die ärmeren Weißen von der Hoffnungslosigkeit ihrer Lebensbedingungen abzulenken. Auf diese Weise konnten Feudalismus und Unterdrückung weiter bestehen; wie im Nazi-Deutschland hatte der Durchschnittsbürger Gelegenheit, seine Aggressionen voll auszuleben. Durward Pruden veröffentlichte 1936 eine klassische Studie eines Lynchaktes in Texas. Es ging um einen Schwarzen, der angeklagt wurde, die Frau eines weißen Farmers aus der Nähe von Leeville vergewaltigt zu haben. Es gab genug Hinweise, dass die Aussage der Farmersfrau erfunden war. Aber das alles half dem Schwarzen nicht, der von einer weißen Meute gelyncht wurde. Tausende verfolgten die Ereignisse und riefen Beifall. Der Leichnam des Mannes wurde verstümmelt, bevor man ihn verbrannte. 101

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Pruden kam in seiner Studie zu dem Schluss, dass es unter den Weißen drei verschiedene Einstellungen gäbe. Wohlhabenden Weißen missfiel der Vorfall, nicht aus humanitären Erwägungen, sondern weil sie an Recht und Ordnung glaubten und sich über die für ihre Stadt schädliche Publicity ärgerten. Der Mittelstand äußerte ebenso Missfallen, wenngleich auch seine Haltung ambivalent war. Die einen hatten den Vorfall beobachtet, waren gefühlsmäßig beteiligt und hatten jene, die das Lynchen geplant und ausgeführt hatten, moralisch unterstützt. Da das Leben des Mittelstandes in dieser Gemeinde eintönig war, ergab sich jetzt eine einmalige Abwechslung, fast wie Urlaub von moralischer Verantwortung. Andere Angehörige des Mittelstandes verurteilten den Vorfall wegen des Angriffs auf Leben und Eigentum. Die unterste Schicht der Weißen verfolgte die Schwarzen mit gemeinstem Hass. Zu dieser Gruppe gehörte der Anführer der wütenden Menge. Er war 40 Jahre alt, hatte ein langes Vorstrafenregister und konnte weder schreiben noch lesen. Er hatte keinen richtigen Beruf; irgendwann einmal versuchte er sich im Viehhandel. Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter lebte er in einem Slum in der Nähe eines schwarzen Wohnviertels. Er war ein Schlägertyp, der seinen Spaß daran hatte, mit anderen Leuten, besonders mit Schwarzen, Streit anzufangen. Gleichzeitig betrachtete er sich als Schirmherr der weißen Damenwelt. 102

Spielformen des Vorurteils

Er hasste nicht nur Schwarze, sondern auch Juden und Katholiken. Sein Leben war von Vorurteilen beherrscht. Er verabscheute reiche Leute, schielte aber nach dem Geld, das sie so leicht ausgeben konnten. Seine Frau musste als Wäscherin arbeiten, um die Familie zu unterstützen. Als ihn später die Polizei einvernahm, zeigte er keine Reue; er war stolz, dass er die Ehre der weißen Frauen hochgehalten habe. Die Studie kam zu dem Schluss, dass der Boden für die Lynchjustiz durch das latente Vorurteil, das in dieser Gemeinde herrschte, vorbereitet worden war. Die ärmeren Weißen waren verärgert, dass es einigen Schwarzen gelang, auf der sozialen Stufenleiter emporzukommen und zu wirtschaftlichem Erfolg zu gelangen. Indirekt wurde die Lynchjustiz durch die passive und indifferente Haltung der Oberschicht zumindest gefördert. Tatsächlich hatten einige Angehörige dieser Schicht nicht nur zugestimmt, sondern auch tatkräftig bei der Ausführung dieses Verbrechens an einer Minderheit mitgeholfen. Die Parallele mit Deutschland unter Hitler springt ins Auge. Denn in fast jeder Gemeinschaft existiert eine zerstörerische Tendenz, die ein Ventil für ihre sadistischen Kräfte sucht. Jede Minderheit kann das Opfer sein: Schwarze, Inder, Juden. Gräueltaten sind solange eine ständige Bedrohung, als rassistische und soziale Unvoreingenommenheit fehlen und solange verantwortliche Mitglieder der Gemeinschaft so wenig Zivilcourage beweisen. 103

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Wie wirkt sich Rassenintegration auf schwarze Jugendliche aus? Die schulische Integration erwies sich oft als Albtraum für schwarze Schüler. Ich erinnere mich an die Geschichte eines schwarzen Mädchens namens Jane Martin, das in einer Kleinstadt in der Nähe von Memphis, Tennessee, lebte. In der Gemeinde hatten der Ku-Klux-Klan und das weiße Bürgerkomitee großen Einfluss. Gelegentlich wurde gelyncht, wobei die Polizei nicht einzugreifen pflegte. Jane war in eine Schule für Schwarze gegangen. Die Lehrer hatten eine ungenügende Ausbildung, die Schule war hinter dem allgemeinen Standard zurückgeblieben. Ihre Ausstattung war zweitklassig, das Dach war undicht, die ganze Atmosphäre trostlos. Janes Eltern waren bemüht, sie aufs College zu bringen, daher ergriffen sie die Chance und schickten sie gemäß der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes von 1954 auf ein Gymnasium für Weiße. Die Martins wohnten in einem sauberen Holzhaus im Schwarzenbezirk der Gemeinde. Der Vater war Arzt, konnte aber nicht im Gemeindekrankenhaus praktizieren, sondern arbeitete im Spital für die schwarze Bevölkerung in Memphis. Als der Schicksalstag der schulischen Integration herankam, fühlte Janes Mutter, dass es falsch war, ihre Tochter aus der Schule für Schwarze zu nehmen; aber der Vater bestand darauf, Mut zu beweisen, und meinte, das sei eine Frage des Prinzips. 104

Spielformen des Vorurteils

Er fuhr mit ihr zur Schule der Weißen. Als er seinen Wagen parkte, flogen Steine gegen die Fenster. Eine Meute sammelte sich an, und Frauen schrieen: „Auf die Nigger!“ Fernseh- und Radioreporter waren anwesend, um über die Integration an Ort und Stelle berichten zu können. Aber aus der Schule hörte man grölen: „Eins und zwei und drei und viere, wir wollen uns nicht integrieren!“ Vier Weiße attackierten einen farbigen Fotografen. Sie schlugen ihm einige Zähne aus. Ein weißer Polizist steckte seine Dienstmarke weg und nahm an der Schlägerei teil. Der allgemeine Lärm war ohrenbetäubend. Angehörige des KuKlux-Klan verteilten Flugblätter, in denen sie zum Sturm auf das Schwarzenviertel und zur Austreibung aller „Nigger-lovers“ aus der Stadt aufriefen. Im Schulgebäude verfolgte eine Gruppe weißer Studenten Jane überall hin. Sie machten dreckige Bemerkungen über sie. Einer zog sein Messer heraus und bedrohte sie. Als ihr Vater die Schule verließ, wurde er von einer Meute Weißer umringt. Ein Mann schlug ihm ins Gesicht und er fiel nieder. Sie traten ihn in den Magen und grölten: „Bringen wir den Nigger um!“ Im letzten Moment wurde er von der Polizei befreit, die ihn zu seinem Auto brachte. Im Spital von Memphis wurde ihm Erste Hilfe geleistet. Die Leitung der Schule überlegte, ob der Unterricht abgesagt werden sollte. Die schwarzen Schüler warteten im Büro. Gegen die Fenster der Schule wurden Steine geworfen. Man konnte Schüsse hören. 105

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Janes erste Unterrichtsstunde war Geschichte. Der Lehrer, dreißig Jahre alt, mit einer Bürstenfrisur, sprach über den Revolutionskrieg. Jane wurde ein Platz in der letzten Reihe zugewiesen. Die Burschen und Mädchen drehten sich um und sahen sie feindselig an. Plötzlich stand einer auf, ein kräftiger Fußballspieler, und brüllte: „Eins und zwei und drei und viere, wir wollen uns nicht integrieren!“ Die ganze Klasse schrie mit und begann die Lehrbücher zu zerfetzen. Draußen war die Menge inzwischen noch hysterischer geworden. Lynchen lag in der Luft. Die Polizei, jetzt durch Miliz verstärkt, riegelte das Schulgebäude gegen Eindringlinge ab. Ein Steinhagel prasselte auf die Schulfenster. Nach einiger Zeit verkündete der Direktor, dass die farbigen Studenten für heute entlassen seien. Eine Abteilung Polizisten geleitete Jane durch den Seitenausgang hinaus. Sie fühlte den Hass der Menge. Eine Frau rief: „Nur ein toter Nigger ist ein guter Nigger!“ Es dauerte mehrere Tage, bis Jane ohne Gefahr in die Schule gehen konnte. Aber allmählich legte sich die Aufregung, und die meisten ihrer Klassenkameraden waren bereit, sie zu akzeptieren. Das Gefühl des Makels blieb jedoch für sie bestehen. Jane lebte von diesem Zeitpunkt an introvertierter und war zurückhaltender in ihren Kontakten. Obwohl sie nun in eine integrierte Schule ging, konnte sie nicht an der Lebensform der Weißen teilhaben. Mauern aus Traditionen und Überlieferungen trennten sie von ihren Klassenkameraden. 106

Spielformen des Vorurteils

Zur gleichen Zeit wurde sie auch von ihrer Gemeinschaft isoliert. Einige ihrer früheren Freunde meinten, dass sie sich erhaben über sie fühle. In gewissem Sinn wurde sie ein Wanderer zwischen zwei Welten. Die Befreiungsbewegung der schwarzen Bevölkerung der modernen Zeit hat zwei äußerst umstrittene Persönlichkeiten hervorgebracht: Malcolm X und Martin Luther King. Welcher der beiden ist Ihrer Meinung bedeutender? In manchen Beziehungen waren Malcolm X und Martin Luther King vollkommen verschieden, in anderer Hinsicht hatten sie ähnliche Ziele. Malcolm X wurde 1925 in Omaha in Nebraska geboren. Schon als Jugendlicher zog er nach Boston und später in das schwarze Viertel von Harlem, was seine Philosophie und Lebensweise deutlich prägte. Er finanzierte seinen Lebensunterhalt durch Schwindeleien und wurde zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt. In der Haft bekehrte er sich zu den „Black Muslims“ und änderte seinen Lebensstil radikal. Anstatt kriminell zu werden, begann er mit dem Studium der Rassenbeziehungen. Mit all seiner Kraft unterstützte er die „Black Muslims“ – eine Bewegung, die versucht, die Schwarzen von den Weißen in Amerika zu trennen. Die Muslims fordern: volle Gleichheit, Freiheit, die Entlassung aller mohammedanischen Gefangenen aus den Gefängnissen, die Abschaffung der 107

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Brutalität weißer Polizisten, gleiche Berufschancen, einen eigenen Staat für Schwarze in den USA, getrennte Schulen für Schwarze und Verbot aller Formen von schwarz-weißer Heirat. Im Jahr 1964 kam es zum Bruch zwischen Malcolm X und Elijah Muhammad, dem damaligen Führer der „Black Muslims“. Malcolm X hatte eine Wallfahrt nach Mekka unternommen und dabei erkannt, dass der Kampf der Schwarzen Amerikas Teil eines weitverbreiteten Aufstands der schwarzen Minderheiten gegen ihre Unterdrücker sei. Malcolm X war sicher, dass dieser Kampf nicht ohne Waffengewalt gewonnen werden konnte. Kurz vor seinem Tod änderte er seinen bisherigen Standpunkt, dass alle Weißen böse seien und direkt oder indirekt die Schwarzen unterdrückten. Wahrscheinlich ist dies auf sein kosmopolitisches Konzept zurückzuführen. Im Jahr 1965 wurde er ermordet. Sein Eintreten für die Macht der Schwarzen – dass sie selbst ihre Schulen, Kirchen und benachbarten Gebiete verwalten sollten – wurde nach seinem Tod in noch bedeutenderem Umfang fortgesetzt. Martin Luther King kam aus der Mittelschicht. Er wurde 1929 in Atlanta in Georgia geboren. Im Gegensatz zu Malcolm X hatte er eine gute Bildung genossen. King war ein ausgezeichneter Schüler an der Universität Boston, wo er sein Philosophie-Diplom machte. 1955 leitete er den überaus erfolgreichen Boykott der Montgomery-Busse – ein Boykott, der zur 108

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schnelleren Integration beitrug. Zwei Jahre später war er einer der Gründer der „Southern Christian Leadership Conference“, die sich sehr um die Abschaffung der Rassentrennung vor allem in den Südstaaten bemühte. King lehnte jede Form der Gewalt ab. Er glaubte, dass eine friedliche Vorgangsweise, unterstützt von einer breiten Koalition, der beste Weg sei, um gegen Vorurteile zu kämpfen. So half er 1963, den historischen Marsch gegen Washington zu organisieren. Verantwortliche aller sozialen Schichten aus allen politischen und religiösen Gruppen bestärkten ihn in seinem Vorgehen. 250.000 Personen gaben bei dieser Gelegenheit ihre Stimme für die Gleichberechtigung der Rassen ab. 1964 erhielt King den Friedensnobelpreis. Vier Jahre später wurde er ermordet. Es gibt im Leben beider Persönlichkeiten bedeutende Ähnlichkeiten. Beide bewiesen einen hohen Grad an Zivilcourage, beide wussten, dass sie dauernd in Gefahr waren, erschossen zu werden; beide wurden durch das Rassenproblem geprägt; beide sahen die Vorurteile der Weißen als das Hauptproblem unserer Zeit an; beide waren der Meinung, dass die Aktionen einzelner nicht ausreichten, sondern dass man eine Organisation brauche, die die Sache trägt. Beide waren ausgezeichnete Redner und konnten ihr Publikum mitreißen. Aber ihr Milieu war total verschieden. Malcolm X war geprägt von Harlem – einem Bezirk wo Brutalität herrscht, wo nur der Schlaue überlebt und wo Tausende rauschgiftsüchtig 109

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und Zehntausende Alkoholiker sind. Seine „Autobiografie“ – das Dokument eines Mannes, der sein eigener Lehrer war – ist total verschieden von den philosophischen Reden des Martin Luther King, der sich in Theologie, Philosophie und Sozialwissenschaften auskannte. Brutalität und Macht prägten den Lebensstil des Malcolm X. Akademische Gespräche und Philosophie und Religion waren für ihn nur eine Flucht. Was wirklich zählte, war die konkrete Situation: die Armut und die Not der Schwarzen. Sie konnten nicht auf Gewalt verzichten, wenn die weiße Mehrheit in unzähligen Formen jeden Tag ihre Macht ausübte, um ihr diskriminierendes System zu festigen. Für King war Religion die Stärke des Lebens. Das bedeutete für ihn, dass der Mensch, egal ob schwarz, weiß oder gelb, eine geistige Macht hat, dass der Mensch ein Geschöpf Gottes ist und dass Rassenvorurteile und Ungerechtigkeiten als Verletzung der ethischen Grundsätze zu werten sind. Religion war für ihn keine Sache der Theologie, sondern der Verwirklichung eines Traumes – des Traumes von der Suche des Menschen nach Würde und Gleichberechtigung. Die kirchliche Gemeinschaft der Schwarzen erlebte King als Oase in der Wüste der Feindseligkeiten der Weißen. King glaubte daran, dass soziale Missstände durch politische, soziale und erzieherische Maßnahmen geändert werden könnten und dass daraus mit einer gewissen Wahrschein110

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lichkeit eine gerechte Gesellschaft entstehen könnte. Gewaltlosigkeit im Denken und Handeln zusammen mit der Aktivierung des Gewissens sei die notwendige Waffe der Menschheit. Sein Traum war es, dass die Söhne von Sklaven und die Söhne von Sklavenhaltern vielleicht doch miteinander in Frieden leben können, dass Schwarze nicht nur wählen können, sondern dass sie selbst positive Ziele haben, für die sie sich voll einsetzen, dass Freiheit eine lebendige Realität werden wird. Schwarze, Weiße, Juden, Katholiken und Protestanten werden sich zusammentun und erklären: „Wir sind alle frei!“ Wenn man die beiden vergleicht, ist Malcolm X der provozierendere – wie seine Autobiografie beweist. Er stört unsere Selbstzufriedenheit. Er zeigt uns, ähnlich wie Claude Brown in „Der Mensch im gelobten Land“ und James Baldwin in „Ein anderes Land“, eine Welt, die wir meist zu verdrängen suchen. Die „Autobiografie des Malcolm X“ zu lesen, kann ein bedeutender Schritt sein, Vorurteile zu überwinden und aufgeklärter zu sein, nicht nur hinsichtlich der Rassenfrage, sondern auch in Bezug auf unsere ganze Lebensphilosophie. Trotzdem ist Martin Luther King der bedeutendere von beiden. Wir finden in seinem Leben eine Güte und Würde, die an Ghandi und Albert Schweitzer erinnern. King wurde ein allgemein gültiges Vorbild, in Europa ebenso anerkannt wie in den Vereinigten Staaten. 111

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Einige Jahre vor seinem Tod besuchten wir zusammen eine Tagung in Kalifornien. Nachher gingen wir in eine kleines Restaurant essen. Die Serviererin bediente zuerst alle anderen Gäste und ließ uns lange warten. Die Art, in der sie King ansah, zeigte, wie sehr sie Schwarzen gegenüber voreingenommen war. Als sie schließlich unser Essen brachte, waren die Kartoffel und das Fleisch fast kalt. Sie bediente uns mürrisch und wir aßen sehr hastig. King meinte gelassen: „Vielleicht hat sie heute einen schlechten Tag!“ Er lächelte sie an, als wir das Lokal verließen. Seine Ansichten waren von unerschütterlichem Glauben an die Kraft des Guten im Menschen geprägt. Das war die entscheidende Motivation seiner Aktivitäten. Seine Methoden – Streiks, Boykott, Koalition mit anderen Gruppen – mögen vielleicht kurzfristig nicht so effektiv sein, aber als Ganzes gesehen schaffen sie die Basis für eine wirklich kreative Gesellschaft. Worin bestehen die Hauptunterschiede zwischen der jüngeren und älteren Generation der Schwarzen? Die ältere Generation glaubt mehr an eine Integration. Die meisten von ihnen haben eine mittelständische Weltordnung und Lebensweise übernommen. Sie wollen Geld und Ansehen. Die schwarze Bourgeoisie ist ein Symbol dieser Lebensphilosophie. Wie ihre weißen Zeitgenossen bevorzugen 112

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schwarze Richter, Doktoren, Sozialarbeiter das Leben in der Vorstadt und freuen sich über eine komfortable Existenz. Sie streichen den Wert ihrer akademischen Ausbildung heraus. Sie haben wenig Verständnis für das schwarze Proletariat; meistens ist ihr soziales Denken sehr beschränkt. Ich habe sehr viele ihrer Zusammenkünfte besucht – sehr formale und oberflächliche Begegnungen. Die Cocktailpartys der Schwarzen waren ebenso unerfreulich wie die der Weißen; sie waren meist Ausdruck ihrer Sucht nach Prestige. Die Söhne und Töchter der erfolgreichen schwarzen Akademiker haben oft andere Ansichten. Sie wollen nicht integriert werden. Sie wollen nicht in die Randbezirke flüchten. Sie sind viel radikaler als ihre Eltern – in sozialer, wirtschaftlicher und religiöser Hinsicht. Für sie ist „Black Power“ ein Lebensstil. Was heißt „Black Power“? Erstens weist es darauf hin, dass es eine Kluft zwischen Schwarz und Weiß gibt und immer geben wird; zweitens bedeutet es eine Betonung der schwarzen Persönlichkeit (black ist beautiful), dass Schwarze tiefere und ernstere Gefühle haben als Weiße, dass Schwarze fähiger sind zu lieben, fähiger, die Gefühle anderer zu bewegen und auf sie einzugehen; drittens, dass Schwarze auf ihre Vergangenheit stolz sein sollten, dass die Beschäftigung mit Geschichte, Kunst, Soziologie und Erziehung der Schwarzen die Voraussetzung ist, um als erwachsen zu gelten; viertens meint „Black Power“, dass die 113

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Farbigen selbst ihren Lebensstil bestimmen sollen und dass jedes Minderwertigkeitsgefühl überwunden werden sollte; fünftens: Solidarität mit den unteren Schichten und wirkliche Hilfe für sie, einschließlich der Gefangenen, Rauschgiftsüchtigen und Arbeitslosen; sechstens will die Jugend der schwarzen Bevölkerung, dass die weiße Mehrheit ihnen Reparationen für die Jahrhunderte der Unterdrückung und des Unrechts zahlt – sie betrachten die Weißen sehr sachlich und zeigen deren Unzulänglichkeiten und Grenzen auf. Bedeutet das nicht, dass auch die Schwarzen Vorurteile, wenn nicht sogar Hass, gegen die weiße Rasse haben? Ich habe in vielen Fällen die Entwicklung des Vorurteils gegen Weiße und besonders gegen Juden beobachtet. Juden sind meistens deshalb die Zielscheibe, weil einige in Slums Geschäfte machen. Der bedeutende schwarze Autor James Baldwin erzählt von einem jüdischen Gemüsehändler, den er sehr hasste, weil er zu hohe Preise verlangte. Gleichzeitig war er aber fair genug, dem jüdischen Arzt in seiner Nachbarschaft Achtung zu zollen, weil dieser seine ganze Familie behandelte. Franz Fanon, der für die algerische Unabhängigkeit kämpfte, betrachtet Hass und Vorurteil als Waffen der Befreiung. Er glaubt, dass so die Unterdrückten erst wirklich revolutionär werden und aufhören, passiv zu sein. 114

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Diese Ansicht teilen viele Schwarze der jüngeren Generation. Seit Tausende von ihnen für Delikte in Gefängnissen sitzen, für die ein Weißer nie verurteilt werden würde, wissen sie sich als Opfer einer ungerechten Gesellschaft, die sie mit allen Mitteln bekämpfen müssen – mit legalen und mit illegalen. Tatsächlich sind viele amerikanische Gefängnisse voll von Hass erfüllten Insassen, immer wieder leben Gruppen der einzelnen Hautfarben miteinander im offenen Kampf. Die andere Seite der Situation besteht darin, dass tausende Schwarze an Universitäten studieren, neue Beschäftigungsangebote haben und mit viel größerer Toleranz nicht nur in den Nordstaaten, sondern auch im Süden akzeptiert werden. Seit dem Ende des Vietnamkrieges ist die Zahl der Rassenunruhen in den USA gesunken. Man kann entgegnen, dass dies nur ein oberflächlicher Trend ist und dass früher oder später eine neue Welle von Gewalttaten ausbrechen wird. Aber verglichen mit vielen europäischen Ländern – z. B. Großbritannien mit dem Krisenherd Nordirland oder Deutschland und Österreich mit der Gastarbeiterlawine – haben die Vereinigten Staaten in den letzten Jahren bei der Lösung ihres Rassenproblems Fortschritte gemacht. Schon im Jahre 1967 befragte Louis Harris eine große Anzahl von Testpersonen, welche Bewegung oder welche Personen sie für besonders gefährlich oder schädlich für die Vereinigten 115

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Staaten hielten. Dabei wurden schwarze Aufwiegler und demonstrierende Studenten als größte Bedrohung angesehen. Sieben Jahre später zeigte eine Untersuchung ein ganz anderes Ergebnis. Die am meisten Gefürchteten waren politische Spione, Generäle, die geheime Operationen leiten, und Politiker, die geheime Abhörsysteme benutzen. Schwarze Aufständische wurden nicht mehr als eine öffentliche Bedrohung betrachtet – eine Einstellung, die möglicherweise auf eine wachsende Reife hoffen lässt. Welche Parallelen und welche Gegensätze gibt es im Schicksal der Juden und der Schwarzen? Beide Gruppen haben in ihrem Kampf um Freiheit und Gleichberechtigung sehr große Verluste erlitten. Beide fungierten als Sündenböcke für die verschiedensten Agitatoren. Beide wurden in ihren Sozialkontakten gehemmt. Beide wurden von denen als minderwertig betrachtet, die an die Überlegenheit der arischen Rasse glaubten. Mischehen mit beiden Gruppen waren für die meisten Angehörigen der weißen Mehrheit nicht vorstellbar. Aber die Emanzipation der Juden geschah früher und war leichter als die der Farbigen. Die Juden hatten im Gegensatz zu den Schwarzen eine durchgehende historische Tradition. Die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft wirkte sich auf die 116

Spielformen des Vorurteils

Juden sehr positiv aus, während die Schwarzen, die über Jahrhunderte in vielen Teilen der Welt Sklaven waren, fast keine kulturelle Tradition entwickeln konnten. Die Juden konnten außerdem ihren Familienverband aufrecht erhalten. Das Familienleben der Schwarzen war dagegen vollkommen zerrüttet, weil sie oft als Sklaven einzeln verkauft wurden. Soziale Mobilität war für Juden leichter als für Farbige, wobei die letzteren wenig Initiative zeigten. Die Mehrheit war zu lange unterdrückt gewesen, um nicht demoralisiert zu sein. In letzter Zeit erwiesen sich die Lebensbedingungen der Schwarzen als besonders schwierig. Die Ghettos in Watts, Detroit oder Chicago sind Stätten der Hoffnungslosigkeit. Rauschgifthandel, Glücksspiele, Alkoholismus und Kriminalität blühen. Brutale Polizisten beherrschen die Szene. Die Mafia profitiert aus dieser Situation enorm. Für den Ghettobewohner ist die Welt der Weißen sehr weit weg. Sie sehen in den Repräsentanten der Weißen Macht – weiße Polizisten, weiße Kaufleute, weiße Lehrer, weiße Sozialarbeiter – Agenten einer Besatzungsmacht. Die Juden konnten an Sozialprestige gewinnen. Jahrhunderte der Unterdrückung hatten ihre Selbstkontrolle gestärkt, hatten sie gelehrt, sich gegen eine feindselige Umgebung zu wehren. Eine bessere Ausbildung wurde der Weg zum Erfolg. Vor allem in den Vereinigten Staaten würden Eltern sehr viel 117

Teil II

opfern, um ihre Kinder auf die Universität schicken zu können, damit diese ein besseres Leben haben und mehr Anerkennung erreichen. Das heißt natürlich nicht, dass die Juden von Geburt an den Schwarzen überlegen sind. Wir können den Mut der schwarzen Künstler und Wissenschafter nur bewundern, die vor allem im letzten Jahrhundert die Grenzen ihrer Umgebung gesprengt haben und sich sehr für ein besseres Leben einsetzten. Sie hatten sowohl gegen Vorurteile als auch gegen die Verzweiflung ihrer Umwelt zu kämpfen. Kunst und Bücher waren unbekannte Dinge. Gerade nur zu überleben, war die größte Leistung inmitten der Brutalität der Ghettos. Die Tatsache, dass jetzt so viele Farbige Universitäten besuchen, dass akademische Türen für sie offenstehen, zeigt, dass die Zukunftschancen der Schwarzen besser sind, als es derzeit noch den Anschein hat. Die chinesischen und die japanischen Amerikaner wurden jahrzehntelang ebenso diskriminiert. Japanische Amerikaner wurden sogar während des Zweiten Weltkrieges in Kalifornien interniert. Aber jetzt scheint es, dass sich die Vorurteile gegen sie wesentlich verringern; ein Grund dafür ist, dass einige, durch größere Anstrengungen auf dem Gebiet der Schulbildung, bedeutende Positionen erreicht haben. So steigt das Ansehen der Schwarzen im gleichen Maß, wie sie ihren Bildungsstand heben. 118

Spielformen des Vorurteils

Beide Minderheiten – Juden und Schwarze – übten gelegentlich auch in ihren eigenen Reihen Diskriminierung. So hatten viele deutsche Juden Vorurteile gegen ihre osteuropäischen Brüder. Hellhäutige Schwarze fühlten sich oft dunkelhäutigen überlegen. „Sie sollten sich anständiger aufführen!“ ist ein Ausspruch, den ich oft gehört habe. Die Ansicht, dass Angehörige einer Minderheit automatisch ein idealeres Leben führen sollten als andere, ist vollkommen falsch. Wir sollten eher besonders viel Verständnis für sie haben, so wie für jemanden, der gerade eine schwere Krankheit überstanden hat. Nur ist die Krankheit der Minderheit durch die Gleichgültigkeit und Unbekümmertheit einer Mehrheit verursacht, die immer darauf wartet, latente Vorurteile zu bestärken. Ein offensichtlich sehr wohlmeinender Industrieller sagte neulich zu mir: „Ich weiß, dass Sie Toleranz predigen, aber Sie sind sehr unrealistisch. Ich habe mich besonders bemüht, schwarze Arbeiter anzustellen. Einige sind aber höchst unzuverlässig. Sie kommen betrunken zur Arbeit, andere erscheinen überhaupt nicht. Ich habe alles für sie getan, und so wird es mir gelohnt.“ Ich wies ihn darauf hin, dass ja auch Weiße schlechte Angewohnheiten haben. Noch wichtiger war, dass er verstand, aus welcher Umwelt viele Schwarze kommen – eine Umwelt voller Hoffnungslosigkeit und Vernachlässigung, wodurch nicht gerade positive Verhaltensweisen gefördert werden. Ja, eigentlich 119

Teil II

soll man den Rat des Konfuzius befolgen, immer, wenn man sich über jemanden ärgert, zuerst seine eigene Haltung in Frage zu stellen. Einige Monate vor seiner Verhaftung durch die Gestapo schrieb Dietrich Bonhoeffer über das Verurteilen anderer. Er meinte, dass durch eine verachtende Haltung keine wirkliche Kommunikation entstehen kann. Mit großer Einsicht stellte er fest: „Wir müssen die Menschen weniger auf das hin, was sie tun und unterlassen, als auf das hin, was sie erleiden, beurteilen.“ Gerade beim Ausrotten von Vorurteilen und bei der Entwicklung zu sozialer Integration ist dieser Rat besonders wichtig. Sowohl Juden als auch Schwarze schwanken zwischen Integration und Nationalismus. In unserer Zeit hat der Nationalismus in beiden Gruppen große Fortschritte erzielt und so die Entwicklung eingeleitet, ein eigenes Bewusstsein und ein neues Selbstverständnis zu finden. Religiöser, rassischer und politischer Nationalismus kann zur Stärkung des Selbstwertgefühles beitragen, aber er ist vergänglich. Es darf nicht vergessen werden, dass der frühe Nationalismus im 19. Jahrhundert oft sehr positiv war und einen Ausdruck des Protestes gegen die Unterdrückung absolutistischer Herrscher darstellte. Später wurde er zu einer neuen großen Gefahr für die Minderheit. Die einzig brauchbare Alternative ist eine gute internationale Zusammenarbeit. Das bedeutet, dass wir die Minderhei120

Spielformen des Vorurteils

tenfrage weltweit sehen müssen: Wir müssen beständige Koalitionen bilden, sodass die Unterdrückten und Erniedrigten neues Ansehen erlangen können. Das fordert von uns, nicht nur die Gräueltaten der Vergangenheit zu bereuen, sondern auch Opfer zu bringen, um die Wunden der Gegenwart zu heilen. Glauben Sie, dass der Faschismus eine dauernde Bedrohung der Menschheit sein wird? Was ist das Wesen des Faschismus? Ihm liegt eine dualistische Geschichtsauffassung zugrunde: der Kampf zwischen Gut und Böse. Das Gute ist definiert als das Befolgen der Gebote der Gruppe, das Böse als das Ablehnen der Gruppenstandards. Ganz besonders wichtig ist der Glaube an die Unfehlbarkeit eines einzigen Menschen. Liberalismus und Demokratie waren für Hitler Zeichen der Dekadenz. Die Rechte des einzelnen sollten hinter den Interessen des Staates zurückstehen. Internationalismus wurde als unmöglicher Traum betrachtet. War nicht die Nation der Inbegriff der Einheit? Diktierten nicht die nationalen Interessen die Politik eines echten Staatsmannes? Hitler zweifelte nicht daran, dass die Starken die Schwachen beherrschen sollen. Gerede über Barmherzigkeit, Liebe und Humanität war nur dazu da, den Volkswillen zu schwächen. 121

Teil II

Laut Hitler hatte das Christentum den deutschen Volkscharakter untergraben. Die christlichen Grundanschauungen seien schlichtweg falsch. Sie hätten die volle Entfaltung der menschlichen Kräfte behindert. Ein Umdenken in den grundlegenden Lebensidealen sollte erreicht werden. Statt Mitleid für den Feind zu haben, sollte die Vernichtung des Gegners versucht werden. Statt auf eine kommende Welt hin zu leben, sollte diese Welt das Ziel aller Anstrengungen sein. Statt gegen die Natur zu leben, sollte man sich nach ihren Gesetzen richten. Gerade so, wie die Natur ewigen Kampf darstellt, so müsste die Gesellschaft die Schwachen eliminieren. Humanitäre Philosophen mögen über die Gleichheit unter den Menschen reden. Ist die Geschichte nicht viel mehr eine Chronik der Ungleichheit? Stellt die Geschichte nicht einen natürlichen Prozess der Auslese dar? Laut Hitler wurde der Mensch durch den Hass stark. In seinen Reden wirkte er geradezu hysterisch, wenn er seine Gegner abkanzelte. Seine Stimme wurde heiser, wenn er die Feinde Deutschlands attackierte und wenn er über die Verschwörung des Weltjudentums sprach. Für Hitler war das Vorurteil zum Lebensstil geworden. Niemand vor ihm hatte die Propaganda so systematisch eingesetzt, um Vorurteile zu schaffen. Marschmusik, Massenversammlungen, Initiationsriten, Legenden von Märtyrern wie Horst Wessel, ein jährlicher Parteitag in Nürnberg, Fackel122

Spielformen des Vorurteils

parade, flammende Leitartikel in Parteizeitungen – alle diese Methoden sollten auf Seiten seiner Anhänger grenzenlosen Kampfgeist hervorrufen. Bei dieser Propaganda wurde kein Kompromiss geduldet, zwischen Schwarz und Weiß war keine Grauzone erlaubt. Die Hauptthemen, besonders der Schritt in den Mythos, die Niederträchtigkeit der Juden, der Terror der Versailler Verträge, wurden in unzähligen Varianten wiederholt. Typisch für den Hitler-Faschismus war das theatralische Schauspiel. Wenn er zu Tausenden sprach, wurden alle Techniken der effektiven Bühnenkunst ausgenützt, einschließlich der Nationalhymne und des Horst-Wessel-Liedes. Ein Vorredner mit einer anderen Rhetorik bereitete gewöhnlich den Weg für Hitler mit seinem grenzenlosen Fanatismus und seinem erschreckenden Aufruf zur Feindschaft. Vor allem machte er seiner Zuhörerschaft klar: Ihr sollt nicht denken! Ihr sollt von Gefühlen überwältigt werden. Die meisten von euch sind enttäuscht. Ihr braucht einen Sandsack für eure Gefühle. Ihr braucht Erleichterung für eure Aggressivität. Ich ermögliche es euch, die Gesetze der Zivilisation zu verlassen. Hört mir zu und ihr werdet durch die Macht des Hasses geheilt. Für Hitler waren die Feinde nicht nur böse, sie bedrohten im Kern die Existenz Deutschlands. Der springende Punkt dieser Propaganda war klar: Entweder Deutschland und die 123

Teil II

arische Rasse triumphieren oder völliger Verfall und Finsternis brechen herein. In „Mein Kampf“ erklärte Hitler, wie wichtig es sei, Lügen zu gebrauchen, wo immer notwendig. Das einzige Kriterium der Propaganda war ihre Überzeugungskraft. Wollte der Durchschnittsbürger nicht getäuscht werden? Sehnte er sich nicht, seine atavistischen Gefühle ausdrücken zu können? Brauchte er nicht die Sicherheit, dass er – geführt von der Vorsehung – auf dem richtigen Weg sei und dass der Widerstand totales Chaos bedeute? Friede hieß für Hitler Dekadenz; Selbstzufriedenheit entstehe; zuviel Individualismus tauche auf. Eine Demokratie mit falschen Wertvorstellungen werde durch den Frieden nur gefördert. Der Krieg dagegen eine nicht nur die Nation, sondern erzeuge echte Kameradschaft – die wichtigste Eigenschaft des Menschen. Die Opfer des Krieges seien gerechtfertigt, denn sie schaffen einen eisernen Willen und eine spartanische Lebensweise. Deutschland brauche neuen Lebensraum, so betonte Hitler. Die Ansprüche der arischen Rasse müssten befriedigt werden, da sie den Inbegriff der menschlichen Zivilisation darstellten. Alle anderen Rassen haben ihr zu dienen. Vermischung mit anderen Rassen ist nicht nur unklug, sondern sogar eine Sünde gegen die Gebote der Natur. Solange eine derart militante Haltung eine ganze Nation regieren kann, hat der Faschismus Hitlers viele potenzielle 124

Spielformen des Vorurteils

Nachfolger. Die Werte, die von den Militärs vieler Länder hochgehalten werden: totaler Gehorsam, kritiklose Hingabe an das Vaterland, Hass der vermeintlichen Feinde – all diese Eigenschaften sind schädlich für jede Zivilisation. Solange so viele Zeitungen und Rundfunkreporter sich darauf spezialisieren, die Quelle von Konflikten herauszustreichen und zu Hass und Hysterie aufzurufen, solange ist der Geist des Faschismus lebendig. Solange die Humanität unter Krisen und möglichen Kriegsgefahren in vielen Teilen der Welt leidet, ist die Feuerprobe des Faschismus noch nicht überstanden. Werden nicht die Friedensstifter und die Fürsprecher der Versöhnung mit Herablassung behandelt, während man die Fürsprecher der Gewalt bewundert? In seiner Wirtschaftspolitik strebte Hitler die Autarkie an. Er erklärte, dass das Ideal des freien Handels niemals zielführend sei, da es dem Prinzip des nationalen Eigeninteresses entgegenstehe. Solange aber wirtschaftliche Probleme nur im Zusammenhang mit den nationalen Prioritäten gesehen werden und nicht in Verbindung mit den weltweiten Notwendigkeiten, besonders der unterentwickelten Länder – solange bleibt wirtschaftliches Chaos eine dauernde Bedrohung – ein Chaos, das neue Formen des Faschismus begünstigen kann. Die Gefahr, dass man nach einem mächtigen Führer ruft, ist dazu besonders groß, wenn die täglichen Schwierigkeiten undurchschaubar und übermächtig werden. Wirtschaftliche 125

Teil II

Krisen verlangen Sündenböcke, gleichgültig, ob es Juden oder Schwarze sind. In allen Teilen der Welt können durch diese Mechanismen Diktatoren groß werden. Es darf nicht vergessen werden, dass die moderne Zivilisation dauernde Unzufriedenheit erzeugt. Die Distanz zwischen Ideal und Wirklichkeit wird immer größer. Die modernen Kommunikationsmittel haben ein Ansteigen der Erwartungen geschaffen – Erwartungen, die nur ganz wenige erfüllt bekommen. Wir sind dabei, ein Weltdorf zu werden – vereint in einer allgemeinen Frustration. Solch eine Frustration könnte ein fruchtbarer Boden für neue Varianten eines totalitären Regimes sein. Rassismus, Nationalismus, Imperialismus – diese Kräfte, die Hitler verkörperte, sind mit seinem Tod nicht überwunden. Besonders in Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Not werden sie immer wieder gefährlich. Obwohl genügend Berichte über die Schrecken der Konzentrationslager verbreitet worden sind, hört man doch oft genug Bemerkungen wie: – Diese grausamen Berichte sind erlogen. – Es hätten viel mehr Juden vergast werden sollen. – Hitler hat eine ganze Menge Gutes getan. Oder auf einer höheren Ebene: – Die Juden haben schon wieder zuviel Macht; es sollte etwas dagegen getan werden. 126

Spielformen des Vorurteils

Antisemitismus zieht sich in verschiedensten Spielformen durch die ganze Geschichte. Wie können Sie dies erklären? Antisemitismus ist ein Begriff, der von Wilhelm Marr geprägt wurde, einem entschiedenen Gegner der Juden. Er schrieb 1883 das Buch „Der Sieg des Judentums über das Germanentum“. Antisemitismus war eine oft feststellbare Haltung in vielen Zeitabschnitten der überlieferten Geschichte. Schon Haman im Buch „Esther“ betrachtete die Juden als Gefahr für das persische Weltreich. Im Imperium der Seleukiden wurden die Juden der Eselsanbetung und barbarischer Riten beschuldigt – eine Anklage, die in späterer Zeit in der Anschuldigung des Ritualmordes wiederholt wurde. Typisch für den älteren Antisemitismus war Apollonius’ Schrift „Hetzrede gegen die Juden“, genau so gemein in der Aussage wie Alfred Rosenbergs „Mythos des 20. Jahrhunderts“. Apollonius warf den Juden vor, dass sie Atheisten und gleichzeitig Gläubige seien; er nannte sie Feiglinge. Gleichzeitig beschuldigte er sie der militärischen Aggressivität. Die Widersprüche in seinen Argumenten sind typisch für die Unvernunft der antisemitischen Schriften quer durch die Jahrhunderte. Für die griechischen Händler in Alexandria bedeuteten die Juden eine immense Konkurrenz. Warum sollte man nicht versuchen, sie durch Pogrome zu beseitigen? In den Augen eines 127

Teil II

guten römischen Staatsbürgers wie Tacitus gefährdeten die Juden die Macht des Herrschers. Warum sollte man sie nicht in ihren Aktivitäten beschränken? Für viele Kirchenfürsten des Mittelalters bedeuteten die Juden nicht nur einen Fremdkörper, sondern eine Beleidigung des „wahren“ Glaubens. Für die Kreuzfahrer waren die Juden potenzielle Verbündete der Mohammedaner. War es da nicht gottgefällig, sie zu töten? Gegen Ende des Mittelalters wollte Duns Scotus die Mehrheit der Juden auf eine Insel schicken, sodass sie die Menschheit nicht verderben können – ein Vorschlag, der später von Eichmann in veränderter Form aufgegriffen wurde; er wollte die Juden in Madagaskar ansiedeln. Wenn Seuchen ausbrachen, waren natürlich die Juden schuld. Sie wurden des Wuchers und der Ausbeutung beschuldigt. Schreckliche Versuche wurden unternommen, sie zu bekehren. Wenn sie sich widersetzten, wurde das als Zeichen ihrer Missachtung göttlicher Gebote gewertet. Theologen wiesen darauf hin, dass es Juden waren, die Jesus getötet hatten. War das nicht das größte aller Verbrechen? Das Bild des Juden ist das eines ewigen Fremdlings. Er konnte nie sicher sein, wann er willkommen war und wann er wieder alles verlassen musste. Feindseligkeiten waren eine dauernde Bedrohung. Manchmal waren es die Herrscher, die sich ihrer Gläubiger entledigen wollten; manchmal war es das Volk, aufgewiegelt von hinterhältigen Agitatoren. 128

Spielformen des Vorurteils

Für einige russische Zaren waren die Juden willkommene Sündenböcke, um das Volk von der Misere des eigenen Schicksals abzulenken. Hier wurden Pogrome, wie z. B. das von 1881, direkt oder indirekt von den Herrschern unterstützt. Von einigen Revolutionären wurden die Juden verachtet, weil sie Träger des Kapitalismus waren. Geschäftsleute wiederum misstrauten den Juden, weil sie oft in den Reihen der Revolutionäre zu finden waren. In Deutschland und Österreich wurde der Antisemitismus von Rassisten wie Stöckel und Schönerer geschürt. Falsche Theorien über rassische Überlegenheit, die z. B. Chamberlain und Gobineau propagierten, wurden von einer großen Zahl bereitwilligst aufgenommen. Die Legende über „Das Protokoll der Ältesten von Zion“ über eine Verschwörung der Juden mit den Freimaurern fand viele Anhänger. Militärische Misserfolge, Inflation, Arbeitslosigkeit, der Mythos der Verleumdung – das alles machte sie zu Jüngern des Hasses, die Sündenböcke brauchten. „Der Stürmer“ und andere antisemitische Zeitschriften hatten eine große Leserschaft, gerne bereit zu glauben, dass die Juden für alle diese Missstände verantwortlich waren. Ein deutsches Mädchen hatte im Jahre 1935 für den „Stürmer“ einen Aufsatz geschrieben, wofür sie eine besondere Auszeichnung erhielt. Der Titel des Aufsatzes lautete: „Die Juden sind unser Unglück“. Im ersten Satz erklärte das Mädchen, dass zu viele Menschen eine falsche Einstellung 129

Teil II

Juden gegenüber haben. Haben sie nicht Mitleid mit ihnen? Sagen sie nicht, dass Gott auch die Juden geschaffen habe? Die richtige Antwort sei, dass Gott auch die Tiere geschaffen habe und dass Juden eben Tiere seien; also könnten Juden getötet werden. Vom Herrenmenschen her gesehen, seien Juden auf jeden Fall Tiere. Darum sei es nur richtig, wenn Herrenmenschen sich selbst schützten. Außerdem, so zeigte das Mädchen auf, seien Juden Mischlinge. Als Beweis zitierte sie ein Sprichwort aus der Südsee: „Gott schuf die Weißen, und Gott schuf die Schwarzen; aber der Teufel schuf die Mischlinge.“ Sie führte weiters an, dass die Juden ein verderbliches Buch geschrieben hätten, das sie den Talmud nennen; dass sie Verwüstung in Russland anrichten und dass sie die Kommunistische Partei beherrschen. Kam da nicht Hitler als Erlöser? Sie endete damit, dass sie auf ihre Heimatstadt Gelsenkirchen verwies: Der jüdische Kaufmann Grünberg verkaufte nur verdorbenes Fleisch und sei nur auf Profit aus. Das erlaube ihm seine Religion. Sie war stolz, dass ihre Eltern nicht bei Juden kaufen. „Jeder Pfennig, den wir ihnen geben, tötet einen von unseren Leuten. Heil Hitler!“ In „Mein Kampf“ sagte Hitler, dass die Propaganda, je primitiver sie sei, desto mehr den Durchschnittsbürger anspreche. Wir wissen heute, wie die Auswirkungen dieses Hasses sein können, und trotzdem lebt der Antisemitismus weiter. In den 130

Spielformen des Vorurteils

Vereinigten Staaten hat der Ku-Klux-Klan, der gegen Juden, Katholiken und Schwarze kämpft, Zehntausende von Anhängern. Die Vereinigten Staaten haben sogar eine eigene NaziPartei. Periodische Ausschreitungen gegen jüdische Gebäude und jüdische Friedhöfe in Deutschland sind an der Tagesordnung. Wie kann man erklären, dass immer noch Antisemitismus in Österreich herrscht? Wir müssen bedenken, dass der Antisemitismus nicht nur ein Symptom von Krisenzeiten ist. Er kann zum Lebensstil werden. In der „Glaubensinformation aktuell“ las ich folgenden Bericht: „In meiner Schulklasse war ein Jude. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, ich kann mich nur mehr ungefähr erinnern, wie er aussah. Er blieb nicht lange bei uns, seine Leistungen waren durchschnittlich, in manchen Gegenständen besser, in manchen Gegenständen schlechter. Sie waren nicht der Grund für den Schulwechsel – wir waren die Ursache. Wer das Wort ,Jesusmörder‘ aufbrachte, weiß ich nicht mehr. Von diesem Tag an hatte ,der Jude‘ keine ruhige Stunde mehr. In der Klasse wurde er gemieden, nach Schulschluss verprügelt … Eines Tages kam er nicht mehr zum Unterricht.“ Wichtig ist die Untersuchung von 1330 Österreichern über ihre Vorurteile: 40 % haben echte Hemmungen, einem Juden 131

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die Hand zu geben; es sei ihnen richtig zuwider. Mehr als ein Viertel der befragten Personen erklärte, dass die Juden selbst schuld seien, wenn man sie verfolge. Beunruhigend dabei ist, dass offensichtlich viele aus der jüngeren Generation von den Vorurteilen angesteckt wurden, die die ältere Generation systematisch aufgebaut hat. Teilweise ist der Antisemitismus durch einen unglaublich schlechten Geschichtsunterricht verursacht. Viele Lehrer waren enthusiastische Nazis. Tatsächlich hatte der Nationalsozialismus eine große Anziehungskraft auf Akademiker. In der Zwischenkriegszeit hörte man in Österreich oft, dass zu viele Juden in den Schulen und Universitäten seien. Da viele Lehrer Kontroversen mit den Eltern fürchteten, gingen sie auf Nummer Sicher und ließen die Periode zwischen 1938 und 1945 einfach aus. In vielen Schulen wurde gesagt, dass man keine genauen Aussagen über das Hitlerregime machen könne, weil man noch nicht genügend Abstand gewonnen habe, um objektiv zu sein. Einige Lehrer betonten, dass Hitler das Problem der Arbeitslosigkeit gelöst und großartige Autobahnen gebaut hätte. Zu Hause hörten viele Studenten, dass unter Hitler Ordnung geherrscht habe und dass es keine Hippies und Kriminelle gegeben habe. Die furchtbaren Taten der Nazi-Herrschaft werden in Österreich so oft bagatellisiert oder nur faktisch dargestellt. 132

Spielformen des Vorurteils

Antisemitismus scheint eine permanente Krankheit in Österreich zu sein – eine Krankheit, die besonders in Krisenzeiten gedeiht. Wie entstehen rassistische Vorstellungen? Bei einem Hochschulseminar gab ich den Studenten einmal die folgenden Vorurteile an mit der Frage, welche Gruppe ihrer Meinung nach solche Merkmale aufweise: – – – – – – –

Sie sind erfolgreich. Sie sind meist intelligent. Ihre Familien halten fest zusammen. Sie haben strenge Bräuche. Sie halten viel von Geld. Sie sind voller Tatendrang. Sie sind fleißig.

Einstimmig bezog die Gruppe diese Verhaltensweisen auf Juden. Tatsächlich war es eine Beschreibung, die Malayen über die angefeindete chinesische Minderheit in ihrem Land gegeben haben. Die Schwierigkeit besteht darin, dass jede erfolgreiche Minderheit Angriffen ausgesetzt ist. So sind z. B. in Thailand, in Indonesien und auf den Philippinen chinesische Schulen geschlossen worden. 133

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In Kambodscha wurden chinesische Bücher und Zeitungen verboten. In Malaysia ist eine Höchstzahl für chinesische Geschäftsniederlassungen festgesetzt worden, sodass viele chinesische Unternehmungen in die Hände einheimischer Bürger kamen, die Bumiputras genannt werden. In West-Kalimantan dürfen die Chinesen ihre Sprache in der Öffentlichkeit nicht verwenden. In Indonesien stellte ein Abgeordneter sogar den Antrag, dass Chinesen auch in einem Telefongespräch ihre Muttersprache nicht benutzen dürfen. Wenn irgendwo in Südostasien ein Aufstand entsteht, vermutet man immer chinesische Agitatoren dahinter. Gleichzeitig werden sie wegen ihrer wirtschaftlichen Erfolge beneidet. So kontrollierten die Chinesen z. B. 80 % der Importe Südvietnams und 100 % der Textilindustrie. Die größte Bank in Bangkok ist in der Hand chinesischer Interessen. Die größte Bank in Singapur – The Overseas Chinese Banking Corporation – ist in chinesischem Familienbesitz. U Tschu-liang, einer der reichsten Chinesen in Bangkok, erklärt den chinesischen Erfolg so: „Arbeit, Arbeit und kein Geld verschwenden.“ Sowohl die Juden als auch die Chinesen haben eine ähnliche Weltanschauung und eine ähnliche Lebensphilosophie. Beide Gruppen betonen die Güter dieser Welt. Beide neigen dazu, rationalistisch zu sein. Beide streichen die Bedeutung des Lernens heraus. Beide haben eine hohe Achtung vor Lehrern. Beide finden Sinn und Sicherheit in einem guten Familienleben. 134

Spielformen des Vorurteils

Ja, mehr noch, die Jugendlichen beider Minderheiten sind im Zwiespalt zwischen Anpassung und Bindung an das Mutterland. Für viele junge Juden hat Israel eine magische Anziehungskraft; für viele junge Chinesen bietet das Festland Hoffnung auf eine neue Zukunft. Gleichzeitig ist aber auch der Drang zur Anpassung sehr groß. Warum sollte man nicht versuchen, der Verfolgung durch Assimilation zu entkommen? Warum nicht ein komfortables Leben führen? Seit die Juden und die Chinesen von bestimmten Berufen ausgeschlossen wurden, versuchen sie wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Über Jahrhunderte hindurch bestand die Auffassung, dass Juden schlechte Soldaten seien. Der Erfolg der israelischen Armee überzeugt die Welt, dass diese Meinung falsch war. Genauso galten die Chinesen als schlechte Krieger. Das kommunistische China hat sicher das Gegenteil bewiesen. All das zeigt, dass rassistische Vorurteile nicht auf vernünftigen Überlegungen beruhen. Die Grundlagen sind vielmehr Neid und Eifersucht, Ablehnung desjenigen, der nicht zu dieser Gruppe gehört. Gegen Juden kann es Opposition sein, weil sie sich zu sehr absondern oder weil sie versuchen, ihre Identität zu verbergen, sondern sie ihre alten Riten oder Bräuche bewahren, oder weil sie ihre Namen ändern, um ihre Bereitwilligkeit zur Assimilation zu beweisen. Ablehnung führt zu Zwangsvorstellungen. Die Minderheit wird allmählich der Verschwörung verdächtigt. Indonesische 135

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Zeitungen beispielsweise behaupten oft, dass die Chinesen im Lande eine Bedrohung darstellten, weil China bei internen indonesischen Auseinandersetzungen intervenierte. Tatsächlich aber respektieren die Festland-Chinesen die Unabhängigkeit ihrer Nachbarländer und weisen die Auslandchinesen an, „draußen“ loyale Bürger zu sein. Viele österreichische Juden fühlten sich ihrem Vaterland ausgesprochen zugehörig. Sie schätzten auch die deutsche Kultur, und ihre Schulen in Polen zur Zeit der Habsburger waren Vorposten des deutschen Nationalismus. Trotzdem wurden sie angefeindet. Für die Antisemiten waren grundsätzlich alle Strömungen – wie Nationalismus und Internationalismus, Kapitalismus und Kommunismus, Konservativismus und Liberalismus –, sobald sie von Juden vertreten wurden, Beweise einer weltweiten Verschwörung. Rassistisches Denken teilt von vornherein in Kategorien ein: Wenn Schwarze sich z. B. in Nachbarschaft Weißer aufhalten und sich durchaus ordentlich und gesetzestreu verhalten, also in jeder Beziehung gute Bürger sind, so zählt das nicht. Sobald sie jedoch laut und unordentlich sind und auf ihr Eigentum nicht achten, dann bemerken das Voreingenommene und sagen: „So sind sie immer!“ Wenn ein Jude außerordentlich erfolgreich ist, stellt man fest, dass alle Juden schlau und geschäftstüchtig sind, wobei nicht gesehen wird, dass viele Juden in trostloser Armut lebten und leben. 136

Spielformen des Vorurteils

Ist es nicht natürlich, Vorurteile zu haben? Die anthropologische Forschung beweist, dass die Vorstellung einer statischen menschlichen Natur falsch ist. Als Ruth Benedict primitive Stämme erforschte, beschrieb sie viele Formen zwischenmenschlicher Beziehungen, die von extremer Aggressivität bis zur Friedfertigkeit reichten. Menschliches Verhalten hat in der modernen Gesellschaft gleicherweise wie in primitiven Verhältnissen außerordentlich viele Spielarten. Vorurteile hängen von der sozialen Situation (Milieu, familiäre Verhaltensmuster usw.) ab. Kinder werden nicht mit Vorurteilen geboren. Diese bekommen sie durch die Tradition und durch die Wertvorstellungen der Erwachsenen. Deshalb haben Quäker selten voreingenommene Kinder. Ihre Gemeinschaft begünstigt Freundlichkeit und Zusammenarbeit. Sie kämpften immer schon gegen Klassengesellschaften. Sie betrachteten von Anfang an den Krieg als den Inbegriff des Bösen. Sie ergriffen Partei für Minderheiten, ob sie nun schwarz, weiß oder gelb sind. Sie waren mit ihren Idealen bahnbrechend in der Gefangenenbetreuung und in der Fürsorge um Geistesgestörte. In allem hatten sie Rassenvielfalt befürwortet. In den Augen der Quäker sind Vorurteile jeder Art Zeichen der Unwissenheit, die beseitigt werden müssen: „Sind wir nicht alle Gottes Kinder? Sind wir nicht alle gleich? Haben wir nicht alle Anteil am Reichtum göttlicher Gaben?“ 137

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Die herkömmliche Religion – im Osten wie im Westen – hatte unglücklicherweise oft genug einen ganz anderen Standpunkt. Sie begünstigte anstelle von Toleranz Intoleranz, sie betonte anstelle dessen, was die Menschen vereint und verbindet, das, was sie trennt, sie förderte statt Gleichheit aller die Herrschaft weniger, sie pflegte statt eines Glaubens, der sich im Leben bewährt, das Festhalten an abstrakten Begriffen. Ja, mehr noch, anstatt z. B. Minderheiten zu schützen, fixierten religiöse Institutionen den Status quo. Meistens hat die herkömmliche Religion Macht und Erfolg als Ideal hingestellt, was eigentlich mit einem wirklich religiösen Leben unvereinbar ist. Der große indische Denker Rhadhakrishnan bemerkte einmal: Wenn man Unsinniges glaube, ende man fast immer damit, Gräueltaten zu begehen. Rassenvorurteile entstehen manchmal durch Geschwätz und Bemerkungen wie: – Sie sind schlau. – Sie sind gewinnsüchtig. – Sie sind arrogant. – Sie benutzen schmutzige Methoden. Die Entwicklung des Nazi-Regimes in Deutschland zeigt, welches Ergebnis herauskommen kann: zuerst Diskriminierung, dann Isolierung, Deportation, Zwangsarbeit und zuletzt die Gaskammer. 138

Spielformen des Vorurteils

Warum war die Reaktion der Weltöffentlichkeit so schwach, als Millionen Menschenleben in Deutschland in Gefahr waren? Die Konferenz von Evian im Juli 1938 ist ein ausgezeichnetes Beispiel für die unzulängliche Antwort der verschiedenen Nationen. So behauptete England, dass in seinen Kolonien kein Platz für eine größere Anzahl Juden sei. Frankreich meinte, dass es zusätzlich zu seinen 200.000 Flüchtlingen keine weiteren mehr aufnehmen könne. Australien mit seinen diskriminierenden Einwanderungsbestimmungen war nicht bereit, Rassenauseinandersetzungen zu riskieren, die auftreten hätten können, wenn sich eine große Anzahl Juden niedergelassen hätte. Die australische Haltung war besonders deprimierend, da weite Gebiete des Landes noch unbewohnt waren. Kanada, Kolumbien und Venezuela wollten nur Flüchtlinge, die auf Farmen arbeiten konnten. Obwohl Argentinien nur 10 % der Bevölkerung der Vereinigten Staaten hatte, also genügend Platz zur Verfügung gestanden wäre, begnügte man sich mit der gleichen Anzahl aufgenommener Flüchtlinge. Peru wandte sich gegen die Einreise von Ärzten und anderen Intellektuellen. Die peruanischen Vertreter meinten, dass die USA mit ihrer Einwanderungspolitik der Welt den Weg gewiesen haben, wie man „vernünftige Kriterien der Auswahl anwende“. Nur Holland und Dänemark waren bereit, im Bereich ihrer engen Grenzen noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen. 139

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Die Vereinigten Staaten, die die Konferenz initiiert hatten, machten eine großzügige Geste, die in Wirklichkeit nur zynisch war: Die USA teilten mit, dass sie von nun an die volle legale Einwanderungsquote aus Österreich und Deutschland akzeptieren würden – ganze 27 370 Flüchtlinge. Das Schicksal von Flüchtlingen, die immer von der Gefahr der Deportation bedroht waren, ist eindringlich in Remarques „Arc de triomphe“ beschrieben. Es ist unmöglich, sich die wirtschaftlichen Nöte der Flüchtlinge vorzustellen, die Angst des Verfolgtwerdens, der Deportation nach Deutschland – eine Deportation, die gleichbedeutend war mit Konzentrationslager und Tod. Die Polizei der besetzten Länder arbeitete meist eng mit der Gestapo zusammen. Weniger bedrohlich war die Situation in Norwegen und in Dänemark, wo der Antisemitismus weniger verbreitet war als unter den anderen besetzten Nationen. Tausende Juden wurden durch den Mut jener Leute gerettet, die ihnen Unterschlupf gewährten. Es darf nicht vergessen werden, dass auf eine solche Tat die Todesstrafe stand. Zweifellos hätten die Alliierten noch viel mehr tun können, um Juden zu retten. Die offizielle Version war, so schnell wie möglich den Krieg zu gewinnen; das sei der beste Weg, das jüdische Schicksal zu beenden. In Wirklichkeit meinten die alliierten Staatsmänner, dass eine zu große Hilfe den jüdischen Flüchtlingen gegenüber ihre eigene Popularität untergrabe. 140

Spielformen des Vorurteils

Was kann man tun, damit die Erinnerung an das Leid der Juden wach bleibt? Es gibt viele, die glauben, die Vergangenheit solle man vergessen, es gelte nur die Gegenwart. Das ist richtig, wenn damit gemeint ist, dass eine Generation nicht für die Fehler der vorherigen verantwortlich gemacht werden kann. Sicher ist die Lehre von der Kollektivschuld falsch. Aber die Erinnerung an das Leid der Vergangenheit sollte wach bleiben, um uns die Gefahren der Gegenwart vor Augen zu halten. Was die Farbigen betrifft, sollten wir bedenken, wie viele Millionen auf den Sklavenschiffen umgekommen sind und dass das Leben auf den Plantagen im Süden vollkommen hoffnungslos und menschenunwürdig war. Heute sind die Bedingungen in Harlem oder Watts nicht viel besser; dort zu leben ist die Hölle der Frustration und Demütigung. In der Geschichte der Juden ist Auschwitz das Symbol der menschlichen Barbarei. Dass Konzentrationslager in vielen Teilen der Welt noch immer existieren, zeigt, wie wenig Fortschritte in der Humanität gemacht wurden. Wir müssen das Schicksal der einzelnen Personen betrachten, denn wir können uns kaum vorstellen, was es heißt, dass über sechs Millionen Juden ausgerottet wurden. Diese Zahl ist zu überwältigend.

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Als Beispiel soll uns das Schicksal des Ehepaares Rosenfeld aus Bielefeld dienen: Herr Rosenfeld hat seine Anstellung verloren. Er und seine Frau sind kränklich. Sie können aber keine medizinische Hilfe erhalten. Die Rosenfelds dürfen kein Telefon besitzen. Sie dürfen nur während einer Stunde am Nachmittag einkaufen gehen. Sie dürfen nicht mit dem Bus fahren. Die meisten Sitzbänke im Park haben die Aufschrift: „Nur für Arier!“ Alle ihre nichtjüdischen Freunde haben sie in Stich gelassen. Vor der Hitlerzeit hatten sie in einem geräumigen Haus gewohnt. Von Zeit zu Zeit hatten sie Gesellschaften gegeben. Sie hatten viele Reisen in die Schweiz, nach Italien und Belgien unternommen. Jetzt dürfen sie nicht mehr reisen. Sie leben in einem einzigen Raum. Im Winter müssen sie ihre Mäntel anbehalten, da sie nicht genug Geld für Heizmaterial haben. Diese Demütigungen sind eingeplant. Auf der linken Seite ihrer Kleidung müssen sie einen sechszackigen Stern auf gelbem Grund mit der Aufschrift „Jude“ tragen. Es besteht die gesetzliche Verordnung, dass der Stern gut erkennbar und so groß wie eine Handfläche sein müsse. Der Stern muss fix angenäht sein. Die Rosenfelds dürfen das Haus nie ohne dieses Erkennungszeichen verlassen. Häufig werden sie von ehemaligen Freunden beschimpft. Einige Male werden sie sogar von Kindern mit Steinen beworfen. Sie fürchten sich sehr vor der Gestapo. Immer, wenn jemand 142

Spielformen des Vorurteils

die Treppe heraufkommt, erschrecken sie. Wenn sie Polizeisirenen hören, werden sie unruhig: Kommt jetzt die Gestapo, um sie zu holen? Dann kommt der Tag der Deportation. Alle Wertsachen müssen sie zurücklassen. Nur ihre Personaldokumente dürfen sie behalten. Lebensmittelkarten, Beschäftigungsnachweis und Rentenkarten sind abzugeben. Nur 25 Kilo Gepäck dürfen mitgenommen werden, einschließlich Verpflegung für zwei Tage, schwere Schuhe, Wolldecken. Die Polizisten, die am frühen Morgen kommen, behandeln das Ehepaar sehr brutal. Ihre Hauptsorge ist, dass keine Waffen mitgenommen und keine Wertsachen versteckt werden. Für die Polizisten sind das nicht zwei alte Leute, mit denen man Mitleid haben muss, sondern jüdische Schädlinge, die vernichtet gehören. Am Bahnhof müssen die Rosenfelds sechs Stunden warten, bis der Zug abfährt. Sie werden fast ohnmächtig, da sie so geschwächt sind. Sie sehen, wie eine Frau versucht, Selbstmord zu begehen, indem sie sich unter einen einfahrenden Zug wirft. Der Zug, der sie an ihren Bestimmungsort bringt und normalerweise für Viehtransporte verwendet wurde, ist vollgestopft mit Alten und Jungen, Kranken und Gesunden. Es sind so viele Personen in dem Waggon, dass man fast erstickt. Am dritten Tag gibt es nichts mehr zu essen. Jeder ist hungrig und durstig. Es gibt keine entsprechenden sanitären Anlagen. Der Gestank wird unerträglich. 143

Teil II

Gelegentlich hält der Zug und lässt Militärtransporten den Vorrang, die Munition und Truppen an die Front bringen. Immer, wenn der Zug anhält, rufen die begleitenden Wachen, dass niemand den Waggon zu verlassen habe. Sollte sich irgend jemand nicht daran halten, werde er sofort erschossen. Die Rosenfelds leiden großen Hunger; sie sehen, wie Mädchen vom Deutschen Roten Kreuz den Soldaten Erfrischungen und Zigaretten anbieten. Natürlich ignorieren die Mädchen die Juden. Als der Zug schließlich das Vernichtungslager erreicht, ist über ein Viertel der Passagiere bereits tot. Die ukrainische Polizei benutzt Lederpeitschen, um die Leute aus den Waggons zu treiben. Dann wird ausgewählt. Da beide Rosenfelds bereits älter sind, weist sie der Arzt, der die Einteilung vornimmt, in Richtung Krematorium. Irgendjemand gibt laut den Befehl, sich auszuziehen, Schuhe und künstliche Gliedmaßen abzulegen. Den Frauen und Kindern werden die Haare abgeschnitten. Langsam bewegt sich die Reihe zu den Gaskammern. Es entstehen viele Gerüchte. Einige meinen, dass es Duschräume seien, andere wissen, besser: spüren, welchem Zweck sie dienen. Kinder weinen und wollen fortlaufen. Die Wachen schlagen die Kinder, damit sie in der Reihe bleiben. Das Ehepaar aus Bielefeld hofft noch immer: Sicher sind die Gerüchte über Massenvernichtungen falsch. Keine Nation 144

Spielformen des Vorurteils

kann solche Verbrechen zulassen. Sie werden darin bestärkt, als der Lautsprecher verkündet, dass die Männer entsprechende Arbeitsstellen bekämen, dass die Frauen in der Küche und im Spital helfen sollen, während für die Kranken ausreichend gesorgt werde. Schließlich betreten die Rosenfelds und mit ihnen 400 andere die sogenannten Duschräume. Sie werden mit Seife und Handtüchern versorgt, um ihnen die Illusion zu geben, dass sie jetzt duschen können. Als die Türen hermetisch verriegelt werden, müssen sie erkennen, dass ihr Ende gekommen ist. Ihre Angst und ihre Verzweiflung, als das Gas aufgedreht wird, sind unvorstellbar. ,KZ‘ – die Dokumentation des amerikanischen Informationsdienstes – berichtete über Bergen-Belsen: „Riesige Öfen waren aufgestellt worden, um die Leichen einzuäschern; aber in Belsen und in Buchenwald war die Todesrate zu hoch, als dass die Öfen Schritt halten konnten. Außerdem war auch hier Kohle sehr rar geworden. Untersuchungen des britischen Sanitätsdienstes zeigen auf, dass in den letzten Kriegsmonaten 30.000 Menschen in Bergen-Belsen gestorben sind. Als die Briten kamen, fanden sie außer riesigen Gruben mit verkohlten Gebeinen eine große Anzahl halbverwester Leichen.“ „Das Tagebuch der Anne Frank“ ist eines der meistgelesenen Bücher unserer Zeit. Unzählige Exemplare sind in der Taschenbuch-Ausgabe gekauft worden. Klubs wurden zu Annes 145

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Gedenken gegründet. Über ihr Schicksal wurde ein Film gedreht, der in vielen Teilen der Welt gespielt wurde. Warum hatte das Tagebuch solchen Erfolg? Warum ist es ein so wichtiges Erziehungsmittel? Warum sollte es Teil jedes Geschichtsunterrichtes sein? Anne war ein typisches Mädchen: Sie hatte dieselben Abneigungen und Vorlieben wie die meisten Mädchen ihres Alters. Ihre Familie hatte wenig Verständnis für sie. Sie träumte von einer Welt des Friedens und der Einheit, die sie nie erfahren sollte. Sie war verliebt, aber das war nur ein tragisches Zwischenspiel, weil es zu keiner Erfüllung führte. Wir leben mit ihr im Hinterhaus. Wir teilen ihre Angst, als sie auf die gefürchtete Geheimpolizei wartet. Jeder Fremde ist ein potenzieller Verräter, jedes unerwartete Geräusch ein Zeichen höchster Gefahr. Wir zittern mit ihr, wenn jemand die Stiegen zu ihrem Versteck heraufkommt. Wir hoffen mit ihr und ihrer Familie, dass doch noch ein Wunder geschieht, aber wir wissen, dass ihr Schicksal unabwendbar ist. Welche Rolle spielten die Wachen in den Vernichtungslagern? Viele Wachen hatte man so beeinflusst, dass sie die Juden wirklich nicht als menschliche Wesen betrachteten. Es waren Tiere, die man vernichten musste. Die Wachen ergötzten sich an den abscheulichsten Foltermethoden: Menschen lebendig 146

Spielformen des Vorurteils

begraben, Kindern die Köpfe einschlagen, Schwangere erstechen – all das bereitete ihnen ein sadistisches Vergnügen. Im alltäglichen Leben müssen diese barbarischen Instinkte unterdrückt werden. Ein Krieg erlaubt Individuen mit sadistischen Zügen, ihrer Natur freien Lauf zu lassen. In Auschwitz wurde das Tagebuch eines SS-Arztes entdeckt. Er hob besonders hervor, dass das Essen vorzüglich sei, viel besser als in Deutschland. Er beklagte sich über die Hitze und die unzulänglichen sanitären Anlagen. Er berichtete, dass es für Sonderaktionen zusätzliche Rationen gab, die aus Zigaretten, Wurst, Brot und einer großen Zugabe Schnaps bestanden. Er vergleicht die Atmosphäre des Lagers mit einer Szene aus Dantes ,Hölle‘, aber das berührt ihn nicht so sehr wie die Qualität des Essens. Den 20. September 1942 notierte er als Ruhetag. Ein 80 Personen starkes Symphonieorchester hatte ein Konzert gegeben. Die Musik unter Leitung eines polnischen Künstlers war ausgezeichnet; fast noch besser war allerdings der Schweinebraten, der zum Abendessen serviert wurde. Für viele ist vielleicht dieser extreme Antisemitismus Vergangenheit. An seine Stelle scheint das Vorurteil gegenüber Gastarbeitern getreten zu sein. Wie sehen Sie dieses Problem? Gastarbeiter leben nicht nur in miesen Vierteln und bekommen niedrige Löhne, sie werden vom Durchschnittsbürger auch mit 147

Teil II

großen Vorurteilen angesehen. Sogar in der Schweiz, wo eine lange demokratische Tradition besteht, und in Schweden (hier besonders in Bezug auf die finnischen Fremdarbeiter) gibt es diese Haltung, obwohl Schweden z. B. in anderen Beziehungen für eine fortschrittliche Gesetzgebung wegweisend war. Neulich traf ich einen jugoslawischen Gastarbeiter in einem Wiener Park. Er erzählte mir, dass er bei einer Bitte um Auskunft immer zwei Leute fragen müsse, sonst laufe er Gefahr, dass er durch absichtlich falsche Angaben irregeführt werde. Eine Untersuchung, die von einer Gruppe Soziologen unter Ernst Gehmacher gemacht wurde, zeigt, dass bei 51 % der österreichischen Bevölkerung Gastarbeiter als „dreckig“ gelten. 52 % betrachten sie als primitiv. In den Gebieten, in denen besonders viele Gastarbeiter wohnen, sind die Vorurteile noch größer. Dort meinen 59 % der Bevölkerung, Gastarbeiter seien schmutzig, und 70 % betrachten sie als primitiv. Die Untersuchung ergab, dass Frauen mehr Vorurteile haben als Männer. 39 % der Österreicher wollen keine Gastarbeiter als Nachbarn. Die Klagen der Ausländer beziehen sich vor allem auf ihre Wohnverhältnisse, aber auch auf andere Gebiete des Sozialkontaktes. Typische Beschwerden sind: – Acht Personen müssen in einem Raum leben. – Für 20 Bewohner gibt es nur eine Toilette. – Hunde haben bessere Behausungen als wir. 148

Spielformen des Vorurteils

– Wir zahlen so viel für ein Bett wie Österreicher für eine ganze Wohnung. – In einigen Restaurants werden wir sehr unhöflich bedient. – Unsere Kinder sind in den Schulen isoliert. – Die meisten Mädchen wollen mit uns nichts zu tun haben. – In unserer Heimat sind die Menschen meist freundlich. Hier treffen wir nur auf Feindschaft. Neulich sprach ich mit einem neunjährigen Buben, in dessen Klasse auch einige Gastarbeiterkinder gehen: „Wie werden in eurer Klasse die ausländischen Kinder behandelt?“ „Ach, wir kümmern uns nicht viel um sie!“ „Spielst du mit ihnen?“ „Sehr selten.“ „Lädst du sie zu deinem Geburtstag ein?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil sie dreckig sind und einige von ihnen sogar stinken!“ „Versucht der Lehrer, sie mit euch zusammenzubringen?“ „Nein!“ Noch eine andere typische Einstellung wurde mir in einem Gespräch klar, das ich mit einem Mann in der Straßenbahn führte. Er war ungefähr 40 Jahre alt und Busfahrer von Beruf. 149

Teil II

„Was halten Sie von Gastarbeitern?“ „Da gibt’s viel zu viele!“ „Was würden Sie da tun?“ „Sie alle zurück nach Hause schicken!“ „Ja, aber was würde da in der österreichischen Wirtschaft passieren?“ „Wir müssten eben mehr arbeiten, das wäre nur gut für uns!“ „Warum mögen Sie die Gastarbeiter nicht?“ „Weil sie nicht zivilisiert sind. Wo sie leben, ruinieren sie alles. Sie sind wie Wilde.“ „Kennen Sie einen Gastarbeiter persönlich?“ „Nein, und ich will auch keinen kennenlernen. Ich habe schon genug, wenn ich sie sehe und ihr Geschrei höre!“ Die Demütigungen der Gastarbeiter sind vielfältig. Wenn sie beispielsweise mit einem Amt zu tun haben, werden sie oft geringschätzig behandelt. Wenn sie ein Dokument benötigen, müssen sie oft endlos warten. Beamte schreien sie an oder zeigen ihre Feindschaft auf andere Weise. Wenn Gastarbeiter krank werden, müssen sie oft lange einen Arzt suchen, der sie dann als Menschen zweiter Klasse behandelt. Sie sind den Sprechstundenhilfen und Krankenschwestern ausgeliefert, deren Haltung ebenfalls oft voll Ablehnung ist. Ein Gastarbeiter in Deutschland sagte einmal zu mir: „Ich bin jetzt seit fünf Jahren hier und arbeite in einem 150

Spielformen des Vorurteils

Stahlwerk. Aber ich habe wenig Kontakt. Seit ich in Deutschland bin, hat mich erst ein einziges Mal ein Kollege nach Hause eingeladen.“ Natürlich darf man nicht verallgemeinern. Einige Kirchen z. B. bemühen sich ständig, Vorurteile abzubauen und die Situation der Gastarbeiter zu verbessern. Großstädte wie Berlin, Wien und Frankfurt waren Wegbereiter auf dem Gebiet der Fremdarbeiterberatung, aber das Problem besteht weiter, wenn auch nur mehr teilweise, weil noch nicht genug im Bereich der Erziehung und der Massenmedien getan wird, um die Ursachen des Vorurteils auszurotten. In der Schweiz besteht dieses Problem genauso wie in Deutschland und Österreich. Im Jahr 1970 ergab ein Volksentscheid, der von J. Schwarzenbach initiiert wurde, um die Zahl der Gastarbeiter radikal zu beschränken, 46 % JaStimmen, obwohl alle großen Tageszeitungen und Kommentatoren dazu aufgerufen hatten, Schwarzenbachs Referendum abzulehnen, weil es ein Ausdruck größter Intoleranz sei. Schwarzenbach blieb dabei, dass er die Schweiz für die einheimische Bevölkerung reinhalten wollte und nannte seine Bewegung „Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat“. Seit 1970 hat sich die Stimmung in der Schweiz kaum geändert: Auch 1994 wurde von vielen Schweizern „Überfremdung“ als ein Hauptproblem angegeben. 151

Teil II

Warum hat die Bevölkerung eigentlich so wenig Kontakt mit den Gastarbeitern? Ich habe sehr viele Freunde und Bekannte, aber ich kenne nur eine einzige Frau, die ihre Zeit wirklich den Gastarbeitern widmet. Sie ist nicht berühmt, nicht besonders reich und hat auch keine großartige Schulbildung, aber sie hat ein großes Gefühl für Unterdrückte. Sie nimmt Ausländer in ihre Wohnung auf. Wenn einer krank ist, kauft sie Blumen und besucht ihn im Krankenhaus. Wenn einer der Gastarbeiter Probleme hat, hört sie geduldig zu, bei Ehekrisen beispielsweise berät sie mit Anteilnahme und Klugheit. Sie vergisst nie die Geburtstage der Gastarbeiterkinder, die sie kennt; und das wenige Geld, das sie hat, teilt sie mit Gastarbeitern, die in Not geraten sind. All das tut sie ohne Herablassung und ganz spontan. Viele ihrer österreichischen Freunde finden sie komisch und unrealistisch, ja sogar weltfremd. Ist das nicht vollkommen absurd, Gastarbeiter als gleichwertig zu behandeln? Ist es keine Zeitverschwendung, sich mit ihnen abzugeben? Viele meiner Freunde in Los Angeles waren aufgeschlossen und versuchten das Schicksal der Minderheiten zu verbessern. Sie hatten Reisen in die verschiedensten Großstädte unternommen: Tokio, London, Paris, Bangkok, Rio de Janeiro waren für sie vertraute Orte, aber in Watts – einem schwarzen 152

Spielformen des Vorurteils

Viertel in der Nähe von Los Angeles, wo tausende Menschen unter Umständen leben, die mit der Situation der Gastarbeiter in Europa zu vergleichen sind – , in Watts war nur einer von ihnen gewesen. Wie wirken sich die Vorurteile gegenüber Frauen aus? Der große amerikanische Denker und Kritiker Thoreau wurde einmal gefragt, welche Lebensphilosophie er habe. Seine Antwort war: „Ich möchte gerne ich selbst sein!“ Und genau das konnten und können viele Frauen nicht erreichen, weil in der Gesellschaft eine andere Auffassung über ihre Rolle herrscht. Über Jahrhunderte hinweg wurden Frauen genauso wie die Mitglieder von Minoritäten unterbewertet. Sogar so bedeutende griechische Philosophen wie Aristoteles glaubten, dass die Frau dem Mann unterlegen sei. In vielen Teilen Asiens, Afrikas und des Nahen Ostens genießen Frauen immer noch kein hohes Ansehen. Erst durch die Frauenrechtsbewegung und besonders durch Betty Friedans Buch „The Feminine Mystique“ wurde die Aufmerksamkeit auf Vorurteile gelenkt, denen Frauen – direkt oder indirekt – ausgesetzt waren. Sogar in den USA waren die Frauen im Vergleich zu Männern in den meisten Berufen unterbezahlt und wurden vor allem in den gehobenen Positionen der Industrie und in den meisten Lehrberufen diskriminiert. 153

Teil II

Das Ergebnis dieser Vorurteile war, dass viele Frauen ihre eigenen Fähigkeiten falsch einschätzten. Viele meiner Studentinnen beschränkten bewusst die Entfaltung ihrer geistigen und kulturellen Anlagen, damit ihre Freunde und Ehemänner ihnen überlegen sein konnten. Wieder andere studierten nicht weiter, weil sie nur Hausfrauen werden wollten. Es ist interessant zu wissen, dass im heutigen China der Kampf gegen die Diskriminierung der Frau besonders groß ist. In China leisten Frauen die gleiche Arbeit wie Männer und erhalten die gleiche Bezahlung. In Landgebieten herrschen trotzdem noch viele patriarchalische Vorurteile, und viele Ehen werden wahrscheinlich noch von der Verwandtschaft gestiftet. Aber im Vergleich mit Indien, wo die Bildung der Frau noch sehr unterentwickelt ist, hat China schon bedeutende Fortschritte gemacht, um die Gleichberechtigung der Geschlechter zu erreichen. Immer noch ist es eine Ausnahme, wenn eine Frau an der Spitze eines Staates steht – ein Vorurteil sowohl auf Seiten der Frauen als auch der Männer. Die Sache des Friedens erfordert aber, dass mehr Frauen politische Verantwortung tragen, da sie meist mehr Einfühlungsgabe haben und weniger ideologisch orientiert sind als ihre männlichen Kollegen.

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Spielformen des Vorurteils

Hat nicht auch der verbreitete Generationskonflikt unserer Zeit weithin in Vorurteilen seine Ursache? Da wir von stereotypen Gedankengängen beeinflusst werden, tendieren wir zu einer Idealisierung der Jugend. Die Werbung ist auf die Bedürfnisse junger Menschen ausgerichtet. Wenn eine Firma ein Produkt verkaufen will, wirbt sie auf Plakatwänden meist mit zwei netten jungen Leuten, die vor Gesundheit strotzen. Er wirkt sehr forsch und männlich, und sie scheint sehr verführerisch zu sein. Diese Überbetonung der Jugend kann aber eine sehr egozentrische Einstellung schaffen. Es werden dadurch falsche Werte und eine falsche Lebensphilosophie erzeugt. Die Folge ist beispielsweise, dass wir die Nöte älterer Leute immer mehr ignorieren. Ihre Suche nach Anerkennung wird übersehen. Älterwerden erinnert uns im Grunde nur an unseren eigenen Tod – an eine Tatsache, die wir meist zu verdrängen suchen. Gleichzeitig bestehen aber große Vorurteile gegen Jugendliche mit unkonventionellen Ansichten. Als ich einmal in einem Seminar eine gelassene Haltung in der Erziehung empfahl, erklärte ein Lehrer: „Das führt nur zur Anarchie. Sollen unsere Schulen denn von Hippies beherrscht werden?“ Für diesen Lehrer war ein Hippie Symbol für alles Negative im Leben: Ablehnung der Autorität, dauernde Rebellion, sexuelle Ausschweifungen, fehlende Selbstkontrolle, 155

Teil II

Schlampigkeit, mangelnde Sitten und Drogensucht. Aber dass viele Jugendliche nicht rauschgiftsüchtig sind, ist eine bekannte Tatsache; viele Untersuchungen zeigen sogar, dass fast zu viele Jugendliche konservativ sind. Eigentlich überrascht das nicht, denn viele junge Menschen imitieren nur die Verhaltensmuster ihrer Vorfahren. Die Romantik im 19. Jahrhundert ist nur ein Beispiel dafür, dass Revolutionäre oft reaktionär werden. In den Vereinigten Staaten habe ich gesehen, wie selten Vater und Sohn eine gute Beziehung haben. Der Vater erfüllt fast ausschließlich die Rolle des Ernährers. Geschäftsverpflichtungen entfremden ihn der Familie. Auf der anderen Seite benutzt der Sohn die Familie als Absteigequartier. Die Freizeit verbringt er nicht in der Familie. Ein Vater beschwerte sich neulich: „Ich tue alles für meine Familie; ich bringe jedes Opfer, um meinen Sohn auf die Universität schicken zu können; ich habe mir seit langem keinen neuen Anzug gekauft, nur damit er genug Geld hat. Und wie lohnt er es mir? Seine Prüfungsergebnisse sind schlecht, seine Manieren sind unmöglich; er sieht aus wie ein Landstreicher.“ In einem Gespräch erklärte aber der Sohn: „Mein Vater denkt nur an Erfolg. Er will, dass ich so werde wie er. Aber ich will kein Geschäftsmann sein. Ich will nicht so ein stumpfsinniges Leben führen. Er tut nie etwas Aufregendes. 156

Spielformen des Vorurteils

Sein Dasein ist nur Routine, beherrscht vom Fernsehen.“ Wie in vielen Familien heute hatten die beiden nie wirklich versucht, miteinander über wichtige Dinge zu sprechen. Beide hatten sich nicht bemüht, eine Brücke der Kommunikation zu bauen. Eines Abends führten sie ein echtes Gespräch, das über fünf Stunden dauerte. Ich wirkte als Katalysator. Sie waren beide sehr ehrlich und ließen ihren Emotionen und Vorurteilen freien Lauf. Am Ende hatten beide ein besseres Verständnis füreinander. Der Sohn erkannte, dass sein Vater keine Maschine war, sondern kämpfen musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, und dass er auch gar nicht so konservativ war, wie es zuerst schien. Gleichzeitig überwand der Vater einige seiner Vorurteile gegen die Jugend. Er verstand, dass sein Sohn sich auflehnen musste, um selbständig zu werden und dadurch ein höheres Maß an Reife zu erreichen.

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Teil iii

Keine Illusionen Wie wirken sich Vorurteile auf die Lebensstrategie aus? In meinem Roman „Web of Hate“ (Gewebe des Hasses) 1961 habe ich das Schicksal eines deutschen Bürgers beschrieben, der nach einer Kindheit in Armut und Entbehrung und nach den Kriegsjahren Wohlstand erlebt. Was hat Karl Holzhauser wirklich gelernt? Sicher nicht, wie man ein vorurteilsloses Leben führt. „Der Krieg ist nur noch eine vage Erinnerung. Ich bin Fabriksbesitzer; wir haben drei Kinder, einen Buben mit siebzehn und zwei Mädchen, zwölf und elf Jahre alt. Jeden Sommer fahren wir nach Italien. Wir sind Mitglieder eines Klubs, und ich besitze einen neuen Mercedes. In all den Jahren war die Familie nur von einem Unglück betroffen: dem Tod von Annas Mutter, die 1946 in einem Sanatorium in der Schweiz starb, was ihr ganzes Geld verschlungen hatte. Da sie an einer langwierigen Herzkrankheit gelitten hatte, kam ihr Tod nicht unerwartet. Vor nicht allzu langer Zeit war ich auf dem Friedhof in Hanau, um das Grab meiner Mutter zu besuchen. Hanau ist

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Teil III

wieder eine wohlhabende Stadt geworden, hat jedoch noch immer etwas Kleinstädtisches an sich. Der Friedhof war voll alter, schwarzgekleideter Leute. Einige Frauen weinten, und die Männer versuchten ihre Gefühle zu verbergen. Es war ein nebeliger Tag, was dem Friedhof eine eigenartige Atmosphäre gab; von der Entfernung sahen die Leute wie Gespenster aus einer Shakespeare-Tragödie aus. Ich hatte rote Rosen mitgebracht und legte sie auf das Grab meiner Mutter. Ich dachte über ihr Leben nach; wie schwer sie es gehabt hatte und wie wenig Freude; und wie der Krieg ihr zu schaffen gemacht hatte. Ich versuchte, mich an Mutter zu erinnern, als sie jung und ich erst fünf Jahre war. Damals war sie sehr schön. Ich wollte mir ein Bild von ihr machen, aber es war verschwommen. Ich konnte sie mir nur älter vorstellen, als ihr Gesicht bereits von Kummer und Sorge gezeichnet war. Zu Hause hatte ich einige Briefe von ihr. Ihre Handschrift war wie gestochen. Immer, wenn ich sie wieder las, stiegen Tränen in mir auf. Ein Brief aus dem Jahre 1942 lautete: Mein liebster Sohn! Meine Gedanken sind immer bei Dir. Leider ist die Post sehr langsam. Ich habe nun seit einem Monat keinen Brief von Dir erhalten. Jeden Tag warte ich auf den Briefträger und hoffe, er bringt Nachricht von Dir. Ich weiß, dass Du bald schreiben wirst. Bitte sei vorsichtig. Melde Dich nicht freiwillig für gefährliche Unternehmungen. Wenn Dir etwas zustieße, wüsste ich nicht, was ich tun soll. Ich schau jeden Abend 162

Keine Illusionen

Dein Bild an und bete zu Gott, dass er Dich beschützen möge. Ich höre, dass der Winter sehr streng ist und dass viele Männer an Frostbeulen leiden. Halte Dich warm und setze Dich nicht dem Wetter aus. Mach Dir keine Sorgen um mich. Ich fühle mich gut und wir haben genug zu essen. Schreib, sobald Du kannst. Das wäre das größte Geschenk. Es muss ja kein langer Brief sein, nur einige Zeilen. In Liebe, Deine Mutter. Ich konnte den Brief fast auswendig. Er kam, als ich gerade besonders deprimiert war und als der russische Gegenangriff zeigte, dass wir den Krieg schließlich doch verlieren würden. In einem Teil des Friedhofs war eine Beerdigung im Gange. Ich ging hinüber und betrachtete die Trauernden. Anscheinend war ein erfolgreicher Anwalt gestorben und ließ seine Witwe und einen kleinen Sohn zurück. Die Witwe war schick in ihrem schwarzen Kleid, und sie weinte nicht. Vielleicht hatte sie ihren Mann nie richtig geliebt. Der kleine Bub schaute in die Luft; ein Düsenflugzeug flog über uns. Die Sonne kam hervor, und der Geistliche, der die Grabrede hielt, wischte sich über die Stirn. Er erzählte, wie gerecht der Verstorbene gewesen sei und wie er arme Leute in Not verteidigt habe. Der Sarg sah sehr teuer aus und die versammelten Leute schienen wohlhabend. Nur ein Mann, der mit dem verstorbenen Anwalt verwandt gewesen sein musste, der einen alten Anzug und unmoderne Schuhe trug, zeigte wahre Trauer. 163

Teil III

Er zitterte und sein Gesicht war von Gram zerfurcht. Sein ganzer Körper bebte, als er weinte. Die anderen Verwandten waren von seinem Benehmen unangenehm berührt. Als der Sarg in die Erde versenkt wurde, brach er fast zusammen. Auch in meinen Augen standen Tränen. Ich empfand nichts Besonderes für den Toten, aber mir taten die ganze Menschheit und ich selbst leid. Ich überlegte eine Minute, ob ich das Grab meines Vaters aufsuchen sollte. Ich hatte keine Blumen bestellt. Ich erwähnte ihn nie Freunden gegenüber. Wenn ich nach seinem Beruf gefragt wurde, gab ich für gewöhnlich eine ausweichende Antwort. Vor dem Friedhof wartete mein Chauffeur. Ich schickte ihn zu einem nahen Blumenstand um rote Geranien. Ich nahm die Blumen und legte sie neben die Rosen auf das Grab meiner Mutter. Ich fand, dass der Friedhof ein zu einsamer Ort war, um allein herzukommen, und beschloss, nächstes Mal Anna mitzubringen. Als ich im Gymnasium war, las uns Professor Rohn öfter Pascal vor. Eigentlich waren wir zu jung, um Pascals „Pensées“ zu verstehen. Aber eine Stelle blieb mir im Gedächtnis. „Wir machen einen Abgott aus der Wahrheit“, schrieb Pascal, „denn Wahrheit ohne Liebe ist nicht Gott, sondern ein Götzenbild, das wir weder lieben noch verehren dürfen.“ Professor Rohn hat 164

Keine Illusionen

oft über die Notwendigkeit von Mitleid gesprochen, aber ich war zu sehr von Bitterkeit erfüllt. Jetzt sah ich das Leben klar; es ist, als ob man aus dem Nebel käme und alles in seiner richtigen Perspektive sähe, aber all das machte mich nicht glücklicher. Um zu leben, musste ich einen Zweck finden. Erst war es der Wunsch, aus den Slums wegzukommen, reich zu werden, dann war es die Partei, dann das Militär; und dann war es nur der Wunsch zu überleben. Mutter und Anna waren mehr als Menschen. Sie wurden Symbole für Großmut und Liebe. Wenn ich bei ihnen war, fühlte ich mich heil und zielbewusst. Aber ich erkannte nun, wie damals in Russland, dass ich meine innersten Gefühle und Empfindungen nicht mitteilen kann; dass ein Teil von mir immer verschüttet bleibt; dass ich im Grunde allein sterben werde; dass ich mein ganzes Leben mehr Zuschauer als aktiver Teilnehmer gewesen bin. Ich beneidete alle jene, die die Fähigkeit besaßen, sich selbst zu verlieren, egal ob in einer Liebesaffäre, in Geschäften oder in der Politik. Auf diese Weise konnten sie die Zeit vergessen und die Tatsache, dass das Leben düster war. Anna und Mutter sahen das Gute im Menschen. Ich sah die Menschen nackt; die meisten von ihnen trachteten nach Gewinn, sie logen und betrogen, wenn man sie nicht entlarven konnte; sie waren nur Sekunden vom Urwald entfernt; Hass war stärker als Liebe. 165

Teil III

Ich hatte schon zu viel Schreckliches im Leben gesehen. Anna las mir einmal über einen Mord aus der Zeitung vor. Die Überschrift meldete, dass ein Mann seine Frau und seine drei kleinen Kinder getötet habe; dann habe er Selbstmord begangen. „Wie schrecklich“, rief Anna, „eine ganze Familie auszulöschen.“ Ich reagierte nicht und sagte auch nichts. Sie fragte mich, ob ich das nicht schrecklich fände, und ich antwortete, dass ich schon viel Schlimmeres gesehen hätte. „Erzähl mir davon“, sagte sie. Ich begann ihr einige Szenen aus dem Krieg zu schildern, aber ich wechselte bald das Thema und sprach über die Kinder. Wie konnte ich ihr von der Zeit in Russland erzählen, als ein ganzes Dorf zerstört wurde und ich Kinder wie zerbrochene Puppen auf der Straße liegen sah? Wie konnte ich ihr von den Soldaten erzählen, die in einem zerstörten Keller eingeschlossen waren, und von ihren Hilfeschreien? Wie konnte ich ihr über einen meiner letzten Freunde erzählen, der mit mir redete, als wir im Graben lagen, und der von einer einschlagenden Granate in Stücke gerissen wurde? Wir hatten alle von Konzentrationslagern gelesen, aber das waren Geschichten und nicht Begebenheiten, die wir am eigenen Leib erfahren hatten. Das ist ein grundlegender Unterschied zwischen Teilnehmen und Beobachten. Was wir wirklich erleben, macht einen bleibenden Eindruck auf uns; der Rest ist vage wie im Film. 166

Keine Illusionen

Ich sprach selten von den Schrecken der Vergangenheit. Einmal zeigten sie in der Wochenschau einige Überlebende aus Auschwitz. Sie waren abgezehrt wie lebende Gespenster. Ich wandte den Blick ab, stand auf und ging hinaus. Anna fragte mich nachher, warum ich hinausgegangen sei, und ich sagte, dass ich diesen Anblick nicht ertragen könne. Hatte ich Schuldgefühle? War ich betroffen, weil ich selbst einmal ein Nazi war? Bereute ich meine jugendliche Dummheit? Ich war sicher, dass das nicht die Gründe waren. Ich hatte nur schon zuviel Grausamkeit gesehen. Auf dem Heimweg sprach Anna über die Schrecken des Nationalsozialismus und wie wir alle daran beteiligt waren. Ich wechselte das Thema. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mich das persönlich betrifft. Meine Freunde reagierten genauso. Immer, wenn das Thema Konzentrationslager anklingt, herrscht für einen Moment betretenes Schweigen. Dann ändern wir das Thema. Wir reden nicht gern über die Zeit zwischen 1933 und 1945. Sie war zu einer Gedächtnislücke geworden. Das Leben begann erst 1945 oder, genauer gesagt, nach der Finanzreform, die uns auf den Weg zum Wohlstand brachte und die es Deutschland ermöglichte, wieder eine große Nation zu werden. Alle meine Freunde sind angesehene Geschäftsleute oder Akademiker. Wir sind gegen jede Art des Radikalismus, egal ob rechts oder links. 167

Teil III

Als Liberale glauben wir an die Freiheit. Aber Freiheit muss mit einer gewissen Autorität und Achtung vor dem Gesetz verbunden sein. Wir können es nicht verstehen, dass so viele junge Menschen keinen Respekt vor Konventionen haben. Sogar wenn sie aus wohlhabenden Familien stammen und alle Vorteile haben, ziehen sie es manchmal vor, in Dachkammern zu hausen. Wir sehen das als Zeitvergeudung. Es ist noch viel zu tun, und jeder, der bummelt, trägt nichts zur nationalen Wohlfahrt bei. Bei der Heimkehr nach Frankfurt bemerkte ich, dass viele neue Häuser gebaut wurden. Es waren viele neue Autos auf der Straße. Studenten fuhren mit dem Fahrrad. Gut gekleidete Pärchen gingen Hand in Hand spazieren. Ich erinnerte mich an ein Stück eines amerikanischen Autors, in dem ein Mädchen nach ihrem Tod zurückkommen wollte. Sie wurde davor gewarnt, aber sie beschloss trotzdem, einen Tag auf der Erde zu verbringen. Als sie die Routine des Alltags und der Eintönigkeit erlebte und die Vergeudung erkannte, kehrte sie frühzeitig zurück. Das war zu viel für sie und sie fragte sich, warum die Menschen so kleinlich und blind seien. Es gab keine Antwort. Ich empfand dasselbe nach dem Besuch auf dem Friedhof. Ich war entschlossen, bewusster zu leben, aber einige Tage später würde der berufliche Alltag meinen Vorsatz zunichte machen. 168

Keine Illusionen

In den nächsten Tagen musste die Steuererklärung aufgesetzt werden, was für uns immer eine besonders belastende Zeit war. Die Regierung raubt uns wirklich aus, und ich beschäftige einen Rechtsanwalt und einen Steuerberater, die Gesetzeslücken im Steuergefüge herausfinden sollen. Wenn die Zeit der Einkommensteuererklärung kam und ich den Scheck an die Regierung unterschreiben musste und wegschickte, stieg mein Blutdruck jedes Mal. Dieses Jahr würde es sicher nicht anders sein. Am Abend fragte mich Anna, ob ich nicht zum Abendessen ausgehen wolle. Ich sagte, dass ich lieber ein kleines Nachtmahl zu Hause hätte. Ich erzählte ihr von meinen Eindrücken auf dem Friedhof, konnte jedoch meine Gefühle nicht richtig ausdrücken. Ich nahm ein Beruhigungsmittel, bevor wir zu Bett gingen. Ich fühlte mich total erschöpft. Ich küsste Anna flüchtig, war aber nicht in der Stimmung nach mehr. Mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, dass ich gleich in der Früh meinen Steuerberater anrufen müsse … Mein Vater war ein Trinker. Ich erinnere mich an die Nächte, in denen ich wach lag und wartete, bis er heimkam. Mit schweren Schritten wankte er dann immer laut grölend die Stiegen herauf. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, und die Türe öffnete sich mit einem unheimlichen, knarrenden Geräusch. Er stolperte über einen Sessel und tappte im 169

Teil III

Dunkeln umher. Mutter pflegte ihm zu sagen, dass sich die Nachbarn beschweren würden, aber er kümmerte sich nicht darum. Sie beschwor ihn, seine schlechten Gewohnheiten aufzugeben, aber ohne Erfolg. Oft hörte ich meine Mutter in der Nacht weinen. Ihr Schluchzen war schmerzlich und hemmungslos, und ich wollte sie trösten, zu ihr gehen und ihr sagen, dass sie nicht weinen solle. Wegen des Trinkens musste mein Vater häufig die Stelle wechseln. Er begann als Briefträger, einer ziemlich respektablen Stellung mit Anspruch auf eine Alterspension. Aber diese Anstellung hatte er nicht lange. Danach wurde er Kellner, dann Mechaniker. Nach einiger Zeit nahm er jede Arbeit an. Ich fragte mich oft, warum Mutter ihn geheiratet hatte – vielleicht sah er gut aus, vielleicht war er körperlich sehr anziehend. Auf ihrer Kommode stand ein Bild von ihm als junger Mann, auf dem er sehr faszinierend aussah mit seinem dichten, braun gewellten Haar und seinen breiten Schultern. Jetzt hatte er eine Glatze, unter seinen Augen hatten sich dicke Tränensäcke gebildet; sein Lebenswandel hatte tiefe Falten in seinem Gesicht hinterlassen und sein Atem roch nach Alkohol. Da sein Einkommen unregelmäßig und sehr spärlich geworden war, nahm meine Mutter Wäsche an und schrubbte und bügelte den ganzen Tag, bis ihre Schultern gebeugt und ihre Hände, wie die einer Wäscherin, rau und gerötet waren. 170

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Sie hustete viel. Es war ein tiefsitzender, krampfartiger Husten. Ich wollte, dass sie zum Arzt gehe, aber sie dachte nicht daran. Mutter und ich standen einander sehr nahe. Sie sprach mit mir über viele Dinge. Sie sagte, dass ich der einzige sei, dem sie sich anvertrauen könne. So wurde ich rasch erwachsen und war reifer als meine Altersgenossen. Ich bin 1917 geboren. Zu der Zeit war meine Familie so sehr verarmt und Lebensmittel waren so knapp, dass es ein Wunder war, dass ich überhaupt überlebte, wie Mutter später einmal sagte. Wir lebten im Arbeiterviertel. Unser Zuhause bestand aus zweieinhalb Räumen. Die Möbel waren schäbig, der Teppich abgenützt, das Dach hatte Löcher und es entstanden Flecken am Plafond. In der Nacht konnten wir Mäuse und Ratten in der Küche hören. Die Geräusche der angrenzenden Räume drangen durch die dünnen Wände, sodass kaum ein Privatleben möglich war. Wie sehr unterschied sich doch mein Zuhause von den noblen Villen der reichen Hanauer! Ich brachte immer die Wäsche zu den Koppels, die die Gummifabrik besaßen und in einer riesigen Villa wohnten, die von einem hohen Eisenzaun umgeben war. Lieferungen wurden bei der Hintertüre angenommen, aber einmal erhaschte ich einen Blick in den Speisesaal. Er sah prunkvoll aus, wie in einem Schloss – ein Bild, wie ich es in meinem Märchenbuch gesehen habe. 171

Teil III

Wie hässlich war dagegen das Arbeiterviertel, in dem wir wohnten! Hier befanden sich die meisten miesen Lokale, hier war die Kriminalität am höchsten, und hier warben jede Nacht Prostituierte um ihre Kunden. Es gab auch oft Messerstechereien. Frauen alterten hier sehr rasch und waren mit dreißig unansehnlich. Die sanitären Anlagen waren in diesem Stadtteil nicht nur höchst unzulänglich, sondern verletzten sogar die Bauvorschriften. Aber die Häuser brachten ihren Besitzern einen hohen Gewinn, und deshalb bestand man nicht auf Einhaltung der Baubestimmungen. Hier wurde ein Todesfall in der Familie nur kurz betrauert, da er lediglich einen Esser weniger bedeutete. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, was für ein Luxus es war, ein richtiges Butterbrot mit Zucker zu haben. Da das ein seltenes Vergnügen war, genoss ich jeden einzelnen Bissen, um den Geschmack voll auszukosten. Einen vollen Magen zu haben, war in jenen Jahren wirklich ein einzigartiges Erlebnis. Ich weiß, wie das Leben ohne Geld ist. Ich sage meinen Kindern, dass sie sparen sollen und kein Essen auf den Tellern übriglassen sollen, und ich ermahne meine Töchter, einfache Kleider zu kaufen. Ich erzählte ihnen, wie wenig Geld wir hatten, als ich jung war, und wie wir im Winter froren. Sie glauben natürlich, dass ich übertreibe. 172

Keine Illusionen

Manchmal streiten wir. Anna und ich. So kam ich einmal zu spät nach Hause, als wir in ein Konzert gehen wollten, und Anna warf mir vor, rücksichtslos zu sein. Ich entgegnete ihr, dass sie mich nicht genug zu schätzen wisse. Ich begann sie anzuschreien, und sie bat mich, leise zu sein, da uns das Dienstmädchen hören könne. Sie stellte fest, dass ich nicht mehr so sei wie früher. Schließlich gingen wir ins Konzert. Auf dem Weg nach Hause waren wir sehr wortkarg … Die Vergangenheit war wie ein Rausch. Wenn man wirklich betrunken war, sah die Welt ganz anders aus. Man kümmerte sich nicht um Bequemlichkeit und Sicherheit. Man hatte keinerlei Hemmungen und kannte seine Grenzen nicht. Man lebte für den Augenblick. Man hatte den einzigen Wunsch, dass die anderen ebenso betrunken waren wie man selbst. Man verdächtigte jene, die nüchtern waren, dass sie einem den Spaß verderben und einen einschränken wollten. An der Front sah ich dann, wie ständiges Trinken den Menschen veränderte. Ein Obergefreiter, der im zivilen Leben Bankbeamter war, betrank sich an einem Abend sinnlos mit Wodka. Normalerweise war er ein äußerst schüchterner Mensch. Der Einfluss von Wodka machte ihn aggressiv, und er legte sich mit zwei Wachposten an, die er fast niederschlug. Er musste von drei stämmigen Unteroffizieren überwältigt werden. Vor dem Kriegsgericht war er wieder der schüchterne Mensch von vorher und konnte sich nicht mehr an den Vorfall erinnern. 173

Teil III

Einmal war mein Freund Bliedner bei einem Trinkgelage dabei. Es war in einem russischen Dorf, gerade nachdem wir von der Front zurück gekehrt waren. Normalerweise war er ein Mensch, der an Selbstbeherrschung und Disziplin glaubte. Weil er zuviel Schnaps getrunken hatte, warf er eine Flasche gegen die Kantinentür und traf beinahe einen Offizier der Luftwaffe. Bliedners Zustand dauerte mehrere Nächte, und am Ende war er so betrunken, dass er in der Kantine seine Blase erleichterte. Glücklicherweise hatte der Mann an der Bar Verständnis; es war kurz vor der Sperrstunde, und Bliedner und ich waren die einzigen Gäste. Ich steckte dem Kellner Geld zu, damit er den Vorfall nicht meldete. Dann behandelte ich Bliedner mit schwarzem Kaffee und kaltem Wasser, um ihn auszunüchtern. Gewöhnlich war er peinlich genau, was sich an seiner stets tadellosen Uniform zeigte. Als ich ihm von dem Abend erzählte, glaubte er mir nicht. Bliedners Rausch spiegelt den Zustand Deutschlands unter Hitler wider. Wie im Rausch hatten sich unsere Werte verschoben. Was gut gewesen war, wurde böse, was unkonventionell gewesen war, wurde zur Norm. Was als unvernünftig gegolten hatte, wurde zum Wertmaßstab. Liebe wurde zu Hass und Hass zu Liebe. Wir forderten die Welt heraus und bezahlten den Preis. Trotzdem war es ein berauschendes Erlebnis, solange wir siegten. Wir waren stark und hatten das Gefühl, unbesiegbar zu 174

Keine Illusionen

sein. Wir verkörperten die Zukunft, und keine Macht der Welt konnte uns aufhalten. Wir waren wie die Panzer, die über die französische Grenze rollten. Wir hatten ein Gefühl vernichtender Macht. Wie dekadent waren doch die anderen Nationen im Vergleich zu unserer vitalen Stärke! Und wie leicht war es, sie einzunehmen. Es glich fast einem Manöver. Dann kam Russland, und das schien noch leichter besiegbar. Der erste Winter ernüchterte uns. Wir waren wie Betrunkene, die ihre Mittel verschwendet und tausende Mark verloren hatten, die nun ihr Bankkonto sahen und schließlich ihre Gesichter im Spiegel erkannten. Der Frühling war für immer vorbei, die Hoffnung sank. Der große Führer, der mit seiner einzigartigen Intuition unfehlbar erschienen war, war ein ganz gewöhnlicher Mensch geworden – ein Sterblicher, der auch Grenzen hatte. Wir waren wie die Personen in einer griechischen Tragödie, die um ihr Schicksal wissen, die das Unvermeidliche erkennen, aber nichts dagegen tun können. Sie spielen in dem Wissen, dem Untergang geweiht zu sein. Ich frage mich manchmal, was ich heute täte, wenn wir wieder einen Diktator hätten. Würde ich Widerstand leisten? Würde ich meine Firma riskieren? Würde ich der Untergrundbewegung angehören? Wäre ich bereit, mich der Mehrheit zu widersetzen? Ich stelle mir gerne vor, dass ich tapfer wäre und bestimmte Prinzipien verwirklichen würde. Aber im Grunde 175

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weiß ich, dass es mit meiner Tapferkeit nicht weit her ist und ich Bequemlichkeit liebe … Wie weit habe ich es seit dem Ende des Krieges gebracht? Es scheinen viel mehr als siebzehn Jahre zu sein, eher siebzig. Niemals werde ich den Winter 1945 vergessen – als es schneite und der Schnee zu Eis wurde. Die Straßen waren schmutzig, und es stürmte. Wir froren die ganze Zeit und hatten keine Kohlen zum Heizen. Eingemummt in unsere Wintermäntel saßen wir und warteten auf den Frühling. Winter 1945 – als wir so wenig zu essen hatten, als Anna so abgezehrt aussah, dass man sie mit einem Opfer eines KZ verwechseln konnte; als wir nicht davon träumten, zusammen zu sein und Kinder zu bekommen, sondern eine volle Mahlzeit zu haben. Winter 1945 – als ich meine Stelle im Finanzamt verlor und in die Stadt auf Arbeitsuche ging und abgewiesen wurde, wo auch immer ich mich bewarb. Ich hatte keine Erfahrung. Als ich schließlich im Baugewerbe arbeitete, war ich, wenn ich nach Hause kam, immer so müde, dass ich kaum sprechen konnte. Winter 1945 – als ich gewöhnlich an den Restaurants im westlichen Nobelviertel der Stadt vorbeiging, wo ich sah, wie die reichen Kriegsgewinner mit ihren Frauen üppige Mahlzeiten genossen. Ich hatte einen unbändigen Hass in meinem Herzen. Ich hatte beinahe den Drang zu töten. 176

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Winter 1945 – als Anna Komplikationen in ihrer Schwangerschaft hatte und wir zu einem Facharzt gehen mussten. Der Arzt sagte, dass Anna zu schwach sei, um ein Kind zu bekommen, aber ich erwiderte, dass sie es bekommen würde. Ich machte mir Sorgen um Anna und fragte mich, wie ich die Arztrechnung bezahlen sollte. Winter 1945 – als wir entdeckten, dass Anna entfernte Verwandte in Amerika hatte, und wir ihnen schrieben. Sie schrieben zurück und schickten Nahrungsmittel. Wir warteten jede Woche sehnsüchtig auf ihr Paket. Wir waren wie Leute, die in Gefahr waren zu ertrinken und auf die Rettung warteten. Winter 1945 – als ich Lungenentzündung bekam und im Bett hätte bleiben sollen. Aber ich musste Anna erhalten und den Doktor bezahlen und ging deshalb weiterhin arbeiten. Ich brach bei der Arbeit zusammen und wurde ins Allgemeine Krankenhaus gebracht. Ich lag in der Armenabteilung, was mir aber nichts ausmachte, da ich dreimal täglich zu essen bekam. Winter 1945 – als ich fühlte, dass ich für die Liebe nicht stark genug war, dass ich für Anna zwar zärtliche Gefühle empfand, aber keine Leidenschaft. Winter 1945 – als der Krieg immer noch tobte, nur war es jetzt ein anderer Krieg: Ein Kampf ums Überleben in einer Welt, die scheinbar keine Hoffnung und keine Zukunft kannte. Winter 1945 – als ich an Sonntagen am Fenster zu sitzen pflegte, die hässlichen Straßen betrachtete und sah, wie inmitten 177

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der Ruinen die Leute in Abfallkübeln nach etwas Essbarem suchten. Da beobachtete ich unsere Mädchen aus gutem Hause, wie sie amerikanische Soldaten ansprachen, um ein warmes Essen und Nahrung für ihre Familien zu bekommen. Winter 1945 – als ich meine Kameraden, die an der Front gefallen waren, fast beneidete, weil sie nicht unsere Verzweiflung und Erniedrigung erleben mussten. Winter 1945 – als mir bewusst wurde, dass wir aus dem Krieg nichts gelernt hatten, dass wir nicht großzügiger und selbstloser geworden waren; im Gegenteil, wir kämpften um Zigarettenstummel. Wir hatten kein soziales Bewusstsein. Die Reichen prahlten noch mehr mit ihrem Reichtum, und die Armen erlebten die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Winter 1945 – als ich mich oft fragte: warum habe ich überlebt? Warum hatte ich das Ende des Krieges herbeigesehnt? Warum hatte ich eine neue Welt erhofft? Warum hatte mich das Leben nicht gelehrt, ohne Illusionen zu leben? Warum sollte mein Dasein allein aus Desillusionierung bestehen? Warum erlebte ich einige wenige Höhepunkte und dann eine große Leere? Warum wurden aus allen meinen Siegen Niederlagen? Ich dachte einmal daran, wie ich als kleiner Knabe mit einer Fliege umgegangen war: sie summte am Fenster und störte mich. Ich erhob mich und schlug mit einer Zeitschrift nach ihr. Sie entkam, aber nur für einen Moment. Das zweite Mal war sie auf meinem Bett, und ich traf sie mit einem Lineal. Die Fliege fiel zu Boden 178

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und war noch immer am Leben. Einen Augenblick lang dachte ich daran, sie am Leben zu lassen. Dann überlegte ich es mir. Ich zertrat sie mit meinem Fuß. War ich die Fliege, die von übermenschlichen Kräften gemartert wurde? Winter 1945 – als Tausende wegen der wirtschaftlichen Notlage Selbstmord begingen und ich mich fragte, ob es wert war, weiterzumachen. Ich beschloss, hart zu sein und mich nicht entmutigen zu lassen, sondern zähe Entschlossenheit zu zeigen. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit für meine Kinder. Sehr oft, wenn ich nach Hause komme, bin ich zu müde. Die Mädchen wohnen im Internat ihrer Schule und kommen gewöhnlich nur am Wochenende nach Hause. Sie sind gerade in dem Alter, in dem sie Filmstars anbeten und Rock’n Roll-Musik anhören. Einer der berühmtesten Rock’n Roll-Stars kam einmal nach Frankfurt, und sie kauften alle seine Platten und hängten sein Bild im Zimmer auf. Als er abreiste, fuhren beide zum Flughafen, und zusammen mit Tausenden anderen warteten sie stundenlang, nur um einen Blick von ihm zu erhaschen. Die Polizei hatte fünfzehn Männer zum Schutz des jungen Sängers aufgeboten, so groß war der Andrang. Die Mädchen kamen ganz aufgeregt nach Hause, weil sie ein Autogramm von ihm ergattert hatten. Ich fand, dass er harmlos aussah, und verstand seine Anziehungskraft auf meine Töchter nicht. Überdies habe 179

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ich eine Abneigung gegen Rock’n Roll-Musik, ich finde sie barbarisch. Aber Anna sagte, dass die Mädchen verschiedene Entwicklungsstufen durchmachen würden und dass der Sänger für sie ein romantisches Symbol sei. Ich fragte sie, ob sie jemals so ein Symbol gehabt habe. Sie antwortete, dass es in ihrem Fall ein Schauspieler gewesen sei und dass sie alle seine Vorstellungen im Theater von Hanau besucht habe; sie habe seine Kritiken in einem Album gesammelt, und sein Bild sei unter ihrem Polster gelegen. Später sah sie ihn eines Tages wieder und fand ihn zu alt. Er bekam bereits eine Glatze. Wolfgang ist der Stolz der Familie. Er sieht aus wie ich, als ich das Hanauer Gymnasium besuchte. Eines Abends war ich in meinem Arbeitszimmer. Anna war unten und las. Ich widmete mich gerade dem Wirtschaftsteil der Zeitung und stellte mit Befriedigung fest, dass die Aktien stiegen. Wolfgang öffnete die Tür und entschuldigte sich für die Störung. Ich wusste, dass er mit mir sprechen wollte. Ich fragte ihn, warum seine Noten so schlecht seien, ich wollte, dass er ein Vorzugsschüler wäre. „Ich gehe einfach nicht besonders gerne in die Schule“, sagte er. „Die Lehrer langweilen mich. Der einzige, der etwas taugt, ist unser Turnlehrer. Er war im Zweiten Weltkrieg.“ Ich zündete mir eine Zigarette an und atmete den Rauch ein. Ich sprach in strengem Ton mit ihm. 180

Keine Illusionen

„Als ich so alt war wie du, lernte ich sehr viel. Ich schätzte die Schule sehr. Das Problem mit dir ist, dass du alles bekommst. Wir sind viel zu großzügig.“ „Ich mag meine Schule einfach nicht“, wiederholte er. „Warum soll ich Geometrie und Latein lernen? Warum soll ich mich für Grammatik interessieren? Ich möchte Spaß haben, etwas erleben und fremde Länder sehen.“ Ich erzählte ihm, dass wir im Sommer eine lange Reise machen würden. Er sagte, dass er allein reisen wolle. Ich erwiderte, er sei zu jung. Wir schwiegen eine Weile. Dann bemerkte er, dass er so bald wie möglich ein eigenes Auto haben wolle. Ich war nahe daran, in die Luft zu gehen. Ich hatte ihm gerade eine Stereoanlage gekauft. Er erklärte mir, dass einer seiner Freunde einen Porsche bekommen habe. Nichts würde ihn glücklicher machen als ein Auto. Ich sagte ausdrücklich, dass dies in den nächsten Jahren nicht in Frage käme. „Hast du noch etwas auf dem Herzen?“ fragte ich. „Da ist noch etwas“, antwortete er. „Ich möchte einer neuen Jugendorganisation beitreten. Einige meiner Klassenkameraden sind dabei. Die Führer sind gut ausgebildet. Wir tragen Uniformen, wir gehen wandern und lernen viel über das Leben im Wald.“ Er erwähnte, dass die Söhne einiger meiner Geschäftsfreunde auch dabei seien. Ich versprach ihm, dass er beitreten dürfe und dass ich den Mitgliedsbeitrag für ihn bezahlen würde. 181

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Zwei Wochen später war ich an einem Samstagnachmittag allein im Haus. Anna war in die Stadt gegangen, um einzukaufen. Ich ruhte mich im Wohnzimmer aus, und Wolfgang kam in seiner neuen Uniform herein. Sie war blau, sah aber aus wie die Uniform, die ich getragen hatte, als ich zur Hitlerjugend gehörte. „Gefällt dir deine Jugendgruppe?“, fragte ich. „Ja, sehr. Wir haben einen großartigen Führer, der uns herrliche Geschichten über den Krieg erzählt, über die Tapferkeit unserer Soldaten, und wie sie gegen so viele Nationen gekämpft haben und dass sie gesiegt hätten, wenn es nicht Schwächlinge und Verräter gegeben hätte.“ „Schau, mein Sohn“, sagte ich, „das ist nicht wahr. Wir verloren den Krieg. Wir hätten eigentlich 1943 aufgeben sollen. Wir haben zu lange ausgehalten.“ Mein Sohn sah mich befremdet an, fast als ob ich Verrat begangen hätte. „Unser Führer sagt, dass wir unsere verlorenen Gebiete wieder zurückerobern werden.“ „Er ist ein Narr!“, schrie ich. „Es geht uns sehr gut heute. Es geht uns besser denn je. Deutschland ist angesehener als je zuvor.“ „Deutschlands Ehre steht auf dem Spiel“, antwortete mein Sohn mit Bestimmtheit. Nach einer Weile sagte er: „Ich habe über meine Zukunft nachgedacht. Ich möchte Soldat in der Deutschen Armee werden.“ 182

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Ich fand, dass das Leben ein ewiger Kreislauf sei. Ich hatte in seinem Alter die gleichen Ambitionen gehabt. Ich war genauso zuversichtlich und genauso unbekümmert über die Zukunft gewesen. Ich wusste, dass Anna nie zustimmen würde. Sie hatte ihn als kleines Kind nicht einmal mit Spielzeuggewehren spielen lassen. „Warum möchtest du Soldat werden?“ „Ich liebe das Abenteuer und hasse Langeweile. Ich möchte ein General werden.“ „Mit deiner Mittelmäßigkeit bringst du es nicht einmal zum Unteroffizier.“ „Ich meine es ernst, Vater“, fuhr er fort, „ich habe viel darüber nachgedacht.“ „Ich habe höhere Ziele für dich. Du sollst einmal meine Firma übernehmen. Dann kannst du drei Autos haben, wenn du es dir so sehr wünscht, sogar Sportwagen. Als Soldat wirst du nie sehr gut verdienen.“ Es war mir bewusst, dass ich versuchte, ihn zu bestechen. Für ihn war der letzte Krieg etwas, worüber er in Geschichtsbüchern las. Für ihn war es eine romantische Geschichte. Bevor er in sein Zimmer ging, sagte er: „Ich glaube nicht, dass ich meine Meinung ändern werde. Ich möchte noch immer Soldat werden.“ „Wir werden noch darüber sprechen“, bemerkte ich. 183

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„Versprich mir nur, deiner Mutter nichts davon zu erzählen. Es würde sie zu sehr aufregen.“ „Ich werde nichts erzählen“, sagte er, als er die Tür schloss. Ich glaube, dass wir viel für unsere Kinder tun können, aber wir können sicherlich nicht ihr Schicksal lenken. Er sah gut aus in seiner Uniform. Er würde sehr viele Freundinnen haben. Ich hoffte, er würde jemanden wie Anna finden. Nachdem er gegangen war, war ich einige Zeit sehr bestürzt. Einerseits verstand ich ihn. Ich erinnerte mich an meine eigenen Jugendträume. Das Gefühl der Freude und Zusammengehörigkeit in Nürnberg. Wir waren natürlich alle irregeleitet worden. Was mich wirklich beunruhigte, war, dass sich Grundhaltungen nicht änderten: die Liebe zum Abenteuer, die Sehnsucht nach neuen Erlebnissen und das Verlangen nach Kampf. All diese Regungen – wie auch immer wir sie zu tarnen versuchten – waren in uns. Professor Rohn behauptete, dass man aus der Geschichte eine moralische Lehre ziehen könne. Wie ironisch ist diese Behauptung im Licht späterer Ereignisse. Vielleicht haben wir einiges daraus gelernt, dann begehen wir jetzt andere Fehler. Wir waren wie eigensinnige Schüler, die im Unterricht immer hintennach sind und die, wenn sie aufgeholt haben, erkennen, dass noch viel mehr Arbeit vor ihnen liegt und dass sie früher oder später wieder im Rückstand sein werden. 184

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Zwischen Wolfgang und mir war eine tiefe Kluft. Es handelte sich nicht nur um den Generationskonflikt: Dass er das Leben noch vor sich hatte, während ich reif und abgeklärt war, dass er das Abenteuer liebte, während ich an Sicherheit glaubte, dass er Schlagworten Vertrauen schenkte, während ich nur die konkrete Wirklichkeit sah. Was hatte ich in der Schule eigentlich gelernt? Was war nach Jahren geblieben? Oberflächliche Kenntnisse in Geschichte, ein paar Daten; unvollständige Kenntnis der französischen Sprache, gerade genug Mathematik, um mit der Steuer zurechtzukommen, ein paar Autoren wie Goethe und echte Wertschätzung einiger weniger Bücher. Ich erkannte, dass das Bild, das ich mir als Kind von der Welt gemacht hatte, vollkommen falsch war und dass die Schule zu dieser Verfälschung beigetragen und mir ein verzerrtes Bild vom Leben und von der Zivilisation vermittelt hatte. Die Kluft zwischen Realität und Theorie war unüberbrückbar. Es wurde mir bewusst, dass unsere Lehrer nicht wirklich an der Wahrheit interessiert waren. Sie unterrichteten ihre Fächer. Solange man sie in Ruhe ließ, lehnten sie sich nicht auf. Sie würden jede Regierung unterstützen, die ihnen genug bezahlte. Außer Rohn und Grab hatte mich keiner von ihnen nachhaltig beeinflusst. Sie waren nur noch vage Schatten, und ich hatte ihre Namen vergessen. Sie hatten keinen Eindruck in mir hinterlassen, und die meisten würden auch Wolfgang nicht 185

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wesentlich beeinflussen. Der Grund dafür war einfach: Sie waren äußerst unbedeutend als Menschen. Ihre Träume waren nichtig, ihr Streben begrenzt, ihre Energie gering und ihre Persönlichkeit farblos. Als Schüler respektierte ich sie nach außen hin. Sie waren Symbole der Autorität. Innerlich verachtete ich sie. Ihr Leben war so ereignislos. Sie taten nie etwas Bedeutendes. Die meisten von ihnen hielten Jahr für Jahr die gleichen Stunden, im Grunde für die gleichen Schüler. Nicht einmal ihre Witze änderten sich. Ich hatte mich gegen sie genauso aufgelehnt, wie Wolfgang sich jetzt gegen sie auflehnte. Auch er strebte nach einem interessanten Leben. Ich überlegte mir, ob ich Wolfgang in eine andere Schule geben sollte, aber ich beschloss, es nicht zu tun. Er würde den Schulwechsel als unangenehm empfinden, und wahrscheinlich hatten die Lehrer anderswo auch die gleichen Ansichten. Ich sorgte mich um Anna. Sie wäre wütend, wenn sie wüsste, dass Wolfgang Soldat werden will. Es würde ernsthafte Schwierigkeiten in unserer Ehe geben. Ich beschloss, bald wieder mit Wolfgang zu sprechen und ihm vielleicht ein Auto zu kaufen, sobald er den Führerschein hatte. Es war wirklich am besten, sich keine Sorgen zu machen. Er würde seine militärische Phase durchmachen, so wie Mädchen wegen eines Rock’n Roll-Sängers ohnmächtig werden. Ich wandte mich wieder dem Wirtschaftsteil der Zeitung zu. 186

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Wenn ich mit Anna zusammen bin und nachdem wir uns geliebt haben, kann ich kaum warten bis ich wieder aufstehen kann. Während ich sie liebe, denke ich meistens an die Wirtschaftsnachrichten, besonders ob meine Aktien gestiegen sind. Anna fragt mich oft, warum ich nicht mehr entspanne, da es so wunderbar sei, sich nach dem Liebesakt dem Gefühl der Einheit zu widmen. Das ist unmöglich für mich, denn ich genieße den Liebesakt nur eine kurze Zeit – meistens vorher. Ein Problem ist, dass wir schon so lange verheiratet sind. Zuerst konnte ich nicht genug von ihr bekommen; es war wie ein permanenter Höhepunkt. Jetzt ist der Liebesakt eine Gewohnheit geworden – wie eine Pflichterfüllung. Wenn ich große Gewinne durch meine Geschäfte erziele, bedeutet das mehr für mich als ein intimes Zusammensein mit Anna. Doch ich werde sie nicht verlassen, denn ich habe sie immer noch sehr gern. Ich weiß auch, dass eine Scheidung sehr kostspielig sein würde. Ich habe kurze Affären, wenn ich verreise, doch sie bringen mir auch keine Erfüllung. Ich habe eine junge, wunderschöne Sekretärin, mit der ich schon mehrmals intim war. Das erste Mal war ausgezeichnet; ich fühlte mich wieder jung und vital. Das zweite Mal war weniger erfreulich. Ich war sicher, dass sie ihre große Leidenschaft nur spielte und dass sie lieber einen jungen Mann gehabt hätte, der mehr Ausdauer in der Liebe gezeigt hätte als ich. 187

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Ich hatte eine wichtige Verabredung mit einem Kunden, den ich nicht warten lassen konnte und der weit wichtiger für mich war als meine Sekretärin. Kein Wunder, dass der Liebesakt mit ihr noch kürzer war als mit Anna. In ihrem Wohnzimmer hat meine Sekretärin ein Bild von einem Mann, der aussieht wie ein Filmstar und der mindestens zwanzig Jahre jünger ist als ich. Ich fragte sie, ob sie mit ihm ein Verhältnis hätte. Sie verneinte und erklärte, dass er ein Verwandter von ihr sei. Doch ich glaube ihr nicht, obwohl sie immer wieder beteuert, dass ich der einzige Mann in ihrem Leben sei und dass sie meine Reife und meinen Erfolg über alles bewundere. Sie betont, dass sie oft einsam ist und dass sie mich öfter sehen möchte, doch mit all meinen Verpflichtungen ist das eine Unmöglichkeit. Meine Sekretärin wohnt im vierten Stock eines Hauses ohne Lift. Ich muss die Treppen langsam steigen, denn jede körperliche Bewegung strengt mich sehr an. Wenn ich dann bei ihr bin, brauche ich eine Menge Alkohol, um mich zu entspannen. Ich weiß, dass ich meine Gesundheit sehr schützen muss. Oft höre ich, wie Geschäftsfreunde plötzlich einen Herzinfarkt bekommen, der tödlich endet. Ein Bekannter von mir hat unzählige Frauen gehabt. Eines Tages – mitten im Liebesakt – erlitt er einen Gehirnschlag. Jetzt kann er sich kaum mehr bewegen und verbringt die meiste Zeit in einem Rollstuhl. 188

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Ich habe einen ausgezeichneten Internisten, der mich warnt, dass ich weniger rauchen und mich mehr bewegen soll. Ich sehe ihn mindestens zweimal im Monat. Er hat mir Tabletten verschrieben, sodass ich besser schlafen und mich mehr entspannen kann. Er betont, dass mein Blutdruck zu hoch ist und dass ich abnehmen soll. Er befürwortet eine vegetarische Lebensweise, doch das ist unmöglich für mich, denn ich bevorzuge einen guten Braten … Anna ist unzufrieden mit unseren Führungspersönlichkeiten, denn sie glaubt, dass sie zu sehr von der Macht berauscht sind und zu sehr von den Lobbys der Geschäftswelt beeinflusst werden. Sie versteht nicht, dass Wahlen nur durch üppige Spenden gewonnen werden. Anna betont auch, dass viel zu wenig gegen Rechtsradikalismus getan wird. Sie fragt immer wieder, warum Zeitungen erlaubt werden, die Nazipropaganda verbreiten; warum Lehrer unterrichten dürfen, die die Taten der deutschen Armee im Zweiten Weltkrieg verherrlichen; warum so oft gegen Pazifisten gehetzt wird. Anna begreift nicht, dass in einer Demokratie alle Meinungen toleriert werden müssen. Anna sagt oft, dass ich gegen die Nazis Widerstand hätte leisten sollen, doch sie ist total unrealistisch. Ich wäre verhaftet worden und nach langen Foltern hätte ich meine Kameraden verraten. Vielleicht hätte die Gestapo mich gehängt. War es 189

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nicht besser, Mitläufer zu sein? Das ist sicher keine heroische Haltung, aber man überlebt. Ich will die deutsche Haltung gegenüber Russland nicht verteidigen. Schreckliche Gräueltaten fanden auf beiden Seiten statt. Krieg ist grausam. Noch eine Tatsache: Die Russen brauchen viel mehr Ordnung und Disziplin. Sie können viel von uns lernen, denn wir wissen, dass ohne harte Arbeit kein echter Fortschritt möglich ist. Ich bin ein Patriot, ich glaube, dass Deutschland das beste Land der Welt ist. Deutschland über alles – ist für mich keine Abstraktion, sondern eine Realität … Anna war einige Wochen in den USA gewesen, um dort ihre Verwandten zu besuchen. Sie war entsetzt über die soziale Not in dem Land. Sie hatte die schwarzen Slums in Harlem, Washington D. C. und Watts gesehen. Sie berichtete, wie hoffnungslos die Lage von vielen Afroamerikanern war; wie trostlos ihre Wohnungen aussahen; wie so viele Schwarze arbeitslos waren. Was war die Reaktion ihrer Verwandten? Sie bemerkten, dass die Armut der Schwarzen nur bedeutete, dass sie sich nicht anstrengen und minderwertig sind. Anna hat sich mit ihren Verwandten sehr gestritten, denn sie glaubt, dass Voreingenommenheiten ein Krebsübel darstellen – ob bei uns oder in den USA. Immer mehr unterstützte Anna fortschrittliche Gruppen, während ich mich natürlich politisch nicht engagierte. 190

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Anna schlug vor, dass wir mit unseren Kindern so bald wie möglich nach Japan fahren, um Hiroshima und Nagasaki zu sehen. Sie betonte, dass das Erlebnis besonders wichtig für Wolfgang sei, denn er bewunderte die Militärs zu sehr. Er würde durch den Besuch erleben, was Krieg wirklich bedeutet. Für mich, so erklärte Anna, wäre der Besuch in Japan genauso wichtig. Vergeudete ich nicht meine Zeit mit Börsenberichten und Geldverdienen? Was bedeutet schon kommerzieller Erfolg? Ist das nicht eine triviale Tätigkeit im atomaren Zeitalter? Ich müsste endlich begreifen, dass Engagement für den Frieden viel wichtiger als jede persönliche Errungenschaft ist. In jeder Hinsicht unterstützt sie die Grünen, weil sie die Umwelt beschützen wollen und jede Form der Ausbeutung ablehnen. Für mich ist diese Haltung unrealistisch. Für mich als Geschäftsmann ist Profit Fundament für Fortschritt. Dass dabei manchmal die Umwelt beeinträchtigt wird, macht mir keine Sorgen. Ich habe nie an einer Protestkundgebung teilgenommen. Ich werde es auch nicht tun. Ich kann mich doch nicht gegen die Regierung stellen! Was würden meine Geschäftsfreunde sagen, wenn sie mich zufällig bei einer solchen Demonstration sehen würden? Sicher würden sie den Respekt vor mir verlieren und mich als Spinner betrachten. Ich bin nicht jemand, der gegen den Strom schwimmt. Ich weiß, wie schwierig das Leben sein kann und wie hart der 191

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Existenzkampf ist. Ich genieße meine wunderschöne Villa und das große Auto. Ich bin stolz, dass ich mir einen Chauffeur leisten kann und dass wir so viele Reisen unternehmen können. Ich habe kein Verständnis für die Arbeitslosen. Sie sind ja nur faul und Parasiten, die den Staat ausnützen. Ich bin gegen großzügige Unterstützung der Arbeitslosen. Das bedeutet doch nur, dass ich immer mehr Steuern zahlen muss. Ich hätte es viel lieber, wenn meine Frau sich weniger für Politik interessierte. Politik ist eine Sache für Männer. Frauen dagegen sollten sich für ein schönes Heim engagieren. Anna wusste nicht, dass ich Aktien von Rüstungsfirmen besaß. Diese Aktien brachten mir viel Geld ein. Ich hatte keine Gewissensbisse. Für ein großes Land ist Rüstung eine Notwendigkeit. Unsere Rüstung ist sicher nicht ein Symbol der Aggression, sondern nur ein Akt der Verteidigung. Theoretisch kann man vielleicht Pazifisten bewundern, doch man muss Realist sein – auf dem politischen und wirtschaftlichen Gebiet, sonst ist man arm und erfolglos. Anna betont oft, dass sich Deutschland mehr für die Dritte Welt engagieren soll, doch ich glaube, dass eine solche Hilfe nur eine Vergeudung darstellt. Die meisten in der Dritten Welt wollen nicht arbeiten, sie wollen nur unterstützt werden. Sie müssen von uns lernen, wie man fleißig arbeitet und wie man sich ordentlich verhält. 192

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Ich habe gelernt, nicht mit Anna über Politik und internationale Beziehungen zu sprechen. Wenn sie über diese Themen spricht, dann versuche ich sie abzulenken und erwähne persönliche Angelegenheiten. Anna ist unrealistisch. Viele Frauen sind so. Ich kenne zum Beispiel einen schwarzen Geschäftsmann aus Ghana ziemlich gut. Anna schlug vor, dass wir ihn einladen sollten, bei uns zu wohnen. Doch ich bemerkte, dass eine solche Einladung unnötig sei, dass der Geschäftsmann genug Geld hätte, um in einem sehr teuren Hotel zu wohnen. Ich war sehr höflich zu ihm und habe ihn in einem eleganten Restaurant großzügig bewirtet. Er hatte eine weiße Freundin bei sich gehabt. Es war kein platonisches Verhältnis; ich habe gefühlt, dass beide nur schnell essen wollten, um danach ihr Vergnügen zu haben. Dabei war diese Frau kein Straßenmädchen und kam von einer wohlhabenden Familie. Ihr Vater ist ein angesehener Anwalt. Ich fragte mich, wie seine Tochter Gefallen an einem Schwarzen finden konnte. Ich glaube nicht an Rassenmischung. Das führt nur zur Degeneration. Ich hoffe, dass meine Kinder keine Farbigen heiraten werden. Ich bin kein Antisemit; man hat den Juden Unrecht getan, doch Berichte über so viele Millionen jüdische Opfer sind weit übertrieben. Kein Freund von mir ist jüdisch. Ich hätte nie eine 193

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jüdische Frau geheiratet. Ich habe auch keinen jüdischen Mitarbeiter in meiner Firma. Anna ist anders; sie möchte, dass ich Juden in meiner Firma einstelle, doch ich weigere mich und habe immer Ausreden bereit. Die Juden sind schon wieder zu prominent in unserem Land. Warum haben sie nichts dazugelernt. Warum ist Bescheidenheit für sie ein Fremdwort? Warum sprechen sie dauernd über die Vergangenheit? Vergessen wir die Vergangenheit; man muss in der Gegenwart leben. Wir haben zu viele Gastarbeiter in unserem Land. Die meisten haben viele Kinder; dadurch können sie von unseren großartigen Sozialleistungen profitieren. Kürzlich sah ich eine schwangere Türkin in Frankfurt, sie hatte noch zwei Kinder an der Hand. Ihr Hauptberuf war Betteln. Sie fragte mich, ob ich sie als Haushaltshilfe anstellen wollte. Ich betonte, dass wir genug Bedienung hätten. So eine Frau würde ich nie einstellen, weder im Büro noch zu Hause. Zigeuner habe ich besonders ungern. Sie sind doch alle Diebe und Betrüger, die unseren Staat nur schädigen und nicht arbeiten wollen. Wie schmutzig und unordentlich sie alle ausschauen! Ich glaube, dass Sauberkeit auf jedem Gebiet ein Fundament für Fortschritt bedeutet. Wenn ich andere Länder besuche, besonders den Nahen Osten, bin ich schockiert, wie unhygienisch die Einrichtungen dort sind und wie Sauberkeit vernachlässigt wird. 194

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Ich bade jeden Tag – das ist eine Stütze für meine Gesundheit und für mein Wohlbefinden. Ich benutze ein starkes Deodorant, denn ich kann Menschen nicht leiden, von denen ein übler Geruch ausgeht. Ich bin stolz, dass Deutschland so eine saubere Nation ist. Sollte dieser hygienische Geist nicht überall imitiert werden? Anna geht oft zu Dichterlesungen. Ich begleite sie nur selten. Sie war so begeistert von einem jungen Dichter aus Indien, dass sie vorschlug, ich sollte, zusammen mit anderen Sponsoren, es ihm ermöglichen, ein Jahr in Deutschland zu verbringen. Ich lud ihn zu uns zum Essen ein. Ich erwartete, dass er sich ordentlich kleiden würde; stattdessen kam er in Jeans und ohne Krawatte. Ich bemerkte auch, dass er schmutzige Fingernägel hatte. Nach dem Essen las er viele seiner Gedichte vor. Ich habe sie kaum verstanden. Für mich war es eine Qual zuzuhören. Über zwei Stunden las er vor; ich habe mich selten so gelangweilt. Ich schätze Dichter nicht. Meistens wollen sie entweder vom Staat oder von Privatpersonen so großzügig unterstützt werden, dass sie nicht zu arbeiten brauchen. Ich habe nichts gegen einen erfolgreichen Autor, der einen Bestseller schreibt. Mit ihm könnte ich über seine finanziellen Probleme sprechen und wie er sein Geld am besten anlegen sollte. 195

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Ich fand dagegen kein Gesprächsthema mit dem indischen Dichter. Unsere Welten und Interessen waren zu verschieden. Doch ich wollte Anna nicht kränken und deshalb habe ich mit anderen Sponsoren für seinen Aufenthalt in Deutschland bezahlt. Als er wieder in Indien war, hat er mir ein Gedicht geschickt, das er mir widmete. Ich habe es nicht gelesen. Ich habe keine Voreingenommenheiten gegenüber Bürgern anderer Nationen – wenn sie anspruchslos sind. Unsere expansive Wirtschaft braucht natürlich Gastarbeiter, doch sie sollen nicht immer in Deutschland bleiben können. Zu viele Ausländer können wir nicht assimilieren. Viele sind auf einer niedrigen Stufe der Entwicklung; sie sprechen kaum deutsch und unternehmen auch keinen Versuch, unsere Sprache zu beherrschen. Man kann sie sicher nicht so gut wie deutsche Arbeiter behandeln. Wenn man sie unterbezahlt, soll man sich keine Sorgen darüber machen. In ihrem Heimatland würden sie noch viel weniger Geld bekommen. Wenn die Wirtschaft sie nicht mehr braucht, sollen sie wieder abgeschoben werden. Die Linken mögen dagegen protestieren, aber ich denke in praktischen Kategorien, denn ich weiß, was unsere Wirtschaft braucht.“ Ich habe Karl so genau geschildert, denn seine Ideen, Lebensphilosophie und Werte sind typisch für viele Deutsche. Wir 196

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können verstehen, dass er nach Jahren der Entbehrung – wie viele andere – den Wohlstand schätzt. Aber der Wohlstand hat ihn verführt. Alles, was er macht, was er denkt und was er bewundert, wird von praktischen Beweggründen bestimmt. Er setzt seine ganze Energie für materielle Ziele ein. Das Resultat ist, dass er viel zu wenig Zeit für seine Familie findet. Ihre wichtigsten Probleme ignoriert er. Er will ihre Liebe kaufen – ein unmögliches Unterfangen. Die Einäugigkeit und die Beschränkungen von Karl zeigen, wie sich Voreingenommenheiten immer wieder verbreiten und immer wieder neue Formen annehmen – nicht nur in Deutschland.

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Teil iv

Wege zur Bewältigung Kann die Problematik des Vorurteils jemals gelöst werden, wenn man die von Ihnen aufgezeigte weltweite Verbreitung sieht? Die Antwort ist klar: Nicht nur die Tatsache, dass die Mächte des Hasses so gut organisiert sind und ständig neue Opfer fordern; nicht nur, dass die Diskriminierung die verschiedensten Spielarten und Ausprägungen hat – das eigentliche Problem besteht darin, dass die herkömmliche Erziehung, die herkömmliche Religion, die herkömmliche Kommunikation, die herkömmlichen internationalen Beziehungen, die herkömmliche Politik unfähig sind, die verheerenden Auswirkungen des Hasses zu überwinden. In Wirklichkeit verstärken sie intolerante Haltungen und, was noch viel schlimmer ist: Die Vorherrschaft des Militarismus, die in vielen Staaten ganz offensichtlich da ist, schafft immer wieder die Voraussetzung für neue Feindschaften. Unser äußerst zerbrechlicher Friede basiert auf einem militärischen Gleichgewicht der Mächte. Die riesigen Ausgaben für den Rüstungswettlauf drängen Sozialund Bildungsreformen in den Hintergrund. Martin Buber stellte einmal fest, dass wir, während wir mit nur einem Teil unseres Wesens hassen, mit unserer ganzen 201

Teil IV

Existenz lieben können. Er hat sich geirrt. Die Geschichte der modernen Menschheit deutet eher darauf hin, dass die Zeiten der Liebe dazu neigen, schnell vorüberzugehen, während der Hass zu dauernder Voreingenommenheit werden kann. Ist das Bewusstwerden des Vorhandenseins eines Vorurteils schon ein Weg, es zu überwinden? Das Problem liegt tiefer. Wenn wir Bücher über Philosophie lesen, sind wir trotzdem noch keine Philosophen. Wir können theologische Wälzer verschlingen und sind trotzdem nicht religiös. Wir können die klassischen Beispiele der Demokratie studieren und können trotzdem in unseren eigenen Handlungen höchst undemokratisch sein. Um die verheerenden Auswirkungen des Vorurteils wirksam zu bekämpfen, braucht es ein dreifaches Erwachen: – Wir müssen in unserem eigenen Leben die Ursachen für Liebe und Hass, Ablehnung und Zuneigung klären und müssen uns der Ambivalenz unserer Gefühle bewusst sein. – Wir müssen andere Menschen in einem neuen Licht sehen: Die Gefahr besteht darin, dass wir andere nur als Werkzeuge zu unserem Vergnügen betrachten. Jean Paul Sartre hat schon gesagt, dass wir entweder Sadisten sind – und versuchen, andere zu kontrollieren – oder Masochisten – und versuchen, die Wirklichkeit durch eigene Unterwerfung zu bewältigen. 202

Wege zur Bewältigung

Eine Alternative wäre es, andere so zu akzeptieren, wie sie sich selbst sehen, und mit ihnen in eine tiefere Beziehung zu treten. – Wir müssen handeln: Intellektuelle Erklärungen über die Schrecken des Vorurteils sind weit weniger wichtig als eine Tat der Zivilcourage von unserer Seite. Wenige von uns sind mutig genug, um z. B. der Geheimpolizei entgegenzutreten, aber wir könnten freundlich und rücksichtsvoll gegenüber Mitgliedern einer Minderheit in unserer Gesellschaft sein und gegen jene auftreten, die das Evangelium der Intoleranz verbreiten. Ist die Anwendung der Gruppentherapie eine Möglichkeit, mit Erfolg gegen Vorurteile anzukämpfen? Wenn wir an eine Therapie denken, sehen wir meist die psychischen Probleme des Einzelnen und deren Behandlung durch einen Psychiater vor uns. Die Krankheit einer Gruppe dagegen ist ein viel ernsteres Problem – eine Krankheit, die fast automatisch ein Klima der Feindschaft erzeugt. Wenn wir eine gesunde Gesellschaft haben wollen, können die sozialen Krankheiten nicht ignoriert werden. Gruppentherapie, die sich besonders an führende Mitglieder der Gemeinschaft wendet, wird eine wichtige Methode bei Reformen und Erneuerungen werden. Ein ausgezeichnetes Beispiel dieser Bemühungen finden wir in William C. Schutz „Joy – Expanding Human Awareness“. 203

Teil IV

Dr. Schutz, ein Psychiater, hat eine große Anzahl Gruppensitzungen für die verschiedensten Berufe, von Geschäftsleuten bis zu Lehrern, gehalten. In seinem Buch berichtet er unter anderem, wie man ihn einmal als Berater zu Hilfe rief, um Vorurteile in einer Schule in Long Island zu überwinden. Dort war eine Schulgemeindewahl durchgeführt worden. Die Gemeinschaft war durch einen erbitterten Kampf zwischen Konservativen und Liberalen, Juden und Nichtjuden, aber auch durch die Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Erziehungsmethoden der Schulfachleute und der Behörden gespalten. Die Gruppe war aus vier Elternvertretern zusammengesetzt – zwei Juden und zwei Nichtjuden –, dem Direktor der Schule, drei Lehrern und sieben Schülervertretern zwischen 15 und 17 Jahren. Intensive Therapiesitzungen wurden abgehalten. Zuerst waren die Mitglieder sehr unzufrieden. Es gab keine Strukturierung der Gespräche, Teile der Diskussion schienen vollkommen sinnlos zu sein. Als die Gruppe freundlicher geworden war und positive Gefühle zum Vorschein kamen, geschahen erstaunliche Veränderungen. Der Direktor wurde weniger autoritär; er erkannte, dass er seine Lehrer zu stark unterdrückt hatte, dass sein Verhältnis zu ihnen zu formell gewesen war. 204

Wege zur Bewältigung

Die Eltern überwanden einige ihrer Vorurteile und sahen ein, dass viele ihrer Ansichten über andere Rassen und Religionen von den ungeprüften Anschauungen ihrer Umgebung beeinflusst wurden. Die Schüler entwickelten größeres Verständnis für ihre Lehrer – ihre Erwartungen und ihre Frustrationen, ihre Fähigkeiten und ihre Fehler. Gleichzeitig standen die Lehrer ihren Schülern viel gelassener gegenüber und sahen sie mehr als Menschen und weniger als zu beurteilende Objekte. Die Befähigung zu echter Freundschaft und zu richtiger Selbsteinschätzung wurde durch die Gruppenerfahrung vergrößert. Für viele war es wie ein religiöses Erlebnis: Nicht nur eingewurzelte Vorurteile wurden beseitigt, sondern Quellen des Verstehens und der Spontaneität taten sich auf. Das ist nur ein Beispiel für Gruppentherapie als ein Weg zur Verbesserung mitmenschlicher Beziehungen. Die verschiedensten Methoden der Kommunikation wie Kreativitätstraining, Gesprächsgruppen, Bildungsseminare für Erwachsene usw. sollten genützt werden. Wichtig ist, dass wir unsere Isolation überwinden und über unsere vorgefassten Meinungen hinausgehen, dass Fremde unsere Freunde werden können. Thoreau hat einmal richtig bemerkt, dass das Leben des Durchschnittsmenschen voll stiller Verzweiflung ist. Dabei sind Vorurteile eine ganz natürliche Begleiterscheinung. Erst wenn der Mensch mit mehr Freude erfüllt wird, wenn neue Begegnungen 205

Teil IV

stattfinden, kurz: wenn wir unser bisheriges Selbstverständnis immer wieder in Frage stellen, können wir sicher sein, dass ein Leben der Feindschaft überwunden ist. Welche Hilfe kann die Meditation zur Überwindung von Vorurteilen bieten? Da ein Vorurteil oft das Ergebnis von Enttäuschungen oder tief gehender Entfremdung ist, kann die Meditation eine große Lücke auffüllen. Wir gewinnen dadurch nicht nur eine größere Ruhe und eine Mitte des Daseins, sondern die Meditation kann uns auch helfen, vorgefassten Ideen nicht mehr verhaftet zu bleiben. Wir können damit echte Gelassenheit erreichen – eine Gelassenheit, die uns den Anforderungen einer mechanisierten Umwelt gegenüber stärkt. Der Stress, unter dem so viele von uns leiden, kann geändert werden. Meditation ist ein Weg zur Erneuerung, um uns selbst und unsere Umgebung in einem anderen Licht zu sehen. Ich erinnere mich, dass ich neulich in einer langen Schlange in einem Supermarkt warten musste. Ich hatte es sehr eilig – und fürchtete, meinen nächsten Termin zu versäumen. Die Reihe bewegte sich nur langsam vorwärts. Die Kassierin war offensichtlich sehr schwerfällig. Ich wurde immer ungeduldiger; ich fluchte fast und war sehr ärgerlich über sie. 206

Wege zur Bewältigung

Da fiel mir auf einmal eine Zen-Erzählung ein: Ein Schüler fragt den Zen-Meister: „Was ist der Weg zur Befreiung?“ Der Meister fragt: „Wer fesselt dich?“ Der Schüler antwortet: „Niemand.“ „Warum suchst du dann nach Befreiung?“ Als ich an dieses Gespräch – so einfach und so tief – dachte, erlebte ich ein Gefühl der Beruhigung, fast ein Gefühl der Befriedigung, wie eine plötzliche Erleuchtung. Ich befand mich jetzt nicht mehr in einem Supermarkt – aufgeregt von einer Kleinigkeit und bedrückt durch ein vorgegebenes Schema. In meiner Vorstellung war ich irgendwo in einem Zen-Kloster in Japan; ich verließ den Supermarkt viel ruhiger, fast, als ob ich Ferien gemacht hätte. Die Methoden zur Ausübung der Meditation sind nicht entscheidend. Wichtig ist, dass wir das Zentrum unseres Daseins und unseres Strebens finden, dass wir unser Bewusstsein erweitern und aufhören, uns vom Idol der Egozentrik leiten zu lassen. Wenn Meditationsmethoden schon in der Vorschulerziehung gelehrt werden, profitieren die Kinder viel mehr als von der überkommenen Erziehungsmethode. Kinder, die früh an Meditationen gewöhnt sind, hören sorgfältiger zu, beobachten aufmerksamer, sind den Schönheiten der Natur stärker aufgeschlossen und rücksichtsvoller zu anderen Menschen. Meditation ist durch die Betonung der Verinnerlichung eine ausgezeichnete Methode, uns daran zu erinnern, dass wir einen Menschen nie zur Sache degradieren dürfen und dass wir erst 207

Teil IV

durch eine gemeinsame Erfahrung zum ganzen Menschsein kommen – eine gemeinsame Erfahrung, die ihren höchsten Ausdruck in Zeiten der Stille findet. Was können Eltern tun, um Vorurteile bei ihren Kindern zu vermeiden? – Eltern sollten zu wirklicher Aufrichtigkeit erziehen und jedes Auseinanderfallen von Theorie und Handeln vermeiden. Der Rat Tolstois: „Sei offen zu Deinen Kindern und ehrlich zu Dir –

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selbst“, gilt heute noch genauso wie zu seiner Zeit. Die Wohnung sollte den verschiedensten Leuten offenstehen: Alten und Jungen, Menschen aus den unterschiedlichsten sozialen, rassischen, religiösen und kulturellen Milieus. Wir sollten für neue Ideen aufnahmebereit sein. Den Kindern sollten dauernd intellektuelle und ästhetische Anregungen gegeben werden. So erweitern sie ihren Horizont und vermeiden Engstirnigkeit – eine Brutstätte neuer Vorurteile. Die Kinder sollten schon früh soziale Verantwortung und einen einfachen Lebensstil lernen. Eine Haltung der Höflichkeit, besonders gegenüber schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft, sollte in der Erziehung betont werden. Schon früh sollten Kinder lernen, dass es natürlicherweise unterschiedliche Ideen gibt, dass es aber notwendig ist, andere Meinungen zu respektieren. 208

Wege zur Bewältigung

– Kinder sollten sich durch ausgewählte Geschichten und Spiele der entsetzlichen Auswirkungen des Vorurteils bewusst werden. – Kinder sollten zur Anteilnahme ermutigt werden, sodass sie einen kooperativen Lebensstil entwickeln. Ein Kind, dessen Ideen und Meinungen geschätzt werden, wird meist sozialen Beziehungen offen gegenüberstehen und eher tolerant und weitherzig sein. – Eltern sollten durch ihr Vorbild eine liebende Einstellung hervorrufen – eine Einstellung, die niemanden ausschließt und nicht Besitz ergreift. Welche Rolle kann die Religion bei der Bekämpfung des Vorurteils spielen? Die Geschichte der Religionen zeigt eine Auseinandersetzung zwischen zwei Strömungen: Auf der einen Seite finden wir diejenigen, die schon immer einen begrenzten Horizont der intellektuellen Möglichkeiten hatten, die an der Vergangenheit hängen, die Intoleranz schätzen, die ihre Aufgabe nur von ihrem engen Blickwinkel her sehen. Das ist bei weitem die Mehrheit. Auf der anderen Seite finden wir die Engagierten, die keine Ausschließlichkeit predigen, nicht aburteilen und einen Geist der Großzügigkeit repräsentieren. 209

Teil IV

Die Religion kann so lange keine bedeutende und konstruktive Rolle im Kampf gegen Vorurteile spielen, als die Irrtümer der Vergangenheit nicht zur Kenntnis genommen werden. Man darf z. B. die Kreuzzüge nicht als geistige Bewegungen sehen, sondern muss sie auch als furchtbare Gräueltaten werten, die über viele Juden und Moslems unendliches Leid brachten. Wenn die Religion wichtig und belebend für unsere Zeit sein soll, muss sie einen Wandlungsprozess durchmachen. Was heißt das? Es bedeutet, Jesus und sein Eintreten für alle Schwachen und Leidenden Ernst zu nehmen und so wie er darin Erfüllung zu finden, „für den letzten unter ihnen“ zu sorgen. Die Schwarzen in den Slums, die verfolgten Juden, die diskriminierten Gastarbeiter, die vereinsamten Alten, die Bewohner eines Obdachlosenheimes – diese Menschen sollten in erster Linie Zielgruppe des kirchlichen Bemühens sein. Hilfe muss spontan geleistet werden – ohne Berücksichtigung von Hautfarbe und Religionszugehörigkeit. Hier können die Quäker uns ein Vorbild sein, denn sie haben mit der gleichen Begeisterung den Opfern des Nazi-Regimes geholfen wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg den hungernden Deutschen zu Hilfe kamen. Das Hauptanliegen Jesu ist heute noch genauso gültig wie zu seiner Zeit. Für viele war und ist Religion nur eine Sache der äußeren Anpassung. Damals wie heute wird das formale 210

Wege zur Bewältigung

Wissen religiöser Wahrheiten überbetont. Damals wie heute hat der Pharisäismus mit seinem geistigen Exhibitionismus einen großen Einfluss. Damals wie heute werden die trennenden Aspekte betont. Damals wie heute fühlen sich die sogenannten „Gläubigen“ erhaben und unbeteiligt. Damals wie heute sorgen sich zu viele Menschen hauptsächlich um ihre eigene Erlösung und nicht um die Zustände in der Gesellschaft. Damals wie heute erstreckt sich der Geist des Verstehens nur auf die kleine Gruppe und nicht auf die gesamte Gesellschaft. Abbé Pire meinte einmal, worauf es wirklich ankomme, sei nicht der Kampf zwischen Glaubenden und Ungläubigen, sondern die Auseinandersetzung zwischen denen, die sich engagieren, und denjenigen, denen alles gleichgültig ist. Die Versuchung besteht, indifferent zu bleiben. Warum sollte man sich auch um soziale Ungerechtigkeiten kümmern? Warum sich in die Auseinandersetzungen der Dritten Welt einmischen? Der Durchschnittsmensch antwortet meist: „Schau, ich habe selber genug Probleme. Geld zu verdienen, braucht schon meine ganze Kraft. Ich habe schon Schwierigkeiten, am Ersten meine Rechnungen zu bezahlen. Wenn ich nach Hause komme, kann ich gerade noch fernsehen. Ich mag nicht mit den Problemen der ganzen Welt belästigt werden. Sollen sich andere darum kümmern.“ 211

Teil IV

Sir Francis Bacon beschreibt, wie sehr die Menschheit dem Einfluss von Götzenbildern ausgesetzt ist: So steht das Bild der Höhle für unsere persönlichen Vorurteile, das Bild des Stammes für unsere vorgefassten sozialen Anschauungen, das Bild des Marktplatzes für die Manipulation der Worte und das Bild des Theaters für die Vorrangstellung der Tradition. Die Zentren der Anbetung des modernen Menschen sind sozial bedingt. Er will Erfolg haben. Er wünscht sich, bekannt und populär zu sein. Er glaubt, dass materielle Güter Glück bringen. So entwickelt sich ein Gefühl der Leere; der moderne Mensch wartet auf einen Höhepunkt. Es ist wie ein „Warten auf Godot“, aber Godot kommt nicht. Echte Religion dagegen stellt eine permanente Provokation dar. Der Mensch soll sich anders definieren, anders empfinden und anders tätig sein. Er soll bereit sein, Opfer zu bringen, sodass er sich mit den Gedemütigten der Welt identifizieren kann. Bevor Dietrich Bonhoeffer hingerichtet wurde, betonte er: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Nicht durch Begriffe, sondern durch Vorbild bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.“ Doch wie selten hat die Kirche vorbildlich gewirkt; wie selten ist sie glaubwürdig gewesen! Ist nicht die Geschichte der Religion durch kriegerische Auseinandersetzungen bestimmt worden, bei denen viele Millionen Menschen den Tod fanden? Man hat so oft Folter benützt, um 212

Wege zur Bewältigung

Orthodoxie zu verteidigen. Man hat Liebe gepredigt und unbegrenzten Hass verbreitet. Warum werden diese Tatsachen so oft verschwiegen? Warum bereut man nicht mehr? Warum sind so viele religiöse Menschen so selbstgefällig? Warum ein permanenter Kampf gegen Andersdenkende? Warum besteht eine furchtbare Enge im Denken und Handeln seitens der meisten „religiösen“ Menschen? Der Untertanen-Geist findet immer wieder Anklang, besonders in der Religion. So betonten die deutschen Bischöfe am 8. Juni 1933: „Gerade in unserer heiligen, katholischen Kirche kommen Wert und Sinn der Autorität ganz besonders zur Geltung und haben zu jener lückenlosen Geschlossenheit und sieghaften Widerstandskraft geführt, die selbst unsere Gegner bewundern. Es fällt deswegen uns Katholiken auch keineswegs schwer, die neue, starke Betonung der Autorität im deutschen Staatswesen zu würdigen und uns mit jener Bereitschaft ihr zu unterwerfen, die sich nicht nur als eine natürliche Tugend, sondern wiederum als eine übernatürliche kennzeichnet, weil wir in jeder menschlichen Obrigkeit einen Abglanz der göttlichen Herrschaft und eine Teilnahme an der ewigen Autorität Gottes erblicken.“ Autoritätsgläubigkeit wird zur Lebensweise. Ein Beispiel ist Höß, Kommandant von Auschwitz, einer der großen Verbrecher der Weltgeschichte. 213

Teil IV

Hat nicht Hitler immer wieder von der Vorsehung gesprochen? Hat er nicht betont, wie sehr seine Ziele mit denen des patriotischen Christentums identisch waren? Vergessen wir nicht, dass das konventionelle Christentum so oft die Verfolgung von Minderheiten als gottgefällige Tat betrachtet hat. Hat man nicht mit den schlimmsten Diktatoren wie Franco, Mussolini und Hitler kooperiert? Betrachtete sich nicht die UstaschaBande in Kroatien als eine christliche Organisation? Die Fragen stellen sich: Brauchen wir nicht mehr unabhängige Denker? Brauchen wir nicht Menschen mit einer tief greifenden humanitären Gesinnung? Besonders wichtig: Muss nicht eine scharfe Trennung zwischen Staat und Kirche vollzogen werden? Beispielhaft in ihrem schöpferischen Geist ist die BAHÁ'IGlaubensgemeinschaft. Hier gibt es keine Hierarchie und keine Dogmen. Ein globales Denken dominiert, alles wird getan, um eine friedfertige Welt zu verwirklichen. Wie kann die Erziehung dazu beitragen, Vorurteile auszumerzen? Zumindest sollte Erziehung nicht – wie in der Vergangenheit – der Hauptvermittler von Vorurteilen sein. Dies geschah durch ganz eindeutige sowie durch verfeinerte Methoden. Der Geschichtsunterricht – um nur ein Beispiel zu nennen – schuf oft eine leidenschaftliche Liebe zum eigenen Land und eine 214

Wege zur Bewältigung

große Abneigung anderen Nationen gegenüber. Der Schüler wurde nicht objektiv informiert, sondern zum Gegenstand der Indoktrination. Fast kann man sagen, dass hinter allen kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschheit Schulen oder Zentren der Kommunikation standen, die ihre Zöglinge durch systematische Propaganda verführten und eine falsche Sicht der sozialen Wirklichkeit schufen. Der Zuwachs an Bildung in der modernen Welt bedeutet nicht automatisch einen Zuwachs an Einsicht. Er bietet leider sogar im Gegenteil mehr Raum für geschickte Manipulation und Massenhysterie. Um gegen Massenmanipulation anzugehen, sollte die Gegenwart den Ausgangspunkt der Erziehung bilden. Die Zeit zwischen 1933 und heute, die in vielen deutschen und österreichischen Schulen nicht genügend behandelt wird, sollte das Hauptthema sein. Ziel ist eine unverfälschte Sicht der Welt, die man nicht ohne stärkere Zuhilfenahme von Psychologie, Anthropologie und Soziologie erreicht; das aber fehlt in unseren Schulen heute weithin. Diese Wissenschaften sollten nicht nur als theoretische Forschung, sondern als Wege zur Emanzipation gesehen werden. In seiner Antrittsvorlesung in der Amerikanischen Psychologischen Gesellschaft sagte Abraham Maslow 1967, dass seiner Meinung nach zu viele Psychologen mit trivialen Untersuchungen beschäftigt sind, ihre Arbeit bestünde darin, „unwichtige Dinge zu klären“. 215

Teil IV

Untersuchungen sollten gesellschaftsorientierter sein. Sie sollten Katalysatoren für Neuerungen und nicht eine Entschuldigung des Status quo sein. Neue Lernmöglichkeiten für Lehrer sollten geschaffen werden, und zwar sowohl zu ihrer persönlichen als auch zu ihrer sozialen Orientierung, sodass das Bemühen um größeres Verständnis Bestandteil ihres Lebens wird. Meine Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Lehrern verschiedenster Nationalitäten zeigte mir, dass Pädagogen meist folgende Persönlichkeitszüge aufweisen: – Sie sind vorsichtig und sehr auf Sicherheit aus. – Sie betonen unverhältnismäßig den Wert von Ordnung und Sauberkeit. – Sie verwechseln Anständigkeit mit Tugend. – Sie neigen meist zu Konformismus und unterstützen den Status quo der Gesellschaftsform, in der sie ihren Beruf ausüben. – Sie fühlen sich von Eltern, Vorgesetzten und von der Gesellschaft missverstanden. – Sie sind durchwegs formalistisch eingestellt; so kommt etwa der Grammatik mehr Bedeutung zu als den Aussagen der Literatur. – Ihr „Idealismus“ zeigt sich selten in konkreten Aktionen. – Ihr soziales Verständnis ist begrenzt. – Sie behandeln Minoritäten sehr herablassend. – Sie hegen eine ganze Reihe von Vorurteilen, deren sie sich aber nicht bewusst sind.

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Wege zur Bewältigung

Viele Untersuchungen zeigen, dass die Leistungen von Kindern der unteren sozialen Schichten schlechter bewertet werden als die Ergebnisse der Oberschicht. Das Vorurteil vieler Lehrer gegen Ausdrucksweise und Sprache der unterprivilegierten Kinder führte oft dazu, dass die letzteren zu einer endlosen Kette des Versagens verdammt sind. Noch immer ist der Prozentsatz der Kinder von Arbeitern und Bauern im Vergleich zu anderen Schichten in der höheren Schulbildung erschreckend nieder. Wenn Lehrern, egal ob in New York, Tokio oder Paris eine Stelle in einem Slumviertel angeboten wird, lehnen sie diese Anstellung meist ab. Ihre Ressentiments, die in Vorurteilen begründet sind, benachteiligen die Kinder in solchen Milieus. Unterprivilegierte Kinder aus einem sozial benachteiligten Bereich brauchen vor allem geschickte, engagierte und einfühlende Lehrer. Statt dessen werden diese Kinder oft mit den indifferentesten Lehrern konfrontiert. Was solch ein Lehrer von seiner Klasse denkt, kann etwa so lauten: „Es ist reine Zeitverschwendung, euch zu unterrichten. Ihr begreift ja überhaupt nichts. Euer Zuhause ist schrecklich. Eure Sprache ist vulgär. Euer Verhalten ist entsetzlich. Ihr zeigt keinen Respekt. Euer Aussehen ist unordentlich. Ihr mögt die Schule nicht, und so sehr ich mich auch bemühe, ändert ihr doch nicht eure Einstellung. Ihr habt keine Achtung vor der Zivilisation. Wahrscheinlich ist das einzige, was man tun kann, euch vor Kriminalität zu bewahren.“ 217

Teil IV

Die Lehrerbildung sollte ganz neu überdacht werden. Auf Beratungsgespräche, die therapeutische Inhalte haben, sollte Wert gelegt werden, sodass weniger engstirnige Erzieher unsere Pädagogischen Akademien verlassen. Neulich sprach ich in einer kleinen Stadt zu einer Zuhörerschaft, die hauptsächlich aus Lehrern bestand. Ich befürwortete eine internationale Erziehung, Offenheit, weniger Betonung der Disziplin und der Autorität, einfallsreichere und dynamischere Unterrichtsgestaltung und größeres Wissen um andere Kulturkreise. Während der Diskussion erhob sich ein Schuldirektor – offensichtlich mit großer Zustimmung eines Teiles der Zuhörer – und sagte: „Mich interessieren China und Indien nicht. Ich hab nichts gegen diese Länder, aber ich bin hauptsächlich an unserer eigenen Kultur interessiert. Wir brauchen nicht weniger Disziplin, das führt nur zur Anarchie. Wir brauchen mehr Disziplin. Statt internationaler Bildung brauchen wir mehr Information über unsere eigene Kultur.“ Mit Menschen dieses Typs an der Spitze so vieler Schulen wird der Fortschritt immer begrenzt bleiben. Solche Menschen weisen in ihrem Handeln autoritäre Persönlichkeitszüge auf und verbreiten eine begrenzte Weltsicht und endlose Intoleranz. Wir brauchen mehr Schulen, wie sie z. B. eine meiner ehemaligen Schülerinnen, Marilyn Wilhelm, in Texas aufgebaut hat. Schon in den Vorschulklassen werden die Kinder mit orientalischer Kultur vertraut gemacht. Sie lernen, dass die 218

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menschlichen Fähigkeiten den verschiedensten Quellen entstammen, dass die Menschheit eine Familie ist. Die älteren Kinder helfen den jüngeren; die unterschiedlichen Rassen und Nationalitäten sind vertreten; sie leben nicht nur nebeneinander, sondern sie empfinden Anerkennung füreinander. Erziehung schafft eine Leere, wenn sie nicht von echtem Verständnis geleitet wird. Das bezieht sich nicht nur auf Schulen, sondern genauso auf Zeitungen, Radio, Film und Fernsehen. Solange die meisten Kommunikationsmedien Gewalt und Verbrechen betonen und keinen Wert auf die positiven Errungenschaften der Menschheit legen, wird Aufklärung eine unwesentliche Rolle im Überlebenskampf der Menschheit spielen. In einem Gespräch mit dem Herausgeber einer großen Tageszeitung fragte ich einmal, welche Kriterien er habe, seine Zeitung an den Mann zu bringen. Er antwortete: „Wir zielen auf Emotionen.“ Er gab ein Beispiel an: Ein Mann wurde in einem Park in Los Angeles tot aufgefunden; der wahrscheinliche Grund war ein Herzanfall. Der Herausgeber brachte diesen Vorfall mit der Schlagzeile: „Mann im Ausstellungspark ermordet!“ An diesem Tag stieg die Verkaufsziffer der Zeitung um 30.000 Stück. Ich fragte den Herausgeber, ob das nicht eine absichtliche Verfälschung der Tatsachen sei. Seine Antwort: „Ach, darum kümmere ich mich nicht. Wir bringen, was die Leser hören wollen!“ 219

Teil IV

Vorurteile werden sehr häufig durch Schlagzeilen angeheizt. Ein schwarzer Sträfling hatte in einem Anfall von Eifersucht seine Frau umgebracht, weil sie Affären mit anderen Männern hatte. Der Mann wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Als er aus dem Gefängnis floh, lautete die Schlagzeile einer Zeitung: „Schwarzer Killer ausgebrochen.“ Die herkömmliche Erziehung mit ihrer organisierten Gleichgültigkeit tut fast nichts, um den Fluten der irrationalen Propaganda Einhalt zu gebieten. Um wichtige Ereignisse in der Welt zu verstehen, um tendenziöse Meldungen zu durchschauen, bedarf es einer objektiven Analyse. Der Wunsch nach ständiger Information ist Voraussetzung. Wie kann das erreicht werden, wenn man aus Untersuchungen weiß, dass in fast allen Ländern so wenig Bücher gelesen werden. Das Afro-Asiatische Institut in Graz machte eine Untersuchung über die Professoren, mit denen die Studenten aus Asien und Afrika in Österreich zu tun haben. Über 50 % der Studenten beklagten sich über Vorurteile von Seiten der Professoren. Ich habe einen arabischen Freund, der an einer österreichischen Universität studiert. Neulich hatte er eine mündliche Prüfung. Mein Freund war so angetan von seinem Thema, dass er ziemlich ausführliche Antworten gab. Der prüfende Professor unterbrach ihn schroff und sagte: „Wir sind hier nicht in einem orientalischen Basar.“ 220

Wege zur Bewältigung

Wie wird die Schule von morgen für eine offenere Denkweise sorgen? Die Schule der Zukunft wird eine therapeutische Ausrichtung haben. Das heißt, dass mehr Wert auf Einstellungen und Verhaltensweisen gelegt wird als auf Vermittlung von Wissen. Sie wird viel flexibler sein und sowohl unser Gefühlsleben als auch die intellektuellen Kräfte einbeziehen. David Cooper machte einen entscheidenden Unterschied zwischen Kurieren und Heilen. Kurieren bedeute in der Medizin wie auch in der Erziehung die Symptome zu behandeln. Heilen meine dagegen (vor allem in der Erziehung), die Selbstfindung der Persönlichkeit zu erreichen. In dieser Bedeutung wird der Lehrer immer mehr zum „Seelenarzt“. Die „Open University“ in England zeigt, wie viel für die Erwachsenenbildung auf breitester Basis getan werden kann. Aber sogar diese Einrichtung kommt nur schwer an Arbeiter und Bauern heran. Erziehung wird in Zukunft daran zu messen sein, inwieweit sie einen Geist der Zusammengehörigkeit entwickelt, d. h., ob Freundschaften geschätzt und soziale Interaktionen auf jeder Ebene gefördert werden. Der wirkliche Bildungszuwachs wird in der größeren Befähigung liegen, Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen, sich auf sozialem, ästhetischen und geistigen Gebiet weiterzuentwickeln, um so alle Ursachen einer möglichen Feindschaft auszuschalten. 221

Teil IV

Konkret erfordert das, sich immer wieder neu im Kampf gegen die Intoleranz einzusetzen. Das Aufzeigen der Tatsachen allein ist zu wenig. Der Schüler muss fühlen, welche Konsequenzen Vorurteile haben können; Schlagwörter wie „Christusmörder“, „Judenbastard“, „Nigger“, „Tschusch“ sollten nie auf die leichte Schulter genommen werden. Wenn es nicht möglich ist, ehemalige Konzentrationslager zu besuchen, sollten Filme gezeigt werden, wie z. B. De Sicas „Die Gärten der Finzi-Contini“. Autoren wie Böll, Griffin, Remarque, Wright und Hersey können wertvolle Hilfe leisten, um zum Mitdenken und Mitleiden anzuregen. Um wirklich etwas zu erreichen, muss der Lehrer genauso Begeisterung wecken, wie es Martin Luther King in seinem Kampf gegen die Diskriminierung getan hat. Das ist besonders schwierig, da sich viele Lehrer unbeteiligt fühlen. Ja, viele Pädagogen verbreiten sogar ein Gefühl der Langeweile und sind unfähig, ihre Schüler zu echter Kreativität zu motivieren. Für die Schule der Zukunft sind folgende Fragen von Bedeutung: – Inwieweit erreicht die Schule eine Beteiligung aller sozialen Schichten? – Wieweit nützt die Schule die kreativen Kräfte der Gesellschaft? – Wie verhält sich die Schule zu weniger talentierten Schülern?

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Wege zur Bewältigung

– Welche Anstrengungen unternimmt die Schule, um den Geist der Demokratie zur Verwirklichung zu helfen? – Was wird getan, um zu einem kooperativen Führungsstil beizutragen? – Was tut die Schule, um Vorurteile der Eltern, der Lehrer, der Vorgesetzten und der Schüler abzubauen? – Inwieweit weisen die Lehrbücher und die anderen Unterrichtsmittel eine kosmopolitische Sicht auf? – Welche Bedeutung misst man der Zeitgeschichte bei? – Wird die Schule zu einer Stätte der Freude und des Entdeckens? – Welchen Wert legt man auf Erwachsenenbildung, und wie wird sie gefördert? – Sind die Vorgänge in der Schule durchschaubar, ist sie ein echtes Kommunikationszentrum, ein Platz für die Begegnung zwischen jung und alt? Bis zu einem gewissen Grad hat Ivan Illich recht, wenn er behauptet, die heutige Schule sei überholt. Sicher ist die herkömmliche Schule mit ihren Vorurteilen, falschen Wertvorstellungen und statischen Lehrplänen überholt und veraltet. Die kreative Schule hingegen, die eine weltweite Perspektive hat, die neue Gesichtspunkte in den menschlichen Beziehungen eröffnet, die die Freude am Lernen verstärkt, die die Erziehung als ständigen Prozess des Verstehens betrachtet, hat eine unbegrenzte Zukunft.

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Teil IV

Ist es wirklich möglich, zur Demokratie zu befähigen? Demokratie meint mehr als einen Führungsstil. Sie beinhaltet mehr als politische Parteien und politische Auseinandersetzungen. Sie bedeutet sogar mehr als das Bemühen um Freiheit. Demokratie steht für einen Lebensstil und für eine Qualität der menschlichen Beziehungen, die sich sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht auswirken. Um Demokratie zu verwirklichen, braucht es viel mehr Gespräche zwischen den divergierenden Gruppen, d. h., es müsste mehr Wert auf Dialog und Diskussion in den Schulen gelegt werden. Normalerweise können wir noch nicht einmal dem anderen zuhören und wissen nicht, wie wir Meinungsverschiedenheiten in geeigneter Weise beilegen können. Um ein echtes Gespräch zu führen, sollten die folgenden Punkte berücksichtigt werden: – Ein Dialog ist eine Begegnung ohne Fronten und Grenzen. – Jedes Gespräch sollte durch Meditation und Reflexion sorgfältig vorbereitet werden. – Ein Geist des Offenseins und der Bereitschaft sollte zum Ausdruck kommen. – Die Gesprächsteilnehmer sollten einander mit derselben Intensität und Aufmerksamkeit zuhören, wie sie es bei einem Symphoniekonzert tun. 224

Wege zur Bewältigung

– Persönliche Meinungen sollten zum Ausdruck gebracht werden und nicht allgemeine Weisheiten. – Der äußere Rahmen sollte informell sein, sodass ein lockeres Gespräch möglich ist. – Da Theorie und Praxis zusammengehören, gibt es kein gutes Gespräch ohne Konsequenzen. – Das Schweigen kann in einem Gespräch genauso wichtig und wertvoll sein wie die gesprochenen Worte. – Keine Feststellung und keine Meinung darf mit Herablassung betrachtet werden. Solange die meisten Schulen Passivität fördern und erwarten und die einfachsten Gesprächsmethoden vernachlässigt werden, solange ist die Demokratie in Gefahr. Passivität wird durch die herrschenden Unterrichtsmethoden, die auf Anhäufung von Wissen und auf Auswendiglernen hinzielen, nur noch verstärkt. Manche Lehrer wünschen sich eher fügsame Schüler als unabhängige, kreative menschliche Wesen. Zu viele Fragen von Seiten der Schüler sind nicht erwünscht. Der Lehrplan dagegen ist heilig. Seine Anforderungen stehen über den existenziellen Bedürfnissen des Schülers, der am meisten profitiert, wenn seine Interessen geweckt werden und wenn sein Wissensdurst ihn aus sozialer Passivität reißt. Demokratie ist nur möglich, wenn der Geist der Mitbestimmung in unser Schulsystem, aber auch in die anderen sozialen Einrichtungen eingedrungen ist. Solch eine Mitbestimmung ist 225

Teil IV

aber unmöglich, wenn der einzelne als Objekt behandelt wird, wenn seine Fähigkeiten unterschätzt werden und wenn man ihn nach seiner religiösen, nationalen oder sozialen Herkunft beurteilt statt nach seiner individuellen Eigenart. Der Geist der Demokratie erfordert eine Förderung des einzelnen. Schafft eine solche Haltung nicht zu viel Unverbindlichkeit? Werden dadurch nicht schwache Menschen entstehen? Brauchen wir nicht doch mehr Härte? Die Antwort ist, dass jeder Mensch Anerkennung braucht. Wenn seine Bemühungen nicht geschätzt werden, wenn seine Individualität nicht gefördert, wenn er in seinen Interessen gehemmt, wenn er ständig entmutigt wird, dann muss sein Leben voller Frustrationen sein. Durch Ermutigung finden wir neue Quellen der Kreativität und der Erfüllung. Durch Ermutigung wird unser Selbstvertrauen gestärkt und eine positive Lebenseinstellung ermöglicht. Durch Ermutigung öffnen wir uns für unsere Nächsten. Durch Ermutigung werden wir in unserem ganzen Lebensstil viel demokratischer. Aussagen über unseren Glauben sind weniger wichtig als unsere Taten. „Sein ist Handeln“, sagt ein chinesisches Sprichwort. Ich bin immer ein wenig traurig, wenn ich an einen amerikanischen Schuldirektor denke, der zu den Lehrern seiner Schule in einer Konferenz sagte: „Bis zum nächsten Montag wünsche ich, dass jeder von Ihnen eine demokratische Einstellung zur Erziehung hat.“ 226

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Wirkungsvolle Erziehung erfordert die Humanisierung der Institutionen. Das bedeutet, dass die Schule nicht der Brennpunkt der Erziehung, der Inbegriff aller institutionellen Beziehungen und Strukturen des Menschen ist. Das bedeutet aber auch, dass wir in die Gefängnisse, in die Spitäler, in die politischen Parteien und die Wirtschaftsunternehmen schauen und fragen, ob da genug getan wird, um die Basis für einen kooperativen Lebensstil zu schaffen. Warum ist die Bürokratie eine dauernde Bedrohung für eine tolerante Gesellschaft? Echte Demokratie ist solange unmöglich, als die Bürokratie in vielen Ländern eine entscheidende Rolle spielt. Bürokratie beruht auf einem hierarchischen System. Abstrakte Normen sind bestimmend. Die Bedürfnisse der Organisation werden über die Anforderungen der Humanität gestellt. Minderheiten sind oft Opfer der bürokratischen Denkweise. Häufig werden sie von Beamten mit Herablassung behandelt; man lässt sie die eigene Macht und ihre untergebene Stellung fühlen. Regeln werden durchgesetzt, die sowohl gegen die Humanität als auch gegen das allgemeine Empfinden verstoßen. Die Bürokratie kann in einem freien Land genauso mächtig sein wie in einem totalitären System. Sie verkörpert den Sieg einer legalistischen Einstellung, die ihren Sinn darin findet, die 227

Teil IV

Vorschriften bestimmter Paragrafen zu erfüllen. Bürokratie verhilft dem Vorurteil zu Ansehen. Offen, flexibel und kreativ zu sein, sind Verhaltensweisen, die jedem bürokratischen System zuwiderlaufen. Bürokratische Vorschriften waren bei der Vernichtung der Juden sehr wirkungsvoll. Ihre Deportation z. B. wurde sehr einfach gehandhabt. Es gab neue Anweisungen, wie die Wohnungen der Juden zu versiegeln und wie ihre Wertsachen zu behandeln waren. Sogar der Kommandant von Auschwitz, Höß, betrachtete sich selbst hauptsächlich als bürokratischen Funktionär, der stolz darauf war, dass Maßnahmen getroffen worden waren, um in Auschwitz zehnmal so viele Menschen wie in Treblinka zu vernichten. Wie genau die bürokratischen Vorschriften waren, kann man aus einem Briefwechsel aus dem Jahre 1942 zwischen dem Büro Eichmann und einer lokalen Bank in Haßfurt ersehen. Es ging dabei um die Ersparnisse eines Jakob Strauss. H. G. Adler berichtet darüber in seinem Buch „Der verwaltete Mensch“: Im Jahr 1890 hatte Jakob Strauss ein Konto über 32,80 RM eröffnet. Was war mit diesem Geld zu tun? Man fand heraus, dass Jakob Strauss 1916 im Ersten Weltkrieg gefallen war. Sollte er im nachhinein Jakob Strauss oder Jakob Israel Strauss genannt werden? Über diese Fragen ging ein langer Briefwechsel zwischen den Bürokraten unter Eichmann und den Funktionären der Haßfurt-Bank. Nichts entging der 228

Wege zur Bewältigung

Bürokratie des Naziregimes. So wurden nicht nur jüdische Wertsachen wie Gold und Silber konfisziert, sondern es ging auch um Bettwäsche und sogar um Fieberthermometer. Natürlich muss eine Bürokratie nicht immer solche Auswüchse zeitigen. Sie kann sich auch positiv auswirken. Aber wenn sie überbetont wird, entsteht eine Gesinnung, die der Inhumanität Tür und Tor öffnet und die Kafka in seinem Buch „Das Schloss“ so gut beschreibt. Was kann getan werden, um jemanden für den Frieden zu begeistern? Zum Frieden erziehen bedeutet, dass wir neue Helden brauchen, nicht Eroberer und Könige, sondern Altruisten, die sich der Sache der Menschheit widmen. Wir müssen jene Menschen erkennen und ermutigen, die man die stillen Helden der Menschheit nennen kann, die uns durch ihr Vorbild zeigen, was Liebe und Verstehen zu erreichen imstande sind. Solche Menschen werden meistens als weltfremd betrachtet, während die Gesellschaft die Ehrgeizigen und die Opportunisten belohnt. Der Friede wird theoretisch gepriesen, aber wenig wird getan, um die Ursachen von Streit und Feindschaft im sozialen wie im internationalen Leben zu beseitigen. Wir preisen das Ideal des Friedens, während in den meisten Ländern fast jedes 229

Teil IV

Jahr die Budgets für Rüstung heraufgesetzt werden, um immer schrecklichere Methoden der Zerstörung finanzieren zu können. Die herrschende Moral des modernen Menschen wird von vielen nationalen Budgets bestimmt, die einen enormen Unterschied zwischen den Ausgaben für konstruktive Ideen und für Massenvernichtung aufweisen. Der italienische Denker Macchiavelli ist über Jahrhunderte hinweg als zynisch abgelehnt worden, weil er den Staat in seinen nationalen und internationalen Beziehungen schonungslos beschrieben hat. Unglücklicherweise war er nur zu realistisch. Er beschrieb den Herrscher als einen Fuchs, der meisterhaft täuschen könne und der – während er eine sichtbare Orientierung an der Moral vortäusche – alle Wege der Amoral benutze, um seine Ziele zu erreichen. Macchiavelli wusste, wie einfach es ist, die Menschen zu manipulieren, besonders durch die Wirkung von Hass und Vorurteil, etwa indem man einen Krieg beginnt, um von wirtschaftlichen und sozialen Problemen abzulenken. Macchiavelli bemerkte zynisch, dass Demokratien in Friedenszeiten sehr nützlich sein mögen; aber wenn Kriege oder andere Notsituationen drohen, sei die Diktatur die einzige Möglichkeit zu überleben. Er betrachtete den Krieg als die Hauptbeschäftigung eines Regenten. Denn sogar in Friedenszeiten müssen Pläne für kriegerische Auseinandersetzungen geschmiedet werden. Die Verteidigung des Staates zu vernach230

Wege zur Bewältigung

lässigen, bedeutet, Aggression und Niederlage zu riskieren. Durch Krieg, meinte Macchiavelli weiter, kann die Opposition vernichtet werden. Hilft sie nicht dem Feind? Ist sie nicht subversiv? Krieg gibt nicht zuletzt dem Herrscher große Macht, der damit das Schicksal einer ganzen Nation in der Hand hat. Kriege können dadurch inszeniert werden, dass man Krisen- und Notsituationen Raum gibt. Ohne Zweifel sind in der modernen Geschichte viele Krisen heraufbeschworen worden, damit Diktatoren aufsteigen konnten, die dann ihre Länder in vernichtende Kriege stürzten – Kriege, die zu Massakern riesigen Ausmaßes führten. Freud beobachtete, wie Kriege zivilisierte Standards pervertierten: „Der Kriegszustand erlaubt jedes Verbrechen, jeden Gewaltakt, der überhaupt von Menschen je getan werden kann.“ „Das Ziel jeden Krieges ist Mord!“ Dieses Zitat von Tolstoi erklärt, warum der Krieg Typen wie Himmler, Eichmann und einen Leutnant Calley hervorbringen kann. Calley wurde angeklagt, in My Lai in Vietnam eine große Anzahl von Frauen und Kindern mutwillig ermordet zu haben; er ist aber keine Ausnahme, wie wir vielleicht denken könnten. Er hatte nur die Gelegenheit, seine sadistischen Anlagen in einem Krieg auszuleben, in dem die Brutalität hohes Ansehen genießt. Er wird als Mensch beschrieben, der zu Hause nicht 231

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einmal Waffen besitzt. Er konnte sehr gut kochen und war sehr gastfreundlich. In der Straßenbahn war er immer bereit, seinen Platz einer älteren Person anzubieten. Wir glauben meist, dass ein Mensch, der zu solch einem Verbrechen fähig ist, auch sonst sadistische Züge aufweise. Wir erwarten, dass er Tiere quält, sich wie ein Tyrann aufführt. Das stimmt aber überhaupt nicht, zumindest nicht im Fall Leutnant Calleys, der in seinem Privatleben sehr umgänglich war. Nach außen hin war Calley in jeder Hinsicht anständig. Aber wie viele andere wurde er von Gefühlen der Feindschaft gegen den Vietkong beherrscht. So betrachtete er z. B. die mit dem Vietkong sympathisierenden Vietnamesen nicht als Menschen. Für ihn waren sie einfach „gooks“, Feinde, die vernichtet gehörten. Diese Philosophie, Menschen zu Objekten zu degradieren, kein Verständnis für ihre Gefühle und Wünsche zu haben, Minoritäten als Sündenböcke zu betrachten, die man legitimerweise hassen und verachten darf, – diese Haltung führt konsequent zu ungehemmter Brutalität. Es gibt in der Welt Millionen Menschen wie Calley, hinter deren Maske der Zivilisiertheit ihre Fähigkeit zur Barbarei schlummert. Je mehr Kriege geführt werden, desto mehr werden Typen wie Leutnant Calley gefördert. Je mehr Propaganda für den Hass gemacht wird, desto mehr wird der Samen für neue Massaker verbreitet. Hitlers Aufstieg wäre ohne den Ersten 232

Wege zur Bewältigung

Weltkrieg unmöglich gewesen – einen Krieg, der Millionen Menschen zu einem Leben voller Vorurteil, Hass und Hysterie verführte. Bücher wie „Im Westen nichts Neues“ von Remarque oder „Stalingrad“ von Plivier sind nicht nur literarisch wertvoll, sondern zeigen ganz konkret, welche Auswirkungen Vorurteile haben können. Kein Wunder, dass Goebbels der SA befahl, die Filmvorführungen von Remarques großartigem Roman zu stören. Im Naziregime waren alle Bücher, die die Schrecken des Krieges beschrieben, streng verboten. Filme wie „Die letzte Brücke“ mit Maria Schell, die sowohl die Sinnlosigkeit des Krieges als auch die Notwendigkeit einer versöhnenden Haltung zeigen, können für Jugendliche und Erwachsene von dauerndem Eindruck sein. „Hiroshima, mon amour“ sollte in jeder höheren Schule gezeigt werden, um den Schülern bewusst zu machen, welche Auswirkungen ein Atomkrieg auf die Menschheit hat. Leider unterschätzen wir die Organisationen, die für den Frieden arbeiten. Der Völkerbund wie auch die Vereinten Nationen haben bisher nur geringe Unterstützung bekommen. Fragt man einen Maturanten bzw. Abiturienten, wer Karl der Große war, wird man sofort eine Antwort bekommen, wenn man ihm aber über die WHO, UNESCO oder FAO Fragen stellt, weiß er entweder nichts oder gibt eine falsche Antwort. 233

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Aufklärung in unserer Zeit bedeutet aber weit mehr als Information. Sie erfordert Aufnahmebereitschaft und Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen. Sie verlangt ein Mitleiden mit der Menschheit. Vorurteile jeder Art stehen als Hindernisse im Weg. Ist nicht ein Teil der Geschichte nur eine Darstellung der Opfer von Vorurteilen – in der Frühzeit, im Mittelalter und heute? Toleranz allein ist zuwenig. Sie ist nur der Anfang und muss vom Mitdenken und Mitfühlen unterstützt werden. Seit den Errungenschaften in der Weltraumforschung bekommt die Geschichte kosmische Ausmaße. Trotzdem werden die meisten Menschen noch von Stammesinteressen geleitet. Wenn die Menschheit weiter zu Vorurteilen und Hass neigt, wird sie das nächste Jahrhundert kaum überleben – und selbst wenn sie überlebt, wird die Erde nur eine Wüste sein.

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Quellenhinweis Bei diesem Werk von Frederick Mayer handelt es sich um eine verbesserte Neuauflage des 1995 im Verlag Der Apfel erschienenen Buches „Vorurteile bedrohen uns alle. Auswirkung – Überwindung“. Zuvor war das Buch unter dem Titel „Vorurteil – Geißel der Menschheit“ 1975 im Herder-Verlag herausgekommen.

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